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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 8. November 1999 Betr.: Havel, Speer, Wehrmacht, Limbach er tschechische Staatspräsident Václav Havel bat um Entschuldigung: „Ich Dkomme zu spät, ich weiß“, sagte er den zum Gespräch angereisten SPIEGEL- Redakteuren Olaf Ihlau, 57, und Walter Mayr, 39. Grund für die Verspätung: Das Staatsoberhaupt hatte gerade seine Fahrer und Sicherheitsbeamten angewiesen, ihn künftig wie einen normalen Menschen durch die Gegend zu kutschieren – nicht mehr mit Hupe, Blaulicht und in rasender Geschwindigkeit. „Unheimliche Qualen“ habe er in den vergangenen Jahren bei dem rabiaten Fahrstil in den Dienstkaros- sen ertragen, erzählte Havel den SPIEGEL-Leuten, „es ist so unangenehm, wenn mir die Leute auf der Straße die Zunge rausstrecken oder drohend winken“. Da- mit solle jetzt Schluss sein (Seite 218).

ahrelang hatte sich der Frank- Jfurter Architekt Albert Speer, 65, einem Gespräch mit dem SPIEGEL verweigert. Speer ist einer der er- folgreichsten deutschen Stadtpla- ner, scheute aber, als Sohn des Hit- ler-Architekten, die Öffentlichkeit. Nun – auf dem Höhepunkt seiner Karriere – überwand er sich doch. Sieben Stunden sprach Speer mit den SPIEGEL-Redakteuren Susan-

ne Beyer, 30, und Dietmar Pieper, G. GERSTER 36, erklärte ihnen stolz seine Pläne Beyer, Speer, Pieper für den Bau des Europaviertels in Frankfurt am Main und berichtete von Kindheitserinnerungen an Adolf Hitler: „Aus meiner Perspektive war er ein Onkel wie jeder andere auch“ (Seite 239).

m die Aufklärung von Verbrechen der Wehrmacht bemüht sich seit 1995 das UHamburger Institut für Sozialforschung mit einer viel beachteten Ausstellung. Schon vor einem Jahr hatte sich allerdings der Historiker Bogdan Musial beim SPIEGEL gemeldet und von Fehlern berichtet: Einige Bilder zeig- ten nicht Opfer deutscher Soldaten, sondern des sowjetischen Ge- heimdienstes. Redakteur Klaus Wiegrefe, 34, ging den Hinweisen nach und fand zusätzliche Belege (SPIEGEL 4/1999). Nun zogen die Initiatoren ihre Ausstellung für mindestens drei Monate aus dem Ver- kehr – alles soll überprüft werden. Einige Kritiker erklären bereits den größten Teil der Bilder für falsch. „Das ist blanker Unsinn“, sagt

F. SCHUMANN / F. Historiker Wiegrefe, „wer so etwas behauptet, hat noch nachlässi- Wiegrefe ger recherchiert als die Ausstellungsmacher“ (Seite 107).

or acht Jahren war die heutige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, VJutta Limbach, Justizsenatorin in . SPIEGEL-Autor Thomas Darnstädt, 50, sprach damals mit ihr über die juristische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Die Diskussion verlief eher hitzig, ein paar Mal fuhr Limbach den SPIEGEL-Mann energisch an. „Fragen wird man ja dürfen“, wehrte der sich.Als Darnstädt und Kol- lege Dietmar Hipp, 30, vergangene Woche die oberste Richterin in Karlsruhe tra- fen, begrüßte sie Darnstädt: „Wir reden oft über Sie, Ihre damalige Bemerkung ist zum geflügelten Wort in unserer Familie geworden.“ Auch das aktuelle Gespräch mit Limbach über den Einfluss des Verfassungsgerichts auf die Politik hatte Klip- pen – „darauf will ich nicht antworten“, versuchte sie wiederholt heikle Themen zu umschiffen. Darnstädt: „Fragen wird man ja dürfen“ (Seite 72).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 45/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Weltmacht wider Willen ...... 30 Seite 22 Einheit – nur langsam wächst im Osten Schmiergeld für die CDU? die Zuversicht...... 40 Mit seiner Aussage vor dem Haftrichter hat der Wie der Mauerfall die Globalisierung ehemalige CDU-Schatzmeister Walther Leisler beschleunigt...... 44 Westöstliche Mischungen in der Kunst- Kiep sein jahrelanges Schweigen in der Affäre um und Literaturszene...... 50 die Lieferung von „Fuchs“- Arnulf Baring über die deutsche Panzern an Saudi-Arabien Apathie angesichts der gebrochen: Eine Million osteuropäischen Herausforderung ...... 56 Mark in bar habe der Waf- Deutschland fenhändler Karlheinz Schrei- Panorama: Wirtschaftsminister Müller ber übergeben – angeblich gegen SPD-Fraktion / Kosovo-Albaner für die CDU-Parteikasse. Die werden abgeschoben ...... 17 Union verspricht Aufklärung, Korruption: Ließ sich die CDU beim Panzergeschäft schmieren? ...... 22 MELDEPRESS (li.); DARCHINGER (r.) F. die Grünen verlangen einen Wie Staatssekretär Holger Pfahls Widerstände „Fuchs“-Spürpanzer, Kiep, Kohl (1982) Untersuchungsausschuss. gegen das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien aus dem Weg räumte...... 24 CDU: Bedingt regierungsbereit ...... 26 Prozesse: Gartenschlägers Tod vor Gericht..... 64 Internet: Boom der virtuellen Auktionshäuser ... 68 Justiz: SPIEGEL-Gespräch mit der Europa der Verschwender Seite 116 Verfassungsgerichts-Präsidentin Jutta Limbach über den Einfluss auf die Politik ...... 72 Der Europäische Rechnungshof schlägt zu: In ihrem neuen Jahresbericht legen die Jahrtausendwende: Polizei wappnet sich Kontrolleure Verschwendung gigantischen Ausmaßes offen.Allein für die Vernichtung gegen Chaos und Katastrophen ...... 80 von überschüssigem Obst und Gemüse gab die EU knapp eine halbe Milliarde Euro Zeitgeschichte: Reemtsmas Rückzug ...... 107 Kriminalität: Amoklauf von Bad Reichenhall aus. Fazit: Brüssel bedient vor allem Lobbyisten und macht es Betrügern leicht. lässt Experten und Polizei ratlos ...... 110 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (7) „Die Mauer muss weg“ – Grenzöffnung aus Versehen ...... 85 Hass auf schwarze Dealer Seite 168 Porträt: Günter Schabowski – unbequem zwischen allen Stühlen ...... 104 Sie sind die Letzten beim Wirtschaft Geschäft mit illegalen Drogen: junge Afrikaner, Trends: Neues zur Hypobank-Affäre / Modefirmen drängen ins Internet / die in deutschen Groß- Subventionsskandal in Sachsen-Anhalt ...... 113 städten kleinste Rausch- Geld: Dubiose Fonds-Werbung / Gute giftmengen verdealen. Chancen mit japanischen Internet-Aktien...... 115 Die meist illegal ein- Europa: EU-Rechnungshof enthüllt gereisten Asylbewerber, Schlamperei und Milliardenverschwendung .... 116 Staatsfinanzen: Kanzler Schröder drängt die nicht arbeiten dürfen auf höhere Erbschaftsteuer ...... 120 und keine Perspektive

Kartelle: So kungelt die Betonindustrie ...... 124 haben, lösen Ängste und / ARGUS R. JANKE Affären: Raffgierige Ohrenärzte ...... 126 Fremdenhass aus. Afrikanischer Rauschgiftdealer (in Hamburg) Geldanlage: Klage gegen BHF-Bank ...... 128 Stromkonzerne: Der Aufstieg des Jurastudenten Michael Zerr zum Mr. Yello...... 130 Medien Trends: „Big Brother“ demnächst bei RTL 2 / Überraschungserfolg für „Praline-Interaktiv“ ... 133 Promi-Jagd in Deutschland Seite 136 Fernsehen: Historien-TV boomt ...... 134 Vorschau ...... 135 Früher zählten die Klatsch- Boulevard-Presse: Zotig und angepasst – reporter zu den heimlichen die neue Generation der Klatschreporter...... 136 Stars der Society, die das Volk Der Star-Macher von „Bild“ ...... 138 mit Anekdoten aus dem Sün- Journalisten: Interview mit dem denbabel der Reichen und „Frontal“-Duo Hauser/Kienzle über ihren TV-Abschied...... 142 Schönen fütterten. Heute ran- Reality-TV: Eifersucht als Quotenknaller ...... 148 geln sich Horden von ihnen Fernsehspiel: Der TV-Film „Hin und weg“ auf drögen PR-Veranstaltun- und die neue Nüchternheit ...... 154 gen um jeden Prominenten. Gesellschaft Unter dem Konkurrenzdruck Szene: US-Psychologin Nancy Etcoff über der Medien verflacht das Gen- biologische Gründe von Schönheitsidealen..... 167 re zunehmend. Und weil die Drogen: Die schwarzen Dealer vom Berühmtheiten von heute mit Hamburger Schanzenviertel...... 168 Gegendarstellungen nicht lan- Showbusiness: Interview mit dem Sänger E. HERBST ge fackeln, ist der Glamourbe- Patrick Lindner über Rex Gildo „Bild“-Klatschreporterin Keßler bei der Arbeit und Homosexualität in der Schlagerbranche... 176 ruf zum harten Job geworden. Kredite: Autos als Leihhaus-Pfand...... 180

6 der spiegel 45/1999 Ausland Panorama: Montenegros Premier Vujanoviƒ über den Bruch mit Belgrad / Spekulationen um Papstnachfolger ...... 183 Kaukasus: Im Visier der Großmächte...... 186 Georgien: Präsident Eduard Schewardnadse über einen Beitritt zur Nato...... 190 Frankreich: Rückschlag für Jospin ...... 192 Ostasien: Schröders Reisespaß...... 194 Klima: Front gegen den Verschmutzer USA... 196 Jugoslawien: Milo∆eviƒ rechnet ab...... 198 Liechtenstein: Wie der Zwergstaat das Geld von Mafia, Drogenkonzernen und russischen Großkriminellen wäscht...... 202 Schweden: Angriff der Neonazis ...... 208 Europa: Neue Ängste vor britischem Beef .... 212 Tschechien: SPIEGEL-Gespräch mit dem M. WIENHÖFER / PRINT tschechischen Präsidenten Václav Havel Fürstenschloss im liechtensteinischen Vaduz über die Osterweiterung der EU ...... 218 Russland: Schwarzgeld in der Südsee ...... 226 Japan: Star-Ruhm für Frauen Lauschangriff auf Geldwäscher Seite 202 in Männerkleidern...... 228 Kultur Der Bundesnachrichtendienst hat den Datentransfer der Geldhäuser nach Liechten- Szene: Hundertwasser verhübscht den stein angezapft. Das Ergebnis ist fatal für das Image des Finanzplatzes: Ein Geflecht Bahnhof von Uelzen / Regisseur Eyal Sivan aus Beamten, Politikern und Treuhändern lädt laut BND-Bericht die Gangster aller über seine Eichmann-Dokumentation...... 233 Länder geradezu zur Wäsche ihres schmutzigen Geldes ein. Kino: David Finchers neuer Film „Fight Club“ bricht mit der Hollywood-Ästhetik ...... 236 Städtebau: SPIEGEL-Gespräch mit Albert Speer über sein Frankfurter „Europaviertel“ und sein Leben als Sohn des Hitler-Architekten...... 239 Der Kaukasus brennt Seiten 186, 190 Stars: Stimmwunder und Pop-Schönheit – Mariah Carey auf neuen Wegen ...... 248 Mit Russlands Krieg gegen die Tschetschenen sollen die Hoffnungen auf Souveränität Autoren: Gerold Späth über im Kaukasus eingeschüchtert werden.Während Moskau vom Streit zwischen den ver- den urschweizerischen feindeten Völkern zu profitieren sucht, ruft Georgiens Staatschef Eduard Scheward- Sprachkünstler Peter Weber ...... 252 nadse nach der Nato. Und alle wollen den Zugriff auf das Öl im Kaspischen Meer. Bestseller...... 254 Film: „Helden wie wir“, ein Kino-Ereignis mit Ost-Charme ...... 258 Schönheit: Interview mit Kunst-Theoretiker Bazon Brock über die Graffiti-Attacke auf den Hamburger Findling ...... 264 Eine amerikanische Wissenschaft • Technik Prisma: Chirurgen verpflanzen Eierstöcke Show-Karriere Seite 248 in den Arm / Esoterik-Autor Sheldrake über telepathische Fähigkeiten von Haustieren..... 267 Gesangsakrobatik und Süßstoff-Soul: Ma- Medizin: US-Ingenieure erproben riah Carey, 29, ist die erfolgreichste Popsän- Kunstherz aus Titan ...... 270 gerin der neunziger Jahre. Ihre Lebens- Hochschulen: Der Einfluss der Konzerne geschichte wirkt wie das Märchen vom auf die amerikanische Uni-Forschung ...... 276 Aschenputtel: eine traurige Kindheit, miese Tiere: Berliner Biologen sind Meister Jobs und dann die Entdeckung durch den im Quallenzüchten...... 282 Archäologie: Neue Funde in der Traumprinzen – den Sony-Music-Manager französischen Chauvet-Höhle ...... 286 Tommy Mottola. Doch statt glücklich bis Der Hund als Gefährte des ans Ende ihrer Tage zu leben, ließen sie sich Eiszeit-Menschen ...... 288

scheiden. Mit ihrem Album „Rainbow“ will FAIRLIGHT Flugzeugkatastrophe: Nach dem EgyptAir- Carey nun ein neues Leben beginnen. Sängerin Carey Absturz – wie sicher ist die Boeing 767? ...... 294 Sport Fußball: Der norwegische Weg zum Erfolg ...... 300 Schach: Interview mit Weltmeister Alexander Khalifman Herz aus Titan Seite 270 über den Wert seines Titels ...... 306 Amerikanische Ärzte planen eine Medizin-Revolution. Im nächs- ten Frühjahr wollen sie einem Patienten ein komplettes Herz Briefe ...... 8 aus Titan und Kunststoff einsetzen. Die Vorbereitungen laufen Impressum ...... 312 mit größter Umsicht. Denn im letzten Jahrzehnt endeten ähnli- Leserservice ...... 312 Chronik...... 313 T. EVERKE T. che Versuche im Debakel: Die Patienten vegetierten unter elen- Register...... 314 den Qualen ihrem Tod entgegen. Personalien ...... 316 Kunstherz Hohlspiegel/Rückspiegel...... 318

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denen die mit den Kriegszerstörungen und der „Schuld“ am Ersten Weltkrieg belaste- „Einzigartig wurde das Phänomen ten deutschen Sportler wie vier Jahre zuvor Hitler durch die Bereitwilligkeit, mit in Antwerpen nicht geladen waren. Berlin Anna Teut der die große deutsche Kulturnation Hitler stellte einen Homo novus und keine einem derartig zwielichtigen Konsequenz deutscher Geschichte dar. Die politischen Heilsbringer glaubte – nachhaltigen Irritationen, die diese in sich so seltsam farblose Persönlichkeit auslöst, er- und offensichtlich auch geben sich aus der Fähigkeit, ein normales liebend gern glauben wollte.“ Volk Schritt für Schritt zum Komplizen zu machen. Gerade dies weist auf den Kern- Dr. Rolf Cornelius Müller aus Kreuzlingen (Schweiz) zum Titel punkt des Schreckens hin: Er kann sich je- „Das Monster des 20. Jahrhunderts“ SPIEGEL-Titel 43/1999 derzeit wiederholen. Es braucht nur den richtigen Mann zur richtigen Zeit. Die rich- tige Zeit allein reicht niemals aus. Sehr interessant, die Ausführungen von Unna Volker Böning Antiaufklärerischer geht’s nimmer Joachim Fest: Hitler als jemand, der im Nr. 43/1999, Titel: Das Monster des 20. Jahrhunderts – Grunde genommen Politik lediglich als Ach, hätten sie doch bei Fest in die Schule Joachim C. Fest: Hitler – Die reale Macht des Bösen Handlungsrahmen des eigenen „Aggres- gehen können: Goldhagen, Horkheimer, sionswillens“ benutzt hat. Leider gelingt in Wie beruhigend zu erfahren, dass Hitler das meinen Augen die Argumentation gegen „Monster des 20. Jahrhunderts“ war. Kein den Idealismus des Humanismus jedoch Mensch war er also, nein, ein Monster. Nicht auch hier – wie schon bei Sloterdijk – nicht: so richtig real. Von einer anderen Welt. Wir Die Existenz des „Bösen als reale Macht“ Menschen brauchen uns da zukünftig keine widerlegt den Humanismus nicht, als die- Sorgen zu machen. Diese ewigen Mahner, ser „das“ Böse nicht leugnet oder er zu- die darauf bestehen, dass wir wissen müs- mindest nicht auf eine solche Leugnung sen, was geschah, dass wir uns un- angewiesen ist, um als ein ernst zu neh- serer demokratischen Tugenden nicht so si- mendes Konzept bestehen zu können. cher sein sollten, wir sie pflegen müssen, Trier Dominik Maletz alles Quatsch. Hauptsache, wir haben genug Ghostbusters und halten das Tor zur Un- Ich bitte Sie inständig: Entmythologisieren terwelt verschlossen. Dann bleibt alles gut. Sie Hitler! Entschlüsseln Sie diese Er- Dresden Sabine Friedel klärungsversuche alter Herren, die immer wieder mit neuen Thesen ihre erlebte und Wenn man sich auf die Einmaligkeit und noch immer innewohnende Begeisterung Universalität des Bösen in Hitlers Denken für Adolf Hitler zu erklären versuchen. So und Handeln festlegt wie Fest und andere wie das Christentum den Satan, so brau- fortschrittliche Denker, landet man pfeilge- chen offensichtlich alle Ethiker Hitler. rade in der intellektuellen Sackgasse. Einzig Ulm Markus Junginger

möglicher Schluss: Dieses ultimative Mons- / DER SPIEGEL M. EHLERT ter kann nur einem Monstervolk entsprun- Müssen Sie die anfängliche Anziehungskraft Hitler auf dem Nürnberger Parteitag (1935) gen und von einem solchen permanent ge- des „faschistischen Experiments“ auf aus- Einem Monstervolk entsprungen? stützt, wenn nicht getrieben worden sein. ländische Besucher ausgerechnet mit einer Für Monstervölker gibt es keine Absolution, Aufnahme aus dem Riefenstahl-Film illu- Mommsen, Broszat. Dabei ist die Widerle- lediglich die Pflicht zu ewiger Demut. Wer strieren, die dem flüchtigen Betrachter zeigt, gung der Aufklärung so einfach: Hitler hat diese Goldhagensche Sicht nicht akzeptie- zeigen sollte, dass die französische Olym- deren Grundannahmen ein für alle Mal exe- ren will, dem bleibt wie Fest letztlich nur piamannschaft bei ihrem Einmarsch in das kutiert. Und Fest weiß noch mehr: Hitler mehr die Ratlosigkeit. Ein halbes Jahrhun- Berliner Olympiastadion den „Führer“ mit wollte seinen „doppelten Vernichtungsvor- dert danach würde man sich von deutschen dem Hitlergruß ehrte? Faktum ist, der seit- satz vollstrecken: den gegen die Juden und Denkern etwas mehr erwarten. lich ausgestreckte rechte Arm der Spieler gegen das eigene Volk“.Alle sind eben Op- Wien Hans Egger gehorchte einem Ritual, das die französi- fer Hitlers, dieser Inkarnation des Bösen, Ju- sche Mannschaft bereits während der Olym- den wie Deutsche. Noch Fragen? Die Bewunderung für einen Mann mit agi- pischen Spiele 1924 in Paris praktizierte, zu Filderstadt Wigbert Benz tatorischen Fähigkeiten und die Relativie- rung des extrem antisemitischen deutschen Gedankenguts, dem sechs Millionen Juden Vor 50 Jahren der spiegel vom 10. November 1949 in Vernichtungslagern und Konzentrations- Adenauer zeigt außenpolitischen Machtwillen Nach bewährtem Alt- lagern zum Opfer fielen, ist in diesem Arti- reichs-Rezept wie bei Bismarck. Die neuen Landespressegesetze liegen kel durch den Vergleich mit anderen Dik- vor Trauen die Alliierten den Deutschen und der Bonner Grundordnung taturen deutlich geworden. Joachim Fest nicht? Wettrennen der Großmächte um die Freundschaft der einstigen rechtfertigt die deutschen Verbrechen nicht, Feinde Neue Deutschlandkonzeption der USA. Der Jemen will seine strenge Isolation aufgeben Bau- und Exportfirmen aus England, Italien aber er verharmlost sie, indem er auf Stalin und den USA entwickeln Pläne. „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee und Mao verweist. Er verrechnet sie mit Williams hat in London Premiere Inszenierung von Sir Laurence Olivier. anderen. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Dorsten (Nrdrh.-Westf.) Titel: Deutsche Eislaufmeisterin Irene Braun Marcel Trocoli-Castro

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Je kapitaler und wilder eine Charakterisie- rung gerät, desto nichtssagender wird sie Lieber gleich auf den Kopf hauen auch! In Wirklichkeit war Hitler ein Klein- Nr. 43/1999, Rente: Wie Rot-Grün den bürger mit einem besonderen Talent für Generationenkrieg anheizt; So reich sind die Alten Demagogie, schauspielerische Gestik und Rhetorik, der erst durch die erstaunlich Das verkrampfte Bemühen um „Genera- große Resonanz und den frenetischen tionengerechtigkeit“ lenkt in erster Linie Applaus seines Publikums, der damaligen von der dramatisch wachsenden sozialen Deutschen, zur vollen Form und Wirksam- Ungleichheit innerhalb aller Generationen keit auflaufen konnte. ab. Statt darüber nachzudenken, wie aus ei- Sindelfingen Günther Häffner ner Verschiebung der Altersstruktur resul- tierende Schwierigkeiten solidarisch zu be- Man könnte Fests Festhalten an der „Spit- wältigen sind, spielt man einzelne Gruppen zenstellung“ Hitlers unter den Massenmör- und ganze Generationen gegeneinander aus dern des Jahrhunderts auch so bezeichnen: und funktioniert die Demografie zu einem übersteigerter, pedantischer Nationalismus Mittel politischer Demagogie um. des deutschen Historikers, der den Russen Köln Prof. Dr. Christoph Butterwegge einfach deren „Spitzenstellung“ mit den Mördern Lenin und Stalin „neidet“. Es ist doch leicht abzusehen, was passiert, Tamm (Bad.-Württ.) Karl-P. Schlor wenn die gesetzliche Rente zur Grundver- sorgung wird und man für einen wohlver- Hitler kam nicht, wie es Fest sehen will, als sorgten Lebensabend selbst Geld beiseite Monster auf die Welt. Hitler spielte seine legen muß: Es wird mehr „reiche Alte“ ge- „deutsche Schicksalssinfonie“ auf einem ben, aber auch viele „arme Alte“, die eben von Militär und Kapital und vom „deut- nicht vorgesorgt und das Geld lieber an- schen Hausmeister“ gestimmten Klavier. derweitig ausgegeben haben. Dann diagnos- Berlin Gert C. Möbius

Fests Hitler-Psychogramm ist eine prä- zise, differenzierte Analyse der Person des Diktators. Treffend das Titelbild mit der Überschrift „Das Monster des 20. Jahrhunderts“. Das könnte man ange- sichts der absolut beispiellosen Barbarei der Judenvernichtung ins Universal- historische ausweiten: „Das Monster der Menschheitsgeschichte“. Würzburg Prof. Dr. Theo Meyer

Laut Nietzsche ist der Verbrecher sei- ner Tat häufig nicht gewachsen: Er ver- kleinert und verleumdet sie. Ganz an- ders Hitler: Er hat seine Mordabsichten niemals verleugnet, sondern sogar vor frankfurter allgemeine aller Welt angekündigt und es dennoch geschafft, sein Verbrechen so lautlos und tiziert irgend jemand eine „soziale Schief- präzise durchzuführen, dass keiner etwas lage“, der Ruf nach „sozialer Gerechtig- gewusst haben will, am wenigsten die Mit- keit“ wird laut und lauter, und ein Weg wird täter. Das macht ihn „einzigartig“. gefunden, den „ungerechten“ Vorteil derer, Köln Johannes Habig die für ihre Altersversorgung gespart ha- ben, „umzuverteilen“. Da haue ich das Geld Antiaufklärerischer geht’s nicht.Wie sollen lieber gleich auf den Kopf, dann kann es wir je das NS-System begreifen, wenn mir wenigstens keiner mehr abknöpfen. weiterhin die Schuld dem einen, dem an- Mainz Thomas Roessing geblichen „Monster“ Hitler, zugeschoben wird? Um den Nationalsozialismus zu ver- Wer ist eigentlich auf die putzige Idee ge- stehen, müssen wir erforschen, aus wel- kommen, eine Rente auf Kapitaldeckungs- chen Motiven sich die Millionen deutscher basis stelle eine geringere Belastung jünge- Männer und Frauen dafür engagierten. rer Generationen dar als eine durch Umla- Stegen (Bad.-Württ.) Dr. Stephan Marks gen finanzierte? Die nicht produzierenden Einkommensbezieher einer Volkswirtschaft Die Faszination Hitler ist nicht das von ihm werden in jedem Fall von den wirtschaftlich ausgehende „Böse“, andere haben ihn im 20. Aktiven mitgetragen, denn nur sie stellen Jahrhundert darin meilenweit übertroffen her, was alle „konsumieren“. Arbeitsplatz- und sprechen von einem „schülermäßigen besitzer werden also immer den entspre- Hitlerregime, das dem Westen den Blick ge- chenden Anteil der von ihnen erwirtschaf- trübt hat“ (Solschenizyn). Die Faszination teten Werte mit Alten teilen – oder ihnen ir- war seine unbestrittene Ausstrahlung. gendwie den Hahn abdrehen müssen. Haan (Nrdrh.-Westf.) Dr. Heinrich Kraus Rechtmehring (Bayern) Helmut Reuter

12 der spiegel 45/1999 W. SCHUERING W. Exportgut „Leopard 2“-Panzer Aus der Geschichte nichts gelernt?

Schlechte Karten für Exportblockierer Nr. 43/1999, Regierung: Die Grünen und der Leo 2; Interview mit Umweltminister Trittin

Nunmehr soll die Verbesserung der Men- schenrechtssituation in der Türkei zum Maßstab des kommenden möglichen „Leo- pard“-Exports werden. Doch Menschen- rechte erfüllen sich nicht per Appell, sie bedürfen aktiver Politik. Die bleibt die Bundesregierung uns und den Menschen in der Türkei bislang schuldig. Berlin Dr. Angelika Claußen Intern. Ärzte f. d. Verhütung des Atomkriegs

Sie schreiben mit Recht, dass das türkische Militär traditionell auf deutsche Hilfe bau- te. Nicht nur, dass die Geschütze am Bos- porus im Wesentlichen aus dem Hause Krupp stammten, auch die Truppen des os- manischen Heeres sind seit 1880 mit deut- schen Mausergewehren ausgerüstet worden. Bis zum Ersten Weltkrieg sind von der Mau- serschen Waffenfabrik über eine Million Ge- wehre an die Türkei geliefert worden. Ab 1914 sahen sich dann die Bewohner Ar- meniens osmanischen Truppen gegenüber, deren Gewehre eine deutsche Herkunfts- bezeichnung trugen. Hat unsere Regierung denn aus der Geschichte nichts gelernt? Bonn Erwin Hartmann

Warum regt man sich eigentlich so auf? Im- merhin exportiert Deutschland seit Jahr- zehnten Umweltvernichtungsmittel in alle Welt, sogar die alte DDR-Flotte ging nach Indonesien, und „Exportblockierer“ hatten auch vor Scharping immer schon schlechte Karten. Also warum nicht 1000 Panzer an die Türkei, damit sie Kurden und Griechen im Zaum halten können? Natürlich bieten 1000 „Leopard“ eine strategische Erweite- rung geradezu an: Irak, Iran, Syrien und natürlich den Kaukasus. Zwingt eigentlich jemand die Deutschen, Panzer zu bauen? Vila Nova de Gaia (Portugal) J. Kappert

Herr Fischer weiß durchaus zu differenzie- ren, wo man der Türkei Zugeständnisse ma- chen sollte und wo nicht. Die Türkei sollte ihre Bemühungen auf gesetzlicher und wirt- schaftlicher Ebene, den EU-Standards zu entsprechen, honoriert bekommen. Eva Röben

der spiegel 45/1999 Briefe

mer. Warum wird in diesem Fall den Eltern alles geglaubt? Wer fragt, was das Mädchen an Schäden davontragen kann? Was sind das für Eltern, die ihren Sohn allein zurück- lassen? Untermeitingen (Bayern) Peter Tögel

Was erwartet man von einer Gesellschaft, in der sogar „Händchenhalten“ unter den Kindern in Camps verboten ist und wo je- der Betreuer sich ständig durch Zeugen absichern muss, damit er nicht verklagt wird? Hamburg Jan Vieth Camp-Betreuer und Student

Ein Land, in dem man 21 sein muss, um ein Glas Bier zu trinken, aber schon viel früher in den Krieg ziehen oder zumindest eine Waffe besitzen darf. Und nicht zuletzt ein

ACTION PRESS ACTION Land, das seine verklemmte Geilheit an den Narkoseüberwachung im OP: Genaue Erinnerung an die Operation widerwärtigen Sexspielen seines Präsiden- ten auslebt, um sich danach mit der fast Ich wurde im Alter von sieben Jahren vor ei- schon perversen Bestrafung angeblicher Es war die Hölle ner ambulanten, operativen Entfernung von elfjähriger „Triebtäter“ die kollektive Ab- Nr. 43/1999, Medizin: Nasenpolypen mit Äther betäubt. Ich erin- solution zu erteilen. Und mit diesem Land Das schreckliche Erwachen während der Operation nere mich leider zu genau an die Operation, an der Spitze soll die Welt ins 21. Jahrhun- bei der der Arzt mit einem Instrument in dert schreiten? Grausige Aussichten! Nach dem aktuellen Stand von Wissen- meinem Rachen hantierte und ich schreck- Gödöllö (Ungarn) Alexander Tatrai schaft und Technik lassen sich flache Nar- liche Angst vor ihm hatte und das Gefühl, kosestadien, in denen die Gefahr von keine Luft mehr zu bekommen.Als ich „er- Mal wieder ist alles schlecht in den USA. Wachheitserlebnissen des Patienten be- wachte“, war die Angst immer noch so groß, Wenn die Eltern des Kindes die US-Staats- sonders groß ist, sicher vermeiden. Die dass ich den Raum fluchtartig verließ. Man bürgerschaft inneha- Überwachung der Hirnfunktion während sagte mir, ich hätte einen Alptraum gehabt. ben, bedeutet dies der Narkose anhand der Hirnströme (EEG) Ich selbst dagegen hatte immer das Gefühl, einen mehrjährigen ist als Routinemaßnahme durchführbar. es wirklich erlebt zu haben. Ihr Artikel be- Aufenthalt und somit Der in Hannover entwickelte EEG-Monitor stärkt mich in meinem Gefühl, dass ich eben die Kenntnis der Din- „Narcotrend“ bewertet die Schlaftiefe des nicht vollständig bewusstlos war. ge, wie solche Straf- Patienten während der Narkose sogar au- Bonn Astrid Sondermann sachen ablaufen kön- tomatisch. Das System ist sehr einfach nen. Jeder, der sich in handhabbar, dem Patienten werden ledig- den USA auskennt, lich drei Elektroden auf die Stirn geklebt. Grausige Aussichten nimmt sich einen An- Mit dem EEG-Monitoring wird der Patient Nr. 43/1999, Justiz: Kinder im US-Strafvollzug walt und geht dann auch vor Überdosierungen geschützt. Es den Weg, den die Ge-

trägt zu einer verbesserten Befindlichkeit Als wir in Denver wohnten, konnten wir setze aufzeigen. Ist DPA im postoperativen Zeitraum bei. erleben, wie minderjährige Kinder ihre Ge- die Handhabung in Beschuldigter Raoul Hannover Dr. Barbara Schultz schwister umbrachten. Soll all das mit Deutschland oder in Klinikum Hannover-Oststadt „kindlicher Neugier“ abgetan werden? Kin- der EU besser? Wo zum Beispiel Kinder- der in den USA benehmen sich im Vergleich gärtner, erst nachdem sie über 100 Kinder Dazu ein eigenes Horrorerlebnis, es liegt zu Deutschland viel früher wie Erwachsene. geschändet haben, vor Gericht gestellt zwar schon 40 Jahre zurück, ist aber (lei- Und wenn die elterliche Führung fehlt, sind werden. der) noch total frisch in der Erinnerung. Im die Folgen leider um ein Vielfaches schlim- Seminole (Florida) Wolfgang Boldt Berliner Wenckebach-Krankenhaus wur- den mir die Mandeln entfernt. Ich bekam Menschenverfolgung wegen gewaltfreier drei Spritzen in den Hals und dadurch das sexueller Beziehungen hat ihre Ursache in Gefühl zu ersticken, denn ein Schnupfen VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, absurden christlichen Sexualanschauungen. Korruption,Titelgeschichte (S. 40), Prozesse, Jahrtausendwende, Kri- hatte sich fürchterlich weiterentwickelt. minalität, Kredite, Liechtenstein: Ulrich Schwarz; für CDU, Titel- Die Schande der US-Brachialjustiz gegen geschichte (S. 30), Justiz, Zeitgeschichte, Ostasien, Klima: Michael Dann gab es Lachgas, und die Operation Schmidt-Klingenberg; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Kinder hat ebenso ihre religiöse Wurzel. begann. Ich erlebte alles wie auf einem Titelgeschichte (S. 44), Internet, Trends, Geld, Europa (S. 116), Staats- Klagenfurt (Österreich) Rolf Fuchs finanzen, Kartelle, Affären, Geldanlage, Stromkonzerne, Boule- kleinen Monitor über mir mit. Das hätte ja vard-Presse, Journalisten, Reality-TV: Gabor Steingart; für Pano- eigentlich ganz interessant sein können, rama Ausland, Kaukasus, Georgien, Frankreich, Jugoslawien, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Schweden, Europa (S. 212), Tschechien, Russland, Japan, Chronik: schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. nur – ich erlebte auch die Schmerzen des Hans Hoyng; für Titelgeschichte (S. 50, 56), Fernsehen, Fernsehspiel, Schneidens, und es kam für einen kurzen Szene, Showbusiness, Kino, Städtebau, Stars, Autoren, Bestseller, Film, Schönheit: Dr. Mathias Schreiber; für Prisma, Medizin, Hoch- In der Heftmitte dieser Ausgabe befindet sich in einer Teil- Moment das Allerschlimmste: Als die Lach- schulen, Tiere, Archäologie, Flugzeugkatastrophe: Johann Grolle; für Fußball, Schach: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die auflage ein 12-seitiger Beihefter der Firma C&A, Düssel- gasmaske abgenommen wurde, war das so, Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel, Personalien, Rück- dorf. Einer Teilauflage ist eine Postkarte der Firma Han- als würde an jedem Nerv meines Körpers spiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für delsblatt/WiWo, Düsseldorf, und eine Postkarte des SPIE- gerissen werden. Das werde ich nie ver- Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; GEL-Verlages/Abo, Hamburg, beigeklebt. Einer Teilauf- Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, lage liegen Beilagen der Firmen Apple, Feldkirchen, Schöf- gessen, es war die Hölle. 20457 Hamburg) TITELFOTO: Herbert Schlemmer fel Sportkleidung, Schwabmünchen, Spektrum der Wis- Spranz (Nieders.) Gisela Zittwitz senschaft, Heidelberg, und Teppich Kibek, Elmshorn, bei.

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Werbeseite Panorama Deutschland D. HOPPE / NETZHAUT

Demonstration von Stadtwerke-Mitarbeitern (in Rheinhausen)

STROMMARKT Die Abgeordneten möchten die vornehmlich von Stadtwerken betriebenen Kraft-Wärme-Kopp-

lungs-Anlagen vor den Auswirkungen des libera- H. DARCHINGER J. Müller gegen lisierten Strommarktes schützen.Wegen des Preis- Müller sturzes von über 30 Prozent seit 1997 droht den meisten der bundesweit über 4000 KWK-Anlagen das Aus. Die „Penner-Prämie“ ÖTV rechnet mit dem Verlust von bis zu 40000 Arbeitsplätzen. KWK-Anlagen gelten als umweltfreundlich, derzeit liefern sie in neuer Streit steht der Bundesregierung bevor. Wirt- zehn Prozent des deutschen Stroms und vermeiden so jährlich Eschaftsminister Werner Müller und die SPD-Bundestags- die Emission von rund 34 Millionen Tonnen Kohlendioxid. „Im fraktion können sich nicht über die Wettbewerbsregulierung auf Wirtschaftsministerium wird die eigentliche Dimension des Pro- dem Strommarkt einigen. Beim Energiegipfel mit ÖTV-Chef blems nicht erkannt“, klagt SPD-Fraktionsvize Michael Müller. Herbert Mai und dem IG-Chemie-Vorsitzenden Hubertus Bei einem Krisentreffen mit Gewerkschaftern und Parlamenta- Schmoldt, der diesen Montag im Kanzleramt stattfinden soll, riern im September war der Minister beauftragt worden, bis droht jetzt ein Eklat. Minister Müller weigert sich bislang, ein Ende Oktober drei Konzepte zum Erhalt der KWK durchrech- langfristiges Förderkonzept für die umweltfreundliche Kraft- nen zu lassen. Die Stadtwerker hofften auf Abnahmegarantien Wärme-Koppelung (KWK) vorzulegen – die Energiepolitiker oder Bonuszulagen für den klimaschonend erzeugten Strom. der SPD wollen nun den parteilosen Minister unter Druck set- Doch Müller nennt das Bonus-Modell eine „Penner-Prämie“ für zen und einen eigenen Antrag ins Parlament einbringen. Stadtwerke, die auf den Wettbewerb nicht vorbereitet seien.

FLÜCHTLINGE nisterium nach Wegen, die „Möglich- BUNDESTAG keiten der zwangsweisen Rückkehr“ zu Abschiebung im Frühjahr verbessern. Im April will der Bund Freie Rede seine Zahlungen von 500 Mark pro ie Innenminister von Bund und Monat und Flüchtling einstellen. Die so it einer ungewöhnlichen Initiative DLändern haben sich auf die mas- genannte Arbeitsgruppe Rückführung Mwill der FDP-Bundestagsabgeord- senhafte Abschiebung von Kosovo-Al- von Bund und Ländern hat jetzt den nete Dirk Niebel, 36, für mehr Leben banern geeinigt, wenn diese nicht Auftrag, die Details der Abschiebungen im Parlament sorgen: Er stellte den An- freiwillig zurückkehren. Vom kommen- zu klären. trag, dass in der letzten Sitzungswoche den Frühjahr an soll mit der Rück- des Jahres alle Abgeordneten am Red- führung begonnen werden. In einigen nerpult auf Notizen, Stichwortzettel Bundesländern werden die anerkann- oder ausgearbeitete Vorlagen verzichten ten Kriegsflüchtlinge und die illegal sollten. „Monotones Ablesen langweilt eingereisten Kosovaren bereits zur Aus- die Zuhörer“, begründet Niebel seinen reise aufgefordert. Wer dann nicht in- Vorschlag, „eine frei gehaltene Rede er- nerhalb von vier Wochen freiwillig möglicht Spontaneität und Flexibilität.“ geht, dem wird die Abschiebung ange- Der von Niebel angeregte Gruppenan- droht. Die soll allerdings nicht in den trag zur „Stärkung der Freien Rede im Wintermonaten geschehen. Bundesin- Deutschen Bundestag“ hat durchaus nenminister Otto Schily (SPD) hat in Chancen auf Verwirklichung: 40 Abge- einem Brief an seine Länder-Kollegen ordnete aus allen Parteien haben ihn bereits festgestellt, „dass die Rückkehr unterzeichnet, darunter Angela Mar-

von Kosovo-Albanern“ möglich sei. DPA quardt (PDS) und Wolfgang Zeitlmann Mit „hoher Priorität“ suche sein Mi- Rückführung von Kosovo-Albanern (CSU).

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UMWELT Falscher Müll? as Duale System Deutschland D(DSD) – ausschließlich zur Verwer- tung des Verpackungsmülls eingerichtet – soll angeblich auch Gewerbemüll ein- sammeln und so seine Kosten künstlich hoch rechnen. Diesen Vorwurf erhebt der Ex-DSD-Sprecher und Bonner Um-

weltpublizist Gunnar Sohn. So würden A. BASTIAN Kunststoffabfälle von Baustellen oder Verwertung von Plastikabfall aus Handel und Gewerbe bei den Re- cyclingunternehmen illegal den Grüner-Punkt-Verpackungen gebenen Sammelmengen von 76 Kilogramm pro Jahr und Kopf „untergeschoben“. „Große Abfallmengen“ stammten somit der Bevölkerung zu erreichen, so rechnet DSD-Insider Sohn, nicht aus den Sammlungen mit dem gelben Sack, sondern aus müsse jeder Bundesbürger täglich „30 bis 40 Verpackungen“ in gesetzlich nicht vorgesehenen Quellen in der Industrie. Für jede die Grüne-Punkt-Sammlung geben, „eine utopische Zahl“. Tonne verarbeitetes Material beziehen die Kunststoffverwerter „Diese Vorwürfe treffen nicht zu“, sagt dagegen DSD-Spreche- vom DSD durchschnittlich 2400 Mark, die als Kosten über die rin Petra Rob, „bei uns wird sauber abgerechnet, die Stoffströ- Lizenzabgabe den Verbraucher belasten. Um die offiziell ange- me werden von den Aufsichtsbehörden kontrolliert.“

RÜSTUNGSEXPORT dolf Scharping will nächste Woche die ENTSCHÄDIGUNGEN Türkei, Ägypten und die Vereinigten Werbung in Dubai Arabischen Emirate besuchen. Denen Zwei Milliarden drauf hat die Berliner Regierung soeben 32 ge- ach dem Eklat um „Leopard“-Pan- brauchte „Alpha Jet“-Kampf- und anzler Gerhard Schröder hat sich Nzer für die Türkei droht der rot-grü- Schulflugzeuge bewilligt. Aber während Kmassiv in die stockenden Verhand- nen Koalition ein neuer Streit um Rüs- Scharpings Visite wird bei der „Dubai lungen über die Entschädigung von ehe- tungsexporte: Verteidigungsminister Ru- Air-Show“, einer Luftfahrt- und maligen NS-Zwangsarbeitern einge- Rüstungsmesse, auch der „Euro- schaltet. Industrievertreter berichten, fighter“ vorgeführt. Das europäi- der Kanzler habe Hans-Olaf Henkel, sche Konsortium, an dem auch dem Präsidenten des Bundesverbandes Deutschland beteiligt ist, möchte der Deutschen Industrie, vorgeschlagen, mindestens 24 der Kampfjets an das derzeitige Angebot an die Opfer von die Emirate verkaufen. Saudi-Ara- sechs Milliarden auf acht Milliarden bien ist weiter an „Leopard 2“- Mark zu erhöhen. Vor der deutsch-ame- Panzern interessiert und will „Erd- rikanischen Verhandlungsrunde, die für Erkundungssatelliten“ in Deutsch- den 16. November in Bonn vorgesehen land bestellen. Israel hat schon in ist und von Experten als letzte Chance Berlin protestiert, weil die zivilen angesehen wird, könnte laut Schröder Himmelsspäher auch israelisches die Regierung ihren Anteil von zwei auf

AP Gebiet beobachten könnten und drei Milliarden, die deutsche Industrie „Eurofighter“ militärisch nutzbar seien. ihren von vier auf fünf Milliarden Mark aufstocken. Die Unternehmen haben al- lerdings die bislang zugesagten vier Mil- liarden noch längst nicht gesammelt. JUGENDLICHE ländern, die 45 Prozent der Problemfäl- le stellen, die Abschiebung. Schon bevor Neue Härte im Dezember erste Ergebnisse folgen sollen, hat Innenminister Thomas aden-Württemberg will konsequen- Schäuble (CDU) in der vergangenen Bter gegen jugendliche Serientäter Woche die neue harte Linie nach baye- vorgehen. Dazu treffen sich in den rischem Vorbild demonstriert. Münch- 37 Polizeidirektionen des Landes neuer- ner Behörden hatten im vergangenen dings regelmäßig Arbeitsgruppen mit Jahr den 14-jährigen „Mehmet“ ausge- Ermittlern, Jugendarbeitern und Vertre- wiesen. Am Mittwoch wurde der in tern der Ausländerämter. Sie sollen Deutschland geborene 14 Jahre alte Tür- schnell entscheiden, was mit den rund ke Mustafa D. aus Baden-Württemberg 500 Serientäter im Land passieren soll. nach Ankara abgeschoben. Er saß we-

Den auffälligsten droht die Unterbrin- gen Diebstahls, räuberischer Erpressung S. SPIEGL gung in geschlossenen Heimen, bei Aus- und schwerer Körperverletzung ein. Henkel, Schröder

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ATOMENERGIE für einen Transport erstens ein berech- tigtes Interesse gibt und er zweitens si- „Transporte kommen“ cher durchgeführt werden kann, dann muss er genehmigt werden. Da gibt es Umweltminister Jürgen Trittin, 45, keinen Ermessensspielraum. zum Streit um Atomtransporte und SPIEGEL: Ist die Sicherheit nicht gewähr- überfüllte interne Zwischenlager leistet? Trittin: Die Bundesanstalt für Material- SPIEGEL: Die Stromwirtschaft wirft Ihnen prüfung prüft noch technische Probleme vor, dass Sie sechs Kernkraftwerke entge- der Castorbehälter, die wir für lösbar hal- gen früheren Absprachen kalt abschalten ten. Zeitlich mehr Schwierigkeiten macht wollen, indem Sie Genehmigungen für den die Untersuchung der Transportbedin- Abtransport von Brennelementen ver- gungen für die „Stachelbehälter“, die in weigern. Scheitern die Konsensgespräche? die Wiederaufarbeitungsanlagen im Aus- Trittin: Das will ich nicht hoffen. Die In- land fahren sollen. Wir rechnen damit, dustrie hat uns selbst ein korrektes Ver- dass man in wenigen Wochen sagen kann, fahren bescheinigt. Wir haben ob und wie es geht. So ist das den Unternehmen für jedes ein- vorgeschriebene Verfahren. zelne Kraftwerk Lösungen zum SPIEGEL: Was passiert mit den Weiterbetrieb ohne Transporte deutschen Abfällen aus der Wie- angeboten.Wenn beim Schaffen deraufarbeitung im Ausland, von Zwischenlösungen vor Ort gegen deren Rücktransport die Verzögerungen eintreten, dann Anti-Atomkraft-Initiativen in liegt das auch daran, dass die Gorleben seit Monaten mobi- Anträge zu spät gestellt wurden. lisieren? SPIEGEL: Und nun? Trittin: Es gibt keinen sachlichen, Trittin: Im September haben keinen politischen und keinen wir zusätzlich angeregt, an den moralischen Grund, der dagegen

Standorten Lagermöglichkeiten K.-B. KARWASZ spräche, das Material zurück- zur Überbrückung der Frist bis Trittin zunehmen. Wir dürfen die von zur Fertigstellung der neuen Zwi- der vorherigen Regierung orga- schenlager zu schaffen. Auch damit wäre nisierte illegale Zwischenlagerung von der Weiterbetrieb ungeachtet fehlender deutschem Atommüll im Ausland nicht Abtransportmöglichkeiten gesichert. weiter tolerieren. Das sind wir als Grüne SPIEGEL: Gibt es auf dieses Angebot eine auch jenen Grünen in Frankreich schul- definitive Reaktion der Betreiber? dig, die dort dagegen klagen. Es wird in Trittin: Nein. Sie klagen weiter die Trans- überschaubaren Zeiträumen zu Rück- porte ein. Dabei war immer klar: Wenn es transporten aus La Hague kommen.

registrieren die Fahnder zwischen 1996 und 1998 einen Anstieg von 410 auf 1072 Ermittlungsverfahren – immerhin eine Zunahme um 161 Prozent. An der Spitze liegt Ham- burg mit 198 Verfahren, gefolgt von Berlin (193) und Nordrhein-West- falen (176). Den letzten Platz teilen sich Rheinland-Pfalz und Mecklen- burg-Vorpommern mit jeweils 7 Verfahren. Schwerpunkt der Beste- chung ist wie bereits in der Vergan- genheit der Bereich der allgemei- nen öffentlichen Verwaltung, vor allem im Zusammenhang mit Bau-

DPA projekten, aber auch Polizei und Bauarbeiten (am Frankfurter Flughafen) Justiz sind betroffen. Nach Feststel- lungen der Expertise wächst die KORRUPTION Gefahr der Bestechlichkeit mit der „Dauer der Aufgabenwahrnehmung“. Fester Platz im Amt Mehr als 70 Prozent der Geschmierten waren länger als fünf Jahre auf ihrem as Bundeskriminalamt (BKA) Posten. Angesichts dieser Zahlen urteilt Dwarnt vor einem alarmierenden das BKA, „dass die Korruption in unse- Anstieg der Korruption in Deutsch- ren Verwaltungen und Wirtschaftsberei- land. In dem jetzt vorgelegten Bericht chen einen festen Platz innehat“.

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BUNDESWEHR gesetzgeber“ die Aktion im Wehretat Am Rande „nicht veranschlagt“. Gegen „massiven Gesponserte Soldaten Widerstand“ (Scharping) der Beamten ließ der Minister die Anlage Ende Sep- Stolpes ganzer Stolz it einer Betreuungsmaßnahme für tember installieren – und die Soldaten MSoldaten im Kosovo hat Verteidi- ermuntern, bei jedem Gespräch für Der „kleine gungsminister Rudolf Scharping Freude mildtätige Zwecke zu spenden. Seither Trompeter“ war in der Truppe ausgelöst – und Unmut kamen dank der Telefoniersucht der einst Erich Ho- im Bürokraten-Apparat seines Ressorts. Truppe gut 50000 Mark zusammen. Das neckers Lieb- Die Kfor-Soldaten in Prizren können Geld soll Angehörigen der bei Unfällen lingslied. Das neuerdings über eine Satellitenanlage im Kosovo getöteten Kameraden zugute gratis in die Heimat telefonieren – ge- kommen sowie jenen Soldaten, die bei „lustige Rotgardistenblut“ gab sponsert von der Deutschen Telekom. Minenexplosionen verwundet wurden. sein Leben für die Revolution und Sie stellte die Anlage für ein wurde dafür von allen verehrt. Jahr kostenlos zur Verfügung. Das Lied ist immer noch sehr Die Bundeswehr musste nur beliebt, auf Ostalgiepartys im für Transport und Bedie- ganzen wilden Osten, vor allem nungspersonal sorgen. Die Aktion hatte Radsport-Fan aber im Land , das Scharping schon im Juli bei den Kosenamen „die kleine der Tour de France mit Tele- DDR“ trägt. Nicht zu Unrecht, kom-Chef Ron Sommer ver- denn rund um die Hauptstadt abredet. Die Ministerialbüro- hat man schon früher als kratie versuchte zunächst, die woanders damit aufgehört, Ab- neue Idee und das förmliche Angebot der Telekom abzu- geordnete auf mögliche -Ver- blocken: „Sponsoring“ sei

wicklungen zu überprüfen, es beim Militär „nicht üblich“, M. MALETZ / BMVG wurden ehemalige DDR-Kader in zudem habe der „Haushalts- Deutsche Soldaten in Prizren den Öffentlichen Dienst über- nommen und der „IM Sekretär“ dreimal zum Ministerpräsidenten BERATER war niederschmetternd: Wenn die Öko- gewählt. Und hat logiebewegten etwa „Nachhaltigkeit“ neulich, in klarer Einschätzung Sprachkurs für Grüne fordern, dann habe das schon deshalb der politischen Wetterlage, er- keinen Nachhall, weil die Leute den Be- klärt, er habe „immer die Auffas- er Frankfurter PR-Berater Walther griff nicht verstünden. Auch vor infla- sung vertreten“, das Etikett „klei- DKraft soll den Politikern von Bünd- tionärem Gebrauch des Wortes „Zu- ne DDR“ solle „stolz“ getragen nis 90/Die Grünen dabei helfen, sich kunft“ sollten sich die Grünen hüten. künftig verständlicher auszudrücken. Nach jahrelanger Debatte über Ozon- werden. Darauf gab es einen kur- Für die Bundestagsfraktion hat der ehe- löcher, Klimakollaps und Grenzen des zen Aufschrei der Entrüstung bei malige Sat-1-Marketingleiter das grüne Wachstums blicke das Wahlvolk beim der CDU, der von Landeschef Parteivokabular auf Klarheit und Über- Thema Zukunft nicht immer frohgemut, Jörg Schönbohm mit dem Dik- zeugungskraft überprüft – das Ergebnis sondern eher sorgenvoll nach vorn. tum abgewürgt wurde, Stolpes Worte seien erstens „missver- ständlich“ und zweitens „mit Sicherheit nicht an die Christ- Nachgefragt demokraten, sondern an zwi- schen SPD und PDS wandernde Jünger in Rente Wähler“ gerichtet. Damit war der kleine Skandal in der kleinen Gewerkschaften verlangen die „Rente mit 60“. Um diese Forderung zu realisieren, müssten alle Arbeitnehmer einen Teil ihrer Lohnerhöhungen in DDR beendet. Ganz so wie einen Tariffonds einzahlen. Was halten Sie davon? früher, als das „Neue Deutsch- land“ seinen Lesern erklärte, wie 18–24 25–29 30–44 45–59 60+ die Worte des Vorsitzenden zu Gesamt Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre verstehen seien, je nachdem, in 62% 65% 61% 62% 73% 52% welche Richtung sie gesprochen bin dafür wurden. Der kleine Trompeter ist bin dagegen 26% 17% 30% 30% 19% 30% lange tot, doch sein Ton macht immer noch die Musik in Bran- keine Meinung 12% 18% 9% 8% 8% 18%

denburg. Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 2. und 3. November; rund 1000 Befragte;

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Werbeseite L. KUCHARZ Parteifreunde Kiep, Kohl auf dem CDU-Parteitag 1985: Ein Typ, mit dem man „Pferde stehlen kann“

AFFÄREN „Krummes Ding abgezogen“ Aus der Schmiergeldaffäre um einen Panzer-Deal mit Saudi-Arabien wird womöglich ein Partei- spenden-Skandal. Der einstige CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep behauptet, nicht er, sondern seine Partei habe von dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber eine Million Mark kassiert.

ie Gerichtsstraße im idyllischen Kö- Als der einstige niedersächsische Fi- wesen. Und sein Anwalt, der Kölner Steu- nigstein im Taunus lag noch verlas- nanzminister, der auch 21 Jahre die Kasse erstrafrechtler Günter Kohlmann, assis- Dsen da. Nur ein eilig herbeigerufe- der Union hütete, gegen 12.15 Uhr durch tiert: „Das war eine Spende für die CDU. ner Wachtmeister, eine Protokollführerin den Hinterausgang des Königsteiner Ge- Herr Kiep hat von dieser Million keinen und die Haftrichterin Christine Radema- richtsgebäudes verschwand, war die Justiz Pfennig bekommen und musste deshalb cher waren am vergangenen Freitagmor- beruhigt. Dafür jagt ihn jetzt die CDU. auch nichts versteuern.“ gen schon vor sieben Uhr erschienen. Im- Denn Kiep – wegen des Verdachts der merhin hatte ein Prominenter aus der Steuerhinterziehung von der Staatsan- Nachbarschaft angekündigt, sich stellen waltschaft Augsburg gesucht, weil er zu wollen. Schmiergelder aus einem Panzer-Deal mit Tags zuvor, als der Haftbefehl gegen ihn Saudi-Arabien nicht angegeben haben soll vollstreckt werden sollte, aß der Beschul- – hatte in der fünfstündigen Vernehmung digte gerade mit Siemens-Chef Heinrich sein bisheriges Schweigen gebrochen. Die von Pierer im Münchner Hotel Vier Jah- drohende Untersuchungshaft vor Augen, reszeiten zu Mittag.Anschließend reiste er gab er dem Fall eine Wende, die womöglich zu einer Lesung aus seinem neuen Buch den Beginn einer neuen Parteispenden- „Was bleibt, ist große Zuversicht“ zum Au- Affäre bedeutet und die ins Herz der tomobilclub nach Stuttgart – und war Christdemokraten zielt. schon wieder weg, als dort am Donnerstag Das Geld, eine Million Mark, erklärte die Polizei erschien. der konservative Grandseigneur mit der Walther Leisler Kiep, 73, ist schwer zu Vorliebe für schwere Motorräder, sei nie fassen. für ihn, sondern für die CDU bestimmt ge- Beschuldigte Pfahls, Schreiber: Millionen als

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Die Verteidigungsstrategie In der Essener Konzernzentrale von ihres ehemaligen Schatzmeis- Thyssen wurden Unterlagen beschlag- ters löste in der Union, die sich nahmt, wonach bei dem Geschäft mit ei- gerade daran gewöhnt hatte, nem Auftragsvolumen von 446,4 Millionen die Pannen der rot-grünen Re- Mark „als Provisionen und nützliche Auf- gierung genüsslich auszukos- wendungen“ – vulgo: Schmiergeld – insge- ten, helle Panik aus. CDU-Ge- samt 219,7 Millionen Mark geflossen sind; neralsekretärin allein Schreiber soll davon 24,4 Millionen sprach von einem „bemerkens- Mark erhalten haben. Nach Überzeugung werten Vorgang“ und ga- der Staatsanwaltschaft ist er einer der Män- rantierte „rückhaltlose Auf- ner, die für die Verteilung zuständig waren. klärung“. 3,8 Millionen soll Pfahls von Schreiber Gleichzeitig räumte sie aber dafür bekommen haben, dass er den Deal ein, dass dies derzeit leider auf der Hardthöhe durchsetzte, 12,5 Mil- nicht möglich sei. Das Geld sei lionen sollen an die beiden Thyssen-Obe- auf einem Treuhandkonto ge- ren zurückgeflossen sein. landet, da komme man nur Und noch gegen drei weitere angebliche

schwer an die Unterlagen ran. / ARGUM STOCKMEIER F. Helfer wird ermittelt: gegen den Strauß- Auch der von Kiep benannte Vernommener Kiep: „Ich muss erst mal nach Amerika“ Sohn Max Josef, den früheren CSU-Wirt- Zeuge, immer noch ein Ge- schaftstaatssekretär Erich Riedl und eben schäftspartner der Union, sei unerklärli- genen Fraktion den Kanzler eindringlich Kiep. Alle dementieren, als wirklich heiß cherweise nicht zu erreichen. Parteichef vor der Ernennung gewarnt. galt keine dieser Spuren. Wolfgang Schäuble habe schon seinen Vor- Mühelos schaffte der Ex-Politiker die Erst in der vorvergangenen Woche in- gänger Helmut Kohl gefragt, aber auch der von der Haftrichterin festgelegte Kaution formierten die Augsburger Fahnder das Altbundeskanzler wisse von nichts. von 500000 Mark in bar herbei, um sich bayerische Justizministerium von dem ge- Fehlende Unterlagen, Erinnerungslü- vorerst einen Gefängnisaufenthalt zu er- planten Haftbefehl gegen Kiep. Die Aus- cken, Schmiergeldübergabe im Koffer – die sparen.Alle drei Wochen hat Kiep sich jetzt wertung von Geldbewegungen auf einem Umstände der Panzer-Affäre erinnern fatal bei der Polizei zu melden, an den Flick-Skandal der achtziger Jahre. solange der Haftbefehl nur Damals hatte der Konzern flächendeckend außer Vollzug gesetzt ist. Politiker und Beamte großzügig mit Ba- Nach der Vernehmung fiel rem versorgt, um umstrittene Steuer- der rastlose Geldeinsamm- entscheidungen zu beeinflussen. Es scheint, ler in alte Verhaltensmuster als wiederhole sich ein düsteres Kapitel zurück: „Ich kann jetzt der Geschichte – das Ermittlungsverfah- nichts sagen, ich muss erst ren 502 Js 127135/95, das schon so gut wie mal nach Amerika.“ erledigt schien, hat plötzlich das Potenzial Die Zurückgebliebenen für eine Staatsaffäre. machen sich derweil auf die Die seit über vier Jahren laufenden Er- Suche nach der Wahrheit. mittlungen der Augsburger Staatsanwalt- Ein CDU-Vorständler war schaft hatten Kiep und seine zahlreichen im Urteil über den alten Freunde bisher einfach ignoriert. Der Pen- Parteikameraden schnell sionär ist immer noch viel beschäftigt. Er bei der Hand. Kiep habe sitzt im Beirat der Deutschen Bank und „ein krummes Ding abge- steht nicht nur der European Business zogen. Er lügt, dass sich die School, sondern auch dem deutsch-ameri- Balken biegen“. kanischen Eliteclub Atlantik-Brücke vor. Ganz so einfach aber

Kanzler Gerhard Schröder zählt er zu wird die Union den lästi- AFP / DPA seinen Duzfreunden. Der Regierungschef gen Nestbeschmutzer wohl Panzer im Golfkrieg (1990): Hilferuf der Saudis hatte ihn gerade erst im Juli gebeten, sich nicht los. in seinem Namen um die fragilen deutsch- Im Mittelpunkt der Affäre steht der Schweizer Rubrik-Konto Schreibers, das türkischen Beziehungen zu kümmern. Da- Kauferinger Geschäftsmann Karlheinz die Ermittler Kiep zuordnen, hat nach ih- bei hatten führende Mitglieder seiner ei- Schreiber, 65, ein alter Kumpan des ver- rer Ansicht aus dem „seit längerem beste- storbenen Franz Josef Strauß. Schreiber henden Tatverdacht“ einen „dringenden soll 1991 im Zusammenhang mit dem Golf- Tatverdacht“ gemacht. Mit der Begrün- krieg die umstrittene Lieferung von 36 dung, Kiep habe ein Haus in Lenzerheide „Fuchs“-Panzern an Saudi-Arabien mit im schweizerischen Kanton Graubünden, Bargeld befördert haben, derzeit kämpft er wurde eine Fluchtgefahr bejaht. in Kanada gegen seine Auslieferung nach Bis dahin hatten die Indizien gegen ihn Deutschland. Zwei damals verantwortli- als ziemlich dünn gegolten: In einem bei che Manager des Fuchs-Herstellers Thys- Schreiber beschlagnahmten Kalender aus sen sind nur gegen Millionenkaution auf dem Jahr 1991 – das war das Jahr des Pan- freiem Fuß. Der ehemalige Verteidigungs- zer-Deals – fanden sich zwölf Hinweise auf staatssekretär und Verfassungsschutzprä- Kiep: „Max wg. LK wie gehts weiter“, hieß sident Ludwig-Holger Pfahls wird von es etwa. Oder „LK 1 = 1000000 DM“. Ei- Zielfahndern des Bundeskriminalamts nen weiteren von Schreiber offenbar für (BKA) gejagt, seit er im Juli in Hongkong die Tarnung von Geschäftspartnern ge-

CP wie ein gewöhnlicher Krimineller unter- brauchten Codeschlüssel glauben die Fahn- „Provisionen und nützliche Ausgaben“ tauchte. der geknackt zu haben: Statt des Kürzels

der spiegel 45/1999 23 „LK“ stand dann für den einstigen CDU- Funktionär und Hobbyjäger der Name „Waldherr“. Aus allen Hinweisen folgert die Staatsanwaltschaft, Kiep habe 1991 eine Füchse für die Wüste Million von Schreiber erhalten und die bei seiner Steuererklärung nicht angegeben Wie Staatssekretär Ludwig-Holger Pfahls Widerstände gegen das und so 529000 Mark Steuern hinterzogen. Panzer-Geschäft mit Saudi-Arabien aus dem Weg räumte. Kiep, der die Vorwürfe „Unsinn“ nennt,

ann ist ein Geschäft perfekt? Als Thyssen-Manager Jürgen WMaßmann am 5. Januar 1991 nach Saudi-Arabien flog, um den Lie- fervertrag über 36 „Fuchs“-Panzer zu unterzeichnen, fingen seine Probleme erst richtig an. Der Fuchs-Panzer galt als Kriegs- waffe und durfte deshalb nicht in Kri- sengebiete verkauft werden. Gegen die Lieferung nach Saudi-Arabien gab es denn auch ressortübergreifende Ab- lehnung in der Bundesregierung. Hin- zu kam: Selbst bei Erteilung einer Ex- portgenehmigung war Thyssen gar nicht in der Lage, auf die Schnelle die bestellten 36 Panzer zu liefern. Bereits parallel zu den Verhandlun- gen in Riad hatte das Unternehmen versucht, die Widerstände im Wirt- schafts- und Außenministerium aus dem Weg zu räumen – ohne Erfolg. Am 11. Januar 1991 beschrieb Maß- mann in einer vertraulichen Notiz an den Kaufmann Karlheinz Schreiber präzise sein Problem. Um möglichst schnell liefern zu können, sei „im We- Spürpanzer „Fuchs“: Die Bedenken der Heeresleitung einfach ignoriert sentlichen Folgendes erforderlich“: Man benötige die „Genehmigung der des Golfkriegs hatte die Bundeswehr beteuerte vor der Haftrichterin: „Ich bin Ausfuhr dieser Fahrzeuge“ und die 79 Spürpanzer an andere Nato-Staaten unschuldig.“ „Zurverfügungstellung von Transport- sowie drei weitere an Thyssen abgetre- Zur Untermauerung seiner Angaben panzern aus Bundeswehrbeständen“. ten, der Bestand war von 140 auf 58 hatte Kiep seinen früheren Vertrauten In den folgenden Wochen lösten sich Fahrzeuge geschrumpft. Horst Weyrauch und einen Vermerk seines die Widerstände gegen das Geschäft in Damit sah die Armeeführung die Anwalts Kohlmann mitgebracht. Der den Bonner Ministerien auf.Am 27. Fe- „ABC-Abwehrfähigkeit des Heeres“ Frankfurter Wirtschaftsprüfer Weyrauch bruar genehmigte schließlich der Bun- und die „Ausbildungsfähigkeit der galt in der CDU als Helmut Kohls Mann für dessicherheitsrat die Lieferung. ABC-Abwehrtruppe erheblich beein- größere und kleinere Krisen. Mit zweifel- Doch Thyssen mangelte es nach wie trächtigt“. Bei den staatsanwaltschaft- haften Methoden und undurchsichtigen vor an Ware. Deshalb wandte sich Maß- lichen Vernehmungen erklärten rang- Geschäften sanierte er in den neunziger mann am 12. März 1991 schriftlich an hohe Militärs später, dass „die Heeres- Jahren die klamme Union. Rüstungsstaatssekretär Ludwig-Holger leitung darüber sehr verwundert war“, Nicht er, verwies Ex-Schatzmeister Kiep Pfahls mit der Bitte, „uns aus Bundes- wie Pfahls diese Bedenken einfach auf die von Kohlmann verfasste Erklärung, wehrbeständen Fahrzeuge zur Verfü- ignorierte. sondern Finanzexperte Weyrauch habe da- gung zu stellen“. In einer Sitzung der beteiligten Ab- mals das Geld von Schreiber in Empfang Pfahls reagierte prompt. Noch am teilungen am 20. März 1991, an der auch genommen. In dem Schriftstück heißt es: selben Tag genehmigte er den Thyssen- Thyssen-Vertreter teilnahmen, ver- „Am 26.August 1991 begab sich Herr Horst Wunsch und bat die Chefs der Rüs- merkt das Protokoll: „Dr. Pfahls hat Weyrauch auf Ersuchen des Bundes- tungsabteilung und des Heeresstabes entschieden.“ Binnen 14 Tagen seien schatzmeisters (damals Kiep –Red.) zu ei- im Verteidigungsministerium, „unver- 36 Panzer Thyssen als Sachdarlehen zur nem Termin nach St. Margrethen.“ In dem züglichen Bericht über die eingeleite- Verfügung zu stellen. Zudem sollten Schweizer Bodensee-Ort habe Kiep seinen ten Maßnahmen“ zu erstatten. saudische Soldaten an der ABC-Schu- Mitarbeiter Weyrauch mit Schreiber be- Die Militärs sperrten sich. Zwei Tage, le Sonthofen ausgebildet werden. Da- kannt gemacht: „Nach einigen erklären- nachdem er die Thyssen-Bitte durch- mit war das Geschäft perfekt. den Worten wurde Herrn W. ein Behält- gestellt hatte, gab die Heeresleitung in Pfahls’ Einlassung, dass dieses Vor- nis übergeben, in dem angabegemäß DM einem internen Vermerk ihre Linie vor: gehen der „Wunsch des Kanzleramtes 1 Mio. enthalten sein sollten.“ Geöffnet „Dieser Vorgehensweise bzgl. Spür- und maßgeblicher Kräfte im deutschen habe der Kohl-Vertraute Weyrauch den panzer nicht zustimmen.“ Für die Ab- Bundestag“ sei, wurde nachträglich aus Koffer erst zu Hause in Frankfurt „und den lehnung gab es gute Gründe: Während dem Ergebnisprotokoll gestrichen. Betrag in Geldscheinen vorgefunden“. Die Million floss fast ein halbes Jahr, nachdem Schreiber versucht hatte, Kiep und

24 der spiegel 45/1999 Deutschland seine exzellenten Verbindungen zu Kohl für mann zum SPIEGEL, sei die Nachfolgerin Wiesheu oder CSU-Generalsekretär Tho- das Panzer-Geschäft einzuspannen. Kieps, Brigitte Baumeister, mit eingebun- mas Goppel als Spende zukommen ließ. Das belegt ein Brief Schreibers („Via Te- den gewesen und habe ihm zugestimmt. Die Union wehrt sich verzweifelt, mit in lefax Vertraulich“) vom 20. Februar 1991 an Die Zahlungen seien „unter Einbehal- den Schmiergeldsumpf gezogen zu wer- Kiep. Zu diesem Zeitpunkt drohte der Pan- tung der Lohn- und Kirchensteuer und ent- den. Die inzwischen ebenfalls ausgeschie- zer-Deal Richtung Nahost im Bundes- sprechender Abführung an das zuständi- dene Schatzmeisterin Baumeister wider- sicherheitsrat zu scheitern. Nur die Hälfte ge Finanzamt“ erfolgt. Danach sei „das sprach der Darstellung von Kieps Anwalt. der Fahrzeuge, diejenigen, die als Ambu- Treuhänder-Anderkonto restabgewickelt Sie sagte dem SPIEGEL, ihr sei „weder lanzen oder zum Aufspüren von und geschlossen“ worden. Wey- zu Beginn meiner Amtszeit ABC-Kampfmitteln ausgerüstet rauch und Lüthje waren bis Frei- noch danach bekannt geworden, waren, sollten nach dem Willen des tag vergangener Woche nicht für Den Geldkoffer dass leitende Mitarbeiter des Auswärtigen Amts freigegeben eine Stellungnahme erreichbar. zu Hause Konrad-Adenauer-Hauses Gel- werden. Vor der Haftrichterin bezeug- geöffnet und der irgendwelcher Art außer- Vorgeblich „in großer Sorge um te Weyrauch jedoch Kieps Dar- den Betrag von halb ihrer vertraglich verein- die Auswirkungen jüngster deut- stellung, man versprach zudem, einer Million in barten Gehaltszahlung erhal- scher Außenpolitik“ wandte sich Belege für diese Version beizu- ten“ hätten. Schreiber deshalb per Fax an Kiep. bringen. Gegen Kiep habe sich Geldscheinen Der Haftbefehl gegen Kiep Bei einem „Zusammentreffen mit „der Verdacht fast verflüchtigt“, vorgefunden ließ Ende der vergangenen Wo- einem Mitglied des saudi-arabi- resümierte daraufhin der König- che in Berlin die politische De- schen Königshauses“ habe er er- steiner Amtsgerichtsdirektor Axel Rohr- batte, ob nicht ein Untersuchungsaus- fahren, wie sehr die Monarchen beck nach der Vernehmung. Der Betrag sei schuss die Vorgänge aufklären müsse, wie- „durch die Verhaltensweise der wohl nie „ins Vermögen oder auch nur in der aufleben. Die Grünen sind bereits Bundesregierung verletzt sind“. den Besitz von Herrn Kiep gelangt“. Der entschlossen, das parlamentarische Kon- Die Genehmigung zur Ausfuhr der Haftbefehl sei nur deshalb noch nicht auf- trollgremium einzusetzen – nur der Ko- Panzer müsse im Bundessicher- gehoben worden, weil die Angaben der alitionspartner zögert noch. An diesem heitsrat dringend erteilt werden: beiden noch überprüft werden müssten. Montag will der von der SPD mit einer Daher „bitte ich Sie eindringlich, Mit dieser Wendung ist Kiep womöglich Prüfung beauftragte Bundestagsabgeord- im Interesse unseres Landes den aus dem Schneider, für seine Partei aber nete Frank Hofmann den Fraktionsspitzen Herrn Bundeskanzler über diese beginnen die Probleme. Bisher galt als aus- die Ergebnisse seiner bisherigen Ermitt- Vorgänge zu informieren“. Schrei- gemacht, dass Schreiber allein ein Problem lungen vorlegen. ber bat noch, Helmut Kohl eine der bayerischen CSU sei. Die Bayern-Iko- Es geht nämlich nicht nur um Schreiber. „freundliche Empfehlung“ auszu- ne Franz Josef Strauß steht im Verdacht, Auch beim Verkauf des ostdeutschen Mi- richten, den Parteipatriarchen habe mit ihm dunkle Geschäfte gemacht zu ha- nol-Tankstellennetzes und der Raffinerie er kürzlich in Kanada gesehen. ben. Immer mal wieder tauchten fünfstel- Leuna an den französischen Mineralöl-

S. SCHULZ / RETRO Tatsächlich wurde eine Woche lige Beträge auf, die Schreiber CSU-Politi- konzern Elf Aquitaine sollen politische später, am 27. Februar, doch die kern wie dem Wirtschaftsminister Otto Entscheidungen durch Geldzahlungen be- Genehmigung zur Ausfuhr aller 36 Panzer einflusst worden sein. Nach Über- erteilt. Wie es zu dem Wandel kam, ist bis zeugung von Schweizer Ermittlern heute unklar (siehe Kasten). flossen rund 100 Millionen Mark In den Rechenschaftsberichten der Uni- Schmiergeld und Provisionen. on taucht die Schreiber-Million nicht auf – Auch hier sollen Kiep und der und das liegt an einer ziemlich zwielichti- flüchtige Pfahls eine undurchsich- gen Konstruktion. Nach der Darstellung in tige Vermittlerrolle gespielt haben. dem Vermerk zahlte Weyrauch das Geld So viel ist sicher: Kiep wandte sich „umgehend auf ein Treuhänder-Ander- mehrfach an das damals noch konto zu Gunsten der CDU“ ein. Dort sei CDU-geführte Kanzleramt. es als Festgeld anlegt geblieben, bis die Die Vorgänge der vergangenen Union Anfang 1992 über eine Trennung Woche bringen aber auch den von ihrem Schatzmeister diskutierte. SPD-Kanzler Schröder in die Bre- Kiep war nach jahrelangen Gerichtsver- douille. Von einem Sonderauftrag fahren im Mai 1991 wegen „fortgesetzter für Kiep in Sachen Türkei will die Beihilfe zur Steuerhinterziehung“ im Zu- Regierung schon nichts mehr wis- sammenhang mit der Flick-Affäre zu sen. Der CDU-Mann habe ledig- 675000 Mark Geldstrafe verurteilt und des- lich den Status eines „Experten“, halb nach Ansicht vieler Parteifreunde auf dessen „Know-how man von untragbar geworden. Als der Bundesge- Fall zu Fall zurückgreife“. richtshof im Oktober 1992 die Entschei- So viel Distanz ist neu: Noch im dung des Landgerichts Düsseldorf aufhob, September adelte Schröder seinen war ein Wechsel auf dem Sessel des CDU- Kiep, den er aus gemeinsamen Ta- Kassenwarts schon beschlossene Sache. gen im VW-Aufsichtsrat kennt. Der Kiep, heißt es in dem Vermerk weiter, Kanzler hielt bei dessen Buchvor- hatte sich da schon entschieden, das Schrei- stellung eine überschwängliche ber-Geld als „Gratifikation/Sondervergü- Laudatio auf Werk und Autor: Der tung“ an zwei alte Weggefährten zu ver- „liebe Walther“ sei ein „deutscher teilen.Weyrauch und auch Kieps langjähri- Patriot im besten Sinne“, ein Typ, ger Generalbevollmächtigter Uwe Lüthje, mit dem man „Pferde stehlen der mit ihm im Flick-Prozess auf der An- kann“.

klagebank gesessen hatte, hätten etwas ab- / TRANSPARENT H. HAGEMEYER Markus Dettmer, Wolfgang Krach, bekommen. In dieses Vorgehen, so Kohl- Zeuge Weyrauch: Gratifikation für Weggefährten Georg Mascolo, Dietmar Pieper

der spiegel 45/1999 25 Deutschland

CDU Angst vor der Macht Die Krise der Regierung wird auch für die Opposition zum Problem. Muss die Union früher als geplant mitregieren?

eim CSU-Sozialexperten Horst See- hofer reichte es nicht einmal mehr Bzur Schadenfreude. „So etwas habe ich in 19 Jahren noch nicht erlebt“, mein- te der ehemalige Gesundheitsminister kopfschüttelnd. Zwar hatte die rot-grüne Regierung ihre Gesundheitsreform durch den Bundestag gebracht, doch die Abstimmung geriet zu einem neuen Debakel für die Koalition. Sie musste verschoben werden, weil der Gesundheitsausschuss verschlampt hatte, die Gesetzesvorlage auf den aktuellen Stand zu bringen. Dass sich am Ende die Regierung mit 325 gegen 241 Stimmen

durchsetzte, konnte den wieder einmal be- M. AUGUST stätigten Eindruck nicht mehr entkräften: CDU-Politiker Rühe, CDU-Chef Schäuble, Kollegen*: Was tun, wenn Schröder der Union ein Die können es einfach nicht. Doch die Opposition trumpft keines- Kanzler. Das ist das Einzige, worauf sich „Das wäre besser, als drei mühsame Jah- wegs siegesgewiss auf. Ihr wird das Ver- Gerhard Schröder bei uns verlassen kann.“ re Papiere für die Schublade zu schreiben sagen der Regierenden langsam unheim- Was also, wenn Schröder den ungelieb- und zu hoffen, dass die Regierung weiter lich. Zwar sagt Fraktionschef Wolfgang ten kleinen Partner vor die Tür setzt und murkst“, sagt ein CDU-Landeschef. Auch Schäuble mannhaft: „Wenn die Regierung stattdessen der Union ein Angebot zum in der Großen Koalition von 1966 habe der ihren Auftrag nicht erfüllen kann, dann Mitregieren macht? Schon antichambrieren kleinere Partner, damals die SPD, bei der muss sie das sagen und ihr Mandat an den Sozialdemokraten der zweiten und dritten folgenden Wahl profitiert, erinnert er sich. Auftraggeber zurückgeben.“ Reihe bei ihren Unionskollegen: „Wir ha- So könnte 2002 auch die CDU wieder Aber was, wenn die das wirklich täte? ben die Schnauze von den Grünen voll. den Kanzler stellen, geht diese Rechnung Mindestens vier, wahrscheinlich aber eher Eigentlich würden wir ja lieber mit euch.“ – auch wenn noch nicht klar ist, wer dann acht Jahre, so das Kalkül der Unionsstra- Die Unionsspitze weist solche Planspie- der Kandidat sein soll. Derzeit gilt in der tegen nach der verlorenen Bundestags- le zwar offiziell weit von sich. „Es wird Parteispitze Schäuble als Favorit, Volker wahl, hätten sie Zeit für eine Erneuerung keine Große Koalition mit der CDU ge- Rühes Anhängerschaft in Berlin ist gering, ihrer verschlissenen Regierungspartei. ben“, erklärt der Parteivorstand unisono. seit er sich völlig auf den schleswig-hol- Doch nun häufen sich die Anzeichen des Lieber wäre es Schäuble, die Koalition ver- steinischen Wahlkampf konzentriert. Koalitionszerfalls, und weitere Konflikte schlisse sich weiter in der Regierung. Doch Die Wirtschaftsprognosen legen Eile sind voraussehbar. intern gilt als fraglich, ob sich die Konser- nahe, bald in einer SPD-geführten Regie- Neue Entscheidungen über Waffenliefe- vativen dem Druck der Öffentlichkeit und rung mitzumachen. Sinkende Arbeitslo- rungen stehen an, die Türkei möchte ein der eigenen konsensversessenen Klientel senzahlen und ein steigendes Wirtschafts- deutsches Atomkraftwerk kaufen, und In- entziehen könnten, wenn Schröder ihnen wachstum im nächsten Jahr könnten Rot- nenminister Otto Schily rührt am Recht die Hand reicht. Grün wieder Auftrieb geben, während der auf Asyl. Und nach stabilisierenden Wahl- Hinzu kommt, dass sich viele CDU-Ab- CDU nach der Landtagswahl in NRW im erfolgen für Rot-Grün in Schleswig-Hol- geordnete ohnehin zu einer Art Großer Ko- Mai eine mehr als zweijährige Durst- stein (Februar 2000) und Nordrhein-West- alition über den Bundesrat gedrängt sehen. strecke bevorsteht. „In Zukunft wird es falen (Mai 2000) sieht es derzeit nicht aus. Dann schon lieber richtig. Denn anders als für die Union schwieriger“, räumt selbst Schneller, als ihr lieb ist, droht der in einer informellen Großen Koalition könn- Schäuble ein. Union also die Frage: Was tun, wenn die te sich die Union in einem Koalition platzt? Dass es dann Neuwahlen formalen Zweckbündnis CSU-Chef Stoiber*: Mit dem Vizekanzler-Posten locken geben könnte, wie die CDU-Spitze fordert, auf Zeit als Retter in der glaubt die im Ernst selbst nicht. Grüne und Not präsentieren, über Mi- SPD würden das, als voraussagbare Ver- nister- und Staatssekretärs- lierer, auf keinen Fall mitmachen. posten Nachwuchspersonal Für ein konstruktives Misstrauensvotum, aufbauen und bei der Wahl die einzige Möglichkeit der Opposition, 2002 selbst vom Amtsbonus den Kanzler zu stürzen, fehlt der CDU/ profitieren. CSU-Fraktion die Mehrheit. Sie müsste sich erst mal mit FDP und PDS auf einen * Oben: Parlamentarischer Ge- Kanzlerkandidaten einigen. PDS-Frak- schäftsführer Hans-Peter Repnik, Helmut Kohl; unten: im BMW- tionschef Gregor Gysi schließt das aus: Werk Spartanburg (South Caro-

„Wir wählen Herrn Schäuble nicht zum lina) im Oktober. N. PIERCE

26 der spiegel 45/1999 Schwäche des Gegners zu verdanken. Ge- siegt hat die Union mit einer Vermei- dungsstrategie: Alternativen zur Regie- rungspolitik legte sie nicht vor. Das sollte jetzt anders werden. In einem „geordneten Verfahren“, so die Vorstel- lung Merkels, müsse die CDU überholte Positionen räumen und zeitgemäße Kon- zepte erarbeiten. Familie, Bildung, Soziales – die Reihen- folge wurde auf dem Erfurter Parteitag im April festgelegt. Doch die Dauerkrise der Regierung bringt sie gründlich durchein- ander. Schon mehren sich intern die Stim- men, bereits im nächsten Jahr und nicht erst Ende 2001 ein neues Sozialstaatskon- zept vorzulegen. Was in den vergangenen Monaten durch die Siegesserie der Union und den Dauer- zwist in der Regierungskoalition verdeckt wurde, rückt nun wieder in den Blick: Auch in der Union stehen Modernisierer gegen Traditionalisten. Ob über den richti- gen Umgang mit der PDS oder die Defini- tion des Begriffs Familie, ob über die beste Strategie für den Bundesrat oder die Ren-

M. URBAN tenreform: Sobald es konkret wird, streiten Angebot zum Mitregieren macht? die Konservativen nicht weniger heftig als die Sozialdemokraten. Schon werden trotz Ermahnungen der Weit entfernt ist die Union von einem Parteispitze denkbare Varianten durchge- schlüssigen, parteiweit akzeptierten Kon- spielt und Posten verteilt, natürlich „rein zept auch in zentralen Fragen wie Rente hypothetisch“. Nur wenn Schröder das und Soziales. Vom Karenzmonat beim Feld für einen anderen Kanzler räume, sei Arbeitslosengeld über die Einführung der Einstieg als Juniorpartner in eine einer Selbstbeteiligung bei Arztbesu- Große Koalition möglich, meinen viele. chen bis zum einkommensunabhängi- Am liebsten wäre der Union der be- gen Familiengeld reicht die Palette der dächtige Rheinland-Pfälzer Rudolf Schar- Reformvorschläge, mit denen sich die ping. Mit dem können viele CDU-Abge- Union in einem Moment ins neoliberale ordnete verlässlich zusammenarbeiten, Lager schlägt, sich im nächsten Augenblick gleichzeitig wäre der an Charisma arme aber sozialdemokratischer als die SPD Langsamsprecher ein ungefährlicherer präsentiert. Gegner bei der nächsten Bundestagswahl. Fast einen ganzen Tag lang ließen sich Ein Vorstandsmitglied ist da weniger vergangene Woche deshalb die Mitglieder wählerisch: Selbst bei einem Kanzler der CDU-Kommission „Sozialstaat 21“ von Schröder sei ein Nein zum Mitregieren Experten über Konzepte zur Bekämpfung kaum vermittelbar. „Wenn Schröder mor- der Arbeitslosigkeit und der Sanierung des gen anruft, sind wir übermorgen dabei.“ Sozialstaats aufklären. Sie bekamen we- Als unwahrscheinlich gilt aber, dass nig Erfreuliches zu hören. Schäuble sich in die Kabinettsdisziplin ei- In Sachen Rente, kritisierte der Wirt- nes SPD-Kanzlers einbinden lässt. Lieber schaftsprofessor Ulrich van Suntum, sei die würde er nach Einschätzung von Partei- Union auf einem „verhängnisvollen Weg“. freunden als CDU- und Fraktionschef die Merkels Vorschlag, einen Rentenbonus für Fäden in der Hand behalten. kinderreiche Familien einzuführen, ziele Das größte Hindernis für eine Große genau in die falsche Richtung: Noch mehr Koalition ist die CSU, die fürchten müsste, Menschen hätten Ansprüche an die Ren- zwischen den großen Volksparteien zum tenkasse, ohne Beiträge zu zahlen, was bedeutungslosen Fortsatz zu verkommen. das System für alle anderen immer teurer Letztlich ist aber auch das eine Frage des mache. Preises. Die CDU könnte Stoiber zum Bei- Was von der Behauptung Schäubles, die spiel mit dem Posten des Vizekanzlers zum Union habe die besseren Konzepte, zu hal- Mitmachen bringen. ten ist, stellte Wolfgang Peiner, Schatzmeis- Dabei sollte nach den Plänen von ter der Konrad-Adenauer-Stiftung, klar. Schäuble und CDU-Generalsekretärin An- Das letzte schlüssige CDU-Konzept zur so- gela Merkel die Oppositionsarbeit gerade zialen Marktwirtschaft sei von Alfred Mül- erst richtig beginnen. Denn die Wahlerfol- ler-Armack und Ludwig Erhard erarbeitet ge, darüber macht sich in der Union kaum worden. Und das war bekanntlich vor jemand Illusionen, beruhen nicht etwa auf mehr als 50 Jahren. Susanne Fischer, der eigenen Stärke, sondern sind der Tina Hildebrandt

der spiegel 45/1999 27 Werbeseite

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Planetarische Visionen Zehn Jahre nach dem Mauerfall verbreitet sich wieder die Furcht vor deutscher Macht in ganz Europa. Bundeskanzler Schröder pocht auf die Größe des vereinten Landes. Doch Weltmacht will und kann Deutschland nicht sein.

lötzlich ist die niedrige, rot-weiß zwei junge Leute in Jeans und Turnschu- Veränderung. 44 Jahre nach dem Ende des lackierte Schranke weg. Es ist 23.20 hen stürmen an ihr vorbei. Hunderte folgen, von Adolf Hitler entfesselten Weltkriegs, 28 PUhr. Wie erstarrt steht die Frau im tausende. Das Ende der DDR hat begonnen. Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer ist lila Mantel am 9. November 1989 auf dem Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen die eingefrorene Weltordnung des Kalten Asphalt am Grenzübergang Bornholmer sind diese Bilder fest verankert: Menschen, Kriegs in einer einzigen Nacht aufgebro- Straße in Berlin. Zwei Schritte hat sie sich die sich am Grenzübergang umarmen, auf chen. So viel Bewegung war lange nicht in vorgewagt – nun ist sie fast schon in einer Trabis trommeln, auf der Mauer tanzen und dem Land, das den Status quo der Teilung anderen Welt, im Westen. „Wahnsinn“ rufen, immer wieder: „Wahn- für ewig als Strafe der Geschichte verin- Verwirrt tastet sie nach ihrer Hand- sinn“; der Bürgermeister mit dem roten nerlicht zu haben schien. Jetzt tanzten die tasche. Vor ihr liegt die offene Schal, der verkündet, dass „die Verhältnisse. Grenze. Hinter ihr drängen ihre Deutschen das glücklichste Volk“ Doch deutsche Bewegung macht Angst. Ost-Berliner Mitbürger. Und dann sind; die Nationalhymne im Die europäischen Nachbarn waren alar- ist kein Halten mehr. Die Bonner Parlament. miert. Machten sich die Teutonen wieder Frau rennt los, ein Mann im Eine Stadt, ein Land, ein einmal auf den Marsch zur Vorherrschaft in dunklen Mantel reißt sie mit, Kontinent im Taumel der Europa?

30 der spiegel 45/1999 Aber die satten Deutschen hatten selbst gehört, konzentrierten sich die West-Poli- viel zu viel zu verlieren. Und so taten sie tiker von Anbeginn darauf, den irrationa- alles – angeführt vom beharrlich konven- len Aufbruch im Osten unter Kontrolle zu tionellen Kanzler Helmut Kohl –, um die bringen. radikale Wende ohne ernsthafte Erschüt- Sie folgten damit den Wünschen des terungen in bewährte Bahnen zu lenken. Volkes – im Osten wie im Westen. Denn Gemessen an den Ungewissheiten von da- wie an ein Rettungsfloß klammerten sich mals, verglichen mit den Befürchtungen die Menschen, über die das größte Expe- und Hoffnungen der stürmischen Tage des riment in der Geschichte Nachkriegs- Übergangs nennt der britische Zeithistori- deutschlands hereinbrach, an die Parole, ker Timothy Garton Ash die vergangene mit der schon Konrad Adenauer in den Dekade „eine große Erfolgsstory“. fünfziger Jahren Mehrheiten hinter sich Zehn Jahre ist es erst her. Und schon versammelt hatte: „Keine Experimente“, wirken die Szenen, die das Fernsehen zum wenigstens keine zusätzlichen. FOTOS: ( li.); & PARTNER / BACH C. BACH SPIEGEL TV ( re.) Blick vom künftigen Kanzleramt auf den Reichstag, Grenzöffnung an der Bornholmer Straße (1989): So viel Bewegung war lange nicht

Jubiläum des Mauerfalls zeigt, wie eine Zehn Jahre später ist nichts mehr, wie es Fiktion. Zu schön, um wahr gewesen zu war. In Berlin treffen sich die einstigen po- sein. Gefilmte Erinnerung an eine ferne, litischen Erzfeinde Peter Gauweiler (CSU) glückliche Nacht, längst TV-Konserve. und Klaus Bölling (SPD), um gemeinsam Waren wir das wirklich? Wollen wir das Ex-Bundeskanzler Kohl im früheren Ar- überhaupt gewesen sein? beitszimmer von Margot Honecker zu in- Der innere Widerspruch des historischen terviewen, in dem „der Alte“ jetzt resi- Augenblicks war schon damals zu spüren. diert. In Erich Honeckers ehemaligem So echt wie die Freude war auch die Furcht Amtssitz, dem DDR-Staatsratsgebäude, der Menschen vor drohender Veränderung. führt Kohls Nachfolger Gerhard Schröder Kalkweiß wurde Johannes Rau, als er am die Regierungsgeschäfte. Abend des 9. November im Foyer des Leip- Gewissheiten gelten nicht mehr. Mit ziger Hotels Merkur vom damaligen WDR- der Deutschen Demokratischen Republik Intendanten Friedrich Nowottny erfuhr: ist auch die alte Bundesrepublik ver- „Die Mauer ist auf!“ Angespannt und ver- schwunden. Der Staat, der aus seiner wirrt stand Helmut Kohl neben Willy neuen alten Hauptstadt regiert wird, Brandt am Tag darauf vor dem Schöneber- heißt bei seinen Bürgern schlicht „Deutsch- ger Rathaus. Ihn traf die historische Chan- land“. Und doch wollen die Deutschen ce seines Lebens genauso unvorbereitet wie das Neue noch immer nicht so recht be- den Rest der Republik. Dass sich im Osten ginnen lassen. Das vereinte Land verharrt bedeutsame, womöglich chaotische Ent- im Übergang. wicklungen anzubahnen begannen, erfüllte „Von politischer Aufbruchstimmung“, ihn eher mit Besorgnis als mit Genugtuung. konstatiert der Molekularmediziner und

AFP / DPA „Wahnsinn“ wurde zum Wort des Jah- ehemalige Bürgerrechtler Jens Reich, Deutsche Panzer auf dem Balkan (1999) res. Und weil der bekanntlich gefährlich „fehlt heute jede Spur.“ Stattdessen habe Ein Rest von Misstrauen bleibt ist und in die geschlossene Abteilung sich ein stagnierender Konservativismus

der spiegel 45/1999 31 Titel breit gemacht. Die Gesellschaft ist erstarrt versprach. Die Deutschen wollten ein neu- in der Furcht vor dem Verlust ihrer Ge- es Gesicht, aber keine andere Politik. borgenheit. Wie unter einem Brennglas lässt sich Normalität, hatte der jüngst gestorbene dieses Beharrungsvermögen in Berlin be- Publizist Johannes Gross 1995 in seinem trachten. Ausgerechnet in der Hauptstadt, Buch „Begründung der Berliner Republik“ die weltweit als Symbol des Aufbruchs gilt, prophezeit, werde künftig vor allem „Nor- wird der zäheste Verteidigungskampf ge- malität der Instabilität“ bedeuten. Eine bit- gen die neue Zeit geführt. tere Erkenntnis besonders für die West- „In Berlin müsste eine Koalition aus deutschen, die seit dem rasant gelungenen CDU und PDS regieren“, meint Jens Reich Wiederaufbau der fünfziger und sechziger mit Blick auf die jüngste Landtagswahl, bei Jahre auf einer Insel der Stabilität lebten. der die CDU im Westen und die PDS im Osten der Stadt stärkste Parteien wurden. Doch wie im kältesten Kalten Krieg stehen Die Avantgarde in sich die Zehlendorfer CDU und die Hel- lersdorfer PDS unversöhnlich gegenüber. Ost und West verweigerte Sie würden eher ein neues Passierschein- sich der Realität abkommen vereinbaren als eine Koalition. Berlin, klagt die Finanzsenatorin An- Eine Heimat, so Gross, „aus der vertrieben nette Fugmann-Heesing, leide an „der zu werden überaus schmerzlich ist“. Krankheit Wirklichkeitsverweigerung“. Nur zu gern hatten deshalb die Deut- Das ist ein unheilvolles deutsches Schlüs- schen in Ost und West an die „blühenden selwort. Zweihundert Jahre lang haben die Landschaften“ geglaubt, die ihnen Kohl in Deutschen, als verspätete Nation, Europa Aussicht stellte. Es würde auch nichts kos- und die Welt beunruhigt, bedroht und ver- ten, behauptete er – und gewann Wahlen heert. Immer wähnten sie sich entweder zu und den Titel „Kanzler der Einheit“. groß oder zu klein. Die Nachbarn, klagte Die geistigen Beweger der beiden deut- Winston Churchill, hätten die Germans ent- schen Teilstaaten, die Bürgerrechtler im weder an der Kehle oder zu Füßen. Osten ebenso wie die Intellektuellen im Nach 1945 waren sie doppelt klein. Ein Westen, von der Gruppe 47 bis hin zu den Symbol der deutschen Zweisamkeit konnten 68ern, verweigerten sich im November Staatsbesucher vor dem Bonner Kanzleramt 1989 der Realität. Das vorwärts drängende besichtigen: eine in die Höhe strebende Deutsche Soldaten beim Nato-Einsatz im Kosovo: Volk war der Avantgarde unheimlich. Vie- große Bronze-Skulptur aus zwei Teilen, le gingen auf Distanz, einige, wie Günter selbstgenügsam und wie von innen erleuch- 36 Meter hoch. Massige Säulen umrah- Grass, verschanzten sich hinter dem Ar- tet – „Two large Forms“ von Henry Moore. men im Innern das gläserne Portal, viel gument, „nach Auschwitz“ dürfe es keine Das Kunstwerk konnte fast mit dem rost- Glas soll dem Würfel aus hellem Sand- deutsche Einheit geben. farbenen Stelzenbau aus dem architekto- stein mit einem ganz leichten Rosaschim- In einem Punkt aber waren sich die nischen Geist der siebziger Jahre versöh- mer die Wucht nehmen, als hätte da je- Wähler-Mehrheiten in Ost und West von nen, in dem der Kanzler arbeitete und mand ein schlechtes Gewissen wegen so Anfang an einig: Die Westdeutschen woll- empfing. Brandt ließ ihn so errichten, Hel- viel Größe. ten, dass bei allem Umbruch möglichst viel mut Schmidt, der Erstbezieher, sprach ihm Aus seinem Büro hat der Kanzler freien so bleibt, wie es ist, die Ostdeutschen den Reiz einer rheinischen Sparkasse zu. Blick auf die Skyline der hochschießenden wünschten, dass es endlich so werde, wie Für die Staats- und Regierungschefs aus Hauptstadt; der Reichstag, der nur unwe- es 40 Jahre lang im Westen war. London, Paris oder Washington, die impe- sentlich höher aufragt, wirkt im Fenster Als Garant dafür galt Helmut Kohl, der riale Größe und Schönheit gewöhnt wa- wie eingerahmt. Die Architektur ist groß, noch zweimal – 1990 und 1994 – wiederge- ren, mochte die Arbeitsstätte des deut- teuer und zeugt von ziemlich viel Mut. wählt wurde. Und auch Ger- schen Bundeskanzlers ein ästhetischer Den anreisenden Staatsgästen aber wird hard Schröder gewann Graus sein – politisch gesehen war so viel gar nichts anderes übrig bleiben, als darin 1998, weil er „nicht alles Kargheit immer auch eine Genugtuung. einen ungemütlichen Hang zum Monu- anders, aber vieles bes- Das neue Kanzleramt am Spreebogen mentalen zu entdecken, ein beredtes Zei- ser“ zu machen in Berlin besitzt acht Stockwerke und ist chen vom Ende der Bescheidenheit.

Im Aufbruch Deutschland und Europa seit dem Mauerfall 1990 1989 18. März Aus den ersten freien 1. Juli Der Vertrag, der den Volkskammerwahlen der DDR Ostdeutschen die D-Mark 9. November Die Mauer fällt: geht die CDU-geführte „Allianz für bringt, tritt in Kraft. Die DDR-Führung öffnet die Grenze Deutschland“ als Siegerin hervor. zur Bundesrepublik und nach 23. August Die Volkskammer West-Berlin. 12. April Lothar de Maizière wird beschließt den Beitritt der DDR-Ministerpräsident. DDR zur Bundesrepublik. 13. November Hans Modrow wird DDR-Ministerpräsident. 21. Juni Bundestag und Volks- kammer verabschieden den 12. September Mit der Unter- 28. November Bundeskanzler Helmut Staatsvertrag über die Wäh- zeichnung des Zwei-plus- Kohl legt ein Zehn-Punkte-Programm rungs-, Wirtschafts- und Sozial- Vier-Vertrages in Moskau er-

zur Überwindung der Teilung Deutsch- AP union zwischen der Bundesre- hält das vereinigte Deutsch- lands und Europas vor. Öffnung der Berliner Mauer publik und der DDR. land die volle Souveränität.

32 der spiegel 45/1999 Alain Griotteray, Kommentator des kon- servativen Pariser „Figaro“, der eine Art spirituellen Führer durch das neue Deutschland herausgebracht hat, entdeckt beim Nachbarn einen „neuen Pangerma- nismus“ und hält Deutschlands Hauptstadt für das neue Rom eines „Heiligen Germa- nischen Reiches“. Jenseits des Ärmelkanals wird noch grö- ber geholzt. „Wir dürfen uns nicht von den Deutschen herumstoßen lassen“, predigt etwa die „Daily Mail“ ihren Lesern bei je- der passenden und unpassenden Gelegen- heit. Der „Sunday Times“-Korrespondent AA Gill, in seinen modischen Lifestyle-Ko- lumnen stets um möglichst innige Ver- schmelzung mit dem Zeitgeist bemüht, ap- pellierte in einer Reportage über das neue Berlin an seine Leser: „Geben wir es doch zu, wir alle hassen die Deutschen.“ Wie zu Beginn des Jahrhunderts ist das wieder vereinte Deutschland mit 82 Mil- lionen Menschen das mächtigste Land auf dem europäischen Kontinent. „Die Grö- ße“, sagt Kanzler Schröder, „macht den Unterschied“ zwischen der alten Bundes- republik und dem vereinten Deutschland. Und sein Außenminister Joschka Fischer weiß: „Ein Staat kann von seinem strate- gischen Potenzial, das sich aus seiner Be- völkerungsgröße, seiner Wirtschaft, seiner

M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL Rüstung und seinen Interessen ergibt, nicht Eine bestimmende Weltkraft in durchaus positivem Sinn? einfach zurücktreten, kann seine geopoli- tische Lage nicht ignorieren und bleibt Also doch: Großmachtgelüste. Wollen gewicht zur amerikanischen Hegemo- demnach ein objektiver Machtfaktor, ob sich nun, zehn Jahre nach dem Mauerfall, nie zu schaffen“, worauf man im Stab des er das politisch will oder nicht.“ die Deutschen nicht länger zurückhalten? russischen Duma-Vorstehers Gennadij In der EU ist die Berliner Republik Drängt es sie endlich zu zeigen, dass sie Selesnjow zu hoffen scheint? Bauen die die stärkste Wirtschaftskraft, sie besitzt wieder wer sind? Zum Beispiel, wie der ehe- wieder vereinigten Deutschen womöglich die größten Währungsreserven und ist malige tschechische Ministerpräsident Vác- ein „Viertes Reich“, was 1989 gerade bei weltweit die zweitgrößte Handelsnation. lav Klaus glaubt, „eine bestimmende Welt- westlichen Nachbarn eine weit verbreitete Deutschland schickt Soldaten mit der Nato kraft in durchaus positivem Sinn“? Oder Befürchtung war? in das Kosovo, Beobachter in die Uno-Mis- vielleicht das „Zentrum des sich herausbil- Die „deutsche Bedrohung“ erneut zu sion nach Abchasien und Sanitäter nach denden Europäischen Systems“, was der entdecken, wie das die Pariser Germanistin Osttimor. Für Ost- und Südosteuropäer ist britische Politologe William E. Paterson be- Yvonne Bollmann getan hat, belebt der- Berlin Lotse in den Sicherheit und Markt- hauptet? Und das mit einer Hauptstadt, die zeit die Umsätze französischer Buchhänd- wirtschaft spendenden Westen. „unbezweifelbar das künftige Herz Europas ler und britischer Zeitungshäuser. Da spe- „Deutschland ist groß, ist präsent im sein wird“, wie die amerikanische Star- kuliert Philippe Delmas,Vorstandsmitglied übrigen Europa, und zwar viel mehr als Fotografin Annie Leibovitz schmeichelt? bei Airbus und Intimus des einstigen andere Staaten“, sagt der deutsch-britische Ist Deutschland Außenministers Roland Dumas, auf 205 Soziologe Ralf Dahrendorf. Es ist der gar schon auf dem Seiten über den „nächsten Krieg mit wichtigste Handelspartner Russlands im Wege, „ein Gegen- Deutschland“. Westen und auch so etwas wie dessen An-

1991 3. Oktober Ende der DDR. 20. Juni Der Bundestag beschließt, 9. bis 10. Dezember Der Europäische Rat Mit einem Staatsakt in der den Parlaments- und Regierungssitz beschließt die Weiterentwicklung der EG zur Berliner Philharmonie wird von Bonn nach Berlin zu verlegen. Wirtschafts- und Währungsunion EU. die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gefeiert. 25. Juni Jugoslawien zerfällt. 20. Dezember In Berlin wird für Kroatien und Slowenien erklären Archivierung und Sichtung der Michail Gorbatschow 9. Oktober Vertrag zwischen ihre Unabhängigkeit. Stasi-Unterlagen die so genannte bei seiner Bonn und Moskau über den Gauck-Behörde errichtet. Rücktrittser- Abzug der sowjetischen 20. September Mit dem Angriff auf klärung Truppen aus Deutschland. ein Ausländerwohnheim im sächsi- 25. Dezember Rücktritt schen Hoyerswerda beginnt eine Gorbatschows. Sechs 15. Oktober Friedens- RONDHOLZ P. Serie von Überfällen und Brandan- Tage später löst sich nobelpreis für Michail Abschied eines russischen schlägen auf Ausländer im verein- die Sowjetunion Gorbatschow. Soldaten ten Deutschland. offiziell auf. SYGMA

der spiegel 45/1999 33 walt. Schon 1996 nannte Moskaus damali- ger Außenminister Jewgenij Primakow die vereinigte Republik eine „Weltmacht“. Keine Frage – Deutschland ist eine Macht in der Welt, womöglich sogar eine Großmacht. Eine Weltmacht aber will und darf es nicht sein. „Bei aller Freude über die Einheit sollten wir bescheiden blei- ben“, mahnte Helmut Kohl schon 1990. Das ist nicht nur sachlich berechtigt. Ein Staat ohne atomare Waffen, ohne nen- nenswerte Rohstoffe, in schlechter strate- gischer Lage, abhängig von Exporten, auf Jahrzehnte durch die Milliarden teure Re- novierung der ehemaligen DDR belastet – was für eine Weltmacht sollte das sein? Entscheidender aber ist die histori- sche Hypothek, die sich das Reich der Deutschen im zu Ende gehenden Jahr- hundert durch sein Hegemoniebestre- ben aufgelastet hat. Seit Kaiser Wilhelm II. zur Jahrhundertwende einen Platz an der Sonne forderte – ein Anspruch, für den seine Untertanen und deren Kinder in zwei Weltkriegen bluteten und Europa zerstörten –, ist Weltmacht ein Wort, das deutschen Politikern nicht leicht über die Lippen geht. Tatsächlich sind es in Deutschland nur die Kritiker der Vereinigung, die den Re- gierenden in Bonn und Berlin „Weltmacht- Illusionen“ („taz“) oder eine „Neue Welt- machtrolle“ („“) un- terstellen. Der Argwohn entzündet sich vor allem daran, dass aus zwei deutschen Nachkriegsgeschichten wieder eine deut- sche Nationalgeschichte geworden ist. Plötzlich stand „das Volk“ wieder auf

der politischen Bühne, nicht als „die Leu- DPA te“, sondern als Nation. Das gab der Ber- Kanzler Schröder, Außenminister Fischer*: Was muten sie den Verbündeten zu? liner Republik, die zumindest als symboli- sches Staatsgebilde die Nachfolge des Und ausgerechnet dieser erste Nach- darunter – keineswegs in der ersten Reihe Deutschen Reiches angetreten hat, eine un- kriegs-Regierungschef, dem von Herkunft – die Bundesrepublik Deutschland. gemütlich vertraute Färbung. und Attitüde alle Voraussetzungen für klir- In Wahrheit zeigte der Kosovo-Einsatz Nun war jene angebliche „Normalität“ rende staatliche Großmachtsauftritte ab- vor allem, wie angestrengt die Deutschen ins nationale Leben der Deutschen zurück- gehen, führte sein Land wieder in einen versuchten, neue „Sonderwege“ zu mei- gekehrt, an die im Ernst niemand geglaubt Krieg. Aber nur mit 14 Flugzeugen – und den. Der Zuzug aus dem Osten und der hatte. Als Kanzler im Spreebogen wird auch nicht allein. In der Nato, das ist die Umzug nach Berlin änderten nichts an ih- Schröder nicht nur Nachfolger sein von schlichte Lehre, gibt es die Vormacht USA rer kulturellen und poli- Konrad Adenauer und . Er und ansonsten Länder minderen Ranges, tischen West-Orientie- wird auch in einer Reihe stehen mit Bis- rung. Immer gewahr, marck und Adolf Hitler. * Beim EU-Gipfel in Köln am 3. Juni. dass die deutsche Politik

1992 1993 1995 1996 29. Juli Erich Honecker wird aus 12. Januar Das Strafverfahren 1. Januar Finnland, Schweden 4. März Der Bundesgerichtshof Moskau in die Bundesrepublik gegen Honecker wird eingestellt. und Österreich treten der verurteilt erstmals einen Offizier Deutschland ausgeliefert. 2. April Erster Kampf- EU bei. der DDR-Grenztruppen wegen Totschlags. einsatz von deutschen 26. März Mit dem In-Kraft-Treten Soldaten: Hilfe bei der Über- des Schengener Abkommens wachung des Flugverbots fallen die Grenzkontrollen M. DARCHINGER über Bosnien-Herzegowina. 1997 Bundeskanzler zwischen Deutschland, Gerhard Schröder Frankreich, den Benelux- 12. bis 13. Dezember 1994 Staaten, Spanien und Portugal. In Luxemburg beschließt die 1998 EU, mit Zypern und fünf ost- 16. Oktober CDU/CSU und 21. November Das Abkommen europäischen Staaten Ver- 27. September Rot-Grün ge-

SIPA PRESS SIPA FDP gewinnen die Bundes- von Dayton bringt Frieden handlungen über einen winnt die Wahl. Gerhard Krieg in Bosnien-Herzegowina tagswahlen. für Bosnien-Herzegowina. Beitritt aufzunehmen. Schröder wird Kanzler.

34 der spiegel 45/1999 Titel

in Europa weiter unter Generalverdacht cherheitsrat der Vereinten Nationen er- Die einzig verbliebene Supermacht, Ge- steht, mühten sich Kohl wie Schröder um heben, immer werden im Ausland letzte winnerin des Kalten Kriegs, hatte Deutsch- den Nachweis, dass sie ihre wiedergewon- Fragen an sie gerichtet: Was wollen sie? lands Wiedervereinigung von Anfang an nene nationale Souveränität sofort wieder Was muten sie den Verbündeten zu? Was unterstützt, weil Kohl garantierte, dass aufzugeben und in die multinationalen nehmen sie auf sich? auch das ganze Deutschland Mitglied des Bündnisse einzubringen bereit waren. Keiner ist sich dessen so bewusst gewe- Atlantischen Bündnisses bleiben werde, Die Nachbarn vermerkten es mit miss- sen wie Helmut Kohl. Nach dem Fall der fest eingebunden in multinationale Struk- trauischer Erleichterung. Im Westen mag Mauer hatte er nur allzu deutlich erfah- turen wie etwa die Europäische Union. geholfen haben, dass die wirtschaftliche ren, wie tief auch bei den befreundeten Auch die Russen waren erstaunlich um- Dominanz eher nachzulassen schien. Die Nachbarn im Westen die Ängste vor einem gänglich. Obwohl sie die eigentlichen Ver- plötzliche Öffnung der Grenzen riss die vereinten Deutschland saßen. Die sahen lierer im Machtpoker des Kalten Kriegs wa- Deutschen wirtschaftlich brutal in den einen deutschen „Koloss“: 78 Millionen ren, verschmerzten sie das Wegbrechen ih- Strudel der Globalisierung. Sie hatten das Bürger stark und mit einem Bruttosozial- res westlichsten Vorpostens überraschend Preis-Dumping nun direkt vor der Haustür. produkt von 2,75 Billionen Mark. leicht. Im wieder vereinigten Deutschland Im Osten aber wich anfängliches Miss- gewannen sie einen Partner, der – zumindest trauen schnell vertrauensvoller Zuversicht. unter Kohl – besonderes Verständnis für die Warschau blieb auf Distanz, solange Kanz- „Das heutige Deutschland Nöte des Kreml entwickelt hatte. Seit dem ler Kohl zögerte, die polnische Westgrenze Fall der Mauer hat die deutsche Regierung an Oder und Neiße endgültig anzuerken- ist ein europäischer Staat, frei die Hälfte aller westlichen Hilfsleistungen nen. Und bis zum Versöhnungsabkommen von imperialen Ambitionen“ an das marode Riesenreich übernommen. mit den Tschechen 1997 hatte es über die Weltpolitisch bereitet die Bundesrepu- Ansprüche der Sudetendeutschen in Prag Der französische Präsident François blik den Russen keinen Grund zur Sorge. deutliche Verärgerung gegeben. Mitterrand hielt es plötzlich nicht für aus- „Die Befürchtungen, mit der Vereinigung Tatsächlich hatte das wieder vereinigte geschlossen, „dass man in die Vorstel- könne ein Superstaat entstehen, der Euro- Deutschland ja zunächst in den mitteleu- lungswelt von 1913“ zurückfalle – eine pa dominiert, haben sich als unbegründet ropäischen Staaten auch nicht viel mehr britisch-französisch-russische Allianz als erwiesen“, glaubt der Politologe Wja- als einen Cordon sanitaire gesehen, eine Gegengewicht. Auch Margaret Thatcher, tscheslaw Daschitschew, einst Berater Pufferzone zum Schutz nicht nur gegen entdeckte der Bundeskanzler, habe nicht von Michail Gorbatschow. „Das heutige etwaige Überraschungsangriffe, sondern hinnehmen wollen, dass Deutschland – Deutschland ist ein europäischer Staat frei auch gegen ein Millionenheer von Wirt- nach zwei verlorenen Weltkriegen – am von imperialen Ambitionen.“ schaftsflüchtlingen aus dem Osten. Ende dieses Jahrhunderts „als der große Am deutschen Kurs hat sich in den ver- Doch schon bald florierte der Handel. Gewinner“ dastehe. gangenen zehn Jahren nichts Grundsätzli- Heute ist Polens Außenminister Bronislaw Dass bei den Jubiläumsfeiern im Berli- ches verändert. Geremek „fest überzeugt, dass das Deutsch- ner Reichstag in dieser Woche neben Hel- Der grüne Außenminister Joschka Fischer land der Berliner Republik die Aussöhnung mut Kohl auch Ex-Präsident George Bush sagt zwar nicht, wie Kohl, dass die europäi- zwischen Polen und Deutschen schafft“, die und der frühere Generalsekretär Michail sche Einigung eine Frage von Krieg und für Europas Zukunft von entscheidender Gorbatschow reden werden, ist mehr als Frieden sei, aber auch aus seiner Sicht ist die Bedeutung sei. „Der Fall der Mauer gilt den eine Geste. Es war wohl tatsächlich das Erweiterung und Vertiefung der EU eine Polen als Symbol für das Ende der Nach- Vertrauensverhältnis zwischen diesen drei Sache der Friedens- und Sicherheitspolitik. kriegsordnung von Jalta und für die Rück- Männern, das die gewaltfreie und zügige Wie sein Kanzler Schröder denkt er dabei kehr unseres Landes nach Europa.“ Vereinigung ermöglichte und die ewige freilich weniger an die Vergangenheit, wie Sein ehemaliger tschechischer Kollege „deutsche Frage“ entschärfte. die Flakhelfer-Generation, sondern eher an Ji≤í Dienstbier, heute Uno-Beauftragter für Jugoslawien, wundert sich, in „welch star- Mittel- und Osteuropa 1989 Bis 1999 veränderte Staatsgrenzen kem Ausmaß es gelang, die Schatten der Vergangenheit zu überwinden“. Finnland Dennoch – ein Rest von Misstrauen Norwegen Estland bleibt.Vergangenheit und Größe Deutsch- Schweden Russland lands sind für die Nachbarn Risikofak- Lettland toren. Ob sie also ihre Hauptstadt neu Dänemark Litauen bauen, am Kosovo-Krieg teilnehmen oder zu Russland Anspruch auf einen ständigen Sitz im Si- Sowjetunion Nieder- lande Belorussland Polen 1999 Belgien DDR Deutschland Ukraine Bundes- Tschechien 1. Januar 24. März Der Euro Im Kosovo-Konflikt republik Tschechoslowakei Frank- Deutschland ist da – vorerst nur bombardiert die Nato reich Slowakei Moldawien im bargeldlosen Serbien. Deutsche Soldaten Schweiz Österreich Ungarn Zahlungsverkehr. sind zum ersten Mal im Slowenien Kriegseinsatz. Rumänien Kroatien Jugo- 12. März Mit einem 23. August Kanzler Schröder Jugoslawien slawien beginnt seine Arbeit in Bulgarien Festakt im amerikani- Italien Kosovo schen Independence Berlin. Bosnien- Herze- Mazedonien werden die drei ehe- September/ Oktober Bei den Albanien gowina maligen Ostblocklän- Wahlen in Brandenburg, Thü- der Polen, Tschechien ringen, Sachsen und Berlin und Ungarn in die Nato etabliert sich die PDS weiter aufgenommen. als ostdeutsche Volkspartei. Griechenland

der spiegel 45/1999 35 Titel A. VÖLKEL / MELDEPRESS Großbaustelle Potsdamer Platz in Berlin (1999): Auferstanden aus Ruinen die Zukunft, an die Bändigung von Natio- gangenheit endlich“. Mit der Einheit und maler Partner, der für Europa arbeitet, aber nalismus und ethnischer Konflikte auf dem der Diskussion um die „Berliner Republik“ auch seine nationalen Interessen vertei- Balkan oder im Kaukasus. ist er zurückgekommen, und Schröder, der digt. Das ist weder schockierend noch be- Wie für Kohl führt auch für Fischer ein Enkel, verwendet ihn ohne Zaudern: „Das unruhigend.“ gerader Weg von der gefallenen Mauer Deutschland, das wir repräsentieren, wird Empfindsamer reagieren hingegen die nach Maastricht: Der Euro ist der Preis für unbefangen sein, in einem guten Sinne kleinen Staaten in der Europäischen Uni- die Einheit. Die Transformation der Wirt- vielleicht deutscher sein.“ on auf die rabiaten Umgangsformen der schafts- und Währungsunion in einen Das lässt der Kohl-Nachfolger ungeniert neuen deutschen Regierung. Das grobe europäischen Staatenverbund mit gemein- seine Partner spüren, besonders die Fran- Gebaren des deutschen Kanzlers mag un- samer Außen- und Sicherheitspolitik er- zosen. Wegen dringender Geschäfte lehn- klug sein, takt- und stillos gewiss auch, te er im November vorigen Jahres eine Ein- doch Großmachtansprüche verbergen sich ladung zu den Feierlichkeiten ab, mit de- nicht dahinter. Mit der Balance zwischen Dass man in Berlin nen Paris das Ende des Ersten Weltkriegs Anbiederung und Auftrumpfen haben die begeht, der in Frankreich der Große heißt. Deutschen offenbar noch immer Schwie- Auschwitz vergessen könnte, Seither haftet der Regierung Schrö- rigkeiten. Aber ein „Viertes Reich“ ist nir- erscheint absurd der/Fischer der Ruf an, sie lasse dem gendwo zu sehen. deutsch-französischen Verhältnis nicht die Im Gegenteil. Das neue Deutschland, scheint aus deutschem Blickwinkel nur fol- gebührende Pflege angedeihen. Freilich lobte der israelische Ministerpräsident gerichtig und wünschenswert. gibt es auch in Paris Stimmen, die Versöh- Ehud Barak unlängst anlässlich seines ers- Das alles ist für die neuen Regierenden nung für getane Arbeit halten, ein abge- ten Besuchs in der Regierungshauptstadt so selbstverständlich, dass sie sich auch schlossenes Kapitel. Die begrüßen es, dass Berlin, sei eine „stabile, sensible und dy- dann nicht als Nationalisten fühlen, wenn der Kanzler und seine Minister sich endlich namische Demokratie“. Es gebe nieman- sie so klingen. Soll sich der Regierungschef trauen, im Europäischen Rat die nationalen den, „der sich ernsthaft vor deutschen ma- unter dem Verdacht sehen, Weltmacht- Interessen der Deutschen zuweilen auch nipulativen Machtspielen fürchtet“. gelüste zu haben, nur weil er auf Deutsch- mal schroff zu vertreten. Auch erscheint die Vorstellung, dass die lands neue Größe verweist? Für sie ist das eine willkommene „Ba- Deutschen in Berlin Auschwitz vergessen Gerhard Schröder ist weder Willy Brandt nalisierung“ des symbolisch überhöhten könnten, in der Tat absurd. Die Diskussion noch Wilhelm Zwo. Er hat kein geschlos- Verhältnisses. Der französische Außen- um das Holocaust-Denkmal hält an.Wehr- senes Weltbild und keine reflektierte Sicht minister Hubert Védrine sagt: „Es ist ein machtsausstellung, Walser-Rede, Bubis, auf die Geschichte. Sein postmoderner Po- großes, normales Land und ein großer, nor- Goldhagen – an Stichworten, die von der litikstil benutzt Sprachbil- nachhallenden Präsenz der der und Beispiele aus der Maueröffnung am Potsdamer Platz (1989): Gefilmte Erinnerung Geschichte künden, ist kein Historie unbekümmert um Mangel. ihre emotionale Aufladung. Schwer vorstellbar, dass Die Konkurrenz-Genera- ein deutscher Kanzler, auch tion der Enkel findet die- wenn er aus seinem neuen sen robusten Redestil ein- Amtszimmer hoch über fach modern. den Tiergarten hinausblickt, In den achtziger Jahren in Sichtweite des Reichstags hat Friedrich Dürrenmatt und des Denkmals für die „Deutschland“ einen Be- siegreiche Rote Armee die griff genannt, „den es nur Vergangenheit aus den noch in der Erinnerung Augen verlieren könnte, gibt, in der Nostalgie, im um wieder Weltmachtpläne

Sentimentalen, in der Ver- SPIEGEL TV zu schmieden. Undenkbar, 36 Werbeseite

Werbeseite Titel dass Schröder auf solche Ideen verfällt, so- Auch die immer noch ungeklärte Frage Die kommt nicht ungelegen. Bisher ist lange er noch am Schlossplatz Nr. 1 regiert. der Entschädigung für Zwangsarbeiter ge- Frankreich in der EU der einzige voll inte- Denn aus seinem Büro im ehemaligen winnt in der alten Reichs- und neuen Bun- grierte Staat gewesen, der weltweit aktiv ist DDR-Staatsratsgebäude blickt er mitten in deshauptstadt eine andere Gewichtung. In und einen globalen Status beansprucht. die deutsche Geschichte. Vor ihm liegen Berlin, wo die Verbrechen geplant, admi- Aber zur Weltmacht reichte es nicht. Von die freigelegten Fundamente des 1950 ge- nistriert und befohlen wurden, sieht sich Charles de Gaulle bis zu Chirac projizier- sprengten Hohenzollernschlosses. Dane- die Regierung unter verschärfter Beob- te Frankreich diesen Anspruch deshalb auf ben steht die größte Ruine der unterge- achtung. die EU: Europa müsse über Freihandels- gangenen DDR, der braun getönte Glas- Und doch – wenn heute der Berliner zone und Binnenmarkt hinaus eine auto- „Palast der Republik“. Republik von Londoner Tageszeitungen nome Großmacht neben den USA werden. Gleich nebenan findet sich ein weiteres ein Hang zum wilhelmini- Wahrzeichen deutscher Kriegs- und Nach- schen Auftrumpfen unterstellt kriegsgeschichte, die Reichsbank. Das Rie- wird, horcht man im Bundes- senbauwerk aus der Nazi-Zeit, ab 1959 Sitz kanzleramt auf. Sind wirklich des Zentralkomitees der SED, wird für die Deutschen gemeint? Oder Joschka Fischers Außenamt hergerichtet. soll mit der grobschlächtigen Auferstanden aus Ruinen – Zeugnisse Karikatur Berliner Buhmän- dreier katastrophaler Phasen deutscher ner – sogar Außenminister Fi- Vergangenheit stoßen hier im Umkreis von scher wird dann schon mal wenigen hundert Metern aufeinander. Sol- zum „Gauleiter“ dämonisiert che Schnittstellen gibt es nur in Berlin.Wo- – das vereinigte Europa eine hin Schröder und seine aus Bonn zuge- möglichst hässliche Fratze reisten Minister auch kommen, gehen oder kriegen? blicken: Überall drängen sich die steiner- Während viele Briten ihre nen Hinterlassenschaften aus Wilhelms, Abneigung gegen eine sich

Adolfs und Erichs Zeiten ins Bild. formierende Großmacht Eu- IMO Das gab es im rheinischen Regierungs- ropa gern in Kraut-Klischees Außenminister Fischer* betrieb nie. Bonn lag abseits deutscher Er- verbergen, preisen die Fran- Ein gerader Weg von der Mauer nach Maastricht innerungen, und das war durchaus gewollt. zosen die neue Bereitschaft In Berlin aber gibt es kein Entrinnen. der Deutschen, in allen Feldern der Politik Der Bonner Republik – die ebenso at- Als Helmut Kohl noch im Westen re- mitzumischen – auch bei militärischen lantisch wie europäisch orientiert war – gierte, kam niemand auf die Idee, die Ost- Einsätzen. Den Willen, ein „globaler waren solche Gedankenspiele befremdlich. Erweiterung der EU mit deutschen Groß- Spieler“ zu werden, verkörpere nie- Jetzt aber, so frohlocken die Franzosen, macht-Träumen in Verbindung zu bringen. mand besser als Fischer, dem Paris nicht seien die „neuen Deutschen endlich in der In Berlin aber will ein spanischer Journa- nur Seiltänzerqualitäten unterstellt, son- Lage, psychologisch, politisch und histo- list vom Regierungssprecher wissen, ob es dern auch den Hang zu einer „planetari- risch nicht mehr zurückzubleiben, sondern ein Zufall sei, dass mit der von den Deut- schen Vision“. sich uns anzuschließen“. schen vorangetriebenen Expansion der Der Grundstein dazu wurde aus Pariser Einfluss auf jenen Bereich östlich von Oder Sicht am 14. Oktober dieses Jahres gelegt * Oben: mit seiner amerikanischen Amtskollegin Made- und Neiße ausgedehnt werden solle, der leine Albright am vorigen Mittwoch in Washington; – als der Zusammenschluss der französi- einst zum Reich gehörte. unten: im Flugzeug des US-Präsidenten im Mai 1998. schen Aerospatiale Matra mit der deut- schen Dasa zum drittgrößten Luft- und Raumfahrtkonzern der Welt unter der Schirmherrschaft beider Regierungschefs besiegelt wurde. Der französische Vertei- digungsminister Alain Richard jubelte: „Die gemeinsame Außen- und Sicher- heitspolitik ist möglich geworden.“ Auch der gaullistische Staatschef Chirac stellte fest: „Für die Europäische Union ist der Augenblick gekommen, sich die insti- tutionellen Mittel und die militärischen Fähigkeiten zu geben, die es ihr erlauben, jedes Mal zu handeln, wenn es nötig ist – ob mit der Nato oder selbständig.“ Dass die Deutschen dabei mitmachen werden, gilt in Paris als ausgemacht. „Die Logik der deutsch-französischen Partner- schaft hat sich durchgesetzt“, freut sich Eu- ropaminister Pierre Moscovici. Tatsächlich ist Schröder der Deal will- kommen. Gute Geschäfte gefallen ihm im- mer. Und wie alle Nachkriegsdeutschen, inzwischen auch viele aus den neuen Län- dern, hat der Kanzler gelernt, dass es ge- fälliger wirkt, die Welt zu kaufen, als sie zu erobern. Susanne Fischer, Romain Leick, Jürgen Leinemann, Hartmut Palmer, REUTERS Regierungschefs Clinton, Kohl*: Unterstützung von der Supermacht Gerhard Spörl, Klaus Wiegrefe

38 der spiegel 45/1999 Werbeseite

Werbeseite Jugendliche in Ost-Berlin Schwere Last des DDR-Erbes

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ

EINHEIT ihren überalterten Maschinenparks und ihren immensen Schulden im westlichen Ausland in lebensfähige Strukturen „kaum gelungen“ ist, wie die thüringische Wis- Ein Experiment für die Zukunft senschaftsministerin Dagmar Schipanski bilanziert. Von der wirtschaftlichen Ein- Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR sind die heit, räumt auch der Ost-Beauftragte der Lebensbedingungen der Deutschen noch immer höchst Bundesregierung, Rolf Schwanitz, ein, sei der gesamtdeutsche Staat „noch weit unterschiedlich. Nur langsam wächst im Osten die Zuversicht. entfernt“. Die Last des DDR-Erbes war wohl zu ls die DDR ihm den Krieg Hans-Jürgen Lüder, 49, war bis zum schwer. Die Politik der Vollbeschäftigung, erklärte, war Jochen Läßig Ende der DDR ein erfolgreicher Mann. Er die der SED-Staat ohne Rücksicht auf Pro- 27 Jahre jung und ein hatte Mechaniker gelernt, Maschinenbau duktivität lange Zeit durchhielt, war unter gescheiterter Mann. Der studiert und stieg im Ost-Berliner Kabel- den Wettbewerbsbedingungen der Markt- Theologiestudent saß im werk Köpenick zum Gruppenleiter auf. Für wirtschaft zum Scheitern verurteilt. Januar 1989 eine Woche im den Staat war er ein ordentlicher Bürger – Zu DDR-Zeiten wollten und sollten alle AGefängnis, weil er eine Demonstration mit- obwohl er weder Parteimitglied noch Sta- arbeiten – auch, anders als im Westen, die organisiert hatte. Für den Staat war er si-Zuträger war. Frauen. Die „Erwerbsneigung“, wie Ar- ein Asozialer; er verdiente sein Geld als Als die DDR zusammenbrach, begann beitsmarktexperten den Wunsch nach Be- Straßenmusiker. Lüder mit dem Abbau Ost. Maschine um rufsausübung nennen, ist in den neuen Neun Monate später, im Herbst 1989, Maschine half er mit, ein Ost-Berliner Ländern bis heute weitaus größer als in begann für Läßig der „Aufbruch zu Hüttenwerk zu demontieren. Dann war den alten. einem neuen Leben“. Er wurde Mitbe- Schluss. 1992 ließ er sich zum technischen So kommt es, dass die so genannte Be- gründer des Neuen Forums und Fraktions- Sachbearbeiter umschulen, 1997 bestand schäftigtenquote, der Anteil aller Erwerbs- chef von Bündnis 90 in der Leipziger er eine Weiterbildung für Ingenieure mit personen an der Wohnbevölkerung, im Stadtverordnetenversammlung. Die Hans- Bestnote. Seither ist er arbeitslos und lebt Osten sogar höher als im Westen ist. Weil Böckler-Stiftung finanzierte sein Jurastu- von 950 Mark Sozialhilfe. „Ein fester Job in den neuen Ländern aber mehr Men- dium, im Sommer 1999 eröffnete er mit wäre für mich ein Traum.“ schen, vor allem Frauen, arbeitswillig sind einem Kollegen eine Anwaltssozietät. Bis heute leiden viele Menschen in den als im Westen, ist die Arbeitslosenquote „Es war, als hätte ich eine zweite Chance neuen Ländern daran, dass die Über- mit offiziell 17,2 Prozent mehr als doppelt bekommen.“ führung der maroden DDR-Wirtschaft mit so hoch wie in den alten Ländern (8,3 Pro-

40 der spiegel 45/1999 Titel zent); hinzu kommen 300000 Menschen, schwund: Die Einwohnerzahl sank seit komplett ausgetauscht; 20 Mitarbeiter be- die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und dem Einheitsjahr 1990 um etwa 800000 von wirtschaften heute rund 1000 Hektar Land, Umschulungen untergebracht sind. 16 auf rund 15,2 Millionen. Die Zahl der lassen 300 Stück Vieh grasen und mästen Tatsächlich ist jeder Fünfte arbeitslos. Ost-West-Wanderer steigt, die der West- etwa 4000 Schweine. Und: Wer in Lohn und Brot steht, verdient Ost-Wanderer fällt. Bis 2010 wird der Osten Der Preis: Ehrenholz musste etwa 180 durchschnittlich ein Viertel weniger als Be- nach Schätzungen des Statistischen Bun- der rund 200 Mitarbeiter entlassen. rufskollegen in Westdeutschland. desamtes eine weitere Viertelmillion Men- Die Landwirtschaft läuft.Wer aber große Das subjektive Gefühl von Unzu- schen verlieren (siehe Grafik Seite 43). Industriebetriebe sucht, fahndet in den friedenheit steht dennoch häufig Es sind nach Beobachtung der neuen Ländern meist vergebens. Es gibt genug im Gegensatz zur Realität: Rostocker Statistikerin Ursula Westableger wie Volkswagen in Mosel bei So erhalten etwa viele Ostrent- Kück vor allem „extrem vie- Zwickau (4500 Beschäftigte) oder Vorzei- ner aufgrund ihrer im Ost- le junge Frauen“, die sich gefirmen wie Jenoptik (8500). Der Op- West-Vergleich längeren Er- auf nach Westen machen. tikproduzent jedoch hat, in Jena beheima- werbsbiografien mehr Ruhe- Experten fürchten, dass tet, drei Viertel seiner Arbeitsplätze im geld als Pensionäre. Beinahe je- die Bevölkerungsstruktur Westen eingerichtet. Unter den 100 größ- der zweite Ostdeutsche lebt heute auch noch weiter aus dem Lot gerät. Seit der nach eigenem Bekunden „besser als zu Wende fehlt es den neuen Ländern an DDR-Zeiten“. Nachwuchs. Wegen der unsicheren Lage Statistisch gerechnet, geht es den Ost- wollten viele Frauen keine Kinder mehr deutschen so gut wie nie. Binnen sieben bekommen. Zudem wurden aus finanziel- Jahren verdreifachte sich das Vermögen len Gründen viele Kinderkrippen und der Haushalte beinahe.Wie im Westen hat Horte geschlossen, die zu SED-Zeiten die fast jeder Zweite ein Auto. Rundumbetreuung der Kids garantierten Trotzdem hat sich in den vergangenen – der Typus der arbeitenden Mutti war ein zehn Jahren jeder dritte Ostdeutsche „häu- Leitbild des Ostens, nicht des Westens. fig“ oder „gelegentlich“ die Mauer zurück- Viele gehen, obwohl ihre Heimat viel gewünscht (siehe Grafik). „Es gibt eine wohnlicher und komfortabler geworden ist. Angst vor der Zukunft, die wir als DDR- Landauf, landab sind die Fassaden der Bürger nicht kannten“, sagt der Leipziger Häuser gestrichen, die Dächer neu gedeckt Jens Eßbach. Der 34-Jährige gehört zu den und die Straßen geteert. Die Zeiten seien Einheitsgewinnern: Er arbeitete einst im vorbei, sagt der Leipziger Kameramann VEB Gebäudewirtschaft, der kommunalen Lutz Knauth, 39, in denen eine Fahrt von Wohnungsverwaltung, und studierte nach West nach Ost „wie von einem Farbfilm in der Wende Sozialpädagogik. Sein früherer einen Schwarzweißfilm“ war. Betrieb stellte ihn wieder ein, als Sozial- Doch das entscheidende Handicap ist ge- arbeiter. blieben: Noch immer erreicht die Wirt- Wie zu DDR-Zeiten ergreifen Ostdeut- schaftskraft Ost gerade mal 60 Prozent der sche auch heute die Flucht – aber sie su- Wirtschaftskraft West. Das Pro-Kopf-Steu- chen im Westen Arbeit, nicht Freiheit. Die eraufkommen hat nicht einmal die Hälfte neuen Länder leiden an Bevölkerungs- des Westniveaus erreicht – der Osten wird noch lange am Tropf hängen. Ein Grund: Von den Transferleistungen in Höhe von zuletzt 189 Milliarden Mark für 1998 fließt nur ein Sechstel in Investitionen: Der größ- te Teil geht für soziale Absicherung drauf. Denk-Mauern Nur die Agrarwirtschaft des einstigen Arbeiter-und-Bauern-Staates brachte es zu den von Kohl versprochenen blühenden „Vor gut zehn Jahren ist die Berliner Landschaften. Die wenigen verbliebenen Mauer gefallen. Haben Sie sich im Landwirte haben von der Wende profitiert, Nachhinein mal gesagt, es wäre sie können mit ihren durchschnittlich 126 besser, wenn die Mauer noch Hektar großen Vollerwerbsbetrieben stehen würde?“ höchst rationell und zu Weltmarktbedin- gungen wirtschaften, der Zwangskollekti-

West vierung in den fünfziger Jahren sei Dank. TRANSIT FOTOS: Gesamt 58 Von so viel Betriebsfläche können die Ost-Bürger Läßig* Nie 59 Ost meisten West-Bauern mit ihren durch- „Aufbruch zu einem neuen Leben“ 63 schnittlich 41 Hektar nur träumen. „Die Landwirtschaft“, sagt Dietmar Ehrenholz, ten Konzernen der Republik findet sich Gelegent- 27 41, Vorsitzender der Agrargenossenschaft denn auch kein echter Ostbetrieb. lich 26 25 Minzow nahe der Müritz stolz, „ist der Entstanden ist eine ökonomische Land- einzige Wirtschaftszweig im Osten, der bes- schaft voller Widersprüche: Der Osten ist ser funktioniert als im Westen.“ ein großindustrielles Brachland, durchsetzt 13 Ehrenholz war vor der Wende Chef der mit kleinen Hightech-Oasen und den Kei- Häufig 13 9 Landwirtschaftlichen Produktionsgenos- men einer neuen Unternehmergeneration. senschaft (LPG) „Rosa Luxemburg“, grün- Die Fördermilliarden aus dem Westen, dete mit Kollegen die Genossenschaft und aber auch der schnelle Anstieg der Löhne Emnid-Umfrage für den SPIEGEL im August; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht übernahm große Teile der LPG. Mit Mil- lionen-Krediten wurde der Maschinenpark * Oben: 1989; unten: 1999.

der spiegel 45/1999 41 halten muss, macht sich poli- tisch auf zweifache Weise Luft. Rechtsextremisten sind auf dem Vormarsch. In den bran- denburgischen Landtag zogen bei der Wahl im September fünf DVU-Abgeordnete, im sachsen- anhaltinischen Parlament saßen nach der Wahl im April vorigen Jahres 16 Vertreter der DVU; in- zwischen gehören drei nicht mehr der Fraktion an. Auf 100000 Einwohner kamen sta- tistisch 2,4 rechtsextremistische Gewalttaten, in Westdeutsch- land waren es nur 0,7. Die Politik empört sich und bleibt hilflos. Konzepte wie „Tolerantes Brandenburg“, für das die Landesregierung in die- sem Jahr 3,5 Millionen Mark zur Verfügung stellte, greifen kaum. Im ersten Halbjahr 1999 wurden dort 33 fremdenfeind- liche Gewalttaten registriert, 50 Prozent mehr als in den ersten sechs Monaten 1998. Die andere Form des Protes- tes spiegeln die enormen Er-

G. SCHLÄGER folge der PDS. Die Postkom- Ostdeutsche Landwirtschaft: „Der einzige Wirtschaftszweig, der besser funktioniert als im Westen“ munisten sind seit Jahren kon- tinuierlich im Aufwind. Seit die führten dazu, dass viele Ostunternehmer Im vergangenen Jahr ging er an die Börse; PDS im Osten zur neuen Volkspartei auf- lieber in Maschinen als in Menschen in- der Kurs der Aktie hat sich mehr als ver- stieg und die SPD auf den dritten Platz vestierten. Herausgebildet hat sich im doppelt, und sein Unternehmen ist nun ein verwies, funktioniert die alte Bonner Ko- Laufe der Jahre eine hocheffiziente, aber paar hundert Millionen Mark wert. alitionsarithmetik nicht mehr. Das Partei- menschenleere Struktur. Und es scheint, Doch die meisten Ostbetriebe wursteln ensystem der Republik ist aus den Fugen als nähme der Osten damit eine Entwick- sich mehr schlecht als recht durch. Hasso geraten, aber immer noch tun sich dessen lung vorweg, die dem Westen noch be- Düvel, IG-Metall-Bezirkschef für Branden- Protagonisten schwer mit der neuen vorsteht. burg, Berlin und Sachsen, muss mit anse- Realität. In manchen Landstrichen von Mecklen- hen, wie sich immer mehr Unternehmen Die SPD hat bis heute kein strategisches burg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt den Zwängen des Flächentarifvertrags ent- Konzept für den Umgang mit der neuen hat jeder Dritte keinen Job, während im ziehen, sich aus den Arbeitgeberverbänden Konkurrenz zu ihrer Linken. Die CDU Großraum Dresden, um die Chipwerke von verabschieden und Löhne zahlen, die oft- streitet im Jahre 10 der Einheit, ob die AMD und Siemens, das „Silicon Saxony“ mals deutlich unter dem üblichen Tarif- SED-Nachfolgerin jetzt auch anders als mit entsteht – eine Wachstumsregion, die ein niveau liegen. Der Osten sei „ein Experi- dem ewigen Hinweis auf ihre Vergangen- paar hundert innovative Computer- und mentierfeld für die Zukunft Deutschlands“, heit bekämpft werden darf. Die Grünen Softwarefirmen, Handy-Zulieferer und PC- sorgt sich Düvel. haben auf der Regierungsbank ihre Rolle Hersteller angezogen hat. Die gekränkte Seele vieler Ostdeutscher, als Protestpartei eingebüßt und sind, wie Der partielle Aufschwung machte einige die Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst aus- die FDP, im Osten auf dem Weg in die Be- sogar reich, rund 260 Ossis versteuern ein deutungslosigkeit.Weder grüne Einkommen von einer Million oder mehr, noch wirtschaftsliberale Ideen im Westen sind es nahezu 25000. haben dort je wirklich Fuß Zu den Erfolgreichsten gehört Hans-Die- gefasst. ter Lindemeyer, 45, aus Taucha, einer Stadt Die aus dem Osten stam- am Rande von Leipzig. In den Wirren der mende grüne Bürgerrechts-Ab- Wende, noch vor der Währungsunion, lieh teilung hatte in den Augen der sich der Diplommathematiker bei Freun- Wähler mit dem Fall der Mau- den und Verwandten 50000 Ost-Mark und er ihre wichtigste Aufgabe er- gründete ein Ein-Mann-Handelsunterneh- füllt. Wer reisen darf, seine men für Computer. Bei einem Taiwaner in Meinung sagen und sich jeder- Hamburg holte er mit seinem Trabi im zeit versammeln kann, braucht März 1990 seinen ersten Rechner ab und keine Bürgerrechtler mehr. verkaufte ihn daheim. Wo sich die Ostdeutschen Heute ist aus der Garagenfirma ein klei- enttäuscht von den Westpar- ner Technologiekonzern geworden. Linde- teien abwenden, kann die PDS

meyer gebietet über rund 300 Mitarbeiter R. ZÖLLNER als Protestpartei reüssieren. Im und steuert die am schnellsten wachsende PDS-Wahlkampf (in Ost-Berlin) Osten zeichnet sich ein Drei- Firma im deutschen Osten, die Lintec AG. Aufstieg zur neuen Volkspartei parteiensystem aus CDU, PDS

42 der spiegel 45/1999 Titel und SPD ab, es könnte sich auch bundes- Im Glanz der Einheit gefiel die alte Re- weit etablieren. Zwei Volksparteien, CDU publik sich plötzlich wieder sehr. Die Ein- und SPD, mit je einem regionalen Radi- heit hat, so paradox das klingt, die politi- kal-Satelliten an ihren Flanken, der CSU in schen Verhältnisse in Deutschland zunächst Bayern und der PDS im Osten – das könn- auf dem Status quo (West) festgeschrieben. te das System der Zukunft sein. Der Zusammenbruch des Ostblocks be- Daneben haben die Wahlanalytiker noch stärkte die Westdeutschen in dem Glauben, einen weiteren Trend ausgemacht: Die dass bei ihnen alles in Ordnung sei. Die Orientierung an Personen ersetzt, zumin- reformbedürftigen Sozialversicherungen dest bei den Gewinnern der Einheit, die wurden nicht nur ohne jeden Ansatz einer Bindung an Parteien – eine plausible Er- Änderung auf den Osten übertragen, son- klärung für die Wahlerfolge der CDU- dern auch noch mit zusätzlichen Kosten Ministerpräsidenten Bernhard Vogel in belastet. Thüringen und Kurt Biedenkopf in Sach- Weil Kohl versprach, die Einheit lasse sen. Beide haben sich mit Erfolg als Lan- sich ohne Steuererhöhungen finanzieren, desväter profiliert. Dieter Roth von der wurden vereinigungsbedingte Ausgaben Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen wie etwa die Auffüllung der Rentenbeträ- glaubt, dass diese Entwicklung auch im ge für Rentner aus den neuen Ländern in Westen in dem Maße greifen wird, wie die Sozialkassen verlagert. Mit drastischen Folgen: Von 1991 bis 1998 stiegen die Beitragssätze zur Sozialversi- Bevölkerungswanderung cherung von 35 auf mehr als 42 zwischen den neuen und den alten Bundesländern Prozent. Vielleicht waren die Fehler un- vermeidlich. Denn der vom Ost- Von Ost- nach Von West- nach Volk geforderte schnelle Beitritt Westdeutschland Ostdeutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes ließ lange Verhandlungen gar 395343 1990 36217 nicht zu. Im Westen waren sie oh- nehin nicht erwünscht. 249743 1991 80267 Zwar jammern viele Ostdeut- sche immer noch, sie seien vom 199170 1992 111345 Westen kolonialisiert worden. Tatsächlich aber gab es noch nie 172386 1993 119100 ein Volk, das seine „Kolonialher- 135774 ren“ sogar unter Androhung von 163034 1994 Sanktionen („Kommt die DM 168336 1995 143063 nicht zu uns, kommen wir zur DM“) ins Land gezwungen hat. 166007 1996 151973 Die Debatte, ob sich die Repu- blik mit der Vereinigung auch eine 167789 1997 157348 neue Verfassung geben solle, wur- de schnell beendet, auch weil die 182478 1998 151750 Ostdeutschen „nach Jahrzehnten des realsozialistischen Abenteu-

Quelle: Statistisches Bundesamt ers keine weiteren Experimente über sich ergehen lassen“ woll- ten, wie die Politikwissenschaft- traditionelle Milieus der Parteien weg- ler Kurt Sontheimer und Wilhelm Bleek brechen. Roth: „Der moderne Wähler feststellten. Der Umzug nach Berlin war lebt im Osten.“ Er ist in seinem Wahl- für das vereinte Deutschland die einzig verhalten höchst flexibel, Parteitreue ist sichtbare Zäsur im institutionalisierten po- ihm fremd. litischen System. Jetzt agiert die Politik in Doch die Politiker reagieren weit weni- einem völlig neuen Umfeld. Viele Abge- ger flexibel auf die Veränderungen – kein ordnete haben in Berlin-Mitte Quartier be- Wunder, bis auf wenige Alibi-Figuren ist zogen, auf dem Territorium der ehemaligen die westdeutsche politische Elite unter sich DDR, und begegnen dort den ostdeutschen geblieben. Angela Merkel, die CDU-Ge- Mitbürgern nun täglich auf Hausfluren und neralsekretärin, und Bundestagspräsident Straßen. Wolfgang Thierse sind die einzigen Ost- Die unmittelbare Begegnung von Ost- deutschen, die an der Spitze mitmischen. und Westbürgern führt nicht immer zu Im Kabinett dürfen Ossis sich um Frauen höherem Verständnis füreinander.Als zum und Familie kümmern (Christine Berg- Beispiel die von der Wupper an die Oder mann) und als Staatsminister im Kanzler- geratene Chefarzt-Gattin Gabriela Mend- amt um den Aufbau Ost (Rolf Schwanitz). ling jüngst in ihrem Buch „NeuLand“ nach Sowenig das westdeutsche Volk wegen der Kolonialherren-Art über ihre Erfahrungen Einheit auf den gewohnten Wohlstand ver- mit spießigen Ossis berichtete, entfaltete zichten wollte, sowenig waren westdeut- sich vor Ort kollektive Wut. Besonders aber sche Politiker zu Abstrichen bereit. dringt des Westvolkes Stimme durch, wenn

der spiegel 45/1999 43 Titel den Ostdeutschen pauschal das Ende des Sie verdienen gut, sie können sich eine Drittel der Weltbevölkerung, sind dabei, in westdeutschen Wohlfahrtsstaates angelas- große Wohnung und zwei Autos leisten und die Marktwirtschaft einzutreten. In 29 tet wird. Der Ossi sei „eine ästhetische Zu- wollen, nachdem sie Italien, die Schweiz, Staaten entstehen neue Standorte und Ab- mutung“, der absahne, „was an Milliarden Kanada, Kenia und die Karibik kennen satzmärkte. abzusahnen geht“, provozierte der West- gelernt haben, nach Australien und Neu- Wie ein Katalysator hat die Beseitigung Berliner Klaus Bittermann in seiner seeland. Verlierer der Einheit wie der Ost- des Eisernen Vorhangs der Globalisierung Schmähschrift „It’s a Zoni“. Berliner Ingenieur Lüder indes suchen Schubkraft gegeben. Im Osten sahen sich Sahnt der Osten wirklich ab? Politiker auch zehn Jahre nach der Wende nach ih- zigtausende Staatsbetriebe plötzlich dem aller Couleur verteidigen die Last, die sie rer Zukunft. Lüder hat in Berlin-Köpenick internationalen Wettbewerb ausgesetzt. die Bürger in West und Ost schleppen las- einen Arbeitslosen-Selbsthilfeverein ge- Und im Westen überließ der Staat ehemals sen – vom Solidaritätsbeitrag, der das Net- gründet. Die Mitglieder, allesamt arbeits- staatliche Domänen wie Energieversor- to-Einkommen aller Arbeitnehmer spür- los, bieten Hauseigentümern Hilfe bei Re- gung oder Telekommunikation dem Spiel bar belastet, bis zum Sparpaket, das zum novierungen und Kleinbetrieben Unter- der Kräfte. Teil eine Folge der enormen Staatsver- stützung bei Büroarbeiten an. Sie hoffen, Überall auf der Welt wird heute privati- schuldung für den Aufbau Ost ist. Ihr durch diese Kontakte Arbeit zu finden. siert und dereguliert, Unternehmen wer- Argument: Die Lasten des verlorenen Krie- Wer die Hoffnung aufgebe, bis zum Ren- den vereinigt oder zerschlagen. Mit dem ges trug die Bevölkerung des Ostens weit tenalter doch noch einen Job zu finden, Untergang des Kommunismus hat auch das mehr als die des Westens – nun sollen alle sei „vom Absturz bedroht“, sagt Lüder. Er Modell des fürsorgenden Wohlfahrtsstaates ein Volk sein, solidarisch bis in jedes wird im nächsten Jahr 50. im Westen rapide Anhänger verloren – der Portemonnaie. Carolin Emcke, Susanne Fischer, Markt triumphiert, der Staat ist auf dem Der Leipziger Kameramann Knauth und Florian Gless, Carsten Holm, Rückzug. seine Ehefrau können damit bestens leben. Hartmut Palmer, Ulrich Schäfer Nirgendwo sonst erleben die Menschen den epochalen Wandel so unmittelbar wie am Potsdamer Platz in Berlin.Auf wenigen Hektar Fläche dokumentieren Konsum WIRTSCHAFT und Lebensstil, wie sich die Welt verän- dert hat. Vor zehn Jahren wucherte noch Unkraut über dem öden Areal. Ein paar Schutthau- Der Markt ohne Mauern fen erinnerten an den Krieg, der Deutsch- land und die Welt teilte – ein Niemands- Mit dem Ende der DDR begann ein ungeahnter Siegeszug der land zwischen Ost und West. Marktwirtschaft. Neue Absatzmärkte, Billigarbeiter und der Heute zieht es jeden Tag 70000 Men- schen, meist Touristen, in die neue Mitte schnelle Start des Euro haben die Globalisierung beschleunigt. . Die Besucher spazieren durch die zugigen Straßen einer Retortenstadt und ie Menschen nannten es über die Entwicklung der Zinsen – nicht bestaunen die bunte Warenwelt der globa- „Wahnsinn“, als die Mauer die Bundesbank in Frankfurt. Der Eu- len Wirtschaft. fiel. Welcher Prozess da- ropäische Gerichtshof hat das letzte Wort Nur einen Blick entfernt von der Stelle, mals, im Spätherbst 1989, in in strittigen Fragen der Wirtschaftspolitik – wo einst der Todesstreifen verlief, streckt diesem Moment des natio- nicht der Bundesgerichtshof in Karlsruhe. sich heute der Bürokomplex von Daimler- nalen Taumels, in Gang ge- Europa hat ein neues Gesicht und neu- Chrysler in den Himmel.Wie ein Denkmal Dsetzt wurde, ahnte niemand. Von da an, es Gewicht bekommen. Der Fall der Mau- der Globalisierung kündet er weithin sicht- Ironie der Geschichte, verlor der Natio- er und das anschließende Ende des Sowjet- bar davon, dass die Idee von der Markt- nalstaat seine Bedeutung. reiches haben aber noch weit mehr aus- wirtschaft sich durchgesetzt hat gegen die Denn zugleich begann der Aufstieg des gelöst: Mehr als 400 Millionen Menschen, Ideologie vom alles planenden Übervater neuen Europa. Helmut Kohl, der Kanzler rechnet man China dazu, sogar fast ein Staat. der Einheit, opferte die D-Mark für den Euro, damit die Nachbarn, allen voran die Franzosen, der Wiedervereinigung zu- stimmten. Nicht ein deutsches Europa soll- te das Ziel sein, versicherte er, sondern ein europäisches Deutschland. Heute ist der Kontinent auf dem besten Weg zu Kohls Vision. Die gemeinsame Währung ist für Unternehmen und In- vestoren bereits Realität. In gut zwei Jah- ren halten die Bürger die neuen Scheine und Münzen in der Hand. Weitere Staaten in Osteuropa werden sich der EU an- schließen. Das Zentrum Europas verschiebt sich nach Osten, der Kontinent wächst all- mählich zu einem fast grenzenlosen Markt zusammen. Die Nationalstaaten geben immer mehr Kompetenzen ab. Die Europäische Kom- mission entscheidet über Finanzhilfen und

Fusionen – nicht die Regierung in Berlin. A. SCHOELZEL / ZENIT Die Europäische Zentralbank bestimmt Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg (1989): Aufbruchstimmung verflogen

44 der spiegel 45/1999 P. LANGROCK / ZENIT Braunkohlekraftwerk „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg (1998): Konservierung alter Industrien – in moderner Form

Bis in die letzten Regionen ist das Prin- Dumping-Konkurrenz ist nur noch einige funkfirma Orange bietet – während Fi- zip des Marktes inzwischen vorgedrungen. Lkw-Stunden entfernt von Deutschland. nanzminister Hans Eichel und seine Kabi- Der Kreis der Teilnehmer im weltweiten Plötzlich konkurrieren niedersächsische nettskollegen sich krumm legen müssen, Wettbewerb hat sich nach dem Mauerfall so Gießereien mit tschechischen Metallbe- um nur die Hälfte dieses Betrages im sprunghaft erhöht, dass es eigentlich erst trieben, ungarische Dentisten mit deut- Staatshaushalt einzusparen. seitdem gerechtfertigt ist, von Globalisie- schen Zahnärzten. Ist das Pendel nach dem Mauerfall also rung zu sprechen. Gewiss wären die Tiger- In der grenzenlosen Wirtschaft entste- zu weit ausgeschlagen – zu viel Markt, zu staaten Asiens auch ohne das Ende des So- hen Unternehmen, die keine Heimat und wenig Staat? zialismus zu Wirtschaftsmächten gereift. keine Traditionen mehr kennen. Ihre Pro- Margaret Thatcher in Großbritannien Und mehr noch vielleicht hat die Revolu- dukte und ihr Marketing sind nicht auf ei- und Ronald Reagan in den Vereinigten tion in der Informationstechnik die Welt- nen Staat zugeschnitten – ihr Markt ist die Staaten hatten in den achtziger Jahren den wirtschaft auf Trab gebracht: Nachrichten Welt, ihre Sprache englisch, ihr Stil global. radikalen Umschwung in Richtung Markt und Kapital können heute so schnell und So weit ist der Prozess der Globalisie- in Gang gesetzt. Was unter staatlicher billig transportiert werden wie nie. rung gediehen, dass manche fürchten, der Kontrolle stand, wurde nun liberalisiert, Doch erst die Öffnung des Ostens hat die Staat habe bereits kapituliert. Die supra- dereguliert und privatisiert. Genau in globale Arbeitsteilung neu sortiert. Die nationale Wirtschaft dirigiere mit ihrer Ka- dieser Situation fiel der Gegenentwurf pitalmacht die nationale Politik zur Marktwirtschaft, der Sozialismus, in 199 nach Belieben. Der Staat aber sich zusammen. Mit dem Fall der Mauer Am Tropf geschätzt verliere allmählich die Souve- öffnete sich eine Schleuse, um die gerade Zahlungen für den 189 ränität über das wirtschaftliche wiederbelebte liberale Idee des Marktes Aufbau Ost 187 Geschehen im eigenen Land. auch dort zu verbreiten, wo bislang der in Milliarden Mark 185 183 n „Es ist das Ende der Volks- Plan regierte. o v Quelle: DIW, a wirtschaften“, sagt der ehema- China hat sich seitdem in eine „sozia- Deutsche 169 d lige US-Arbeitsminister Robert listische Marktwirtschaft“ gewandelt mit Bundesbank 167 Subventionen Reich. Selbst Spekulant George Sonderwirtschaftszonen im Süden, die das Soros warnt, dass die „unein- Wachstum des Landes tragen. Indien wand- 16 Milliarden Mark 151 Inves- geschränkte Intensivierung te sich mit dem Ende der Sowjetunion dem titionen des Laisser-faire-Kapitalis- Westen zu und entwickelt sich in einen Sozial- 139 33 mus über alle Bereiche des Hightech-Standort; dort sind heute sechs Milliarden Mark leistungen Lebens die Zukunft unserer der zwölf weltweit führenden Software- Allgemeine 84 offenen und demokratischen Entwicklungszentren beheimatet. Finanz- Milliarden Mark Gesellschaft gefährdet“. Auch Lateinamerika hat sich verab- zuweisungen In der Tat scheinen die Pro- schiedet von der Idee, das Wohlergehen 56 Milliarden Mark portionen zwischen Wirtschaft der Länder hänge vor allem vom Staat ab, und Politik merkwürdig ver- der die Wirtschaft dirigiert und abschot- rückt, wenn zum Beispiel Man- tet. Nun hat es sich dem Welthandel geöff- nesmann rund 60 Milliarden net, die Zollbarrieren werden abgebaut, 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Mark für die britische Mobil- der einst verhasste Feind im Norden, die

der spiegel 45/1999 45 FOTOS: AP FOTOS: Börse in New York, russischer Veteran bei McDonald’s (in St. Petersburg): Der Markt triumphiert, der Staat zieht sich zurück

Vereinigten Staaten, ist heute der wich- Transfers wurde für den Konsum ausgege- Es sei das „allzu undifferenzierte Ver- tigste Wirtschaftspartner. ben, nicht für den Aufbau von Firmen. trauen auf die Marktkräfte“ gewesen, „Es ist unglaublich, was seit 1990 Wenn die Wirtschaft investierte, wurden meint heute der ehemalige Hamburger passierte“, sagt der US-Finanzminister häufig alte Strukturen konserviert. Im bran- Bürgermeister und Ostberater Klaus von Lawrence Summers, „wirtschaftlich gese- denburgischen Spremberg etwa entstand Dohnanyi, das einen erfolgreichen Aufbau hen ist es beinahe eine neue Welt.“ das modernste Braunkohlekraftwerk der Ost behindert habe: „Die ‚Markt‘-Wirt- Der erstaunlichste Wandel vom Staat Welt, wo früher das Energiekom- schaftler unterschätzten erstaunlicherwei- zum Markt aber geschah in den ehemali- binat „Schwarze Pumpe“ stand. 111,8 se die Kräfte des Marktes.“ gen Ostblockländern. Vor zehn Jahren, im Ähnliche Schwierigkeiten erfuhren auch so genannten Konsens von Washington, Motor Ost die Staaten in Osteuropa.Viele waren über- glaubten die meisten Politiker noch, man fordert, sich mit den neuen Prinzipien – müsse einfach eine Schocktherapie an- Der Handel Deutschlands EXPORT Eigentum,Wettbewerb, Gewinnstreben – zu wenden, also auf einen Schlag die Preise mit Osteuropa und Ländern arrangieren. Oft fehlten schlicht die Spiel- freigeben, Märkte öffnen, Staatsbetriebe der ehemaligen Sowjetunion 82,8 regeln für die neue Marktwirtschaft. privatisieren, den Handel liberalisieren – in Milliarden Mark Russland leidet bis heute daran, dass es und schon würde die Marktwirtschaft von Zum Vergleich 64,7 an erfahrenen und wirksamen Institutionen allein ihre segensreiche Wirkung entfalten. Exporte nach Frankreich 1998: beispielsweise in der Justiz mangelt. Zu Beginn sah es tatsächlich so aus, als 105,8 Mrd. Mark Doch es ging auch anders, wie die Ent- IMPORT werde die Transformation ein Kinderspiel. 48,1 wicklung in Polen beweist. Der Aufbruch in Vor allem in Deutschland war man opti- 37,3 56,7 die Marktwirtschaft scheint geglückt, weil mistisch, dass die neuen Bundesländer Polen einen entscheidenden Vorteil etwa schnell Anschluss an den Westen fänden. 23,5 44,9 gegenüber Russland besaß: Der Prozess Die Menschen in der DDR würden eine 35,0 der Transformation hatte im Grunde schon wirtschaftliche Entwicklung in Gang set- 18,7 1980 mit der Gewerkschaftsbewegung So- zen, glaubte der damalige Wirtschaftsmi- 21,8 Gesamtdeutschland lidarno´sƒ begonnen. Ohnehin bedeutete nister Helmut Haussmann, „von deren der Sozialismus für Polen, aber auch für Schubkraft sich viele keine Vorstellung ma- Ungarn, Tschechien oder die Slowakei nur chen“. Schließlich ähnelten die Umstände Weltweite Direktinvestitionen eine Episode in ihrer Geschichte. Die Tra- in Osteuropa und Ländern dem Vorbild, das die Westdeutschen noch 11,6 dition privater Initiative war noch lebendig in bester Erinnerung hatten: dem Wirt- der ehemaligen in der Erinnerung vieler Bürger. schaftswunder, das ihnen nach dem Krieg Sowjetunion Von diesen Ländern im Osten geht der den Wohlstand gebracht hatte. in Milliarden US-Dollar Impuls aus, der jetzt das neue Europa Doch das Wunschszenario erfüllte sich davon 1998 entstehen lässt. Der Kontinent nicht. Die Produkte der Ostbetriebe waren 5,8 aus: besitzt heute mit rund 14 Billio- nach der schnellen Einführung der D-Mark Deutschland 20,2% nen Mark eine gewaltige Wirt- um ein Vielfaches teurer geworden, der 3,0 schaftskraft, 370 Millionen Men- Außenhandel der DDR kollabierte, die USA 14,6% schen leben in diesem größten Zahl der Erwerbstätigen schrumpfte um 0,4* Niederlande 10,4% Binnenmarkt der Welt. Wenn die 3 Millionen auf 5,5 Millionen, alle Auf- ersten Staaten des ehemaligen Ost- bruchstimmung war verflogen. Frankreich 7,7 % blocks dazustoßen, werden es 430 Mil- *ohne ehem. Sowjetunion; Immer wieder schoss der Westen Geld Quelle: Statistisches Österreich 7,5 % lionen sein. nach, um den Abwärtstrend aufzuhalten. Bundesamt, Wifo Ein ganz neues Geflecht an Wirtschafts- Bis heute sind 1,569 Billionen Mark in den beziehungen entwickelt sich, und Deutsch- Aufbau Ost geflossen, der größte Teil der 1990 91 9293 94 95 96 97 98 land gehört zu seinen größten Profiteuren.

46 der spiegel 45/1999 Titel

Es ist der wichtigste Handelspartner für die östlichen Nachbarn; der Handel mit den Reformländern entspricht dem Volu- men, das mit Frankreich erwirtschaftet wird. Mit dem Euro wird der Kontinent zum führenden Finanzplatz neben den USA aufsteigen. Die gemeinsame Währung zieht Kapital aus der ganzen Welt an. Die Chancen des neuen Europa sind ge- waltig. Doch manche empfinden den Wan- del auch als Bedrohung. Sie fürchten, dass die jungen Marktwirtschaften soziale Stan- dards gefährden, die das alte Europa so mühsam errungen hat. Sie warnen davor, dass die neue Konkurrenz aus dem Osten in eine Abwärtsspirale führe. Kein Zweifel, der Wettbewerb zwischen Atlantik und Ural wird sich weiter ver- schärfen. Wenn Europa sich nach Osten hin erweitert, werden Unternehmen aus dem Westen stärker noch als bisher neue Standorte direkt vor ihrer Haustür auf- bauen – gelockt von niedrigen Löhnen und der Nähe zu neuen Absatzmärkten. Früher hat Volkswagen Autos in Deutschland gefertigt und ins Ausland ex- portiert. Dann wurden Werke vor Ort auf- gebaut, Komponenten geliefert und die Fahrzeuge montiert. Nun aber werden im- mer mehr Autos in Tschechien oder der Slowakei produziert, von dort wird sogar der einstige Heimatmarkt Deutschland be- liefert – es ist ein stufenweiser Prozess, der den Arbeitnehmern in den Werken in Wolfsburg, Braunschweig oder Emden schwer zu schaffen macht. Sie müssen heute um jedes Stück Arbeit kämpfen.Wenn es um die Vergabe der Pro- duktion neuer Modelle geht, stehen sie in Konkurrenz zu den neuen Standorten im Osten. Sie haben den Beweis zu erbringen, dass sie mindestens ebenso billig Fahrzeu- ge oder Motoren herstellen können wie ihre Kollegen in Györ oder Bratislava. Auch umgekehrt wird der Druck aus dem Osten spürbar. Schon heute drängen Niedriglöhner auf den Arbeitsmarkt im Westen. Kaum eine Baustelle in Berlin, auf der nicht Polen oder Tschechen arbeiten. Vielleicht schon 2003 werden diese Län- der der EU angehören, ihre Bürger haben damit das Recht, überall in Europa zu le- ben und zu arbeiten. Die einheitliche Währung aber wird Unternehmern den Kostenvergleich noch erleichtern. Die fast schon vergessene Standort- debatte dürfte damit in eine neue Runde gehen. Wie sind in diesem neuen Europa soziale Sicherheit und wirtschaftliche Frei- heit in Einklang zu bringen, so lautet die zentrale Frage. Der notwendige Wandel nach der Wen- de hat erst begonnen. Die größten Verän- derungen stehen noch bevor, glaubt Ro- mano Prodi. „Der Fall der Berliner Mau- er“, sagt der EU-Kommissionspräsident, „hat die erste Seite eines völlig neuen Ka- pitels der europäischen Geschichte aufge- schlagen.“ Alexander Jung

der spiegel 45/1999 Werbeseite

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Codes sind westdeutsch geprägt. Anderer- seits fällt es immer schwerer, die deutsche Kulturlandschaft ideologisch oder gar KULTUR stammeskundlich aufzuteilen. Der Boom des deutschen HipHop etwa begann tatsächlich nach dem Ende des SED-Staates – etwa zur gleichen Zeit, als Im Osten was Neues die Techno-Bewegung samt Love-Parade ihren Siegeszug antrat. Seitdem finden sich Der Westen hat, kein Zweifel, auch kulturell „gesiegt“. Zugleich nicht zufällig die besten Clubs im ehema- fällt es immer schwerer, die deutsche Kunstszene nach Ost ligen Osten Berlins, und das neue deutsche Nachtleben hat einen einzigen Namen: und West aufzuteilen. Die Blicke richten sich auf die Zukunft. Berlin-Mitte, bis November 1989 noch das lysol-, schwefel- und Stasi-verseuchte Do- in samstäglicher Gang durch dert hat. Zwar ist nicht einfach „zusam- rado der allertreuesten Parteikader. das herbstliche Berlin, da, wo mengewachsen“, was „zusammengehört“, Immer neu überraschend: All jene pro- die Stadt 28 Jahre lang durch wie Willy Brandt prophezeite, doch hat minenten Schauspieler, Regisseure und Mauer und Stacheldraht geteilt sich eine gesellschaftliche, auch geistige Künstler, die das Publikum in Bann ziehen, war, offenbart die einschnei- Dynamik entwickelt, die Anlass zu Opti- ob Corinna Harfouch oder Katharina Thal- dendste Veränderung: Zwi- mismus bietet. Dass es dabei nicht ohne bach, Nina Hagen oder Armin Mueller- Eschen Lustgarten und Pergamon-Museum, Streit und Konflikte abgeht, ist selbstver- Stahl, Kurt Masur oder Ulrich Mühe – sie Oranienburger Straße und Brandenburger ständlich. Die ungebrochene Popularität waren Honnis mal geplagte, mal privile- Tor herrscht die Kakophonie der Welt- des Ossi-Witzes wetteifert mit dem Sie- gierte Untertanen. Heute sind sie Stars der sprachen. Englisch, Französisch, Italienisch, geszug der PDS, der Jammerton Ost kon- deutschen und internationalen Kulturszene. Japanisch, Spanisch, Russisch, Polnisch, kurriert mit der Gleichgültigkeit West. Aber auch Wolf Biermann gehört in die- Schwyzerdütsch und andere globale Dia- Kein Zweifel: Der Westen hat auch kul- se gesamtdeutsche Kulturbilanz – wie sein lekte haben die alte Amtssprache im Re- turell „gesiegt“, doch es ist zugleich ein verstorbener Freund, der mutige DDR- vier, das sozialistische Tremolo des Polit- Triumph der weltweiten, angloamerikani- Aufklärer Jürgen Fuchs, die Regisseure büro-Sächsisch, für immer verdrängt. schen Popkultur.Vom Westen kommt, zum Andreas Dresen („Nachtgestalten“) und Eine neue Internationalität hat sich breit Westen drängt fast alles. Leander Haußmann („Sonnenallee“) eben- gemacht, die beileibe nicht nur von den Nicht zu vergessen freilich: die hunder- so wie die Theaterleute Thomas und Mat- freilich gewaltigen Touristenströmen her- te von Millionen Mark teuren Sanierun- thias Langhoff. rührt. In der Lebensmittelabteilung der gen ganzer historischer Stadtkerne wie in „Westdeutschland war nie nur westlich“ „Galeries Lafayettes“ an der Friedrich- Weimar, Schwerin, Potsdam, Leipzig oder – an diese schlichte Tatsache erinnert Chris- straße etwa versichert die französische Dresden, wo derzeit, neben der Frauen- toph Stölzl, scheidender Generaldirektor Verkäuferin einer hilflosen Kundin aus kirche, auch noch das alte Schloss für 300 des „Deutschen Historischen Museums“ in Pankow mit Nachholbedarf Berlin. Schon lange vor dem in Trinkkultur im verfüh- Fall der Mauer sind DDR- rerischsten Akzent: „Diese Bürger wie Uwe Johnson, Wein Sie können trinken im- Günter Kunert, Jurek Becker mer, egal, was kommt auf die und Manfred Krug in den Tisch.“ Westen übergesiedelt. Berlin, Zentrum des deut- Doch wenn ein Stück schen Ost-West-Dramas, ent- DDR-Kultur in Reinform er- wickelt sich fast beiläufig zu halten geblieben ist, dann in einer wirklichen Metropole, der einst realsozialistischen und wie jede Metropole der Volksmusik, die bruchlos an Welt wird sie multikulturell die bayerische „Jodelidum- sein, voller fremder Men- dödeldi“-Seligkeit andocken schen, die die innerdeutsche konnte. Ob Dagmar Frede- Beziehungskiste mit ihrem ric,Achim Mentzel, Ingo Du- riesigen Arsenal gegenseiti- binski oder Stefanie Hertel – ger Kränkungen eher wenig nirgendwo sonst ging die so

interessiert. BAUER W. genannte innere Einheit rei- „Was bleibt?“ lautete der „Hackesche Höfe“ in Berlin-Mitte: Biografisches Hintergrundrauschen bungsloser vonstatten als im Titel jener etwas verquälten Schlager- und Volksmusik- autobiografischen Erzählung der DDR-Pa- Millionen Mark wieder aufgebaut wird. Business. Ingo Dubinski, Moderator der radeautorin Christa Wolf, die 1990 für ei- Von einer „wunderbaren Gesundung“ der „Goldenen-1-Hitparade“ (ARD), über das nen wahren deutsch-deutschen Literatur- Museen im Osten gar spricht Werner segensreiche Wirken seines volkstümeln- streit sorgte. Wieder einmal ging es um Schmidt, pensionierter Generaldirektor der den Haussenders, den Mitteldeutschen machtgeschützte Innerlichkeit inmitten Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Rundfunk: „Der gibt den Menschen in Er- einer Diktatur, um die Verantwortung Doch all das mag diejenigen nicht inter- furt und Dresden noch einen Haltepunkt.“ der Intellektuellen und die Fähigkeit zur essieren, die darin stets den Geist der „Ko- Welten entfernt kreist die große Leipzi- Selbstkritik, um deutsche Vergangenheit lonisierung“ erblicken. Denn auch die in ger „Faust“-Inszenierung des Ost-Regis- und künstlerische Identität. Heute, zehn regelmäßigen Abständen ausbrechenden seurs Wolfgang Engel (Dauer: rund neun Jahre nach dem Fall der Mauer, heißt die Feuilletondebatten, der ganze Diskurs-, Stunden) um das intellektuelle Selbstbild entscheidende Frage: Was wird denn nun? Preisverleihungs- und Veranstaltungszir- des ewigen Suchers und Zweiflers an Me- Dieser Perspektivenwechsel zeigt, wie kus, nicht zuletzt die geballte Medien- phistos Seite. „Dass sich das größte Werk viel sich binnen eines Jahrzehnts verän- macht, kurz: Die maßgeblichen kulturellen vollende, / Genügt Ein Geist für tausend

50 der spiegel 45/1999 Hände“, so phantasiert Faust, doch Engels Version des berühmtesten deutschen Dra- mas bricht unübersehbar mit dem notori- schen Anspruch vor allem der ehemaligen DDR-Künstler, durch ein Gemälde die ganze Gesellschaft erschüttern, die Welt verändern zu wollen. Gerade die Repression in der DDR hat- te diese fatale Illusion genährt, die sich zuweilen heute noch artikuliert, etwa im ostdeutschen Lamento über die akute Be- deutungslosigkeit der Kunst unter dem pro- grammatischen Banner des Werbemottos „Die Freiheit nehm ich mir“ – aber was verändert sie außer dem Kontostand? Auch gestandene Ost-Politiker kommen mit den Ambivalenzen der Freiheit immer noch nicht zurecht. Nach neun Jahren im Dienst der parlamentarischen Demokratie äußerte sich die abgetretene Brandenbur- ger Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD), die Jeanne d’Arc des Ostens, jüngst im „Stern“ mit tief empfundener Verach- tung über die Pressefreiheit: „Die ist für mich pervertiert. Was alles so geschrieben werden darf, ist unverantwortlich.Wir sind aus der Einfalt in die Vielfalt geraten.“ Vielfalt als kulturelles Feindbild. Gleich- zeitig beklagen viele das „Plattmachen“ von DDR-Kultur. Dabei wurden große Theaterhäuser zunächst vor allem in West- Berlin geschlossen: 1992 die Freie Volks- bühne, ein Jahr später das Schiller-Theater. Viel Geld fließt dagegen derzeit ins Berli- ner Ensemble (BE) am Bertolt-Brecht- Platz Nummer 1, wo ab 8. Januar 2000 der neue Intendant Claus Peymann allen korrupten Glattgesichtern der Berliner Re- publik zeigen will, was eine linke Schnür- bodenharke ist. Derweil sammeln sich jeden Sonntag- nachmittag, einen Steinwurf vom BE ent- fernt, hunderte vorwiegend ältere Men- schen vor dem Friedrichstadtpalast. Die Welt dreht sich hier, wie zu Honnis Zeiten, immer noch und unverdrossen um phan-

CINETEXT tastisch lange Frauenbeine. Ost-Star Harfouch: Ein Haltepunkt für die Menschen zwischen Erfurt und Dresden Doch derart Seichtes beeindruckt den gelernten Ost-Protestler schon gar nicht. Gegen das Ende vieler Jugendclubs kämpft er bis heute so, als ob sich in den zumeist winzigen Neubauwürfeln der Trabanten- städte die Arbeiterjugend zum Lesen ex- pressionistischer Lyrik getroffen hätte – und als ob aus orientierungsschwachen Burschen rechtsradikale Schläger werden mussten, nachdem es diese Treffpunkte aus Beton und Platte nicht mehr gab. Dass es tatsächlich – ökonomisch wie politisch motiviert – auch an die kulturel- le Substanz geht, ist unbestritten. Obwohl unter anderem in Frankfurt (Oder) erst Ballett und Chor, schließlich die gesamte Musiktheatersparte abgebaut, die Potsda- mer Oper praktisch abgeschafft und das Theater der Stadt Brandenburg fast auf Null gefahren wurden, geht es jetzt noch A. SCHOELZEL H. J. ANDERS / STERN H. J. mal richtig zur Sache: Die Brandenburgi- Ost-Stars Masur, Hagen: Von Honnis Untertanen zu Promis der Kulturszene sche Philharmonie Potsdam wird aufgelöst

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel und durch ein Kammerorchester ersetzt. scher Weltbetrachtung unvergessliche Osten wird immer nur über den Osten ge- Das Theater- und Musikangebot soll durch Stunden vor dem Fernsehgerät, wenn er redet, als wäre die Zeit stehen geblieben.“ „Fremd- und Verbundproduktionen“ er- im raunend-gehusteten Nachtgespräch mit Vielerorts hat man sich in einer über- setzt werden – ein Hauch VEB Spaß und Alexander Kluge über Stalingrad, Aldi, schaubaren Nischenkultur eingerichtet, Entertainment. Hölderlin und Sophokles redete, als schöp- feiert Ost-Partys, liest die „Junge Welt“ Nach dem Ende der DDR verschwan- fe er aus einem nie versiegenden Reser- und hört Ost-Rock, dessen Code dem den aber nicht nur Bühnen und Ensem- voir von Geschichten und Gedanken – im- Nichteingeweihten nur schwer verständ- bles, sondern vor allem die Autorität des mer mit Whisky und Zigarre. lich ist. Die populärste Rockband der Künstlers. Kurz: Dem Osten ist die alte in- Aus dieser Haltung heraus hat auch DDR, die Puhdys („Alt wie ein Baum / tellektuelle Mitte abhanden gekommen. Frank Castorf die Ost-Berliner „Volksbüh- Zwar ist Christoph Hein gesamtdeutscher ne“ am Rosa-Luxemburg-Platz als stolzen PEN-Präsident geworden, sein aktuelles „Panzerkreuzer“ vor dem Prenzlauer Berg Drama „In Acht und Bann“ aber, eine Art in Stellung gebracht. Mit diesem Gerät bal- Fortschreibung seiner erfolgreichen Polit- lert der 48-jährige Theaterintendant und büro-Travestie „Die Ritter der Tafelrunde“ Stückezerfetzer nun schon seit sieben Jah- von 1989, fand nur mäßiges Interesse. Über ren wüst in die vertraute Gegend – mit ei- Christa Wolf redet man zehn Jahre nach nem Programm, das die spezifische Ag- der Wende nur noch, weil sie 70 wurde, gressivität und Asozialität des Ostens kon- und Heiner Müller ist tot. Vor allem der serviert, dabei sein junges Publikum findet Verlust dieses intellektuellen Übervaters und von der gesamtdeutschen Theaterkri-

stürzte den geistigen Osten in einige De- tik geliebt wird, noch im Verriss. A. SCHOELZEL pressionen: War Müller es doch, der nicht Indes, der Prenzlauer Berg, den er gegen Ost-Dichter Müller (1994) nur gewaltige Menschen- und Mensch- die Obszönität der kapitalistischen Wa- Einst intellektueller Übervater heitsdramen aufs Papier warf, sondern mit rengesellschaft verteidigen will, ist auch seiner eschatologischen Sehnsucht nach nicht mehr, was er war. Seit die Leiden- Möchte ich werden“), ist weder auf MTV dem ganz Anderen und seiner pointierten schaft für subversiv-poststrukturalistische noch bei Viva präsent, füllt im Osten aber Polemik gegen die kapitalistische Waren- Dichtung nur noch halb so groß ist, seit noch spielend die Säle. Gleichzeitig be- welt dem weit verbreiteten Ost-Unbehagen sich die demonstrativ amoralische Litera- kennt eine Mehrheit in der alten Bundes- zur Sprache verhalf. ten-Szene nach der Entlarvung ihres republik, noch nie „drüben“ gewesen zu Doch auch dem interessierten Minder- Führungsoffiziers Sascha „Arschloch“ An- sein und schon gar nichts von den Puhdys heiten-Wessi bereitete der Meister zyni- derson als „Inoffizieller Mitarbeiter“ der gehört zu haben. Stasi plötzlich doch in einem Wie östlich oder westlich ist also die Kul- moralischen Diskurs wieder- tur des „neuen Deutschland“ zehn Jahre fand, ist die Luft raus. Der danach? Ist sie ernster und protestantischer Mythos von den anarchisti- geworden, wie manche fürchteten, oder ist schen Hinterhausdichtern ist sie gar noch beliebiger, konsumistischer dahin. Dafür gibt es jetzt bes- und orientierungsloser als zum Ende der sere Kneipen. achtziger Jahre? Jenseits des entschwunde- Es mag sein, dass das kulturelle und po- nen Untergrunds und seiner litische Klima zugleich südlicher, also hel- alten Helden ist derweil eine ler, und nihilistischer, also dunkler, gewor- neue Generation am Werk. den ist, desillusioniert-ironisch und gera- Für sie sind, spiegelbildlich zu dezu atheistisch-neuheidnisch im Sinne der ihren Altersgenossen im Wes- Harald-Schmidt-Show. ten, die ideologischen Klas- Gleichzeitig zischen immer wieder ideo- sen- und Grabenkämpfe, Prag logische, quasireligiöse Erlösungswünsche ’68 oder die Biermann-Aus- durch die Ventile der Spaßgesellschaft, ru- bürgerung 1976 keine bestim- dimentäre Proteste gegen jene utopielose menden Grunderfahrungen Ex-und-hopp-Gegenwart, an der man sel- mehr. Die DDR ist ihnen ber teilhat. allenfalls biografisches Hin- So ist die gesamtdeutsche Enttäuschung tergrundrauschen, tauglich über das rot-grüne Gemurkse von Schrö- weder als Quelle für Verbis- der & Co. auch ein Reflex auf die Erfah- senheit noch für nostalgisches rung, dass offenbar nicht einmal das ei- Sehnen. gentlich Mögliche politisch Wirklichkeit An der Tatsache, dass der wird, vom Visionären ganz zu schweigen. Osten in der Kultur des ver- Zeithistoriker Stölzl entdeckt denn auch einten Deutschland unterre- in dem „absoluten Nihilismus“ einer jun- präsentiert ist, scheint er selbst gen Generation von Ost-Autoren und -Re- nicht schuldlos zu sein. Ost- gisseuren einen neuen „Grimmelshausen- Autor Thomas Brussig, dessen Ton“ – als Protest gegen diese Tabula-rasa- Roman „Helden wie wir“ in Epoche, gegen den „lemmingartigen Zug dieser Woche als Film in die zur Mitte, ohne jede Theorie“, gegen den Kinos kommt, sagte jüngst: hohl klingenden Konsens einer Gesell- „Es gibt das Internet, die schaft, die sich selbst nicht mehr zu ver- digitale Revolution, es gibt stehen scheint. Vielleicht wird gerade

D. BALTZER /D. BALTZER ZENIT Kleinanleger, Einschaltquoten, diese Erklärungsnot zur kulturellen Her- BE-Intendant Peymann deutsche Soldaten im Krieg ausforderung des neuen Deutschland. Linker Schnürbodenhaken gegen das Establishment und die neue Mitte. Aber im Andreas Lehmann, Reinhard Mohr

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Werbeseite Titel

DEBATTE „Unsere Schläfrigkeit ist unbegreiflich“ Arnulf Baring über den Wohlfahrtsstaat, die Berliner Republik, den Euro und Ost-Europa

ie 50-Jahr-Feiern der Bundesrepublik sind er- wert, wäre er nicht so symptomatisch für die Stim- staunlich matt ausgefallen, lustlos, fast beiläufig. Ist mung und Tonlage, in denen Deutsche über das ein gutes Zeichen – ein Beweis der Selbstver- sich und ihr Land sprechen.Von den NS-Ver- ständlichkeit des Erreichten? Oder ist es ein brechen ist überall und täglich die Rede. Kein schlechtes Zeichen, ein Beweis geringen Stolzes Fernsehabend, der ohne diese Chiffre auf die große Leistung dieses halben Jahrhun- des Schreckens auskäme. Dderts, ein Beleg müder Gleichgültigkeit, emotionaler Distanz ge- Weil unsere ganze, viele Jahrhunderte genüber der Bundesrepublik – während das zehnjährige Jubiläum lange Geschichte das Verhängnis 1933 nicht des Mauerfalls spektakulär gefeiert wird? verhindert habe, heißt es weithin, sei sie insgesamt zu verwerfen. Ich habe eine seltsame, irritierende Erfahrung in diesem Som- In der frühen Nachkriegszeit haben sich die Deutschen noch ge- mer gemacht. Ich veröffentlichte im Frühjahr ein Buch mit dem gen die Behauptung verwahrt, dass eine gerade historische Linie Titel „Es lebe die Republik, es lebe Deutschland“. Politiker aus von Luther zu Hitler führe. Heute ist dies die Auffassung breiter allen ernst zu nehmenden Parteien, aber auch Verlagsleute, Jour- Kreise, wenn nicht die herrschende Meinung. nalisten, viele Freunde und Bekannte haben mir von diesem „pro- Im Unterricht spielt demgemäß unsere Geschichte keine wich- vokativen“ Titel abgeraten. Er werde mich in den Verdacht des tige Rolle, vom Stolz auf große Zeiten, vorbildhafte Deutsche der Rechtsradikalismus bringen. Vergangenheit kann im öffentlichen Bewusstsein keine Rede sein. Ich konnte das nicht glauben, insistierte, was denn an diesem Die 68er haben weit mehr in Misskredit gebracht als die eigene Ruf radikal oder extrem sei – den ich doch aus Frankreich über- Elterngeneration. Sie haben alles Vergangene entwertet und ins nommen hätte, wo selbstverständlich der Präsident der Repu- Vergessen gerissen.Aus der selbstherrlichen Geschichtsbesessen- blik, aber auch einfache Bürgermeister in feierlichen Momenten heit eines übertriebenen, fatalen preußisch-deutschen Reichspa- Ansprachen mit dem Ruf schlössen: „Vive la République, vive la triotismus sind wir ins andere Extrem, in die fast völlige Ge- France!“ Es sei für einen schichtsvergessenheit ge- Demokraten doch eine raten, die NS-Zeit ausge- Selbstverständlichkeit, nommen. die Republik hochleben Aber was soll man von zu lassen, ihr Glück zu der emotionalen Stabi- wünschen. lität von Menschen hal- Das wurde mir zö- ten, die ihre Vorfahren, gernd zugegeben. Und ihre eigenen Eltern und wie die Republik leben Großeltern nicht kennen, könne, wenn Deutsch- nicht verstehen wollen land nicht lebe, nicht und in keiner Hinsicht blühe, es Deutschland anerkennen können? Ein nicht gut gehe? Auch das Mensch, der seine Vor- wurde eingeräumt. Im- fahren nicht kennt, bleibt mer wieder erlebte ich wurzellos, orientierungs- ein entspanntes Lächeln, los.Ähnlich geht es einer stilles Leuchten, ja ein Nation, die ihre Vergan- tiefes Aufatmen, wenn genheit verleugnet. Es das Missverständnis aus- fehlt uns an der rechten geräumt war. Mischung von Nähe,

Mich hat diese Erfah- AP Neugier und Distanz ge- rung aufgestört und be- Jubelnde Deutsche (1989): „Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!“ genüber früheren Deut- unruhigt. Unser emotio- schen, es fehlt uns an in- nales Verhältnis zum eigenen Land scheint mir tiefer gestört, als nerer Balance, Abgewogenheit des Urteils. Aber wen nicht inter- man vermuten sollte.Wir ruhen überhaupt nicht in uns selbst, be- essiert, was vor ihm war, der wird im Zeitalter der Selbstverwirk- jahen uns, Deutschland, auch die Republik nicht wirklich, weil wir lichung auch wenig Verständnis für Generationen aufbringen, die seit Jahrzehnten wesentlich negativ über die eigene Nation haben nach ihm kommen. reden hören, denken lernen. Immer wieder heißt es in deutschen Wir alle haben aber eine Verantwortung für die Kinder, die En- Reden, in Reden über Deutschland, die Franzosen hätten ihr 1789, kel. Meine Kinder werden vermutlich die Mitte, meine Enkel die die Briten ihre lange demokratische Tradition, die USA seit 200 Jahrzehnte des ausgehenden 21. Jahrhunderts erleben. Bevölke- Jahren, seit Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung, eine rungswissenschaftler sind sicher, dass die Deutschen dann un- strahlende Republik. Grundlage unserer eigenen Identität hinge- weigerlich nur noch 30 Millionen sein werden. Wer bedenkt ver- gen sei Auschwitz. Günter Grass nannte seine Frankfurter Poetik- antwortungsbewusst, was das heißt, welche Entschlüsse es heute Vorlesung 1990 nicht etwa „Schreiben in Deutschland“, nein: erfordert? In unseren Jahrzehnten hat man den älteren Genera- „Schreiben nach Auschwitz“. Ein Titel, nicht weiter erwähnens- tionen, die das Dritte Reich erlebt haben, selbstgerecht und vor-

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Werbeseite Titel wurfsvoll ihre Versäumnisse vorgehalten. An diesem strengen Demokratie, wie viel vorbildliche Staatstätigkeit jener Jahrhun- Maßstab müssen auch wir Heutigen, unter ganz anderen Voraus- derte kennt unsere Geschichte! Europa solle endlich erwachsen setzungen, vor völlig verschiedenen Herausforderungen, uns mes- werden, meinte kürzlich wieder einmal „Die Zeit“. Ein Mensch sen lassen. Wir sind den Vorfahren wie den Nachkommen Re- ist erwachsen, wenn er sich so annimmt, hinnimmt, wie er nun ein- chenschaft schuldig. Gewiss lässt sich fragen: Sind 30 Millionen mal geworden ist. Wenn er sich weder über- noch unterschätzt. Deutsche nicht genug? – Nicht, wenn der Großteil im Rentenal- Auch mit den eigenen dunklen Seiten zurechtkommen, leben ter ist und die Übrigen die sozialen Lasten zu tragen haben. Was kann, sich nicht mehr als einzigartig empfindet, in die Genera- bedeutet dieser Schwund für unsere Einwanderungspolitik? tionsfolge stellt. In diesem Sinne muss erst einmal Deutschland er- Ein Volk, dessen Sozialsystem einen ausgewogenen Altersauf- wachsen werden, um in Europa bescheiden und gleichzeitig selbst- bau benötigt, bekommt natürlich gewaltige Probleme, wenn kaum bewusst seine Rolle zum gemeinsamen Besten auszufüllen. noch Junge nachwachsen. Ich will nicht suggerieren, dass die Niemand außerhalb unserer Grenzen hat je die Vorstellung ge- Deutschen durch bevölkerungspolitische Maßnahmen aufgepäp- teilt, dass Europa, die EU, an die Stelle der Nation treten solle oder pelt werden müssen. Aber könne. Es war immer vom ich will sagen, dass wir Fortbestehen der Natio- langfristiger denken, auch nen, zumindest auf abseh- für die Enkelgenerationen bare Zeit, die Rede. Die planen müssen. Völker, auch das unsere, Wenn man das Problem werden für die Lösung der unseres langfristig unauf- dringenden eigenen Pro- haltsamen Bevölkerungs- bleme erwartungsvoll auf schwundes durch Einwan- die eigene Regierung, das derung lösen will, dann eigene Parlament blicken. muss man sich über die fi- Und das eigene Land, die nanziellen, vor allem die eigene Nation wird dar- psychologischen Folgen über entscheiden, nie- im Klaren sein. Bisher sind mand sonst, keine Allianz, ja die Vertreter des Multi- keine Union, ob man öko- kulturellen immer davon nomisch, technologisch in ausgegangen, mehr oder der Spitzengruppe bleibt, weniger stillschweigend, (wieder) in sie kommt dass die Ausländer einen oder (weiter) zurückfällt. kleinen Anteil darstellen. Man hat die Deutschen

Eine Situation, bei der die ECKEL / RETRO J. in Ost und West „Sozial- Deutschen im eigenen Grenze bei Frankfurt (Oder): Den Nachbarn auf die Nerven gehen staatspatrioten“ genannt. Land auf weite Strecken Wir sind stolz auf unseren in die Minderheit gerieten, wäre nur erträglich, wenn eine Inte- Wohlfahrtsstaat. Die Honecker-Ära kennzeichnete „die Einheit gration der Ausländer in die deutsche Kultur stattfinden würde. von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, was in der Praxis, wie bei uns Henry Kissinger hat gesagt: „Wenn das, was heute in Amerika heute, auf den Vorrang der Sozialpolitik hinauslief. „Wir haben und auch in Deutschland vertreten wird, die multikulturelle Über- die Sozialpolitik zu sehr in den Vordergrund gestellt und zu zeugung, dass man alle so lassen soll, wie sie sind, schon in den wenig die ökonomischen Notwendigkeiten bedacht“, räumte dreißiger Jahren gegolten hätte, dann wäre mein Aufstieg in Ame- Egon Krenz kürzlich ein. Inzwischen habe er sich zu der Er- rika gar nicht möglich gewesen, denn dann wäre ich in der Bronx, kenntnis durchgerungen, dass man nur ausgeben könne, was man wo alle damals Deutsch sprachen, weil sie deutsche Emigranten auch erwirtschaftet habe. Diese schlichte, späte, aber fundamen- waren, als Deutsch sprechender Jude sitzen geblieben.“ Die kul- tale Einsicht des letzten SED-Generalsekretärs möchte man turelle und politische Integration ist die Voraussetzung, um sich nicht nur seinen Nachfolgern in der PDS-Führung, sondern allen in der neuen Nation, der Gast-Nation, die dann die eigene wer- deutschen Politikern und natürlich dem Volk dringend ans Herz den soll, erfolgreich durchzusetzen. Wir haben die Folgen der legen. veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung bisher in keiner Die alte Bundesrepublik war nie wieder so tüchtig, so erfolg- Weise zu Ende gedacht. So gehen wir mit fundamentalen Pro- reich wie in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens (1949 blemen Deutschlands um! bis 1969); in der zweiten Hälfte ihrer Existenz begann sie, in dem Alle Welt weiß, dass wir ein Umsetzungs-, nicht aber ein Er- Irrglauben, die Konjunktur sei staatlicherseits beliebig steuerbar, kenntnisproblem haben. Längst ist allen Verantwortlichen klar, in durchaus unterschiedlichen Phasen sich auf den Lorbeeren der was getan werden müsste.Wir tun das Erforderliche jedoch nicht, beiden Anfangsjahrzehnte auszuruhen, über ihre Verhältnisse zu weil wir mit uns selbst nicht im Reinen sind, den Frieden mit uns leben. Schon lange vor der Wiedervereinigung war sichtbar, dass selbst, mit dem eigenen Land nicht gemacht haben, wesentlich von wesentliche Entscheidungen unerledigt blieben, ja unerörtert ver- negativen Gefühlen Deutschland gegenüber erfüllt sind, Deutsch- tagt, ignoriert wurden. Joachim Fest hat gemeint, der National- land nicht bejahen können, ihm eigentlich keine, schon gar keine sozialismus sei im Tiefsten Wirklichkeitsverneinung gewesen. glückliche Zukunft wünschen, es am liebsten in einer größeren Hannah Arendt beklagte, dass die Deutschen Tatsachen von Mei- Einheit, beispielsweise in Europa, vielleicht auch gleich in den Ver- nungen nicht unterscheiden könnten, Meinungen für Tatsachen einten Nationen, wie Zucker im Tee auflösen würden. hielten, Tatsachen wie bloße Meinungen behandelten. Sind uns Ohne die NS-Verbrechen je zu vergessen, für die auch die diese Züge nicht immer noch, immer weiter eigen? Nachgeborenen historisch haften, müssen wir gleichzeitig einse- Die deutsche Tatsachenblindheit, Realitätsverleugnung wurde hen, dass sie lediglich eine kurze Phase einer großen, reichen Ge- noch erstaunlicher mit der Wiedervereinigung 1989/90. Jedem schichte der Deutschen kennzeichnen, nur eine – wenn auch un- aufmerksamen Zeitgenossen hätte sofort klar werden müssen, begreiflich schreckliche – Unterbrechung der langen, insgesamt dass es innen- wie außenpolitisch um weit mehr ging als eine bloße außerordentlich positiven Rolle bedeuten, die wir auf diesem Ausdehnung der Bundesrepublik. Innenpolitisch mussten sich die Kontinent gespielt haben. Welchen kulturellen Reichtum in Mu- ungelösten, aufgeschobenen alten Probleme und die beträchtli- sik, Philosophie, Literatur verdankt die Welt zum Beispiel den chen neuen, auch mentalen Lasten, die eine abgewirtschaftete Deutschen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie viel frühe städtische DDR in das vereinte Land einbrachte, zu einer gefährlich großen

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Werbeseite Titel

Herausforderung auftürmen. Außenpolitisch war 1991 ohne lan- Neue, tiefe Krisen dort würden uns aber stärker gefährden als ges Nachdenken unschwer zu sehen, dass das Verschwinden der andere, weiter entfernt lebende Gesellschaften – vielleicht nicht Sowjetunion aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa die westliche militärisch, obwohl auch das nicht ausgeschlossen ist, zumin- Allianz und in erster Linie – weil geografisch als östlichste Macht dest aber mit dann immer wieder drohenden neuen Flüchtlings- des Westens am stärksten von dortigen Veränderungen betroffen strömen. – Deutschland vor die Frage stellte, was mit dem Erbe des eta- Ausdruck unseres anhaltenden Zögerns, die neuen Realitä- blierten Sozialismus geschehen müsse, wie man den neuen Regi- ten zum Ausgangspunkt einer entschlossenen, zielstrebigen Poli- men im Osten zu begegnen hatte, wie sie demokratisch und markt- tik zu machen, ist die verbreitete Reserve gegen die Formel einer wirtschaftlich zu ermutigen waren. kommenden Berliner Republik, mit der doch lediglich die Er- Die zügige, zielstrebige Aufnahme eines Großteils der neuen wartung gemeint ist, dass die in Bonn unerörtert, zumindest un- Demokratien in die westlichen Systeme war seit 1990 das Gebot erledigt liegen gebliebenen Fragen in der neuen Hauptstadt der Stunde, das sich in erster Linie Deutschland hätte zu eigen ma- endlich tatkräftig angepackt werden. Eine Autostunde von chen müssen. Stattdes- der heutigen Ostgrenze sen betrieb man bei uns Deutschlands entfernt im Irrglauben,Vertiefung sollten sich die außenpo- und Erweiterung gleich- litischen Perspektiven zeitig voranbringen zu Deutschlands insofern können, vorrangig jene ändern, als neue Gefah- Vertiefung der EU, die ren künftig frühzeitiger ein Stück weit tatsäch- erkannt, Lösungen sorg- lich erreicht wurde, al- fältiger im Voraus be- lerdings auf französi- dacht werden. Es darf sches Betreiben unter uns nicht noch einmal risikoreichen Konditio- passieren, dass wir derart nen, wie insbesondere unbedarft in einen be- dem voreiligen Experi- waffneten Konflikt wie ment des Euro. den dieses Frühjahrs hin- Die EU-Erweiterung eingeraten. Nie wieder geriet leider auf die lan- sollte eine deutsche Re- ge Bank, ohne dass das gierung von den Ereig- unsere Bevölkerung zu nissen so überrumpelt

beunruhigen schien – im GIRIBAS J. FOTOS: werden, dass ihr nichts Gegenteil. Man glaubt Türken vor dem Schloss Bellevue: „Sind 30 Millionen Deutsche nicht genug?“ anderes übrig bleibt, als weithin noch immer, mit einen autoritären, ge- unserer Westintegration seien alle außenpolitischen Orientie- walttätigen Potentaten kurzerhand mit unserem verblichenen rungsfragen hinreichend beantwortet. Das galt schon vor 1989/90 Führer und Reichskanzler gleichzusetzen – ein abwegiger Ver- allenfalls bis zum Beginn der Entspannungsphase, der neuen Ost- gleich, wie der weitere Verlauf der bisher keineswegs ausgestan- Politik Brandts und Scheels. Seit der Wiedervereinigung, seit un- denen Kosovo-Krise gezeigt hat. serer Rückkehr in die Mitte Europas ist unsere (natürlich be- Wir Deutschen müssen, weil wir den potenziellen Konflikten grüßenswerte, wichtige, ja alternativlose) Westverankerung keine am nächsten liegen, uns früher und gründlicher als unsere eu- hinreichende Antwort mehr auf die neue Gesamtkonstellation. ropäischen Alliierten ein kohärentes Bild jener östlichen Krisen- Wir bemerken ebenso wenig, dass unsere zur Routine gewor- regionen machen, die sich offenkundig von Albanien bis Weißruss- denen Reuebekundungen wegen der nationalsozialistischen Un- land und ins Baltikum erstrecken. Es ist ein Unding, dass man heu- taten unseren östlichen Nachbarn längst auf die Nerven gehen, te, weil wir nicht hinreichend eigene Experten im Lande haben, sie – etwa die Polen – geradezu wütend machen, weil sie unsere zu Wissenschaftlern nach New York und Washington reisen muss, Gedankenlosigkeit dahinter spüren. Es sei schön und gut, dass wir um verlässlich zu erfahren, was östlich unserer Grenzen eigent- uns Hitlers und seiner Untaten anhaltend schämten, bekommt lich vorgeht, sich dort anbahnt. Wenn die Balten Gesprächspart- man in Warschau und anderswo heutzutage immer wieder zu ner suchen, um zu wissen, was von der russischen Politik ihnen hören. Aber wichtiger sei, dass sich die Deutschen darüber klar gegenüber zu halten ist, dann fahren sie nicht nach Deutschland, würden, was sie heute und morgen gemeinsam mit unseren sondern nach Amerika. Die ganze Osteuropa-Expertise sitzt in langjährigen Verbündeten und den neuen osteuropäischen Part- Amerika. Unsere Schläfrigkeit ist mir unbegreiflich. nern anzupacken gedächten. Was ist beispielsweise von der pol- Seit 1990 komme ich aus dem Staunen über meine Landsleute nischen Anregung zu halten, sich gemeinsam um die Stabilisierung nicht heraus. Selbst angesichts der riesigen Staatsverschuldung der ukrainischen Demokratie zu bemühen? neigen sie dazu, jede Regierung abzustrafen, die ihr notwendige Darauf werden die wenigsten von uns eine Antwort wissen, ha- Einschränkungen des hohen Lebensstandards zumuten will. Da ben wir doch nicht einmal bemerkt, wie fundamental, und zwar kann man nur mit Bertolt Brecht ironisch fragen: „Wäre es da zum Positiven hin, das lange tiefgestörte polnisch-ukrainische nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein Verhältnis sich in den letzten Jahren gewandelt hat. Stattdessen anderes?“ endet für die meisten Deutschen noch immer unser Europa an der Wartburg, allenfalls an Oder und Neiße, die man stellenweise durchwaten kann, so dass uns längst klar sein sollte, dass wir ein Arnulf Baring ureigenes Interesse an der wirtschaftlichen, sozialen und politi- wurde durch den Bestseller „Macht- schen Stabilität ganz Ost-Mitteleuropas haben müssen. wechsel. Die Ära Brandt-Scheel“ (1982) Nach dem Ersten Weltkrieg sind fast alle neuen ost-mittel- bekannt. Geboren 1932, lehrt der Histo- europäischen Staaten rasch autoritär entgleist. Am Vorabend riker, der auch im Bundespräsidialamt des Zweiten Weltkriegs war nur noch die Tschechoslowakei eine arbeitete, bis 1997 Zeitgeschichte und halbwegs funktionsfähige Demokratie. Weshalb sollten die neu- Internationale Beziehungen an der Frei- en Regime, nach den Verheerungen des Sowjetismus, heute sta- en Universität Berlin. biler sein als die Regierungssysteme dieses Raumes nach 1918?

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Werbeseite FOTOS: K. GREISER (FOTOS: li.); FRISCHMUTH / ARGUS ( re.) P. Ex-DDR-Bürger Gartenschläger (1976 am Tatort), Grabmal in Schwerin: „Eben so’n Ding besorgen“

Zwar hatte Gartenschläger den Fachar- PROZESSE beiterbrief als Dreher, aber für eine regel- mäßige Arbeit war er nicht zu haben. Ge- meinsam mit Gleichgesinnten, die er häu- „Herren über Leben und Tod“ fig im Hamburger Sozialheim „Helfende Hände“ traf, suchte er lukrative Abenteu- Einer der spektakulärsten deutsch-deutschen Todesfälle kommt er – am liebsten zu Lasten der Ostzone. Geschick und Glück hatte Gartenschlä- vor Gericht. Die Anklage zeigt, dass DDR-Verbrechen ger vor allem als Fluchthelfer. Er holte allenfalls noch mit juristischer Kreativität zu bewältigen sind. sechs Ostdeutsche in den Westen, schmug- gelte auch mal einen Rumänen nach Ju- amals, als das Böse aus allen Ritzen Da Raupbach zur Tatzeit erst 20 Jahre alt goslawien oder organisierte einen heimli- der zusammenstürzenden DDR war, findet die Verhandlung vor der Ju- chen Pass-Wechsel in Libyen. Dquoll, war der Fall natürlich Chef- gendstrafkammer statt. Im November 1975 las Gartenschläger sache. Im August 1990 teilte der Präsident Wenn es um die allmähliche Verwand- im SPIEGEL einen Bericht über den Auf- des Bundesnachrichtendienstes (BND) lung des DDR-Staatsgebietes in ein Ge- bau und die Funktionsweise der DDR- dem Generalbundesanwalt neue Erkennt- fängnis ging, log die Staatsführung beson- Grenzanlagen.Vor allem ein Satz blieb bei nisse über einen spektakulären Todesfall an ders dreist. So mokierte sich SED-Chef ihm hängen: Wie die Selbstschussautoma- der innerdeutschen Grenze mit. Erich Honecker im Oktober 1972 vor 4500 ten im einzelnen funktionieren, „weiß der Für den BND stand fest: Die Schüsse, Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend, Bundesgrenzschutz bis heute nicht genau“. mit denen der in Hamburg lebende DDR- der Westen mache in Empörung über „so- Für ihn ein klarer Fall: „Wenn die so’n Ding Hasser Michael Gartenschläger im Früh- genannte Todesmaschinen, die es gar nicht brauchen und nicht haben, wirst du denen jahr 1976 getötet wurde, seien auf höchste gibt“. Dabei hatten Pioniereinheiten im eben so’n Ding besorgen.“ Weisung gefallen. Stasi-Chef Erich Mielke Jahr zuvor damit begonnen, die trichter- Wochenlang ging er an der Grenze auf persönlich habe „die Ermordung“ befoh- förmigen Selbstschussanlagen des Typs SM Pirsch, studierte die Sprengtrichter durch len. Daraufhin hätten Spezialisten des Mi- 70 an der Grenze zu montieren, alle zehn seinen Feldstecher und zog Rückschlüsse, nisteriums für Staatssicherheit (MfS) Gar- Meter und in drei verschiedenen Höhen wenn einer der Apparate durch Wildwech- tenschläger „auf DDR-Gebiet gelockt und (0,40, 1,50 und 3,00 Meter). sel hochging. Mitte März wählte er seinen weisungsgemäß erschossen“ – ein kapita- Das unmenschliche SM-70-Regime nach Tatort aus, ein unübersichtliches Terrain les Staatsverbrechen. Strich und Faden bloßzustellen, das war bei Büchen, zwischen dem westdeutschen Aus der dringenden Chefsache wurde ein Bravourstück so recht nach dem Ge- Bröthen und dem ostdeutschen Wendisch ein langes Verfahren. Und die eindeutige schmack von Michael Gartenschläger. Lieps. BND-Story vom Mord in der Stasi-Falle Schon als 17-jähriger DDR-Bürger hatte In der Nacht zum 30. März 1976 war es mutierte zu einem juristisch hoch komple- er sich über den Mauerbau empört und so weit.Während ein Kumpel das Gelände xen Drama. „Wir sind auf einige rechtliche die Scheune einer landwirtschaftlichen sicherte, robbte Gartenschläger etwa 50 und tatsächliche Probleme gestoßen“, be- Produktionsgenossenschaft abgefackelt. Meter südlich der Grenzsäule 231 zum kennt ein Ermittler. Nachdem ihn das Bezirksgericht Frankfurt Zaun, durchtrennte die Zündkabel, löste Ab Dienstag soll der Fall nun endgültig (Oder) am 15. September 1961 „zu lebens- die Schrauben – und dann „nichts wie aufgeklärt werden. Vor dem Landgericht langem Zuchthaus“ verurteilt hatte, weg“. Die geklaute SM 70 übergab er dem Schwerin müssen sich die ehemaligen Sta- schmähten ihn DDR-Zeitungen als „Staats- SPIEGEL, der das Gerät in Labors zerlegen si-Grenzer Walter Lieberam, 50, Uwe verbrecher“, der „für immer von der Ge- und analysieren ließ (16 und 18/1976). Wienhold, 45, und Peter Raupbach, 44, we- sellschaft isoliert werden“ müsse. 1971 Gartenschlägers Coup erregte großes gen versuchten Totschlags verantworten. kaufte ihn die Bundesregierung frei. Aufsehen, in Kreisen eingefleischter DDR-

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Gegner war er auf einmal berühmt. Am sitzer dieses Wagens sei wahrscheinlich nen mit Kalaschnikows, einer, Raupbach, 22. April erhielt er einen Brief der „Ar- unterwegs, um eine weitere SM 70 zu hat gar ein leichtes Maschinengewehr. beitsgemeinschaft 13. August“ mit der holen. Gartenschläger und seine Kumpane stel- Bitte, gegen ordentliches Honorar eine Die DDR-Truppen, die das Gespräch len trotz der Dunkelheit fest, dass sie auf weitere Selbstschussanlage abzubauen. mithören, reagieren sofort. Generalleut- der anderen Seite erwartet werden. Flüs- Noch in der Nacht des gleichen Tages zog nant Karl Kleinjung, Chef der Hauptabtei- ternd verständigen sie sich darauf, für heu- er los – und knipste nur 200 Meter vom lung I, alarmiert alle seine Einsatzkräfte te abzudrehen. Doch Gartenschläger, der ersten Tatort entfernt eine zweite SM 70 im Grenzkommando Nord und schickt eine spanische „Star“-Pistole bei sich trägt, vom Zaun. weitere Verstärkung an den Abschnitt rund macht plötzlich kehrt. Wenigstens, sagt er, Die DDR-Machthaber tobten. Stasi-Chef um die Grenzsäule 231. In seinem aus- will er einen der Schussapparate zünden: Mielke habe, so ein früherer MfS-Offizier, führlichen „Maßnahmeplan“ verlangt „Die sollen wissen, Gartenschläger hat seiner Hauptabteilung I befohlen, „diesen Kleinjung wiederum, „die Täter festzu- wieder zugeschlagen.“ Täter bei einem erneuten Angriff unbe- nehmen bzw. zu vernichten“. Stasi-Kämpfer Linß erspäht auf einmal dingt festzunehmen“. Gegen Kleinjung, heute 87, und zwei einen Schemen, eine Gestalt. Er greift zu In den zackig erstellten Plänen der Miel- weitere hochrangige Ex-Offiziere hat die seiner Kalaschnikow – und stößt dabei an ke-Untergebenen klingt die Weisung deut- Staatsanwaltschaft 1997 in Berlin Anklage ein Magazin. Es klappert metallisch in der lich schärfer. Schon einen Tag nach Gar- erhoben. Der Vorwurf lautet nur auf „Tot- Dunkelheit. Dann peitschen Schüsse durch tenschlägers zweitem Coup ist in einer schlag in mittelbarer Täterschaft“. Das die Nacht. Linß behauptet, sein Gegenüber schriftlichen „Information“ von „Festnah- Landgericht hat die Verhandlung gegen die habe zuerst gefeuert, er habe in Notwehr me oder Liquidierung der Täter“ die Rede. Befehlshaber zwar bereits formell eröff- reagiert und unmittelbar nach ihm seine Die zweite Variante lautet „Fest- net, doch Termine stehen noch drei schwer bewaffneten Kameraden. An- nahme oder Vernichtung“. nicht fest. MfS-Chef Mielke, 91, dere Zeugen hingegen hören sofort meh- Ehemalige MfS-Offiziere be- Drei DDR-Grenz- wird von der Justiz nicht mehr rere Schüsse gleichzeitig. streiten bis heute, dass das ein soldaten behelligt, da er verhandlungsun- Sicher ist: Im Licht der DDR-Schein- Mordauftrag war. Im pervertier- feuern auf fähig ist. werfer liegt nach der Ballerei ein Mann am ten Deutsch ihres Regimes, er- den Schwerver- Am 29. April fällt Garten- Boden, regungslos. Linß tastet sich heran, läutert einer, habe „vernichten“ letzten, der schläger Stasi-Leuten nahe der hebt den Arm des Getroffenen – und spürt oder „liquidieren“ lediglich „die Grenzsäule 231 ins Auge. Die Gegendruck. „Er lebt noch“, ruft er sei- Anwendung der Schusswaffe un- wehrlos am Posten erstatten Meldung: nen Kameraden zu. Von hinten brüllt Lie- ter den damaligen Schusswaf- Boden liegt „14.38 Uhr – eine männliche beram: „Weg da vorne!“ Linß springt zur fengebrauchsbestimmungen und Zivilperson … beobachtet das Seite, die drei anderen feuern auf den nicht die Tötung eines Menschen be- Territorium der DDR mittels eines Fern- Schwerverletzten am Boden. „Es war eine deutet“. glases. Beobachtete Person ist identisch wilde Schießerei“, erinnert sich Raupbach. Am 24. April nimmt ein spezielles Ein- mit dem Täter.“ Für die Staatsanwaltschaft ist die zwei- satzkommando der Stasi den Dienst an In der Nacht zum 1. Mai fährt Garten- te Schussfolge das Verbrechen, denn bei dem von Gartenschläger bevorzugten schläger wieder los. Im Auto erzählt er, so den ersten Schüssen lässt sich der genaue Grenzabschnitt auf. Dass sie auf der rich- einer seiner beiden Mitstreiter, „dass er Ablauf nicht klar genug nachvollziehen. tigen Spur sind, erfahren die MfS-Leute die DDR so lächerlich machen wolle, dass Mit den anschließenden Salven aber hätten am Morgen des 26. April von Beamtenkol- alle Welt ihren Spaß hätte“. Diesmal möch- sich die drei Schützen „zu Herren über legen aus Westdeutschland. Über Funk ver- te er den Todesapparat vor der Ständigen Leben und Tod aufgeworfen“. ständigen sich trottelige Bundesgrenz- Vertretung der DDR in Bonn aufstellen Tatsächlich war Gartenschläger voll- schützer, ein besonderes Augenmerk sei und dazu Schilder: „Vorsicht Zonengrenze kommen wehrlos, und die gerichtsmedizi- auf einen BMW 2500 zu legen. Der Be- 200 Meter“. nische Rekonstruktion ergab, dass er of- Die Nacht ist kühl, nur drei Grad über fenkundig schon durch die ersten Schüsse * Links: 1980 bei einer Feier mit SED-Chef Erich Null. Hinter dem Grenzzaun an der Säule tödlich verwundet worden war. Deshalb Honecker; links von Honecker Stasi-Chef Erich Mielke, 231 liegen vier Schützen: Lieberam, der wird nur der Versuch angeklagt, nicht eine rechts von Honecker HVA-Chef Markus Wolf, 2. v. r. Kleinjung; rechts: im Oktober vor seinem Haus in Zugführer, Wienhold, Raupbach sowie vollendete Tat. Die Logik dahinter: Wenn Berlin. Herbert Linß. Bewaffnet sind drei von ih- er schon so gut wie tot war, konnten die Stasi-Männer ihn nicht mehr umbringen. Linß, 44, der bei der zweiten Salve nicht geschossen hat, ist im Prozess nur Zeuge. Ein paar Wochen spä- ter erhielten alle vier Schützen den DDR- „Kampforden in Silber“. Sie hätten ihrem Staat „gewissenhaft und zuver- lässig“ gedient und sich „konsequent bei Erfül- lung der Aufgabe“ ge- zeigt. Zur konspirativen Feier in Berlin überreich- te Generalleutnant Klein- jung auch eine Prämie von 1500 Mark. Es gab

FOTO (rechts):FOTO MROTZKOWSKI Würstchen und Sekt. Stasi-Spitze, Ex-General Kleinjung*: „Täter festnehmen bzw. vernichten“ Dietmar Pieper

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Nichts. Nur vier Prozent der Netz- Surfer verschlage es regelmäßig auf die Seiten irgendeines Verstei- gerers, bilanziert eine Studie der Marktforscher von Fittkau & Maaß. Wenn die Kunden dann noch gefragt werden, was ihnen an Online-Auktionen besonders gefalle, nennen über 40 Prozent den „Unterhaltungswert“. Kein Wunder: Noch immer geht es den Firmen vor allem darum, die eigene Marke bekannt zu machen. Koste es, was es wolle. Im ersten Geschäftsjahr gab Ricardo rund sieben Millionen Mark für Marketing aus, mehr als die Firma überhaupt umsetzte. Für die nächsten Jahre sind rote Zahlen fest eingeplant, was nie- manden stört. Außer eBay weist keiner Gewinn aus. Ricardo.de-Homepage: „Natürlich ist da viel Müll dabei“ Hemdsärmeligkeit gehört zum Handwerk: Ricardo finanziert sei- alando.de zeigten, wie schnell man in der ne Werbung gern mit Gegengeschäften. Die INTERNET bunten Branche reich werden kann. Nach Pro-Sieben-Gruppe bekam für TV-Spots nur drei Monaten verkauften sie ihre Klit- Aktien im Wert von rund 2,5 Millionen Friedhof sche im Sommer für einen zweistelligen Mark. Michael Beckel, Ex-Verlagsge- Millionenbetrag an den weltweiten Markt- schäftsführer des „Stern“, wurde für ei- führer eBay. nen solchen Tauschhandel schwer getadelt. der Kuscheltiere Die wachsende Konkurrenz überbietet Er soll die Verlagsspitze bei Gruner + Jahr sich mit immer neuen Studien und dubio- nicht rechtzeitig informiert haben. Online-Auktionshäuser überbieten sen Rekord-Zahlen. Ricardo rühmt sich sei- Im Geschäft Privat-an-Privat schleusten ner 300 000 registrierten Kunden, auch alle Internet-Händler im ersten Halbjahr sich mit bizarren PR- wenn darunter, wie bei anderen auch, ein dieses Jahres gerade mal 810 Millionen Aktionen. Das Alltagsgeschäft ist hoher Prozentsatz von Karteileichen und Mark durch ihre Kanäle. Programmiert ist jedoch zäh. Für einige Mehrfach-Anmeldern sein dürfte. Alan- weniger der Erfolg als der Ärger: Die vir- dürfte bald der Hammer fallen. do/eBay kontert mit einem gigantischen tuellen Lager müssen fortwährend nach Flohmarkt von über 500000 Produkten. Waffen- oder Drogendeals, Päderasten-Per- rwin Liedke, 37, hält sich selbst für Wer jedoch durch die virtuellen Regale versionen, Pornos und Organ-Offerten eine gelungene Mischung aus Kaf- surft, findet tausendfach Nippes, Schrott durchstöbert werden. „Bei uns sind Gott Efeefahrt-Clown, Pausen-Füller und und Klamotten-Müll, für den kein einzi- sei Dank noch keine Nieren aufgetaucht“, Geschäftsmann. In seiner Büro-Wabe am ges Gebot vorliegt. Was darf es sein? Ein grinst Ricardo-Mann Quaritsch. Hamburger Hafen drängeln sich mitunter „Sexy Rio Slip“ für 8 Mark bei eBay? Ein Die Sicherheitsvorkehrungen seien „pri- ein paar hundert Kauflustige – virtuell, „Designerstuhl Wurzelholz“ für 250 Mark mitiv“, urteilt das Fachmagazin „Internet denn Liedke rühmt sich, „der weltweit ers- bei andsold.de? Oder ein „Steiff Gürteltier World“. Auch die Zahlungsmoral sorgt für te Internet-Auktionator“ zu sein. SN00004“ für 699 Mark bei ricardo.de? Die Streitigkeiten zwischen Verkäufern und Mehrmals pro Woche verhökert der Internet-Regale sind ein Friedhof der Ku- Käufern. Zudem kaufen rund zehn Pro- Schirm-Herr des Online-Versteigerers Ri- scheltiere, ein Flohmarkt oft unverkäufli- zent im Internet teurer ein als im Laden cardo.de via Mausklick „alles, was einen cher Nichtigkeiten. zum Listenpreis, schätzt man bei Ricardo. Stecker hat“: Ramschpaletten voller Kaf- „Natürlich ist da viel Müll dabei“, gibt Für die ersten Auktionsklitschen dürfte feemaschinen und Handys, Restposten von Ricardo-Sprecher Matthias Quaritsch zu. bald der Hammer fallen. Europaweit könn- Staubsaugern und Notebooks. „Aber das macht auch den Charme aus.“ ten neben eBay „nur zwei bis drei Anbie- Mal ging hier eine Statistenrolle in der Online-Auktionen bieten das gewisse ter überleben“, glaubt Ricardo-Vorstand „Lindenstraße“ weg, mal eine kanadische Stefan Glänzer. Sein eigener Börsenwert Insel. Liedke versteigert sogar Untergangs- sackte im Sommer tief ab. Trips der besonderen Art: eine Tauchfahrt Momentan verkauft sich nur eines wie zur „Titanic“ wie einen Kanzleramts- geschnittenes Brot: Gerüchte. Die sechs Rundgang mit Doris Schröder-Köpf „samt Alando-Gründer etwa sollen das Hickhack Probesitzen auf Gerhards Sessel“. Der Gag mit ihren neuen US-Chefs bei eBay bereits heiligt die Mittel. wieder satt haben. Und Hans-Jörg Assen- Verrückte wie Liedke und ihre noch ver- baum, entnervter Geschäftsführer des nur rückteren Offerten sind der letzte Schrei in mäßig erfolgreichen Bertelsmann-Ablegers einem – zumindest an Lautmalerei – nicht andsold.de, schmeiße demnächst hin. armen Geschäft. Das Online-Auktionsge- Er werde sich nächstes Jahr verab- werbe brummt. Der Suchdienst auktions- schieden, sagt Assenbaum lapidar, findet

index.de bastelt bereits an einer Liste der GRITZBACH W. dann aber zu den gängigen Frohsinns- Top-500-Firmen. Jung-Unternehmer wie Ricardo.de-Auktionator Liedke Parolen zurück: „Wir entwickeln uns die Gründer des Berliner Auktionshauses „Alles, was einen Stecker hat“ prächtig.“ Thomas Tuma

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Werbeseite U. DECK / ARTIS U. Verfassungsrichter Paul Kirchhof, Limbach, Hans-Joachim Jentsch*: „Wie weit reichen unsere Kompetenzen?“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Auch wir können irren“ Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, über den Einfluss der Karlsruher Richter auf die Politik und über die Zukunft des Rechts in Europa

SPIEGEL: Frau Limbach, das Verfassungsge- meidlich wirkt die Interpretation der Ver- normen, die offen und unpräzise sind und richt macht neuerdings Reklame, lädt die fassung eines politischen Gemeinwesens deshalb Interpretationsarbeit herausfordern. Bürger in dieser Woche zu ausgesuchten auf die Politik ein. Usurpationsgelüste ver- SPIEGEL: Kurz und dunkel, meinen Ihre Kol- öffentlichen Verhandlungen ein. Hat Ihr spüren wir nicht. Auch bei uns gilt: Wo legen, sei das Grundgesetz. Haus Image-Probleme? kein Kläger, da kein Richter. Limbach: So kann man es auch sagen. Das Limbach: Das Vertrauen der Bürger in das SPIEGEL: Politiker beklagen wohl nicht ohne Musterbeispiel ist das Recht auf informa- Bundesverfassungsgericht ist eher zu groß. Grund, dass Ihr Gericht es geschafft hat, die tionelle Selbstbestimmung … Aber wir haben ein Problem, weil viele meisten Probleme des Landes als verfas- SPIEGEL: … dass also jeder Bürger Einfluss nicht wissen, worum es bei uns wirklich sungsrechtliche Frage zu deklarieren, folg- darauf nehmen kann, was mit seinen per- geht, nämlich allein um verfassungsrecht- lich ein Mitspracherecht zu beanspruchen. sönlichen Daten geschieht. liche Fragen. Viele wenden sich im Irr- Limbach: Das ist eine gro- glauben an das Bundesverfassungsgericht, teske Übertreibung. Wo- dass dieses letzte Instanz sei, die auch noch bei ich das Verdienst des einmal guckt, ob die unteren Gerichte das Gerichts nicht schmälern Zivil- und Strafrecht richtig angewandt ha- will, zum Aufbau des ben. Und viele beschäftigen das Gericht Rechtsstaats in der Bun- mit Bagatellen. desrepublik einen erheb- SPIEGEL: Wundert Sie das? Das Gericht lichen Beitrag geleistet steht seit langem in dem Ruf, sich sowohl zu haben. Wir treffen un- in die Politik als auch in die Rechtspre- sere Entscheidungen aus- chung allzu heftig einzumischen. Sie und schließlich am Maßstab Ihre Kollegen geben sich omnipotent. der Verfassung. Aber ge- Limbach: Das liegt uns fern. Wir werden wiss haben Sie ein leichtes nur auf einen Antrag hin tätig. Und unver- Spiel mit Ihrem Vorwurf. Die Schwierigkeit, unsere * Oben: bei der Verhandlung zum Länderfinanzaus- Aufgabe zu begrenzen, gleich am 22. September; unten: Ministerpräsidenten

Erwin Teufel, Edmund Stoiber und Roland Koch als Ver- liegt in der besonderen DPA treter der klagenden Länder. Gestalt der Verfassungs- Politiker in Karlsruhe*: „Zu gern auf das Gericht verlassen“

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Limbach: Dieses Recht kann nicht unmit- telbar, also wortwörtlich, aus dem Grund- gesetz herausgelesen werden. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes konnten die- se Problemlage auch gar nicht vorausse- hen. Und doch musste unter dem Eindruck des technologischen Wandels, der die Pri- vatheit der Bürger empfindlich beein- trächtigen kann, das Verfassungsgericht eine Antwort finden. SPIEGEL: Warum eigentlich? Warum kann man nicht Dinge, die vom Grundgesetz nicht bedacht wurden, der Politik überlassen? Limbach: Das könnte bei Untätigkeit der Politik zu einer gewissen Versteinerung und sozialem Unfrieden führen. Wenn es dabei um verfassungsrechtliche Grundpo- sitionen der Bürger geht, wäre eine Fort- schreibung der Verfassung erforderlich. SPIEGEL: Eine Sache der Politik, nicht der Richter. Limbach: Man ändert eine Verfassung nicht bei jedem neu auftretenden Problem. Das ist viel zu beschwerlich. Die Richter müssen die Verfassung als ein „lebendes Instrument“ begreifen, das es im Lichte der heutigen Verhältnisse auszulegen gilt. Das Bundesverfassungsgericht ist bewusst mit dem Auftrag eingesetzt worden, der Verfassung zur Wirksamkeit zu verhelfen. Das bedeutet bei einem Wandel der öko- nomischen und technologischen Verhält- nisse, dass das Gericht behutsam und mit kleinen Schritten das Grundgesetz fortschreiben muss, aber im Geiste dieser Verfassung. SPIEGEL: Das Gericht ist der Geist? Limbach: Ich meine damit, im denkenden Gehorsam gegenüber dem Grundgesetz. SPIEGEL: Nehmen Sie zum Beispiel das Ur- teil aus dem Jahr 1993 zum Abtreibungs- paragrafen 218 im Strafgesetzbuch. Da hat sich das Gericht Regelungen zum Schwan- gerschaftsabbruch ausgedacht und in Kraft gesetzt. Limbach: Damals stand der Senat vor der Schwierigkeit, dass in beiden Teilen Deutschlands trotz der Wiedervereini- gung unterschiedliches Recht gelten würde, wenn er nicht eine Übergangs- regelung trifft. Dass man das einerseits verhindern und dem Gesetzgeber ande- rerseits einen gewissen Zeitraum ver- schaffen wollte, bis zu dem er das Gesetz noch einmal reformiert, erklärt diese be- sondere Situation. SPIEGEL: Ein jüngeres Beispiel: Das Gericht erklärt eigenmächtig, welche Erziehungs- freibeträge im Steuerrecht in Kraft treten, wenn der Gesetzgeber bis zu einem be- stimmten Zeitpunkt untätig bleibt. Limbach: Das Gericht, das über keine Voll- streckungsmöglichkeiten verfügt, muss mit- unter darauf bedacht sein, durch Fristset- zungen seinen Entscheidungen Wirksam- keit zu verschaffen. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorwegge- nommen, wie der Steuergesetzgeber dem Tatbestand im Einzelnen Rechnung trägt,

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Werbeseite Gericht verlassen und dieses anrufen, weil sie zu zerstritten oder zu zögerlich sind, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen. SPIEGEL: Manchmal entfacht das Gericht aber selbst neuen Streit. Bei der Entschei- dung zur Vermögensteuer hat das Gericht en passant den so genannten Halbtei- lungsgrundsatz aufgestellt, um den es seit- her heftige Debatten unter Juristen und Politikern gibt: Häufig wird das Urteil so interpretiert, dass die Bürger nicht mehr als eine 50-prozentige Steuerlast tragen müs- sen. Selbst Ihr ehemaliger Richterkollege Ernst-Wolfgang Böckenförde hat festge- stellt, dass dies eine unnötige und womög- lich unverbindliche Stellungnahme war. Limbach: Wir Richter – und auch die Rich- terinnen – pflegen unsere Entscheidungen

P. ADENIS / G.A.F.F. P. nicht zu kommentieren oder zu erläutern. Demonstration gegen Abtreibungsstrafrecht (1992): „Friedenstiftend gewirkt“ SPIEGEL: Aber solche frei schwebenden Zahlenspiele machen das Gericht populär. dass Ehe und Familie unter dem besonde- Limbach: Das Grundgesetz ist in diesem Limbach: Maßstab für unsere Entscheidun- ren Schutz unseres Staates stehen. Punkte recht eindeutig. Gleichwohl oder gen kann nicht sein, wie populär sie sind. SPIEGEL: Aber für den Fall, dass der so gerade deswegen gilt, dass auch das Gericht Wir Juristen haben dafür zu sorgen, dass schnell keine Lösung findet, selbst über auf die Grenzen seiner Kompetenzen be- das Grundgesetz zu Wort kommt. mehr als 20 Milliarden Mark verfügt. dacht sein muss. Es gibt kaum ein Problem, SPIEGEL: Gibt es auf alle verfassungsrecht- Limbach: Das ist eine schlichte Behauptung, das von uns so intensiv diskutiert wird: Wie lichen Fragen nur die eine zwingende Ant- die gern kolportiert wird. Das Bundesver- weit reichen unsere Kompetenzen? Wo be- wort des Grundgesetzes? fassungsgericht hat dem Gesetzgeber schon ginnen die Kompetenzen von Legislative Limbach: Ich meine, nein. Selbst das Bun- in früheren Urteilen deutlich gemacht, dass und Exekutive? Auch in dem Verfahren, das desverfassungsgericht kann irren. Aus der Familien auch hinsichtlich ihres Existenz- wir in dieser Woche abschließen. Offenheit und Vagheit von Grundrechts- minimums zu schützen sind. Keine Regie- SPIEGEL: Beim Länderfinanzaus- normen und Grundrechtsprinzi- rung, kein Parlament ist beglückt, wenn gleich? pien folgt auch, dass nicht nur ein Gericht eine Entscheidung trifft, die Limbach: Ja. Stets pflegen wir uns „Das Gericht die eine Interpretation die ein- das mühsam ausgehandelte Haushaltsar- zu vergewissern, was unsere Auf- ist in der einen zig richtige sein muss. rangement in Frage stellt. Das wissen wir gabe ist und wo der durch das oder anderen SPIEGEL: Warum schicken Sie die wohl. Grundgesetz beschriebene Ge- Entscheidung Politiker nicht manchmal mit SPIEGEL: Das Gericht pfuscht dem Gesetz- staltungs- und Entscheidungs- ein wenig der Auskunft zurück, sie sollen geber ins Handwerk. spielraum des Gesetzgebers be- zu deutlich ihre Probleme selber lösen? Limbach: Das Grundgesetz hat sich deut- ginnt. Ich will nicht leugnen, dass Limbach: Das Grundgesetz hat lich für den Vorrang der Verfassung ausge- das Bundesverfassungsgericht geworden“ dem Gericht die Aufgabe über- sprochen und angeordnet, dass die Grund- mitunter in der einen oder ande- tragen, Kompetenzstreitigkeiten rechte unmittelbar alle staatlichen Gewal- ren Entscheidung ein wenig zu deutlich ge- zwischen den anderen staatlichen Instan- ten binden, auch den Gesetzgeber. Es ist die worden ist. zen zu entscheiden. Viele dieser Entschei- Aufgabe des Gerichts, darüber zu wachen, SPIEGEL: Sollte das Gericht diese Entwick- dungen haben auch friedenstiftend gewirkt. dass die Gesetze im Einklang mit der Ver- lung nicht wieder zurückdrehen? Denken Sie an das Abtreibungsstrafrecht. fassung stehen. Limbach: Von einer Entwicklung im Sinne SPIEGEL: Also doch: Karlsruher Urteile statt SPIEGEL: Aber jedenfalls gegenüber der ge- einer Tendenz kann nicht die Rede sein. politischer Debatten. setzgebenden Gewalt fordern Ihre Kritiker Umgekehrt habe ich zuweilen den Ein- Limbach: Nein, das wäre schade. Nehmen mehr Respekt. druck, dass sich die Politiker zu gern auf das Sie das Beispiel der Entscheidung von Deutschland

1994 zu den Einsätzen der Bundeswehr chen Besteuerung von Renten und Pensio- flüssig werden, wird das Bundesverfas- auf dem Balkan. Diese hatte ja nicht nur nen steht noch an. Sie müssen zunehmend sungsgericht durch die europäischen Ge- für die Politik eine Wirkung. Das war Verteilungskämpfe schlichten. richtshöfe in Straßburg und Luxemburg auch für jeden Angehörigen der Bundes- Limbach: Bei diesen Verfahren geht es not- überflüssig werden. Umso weniger, als der- wehr und deren Familienangehörige eine wendig um finanzielle Fragen. Doch schlich- zeit auf europäischer Ebene ein föderales sehr wichtige Frage. Hier hat das Urteil ten wir nicht Verteilungskämpfe. Es ist Sa- Staatswesen gar nicht angepeilt wird. des Gerichts streitschlichtend gewirkt. Be- che des Gesetzgebers, soziale Gegensätze SPIEGEL: Über dem Bundesverfassungs- denken Sie, dass es sich dabei nicht nur zum Ausgleich zu bringen. Das Gericht hat gericht ist nur der „blaue Himmel“, heißt um einen politischen Konflikt, sondern um sich in solchen Fragen stets zurückgehal- es so schön. Der blaue Himmel ist aber eine auch in der Staatsrechtslehre umstrit- ten. So hat es beispielsweise darauf ver- jetzt Europa. tene Verfassungsfrage ge- Limbach: Dazu sage ich handelt hat. nur so viel: Als gute Eu- SPIEGEL: Aber gerade der ropäerin ist es für mich Streit um die Auslands- selbstverständlich und zu einsätze der Bundeswehr respektieren, dass es auf zeigt doch, dass das Gericht, europäischer Ebene wei- wenn es Politik macht, auf tere Gerichte gibt, die Dauer nicht ernst genom- auch einmal anders ent- men wird. Als es jetzt gegen scheiden als wir. Schließ- Serbien ging, spielten die lich wird das Menschen- entgegenstehenden Bestim- rechtsniveau in Europa mungen des Völkerrechts davon abhängen, wie die- und des Grundgesetzes, die se Gerichte, die nationa- Sie in Ihrem Urteil von 1994 len und die europäischen, noch hochgehalten haben, miteinander zusammenar- überhaupt keine Rolle mehr. beiten. Die Deutschen sind einfach SPIEGEL: Was halten Sie losgeflogen. dann von der Idee eines Limbach: Unsere Bedingung Grundrechte-Katalogs für

ist respektiert worden, dass WEGNER / LAIF T. die EU? der Bundestag darüber ent- Limbach beim SPIEGEL-Gespräch*: „Denkender Gehorsam“ Limbach: Ich sehe dessen scheiden musste. Im Übrigen Bedeutung vor allem in möchte ich das Verhalten der Politik vor wiesen, dass das Existenzminimum wegen der Symbolik. Schließlich haben wir ja dem Hintergrund unserer Entscheidungen des Sozialstaatsprinzips nicht besteuert wer- heute schon einen Grundrechtsschutz auf nicht kommentieren. den darf, hat aber die Konkretisierungen EU-Ebene, den der Europäische Gerichts- SPIEGEL: Bundesgesetzgeber und Regierung dem Gesetzgeber überlassen. hof aus den gemeinsamen Verfassungstra- versuchen auch die Vorgaben zum Steuer- SPIEGEL: Es gibt kaum einen Bereich mehr, ditionen der Mitgliedstaaten und aus der recht durch alle möglichen Tricks und halb auf den nicht Europarecht zumindest aus- Europäischen Menschenrechtscharta ent- garen Vorschläge zu umgehen. strahlt.Wenn der Europäische Gerichtshof wickelt hat. Limbach: Das sagen Sie. Auch hier gilt mei- und nicht Karlsruhe das letzte Wort zum SPIEGEL: Das Ende des nationalen Verfas- ne Zurückhaltung. Sollten Bürger oder Ge- Europarecht hat, könnte man sich vorstel- sungsstaats ist also noch nicht nahe? richte der Meinung sein, dass neue Steu- len, dass das Bundesverfassungsgericht ei- Limbach: Im Gegenteil, in dem Maße, wie erregelungen verfassungswidrig sind und nes Tages so hinfällig wird wie die Deut- wir die europäische Integration vorantrei- den Urteilen des Bundesverfassungsge- sche Bundesbank? ben, müssen wir im eigenen Lande um eine richts kein Respekt gezollt wird, dann mö- Limbach: Diese Sorge treibt mich nicht um. lebendige und rechtsstaatliche Demokratie gen sie es wiederum anrufen. Genauso wenig, wie die Verfassungsge- besorgt sein. Ich halte es für unrealistisch, SPIEGEL: In diesem Jahr hat das Gericht richte der Bundesländer durch uns über- dass sich unsere Staatlichkeit einmal im mehrfach über die Familienbesteuerung Supranationalen auflöst. entschieden, jetzt über den Länderfinanz- * Mit Redakteuren Dietmar Hipp und Thomas Darn- SPIEGEL: Frau Limbach, wir danken Ihnen ausgleich, das Verfahren zur unterschiedli- städt. für dieses Gespräch. Werbeseite

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nisteriums mögen sich darauf lieber nicht verlassen. Eine 200 Mann starke Sonder- JAHRTAUSENDWENDE truppe bezieht am Silvestermorgen in der Berliner Zentrale Posten. Die Beamten sol- len im Schichtdienst bis zum 3. Januar Kon- Pfeifen im Dunkeln takt zu Lagezentren im In- und Ausland halten. Für den Bundesgrenzschutz, der Polizei und Feuerwehr rüsten für die Nacht der Nächte: nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch auf Flughäfen und bei der Bahn für Silvester rechnen die Sicherheitsbehörden mit Sicherheit sorgt, gibt es Urlaub in der Kri- technischen Katastrophen, Selbstmorden und Verbrechen. senzeit laut einem Ukas des Ministers „nur noch in Ausnahmefällen“. Millionen Deutsche, die in dieser Nacht ihre Party des Jahrtausends feiern wollen, bringen die Einsatzplaner im ganzen Land schon jetzt ins Schwitzen. Eine Million Menschen erwarten die Behörden zur Stunde null allein am Brandenburger Tor. Der Berliner Senat hat sich schon mal eine Wetterprognose geben lassen: Danach wird sich 1999 bei trockenen minus 2 Grad ver- abschieden. Das bedeutet, so die Progno- se: Im Zentrum der Hauptstadt wird eine geballte, alkoholisierte und mit Knallkör- pern ausgerüstete Masse ins neue Jahrtau- send feiern. Was passiert, wenn das Licht ausfällt, wenn eine Panik ausbricht? „Das wird ein Riesen-Sicherheitsproblem“, schwant Hans-Rudolf Zschernack von der Berliner Senatskanzlei. Die Berliner Feuerwehr schließt sogar den „totalen Zusammenbruch des öffent- lichen Lebens auf Grund des Ausfalls von Lebensmittel-, Benzin-, Gas- und Wasser- versorgung“ in ihre Planungen ein. Gerüchte, im Osten der Stadt könnten Probleme mit der zum Teil noch aus DDR- Zeiten stammenden Software zur Strom-

I. RÖHRBEIN versorgung auftreten, weist das Berliner Silvesterfeuerwerk*: Angst vor dem geballten Chaos Energieunternehmen Bewag zurück. „Die Stromversorgung ist am 31. n der Uniklinik Frankfurt probten die Dezember genauso sicher, Sicherheitsleute ungewollt den Ernst- wenn nicht sogar sicherer Ifall für die Nacht der Jahrtausendwen- als an anderen Tagen“, be- de. Der Strom fiel aus. 15 Sekunden dau- teuert Bewag-Sprecher erte es, bis die Notaggregate Energie lie- Siegfried Knopf. ferten. Sie kam mit solcher Kraft, dass erst Fachleute halten solche einmal die Sicherungen rausflogen. vollmundigen Versicherun- „Jetzt wissen wir wenigstens, was uns er- gen für Pfeifen im Dunkeln. wartet“, kommentierte Clemens Flock, Das Problem sind nämlich Millenniumsbeauftragter des Krankenhau- zwischen 6 und 25 Milliar- ses, den Vorfall. den kleinste elektronische Damit ist die Klinik vielen Behörden Bauteile, sogenannte Em- und Firmen weit voraus.Was der Republik bedded Systems, die welt-

in der Nacht der Nächte an elektronischen AP weit in alle möglichen Mo- Katastrophen bevorsteht, ist unklar. Bun- Polizei-Einsatzzentrale*: Magnetplättchen und Schiebetafeln dule vom Airbag bis zum desweit bereiten sich vor allem Polizei und Kernkraftwerk eingebaut Feuerwehr darauf vor, auch dann fit zu lagen versagten, Ampeln erloschen. In sind. Sie sind schwer zu orten, teils zum sein für den Schutz der Bürger, wenn die Brooklyn, Harlem und auf der Upper West Schutz vor Raubkopierern falsch beschrif- prozessorgesteuerte Hightech beim Da- Side plünderten Wegelagerer die Geschäf- tet und häufig nicht 2000-sicher. tumswechsel verrückt spielen sollte. te, verwüsteten Rowdys Bürohäuser. Scha- Es sei „unseriös zu behaupten, man wis- Ein Stromausfall in der Silvesternacht den: mehr als 300 Millionen Dollar. se, was passieren werde“, sagt die 2000- gilt als GAU.Als Horrorszenario dient der Die Deutschen sind besser gerüstet: Das Beauftragte Elisabeth Slapio von der In- Blackout von New York 1977. Dort gingen Stromnetz wird von mehreren Kraftwer- dustrie- und Handelskammer Köln, die für nach einem Blitzeinschlag im Atomkraft- ken gespeist, der Ausfall eines Erzeugers ist den Deutschen Industrie- und Handelstag werk Indian Point für 25 Stunden in der leicht zu verkraften. Die Unternehmen ha- die Silvesterplanungen koordiniert. ganzen Stadt die Lichter aus. Alarman- ben Millionen in die Vorsorge investiert, Die Hamburger Polizei hat für die meis- ein Totalausfall gilt als ausgeschlossen. ten Beamten bereits Urlaubssperre für den * Oben: in Hamburg; unten: in Offenburg. Doch die Experten des Bundesinnenmi- 31. Dezember angeordnet. Die Feuerwehr

80 der spiegel 45/1999 der Hansestadt verstärkt sich mit Helfern aus den Freiwilligen Wehren. Sämtliche Rettungs- und Notarztwagen sowie zu- sätzliche Löschfahrzeuge werden besetzt sein. Und in der hochmodernen Funkzen- trale wird bereits die stromlose Einsatz- lenkung mit Magnetplättchen und Schie- betafeln geprobt. Auch die Bahn beugt vor: Ein paar Minuten vor und nach Mitternacht wer- den alle Züge anhalten. Viele regionale Verkehrsbetriebe wollen dem Beispiel folgen. Die Telekom versichert zwar, in Deutschland werde es keine Kommunikati- ons-Probleme geben, räumt aber ein, Fehler könnten im internatio- nalen Netz auftreten. In München berei- tet sich ein „Stab für außergewöhnliche Er- eignisse“, der SAE

W. M. WEBER W. 2000, in dem sämtliche Polizist Rummler Behörden der Stadt, Energieversorger und die Müllabfuhr vertreten sind, schon lange auf den Notfall vor. Polizei und Feuerwehr stellen sich darauf ein, Einsätze wie zu Großvaters Zeiten zu fahren – ohne Tele- fon und Computer. Für den Fall, dass gar nichts mehr geht, werden, so Polizeiober- rat Joachim Rummler, „in der ganzen Stadt SOS-Punkte“ eingerichtet, an die sich die Bürger direkt wenden können. Über eine vom Stromnetz unabhängige Funkleitung gelangen die Meldungen in die Einsatz- zentrale. „Bis zu 80 Prozent aller Einsatzkräfte“, schätzt Rummler, werden in dieser Nacht im Dienst sein. Rummler: „Der Schutz von Menschenleben hat Priorität, dann folgt Hilfe für Verletzte und danach Verfolgung von Straftaten.“ Auch sonst ist die Bayern-Metropole gerüstet. Ärzte und Krankenschwestern in den Spitälern fahren Doppelschichten, Bo- ten sollen im Notfall Befunde vom Labor zum zuständigen Mediziner schaffen. Die Frankfurter Uniklinik wird in der Silvesternacht per E-mail und Telefon mit ihren Partnerkliniken in Japan und Au- stralien verbunden sein. Sollte dort das Chaos ausbrechen, blieben auf dieser Sei- te der Erde wegen der Zeitverschiebung noch ein paar Stunden Zeit für Vorberei- tungen – vorausgesetzt, die Kommunika- tion klappt. Völlig unberechenbar ist, welche Folgen das magische Datum auf die Psyche man- cher Zeitgenossen haben wird. Der Mün- chener Diplompsychologe Georg Sieber befürchtet, Gefühle könnten eskalieren und sich in irrationalen Ausbrüchen entla- den – in Selbstmorden etwa oder in groß- spurigen Aktionen: „Das Ausnahmedatum 2000 wird für viele zum Auslöser.“ Andreas Ulrich

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Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (7) Die Woche vom 6. 11. 1989 bis zum 11. 11. 1989 »Die Mauer muss weg« Über Nacht bricht die Berliner Mauer – aus Versehen? Regierende in Ost und West sind gleichermaßen überrumpelt. Die Massen jubeln, doch Bürgerrechtler, bestürzt über den drohenden Untergang ihrer DDR, ziehen sich schmollend zurück. T. ERNSTING / BILDERBERG T. Volksfest am Brandenburger Tor nach der Maueröffnung

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CHRONIK »Das ist ja unfassbar!« dem niemand weiß, wie schnell er wahr Sozialismus überhaupt noch zu verwirk- Montag, 6. November 1989 wird: „Die Mauer muss weg, die Mauer lichen?“ muss weg, die Mauer muss weg.“ Der millionenfache Protest gegen den Leipzig halbherzigen Reisegesetz-Entwurf hat die Mit Lust probt das Volk seine neue Kraft. Ost-Berlin SED nun noch weiter zurückgeworfen. Trotz Eiseskälte und Dauerregen strömen Im ZK, neuerdings „Zirkus Krenz“ ge- „Was vor einem halben Jahr noch ein 500000 Demonstranten in die Leipziger In- nannt, sind die Volksdompteure ratlos. Die großer Fortschritt gewesen wäre, ist jetzt nenstadt, und viele genießen es, ihrer Wut „Deutsche Demonstrierende Republik“ schon am Tag der Veröffentlichung Maku- freien Lauf zu lassen. (Transparent-Text) lässt sich offenbar we- latur“, begreift Krenz: „Wieder traben wir Den Karl-Marx-Platz bedeckt ein Wald der mit Zuckerstücken noch mit der Zucht- den Ereignissen hinterher.“ von Regenschirmen. Partei-Würdenträ- peitsche dressieren. Auch in der Stasi herrscht Weltunter- gern, die das Wort ergreifen, schlägt Em- Eine Flut von Hiobsbotschaften bricht gangsstimmung. Erich Mielke lässt seit Tagen pörung entgegen: „Abtreten!“, „SED, das über den glücklosen Egon Krenz herein, brisante Papiere beiseite schaffen. Geheim- tut weh!“, „Zu spät, zu spät!“ Ausgelöst dessen Zähne noch länger, dessen Augen- haltungsbedürftige Akten, die Rückschlüsse hat die vieltausendfache Aggression der ringe noch dunkler wirken als sonst. auf das Stasi-Spitzelsystem ermöglicht hät- Entwurf eines neuen Reisegesetzes, den Auf die Straße gegangen sind an diesem ten, sollen aus den schlecht gesicherten die Regierung an diesem Tag vorgestellt Tag nicht nur die 500000 in Leipzig, son- Kreisfilialen in die Bezirksverwaltungen ge- hat. dern auch 60000 in Halle, 50000 in Karl- bracht werden. Für die wenigen Dokumen- te, die vor Ort bleiben dürfen, „sind die er- forderlichen Voraussetzungen für ihre kurz- fristige Vernichtung zu schaffen“. Während die Stasi insgeheim Vorsorge für den Tag X trifft, buhlt sie mit einem absur- den Vorstoß um das Vertrauen der Bürger. Im „Neuen Deutschland“ erscheint ein vom Ministerium vorformuliertes „Inter- view“. Darin stellt Rudi Mittig, 64, der mo- mentan aussichtsreichste Kandidat für die Mielke-Nachfolge, die Stasi als eine Art Heilsarmee hin:

Der „totale Überwachungsstaat“, das J. WITT / SIPA PRESS WITT / SIPA J. K. MEHNER „allgegenwärtige Spitzelsystem“ existie- Bittsteller Schalck, Auftraggeber Krenz: Der Klassenfeind soll zehn Milliarden zahlen ren nur in der Phantasie westlicher Me- dien. Das Ministerium für Staatssicherheit Völlig unbeeindruckt davon, dass 48 Marx-Stadt, 25000 in Schwerin, 10000 in „überwacht“ nicht das Volk, es arbeitet Stunden zuvor in der Ost-Berliner City fast Cottbus. Und überall knallen SED-Mit- mit den Bürgern zusammen. eine Million DDR-Bürger ihr Recht auf glieder den Funktionären die Parteibücher Freizügigkeit eingefordert haben, will die auf den Tisch. Ratlos registriert Krenz: Doch die Bürger sind vom Glauben SED von Dezember an gerade mal 30 Tage „Unser Bund von Gleichgesinnten, wie wir längst abgefallen. „Lügen haben kurze Bei- Auslandsurlaub und 15 Mark Reisedevisen die Partei nennen, fällt wie ein Kartenhaus ne“, reimen Montagsdemonstranten, „Egon genehmigen – pro Person und Jahr. in sich zusammen.“ zeig, wie kurz sind deine.“ Geplant sind obendrein „Bearbeitungs- Klaus Gäbler, 58, Leiter der Abteilung Mehr als die zunehmenden Schmähun- fristen“ von einem Monat und Reisever- Propaganda des Zentralkomitees, hat für gen bedrücken den Generalsekretär die bote, die von der Obrigkeit verhängt wer- den SED-Chef eine „Erste Einschätzung“ Wirtschaftsdaten: Die ostdeutsche Republik den können, wann immer der „Schutz der der Alex-Demo gefertigt: Selbst reform- hat Auslandsschulden von 49 Milliarden Va- öffentlichen Ordnung“ es erfordert. bereite Funktionäre, „begonnen bei Ge- lutamark. Um die Verschuldung zu stoppen, „365 Tage Reisefreiheit und nicht 30 Tage nossen Schabowski“, kamen kaum zu müsste der ohnehin dürftige Lebensstan- Gnade“ verlangen dagegen die Montags- Wort, SED-Kritiker dagegen wurden selbst dard im nächsten Jahr um 25 bis 30 Prozent demonstranten. „Jetzt sollen wir reisen dür- dann gefeiert, wenn sie „wenig Konstruk- gesenkt werden. Das, weiß der SED-Chef, fen, mit dem Bettelsack auf dem Rücken“, tives“ zu bieten hatten. ist „politisch nicht zu verantworten“. ruft ein Redner sarkastisch. Riesenbeifall, Krenz selber lief es, als er im Krisenstab Rettung erhofft sich der Kommunist als er endet: „Das Reisegesetz muss weg.“ die Demonstration am Bildschirm verfolg- Krenz ausgerechnet vom Konservativen „In 30 Tagen um die Welt, ohne Geld“, te, immer wieder „kalt über den Rücken“. Kohl. Die Absurdität dieses Ansinnens höhnen die tropfnassen Massen – bis plötz- Die an seiner Partei geäußerte Kritik emp- wird Krenz-Mitstreiter Günter Schabowski lich ein Sprechgesang anschwillt, der ei- findet er als „so grundsätzlich, dass sich zehn Jahre später in die Worte fassen: „Es nen verwegenen Traum beschreibt, von die Frage stellt: Ist unsere Konzeption vom entspricht der paradoxen Logik jener Zeit,

86 der spiegel 45/1999 MERILLON / GAMMA / STUDIO X Montagsdemonstration am 6. November in Leipzig: Die tropfnassen Massen lassen ihrer Wut freien Lauf dass wir bei dem Versuch, die DDR fünf Nun spätestens ist Seiters und Schäuble wagen vom Typ „W 50“ schrauben – ideal Minuten vor zwölf zu retten, auf die Hilfe klar, in welch desolatem Zustand die DDR- zum brutalen Vorgehen gegen Demon- der klassenfeindlichen, aber einheitsver- Wirtschaft ist: Anders als noch 1983 und stranten: vorn ein Teil von 2,20 mal 1,20 pflichteten Bundesrepublik spekulierten“ – 1984 können einmalige Milliardenkredite Metern, links und rechts ein kleineres zum die indes „nicht unbedingt begierig sein die DDR nicht mehr retten. Ausklappen. konnte, mit den Geldern ihrer Steuerzah- Der Ost-Berliner Unterhändler muss Angefacht hat den Arbeiterzorn ein ler den Samariter am Bett der siechen ohne Zusage heimreisen. „Übersteigeschutz“, der auf die Gitter DDR zu spielen“. montiert werden soll: Mähdreschermesser Krenz hat den SED-Devisenbeschaffer mit sichelscharfen Klingen. Alexander Schalck-Golodkowski in gehei- Dienstag, 7. November 1989 Ein Maschinenbauer empört sich: „Wie mer Mission nach Bonn geschickt: Der können Genossen der Volkspolizei auf die Stasi-Offizier soll Kanzleramtsminister Ru- Gera Idee kommen, eine Technik zu konstru- dolf Seiters und Innenminister Wolfgang Schneidbrenner zischen, Funken sprühen. ieren, die gegen das Volk eingesetzt werden Schäuble um Milliardenbeträge für die ka- Auf dem Hof des „VEB Maschinen- und soll und die so gedacht ist, dass die Men- putte Kommandowirtschaft anpumpen. Dampfkesselbau“ in Gera-Liebschwitz zer- schen aufgeschlitzt werden?“ Im Kanzleramt bittet der Goldfinger der legen wutentbrannte Arbeiter in kleinste Morgens um neun Uhr sind zwei Vopos SED seine christdemokratischen Ge- Stücke, was sie gerade erst zusammenge- in Zivil auf dem Betriebsgelände aufge- sprächspartner um „langfristige Kredite … schweißt haben: mysteriöse Werkstücke, taucht, um mit einem Kleintransporter vom bis zur Höhe von zehn Milliarden Ver- offiziell deklariert als „Zaunsegmente“. Typ „Barkas B 1000“ die „Zaunsegmente“ rechnungseinheiten“, also D-Mark, außer- Die Metaller haben herausgefunden, abzuholen. 20 Arbeiter haben sich den Po- dem um „Bereitstellung zusätzlicher Kre- welchem Zweck die angeblichen Zauntei- lizisten in den Weg gestellt und sie ver- ditlinien in freien Devisen, die – beginnend le wirklich dienen sollen. Die Geraer Volks- trieben. Dann ließen die Metaller ihre im Jahre 1991 – jährlich zwei bis drei Mil- polizei, die den Auftrag erteilt hat, will sie Schneidbrenner fauchen. liarden DM betragen könnten“. als „Sperr- und Räumgitter“ vor ihre Last- Ost-Berlin Bei den Sachbearbeitern des „Einga- bewesens“ im Roten Rathaus herrscht Hochbetrieb. Bergeweise treffen in der Kommunalverwaltung Beschwerdebriefe empörter Bürger ein. Auf Grund von Mas- senflucht und Misswirtschaft droht selbst im DDR-Versorgungsparadies Berlin der Kollaps. „Wir können weder backen noch braten – nur Eintopf kochen“, schreibt ein Invali- Vopo-Waffe „Übersteigeschutz“: Sichelscharfe Messer gegen Demonstranten denrentner aus Treptow an den „lieben

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Oberbürgermeister“; für seinen schrott- reifen Elektroherd finde er nirgendwo in der DDR-Hauptstadt Ersatz. „Nun laufen wir schon seit geraumer Zeit durch Berlin, um eine Doppelliege zu kaufen“, beschwert sich ein Köpenicker Familienvater: „Es kann nicht sein, dass eine Stunde nach Öffnung des Einrich- tungshauses alle ausverkauft sind.“ Wo Waren vorrätig sind, fehlt es oft an Personal; seit Jahresbeginn haben sich über 2000 Verkäuferinnen und Lagerarbeiter aus Ost-Berlin in den Westen aufgemacht. Immer häufiger öffnen Bäcker, Fleischer, Friseur und Kneipier ihr Geschäft nur zeit- weise oder gar nicht. An herabgelassenen Rollläden steht „Technische Störung“ oder „Vorübergehend geschlossen“ – und jeder weiß: Auch die sind nun „rüber“. Die Hiergebliebenen müssen zahllose Überstunden leisten; NVA-Soldaten, die MERILLON / GAMMA STUDIO X MERILLON DDR-Ausreisende*: Das Politbüro verwirft die Idee, eine zweite Mauer zu bauen

Schalck informiert, nun lässt Seiters sich Ausführlich berichtet Krenz über seinen mit dem SED-Mann verbinden. jüngsten Besuch in Moskau. Dringend habe Das Telefonat mit Schalck-Golodkowski Gorbatschow ihm empfohlen, mit einer Le- leitet eine neue Ära in der bislang weitge- galisierung der Opposition nicht zu warten, hend sozialliberal geprägten Ostpolitik ein: bis sich die Bürgerrechtler zu Systemgeg- Erstmals verlässt Bonn die Linie der Nicht- nern entwickelt haben. einmischung in DDR-Angelegenheiten. Dass Schalck auf Betteltour in Bonn war Von Kohl beauftragt, diktiert Seiters und Kohl auf der Anerkennung des Neuen dem Ost-Berliner Devisenbeschaffer die Forums besteht, verschweigt Krenz den

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Bedingungen, unter denen die DDR fortan Genossen. Das Politbüro beschließt, die Ost-Berliner Regierungssprecher Meyer mit westdeutscher Kapitalhilfe rechnen seit Wochen vorliegende Anmeldung des Halbheiten und Peinlichkeiten darf: „Öffentlich“ müsse Krenz erklären, Neuen Forums „entgegenzunehmen“. dass die SED bereit sei, „die Zulassung Mit einigen anderen fixen Korrekturen einspringen sollen, können die fehlenden von oppositionellen Gruppen und die Zu- versucht die Partei, sich vom Haltegriff am Fachkräfte nicht ersetzen. So richtet der sage zu freien Wahlen in zu erklärenden letzten Wagen des Reformzuges ein Stück Magistrat, mit wenig Erfolg, Sondertelefo- Zeiträumen zu gewährleisten“. weiter nach vorn in Richtung Lok zu han- ne für arbeitswillige Spezialisten ein und Außerdem, setzt Seiters nach, sei unab- geln. Neue Gesichter im Politbüro sollen lässt einen Aufruf in den Tageszeitungen dingbar, dass „die SED auf ihren absoluten dem Volk Veränderungswillen signalisieren. veröffentlichen: „Viele Kassierer, Kran- Herrschaftsanspruch verzichtet“, wenn sie Daher beschließt die alte Garde des Pro- kenschwestern und Kraftfahrer werden Geld sehen will. letariats, am nächsten Tag, zu Beginn der benötigt.“ In Ost-Berlin informiert Schalck kurz 10. Tagung des Zentralkomitees, komplett Allen Widrigkeiten zum Trotz wird, wie darauf Krenz über das Telefonat. „Das ist abzudanken. Doch drei der Nachfolger, die jedes Jahr um diese Zeit, im Roten Rat- Erpressung“, empört sich der SED-Chef. Krenz vorschlägt, sind bejahrte Bekannte, haus der Speiseplan für die Adventswo- Fünf Jahre später werden die US-Histo- alles andere als Hoffnungsträger. Sie fallen chen festgelegt. riker Philip Zelikow und Condoleezza Rice prompt durch, andere Kandidaten werden „Der Verkauf von Lebkuchen beginnt den Kurswechsel als historischen Einschnitt auf Druck der Parteibasis in den Bezirken planmäßig am 20. 11.“, versichert die Ver- bewerten. Mit ihren harten Bedingungen zurückgezogen. Die elf Vollmitglieder, die waltung, „eine durchgängige Versorgung habe die Regierung Kohl den in Bonn bis schließlich bestätigt werden, haben mit drei mit Fleisch- und Wurstwaren, alkoholfrei- dahin herrschenden „ostpolitischen Kon- Ausnahmen dem Gremium schon vorher en Getränken wird gesichert“ – allerdings sens aufgekündigt“: „Während Krenz ver- angehört. Auch sie tragen also Mitverant- „ohne dass alle Sorten stabil im Angebot zweifelt auf Hilfe hoffte, um sein Land zu wortung für die Politik der Ära Honecker. sind“. stabilisieren, wollte ihm Kohl diese erst ge- Im Zeichen von Glasnost wird, erstmals Während weitere Versorgungsengpässe währen, wenn er das bestehende System in der DDR, ein Regierungssprecher instal- drohen, gedeihen in den Amtsstuben des stürzte.“ liert. Doch auch diese Reform ist an Halb- Ost-Berliner Rathauses immer neue Blüten heit und Peinlichkeit kaum zu überbieten. zentralistischer Planwirtschaft. Ost-Berlin Der neue Mann ist ein alter Haudegen: Soeben vorgelegt: eine „Beschlussvor- Krenz, von Kohl in die Enge getrieben, Wolfgang Meyer, 55, bisher Hauptabtei- lage“ mit dem Titel „Einführung von Zu- zeigt Wirkung. Um die Staatspleite ab- lungsleiter Presse im Außenministerium, schlägen für die Dienstleistungsart ,Ein- zuwenden, stimmt er das Politbüro auf hat jahrelang als Zensor die in der DDR ak- nähen von Reißverschlüssen im Sofort- und die Bonner Bedingungen ein – mit einer kreditierten West-Journalisten geschurigelt. Schnelldienst‘“. List: Er kaschiert die demütigenden Kon- Als erste Amtshandlung gibt Meyer den ditionen als Ratschläge der sowjetischen Rücktritt aller 44 Minister bekannt; bis Bonn Freunde. zur Bildung einer neuen Regierung bleibt Der Kanzleramtsminister hat den Kanzler Willi Stoph samt Kabinett geschäftsführend über das Gespräch mit dem Bittsteller * An der tschechisch-bayerischen Grenze bei Schirnding. im Amt – und ist damit verantwortlich für

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG« eine allerletzte Weichenstellung, eine Ent- tation, muss einen Parteiauftrag ausführen. scheidung mit historischen Folgen. „In den Massenmedien“ soll er, hat das Die anhaltende Ausreisewelle verlangt Politbüro beschlossen, unverzüglich „dar- rasche Reaktionen. Seit Öffnung der tsche- auf hinwirken, dass die Bürger ihr Land choslowakischen Grenze verlassen stünd- nicht verlassen“ (siehe Porträt Seite 104). lich im Schnitt 300 DDR-Bürger via ∏SSR Eine entsprechende Zusage hat am die Republik in Richtung Westen. Abend zuvor auch Außenminister Fischer Im Politbüro zeichnet Außenminister in seinem Gespräch mit dem Moskauer Oskar Fischer ein düsteres Bild: Die Prager Botschafter gegeben: „Die Kampagne in Bruderpartei verlange von Ost-Berlin, die den Medien, die DDR-Bürger zum Hier- Ausreisewelle sofort zu stoppen – Tenor: bleiben zu veranlassen, wird verstärkt“, „Wenn ihr die Grenze zu uns nicht dicht- verrät ein Vermerk über das Treffen mit macht, machen wir sie zu.“ Kotschemassow. Die SED versuche, so Die Idee, eine zweite Mauer zu bauen, Fischer, „auch andere bestimmte Leute diesmal zwischen DDR und ∏SSR, wird dafür zu gewinnen“. verworfen.Auch eine vorgeschlagene leich- Als potenzielle Bündnispartner im tere Stacheldrahtversion, fürchten die alten Kampf gegen die Reisewut haben die Par- Herren, würde nur neue Probleme schaf- teistrategen Menschen im Auge, die sie fen: Massenattacken auf den Zaun ließen noch vor wenigen Wochen mit Knast und sich nur mit Waffengewalt stoppen. Knüppeln traktieren ließen: Die Einheits- Außenminister Fischer wird vom Polit- sozialisten planen, die Reformsozialisten büro beauftragt, dem ZK einen neuen Vor- aus der Bürgerbewegung für ihre Zwecke schlag zu unterbreiten. Grundgedanke: Die einzuspannen, um das mehr und mehr vom für Dezember ohnehin geplante weitge- Westen faszinierte Volk am Abhauen zu hende Freigabe der „ständigen Ausreise“ hindern. soll vorzeitig in Kraft treten. Fischer meint, wenn die DDR als Vor- posten des Ostblocks ihre Grenzen durch- lässig machen wolle, müsse dieses Vorha- ben mit den Freunden in Moskau abge- stimmt werden. Deshalb bittet er am Abend den Sowjetbotschafter in Ost-Ber- lin, Wjatscheslaw Kotschemassow, 71, zu sich in sein Außenministerium gegenüber dem Palast der Republik. Das Politbüro, eröffnet Fischer dem Di- plomaten, neige dazu, das neue Ausreise- gesetz so zu formulieren, dass DDR-Bürger

die Möglichkeit erhalten, ohne Umwege DEUTSCHES RUNDFUNKARCHIV über Drittländer direkt in die Bundesrepu- Schriftstellerin Wolf (bei ihrem TV-Appell) blik zu fahren – sofern sie sich entschließen, „Bleiben Sie bei uns!“ dort ihren ständigen Wohnsitz zu nehmen. Kaum ist Kotschemassow in seine Bot- Beide Seiten entdecken in diesen Tagen schaft zurückgekehrt, um die Ecke Unter aus unterschiedlichen Motiven, so der den Linden, ruft er seinen Außenminister Historiker Walter Süß, „einen kleinsten in Moskau an. Eduard Schewardnadse rea- gemeinsamen Nenner“ – sie wissen: giert gelassen: „Wenn die deutschen Freun- „Von oben her stabilisiert oder von unten de eine solche Lösung für möglich halten, aus verändert“ werden kann „nur eine werden wir wahrscheinlich keine Einwän- DDR, der die Menschen nicht davon- de anmelden.“ laufen“. Die Sowjets durchschauen das Spiel der Am Abend darf denn auch, im Namen SED-Spitze. Die Konsultation Kotsche- von Bärbel Bohley und anderen Bürger- massows durch Außenminister Fischer, for- rechtlern, die Schriftstellerin Christa Wolf muliert ein Botschaftsrat an diesem Abend über das von Schabowski kontrollierte ganz undiplomatisch, zeuge „von der Feig- DDR-Staatsfernsehen einen Appell an alle heit des Genossen Krenz“. Ausreisewilligen richten: Der Generalsekretär wolle die Mitver- antwortung für die Folgen seines Schrittes Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer den Sowjets zuschieben. Krenz wisse genau, Heimat, bleiben Sie bei uns! Was können worauf die geplante Maßnahme hinaus- wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber laufe: auf eine Öffnung der Grenze – mit ein nützliches und interessantes Leben. Kei- unabsehbaren politischen Konsequenzen. nen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen … Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesell- Mittwoch, 8. November 1989 schaft zu gestalten, die auch die Vision ei- Ost-Berlin nes demokratischen Sozialismus bewahrt. Günter Schabowski, 60, in der SED neuer- Doch das Volk, so wird sich 24 Stunden dings zuständig für Information und Agi- später zeigen, hat seinen eigenen Willen –

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG« und mehrheitlich längst ganz andere Vi- sen Mitglieder im Umlaufverfahren zu- sen“. Dann kommt er endlich zum Punkt: sionen als seine Politiker, seine Pastoren stimmen sollen. Allerdings „ist heute, soviel ich weiß, eine und seine Poeten. Günter Schabowski, der Pressesprecher Entscheidung getroffen worden“. Der Mi- des neuen Politbüros, ist nicht im Saal, als nisterrat habe beschlossen, „heute, äh, eine Krenz gegen 16 Uhr im Plenum die neue Regelung zu treffen, die es jedem Bürger Donnerstag, 9. November 1989 Ausreiseverordnung vorliest. Er weiß daher der DDR möglich macht, äh, über Grenz- nicht genau, was auf den zwei DIN-A4- übergangspunkte der DDR auszureisen“. Ost-Berlin Seiten steht, die Krenz ihm mit den Wor- „Ab wann tritt das in Kraft?“, will einer Die Dienstbesprechung, deren Folgen Eu- ten in die Hand drückt: „Gib das bekannt. wissen. Schabowski kramt in den Papie- ropas Grenzen verändern wie ein Welt- Das wird ein Knüller für uns.“ ren, kratzt sich am Kopf – so genau weiß er krieg, beginnt um 9 Uhr in Ost-Berlin – Den will Schabowski sich bis zuletzt auf- das auch nicht. Hastig liest er den Geset- ausgerechnet in der Mauerstraße. heben. Handschriftlich notiert er einen zestext vor. Darin stehen Sätze wie: „Die Dort, im Ministerium des Innern, brüten Fahrplan für den Ablauf der Pressekonfe- Genehmigungen werden kurzfristig er- vier Experten, darunter zwei Stasi-Obris- renz: „Kurz vor Schluss – Nennung MiRa- teilt.“ Und: „Die zuständigen Abteilungen ten, über einer kniffligen Aufgabe: Die Beschluss“. Er weiß nicht, dass der Minis- Pass- und Meldewesen“ der Volkspolizei SED-Führung hat dem Quartett – unter terrat ihn zu diesem Zeitpunkt noch gar seien „angewiesen,Visa zur ständigen Aus- dem Eindruck der ∏SSR-Drohung, die nicht beschlossen hat und daher auch die reise unverzüglich zu erteilen“. Für jeden Grenze zu schließen – den Auftrag erteilt, Grenztruppen nicht instruiert sind. Und er DDR-Bürger ist damit klar, dass er zu- rasch eine Regelung für jene Bürger zu fin- übersieht, dass auf der zweiten Seite des nächst zur Behörde muss, um einen Antrag den, die das Land für immer verlassen wol- Papiers der Satz steht: „Über die Rege- zu stellen. Und weil die Ämter jetzt Feier- len. Schnell ist der Runde klar, dass die lungen ist die beigefügte Pressemitteilung abend haben, geht das frühstens am nächs- Vorgabe absurd ist: An diejenigen, die nur am 10. November 1989 zu veröffentlichen.“ ten Morgen. mal eben eine Tante in West-Berlin besu- Heute ist aber erst der 9. November. Dann aber unterläuft Schabowski ein für chen wollen, ist nicht gedacht worden. Fast eine Stunde langweilt Schabowski die Existenz der DDR verhängnisvoller So legen die Experten einen Entwurf hunderte von Journalisten im Kinosaal des Fehler. Auf die nochmalige Nachfrage: mit dem Titel „Unverzügliche Visaer- „Internationalen Pressezentrums“ mit „Wann tritt das in Kraft?“, stottert der In- teilung für ständige Ausreisen“ beiseite Schilderungen, was in einem SED-Ak- formationssekretär des ZK hilflos herum: und formulieren einen Passus über „Pri- tionsprogramm stehen soll und welche Fol- „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das vatreisen nach dem Ausland“, die „ohne gen ein neues Wahlgesetz haben werde. sofort, unverzüglich.“ Vorliegen von Voraussetzungen“ beantragt Die Medienleute sind schon im Aufbruch Schabowski meint natürlich: morgen werden sollen.Wer weg will aus der DDR, begriffen, als um 18.53 Uhr Riccardo Ehr- früh, wenn die Ämter öffnen. Er kann nicht für immer oder nur kurz, muss nach die- man von der italienischen Nachrichten- ahnen, dass die DDR-Bürger ihn beim Wort sem Entwurf nur noch ein Visum bean- agentur Ansa ans Saalmikrofon geht und nehmen und „sofort“ losstürmen. tragen. eine, wie es scheint, banale Frage nach dem Als ein Journalist nachhakt, ob die Aus- Gegen 12 Uhr kommt das Papier ins umstrittenen Reisegesetz-Entwurf stellt. reiseregelung auch für die Übergänge nach Zentralkomitee, das gerade in die Mittags- Umständlich und weit ausschweifend, mit West-Berlin gelte, merkt Schabowski zum pause geht. Krenz liest einigen zufällig verschachtelten Sätzen und gespickt mit ersten Mal, dass mit dem Zettel von Krenz noch anwesenden Mitgliedern des Polit- „Ähs“, verbreitet sich Schabowski minu- etwas nicht stimmen kann. Er schaut nach, büros den Text vor, die nicken ihn ab. Da- tenlang über „dieses Bedürfnis der Bevöl- ja, da steht „Berlin (West)“, und ihm jagt, nach geht die Vorlage zum Ministerrat, des- kerung, zu reisen oder die DDR zu verlas- wie er später erzählt, durch den Kopf: DPA Schabowski (Podium, 2. v. r.) am 9. November im Internationalen Pressezentrum: „Das wird ein Knüller für uns“

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG« JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA A. PACZENSKY / IMAGES.DE A. PACZENSKY S. BERGEMANN / OSTKREUZ Grenzöffnung am Übergang Bornholmer Straße (1989), Stasi-Grenzer Jäger (1994), Nevyhosteny (1996): „Ich lasse die Leute raus“

„Hoffentlich wissen die Sowjets davon, die- ze strömen sehen, bekommen es mit der Etwa zur selben Zeit nähert sich Wolf- ses Ding berührt ja den Viermächtestatus – Angst zu tun: „Die machen uns fertig.“ gang Herger, der gerade ins Politbüro auf- verflucht.“ Als die Grenzer die Baracken erreichen, gerückte ZK-Sekretär für Sicherheitsfra- Unter den hunderttausenden, die Scha- versucht ihr Vorgesetzter, PKE-Vizechef gen, seiner Wohnung in der Wisbyer bowskis Auftritt im Fernsehen verfolgen, ist Oberstleutnant Harald Jäger, 46, gerade Straße. Er traut seinen Augen kaum: West- auch Dieter Teichmann. Der Generalmajor verzweifelt zu erfahren, wie er sich ver- wärts steuernde Trabis bilden einen Rück- hat an diesem Abend die oberste Befehls- halten soll. Über die Schabowski-Mittei- stau, der vom zwei Kilometer entfernten gewalt im brandenburgischen Pätz, dem Sitz lung, die neue Reiseregelung – freie Fahrt Grenzübergang Bornholmer Straße bis zu des Kommandos der Grenztruppen. Nach in den Westen – gelte „ab sofort“, kann Jä- seinem Haus reicht. der Sendung geht Teichmann seelenruhig ger nur den Kopf schütteln: „Ab sofort? Herger knipst eilends den Fernseher an zum Abendessen und macht sich Gedan- Das geht doch gar nicht.“ Zu seinen Mit- und vernimmt zu seinem Erstaunen, dass ken, „was auf die Grenztruppen in den arbeitern sagt Jäger: „Das ist doch absolu- die Tore in der Mauer weit offen stehen. kommenden Wochen zukommen“ würde. ter geistiger Dünnschiss.“ Das Betonmonster, das West-Berlin auf Als Teichmann vom Abendbrot an sei- Immer mehr Menschen rücken an, for- 165,7 Kilometer Länge umschließt und dem nen Schreibtisch zurückkehrt, wird ein An- dern „Macht das Tor auf“. Immer wieder in der geteilten Stadt mehr als 70 Men- ruf von Generalmajor Erich Wöllner, dem versucht Jäger, von Oberst Rudi Ziegen- schen zum Opfer gefallen sind, hat die Kommandeur des Grenzkommandos Mit- horn, Vizechef der Stasi-Hauptabteilung Amtszeit Erich Honeckers genau 22 Tage te in Berlin, durchgestellt.Wöllner will sich VI, konkrete Weisungen zu erhalten. Nach und 10 Stunden überdauert. In seinem Ar- kundig machen, weil er von überall her Beratung mit dem stellvertretenden Stasi- beitsbuch notiert Herger: Anfragen erhält, was die Ankündigung Minister Gerhard Neiber empfiehlt der Schabowskis bedeute. Oberst: „Die am aufsässigsten sind und die Heute haben wir entweder einen strategi- Aber auch sein Vorgesetzter Teichmann, provokativ in Erscheinung treten, die lass schen Fehler gemacht oder eine strategi- merkt er nun, weiß von nichts. Trotzig raus. Denen macht ihr im Ausweis einen sche Flucht nach vorn … Die Grenze ist de denkt sich Wöllner: „Wenn die dir vorher Stempel halb über das Lichtbild – und die facto geöffnet. Man fährt und läuft hin nichts sagen, dann sollen sie auch sehen, kommen nicht wieder rein.“ und her, obwohl wir heute ganz anderes wie sie zurechtkommen.“ Er beschließt: Nach diesem Verfahren passieren gegen beschlossen haben. Es sollte wieder über „Du machst jetzt gar nichts“, und geht 21.20 Uhr die ersten DDR-Bürger, ausge- das „Amt“ gehen, doch das wurde igno- nach Hause. bürgert per Handbewegung, die Grenze. Von den historischen Ereignissen der fol- Doch das Geschubse und Gedrängel am genden Stunden werden die politischen Schlagbaum wird immer heftiger. Führer der DDR ebenso überrumpelt wie Schließlich kapitulieren die Stasi-Gren- subalterne Staatsdiener – etwa Bruno zer, von denen einige Todesängste ver- Nevyhosteny, 41, Hauptmann einer Pass- spüren. Jäger an Ziegenhorn: „Es ist nicht kontrolleinheit (PKE) des Ministeriums für mehr zu halten, wir müssen die GÜSt auf- Staatssicherheit. machen. Ich stelle die Kontrollen ein und Nevyhosteny ist nachmittags um drei lasse die Leute raus.“ Ein Kollege meldet: von der Frühschicht an der Grenzüber- „Wir fluten jetzt.“ gangsstelle (GÜSt) Bornholmer Straße Die Mauer fällt – zum Einsturz gebracht nach Hause gekommen. Ferngesehen hat nicht durch den Willen des Genossen Ge- er nicht; daher ist ihm die von Schabowski neralsekretär, der sich bald zum Grenzöff- in die Welt gesetzte Information entgangen, ner stilisieren wird, sondern durch Volkes die sich in den Medien binnen kurzem zu Macht, durch den Druck der Bürger. der Formel verkürzt hat: „Die Grenzen Wie benommen wanken die Grenzhüter sind auf.“ inmitten des Stroms der Grenzgänger hin Gegen 21 Uhr lässt das Telefon den und her. Verschwommen nimmt Haupt- Hauptmann in seiner Wohnstube in Berlin- mann Nevyhosteny den Jubel im gelben Lichtenberg hochschrecken.Auf Befehl sei- Nachtlicht wahr, sieht Leute „in Massen nes Vorgesetzten fährt Nevyhosteny zu- über die Grenze krabbeln“, ganz ohne For- sammen mit einem Kollegen zur Bornhol- mular, ohne Kontrolle, ohne Stempel. mer Straße – auf Schleichwegen, denn es ist Der Hauptmann hatte Hass erwartet. merkwürdig viel los auf den Straßen. Die Stattdessen gibt es für die Grenzer nun Stasi-Männer, die abertausende zur Gren- Blumen, Küsse und Rotkäppchen-Sekt. Jubel nach der Maueröffnung: „So ein Tag, so

94 der spiegel 45/1999 Freudenfest auf der Mauerkrone „Die sind verrückt geworden“

ORBAN / CORBIS SYGMA riert. Die Leute sind mit dem Personal- an und jubelt: „Das kann eine große Sache ausweis an die Grenze gegangen. Jetzt liegt für uns werden.“ es an der BRD-Seite … Sie können die „Halleluja! Die Mauer kippt!“ – Millio- Grenze nicht schließen, und wir wollen es nen von Ostdeutschen empfinden in diesen nicht. Stunden wie der ausgebürgerte Liederma-

cher Wolf Biermann. Für Teile der Op- / FOCUS / KATZ STODDART Schabowski fährt unterdessen im Strom position dagegen zerplatzt der schöne Augenzeuginnen am 9. November der Trabis zum Grenzübergang Heinrich- Traum von einem eigenständigen deut- „Wahnsinn, ick gloob’s nich“ Heine-Straße, wo sich Ost- und West-Ber- schen Zweitstaat, der sich einen „drit- liner um den Hals fallen und „So ein Tag, ten Weg“ zwischen bürgerlichem Liberalis- Ackermann: „Herr Doktor Kohl, halten so wunderschön wie heute“ singen. Die mus und diktatorischem Staatssozialismus Sie sich fest, die DDR-Leute machen die Freude der Menschen nährt die Illusion bahnt. Mauer auf.“ des Funktionärs, er habe der DDR einen Nicht wenige reagieren wie Bärbel Boh- Kohl: „Sind Sie sicher?“ Dienst erwiesen. Schabowski ruft Krenz ley: „Die Leute sind verrückt geworden“, Ackermann: „Das Fernsehen überträgt empört sie sich, „und die Regierung hat live aus Berlin, ich kann es mit eigenen den Verstand verloren.“ Die Filmemache- Augen sehen.“ rin Freya Klier hält fest, „die Wucht der Kohl: „Das ist ja unfassbar!“ Meldung“ von der Maueröffnung habe sie „unter die Bettdecke getrieben statt auf Mitarbeiter bedrängen den Kanzler, die nächtliche Straße“. sofort nach Deutschland zurückzukeh- Die DDR, fürchtet die Bürgerrechtlerin, ren. Kohl will die Polen nicht brüskieren, werde sich schon bald „auflösen wie eine doch er weiß: Seinem Vorbild Konrad Brausetablette“. Adenauer wurde nach dem Mauerbau am 13. August 1961 immer wieder angelas- Warschau tet, dass er nicht sofort nach Berlin ge- Bundeskanzler Helmut Kohl wird von dem eilt war, sondern seinen Wahlkampf fort- Jahrhundertereignis bei einem Staats- gesetzt hatte. besuch in Warschau überrascht, beim Es- Gisbert Kuhn, einer der mitgereis- sen. ten Bonner Zeitungskorrespondenten, Schon kurz vor 19 Uhr, zeitgleich mit schlägt Kohl vor, den Besuch „nicht abzu- Schabowskis Pressekonferenz, prophezeit brechen, sondern nur zu unterbrechen“. Solidarnos´ƒ-Chef Lech Walesa, wie ein Nach einem Gespräch mit Außenminister Kanzler-Mitarbeiter festhält, dass „die Hans-Dietrich Genscher entschließt sich Mauer in ein bis zwei Wochen nicht mehr der Kanzler, dem Rat des Reporters zu stehen“ werde. folgen. Wenig später, während des Festbanketts im Palast des Ministerrats, ruft der Kohl- West-Berlin

T. STODDART / KATZ / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / KATZ STODDART T. Vertraute Eduard Ackermann aus Bonn Für Walter Momper wird das Unfassbare wunderschön wie heute“ den Kanzler an. kurz nach 23 Uhr zur Gewissheit. Bei ei-

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG« ner Live-Diskussion im Studio E des validenstraße aus kontaktiert trägt dem Vize-Verteidigungs- Senders Freies Berlin steckt ein Sicher- der Mann mit dem roten minister die Leitung. heitsbeamter dem Regierenden Bürger- Schal eine Stunde vor Mitter- Die DDR ist in diesen Stun- meister unter dem Tisch einen Zettel zu: nacht seinen Polizeipräsiden- den, wie Krenz später schreibt, „Grenzübergang Bornholmer Straße ist ten („Da müssen doch Gitter „einem militärischen Einsatz offen.“ her“) sowie die alliierten näher, als dies manche wahr- Momper – „Das ist ein historischer Stadtkommandanten: „Ihr haben wollen“. In seinen Me- Tag“ – verabschiedet sich vom Bildschirm müsst die West-Berliner Poli- moiren gibt Krenz seine Lage- und jagt im Senats-Daimler, begleitet von zei ermächtigen – am Bran- Einschätzung mit den Worten einem Blaulichtwagen, mit Tempo 80 bei denburger Tor fangen die Ver- wieder:

Rot über alle Ampeln zur Mauer. Dort rückten an, überall mit dem DPA herrscht Volksfeststimmung, Hände recken Hammer auf der Mauer rum- General Snetkow Zeitweilig sind über 1000 Men- sich ihm entgegen: „Walter, hättste das ge- zukloppen.“ schen auf der Mauer am Bran- dacht?“ Der Ansturm auf die offene Grenze ge- denburger Tor. Einige springen ins DDR- Den Walter trifft die Weltsensation nicht winnt von Stunde zu Stunde an Wucht – je- Grenzgebiet. Das ist eine sichtbare Ver- gänzlich unvorbereitet. Am 29. Oktober der will dabei sein, notfalls mit dem Man- letzung der Grenze der DDR vom Westen hat er seinen Ost-Berliner Kollegen Erhard tel überm Schlafanzug. Noch lange nach her. Wenn es Sinn macht, von gefährlich Krack nebst SED-Sekretär Schabowski bei Mitternacht erkunden aufgekratzte Westler die höchste Steigerungsform zu bilden, einem Gespräch im Palasthotel kennen ge- den Osten und Ostler den Westen der dann ist diese Situation am Branden- lernt. Am Ende der Unterredung eröffne- Stadt: „Wahnsinn, ick gloob’s nich.“ burger Tor die bisher gefährlichste. Sie te Schabowski ihm, wie Momper fand, Während Leuchtraketen in den Nacht- kann jederzeit militärische Eingriffe aus- ziemlich unvermittelt: „Übrigens – wir himmel zischen und beschwingte Zecher lösen. werden Reisefreiheit geben.“ auf der fußwegbreiten Mauerkrone Sekt- Was er denn damit meine, fragte Mom- flaschen schwenken, bangt Momper: Sowjetbotschafter Kotschemassow, of- per. „Richtige Reisefreiheit“, versicherte „Wenn da ein Verrückter drüben losschlägt, fenbar irritiert über die Art und Weise des Schabowski: „Jeder DDR-Bürger kann rei- da ist doch die Hölle los.“ Mauersturzes, ruft an und will wissen: sen, wohin er will. Er kann die DDR auch Drüben denken zu dieser Stunde ein „Wer hat der DDR das Recht gegeben, die auf Dauer verlassen.“ paar Verrückte bereits an die Mobil- Grenzen zu öffnen?“ Gorbatschow wün- West-Berlins Senat hat daraufhin flugs machung der so genannten Volksarmee. sche umgehend informiert zu werden. eine Projektgruppe installiert – Auftrag: Im Auftrag von Krenz entwirft Stre- „Vorbereitung auf einen verstärkten Besu- letz ein besänftigendes Telegramm an den cher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und Freitag, 10. November 1989 KPdSU-Chef, das die Grenzöffnung als der DDR“. Erster Vorschlag: Wegen der ab spontane Reaktion der politischen Führung Dezember erwarteten 500000 Tagesbesu- Ost-Berlin darstellt – die damit in Wahrheit gar nichts cher soll der Kurfürstendamm für Autos Früher als sonst nähern sich im Morgen- zu tun hatte. gesperrt werden. Zufällig zum 9. Novem- grauen die dunkelblauen Volvo-Limousi- Zur „Vermeidung schwerwiegender ber ist eine Begrüßungsbroschüre fertig nen aus Wandlitz, der geheimen Waldsied- politischer Folgen“, so telegrafiert die geworden, die Momper in Auftrag gege- lung, der Hauptstadt der DDR. DDR-Regierung nach Moskau, habe Ost- ben hat – ein Willkommensheft für DDR- Um 7 Uhr trifft sich Krenz in seinem Ar- Berlin „größeren Ansammlungen von Bürger. beitszimmer im „Großen Haus“ mit Ge- Menschen“ die Ausreise „gestattet“. Die In der Nacht des Mauerfalls übernimmt neraloberst Fritz Streletz. Der übernäch- Grundsätze des „Vierseitigen Abkom- Momper das Kommando. Von einer Po- tigte Staatschef befiehlt die Bildung einer mens über Berlin (West)“ seien „nicht lizeibaracke am Sektorenübergang In- „Operativen Führungsgruppe“ und über- berührt“; Besuchsreisen zu West-Berliner

Mauerbesetzer, DDR-Grenzsoldaten am Brandenburger Tor „Das ist ein historischer Tag“ A. SUAU / PLUS 49 VISUM A. SUAU Werbeseite

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Verwandten habe es im Übrigen bisher nach der Maueröffnung jeder Einmischung schon gegeben. zu enthalten. Sonnabend, 11. November 1989 In der Sitzung des ZK, die Krenz um Der Diplomat zum General: „Gehen Sie 9.05 Uhr eröffnet, fällt zur Maueröffnung in sich und erstarren Sie!“ Ost-Berlin fast eine Stunde lang kein einziges Wort. Gestern Nacht noch, gleich nach der Rück- Stattdessen beschäftigen sich die Genos- West-Berlin kehr aus Berlin, hat Helmut Kohl seinen sen mit den Weltmarktpreisen von Spei- Kohl kann nicht auf direktem Weg von Freund George Bush angerufen: „Die cherschaltkreisen. Warschau nach Berlin kommen. Denn nur Grenzen sind absolut offen“, schwärmt er. Neun gespenstische Redebeiträge sind Flugzeuge der westlichen Alliierten dür- „Ohne die USA wäre dieser Tag nicht mög- schon gehalten worden, als Krenz gegen 10 fen bestimmte Luftkorridore über der lich gewesen.“ Der Präsident revanchiert Uhr den Raum verlässt. Jemand hat ihm ei- DDR benutzen. sich, er sei „stolz“ darauf, wie geschickt der nen Zettel gereicht: „Genosse Kotsche- Die Maschine des Kanzlers muss einen Kanzler „dieses außerordentlich schwieri- massow möchte dich dringend sprechen.“ Umweg über die Ostsee nach Hamburg ge Problem“ behandelt habe. Kohl verab- Von einem Nebenraum aus ruft der nehmen. Dort lässt der Bonner US-Bot- schiedet sich mit Grüßen an Bush-Gattin SED-Chef den Sowjetbotschafter zurück. schafter Vernon Walters ein amerikanisches Barbara: „Sag ihr, dass ich ihr zu Weih- „Genosse Krenz“, richtet ihm der Diplo- Militärflugzeug für Kohl und seine Entou- nachten Würstchen schicke.“ mat mit freudiger Stimme aus, „im Namen rage bereitstellen. Nun, am Vormittag um 10.13 Uhr, lässt von Michail Gorbatschow, im Namen der In Berlin erwarten zehntausende den sich der Kanzler mit Egon Krenz verbin- sowjetischen Führung beglückwünsche ich Kanzler und seinen Außenminister vor den. Er wolle „sagen, dass ich sehr, sehr be- Sie und alle deutschen Freunde zu Ihrem dem Schöneberger Rathaus. Auf dem über- grüße diese sehr wichtige Entscheidung der mutigen Schritt, dass Sie die Berliner Mau- dachten Portalaufgang steht, neben Kohl Öffnung“, beginnt der Kanzler. Krenz quit- er geöffnet haben.“ und Genscher, Berlins Ex-Bürgermeister tiert das Lob für sein Malheur brav: „Das Krenz eilt in den Sitzungssaal. Erst jetzt, und Altkanzler Willy Brandt, der freut mich sehr.“ nachdem Gorbatschow Zustimmung si- bereits die Einheit heraufziehen sieht: Der SED-Generalsekretär ist in Sorge. gnalisiert hat, wagt er es, die Mauerpanne „Jetzt wächst zusammen, was zusammen- Er sieht die Wiedervereinigung heranna- anzusprechen und zu verteidigen: gehört.“ hen und versucht, Kohl festzulegen: „Steht Kohl wird schon vor seiner Rede gna- nicht auf der Tagesordnung.“ Da ist der Genossen, ich bitte um Verständnis. Ich denlos ausgepfiffen – von „linkem Pöbel“, Kanzler, mit Blick aufs Grundgesetz und weiß nicht, ob wir alle noch nicht oder vie- wie er bemerkt. seinen Amtseid, natürlich „ganz anderer le – da will ich niemandem zu nahe treten Als habe Momper persönlich die Störer Meinung“. Doch Kohl beruhigt Krenz: Die – den Ernst der Lage erkannt haben. Der bestellt, macht Kohl den Bürgermeister für Wiedervereinigung sei „jetzt nicht das Druck, der bis gestern auf die tschecho- slowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet … Der Druck war nicht zu halten.

Eine halbe Stunde später, um 11.30 Uhr, trifft Krenz, besorgt um die „normale Ord- nung in der Stadt“, eine Entscheidung, die er jahrelang leugnen wird. Er befiehlt, wie Zeugenaussagen und Dokumente belegen, „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für zwei Eliteeinheiten, die in Potsdam und Umge- bung stationiert sind: die 1. Motorisierte Schützendivision und das Luftsturmregi- ment 40. Zehn Jahre später wird Krenz eine merkwürdig anmutende Begründung nach- liefern: Die Regierung habe geplant, neue Grenzübergangsstellen einzurichten – eine zusätzliche Aufgabe, mit der „die Grenz- truppen der DDR überfordert“ gewesen wären. Nur „aus diesem Grunde“ sei der

Befehl erfolgt. AP In Potsdam jedenfalls munitionieren die Kundgebungsredner Brandt, Kohl: „Zu Weihnachten Würstchen für Barbara“ Mot.-Schützen auf, Soldaten rennen zu den Waffenkammern. Zehntausend Mann hal- das Pfeifkonzert verantwortlich. Als der Thema, das uns im Augenblick am meis- ten den Atem an. glatzköpfige Sozialdemokrat redet, giftet ten beschäftigt“. Der Bundeskanzler Militärisch wie politisch ist der Krenz- der Christdemokrat in die offenen Mikro- rechnet zu diesem Zeitpunkt mit der deut- Befehl (Begründung: „Verteidigung der fone: „Lenin spricht, Lenin spricht.“ schen Einheit erst in fünf oder zehn Jah- souveränen Grenzen der souveränen Zuletzt sorgt auch noch der CDU-Poli- ren – und nicht in 325 Tagen. Krenz be- DDR“) unsinnig. Wo sollen die Schützen- tiker Jürgen Wohlrabe für falsche Töne. dankt sich bei Kohl für das freundliche panzerwagen auffahren? Alle Straßen Der stimmgewaltige Rechte, den SPD- Gespräch. Richtung Berlin sind mit Trabis verstopft. Zuchtmeister Herbert Wehner einst als Die „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für Mit Unterstützung der Sowjetarmee „Übelkrähe“ diffamierte, intoniert das die Nationale Volksarmee hebt der SED- kann Krenz ohnehin nicht rechnen. Bot- Deutschlandlied, mit kehliger Stimme und Chef noch am selben Tage wieder auf. schafter Kotschemassow hat am Mor- eine Oktave zu tief. JOCHEN BÖLSCHE; CHRISTIAN HABBE, gen den russischen Armeegeneral Boris Dissonant fallen Kohl, Genscher, Brandt HANS HALTER,NORBERT F. PÖTZL, Wassiljewitsch Snetkow ermahnt, sich auch und Momper in den Gesang ein. I RINA REPKE,CORDT SCHNIBBEN,BARBARA SUPP

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PORTRÄT Unbequem zwischen allen Stühlen SED-Wendepolitiker Günter Schabowski: Vom linientreuen Agitprop-Funktionär zum PR-Manager

in einziger falscher Zungenschlag si- ten die lang gedienten Politbürokraten die / HNA L. KOCH cherte ihm einen Platz in der Ge- Ablösung des reformunwilligen Alten be- Anzeigenblatt-Journalist Schabowski (1992) Eschichte. „Sofort“, sagte Günter trieben, um die DDR zu retten. Aber die Zurück ins alte Metier Schabowski, der Sprecher des neuen SED- Zukunft konnten sie wegen ihrer Vergan- Zentralkomitees, am 9. November 1989 auf genheit beide nicht gewinnen. ski vor Publikum bei – und mokierte sich die Journalistenfrage, wann die neue Rei- Der 1929 im vorpommerschen Anklam hinterrücks, wie so jemand in einem Ju- severordnung in Kraft trete. „Morgen geborene Schabowski war als Chefre- gendforum zu Wort kommen könne. früh“, hätte er sagen müssen. dakteur des „Neuen Deutschland“ (1978 Der Generaldirektor des Kombinats Mit seiner Antwort löste Schabowski die bis 1985) ein strammer Agitprop-Mann Schienenfahrzeugbau, der gegenüber überraschendste Völkerwanderung der Honeckers gewesen und auch danach, als Schabowski einen unsinnigen Partei- Neuzeit aus. Er selbst „ahnte in diesem Ost-Berliner SED-Chef, stets linientreu. beschluss kritisierte, wurde kurz darauf Augenblick nicht“, schrieb er später, dass Seine Ehe mit einer Russin und seine gu- strafversetzt. Die Vorschrift, jeder Betrieb er „im Namen der SED-Führung der DDR ten Verbindungen zur Sowjetunion waren müsse einen bestimmten Prozentsatz an gerade das endgültige Verfallsdatum auf- wohl die einzigen Merkmale, die ihn zum Konsumgütern produzieren, hatte dazu ge- drückte“. Gorbatschow der DDR prädestinierten. führt, dass selbst Schwermaschinenbetrie- Still litt Schabowski zunächst unter dem Mit Glasnost hatte Schabowski indes be Wäscheständer und Partygrills im Über- Vorwurf seiner Genossen im Politbüro, er nichts im Sinn. In einem Brief an Honecker fluss herstellten. habe der DDR den Todesstoß versetzt. Sei- regte er sich beispielsweise darüber auf, So hatte sich Schabowski innerhalb und ne Antwort gab er erst, als Egon Krenz An- dass immer mehr Bürger den „Drecksen- außerhalb der Partei Feinde geschaffen, fang Dezember abdankte: „Wenn ein Sys- der Sat 1“ empfangen wollten und sich des- die den bisweilen cholerischen „Schah tem daran zu Bruch geht, dass sich die halb größere Fernsehantennen wünschten. Bowski“ nun „ab ins Exil“ wünschten. Die Menschen frei bewegen können, hat es Alexander Osang, Ex-Reporter der Kurve kriegte Schabowski allerdings flin- nichts Besseres verdient.“ „Berliner Zeitung“, erinnert sich an Vor- ker als alle anderen. Neben der Maueröffner-Episode ver- fälle aus dem Jahr 1988, die Schabowski Als erstes Mitglied des Politbüros ging er blasst Schabowskis Rolle als Königsmör- als intriganten Hardliner erscheinen las- auf die Straße und diskutierte mit empör- der. Am Sturz Erich Honeckers hatte der sen. Einem Geschichtslehrer, der in einem ten Demonstranten.Als erster aus der Par- damalige Erste Sekretär der Hauptstadt- FDJ-Sommerlager äußerte, er wisse nicht teispitze empfing er demonstrativ zwei Ab- SED jedoch ebenso Anteil wie der kurz- mehr, was er seinen Schülern über die Sta- gesandte des Neuen Forum, den Biologen zeitige Parteichef Krenz. Konspirativ hat- lin-Zeit erzählen solle, pflichtete Schabow- Jens Reich und den Physiker Sebastian Pflugbeil – und verhalf so der Opposition zu einer gewissen Anerkennung. Schabowski war es auch, der sich, neben dem vom pensionierten Agentenführer zum SED-Vordenker gewendeten Markus Wolf, am 4. November bei der Künstler- Demo auf dem Alexanderplatz dem Pfeif- konzert von hunderttausenden aussetzte und sich als opportunistischer Anpasser ausbuhen ließ. Mit erstaunlichem Geschick mutierte der gelernte Partei-Propagandist zum PR-Ma- nager. Er arrangierte Homestories mit den neuen Regenten, vermarktete die Abrech- nung mit dem alten Regime und insze- nierte publikumswirksam – „Krenz zieht aus Wandlitz aus“ – den Verzicht der Nach- folger auf ihre Privilegien. Da hatte Schabowski allerdings noch die Illusion, ein DDR-Reformsozialismus kön- ne überleben. Erst später merkte er, dass „das System, dessen politischer Klasse und Führung“ er angehörte, „vor dem Leben, vor der Wirklichkeit versagt“ hatte.

O. JANDKE / CARO JANDKE O. Zu den „herben Dämpfern“, die ihn Angeklagter Schabowski (1997): „Beschimpft als Schwein, Ratte und Waschlappen“ schnell am Neubeginn zweifeln ließen,

104 der spiegel 45/1999 zählt Schabowski die erste Fernsehrede des neu gewählten Generalsekretärs Krenz: „Das war noch die blecherne Diktion des SED-Zeitalters, allenfalls geeignet, die kon- servativen Genossen zu beruhigen.“ Kurze Zeit zeigte Schabowski Ambitio- nen, seinen Mitverschwörer Krenz als Par- tei- und/oder Staatschef zu verdrängen. Doch dann fiel er, als Gregor Gysi die Führung der SED/PDS übernahm, zugleich mit seinem Verbündeten aus allen Ämtern. Anfang Januar 1990 verlor Schabowski seinen Sitz in der Volkskammer.Wenig spä- ter wurde er, zusammen mit Krenz, aus der Partei ausgeschlossen. Von 1992 an wirkte der gelernte Journalist wieder in seinem alten Metier: Er wurde Mitgesell- schafter eines Anzeigenblatts im südhessi- schen Rotenburg und arbeitete als Lay- outer; heute lebt er als Rentner in Berlin. Schabowskis 1991 erschienener Auto- biografie „Der Absturz“ bescheinigt der westdeutsche Psychoanalytiker Tilman Moser „Aufrichtigkeit“. Glaubwürdig sei Schabowskis „Staunen über die Verbohrt- heit des Systems und seiner Träger“. „Wenn ein System daran zu Bruch geht, dass sich die Menschen frei bewegen können, hat es nichts Besseres verdient.“

Einstigen Kampfgefährten gilt Schabow- ski als Verräter, seit er seine moralische Mitschuld an den Mauertoten bekannt und sich bei den Angehörigen der Opfer ent- schuldigt hat. Im August 1997 hat das Berliner Landgericht den einstigen Berliner SED-Chef zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt; über seine Revision entscheidet der Bundesgerichtshof in diesen Tagen. Der Anklage hatte er von Anfang an widersprochen: Er sei kein „Schreibtisch- Totschläger“. Zu Krenz, der von „Sieger- justiz“ sprach, ging Schabowski jedoch auf Distanz: Er halte nichts von derlei „Zun- genrollern“. Der einstige „rote Star“ Krenz leide am „Roten Star“, an „ideologischer Blickverengung“. So hat sich Schabowski unbequem zwi- schen alle Stühle gesetzt: Er wird, so sein Anwalt im Plädoyer, „von den Kommuni- sten als Schwein, vom Solidaritätskomitee als Ratte, von großen Teilen der Bevölke- rung als Wendehals, von der Nebenklage als Waschlappen beschimpft“. Norbert F. Pötzl

Im nächsten Heft „Ich liebe doch alle“ – Die Stasi unterwandert Modrows Reformkabinett – Der „Swingman“ greift ein – Margaret Thatcher flippt aus

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ZEITGESCHICHTE „Alles, alles, alles überprüfen“ Die Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht muss wegen zahlreicher Fehler zurückgezogen und kontrolliert werden. Doch auch manche Kritiker sind oft schlampig in der Argumentation.

o sehen Verlierer aus. Blass und starr blickte SJan Philipp Reemtsma am vergangenen Donnerstag in den Raum, Hannes Heer malte in seinen Notizen, Bernd Boll, versteckt zwischen den Jour- nalisten, schaute betreten auf den Fußboden. Die drei Wissenschaftler des Hamburger Instituts für Sozial- forschung hatten die spekta- kulärste zeitgeschichtliche Aus- stellung der neunziger Jahre durch Deutschland geschickt. Rund 900000 Menschen in 33 Städten sahen seit 1995 die Bilderschau über die Verbre- chen der Wehrmacht an der Ostfront und in Serbien, bis 2003 war die Ausstellung aus- gebucht. Die Bilder von lachenden Landsern vor Leichenbergen, zusammen mit langen Text-

dokumenten aus Wehrmachts- M. AUGUST befehlen oder Feldpostbriefen, Wehrmachtsausstellung (in Kiel): Ausgebucht bis 2003 provozierten heftigen Wider- stand, führten aber in der Öffentlichkeit einen „außerordentlichen Glaubwürdig- fälschlicherweise der Wehrmacht zuord- auch zu einer neuen Sicht auf die deut- keitsverlust“. neten (SPIEGEL 4/1999). schen Streitkräfte in Hitlers Diensten. Ein Kuratorium von Wissenschaftlern Heer hatte die Zuordnung der Bilder Nun haben die Initiatoren ihre Ausstel- soll bald Bildlegenden und Textwände übernommen, wie er sie in Moskauer Ar- lung selbst aus dem Verkehr gezogen. Die komplett überprüfen; nominiert wurden chiven vorfand, und dabei nicht bedacht, Eröffnung in Braunschweig in dieser Wo- die Historiker Omer Bartov, Cornelia dass Stalins NKWD die Fotos für Propa- che ist abgesagt, auch die Tournee durch Brink, Friedrich Kahlenberg, Manfred gandazwecke gesammelt hatte, meist aus die Vereinigten Staaten von Amerika ab Messerschmidt, Reinhard Rürup und den Brieftaschen toter deutscher Soldaten. Dezember. „Gravierende Fehler“ räumte Hans-Ulrich Thamer. Hochmütig hatten Auch sonst sind ihm Fehler unterlau- Reemtsma ein, Heer gab „Leichtfertigkeit“ die Ausstellungsmacher bis vor kurzem fen. Als der ungarische Militärhistoriker und handwerkliche Unzulänglichkeiten fast alle Kritik an der Korrektheit etlicher Krisztián Ungváry sich einige Bilder der zu; die Ausstellungsmacher beklagten Teile ihres Werks zurückgewiesen. Schnell Ausstellung genauer ansah, stellte er fest, waren sie mit dem Verdacht, wer dass sie statt deutscher Landser finnische an falschen Bildzuschreibungen und ungarische Soldaten zeigten. Reemts- oder unvollständigen Zitaten mas Mitarbeiter hatten sich nicht einmal Anstoß nehme, sei ein Rechts- die Mühe gemacht, die Uniformen der radikaler. Männer auf den Fotos zu identifizieren. Ungnädig reagierten die Ham- Für Ungváry und Musial sind solche Ver- burger zunächst auch auf Recher- säumnisse nur „die Spitze eines Eisbergs“. chen des deutsch-polnischen His- Ungváry war eigentlich angetreten, die torikers Bogdan Musial und des Vergehen der ungarischen Armee aufzu- SPIEGEL. Diese hatten Anfang arbeiten. Inzwischen behauptet er, dass des Jahres ergeben, dass Heer und zehn Prozent der Fotos in der Wehr- Boll Fotos mit Opfern der sowje- machtsausstellung keine Verbrechen der tischen Geheimpolizei NKWD Wehrmacht im juristischen Sinne „bewei- sen“ könnten.

DPA Bis zur vergangenen Woche glaubten * Auf der Pressekonferenz am vergangenen Institutschef Reemtsma* Donnerstag in Hamburg vor angezweifelten Reemtsma und Heer, sich mit Korrekturen „Außerordentlicher Glaubwürdigkeitsverlust“ Fotos der Wehrmachtsausstellung. an der laufenden Ausstellung begnügen

der spiegel 45/1999 107 Deutschland FOTOS: J. MÜLLER ( J. FOTOS: li.); PRESS ( A. KIRCHHOF / ACTION re.) Kritiker Musial, Ausstellungsveranstalter Vogel, Reemtsma, Heer*: Eher amateurhaft in das Projekt hineingestolpert zu können. Institutsdirektor Reemtsma Instituts schickten eine Rechnung über Musial hatte allerdings in der Tat Kon- wollte die Schau unbedingt in den USA 1007,81 Mark und die Aufforderung, inner- takte in die rechte Szene. Der ehemalige zeigen; das war nur möglich, wenn sie halb von 24 Stunden eine Unterlassungs- Solidarno´sƒ-Aktivist, 1985 in die Bundes- in Deutschland nicht zurückgezogen wür- erklärung zu unterschreiben. republik gekommen, zeigt bei seinen Re- de. Zunächst hofften deshalb Mitarbeiter Reemtsma macht heute den Ex-Kom- cherchen wenig ideologische Scheu: „Ich des Hamburger Instituts auf eine Absage munisten Heer für den rabiaten Umgang rede mit jedem. Es kommt darauf an, dass des Ausstellungstermins in Braunschweig; mit kritischen Historikern verantwortlich; die Argumente stichhaltig sind.“ An der das hätte Zeit zur unauffälligen Über- weil es so viele Anwürfe gegen die Aus- umfangreichen Beteiligung der Wehrmacht prüfung gegeben, ohne die US-Reise zu steller gab und man das hausinterne Ver- an Kriegsverbrechen lässt er allerdings kei- gefährden. fahren vereinfachen wollte, konnte Heer nen Zweifel. Aber Reemtsma und Heer sind nicht unmittelbar mit den Anwälten des Insti- Auch Ungváry gibt schon einmal ein In- mehr allein die Herren der Ausstellung; sie tuts agieren. Hinter den Kulissen versuch- terview im rechtsradikalen Blatt „Junge wird inzwischen von einem För- Freiheit“, seine Promotion veröf- derverein betreut, in dessen Kura- fentlicht er in einem rechtslasti- torium der ehemalige SPD-Vorsit- gen Verlag. Für die beiden gebo- zende Hans-Jochen Vogel den renen Osteuropäer, die den real Kurs bestimmt. Auf der erweiter- existierenden Sozialismus selber ten Vorstandssitzung am vergan- noch erlitten haben, steht der genen Mittwoch machte er klar: Feind im Zweifelsfall links. „Der Schaden durch punktuelle Sonntag vorvergangener Wo- Korrekturen ist größer als durch che entschuldigte sich Reemtsma ein Zurückstellen.“ Reemtsma bei Musial für die Klage; drei Tage lenkte sofort ein. Man müsse „al- danach bot er ihm die Mitarbeit les, alles, alles überprüfen“. an der Korrektur der Ausstellung Den schmählichen Rückzug an. Der Deutsch-Pole ist dazu hatten sich die Ausstellungsma- grundsätzlich bereit, obwohl er cher so wenig träumen lassen wie den Verdacht hegt, dass die vielen den unglaublichen Erfolg beim Pu- Fehler kein Zufall sind; sein Arg- blikum. Eher amateurhaft war das wohn richtet sich gegen Heer. Hamburger Institut in das Projekt Dieser verfügt unter Histori- hineingestolpert. Reemtsma hatte kern über keinen guten Ruf. ursprünglich das Thema Wehr- Schon Anfang der siebziger Jahre macht übersehen, als er Jahre zu- fiel er auf eine Fälschung herein,

vor mit Mitarbeitern eine Ausstel- M. AUGUST die deutschen Gewerkschaftsfüh- lung über den Zweiten Weltkrieg Beanstandetes Ausstellungsfoto*: Aus Moskauer Archiven rern unterstellte, vor Hitlers plante. Dann fand man für die Machtantritt mit den Nazis ge- Schau keinen Ausstellungsraum und ver- te die Reemtsma-Truppe, Musial eine kungelt zu haben. Später veröffentlichte zichtete nur deshalb darauf, sie in der klei- Nähe zur Anti-Ausstellungs-Kampagne der er Geständnisse, die der NKWD deutschen nen, eigenen Institutsbibliothek zu zeigen, Rechtsradikalen anzuhängen, was sie heu- Kriegsgefangenen abgepresst hatte; Heer weil sich die Bibliothekarin sträubte, die te bestreitet. hält sie für glaubwürdige Quellen zu den Bücherei zu räumen. Heer stieß 1993 zu Um die Ausstellung legte sich ein anti- Verbrechen der Wehrmacht. der Reemtsma-Truppe. Die Leitung der faschistischer Schutzwall. „Jeder Kritiker Schon in einem Konzeptpapier zur Ausstellung übernahm er, weil er als Ein- riskierte, an den rechtsradikalen Rand ge- Vorbereitung der Ausstellung hatten die ziger der beteiligten Wissenschaftler in drückt zu werden“, erinnerte sich Rolf- Macher in eine Richtung gedacht, die den Hamburg wohnt. Dieter Müller, einer der wenigen Histori- späteren Vorwurf, sie hätten die Wehr- Als Musial seine Vorwürfe erstmals im ker, die sich trotzdem trauten. macht pauschal verurteilen wollen, nicht SPIEGEL publizierte, verwickelte Heer ganz so unsinnig macht: „Zur Debatte ste- den damaligen Doktoranden in einen he“ die Beteiligung des „kleinen Soldaten * Oben: auf der Pressekonferenz in Hamburg am ver- Rechtsstreit über die Frage, ob er auf Mu- gangenen Donnerstag; unten: NKWD-Opfer in Boryslaw an den NS-Verbrechen, seine Rolle als sials Kritik reagiert habe. Anwälte des 1941. arbeitsteiliger Täter, als Handlanger, Mit-

108 der spiegel 45/1999 helfer, Zeuge, Gaffer und auch als Be- vor, Verbrechen mitzurechnen, die nicht Eine Propagandakompanie des Heeres richterstatter“. der Wehrmacht anzulasten sind. Er glaubt druckte die Plakate, mit denen Juden auf- In der Ausstellung haben der Historiker inzwischen sogar, dass die Ausstellung die gefordert wurden, sich in Sammelstellen Heer und seine Mitstreiter Fehler dut- Überprüfung nicht überstehen werde. einzufinden. Die Lastwagen, mit denen zendweise zu verantworten. Bilder über Doch viele seiner Vorwürfe sind unbe- die Opfer in die Schlucht gekarrt wurden, dasselbe Ereignis sind mit unterschiedli- rechtigt. Er moniert Bildlegenden, die stellte die Wehrmacht. Dennoch zählt Babi chen Legenden zu sehen, ein Zitat ist sinn- längst korrigiert sind oder die es nie gege- Jar für Ungváry nicht zu den Verbrechen entstellend geändert worden, Funktions- ben hat; ein Bild hält er auf Grund einer der Wehrmacht, weil kein Landser ge- bezeichnungen sind falsch, Bilderreihen Vergleichsaufnahme für gefälscht, obwohl schossen hat. wurden auseinander gerissen und so zu- gute Indizien dafür sprechen, dass die Ver- Ungváry möchte auch die Debatte sammengesetzt, dass sich daraus ein neu- gleichsaufnahme eine Fälschung ist. Ung- wieder eröffnen, ob nicht Morde der er Sinn lesen lässt. váry will die Verbrechen von russischen Wehrmacht an Zivilisten Teil eines klassi- Heer redet sich damit heraus, dass his- oder ukrainischen Hilfswilligen (Hiwis) aus schen Partisanenkriegs gewesen seien. Mit torische Fotoausstellungen oft fehlerhaft der Ausstellung verbannen, obwohl, wie der Begründung, es handle sich um Parti- seien, weil sich nur selten die Bilder ein- der Historiker Christian Streit moniert, sanen, haben Wehrmachtseinheiten an der deutig zuordnen ließen.Aber die Ostfront Juden und Zigeu- Wehrmachtsausstellung war eine ner zu tausenden getötet. besondere Ausstellung gewor- Doch ob die Erschießung den. Ursprünglich sollte sie zei- von Partisanen vom Kriegs- gen, dass der Krieg im Osten ein recht gedeckt wird, ist um- Vernichtungskrieg war, ohne stritten. Und in der SS galt Vorbild in der Geschichte. Die die Devise: „Wo der Parti- Besucher sahen in ihr stattdessen san ist, ist auch der Jude, eine Dokumentation über die und wo der Jude ist, ist auch Verbrechen der Wehrmacht; die der Partisan.“ In den ersten überwältigend vielen Gräuel- Monaten nach dem deut- fotos wurden zu Zeugen der An- schen Überfall auf die So- klage. Und da zählt jedes Detail. wjetunion diente der Parti- Dafür ist Heer der falsche sanenkrieg als Camouflage Mann.Als Studentenaktivist des für den Holocaust. Erst spä- SDS hatte er in den sechziger ter wurden die Freischärler Jahren die Aufdeckung der NS- zur militärischen Bedro-

Vergangenheit von Größen der MOSKAU DER RUSSISCHEN FÖDERATION GARF / STAATSARCHIV hung für die Wehrmacht – Bundesrepublik ins Visier ge- Ausstellungsfoto mit finnischen Soldaten: Handwerkliche Fehler eine Unterscheidung, die nommen. Ziselieren lernt sich Ungváry nicht vornimmt. bei einer solchen Aufgabe nicht. Im Aus- „kein Wehrmachtsoffizier ein eigenmäch- Trotz aller Vorwürfe und der Zerknir- stellungsband finden sich denn auch Sätze tiges Handeln von Hiwis geduldet hätte“. schung über die Fehler hofft Reemtsma, in wie: Die „Mannschaftsgrade der Wehr- SS und Wehrmacht dividiert Ungváry drei Monaten wieder mit der erneuerten macht unterschieden sich zu diesem Zeit- streng auseinander. Aber oft hat die Abbil- Ausstellung reüssieren zu können. Die punkt (zweite Hälfte 1942 –Red.) nicht dung von SS-Männern in der Wehrmachts- Chancen sind eher gering. Viele Sachver- mehr von der Mentalität der Himmler- ausstellung ihre Berechtigung, beide arbei- halte lassen sich gar nicht in so kurzer Zeit Truppe“; nur mit Mühe konnte Chef teten vielfach Hand in Hand. In der klären, die sechs beteiligten Experten Reemtsma behaupten, aus solchen Formu- Schlucht von Babi Jar bei Kiew wurden am könnten sich noch über manche Details lierungen resultiere kein Generalverdacht 29. und 30. September 1941 von Polizei und zerraufen. gegen alle acht Millionen Wehrmachtssol- SS 33771 Juden ermordet; es war ein Wehr- Der münstersche Historiker Hans-Ul- daten, die an der Ostfront kämpften. machtsgeneral, der das Sonderkommando rich Thamer, ein ausgewiesener Kritiker Wie viele von ihnen an Wehrmachts- 4a um „radikales Vorgehen“ gegen die Ju- in dem Gremium, ist skeptisch: „Ich weiß verbrechen beteiligt waren, ist immer noch den gebeten hatte. Durch Sprengkörper, nicht, ob es gelingen wird“, meint er, „in unbekannt. Kritiker Ungváry rechnet die von Partisanen gelegt, waren hunderte drei Monaten ist das nicht zu machen.“ Zahl eher klein und wirft der Ausstellung deutscher Soldaten zuvor getötet worden. Klaus Wiegrefe ne zwei Jahre ältere Schwester, und an- schließend sich selbst. Fassungslos und schockiert blickt die Re- publik seitdem nach Bad Reichenhall, ei- nen bis dahin beschaulichen Kurort mit rund 17000 Einwohnern nahe Watzmann und Königssee. Dass in Deutschland ein Jugendlicher Amok laufen könnte, war für die meisten Bundesbürger bislang außer- halb jeder Vorstellung. So etwas gab es nur in den USA, wo sich fast jedes Kind eine Schusswaffe besorgen kann. Nun wird im Lande eifrig gestritten und diskutiert.Wie konnte es so weit kommen, dass ein Jugendlicher derart ausrastet? Wie konnte er an die Waffen gelangen? Wie las- sen sich solche Taten künftig verhindern? Die ersten Antworten der Experten und Politiker zeigen vor allem eines: Fast alle sind rat- und hilflos. Kein Wunder – ist doch auch die Tat bei- spiellos. „Noch nie“ sei ihm „ein Jugend- licher begegnet, der zu so einem Gewalt- exzess fähig gewesen wäre“, so Franz Jo- seph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugend- psychiatrie in München. Nicht nur Fachleute erinnert das grau- same Verbrechen an den Amoklauf zwei- er Teenager am 20. April dieses Jahres in Littleton im US-Bundesstaat Colorado. Da- bei hatten der 17-jährige Dylan Klebold und sein ein Jahr älterer Freund Eric Har- ris einen Lehrer und zwölf Mitschüler getö- tet.Anschließend erschossen sie sich selbst. Die Beschreibungen, die überlebende Mitschüler damals von den beiden Amok- läufern gaben, passen zu dem, was ehema- lige Schulkameraden Peyerls heute berich- ten. Auch Martin sei ein eher schüchterner

REUTERS Eigenbrötler gewesen, habe daheim Video- Zerschossenes Klinikfenster, Peyerl-Wohnhaus: „Ausbruch eines Vulkans“

KRIMINALITÄT „Der Martin war immer nett“ Der Amoklauf eines 16-Jährigen in Bad Reichenhall schockt die Republik. Experten rätseln über die Ursachen: War der Täter ein Neonazi – oder einfach nur lebensmüde?

ie Vorstellung im Theater des Kur- selbst Opfer eines brutalen Verbrechens. gastzentrums Bad Reichenhall ver- Getroffen von zwei Kugeln aus einem Re- Dlief ganz nach Plan. Kurz vor Be- volver Colt Phython, Kaliber .357 Mag- ginn der Aufführung musste sich der num, lag der Schauspieler vorigen Montag Hauptdarsteller zwar noch von einem Arzt über eine halbe Stunde lang im eigenen aus dem Publikum eine Spritze geben las- Blut direkt vor dem Städtischen Kranken- sen, weil ihn ein Knie stark schmerzte. haus Bad Reichenhall. Neben ihm seine Doch dann war Günter Lamprecht, 69, Lebensgefährtin Claudia Amm, 57, und nichts mehr anzumerken. Auf der Bühne Fahrer Dieter Duhme, 55, beide ebenfalls spielte er vorvergangenen Sonntagabend schwer verletzt. Lamprecht wollte sich in den „Tatort“-Kommissar Franz Markowitz, der Klinik sein Knie untersuchen lassen. stets auf der Jagd nach skrupellosen Tä- Auf die drei geschossen hatte ein 16-Jähri-

tern, routiniert wie immer. ger, der Lehrling Martin Peyerl. S. KIENER / BILD ZEITUNG Im wirklichen Leben wurde Markowitz Mit weiteren mindestens 16 Schüssen Amokläufer Peyerl alias Lamprecht keine 20 Stunden später tötete Peyerl vier Menschen, darunter sei- Die eigene Schwester hingerichtet

110 der spiegel 45/1999 Deutschland spiele gespielt, die für Jugendliche verboten mögliche Sympathie für rechtsradikales malt. Daneben wurden in der ganzen Woh- seien, erzählt der 15-jährige Michael Gedankengut spielten „keine Rolle“. nung Musik-CDs mit rechtsradikalen Lie- Schandl. „Der Martin war immer nett, ist Helfen bei der Suche nach dem Auslöser dern sowie Gewaltvideos gefunden. nie aufgefallen, hat aber den Kontakt zu für den Amoklauf könnten vor allem Mar- Sofort nach dem Amoklauf verlangten uns abgewiesen“, so seine ehemalige Klas- tins Eltern, die vorigen Freitag erstmals als Politiker aller Couleur erst mal „Konse- senkameradin Stefanie Hocheder. „Ein bis- Zeugen befragt wurden. Ihre Vernehmung quenzen“. Nordrhein-Westfalens Innen- schen rechtsradikal“ sei er zudem gewe- könnte diese Woche fortgesetzt werden. minister Fritz Behrens (SPD) plädierte für sen, will die 16-Jährige bemerkt haben. So Vor allem dem Vater, einem ehemaligen ein strengeres Waffengesetz. Der Chef der habe er beispielsweise Hakenkreuze in sei- Bundeswehrsoldaten, dürfte die Polizei Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spin- ne Mappen und Ordner gemalt. kritische Fragen stellen. In der Wohnung rath, widersprach ihm. Nicht das Gesetz Auch die Traunsteiner Kripo beschreibt fanden die Beamten nach eigenen Angaben müsse verschärft werden, sondern die Po- Peyerl, der im September eine Ausbildung insgesamt 19 Waffen. Drei Waffenbesitz- lizei müsse sich mehr darum kümmern, als Betriebsmechaniker begonnen hatte, karten berechtigten ihn jedoch, so das illegale Waffen aufzuspüren. als „Einzelgänger“, der „sehr zurückgezo- Landratsamt Berchtesgadener Land, ledig- Bayerns Innenminister Günther Beck- gen lebte“. lich dazu, 17 Waffen – 5 Revolver und Pis- stein (CSU) will sein Augenmerk darauf Ihren Ermittlungen zufolge brach der 16- tolen sowie 12 Gewehre – zu führen. richten, dass legal erworbene Waffen siche- Jährige, als er Montagvormittag allein zu Außerdem, heißt es bei der Polizei, seien rer verschlossen werden. Er möchte das Waf- Hause war, offenbar ohne größere Proble- „nicht alle Waffen im Schrank gewesen“. fengesetz so ändern, dass diejenigen Behör- me den Waffenschrank seines Vaters, eines Rudolf Peyerl, gelernter Kfz-Mechani- den, die die Erlaubnis zum Besitz der Waf- leidenschaftlichen Sportschützen, im ker, hatte sich Mitte der siebziger Jahre für fen erteilen, in Zukunft gleichzeitig „Min- Wohnzimmer der Erdgeschosswohnung in zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflich- destanforderungen für die sichere Verwah- der Riedelstraße 12 auf. Martins Eltern, tet. In der Artilleriekaserne Bad Reichen- rung festlegen“ müssen. Bislang gibt es da- Theresia und Rudolf Peyerl, waren zum hall arbeitete er als Unteroffizier in einem für nur Empfehlungen. Das Bundesinnen- Friedhof ins benachbarte Piding gefahren, ministerium Otto Schilys um – Tradition an Allerheiligen – das Grab (SPD) hält dies allerdings der Großmutter zu besuchen. Martin woll- für „einen der üblichen Hau- te nicht mitkommen. Schwester Daniela, ruck-Vorstöße Bayerns“. gelernte Kinderpflegerin, arbeitete im Auch Kriminologen, Psy- Krankenhaus, dessen Eingang keine 50 Me- chologen und Psychiater ta- ter von der Wohnungstür der Peyerls ent- ten sich zunächst schwer, fernt liegt, direkt gegenüber auf der ande- die Ereignisse von Bad Rei- ren Seite der Riedelstraße. chenhall zu erklären und Gegen 12 Uhr mittags kam die Schwester einzuordnen. Zum Teil wi- nach Hause. Was sich dann in der Woh- dersprachen sich ihre Deu- nung abspielte, konnte die Kripo bis Ende tungen. In einem Punkt zu- vergangener Woche nicht klären – sie wird mindest scheinen sich die es vermutlich nie mehr können. Experten aber einig: Der Fest steht, dass Martin anfing, aus zwei Amoklauf des 16-Jährigen Fenstern wild zu schießen. Sechs Kugeln war, wie der Psychiater Lo- aus einem Selbstlade-Gewehr Ruger M-14, thar Adler formuliert, „keine

Kaliber .223, trafen die Nachbarin Ruth FOTOS: BILD ZEITUNG (li.); AP (re.) spontane oder Affekttat“. Zillenbiller, 59, vier ihren Ehemann Horst, Opfer Daniela Peyerl, Lamprecht, Amm: „So ein Gewaltexzess“ Sie sei, urteilt der Ärztli- 60. Beide waren vermutlich sofort tot. Mit che Direktor des thüringi- einem zweiten Gewehr, Kaliber .44-40, traf Wartungstrupp. 1981 meldete Peyerl der schen Landesfachkrankenhauses für Psy- der Junge einen Patienten des Kranken- Polizei, eine Waffe gefunden zu haben. Um chiatrie und Neurologie in Mühlhausen, hauses direkt in den Kopf. Der 54-Jährige diese behalten zu können, beantragte er „sicher lange vorbereitet“ gewesen und le- war nur kurz vor die Kliniktür gegangen, beim zuständigen Landratsamt eine Be- diglich von einem „finalen, vermutlich um eine Zigarette zu rauchen. Er erlag sitzkarte. Sie wurde genehmigt. In den fol- kränkenden Ereignis ausgelöst“ worden. Dienstagabend seinen Verletzungen. genden Jahren schloss sich Peyerl, dem die „Für uns Außenstehende sieht das alles so Als Beamte eines Spezialeinsatzkom- Polizei „Alkoholprobleme“ bescheinigt, wahnsinnig überraschend und plötzlich mandos die Wohnung am Montag gegen insgesamt fünf Schützenvereinen an. aus“, so Adler, der 1993 an der Universität 18 Uhr stürmten, fanden sie den 16-Jähri- Nach seiner Bundeswehrzeit wechselte Göttingen eine der wenigen wissenschaft- gen in der Badewanne. Er hatte sich, so die Peyerl mehrfach den Job. Mal arbeitete er lichen Untersuchungen über Amokläufer Ermittler, mit einer Schrotflinte erschos- als Zugbegleiter bei der Bundesbahn, mal veröffentlichte. „In Wirklichkeit halten wir sen. Zuvor hatte er seine Schwester mit auf der Mülldeponie Bad Reichenhall, mal eine solche Tat vor allem deshalb für plötz- fünf Schüssen – je zwei in Kopf und Brust als Hausmeister bei der Kurverwaltung. Bis lich, weil sie uns zunächst so sinnlos er- sowie einen in den Arm – regelrecht hin- zum Freitag vor der grausigen Tat seines scheint.“ gerichtet. Auch seine Katze hatte Martin Sohnes hatte Peyerl eine befristete Be- Der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz, umgebracht. schäftigung im Feuerwehrerholungsheim vergangene Woche selbst in Bad Reichen- Was den jungen Mann zu dem grausigen St. Florian in Bayerisch Gmain. Zum 31. hall, glaubt, die Kripo könnte sich die Verbrechen bewegte, liegt für die Behörden Oktober hatte man ihm gekündigt. Am Suche nach Martins Motiv sparen: „Das ebenfalls noch im Dunkeln. „Irgendetwas Dienstag voriger Woche sollte er einen werden wir nie erfahren.“ Alles, was sich hat den Vulkan zum Ausbruch gebracht, neuen Job als Hausmeister antreten. sagen lasse, sei, „dass Martin nicht mehr le- und das suchen wir“, so Polizeisprecher Die Kripo interessiert, wie die Eltern ben wollte, aber nicht zu einem ,normalen‘ Fritz Braun. Für den Traunsteiner Ober- dazu stehen, dass die Zimmer ihrer Kinder Selbstmord fähig war“. Deshalb, so Gall- staatsanwalt Wolfgang Giese, der die Er- voll von NS-Devotionalien waren. Unter witz, „musste er am Ende zum ersten Mal mittlungen leitet, ist lediglich „klar, dass anderem hing in Danielas Zimmer ein Hit- in seinem Leben etwas Grandioses veran- das Motiv in der Persönlichkeit des Täters lerbild, Martin hatte am Kopfende seines stalten und mit einem riesigen Feuerwerk liegt“. Alkohol, Drogen oder auch eine Bettes ein Hakenkreuz an die Wand ge- untergehen“. Wolfgang Krach

der spiegel 45/1999 111 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

INTERNET Lifestyle online er elektronische Handel im Internet (E-Commerce), der Dbislang vor allem auf Bücher, CDs und Elektronikartikel be- schränkt war, kommt jetzt auch in der Modebranche in Schwung. Am Mittwoch vergangener Woche ist Boo.com, eine Online-Firma, die Trendklamotten über das Netz vertreibt, in sieben Ländern gleichzeitig gestartet. Die schwedischen Boo- Gründer, Kajsa Leander und Ernst Malmsten, beide 28, haben von Investoren wie Alessandro Benetton, dem französischen LVMH-Chef Bernard Arnault und der US-Bank Goldman Sachs weit über 100 Millionen Dollar bekommen, so wird geschätzt. Nie zuvor hat ein Internet-Start-up in Europa so viel Geld in die Hand genommen. Auch etablierte Textilhändler bauen ihr On- line-Geschäft aus: Mit Apple-Chef Steve Jobs holte sich zum Bei- spiel die US-Kette Gap, seit 1997 mit einem Laden im Internet, einen Softwarespezialisten in den Aufsichtsrat. Hennes & Mauritz, eine der erfolgreichsten Modefirmen Europas, will den Internet-Verkauf vom Heimatland Schweden aus jetzt auch in ganz Skandinavien anbieten, weitere Länder sollen folgen. Nur der Jeanshersteller Levi’s macht einen Rückzieher: Nach Weih- nachten wird sein Online-Verkauf eingestellt. Die Kosten waren zu hoch, und der stationäre Handel ärgerte sich über die Kon- Gap-Internetseite kurrenz aus dem Netz.

SACHSEN-ANHALT HYPO-AFFÄRE maligen Hypo-Vorstände in Erwägung ziehen, sollten diese nicht freiwillig Peinliche Pleite Der Nächste bitte zurücktreten, berichten Insider. Auch die Allianz, die 18 Prozent an der Fu- ach dem Konkurs der mit 200 Mil- as Bundesaufsichtsamt für das Kre- sionsbank hält, wollte sich daraufhin Nlionen Mark subventionierten Alu- Dditwesen überprüft derzeit, ob es nicht die Blöße geben, vier Vorstände miniumhütte Aluhett bei Halle gibt es Joachim Hausser, den Vorstandschef der zu behalten, die womöglich kurz darauf in Sachsen-Anhalt Streit um die Verant- Hypothekenkreditbank (HKB), von sei- von der Bankenaufsicht ihres Amts ent- wortlichkeit. Regierungschef Reinhard nem Amt abberufen muss. Hausser war hoben werden. Hausser ist nun der ein- Höppner hatte 1996 die Rettung des Vorstandsmitglied der ehemaligen Hy- zige noch als Bankvorstand tätige ehe- Werkes zur Chefsache erklärt, dabei pobank, schied aber nach der Übernah- malige Vorstand der Hypobank. aber Warnungen von Strafverfolgern of- me des Instituts durch die Vereinsbank fenbar nicht ernst genommen. Inzwi- aus dem Gremium aus. Seither führt er schen ermittelt die Staatsanwaltschaft die in Hallbergmoos bei München an- Halle gegen acht Manager des Unter- sässige und von der HypoVereinsbank nehmens und den Berliner Pleite-Unter- völlig unabhängige HKB, an der er auch nehmer Valentin Fischer wegen Steuer- persönlich beteiligt ist. Zusammen mit hinterziehung und Subventionsbetrug. allen anderen Ex-Vorständen der Hypo- Noch im Februar dieses Jahres warnte bank verantwortet er jedoch die vor der Landesrechnungshof vor Fischer, zwei Wochen von Sondergutachtern für der offenkundig nur versuche, „sich nichtig erklärte 1997er Bilanz der Hypo persönlich zu sanieren“. Das Schreiben (SPIEGEL 43/1999). Darin sind 3,6 Milli- zitiert ausführlich Rügen des Europäi- arden fauler Immobilienkredite nicht schen Rechnungshofes über „offenkun- ausgewiesen. Nach der Veröffentlichung dige Fehler“ bei der Zuschussvergabe des Gutachtens sind die vier aus der und Subventionen „ohne Vorlage von Hypobank kommenden Vorstände der Rechnungen“ sowie „unklare Gesell- HypoVereinsbank zurückgetreten – und schafts- und Betreiberverhältnisse“. Die zwar auf maßgeblichen Druck des Bun- Staatsanwaltschaft Halle sah dagegen desaufsichtsamtes. Die Bankaufseher bei Vorermittlungen „keinen konkreten hatten dem Vorstand und dem Auf- strafrechtlichen Anfangsverdacht“. Re- sichtsrat des Kreditinstituts sowie den gierungschef Höppner weist deshalb die Betroffenen deutlich zu verstehen gege-

Vorwürfe zurück: Man könne „als Re- ben, dass sie eine Abberufung der ehe- REUTERS gierung ein privates Unternehmen nicht total überwachen“. Ehemalige Hypo-Zentrale

der spiegel 45/1999 Trends

MILLENNIUM Werbung mit Computercrash ürger, Behörden, Banken: Zur BJahrtausendwende und dem befürchteten Computercrash ge- ben sich alle betont gelassen. Nur die Werbewirtschaft ist in heller Aufregung. Bei Maggi etwa soll ein Jahrtausendwenderucksack mit Fertigsuppe und „Nudelspaß“ über die Sylvesternacht helfen – „mit oder ohne Stromausfall“. Ein „Jahrtausend Investment“ ver- spricht die Commerzbank mit ihren neuen Branchenfonds – die Kreditinstitute wollen ihren Kun-

JUMP den die Angst nehmen, durch ei- Frauen beim Aerobic-Kurs nen Computercrash könne ihr Geld verloren gehen. Immerhin je- GESUNDHEIT des siebte Unternehmen will nach Erhebungen der Nürnberger GfK gesondert zum Millennium wer- Fit for Profit ben, obwohl die große Mehrheit der Deutschen die Computerum- usländische Anbieter drängen in den deutschen Fitness-Markt. Neben der südafri- stellung gar nicht fürchtet. Ganz Akanischen Healthland-Gruppe, die bis Ende nächsten Jahres bundesweit 30 neue vorn dabei sind Sekt- und Cham- Studios eröffnen will, plant jetzt auch der britische Gastronomie- und Freizeitkonzern pagner-Marken. Während Deinhard Whitbread eine eigene Studiokette in Deutschland. Die Firma, die unter anderem die die Deutschland-Tournee von Udo Hotelkette Marriott sowie die Steakhäuser der Marken Maredo und Churrasco be- Jürgens („Udo 2000“) sponsert, treibt, war 1995 mit der Übernahme der Studios des früheren Tennisstars David Lloyd werben andere exklusiv im Por- ins boomende Fitness-Business eingestiegen. Deutschland, wo derzeit 4,3 Millionen sche-Magazin. Moët & Chandon Menschen in mehr als 6000 Fitness-Clubs trainieren, gilt den Briten als Wachstumsmarkt: hat rund 300 Millenniumsflaschen In den USA und Großbritannien sind prozentual schon doppelt so viele Menschen Mit- (Preis: 80000 Mark) abgefüllt, will glied in einem Fitness-Club. sie aber überwiegend an Promi- nente verschenken. Versorgungs- engpässe erwartet Kraft Jacobs Suchard zwar nicht. Seinen Um- satz möchte der Lebens- DEUTSCHE BAHN liarden Mark ist nach internen Berechnun- mittelhersteller (Mira- gen der Deutschen Bahn AG nicht mehr coli, Jacobs Krönung) Teure Trasse zu halten. Erhebliche Mehrkosten verteu- durch die vermeint- ern das Prestigeprojekt des Unternehmens liche Syl- ie neue Hochgeschwindigkeitsstrecke um 1,75 auf 9,5 Milliarden Mark. Eine vesterangst Dfür den ICE zwischen Köln und schleppende Planfeststellung, erhebliche trotzdem nach Frankfurt wird später fertig und wesent- Umplanungen, aber auch Nachforderun- Kräften an- lich teurer als zuletzt geplant. Der im Jahr gen der beteiligten Baukonsortien treiben kurbeln. In ei- 1995 ausgehandelte Festpreis von 7,75 Mil- die Kosten zum Beispiel für Brücken und gens pro- Tunnels um 900, für die Fahr- duzierten bahn um 270 und die Fernseh- Streckenausrüstung um 210 spots fordert der Millionen Mark in die Höhe. TV-Komiker Wi- Maggi-Rucksack Nach dem Vertrag von 1995 gald Boning die mit dem Bundesverkehrsmi- Zuschauer zum sofortigen Horten nisterium sind „Kostener- von Lebensmitteln auf. In Humor höhungen und nicht zuwen- versucht sich auch die Pressestelle dungsfähige Maßnahmen“ im der Firma: Nach „Flugzeugabstür- wesentlichen von der Deut- zen über dem Pazifik“, so eine schen Bahn zu tragen. Nach Glosse in der Pressemappe von dem internen Bericht muss Kraft Jacobs Suchard, gingen „in nun die ohnedies gebeutelte Neuseeland die Lichter aus und Bahn deshalb rund 1,4 Milli- wenig später die ersten japani-

J. RÖTTGERS / GRAFFITI RÖTTGERS J. arden Mark mehr ausgeben schen und australischen Kernreak- ICE-Neigezug als geplant. toren hoch“.

114 der spiegel 45/1999 Geld

NEUE MÄRKTE zelne Werte wie Dialog Semiconductor, Centro- 80 tec, Teles oder Pixelpark stiegen innerhalb einer Internet-Phantasie in Japan Woche um mehr als 25 Prozent. Doch die erfolg- reichste Börse für kleine, zukunftsorientierte Un- or sechs Wochen warnte Microsoft-Präsi- ternehmen residiert in Japan. Internet- und Soft- 70 JASDAQ Vdent Steve Ballmer, dass die Aktienkurse ware-Werte ließen den Jasdaq-Index in diesem Tokio der Technologieunternehmen „absurde Höhen“ Jahr um über 200 Prozent steigen. Firmen wie erreicht hätten. Doch nach einem kurzen Zwi- Softbank, Yahoo Japan oder Masternet inspirie- 60 schentief stieg der Aktienindex der amerikani- ren nun auch die Phantasie internationaler Anle- schen Technologiebörse Nasdaq in der vergan- ger. „Japan hinkt der Erschließung und Anwen- genen Woche auf immer neue Rekordwerte. dung des Internet um mehrere Jahre hinterher. 50 Auch der Neue-Markt-Index legte nach den po- Die Aufholjagd hat gerade erst begonnen“, sitiven Vorgaben aus den USA wieder zu. Ein- glaubt Tarek Fadlallah, Analyst von ABN-Amro.

NASDAQ NEUER MARKT 1200 EASDAQ NOUVEAU MARCHÉ 40 3000 New York 4000 Frankfurt Brüssel Paris 1100 2800 1500 2600 3600 1000 1400 2400 3200 30 1300 2200 900 2000 2800 800 1200 1800 1100 Quelle: 1999 19992400 1999700 1999 1999 Datastream Nov. Nov. Nov. Nov. Nov. Nov. Nov. Nov. Nov. Nov.

INVESTMENTFONDS Rentenindex Sparbücher abschaffen? Rex 118 er im Jahr 1980 auf dem Sparbuch zen mit tollen Renditen. Doch kein ein- W1000 Mark angelegt habe, besäße ziger von zehn Fonds der Dresdner heute durch Zinseszins rund 1700 Mark, Bank, die seit mehr als 20 Jahren beste- 116 rechnet Dresdner-Bank-Vorstand Joa- hen, hatte das Ziel bis Ende September chim von Harbou in ganzseitigen Anzei- (siehe Grafik) erreicht. Der Aktienfonds gen vor: „Wäre aber damals das Geld in Concentra, der vor allem in Standard- einen Wertpapierfonds gezahlt worden, werte großer deutscher Unternehmen 114 stünde heute ein Vermögen von 12000 investiert, schaffte es dann im Oktober, Mark zur Verfügung.“ Die Rechnung aber nur knapp. Im Durchschnitt be- gilt gewiss für etliche Fonds, viele glän- trägt der Wertzuwachs dieser zehn 112 Dresdner Bank-Fonds lediglich 7222 Mark. Der 1999 Wertsteigerungen von Dresdner-Bank-Fonds Quelle: Datastream mit einem Sparbuch 110 Was aus einer Anlage von 1000 Mark jährliche vielleicht noch ver- J FMA MJ J A SON im Zeitraum vom 30.9.1979 durchschnittl. bis zum 30.9.1999 geworden ist Rendite gleichbare Deutsche in Prozent Rentenfonds schaffte so- ANLEIHEN Deutscher 4186 7,42 gar nur ein Plus von Rentenfonds 3186 Mark. Mit kleine- Vermögens- Schwache Rentenfonds 4580 7,91 ren Schummeleien Ertrag-Fonds prahlt „die Berater- orsichtige Anleger, die aus Furcht Internationaler 5996 9,37 bank“ (Werbeslogan) Vvor allzu stark schwankenden Akti- Rentenfonds auch in ihrem zweiten enkursen in diesem Jahr auf den Ren- Vermögens- 7718 10,76 Anzeigenmotiv. „Wer tenmarkt geflüchtet sind, gerieten vom Aufbau-Fonds sein Volk liebt, nimmt Regen in die Traufe. Mit steigenden Zin- Transatlanta 8826 11,50 ihm die Sparbücher sen fielen die Kurse der festverzinsli- weg“, legt die Dresdner chen Wertpapiere und damit auch die DIT Fonds für 9265 11,77 Bank mit weiteren Inse- der Rentenfonds. Seit Jahresanfang ver- Vermögensbildung raten nach und emp- loren etwa 30jährige Bundesanleihen Interglobal 9375 11,84 fiehlt ihren Wertpapier- mehr als 12 Prozent, 10-jährige Pfand- fonds DIT-Kapital-Plus. briefe rund 8,5 Prozent. Die Anhebung Thesaurus 9882 12,14 Dieser Fonds schaffte der Leitzinsen durch die Europäische 12,14 seit Jahresanfang 1999 Zentralbank könnte die Bondmärkte Industria 12,49 nur einen Wertzuwachs nun beruhigen, glauben viele Ökono- 10532 12,49 von rund vier Prozent, men, zumal die Teuerungsraten in den Concentra abzuziehen ist lediglich Industriestaaten moderat bleiben. Der 11859 13,16 ein „Ausgabeaufgeld“ – Zinsanstieg sei gestoppt, die Anleihen- Quelle: BVI von drei Prozent. kurse blieben stabil.

der spiegel 45/1999 115 Wirtschaft

LAND- WIRTSCHAFT

aufgedeckte Betrügereien, falsche Abrechnungen FOTOS: GAMMA / STUDIO X ( / LAIF (M.) / REPORTERS CAPPELLEN v. li.); W. 2,6 Milliarden Euro Obst-Vernichtung, Sitz Brüsseler EU-Kommission: „Schwelle des Akzeptablen überschritten“

EUROPA Tatort eines Krimis Der Europäische Rechnungshof enthüllt eine Verschwendung gigantischen Ausmaßes: Fehlgelenkte Subventionen, gefälschte Abrechnungen und eine kaum vorhandene Finanzkontrolle in der EU-Kommission. Milliardensummen wurden willkürlich ausgegeben.

umindest ein Millionenbetrag im π Die EU-Administration schlampe bei π Der Rechnungshof misstraut auch der EU-Haushalt scheint gut investiert: Verträgen und Ausschreibungen, bei Kontenführung in Brüssel: „1998 ist die Zder für den Europäischen Rech- Buchführung und Ausgabenpolitik. „Ein Kommission Verpflichtungen in Höhe nungshof. Drittel aller Auszahlungen sind mit gra- von 522, 7 Millionen Euro ohne Ermäch- Die 545 internationalen Prüfer sind Spür- vierenden Irrtümern behaftet, die Kom- tigung eingegangen. Die Legalität man- hunde, die nach verschwundenen Euros gra- mission schüttet zu hohe Beträge aus. cher Auszahlung ist in Frage gestellt.“ ben. Sie öffnen die Aktenschränke, wo im- Die Häufigkeit der Fehler hat die Schwel- π Viele der Ausgaben bei den eigenen Pro- mer in Europa ein Projekt aus dem Takt le des Akzeptablen überschritten.“ grammen der Kommission mit einem Ge- gerät. Sie fahren auf die Azoren und nach π Die 15 Mitgliedstaaten seien Betrüge- samtbudget von 4,8 Milliarden Euro wa- Lappland, zählen Vieh und Butterberge, in- reien aller Art aufgesessen, bei den Ag- ren „irregulär“, „unbegründet“, „aufge- spizieren die Labyrinthe der EU-Finanzen. rar- und Exportsubventionen (2,6 Milli- blasen“. Und: „Jede zehnte Ausgabe hät- Ihr Blick auf Europa ist der des gestren- arden Euro), bei Zöllen (eine Milliarde te wieder eingetrieben werden müssen.“ gen Kaufmanns. Mit gedrechselter Euro- Euro), aber auch bei der Eintreibung der π Selbst die eigene Wirkungslosigkeit ha- Lyrik und Demonstrationen guter Politi- Mehrwertsteuer hapere es: „Die Kon- ben die Prüfer untersucht. Ihren Re- kerabsichten können die strengen Damen trollen der EU-Mittel in den Mitglied- cherchen zufolge kümmert sich die und Herren wenig anfangen. Die Zah- staaten sind zu schwach, die zuständigen Kommission kaum um jene Schweine- lenmenschen wollen wissen, was es kostet. Stellen zu nachlässig.“ reien, die der Rechnungshof in früheren Mit ihren Augen gesehen ist Brüssel Tat- π Die Kommission führe Schattenhaus- Jahren aufgedeckt hat. ort eines brutalen Krimis: Über 300 Seiten halte, die mit ordnungsgemäßer Buch- π Bei Beratern der Außenhilfsprogramme dick ist der bislang vertrauliche Jahresbe- führung nichts gemein hätten. „Die beispielsweise hätte sie 170 Millionen richt des Europäischen Rechnungshofes, künftigen Pensionszahlungen an Beam- Euro anmahnen müssen, für verschwun- schonungslos legen die Luxemburger Kon- te werden rund 15 Milliarden Euro be- dene Gelder bei der Bosnienhilfe rund 6 trolleure darin die über Jahrzehnte ge- tragen. Diese Beträge müssen aufgeführt Millionen Euro wieder eintreiben kön- wachsenen Systemfehler bloß. Ihre Jah- werden“, mahnt der Rechnungshof. nen. Doch nichts geschah: „Die Kom- resbilanz entlarvt Europa als unfertiges π Die Kommission rechne sich reich, sagen mission zeigt keinerlei Verantwortung Gebilde, das es Betrügern kinderleicht die Prüfer: „Die potenziellen Schulden für die Eintreibung der Gelder.“ macht. Niemals zuvor schlug der Rech- bei den Außenhilfen sind um mindestens Die Europäische Union ist mit ihren 374 nungshof einen derart scharfen Ton an: 2,798 Milliarden unterschätzt.“ Millionen Bürgern und einem Bruttoin-

116 der spiegel 45/1999 EU- KOMMISSION 23344 Beschäftigte, davon 16920 Beamte

Ein Drittel aller ZÖLLE Auszahlungen falsch eine große Zahl der aufgedeckte

Verträge TRANSGLOBE Betrügereien fehlerhaft Zollhafen Rotterdam: „Zu schwache Kontrollen“ 1 Milliarde Euro landsprodukt von 6,6 Billionen Euro zu ei- nen vernichten – damit die Preise nur ja organisation bislang nicht besonders er- ner Weltmacht geworden, nach der Ein- nicht sinken. folgreich gewesen, resümieren die Prüfer. führung des Euro wird sie sich mit dem Diesen Aberwitz zahlen Europas Ver- Schon vor der Vernichtung haben Obst Dollar-Raum messen müssen. Bei Welt- braucher doppelt, denn sie subventionieren und andere landwirtschaftliche Produkte handelsrunden vertritt die europäische auch noch die gesamte Vernichtungs- und die EU-Bürger viele Milliarden gekostet. Quasi-Regierung die Interessen aller Eu- Marktbereinigungsaktion, im vergangenen Rituell kehren in den Berichten des Rech- ropäer.Von der „neuen Zivilmacht“ spricht Jahr mit dem „historischen Maximum“ nungshofes die überhöhten Abrechnungen Außenminister Joschka Fischer im Straß- von rund einer halben Milliarde Euro, wie der Landwirte bei ihren Prämien für burger Europaparlament. der Rechnungshof vermerkt. Fleisch, Milch, Getreide, Obst, Ackerland Doch im Innersten präsentiert sich die Bulldozer und Lkw der regionalen, von und stillgelegte Flächen wieder. Brüsseler Europa-Regierung als schwerfäl- der EU unterstützten Organisationen karren Systematisch geben viele Bauern ganz lige, veraltete Administration. Bis heute, die frische Ware zu Erdgruben, an Brand- offenbar zu hohe Vieh- und Flächenzahlen so viel muss jetzt als gesichert gelten, hat stellen oder Lagerplätze in Südeuropa, wo an, sie kassieren zu Unrecht Milliarden für der Apparat keine effiziente Kontrolle in- sie mit Öl ungenießbar gemacht werden. Olivenöl und Rindfleisch. „Die aufgedeck- stalliert. Versuche, die Früchte besser zu konservie- te Fehlerrate bei den Agrarausgaben ist er- Mit ihrem 82 Milliarden Euro teuren ren oder zu verarbeiten, seien wegen Miss- neut zu hoch“, schreiben die Prüfer. Haushalt bedient die EU-Kommission vor Offenbar stimmt das gesamte Kontroll- allem Lobby- und Interessengruppen. Be- Sprudelnde Euro-Quelle system nicht. Keiner der Kommissare will rauscht vom Gefühl der eigenen Bedeu- sich mit den nationalen Agrarlobbyisten tung kümmert sich keiner der Kommissa- EU-Haushalt 1998; Ausgabenbereiche anlegen – die Bürger der Union zahlen für in Milliarden Euro re, auch das wird jetzt überdeutlich, mit Gesamt: den Schlendrian. Die staatlichen und wirklichem Nachdruck um die verschlun- Sonstiges 82 Milliarden Euro halbstaatlichen Auszahlungsstellen, welche genen Pfade des Geldes. Reserven, die Agrargelder bewilligen und bei der Die Willkür ist regelrecht zum Maßstab Verwaltung Agrarpolitik Agrardirektion in Brüssel danach abrufen, der europäischen Politik geworden. Mit Außenhilfen 5,8 Garantiepreise, Exporterstattung funktionieren als Selbstbedienungsappa- dem größten Posten ihres z. B. Humani- 38,8 rate, so zumindest legt es der Bericht nahe. täre Hilfen, 4,1 Haushalts, den Agrarsubven- Osteuropa 4,9 Ausgerechnet in Niedersachsen, dem tionen in Höhe von 38,8 Milli- 856 Struktur- und Stammland Gerhard Schröders („Die Programme Regionalpolitik 28,4 arden Euro, unterstützt die der Kommission Infrastruktur, Arbeitsplätze verbraten unser Geld“) entdeckten die Union gerade mal fünf Pro- z. B. Forschung, Luxemburger besonders hohe Fehlerra- Bildung, Energie, Binnenmarkt zent ihrer Bevölkerung, die 560 Landwirte. Eins der schillerndsten Bei- 395 Subventionen 1998 nach Ländern pro Kopf in Euro spiele dieser Klientelpolitik 311 285 vollzieht sich jedes Jahr als Ri- 203 199 179 168 157 tual: Im Sommer und Früh- 147 142 132 124 117 herbst, wenn Tomaten, Salate, Pfirsiche und Äpfel überreich- lich auf den Markt kommen, Irland Italien Portugal Spanien Finnland Belgien lässt die Union Millionen Ton- Dänemark FrankreichLuxemburg Österreich Schweden Griechenland NiederlandeDeutschland Großbritannien der spiegel 45/1999 117 ten.Auch in Italien wird mun- viel zu selten und duldeten ter abkassiert: Weil die zu- ein kaum durchschaubares ständigen Stellen die Milch- Wirrwarr. quotenüberschreitungen nicht Manche Maßnahme zur Ar- termingerecht berechneten, beitsplatzförderung sei nichts überwies Brüssel im vergan- als heiße Luft, bemerkt der genen Jahr über 221 Millionen Rechnungshof. Andere EU- Euro zu viel. Gelder fließen in Pleitefirmen. Frankreich zahlte 100 Mil- Mit 27 Millionen Euro förder- lionen Euro an die Bauern zur te Brüssel und mit weiteren 21 Bewältigung der BSE-Krise, Millionen die deutsche öffent- auch das wieder ohne Über- liche Hand ein Projekt namens

sicht, ohne Kontrolle.Wer sich A. FROESE / CARO „fx.center“ auf dem Gelände meldete, kassierte ab. In Spa- Studio-Stadt Babelsberg des Studio Babelsberg. Kurz nien, Irland und Großbritan- nach Eröffnung ging die Be- nien fehlten im Prüfungszeit- treibergesellschaft „Company raum verlässliche Register b“ Pleite. Jetzt wurde die Fir- über die Viehbestände. Grie- ma wegen des Verdachts auf chenland bekam Beihilfen für Subventionsbetrug dem minderwertige Baumwolle, Staatsanwalt gemeldet. für die Berechnung der be- Die letzte EU-Kommission troffenen Baumwollfelder leg- war an dem schlampigen Um- ten die Griechen topografi- gang mit Geld und einem nur sche Karten aus dem Jahr gering ausgeprägten Verant- 1938 zu Grunde. wortungsgefühl gescheitert. Die Pflege der alten, medi- Zwei Sätze lösten in der terranen Kulturlandschaften Nacht vom 15. auf den 16. lässt sich die Gemeinschaft März den historisch einmali- seit jeher etwas kosten. Sie gen Rücktritt einer gesamten unterstützt Olivenbauern und EU-Kommission aus. Ölmühlen, zahlt Prämien für „Die Kommission hat ihre

Bäume, für jeden Liter ge- M. MORITZ Verwaltung nicht unter Kon- pressten Öls, für verkaufte Golfplatz Maria Bildhausen trolle. Es findet sich niemand, Kanister. Allein die Hilfen für Deutsche Subventionsempfänger: Kräftig zugelangt der bereit wäre, Verantwor- den Olivenöl-Export in Dritt- tung zu übernehmen.“ länder waren der Union rund 59 Millionen sonders häufig Besuch von den Kontrolleu- Dieses Fazit zog damals das Experten- Euro wert. ren aus Luxemburg. Obgleich der bayeri- komitee der sogenannten fünf Weisen, ein Doch in Griechenland, Portugal und sche Landesfürst als wortgewaltiger Euro- vom Europäischen Parlament mit einer Un- Spanien kontrollieren die Behörden nur pakritiker hervortritt, zählt sein Land zu tersuchung beauftragtes Gremium. Der schlampig, fand der Rechnungshof heraus. den Brüsseler Großkunden. Bei den Struk- Rechnungshof spürte den damaligen Vor- Die dort abgerechneten Zahlen gelten als turfonds für den ländlichen Raum kassier- würfen ebenfalls nach – und zeichnet ein Produkte blühender Phantasie. Jetzt sollen te das Laptop- und Lederhosenland bislang ähnlich vernichtendes Sittengemälde. die Südländer Millionenbeträge zurück- allein zehn Prozent der EU-Fördermittel. Zumindest die Kommissare regierten zahlen, wünscht sich zumindest der Rech- Mit Brüsseler Gaben förderte die CSU- ganz offenbar wie Feudalfürsten. Der nungshof. Regierung Golfplätze und Kücheneinrich- Rechnungshof fand reihenweise umdatier- In Deutschland profitierten Landwirte tungen. 21000 Mark zahlten die Behörden te Verträge, angefangen bei der Industrie- und Lebensmittelexporteure mit 5,553 Mil- aus diesen EU- und Landesmitteln für den direktion des früheren Kommissars Martin liarden Euro ebenfalls von den „Markstüt- Einbau eines Kachelofens in einen Bau- Bangemann über die Agrardirektion Franz zungen“ und „Ausfuhrerstattungen“. ernhof, für einen Bauerntisch mit Stühlen Fischlers bis zur Forschungsabteilung der Deutschland ist bei den so genannten 12 800 Mark, und für eine Bar mit vier französischen Kommissarin Edith Cresson. Preisgarantien zweitgrößtes Empfänger- Hockern wurden 17390 Mark aus der Steu- „Nicht nur, dass diese Praxis irregulär land der EU, nach Frankreich. erkasse fällig. ist, sie gibt den Partnern der Kommission Deutsche Bauern nehmen natürlich Brüsseler Gelder für die armen Landre- überdies den Eindruck, dass es die Admi- ebenfalls gern am üppig ausgestatteten Prä- gionen wurden auch für ein „Weide-Rin- nistration mit dem Recht nicht so genau miensystem teil. Und auch hier zu Lande der-Festival“ und einen „Gourmet-Tag“ nimmt“, schreiben die Prüfer. wird abkassiert, was irgendwie abzukas- verwendet. Die Prüfer notierten: „Die zur In der Kommission gibt es bis heute kein sieren ist. Landwirte in Mecklenburg-Vor- Verfügung gestellten Belege erwiesen sich einheitliches Aktenzeichensystem, keine pommern beispielsweise sollen bei den An- als wenig überzeugend.“ Vorschriften zur Registrierung von Doku- gaben ihrer Flächen betrogen haben, um Noch weniger glaubt der Rechnungshof menten. Protokolle können in diesem Sys- immerhin 16 Millionen Euro. an die von Politikern oft als segensreich tem mühelos verschwinden, ihr Inhalt, und Auf rund 1,7 Milliarden Euro taxiert der beschriebene Wirkung der Strukturfonds- sei er noch so skandalös, interessiert of- Rechnungshof die Verluste, die durch den so mittel, mit über 28 Milliarden Euro der fenbar niemanden so richtig. genannten Agrarbetrug europaweit ent- zweitgrößte Posten im Etat. Die Fonds sol- Der Rechnungshof mahnt die Politiker, standen sind. Die Rückforderungen wegen len für blühende Landschaften in Europa die derzeit am liebsten über eine Ost-Er- überzogener Marktpreis- und Exporterstat- sorgen, Arbeitsplätze, Infrastruktur und weiterung nachdenken, dieses Projekt zu tungen gibt er mit 862,5 Millionen Euro an. Ökologie fördern. Ihre Reform benötige überdenken – oder „energische“ Refor- Auffällig geworden ist bei den Recher- „einen langen Atem“, schreiben die Prüfer. men einzuleiten: Die Herausforderungen chen auch Edmund Stoibers bayerische Pro- Denn Kommission und Mitgliedsländer der Ost-Erweiterung seien sonst nicht zu vinz. Sie bekam in den letzten Jahren be- kontrollierten die Ausgaben und Belege bewältigen. Sylvia Schreiber

118 der spiegel 45/1999 Werbeseite

Werbeseite grüßungen sind absolut tabu. Fast jeder Besucher hat Bar- geld in großen Mengen dabei. Auch bei der Dresdner Bank, der Commerzbank und der DG-Bank sowie den rund 60 übrigen deutschen Insti- tuten in dem Fürstentum herrscht reger Betrieb. „Zum ersten Mal seit langem haben wir wieder mehr Anfragen von Neukunden“, freut sich der Chef der Luxemburger Niederlassung eines deutschen Kreditinstitutes. Auch sein österreichischer Kollege Peter Fröhlich von der Raiffeisenbank Kleinwalsertal hat Grund zum Frohlocken. „Jahrelang ist deutsches Kapi- tal zurückgeflossen“, erzählt der Kundenberater, „jetzt er- leben wir die Trendumkehr.“

B. BOSTELMANN / ARGUM Die Banker sehen erste In- Deutsche-Bank-Niederlassung in Luxemburg: Wartesaal der Steuerhinterzieher dizien einer neuen Kapital- flucht aus Deutschland und machen den steuerpolitischen Zickzack-Kurs der Bun- STEUERN desregierung dafür verantwortlich. Kapi- tal sei scheu, und die Anleger seien verun- sichert. Deshalb brächten sie ihr Erspartes Gründlich ramponiert in Sicherheit, dorthin, wo sie auf Kapital- erträge keine oder geringere Steuern zah- Die Regierung will die Erbschaftsteuer erhöhen und len. Und wo sie ein strenges Bankgeheim- nis vor deutschen Steuerfahndern schützt. das Bankgeheimnis lockern. Experten Nach einem Jahr hat die rot-grüne Re- sehen erste Anzeichen einer neuen Kapitalflucht. gierung ihr Ansehen gründlich ramponiert. Mehr als zwei Drittel der erschämt blickt der Deutschen trauen ihr nach ei- Mann mit der grellbun- ner Emnid-Umfrage nicht Vten Blümchenkrawatte mehr zu, die Wirtschaft in zu Boden. In der rechten Schwung zu bringen, drei Hand hält er ein Zettelchen Viertel glauben, sie versage mit der Nummer 1264, die lin- bei der Bekämpfung der Ar- ke liegt unauffällig auf einer beitslosigkeit. schwarzen Tasche. Vor allem in der Steuerpo- Am Nachbartisch bekommt litik gerät die Riege von Kanz- ein etwa 70-Jähriger in Woll- ler Gerhard Schröder immer joppe, Typ bayerischer Fami- wieder ins Schlingern. Kaum lienunternehmer, eine Tasse eine Woche vergeht, in der Kaffee serviert. Andere Kun- nicht eine neue steuerpoliti- den des Luxemburger Cafés sche Idee für Unruhe sorgt: tragen Jeans und Anorak, aber π Noch immer ist unklar, auch Designer-Anzüge. Ge- ob, und wenn wie, kleine sprochen wird kaum, trotz des und mittlere Unternehmen großen Andrangs. von der Unternehmensteu- Betrieben wird das Café erreform profitieren. von der Deutschen Bank. Es π Der SPD-Fraktionschef Pe- ist eine Art Wartesaal für Steu- ter Struck will Zinserträge ervermeider und Steuersparer. effektiver belasten. Ständig kommen Privatkun- π Selbst ein Modernisierer denbetreuer und rufen Num- wie NRW-Ministerpräsident mern auf, um dann mit ihren Wolfgang Clement fordert Kunden in den Besprechungs- mittlerweile einen Zugriff zimmern des Geldpalastes zu auf höhere Vermögen. verschwinden. Diskretion ist In dieser Woche wer- Ehrensache, namentliche Be- den Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Finanzmi- SPD-Politiker Eichel, Schröder nister Hans Eichel für neue

Anleger verunsichert AFP / DPA Unruhe an der Steuerfront 120 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft sorgen. Schröder will seinen Widerstand Doch die Lösung birgt auch Risiken für gegen die Umverteilungswünsche der Ge- das Führungsduo: Wenn nur die Wertansät- nossen nun endgültig aufgeben und Ver- ze für Haus- und Grundbesitz erhöht wer- mögen doch höher belasten. den, müssten vor allem die Erben kleiner „Wir führen keine Steuererhöhungsde- Immobilien draufzahlen, was vor allem die batte“, hatte der Regierunschef bislang eigene Klientel hart treffen würde. stets beteuert. Und auch Finanzminister Das wollen Schröder und Eichel ver- Hans Eichel hatte sich gegen die zusätzli- meiden: Als Ausgleich für die höheren che Belastung von Vermögen gestemmt. Wertansätze planen sie nun auch die Doch das Kanzlerwort ist offenbar wertlos. Freibeträge für nächste Verwandte inklusi- Schröder und Eichel haben vor dem lin- ve Patenkinder anzuheben. Deren Erb- ken Flügel ihrer Partei kapituliert. Die schaften bleiben heute bis höchstens zunächst verfolgte und auch von Experten 600 000 Mark steuerfrei. Künftig soll begrüßte Linie in der Finanzpolitik – erst der Freibetrag bei rund 1,5 Millionen Mark die große Steuerreform mit Senkung aller liegen. Tarife, dann im Gegenzug eine härtere Auf vielleicht zwei Milliarden Mark ta- Gangart für Erben und Aktienbesitzer – xieren Eichels Experten die Mehreinnah- wird nun endgültig verlassen. men. Fraglich ist, ob sich die Anhänger ei- ner höheren Vermögens- besteuerung durch diese Maßnahme besänftigen lassen. Traditionsverbun- dene Finanzpolitiker der Fraktion würden lieber kräftiger zulangen. „1998 sind mehr als 270 Milliar- den Mark vererbt wor- den“, sagt ein Spitzen- Sozi. „Es wäre doch schön, wenn wir zehn Prozent davon einsam- meln könnten.“ Schröder und Eichel ahnen, dass sie, bleiben sie bei ihrer eher kosme- tischen Erhöhung, ihrer

B. BOSTELMANN / ARGUM Basis woanders entgegen- DG-Bank-Niederlassung in Luxemburg: Reger Betrieb kommen müssen. Deshalb haben sie sich für ihr Für den Mittwoch dieser Woche hat Treffen am Mittwoch noch ein weiteres Schröder seinen Finanzminister zu sich ins Herzensanliegen der Genossen vorgenom- Kanzleramt geladen. Dann wollen die bei- men: die „gerechte Besteuerung von Zins- den beschließen, wie sie ihre Partei, deren erträgen“. Mehrheit eine soziale Schieflage entdeckt An der hapert es nach Einschätzung vie- hat, wieder beruhigen können. Die Erb- ler Experten. „Kapitalerträge können eher schaftsteuer soll jetzt schon steigen, ohne der Zahlungspflicht entzogen werden als dass beispielsweise der Spitzensteuersatz Arbeits-Einkommen“, klagt SPD-Frak- gleichzeitig nennenswert sinkt. Rechtzeitig tionschef Struck, und zahlreiche Ökono- zum SPD-Parteitag Anfang Dezember wol- men sehen das genauso.Viele Sparer geben len Eichels Ministerialbeamte ein Kon- ihre Zinserträge in der Steuererklärung erst zeptpapier vorlegen. gar nicht an, der Staat hat bisher kaum Zu- Höher belastet werden in Zukunft vor griff auf die Daten. allem Erben von Häusern und Grund- Eichel würde das Problem am liebsten stücken. Die müssen bislang wegen eines durch eine europäische Harmonisierung speziellen Bewertungsverfahrens im lösen. Sollte die auf dem EU-Gipfel in Hel- Schnitt 50 Prozent des Marktwertes an sinki Anfang Dezember wieder scheitern, Erbschaftsteuer bezahlen. Erbt jemand da- wofür vieles spricht, dann wollen Schröder gegen Geld oder Aktien, fällt die Steuer auf und Eichel eine nationale Lösung wagen. den tatsächlichen Wert an. Demnächst, so Eichels Beamte empfehlen eine Locke- sehen es die Planungen der Beamten vor, rung des Bankgeheimnisses. Auf Kontroll- sollen die Ansätze für Immobilien auf rund mitteilungen müssten die Kreditinstitute 80 Prozent steigen. dann künftig die gesamten Zinserträge ih- Die unterschiedliche Behandlung der rer Kunden bei den Finanzbehörden of- Vermögensarten gilt als verfassungswidrig. fenbaren. Bei Fraktionschef Struck („Bild“: Mit der Erhöhung der Erbschaftsteuer er- „Schnüffel-Struck“) stößt das Vorhaben ledigen Schröder und Eichel also gleich auf Beifall. Kontrollmitteilungen seien zwei Probleme: Sie beseitigen einen ver- nötig, „damit man besser an die Zinserträ- fassungsrechtlichen Missstand und kom- ge herankommt“. Christian Reiermann, men ihrer Partei entgegen. Wolfgang Reuter

122 der spiegel 45/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

legt und manchmal auch Preisempfehlungen für je- den Kubikmeter schriftlich hinterlassen: „Nicht unter DM 148 gehen!“ Meistens trafen sich die Mauschler in den Hin- terzimmern abgelegener Landgasthäuser oder Res- taurants, gelegentlich auch im Steigenberger Airport Hotel am Frankfurter Flug- hafen oder im Holiday Inn am Flughafen Hannover. Wie in einem mittelmäßi- gen Krimi wechselten die Abgesandten der Beton- industrie ständig die Orte und Lokale. Doch in der „Branche mit den mafiosen Struktu- ren“ (Knochenhauer) geht es recht kleinbürgerlich zu. Bei ihren konspirativen

J.-P. BOENING / ZENIT J.-P. Treffen zahlte jeder Fir- Anlieferung von Transportbeton: „Eine Branche mit mafiosen Strukturen“ menvertreter sein Essen selbst; die Getränkerech- nung übernahm ein so genannter Obmann. KARTELLE Jedes Vierteljahr stellten die Firmen reih- um einen anderen Obmann. Der musste kein Geld für Schampus aus- Die Beton-Brüder geben. Die Herren, die mit ihrer Kungelei zwischen 1995 und 1998 einen zusätzlichen Aufregung bei den Herstellern von Transportbeton: Das Profit von mindestens 220 Millionen Mark, vermutlich weit mehr einfuhren, geneh- Kartellamt sprengte Mauschelringe, die mit migten sich in der Regel allenfalls Pils illegalen Absprachen überhöhte Preise durchsetzten. und Korn. Es war nicht die erste Garnitur der Be- er fränkische Baustoffzulieferer hat noch, die Summe der Bußgelder wird dann tonindustrie, die klammheimlich und zu- sich eine trickreiche Fahrstuhl- über 300 Millionen Mark liegen – der bis- weilen im Wochentakt in den Hinterzim- Dsteuerung zugelegt. Per Knopf- lang teuerste Verstoß einer Branche gegen mern tagte. Nie trafen die Konzernchefs druck lässt sich eine technische Panne vor- das Wettbewerbsrecht. die illegalen Abmachungen – sie schickten täuschen, der Lift bleibt zwischen dem ers- In der Liste der ertappten Sünder ist of- die Geschäftsführer ihrer Tochtergesell- ten und zweiten Stock stecken. Unliebsa- fenbar jeder vertreten, der in der Branche schaften zu den Treffen, und die Ge- me Besucher können so ein Weilchen auf Rang und Namen hat: Readymix und Hei- schäftsführer delegierten die Aufgabe gern Distanz gehalten werden – Zeit genug für delberger Zement, Dyckerhoff und B-top, an ihre Untergebenen. die Geschäftsführung, sich vorzubereiten. die Tochter des französischen Branchen- Die Hauptbeschäftigung der Kartellmit- Der Spezialschalter für den Lift hat dem riesen Lafarge. Kartellamtspräsident Dieter glieder war die Kontrolle der getroffenen Transportbetonhersteller nicht geholfen, Wolf traf „alte Bekannte“, denn die Firmen Vereinbarungen. Für die Baustellen in der als Beamte des Bundeskartellamts an- sind schon früher wegen illegaler Abspra- Region Halberstadt/Quedlinburg/Werni- rückten: Die Ermittler nehmen grundsätz- chen aufgefallen: „Unsere Freunde von gerode beispielsweise waren die Betonlie- lich immer die Treppe. Den Trick mit damals sind hier wieder komplett vertre- stecken bleibenden Aufzügen kennen sie ten.“ Für Andreas Knochenhauer, der in seit den achtziger Jahren, als sie Chemie- der Behörde unter anderem für die Bauin- konzerne durchsuchten, aber zuvor eine dustrie zuständig ist, sind die erwischten geraume Zeit in Fahrstühlen verbrachten. Kartellbrüder „unsere Stammkunden“. Das fränkische Unternehmen gehört zu Immer wieder sind es dieselben Firmen den vielen Betonlieferanten, denen das mit ähnlichen Methoden: Das letzte defti- Kartellamt unlautere Machenschaften ge Bußgeld – 230 Millionen Mark – war nachgewiesen hat. Fast alle in der Branche Ende der achtziger Jahre fällig. Damals sind betroffen: Die Firmenchefs teilten sich sprengte Knochenhauers Abteilung ein die Märkte auf und kassierten von ihren Kartell der Zementindustrie. Kunden überhöhte Preise. Jetzt traf es die Firmen, die in sta- Vergangene Woche gab die Bonner Wett- tionären Mischanlagen Zement zu Beton bewerbsbehörde das Ergebnis ihrer Raz- verarbeiten und die flüssige Masse auf Spe- zia von Anfang Mai bekannt: 33 Trans- zial-Lastwagen mit rotierenden Behältern

portbetonhersteller müssen Bußgelder von zu den Baustellen bringen. Um die Preise M. DANNENMANN insgesamt 255 Millionen Mark zahlen,Ver- hochzuhalten, hatten die Firmen exakte Kartellamtspräsident Wolf fahren gegen weitere Unternehmen laufen Lieferquoten für regionale Märkte festge- Die Schummler von früher wieder ertappt

124 der spiegel 45/1999 ferungen auf sechs Firmen aufgeteilt. So Kartellamt aufgespürt werden, ist unter durfte die Readymix-Tochter UBN laut anderem auf den ausgeprägten Futterneid Vereinbarung exakt 28,64 Prozent des Be- der Branche zurückzuführen. Zu den tons liefern, die Firma Schwenk bekam mit üblichen Tippgebern, wie sie auch die 18,05 Prozent die zweithöchste Quote. Steuerfahndung kennt – gefeuerte An- Täglich registrierten die Kartellbuchhal- gestellte, verlassene Ehefrauen, eifersüch- ter, wer welche Mengen auf die Baustellen tige Sekretärinnen –, kommen Firmen fuhr. Monat für Monat wurde säuberlich in hinzu, die sich vom Kartell hintergangen Tabellen erfasst, ob einer über oder unter fühlen. der zugeteilten Quote lag. Bei der Schluss- Das ständige Misstrauen führt dazu, dass abrechnung für das vergangene Jahr hatte den Ermittlern immer wieder beweiskräf- UBN in dem sachsen-anhaltinischen Ge- tige Unterlagen in die Hand fallen. Da biet 7764 Kubikmeter mehr geliefert, als wird auf „Objektlisten“ notiert, welcher der Firma laut Quote zustand; Schwenk Bau von welchem Unternehmen beliefert lag mit 5271 Kubikmetern unter der zuge- wird – aus Furcht, ein Konkurrent könnte teilten Quote. vielleicht ein paar Mark billiger eine Lkw- Derart penible Aufzählungen sind ver- Ladung Beton still und leise abladen. Bei ständlich. In der Betonindustrie verfolgt den konspirativen Treffen protokolliert ei- jeder jeden mit abgrundtiefem Misstrau- ner die Absprachen, weil sich vielleicht en: Wer so beharrlich Kunden mit verbo- später ein anderer an beiläufige Details tenen Absprachen schädigt, betrügt auch nicht erinnern will – und die handschrift- seinen Kartellbruder. lichen Notizen liegen noch Jahre später als Schummelei gehört offenbar zu den Gedächtnisstütze in der Schublade. Geschäftsprinzipien der Branche. Um Trotz seiner langjährigen Erfahrungen heimliche Lieferungen aufzuspüren, so mit Zement- und Betonherstellern wun- berichtet ein Insider, werden Spediteure dert sich Bundeskartellamtsdirektor Kno- ausgehorcht, und wenn ein firmeneigener chenhauer immer noch, wie verhältnis- Lkw voll beladen das Werksgelände ver- mäßig einfach sich oft die Mauscheleien lässt, folgt ihm zuweilen möglichst unauf- aufdecken lassen. Seine Leute finden im- fällig ein Auto, um zu sehen, welche mer wieder in Schubladen handschriftli- Baustellen der Lastwagen als nächstes che Notizen und auf den Computer-Fest- ansteuert: „Da wird bis aufs Kilo nachge- platten „von der EDV ausgedruckte Statis- rechnet.“ tiken, Soll- und Ist-Quoten“. Immer wieder wurden die Kontrolleure In den durchsuchten Wohnungen hat das fündig. In Berlin, wo der Wiedervereini- Kartellamt keine Unterlagen über die ille- gungsboom den Betonherstellern die lu- galen Praktiken gefunden – alles lag, peni- krativsten Geschäfte bescherte, erwischte bel festgehalten, in den Büros. Anders als das Kartell gleich neun Mitglieder beim bisher meist üblich, haben dieses Mal die Quotenschummeln. bislang erwischten Firmen die Vorwürfe In den vergangenen Jahren brauchten nicht abgestritten und keine Beschwerden Baufirmen in Berlin jährlich durchschnitt- über die Höhe der Bußgelder eingereicht, lich rund 2,5 Millionen Kubikmeter Trans- sondern ganz schnell Zahlungsbereit- portbeton. Diese Menge wurde auf 29 Fir- schaft erkennen lassen. men aufgeteilt, von Berger (3,46 Prozent Geständnisse mildern die Strafen. Die des gesamten Bedarfs) bis Zemtrans (3,87 Bonner Wettbewerbsbehörde kann das 1,5- Prozent); der Löwenanteil ging, wie so oft, bis 3fache des illegalen Zusatzgewinns ab- an Readymix. schöpfen. Das Kartellamt hat den ertapp- Kartellschnüffler fanden heraus, dass ten Firmen nachgewiesen, dass sie bei min- 1995 vor allem Readymix heimlich mindes- destens 22 Millionen Kubikmetern einen tens 80 000 Kubikmeter zu viel geliefert Sonderprofit von mindestens zehn Mark hatte. „Beschiss“, notierte empört der pro Kubikmeter eingestrichen haben. Die Betonhersteller Roba, eine Tochter des Strafe ist vor allem deshalb schmerzlich, Walter-Konzerns, auf seiner internen Quo- weil die Unternehmen die Gewinne ver- tenliste. steuern mussten, jetzt aber die Bußgelder Dann strafte das Kartell den „Beschiss“ nicht steuermindernd als Betriebsausgabe intern ab: Die Quoten wurden neu ver- absetzen dürfen. teilt. Der Readymix-Anteil in Berlin sank Vielleicht zahlen die Firmen aber auch von 17 auf 11,58 Prozent, bei anderen deshalb so bereitwillig, weil Knochenhau- Schummlern wurde die Quote geringfügi- ers Abteilung vermutlich nur einen kleinen ger heruntergesetzt. Dafür durften von Teil der Mauscheleien aufgedeckt hat: Kar- 1996 an die braven Wettbewerbsverhinde- telle in Berlin, im Raum Chemnitz, bei rer etwas mehr liefern. Den Marktanteil Magdeburg und im südöstlichen Nieder- der Roba beispielsweise setzte das Kartell sachsen. von 2,18 auf 2,58 Prozent hoch. Die Liste Die Razzia in diesem Jahr ist mit Si- mit den neu verteilten Quoten trägt den cherheit nicht die letzte. Und wenn die handschriftlichen Vermerk „Nach Gerech- Kartellamtsbeamten wieder ausschwär- tigkeitsprinzip“. men, werden sie wieder die Mahnung ihres Dass illegale Absprachen besonders häu- Chefs hören: „Benutzt nicht den Fahrstuhl, fig bei Zement- oder Betonherstellern vom nehmt die Treppe.“ Hermann Bott

der spiegel 45/1999 125 ihn an den Akustiker und kassiert für die- se Maßnahme zur „Qualitätssicherung“ eine Gebühr. Das so genannte Hamburger Modell hat schnell Schule gemacht. So entwickelte etwa die Firma Kind Hörgeräte, mit fast 190 Filialen Marktführer in Deutschland, im vergangenen Herbst ein eigenes Modell der „Qualitätssicherung“. Danach kassiert der Onkel Doktor 100 Mark pro Ohr. Geschäftstüchtige Ärzte holen weit mehr heraus. Typisch, wenn auch besonders krass, ist der Fall Junke. Um an Kunden zu kommen, musste der kleine Mittelständler seinen ganzen Gewinn abliefern. Eine Gelsenkirchener HNO-Ärztin kas- sierte von Junke durchschnittlich 10 000 Mark Provisionen pro Monat, ein Kollege von ihr rund 7500 Mark. Bei einem Mo- natsumsatz von gut 40000 Mark konnte Junke die Abgaben nicht lange verkraften. „Das war ruinös“, merkte er bald. Die er- hoffte Umsatzsteigerung war ausgeblieben.

A. HUB / LAIF „Das ist sittenwidrig und ein klarer Ver- Hörgeräteakustiker Junke: „Das war ruinös“ stoß gegen die Berufsordnung“, sagt Jun- kes Anwalt Achim Herbertz. Rund 85000 Hans Dieter Gerland „ist der Umsatz um Mark Provisionen hat der Gelsenkirche- AFFÄREN die Hälfte gesunken“. ner Akustiker an die beiden Ärzte gezahlt, Der Grund der Misere: Viele Ärzte be- die noch weitere 80000 Mark angemahnt Raffkes in Weiß sorgen sich Hörgeräte mittlerweile vom haben. Junke fordert seine bereits gezahl- Versandhandel, denn der lockt mit Provi- ten Provisionen zurück. Gegen alle Standesregeln bessern sionen. Im Widerspruch zu den Standes- Nahezu flächendeckend haben sich die- regeln kassieren die Ärzte ab. se Praktiken ausgebreitet. Die beiden Ver- Ohrenärzte ihr Gehalt Weil das Geschäft mit den Versandhaus- sandhändler auric in Rheine und Sanomed auf. Sie kassieren Provisionen Provisionen so reibungslos läuft, verlan- in Hamburg sind clever, ihre Provisions- für jedes Hörgerät – gen immer mehr Ohrenärzte eine ähnliche modelle haben die Begehrlichkeit der Me- bis zu 300 Mark pro Stück. Gebühr auch von den örtlichen Akus- diziner stimuliert. So wandte sich auric per tikgeschäften. Patienten werden oft nur Rundschreiben an Deutschlands Hals-Na- er Gelsenkirchener Paul-Gregor noch zu solchen Akustikern geschickt, die sen-Ohrenärzte: Das Unternehmen ver- Junke glaubte an „eine gesicherte vorab ihr Einverständnis zur Provisions- sprach „ein interessantes angemessenes DExistenz“, als er 1985 seinen Be- zahlung erklärt haben. Honorar außerhalb des gedeckelten Kran- trieb als Hörgeräteakustiker eröffnete. Notgedrungen lassen sich die meisten kenversicherungs-Budgets“. Schließlich leiden immer mehr Menschen auf die Zahlungen ein. 200 bis 250 Mark Das Oberlandesgericht befand, an Schwerhörigkeit, und die Discos sorgen nimmt der Doktor für das Kassenmodell, dass auric „die Ärzte zu einem gegen be- dafür, dass nach einer Untersuchung der 300 Mark für das teure Hightech-Gerät. rufsrechtliche Vorschriften verstoßenden Universität Gießen schon 60 Prozent der „Eine Lizenz zum Gelddrucken“, beklagt Verhalten auffordert“.Auric hat gegen das 20-Jährigen einen Hörschaden haben. der Hildesheimer Sven Bielenberg die of- Urteil Revision eingelegt. Wer Hörgeräte verkauft, so dachte Jun- fenbar gängige Praxis. Die Krankenkassen haben sich bislang ke, hat einen krisenfesten Job, und anfangs Laut Muster-Berufsordnung ist es Ärzten kaum um das Thema gekümmert. Ihnen lief es auch recht gut. Bald schon beschäf- nicht gestattet, „vom Hersteller oder war es egal, wer mitkassierte. Inzwischen tigte der Akustikermeister vier Mitarbeiter. Händler eine Vergütung oder sonstige wirt- dämmert ihnen, dass ihre Ausgaben stei- Jetzt ist er pleite. Junke hatte nicht mit schaftliche Vergünstigung anzunehmen“. gen, wenn eine medizinische Verordnung der Geschäftstüchtigkeit der Ohrenärzte Daran halten sich jedoch nicht alle, viel- mit einem zusätzlichen „finanziellen An- gerechnet: Bis zu knapp 18000 Mark Pro- leicht sogar die wenigsten. reiz verbunden“ ist, so der Bundesverband visionen musste er ihnen monatlich zahlen. Um den Provisionszahlungen einen le- der Innungskrankenkassen (IKK). Als er nicht mehr spurte, verschwanden galen Anstrich zu geben, schlossen im ver- „Eine Hörgeräteversorgung über den auf wundersame Weise auch die Kunden. gangenen Jahr Hamburger Akustiker ein Arzt“, schrieb der IKK-Vorstandsvorsit- Der Unternehmer aus Gelsenkirchen ist Abkommen mit den Ohrenärzten ihrer zende Rolf Stuppardt vergangenen Monat kein Einzelfall. Den meisten in der Branche Stadt: „HNO-Fachärztliche Qualitätssi- dem Bundesgesundheitsministerium, kön- geht es schlecht. cherung“ nennt sich die Vereinbarung: Der ne „für die Gesetzliche Krankenversiche- Viele gaben auf. Im Sommer schloss Uwe Akustiker schickt den Schwerhörigen zum rung teurer werden als bei dem herkömm- Fiebing seinen Betrieb in Petershagen, sei- Arzt zurück, der dann laut Vereinbarung lichen Versorgungsweg“. Ein Verbot der ne Münchner Kollegin Johanna Vogt mach- „die Qualität der Anpassung und die Qua- Provisionspraxis wird nun diskutiert. te ihre einst florierende Filiale in Rosen- lität des angepassten Hörgeräts“ überprüft Denn auf die Einsicht der Ärzte darf nie- heim ebenfalls dicht. Bei dem Osnabrücker und 120 Mark pro Ohr kassiert. mand hoffen. Die betroffenen Akustiker Der Arzt musste auch schon früher das und ihre Anwälte haben da einschlägige vom Akustiker angepasste Gerät überprü- Erfahrungen gemacht. Anwalt Herbertz: fen – ohne Provision. Jetzt füllt er zusätz- „Die Ärzte haben überhaupt kein Un- lich noch einen Fragebogen aus, schickt rechtsbewusstsein.“ Hermann Bott

126 der spiegel 45/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

nach Dänemark ab. Erst zweieinhalb Jah- re später wurde er auf einem Flug von GELDANLAGE Stuttgart nach Hamburg geschnappt, nach- dem ihn eines seiner Opfer im Flugzeug er- kannt hatte. Im Sommer vergangenen Jah- „Nur Löcher gestopft“ res gab Gärtner eine tränenreiche Vorstel- lung vor dem Landgericht Düsseldorf. „Ich Auf Betrug mit Bankgarantien fielen ein Bürgermeister, eine war nervlich fertig durch die ständige Het- ze, hab nur noch Löcher gestopft“, sagte er Adlige und hunderte weiterer Anleger herein. reumütig. Das Gericht verurteilte den ge- Millionen verschwanden, nun soll eine Bank Schadensersatz zahlen. ständigen Anwalt wegen Betrugs in 129 Fäl- len und einer Schadenssumme sychotherapeutin Gabriele Reda ist von 20 Millionen Mark zu einer von den Therapiesitzungen mit ihrer Freiheitsstrafe von vier Jahren PKlientel gewohnt, dass die Wahrheit und sechs Monaten. oft verschlungene Wege geht. Ihr Beruf hat Strafmildernd wurde gewer- sie auf die Abgründe der Seele vorbereitet. tet, dass „die Geschädigten es Doch den Abgründen des Geschäftslebens dem Angeklagten leicht ge- war sie hilflos ausgeliefert. macht haben, seine betrügeri- Auf einem Esoterikseminar lernte die schen Handlungen zu verwirk- Therapeutin die gebürtige Österreicherin lichen“. Das Geld der Anleger Michele von Neszmely kennen. Die ist großenteils verschwunden. Freundschaft zu der Düsseldorfer Ge- Neben Reda und der Adligen, schäftsfrau blühte auf, als Reda eine Erb- die laut Urteil 1,1 Millionen schaft über 1,3 Millionen Mark machte. Mark vermisst, zählt auch ein Neszmely schwärmte, so erinnert sich prominenter Sportler zum Reda, von tollen Geldanlagen in Luxem- Kreis der Opfer, er ist mit burg, bei denen 80 Prozent Rendite pro 140000 Mark dabei. Monat möglich seien. Bankgarantien wür- Neszmely wurde von den den solche Anlagen zu einem sicheren Düsseldorfer Richtern zwar Geschäft machen. Nur leider hätten Groß- als Vermittlerin von Kredit- anleger diese lukrativen Deals für sich geschäften für Gärtner be- selbst reserviert. Doch sie wusste Rat. zeichnet. Doch die Dame „Weil du meine Freundin bist“, durfte tauchte unter und verzichtete Reda 1992 an dem Geschäft partizipieren auf ihre Zeugenaussage. Reda und 500000 Mark nach Luxemburg über- ist sicher, dass ihre ehemalige weisen. Freundin mit dem betrügeri- Bei der Transaktion lernte Reda den schen Anwalt gemeinsame Sa- Düsseldorfer Anwalt Axel Gärtner kennen, che machte. der als Vizepräsident von Fortuna Düssel- Inzwischen sitzt Neszmely, dorf zu lokalem Ruhm gelangt war und, an- wegen eines anderen Falls, in geblich, „mit den besten Kreisen“ auf gu- Auslieferungshaft in Liechten- tem Fuß stand. Auf dessen Konto bei der stein. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorfer Filiale der BHF-Bank über- Koblenz wirft ihr „Beihilfe zur wies Reda schließlich rund 900000 Mark, Untreue des Horst Armbrust“ nachdem tatsächlich 80 Prozent Gewinn vor. Der war Bürgermeister der in Luxemburg ausgewiesen worden waren baden-württembergischen Ge- und weitere Traumrenditen lockten. meinde Neckarwestheim und

Doch dann verließ die Psychotherapeu- GÜNTHER J. steckte Steuergelder in Höhe tin das Glück. Das Geld verschwand vom BHF-Bankzentrale: Einzig solvente Adresse von 40 Millionen Mark vor al- Konto des Anwalts. Mit Hilfe großzügiger lem in Bankgarantiegeschäfte. Renditeversprechen von vier Prozent pro Der Dorfschultes hatte den Woche hatte Gärtner ein groß angelegtes Einflüsterungen von Anla- Schneeballsystem aufgezogen, bei dem die geberatern getraut, die von frischen Anlagegelder seiner renditehung- „superreichen Grandmasters“ rigen Klienten vor allem dazu dienten, die schwadronierten, die mit Milli- Zinsen der Vorgänger zu zahlen und des ardensummen ständig Riesen- Anwalts aufwendigen Lebensstil zu finan- gewinne machen sollen. Arm- zieren. brust wurde zu achteinhalb Nicht nur Reda, auch Mitglieder der Jahren Gefängnis verurteilt High Society bangten um ihr Geld. Eine und hat mittlerweile schon wie- deutsche Adlige hinterlegte am 25. Juli 1994 der den Singener Senioren- bei der BHF-Bank fünf Überweisungen knast verlassen. von Gärtner. Die Zahlungen könnten „zur Die Gemeinde Neckarwest- Zeit mangels Deckung nicht ausgeführt heim, die durch ein Atomkraft- werden“, teilte ihr die Bank am Tag darauf werk zu viel Geld gekommen H. MÜLLER lakonisch mit. M. WOLTMANN war, sucht immer noch verge- Am 27. Januar 1995, dem Tag der Durch- Betrugsopfer Reda, Betrüger Gärtner bens nach ihren Steuergro- suchung seiner Kanzlei, setzte sich Gärtner Plötzlich war das Geld weg schen. „Die Millionen flossen

128 der spiegel 45/1999 vermutlich über die Schweiz und Liech- tenstein und versiegten dann irgendwo un- auffindbar in den USA“,mutmaßte ein rat- loser Richter. Möglicherweise kann Neszmely Ge- naueres erzählen, wenn Liechtenstein die findige Untersuchungsgefangene endlich ausliefert. Bisher hat sie sich auch gegen- über ihrem Koblenzer Pflichtverteidiger Sven-Ingo Kölzsch nie zu den Vorwürfen geäußert. Jörg Mehler, der Anlageberater des Bür- germeisters, hat Neszmely während seiner Vernehmungen als „treibende Kraft“ hin- ter den Betrügereien bezeichnet. Mehler wurde vom Landgericht Koblenz für schul- dig befunden, fast 600 Anleger um mehr als 60 Millionen Mark betrogen zu haben, und sitzt seit mehreren Jahren ein. Nur das Geld und die Frau im Hinter- grund tauchten erneut nicht auf. Neszme- ly schickte Atteste von Krankenhäusern in Sibirien, dass sie leider bettlägerig sei und zu einer Vernehmung nicht anreisen könne. Tatsächlich war die Dame kernge- sund und zur selben Zeit in London un- terwegs. Nun drohen Neszmely in Koblenz min- destens vier Jahre Haft wegen Betrugs. Doch es wäre ein Wunder, wenn die vielen Millionen noch einmal auftauchen würden. Gärtner, Mehler und die anderen bisher gefassten Ganoven waren plötzlich arm wie Kirchenmäuse. Einzig die BHF-Bank gilt den Opfern als solvente Adresse. Dort hatte Gärtner ein Konto, und dort ging auch Redas Geld aus Luxemburg ein. „Ohne deren Mithilfe hät- te der Betrug nicht funktioniert“, sagt die Psychotherapeutin – sie will die Bank des- halb haftbar machen. Einen ersten Teil- erfolg hat sie bereits erzielt. Die Frankfurter Bank hatte am 17. Mai 1994, gut zwei Wochen vor der Überwei- sung Redas aus Luxemburg, bei der Zen- tralstelle zur Bekämpfung der Organisier- ten Kriminalität eine Verdachtsanzeige we- gen Geldwäsche erstattet. Das Konto ihres Düsseldorfer Kunden Gärtner, so schrieb die BHF-Bank, weise „zahlreiche Beson- derheiten“ auf, „die aus unserer Sicht für das Konto eines Anwalts mehr als un- typisch sind“. Trotzdem war die Bank froh, dass Reda am 3. Juni ihr Geld auf Gärtners Konto überwies, das damals deutlich im Minus war. Dieses Geld stehe der Bank nicht zu, urteilte im Sommer dieses Jahres das Land- gericht Düsseldorf. Es sei davon auszuge- hen, dass die Bank „den Fremdgeldcha- rakter kannte oder zumindest kennen konnte“, heißt es dort. Nach diesem Teil- urteil wurden Reda 550000 Mark plus Zin- sen erstattet. Die Bank will das Urteil anfechten. Schließlich könnten auch andere Geschä- digte auf die Idee kommen, sich bei dem Kreditinstitut schadlos zu halten. Christoph Pauly

der spiegel 45/1999 Wirtschaft

Yello-Zentrale in Köln, Jour fixe im Firmenflur: „Um

nun aus der Yello-Idee, aus diesem virtu- ellen Werbewitz, ein anfassbares Service- Unternehmen zaubern sollen. Und weil sie dafür eine ganze Armada von gelb- schwarzen Dienst-Smarts samt Uniformen bekommen, steht KB intern nur noch für „Kampfbienen“. Im Gegensatz zu den „Heuschrecken“, kleine hungrige Yello-Teams, die von Ende dieser Woche an ausschwärmen sollen, um

FOTOS: DANNENMANN punktuell deutsche Großstädte „gezielt ab- Yello-Chef Zerr: „A bissle Datensalat“ zuvespern“: mit Werbung, Info-Ständen und elektrisierenden Shows. All das klingt nicht nur fröhlich, son- STROMKONZERNE dern auch kriegerisch. Der Wettbewerb der Stromer wird aggressiv geführt: mit Psy- cho-Tricks und Kundeneinschüchterung, Angriff der Kampfbienen mit Werbeschlachten, Unterlassungser- klärungen und Minischarmützeln. In der Nachbarschaft hatten die Yello- Nach einer raffinierten Werbekampagne glaubt heute Leute gerade einen Wegweiser an einen fast jeder, dass Strom gelb ist. Der Erfolg des Strom-Neulings Strommast gehängt. Prompt kam eine Auf- Yello hat nicht nur eine Farbe, sondern auch ein forderung, das Schild wieder abzuhängen. Der Mast gehört dem Kölner Energie-Mul- Gesicht: Michael Zerr, 37, der als Praktikant gestartet ist. ti GEW. Da ist das Gelächter groß beim Jour fixe. er Weg zu Yello ist ein Hindernis- 60000 bekamen am vergangenen Montag Die Cottbusser Yello-Repräsentantin rief lauf. Ein gigantischer Sandhaufen den ersten „gelben“ Strom.Auch wenn bis dagegen weinend in der Zentrale an, weil Dversperrt den Weg zum gläsernen zur letzten Sekunde mit störrischen Stadt- die dortigen Stadtwerke ihre Privatnum- Bürozylinder im Schatten des Kölner TÜV- werken wie dem in Cottbus um die mer herausbekommen hatten und sie am Klotzes. Zwar hängen keine Kabel mehr „Durchleitung“ gefeilscht wurde: Der „D- Telefon drangsalierten. Das ist freier aus den Bürodecken wie noch vor ein paar Day“ war ein Erfolg. Markt. 48 Stunden später hatte sie sich wie- Wochen. Dafür funktionieren die Aufzüge Nun ist Donnerstag, und beim schnell der gefangen und winkte kampflustig mit wieder nicht. anberaumten Jour fixe im Flur um- 14 neuen Kundenverträgen. Das ist Yello. Und wenn man endlich in der Baustelle schwäbelt der Chef erste Erfolgsmeldungen Hier fragt keiner nach Arbeitszeiten des dritten Stocks den Chef sucht, findet seiner Truppe: „Hey, des isch ja besch- oder Mittagspausen. Und wenn es abends man einen gemütlichen Schwaben, der sich tens.“ Wenn einer von „fehlerhafter Kar- wieder spät wird, lässt Zerr vom Pizza- gerade mit einem Akku-Rasierer die Bart- tensortierung“ redet, übersetzt es Zerr mit dienst 20 belegte Pappscheiben kommen. stoppeln stutzt. Auf den ersten Blick sieht „a bissle Datensalat“. Einmal quer durch die Speisekarte, nicht Michael Zerr, 37, wie der Organist eines ge- Und wenn die Marketing-Frau Tülin nur mit gelber Ananas belegt. mischten Kirchenchors aus. Yesilgonca von der bevorstehenden „Eth- Der Yello-Erfolg hat neben einer Far- Auf den zweiten auch. Und für einen no-Kampagne“ für die 2,1 Millionen Tür- be auch drei Väter: Der erste ist Gerhard dritten Blick ist selten Zeit, denn dann ist ken in Deutschland berichtet, rutscht er Goll, Chef des Karlsruher Strom-Gigan- der Geschäftsführer des neuen Strom-Ver- wie ein aufgeregtes Kind herum, das ein ten EnBW, dem früh schwante, was da an markters schon wieder ganz woanders: neues Spielzeug hat.An Zerrs Stuhl zittert freiem Wettbewerb auf ihn und die ande- auch gedanklich. Er liebt die klassische Ant- noch das Etikett. Das Hemd quillt ihm da ren knarzigen Altmonopolisten zukom- wort an den Taxifahrer: „Bringen Sie mich längst wie eine Weißwurst unterm West- men würde. irgendwo hin, ich werde überall gebraucht.“ chen hervor. Der Mann steht unter Hoch- Das war 1995. Und Zerr kam ihm als In nur drei Monaten überzeugte Zerr spannung. Ganz klar. Sparringspartner gerade recht. Der gebür- die Republik davon, dass Strom nicht nur Es geht um Direktvertrieb, Durchlei- tige Heidelberger hatte Jura und Politik günstig oder umweltfreundlich, sondern tungsvereinbarungen, Sponsoring und studiert und ein langweiliges Referenda- vor allem gelb ist. 100 000 Neukunden „KBs“. KBs? Das sind jene Scharen von riat absolviert. Früher gab er als Berufs- ließen sich bei Yello bereits registrieren. schnell eingestellten Kundenbetreuern, die wunsch gern „Bürgermeister“ an. Plötz-

130 der spiegel 45/1999 Die Lage wird langsam unübersichtlich, denn neben gelbem und blauem Strom geht es heute auch um grünen: Das ist der, der nicht nur aus der Steckdose kommt, sondern aus Sonnen-, Wind- und Wasser- kraft.Wie viel davon künftig in Yello steckt, ist noch fraglich. Zerr weiß um die Pläne der Grünen, die für Strom gern eine Kennzeichnungspflicht durchsetzen würden. Er kennt den Ärger mit Verbraucherschützern, die vor den ein- jährigen Yello-Laufzeiten warnen. Und er hat akzeptiert, dass die Kundschaft trotz aller Erfolge nicht so wechselwillig ist wie Strom zu verkaufen, braucht man keine Netz-Ingenieure“ von manchen erhofft. Dennoch diskutiert er noch immer weit lich saß er als angejahrter Praktikant in Das änderte sich erst, als der Düssel- leidenschaftlicher über Jean-Paul Sartre Golls Vorzimmer. „Hänge Se mal Ihr Män- dorfer Werber Bernd Kreutz anfing, sich und Gruppenprozesse, Team-Spirit und tele da auf und komme Se mit“, raunte Gedanken über den Auftritt einer quirli- Visionen als über die völlig ungeklärten Goll. Der Praktikant gehorchte und horch- gen Vertriebs-Tochter zu machen. Vom Regeln auf dem Strom-Markt. Zerrs Ge- te – selbst als Gast bei streng geheimen Namen Yello war man noch Lichtjahre schäftsführer-Kollege Marco Demuth, ein Vorstandssitzungen. entfernt. 21 Monate ist es her, als Kreutz gelernter Kaufmann und Schlosser, wollte Zerr lernte einen Mann kennen, der „so dem EnBW-Vorstand seine ersten Ideen es irgendwann genau wissen.Also sperrten schroff wie lausbubenhaft“ sein könne. Der zeigte. sich die beiden einen ganzen Tag lang mit mitunter Freundschaftsbändchen am Hand- Wochenlang hatte er sich in den Karls- Kaffeekanne und Flip-Chart ein und dis- gelenk trägt und bei einem Betriebsfest ruher Katakomben umgesehen, und das kutierten über Chaostheorie, während schon mal symbolisch eine Stechuhr zer- Schlimmste war, dass er den Geist des pro- draußen die Praxis tobte. schlägt. Man gefiel sich. Und so durfte der vinziell erstarrten Energieriesen haarge- Bei der Donnerstagskonferenz ist die Junge bald als Leiter der Unternehmens- nau widerspiegelte: in silbrigem Schwarz- Controllerin denn auch die Einzige, die entwicklung versuchen, den Konzern um- weiß und mit Sprüchen wie „Gut’s Nächt- sich nicht so recht mitzufreuen scheint. zukrempeln. le, RWE“. Die Entwürfe schwitzten ei- Man ahnt schnell, dass sie in all dem krea- Der Ex-Praktikant war zunächst nicht ne Mischung von Minderwertigkeitskom- tiven Chaos noch nicht den Überblick hat, viel mehr als ein misstrauisch beäugter plexen, Blockwartcharme und Zukunfts- was sich hier eigentlich controllen lässt, Spinner und Außenseiter. Zerr kannte das angst aus. Irgendwann wurde es Zerr zu zumal ihr Chef Führungskräfte eigentlich Gefühl aus seiner Schulzeit, als seine Mit- dumm. Er sagte, dass er in so einem Un- nur als „Hüter des Chaos“ ernst zu neh- schüler ihn wegen des Ruhrpott-Dialekts ternehmen nicht arbeiten wolle, und fing men scheint. Wie viele Mitarbeiter hat ächteten, den er von seiner Essener Mutter an, mit Kreutz und dem eigenen Vorstand Yello mittlerweile? 200? 250? Völlig Wurst, mitbekommen hatte. Damals übte er wo- zu streiten. es werden ohnehin jeden Tag mehr. chenlang vor dem Spiegel Schwäbisch. Nach schier endlosen Grabenkriegen, „Um Strom zu verkaufen, braucht man Aber die Ära der Anpassung war vorbei. Machtkämpfen und Fast-Nervenzusam- keine Netz-Ingenieure“, sagt Zerr und kul- Auch wenn ihm in Karlsruhe nicht viel menbrüchen hatte das Trio Goll, Zerr & tiviert die eigene Ahnungslosigkeit. Von Kreutz Strom nicht nur bil- der Materie seines Produkts versteht er bis lig gemacht (19 Pfennig pro heute eher wenig. Über den Grundkurs bei Kilowattstunde bei einem einer Kollegin kam er nie hinaus. In einer Grundpreis von 19 Mark pro Karlsruher Bahnhofskneipe kritzelte sie Monat). Vor allem war das ihm einst alle notwendigen Details auf eine Unfassbare plötzlich strah- Papierserviette – von der deutschen Ver- lend gelb.Yello war geboren. bundwirtschaft bis zu Watt und Volt. Ohne „w“, weil Kreutz Ang- „Widerstand wird in Ohm gemessen“, lizismen nicht leiden kann. grinst sein Sprecher. „Ach ja, genau“, Einen hohen zweistelli- lacht Zerr. gen Millionenbetrag soll das Für Leute wie diesen gutmütigen mächtige Mutterhaus in den Schlaks bleibt der Weg das Ziel. Und wenn Kreutz-Zug gepumpt haben. das Ziel – 1,3 Millionen Yello-Kunden in Noch erfolgreicher als die den nächsten zwei, drei Jahren – tatsäch- Werbung selbst war das Me- lich erreicht werden sollte? dienecho: In nur vier Wo- Er lächelt und fängt an, von seinem Bru- Yello-Werbung: Die Konkurrenz wurde rot vor Neid chen zählte die gerade erst der zu erzählen, der heute als Architekt in eingestellte Pressestelle 5300 Berlin lebe. Schon als Kind habe der sich mehr blieb, als lustige Plastikenten in dem Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und tagelang mit seinen Bauklötzen beschäf- Wassergraben auszusetzen, der den EnBW- 288 TV-Beiträge. tigt. Ihn selbst habe man dagegen immer Sitz umspült. Die RWE waren zwar Anfang August schnell „von einem Spielzeug zum nächs- Warfen die alten Elektro-Verwalter Zerr als erster Anbieter auf die mediale Bühne ten“ locken können. vor, dass er „sich aus dem Unternehmen geprescht, jedoch völlig farb- und namen- Am Donnerstagabend war die gewaltige träumt“, schluckte er es. Einer raunte ihm los.Als der RWE-Spross Avanza dann kon- Sandkiste vorm Yello-Palast übrigens wie- zu: „Wie gehen Sie damit um, dass 3000 terte, sein Strom sei blau, hatte Zerr die der verschwunden. Die Bagger hatten einen Leute gegen Sie sind?“ So viele Mitarbei- erste Runde bereits gewonnen. Der Rest ersten Schotterweg planiert, der den glä- ter hatte der Konzern damals. Zerr ant- der Konkurrenz färbte sich lediglich rot sernen Eingang endlich passierbar macht. wortete: „Schlecht.“ vor Neid. Zerr fand das fast schade. Thomas Tuma

der spiegel 45/1999 131 Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

FERNSEHEN „Big Brother“ auf RTL 2 achdem sich RTL 2 mit gepierctem NGummi-Kanzler und bumsfidelen Ballermann-Reportagen ein leidensfähi- ges Publikum heranerzogen hat, will der Pfui-TV-Sender nun mit der deutschen Version der holländischen Überwa- chungsshow „Big Brother“ für Quote sor- „Big Brother“-Produktion in Holland gen. Die Luxemburger Bertelsmann-Toch- ter und RTL-2-Miteignerin CLT-Ufa fürchtet aber offenbar Turbulenzen: RTL- 2-Geschäftsführer Josef Andorfer soll nun dafür sorgen, dass die Würde der Kan- didaten geachtet wird und gegebenenfalls Modifikationen erfolgen – so die An- weisung aus Luxemburg. Für die Sendung werden die Kandidaten drei Monate lang in ein Camp gesperrt und rund um die Uhr von Kameras überwacht. Die Show-Fabrik Endemol hat das Format bereits international vermarktet. Hier zu Lande zeigten nicht allzu viele Sender Interesse. „Dieser pure Voyeurismus passt nicht zu unserem Anspruch“, heißt es bei Pro Sieben in München. Auch Sat1 hält das Format für „wirtschaftlich unsinnig“, weil man über einen kurzen Zeitraum nur eine sehr spezielle Zielgruppe erreiche. Die Kosten pro TV-Folge

sollen bei rund 180000 Mark liegen. FOTOS: B. FRIEDLANDER ( kl.) (gr.); / HOLLANDSE HOOGTE FLYMEN C. B. v.

SEXPRESSE TV-AKTIEN Steile Kurven Stars im Börsenboom ie Bauer-Illustrierte „Praline“ ist das erste Medium in Deutschland, omedy-Star Anke Ddas sich selbst durch seinen Internet-Auftritt überflüssig machen CEngelke („Wo- könnte. Während sich die Auflage der Sexpostille seit Jahren im Sinkflug chenshow“) will wie befindet und zuletzt auf ein historisches Tief von 243 386 verkauften Ex- Stefan Raab und ande- emplaren fiel, erfreut sich die Internet-Seite des Sexblatts steigender Be- re TV-Künstler von ei- liebtheit. Im September wur- nem Börsenerfolg der den über fünf Millionen Besu- Brainpool TV profitie- Internet-Nutzung und Heftverkauf che von Nutzern gezählt, die ren. Die Riege teilt sich sich an kostenlosen Angeboten ein Aktienpaket von Besuche bei „Praline 5 wie „Dessous Spezial“ oder fünf Prozent der Köl- interaktiv“ in Millionen, monatlich „Sexy “ delektier- ner Produktionsfirma, 4 ten – im Vorjahresmonat wa- die am 22. November ren es nicht mal eine Million. an die Börse geht und 3 Die Einnahmen für „Praline- ihren Wert auf 200 Mil- Interaktiv“ stammen aus Wer- lionen Mark taxiert. 2 bebannern und zusätzlichen, Über ein Family-and- kostenpflichtigen Diensten. Friends-Programm so- 1 Das Angebot im Internet er- wie Mitarbeiteraktien

stellen nur drei Redakteure; PRESS ACTION können sich die TV- 0 für die darbende Printausgabe Engelke Stars zusätzlich ein- 380 arbeitet eine rund 20-köpfige decken. Über den Redaktion. Der Bauer-Verlag Kurserfolg bestimmen sie selbst: So spielt Anke En- dementiert allerdings Absich- gelke Mitte Januar die Hauptrolle in der neuen Sat- 340 ten, die Print-„Praline“ trotz 1-Serie „Anke“, die dem US-Erfolg „Ally McBeal“ der Auflagenverluste einzustel- nachempfunden ist – eine Fortsetzungsgeschichte 300 len. „Das sind zwei völlig un- mit Comedy-Elementen. Gemeinsam mit Brainpool Quelle: IVW terschiedliche Zielgruppen“, hat Engelke für solche Werke die Produktionsfirma verkaufte „Praline“-Hefte sagt eine Sprecherin – zudem Ladykracher TV GmbH gegründet; auch Raab un- 260 in Tausend sei der Anzeigenumfang im terhält ein solches Joint Venture. Und demnächst Vergleich zum Vorjahr um 21,5 wollen die TV-Größen Bastian Pastewka und Ingo 1997 1998 1999 Prozent gestiegen. Appelt dem Beispiel folgen.

der spiegel 45/1999 133 134 idcimDshbnwrnndavon. wirnun haben Bildschirm.Das schwarzer Wenn nichtsmehrhilft: EntzugderStrickpullover. Waffe: zöge seinewomöglich schärfste tor“, der TV-Rächer von „Moni- Bednarz, undKlaus ping geschrieben werden, ne Gagsab sofort von RudolfSchar- dasssei- Schmidt könnte ankündigen, Harald over undCordhose drohten. der EnthüllungmitRollkragenpull- wenn dieProtagonisten ben werden, und „Strip!“weiter nachobengetrie- quoten von Sendungen wie„Peep!“ Sokönnten dieEinschalt- was lernen. eine kleineirre Sekte“ durchaus et- ser Aktion Marke „Wir sindauchnur können andere Medienvon die- sen, mehr Professionalität walten zulas- einbisschen schon helfen würde, während esbeider„taz“vielleicht Doch Niewieder. bin niewiederlieb. eben meinKonfirmationskleid und dannzerschneideich Gut, droht: aber auchge- wird geplärrt, wollen, nicht schonwiedereinEiskaufen diederKleinen Seit esMamisgibt, die Welt istsogemein! ätsch, UUrrgghh, Grass zuersetzen. glückte Weltbilderrätsel von Günter Zeichners Tom durch grafisch verun- beliebten Comicsdeshauseigenen die maldroht manan, den –klirr!–, welt-Redakteurs zertrümmert wer- mitdembösen Hämmerchen einesfrustriertenUm- Mädels, & Jungs bundesweit verstreuten Alpha-Müs- falls die Lesern mitSelbstamputation, für Woche droht sieihren treuesten Woche vor demUntergang befindet. diesichwiedereinmalkurz („taz“), praktiziert dielinke „Tageszeitung“ gleich älteste–Methodeder Welt Dieneueste–undzu- gungsarbeit. reicht dasweite Feld derÜberzeu- kolonne biszumInternet-Marketing Von dereinfachen Drücker- setzen. unwillige Kunden unterDruckzu zunächst immer wiederneueIdeen, I Medien und Marktkommunikation gibtes PR- n unserer Welt der Werbung, Die Welt istgemein te derrotgrünen das Allerheiligs- soll einSolardach, mal ten –bäh!–, keine Überschrif- ten: Malgibtes Abos ordern soll- reichender Zahl fix undinaus- ganz lis nichtganz,

FOTOS: AKG (re. o.); FOTEX ( li. u. ); BPK (re. u.) wie diemittelständischeKölner die– Besonders solcheProduzenten, mit historischenStoffen einstellen. DPA D Gulliver-Verfilmung (1995) Queen Victoria (um1897) 26 28 30 32 34 36 Angaben inProzent;Zuschauervon14bis49Jahren Marktanteile vonComedy-Sendungen Geschichten ausderGeschichte 24. Sept. Pro 22.20Uhr Sieben, montags Total TV RTL, 21.45Uhr freitags Ritas Welt RTL, 22.15Uhr freitags 7 Tage –7Köpfe muss sichaufimmermehrMovies er deutscheFernsehzuschauer der spiegel der spiegel .Ot15.Okt 1. Okt 45/1999 „Rosinen-Bomber“ (1948) Napoleon (Gemälde, 1805) 27,6 29. Okt 31,9 34,8 PROJEKTE W Geschäft mitGeschichtenausderGe- verlegen sichauf dasinternationale tragsproduktion überwindenwollen, Abhängigkeit von inländischer Auf- FFP-Entertainment –dieallzugroße Carrell in„7 Tage –7Köpfe“ blödeln, anschließend Jochen BusseundRudi chen Dumpfbacken niedermachtund hat esdieKonkurrenz schwer: Frei- a s outg dieComedy hat an tag istJokustag, Blödeln ohneEnde diesem Tag dieMachtübernom- permarktschlampe diemännli- enn aufRTL Gaby Köster alsSu- auf Pro Sieben. Drittel derJungen sehenihn lingt diesamMontag:Fast ein Stefan Raab („TV Total“) ge- bei denjüngeren Zuschauern. men underzielthoheQuoten sche TV k TV sche diese Werke sollen insdeut- Alle Helena. neurs von St. rigen Tochter desGouver- Empereurs mitderneugie- Kontakte desverbannten tet werden: Esgeht um die teiligung von FFPverwurs- Auch Napoleon sollmitBe- Zeit derBerliner Blockade. Armee-Colonel ausder und einemverheirateten schen einerUS-Journalistin ren Liebesgeschichte zwi- Albert undaneinerweite- Victoria und ihrem Mann Lovestory zwischenQueen ander Gullivers Reisen, ner neuen Verfilmung von Historien-Projekten: anei- mehreren internationalen beteiligt sichgleichan Pilcher-Filmen bekannt, des ZDFmitRosamunde- imInlandalsLieferant FFP, Noah“ aufRTL beweist. wie derErfolg von „Arche das Spielmitdem Alten, auch dieDeutschenmögen und besonders gefragt, seien historischeMiniserien Dort vor allemindenUSA. ting-Mann Gerd Koechlin zurück siehtFFP-Marke- die Beliebtheit desBlicks DenGrundfür schichte. QUOTEN ommen. Fernsehen

für Cobra 11“, „Der Vorschau Clown“) drehte einen handfesten, vor allem halb- Einschalten wegs verständlichen Aben- teuerfilm mit einem Bon- Dinosaurier (1) nie-und-Clyde-Pärchen Donnerstag, 20.15 Uhr, Pro Sieben (Yvonne de Bark, Sven Die Saurier werden immer traulicher: Martinek), feuerroten Mussten sie bei Steven Spielberg Action-Szenen und sogar („Jurassic Park“) noch einem Hauch von Witz: als Monster herhalten, Bevor ein Gangster einen so stellt sie diese durch Kumpel liquidiert, ent- und durch computer- schuldigt er sich: „Das ist animierte, 18 Millionen nicht persönlich gemeint.“ Mark teure BBC-Serie als Tiere vor, die jeder Bienzle und Safaribesucher antref- die blinde Wut fen kann (SPIEGEL Sonntag, 20.15 Uhr, ARD 43/1999). Das Filmteam Der Spätzle-Sherlock- machte auf fünf Konti- Holmes (Dietz Werner Dino nenten Aufnahmen von Steck) hat schon seit meh- Landschaften, die de- reren Folgen Kummer mit nen der Dino-Zeit ähnlich sein könn- seiner Freundin (Rita Rus- ten. Zeitlupenaufnahmen vom Gang De Bark, Martinek in „Der Träumer …“ sek). Bienzle, der sonst so realer Nashörner und Elefanten wur- professionell die Mörder den studiert, um die Computer-Urvie- Der Träumer und das wilde Mädchen jagt, vermag die Trennung nicht zu cher möglichst echt schreiten zu – Hetzjagd durch Deutschland überwinden. Auch diesmal steht die lassen. Ein bisschen pervers: Der mo- Sonntag, 20.15 Uhr, RTL unaufgeräumte Beziehungskiste in- derne Mensch überschlägt sich nicht So hyperhysterisch, wie der Titel dieses mitten der sehenswerten Ermittlungen gerade für die Erhaltung der leben- Films androht, ist das Movie zum Glück (Buch: Felix Huby, Regie: Hartmut den Tiere. Nur am Computer herrscht nicht. Das Action-Concept-Team um Griesmayr), die der Kommissar in der Ehrfurcht vor den Geschöpfen. Stunt-Spezialist Hermann Joha („Alarm schwäbischen Provinz führt.

Ausschalten

Frei wie die Vögel gelände hausen, der könnte meinen, die gen der Jungsiedler („Schmutzfin- Montag, 22.35 Uhr, West III Flower-Power-Schauerzeiten des Hippie- ken“) zu Protokoll geben. Wie das Sie rühren die Bongotrommeln und tums seien noch nicht gut abgehangene Wohnwagenleben im Winter vor sich lassen am Lagerfeuer den Joint krei- Vergangenheit. Besonders der Psycho- geht, wie interne Schwierigkeiten sen. Wer den Film von Arnd Güttge- sprech vom „Offenerwerden“, der den aussehen und wie die sanitären Pro- manns über junge Menschen sieht, Wohnwäglern über die Lippen geht, er- bleme (kein Wasseranschluss) bewäl- die in der Nähe von Darmstadt in innert an die holde alte Lockenzeit. tigt werden – darüber schweigt des Wohnwagen auf städtischem Wald- Freilich gilt die im Titel dieser Doku be- Autors Freundlichkeit. schworene Freiheit nicht für den Autor, Schrei – denn ich werde dich töten! der sich vor nostalgi- Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL scher Verklärung hü- Die Steigerung von Thriller heißt ten sollte. Er wäre nicht am Schrillsten. Genau das aber verpflichtet, über die betreibt dieser Gruselfilm (Buch: Kai Schattenseiten des ju- Meyer, Regie: Robert Sigl). Schüler gendlichen Zigeuner- bereiten des Nachts in ihrer düsteren lebens zu berichten, Penne einen Abiturstreich vor. Da von denen es in den wird im Kartenraum mächtig mit Ta- Statements reichlich schenlampen herumgefunzelt. Zu- Andeutungen gibt. gleich meuchelt der große Unbekann- Stattdessen malt der te mit einer Schere Schüler nieder. Ist Film lieber im naiven der Mörder ein Irrer, ein Pauker oder Schwarzweiß und bie- der Gärtner? Eigentlich egal: Denn tet dickwanstige bei so übertriebenem Willen zum Schrebergärtner auf, Schrecken stirbt die Spannung. Selbst die über die Zäune ih- eine so begabte Darstellerin wie Ka- rer Parzellen garten- tharina Wackernagel („Tanja“) geht in Darmstädter Wohnwagenbewohner zwergige Verdammun- dem Blut- und Budenzauber unter.

der spiegel 45/1999 135 Medien

BOULEVARD-PRESSE „Wir müssen den Zoo füllen“ Eine neue Generation von Klatschreportern kämpft mit den Widrigkeiten des Geschäfts: Was einst eine anspielungsreiche Lektüre war, ist unter dem Konkurrenzdruck der Medien zur Massenware verkommen – Boulevard banal.

ruft sie einen „neuen Befruchtungstrend in neuen Parfums. Selbst Börsenemissionen Deutschland“ aus. Auch die Freunde ora- oder der Geburtstag eines Privatsenders ler Details kommen bei der ausgebildeten werden als glamouröse Events vermarktet. Zahnärztin auf ihre Kosten: Im Falle des Die Zeit der wilden Partys ist vorbei – TV-Komikers Hape Kerkeling diagnosti- bei denen irgendwann die Hälfte der Gäs- zierte sie ein „riesiges Loch hinter dem teschar im Pool landete und massenhaft linken Eckzahn“, in Boris Beckers Mund- „Girls von der Sorte Super-Knacker“ als höhle sah sie gar „das Zäpfchen schwingen „Spielknabenfutter mit der Concorde her- – dingdong!“ beigechartert“ wurden, wie einst Michael Die Klatschkolumne als Comic-Ersatz Graeter notierte. voll drollig-harmloser Episoden: „Ich will Graeter war einer der großen in der die Leute anpieken, aber nicht so, dass sie Klatschreporter-Szene, der in seiner Hoch- bluten“, sagt Katja Keßler. „Es bringt ja Zeit vom bloßen Chronisten selbst zum nichts, wenn ich mir mit dem Flammen- Star der Society wurde, in dessen gut be- werfer eine Bresche brenne.“ suchtem Café so mancher Promi um üble

E. HERBST Auch bei der Münchner „Abendzei- „Abendzeitung“-Reporter Hächler tung“ – für die einst der legendäre Klatsch- Als Mann fürs Pikante annonciert reporter Hannes Obermaier alias „Hun- ter“ die Schwabinger „Langusten-Liga“ n diesem Abend lässt sich der Mann observierte – operiert seit kurzem eine aus den Bergen nicht aus der Fas- neue Kraft. In Anzeigen wurde den Lesern Asung bringen. Nicht mal von der Boris Hächler als Mann fürs Pikante an- „Bild“-Reporterin, die sich im Hinterzim- nonciert, der sich auf den Partys weniger mer einer Fernseh-Show redlich darum um das Auf- als das Unter-dem-Tisch küm- bemüht. mern soll. Wann er das letzte mal beim Friseur ge- Von derartiger Respektlosigkeit jedoch wesen sei, will sie von Reinhold Messner ist bislang wenig zu spüren. Stattdessen wissen, welches Shampoo er in seine „Pe- outete sich der ehemalige Sport-Reporter trus-Mähne“ reibe und warum seine Hän- als Frauenfreund, der sich auf der Wiesn an de so sauber sind. „Ich hätte gedacht, dass den tief ausgeschnittenen Dirndln ergötzt Menschen, die Dinge tun wie Sie, schmut- und die „unerreichbare Diva“ Sophia Lo- zigere Fingernägel haben“, sagt sie – aber ren im Exklusiv-Interview um „das Ge- anstatt zu antworten, starrt ihr Messner heimnis ihrer Schönheit“ bittet. „Wenn nur abwesend ins Dekolleté. man frisch dabei ist, gibt man den Leuten Viel dürfte der „Bild“-Leser also nicht eben nicht gleich auf die Kappe“, sagt über den prominenten Bergsteiger erfah- Hächler. ren – außer, dass ihm der Name seines Eine neue Generation von Pragmatikern Haarwaschmittels entfallen ist, woraus sich drängt in die Klatschspalten – und ihr Be- immerhin eine kleine Geschichte über die ruf hat mit dem Glamour-Job vergangener Nebenwirkung dünner Luft stricken ließe. Tage nur noch wenig zu tun. Schließlich hofft man bei „Bild“, mit einem „Aus Angst vor Sozialneid oder gar Ent- gehörigen Schuss gaga die Klatschkolumne führungen wird heute lieber hinter ver- auf der letzten Seite neu zu beleben. Dafür schlossenen Türen gefeiert – oder eben gar hat man seit wenigen Wochen eine Frau nicht“, klagt Marie Waldburg, Gesell- abgestellt, die sich in der Vergangenheit zu schaftskolumnistin der „Bunten“ und zu- hunderten von Titelseiten-Pin-ups zotige vor jahrelang für die „Abendzeitung“ an Prosa ausdachte: „Bimmel bammel, jetzt der Feten-Front. „Viele Veranstaltungen kann der Förster kommen.“ finden nur noch statt, weil die Leute für ihr Semantisch nicht unähnlich füllt die Produkt trommeln wollen.“ „Miezen-Dichterin“ („Zeit“) nun täglich Tatsächlich besteht das Gros der Termi- ihre Kolumne. Mal ortet sie in den Armen ne mittlerweile aus PR-Nummern wie eines Adligen „Frischfleisch“, dann wieder Filmpremieren oder der Einführung eines

* Mit Jenny Elvers (2. v. l.), Heiner Lauterbach, Helmut „Bunte“-Kolumnistin Waldburg (r.), Partygäste* Dietl, Birgit Stein beim Deutschen Filmball im Januar. Wenig Salz, viel Suppe

136 der spiegel 45/1999 Nachrede bat. Dem Regisseur Helmut Dietl tungen zur Super-Gaudi um, bei der die diente Graeter sogar als Vorbild für die Stimmung wieder mal „blendend“ war, Fernsehserie „Kir Royal“ – was ihn aber „der Wodka-Lemon gut gemixt“ („Gala“) nicht davor bewahrte, vor zwei Jahren von und die mitternächtliche „Gulaschsuppe der „Bunten“ vor die Tür gesetzt zu wer- heiß begehrt“ („Bunte“). Dabei fällt die den, weil er seine Party-Dossiers nicht re- Stimmung immer öfter auf den Nullpunkt, digieren lassen wollte. Der eitle Graeter weil sich auf mancher Party genauso viele witterte „Enteierung“ und klagte. Journalisten wie Gäste einfinden und Es scheint, als habe er seine Funktion stramm aneinander vorbeireden. „Was hat überschätzt.Aus seinem immer mal wieder sich bei dir optisch getan“, fragte neulich angekündigten Comeback – ob nun im eine Zeitungsreporterin die verdutzte Fernsehen oder im Internet – ist bislang Schauspielerin Sonja Kirchberger.Antwort: nichts geworden, und vielleicht hat das so- „Ich war beim Friseur.“ Soso. gar sein Gutes. Schließlich schwant ihm, Alles wird gebraucht, um die Spalten zu dass der Berufsstand schon bessere Tage füllen. So weiß „Bild“-Frau Keßler von düs-

sah: „Selbst die Windsors sind inzwischen E. HERBST teren Tagen zu berichten, an denen der vertrocknet.“ „Bild“-Klatschreporterin Keßler Schlagersänger Jürgen Drews am Telefon Auch sonst haben sich die Arbeitsbedin- „Immer größere Mistkugeln“ schildert, wie sich seine Freundin im Sex- gungen für die Nachfolger von Baby Schim- shop die Brustwarzen versengt hat, oder merlos verschärft. Weil keine Zeitung auf leuten auf ihn, um die menschelnde Geste der Freund von Susan Stahnke berichtet, ihren Gesellschaftsteil verzichten will, kein in Ton und Bild festzuhalten. dass es eigentlich nichts zu berichten gibt – buntes Blatt ohne „Leute“-Rubrik erscheint „Der Bedarf an Prominenz ist enorm ge- außer, dass man noch nicht wisse, wie man und im Fernsehen etliche Starmagazine um stiegen“, sagt die Ex-„Bunte“-Chefin Bea- Silvester verbringen werde. „Doch selbst Zuschauer buhlen, ist das Gerangel um jede te Wedekind – um all die Seiten zu füllen, wenn man die Mistkugel immer größer noch so kleine Sottise riesengroß. Als der werde jede Mini-Story zur Schlagzeile hoch- dreht, bleibt es Mist“, erkannte Keßler. ehemalige Wimbledon-Gewinner Michael gejazzt. „Früher war der Klatsch das Salz in Da die wirklich Wichtigen hinten und Stich auf dem diesjährigen Sport-Presseball der Suppe, heute ist es nur noch Suppe.“ vorne nicht reichen, werden die Naddels eine Kerze entflammte, stürzte sich ein Aus reinem Selbsterhaltungstrieb dieser Welt rückstandslos verwertet: Erst ganzer Tross aus Fotografen und Kamera- schreibt die Branche öde PR-Veranstal- tauchen sie in „Bild“, „Gala“ oder „Bun- S. BRAUER Medien

te“ auf, später landen sie nackt bei „Play- boy“ oder „Max“, schlussendlich winkt eine Karriere als Talkshow-Dauergast oder Moderatorin bei RTL 2. Der Promi-Macher „Weil sich die Leute, die was zu sagen haben, zurückziehen, sucht man sich halt Unterhaltungschef Manfred Meier entscheidet, wer in der „Bild“- die, die jeden Schmarrn mitmachen“, sagt Zeitung gut wegkommt – und wer nicht. „Bunte“-Reporterin Waldburg. Den schrul- ligen Schneider Rudolph Moshammer zum ngefangen hat alles beim Italie- kleiner Runde schon mal einräumt, Beispiel, der auf Geheiß der Fotografen ner. Manfred Meier saß gerade „dass Verona wie ein Picasso ist, Nad- sein Schoßhündchen apportiert und ab- Amit Mario Adorf beim Wein, als del dagegen wie ein selbstgemaltes busselt. ihn eine „Bild“-Reporterin anrief und Bild“. „Die Latte für das gesellschaftliche En- erzählte, dass der Schlagerproduzent Ein bisschen Dealen gehört zum Ge- tree wird immer niedriger gehängt, aber Dieter Bohlen seine Ehefrau verprü- schäft, weswegen es Meier auch fast mit irgendwelchen Leuten müssen wir den gelt habe. Das sei, erinnert sich Meier, lächerlich findet, sich für seine guten Zoo ja füllen“, klagt eine Reporterin des „eine Art Watergate“ gewesen – „da Beziehungen zu den Promis rechtferti- RTL-Magazins „Exklusiv“, dessen Front- denkt man in Dimensionen von wo- gen zu müssen. Zum Schauspieler Hei- frau Frauke Ludowig längst selbst zum Me- chenlangen Schlagzeilen“. ner Lauterbach etwa, mit dem er schon diendarling geworden ist. Es wurden Jahre. Lückenlos doku- im Sandkasten spielte, später an den Erschwert wird der Job auch durch die mentiert der Unterhaltungschef von Frauen herumbaggerte und dem er vor Klagefreudigkeit der Promis, für die findi- „Bild“ seitdem Verona Feldbuschs Auf- ge Anwälte jede Zeile auf juri- stieg von der geprügelten Ex-Miss- stische Relevanz abklopfen. zur kultverdächtigen TV-Mo- Kein Wunder, dass die Verlags- deratorin – zuletzt mit dem erschöp- herren verstärkt darauf achten, fenden Abdruck eines „geheimen Ta- dass ihre Angestellten nicht zu gebuchs“. „Ohne ,Bild‘ gäbe es Verona übermütig werden. „Wir haben schon gar nicht mehr“, staunt Dieter die Möglichkeit, auf Partys in Bohlen. Unterhaltungschef Meier der ganzen Welt zu gehen, da räumt immerhin ein, dass sie ohne das können wir es uns ruhig mit ein Blatt „wohl kein so großer Star“ ge- paar Leuten verscherzen“, hat- worden wäre. te der „Gala“-Reporter Tom Doch nun ist erst mal Schluss mit Junkersdorf bei seinem Dienst- Verona, schließlich war die Tagebuch- antritt vor einem Jahr forsch Nummer nicht gerade ein durchschla- getönt und zum Beweis gleich

gender Erfolg, und außerdem nerven R. FROMMANN / LAIF die „Bambi“-Verleihung des Meier die Gerüchte. Obwohl: „Auch „Bild“-Stratege Meier: Watergate beim Wein Burda-Verlages als „ganz schön wenn es an den Haaren herbeigezogen zähen Braten“ verrissen. ist – es gibt schlimmeres, als dass einem vier Jahren – nachdem er bei „Bild“ Nach Verstimmungen auf höchster Ebe- ein Verhältnis mit Verona Feldbusch Unterhaltungschef geworden war – ne gilt Junkersdorf inzwischen als domes- nachgesagt wird.“ androhte: „Jetzt kommen die ganzen tiziert. Nun lobt er nicht nur fremde Feste, Macht macht halt sexy, und mächtig Enthüllungen über dich.“ Was natür- sondern besonders schön die eigenen. So ist Meier: Jeden Tag entscheidet der lich nur ein Spaß war. durfte anlässlich eines Gesangswettbe- Promi-Macher der Nation, wer zwölf Weniger spaßig finden es allerdings werbs im beschaulichen Gütersloh fast die Millionen „Bild“-Lesern als Star ver- manche, dass Meier zuweilen die Ent- komplette Bertelsmann-Führungsriege auf kauft wird und wer nicht. Auch den hüllungen anderer Kollegen aus dem einer Doppelseite durchs konzerneigene Schlagersänger brachte er Blatt wirft. So liegt in der Chefredak- Blatt marschieren. Auch bei Burdas „Bun- mit einer solchen Penetranz auf die Ti- tion seit zwei Jahren ein böser Brief te“ wird ein schlichtes „Focus“-Fest gern telseite, dass es plötzlich wirklich wich- von Manuela Waalkes, der geschiede- mal zum Top-Event hochgejauchzt. tig war, ob „dieser Mann für Deutsch- nen Frau des Komikers Otto, in dem Immerhin hält sich die „Bunte“ noch land singen darf“ oder nicht. sie sich darüber beklagt, dass ein In- den Klatsch-Dino Paul Sahner, der seine Meier entscheidet auch, wer in die terview mit ihr nicht erschienen ist – Gesprächspartner stets mit einer Rechts- Liste der „20 erotischsten Frauen der ein Interview, in dem der von „Bild“ links-Kombination aus Kumpeltum und Welt“ kommt, die „Bild“ neulich wie heiß geliebte „Ostfriesen-Blödel“ nicht Psychoanalyse überrumpelt. Zuletzt bohr- einen Countdown herunterzählte und allzu gut wegkam und das dem dama- te er solange bei Steffi Grafs Exfreund, bis die vor allem ein Kriterium kannte – ligen Chefredakteur Claus Larass viel- die Illustriertenseite mit Tragisch-Komi- Meiers persönlichen Geschmack. leicht gerade deshalb gefiel. Stimmt, schem gefüllt war. „Die meisten freuen sich Mit einer Ausnahme: Ungefähr bei sagt Meier, das habe er aus dem Blatt direkt, wenn sie mal jemand richtig ins Ge- Nummer zwölf meldete sich Dieter geworfen – „weil es eine Ansammlung bet nimmt“, wundert sich Sahner über die Bohlen und fragte nach, ob denn seine von Un- und Halbwahrheiten war“. lasche Konkurrenz. Lebensgefährtin Naddel gar nicht mehr Denn Otto kennt Meier mindestens Die kümmert es zuweilen nicht mal, ob in der Liste auftauche. Das aber wäre so gut wie Lauterbach oder Verona – jemand schon tot ist. So glaubte „Abend- schade, schließlich habe die gerade vom Florida-Urlaub oder von durch- zeitung“-Reporter Hächler bei der Verlei- ein „Playboy“-Shooting absolviert, und zechten Nächten auf Sylt. Im nächsten hung des bayerischen Fernsehpreises den die Bilder könne „Bild“ gern vorab Otto-Film hat Meier gar eine Nebenrol- verstorbenen Schauspieler Siegfried Lo- verbreiten. „Die Fotos waren wirklich le – „um mal zu sehen, wie das hinter witz erkannt zu haben. Die nekrophilen ganz gut“, sagt Meier, obwohl er in den Kulissen ist“. Oliver Gehrs Zeilen erreichten allerdings nur wenige Le- ser – in der Spätausgabe waren sie ver- schwunden. Oliver Gehrs

138 der spiegel 45/1999 Werbeseite

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JOURNALISTEN „Die Streitkultur ist unterentwickelt“ Das Moderatoren-Duo Bodo Hauser und Ulrich Kienzle (ZDF) über politischen Journalismus, die Tricks der Parteien und das Ende von „Frontal“

Politiker aussuchen, wo sie hingehen. Sie wählen Sendungen, in denen sie es leicht haben und nicht aggressiv gefragt werden. Hauser: Wir planen derzeit ein „Kreuz- feuer“-Interview, in dem gezielt Politiker befragen. Schießen wir volles Rohr, müssen wir diesen Teil eventuell wie- der aufgeben, weil keine Gesprächspart- ner mehr kommen. Schon heute haben wir öfter als früher Absagen von der Regie- rung, etwa von Scharping und Riester. Kienzle: Zur bayerischen Bau- und Ban- kenaffäre haben wir auch nur den politi- schen Stuntman von Stoiber bekommen, den Staatskanzleichef Huber. SPIEGEL: Woher kommt der Wandel des Politischen im deutschen Fernsehen? Kienzle: Aus den USA. Präsident Clinton war der erste, der Journalisten bewusst ge- mieden hat. Seinen ersten Wahlkampf führte er fast ausschließlich über Talk- shows. Das hat verblüffend gut funktio- niert – die Fragen dort konnte er leicht pa- rieren. In Deutschland hat Hans Meiser in den Wahlkämpfen 1994 und 1998 solche

ACTION PRESS ACTION Talkshows auf RTL hoffähig gemacht. TV-Jounalisten Kienzle, Hauser: „Wir erleben eine gewisse Plattierung“ Hauser: Die Streitkultur ist hier zu Lande unterentwickelt – wir haben nicht gelernt, SPIEGEL: Was gibt’s Neues, Hauser? Hauser: Im Gegenteil – der Unterschied in der Sache hart zu diskutieren, ohne dass Hauser: Wir wundern uns, dass die Mel- kommt immer stärker heraus. Das Schlech- wir verfeindet auseinander gehen. dung über das Ende unserer Sendung im teste, was uns beiden passieren kann, wäre Kienzle: Die Politiker haben früher auf böse Dezember 2000 Wellen schlägt.Wir haben eine Große Koalition. Fragen spontan wütend geantwortet, etwa immer gesagt, wenn Kienzle in Pension SPIEGEL: „Frontal“ etablierte eine neue als der damalige CSU-Chef Franz Josef geht, ist Schluss. Fernsehform, den gesendeten Dauerkon- Strauß 1972 die „Monitor“-Interviewer Kienzle: Das steht seit 64 Jahren fest. Man flikt zweier Streithähne, die das letzte Wort Claus-Hinrich Casdorff und Rudolf Roh- soll aufhören, wenn es am Schönsten ist. und den besten Gag für sich reklamieren. linger minutenlang als „miese Verlierer“ SPIEGEL: Dann hätten Sie das 1993 gestar- Dabei sind alle Dialoge vorgeschrieben. von der SPD beschimpfte. Das hatte hohen tete Magazin „Frontal“ vielleicht schon Hauser: Na und? Das geht aus fernseh- Unterhaltungswert. Inzwischen antworten längst aufgeben sollen – die Einschaltquo- technischen Gründen gar nicht anders. Die die Politiker kurz und nur, was sie wollen. ten sind seit einiger Zeit gesunken. n-tv-Moderatoren Erich Böhme und Heinz Hauser: Es gibt eine neue Politikergenera- Kienzle: Früher hatten wir zwischen vier Eggert wollen es live mit einem lustigen tion, wie man an Kohl und Schröder sieht. und fünf Millionen Zuschauer, heute Zwiegespräch besser machen – und ver- Wenn beim jetzigen Kanzler eine harte zwischen drei und vier Millionen. Aber stören die Zuschauer damit jede Woche. Frage kommt, nimmt er die weich weg. Da das geht allen politischen TV-Magazinen Kienzle: Die Geschichte lebt davon, dass wäre Kohl hochgegangen und hätte den In- so, die Landschaft ist zersplittert ge- die Pointe sitzt und die Kamera es mitbe- terviewer beleidigt. worden. kommt. Wir sitzen Stunden vor der Sen- SPIEGEL: Bestimmen also PR-Profis im Hin- Hauser: Heute nennt sich jede Sendung mit dung mit dem Autor Stephan Reichenber- tergrund die politische Tagesordnung? mehr als zwei Beiträgen Magazin. Wir er- ger zusammen und schreiben die Texte. Hauser: Ja, und trotz der vielen Spin doc- leben eine gewisse Plattierung. Ohne ihn gebe es „Frontal“ nicht mehr, er tors können Fehler passieren, etwa als SPIEGEL: Ist nicht auch das Links-Rechts- ist bei unseren Streitereien der Katalysator. Schröder nach der unappetitlichen Gum- Schema der Doppelmoderation antiquiert SPIEGEL: Politiker sind heute vor allem in mipuppensatire im RTL-2-Sexmagazin – der rote Kienzle kritisiert die Schwarzen, Talkshows präsent, etwa bei Sabine Chris- „Peep“ persönlich protestierte. Mit solchen der schwarze Hauser immer die Roten? tiansen in der ARD. Nehmen Ihnen die Bockigkeiten verhindert er doch nichts. Kienzle: Zu behaupten, es gäbe keinen Un- Talkmaster die Arbeit ab? Kienzle: Das ist symptomatisch – es werden terschied mehr zwischen links und rechts, Kienzle: Die Christianisierung des TV- Jour- keine harten Fragen mehr gestellt, sondern halte ich für Quatsch. nalismus hat dazu geführt, dass sich die man trifft Politiker mit der Gummipuppe.

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Werbeseite Die Standards sind durcheinan- Hauser: Du bist nur neidisch auf der gekommen. Gerhard Konzelmann, weil er SPIEGEL: Gibt es eine Degenera- mehr Bücher verkauft hat. tion der politischen Kultur im Kienzle: Quatsch.Aber wenn ei- Fernsehen? ner im Heizungskeller des Süd- Hauser: Es gibt Mangelerschei- deutschen Rundfunks steht und nungen. Früher habe ich die Vor- dabei angeblich von einem Öl- stellung gehabt, dass Politik von tanker mit den Worten „Unter erfahrenen Leuten bewertet mir schwimmen 300 000 Liter wird. In den USA ist daher im Öl“ berichtet, hat das mit Jour- Nachrichtengeschäft kaum je- nalismus wenig zu tun. mand unter 50. In Deutschland SPIEGEL: Was halten Sie von der aber hat man den Eindruck, es Machart traditioneller Polit-Ma-

dürften Personen im Fernsehen DPA gazine? Immerhin wollten Sie kommentieren, die gerade der Talk-Masterin Illner: „Am Anfang zu viel gefragt“ den „Sektenjournalismus“ auf- Volontärsschulung entsprungen brechen. sind. Immer mehr Leuten auf dem Bild- SPIEGEL: Dafür hat diese Sendung einen Kienzle: Na ja, das bezog sich eher auf Ger- schirm fehlt die Glaubwürdigkeit – die Sen- Riesen-TV-Skandal hervorgebracht – etli- hard Löwenthal, der mit seinem „ZDF-Ma- derchefs meinen, 30-jährige TV-Journalisten che gefälschte Filme des Produzenten gazin“ in den Siebzigern eine Zuschauer- würden 30-jährige Zuschauer anlocken. Michael Born liefen dort. quote von fünf Prozent erreichte – das war SPIEGEL: Wie stark hat die Einführung des Hauser: Dieser Fall, den wir enttarnt damals eine Kunst.Wir wollen sowohl Lin- Privatfernsehens die Landschaft der poli- hatten, hat für eine Art hygienische ke als auch Rechte ansprechen. tischen Magazine verändert? Säuberung gesorgt. Heute sind alle Hauser: Löwenthal hat auch Zeiten hoher Kienzle: Von den Privaten ist beschämend vorsichtiger: Die vielen freien Produkti- Quoten erlebt. Er war halt im ZDF das Ge- wenig gekommen. Als der Springer-Verlag onsfirmen können mit harter, aufwendi- genstück zu „Kennzeichen D“ mit Hanns bei „Newsmaker“ auf Sat 1 Susan Stahnke ger Recherche nun mal kein Geld ver- Werner Schwarze. Heute gilt, dass ein zur Moderatorin machte, hat sich die Sen- dienen. Moderator nicht nur mit erhobenem Zei- dung als politisches Magazin verabschie- Kienzle: Solche Affären gab es schon vor gefinger am Pult sitzen darf. Der Vorteil un- det. Frau Stahnke ist ein Meinungsmanne- dem Privat-TV. Ich hatte als Nahost-Kor- serer Kombination ist, das wir Sachen sa- quin und keine gestandene Journalistin. respondent der ARD einen Vorgänger, der gen können, die jedem von uns als Hauser: Oder nehmen Sie Jauch: Der hat sich in den siebziger Jahren ein Märchen- Einzelmoderator nicht erlaubt würden. aus „Stern-TV“ eine Talkshow gemacht, reich aufgebaut hatte. So etwas ging jah- Da stünde ich permanent vor dem Fern- das ist doch kein Magazin mehr. relang in der ARD durch. sehrat. Kienzle: „Monitor“ mit Klaus Kienzle: Es geht um politische Bednarz halte ich beispielswei- Analysen zu Persönlichkeiten, se für sehr glaubwürdig. Die ha- denen wir aus lauter Boshaftig- ben nicht viel geändert, machen keit jeweils ein Rezept zuord- gute Stücke und schlagen zu. nen, etwa zu Lafontaine „Sal- Von „Report München“ dage- timbocca – Spring in den gen wird man nie erleben, dass Bund“. In dem Werk zeigen wir sie kritisch mit der CSU umge- die Rehabilitation des Knob- hen. Und „Panorama“ mit Pa- lauchs, ein bei den Nazis ver- tricia Schlesinger beweist, dass hasstes jüdisches Gewürz. Die Frauen im politischen Journalis- 68er haben aus Protest das mus etwas erreichen können. Knoblauchbrot erfunden. Hauser: Es spricht der Macho Hauser: Ich habe geahnt, dass die

Kienzle. DPA 68er etwas erreicht haben. Kienzle: Der aufgeklärte Macho, Talk-Masterin Christiansen, Gast*: Wunschsendung von Politikern SPIEGEL: Herr Kienzle, Sie ver- Hauser, das unterscheidet uns. kündeten einst: „Ich habe den SPIEGEL: Ist auch ZDF-Moderatorin May- chern. Worin besteht der Sinn, Fernseh- libanesischen Bürgerkrieg überlebt, ich brit Illner – sie hat wochenlang Kienzle Dialoge einfach abzudrucken? werde auch Hauser überleben.“ Haben Sie bei „Frontal“ ersetzt – ein Erfolgsbei- Hauser: Wir haben uns dagegen ausge- Schäden erlitten? spiel? sprochen, aber der Verlag wollte es so. Ich Kienzle: Ganz ohne Schaden komme ich Hauser: Sie ist eine nette Kollegin. Zu- frage mich auch, wer das kauft, es sind aber aus der Sache nicht raus. nächst hat sie in ihrer neuen Talkshow dennoch viele. Hauser: Es gab Verletzungen. Einmal ist „Berlin Mitte“ zu viel gefragt – im Bestre- Kienzle: Solange die Leute das lieben, ist es Kienzle vor der Sendung mit dem Auto ab- ben, besser als Christiansen zu sein. Ihr in Ordnung. Ich glaube, wir haben einen gehauen. Ich habe ihn mit dem alten Weh- „Frontal“-Einsatz hat aber auch gezeigt, bestimmten Stil etabliert. Neulich begrüß- ner-Spruch zurückgelockt: „Wer rausgeht, dass unser Modell mit Kienzles Pensionie- te mich jemand auf der Straße mit den muss auch wieder reinkommen.“ rung definitiv zu Ende ist. Ich musste mit Worten: „Mein Kollege und ich streiten Kienzle: „Frontal“ wird ein einmaliges Ex- ihr ganz anders reden als mit Kienzle, aber uns wie Hauser und Kienzle.“ periment bleiben. Dauerhaft kann eine sol- sie hat es gut gemacht. SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch „Küchen- che Redaktion schwer funktionieren, weil Kienzle: Die konntest du nicht so anranzen kabinett“ vermengen Sie sogar Kochen mit zu unterschiedliche Meinungen aufeinan- wie mich. Politik. der prallen. Ehrlich gesagt: Wir sind erfolg- SPIEGEL: Parallel zur TV-Karriere haben reich gescheitert. Sie Ihr Rezept vermarktet, etwa in Bü- * Mit Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine am 10. Oktober. Interview: Oliver Gehrs, Hans-Jürgen Jakobs Werbeseite

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„echtes menschliches Drama“ voller roher Gefühle. Wenn alles planmäßig weitergeht, will er das Stück von Mark und seinen Frauen demnächst auf die Bildschirme von ein paar Millionen amerikani- schen Haushalten abstrahlen. Das nächtliche Techtelmech- tel und ähnliche Darbietungen sollen eine neue Fernsehserie füllen: „Cheaters“, ein Detek- tiv-Magazin über Ehebruch, heimliche Flirts und verbote- nen Sex. Die Sendung ist die neue- ste Kreation im Land des un- begrenzten Fernsehvoyeuris- mus, in dem es eigentlich alles schon zu geben schien: kaum ein Eheproblem, das nicht sei- ne eigene Talkshow hatte, kaum ein Schluchzer, der nicht von einer Nachrichtenkamera aufgezeichnet wurde. Nun

DALLAS MORNING NEWS DALLAS sollen auch noch die letzten Schauspieler Habeeb, Anwalt Goldstein: „Wir erheben den Zuschauer zum Allwissenden“ Grenzen des Privaten fallen: Goldstein, 42 Jahre alt, will den Ehebruch zum Entertainment machen. REALITY-TV Wie sehr solche Szenen die Zuschauer zu fesseln vermögen, zeigt das Beispiel des Schauspielers Hugh Grant, der weltweit für Eifersucht als Entertainment Schlagzeiten sorgte, als er mit der Prostitu- ierten Divine Brown in Los Angeles er- Neues TV-Spektakel aus Amerika: Ein Scheidungsanwalt jagt wischt und verhaftet wurde. Dem Advoka- ten Goldstein dämmerte es vor einigen Jah- Ehebrecher, mit Detektiven und versteckter Kamera. ren während eines Seitensprungs. Er habe Die turbulenten Turtelszenen sollen Millionen begeistern. panische Angst bekommen, so erzählt er, dass seine Frau plötzlich zur Tür hereinstürme. s ist Nacht über dem einsamen Park- vor allem eines aufzeichnen wird: eine Nun redet der bullige Texaner davon, platz am Rand der texanischen Groß- mächtige Tirade von Schimpfworten. wie es ist, selbst ein Jäger zu sein, „wie ein Estadt Dallas. Mark und seine neue Denn mittlerweile ist Marks Ehefrau wildes Tier, das eine Herde Gazellen Freundin haben es sich auf der Vorderbank herangestürmt, Mutter von vier gemeinsa- treibt“. Dazu hat sich der Mann, der seine ihres Chrysler-Kombis gemütlich gemacht, men Kindern. Sie reißt die Wagentür auf Erfahrung in zwischenmenschlichen Be- sie haben erkennbar Spaß. So viel, dass und beginnt mit ihrer Abrechnung: „Sechs ziehungen als Scheidungsanwalt sammelte, der Wagen mächtig ins Schaukeln gerät. Jahre lang habe ich dir Hurensohn meinen eine schräge Mixtur aus Spielfilm und Rea- Plötzlich ist es vorbei mit dem Vergnü- Arsch hingehalten, jede Nacht“, brüllt sie lität erdacht. Die Requisiten dafür könnten gen. Scheinwerfer leuchten auf, schwarz in das Wageninnere, „und nun treibst du es aus einem schlechten Krimi stammen. gekleidete Männer springen heran.Auf den mit dieser Schlampe.“ Der Rächer der Gehörnten ist Detektiv Schultern tragen sie Kameras, mit ihren Solche Szenen sind eine „wunderbare Tommy Gunn, gespielt von Goldsteins Linsen zoomen sie durch die Scheiben. Ei- Erfahrung“, findet der texanische Anwalt Partner, dem Schauspieler Tommy Habeeb. ner stopft ein Mikrofon durchs halb geöff- Bobby Goldstein, dessen Mannschaft die Gunn raucht Marlboro, trinkt Jack Daniels nete Fenster, das in den nächsten Minuten nächtliche Begegnung aufgezeichnet hat: und prescht mit einem schwarzen Ford FOTOS: B. GOLDSTEIN FOTOS: „Detektiv“ Gunn interviewt betrogene Ehefrau Der Ehemann trifft sich mit seiner Geliebten Die betrogene Ehefrau konfrontiert ihren Mann „Cheaters“-Demonstrationsband: „Wie ein wildes Tier, das eine Herde Gazellen treibt“

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Mustang unermüdlich durch das quadra- Schon vor der ersten Ausstrahlung ist in tische Straßengeflecht von Dallas. Sein Ar- US-Talkshows eine heftige Debatte um das beitstag beginnt immer dann, wenn die neue Format entbrannt. Während Gold- anderen ins Bett gehen: Dann jagt er die stein sich als Künstler versteht, ein Maler, Herzensbrecher dieser Welt. „der mit den Farben des Lebens malt“, Gunn ist eine Fiktion, seine Aufträge halten ihn andere für einen Alptraum der sind real. Jeder, der sich von einem Partner späten neunziger Jahre. „Dies ist die nied- hintergangen fühlt, kann in der Cheaters- rigste Form von Fernsehen, die jemals in Zentrale anrufen. Ein Team von richtigen diesem Land produziert wurde“, entrüstet Detektiven übernimmt den Fall, oft sind es sich eine Briefschreiberin im Internet. Ex-Polizisten. Sie spüren den Ehebrechern Amerikanische TV-Manager zögern nach und nutzen dafür, was der Markt an noch. Seit sie von empörten Eltern zu Überwachungstechnik Mitverantwortlichen für zu bieten hat: getarnte Schießereien an Schu- Kameras, Infrarotfilme, len erklärt werden, versteckte Mikrofone. sind sie vorsichtiger ge- Wenn alles aufge- worden. zeichnet ist, kommt es Erst im Frühjahr hatte zum „Bust“, dem Höhe- ein Gericht die Veran- punkt des Dramas: Der stalter der „Jenny Jones betrogene Partner stellt Show“, berüchtigt für den Sünder, in flagranti unvorbereitete Begeg- und vor laufenden Ka- nungen vor laufender meras. Den Rest erledigt Kamera, zu 25 Millionen Goldstein am Schneide- Dollar Schadensersatz tisch: Szenen einer Affä- verurteilt. Ein 26-jähri- re, aufbereitet wie ein ger Talkgast hatte drei Spielfilm, Pausen für die Tage nach der Sendung Werbung inklusive. einen Schwulen er- „Reality-TV wie nie schossen, der ihm im zuvor“ verspricht Gold- Studio seine Liebe ge-

stein seinem zukünftigen REUTERS standen hatte. Der Pro- Publikum. Damit nie- Schauspieler Grant* duzent hat gegen das mand auf den Gedanken Weltweit für Schlagzeilen gesorgt Urteil Berufung einge- kommt, es ginge ihm legt. möglicherweise nur ums Geldverdienen, Unklar ist auch, wie die Gerichte einen hat er sich eine feine Philosophie zurecht- anderen Punkt behandeln würden: Gold- gelegt: „Wir erheben den Zuschauer zum stein versucht von allen Beteiligten die Ge- Allwissenden“, sagt er: „Er schaut den nehmigung dafür zu bekommen, die Affä- Menschen zu, wie es nur Gott sonst kann.“ re auszustrahlen. Wenn sie mit der Unter- Was Gott sich auf dieser Welt so ansehen schrift zögern, muss Goldstein den Ehe- muss, hat Goldstein schon im Archiv.Über brechern das Einverständnis schon mal ab- 20 turtelnden Paaren sind seine Leute kaufen – „je besser die Szene, je höher die nachgestiegen, wo immer die sich unbeob- Summe“, sagt er. achtet wähnten: in schummrigen Bars oder Besonders hervorgetan haben sich die am Flussufer, im Gebüsch oder auf der Pioniere des neuen Formats im Entertain- Rückbank eines Autos. ment bisher noch nicht. Habeeb schlug sich Sie filmten, wie die blonde Elaina ihren mit Nebenrollen in unbedeutenden Fern- Freund Hampton mit einem jungen sehserien durchs Leben, Goldstein als Ad- Mädchen betrügt. Sie folgten dem ver- vokat, der gelegentlich Schlagzeilen in ei- zweifelten Dustin, der vor seiner Verlo- gener Sache produzierte: Im letzten Jahr bung feststellen musste, dass sich seine verurteilte ihn ein Richter zu 100 Millionen Freundin mit seinem Bruder vergnügte. Sie Dollar Schadensersatz, eine der höchsten drehten, wie ein schwuler Partner seinen Summen, die jemals in einer unteren In- Freund mit anderen Männern hinterging. stanz festgesetzt wurden. Der Anwalt soll Sie filmten Tränen, Verwünschungen und laut Urteil seine Pflichten in einem Schei- manchmal auch eine Prügelei. dungsverfahren vernachlässigt haben. Wann Goldstein mit seinen Szenen aus Goldstein hat sich anschließend mit der dem Leben auf Sendung gehen kann, ist al- Gegenseite auf eine weitaus geringere lerdings noch nicht ganz klar. Der Texaner Summe verglichen. verspricht einen baldigen Start im ameri- Doch Goldstein gehört zu jenen Men- kanischen TV, auch deutsche Fernsehma- schen, die mehr auf der Erde zurücklassen nager seien interessiert. In seinem Studio, wollen als einen Stapel Akten. „Ich bin ein einem abgeräumten Kino in einem herun- Höhlenmensch“, sagt der Affärenjäger, „ich tergekommenen Industriegebiet von Dal- kritzle auf die Wände, was sich hier so ab- las, sieht es allerdings noch aus wie in ei- spielt.Wenn sich Historiker in tausend Jah- nem Möbellager. ren unsere Bänder ansehen, werden sie sa- gen: Seht, wie die damals miteinander um- * Nach seiner Festnahme im Juni 1995. gingen.“ Mathias Müller von Blumencron

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scha in japanischer Kampfsporttechnik geübt ist. Belastender wirkt sich der inne- re Schweinehund aus. Das Mädchen will falsch spielen. Es möchte mit Hilfe sei- nes Freundes Body, einem vierschrötigen Nichtsnutz aus dem Wohnsilo, das Geld an sich bringen, um die ebenso durchgeknall- te wie betrügerische Mutter aus dem Ge- fängnis auszulösen. Die betrogene Tochter, eine Geisel des Generationsgefüges, fühlt sich gezwungen, selbst zur Betrügerin zu werden. Was sich nun zwischen dem nichts ah- nenden Romeo und seiner unoffenen Julia entwickelt, hebt diesen Film über andere hinaus. Mit psychologischer Genauigkeit inszeniert Hanno Brühl die Brüche in den Gefühlen des Mädchens, wenn die Liebe die List überlistet, und umgekehrt, wenn das Kalkül das Herz besiegt. Mit Katharina Schüttler, 20, steht dem Regisseur für diese Gratwanderung eine Jungdarstellerin zur Verfügung. Sie ver-

FOTOS: WDR FOTOS: steht es, ohne die Panzerungen mimischer „Hin und weg“-Darsteller Schüttler, Brühl: Kinder haften für ihre Eltern Routine selbst aus den vertracktesten emo- tionalen Zwickmühlen herauszukommen. Glaube, Hoffnung, Liebe haben es nicht FERNSEHSPIEL leicht auf ihren fast kahl wirkenden Ge- sichtszügen. Ihr minimalistisches Minen- Pfeile ins spiel spiegelt die Herbheit eines zu kurz ge- kommenen Kindes wieder, dessen Enttäu- schung, aber auch dessen Stolz. wilde Herz Das Drehbuch schafft auch Romeo, der vom 21-jährigen Sohn des Regisseurs, „Hin und weg“ – ein präzise Daniel Brühl, gespielt wird, immer wie- der gute Gelegenheiten, die Dialektik inszenierter ARD-Fernsehfilm von Selbstbewusstsein und Kindlichkeit, beschreibt die Liebe zwischen Anhänglichkeit und Verletztheit vorzu- ausgestoßenen Jugendlichen. führen. Auch wenn am Ende die Liebe siegt: üßer Vogel Jugend – wie schön das Diese Kinder sind sehr einsam. Die Eltern klingt, wie unverdrossen er in der haben ihnen nicht geholfen, und den höhe- SWerbung aufflattert, wie gern ihn die „Hin und weg“-Szene ren Mächten traut das Liebespaar auch Alten durch die Erinnerung fliegen lassen. Liebe gegen List nicht recht über den Weg. Zwar lässt sich Doch die holde Jugendzeit, wo Jünglin- David am Ende für seine betrugsanfällige ge errötend auf den Fluren den Spuren der tern hinterlassen haben, bezahlen: Nata- Natascha, dem heiligen Sebastian gleich, Mädchen hinterhersteigen, war wohl schon scha versorgt, so gut es geht, den kleinen von Gangsterbuben quälen, aber das bei immer kaum mehr als eine Projektion.Vie- Bruder und muss ihm vorspielen, die Mut- RTL so beliebte und platt beschworene le der süßen jungen Vögel von heute je- ter sei verreist. Walten religiösen Bimbams im Hinter- denfalls haben lädierte Flügel, sind früh Der Junge aus der Villengegend sieht grund gibt es in diesem Film glücklicher- aus dem Nest gefallen, und das Verbots- sich gezwungen, die krummen Geschäfte weise nicht. schild vor Baustellen erleben sie umge- seines Erzeugers fortzuführen: Eine kost- Angesichts der Heiligenfigur bekennt kehrt: Kinder haften für ihre Eltern. bare Figur, den von Pfeilen durchbohrten Natascha, dass sie nur „an Kohle glaubt“. Natascha und David, die Helden des heiligen Sebastian, soll David in Amster- Für die würde sie auch sterben, aber dann WDR-Films „Hin und weg“ – an diesem dam verkaufen, um mit dem Erlös einen fällt sie sich selbst ins Wort: „Scheiße, dann Mittwoch 20. 15 Uhr Höhepunkt der ARD- gefährlichen, vom Vater einst betrogenen hätt ich ja nichts davon.“ So nüchtern, so Reihe „Wilde Herzen“ – , sind solche ge- Gangster zufrieden zu stellen. treffend und nicht unkomisch kann es zu- rupften Geschöpfe. Das Mädchen kommt Mit Sinn für dramatische Verwicklun- gehen im deutschen TV-Movie, selbst im aus einer tristen Vorstadtgegend, der Jun- gen schürzt das Drehbuch (Franz Liersch) Gespräch über die letzten Dinge. ge wohnt immerhin in einer Villa, aber die die Knoten zum Liebesabenteuer dieser „Hin und weg“ ist ein Beispiel, dass das Eltern haben jedem der beiden jungen Habenichts-Königskinder. Die Chancen, Gute oft so nah liegt. Brühl ist fest ange- Menschen schwere Lasten auf die Schul- dass sich beide finden, sind gering. Das stellter Regisseur beim WDR, der Sender tern gelegt: Nataschas Mutter und Davids Wasser erscheint viel zu tief, als sich Na- produzierte selbst. Die Sebastianspfeile Vater sitzen im Knast. tascha und David zur Reise nach Amster- treffen mitten ins Wilde Herz. Die Zeiten Beim Besuch im Gefängnis lernen sich dam aufmachen, um den Heiligen zu Geld der künstlichen Schrittmacherei, mit der in das Mädchen und der Junge kennen, aber zu machen. dieser ARD-Reihe möglichst alles im Rhyth- nach Amour fou und rauschendem Sich- Denn da sind nicht nur jede Menge Dun- mus der neuen deutschen Komödie schla- Verlieben sehen die Begegnungen nicht kelmänner, die den beiden den Weg zum gen sollte, scheinen vorbei: Der Zuschauer aus. Beide müssen Hypotheken, die ihre El- Geld versperren – ein Glück, dass Nata- ist dankbar. Nikolaus von Festenberg

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FOTOGRAFIE Mit den Füßen träumen er argentinische Tango vereint Dselbst extreme Empfindungen scheinbar mühelos: Er bietet den Tan- zenden ein Spektrum von heiterster Ausgelassenheit bis zur tiefsten Trauer, von zur Schau gestellter Frivolität bis zu erlittener Tragik, und der Zuschauer versucht, in dieses Wechselbad intensi- ver Gefühle einzutauchen. Um seine Entstehung im 19. Jahrhundert ranken

sich Mythen, und seine Lieder sind dem CORBIS SYGMA Schriftsteller Jorge Luis Borges zufolge Model Crawford eine „weit gespannte Comédie humaine ÄSTHETIK Die Schöne beschützen US-Psychologin Nancy Etcoff, phase. In den fruchtbaren Tagen 44, Autorin des Buches „Sur- bevorzugen Frauen männliche vival of the Prettiest“ (Das Männer mit Muskeln und brei- Überleben der Schönsten) über ten Schultern, den Rest der Zeit ihre Thesen zum Thema Evolu- eher feminine Gesichtszüge. tion und gutes Aussehen SPIEGEL: Hat Schönheit auch Schattenseiten?

SPIEGEL: Frau Etcoff, Sie be- BAUER J. Etcoff: Ein schöner Mensch haupten, unsere Kriterien für braucht die Bestätigung, dass Schönheit seien biologische. Weshalb man ihn nicht allein deswegen liebt. Er ist das so? weckt Beschützerinstinkte, aber auch Etcoff: Es gibt eine weltweite Überein- Besitzgelüste. Es gibt eine US-Studie, in stimmung: Schön ist, was auf Jugend, der Männern Fotos von schönen Frauen Gesundheit und Fruchtbarkeit hinweist. gezeigt wurden, mit der Bitte, Fragen, SPIEGEL: Zum Beispiel? was sie für diese Frau tun würden, spon- Tangotänzer Etcoff: Bei Männern breite Schultern, tan zu beantworten. Die Männer zeigten schmale Hüften. Bei Frauen eine Sand- sich sehr hilfsbereit. Die Frage, ob sie des Lebens von Buenos Aires“. Die Fo- uhr-Figur und sehr feminine Gesichts- der Schönen in einer Notlage Geld ge- tografen Tina Deininger, 46, und Ger- züge, also große Augen, eine kleine ben würden, verneinten sie aber oft. hard Jaugstetter, 43, zeigen in einem Nase, ein zierliches Kinn, alles, was den SPIEGEL: Vielleicht einfach aus Geiz? Fotoband („Tango – Leidenschaft in Unterschied zwischen den Geschlech- Etcoff: Nein, das beweist, dass die Män- Buenos Aires“) eine Typologie der Tan- tern betont. Dickes Haar und glatte ner die Unabhängigkeit der schönen gotänzer, vom alten Profi, der die Kunst Haut gelten als schön, sind aber auch Frau nicht wollen. Denn hätte sie diese, beherrscht, „mit den Füßen zu träu- Zeichen von Gesundheit. käme sie vielleicht nicht mehr zurück. men“, bis zum lernwilligen Teenager. SPIEGEL: Wählen denn Frauen ihre Män- SPIEGEL: Wen finden Sie schön? Cindy Die Bilder zeigen den Tango als eine ner nach Schönheitskriterien? Crawford? Ausdrucksform, in der sich Sex nicht al- Etcoff: Nicht allein natürlich. Neuen Un- Etcoff: Ich favorisiere eher Menschen, lein mit Jugend verbindet, sondern mit tersuchungen zufolge variiert das Schön- die ich kenne. Aber die Models sind Lebenserfahrung, mit tanzend erzählten heitsideal von Frauen je nach Zyklus- schon hübsch anzusehen. Geschichten.

DESIGN dent für industriell gefertigte Alltagsge- genstände, laut Plum „Design ohne De- Rostige Kannen signer“. Nach dem Boom des qualitativ Hochwertigen erwartet er jetzt eine unt bemalte Emaillevasen aus Ost- Konsumphase, in der sich die Leute an Basien, türkisfarbene Plastikseifen- skurriler bis abstruser Gestaltung er- halter aus Osteuropa oder Klobürsten freuen. So wird auch im Katalog des aus Mexiko: Die Produktpalette, die der Artikel des O.K.-Versands Versands eingeräumt, dass die Blech- Düsseldorfer Lukas Plum, 36, für seinen kannen aus Südasien innen etwas ange- O.K.-Versand aus aller Welt nach als Andenken aus der Ferne mitbringen. rostet sind und dass die Installation der Deutschland schafft, hat nichts gemein Statt für landestypische Handarbeiten aus Osteuropa stammenden Elektro- mit dem, was Touristen üblicherweise interessiert sich der frühere Kunststu- artikel auf eigenes Risiko erfolgt.

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DROGEN „Uns hassen doch alle“ Sie wollen ihren Anteil am Kuchen der Wohlstandsgesellschaft: schwarze Jugendliche, die nicht arbeiten dürfen und deren Abschiebung bevorsteht. Mit Rauschgifthandel ziehen die Afrikaner Wut und Ablehnung auf sich. Von Bruno Schrep

s gibt Menschen, deren bloßer An- waffnete Männer packten ihn und seinen Mit den 400 Dollar finanziert er seine blick die Bewohner des Hamburger älteren Bruder, schleppten be ide mit. Flucht. Wie er bis nach Deutschland ge- ESchanzenviertels in Raserei versetzt. Sammy stammt wie viele der schwarzen langt ist, verrät er nicht, denn das könnte im „Raus mit ihnen“, fordert der griechi- Drogenhändler aus Sierra Leone. Dort tob- Asylverfahren gegen ihn verwendet wer- sche Weinhändler. „In der Sahara ausset- te bis vor kurzem ein Bürgerkrieg zwi- den. Mit dem Flugzeug? Per Schiff? Über zen“, ergänzt ein altehrwürdiger Hambur- schen Regierung und Rebellen, dessen die Grenze eines Nachbarstaats wie Polen? ger Ladenbesitzer. „Mit der Kalaschnikow Fronten längst nicht mehr erkennbar wa- „Es war ein langer Weg“, sagt Sammy. draufhalten“, phantasiert der türkische Friseur. „Auschwitz wieder eröffnen“, empfiehlt der graubärtige Gast in der deut- schen Eckkneipe. Der Hass richtet sich gegen junge Männer. Manche sind 17, 18 oder 19 Jahre alt, einige noch keine 16, beinahe Kinder. Sie kommen aus Afrika. Sie haben Asyl beantragt. Sie verkaufen Rauschgift. Sie dealen in aller Öffentlich- keit mit Kokain, mit Haschisch und Marihuana. Jeder kann zu- sehen – in Hamburg und in an- deren deutschen Großstädten. „Ameisen“ heißen sie in der Drogenszene oder auch „Front- schweine“. Die Weißen im Vier- tel sagen: „Koks-Neger“. Sie sind die Letzten beim Milliar- dengeschäft mit illegalen Dro- gen: Sie verteilen kleinste Men- gen an die Süchtigen.

Sammy gehört zu den Älteren, FOTOS: / ARGUS R. JANKE ist fast 20. Schon um zehn Uhr an Asylbewerber Tom: „Ich weiß, dass Drogenhandel Sünde ist“ diesem Montagmorgen geht er vor dem Eingang des S-Bahnhofs Stern- ren. Beim Kampf um die Macht in der Kurz nach elf Uhr kommt der erste schanze auf und ab. Obwohl die Sonne Hauptstadt Freetown und um die Diaman- Süchtige: ein junger Mann auf Krücken, scheint, friert er, hat den Kragen seiner grell- tenminen terrorisierte eine enthemmte Sol- das linke Bein wegen Spritzenabszessen bunten Jacke hochgeschlagen. In seinem dateska die Bewohner mit Folter, Mord bandagiert. Sammy kennt ihn, gibt ihm ein Mund verbirgt er vier in Stanniol ver- und Verstümmelung, über die Hälfte der Zeichen, winkt ihn zu einer unübersichtli- schweißte Kügelchen Kokain. Bevölkerung wurde obdachlos. chen Stelle, greift blitzschnell in den Mund. Sammy schaut sich nach Kunden um. Die Männer, die Sammys Eltern töteten Sekunden später humpelt der Süchtige da- Aus der Bahn, die gerade angekommen und ihn rekrutierten, sind Rebellen. Sie ge- von. Gesprochen wird kein Wort. ist, stürmen jedoch nur ein paar eilige ben ihm ein Sturmgewehr, eine AK-47, Wenig später stoppt ein großer Merce- Passanten. Dahinter schlurft ein Obdach- zwingen den damals 15-Jährigen, mit ihnen des, direkt an der Haltestelle der Buslinie loser, in der einen Hand eine Plastiktüte, zu kämpfen. Bei Überfällen auf entlegene 181. Der Fahrer, das Gesicht hinter einer in der anderen eine geöffnete Flasche Dörfer muss er schießen: auf unbewaffne- Sonnenbrille versteckt, kurbelt die Schei- Bier. Als er an Sammy vorbeikommt, te Zivilisten, auf Frauen, auf Kinder. be herunter, hebt drei Finger, streckt kurz spuckt er aus. Nach acht Monaten flieht er während die Hand aus dem Wagen. Wieder wird Der Afrikaner guckt weg. Hass ist er ge- eines Gefechts mit Regierungssoldaten. kein Wort gesprochen. wohnt, wenn seine Geschichte so stimmt – 400 Dollar, die er sich nach und nach zu- Gegen Mittag ist plötzlich John da, älter was er beteuert: Als er im April 1995 in sammengestohlen hat, versteckt er in ei- als Sammy, ebenfalls aus Sierra Leone. Sein seinem Heimatort von der Schule kam, war nem Schuh. Zu Fuß und per Anhalter Gesicht verrät Nervosität und Misstrauen. sein Elternhaus abgebrannt,Vater und Mut- schlägt er sich bis in den Nachbarstaat Er sieht aus, als hätte er seit Jahren nicht ter lagen erschossen in den Trümmern. Be- Guinea durch. mehr gelacht. In seinem Heimatort hackten

168 der spiegel 45/1999 Rauschgiftdeal vor dem Hamburger S-Bahnhof Sternschanze: „Clever wie Bergziegen“ die Rebellen Männern, die ihnen nicht fol- John hat über ein Dutzend schwarze Khaled ist erst 15, lebt in einer Jugend- gen wollten, die Unterarme ab. John sah Männer mit zum S-Bahnhof gebracht, die wohnung. Bevor er mit Marihuana dealt, die Verstümmelten, bei einigen hatten die auf seine Anweisungen hören. Lärmende geht er zur Schule. Heute hat er gerade Rebellen die abgetrennten Gliedmaßen zu- junge Burschen mit bunten Baseballmüt- eine Deutscharbeit zurückbekommen, sammengebunden und ihren Opfern um zen und Turnschuhen, ausgelassen und an- Grammatik. Stolz zeigt er die Note, eine den Hals gehängt. Seitdem macht sich John gespannt zugleich. Drei minus. keine Illusionen mehr. Manche schwenken Bierdosen, trinken Als er von Guinea nach Hamburg kam, Dass er in Deutschland gescheitert ist, hat sich Mut an. Andere rauchen Gras. Sie war er gerade 13. Die Geschichte, die er auf ihn noch mehr verbittert. Er wurde nicht als schwärmen aus in den angrenzenden Park, dem Ausländeramt erzählte, hat dort nie- politisch Verfolgter anerkannt, ebenso wenig in die benachbarten Straßen, bilden kleine mand geglaubt: Seine Eltern seien tot, sein wie die meisten aus jenen westafrikanischen Gruppen, zischeln Vorübergehenden zu: Onkel und einziger Verwandter, ein hoher Ländern, wo es nach den Standards der „Want someting?“ Militär, sei bei der Regierung in Ungnade deutschen Behörden keine Verfolgung gibt. Khaled ist dabei, ein schlaksiger Junge gefallen und sitze im Gefängnis. Er selbst Der Traum, er könne sich hier zum Auto- mit giftgrüner Schildkappe, darunter ein habe gerade noch fliehen können. mechaniker ausbilden lassen, erwies sich als Kindergesicht. Er fährt ständig die Roll- Die Beamten stufen Khaled als eines je- völlig unrealistisch. Er wird noch geduldet treppe zur S-Bahn hoch und runter, führt ner afrikanischen Kinder ein, die von ihren und bekam die befristete Erlaubnis, zwei da ein Verkaufsgespräch, mischt sich dort Angehörigen auf gut Glück und ganz allein Stunden täglich für eine Zeitarbeitsfirma in Verhandlungen ein, wird geholt, wenn es nach Europa geschickt werden, um dem Büros zu schrubben. Verständigungsprobleme gibt. Elend in der Heimat zu entkommen – Afri- kas Misere führt direkt ins Hamburger Kokaindealer Sammy: „Es war ein langer Weg“ Schanzenviertel. Die Auswirkungen im Stadtteil sind ver- heerend. Die Drogenszene ist allgegen- wärtig: Treppenhäuser und Zufahrten sind mit gebrauchten Spritzen übersät. Ladenbesitzer finden morgens in ihren Eingängen Junkies, meist in erbärmlichem Zustand. Das Quartier, in dem seit Jahrzehnten Deutsche und Ausländer zusammenleben, bislang geprägt vom Miteinander unter- schiedlichster Kulturen, droht zu kippen. Der Reiz, neben dem türkischen Gemü- sehändler den asiatischen Imbiss und den alternativen Bäcker zu finden, wiegt Ängste und Empörung nicht mehr auf. Familien mit Kindern ziehen weg. Ge- schäfte schließen. Für viele Bewohner, die bislang als besonders tolerant gegenüber 169 Gesellschaft

Minderheiten galten, ist schwarz inzwi- steckte, ohne Strom, ohne Wasser, schen ein Synonym für schlecht. ohne Bett. „Hier gilt doch längst jeder Afrikaner als Zwei Wochen lang weiß er da Dealer“, glaubt Alhagi C. Der Mann aus nicht, ob draußen Tag oder Nacht Gambia, seit acht Jahren in Deutschland, ist ist. Wenn er Schritte hört, beginnt auf die Drogenhändler so wütend, wie es er zu beten. Der Spanier hat ihn viele der rund 17000 Afrikaner sind, die in beschworen, nie das Versteck zu Hamburg leben. „Sie zerstören unseren Ruf verlassen, und ihm für den Fall sei- und unsere Existenz“, befürchtet Alhagi C. ner Entdeckung mit dramatischen Wenn der 41-Jährige die Jugendlichen Gesten ein schnelles Ende prophe- beim Tischtennisspielen im Schanzenpark zeit: Matrosen würden ihn packen trifft, gibt es Streit. „Ihr kassiert Dreckgeld, und über Bord werfen – ein Schick- Blutgeld“, schimpft er, „stop it.“ Die Jungs sal, das blinden Passagieren aus lächeln dann nett und spielen weiter. Afrika schon oft widerfahren ist. Von Menschen, die sich beruflich mit ih- In seiner dunklen Kammer stellt nen befassen müssen, werden die jungen sich Tom sein schönes neues Leben Dealer sehr unterschiedlich beurteilt. „Cle- vor. In Deutschland, hatten ihm ver wie Bergziegen“, sagt der Chef vom Rückkehrer vorgeschwärmt, gebe Rauschgiftdezernat, dessen Beamte ihnen es großartige Chancen für gewief- ständig hinterherlaufen. „Arme Schwei- te schwarze Jungs: jede Menge ne“, sagt der Jugendrichter, bei dem die Jobs, tolle Kleidung, sogar Autos. Halbwüchsigen immer wieder als Ange- Tom wollte auch zur Schule gehen, klagte landen. „Opfer verfehlter Flücht- denn er kann weder lesen noch lingspolitik“, sagt die Sozialarbeiterin, de- schreiben außer den paar Versen, ren Organisation seit Jahren ein Zentrum die er während sechs Monaten in für afrikanische Jugendliche und mehr der Koranschule gelernt hatte. Geld für Ausbildungsmaßnahmen fordert. Dann steht er an einem April- „Wer arbeiten darf, hört sofort auf zu dea- morgen um vier Uhr am Hambur-

len“, berichtet ein Heimleiter. Doch so- / ARGUS R. JANKE ger Hauptbahnhof, ohne Geld, ohne bald die Arbeitserlaubnis abgelaufen sei, Junkie in Hamburg Ausweis, und fragt, wie ihm der „sind die Jungs wieder auf der Szene“. Sekunden absoluten Wohlgefühls Spanier eingeschärft hat, andere Mittwochnachmittag, 15.20 Uhr: Razzia. Schwarze nach dem Ausländeramt. Polizeisirenen. Geschrei. Quietschende Tom kann gerade noch weglaufen, sich Toms Träume sind schnell ausgeträumt. Reifen. Die schwarzen Männer sind schon in einen Hauseingang flüchten. Er zittert, Sein Asylantrag wird abgelehnt. Sein be- Sekunden zuvor in alle Richtungen aus- ist außer Atem. Drei Kokainkugeln, die er fristetes Aufenthaltspapier – Fachjargon: einander gestoben, einer stolpert, schlägt im Mund verborgen hielt, hat er vorsichts- Duldung – läuft in ein paar Wochen ab. langweg aufs Pflaster. Späher, die an der halber verschluckt. Fünf Minuten später Arbeiten darf er nicht, von Gesetzes we- Hauptstraße standen, hatten über Handy steht er wieder auf der Straße. gen. Er wüsste auch nicht, was. Selbst Zei- Alarm geschlagen – zu spät. Der 17-Jährige musste schon schlimme- tungen auszutragen wird ihm untersagt. Die Uniformierten kommen diesmal aus re Angst aushalten: damals, auf dem riesi- Beim Deutschkurs, den er drei Monate be- mehreren Richtungen zugleich. Zivilbeam- gen Containerschiff, das ihn von Liberia suchen darf, kommt er nicht richtig mit. Er te springen hinzu, eben noch getarnt als nach Hamburg brachte. Tom fuhr als blin- lernt nur ein paar Brocken: „Bleiberecht“, Bauarbeiter und Handwerker. Zwei Dea- der Passagier. Alles, was er besaß, etwas „Platzverweis“, „Scheiße“. Gut verständi- ler werden festgenommen, mit Handschel- Schmuck und 120 Dollar, gab er einem spa- gen kann er sich nur mit Schwarzen, die len gefesselt, in einen Streifenwagen ver- nischen Matrosen, der ihn bei Nacht an wie er die afrikanische Sprache Fula spre- frachtet. „Nazis“, ruft ein Schwarzer hin- Bord schmuggelte und in einem winzigen chen. Buchstaben bleiben ihm ein Rätsel. terher. „Bravo“, tönt es aus einem Fenster. Verschlag nahe dem Maschinenraum ver- Im Asylbewerberheim, weit außerhalb gelegen, hat Tom unendlich viel Zeit. Um sie sinnvoll zu nutzen, fehlen ihm alle Vor- aussetzungen. Anfangs bleibt er bis mittags wie betäubt im Bett liegen, guckt dann im Fernseh- raum stundenlang die Zappelbilder eines Musiksenders. Doch schnell wird er von der Umtriebigkeit der Mitbewohner ange- steckt: Jugendliche wie er, die trotz Ar- beitsverbots ständig beschäftigt sind, mehr- mals täglich zwischen Heim und Innenstadt hin- und herpendeln; die Markenjeans und Goldketten tragen, von Erlebnissen bei Discobesuchen schwärmen und von Treffen mit Mädchen. Und das, obwohl sie wie Tom nur 410 Mark monatlich für Kleidung und Verpflegung bekommen. „Woher habt ihr das Geld?“, will er von einem Zimmer- nachbarn wissen. „Frag John.“ Von Kokain hat Tom zuvor nie gehört. Er

C. AUGUSTIN weiß nicht, wie es riecht, er weiß nicht, wie Drogenkiez Schanzenviertel: Familien mit Kindern ziehen weg es wirkt, er weiß nicht, wie es hergestellt

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Werbeseite Gesellschaft wird. Doch er kapiert sofort, dass ihn dieses spüren, dass kaum etwas bei den Bürgern Zeug seinen Wünschen näher bringen kann: als verwerflicher und moralisch minder- Er will auch in die Disco und ins Kino, er wertiger gilt als das Geschäft mit der Sucht. will auch schicke Klamotten, und er will Dazu sind viele zu fremd, zu naiv, zu sehr auch eine goldene Kette um den Hals. auf ihren kurzfristigen Vorteil fixiert. John weiß, wie das Geschäft funktioniert: John ist es egal. „Uns hassen doch so- Einer der Ältesten im Asylbewerberheim, wieso alle“, glaubt er. „Es spielt keine Rol- der nicht mehr selbst auf der Straße steht, le, ob wir dealen oder nicht.“ sich hochgedient hat, kauft Kokain in Als er kürzlich ausnahmsweise allein größeren Mengen ein; von Südamerika- S-Bahn gefahren sei, hätten ihn sofort nern, von Kurden, auch von Deutschen, die mehrere Weiße angepöbelt: „Neger raus.“ gegen Honorar als Drogenkuriere nach Beim Besuch eines HSV-Spiels seien er und Peru oder Kolumbien fliegen. Das Gift wird seine Freunde von betrunkenen Fußball- dann gestreckt, in Kügelchen verpackt und fans verfolgt worden: „Scheiß-Nigger.“ an Mittelsmänner wie John gegeben, der es Und als er ein Konzert besuchen wollte, habe ihn der Türsteher herrisch abgewie- Das tägliche Versteckspiel sen: „Du nicht, Bimbo.“ mit der Polizei entspricht ihrer Johns Landsmann Tom gehört dagegen zu denen, die sich wegen der Dealerei schä- Sehnsucht nach Abenteuer men. „Ich weiß, dass Drogenhandel Sünde ist“, sagt der Muslim, der täglich betet, an die Jungs verteilt. Die werden bei ihrem manchmal auch in die Moschee geht. Er risikoreichen Einsatz nicht reich. hofft, dass Gott ihn nicht so streng bestraft: Beim ersten Mal bekommt Tom fünf Ku- „Er sieht doch, wie es mir hier geht.“ geln. John weist ihn ein: „Verkauf für 20 Wenn Tom das schlechte Gewissen zu Mark pro Stück. 6 Mark sind für dich, den sehr plagt, ist er spendabel gegenüber Rest gibst du mir.“ Und: „Bleib nie ste- Süchtigen wie Micha. Der kommt am Frei- hen. Halt Blickkontakt zu den anderen. tagabend mit fahrigen Bewegungen zum Lauf bei Streit sofort weg.“ S-Bahnhof Sternschanze, in der Jacken- Schon am zweiten Tag wird Tom tasche eine CD, die er gerade geklaut hat, erwischt. Ein Süchtiger, der dafür frei- und sonst gar nichts. kommt, verpfeift ihn.Auf dem Polizeirevier Micha hat sich selbst überlebt. Er ist 41, muss sich Tom nackt ausziehen, bleibt fünf uralt für einen Fixer. Seine Haut ist von Stunden in einer Zelle eingesperrt. Dann einer Hepatitis gelb verfärbt, in seinem lassen ihn die Beamten laufen – und krie- Oberkiefer sitzen noch zwei Zähne. gen ihn danach nie mehr. Er hat alles ausprobiert: geschluckt, ge- Andere fallen ständig auf. Der ängstliche spritzt, gekifft. Und er hat alles versucht, Barry, der die Kokainkügelchen nicht run- um von Drogen loszukommen, war oft terschlucken mag, auch nicht schnell ge- zum Entzug in der Psychiatrie, hat dut- nug laufen kann und sich oft ungeschickt zende Therapien hinter sich. Jetzt be- anstellt, ist schon mehr als 20-mal ge- kommt er die Ersatzdroge Methadon gegen schnappt worden. Der Jugendrichter ver- die Heroinsucht. Den Kick, die Sekunden donnerte ihn zweimal zu gemeinnütziger absoluten Hochgefühls, sucht er beim Ko- Arbeit und vor kurzem zu einem Jahr Haft kain. Tom ist sein Stammdealer. mit Bewährung – bewirkt hat es nichts. An diesem Freitag hat Micha Glück. Tom Jungs wie Barry wissen, dass sie ohnehin will seine CD nicht, weiß, dass er kein Geld abgeschoben werden, in Deutschland kei- hat, schenkt ihm trotzdem eine Kugel – da- ne Zukunft haben. Sie dürfen nur bleiben, nach geht alles ganz schnell: Micha rennt solange in den Heimatländern Bürgerkrie- hinter eine Schallschutzmauer der Deut- ge toben. Die Frist wollen viele nutzen. schen Bahn, mitten in eine Mülllandschaft Barry muss sie nutzen. aus zerborstenen Möbeln, weggeworfenen Er denkt ständig daran, dass seine An- Autoreifen und leeren Bierdosen. gehörigen in Afrika auf seine Hilfe hoffen, Mit seinem Feuerzeug brennt er die ver- auf Geld warten, und so dealt er trotz der schweißte Folie des Kügelchens weg, löst vielen Festnahmen immer weiter. Er fühlt das weiße Pulver mit Wasser auf, zieht die sich unter Druck, denn die Familie hatte Flüssigkeit auf eine Spritze.Während oben jahrelang gespart, um seine illegale Einrei- ein Zug vorbeifährt, zieht er die Hosen se zu bezahlen. Er bereut längst, dass er runter, spritzt sich in den linken Ober- den Trip gewagt hat. schenkel. In die total zerstochenen Arme Manche der Jüngsten können ihre Si- würde kein Schuss mehr passen. tuation jedoch schlecht einschätzen: Die Solche Szenen, im Schanzenviertel täg- Ängste und Risiken in der Szene, das täg- lich zu beobachten, schüren den Hass.Auch liche Versteckspiel mit der Polizei entspre- Junkies wie Micha suchen die Schuld für ihr chen ihrer Sehnsucht nach Abenteuer und Elend gern bei den Dealern: „Manchmal Gefahr. Und das leicht verdiente Geld denke ich, ohne diese verdammten Nigger nährt den gefährlichen Irrtum, künftig wäre ich längst weg davon.“ mühelos mit Straftaten durchzukommen. Doch eigentlich sei das ja auch wieder Natürlich ist allen klar, dass sie fort- Quatsch: „Als ich vor 21 Jahren angefangen während Gesetze brechen. Aber nicht alle habe, gab’s keine schwarzen Dealer.“ ™

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Lindner: Wir alle, die mit ihm gearbeitet ha- ben, merkten manchmal, dass es ihm nicht gut geht. Aber er hat niemanden an sich herangelassen, auch wenn ihm andere hel- fen wollten. SPIEGEL: Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm geändert, nachdem Sie den russischen Jun- gen Daniel adoptiert haben und es die Run- de machte, dass Sie mit Ihrem Manager zusammenleben? Lindner: Rex fand die Adoption ganz phan- tastisch. Das hat aber an unserem distan- zierten Verhältnis nichts geändert. Im Übri- gen: Der Rex war ja verheiratet. Er hätte sich in dieser Situation und in seinem Al- ter sicher schwerer getan als ich, mit sei- nem Leben an die Öffentlichkeit zu gehen. SPIEGEL: Haben Sie jemals daran gedacht, für die Fans zu heiraten? Lindner: Nein, nie. SPIEGEL: Aber früher haben Sie regelmäßig behauptet, „die Richtige noch nicht gefun- den“ zu haben. Ein Ablenkungsmanöver? Lindner: Das sind so Geschichten der Yellow Press. Wenn man sich als Star bei den Zei-

FOTOS: & THOMAS THOMAS tungen beschwert, solche Sachen nicht ge- Schlagerstar Lindner, Adoptivsohn, Lebensgefährte Link: „Nie die Fahne geschwenkt“ sagt zu haben, kommt von den Journalisten immer der Satz: „Die Leute lesen’s halt gerne.“ Man kann nichts dagegen machen. SHOWBUSINESS SPIEGEL: Außer vielleicht, die Wahrheit zu sagen. Fühlen Sie sich nach Ihrem nicht ganz freiwilligen Selbst-Outing besser? „An den Pranger gestellt“ Lindner: Ich fühl mich nicht besser. Ich hab mir auch schon vorher nichts vorgemacht. Der Münchner Sänger Patrick Lindner über Mein Freund Michael Link und ich haben zwar nie die Fahne der Bewegung ge- seinen Kollegen Rex Gildo, sein Outing als Homosexueller schwenkt, das ist wahr. Allerdings hat das und sein Leben als Familienvater Publikum viel selbstverständlicher rea- giert, als ich es zu hoffen gewagt hätte. SPIEGEL: Herr Lindner, Ihr Kollege Rex Gil- nur, dass ich es selber merken werde, ob es SPIEGEL: Haben Sie Ihr Coming-out als do behauptete zeit seines Lebens, kein Tou- wirklich noch sein muss, mit alten Hits Zwei-Stufen-Strategie geplant? Erst die pet zu tragen und weder Alkoholiker noch rumzuziehen. Aber beim Rex waren es si- Adoption öffentlich machen und dann die homosexuell zu sein. Muss man im Schla- cher nicht finanzielle Probleme. Vielleicht Beziehung? gergeschäft sein Publikum belügen, um konnte er nicht aufhören. Er hatte ja jah- Lindner: Ich wollte mit dem Kind ganz frei Erfolg zu haben? relang einen Riesenerfolg. mein Haus in Grünwald verlassen können, Lindner: Das muss jeder für sich entschei- SPIEGEL: Haben Sie denn hinter der Fas- ohne dass Horden von Fotografen davor den. Viele haben vom Rex einiges ge- sade von Fröhlichkeit das Unglück gespürt? lauern.Also habe ich damals mit der „Bun- wusst, aber man hat halt – auch unter Kol- ten“ eine Geschichte gemacht, in der schon legen – nie drüber gesprochen. Ich glaube, Andeutungen über mein Privatleben stan- es war bei ihm ein Generationenproblem. den, die sich jeder selber auslegen konnte. Merkwürdig ist doch, dass jetzt nach sei- Das Outing fand dann sehr diskret in einem nem Tod diese Fragen gestellt werden, man langen schönen Interview in der „Amica“ hätte ihn selber fragen sollen. statt. Und dann kam im April die „Bild“ SPIEGEL: Haben Sie es denn getan? mit einer riesigen Überschrift … Lindner: Nein. Der Rex war ein lieber, net- SPIEGEL: … „Patrick Lindner: Warum ich ter, unheimlich lustiger Kollege. Über sein mich jetzt zu meinem Schwulsein bekenne“. Privatleben hat er nie gesprochen. Es gab Lindner: Genau. So etwas würde ich selber Situationen, in denen man auf private The- nie sagen, weil es nicht meine Art ist. men gekommen ist, aber wenn man merk- SPIEGEL: Und wenn Rosa von Praunheim te, dass der andere sich verschließt, lässt damals nicht nur Alfred Biolek und Hape man das Thema eben fallen. Kerkeling, sondern auch Sie geoutet hätte? SPIEGEL: Haben Sie Angst davor, so wie Lindner: Es gab damals schon Andeutun- der alternde Gildo in Baumärkten vor ei- gen, aber niemand hat die Sache verfolgt. nem johlenden Publikum auftreten zu Heute tue ich mich natürlich leichter.Aber müssen? trotzdem fühlt man sich ausgezogen und an Lindner: In Märkten zu singen ist nicht ver- den Pranger gestellt mit einem Schild um werflich, das mache ich auch. Ich möchte den Hals. aber im Alter nicht noch auftreten müs- Schlagerstar Gildo (1984) SPIEGEL: Ist Ihnen das Bekenntnis deshalb sen, um mein Brot zu verdienen. Ich hoffe „Unheimlich lustiger Kollege“ so schwer gefallen, weil Sie, erst in der

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Werbeseite Gesellschaft ACTION PRESS ACTION ZDF-Schlagerparade (1997)*: „Als volkstümlicher Sänger in der unteren Schublade“

Volksmusik und dann im Schlager, dem tung entwickelt. Die Grenzen sind ja auch Publikum nicht nur Musik, sondern auch fließend. Es gibt doch Volksmusik, die ein ganzes Heile-Welt-Paket anbieten? kommt ganz ohne Dialekt aus. Und man Lindner: Mag sein. Ich bin ein konservativer muss sich fragen, was daran volkstümlich Mensch, habe ein Haus gebaut, lebe in ei- sein soll. Vielleicht nur die Tatsache, dass ner geregelten, harmonischen Beziehung, der Interpret einen Trachtenjanker anhat. und manchmal denke ich, dass es bei uns Als volkstümlicher Schlagersänger bist du geordneter zugeht als in manchen bürger- im Ansehen in einer unteren Schublade. lichen Ehen. Ich bin stolz, wenn der Da- SPIEGEL: Haben Sie deshalb zum Entsetzen niel durchs Haus läuft und „Papi“ schreit. Ihrer Fans bekannt, Sie wollten nicht mehr SPIEGEL: Wie geht denn die Gay Commu- mit klatschenden pfälzischen Hausfrauen nity mit einem solchen Musterpaar um? auf der Bühne stehen? Lindner: Jedenfalls bin ich nicht zu deren Lindner: Das war ein Missverständnis. Mei- Ikone geworden. Ich gelte ja als der Nette, ne Fans dachten, ich wollte alle Hausfrau- der Brave und der Korrekte, bei dem man en dieser Welt beleidigen, ich meinte aber es nie vermutet hätte. Und offenbar habe tatsächlich eine Volksmusik-Gruppe mit ich auch anderen Männern Mut gemacht, dem Namen „Pfälzer Hausfrauen“. Ich sich zu ihrem wahren Leben zu bekennen. stand an einem Punkt meiner Karriere, wo SPIEGEL: Befürchten Sie, dass Daniel Ihnen ich nicht mehr unbedingt in eine Hitpara- eines Tages vorwirft, zwei Väter und keine de oder einen Wettbewerb gehen musste. Mutter gehabt zu haben? SPIEGEL: Was ist so schlimm daran? Lindner: Kann sein, dass er sagt: Was hast du Lindner: Schauen Sie: Ich hatte schon mei- mir angetan; aber es ist doch wichtiger, dass ne eigene Show, in der ich internationale er in einer Umgebung voller Liebe auf- Stars wie die Milva präsentierte, da wollte wächst. Seine Mutter hat ihn ich nicht mehr in der „Hit- in St. Petersburg gleich nach parade der Volksmusik“ auf- der Geburt zur Adoption treten. Das passte einfach freigegeben. Und was man nicht mehr zusammen. über diese Frau in den Ak- SPIEGEL: Und deshalb sind ten lesen kann, ist ziemlich Sie zur ARD gewechselt? schrecklich. Da herrschte ma- Lindner: Ich war sieben Jahre terielles und menschliches lang exklusiv beim ZDF und Elend. habe vier Unterhaltungs- SPIEGEL: Hängt Ihr Wechsel chefs überlebt, da wird man von der Volksmusik zum zum Pingpongball. Und bei Schlager mit Ihrem Privat- der ARD moderiere ich zu- leben zusammen? erst am Muttertag eine Gala Lindner: Überhaupt nicht. Ich fürs Müttergenesungswerk. habe mich halt in diese Rich- Diese Aufgabe beweist mir, dass ich mit meiner Ehrlich- keit letztlich sehr viel weiter * Vordere Reihe: Rex Gildo, Gaby

Baginsky, Jürgen Drews, Cindy & FOTEX gekommen bin. Bert, Costa Cordalis. Sänger Lindner (1997) Interview: Joachim Kronsbein

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Schadows Kunden hatten zwei Gemein- bei einigen Kredithaien der Branche ins- KREDITE samkeiten. Sie brauchten dringend Bargeld gesamt bis zu 800 Mark zahlen – ein ef- – und sie steckten so tief in den Miesen, fektiver Jahreszins also von 96 Prozent. Piepen für dass sie ihrer Bank keinen Pfifferling mehr Für Klaus Germann, Geschäftsführer des wert waren. Der rüstige Rentner, mutmaßt Zentralverbandes des Deutschen Pfand- der Geldverleiher, „braucht die Piepen für kreditgewerbes, ist die Grenze des Zu- den Puff die Spielbank oder für den Puff“. Anders mutbaren klar.Wer fünf oder mehr Prozent als bei Banken und Sparkassen bleiben den Kostenvergütung verlange, sei „unseriös Immer mehr klamme Kunden der Pfandleiher aber peinliche Fra- und schadet der ganzen Branche“. gen nach den persönlichen Lebensverhält- Acht von zehn Kunden lösen nach der Deutsche versetzen ihr Auto. nissen und dem Verwendungszweck des Erfahrung von Thomas Stäbler vom Stutt- Spezialisierten Pfandleihern Kredites erspart. garter Kraftfahrzeug-Pfandhaus Haugstet- bescheren vor allem Handwerker Jedes Jahr versetzen tausende klamme ter & Stäbler ihr Fahrzeug innerhalb von zweistellige Zuwachsraten. Bundesbürger ihr Auto für ein bis drei Mo- drei Monaten aus; wenn nicht, darf das nate, und es werden immer mehr.Während Pfand versteigert werden. Zumeist aber s war eine typisch bürgerliche Klien- die knapp 300 deutschen Pfandhäuser sind die Pfandleiher kulant, verlängern die tel, die den Berliner Auto-Pfandlei- hauptsächlich Schmuck und Uhren belei- Frist um einen oder sogar mehrere Mona- Eher Achim Schadow aufsuchte: Nach hen und mit mageren Zuwachsraten um te – und kassieren ordentlich weiter. und nach erschienen vor seinem Schreib- drei Prozent leben müssen, verbuchen die Das Gros der Kunden sind längst nicht tisch ein gut gekleideter Rentner, eine red- rund zwei Dutzend Auto-Pfandleihen Um- mehr verkrachte Existenzen, stattdessen selige Senatsbeamtin, ein junger Haupt- satzsteigerungen um zehn Prozent. „Die versetzen immer mehr Selbständige ihre stadt-Polizist und ein stadtbekannter Tisch- Leute haben eben eher ein Auto als Fahrzeuge – oft weil sie wegen der Zah- lermeister. wertvolle Uhren oder Schmuck“, erklärt lungsmoral ihrer Kunden klamm sind und Die drei Herren und die Dame kamen Schadow den Boom der Branche. kein Geld mehr für Materialeinkäufe oder mit ihren Autos und wollten schnell Geld. Wer so abgebrannt ist, dass er nur noch gar die Löhne ihrer Mitarbeiter haben. So Der Pfandleiher taxierte den Zeitwert der beim Pfandleiher kreditwürdig ist, zahlt – π belieh ein Berliner Maurermeister sei- nen Jeep und drei Wochen später einen Mercedes der E-Klasse, um seine Hand- werker bezahlen zu können; π löste ein Dachdeckermeister bei der Auto-Pfandleihe Arclas im rheinischen Willich Anfang Juli seinen Mercedes SL aus, den er wegen Liquiditätsschwierig- keiten mit 50000 Mark belastet hatte; π ließ sich der Inhaber eines Baugeschäf- tes beim Auto-Pfandhaus Hannover 3000 Mark auf einen Mini-Bagger auszahlen, um über die Runden zu kommen; π nahm ein Schreinermeister beim Auto- Pfandhaus Römer im rheinischen Fre- chen 20 000 Mark auf seinen Opel Sintra auf. Ein Kunde hatte sich für 18 000 Mark einen Zaun bauen lassen und die Rechnung nicht bezahlt. Mitunter, glaubt Bernd Sakreida von der Auto-Pfandleihe Doma im niederbayeri- schen Plattling, seien die Motive der Ge- werbetreibenden jedoch auch nicht ganz koscher. Manchmal werde der Pfandkredit etwa „für Wareneinkäufe genutzt, die we- gen Schwarzarbeit nicht über die Bücher

J.-P. BÖNING / ZENIT J.-P. laufen sollen“. Auto-Pfandleiher Schadow: Peinliche Fragen bleiben den Kunden erspart Nicht selten versuchen Kunden, die Pfandleiher zu leimen. Dem Berliner Scha- Gefährte und gewährte, branchenüblich, selbst im Vergleich zu den teuren Über- dow wollten Kunden etwa einen VW- die Hälfte als Kredit. Er stellte einen ziehungszinsen beim Dispositionskredit Transporter unterjubeln, der „einen Knick Barscheck aus, und ein paar Minuten, der Banken – kräftig drauf. Üblich sind pro im Dach und ein verzogenes Führerhaus“ nachdem die Kunden vorstellig geworden Monat ein Prozent Zinsen auf die Leih- hatte. Ganoven drehten dem Hamburger waren, lösten sie den Scheck in einer nahen summe. Pfandleiher Joachim Ratajek ein VW Golf Bank ein und machten sich von dannen. Richtig Geld verdienen die Auto-Pfand- Cabrio an, das samt Fahrzeugbrief gestoh- Schadow, der zu den Seriösen der Branche leiher allerdings mit satten Nebenge- len worden war. Er belieh das neuwertige zählt, behielt die Autos samt Fahrzeug- bühren, die als „Kostenvergütung“ und als Auto mit 20 000 Mark und musste den briefen als Pfand. „Standgeld“ auf den Zins geschlagen wer- Schaden tragen. Der Rentner ließ seinen Ford Fiesta da den. So stellen manche Kreditgeber mo- Wie die meisten Kollegen versucht Klaus und nahm 4000 Mark mit, der Ford Sierra natlich bis zu fünf Prozent in Rechnung; für Aringer von der Arclas Pfandkredit in Wil- der Senatsbeamtin brachte 1000 Mark. Der das Abstellen des Fahrzeuges kommen bei lich, solch Ungemach zu vermeiden. Bieten Polizist bekam 10000 Mark für seinen den meisten rund 200 Mark hinzu. ihm dubiose Gestalten ein teures Auto an, BMW, der Handwerksmeister 20000 Mark Wer seinen VW Golf auch nur vier Wo- „checke ich bei der Polizei, ob das Ding für seinen Mercedes SL. chen lang mit 10000 Mark beleiht, muss womöglich geklaut ist“. Carsten Holm

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VATIKAN Sichtung der Kandidaten rotz wütender Hindu-Proteste trat Papst TJohannes Paul II. am vergangenen Freitag seine 89. Auslandsreise nach Indien und Georgien an. Derweil wurde im Vatikan über mögliche Nachfolger spekuliert. Zwar prä- sentierte sich der 79-jährige, gesundheitlich angeschlagene Papst während der jüngsten Synode der europäischen Bischöfe „ausge- sprochen präsent“, so der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann. Dennoch hat unter katholischen Amtsträgern in Rom in aller Stille eine kritische Sichtung papstfähiger Kandidaten begonnen, was im Vatikan weit mehr Interesse weckt als die dem italienischen Parlament vorliegenden Doku- mente über die Rolle östlicher Geheimdienste

beim Papstattentat 1981. Zu den Favoriten für AFP / DPA die Nachfolge auf dem Stuhl Petri zählen der Johannes Paul II. mit Bischöfen im Vatikan französische Kardinal Pierre Eyt, sein belgi- scher Amtsbruder Godfried Danneels, Christoph Schoenborn 1978 bei seinem Wechsel von Krakau nach Rom von der „New aus Österreich und der Bosnier Vinko Puljiƒ. Die römische Ku- York Times“ charakterisiert wurde, solle nun ein Administra- rie dränge allerdings darauf, berichteten Teilnehmer des Bi- tor folgen. Dem deutschen Papstvertrauten Joseph Ratzinger schofstreffens, einen aus ihren Reihen in das Amt zu hieven. wird zwar eine mit entscheidende Rolle bei der Papstfindung, Nach dem „geopolitischen“ Papst, wie der Pole Karol Wojtyla aber keine Chance auf das Amt eingeräumt.

MONTENEGRO SPIEGEL: Welche Konsequenzen zie- SPIEGEL: Sie führten soeben Gespräche hen Sie? mit Generalstabschef Ojdaniƒ. Drohte „Vor Diktatur schützen“ Vujanoviƒ: Entsprechend dem Verhalten er mit Intervention? Belgrads besteht die Option, eine eige- Vujanoviƒ: Er versprach, sich nicht poli- Filip Vujanoviƒ, 45, Pre- ne montenegrinische Währung einzu- tisch in die Angelegenheiten Montene- mier der jugoslawi- führen sowie der Liquidierung des Di- gros einzumischen und nur die territo- schen Teilrepublik Mon- nars als Zahlungsmittel. Wir werden an riale Integrität Jugoslawiens zu verteidi- tenegro, über den Kon- den Grenzen künftig Finanzkontrollen gen. Natürlich werden wir die Aktivitä- flikt mit Serbien haben, welche die unkontrollierte ten der Armee weiterhin kontrollieren, Ausfuhr von Dinaren verhindern. Eine insbesondere der Militärpolizei. Im Fal- SPIEGEL: Montenegro erneute Kontrolle unserer Wirtschaft le einer bewaffneten Intervention rech- hat die D-Mark als par- durch Belgrad werden wir nicht nen wir, ähnlich wie in Slowenien, mit

AP alleles Zahlungsmittel dulden. einer Spaltung der Armee. Aber wir eingeführt und damit hoffen, dass sich dieser Kon- seine Finanzautonomie gegenüber Bel- flikt vermeiden lässt. grad erklärt. Ist das der entscheidende SPIEGEL: Wächst nun der Schritt zur Unabhängigkeit? Druck der Bevölkerung auf Vujanoviƒ: Wir mussten unsere Wirt- Ihre Regierung, die Unabhän- schaft vor der Diktatur der Jugoslawi- gigkeit von Belgrad zu er- schen Nationalbank schützen. Serbien klären? hat in den vergangenen vier Monaten Vujanoviƒ: Der Bundesstaat die Geldmenge durch den illegalen funktioniert nicht mehr, wir Druck neuer Dinare um rund 40 Pro- werden diese Situation nicht zent erhöht. Wir konnten dagegen nichts mehr lange tolerieren können. tun. Und jetzt hat Belgrad als politische Die Gespräche über eine Neu- Strafaktion sogar den Zahlungsverkehr definition unserer Beziehun- zwischen unseren beiden Republiken gen sind im Gange. Allerdings unterbunden. Das ist lächerlich, denn schließe ich nicht aus, dass

wir kontrollieren nur fünf Prozent der DPA Belgrad dabei nur Zeit gewin- Dinare innerhalb Jugoslawiens. In Mark ausgezeichnete Waren in Montenegro nen will.

der spiegel 45/1999 183 Panorama

INDIEN Tödlicher Leichtsinn ber eine Woche nach dem verheerenden 17-stündigen Wü- Üten eines tropischen Wirbelsturms an der Ostküste Indiens werden die Rettungsarbeiten durch Unruhen und Plünderungen bedroht. Hungrige Überlebende greifen Helfer an, rauben auf den wenigen nicht zerstörten Küstenstraßen steckengebliebene Lastwagen aus und stehlen Lebensmittel aus Lagerhäusern in Bhubaneswar, der Hauptstadt des Bundesstaates Orissa. Na- rayan Mahapatra aus dem verwüsteten Dorf Hosnabad im Be- zirk Jajpur kritisiert das langsame Vorgehen des Staates: „Kein einziges Korn Reis hat uns bisher erreicht.“ Schuld ist vor al- lem die chaotische Organisation der Hilfslieferungen. Zwar hat der indische Regierungschef Atal Behari Vajpayee umgerechnet 257 Millionen Mark Katastrophenhilfe angewiesen, doch nur wenige auf dem Landweg unerreichbare Gebiete werden bisher Überflutete Straße unweit der indischen Stadt Baleshwar ausreichend aus der Luft mit Lebensmitteln versorgt. 5000 Soldaten mussten ins Unglücksgebiet geschickt werden – gen. Offiziell wurde nur vor dem Baden an den Stränden ge- auch um Retter und Ingenieure vor der aufgebrachten Menge zu warnt. „Hier herrscht ein Sicherheitsgefühl, das an Fahrlässigkeit schützen. Wütende Überlebende griffen sogar einen Hub- grenzt“, sagt Britta Girgensohn-Minker vom Deutschen Roten schrauber an, mit dem Politiker ins Katastrophengebiet geflogen Kreuz. Der Zyklon hatte mit einer Windgeschwindigkeit von waren. Weder Bürokraten noch die Einwohner von Orissa hat- 255 Stundenkilometern bis zu zehn Meter hohe Wellen vor ten den Sturmwarnungen besondere Bedeutung geschenkt, ob- sich hergetrieben und weite Teile des Staates zerstört. Insge- wohl Aufnahmen indischer Wettersatelliten rechtzeitig vorla- samt sind 15 Millionen Menschen betroffen, 2 Millionen wurden

TERRORISMUS Endstation Bagdad? ach Informationen nahöstlicher Geheimdienste Nsind die ultrareligiösen Taliban nicht länger bereit, dem mutmaßlichen Terroristenführer Ussama Ibn La- din, 43, in Afghanistan Schutz zu gewähren. Der Fana- tiker aus einer reichen saudi-arabischen Familie gilt als Drahtzieher der Sprengstoffattentate auf die US-Bot- schaften in Nairobi und Daressalam im August vergan- genen Jahres. Die mögliche Abkehr der Taliban von ihrem langjährigen Verbündeten Ibn Ladin, der angeb-

REUTERS lich von afghanischen Milizen bewacht unter Hausar- Amerikanisches Kampfflugzeug F-16 rest steht, geht auf ein Geheimtreffen amerikanischer Unterhändler mit Vertretern des religiösen Regimes in USA dung zwischen Regierung und Genf zurück. Für die Zusammenkunft hatten die US- Geschäftswelt“ zu sein. Auf ihrer Diplomaten eigens einen einflussreichen Vertrauens- Militärkaufhaus Web-Seite (www.drms.dla.mil) mann des in Amerika inhaftierten ägyptischen bietet sie hunderte von Artikeln Terroristenscheichs Umar Abd al-Rahman mit in ihr im Internet an: Werkzeuge, Flugzeugteile Verhandlungsteam aufgenommen, der die Taliban zum und „vieles, vieles mehr“. Zwar Sinneswandel bewegen sollte. Zudem setzte Washing- eim Vertrieb von ausrangier- werden Waffen nach Darstellung ton im Uno-Sicherheitsrat durch, Btem Militärmaterial setzt das der DRMS nur als angeblich un- dass gegen Afghanistan ein Em- Pentagon auf das Internet: In ei- brauchbarer Schrott angeboten, bargo verhängt wird, wenn Ibn nem „virtuellen Kaufhaus“ wer- Kritiker der Online-Offerten Ladin nicht bis zum nächsten den Ersatzteile für Waffen, ge- fürchten jedoch, dass die USA Sonntag ausgeliefert werden soll- brauchte US-Fahrzeuge oder planen, die neue Technologie te. Um sein Gastland vor Sanktio- ausgemusterte Elektronik ange- auch für den Verkauf von Hand- nen zu bewahren, will Ibn Ladin boten. Verantwortlich für den feuerwaffen und Munition zu das Land verlassen, angeblich in Verkauf ist der „Verteidigungs- nutzen. Mit Waffenverkäufen in Richtung Bagdad. Aber auch der dienst für Wiederverwertung Höhe von rund 27 Milliarden Jemen, aus dem Ibn Ladins Fami- und Absatzförderung“ (DRMS). Dollar war Washington auch lie einst nach Saudi-Arabien aus-

Die Agentur, gegründet 1972, 1998 wieder der weltweit größte AFP / DPA wanderte, gilt als mögliche rühmt sich, die „beste Verbin- Lieferant von Kriegsmaterial. Ussama Ibn Ladin Fluchtburg.

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BÜCHER Scholl-Latours Schatten über der Türkei ie Blicke der Dörfler erscheinen Ddem Besucher „intensiv, durchdrin- gend, fremd“. „In der verkapselten kur- dischen Gebirgswelt“ trifft er mitunter auf einen regelrechten „Wolfsblick“; andernorts wirken „manche Gestalten durch lange Inzucht gezeichnet“. Aber auch die Islamisten in Istanbul sind dem CHINA WEST- BENGALEN Reisenden wohl nicht ganz geheuer, INDIEN schauen „oft etwas finster wie Ver- 150 km schwörer“. Kein Zweifel: Peter Scholl- Latour, journalistischer Experte für Kri-

AP senregionen weltweit, bedient in seinem Baleshwar jüngsten Werk manche Klischees. Dies- obdachlos. Ein Armee-Offizier schätzt die mal hat der langjährige Fernsehkorres- ORISSA Bhadrakh Zahl der Toten schon auf über 10000, weit pondent, der jüngst von der nordrhein- Jajpur Golf mehr als die vom Staat offiziell gemelde- westfälischen Landesregierung für sein Cuttack von ten 1000 Opfer. „Wir haben die allmächti- publizistisches Lebenswerk mit dem Bhubaneswar Bengalen ge Atombombe“, höhnte die Tageszeitung Professorentitel geehrt wurde, die Tür- Paradip „The Times of India“, „doch bei Über- kei heimgesucht. Das islamische Land flutung, Dürre und Zyklonen sind wir steht für Scholl-Latour, wie schon der stark verwüstetes Gebiet Puri machtlos.“ Buchtitel dramatisch ankündigt, vor ei- weniger betroffen ner „Zerreißprobe“, über der laizistischen Republik Atatürks sieht der Autor bereits AFRIKA desopfern gefordert. Überdies beendete „Allahs Schatten“. der Krieg das zarte Wirtschaftswachs- Obgleich es Scholl-La- Trockenzeit tum, das die Staaten vorübergehend in tours Opus nicht an den Rang der wenigen afrikanischen politischen Einschät- bringt Krieg Musterländer erhoben hatte. Schon zungen und histori- massieren die Feinde ihre Armeen für schen Verweisen man- ine diplomatische Offensive soll in die Wiederaufnahme der Kämpfe. Ein gelt – eine fundierte Eallerletzter Minute verhindern, dass Vermittlungsvorschlag der Organisation Analyse bleibt der mit dem Ende der Regenzeit am Horn Afrikanischer Einheit (OAU), den die Auflagenmillionär schuldig. Allzu offen- von Afrika der blutige Konflikt zwi- Kriegsparteien bereits akzeptiert hat- sichtlich beschränkt sich der Vielschrei- schen den beiden Ländern Äthiopien ten, wurde gleichwohl nicht verwirk- ber über weite Strecken darauf, ledig- und Eritrea wieder aufflammt. Der licht. Jetzt starteten US- und OAU- lich seine Reiseeindrücke runterzudik- Kampf um ein 415 Quadratkilometer Diplomaten einen letzten gemeinsamen tieren, Anmerkungen zu Hotels und sei- großes Stück Wüste hat in 18 Monaten Versuch, den drohenden neuen Waffen- nen Trinkgewohnheiten („Habe mich auf beiden Seiten zehntausende von To- gang doch noch zu verhindern. zum Sun-downer an der Brüstung des Dachrestaurants installiert“) inklusive. Die atmosphärische Dichte seines In- dochina-Bestsellers „Der Tod im Reis- feld“ erreicht der publizistische Kriegs- gewinnler damit nicht im entferntesten. Doch bei aller Kritik an Scholl-Latour, dem renommierte Islamwissenschaftler vorgeworfen haben, er schüre die Angst vor dem Islam und beute sie aus, geben die gesammelten Notizen einen durch- aus lesbaren Einblick in die Krisenre- gion zwischen Kurdistan und dem Kosovo, dem Scholl-Latour „vor dem Hintergrund der langen osmanischen Geschichte“ gleich noch ein eigenes Ka- pitel gewidmet hat.

Peter Scholl-Latour: „Allahs Schatten über Atatürk.

REUTERS Die Türkei in der Zerreißprobe“. Siedler Verlag, Ber- Äthiopische Soldaten auf dem Weg zur Front (1998) lin; 432 Seiten; 48 Mark.

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KAUKASUS Sehnsucht nach dem Imperium Im Bergland zwischen Europa und Asien kämpfen die Völker um Souveränität – und um den kostbaren Rohstoff Öl. Russland riskiert mit seinem Tschetschenien-Feldzug den eigenen Zerfall, Georgien strebt derweil unter den Schutz der Nato.

ange Panzerkolonnen wälzten sich ckungen an der Staatsspitze, er zwingt zum Tiegel von hundert Völkerschaften, als un- fort aus Grosny, eine Armee rollte Schulterschluss mit der Regierung und hilft zugängliches Versteck für lokale Fürsten, Lheimwärts, es war ein Sieg der Ver- bei der Restauration der Gesellschaft. die fast alle Transitstraßen blockiert ha- nunft: 50000 russische Soldaten zogen sich Ist das Kaukasus-Abenteuer vielleicht ben. Beinahe täglich erschüttern Terroran- vor drei Jahren aus Tschetschenien zurück. nur Wahlwerbung für den vor Wochen schläge, Entführungen und Scharmützel Im Auftrag des Präsidenten Boris Jelzin noch unbekannten, nun höchst populären die Schluchten des Berglands zwischen hatte General Alexander Lebed die „blu- Premier Wladimir Putin? Europa und Asien, das etwas größer als tende Wunde“ am Kaukasus gestillt: Er Alles trifft zu, doch es geht um mehr. Of- Deutschland, doch nur von 22 Millionen versprach dem Muslim-Volk Selbstbe- fen erklärt der russische Regierungschef, Einwohnern besiedelt ist. stimmung. sein Land könne die strategisch wichtige Jahrhundertelang weckte das Gebiet Nun ist die Wunde wieder aufgerissen, Region „nicht entbehren“ – es geht um zwischen dem ölreichen Kaspischen Meer abermals jagt eine 50 000 Mann starke den ganzen Kaukasus, Russlands Kolo- und den Sonnenstränden des Schwarzen Streitmacht Grosnys Bewohner in die nialland seit dem vorigen Jahrhundert, als Meeres die Begierde übermächtiger Nach- Flucht und belagert die Hauptstadt. es die Festung Wladikawkas ausbaute, die barn. Osmanen, Araber und Perser ver- Eine Revanche des geschlagenen Hee- heute Hauptstadt von Nord-Ossetien ist. suchten das kaukasische Babylon in ihre res? Der russische Verteidigungsminister Auf Deutsch heißt der Name „Beherrsche Gewalt zu bringen. Im russischen Bürger- Marschall Igor Sergejew will „die Ordnung den Kaukasus“. krieg besetzten Türken und Engländer das wiederherstellen“. Er sagt: „Wir sind hier- Es geht um Russlands Rolle als Groß- Land. 1942 gelangten die Deutschen bis her gekommen, um nie wieder zu gehen.“ macht. Wenn die tschetschenischen Auf- kurz vor Grosny, Gebirgsjäger hissten die Generaloberst Nikolai Koschman, Jelzins ständischen nicht völlig vernichtet würden, Reichskriegsflagge auf dem höchsten Berg Statthalter in den „befreiten Gebieten“, das Land die Unabhängigkeit gewönne, „ist des Kaukasus – viele Einheimische emp- träumt von einem tschetschenenfreien das Schicksal Russlands vorausbestimmt“, fingen begeistert die Wehrmacht. Land: Grosny werde nach Ende der Kämp- sorgt sich der Vizepräsident der Russischen Denn Stalin hatte ganze Völker willkür- fe nicht wieder aufgebaut – die Stadt habe Akademie der Wissenschaften, Gennadij lich aufgeteilt, den Islam unterdrückt und kein Recht mehr zu existieren. Ossipow: „Danach folgt der Zerfall.“ gleich mehrmals das Schriftsystem geän- Oder dient der Krieg als Heilmittel für Da klingt Sehnsucht durch nach den Zei- dert. Nach dem Abzug der Deutschen übte alle russischen Leiden? Zumindest lenkt ten, als Moskau die malerische Bergregion der Diktator Vergeltung: Tschetschenen, der Tschetschenien-Feldzug ab von Fi- mit hartem Griff im Sowjetimperium hielt. Inguschen, Karatschaier und Balkaren ließ nanzskandalen und korrupten Verstri- Heute präsentiert sie sich als bedrohlicher er als Kollaborateure nach Sibirien und

Bevölkerung bestehende Anteil der Russen RUSSLAND Konfliktherd geplante Pipeline vorherrschende Religion Adygien Maikop Kaukasus-Republiken innerhalb Russlands 450000 Karatschai- 436000 Kabardino- 792000 Tscherkessk Inguschien Republik 32% Adygien 68% Tscherkessische 42% Balkarische Christentum Republik Islam Republik Islam Karatschai- Kabardino- Tsche- Tscherkessien Balkarien tschenien Macha- tschkala * Explosive Abchasien Naltschik Nasran 663000 313000 Suchumi Grosny Republik Republik Mischung Wladikawkas Kaspisches Nord- 30% Inguschien 13% Nord- Dagestan Meer Ossetien Christentum Islam Republiken am *ohne Flüchtlinge Kaukasus Süd- GEORGIEN Ossetien 797000 2,1 Mio. Republik Republik Schwarzes Meer Adscharien Tschetschenien 6% Dagestan 6% Tiflis Islam Islam

100 km ASERBAIDSCHAN 5,4 Mio. ARMENIEN Selbständige Georgien 68%6% Berg-Karabach Baku Kaukasus-Staaten Christentum Eriwan (z. Zt. armenisch kontrolliert) 3,7 Mio. 7,7 Mio. zum MittelmeerTÜRKEI Armenien 68%2% Aserbaidschan 68%2% Nachitschewan IRAN Christentum Islam (zu Aserbaidschan) Mittelasien deportieren, was hunderttau- sende das Leben kostete. „Die Gegend war menschenleer“, erin- nert sich Schriftsteller Anatolij Pristawkin, der 1944 als obdachloser Junge in den fast entvölkerten Kaukasus verschickt worden war. „Wir hörten nachts Kanonen und Bomben, aber wir wussten nicht, dass in den Bergen ein Krieg tobte, über den während der ganzen Sowjetherrschaft kei- ne Zeile geschrieben wurde.“ Mit dem Ende der UdSSR explodierte der ange- staute Druck. Selbst der russischen Intelligenzija, wel- che einst die lärmenden, geschäftstüchtigen Kaukasier als exotische Paradiesvögel be- wundert hatte, blieb der ungestüme Frei- heitsdurst der von Moskau unterdrückten Völker bis heute fremd. Namhafte Profes- soren erklärten die aufständischen Tsche- tschenen zu einer „schlechten Ethnie“; Dichter-Patriarch Solschenizyn wollte das Problem der Rebellenrepublik durch den Bau einer Art Berliner Mauer lösen. Auch Michail Gorbatschow billigt den neuen Feldzug. Denn befreit von der So- wjetherrschaft gleicht der Kaukasus einem Hexenkessel. Lokale Konflikte schürt Moskau nach Kräften, wenn sie der eigenen Herrschaft dienen. Vor sieben Jahren brach zwischen den muslimischen Inguschen, die nach Sta- lins Tod aus der Verbannung zurückkehren durften, und den christlichen Osseten ein Kampf um Wohnrechte in der einst ge- meinsamen Hauptstadt Wladikawkas aus. 12000 russische Soldaten marschierten ein, stellten sich auf die Seite der Osseten und trieben 70 000 Inguschen über die Grenze nach Osten: Es war eine Militär- operation, „in Armeestäben professionell geplant, mit bestialischen Strafaktionen und grausamer Schändung der Bevölke-

rung“, wie die Soziologin Swetlana Tscher- AP wonnaja sagte. Noch heute befinden sich Russische Rekruten in Tschetschenien: „Hergekommen, um nie wieder zu gehen“ beide Völker de facto im Kriegszustand. Tscherkessen und Karatschaier, von Sta- Polizei sind von Awaren besetzt, die nur richtet worden, 3500 Religionslehrer un- lin einst willkürlich zusammengespannt, ein Viertel der Bevölkerung stellen. Mos- terrichten den Koran. Russische Truppen haben dieses Jahr den Hass aufeinander kau hat 22000 Polizisten und 15000 Solda- zerbombten im August mehrere Dörfer mit gelernt, weil sie sich jeweils von den ande- ten stationiert – um „extremistische Got- gut funktionierender islamistischer Ver- ren dominiert fühlen. Vor sechs Monaten teskrieger“ zu bekämpfen. waltung. Nun drohen die Klans und Stäm- siegte in Wahlen, die sein tscherkessischer 5000 Moscheen sind seit dem Zusam- me, die moskauhörige örtliche Staats- Gegenkandidat Derew für gefälscht hält, menbruch des Imperiums in Dagestan er- führung wegzusprengen. der in Moskau aufgewachsene Halb- In Abchasien, abgespalten von Georgien, Karatschaier Semjonow, früher Be- wurden im Oktober sieben Uno-Beobach- fehlshaber des russischen Heeres. ter als Geiseln entführt – Präsident Eduard Nach wochenlangen Demonstrationen Schewardnadse, der mehrere Attentate nur der Tscherkessen gegen den ver- knapp überstand, möchte den Separa- meintlichen Agenten Moskaus ver- tisten-Sprengel rasch zurückerobern. mittelte Putin jetzt einen faulen Kom- Georgien hatte wie Armenien und Aser- promiss: Semjonow bleibt ein Jahr, baidschan immerhin den Sprung in die Un- dann wird wieder abgestimmt. abhängigkeit geschafft, als das Moskauer In Dagestan, wo über zwei Dutzend Reich 1991 in Konkurs geriet. Nur mit Nationalitäten leben, hatten die Bol- Mühe bewältigten die Führer der drei Re- schewiki besonders brutal die Völker- publiken die Wirren der Wendezeit, zwei schaften umgruppiert und Siedlungs- von ihnen – der Georgier Schewardnadse,

gebiete zerrissen – jetzt tobt der REUTERS 71, und der Aseri Gejdar Alijew, 76, – dien- Kampf um das angestammte Acker- Särge der Attentatsopfer in Eriwan ten einst in höchsten Rängen der KPdSU, land. Schlüsselposten in Politik und „Elende, halb verhungerte Existenz“ sie saßen im Politbüro. Beide mussten sich

der spiegel 45/1999 187 geopolitisches Loch“ gefallen. Alle Ansät- ze zu einer Vernunftpolitik habe Jelzin in den Reißwolf gesteckt, klagt auch der Dagestaner Abdulatipow, Minister im Kreml-Kabinett: „das Konzept einer neu- en Nationalitätenpolitik, den Plan zum Wiederaufbau Tschetscheniens, ein Sozial- programm für den Kaukasus“. Auch der einstige Unterhändler Lebed sieht das so: Seit dem Friedensschluss mit Grosny habe Moskau nie wirklich Kontakt zum tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow gesucht. Vorigen Dienstag jedoch brach der Oberkommandierende Jelzin überraschend seinen Urlaub in Sotschi ab und kehrte nach Moskau zurück. Beobachter sahen

DPA erstmals Kriegspremier Putin unter Druck, Ölfeld vor Baku: Pipeline durch Tschetschenien ans Schwarze Meer dem es nicht gelungen war, den Rest der Welt für die russische Sicht nach 1991 in mehreren Bürgerkriegen und im Tschetschenien-Konflikt Revolten extremer Nationalisten, Separa- einzunehmen. tisten und Putschisten erwehren. Zeitgleich brachten rus- Doch die jungen Staaten im Südkauka- sische Politiker wieder sus gründen sich auf schwache Funda- Maschadow, den der Kreml mente. Armut, Korruption und Misswirt- längst zum Ober-Terroris- schaften bremsen den Neuanfang. In Ar- ten abgestempelt hatte, als menien herrscht seit dem blutigen Überfall Verhandlungspartner ins aufs Parlament ein gefährliches Macht- Spiel: Der wandlungsfä- vakuum: Vor laufenden Fernsehkameras hige Jelzin muss seinen erschossen Ende Oktober Geiselnehmer Kritikern im Westen pünkt- unter anderen den Premier und den Par- lich zum OSZE-Gipfel in lamentschef. Istanbul am 18. November „Heute führen wir in diesem Land eine entgegenkommen. Denn elende und halb verhungerte Existenz“, am Bosporus wird auch durfte der Anführer der Terroristen im das Abrüstungsabkommen

Fernsehen klagen, ehe er abgeführt wurde. N. KASSIN P. über konventionelle Waf- „Tausende Kinder haben keine Schuhe Dorfposten in Dagestan: 5000 neue Moscheen fen besprochen, das Mos- oder Schulbücher. Unsere Wirtschaft ist kau mit der Truppenkon- zusammengebrochen, wir stehen vor der Solche Kurswechsel südlich des Kauka- zentration in Tschetschenien gebrochen Gefahr, unsere Staatlichkeit zu verlieren.“ sus treiben die Russen in die Enge.Wird ih- hat. Schon warnen russische Generäle vor Seit Jahren liegt Armenien im Konflikt nen jetzt sogar der Zugang zu den Ölquel- der „erneuten Ohrfeige“ eines Rückzugs- mit Aserbaidschan um die Enklave Berg- len des Kaspischen Meeres und zu den befehls. Karabach. In der aserischen Hauptstadt kaukasischen Transportrouten versperrt, Ein russisches Geheimdienst-Dossier rät Baku setzte Präsident Alijew soeben die wird Russland seine Großmachtstellung dem Kreml zum Umdenken. Ein Desaster gesamte außenpolitische Führung ab: Sie schwerlich halten können. auch im zweiten Tschetschenien-Krieg, so hatte gegen einen Kompromiss im Dauer- Um Georgien und Aserbaidschan unter warnt der Befund, „wäre die völlige Dis- streit mit Armenien opponiert. Druck zu setzen, unterstützt Moskau die kreditierung der Staatsmacht und hätte die Allen Staaten geht es jetzt auch ums Öl: Gegner von Schewardnadse und Alijew. Abtrennung des Nordkaukasus zur Folge“. Wird der Kaukasus nicht befriedet, ziehen Die Separatisten in Abchasien erhalten Jelzins Feldzug könnte aber auch die sich die internationalen Konzerne zurück, ebenso Hilfe wie der adscharische Pro- Russische Föderation sprengen. Der Tsche- die das Erdöl im Schelf des Kaspischen vinzfürst Abaschidse, der Schewardnadse tschene Ruslan Chasbulatow, ehemals Meeres fördern möchten. Pipelines sollen stürzen will. Das abgelegene Armenien, Russlands Parlamentspräsident, sieht nur das flüssige Gold von Aserbaidschan durch eingekeilt zwischen zwei feindlichen Mus- eine finstere Alternative: Führt Russland Georgien oder durch Dagestan und Tsche- lim-Staaten sowie Georgien, ist Moskaus sich am Kaukasus weiterhin als Eroberer tschenien ans Schwarze Meer pumpen. letzter Verbündeter im Kaukasus. Dort auf, dann zieht es sich damit von der Zivi- Weitere Rohölleitungen sind geplant – an bauen die Russen ihre militärische Präsenz lisation zurück und verdorrt ohne Hilfe Tschetschenien vorbei durch die Türkei aus – mit neuen MiG-Jägern und modernen aus dem Westen finanziell, technisch, kul- zum Mittelmeer. Jetzt soll mit dem Bau Abwehrraketen. turell. Oder es verliert den Nordkaukasus begonnen werden. Im Streit um Berg-Karabach hatten sich und lässt damit Unruhen in anderen Re- Damit kommen wieder die Großmäch- Alijew und sein armenischer Amtskollege gionen entstehen: im Fernen Osten etwa te ins Spiel. Die Amerikaner, die das Öl- Kotscharjan offenbar auf einen Gebiets- oder im Gebiet Kaliningrad (Königsberg). kartell im Nahen Osten ausmanövrieren austausch geeinigt. Dies war womöglich Doch wenn Russland in seine Regionen möchten, haben den Kaukasus vor Jahren der Anlass für das Massaker im Parlament zerfällt, so warnt Tschetschenien-Kom- schon zur Zone „unseres nationalen Inter- von Eriwan. Es fiel zusammen mit einem mandeur General Wladimir Schamanow, esses“ erklärt. Alijew bot der Nato bereits Besuch des stellvertretenden US-Außen- dann bedrohen „anderthalb Dutzend Kern- einen Luftwaffenstützpunkt an, Scheward- ministers Strobe Talbott. waffenstaaten in unkontrollierbarem Zu- nadse will „kräftig an die Tür der Allianz Im Kaukasus, bilanziert Schriftsteller stand“ die Welt. Fritjof Meyer, klopfen“ (siehe Interview Seite 190). Pristawkin, sei der Kreml plötzlich „in ein Christian Neef

188 der spiegel 45/1999 Werbeseite

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geschlossen. Aus Rücksicht gegenüber Moskau? GEORGIEN Schewardnadse: Die Grenze ist offen. Frau- en, Kinder, alte Menschen, die zu uns flüch- ten, nehmen wir auf. Nur Männer, die ein „Die Grenze ist offen“ Gewehr tragen können, lassen wir nicht durch. Präsident Eduard Schewardnadse über den Konfliktherd SPIEGEL: Die Russen trauen Ihnen nicht. Sie möchten gern eigene Truppen an die- Kaukasus und seinen Wunsch, der Nato beizutreten ser Grenze postieren. Schewardnadse: Diese Forderung gibt es. SPIEGEL: Herr Präsident, Russland, eine und internationaler Beobachter gelöst Aber sie verträgt sich nicht mit unserer nichtkaukasische Macht, kämpft im Kau- werden. Souveränität. Niemand kann unsere Gren- kasus gegen angebliche Terroristen – wie SPIEGEL: Sind Sie da nicht zu optimistisch? zen besser schützen als unsere eigene weit darf sie dabei gehen, um nicht in Schewardnadse: Es wird positive Ergebnis- Armee. den Verdacht ethnischer Säuberung zu se geben. Das beweist schon das Beispiel SPIEGEL: Wenn den Russen eine Befriedung geraten? Süd-Ossetien, wo der Versöhnungsprozess nicht gelingt, droht dem Kaukasus dann Schewardnadse: Der Nordkaukasus ist für zwischen den Volksgruppen bereits we- bald das gleiche Schicksal wie dem Balkan? Russland kein fremdes Territorium. Dort sentlich weiter fortgeschritten ist. Geor- Schewardnadse: Die drei Staaten des Süd- leben viele Russen, und dort sind sie zu gische wie ossetische Flüchtlinge kehren kaukasus, außer Georgien noch Armenien Hause. Ich weiß nicht, für welche Zeit- wieder heim. In zwei, drei Jahren werden und Aserbaidschan, schließen eine sol- spanne Moskaus gegenwärtige Operatio- die laufenden Verhandlungen alle Streit- che Entwicklung aus. Jede Einmischung nen geplant sind. Aber wenn sie sehr lan- fragen geklärt haben. von außen wäre ein unverantwortliches ge anhalten, ist nicht auszuschließen, dass SPIEGEL: Taugt Ihr Konzept einer Interna- Abenteuer. sie zu ethnischen Säuberungen ausarten. tionalisierung wie im Fall Abchasien auch SPIEGEL: Der Südkaukasus wird doch SPIEGEL: Bitte konkreter: dazu, den Tschetsche- zwangsläufig in Mitleidenschaft gezogen, Billigt Georgien Moskaus nien-Konflikt zu bewäl- wenn der Nordkaukasus brennt. zweiten Tschetschenien- tigen? Schewardnadse: Mit unseren eigenen Pro- Krieg in diesem Jahr- Schewardnadse: Das wird blemen werden wir selbst fertig. Doch wir zehnt? Ist er eine inner- Russland nie zulassen. brauchen natürlich Stabilität für die ge- russische Angelegenheit, SPIEGEL: Obwohl es ver- samte Region. wird dabei die Verhältnis- nünftig wäre? SPIEGEL: Ist das der Grund dafür, dass Sie mäßigkeit der eingesetz- Schewardnadse: Alle Welt Ihr Land so schnell wie möglich in der Nato ten Mittel gewahrt? könnte sich für eine Ein- sehen möchten? Schewardnadse: Wir müs- stellung des Krieges aus- Schewardnadse: So schnell wie möglich – sen die territoriale Inte- sprechen – wenn Russland das habe ich niemals gesagt. grität Russlands respektie- das nicht will, gibt es dort SPIEGEL: Im Jahr 2005 wollen Sie beim west- ren. Dies ist seine interne keinen Frieden. Russland lichen Verteidigungsbündnis anklopfen. Angelegenheit. Anderer- ist schließlich ständiges Schewardnadse: So ist es. Aber: Wenn Sie seits stellt sich die Frage Mitglied des Uno-Sicher- bei mir anklopfen, könnte ich Ihnen die nach der Moral. Jeder heitsrats und kann jeder- Tür öffnen – oder auch nicht. Staat ist verpflichtet, gegen zeit von seinem Vetorecht SPIEGEL: Demnach liegt es an der Nato, ob den Terrorismus zu kämp- Gebrauch machen. Georgien eintritt. In Moskau wird be-

fen. Aber in Tschetsche- AFP / DPA SPIEGEL: Sie haben Ihre fürchtet, für Georgien würde die Nato ihre nien sind viele unschuldige Staatschef Schewardnadse Grenze zu Tschetschenien Eingangstür sofort aufmachen. Eine russi- Opfer zu beklagen. SPIEGEL: Sie kennen das Dilemma aus dem eigenen Land. Zwei nationale Minderheiten Georgiens fordern seit Jahren mehr Unab- hängigkeit: Osseten und Abchasen haben sich praktisch von Tiflis losgesagt, und die Führer der Adscharen beschuldigen Sie, das Land „in den Krieg zu führen“.Wie lö- sen Sie denn diese Konflikte? Schewardnadse: Abchasien, Süd-Ossetien und Adscharien sind alles Bestandteile Georgiens. In Abchasien hat es ethnische Säuberungen gegeben, das ist erwiesen: An die 300000 Georgier, aber auch Armenier und Russen sind vertrieben worden, fast die Hälfte der Bevölkerung Abchasiens. Tausende wurden umgebracht, nur weil sie Georgier waren. SPIEGEL: Die Abchasen hatten in diesem Konflikt andere Völker des Nordkaukasus auf ihrer Seite. Schewardnadse: Es gab Einmischung von

außen. Deshalb kann dieses Problem heu- AP te auch nur mit Hilfe der Weltgemeinschaft Lieferung eines US-Militärhubschraubers für Tiflis: „Jede Einmischung ein Abenteuer“

190 der spiegel 45/1999 sche Zeitung hat bereits die böse Botschaft verbreitet: Schewardnadse tauscht Russ- land gegen die Nato. Schewardnadse: Bislang befinden wir uns in der Phase partnerschaftlicher Beziehun- gen zur Nato. Die nächste Etappe wird da- von bestimmt, wie sich Russlands beson- dere Beziehungen zum Nordatlantikpakt entwickeln. Erst wenn das klar ist, werde ich anklopfen. SPIEGEL: Gab es aus dem Brüsseler Nato- Hauptquartier schon Reaktionen auf Ihren Vorstoß? Schewardnadse: Ich habe noch nichts ge- hört. Aber wir wissen ohnehin, dass der Beitritt zur Nato eine komplizierte Sache ist. SPIEGEL: Ihre Ankündigung und die ähn- lichen Ersuchen der baltischen Staaten müssen doch Russlands Ängste entfachen, von der Nato militärisch eingekreist zu werden. Schewardnadse: Warum nimmt Moskau den baltischen Republiken dann nicht übel, in die Nato zu drängen? Nur wir werden für den gleichen Wunsch sofort scharf an- gegriffen. SPIEGEL: Wohl, weil Georgien bislang als ein ausgesprochen russlandfreundliches Land gilt. Schewardnadse: Wir sind wirklich Russ- lands Freunde und an guten Beziehungen interessiert. Eine antirussische Politik kön- nen wir uns gar nicht leisten. Sie wäre auch unvernünftig. Aber Moskau muss sich dar- an gewöhnen, dass das russische Imperium nicht mehr besteht. Und daran, dass wir ein selbständiges, unabhängiges und freies Land sind. SPIEGEL: Ein kleines Land. Schewardnadse: Es ist dennoch unsere in- nere Angelegenheit, ob und wo wir anklop- fen. Schließlich hat uns Russland auch nicht gefragt, als es seinen Sondervertrag mit der Nato geschlossen hat. SPIEGEL: Haben Sie bei der Nato vorge- fühlt, weil Sie möglicherweise Schutz vor dem russischen Imperialismus suchen? Schewardnadse: Nein. SPIEGEL: Die Nato ist eine Verteidigungs- gemeinschaft. Gegen wen möchten Sie sich besser verteidigen können? Schewardnadse: Gerade weil wir ein klei- nes Land sind, wollen wir dasselbe Niveau der Landesverteidigung wie die Mitglied- staaten der Nato. Allerdings: Der Anta- gonismus von Russland einerseits und der Nato andererseits ist unvernünftig. Er kann und wird überwunden werden. SPIEGEL: Verstehen wir das richtig: Sie wol- len in die Nato und zugleich in der GUS bleiben? Schewardnadse: Warum soll das nicht mög- lich sein? SPIEGEL: Sie wären die ersten. Schewardnadse: Wer weiß.Vielleicht geht ja Russland diesen Weg noch vor uns. Nur: Was bliebe dann noch von der Nato? Interview: Jörg R. Mettke

der spiegel 45/1999 Ausland

FRANKREICH Ein Dessert zu viel Der Rücktritt des Finanzministers schwächt den liberalen Flügel der Regierung und belastet das Verhältnis zwischen Jospin und Chirac. r war der funkelnde Stern in der grauen Regierung des Sozialisten ELionel Jospin, und sein weiterer Auf- stieg schien unaufhaltsam: Bürgermeister von Paris hätte er werden können, später dann Premierminister, falls sein Freund Jospin in knapp drei Jahren die Präsident- schaftswahl gegen Jacques Chirac gewon- nen hätte. Doch nun erlebte Dominique Strauss- Kahn, 50, das Drama des überbegabten Zurückgetretener Minister Strauss-Kahn*: Falsch datierte Briefe eingereicht Kindes. Ein abrupter Abgang nach 881 Ta- gen im Amt war der letzte Dienst, den der finanzierte Imperium geriet rasch in Schief- Rechnung zu stellen, das er ordnungs- Superminister für Wirtschaft, Finanzen und lage. Das Management, traditionell der gemäß versteuerte. Industrie dem Regierungschef erweisen Sozialistischen Partei verbunden, suchte Nun wäre eine solche Anwaltstätigkeit, konnte. verzweifelt nach frischem Kapital. auch wenn sie nicht ganz frei von Hautgout Starren Blicks, ohne mit einem Wort von Da traf es sich gut, dass gerade ein Mann ist, kaum zu verurteilen gewesen. Aber der vorbereiteten Erklärung abzuweichen, mit bewährter Überredungskunst und ex- Mitte 1998 beanstandete der Rechnungshof gab der rhetorisch sonst so Gewitzte vori- zellenten Beziehungen zur Verfügung die Verluste sowie die hemmungslose Di- gen Dienstag seinen Rücktritt bekannt – stand: DSK, der nach der verheerenden versifizierung der Studentenkasse, und ein wegen mutmaßlicher Fälschungen und Wahlniederlage der Sozialisten 1993 sei- die Justiz begann, wegen Veruntreuung krummer Geschäfte an den Pranger ge- nen Ministerposten verloren hatte und öffentlicher Gelder zu ermitteln. Dabei stellter Politiker, der nunmehr als einfa- auch nicht ins Parlament gewählt worden stießen die Untersuchungsrichter auch auf cher „Bürger“ um die Wiederherstellung die Honorarrechnung von Strauss- seiner Ehre kämpft. Kahn, inzwischen der wichtigste Kurz zuvor hatte Strauss-Kahn, wohl der Minister in der Regierung Jospin. kompetenteste und erfolgreichste Finanz- Sie schöpften den Verdacht, DSK minister Frankreichs seit 25 Jahren, der Na- könne für eine fiktive Arbeit ent- tion, den Sozialisten und sich selbst noch lohnt worden sein – eine in Frank- glänzende Zeiten in Aussicht gestellt: die reich bei linken wie bei rechten Po- endgültige Überwindung der Wirtschafts- litikern beliebte Methode, verdien- krise, eine lange Periode stabilen Wachs- te Parteifreunde zu begünstigen. tums,Vollbeschäftigung vor dem Ende des So bezahlte das gaullistisch be- nächsten Jahrzehnts. herrschte Pariser Rathaus jahrelang Die Weissagung war allerdings mit ei- ganze Heerscharen von Scheinan- nem Zusatz versehen, der im Nachhinein gestellten, die für ihr Geld nichts ziemlich prophetisch klingt: „Wenn wir taten. Sogar die Frau des Bürger-

keine Dummheiten machen.“ FOTOS: AFP / DPA meisters Jean Tiberi kassierte für Die Wahrheit ist, dass „DSK“, wie er Neuer Minister Sautter, Premier Jospin ein wertloses Gutachten, was ihr halb kumpelhaft, halb ehrfürchtig genannt Die Nerven liegen blank jetzt ein peinliches Strafverfahren wurde, über eine geradezu unglaubliche eintrug. Dummheit stolperte, die er allein sich war. Von 1994 bis 1997 beriet er die Kasse. Strauss-Kahn erkannte die Gefahr und selbst zuzuschreiben hat. Eine alte Affäre Es gelang ihm, einen potenten Geldgeber bat das Pariser Anwaltsgericht, die Recht- um das Geschäftsgebaren der nationalen zu überreden, mit 21 Millionen Francs mäßigkeit seiner Bezüge von der Studen- studentischen Krankenkasse Mnef („Mu- (über sechs Millionen Mark) bei einer Hol- tenkasse zu begutachten. Er bekam, was tuelle nationale des étudiants de France“) ding der Mnef einzusteigen. er wollte – einen erstklassigen Persilschein. holte ihn überraschend ein. Eine diskrete Arbeit, die so gut wie kei- „Die Arbeiten, die Sie erbracht haben, Mitte der achtziger Jahre hatte die Ver- ne Spuren in den Akten hinterließ und de- sind bedeutsam gewesen“, bestätigten die sicherung einen gewagten Expansionskurs ren Aufwand sich nachträglich schwer be- Kollegen. begonnen. Rund 50 Tochtergesellschaften messen lässt. Strauss-Kahn erlaubte sich Das Dumme daran: In den Unterlagen, wurden gegründet, die Studentenwohnun- jedenfalls, für seine Bemühungen ein Ho- die Strauss-Kahn daraufhin triumphierend gen, Kantinen und Cafeterias, Buch- und norar von 603000 Francs (180000 Mark) in der Justiz übergab, befinden sich offen- Computerläden verwalteten. Doch das ver- sichtlich mehrere falsch datierte, erst schachtelte, auch mit öffentlichen Geldern * Mit seiner Ehefrau Anne Sinclair. nachträglich ausgestellte Briefe und Be-

192 der spiegel 45/1999 scheinigungen. Das will jedenfalls das kri- minaltechnische Labor der Pariser Polizei herausgefunden haben. Der Superminister als plumper Urkun- denfälscher? DSK wusste, dass er „matt gesetzt“ war, wie er Vertrauten gestand. Zu Jospin, der „nicht die Richter über Bil- dung und Auflösung einer Regierung ent- scheiden lassen“ wollte, sagte er: „Lionel, ich muss gehen.“ Sein Verlust ist für den Premier ein har- ter Schlag, denn ohne Strauss-Kahn, der mit seiner pragmatischen Bonhomie die Wirtschaftsbosse und die Wähler der Mit- te zu beruhigen verstand, droht die Regie- rung nach links zu kippen. Fortan fehlt das liberale Gegengewicht in einem Kabinett, in dem Innenminister Jean-Pierre Che- vènement, ein linksnationalistischer Quer- denker, und Arbeitsministerin Martine Aubry, eine streitbare Dogmatikerin, auf ihre Chancen lauern. Der sofort ernannte Nachfolger, der Staatssekretär Christian Sautter, kann die- se Aufgabe kaum wahrnehmen. Er machte mit dem sozialistischen Parteibuch als Funktionär Karriere, ohne jemals gewählt worden zu sein. Seine Schweigsamkeit in der Öffentlichkeit trug ihm den Spottna- men „der Karpfen“ ein – ein Statthalter, kein ebenbürtiger Ersatz. Wie sehr bei dem angeschlagenen Jospin derzeit die Nerven blank liegen, zeigte sich in einer Fragestunde des Parlaments. Als ein gaullistischer Abgeordneter wissen wollte, ob die studentische Krankenversi- cherung zur verdeckten Parteienfinanzie- rung der Sozialisten beigetragen habe, be- schuldigte Jospin den Fragesteller implizit, von Mitarbeitern des konservativen Präsi- denten gespickt worden zu sein. Das trug ihm sogleich eine schneidende Rüge des Staatschefs ein. „Unterstellung dient niemals der Wahrheit“, kanzelte Jacques Chirac den Regierungschef ab und erinnerte daran, dass „die Führung der Staatsgeschäfte Selbstbeherrschung und einen kühlen Kopf verlangt“. So hat der Fall Strauss-Kahn auch noch Züge einer Staatsaffäre bekommen und die bislang erstaunlich harmonische Kohabi- tation zwischen dem gaullistischen Präsi- denten und dem sozialistischen Premier- minister gestört. Jospin, dem bisher fast alles zu gelingen schien, muss aufpassen, dass er die Kontrolle behält, sonst kann er alle Hoffnungen, 2002 als Schlossherr in den Elysée einzuziehen, fahren lassen. Dominique Strauss-Kahn, der mit seiner stämmigen Figur und dem Genießerge- sicht – im Gegensatz zum Asketen Jospin – die ökonomisch erwünschte Konsum- lust äußerst glaubwürdig verkörperte, scherzte gelegentlich über sich, er sei einer, der zum Nachtisch am liebsten Kä- se und etwas Süßes esse. Diesmal war es ein Happen zu viel, und seine Genos- sen werden noch lange am Bauchgrimmen leiden. Romain Leick

der spiegel 45/1999 AP Kanzler Schröder in Peking: „Verschont mich mit Deutschland“

dass das Ansehen des deutschen Kanzlers OSTASIEN proportional zur Entfernung vom Kanz- leramt wächst. Der Zuspruch half dem angeschlagenen Im Reich der neuen Mitte Regierungschef sichtlich auf. „Er hat gelit- ten wie ein Hund“, berichtet ein Freund. Weit weg von den deutschen Querelen, in Sieben 16-Stunden-Tage pro Woche schuf- te der Kanzler, und dennoch beziehe er Japan und China, schlug Bundeskanzler Gerhard Schröder nur Prügel. lang entbehrte Sympathie entgegen. Im Land der aufgehenden Sonne löste sich sogar eine Peinlichkeit vom Beginn inks ein Auto, rechts VW-Chef Ferdi- Sympathie mitreißen. „Anerkennenswert“, der Reise wunderbar auf. Kurz vor dem nand Piëch, vorn eine Wand von Ka- lobte Schickedanz-Vorstand Ingo Riedel Abflug hatte DGB-Chef Dieter Schulte die Lmeras und rundherum ein glückli- das Engagement des Regierungschefs. Teilnahme überraschend abgesagt – „aus cher Ort, der vom Automobilwerk lebt. Bernd Gottschalk, Chef des Verbandes der persönlichen Gründen“. Wollte sich da Dazu schrammelt eine Damenkapelle in Automobilindustrie, mochte sich „wirklich schon einer von dem Kanzler im Sinkflug Stützstrümpfen Beethovens „Freude schö- nicht beklagen“, und der im Hoffnungs- absetzen? ner Götterfunken“. markt der neuen Mitte aktive Steckdosen- Der Grund für die plötzliche Absage Gerhard Schröder fühlt sich endlich mal Hersteller Walter Mennekes aus dem Sau- fand sich gleich am ersten Abend in Tokio wieder so richtig wohl: In Anting vor den erland bekannte: „Ich find den Kanzler im Hotelzimmer des Industriellen Jürgen Toren Schanghais ist alles wie in Wolfs- gut.“ Wann hatte der so viel geballte Net- Heraeus. Als der Mann aus der Wirt- burg.Alles wie früher in Niedersachsen, als tigkeit zum letzten Mal gehört? schaftsdelegation versuchte, das Zahlen- dem Ministerpräsidenten Schröder das Re- Nun weiß Schröder endlich, warum Wil- schloss seines Koffers zu öffnen, wollte ihm gieren noch Spaß machte. ly Brandt, Helmut Schmidt und Helmut das nur mit einiger Gewalt gelingen. Wel- Auf Staatsbesuch in Japan und China ver- Kohl so gern auf Reisen gegangen waren. che Überraschung: Heraeus fand die Wä- gangene Woche erholte sich der Kanzler Es scheint eine Art Naturgesetz zu sein, sche des DGB-Chefs. von seiner Berliner Republik. „Verschont Nach dem Flug von Düs- mich mit Deutschland“, bat er mehrmals, seldorf zur Kanzlermaschi- „oder wollt ihr mir den Tag verderben?“ ne nach Berlin hatte der Einmal morgens, einmal abends studier- Unternehmer versehentlich te Schröder rasch die Meldungen aus der den Koffer des Gewerk- Heimat, ansonsten ersparte ihm die Dele- schafters vom Band ge- gation Reizwörter wie Rente, Riester und nommen, während Schulte Rot-Grün. Stattdessen riefen die Japaner annahm, seine Utensilien „Bravo, Gehado Schlöda“ und applau- seien verschwunden – und dierten, wo immer er auftauchte. dem Kanzler nur wegen In China hieß ihn die Pekinger Zeitung fehlender Kleider absagte. „Chenbao“ liebevoll willkommen als ei- In diesem Klima der nen „gelernten Marxisten“, der in jungen Harmonie glätteten sich in Jahren geprahlt habe, er könne „alle Text- Schröders Gesicht zuse- stellen auswendig zitieren“. hends die Knitterfalten, die Die mitreisenden Manager aus Deutsch- vom Chaos-Regiment in land ließen sich von der gelben Welle der der deutschen Innenpolitik übrig waren. Wie schon im

* Am vergangenen Mittwoch im VW-Werk Anting bei DPA Mai, als sich Schröder stell- Schanghai. Staatsgäste Schröder, Piëch (r.)*: Diplomatische Eisbahn vertretend für die Nato-

194 der spiegel 45/1999 Werbeseite

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Staaten bei einem Kurzbesuch in Peking für die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad entschuldigen musste, KLIMA machte er auch diesmal eine weit bessere Figur, als sie der zweidimensionale Außen- politiker Kohl („Ist ja hier wie bei uns“/„Ist Vergesst Amerika nicht wie bei uns“) je gemacht hatte. Auf der diplomatischen Eisbahn China Die USA bremsen in der Klimapolitik. Doch langsam bildet sich hielt der Nachfolger geschickt die Balance zwischen der Forderung nach mehr Rechts- eine Mehrheitsfront gegen die größte Abgas-Nation. staat und der von den Chinesen nicht ge- duldeten Einmischung in innere Belange. er ehemalige Umweltminister politik: Ohne oder gar gegen die USA, den Endlich war auch der kleine Koalitions- Klaus Töpfer, nun Chef der Uno- größten Verschmutzer, gibt es keine Um- partner in Gestalt der grünen Parlamenta- DUmweltbehörde Unep, stellte den setzung des Vertrages. Nun formiert sich rierin Antje Vollmer zufrieden gestellt. Gästen eines intimen Mittagsmahls einen eine neue Front unter Experten. So besuchte der nicht übermäßig histo- Wahlverwandten vor: „Das ist sozusagen Schon kurz vor dem zweiwöchigen Gip- risch denkende Schröder in Schanghai eine mein Enkel.“ Jürgen Trittin widersprach fel kam Bewegung in die Strategiedebatte. Synagoge, nachdem er sich zuvor zum Ge- nicht. In einem Buch, das die Entwicklung seit spräch mit Intellektuellen getroffen hatte. Der grüne Minister und sein schwarzer der Rio-Konferenz akribisch nachzeichnet, Die verstanden auch seine Anmerkung, Vorfahr demonstrierten auf der Bonner wird die Europäische Union aufgefordert, dass die Deutschen angesichts ihrer jün- Weltklimakonferenz ein erstaunliches Maß sich offensiv an die Spitze des Klima- geren Vergangenheit „eine Missionars- an Übereinstimmung. Mit bebender Stim- kampfs zu stellen – und die Amerikaner, je- haltung“ besser nicht einnähmen, keines- me, in ganzen Passagen fast wortgleich, be- denfalls vorerst, zu vergessen**. wegs falsch. schworen beide Ober-Ökos vergangene Vertreter der Nicht-Regierungsorgani- Schröder präsentierte sich als verant- Woche die Delegationen aus 173 Ländern, sationen, die die Mammutkonferenzen seit wortungsvoller Erbe von Willy Brandt. Der die vor zwei Jahren in Kyoto beschlossenen Rio mit ungezählten Diskussionen und Leitspruch der Ostpolitik, Wandel durch Richtlinien zur Reduzierung der klimage- Protesten begleiten, finden Gefallen an fährdenden Abgase in konkrete Beschlüs- der politisch brisanten Idee. Die Klima- Das Ansehen des Kanzlers se umzusetzen. Spätestens 2002, zehn Jah- diplomaten registrieren die Entwicklung wächst proportional zur re nach dem legendären Umweltgipfel von aufmerksam und halten sich vorerst be- Rio, müsse das Übereinkommen endlich in deckt. Entfernung vom Kanzleramt Kraft treten. Nur ohne die USA, argumentieren die Erster Adressat der flammenden Appel- Autoren Herrmann Ott vom Wuppertal- Annäherung, drehte sich in Fernost zu ei- le sind die USA. Sie allein zeichnen für Institut für Klima, Umwelt, Energie und ner Annäherung durch Wandel. mehr als ein Drittel des von den Indu- Sebastian Oberthür vom Berliner Um- Maßgeblichen Anteil am behutsamen striestaaten in die Atmosphäre geblasenen weltforschungsinstitut „Ecologic“, ergebe Auftritt Gerhard Schröders hatte der Klimaschädlings CO2 verantwortlich. Seit sich eine realistische Möglichkeit, das Kyo- Schriftsteller Tilman Spengler. Der China- Rio bremsen die Amerikaner eine aktive Kenner las jede Rede des Regierungs- Klimapolitik nach Kräften ab. chefs und diente dem Kanzler als asiati- Sie streiten für die totale Freigabe der so scher Knigge. genannten Kyoto-Mechanismen. Die er- Mit der ihm eigenen Freude für skurrile lauben es den Industrieländern, sich von ih- Situationen plauderte der Dichter beim rer Verpflichtung zur Abgas-Reduktion zu Lunch im Tokioter Kaiserpalast mit einem Hause freizukaufen, indem sie Umwelt- der beiden Prinzen, wie vom Protokoll projekte in Entwicklungsländern fördern empfohlen, über Fische. oder nicht genutzte Emissionsrechte etwa Nur interessierte sich der kaiserliche in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion Nachwuchs in Wirklichkeit für Hühner, erwerben. über die er eine Doktorarbeit geschrieben In schönen Worten bekennt sich die US- hat. Wacker kämpfte Spengler mit der Regierung zwar zu den Klimazielen, doch Dolmetscherin, bis sie „den Unterschied ihre Delegation bekämpft energisch alle zwischen Eierleiter und Eileiter verstan- Pläne anderer Konferenzstaaten, für den den“ hatte. Emissionshandel eine Obergrenze festzu- Einen Feind fürs Leben machte sich der legen. Sonst, so der US-Delegationsleiter Literat im CSU-Parlamentarier Carl-Dieter Frank Loy, gebe es keine Chance für eine Spranger. Als sich dem ehemaligen Ent- Ratifizierung im von den Kyoto-feindlichen wicklungshilfeminister im Hotel die Tür Republikanern dominierten Senat. Loy, in zum überfüllten Aufzug öffnete, krähte Bonn durchweg als ehrlicher Makler ge- Spengler von hinten: „Das Boot ist voll, lobt, soll schon vor dem Bonner Gipfel den Herr Spranger.“ Die Liftbesatzung grölte Kyoto-Prozess „auf dem Totenbett“ gese- vor Freude, nur der Konservative mit hen haben. Deutschlands schärfstem Scheitel mochte Die Dauerblockade der USA lockert ein am Spaß nicht teilhaben. bisher unumstößliches Dogma der Klima- Weil Gerhard Schröder so viele ent- spannte Tage in seiner Kanzlerschaft kaum * Oben: am 25. Oktober während der Rede von Bun- wieder erleben wird, schlug ein praktisch deskanzler Gerhard Schröder; unten: am vergangenen denkender Diplomat vor: „Wir gehen jetzt Dienstag vor dem Bonner Konferenzgebäude. ** Sebastian Oberthür, Hermann Ott: „The Kyoto Pro- jede Woche auf Staatsbesuch.“ tocol – International Climate Policy for the 21st Cen- Andreas Lorenz, Hajo Schumacher tury“. Springer-Verlag, Berlin; 359 Seiten; 98 Mark. Umweltminister Trittin, Öko-Aktivisten*:

196 der spiegel 45/1999 to-Protokoll unverwässert und rasch im pan, Russland und die Wendestaaten Ost- Symboljahr 2002 (Konferenzjargon: „Rio europas. plus 10“) in Kraft zu setzen. Die neue Allianz, so die Autoren, könne Die dafür erforderliche Zahl von 55 nur auf der Basis einer „hartnäckigen di- Staaten, die das Abkommen ratifizieren plomatischen Anstrengung“ geschmie- müssen, sei das geringere Problem – schon det werden, „Kompromissbereitschaft al- weil die zahlreichen kleinen Inselstaaten, ler Seiten“ vorausgesetzt. Japan, so die die sich wegen des steigenden Meeresspie- Hoffnung, werde sich aus der US-ameri- gels im Treibhaus Erde in ihrer Existenz be- kanischen Umklammerung lösen, schon droht sehen, mitziehen würden. damit „Kyoto“ als Erfolg in die Geschich- te der globalen Umweltdiplomatie eingehe. Die ostmitteleuropäischen Staa- ten, sämtlich Kandidaten für den EU-Beitritt, könnten mit sanftem Hinweis auf die westeuropäischen Klima-Ideale zum Anschluss an das neue Bündnis bewegt werden. Russland schließlich habe zwar ein vitales Interesse, möglichst viele seiner wegen der Wirtschafts- misere ungenutzten Emissions- rechte gegen Dollar zu verkaufen.

DPA Doch sei bei dem bisherigen US-Delegierte in Bonn*: Hardliner im Senat Konfrontationskurs eben auch das vollkommene Scheitern des Proto- Viel schwieriger ist die zweite Ratifizie- kolls nicht auszuschließen – was die po- rungshürde zu nehmen. Sie legt fest, dass tenziellen Moskauer Kyoto-Profiteure die Verpflichtungen erst greifen, wenn die ohne jede Aussicht auf den Emissionshan- beteiligten Länder insgesamt 55 Prozent del zurückließe. der 1990 von allen Industriestaaten aus- Natürlich wünschen sich auch die Auto- gestoßenen Klimagase repräsentieren. ren der Studie ein Einschwenken der USA. Dazu bedürfte es einer Allianz, der sich Das, so ihre Hoffnung, werde von selbst neben den EU-Ländern vor allem solche kommen, sobald ein Inkrafttreten des Pro- Staaten anschließen müssten, die bisher in tokolls in Sichtweite sei und international der so genannten Umbrella Group an der tätige US-Unternehmen nicht den An- Seite der Vereinigten Staaten stritten: Ja- schluss an die dann erwarteten höheren Umweltstandards verlieren wollten. Erste Anzeichen, dass die US-Multis, den repu- blikanischen Hardlinern im Senat zum Trotz, mit dem EU-Kurs sympathisieren, seien schon heute erkennbar. Noch hält es Bundesumweltminister Trittin nicht für hilfreich, die Vereinigten Staaten öffentlich als Bremser „vorzu- führen“. Sein Bonner Delegationsleiter Hendrik Vygen sagte vergangenen Mitt- woch eine Diskussionsveranstaltung über die Ohne-Amerika-Strategie kurzfristig „aus Termingründen“ ab. Doch vertrauli- che Gespräche über eine neue Strategie ohne die USA sind mit russischen Exper- ten schon vereinbart. Der diplomatisch-moderate Kurs könn- te sich ändern, wenn am 7. November 2000, wenige Tage vor dem nächsten dann ent- scheidenden Klimagipfel in Den Haag, ein Republikaner an die Spitze der Weltmacht USA gewählt würde. Dann, so die Über- zeugung vieler Delegationen, wäre Kyoto tatsächlich tot – es sei denn, eine neue Al- lianz würde es allein versuchen. „Wir wünschen uns eine Ratifizierung gemeinsam mit den USA“, meinte die schwedische EU-Umweltkommissarin Mar- got Wallström in Bonn und lächelte: „Aber das ist keine Voraussetzung für die Ratifi-

AP zierung und auch nicht dafür, das Kyoto- Flammende Appelle an die USA Protokoll umzusetzen.“ Gerd Rosenkranz

der spiegel 45/1999 197 Die Hoffnungen vieler auf einen baldi- gen Regimewechsel in Belgrad nach dem Kosovo-Desaster haben sich nicht erfüllt. Sonderpolizei und Armee sichern Jugosla- wiens Präsidenten weiterhin die Basis der Macht. Die Anläufe der zersplitterten Opposition, mit Massendemos Milo∆eviƒ zu kippen, schlugen bisher fehl. Entspre- chende Ankündigungen des Führers der Demokratischen Partei, Zoran Djindjiƒ, er- wiesen sich als zu vollmundig. Einzige Alternative scheinen nun baldi- ge Wahlen zu sein. Dafür ist der Westen of- fenbar bereit, mit Sanktionsmilderungen einzulenken – etwa humanitären Ölliefe- rungen und einer Aufhebung des Flug- embargos. Wenn das man genügt. Denn so leicht gibt Milo∆eviƒ, 58, nicht auf. Stattdessen ließ er zur Jagd auf Fahnenflüchtige blasen. So wurde bekannt, dass sein früherer Spe- zi, Serbiens Präsident Milutinoviƒ, unter „Hausarrest“ steht. Er soll intern Zweifel am Kurs der Partei geäußert haben. Wo Warnungen und Verlockungen nicht

DPA helfen, wird erbarmungslos eingeschüch- Demonstration von Milo∆eviƒ-Anhängern*: Sanktionsmilderung gegen freie Wahlen? tert. Eine Erfahrung, die der ehemalige Sozialisten-Vize Milorad Vu‡eliƒ machte. Der hatte sich während des Kosovokriegs JUGOSLAWIEN nach Griechenland abgesetzt. Sicher sein kann er jetzt nicht mal mehr in Montene- Slobos Revanche gro. Dort wurde sein Auto von Kugeln durchsiebt. Er hatte es zufällig an Freunde Vergeblich hofft die Opposition in Belgrad bisher auf den Sturz ausgeliehen. Vergebens suchte der Westen seit dem von Präsident Milo∆eviƒ. Dessen Regime wankt Kosovokrieg mit einer internationalen nicht einmal und straft rigoros Abtrünnige und Feinde. Quarantäne das Milo∆eviƒ-Regime zu schwächen – etwa mit einer Boykottliste ttentate, so eröffnete die Belgrader Präsidenten der Demokratischen Partei. für Visa.Auf der stehen seit dem 5. Mai 305 Wochenzeitung „Nedeljni Tele- Selbst Zoran Djindjiƒ sieht Anzeichen für Loyalisten des Serben-Regenten, denen die Agraf“ ihren Lesern, seien eine „ser- ein geplantes Attentat auf ihn. Polizei habe EU sowie weitere 15 Staaten, einschließlich bische Tradition“. Die erlebt im Schatten- seine Leibwächter nach den bevorzugten der USA, die Einreise offiziell verbieten. reich des Balkan-Despoten Slobodan Mi- Fahrtrouten ausgefragt. Ausnahmen, rechtfertigte sich die EU la- lo∆eviƒ derzeit eine blutige Renaissance. Schon nach dem von Belgrad inszenier- konisch, seien allerdings vorgesehen. Allein vier Attentate auf politische Op- ten Bosnienkrieg sollen Insideraussagen zu- So wie für Ivica Da‡iƒ, Sprecher der So- ponenten gab es zuletzt in Serbien. An- folge hunderte von „Mitwissern“ durch zialistischen Partei Serbiens. Der tummel- fang Oktober sollte der Führer der Serbi- mysteriöse Autounfälle ums Leben gekom- te sich jetzt unbehelligt bei der Tagung der schen Erneuerungsbewegung (SPO) Vuk men sein.Aber auch zahlreiche enge Freun- Interparlamentarischen Union in Berlin. Dra∆koviƒ durch einen arrangierten Auto- de der Milo∆eviƒ-Dynastie wurden in den Per Handy scherzte er vom Kurfürsten- unfall liquidiert werden. Er überlebte als vergangenen Jahren unter nie aufgeklärten damm mit den in Belgrad zurückgeblie- Einziger – vier Personen starben. Weil das Umständen ermordet aufgefunden. Sie hat- benen Journalisten: „Nicht einmal die Regime das Attentat nicht mehr leugnen ten sich von ihren Gönnern distanziert. Fingerabdrücke haben sie von unseren Glä- konnte, schob man die Ver- sern genommen.“ antwortung auf eine mys- Wenn der Westen Milo∆eviƒ entmachten teriöse Serbische Befreiungs- wolle, müsse er von seinen halbherzigen organisation (OSA). Diese Aktionen Abstand nehmen, warnt denn habe in einem Bekennerbrief auch der Belgrader Staranwalt Toma Fila: den Anschlag gestanden. „Die Liste ist reine Schlamperei. Personen Einen Tag vor dem Mord- wurden verwechselt, andere haben seit versuch gegen Dra∆koviƒ feu- Jahren eine andere Position.“ Auf mindes- erten Unbekannte auf den tens 3000 bis 4000 Personen – vom Ge- Präsidenten der SDA-Partei meindebürgermeister bis zu den Direkto- in Priboj/Sand≈ak. In Valjevo ren von Staatsbetrieben – müsse das Rei- warfen Attentäter nachts eine seembargo laut Fila ausgeweitet werden. Bombe auf die Terrasse des Nur dann ließe sich der Machtapparat um Milo∆eviƒ isolieren. * Oben: Ende Oktober bei Wiederauf- Auch die geheime Boykottliste für ser- nahme des Eisenbahnverkehrs nach

Bistrica; unten: mit Ehefrau Mirjana, SYGMA bische Firmen, die von korrumpierten Sohn Marko, Tochter Marija. Milo∆eviƒ, Familienclan*: „So wunderschönes Land“ Funktionären gemanagt werden, müsste

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Werbeseite Ausland drastisch aufgestockt werden. Hunderte oder China gebunkerten Notgroschen serbischer Unternehmen verlegten ihren spürbar. Die von der Landesmutter in den Sitz mittlerweile nach Montenegro, weil Direktoren- oder Ministerstand erhobe- die EU-freundliche Teilrepublik des Dissi- nen Freunde packten klammheimlich die denten-Präsidenten Milo Djukanoviƒ mit Koffer, schickten Söhne und Töchter als rund 600000 Einwohnern von den Sank- Vorboten außer Landes. Zoran Mi∆koviƒ, tionen ausgenommen wurde. ehemaliger Minister und Direktor des Del- Zunächst hatten die Reisebeschränkun- ta-Konsortiums, einer staatlichen Mono- gen Panik unter der luxusverwöhnten Ge- polzentrale für Import-/Exportgeschäfte, folgschaft der Präsidentenfamilie Milo∆eviƒ verfügte flugs die Firmenverlegung ins ausgelöst. Immerhin umfasste die Büßer- Ausland. Damit, triumphierte er gegen- kartei nahezu die gesamte politische und über Freunden, sei er bereits von der EU- militärische Hierarchie sowie die persönli- Liste gestrichen. Delta galt als lukrative chen Freunde des Herrscherpaares. Die Einnahmequelle für JUL-Funktionäre und Nomenklatura fürchtete um ihre Pfründen deren dubiose Geschäfte. Die Firma be- und Alterswohnsitze im sonnigen Ausland. fand sich auf einer Boykott-Geheimliste Die Schweiz ließ bereits Konten der „un- der EU. erwünschten Touristen“ einfrieren. Zunehmende Zweifel an der Loyalität In London blockierte die Regierung die seiner politischen Diener lassen Milo∆eviƒ Immobilien des Milo∆eviƒ-Geldkuriers Bo- nun noch mehr Rückhalt im engeren Fa- goljub Kariƒ, Listenplatz 75 der Embargo- milienkreis suchen. Ehefrau Mirjana führ- liste. Als der Multimillionär samt Gattin te erstmals eine politische Delegation zu Milenka sogar vom Flughafen in Nikosia/ Gesprächen mit den montenegrinischen Zypern nach Belgrad zurückverfrachtet Abgeordneten, um die künftigen Bezie- wurde, war dessen Loyalität zum Regime hungen zwischen den beiden Republiken schnell erschöpft. Serbiens Rockefeller, Be- zu erörtern. Die Montenegriner kamen da- sitzer von Banken, einem TV-Sender, eines bei allerdings nicht zu Wort. Die vorge- Kommunikationsnetzes und Wirtschafts- sehene Diskussionszeit von einer Stunde

Anschlag auf Auto von Dra∆koviƒ (r.): Serie mysteriöser Unfälle konzernen rund um die Welt, verkündete füllte die Soziologie- seinen Rücktritt als Minister ohne Ressort. professorin allein mit Niemand in der Regierung, klagte er, habe ihrer Anklage gegen-

dort seine demokratischen Reformvor- über den undankbaren FOTOS: AP ( li.); REUTERS ( re.) schläge gewürdigt. Brüdern aus. Das Milo∆eviƒ-Imperium schlug umge- Sohn Marko wurde vergangene Woche hend zurück. „Slobos“ Finanzpolizei prüft in die Geschäftsführung der Po≈arevac- jetzt die Geschäftspraktiken des Abtrün- Bank aufgenommen – einer Zweigstelle nigen. Kariƒ setzt derweil auf das Wohl- der Beobank, die internationale Trans- wollen anderer: Die EU korrigiert im Zwei- aktionen vornimmt. Tochter Marija ist als Monats-Rhythmus ihre Sanktionskartei. Botschafterin für Kuba im Gespräch. Einsichtige dürfen mit einer Streichung aus Die Welt, so verkündete der Serben- der Liste rechnen. Dann könnte Kariƒ den Vormann während einer Brückenein- Frust politischer Ungnade zumindest in sei- weihung optimistisch, werde sich „schon nem englischen Schloss verwinden. bald ändern“. Es gelte nur, die Über- Selbst im hartgesottenen Clan um gangsperiode auszusitzen. Und Ehefrau Milo∆eviƒ-Gattin Mirjana Markoviƒ und Mirjana ließ wissen: Das eigene Land ihre kommunistische Parteiorganisation sei „so wunderschön“. Da wolle sie gar JUL war nach der EU-Entscheidung das nicht ins Ausland – schon gar nicht in Staa- Zittern um den Verbleib der in Zypern, ten, in denen sie nicht willkommen Griechenland, der Schweiz, Luxemburg sei. Renate Flottau

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LIECHTENSTEIN Einladung zur Geldwäsche Wer Kapital vor dem Zugriff des Fiskus verstecken will, findet im Fürstentum Liechtenstein willige Helfer. Die Treuhänder versichern gern, nur legal zu arbeiten. In einem Dossier des Bundesnachrichtendienstes steht eine andere Version: Mafia-Organisationen, Drogenkartelle und russische Großkriminelle werden geradezu in den Zwergstaat eingeladen.

Geldfächer in Liechtensteiner Bank Diskrete Fluchtburg für scheues Kapital

geschützt durch „ein Geflecht aus Bezie- hungen von hohen Beamten, Richtern, Po- litikern, Bankdirektoren und Anlagebera- tern, die sich bei der Abwicklung illegaler Geldgeschäfte im Auftrag internationaler Krimineller gegenseitig unterstützen“. Fürstenschloss Liechtenstein: Ein ganzes Land als Handlanger von Kriminellen Der amtliche Befund ruiniert die ohne- hin schon ziemlich ramponierte Reputa- ie Hilfe kam von ganz oben. Liech- In den Giftschränken der entscheiden- tion des Zwergstaates endgültig. Versteckt tensteins Regierungschef Mario den Ressorts des Schröder-Kabinetts liegt zwischen Österreich und der Schweiz, be- DFrick nutzte eine Investment- ein Dossier, das der Präsident des Bundes- herbergt das Fürstentum auf gerade mal Tagung im Fürstentum, um den Ruf des nachrichtendienstes (BND), August Han- 160 Quadratkilometern rund 32 000 Ein- Finanzplatzes aufzupolieren. „Sorgfalt“ ning, Anfang April ablieferte. Das Kanz- wohner und mehr als doppelt so viele sei bei der Entgegennahme von Geldern leramt, Joschka Fischers Diplomaten, Hans Stiftungen, in denen mindestens 200 Milli- oberstes Gebot. Mit der Revision des Bank- Eichels Finanzexperten und Otto Schilys arden Schweizer Franken fast spurlos ver- gesetzes, dem neuen Sorgfaltspflicht-Ge- Verbrechensbekämpfer werden darin auf schwunden sind. setz und der Verabschiedung von Strafbe- knapp 30 Seiten über krumme Geschäfte Das geschieht gewöhnlich innerhalb we- stimmungen gegen Geldwäsche und Insi- von Staats wegen informiert. Das Geheim- niger Stunden. Der Anleger wählt unter derhandel habe sein Land die notwendigen papier liest sich, als sei die Schreckensvi- den 120 zur Verschwiegenheit verpflichte- Schritte zur Verhütung der Finanzkrimi- sion aller seriösen Regierungen schon Rea- nalität gemacht. lität: Ein ganzes Land, mitten in Europa, Auch Wirtschaftsminister Michael Ritter soll sich den Kriminellen in aller Welt als widersprach den weltweiten Kritiken, die Handlanger andienen – eben das Fürsten- in dem Zwergstaat nicht nur einen Zu- tum Liechtenstein. fluchtsort für das Kapital erfolgreicher Un- Zu der hofierten Kundschaft, notierte ternehmer sehen, sondern auch eine idea- der BND penibel, gehörten „lateiname- le Spielwiese für Geld- und Ganovenadel. rikanische Drogenclans, italienische Liechtenstein verfüge über eine „griffige, Mafiagruppierungen und russische OK- europäischen Standards entsprechende Gruppen“. Sie alle würden nicht nur als Missbrauchsgesetzgebung“. Anleger geduldet, sondern mit „maß- Über das angebliche Reinheitsgebot für geschneiderten Finanzdienstleistungen“ den Finanzverkehr und die vermeintlichen zur Wäsche ihres schmutzigen Geldes an- Saubermänner in der Steueroase können gelockt. Und das alles gefahrlos: Denn sol- die Regierenden in Deutschland nur ge- che Geschäfte in Liechtenstein, urteilt der quält lächeln – sie wissen es besser. deutsche Auslandsgeheimdienst, würden BND-Lauschstation im Schwarzwald: Nächtliche

202 der spiegel 45/1999 ten Treuhändern des Landes einen aus, der Namen und Adresse für eine Stiftung her- gibt und die Briefkastenfirma verwaltet. Nach Ausstellung der Stiftungsurkunde eröffnet die Gesellschaft auf ihren Namen ein Konto und legt das Geld an. Nach außen gilt der Strohmann als Besitzer des Vermögens, die wahren Eigentümer blei- ben anonym und können sich in der Hei- mat folgenlos Steuerzahlungen sparen. Das Versteckspiel nährt die Einwohner glänzend. Jeder zweite Beschäftigte ist im Geldgewerbe oder Treuhandwesen tätig. Sie alle mühen sich von früh bis spät, den Ruf zu festigen, eine der diskretesten Fluchtburgen für das scheue Kapital zu sein. Das Bankgeheimnis ist Staats- doktrin, zudem gibt es ein An- walts-, ein Treuhänder- und ein Steuergeheimnis. Ein scheinbar perfekter Schutz. Erst einmal wurde die Schweigemauer durchbrochen, als es dem SPIEGEL (51/1997) gelang, mit Hilfe einer Diskette etliche Namen der Stifter im Dunkeln zu enttarnen. Das führ- te zu einer Flut von Steuerstraf- verfahren.

FOTOS: F. BIICKLE / BILDERBERG (li.); F. FOTOS: M. WIENHÖFER / PRINT ( re.) Jetzt glückte dem BND ein weiterer Coup. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Bundesre- gierung dem Geheimdienst in den vergan- genen Jahren neue Prioritäten bei der Informationsbeschaffung aufgegeben – Geldwäsche und Drogenhandel, die Ge- schäfte internationaler Verbrechersyndi- kate sollen aufgeklärt werden. Liechtensteins Diskretion ist die moder- ne Kommunikation und die Nähe zur deut- schen Grenze zum Verhängnis geworden. In den Ausläufern des Schwarzwaldes be- treibt der Dienst seine leistungsfähigste Lauschanlage. Die Station ist auf das Ab- hören des sogenannten Intelsat-Satelliten- systems spezialisiert. Außer über Telefon und Fax wickeln Banken weltweit ihren Datenaustausch auch über den Satelliten- weg ab. Seit 1996 zapft der BND gezielt den nächtlichen Datentransfer der Geldhäuser an – solange keine deutschen Kunden und ROPI Datentransfers angezapft

der spiegel 45/1999 Ausland keine deutschen Institute betroffen sind, gelten praktisch keinerlei Restriktionen. Ein Treffer kam zum anderen, die krumme Kundschaft des Fürstentums und ihre Hel- fer wurden aussortiert. Im „Weltzentrum der Briefkastenfir- men“, so der BND, würden etliche Anwäl- te und Berater auf den ersten Blick völlig legalen Geschäften nachgehen. Doch ein erheblicher Teil der rund 120 Treuhänder würde gleichzeitig „ein sehr ertragreiches Standbein in der Illegalität“ unterhalten. Ihren Einfluss und ihre Reputation würden

So ziemlich jeder Wirtschaftskrimi von Format endet im Fürstentum die schwarzen Schafe „gegen entsprechen- des Entgelt zum Vorteil organisierter kri- mineller Gruppen zur Verfügung stellen“. So zählten der südamerikanische Drogen- baron Pablo Escobar vom Medellín-Kartell und das Cali-Kartell zu ihren Kunden. Nur selten wurde bisher ein Fall be- kannt, der einen solchen Verdacht nährt: Im August 1996 verhaftete die amerikani- sche Drogenpolizei DEA den Schweizer Finanzier Karl G. Burkhardt in der Wan- delhalle des Luxushotels Ritz-Carlton in Alexandria bei Washington. Der „Geldwä- scher der Weltklasse“ (DEA) war den US- Agenten von Szenekennern als Spezialist für die Legalisierung größerer Summen Drogengelder genannt worden. Ein V-Mann stellte ihm eine Falle. Er übergab Burkhardt, nachdem der schon drei kleinere Transaktionen abgewickelt hatte, einen Koffer mit zwei Millionen US- Dollar. Der Schweizer schwärmte laut An- klageschrift von den Möglichkeiten, per Offshore und Liechtensteiner Bankkonten das Geld zu waschen. Liechtenstein habe noch nie Auskünfte über Bankkonten an fremde Staaten erteilt. Wenn – ausnahmsweise – solche Fälle aufflögen, so der BND in seinem Dossier, würden manche Treuhänder „eine beson- dere Fähigkeit entwickeln, bei Nachfor- schungen zur rechten Zeit und an den rich- tigen Stellen Gedächtnislücken zu haben“. War es auch so im Fall Burkhardt? Der in den amerikanischen Gerichtsunterlagen als Burkhardts liechtensteinischer Treuhän- der genannte David Vogt erklärte, er sei von dem Schweizer lediglich ersucht wor- den, für einen südamerikanischen Klienten eine Anstalt zu gründen, in die der Kunde ein Nummernkonto habe einbringen wol- len. Von Drogengeldern habe er nichts ge- wusst. Demonstrativ trat Vogt als Verwal- tungsrat der Gesellschaft zurück. Die besondere Fähigkeit der Liechten- steiner, auch der bizarren Klientel Schutz angedeihen zu lassen, ist bei deutschen Fahndern legendär. So ziemlich jeder Wirt- schaftskrimi von Format endet im Fürs- tentum. So war es schon im Fall des Ex-

der spiegel 45/1999 ports der Giftgasfabrik in das libysche Ra- bita, so ist es heute bei der Suche nach den Hintermännern des Schmiergeldkartells in der deutschen Autoindustrie. Selbst bei einem Hinweis auf die außer- ordentliche Bedeutung des Falles ist auf Kooperation nicht zu hoffen.Als die Staats- anwaltschaft Stuttgart 1994 im Zusam- menhang mit der Lieferung von Zubehör für das pakistanische Atomwaffenpro- gramm um die Offenlegung der Konten ei- nes verdächtigen schwäbischen Kaufmanns ersuchte, blockte die Vaduzer Justiz ab. In Wirtschaftsangelegenheiten werde keine Rechtshilfe gewährt. Selbst die absurdesten Begründungen werden vorgebracht, um das System der Verschwiegenheit zu be- wahren. Das hat die Bundesregierung ge- rade erst bei ihrer Suche nach verschobe- nen DDR-Vermögen erleben müssen. In einer liechtensteinischen Anstalt or- teten die bundesdeutschen Finanzfahnder 66 Millionen Mark. Zwei derjenigen, die beim Beiseiteschaffen des Geldes geholfen haben sollen, waren Schweizer, Treuhänder mit Wohnsitz im Fürstentum. Der bean- tragten Auslieferung stand selbst nach sorg- fältiger Prüfung nichts mehr im Wege.

FRANK- Stuttgart REICH Standort der Donau BND-Abhöranlage

DEUTSCHLAND

Rhein Bodensee Basel Zürich ÖSTER- Vaduz REICH SCHWEIZ LIECHTENSTEIN

100 km ITALIEN

Da blieb dem Fürstlich Liechtensteini- schen Obersten Gerichtshof nur noch ein ganz besonderer Salto. Vom „Standpunkt der Menschenwürde“, urteilte das Gericht im Juli des vergangenen Jahres, sei eine Auslieferung „nicht zu verantworten“. Die beiden Gesuchten würden „mit ihren Fa- milien schon seit vielen Jahren in Liech- tenstein wohnen, haben hier ihre berufli- che Existenz, hier gehen ihre Kinder zur Schule“. Eine Inhaftierung von Familien- vätern aber wäre ein Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskon- vention. „Unerträglich“ nannte der Richter am Bundesgerichtshof, Wolfgang Schomburg, diese Entscheidung. Die Bundesregierung protestierte, aber die Vaduzer Kollegen rea- gierten kühl. Da sei nichts zu machen,

der spiegel 45/1999 Ausland

men“, um sie dann persönlich bei der Bank nen von Polizei, Justiz und Banken. Da einzuzahlen. kann nichts schief gehen. Landet ein Das ungenierte Spiel mit dem illegalen Rechtshilfeersuchen in den Amtsstuben, Standbein funktioniert nur, weil die Herren werden erst einmal die Banken angehört – des Geldes den Staat wohl nicht übermäßig so sieht es das liechtensteinische Recht vor. fürchten müssen. Im Gegenteil: Nach Und auch sonst funktioniert das Zusam- BND-Erkenntnissen sitzen Helfer in den menspiel der Trickser gut. Behörden des Fürstentums. Als unlängst Fahndern des Bundeskri- In dem Dossier wird sogar ein ehemali- minalamtes die Teilnahme an einer von ges Regierungsmitglied beschuldigt, „bei den deutschen Behörden beantragten Ver- der Abwicklung illegaler Geldgeschäfte nehmung zugestanden wurde, wurde dies im Auftrag internationaler Krimineller“ schon vorab als Meilenstein der polizeili- entscheidend geholfen zu haben. Seit meh- chen Zusammenarbeit gefeiert. Im Fürs- reren Jahren habe er „Treffen mit den tentum angekommen, wurden die BKA- Finanzmanagern südamerikanischer Dro- Männer erst einmal freundlichst zum Mit- genclans organisiert“. tagessen in die Kantine Schon in seiner Amtszeit eingeladen. Kaum waren habe der inzwischen die Teller abgetragen, pensionierte Politiker je- eröffneten die Gastgeber nes „Geflecht aus Bezie- den deutschen Beamten,

KEYSTONE PRESS ZÜRICH / DPA KEYSTONE hungen von hohen Be- nun sei es zu spät, die Schweizer Finanzier Burkhardt amten, Richtern, Poli- Vernehmung sei gerade „Geldwäscher der Weltklasse“ tikern, Bankdirektoren abgeschlossen worden. und Anlageberatern“ ge- Gegen solche Prakti- schließlich habe man Gewaltenteilung. Er- schaffen, das so typisch ken sind die EU-Staaten wischt es dennoch jemanden aus der Geld- für die Steueroase ist und hilflos. Bis heute ist festung am Fuße der Alpen, ist es wohl das gegen alle Versuche Liechtenstein nicht Mit- eher eine Panne. Als es einmal zu einer der Aufweichung gefeit glied der OECD-Sonder- Verhaftung kam, war das für den BND nur scheint. kommission „Financial ein „Betriebsunfall“. Nachrichtendienstli- Selbst die Schweiz, Action Task Force“, die che Meldungen hätten ergeben, dass „ein lange mit Liechtenstein in die weltweiten Geldge- neueingestellter junger Richter, der nicht einer symbiotischen Be- schäfte überwacht. So auf der Gehaltsliste der Community stand ziehung verbunden – ein entzieht sich das Fürsten- und vermutlich die einschlägigen Zusam- Großteil der in Liechten- SPIEGEL-Titel 51/1997 tum jeder internationalen menhänge nicht kannte, die Verhaftung der stein verwalteten Gelder Kontrolle. beiden Verdächtigen veranlasst hatte“. liegt auf den Konten Schweizer Banken –, Auch die Erkenntnisse aus den BND- So sicher ist sich der Dienst seiner Sache, hat sich dem Drängen der Europäer und Lauschangriffen helfen der Schröder-Re- dass er gleich seitenweise die Namen von der Amerikaner nach mehr Sorgfalt nicht gierung im Kampf gegen die Steueroase in illegale Geschäfte verwickelten Treuhän- mehr verschließen können. Schweizer Er- Liechtenstein kaum weiter. „Wir schaffen dern, ihre Firmen und Stiftungen auflistet. mittlungsrichter kümmern sich um die Her- es ja nicht einmal innerhalb der EU, Eng- Klangvolle Namen sind darunter, die sich kunft dubioser Gelder. Das einstmals mil- land und Luxemburg auf Linie zu brin- ihrer Freundschaft zur Fürstenfamilie wie de Klima hat sich verändert. Da trifft es gen“, resigniert ein hoher Beamter im auch zu deutschen Politikern rühmen. Aus sich, dass Schweizer Treuhänder jetzt auch Außenministerium, „wie soll es dann bei juristischen Gründen nennt der SPIEGEL in Liechtenstein ihre Geschäfte abwickeln einem Staat gelingen, der gar nicht der die auf geheimdienstlichem Wege ermit- dürfen. Union angehört?“ telten Namen nicht. Dass der ganze Staat nur so groß ist wie Die Chancen sind gleich null, das wissen Wie sauber seine Zunft angeblich agiert, eine deutsche Kleinstadt, sorgt für fami- offenbar auch die Geldhäuser, die es nach erklärt einer der Größten der Liechten- liären Filz. Familienmitglieder der Treuhän- Liechtenstein drängt – in den letzten vier steiner Szene, der Treuhänder Profes- dergeschlechter sitzen in Schlüsselpositio- Jahren hat sich die Zahl der Institute sor Dr. Dr. Herbert Batliner, gern am verdreifacht. Bankier eigenen Beispiel: „Wir nehmen keine Bruno Gehrig, Mitglied Kunden aus den GUS-Staaten, und wir des Direktoriums der nehmen auch keine Laufkunden oder Schweizerischen Natio- Kunden, die mit einem Koffer voller Geld nalbank, weiß, warum kommen. Diese Leute schaffen es bei im Fürstentum die ver- mir nicht einmal vom Eingang bis zum schwiegene Welt des ersten Stock.“ Kapitals immer noch in Der BND hat Zweifel an solchen Ehren- Ordnung ist: „Der Er- erklärungen: Während ein Liechtensteiner folg des Finanzplatzes Treuhänder seit 15 Jahren vorzugsweise Liechtenstein ist die „enge Kontakte“ zu dem Cosa-Nostra- Frucht eines unbeirrt Großclan Cuntrera Caruana pflege, habe von Modewellen nach- sich ein anderer in den letzten drei Jahren haltig umgesetzten „auf russische Klientel spezialisiert“. Für Nischenkonzepts, das neue Kundschaft sei der Geldverwalter den kleinräumigen und „auch bereit, große Summen Bargeld ohne kleinbetrieblichen Vor- Nachfrage nach der Herkunft anzuneh- aussetzungen des Lan-

GAMMA / STUDIO X des optimal entspricht.“ * In kolumbianischer Haft 1992. Drogenbaron Escobar*: Hilfe gegen Honorar Georg Mascolo

206 der spiegel 45/1999 Werbeseite

Werbeseite FOTOS: SCANPIX / DANA PRESS SCANPIX FOTOS: Aufmarsch schwedischer Neonazis (im Oktober): Wer im Weg steht, kommt auf die „Todesliste“

den Kopf hingerichtet. Der Funktionär hat- SCHWEDEN te einen Kollegen als Neonazi geoutet und wurde wochenlang bedroht. Die Polizei verhaftete drei Rechtsextremisten. „Revolution ohne Gnade“ Ende Oktober, Gewerkschaften und Par- teien hatten bereits zu Demonstrationen Eine Terrorwelle von Rechtsradikalen und Neonazis erschüttert gegen die „rechte Gefahr“ aufgerufen, ex- plodierte vor dem Gewerkschaftshaus in das Land. Lange wurde der braune Untergrund Gävle an der Ostküste eine Bombe. Kurz verharmlost, nun kämpft die Regierung um Schadensbegrenzung. darauf ging ein Sprengsatz am Haus des bekannten Musikers Mikael Wiehe in as Leben hätte so schön und be- fahren, dass sich Patrioten wehren kön- Malmö hoch. schaulich sein können für Krimi- nen wie Männer.“ Und erst am vorigen Donnerstag durch- Dnalinspektor Sten Axelsson. Im An- Die düstere Warnung ist durchaus ernst schossen Unbekannte das Wohnungsfens- gesicht des nahen Ruhestandes dürfte sich gemeint. Ein unter dem Pseudonym „Pe- ter des prominenten Journalisten Kurdo der 60-jährige Polizist eigentlich mehr Zeit ter Karlsson“ arbeitender Journalist, eben- Baksi, der Chefredakteur des linken Ma- gönnen für seine inzwischen neun Enkel falls auf der Fünfer-Liste, wurde Ende gazins „Svartvitt“ ist und auf Grund seines oder sein Liebhaber-Hobby, ein Triumph- Juni vor seinem Wohnhaus Opfer einer Einsatzes gegen den Rassismus als beson- Motorrad, Baujahr 1955. Autobombe. Karlsson, auf Enthüllungen ders gefährdet galt. „Wir haben den politi- Stattdessen unterliegt der Kriminalist, über die rechtsextreme Szene spezialisiert, schen Terrorismus im Land“, bekennt der eigentlich Menschen vor Bedrohung erlitt schwere Rückgratverletzungen, so Justizministerin Laila Freivalds. und Verbrechen schützen soll, selbst dass er mühsam wieder laufen lernen Auf rund 200 bis 250 Mitglieder schätzt strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Sein musste. Sein achtjähriger Sohn, der mit die geheim operierende Sicherheitspolizei Haus wird Tag und Nacht überwacht. Seit ihm Wagen saß, wurde ebenfalls schwer (Säpo) den harten Kern der braunen Ter- drei Monaten wagt er nicht mehr, unbe- verletzt. roristen, dazu kommen bis zu 2000 Sym- waffnet die Wohnung zu verlassen. Der Journalist ist nicht das einzige Op- pathisanten. Viele lernten sich nach Er- Denn Axelsson hat sich den Ruf des fer. Eine Welle bislang nicht bekannter Ge- kenntnissen der Ermittler im Gefängnis „Nazi-Jägers Nummer eins“ in Schweden walt von Rechtsextremisten überzieht seit kennen und verbrüderten sich dort mit Ge- erworben. Seit fast fünf Jahren bekämpft Monaten das Land. waltverbrechern. Sie organisieren sich in der Fahnder in Västerås und der Region Ende Mai schossen sich drei Neonazis Gruppen wie Nationalsozialistische Front, Västmanland jede Form von Rechtsradika- nach einem Banküberfall in Kisa (Beute: Arische Bruderschaft oder Schwedische lismus, vor allem die überall aus dem Bo- 2,8 Millionen Kronen, rund 610000 Mark) Widerstandsbewegung. Ein Großteil der den schießenden Neonazi-Gruppen. brutal den Fluchtweg frei und töteten zwei Extremisten unter dem gelben Hakenkreuz Deshalb zählt der Polizist in der brau- Polizisten. Seit Montag vergangener Woche auf blauem Grund vagabundiert nach Er- nen Szene seines Landes zu den meistge- stehen Tony Olsson, Jackie Arklöv und kenntnissen der Säpo allerdings nur in ei- hassten Gegnern. Er steht auf einer Liste Andreas Axelsson, alle durch einschlägige nem „lockeren Netzwerk“ durchs Land von fünf „besonders interessanten Perso- Aktivitäten ausgewiesen, unter strengsten und verbündet sich, je nach Gelegenheit, nen“, was so viel heißt wie: besonders ge- Sicherheitsvorkehrungen in we- mit Gleichgesinnten. fährdet. Alle fünf, Polizisten und Journa- gen Mordes vor Gericht. Die dramatische Zunahme der Gewalt listen, werden in Pamphleten gewaltberei- Am 12. Oktober wurde der Stockholmer wird begleitet durch lautstarke Nazi-Pro- ter Neonazis unverhohlen mit dem Tode Gewerkschafter Björn Söderberg, 41, an paganda. Das Angebot rechtsradikaler Ma- bedroht: „Es ist an der Zeit für sie, zu er- seiner Wohnungstür mit sechs Schüssen in gazine, die ebenso wie extremistische Par-

208 der spiegel 45/1999 Ausland teien und Organisationen im liberalen Anschläge gegen Ausländer und Ho- sozialismus und Holocaust zu verbessern. Schweden nicht verboten werden können, mosexuelle hat es auch in der Vergangen- Vor allem gelang es dem kämpferischen stieg von 8 noch vor zehn Jahren auf heu- heit bereits gegeben. Neu hingegen, sagt Ermittler mit seinen Kollegen, Auftritte te wenigstens 26 an, zählte die Soziologin die für Demokratie- und Verfassungsfra- rechtsradikaler Rockgruppen zu verhin- und Kriminologin Helene Lööw. Sie sind gen zuständige Staatsministerin Britta Le- dern. Denn die Erfolge der Skinhead- großenteils professionell gemacht und an jon, sei „die Kombination von schwerer Bands und Nazi-Rocker helfen nach Er- vielen Kiosken offen erhältlich. Die Zahl Gewaltkriminalität, viel Geld und rechts- kenntnis der Behörden, die braune Bewe- einschlägiger Webseiten erhöhte sich von radikalem Hintergrund“. Viele Schweden gung zu finanzieren und jugendliche Sym- einem halben Dutzend vor noch drei Jah- wollten das zunächst nicht wahrhaben.All- pathisanten zu rekrutieren. ren auf inzwischen knapp 40. zu lange wurden Rechtsradi- Untersuchungen von Wis- Vor allem auf den Internet-Seiten kur- kale als pubertierende oder senschaftlern ergaben 1997, sieren immer wieder „Todeslisten“ über betrunkene Jugendliche ver- dass 17 Prozent der männli- Gegner, die dem rechten „Kampf im Weg“ harmlost und ihre Taten als chen Schüler zwischen 12 und stehen. Mal umfassen sie 25, mal 700 Na- unpolitisch dargestellt. Der 20 Jahren Fascho-Rock hör- men. „Es gibt so viele solcher Listen“, braune Terror stelle „keine ten. Neun Prozent aller räumt Säpo-Generaldirektor Anders Eriks- reelle Bedrohung gegen den Schüler dieser Jahrgänge äu- son ein, dass er die Existenz jeder Einzel- Staat“ dar, schrieb noch im ßerten offen Sympathie für nen nicht bestätigen will. „Da schrillen letzten Jahr die Säpo in ihren die rassistischen Texte, in de- nicht immer gleich die Alarmglocken“, Jahresbericht. nen „eine weiße Revolution heißt es in seinem Amt. „Nach offizieller Sicht durf- ohne Gnade“ propagiert und Angesichts solch verharmlosender Ein- te es schwedischen Terroris- gegen Ausländer, Juden und schätzungen fühlen sich Opfer wie der Sän- mus gar nicht geben“, sagt Fil- Minderheiten gehetzt wird. ger Wiehe von der Polizei „im Stich gelas- memacher Rolf Wrangnert, „Das Problem sind nicht die sen“. Lange vor der Explosion schon war „so etwas kam höchstens von Nazi-Organisationen“, sagt

der Liedermacher bedroht worden und außen ins Land.“ Auch Sozio- B. UNGER / DANA PRESS der Szene-Kenner und Autor hatte dies vergebens der Polizei angezeigt. login Lööw kritisiert, dass Ministerin Lejon Tobias Hübinette, „entschei- Nach dem Anschlag erhielten die Ermittler Neo-Nazismus viele Jahre dend ist die Subkultur.“ einen anonymen Anruf: „Das nächste Mal „einfach kein Thema“ war. Und selbst Über 300 verschiedene CDs des dumpf- töten wir ihn.“ Staatsministerin Lejon räumt inzwischen nationalen „White Power“-Rocks sind der- Auch Novin Harsan traut sich nach Ein- ein, dass „niemand in der Gesellschaft die zeit über Internet erhältlich, stellte Lööw bruch der Dunkelheit kaum noch vor die Entwicklung ernst genug genommen“ fest. Die erfolgreichste Gruppe, Ultima Tür. Die aus Syrien gebürtige Kurdin steht habe. Thule, erspielte sich binnen kürzester Zeit ebenfalls auf einer Todesliste. Ihr „Steck- Für Kriminalfahnder Axelsson gab 1995 drei Goldene Schallplatten für hundert- brief“ mit Privatadresse, Telefonnummer der Mord an einem homosexuellen Eis- tausendfach verkauften Rechts-Rock. und Lebensgewohnheiten kursiert im In- hockey-Star den letzten Anstoß, persön- Aufgeschreckt durch die Ereignisse, ver- ternet. Ins Blickfeld der Rechtsradikalen lich den Kampf gegen die rechten Gewalt- sucht die Regierung, den Neo-Faschismus geriet die Sozialdemokratin, als sie 1998 täter aufzunehmen. Der Polizist ent- zu bekämpfen.Weil rund zehn Prozent al- ler schwedischen Schüler in Um- fragen den Holocaust schlicht leugneten, startete Ministerprä- sident Göran Persson persönlich die Initiative „Lebendige Ge- schichte“. Ein eigens aufgelegtes Buch über den Nationalsozia- lismus wurde über 300000 Fami- lien ins Haus geschickt. Im Ja- nuar will er mit prominenten Staatsgästen wie dem Briten Tony Blair und Israels Ehud Ba- rak die öffentliche Kampagne fortsetzen. Um die Welle von Gewalt ein- zudämmen, müsse notfalls über eine „Reform der Gesetze“ nachgedacht werden, fordert nun Justiz-Staatssekretärin Kristina Anschläge auf Polizisten (im Mai), auf Gewerkschaftshaus (im Oktober): Ernst gemeinte Drohungen Rennerstedt. Auch eine Zusam- menlegung von Sicherheits- und für den Reichstag kandidierte und im wickelte im Alleingang ein „Handlungs- Kriminalpolizei, die von Kriminalisten wie Wahlkampf gezielt um Stimmen von Ein- programm“ für seine Dienststelle und die Axelsson seit langem gefordert wird, ist wanderern warb. „Seitdem lebe ich in Stationen der Region. nicht mehr ausgeschlossen. ständiger Bedrohung“, sagt Harsan. Er suchte Kontakt zu den Führern der Nur ein Verbot der braunen Organi- Fast täglich erhält sie anonyme Anrufe Nazi-Gruppen, aber auch zu deren Geg- sationen und Publikationen kommt für oder Schmähbriefe, in denen sie als „Ein- nern. Er vermittelte und drohte – und half die Regierung nach wie vor nicht in Frage. wandererhure“ beschimpft wird. Landes- so, rechte Anschläge in seiner Gegend zu „Wir müssen Neonazis effektiv bekämp- weit bekannt wurde sie nach einem Über- unterbinden.Axelsson bedrängte Kneipen- fen und bestrafen“, sagt Rennerstedt, „und fall auf einer Wahlveranstaltung. Ihr blut- wirte, Gäste mit Nazi-Sympathien vor die nicht durch ein Verbot in den Untergrund verschmiertes Gesicht erschien auf vielen Tür zu setzen, und kooperierte mit Leh- drängen.“ Bernhard Albrecht, Titelseiten. rern, um die Schulbildung über National- Manfred Ertel

der spiegel 45/1999 209 Werbeseite

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denken gegen britische Braten: Allein seit Januar sind nach einer Statistik des Bun- EUROPA deslandwirtschaftsministeriums auf der In- sel rund 2300 Rinder am tödlichen Hirn- schwamm neu erkrankt. Die Seuche ist of- „Kauft britisch, esst britisch!“ fenkundig noch immer nicht im Griff. London machte einen Rückzieher, Blair Auf massiven Druck der EU bahnt sich und sein Landwirtschaftsminister Nick Brown suchten nach einer diplomatischen eine Lösung im Streit um Rindfleisch aus Großbritannien an. Lösung. Sie wollen eine zeitaufwendige Doch Forscher melden neue, alarmierende Befunde. Klage vermeiden, die sich bis zu drei Jah- re hinziehen kann. So verhandelte Brown am vorigen Dienstag „in konstruktivem Geist“ mit seinem französischen Amtskollegen Jean Glavany sowie dem irischen EU-Kommis- sar für Verbraucherschutz und Gesundheit, David Byrne. Der setzte ein Ultimatum, bis zum 16. November muss die Kuh vom Eis. Glavany wurde „dringend“ aufgefor- dert, das Importverbot aufzuheben. Sonst drohen empfindliche Geldbußen. Am Freitag beriet daraufhin in Brüssel ein eilig einberufenes französisch-engli- sches Gremium gemeinsam mit EU-Kom- missionsbeamten über die Bedenken der Franzosen. Parallel tagten in Bonn Exper- ten der für die Aufhebung des Boykotts in Deutschland zuständigen Bundesländer. Die Forderungen der Importgegner: lü- ckenlose Erfassung von Rindern und Rind- fleischprodukten, Kontrolle und Her- kunftsbezeichnung der Ware, Entwicklung und Einsatz stichhaltiger BSE-Tests. Im letzten, den Kontinentaleuropäern besonders wichtigen Punkt signalisierten

AP die Briten Ende voriger Woche Entgegen- Werbeaktion für englisches Rindfleisch (in London): „Franzosen werden geröstet“ kommen. Aus der strikten Ablehnung jeg- licher BSE-Tests wurde plötzlich ein „ge- ritische Journalisten haben eine be- meinsamer internationaler Wunsch“, sol- sondere Schwäche für starke Worte che Verfahren „effektiv zu entwickeln“. Bund militärische Metaphern. Kein Es gehe nur noch um „technische und Wunder, dass sie den neuen Streit um ihr praktische Fragen“, erklärte Brown – dabei geliebtes heimisches Rindfleisch sofort zum stehen britische Wirtschaftsinteressen ge- „Beef War“ hochschrieben. gen französischen Protektionismus und in- Als wäre der Hundertjährige Krieg er- ternationalen Verbraucherschutz. neut ausgebrochen, wurden die Franzosen, Bundesgesundheitsministerin Andrea Fi- die „Frösche“, zum Staatsfeind Nummer scher (Bündnis 90/Die Grünen) ist bislang, eins erklärt. Denn Frankreich, wichtigster anders als die Franzosen, einer Konfronta-

Auslandsmarkt für Britenfleisch, sperrt sich REUTERS tion geschickt ausgewichen. Sie wird zwar stiernackig gegen jegliche Einfuhren – ob- Kundgebung britischer EU-Abgeordneter* von Brüssel als Verhandlungspartnerin in wohl Brüssel den 1996 wegen der BSE-Seu- „Sag einfach Non“ die Pflicht genommen, die Entscheidung che verhängten Boykott am 1. August teil- über die Aufhebung des Importverbots weise wieder aufgehoben hat. die Appelle zum „patriotischen Einkaufen“ trifft aber der Bundesrat, und dort bröckelt Das als Fleischimporteur für die Briten und verbannten französische Waren aus die Front der Gegner. unbedeutende Deutschland blieb ebenfalls den Regalen.Vor einem Einkaufszentrum in Beim Bonner Treffen wurde ihnen vor- stur, auch nachdem vorvergangenen Frei- Nottingham präsentierte ein frustrierter gerechnet, was die drohende Geldstrafe tag der Wissenschaftliche Lenkungsaus- Viehzüchter ein Transparent: „Lasst euch von 1,6 Millionen Mark pro Tag für die ein- schuss der EU die Kühe und Kälber auf nicht mit einem Frosch im Mund erwischen. zelnen Länder bedeuten würde. Viele set- englischen Weiden für unbedenklich er- Kauft britisch, esst britisch!“ zen nun auf eine strenge Kennzeichnungs- klärte. Als einzige EU-Staaten lenkten Der Sieg schien sicher, zumal das EU- pflicht; nur Bayern, Rheinland-Pfalz und Deutschland und Frankreich nicht ein. Recht eindeutig auf Seiten der Briten ist. Nordrhein-Westfalen stehen noch eisern Also starteten Londoner Boulevardblät- „Franzosen werden geröstet“, titelten die zum Importverbot. ter, in Allianz mit Bauernfunktionären und Hurrapatrioten von der „Daily Mail“ – Niedersachsens Landwirtschaftsminister konservativen Anti-Europäern, unter dem vorschnell, wie sich zeigte. Uwe Bartels (SPD) setzt sich für eine um- Slogan „Sag einfach Non“ eine krawallige Die deutsch-französische Entente mau- fassende Etikettierung ein. Ein sechsecki- Kampagne gegen den Hauptfeind auf der erte weiter und äußerte gravierende Be- ger Stempel soll garantieren, dass Steak anderen Kanalseite. Supermarktketten un- und Wurst bis zum Erzeuger zurückver- terstützten, wie Premierminister Tony Blair, * Am 20. Oktober in Paris. folgt werden können.Allerdings bietet das

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Verfahren keinen absoluten Schutz vor Fäl- und provoziert damit sofort den Wider- schungen. Ein Test, bei dem infizierte Tie- spruch anderer Politiker. re aussortiert würden, wäre sicherer. In der Debatte gehe es „zu viel nach Die noch renitenten Länder berufen sich dem Bauch und zu wenig nach dem Kopf“, auf Fachleute wie den Göttinger Neuro- kritisiert Dagmar Roth-Behrendt, EU-Ab- pathologen Hans Kretzschmar, der die geordnete der SPD und ehemalige Vorsit- Freigabe britischen Beefs voreilig nennt. zende des BSE-Untersuchungsausschusses. „Zu viele Dinge sind unbekannt“, warnt Die Befürworter des Importverbots bräch- Kretzschmar und empfiehlt, zwei weitere ten keine neuen Argumente, „außer dass es Jahre abzuwarten. BSE gibt“. Die Bedingungen für die Auf- Nordrhein-Westfalens Umweltministe- hebung seien von britischer Seite alle er- rin Bärbel Höhn (Die Grünen) verlangt als füllt worden: „Wovor müssen wir uns Mindestvoraussetzung obligatorische BSE- eigentlich noch schützen?“ Tests und eine strenge Etikettierung. Sonst Eine Antwort wissen zwei Gruppen von will sie es auf eine Klage ankommen las- Wissenschaftlern. Sie haben neue, alar- sen. Unter anderem schreckt sie, dass mög- mierende Befunde vorgelegt. licherweise nicht nur, wie bislang ange- Englische Veterinärmediziner in Bristol nommen, verseuchtes Futter das Rindvieh fanden heraus, dass Hirnmasse in den irre macht und Konsumenten gefährdet. Blutkreislauf geraten kann, wenn dem Denn nach dem Fütterungsverbot von Tier- mehl 1988 dürfte es eigentlich gar keine BSE-Neuerkrankungen mehr geben. Bisher existieren drei Methoden, BSE bei geschlachteten Tieren nachzuweisen. Ein weiteres Verfahren zur Früherken- nung wird derzeit an der Universität Mainz entwickelt. Es soll in spätestens sechs Monaten marktreif sein und anhand von 20 Mikrolitern Hirnflüssigkeit, ge- wonnen durch Punktion, sicheren Auf- schluss über eine Infektion lebender Tie- re und Menschen geben können. In Göt- tingen wird sogar eine Substanz klinisch

erprobt, die Heilung verspricht; sie soll die J. EIS BSE-bedingte Zerstörung von Hirnzellen Ministerin Höhn unterbinden. „Warum unser Verbot aufheben?“ Höhn und die bayerische Gesundheits- ministerin Barbara Stamm (CSU) verlan- Schlachtvieh zur Betäubung ein Bolzen gen, dass britische Tiere einer Prüfung un- durch die Stirn geschossen wird – ein gän- terzogen werden, die BSE-Erreger schon giges Verfahren. Mithin sei fraglich, ob es sechs Monate vor Ausbruch der Krankheit genüge, Hirn, andere Risikoorgane und erkennt. Der Test, benannt nach der Zür- Rückenmark zu entfernen, um Menschen cher Firma Prionics, wurde in NRW- vor der BSE-Gefahr zu schützen. Schlachthöfen bei 5029 Rindern erfolgreich Das National Animal Disease Center angewandt. Nach acht Stunden stand je- im US-Staat Iowa nährt diese Sorge mit weils fest, ob das Fleisch in Ordnung war. einem Test, der schon insgeheim an Men- Den Prionics-Test möchte Höhn am schen erprobt wurde: Er kann die durch liebsten europaweit einführen. In der BSE hervorgerufene Variante der Creutz- Schweiz habe sich mit seiner Hilfe die feldt-Jakob-Krankheit im Blut nachweisen, Zahl der erkannten BSE-Fälle verdoppelt. lange bevor erste Symptome auftreten. Übertragen auf Großbritannien würde Nun wollen die Amerikaner in einem das bedeuten, dass dort allein 1999 rund Pilotprogramm menschliche und tierische 2300 kranke Tiere unentdeckt geblieben Blutbanken durchchecken. „Das könnte sind und der Vorjahresstand von 3180 BSE- Millionen Bürger erleichtern“, sagt die Bio- Rindern noch übertroffen würde. „Also chemikerin Mary Jo Schmerr, „oder ihnen ist das Eingrenzen der Seuche bisher verraten, dass sie an einer schrecklichen nicht erfolgreich gewesen“, folgert Höhn. Krankheit sterben werden.“ „Warum sollen wir unser Importverbot Für den Vorsitzenden des EU-Agraraus- aufheben?“ schusses, den Grünen-Politiker Friedrich- Aus Angst vor hohen Schadensersatz- Wilhelm Baringdorf, ist dies ein Horror- zahlungen und Geldstrafen möchte Mi- szenario. Wenn die BSE-Erreger nicht nur nisterin Fischer als oberste Verbraucher- in Hirnflüssigkeit, sondern im Blut nach- schützerin aber nicht zum Rechtsbruch er- weisbar seien, bedeute dies, „dass mögli- muntern und notfalls der EU-Linie folgen. cherweise auch das bisher als unbedenklich „Der Verbraucher- und Gesundheits- geltende Muskelfleisch infektiös ist“. schutz darf nicht unter die Räder einer rie- Selbst das Steak scheint nicht mehr sigen Fleischindustrie geraten“, beharrt sicher. Rüdiger Falksohn, hingegen die rheinland-pfälzische Um- Alexander Neubacher, Barbara Schmid, weltministerin Klaudia Martini (SPD) – Michael Sontheimer

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Der Mechanismus der Rache“ Tschechiens Präsident Václav Havel über die Vision Europa und den EU-Erweiterungsprozess, über Rückfälle in den Rassismus und das Verhältnis zu den Deutschen

SPIEGEL: Herr Präsident, was wird aus Ihrer Fähigkeit, dem Wettbe- Vision von einem vereinten, liberalen werbsdruck der Marktwirt- Europa im Gestrüpp realpolitischer Sach- schaft stand zu halten. zwänge der Europäischen Union? Havel: Dieser Bericht ist ein Havel: Meine Vision hatte schon noch ein dickes Buch mit abertau- paar andere Adjektive als bloß liberal … senden angesprochenen SPIEGEL: … gewiss, etwa die Idee von einer Themen in vielen Lebens- demokratischen, offenen Bürgergesell- bereichen. Bei den einen schaft Europas … stehen wir besser da, bei Havel: … jedenfalls habe ich keinen Grund, anderen schlechter. Aber an meiner Vision von einer europäischen richtig ist: Wir brauchen Integration etwas zu ändern: Ich glaube, mehr Elan und Energie. dass dieses Europa die Gestalt der heutigen SPIEGEL: Gegenwärtig läuft gesamten Weltzivilisation vorbestimmt hat, Tschechiens sozialdemo- also verantwortlich ist sowohl für das Wun- kratische Minderheitsregie- derbare wie für das Widersprüchliche. Jetzt rung Zeman Gefahr, durch muss sich Europa den allgemeinen Zivili- den Bürgerpartei-Chef sationsproblemen in einer Weise stellen, Václav Klaus torpediert zu die anderen als Vorbild dienen könnte. werden. Muss politische In- SPIEGEL: Doch erst einmal muss Europa stabilität nicht Ihre Chan- selbst politische Gestalt annehmen. Täuscht cen noch mehr schmälern, der Eindruck, dass Ihr Land Tschechien, zu den ersten EU-Beitritts- einst Musterknabe als EU-Beitrittskandidat, ländern zu gehören? in seinen Anstrengungen zurückgefallen ist? Havel: Nicht unbedingt. Als Havel: Leider hat sich in unseren politi- Dramatiker weiß ich, dass schen Eliten ein apathisches Verhaltens- Krisen die Wirkung einer modell durchgesetzt nach dem Motto: Wir Katharsis haben können.

wollen alle in die EU, und irgendwann wer- AP Vielleicht kommt es danach den wir das auch schaffen, gleichsam im Präsident Havel*: „Wir brauchen mehr Elan“ mit Bildung einer besseren historischen Selbstrutsch, schließlich lie- Regierung zu einer stärke- gen wir ja in der Mitte Europas. Da ist dann dieses Integrationsprozesses nicht er- ren Annäherung an die EU. Aber noch ist auch die Wiederbelebung eines traditio- kennen. es nicht so weit. Mich stört indes etwas an- nell tschechischen Fatalismus mit im Spiel. SPIEGEL: Im jüngsten Brüsseler „Fort- deres: dass jemand aus partikularem Kal- SPIEGEL: Aber wächst bei Ihnen nicht auch schrittsbericht“ bringt es der EU-Kandidat kül eine Krise bei uns entdeckt und das die Zahl der EU-Skeptiker? Prag auf viele schlechte Noten. Gerügt Land schlecht regiert sieht, obwohl gerade Havel: Eher wächst die Zahl der EU- wird das langsame Tempo der Rechtsan- er selber vor Jahresfrist diese Minder- Unkundigen, die den historischen Sinn gleichung, und bezweifelt wird Tschechiens heitsregierung unterstützt hat. SPIEGEL: Immerhin sorgt Ihr alter Widerpart Klaus, der eine „Superkoalition“ anstrebt, Václav Havel für beträchtliche Unruhe. Und die EU-Ver- wurde im November 1989, als Mas- handler würde Klaus wohl am liebsten sendemonstrationen in Prag zum einem weiteren Prager Fenstersturz über- Sturz des kommunistischen Sys- antworten. tems führten, zur Symbolfigur der Havel: Die Abneigung des Herrn Klaus ge- Wende. Der Dramatiker, unter den genüber der Brüsseler Bürokratie, seine Kommunisten als Bürgerrechtler Zurückhaltung gegenüber europäischer In- fast fünf Jahre lang inhaftiert, am- tegration sind allgemein bekannt. Das al- tierte als letztes Staatsoberhaupt lein bedeutet jedoch nichts. der Tschechoslowakei und ist seit SPIEGEL: Im Dezember wird der EU-Gipfel dem Auseinanderbrechen der Re- von Helsinki mit einer Strategie der fle- publik in zwei souveräne Staaten xiblen Integration den Kreis der Beitritts- erster Präsident Tschechiens. Ha- kandidaten von sechs auf zwölf Bewerber vel, 63, wurde Anfang 1998 für wei- erweitern. Ist das für Prag ein ermuntern- tere fünf Jahre im Amt bestätigt des oder alarmierendes Signal?

AFP / DPA und überstand eine Reihe schwe- KP-Reformer Dub‡ek, Havel (1989) rer gesundheitlicher Krisen. * Am 28. Oktober in Prag bei der Feier zum 81. Jahres- tag der Staatsgründung der Tschechoslowakei.

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Havel: Ich kann da nur für zu beseitigen. Die Rassen- mich sprechen: Ich begrüße dimension kommt dann als diesen Schritt sehr. Europa Nebenprodukt dazu. ist ein untrennbarer politi- SPIEGEL: Herr Präsident, scher Körper, und die EU am Ende dieses Jahrhun- sollte allen interessierten derts ist wie zu seinem Be- Ländern, die sich dafür ginn der Balkan Europas qualifizieren, offen stehen. Krisenherd. Sie haben im Auch Tschechien wird erst Kosovo-Konflikt die Nato- aufgenommen werden kön- Luftangriffe auf Jugosla- nen, wenn es reif dafür ist wien befürwortet. Die Pro- und nicht als Folge von er- bleme dieser Region wur- folgreichem Lobbyismus. den damit kaum gelöst. SPIEGEL: Als Fürsprecher Havel: Es wäre selbstver- Prags gelten die Deut- ständlich durchaus naiv zu schen. Gehen die neuen denken, dass die Nato- Regenten der Berliner Re- Luftangriffe die Balkan- publik mit der gleichen probleme lösen können. Verve ans Werk wie einst Doch der Nato-Eingriff der überzeugte Europäer war ein Schritt, durch den Helmut Kohl? die internationale Ge- Havel: Ich möchte keines- meinschaft gezeigt hat,

falls Noten über deutsche L. SENIGALLIESI / SINTESI dass es ihr nicht gleichgül- Kanzler verteilen. In der Serben-Flucht aus dem Kosovo (im Juni): „Meine Stimme war zu schwach“ tig ist, welche Bestialitäten Tat habe ich an Helmut dort geschehen. Dieser Kohl den großen Sinn für die historische ten diese Phase bereits im vorigen Jahr- Schritt hätte schon zehn Jahre vorher er- und geistige Dimension der europäischen hundert durch, andere später. Doch ich folgen müssen, dann wäre das Leben hun- Integration sehr geschätzt. Und sein Nach- glaube, dass dies nur eine Durchgangsstu- derttausender verschont geblieben. folger Gerhard Schröder hat übrigens kürz- fe ist und im Laufe der Zeit sich die Inte- SPIEGEL: Die Kosovo-Intervention hat das lich in Prag einen bestimmten Termin grationsstrukturen durchsetzen werden. Konflikt-Potenzial auf dem Balkan ver- artikuliert … Damit sich die unterschiedlichen Länder schärft. SPIEGEL: … Schröder sagte, die Europäi- vereinen können, brauchen sie zuerst ein Havel: Es wird Jahrzehnte dauern, bis die- sche Union müsse „im Jahr 2003 aufnah- Bewusstsein der eigenen Identität, das Wis- se Probleme gelöst sind. Ich gebe Ihnen mefähig sein“. sen, wo ihr Anfang und Ende ist. Dies wird ein Beispiel, das Sie als Deutsche verstehen Havel: Ich halte es für sinnvoll, feste Ter- offenbar durch die Phase der Eigenstaat- werden: Wäre die internationale Staaten- mine im Visier zu haben. Das motiviert die lichkeit erreicht. welt einschließlich der demokratischen Beitrittskandidaten und verhindert, die un- SPIEGEL: Ein Symbol für ethnische Ab- Tschechoslowakischen Republik im Jahre angenehmen Entscheidungen auf über- schottung gibt es nun auch in Tschechien: 1938 im Stande gewesen, sich mit Gewalt morgen zu vertagen. die Mauer gegen die Roma in Ústí nad La- gegen Adolf Hitler zu stellen, hätte es viel- SPIEGEL: In dem Jahrzehnt seit dem Fall bem, dem nordböhmischen Aussig. leicht keinen Zweiten Weltkrieg mit dut- der Berliner Mauer und dem Zusammen- Havel: Solche fremdenfeindlichen Stim- zenden von Millionen Toten geben müssen. bruch des Sowjetreichs entstanden in Eu- mungen gibt es überall in Europa, speziell Aber sicherlich hätte man uns damals dann ropa 15 neue Staaten, meist mit ethnisch- in seinem postkommunistischen Teil. Die- auch wegen einer Attacke auf das souve- nationaler Ausrichtung. Liegt hier nicht die se Mauer in der Mati‡ní-Straße von Ústí ist räne Deutschland gescholten. eigentliche Gefahr für das Zusammen- eher ein Symbol von Stumpfheit und SPIEGEL: Jeder historische Vergleich hinkt, wachsen Europas? menschlicher Dummheit, nämlich des un- dieser auch. Die wirklichen Gräueltaten Havel: Die Phase der Bildung von Natio- akzeptablen Versuchs der zuständigen im Kosovo erfolgten erst nach Beginn des nalstaaten ist in Europa einfach nicht so Kommunalbehörden, die Folgen einer Nato-Bombardements … leicht zu umgehen. Manche Staaten mach- schlechten Sozial- und Wohnungspolitik Havel: … Sie sind nicht genau informiert: 400000 Albaner waren vor Beginn der An- griffe vertrieben worden. Dort geschah et- was, wofür es in der modernen Geschich- te keine Analogie gibt: Innerhalb eines hal- ben Jahres wurde eine Million Menschen von zu Hause vertrieben und kehrte dann wieder zurück. Ohne die Luftangriffe wäre diese Rückkehr niemals möglich gewesen, Milo∆eviƒ wollte Kosovo für immer von Albanern säubern. SPIEGEL: Jetzt haben wir ein großalbani- sches Problem, zudem großserbische und großkroatische Ambitionen mit der Ge- fahr einer Zerschlagung Bosniens und einer möglichen Kettenreaktion neuer Konflikte. Havel: Es ist der Mechanismus der Rache, den es zu bekämpfen gilt. Leider gibt es

SÜDD. VERLAG dafür nicht genügend internationale Kräf- Vertreibung von Sudetendeutschen (1946): „Unsere Völker haben viele Gräuel begangen“ te. Ich war selbst unmittelbar nach Kriegs-

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Werbeseite Ausland ende im Kosovo und habe dort ganz laut wohl kaum untergraben wollen. Es sind erklärt – und ich war nicht der Einzige –, einige andere, die dies tun. man solle jetzt nicht zur Strafe die Serben SPIEGEL: Wie soll Europa zusammenfinden, vertreiben. Aber meine Stimme war zu wenn 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schwach. nicht einmal Tschechen und Sudetendeut- SPIEGEL: Worin unterscheiden sich die Men- sche zu einem Miteinander fähig sind? schenrechte der Kosovo-Albaner von de- Havel: Sie sind es durchaus. Nur die politi- nen der Tschetschenen? schen Anführer – die Kommunisten bei Havel: Die Menschenrechte sind universell uns, die Landsmannschaftler bei Ihnen – und sollten überall gelten. Mich beunruhigt sind der Meinung, ein Zusammenleben sehr, was Russland in Tschetschenien tut, wäre nicht möglich.Aber das ist ein Irrtum, und das nicht erst seit gestern. Ich glaube, auf der Bürgerebene gelingt es. dass sich Russland traditionell bereits seit Ich besuche oft die ehemaligen Sudeten- langem gegenüber den kaukasischen Völ- gebiete, das Zusammenleben ist sehr fröh- kern überheblich und anmaßend verhält lich. Sie sehen dort überall viele deutsche und dass diese jahrelange russische Unter- Schilder. Die wurden von Tschechen ange- drückung der Hauptverantwortliche für bracht, die mit den Deutschen Geschäfte Fundamentalismus und Terrorismus im machen wollen. Kaukasus ist. SPIEGEL: Das sudetendeutsche Problem SPIEGEL: Sie sprachen vom Mechanismus wäre demnach quasi ein virtueller Kampf der Rache – die Serben im Kosovo zahlen der Geister von gestern. für die Sünden von Milo∆eviƒ wie einst Havel: Vielleicht eine Spur zu pathetisch die Sudetendeutschen für die Verbrechen ausgedrückt, aber im Grunde lässt sich dem Hitlers? zustimmen. Havel: Jetzt gebrauchen Sie einen historischen Ver- gleich, der hinkt. Gleich- wohl kann man ihn ziehen. SPIEGEL: Noch immer be- fürwortet fast die Hälfte der Tschechen die Bene∆- Dekrete, die nach dem Krieg zur Enteignung und Vertreibung von drei Mil- lionen Sudetendeutschen führten. Können diese De- krete für Prag zum Stol- perstein auf dem Weg in die EU werden? Havel: Dieser Komplex von

150 Dekreten – wobei 3 da- S. GALLUP von auch Bezug zu den Havel beim SPIEGEL-Gespräch* Sudetendeutschen haben – „An Rücktritt denke ich jeden Tag“ gehört zur Geschichte un- seres Rechtsstaates. Dies kann nicht so ein- SPIEGEL: Ihre Amtszeit reicht bis zum fach aufgehoben werden. Man kann es je- Jahr 2003, aber Sozialdemokraten und doch Vergangenheit nennen, die heute kei- Bürgerliche wollen mit einer Verfassungs- ne Bedeutung mehr hat. So ist einfach die reform Ihre Kompetenzen einschrän- Geschichte, sie lässt sich schwer korrigie- ken. Dachten Sie in letzter Zeit an Rück- ren. Unsere Völker haben viele Gräuel tritt? begangen, wie ließe sich das alles wieder Havel: An Rücktritt denke ich seit zehn gutmachen? Deswegen heißt es in der Jahren, solange ich Präsident bin, jeden Deutsch-Tschechischen Erklärung, dass Tag. Ich wäre kein normaler Mensch, hät- Fragen der Vergangenheit den Aufbau einer te ich keine Zweifel am Sinn meiner Arbeit. neuen und besseren Zukunft nicht kom- So arrogant bin ich nicht. plizieren werden. Der Bundestag hat dem Die Verfassungsänderungen halte ich für zugestimmt, das war sehr wichtig. Und ich sinnlos. Ich trete gegen sie an, nicht um verstehe nicht, warum die gleiche Partei, meine Kompetenzen, sondern um die Lo- die diese Initiative im Bundestag ergriff, gik des Verfassungssystems zu schützen. nun auf einmal auf diese Bene∆-Dekrete SPIEGEL: Und auch die Gesundheit macht zurückkommt und somit eigentlich die Ihnen nicht über Gebühr zu schaffen? eigene Deklaration verhöhnt. Havel: Bestimmte Komplikationen habe ich SPIEGEL: Kritik an Ihrem Unions-Freund schon. Ich musste einige Operationen über- Helmut Kohl? stehen; manche Körperteile dienen mir Havel: Der war Mitverfasser und Mitunter- nicht mehr so, wie sie sollten. Gott sei zeichner dieser Erklärung. Er wird sie jetzt Dank ist es nicht so schlimm, dass ich zu- rücktreten müsste. * Mit Redakteuren Walter Mayr und Olaf Ihlau in der SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen Masaryk-Bibliothek der Prager Burg. für dieses Gespräch.

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Werbeseite entschwundenen Gelder für 1998 auf einen Betrag, der fast dreimal so hoch ist wie der Jahresetat der russischen Regierung, zehn- mal mehr als das inkriminierte Russland- geschäft der Bank of New York: 70 Mil- liarden Dollar. Dabei kommt kaum je ein Kunde nach Nauru, das nur zweimal wöchentlich per Flugzeug von Fidschi aus zu erreichen ist. Auch das Geld gelangt gar nicht erst auf die Insel, sondern wird elektronisch dort gut- geschrieben und, frisch gewaschen, gleich wieder abgerufen auf Korrespondenzban- ken weltweit. Der auch für Nauru zuständige US-

O. JANDKE / CARO JANDKE O. Botschafter auf Fidschi, Osman Siddique, Russische Zentralbank in Moskau: Wirksame Kontrolle nur an der Quelle erfuhr vor Ort nur, dass niemand unter- scheiden könne, ob es sich bei den Über- weder illegal noch „unbedingt typisch für weisungen um „gute oder schlechte“ RUSSLAND ein unmoralisches Individuum“. Gelder handelt. Insel-Beamte räumen ein, Inzwischen drängen sich auf 21 Qua- Nauru fehlten einfach die technischen Loch im dratkilometern mit 10900 Bewohnern die Möglichkeiten, die Fachleute und die Er- Finanzinstitute. Sie haben alle dasselbe fahrung, um Buchungsvorgänge richtig und Postfach, dafür aber unterschiedliche Plas- vollständig zu durchleuchten. Zuckerkringel tikschilder mit ihrem Firmennamen im Flur Dieses Unvermögen teilt Nauru mit an- der Nauru Agency Corporation. Diese Ge- deren meerumschlungenen Oasen des Pa- Versteck in der Südsee: Der sellschaft registriert die Unternehmen, er- zifiks oder der Karibik. Dort fragt keine teilt Banklizenzen und bringt der Insel die Steuerfahndung und – anders als in der größte Teil des Moskauer Flucht- ersehnten neuen Einkünfte. Schweiz und den USA, wo russische Geld- geldes fließt nicht nach Eine Bank zu gründen kostet 5680 schiebereien die Justiz beschäftigen – auch New York oder Zürich, sondern Dollar, die anschließende jährliche Gebühr kein Staatsanwalt nach dem Woher und auf eine winzige Insel im Pazifik. 4980 Dollar. „Das ist ein bedeutender Bei- Wohin strotzender Bankguthaben. trag zum Volkseinkommen“, freut sich Der Trans-World-Konzern, der auch Ge- iel einträglicher als Raub und Dieb- Mathew Batsiua, Regierungssekretär der winne des russischen Aluminiummarkts stahl führt laut „Dreigroschenoper“ Nauru-Republik, die im September der abschöpft, unterhält unweit Nauru, auf Vjener Weg zum Wohlstand, den der- Uno beitrat und 2001 die Weltmeisterschaft Westsamoa, ebenfalls eine Bank und auf zeit eine Website weist: „Yes! Ich will mei- im Gewichtheben ausrichtet (an Stelle des den Jungferninseln 26 Firmen. Die Bank ne eigene Bank gründen!“ Mitbewerbers Riesa in Sachsen). of New York, bislang im Zentrum der Er- Das sei fast so, wie Geld selbst zu „Sie verkaufen das Loch im Zuckerkrin- mittlungen über die Schleichwege russi- drucken, wirbt im Internet ein OPC Inter- gel“, höhnte gegenüber der „Washington schen Schwarzgeldes, steht laut „Washing- national Trust, und zwar am besten mit ei- Post“ ein Angestellter der Baltic Banking ton Post“ unter Verdacht, mit der Sinex- ner „Off shore“-Bank, irgendwo auf einem Group, die – mit Sitz in Zürich, London Bank auf Nauru zusammengearbeitet kleinen Atoll, möglichst weit weg. „Unser und Riga – ihren Klienten gern einen Fir- zu haben. Favorit“, empfiehlt das Un- Wirksam lässt sich der ternehmen, sei die winzige Geldfluss nur an der Quelle Südseeinsel Nauru. kontrollieren, bei der Zen- Das palmengesäumte Ei- tralbank in Moskau, die alle land liegt auf dem Weg von grenzüberschreitenden Kon- Australien nach Hawaii und tenbewegungen kennen soll- bestand einmal hauptsäch- te. Bankvize Melnikow, der lich aus getrocknetem Vogel- die Mega-Schiebungen nach mist, dem begehrten Phos- Nauru enthüllt hat, zeigt sich phat. Doch der Düngervor- ungerührt: Neue Regularien, rat, mit dessen Abbau die gar ein zartes Wirtschafts- deutschen Kolonialherren wachstum in Russland hät- ITAR-TASS vor 90 Jahren begannen, AFP / DPA ten die Kapitalflucht jüngst geht zu Ende. Auf der Suche Zentralbank-Vize Melnikow, Steueroase Nauru: Dollar statt Vogelmist um ein Viertel gesenkt. nach neuen Einnahmen wur- Sobald die Schieber durch de vorübergehend eine Basis für die mensitz im Pazifik vermittelt. Es handelt die Südsee-Transaktion die Steuer umgan- Sowjetflotte erwogen – bis die neuen Rus- sich vor allem um russische Klienten. Zum gen hätten, brauchten sie das Geld wieder sen beim Blick in den PC eine profitable- Verschieben der Gelder dient Nauru derzeit daheim, glaubt Melnikow. Sie orderten re Nutzung entdeckten: als Versteck für als der „attraktivste“ Weg, befand Wiktor rund 90 Prozent des Fluchtkapitals zurück ihr Fluchtgeld. Melnikow, Vizechef der russischen Zen- – als Darlehen, die sie sich selbst gewähren. Übliche Auflagen, den Transfer größe- tralbank. Dieses Schlupfloch sei „eine of- Alles also halb so schlimm in der Sicht rer Summen beim Zoll oder einer Zentral- fene Einladung zu Finanzverbrechen und der Zentralbank (die selbst Staatsgelder bank anzumelden, seien dort „nicht erfor- Geldwäsche“, hatte das US-Außenministe- auf der Kanalinsel Jersey parkte). Nur der derlich“, warb im Internet bis vor kurzem rium schon im Februar verkündet. russische Staat kann mangels Steuerein- die Universal Baltic Bank Inc., Sitz Nauru. Zentralbanker Melnikow lieferte nun nahmen keine Löhne und keine Renten Dieser Überweisungsweg, so hieß es, sei eine Sensation: Er schätzt die über Nauru zahlen. Fritjof Meyer

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Zuschauer – überwiegend weib- liche Fans – strömen pro Jahr in die Shows. Mit der professionell arran- gierten Flucht aus der Männer- gesellschaft macht die Revue ein glänzendes Geschäft. Zwar herrscht in Japan ein reiches Angebot an speziellen Host- Clubs, Strip-Shows und Massa- gesalons, in denen Japanerin- nen sich in umgekehrter Rol- lenverteilung von Männern er- freuen lassen können. Doch an- ders als die Rotlicht-Etablisse- ments gilt Takarazuka als respektable Unterhaltung. Im Theater sind die Frauen fast ganz unter sich. Umhüllt von Rosenduft und anderen Es- senzen, die je nach Musical- Thema aus der Klimaanlage wa- bern, bewundern sie ihre „Traummänner“: In rollentypi- schen Macho-Gesten stapfen Präsidenten, Playboys und Prin- zen über die Bühne. Die Augen rund geschminkt, verwandeln sich die Schauspielerinnen gleich zweifach – in Männer und in Westler. Viele Japanerinnen heiraten nach wie vor weniger aus Zu- neigung als um der materiellen Absicherung willen. Und damit erklärt die US-Anthropologin Jennifer Robertson, die Takara-

FOTOS: T. WAGNER / SABA WAGNER T. FOTOS: zuka über ein Jahrzehnt er- Aufführung des Musicals „Elisabeth“ im Takarazuka-Theater: Jungfräuliche Illusion forscht hat, auch die Popularität der Bühnen-Zwitter. Die Stars geben sich so galant, wie Japanerinnen es JAPAN zu Hause oft vermissen: „Solche Liebhaber sucht man vergebens“, sagt Takarazuka- Verehrerin Kumiko Ito, 50 und verheiratet. „Bildhübsche, sanfte Vor allem mit japanischen Versionen der „West Side Story“ oder dem Sisi-Drama „Elisabeth“ feiert Takarazuka rauschende Liebhaber“ Erfolge. Doch die Tokioter Ginza ist nicht der New Yorker Broadway, und statt be- schwingter Heiterkeit ergreift feierlicher Ein Theater nur mit weiblichen Darstellern bietet Ernst das Publikum. Japanerinnen eine gefühlvolle Die Verkäuferin Maromi Onuma, 24, pil- gert mit ihrem Fanclub mehrmals im Jahr Gegenwelt zur alltäglichen Macho-Gesellschaft. ins Theater. Nach den Shows beziehen

n ihrem Apartment hat Chikako Saka- Geliebte anhimmelt, sind freilich allesamt moto, 29, nur Platz für Bett, Kühl- junge Schauspielerinnen, denn im Takara- Ischrank und Fernseher. Ihre Kleider zuka-Theater dürfen nur Frauen auftreten muss sie an Wandhaken aufhängen. In ih- – auch in männlichen Rollen. rer Phantasie aber verkehrt die Bürogehil- Die hoch gewachsenen Aktricen mit fin in weitläufigen, glitzernden Palästen, ihren kurzen, bräunlich oder blond ge- schwärmt von großen Gestalten der Ver- färbten Haaren faszinieren Sakamoto: gangenheit wie John F. Kennedy oder dem „Solche bildhübschen, sanften Liebhaber österreichischen Kaiser Franz Joseph I. lassen sich nur von Frauen verkörpern.“ Diese Traumwelt sucht Sakamoto in der Schon ab sieben Uhr morgens stehen Musical-Revue Takarazuka, die gern west- hunderte Japanerinnen Schlange, um Ein- liche Exotik, romantisch verkitscht, auf die trittskarten zu ergattern. Das Theater in Bühne bringt. Die berühmten „Männer“, Tokio, das 2300 Besucher fasst, ist meist Takarazuka-Schülerinnen beim Training die Sakamoto auf Fotos und Videos wie ausverkauft. Etwa zweieinhalb Millionen Heirat verboten

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Werbeseite Ausland die Frauen nahe dem Bühnenausgang Pos- somit hinter den Kulissen jene Rollenver- ten, um in stiller Andacht die Schauspiele- teilung weiter, die auch sonst den japani- rinnen, die mit großen dunklen Sonnen- schen Alltag prägt: „Frauen brauchen brillen aus der geheimnisvollen Welt hinter einen harten Willen, aber Männer dürfen den Kulissen auftauchen, aus der Nähe zu ruhig etwas verwöhnt und launisch sein“, bewundern. sagt Juri und lacht dabei fast so chauvinis- Die Stars – offiziell „Schülerinnen“ ge- tisch wie ein Ehemann. nannt – müssen sich einer strengen Kobayashis altväterlicher Geist ist noch Hierarchie unterordnen, wie sie sonst nur überall spürbar. Doch konnte schon der noch im traditionellen Kabuki-Theater Gründer nicht verhindern, dass seine Schü- oder beim Sumo-Ringen fortlebt. Auch lerinnen oft zum Liebesobjekt latenter les- deshalb zieht Takarazuka die Fans an: weil bischer Neigungen wurden. die Revue zwar die westliche Musical- Für das (überwiegend männliche) Taka- Fassade vorführt, aber dahinter alles japa- razuka-Management ist das Thema zwar nisch belässt. tabu. Tatsächlich aber beutet die Revue Wenn Takarazuka-Star Sakiho Juri den ähnliche Sehnsüchte aus wie die zahllo- Bühneneingang betritt, verneigt sie sich sen japanischen Frauen-Comics, die den ehrfürchtig vor einem Shinto-Altar mit idealen Liebhaber als mädchenhaften einem Foto von Ichizo Kobayashi, der die Jüngling oder ältere Schwester darstellen. Revue 1914 gründete. Die Idee mit der Mädchenbühne kam dem geschäftstüch- tigen Unternehmer und späteren Handels- minister, weil er Reklame für seine Hankyu-Eisenbahn zwischen Osaka und Takarazuka machen wollte. Heute noch gehört die Musical-Truppe zum Hankyu- Imperium. Aber Kobayashi ging es nicht nur ums Geschäft, er wollte junge Schauspielerin- nen und Zuschauerinnen zu züchtigen Ehe- frauen, Töchtern und Müttern erziehen. Männer schloss er aus, um Liebesaffären in der Truppe zu verhindern. Bevor die Schülerinnen auf die Bühne dürfen, trainieren sie zwei Jahre Schau- spielerei, Ballett und Gesang. Es herrscht ein Drill wie beim Militär: Morgens um 7.20 Uhr schrubben die Mädchen – alle in blauen Uniformen – die Klassenzimmer, moderne Geräte wie Staubsauger dürfen sie nicht benutzen. Berufsoffiziere der Ar- mee bringen ihnen das Marschieren bei.

Solange die Schülerinnen zur Takarazuka- / SABA WAGNER T. Truppe gehören, dürfen sie nicht heiraten. Takarazuka-Schauspielerinnen* Trotz des altertümlichen Regiments be- Doppelte Verwandlung werben sich jährlich über tausend Japane- rinnen um die 40 Plätze. Auf die schwere Wenn die Fans von Sakiho Juri – alle Aufnahmeprüfung bereiten sie sich mit teu- tragen braune Uniformen mit der goldenen ren Kursen an privaten Ballettschulen vor. Aufschrift „Juri!“ – ihrer Angebeteten vor Das Jahr ihres Eintritts bei Takarazuka dem Theater in Tokio auflauern, achten bestimmt die Rangordnung unter den wachsame Ordner streng auf Abstand.Aus Mädchen. Selbst wenn eine Schülerin auf der Nähe dürfen die Zuschauerinnen Juri der Bühne als Superstar gefeiert wird, muss höchstens bei Teepartys in einem Hotel sie sich hinter den Kulissen vor Älteren bewundern: Die organisiert der Fanclub demütig verbeugen oder ihnen grünen Tee für rund hundert Mark pro Teilnehmer, einschenken. Gruppenfoto inklusive. Dabei gehört Sakiho Juri, die im Musi- Viele Verehrerinnen bedrängen ihren cal „Elisabeth“ den Kronprinzen Rudolf weiblichen Traummann mit erotischer Post. mimte, zu den Privilegierten: Da sie groß „Um die Illusion nicht zu zerstören“, er- und schlank ist, erfüllte sie die wichtigste zählt Juri, müsse sie auch außerhalb der Bedingung eines Bühnen-Manns. „Die Bühne die Rolle des Mannes spielen. Nie Mädchen-Rollen haben es schwerer“, sagt würde sie sich im Rock oder gar mit einem sie, „denn Männer-Rollen begeistern die Freund sehen lassen. Fans mehr. Dagegen müssen Mädchen dar- Als der Bühnen-Mann Saki Asaji jüngst um kämpfen, beachtet zu werden.“ Auf heiratete und die Truppe verlassen muss- bizarre Weise spielt die weibliche Truppe te, brach für die Verehrerin Sakamoto ei- ne Welt zusammen: „Plötzlich entpuppte * Darstellerinnen des Todes und der Kaiserin im Musical sich Saki als normale Frau.“ „Elisabeth“. Wieland Wagner

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KALENDER Erotische Verbrecher ie offenbar unwiderstehliche Wir- Dkung von Gefangenen auf manche Frauen ist nicht erst seit der Liebesbe- ziehung zwischen dem „Heidemörder“ und seiner Psychologin und Fluchthelfe- rin bekannt. Der Kopenhagener Verlag „August Film“ hat jetzt einen Monats- kalender für das Jahr 2000 mit zwölf erotischen Fotos dänischer Verbrecher – im Hafturlaub oder hinter Gittern – her- ausgebracht. Für den Januar 2000 etwa hat sich Drogendealer Søren Bjergstad Jørgensen, 34, stilvoll mit Weinglas und feinem Morgenmantel auf dem Lederso- fa drapiert. „Hells Angels“-Rocker Nick

Jacobsen, 36 – er sitzt wegen Mordes le- & SERVICE DB STATION benslang –, posiert für den November Modell des Hundertwasser-Bahnhofs in Uelzen 2000 melancholisch sinnend, bedeckt ARCHITEKTUR Bahnsteig in Pink uch gute Vorsätze sind manchmal nur Schall und Rauch. Erst im vergangenen AJahr ließ der Wiener Kunterbunt-Architekt Friedensreich Hundertwasser, 70, ankündigen, er verabschiede sich vom Bauen.Vorbei die Zeit der buntsanierten Plat- tenbauten mit Zwiebeltürmen? Nein. Noch immer lässt der Kämpfer wider den rech- ten Winkel von sich hören. Und noch immer stößt sein gebauter Frohsinn nicht nur auf Gegenliebe: Im Sommer sammelten über 10000 Magdeburger Unterschriften gegen ein geplantes Hundertwasser-Haus, von ihnen als „Märchenburg“ beschimpft. Jetzt beglückt der Österreicher die niedersächsische Stadt Uelzen und modelliert ihren etwas heruntergekommenen Bahnhof zum lustigen „Kulturbahnhof“ um. Hier aber ohne Proteste. Immerhin hatte eine Privatinitiative das Vorhaben angescho-

OUTLINE / INTER-TOPICS ben. Außerdem ist der 1888 entstandene Bau denkmalgeschützt. An die wilhelmi- Jørgensen nische Fassade, so beruhigte die Projektgruppe skeptischere Bürger, „lassen wir den Meister nicht ran“. Offenbar doch: Das Modell, das in dieser Woche präsentiert wird, nur durch Tätowierungen. Eine Frauen- zeigt Ringel-Säulen rund ums Gebäude, rosafarbene Wartehäuschen, Grasdächer, jury wählte die Schwarzweißfotos für dort eine Glashaube, hier ein Türmchen – die gewohnte Palette eben, insgesamt aber den Kalender „Forbudte Maend“ („Ver- eine eher harmlose Hundertwasser-Variante. Dass der 16 Millionen Mark teure Um- botene Männer“) aus. Doch dann pro- bau, der als Expo-Projekt ausgewiesen wurde, als zukunftsträchtig gilt, hat er we- testierten dänische Abgeordnete, der niger dem Pippi-Langstrumpf-Design zu verdanken als einer riesigen Fotovoltaik- Buchhandel boykottierte das anstößige Anlage und dem Ansinnen, stillgelegte Gleisflächen für Wohn- und Geschäftshäu- Werk. Nun bietet Verleger Johan Hye- ser freizugeben: Das Viertel soll – vielleicht als Hommage an Hundertwassers Kur- Knudsen die Knast-Erotik (Druckaufla- venfreude – „Achter-Bahn“ genannt, aber nicht von ihm gebaut werden. ge: 10000) im Internet feil.

POP mies Pause, weil ihr nach eigener Auskunft „die Puste ausgegangen“ war. Nun macht ihr Album Ins Zeug gelegt „Breakdown“ (Mercury) Furore. Etheridge, die inzwischen als glückliche lesbische Mutter mit eit Janis Joplin hat keine Rock’n’Roll-Frau so ihrer Lebensgefährtin zwei Kinder großzieht, Sherzzerreißend und hemmungslos hinter dem schmachtet und rockt auf dem Album wie eh Mikro gelitten wie Melissa Etheridge. Wie es sich und je: Songs, in denen sich die Sängerin mit anfühlt, von seiner großen Liebe verschmäht zu Haut und Haaren ins Zeug legt. Zum ersten werden; wie man sich verzehren kann vor Sehn- Mal aber wagt sich Etheridge an ein politisches sucht und Eifersucht, während man nachts ums Thema: Ihre Ballade „Scarecrow“ ist ein Re- Haus der Angebeteten schleicht – das alles quiem auf einen homosexuellen Studenten, der schrie sie in selbstverfassten Hits wie „Bring Me vorigen Herbst von Schwulenhassern ermordet Some Water“ mit kratzig-wilder Stimme heraus. wurde. Sie wolle „nicht predigen“, sagt Ethe-

Vier Jahre lang machte Etheridge, 38, nach 25 L. WITTROCK ridge, aber „dieser Mord hat mich total ge- Millionen verkauften Alben und zwei Gram- Etheridge schockt“.

der spiegel 45/1999 233 Szene

FILM siert als Greta Garbo oder Liza Minnelli und propa- „Eichmann war von giert so einen lässigen Mix der Kulturen. Auch der chi- fürchterlicher Komik“ nesische Künstler Zhang Huan setzt seinen Körper Eyal Sivan, 35, Filmemacher aus Israel ein, hängt sich Tierskelette mit Wohnsitz in Paris, über seinen Film um oder bemalt sich mit „Ein Spezialist“, eine Dokumentation Schriftzeichen. Nur geht es des Jerusalemer Eichmann-Prozesses, ihm um die Frage nach die jetzt in deutschen Kinos anläuft Herkunft und Identität in einer Zeit, in der sich sein SPIEGEL: Herr Sivan, wie hat Israel auf Land mit der, wenn auch das Wiedersehen mit dem vor 38 Jah- zögerlichen, Öffnung zum ren hingerichteten Adolf Eichmann Westen rasant verändert. reagiert? Sein Selbstporträt „1/2(#2)“ Sivan: Mit Ver- ist Teil der Ausstellung blüffung. Man „Kunstwelten im Dialog“ hatte ein Monster im Kölner Museum Ludwig erwartet und be- (bis 19. März). Die Schau, kam im Film nur die mit Namen wie Picasso einen Bürokraten oder Matisse auftrumpft, zu sehen. „Haben beschränkt sich im Wettbe- wir denn 1961 den werb der Jahrhundert- ganzen Prozess Rückblicke auf ein Thema verpasst?“, wurde – die Globalisierung in der

hinterher gefragt. GALLERY UND MAX PROTETCH ZHANG HUAN COURTESY Kunst. Aller Anfang war

AFP / DPA SPIEGEL: Aber er Zhang-Werk „1/2(#2)“ (1998) danach der Langzeit-Trip Sivan stand doch mit Paul Gauguins 1891 nach seiner „Banalität AUSSTELLUNG Tahiti, wo er im naiven Stil Südsee- des Bösen“, so die Philosophin Hannah Schönheiten malte. Bald setzte in Euro- Arendt, im Mittelpunkt des Prozesses? pa ein Run auf die Kunst der so genann- Sivan: Für Israel nicht. Alle blickten er- Hautnahe ten Primitiven ein, vor allem auf afrika- schüttert auf die Zeugen des Holocaust, nische Plastiken. Das neueste Stück der von denen fast keiner je Eichmann be- Schau ironisiert, wie sehr sich die Kul- gegnet war. Im Prozess ging es nicht um Heimatbilder turen längst gleichen – wenn es um das den Angeklagten, sondern um das Erin- Verschwinden ihrer Kulte geht: Der nern. Damals wurde Israel ein zweites er japanische Künstler Yasumasa Chinese Cai Guo-Qiang lässt für seine Mal geschaffen – als Opfer-Staat. DMorimura hat ein Faible für gla- Arbeit „The Age of Not Believing in SPIEGEL: Eichmann wirkt in Ihrem Film oft mouröse Frauenkleider und schlüpft God“ Götterfiguren verschiedener Reli- kauzig. War er ein schräger Vogel? auch selbst hinein. Womit er die Tradi- gionen schweben und durchbohrt sie Sivan: Wir mussten am Schneidetisch oft tion wahrt: Im japanischen Kabuki-The- mit Pfeilen. Gern hätte er das Objekt lachen, denn er war die Karikatur des Be- ater übernehmen grundsätzlich Männer im Kölner Dom aufgehängt. Die kosmo- fehlsempfängers – von fürchterlicher Ko- die Frauenrollen. Doch Morimura be- politische Bestandsaufnahme scheiterte: mik. Befreit lachten wir nicht. vorzugt das Outfit westlicher Diven, po- Der Dompropst lehnte ab.

Kino in Kürze

„Schlaraffenland“ liegt für einige Milchgesichter der Viva-Ge- mehr als ein ambitio- neration in einem Einkaufszentrum: Sieben Jugendliche lassen niertes Amateur-Vi- sich über Nacht einschließen für eine wilde Party zwischen deo zu Stande bringt. Turnschuhregalen und Fleischtheken. Dumm nur, dass dort Jean-Marc Barr als gleichzeitig ein paar Leute vom Sicherheitsdienst dabei sind, Autor, Regisseur und den ihnen anvertrauten Tresor zu knacken. Es kommt zum Kameramann erzählt blutigen Kampf – doch spätestens mit der ersten Leiche gibt im winterkalten Paris auch der Plot unter großem Getöse den Geist auf (Regie: Frie- von einer französi- demann Fromm). Was anfangs gerade noch als grelles Genera- schen Buchhändlerin tionenporträt durchgehen mag, verflacht zu einem so konfusen und einem Bohemien wie langatmigen Baller-Krimi, den auch prominente Darsteller aus Belgrad (Élodie

nicht mehr retten können: Franka Potente als Wachfrau wirkt Bouchez und Sergej PROKINO so passend wie ein Weihnachtsmann im August. Trifunoviƒ), die sich „Lovers“-Darsteller Bouchez, Trifunoviƒ ihre Liebe nur in „Lovers“ ist der fünfte Kinofilm, der sich zum Minimalismus der holprigem Englisch gestehen können. Der hübsche Bursche ist, dänischen „Dogma“-Brüderschaft bekennt, und leider erweist wie sich zeigt, illegal im Land, doch der Harmlosigkeit des sich dabei, dass man mit diesem Prinzip nicht zwangsläufig Ganzen hilft diese drohende Schwierigkeit nicht auf.

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KULTURGESCHICHTE Zum Kaffee Sex Am Rande ür eine Ausstellung über britische Ess- Spätwendehälse Fkultur braucht man zweierlei: Selbst- bewusstsein und einen Hang zum Skurri- or zehn Jahren rief Christa Wolf len. Weil die Briten beides besitzen, ver- Vauf dem Berliner Alexanderplatz gnügt und belehrt die Ausstellung „Lon- ins Volk: „Verblüfft beobachten wir don Eats Out“ im Museum of London die Wendigen, im Volksmund Wen- (bis 27. Februar) ihre Besucher. Wir- dehälse genannt.“ Die aufrechte kungsvoll zerstört sie die Klischeevor- DDR-Schriftstellerin mokierte sich stellung, von jeher sei Tee das britische über jene Kreaturen, „die laut Lexi- Nationalgetränk gewesen: Bis zum Be- kon sich rasch und leicht einer gege- ginn des 20. Jahrhunderts trank ein benen neuen Situation anpassen“.

Großteil der Bevölkerung den längst er- MUSEUM OF LONDON Teufel, Teufel. Frau Wolf brauchte für schwinglich gewordenen Kaffee. Die Kunstdruck „The Pretty Barmaid“ (1770) die Neujustierung von Ich und Le- zahlreichen Coffee Houses waren Män- benswelt unter historisch verschärf- nern vorbehalten, weil sie neben günstigem Kaffee oft auch Prostituierte feilboten. ten Bedingungen, Kochen konnten die wenigsten Londoner, da viele Häuser aus Platzmangel keine genannt „Wende“, Küche hatten. Schon seit Jahrhunderten kauften sie sich deshalb frittierten Fisch. tatsächlich ein wenig Eine Fish-and-Chips-Tüte von 1840 illustriert diese britische Fast-Food-Tradition, die länger als andere: von der Regierung gefördert wurde: Um den Absatz zu garantieren, durften Schnell- Erst 1993 wechselte restaurants an manchen Tagen nichts anderes als Fisch verkaufen. sie vom traditions- Auch das Rätsel, warum die Briten trotz des Rinderwahns so heftig ihr Beef verteidi- reichen Ost-Berliner gen, löst die Ausstellung: Rinderbraten galt besonders in Kriegszeiten als Symbol na- Aufbau-Verlag ganz tionaler Stärke und Unabhängigkeit – im Gegensatz zur leichten, raffinierten franzö- zum westdeutschen sischen Küche. Karikaturen zeigen neben unterernährten Franzosen kraftstrotzende Luchterhand-Verlag. Engländer. 1735 gründete sich sogar eine „Sublime Society of Beefsteaks“, die sich Nun, pünktlich zum unter dem Motto „Beef and Liberty“ bis heute allwöchentlich zum Schmaus trifft. Mauerfall-Jubiläum, kommt auch Christoph Hein, nach 20-jähriger Treue zu „Aufbau“, im Westen an: in Siegfried Unselds großem Suhrkamp- LITERATUR in der Kistenfabrik tätig, deswegen noch Nest – ein „Ausdruck kapitalistischer lange nicht: Wenn etwa Alex seine Pau- Normalisierung“, wie Aufbau-Verle- Zähne zeigen la verführt, legt er dazu als Musik „Ku- ger Bernd Lunkewitz freihändig for- schelrock, die zweite“ auf – freilich hat muliert, der als Millionär mit einer ls Schülerin schrieb Annegret Held die Romantik in diesem Roman kaum Schwäche für Marxismus und Immo- Aihren ersten Roman: in 19 Schul- eine Chance: „Paula hatte Mühe, Alex bilien weiß, wovon er spricht. Auch hefte, 550 eng beschriftete Seiten – als zu lieben, weil er beim Geschlechtsver- Oskar Lafontaine, als Finanzminister Schriftstellerin fühlte sie sich deswegen kehr so blöd aussah.“ Dann aber ist es gescheitert, im privaten Cash-Hand- noch lange nicht. Wo lernt man das Le- Alex, der sich, wenn auch schluchzend ling jedoch überzeugend, hat jüngst ben kennen? Bei der Polizei, dachte sie („Es tut so weh“), von der verblüfften bewiesen, dass selbst bei ihm das – und fand sich unversehens als Paula trennt: Er sei nicht blöd Herz dort einschlägt, wo normaler- Hüterin der Startbahn West am und habe erkannt, dass sie ihn weise die Brieftasche sitzt. Aber, Ge- Frankfurter Flughafen wieder. eigentlich nicht wolle. Und so nossinnen und Genossen, Citoyennes Immerhin durfte sie doch auch geht es mit den „Weibern“ und et Citoyens – wollen wir solche Ba- auf Streifenfahrt, die dreijährige den „Kerlen“ hin und her: bunt nalitäten wirklich hören? Wollen Erfahrung schlug sich 1988 in gemischt in sich überlappenden wir, die Kinder von Nutella, Müller- ihrem Reportagebuch „Meine Episoden, wie sie besser in den Milchreis und 5-Minuten-Terrine, das Nachtgestalten“ nieder. Nach gelungensten Vorabendserien echt wissen? Muss man uns, den su- dem Studium – Ethnologie und nicht zu finden sind – und zwi- perfixen hochflexiblen Medienjun- Kunstgeschichte – wandte sich schendrin kreischen die Sägen kies und ironiegepanzerten Simula- Held, 1962 im Westerwald gebo- und krachen die Baumstämme: tionsexperten tatsächlich noch ein- ren, in ihrem Roman „Am Die Kistenfabrik bietet unauf- mal vorführen, wie die Chose läuft? Aschermittwoch ist alles vor- dringlich den Schauplatz für Nein, aber wir hoffen auf den nächs- bei“ wieder der Provinz zu. Auch ihr viele Dramen und den Zusammenhalt ten Übertritt ins richtig falsche Le- neues Buch „Die Baumfresserin“ führt dieses hinreißend erzählten dörflichen ben: Frank Castorf macht Ikea-Wer- vor, wie ergiebig Leben auf dem Land Kosmos. Die titelgebende „Baumfresse- bung – zuerst für den Küchentisch ist, wenn eine Autorin zwischen Lokal- rin“ ist denn auch kein wild geworde- „Dostojewski Smörebröd, dämonisch kolorit und Distanz klug die Waage hal- nes Weib, sondern die größte der Ma- gut und bombensicher“. Es gibt viel ten kann. Dass Dornweiler „nicht die schinen: die „dröhnende, olle Senk- zu wenig Menschen, die „sich rasch Welt“ ist, sondern „ein kleines Dorf rechtsäge“ – aber selbst die kommt dem und leicht einer gegebenen Situation mitten in Deutschland, so alt wie der Leser fast menschlich nah. anpassen“ können. Vorwärts, Ge- Wald ringsumher“, wird gleich im ers- nossen, das neue Deutschland zählt ten Absatz klargestellt. Doch Hinter- Annegret Held: „Die Baumfresserin“. Rowohlt Verlag, auf euch! wäldler sind die Bewohner, nahezu alle Reinbek; 320 Seiten; 39,80 Mark.

der spiegel 45/1999 235 Kultur

KINO Aufschrei der Entrechteten In Amerika wird er für seinen Zynismus scharf kritisiert. Doch US-Regisseur David Fincher etabliert sich mit seiner jüngsten Gewaltsatire „Fight Club“ als wichtigster Erneuerer der Hollywood-Ästhetik. Von Susanne Weingarten

ie Selbsthilfegruppe trifft sich in der Tyler ihnen einredet, „Männer ohne schäbigen Turnhalle eines Gemein- Zweck, ohne Ziel“. Im Fight Club ent- Ddezentrums, der man ansieht, dass decken sie ihren inneren Hooligan und sie nach altem Schweiß und Gummimatten fühlen sich hinterher errettet. mufft. Auf Klappstühlen hocken die alle- Bald begegnen sich überall Mitglieder samt an Hodenkrebs Erkrankten, erzählen mit schillernden Veilchen und zugepflas- einander ihre Geschichten und verstecken terten Nasen, die einander verschwöre- ihr Leid hinter Therapiejargon: „Bedan- risch-wissend zunicken. Von diesem Ge- ken wir uns alle bei Thomas, dass er sich heimbund ist es, so will es das vor dem eingebracht hat.“ Am Ende finden die Hanebüchenen nicht gefeite Drehbuch Elendsgestalten auf Kommando zu Paaren (nach dem gleichnamigen Roman von zusammen: um einander zu umarmen, Chuck Palahniuk), nur noch ein kleiner

zu schluchzen und sich gegenseitig zu ver- PRESS SIPA Schritt zu einer gut gedrillten Unter- sichern: „Ja, wir sind immer noch Män- Regisseur Fincher grundarmee, die ihren Frust nicht mehr ge- ner.“ Aber wenn sie sich dessen so sicher Regressiv und reaktionär? gen sich selbst richtet, sondern am Ende ge- wären, würden sie nicht jede Woche wie- gen das System, das sie hervorgebracht hat. derkommen. wird, was seinem Appeal nicht schadet, „Fight Club“, gedreht von David Fin- Einer gehört eigentlich nicht hierher. von Brad Pitt dargestellt. cher, 36, ist als Provokation angelegt und Laut dem Namensschild, das er sich an die Zusammen unternehmen der zivilisa- als solche in Amerika auch aufgenommen Brust gepappt hat, heißt er Cornelius, ein tionskranke Jammerlappen (Edward Nor- worden. In aufgebrachten Verrissen haben blasser, verklemmter Endzwanziger mit ton), dessen wahren Namen wir nie erfah- Kritiker ihn der Gewaltverherrlichung und tiefen Ringen unter den Augen. Er hat kei- ren, und der anarchische Zivilisationsver- des Nihilismus bezichtigt und ihm vorge- nen Hodenkrebs und auch sonst keine weigerer Tyler Durden in „Fight Club“ halten, seine Gesellschaftskritik sei albern, Krankheit; er ist ein vampirischer Elends- eine Geisterbahnfahrt durch Nietzsches sein Männerbild regressiv und seine poli- junkie, der allabendlich unter falschem Na- finsterste Träume. Als Dritte im Bunde tische Haltung reaktionär. Dass Fincher der men Therapiegruppen besucht und sich das schließt sich ihnen die Punk-Schlampe Hautgout des Werbe- und Videoclip- Leid der anderen reinzieht, um seine eige- Marla (Helena Bonham-Carter) an. Filmers anhängt, als der er sich in den ne Depression besser zu ertragen. In einer Gesellschaft, in der alle betäubt, achtziger Jahren einen Namen gemacht Denn auch er leidet, wie er den Zu- zugerieselt und verweichlicht werden, so hat, gibt den Rezensenten nun ein wohl- schauern nicht ohne Sarkasmus aus dem behauptet Tyler, kann sich der Einzelne feiles Argument an die Hand: Ausgerech- Off mitteilt: an seinem Job als Schadens- nur noch im Schmerz seiner selbst verge- net einer mit einer solchen Vergangenheit gutachter eines Automobilkonzerns – er wissern.Wenn der Geist eingeschläfert ist, maßt sich jetzt an, den Konsumwahn zu muss ausrechnen, ob seiner Firma die muss der Körper für ein Gefühl der Le- geißeln. Klagen der Unfallopfer oder der Rück- bendigkeit sorgen: Eine Schlägerei kommt Das lässt sich in der Tat alles anklagen. ruf der defekten Fahrzeuge billiger kom- da gerade recht als atavistisches Ritual, um Der Film fordert es geradezu heraus. Er ist men; außerdem leidet er an Schlaflosig- die Zivilisationsschäden keit und daran, dass er zum „Sklaven des der Postmoderne zu be- Ikea-Nestbau-Triebs“ herabgesunken ist. heben. Jeder rechte Ha- Den Ärmsten quält eine Zivilisation, die ken wird zum Befreiungs- ihn zu Langeweile und Entfremdung ver- schlag gegen die drohende dammt, und er weiß zugleich, wie lächer- Entmannung und Ent- lich im Grunde all diese Wehwehchen fremdung. wirken. Darum gründen die Dann trifft unser Erzähler Tyler Durden. beiden ungleichen Helden Der ist ein ganzer Kerl. Er trinkt Bier in einen geheimen Unter- schmuddeligen Oben-ohne-Bars, schleu- grundclub, dessen Mit- dert seine halbgerauchten Zigaretten mit glieder sich in einem fins- Karacho auf die Straße, trägt das Haar ver- teren Keller nach Her- strubbelt und lebt in einem Abrisshaus, in zenslust (und nach stren- dem er bald auch dem Erzähler Quartier gen Regeln) prügeln dür- gewährt. Tyler ist selbst dann sexy, wenn er fen. Dieser „Fight Club“ halbgare Erweckungsaufrufe gegen die wird zum Kult der Ent- Konsumkultur von sich gibt („alles, was du rechteten, jener „Zweit-

hast, hat irgendwann dich“) und apoka- geborenen der Geschich- SELECTION PHOTO lyptische Warnungen ausstößt. Und er te“, wie der Macho-Guru „Fight Club“-Star Pitt: Finstere Geisterbahnfahrt

236 der spiegel 45/1999 CORBIS SYGMA „Fight Club“-Darstellerin Bonham-Carter: Ein Gefühl der Lebendigkeit zynisch und brutal, er macht Witze auf schauen. Im Gegenzug erklären wir uns Kosten von Leuten, die sich nicht wehren bereit, für die Dauer des Films zu verges- können, er ist hyperreflektiert und un- sen, dass er nur aus Licht und Schatten be- glaublich infantil zugleich, und er schwelgt steht. Wir erklären uns bereit zu glauben. in seiner eigenen Cleverness. „Fight Club“ Dieser Vertrag wird in „Fight Club“ ge- ist durchaus hassenswert. brochen. Der Zuschauer erfährt am Ende, Aber diese Reaktion verkennt das We- dass er systematisch getäuscht worden ist. sentliche: „Fight Club“ ist auch der wich- Die Bilder verweisen auf nichts als auf ihre tigste Film, den Hollywood in diesem Jahr eigene, autonome Logik. Was wir gesehen hervorgebracht hat. Zusammen mit „Ma- haben, war vielleicht nur ein Wachtraum,

trix“ von den Brüdern Wachowski zeigt er ein schlingernder Trip durch ein fremdes CONSTANTIN die Richtung an, in die sich der amerikani- Bewusstsein, in dessen Verlauf Raum, Zeit Fincher-Film „Sieben“ mit Brad Pitt (1995) sche Film künftig bewegen wird. „Fight und Kausalität aufgehoben waren. Einige Lichtlose, kaputte Welten Club“ ist visuelle Avantgarde, die sich in Szenen werden so wiederholt, dass die den Mainstream eingeschmuggelt hat und zweite Version die erste dementiert. Es und die dumpfe Leere der Markennamen- ihn fortan radikal aufmischen wird. wird sogar eine komplette Figur, nachdem kultur anprangert, und diesen unpopulären Wie kaum ein Zweiter hat Fincher aus- der Betrachter sich mit ihr vertraut ge- Ernst kann all sein Sarkasmus nicht ver- gerechnet die Videoästhetik für diese Re- macht hat, als pure Einbildung entlarvt. kleistern und auch nicht sein Wissen, dass naissance der Filmsprache genutzt. Dafür, dass er uns um unseren Glauben er sich mit dieser Attacke bestenfalls Während andere Videoclip- und Werbe-Ve- betrogen hat, muss uns der Film entschä- lächerlich macht – wie ein idealistischer teranen – etwa Michael Bay („Armaged- digen – mit spektakulären Bildern oder ei- Späthippie, der die Zeichen der Zeit nicht don“) und Simon West („Con Air“) – sich ner Erzählung, die die Täuschung plausibel begreifen mag. darauf beschränken, ihre technischen macht. Aber selbst wenn er das schafft, so Das Lächerlichmachen besorgt Fincher Fähigkeiten in immer gewagteren Action- wie „Fight Club“, ändert das nichts an der vorsichtshalber gleich selber, indem er sei- Schnittfolgen zu beweisen, greift Fincher in Tatsache, dass wir lernen müssen, anders ne Betroffenheit satirisch verpackt. „Fight „Fight Club“ das unausgesprochene Er- auf die Leinwand zu schauen, weil wir un- Club“ ist eine Farce, mit der ganzen Wucht zähldogma Hollywoods selbst an. seren Augen nicht mehr trauen dürfen. der Verzweiflung erzählt. In einer großar- Das lautet: Die Bilder sagen die Wahr- Das Spiel, das sich Kino nennt, hat neue tigen Slapstickszene prügelt sich der Er- heit.Wir können darauf vertrauen, dass sie Regeln. zähler selbst quer durch eine Büroeinrich- die Geschichte so realistisch erzählen, wie Dieser radikale Bruch aber, den Finchers tung, die Faust ins eigene Gesicht häm- sie sich zuträgt, egal ob sie mit der Kame- Film wagt, wäre wohl ausschließlich für Ci- mernd, bis er blutig und atemlos in ein ra oder mit dem Computer hergestellt sind. neasten wichtig, wenn „Fight Club“ nicht Glasregal kracht. Mit der gleichen maso- Diesen Wahrheitsanspruch stellt jeder Zu- gleichzeitig etwas zu erzählen hätte. In sei- chistischen Kraft reibt sich auch der Film schauer an einen Hollywood-Film. Das ist nem ganzen Leinwandspuk verbirgt sich ununterbrochen an sich selber auf. Er gibt schließlich der Grundlagenvertrag zwi- ein Kern echter Verzweiflung. Fincher sich zu abgebrüht, um seine eigene Erre- schen Zuschauer und Filmemacher, den meint es ernst, wenn er vor der gefährli- gung einzugestehen, und zu betroffen, um wir eingehen, wenn wir auf die Leinwand chen Lebenskrise junger Männer warnt einfach jeden Gedanken platt zu walzen –

der spiegel 45/1999 237 und genau diese Unentschiedenheit hält ihn davon ab, das bedrohliche Meisterwerk zu werden, das durchaus in ihm steckt. Stattdessen ist „Fight Club“ inhaltlich ein Monument der Ratlosigkeit, ein Film voller Fragen und angerissener Motive, in einer heiklen Balance zwischen Zynismus und Empathie. David Fincher selbst nennt „Fight Club“ einen Initiationsfilm und ver- gleicht ihn mit der „Reifeprüfung“ (1967), in der einst Dustin Hoffman apathisch vor dem Erwachsenwerden stand. Edward Norton, der „Fight Club“-Erzähler, ist rund zehn Jahre älter, aber sein Leben hat er ge- nauso wenig im Griff. Er hat alles getan, was ihm seine Eltern gesagt haben, er hat sich den richtigen Job besorgt, die richtige Wohnung und die perfekte Garderobe an- geschafft, aber jetzt weiß er nicht weiter: ein passiver Jedermann an einer Schwelle, die er allein nicht zu überschreiten wagt. Das macht ihn verführbar für Tyler Durden und dessen destruktive Sprüche. Den Reiz der Gewalt hat auch Regisseur Fincher bisher immer lustvoll ausgekostet. Sein von alttestamentarischer Wut beseel- ter Serienkiller zog in „Sieben“ (1995) mordend und verstümmelnd gegen die mo- derne Gesellschaft zu Felde, und der Thril- ler hielt dem Entsetzen, das er auslöste, keine Aussicht auf Erlösung entgegen. Die Gewalt siegte, weil die Welt nichts Besse- res verdient hatte. Auch in seinem Science-Fiction-Film „Alien 3“ (1992) und dem Psychothriller „The Game“ (1997) schuf Fincher lichtlo- se, kaputte Welten, aus denen dem Zu- schauer nichts als Trostlosigkeit, Melan- cholie und Morbidität entgegenwaberten. Wie ein apokalyptischer Reiter strafte der Regisseur seine Figuren dafür ab, dass sie schwach, selbstgefällig oder fehlerhaft wa- ren. Man hatte nie das Gefühl, dass Fincher die Welt sonderlich mochte. Da war ihm das Böse in seiner Eindeutigkeit schon lie- ber. Das gab seinen Filmen einen elemen- taren, hassgetriebenen Drive, aber auch eine unverkennbare Selbstherrlichkeit. Während andere Regisseure gern be- haupten, sie wären kriminell geworden, hätten sie nicht das Filmen entdeckt, so er- weckte Fincher eher den Eindruck, er hät- te sich irgendwann erbittert und enttäuscht an einem Fensterkreuz erhängt, weil die Welt seinen Ansprüchen nicht genügte. Doch in „Fight Club“ ist ein Erwach- senwerden zu spüren, eine Ablösung von dieser spätpubertären Rigidität und Kälte. Zum ersten Mal sympathisiert Fincher ver- stohlen mit seinem verunsicherten, lächer- lichen Helden, zum ersten Mal ist auch bei Nebenfiguren zu spüren, dass er sie be- trachtet, ohne sie gleich zu verdammen. Und zum ersten Mal steht am Ende ein Liebespaar Hand in Hand vor der Apoka- lypse, zwei Menschen, die lieber leben als sterben wollen. An Ideen und Bildern wa- ren Finchers Filme immer reich – vielleicht wächst ihnen jetzt auch eine Seele. ™

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STÄDTEBAU „Der Schatten meines Vaters“ Der Stadtplaner und Hochschullehrer Albert Speer, 65, über die Verschönerung der Innenstädte, das teure Projekt Expo 2000 und sein Schicksal als Sohn von Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister

SPIEGEL: Herr Professor Speer, mit Ihrem Speer: Ja, große Firmen ziehen Konzept für das Frankfurter Europaviertel, sich in letzter Zeit aus riesigen Ge- das Sie zwischen Hauptbahnhof und Mes- bieten zurück, wie zum Beispiel segelände bauen wollen, lassen Sie Moden Opel aus Rüsselsheim. Auch vie- der Jahrhundertwende wieder aufleben. le andere Firmen haben früher So soll die Innenstadt einen großen Pracht- Flächen gehortet, weil sie an Ex- Boulevard bekommen. Ist das ein Akt der pansionen dachten, nun geben sie Wiedergutmachung nach Jahrzehnten städ- sie frei. Deswegen können wir tebaulicher Sünden? plötzlich wieder Boulevards und Speer: Vielleicht. In der Stadtplanung sind attraktive Plätze bauen. Investoren tatsächlich viele Fehler gemacht worden. haben die Auswahl, ob sie sich in Aber Sie müssen auch bedenken: Man hat München ansiedeln oder in Paris den Ausbau der Innenstädte lange nicht oder eben in Frankfurt. Da müssen

vorantreiben können, weil es einfach kei- sich Städteplaner anstrengen, um SÜDD. VERLAG nen Platz gab. sie dahin zu lotsen, wo sie sie Diktator Hitler, Architekt Speer senior (1937)* SPIEGEL: Und das hat sich jetzt geändert? haben wollen. „Ihr seid ja alle verrückt geworden“

SPIEGEL: Dennoch werden die In- nenstädte meist halbherzig ver- schönert. Auch bei Ihrem Boule- vard gibt es berechtigte Sorgen, dass daraus wieder nur eine Stadtautobahn wird. Speer: Das wollen wir verhin- dern. Man muss unseren Boule- vard an vielen Stellen überque- ren können. Wir brauchen mehr Zebrastreifen als üblich und für die Straßenbahn ein begrüntes Gleisbett, über das Fußgänger laufen dürfen. SPIEGEL: Die Straßenbahn ist ein Verkehrsmittel aus alten Zeiten. Warum gibt es sie auf einmal überall wieder? Speer: Der Bau einer Straßen- bahn ist nur ein Zehntel so teuer wie der Bau einer U-Bahn. Außerdem mögen die Leute lie- ber überirdisch fahren, weil sie da etwas zu sehen haben. SPIEGEL: Trotz Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr – die Autos bleiben das größte Pro- blem der Städte. Über Ihren Bou- levard, das haben Verkehrsplaner schon ausgerechnet, werden vor- aussichtlich 40000 Autos täglich donnern. Ist das für eine Flanier- meile nicht viel zu viel? Speer: Ich gebe zu, das ist ei- ne Horrorzahl. Die muss man al- lerdings differenziert betrach-

G. GERSTER * Vor dem Modell für das Deutsche Haus Stadtplaner Speer, Speer-Modell für Frankfurt: „Meine Familie ist ein Sonderfall“ der Pariser Weltausstellung.

der spiegel 45/1999 239 Londoner. Das Gelände be- steht aus Straßen, Parks und ist so groß, dass es später ein Stück Stadt wird. 800 Mil- lionen sind für längerfristige Investitionen ausgegeben wor- den, auch für S-Bahn-Statio- nen und einen neuen Bahn- hof. Dies alles amortisiert sich nicht in fünf Monaten, aber im Lauf der Jahre auf jeden Fall. SPIEGEL: Bei der Expo sind Sie, wie bei den meisten Projek- ten, vor allem Moderator,Ver- mittler zwischen den Interes- sen von Bauherren, Stadt und Land. Sie propagieren über- dies den Abschied vom Archi- tekturbüro alter Schule. Was haben Sie gegen aufrechte Entwerfer? Speer: Nichts. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es geht

U. DETTMAR U. nicht mehr vor allem darum, Speer-Modell für das Frankfurter Europaviertel: „Investoren lieben Spaßmeilen“ schöne Häuser zu bauen, son- dern darum, wuchernde Städ- ten. Unter den Linden in Berlin fahren Menschen wollen nun mal alles auf einmal te zu organisieren. Was ich hier mit einem auch 40000 Autos in 24 Stunden, und dort bekommen, ohne sich anzustrengen. Stadt- sehr schlagkräftigen und sich stetig verjün- können Sie ohne weiteres über die Straße planung muss mit solchen Entwicklungen genden Team zu schaffen versuche, ist ein gehen. verantwortungsvoll umgehen. Dienstleistungsbüro im allerweitesten Sin- SPIEGEL: Die Leute ziehen, auch wegen der SPIEGEL: Während Ihr Europaviertel bis- ne. Wir sind ein Architekturbüro mit Spe- vielen Autos, aus der Stadt aufs Land. Das lang weitgehend gute Kritiken bekommt, zialisten – zu denen ich mich selbst nicht Einfamilienhaus gilt als beliebteste Wohn- beziehen Sie als einer der wichtigsten Ge- zähle –, dazu gehören auch Verkehrs- und form. Sie sehen aber für Ihr Europaviertel stalter der Expo 2000 laufend Prügel. Was konventionelle Stadtplaner. Und dann gibt Wohnblöcke mit insgesamt 4100 Wohnun- läuft schief? es einen Bereich, der alle diese Dinge zu- gen vor.Wie wollen Sie gerade die Besser- Speer: Sie müssen beachten: Deutschland sammendenkt. Der wird immer wichtiger, verdienenden in die Innenstadt locken? hat sich für die Expo entschieden, als die und dort liegen vor allem meine Stärken. Speer: Einfamilienhäuser sind beliebt, weil Mauer noch stand. Hannover sollte Schau- SPIEGEL: Sie übernehmen Aufgaben von es keine echte Alternative gibt. Unser fenster zum Osten sein, sonst hätte man Regional- und Kommunalpolitikern. Über- Wohnviertel soll aber eine Alternative sein. wohl einen anderen Standort gewählt. Zu- schreiten Sie damit nicht Ihre Kompe- Es kommt in einen Park, ausgewiesene dem: Wenn man gewusst hätte, wie teuer tenzen? Wohnungsbauarchitekten aus europäi- der Aufbau der neuen Bundesländer wird, Speer: Die Komplexität der Aufgaben ist schen Ländern sollen dort etwas Besonde- hätten wir die Expo wahrscheinlich gar heutzutage so groß, dass die Kommunen, res zaubern. nicht gemacht. Nun hat man sich aber ent- Firmen wie BASF oder Preussag jeman- SPIEGEL: Zum Europaviertel gehört auch schlossen, eine zu machen, und eine halbe den brauchen, der Moderationen über- das so genannte Urban Entertainment Cen- wäre peinlich, also wird es teuer.Völlig klar. nimmt. Überlegen Sie mal: In München lie- ter – eine Ansammlung von Hochhäusern, SPIEGEL: Immens teuer. Eine Milliarde gen zwischen Hauptbahnhof und Pasing in denen auf geballtem Raum lauter Ver- Mark fließen allein in die Baumaßnahmen. 160 Hektar Bahnfläche brach. Die Stadt gnügungsstätten entstehen, Theater, Kinos, Wie konnte es zu diesen horrenden Kosten und die Bahn konnten sich zehn Jahre lang Cafés. Warum werden überall in Deutsch- kommen? nicht einigen, was hier geschehen soll. Uns land monströse Spaßviertel errichtet? Speer: Wir bauen ganz bewusst eine Expo- ist es in einem strikt organisierten Diskus- Speer: Die Investoren lieben diese Viertel, Stadt und keinen Millenniumsdom wie die sionsprozess gelungen, in einem Jahr ei- sie stürzen sich geradezu darauf. Und das nen Rahmenplan zu erstellen, nicht ganz zu Unrecht. Innenstädte haben der zu einem Vertrag zwi- an Attraktion verloren, weil die Shopping- schen Bahn und Stadt geführt und Kino-Center sich oft draußen auf der hat, der überdies einstimmig grünen Wiese befinden. Gleichzeitig ent- durch den Münchner Stadtrat wickeln wir uns hin zu einer Erlebnisge- gegangen ist. sellschaft. Durch immer mehr Heimarbeit SPIEGEL: Der Architekt, der wird die Routine nach Hause geholt, und Stadtplaner soll also in Zu- dann entsteht der Wunsch, draußen etwas kunft Berater der Mächtigen erleben zu wollen. sein, nicht mehr eigenständi- SPIEGEL: Um die Innenstadt insgesamt wie- ger Künstler? der attraktiver zu machen, wäre es doch Speer: Nicht ganz. Das eigen- sinnvoller, die Vergnügungsstätten zu ver- ständige Kunstwerk kann teilen, nicht zusammenzuballen. heutzutage erst nach einer

Speer: Ich schätze diesen Trend auch nicht L.S. + P. langwierigen Beratungsphase sehr, und er entspricht zudem nicht der Speer-Häuser für saudische Beamte in Riad (1984) entstehen, das übersehen vie- Tradition der europäischen Stadt. Doch die „Geradezu versessen aufs Ausland“ le Architekten häufig. Die

240 der spiegel 45/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur verteidigen immer noch das, was nicht funktioniert, reden nicht mit den Investo- ren, weil das angeblich böse Menschen sind, die die Stadt kaputtmachen wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Nur mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam ist überhaupt noch etwas zu bewegen. SPIEGEL: Drei Generationen Speer waren in diesem Jahrhundert als Architekten tätig, alle drei auf völlig unterschiedliche, kaum zu vergleichende Art und Weise. Neigt Ihre Berufsgruppe mehr als andere dazu, sich gesellschaftlichem Wandel total zu unter- werfen? Speer: Die Familie Speer ist sicherlich – be- dauerlicherweise – ein Sonderfall. Dennoch ist die Architektur immer in hohem Maße Ausdruck der Gesellschaft. Mein Großvater war ein typischer Architekt der Jahrhun- dertwende. Er hat im Südwesten Deutsch- lands prächtige Bürgerhäuser, aber auch

viele erste Industriebauten entworfen, das BPK Benzwerk in Mannheim etwa. Die denk- Familienvater Speer senior, Ehepaar Speer*: „Selbstverständlich zusammen und doch malgeschützten Hallen stehen noch – mit der fünften Generation Maschinen drin. telt und gesagt: „Ihr seid ja alle verrückt das Stottern begonnen, und zwar so heftig, SPIEGEL: Ihr Großvater, heißt es, war von geworden.“ dass ich in der Schule nicht mehr dran- den elefantösen Entwürfen, die sein Sohn, SPIEGEL: Ihr Vater ist der Dämon Ihres Be- genommen wurde. Das hat dazu geführt, Hitlers Lieblingsarchitekt, zeichnete, nicht rufsstandes. Hatten Sie gar keine Scheu, im dass ich die Schule gerade noch so geschafft besonders angetan. gleichen Bereich tätig zu werden? habe, wenn auch ziemlich schlecht, bis zur Speer: Mein Vater hat meinem Großvater Speer: Schwierig zu sagen. Ich hatte einen mittleren Reife. Dann wusste ich nicht, was einmal seine Pläne für Berlin gezeigt. Mein relativ schweren Start in das Leben. Ich tun. Durch die Vermittlung meines Groß- Großvater hat nur mit dem Kopf geschüt- habe nämlich mit fünf oder sechs Jahren vaters, der bis in die dreißiger Jahre eine Amerikahäuser Deutschlands, jedes Mal wurde ich freier und besser. SPIEGEL: Wissen Sie denn, warum Sie plötz- lich begonnen haben zu stottern? Speer: Ein Freund sagte einmal: „Dir haben die letzten Kriegsjahre die Sprache ver- schlagen.“ Ich weiß nicht genau, wo der Bruch liegt. SPIEGEL: Welche Erinnerungen haben Sie an das Kriegsende? Speer: Wir lebten in ziemlich ärmlichen Verhältnissen. Sehr beengt, in einer kleinen Wohnung, die uns die Stadt Heidelberg zu- gewiesen hatte. SPIEGEL: Das Leben nach dem Krieg stand wahrscheinlich in krassem Gegensatz zu jenem im Dritten Reich, als es für Sie doch sicher sehr komfortabel zuging? Speer: Das stimmt nicht. Mein Vater hat die Familie völlig rausgehalten. Wir lebten auf dem Obersalzberg zwar in einem großen Haus, aber ich musste jeden Tag zu

BPK Fuß in die Volksschule nach Berchtesgaden irgendwie fremd“ gehen. Eine Stunde den Berg hinab, ein- einhalb Stunden hinauf, im Winter noch Schreinerei hatte, bekam ich eine Lehrstel- länger. Nein, wir lebten nicht herausgeho- le in Heidelberg. Die Ausbildung kam mir ben. Wir sind streng erzogen worden. sehr entgegen, denn handwerklich war ich SPIEGEL: Aber am Obersalzberg waren Sie begabt, und ich musste nicht viel reden. und Ihre Familie in unmittelbarer Nähe SPIEGEL: Dabei ist es aber offensichtlich Hitlers. Das muss doch Ihr Leben geprägt nicht geblieben. Hat Sie doch noch der Ehr- haben. geiz gepackt? Speer: Hat es auch, aber ich weiß nie, was Speer: Glauben Sie mir, so eine Schreiner- Erinnerung ist oder Erzählung. Dass wir lehre war damals sehr hart. Natürlich woll- zu Hitlers Geburtstag eingeladen waren, te ich aus meinem Leben mehr machen. Ich das weiß ich schon, und dass wir auf sei- bin in die Abendschule gegangen, habe fürs nem Berghof freier herumlaufen durften Abitur gelernt und habe es beim zweiten als zu Hause, weiß ich auch noch. Anlauf gerade so geschafft. Das war 1955. SPIEGEL: Da gab es also eine Diskrepanz Danach habe ich mich für ein Architektur- zwischen strenger Erziehung einerseits und studium in München entschieden. andererseits der Nähe zum mächtigsten SPIEGEL: Sie bekamen als junger Architekt Mann Europas? schnell Preise. Hat sich das Stottern durch Speer: Ach, das wusste ich ja nicht, dass der die Erfolgserlebnisse gebessert? so mächtig ist.Aus meiner Perspektive war Speer: Wenn ich aufgeregt bin, taucht es er ein Onkel wie jeder andere auch. wieder auf. Das ist ein Handicap, das sich SPIEGEL: Der Publizist Joachim Fest ver- derjenige, der es nicht kennt, nicht vor- tritt in seiner neuen Biografie über Ihren stellen kann. Man ist sich seiner Sprache Vater die These, Hitler habe die einzig nie sicher. Ich habe mit großer Energie ver- wirklich intensive emotionale Beziehung sucht, es zu beherrschen. seines Lebens ausgerechnet zu Ihrem Vater SPIEGEL: Wie? gehabt. Was empfinden Sie bei dem Ge- Speer: Sehr geholfen hat mir ein Aufenthalt danken, dass das größte Monstrum dieses in Amerika. Da gehen die Leute freier mit Jahrhunderts ausgerechnet Ihren Vater einem um, also habe ich erste Hemmungen verehrte? abbauen können. Ich lernte zum Beispiel Speer: Das kann ich nicht wirklich beur- den Stadtplaner Edmund Bacon kennen, teilen. Ich glaube aber, dass da was dran ist. der hatte gerade einen Film gemacht über Für Hitler war mein Vater der hoch be- neueste Stadtsanierungen. Damit bin ich in gabte junge Mann, der er selbst hätte sein Frankfurt ins Amerikahaus gegangen und wollen. Das ist bestimmt ein wesentliches habe gesagt, sie sollten sich doch mal den Motiv, das die gegenseitige Abhängigkeit Film bestellen. Da haben die gesagt, ja, ma- erklärt. Ich kann aber nur sagen, dass ich chen sie, aber nur, wenn ich dazu einen meinen Vater nicht als emotionalen Men- Vortrag halte. Ich habe zugestimmt, aber schen erlebt habe – ich habe ihn überhaupt die ganzen Wochen vorher Angst vorm kaum erlebt. Der war ständig weg, und Versagen gehabt. Aber es ging ganz gut. wenn er zu Hause war, hieß es immer, wir Anschließend tourte ich durch sämtliche sollten alle still sein, um ihn nicht zu stören. Und dann kam die Zeit, in der er im Span- * Links: mit den Kindern Margret, Fritz, Hilde, Arnold dauer Gefängnis saß, 20 Jahre. und Albert am Haus auf dem Obersalzberg (1943); rechts: am Tag ihrer Hochzeit in Berlin am 28. August SPIEGEL: Wie oft haben Sie da Ihren Vater 1928. gesehen?

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SPIEGEL: Was halten Sie denn vom neuen Bundeskanzleramt? Speer: Das überrascht mich in seinen Di- mensionen. Das ist ja riesig. Man muss aber seine Fertigstellung abwarten, um es beur- teilen zu können. SPIEGEL: Hatten Sie eigentlich jemals in Ihrem Leben die Möglichkeit, ganz aus dem Schatten Ihres Vaters herauszutreten? Speer: Den Schatten gibt es leider bis heu- te. Mit dem Phantom meines Vaters muss ich leben. Die letzte Geschichte ist keine 14 Tage her. Ich war im Frankfurter Presseclub eingeladen, um das Europaviertel vorzu- stellen. Der Präsident des Clubs hatte ein Fax bekommen, das er erst nach der Ver- anstaltung gelesen hat. Da forderte ein Mit- glied, man solle den Speer entweder ausla- den oder zur Zwangsarbeiterfrage während der Nazi-Zeit befragen. Absurd. SPIEGEL: Hatten Sie berufliche Nachteile

U. DETTMAR U. durch Ihren belasteten Namen? Speer-Erweiterungsplan für Chongqing (China): Wuchernde Städte organisieren Speer: Ja sicher. In Berlin habe ich Projek- te nicht durchgekriegt – dafür gibt es ein- Speer: Es gab jährlich einen Besuch von nicht Arm in Arm, sondern richtig schön deutige Hinweise – wegen meines Namens. zweimal einer halben Stunde. Es war jedes auf Distanz. Genauso war es zwischen den Ich verstehe auch, dass es nicht in aller Mal eine Anstrengung, ihn zu unterhalten. beiden. Selbstverständlich zusammen und Welt heißen soll,Albert Speer baut in Ber- Sie können sich nicht vorstellen, wie lang doch irgendwie fremd. lin. Insgesamt muss ich jedoch sagen: Es eine halbe Stunde sein kann. SPIEGEL: Haben Sie sich mit der Architek- grenzt oft an Sippenhaft, was mir passiert. SPIEGEL: 1966 wurde Ihr Vater aus dem Ge- tur Ihres Vaters befasst? Vieles läuft zwar hinter meinem Rücken, fängnis entlassen. Er starb 15 Jahre später. Speer: Ein bisschen, nicht intensiv. Wenn aber mir hat auch schon jemand in einer Zeit, sich mit ihm auseinander zu setzen? Sie die Gesamtplanung von Berlin – ich fachlichen Diskussion vorgeworfen: „Ich Speer: Eigentlich nicht. Ich war mit dem Auf- meine nicht die große Achse und nicht den verzeihe Ihnen Ihren Vater nicht.“ bau meines Büros beschäftigt, habe ihn zwar abstrusen Germania-Dom – mal verglei- SPIEGEL: Es klingt zynisch, aber hat Ihnen ab und zu gesehen, habe aber nicht die Dis- chen mit dem, was Le Corbusier zur glei- Ihr bekannter Name nicht auch Vortei- kussion gesucht. Er wurde ja von allen Sei- chen Zeit für Paris geplant hat, Infrastruk- le gebracht? Größere Neugierde auf Ihre ten beansprucht. Ich bin auf Distanz geblie- turen mit Ober- und Unterführungen und Projekte? ben, so wie das vorher auch der Fall war. so, dann ist das sehr ähnlich. Die Arbeit Speer: Ich bilde mir ein, ich habe mir mei- SPIEGEL: Sie haben sich also ein Leben lang meines Vaters war also in dieser Hinsicht nen Namen aus eigener Kraft gemacht. Der zum Kontakt zu Ihrem Vater gezwungen? offenbar zeitgemäß. Auch seine Idee, die ganze Start in meine Selbständigkeit lief Speer: Nein, wir haben schon zu ihm ge- Bahnhöfe herauszulegen, die Bahn in Ber- ausschließlich über anonyme Wettbewerbe. standen, das war selbstverständlich, aber lin nur noch auf dem S-Bahn-Ring verlau- SPIEGEL: Wie haben Sie versucht, sich be- nicht ganz leicht. In der Spandauer Zeit fen zu lassen und die Innenstadt frei von ruflich von Ihrem Vater abzugrenzen? durften wir jede Woche einen Brief schrei- Schienen zu halten, finde ich sinnvoll. Nach Speer: Mein Büro hat sich immer bemüht, ben, und unsere Mutter hat peinlich darauf der Wende 1989 hat man die Schienen über international tätig zu sein, wir sind gera- geachtet, dass wir das auch taten. Jeder von den Lehrter Bahnhof wieder in die Stadt dezu versessen aufs Ausland, planten und uns hatte eine Anzahl von Worten, die er er- hineingezogen – ob das gut war oder nicht, planen für Saudi-Arabien, Afrika, Nepal, füllen musste. Wir durften insgesamt 1500 dazu möchte ich nichts sagen. China. Das ist mir sehr wichtig. Worte schreiben. Meine Mutter sagte dann SPIEGEL: Sie schätzen also die Pläne Ihres SPIEGEL: Sie haben sich für die Stadtpla- immer: „Albert, du bist dran, du machst 500 Vaters? nung entschieden, Ihre Arbeit ist unsicht- Worte und Fritz 300“, und so weiter. Speer: Nein, die Riesen-Achse war ver- barer als die des Architekten, der Häuser SPIEGEL: In der Fest-Biografie bleibt eines rückt. Aber als Architekt hat er teilweise entwirft. Hängt der Wunsch nach Unsicht- rätselhaft: Es wird nicht klar, was für ein schöne Sachen gemacht. Wenn Sie die barkeit auch mit Ihrem Vater zusammen? Verhältnis Ihr Vater und Ihre Mutter zuein- Rückseite der Neuen Reichskanzlei neh- Speer: Das glaube ich nicht. Ich wäre ander hatten. War es eine Ehe ohne Liebe? men: ein gelungener klassizistischer Bau. nie ein hervorragender Architekt ge- Speer: In meiner Familie sind Emotionen worden. Dafür habe ich exzel- vielleicht ein bisschen zu kurz gekommen. Speer (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* lente Leute. Wie gesagt, meine Die drückte man nicht aus. Meine Mutter Dienstleistung im allerweitesten Sinne Fähigkeiten liegen in der Mode- war eine ungeheuer tapfere Frau, die aus ration, in der Planung, und ich sechs Kindern etwas gemacht hat.Aber sie glaube, wenn Sie sich umhören, war auch herb. Das einzige Mal, dass ich welches das wichtigste Planungs- Tränen in ihren Augen gesehen habe, das büro in Deutschland ist, dann ist war, als ich das erste Mal durchs Abitur das wahrscheinlich ASP, also Al- gefallen bin. Was meine Eltern betrifft: Es bert Speer und Partner. Darauf gibt ein Foto nach ihrer Hochzeit, das alles darf ich, glaube ich, schon stolz sagt. Da laufen beide über den Ku’damm, sein. SPIEGEL: Herr Professor Speer, * Mit den Redakteuren Susanne Beyer und Dietmar wir danken Ihnen für dieses Ge-

Pieper in seinem Frankfurter Büro. G. GERSTER spräch. 244 Werbeseite

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STARS Das Märchen vom Pop-Aschenputtel Mariah Carey, die Königin des Süßstoff-Souls, legt ein neues Album vor. Nach überstandener Scheidung will sie sich nun auch musikalisch emanzipieren.

st das eine menschliche Stimme? Oder USA verkauft – mehr als von den 13 Vor- doch ein alter jammernder Synthesi- gängern. Das dazugehörige Album „Rain- Izer? „Aahahaahahaahahaa“, quiekt es bow“ ist in der vergangenen Woche welt- aus dem Lautsprecher, in Quarten auf- und weit auf den Markt gekommen. In Deutsch-

abschwingend, und zwar so hoch, dass Fle- land wurden in den ersten vier Tagen CORBIS OUTLINE dermäuse den Ton mit dem Leidensschrei 185000 Stück verkauft. Ehepaar Carey, Mottola (1994) eines verzweifelten Artgenossen verwech- Pop, Rhythm & Blues, HipHop und Trauriger Kanarienvogel im Platinkäfig seln könnten. Schmalz, dazu die mit artistischer Brillanz Aber es ist eine Frauenstimme – diesel- vorgetragenen Melodien – das ist die ge- Rapper Ol’ Dirty Bastard dagegen war 1995 be, die im Chor mit sich selbst einige Ok- fällige Erfolgsmischung der Carey-Platten. auf eine Remix-Platte verbannt. taven tiefer im Vordergrund „My love goes Die Zutaten sind über Jahre dieselben ge- Doch das war früher, vor 1997 und damit on and on and on“ säuselt, dann an Volu- blieben, das Mischungsverhältnis allerdings vor Careys Scheidung vom Sony-Music- men gewinnt, sich im kontrollierten Salto hat sich mit „Rainbow“ deutlich verän- Chef Tommy Mottola, 49. Er hatte sie 1988 in die Höhe wirbelt, sanft in die Tiefe glei- dert: weniger Schmalz, mehr HipHop. auf einer Party entdeckt und unter Vertrag tet und samtig-rauh verklingt. „Heute kann ich tun, was ich will“, sagt genommen, und seitdem galt Carey als sein Eindrucksvoll ist dieser Stimmumfang, Carey, „ich liefere bei der Plattenfirma nur Produkt: ein romantisch-lieblicher Pop- fünf Oktaven oder vielleicht sogar sieben, das fertige Album ab.“ Deshalb sind auf Engel mit langen blonden Locken, elegant auch wenn die Hochtöne sich schmerzvoll „Rainbow“ auch harte Rapper wie Jay-Z, daherschwebend in Gucci und Armani, mit durchs Trommelfell bohren. „Du machst Snoop Doggy Dog und Missy Elliott zu überirdischer Stimme gesegnet. dich lächerlich, und du wirst deine Stimme hören. Das Duett mit dem wild-verrückten Das Märchen dieser Begegnung lautet: ruinieren“, hat Patricia Carey Carey war 18 Jahre alt, hatte gerade in vor vielen Jahren zu ihrer Long Island die High School und 500 Stun- Tochter gesagt, als diese übte, den Kosmetikschule hinter sich und war immer höher und höher zu nach New York umgezogen. Sie schlug sich fiepsen. Aber Mariah Carey, als miserable Kellnerin, Garderobenfrau 29, hat die Stimmbänder nicht und geniale Background-Sängerin durch – ruiniert, sondern trainiert und unter anderem für die Soul-Künstlerin ihrer totalen Kontrolle unter- Brenda Starr. worfen – und ist die erfolg- Diese wollte sie eines Abends auf eine reichste Popsängerin der Party der Plattenindustrie schleppen. Doch neunziger Jahre geworden. Carey fand zunächst nichts Passendes im Carey hat in den vergan- Kleiderschrank. Starr gab ihr einen Mi- genen Jahren mehr Platten nirock, eine Cheerleader-Jacke, dazu trug verkauft als Whitney Hou- Carey Turnschuhe. Kein Wunder, dass sie ston oder Celine Dion, die bei der Party auffiel und Mottola, der mit beiden anderen amerikani- zwei anderen Plattenbossen zusammen- schen Diven: 115 Millionen stand, sie herbeiwinkte. Carey zog ihr un- Stück weltweit, 7,5 Millionen beschriftetes Demo-Band aus der Tasche, davon in Deutschland. Sie und Mottola griff es, bevor einer der beiden platzierte 14 Singles auf Platz Konkurrenten die Hand danach ausstrecken eins der amerikanischen konnte. Er hörte die Kassette später im Hitparade – nur die Beatles Auto, fuhr sofort zur Party zurück und such- und Elvis hatten mehr Hits. te das unbekannte Jungtalent, vergeblich. Aber Careys Titel standen Erst eine Woche später trieb er sie auf. insgesamt länger an der Spit- Die Wahrheit klingt etwas anders als die ze der Charts als die Beatles- Aschenputtel-Geschichte vom Traumprin- Songs. zen, der New York nach seiner Prinzessin Und noch ein Rekord, absuchte: Carey hatte 1988 schon einen wenn auch nur ein persönli- Manager und Co-Songwriter. Ben Margu-

cher: 271000 Stück wurden in RETNA / INTER-TOPICS lies, ein Freund ihres älteren Bruders, der Startwoche Anfang Sep- tember von Careys neuer Sängerin Carey Single „Heartbreaker“ in den Pop-Engel mit überirdischer Stimme 248 Werbeseite

Werbeseite Kultur schickte Mariahs Demo-Tape herum. deten auf Platz eins der US-Hitparade, Ca- Außen- und einen Innenpool, einen Schieß- Zunächst erfolglos, aber schließlich wollte rey bekam zwei Grammys. Sony zahlte an Übungsraum, ein Tonstudio, zwei Pizza- Warner einen der Songs als Filmmusik kau- Mottola einen Bonus von drei Millionen Öfen, 14 Bäder und so viele Zimmer, dass fen und bot Carey außerdem ein Solo- Dollar. Und Carey brachte von da an jedes Carey ihre genaue Zahl nie kannte. Ihre Album an – und einen Vertrag über 300000 Jahr eine neue, sensationell erfolgreiche Kleider nummerierte sie, um den Über- Dollar. Deshalb musste Brenda Starr sie Platte heraus. blick zu behalten. erst überreden, auf die Party der Musik- In schummrigen Ecken New Yorker Lo- Zu Careys Aschenputtel-Geschichte pass- chefs zu gehen. kale wurden Mottola und Carey ein paar te, dass sie das dritte Kind einer Opern- Mottola war zu dieser Zeit dringend auf Mal knutschend erwischt. Für eine Abfin- sängerin aus Illinois war – die in New York der Suche nach der neuen Whitney Hou- dung in Millionenhöhe akzeptierte Lisa auf der Bühne nie den Durchbruch ge- ston, sah und hörte sie in Carey und bot Mottola die Scheidung. 1993 richtete der schafft hatte und sich auf Long Island einfach 50 000 Dollar mehr mit wechselnden Jobs durch- als Warner. Carey unter- schlug. Der Vater war Flug- schrieb bei Sony – und bei zeug-Ingenieur. Er fuhr, was Mottolas eigener Manage- bei der Legendenbildung un- ment-Firma. Careys alter terschlagen wurde, einen Manager Margulies war zehn Porsche und verdiente als Jahre lang an ihren Einnah- Staatsangestellter sehr gut. men prozentual beteiligt. Als Mariah drei Jahre alt „Ich hätte da leicht raus- war, verließ er die Familie. kommen können“, sagt Ca- Careys Vater war der rey, „aber ich wollte nicht. Sohn einer Schwarzen und Ich hoffe, er hat ein schönes eines Venezolaners, ihre Leben.“ Auch das hört sich Mutter war irisch-ameri- an wie ein Märchen. kanischer Herkunft. We- Careys neuer Chef und gen dieses Ahnen-Wirrwarrs Manager Mottola hatte eini- fühlte sich Carey, wie sie ge Jahre zuvor selbst ver- sagt, nie irgendwo zugehörig: sucht, Popstar zu werden, nicht zu den Weißen, nicht war aber an mangelnder zu den Schwarzen, nicht Stimme und mangelndem zu den Hispanics. „Ich hat-

Talent gescheitert. Umso ta- / DREAMWORKS N. PRESTON te kein Vorbild“, erzählt lentierter war er bei der Pla- Konkurrentinnen Carey, Houston (1998): Strahlende Diven im Duett Carey, „niemand sah so nung seines Aufstiegs in der aus wie ich.“ Plattenindustrie – auch wenn über Verbin- Traumprinz für seine 20 Jahre jüngere Prin- Sie habe eine „beschädigte Kindheit“ dungen zur Mafia spekuliert wurde, die zessin eine Traumhochzeit aus – Carey hat- gehabt, sagt Carey und deutet an, dass sie der Italo-Amerikaner jedes Mal bestritt. te sich bei der Anmeldung ihrer Wünsche Gewalttätigkeit erlebt habe. Genauer will Umsichtig entwarf er Careys Karriere: von einer Videoaufzeichnung der Hoch- sie nicht werden, „aus rechtlichen Grün- Den ersten großen öffentlichen Auftritt zeit von Prinz Charles und Diana inspirie- den“, wie sie erklärt. Nur dass Rassisten hatte sie, als sie 1990 bei der Eröffnung des ren lassen. Acht Meter lang war Careys die Hunde ihrer älteren Geschwister ver- Basketball-Endspiels die heimliche Natio- Schleppe. gifteten, erzählt sie. So ein finsterer Hin- nalhymne „America the Beautiful“ sang. Eine halbe Million Dollar ließen die bei- tergrund lässt die Aschenputtel-Geschich- 800000 Dollar investierte Sony Music in den sich das Spektakel kosten, das mehr ei- te noch schöner strahlen. das Debütalbum, für das Mottola profi- ner Krönung als einer Hochzeit glich und Ganz so schlecht kann die Kindheit lierte Soul-Produzenten engagierte. 500000 zu dem auch Robert De Niro und Barbra nicht gewesen sein, denn Mutter Patricia Dollar kostete das Video, und eine Million Streisand erschienen. Heute sagt Carey: förderte Mariahs Gesangstalent, seit die Dollar gab Sony für Promotion aus. Mehr „Es waren fast nur Leute da, die er kann- damals Dreijährige bei Opernproben ei- als elf Millionen Stück wurden bis heute te.“ Das Paar zog nach Bedford Corners ne Melodie besser nachsingen konnte von „Mariah Carey“, wie die Platte hieß, nördlich von New York in eine 6000 Qua- als sie selbst. „Meine Mutter war ein Bo- verkauft, vier Single-Auskopplungen lan- dratmeter große Villa: Sie hatte einen hemien-Typ“, sagt Carey. Patricia Carey gründete ein multikulturelles „Freedom Boss-Vater-Ehemann verlangte. Angeblich einem Interview über die Popdiva herge- Center“, ihre Freunde waren Jazz-Sänger, hatte Carey vor der Trennung schon eine zogen hatte. schwule Paare, Menschenrechtsaktivisten, Affäre mit Derek Jeter begonnen, einem Carey wollte und will unbedingt ein und Mariah war oft der Star des Abends, Star des Baseballteams New York Yankees. Hollywood-Star werden, und spätestens der auf dem Küchentisch Lieder vor- Carey hat die meisten ihrer Stücke selbst diese Ambitionen ruinierten die Ehe. Mot- trällerte. „Ich bin sehr frei aufgewachsen geschrieben und mitproduziert – im Ge- tola war gegen die Pläne, nicht ohne gu- und konnte meine Persönlichkeit ent- gensatz zu ihrer Konkurrentin Whitney ten Grund: Kaum einem Popstar ist der wickeln.“ Houston (mit der sie 1998 ein Duett auf- Wechsel in die Schauspielerei geglückt; Mit 13 Jahren verdiente Carey schon nahm). Sie ist berüchtigt dafür, mit un- Madonnas Scheitern ist beispielhaft. Ca- Geld als Studio-Sängerin. Mit 16 kompo- berechenbaren Verschiebungen des Tag- rey beharrte aber auf ihren Plänen, nahm nierte sie gemeinsam mit Ben Margulies Nacht-Rhythmus ihre Umgebung zu ter- Schauspielunterricht und ist in den USA Songs. Einer davon, „Vision derzeit in „The Bachelor“ zu of Love“, wurde 1990 ihre sehen – wenn auch nur in erste Hitsingle, und sie ge- einer winzigen Nebenrolle. wann damit einen Grammy. Im nächsten Jahr allerdings Ein trauriger Kanarienvo- wird sie im Achtziger-Jahre- gel im Platinkäfig – so wurde Musikfilm „All that Glitters“ die Geschichte ihrer Ehe mit die Hauptrolle spielen und Mottola kolportiert. Er habe singen. ihr Bodyguards hinterherge- Der Schauspielunterricht, schickt, Miniröcke verboten sagt Carey, sei für sie wie und verhindert, dass sie nach Psychotherapie gewesen: den Aufnahmen im Studio „Ich habe meine blockierten noch mit den anderen Musi- Gefühle kennen gelernt.“ kern zu Partys ging.Als „Le- Das hört sich an wie ein um- ben in einer Muschel“ be- formulierter Werbeprospekt zeichnet Carey die Zeit ih- einer Schauspielschule: Ent- rer Ehe: „Ich durfte nicht ich decken Sie Ihr wahres Ich! selbst sein.“ Finden Sie den Weg zu Ihren Anfang 1997 trennte sich Gefühlen! Welche auch im- das Paar. Kurz zuvor hatte mer das sein mögen.

die Zeitschrift „Vanity Fair“ PRESS SIPA Jedenfalls zieht Carey sich über Mottolas mögliche Carey-Villa bei New York: Zwei Pizza-Öfen und vierzehn Bäder heute so provokativ an, wie Nähe zur Mafia berichtet. Mottola es offenbar nie er- „Nun wusste die ganze Welt, wie unglück- rorisieren. Sie kommt gern zu spät und ließ tragen konnte: poknappe Miniröcke, lich ich war“, sagt Carey. Sie habe in der auch Prinz Albert von Monaco bei einem Metallic-Kleidchen, wurstpellenartige Ca- Ehe nur so lange ausgeharrt, weil sie ers- Gala-Dinner warten. pri-Hosen. Das Magazin „People“ nahm tens einen autoritären Wochenend-Vater Und dann gibt es noch die Kleinskan- sie vor kurzem in die Liste der am schlech- gehabt habe und sich dieses Muster wie- dale, die das Bild von der schüchternen testen angezogenen Frauen auf, aber derholt habe. Weil sie zweitens auf Grund Prinzessin zurechtrücken: Sie soll in ei- Carey besteht darauf, dass es Popstars ihrer chaotischen Kindheit „eine riesige nem Eifersuchtsanfall ihren Produzenten ihrem Publikum schuldig seien, sexy aus- Toleranz für Dysfunktionales“ entwickelt Walter Afanasieff vor einem Nachtclub zusehen. habe. Und drittens habe sie geglaubt, bei so lautstark beschimpft haben, weil der an In ihrem Video zu „Heartbreaker“ trägt viel beruflichem Glück habe sie kein Recht, der Gesangskarriere seiner schönen neu- Carey Jeans und einen riesigen Busen im auch noch privates Glück zu verlangen. en Freundin Samantha Cole bastelte. Bei winzigen Trägertop. Sie hat glatt geföhnte, Schluchz. einer anderen Gelegenheit soll sie Cole lange Haare und tritt eine Konkurrentin Das ist zu schön-traurig, um wahr zu mit Eiswürfeln beworfen haben. Tief in mit Karate-Kicks zusammen. sein. Und tatsächlich gibt es Widersprüche der Nacht im New Yorker Restaurant Blue Carey will nicht mehr Aschenputtel sein, zu dieser Darstellung vom armen, unter- Ribbon stellte Carey die Schauspiele- sondern die Heldin eines modernen Mär- drückten Star, der tun musste, was der rin Cameron Diaz zur Rede, weil diese in chens: Lara Croft. Marianne Wellershoff Kultur

Erstaunlicherweise gibt es selbst in diesen Zeiten doch noch Rühmenswertes aus der einst hehren Schweiz zu berichten. Ich bin soeben aus Peter Webers Roman „Silber und Salbader“ heraus, kann drum melden: Tauchgang überstanden, schwindelnd, atemlos. Schauplatz der We- berschen Hatz ist nebst dem heimatlichen Tal samt frei- händig eingezogenen Ne- bentälern die, weitläufig de- finierte, Umgebung von Zürich – seit fast 500 Jahren offenbar heimliches Ziel der Toggenburger, ihr magischer Ort, seit es den Talgenos- sen Huldrych Zwingli, an- geblich nach verunglückter Probepredigt in Rapperswil, seeabwärts dorthin ver- schlagen hat. Ich kenne die Zürichsee- gegend in- und auswendig, bin mittendrin aufgewach- sen und noch lange nicht

D. OBERTREIS / BILDERBERG D. OBERTREIS fertig mit ihr. Noch weiß Weber-Thema Schweiz: „Aus Alphörnern dünstet in Schwaden schwerer Alpenweihrauch“ man den See nicht recht zu überbauen, sonst aber ist da, so weit das Auge reicht, helvetische Geld- AUTOREN geschäftigkeit so flächendeckend mit neu- eidgenössischem Heimatstil intim gewor- Hinter den sieben Bergen den wie kaum anderswo in der Schweiz. Darüber weiß natürlich auch der Bau- Der Schweizer Nachwuchsautor Peter Weber lässt in seinem zweiten meisterssohn Peter Weber locker Bescheid. Im Toggenburg kennt er ohnehin Stein und Roman die helvetischen Puppen tanzen und erzählt eine Bein und dreht erst noch jeden Brocken mit allen Wassern gewaschene Generationensaga. Von Gerold Späth um; findet er selbst da nicht, was er sucht, erfindet er’s im Handumdrehen selber. Späth, 60, lebt als Schriftsteller („Comme- er Lack ist gründlich ab. Die so ge- Drauf schüttet er Ozeane aus. Lässt Flüs- dia“) in der Toskana und im irischen Rin- nannte Eidgenossenschaft ein ob- se tosen und versickern und hinter sieben naknock; soeben erschien von ihm in der Dskurer Winkel voll tumber Politiker, Bergen wieder hervorsprudeln. Aus Sagen Pfaffenweiler Presse die Prosasammlung gegängelt von polternden Populisten, ge- büschelt er uns leichthändig seine Grün- „Ein Nobelpreis wird angekündigt“. Mit linkt von feist gemästeten Beamten. Eine dungssaga. Er lässt Badehöhlen dumpfen Weber, 31, der in Zürich lebt und 1993 verfolgungswahnsinnige Armee macht als und dampfen. Bäderhotels werden hoch- mit seinem Roman „Der Wettermacher“ Staat im Schnüffelstaat unentwegt auf geflaggt, gehen irgendwann verschütt. Tex- erfolgreich debütierte, verbindet Späth Ernstfall und Armageddon. Dummdreiste tilbuden schießen aus dem Boden, Baum- nicht nur die Hassliebe zur Heimat Großbanken können es nicht lassen, im- wollbarone krachen pompös zusammen. Schweiz, sondern auch die Lust an fun- mer mal wieder neue Unsäglichkeiten Wer sich auf „Silber und Salbader“ ein- kelnden Formulierungen. durchzuziehen. Man reibt sich die Augen … lässt, muss auf Ver-Rücktes gefasst sein:

Peter Weber: „Silber und Salbader“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 296 Seiten; 39,80 Mark. I. OHLBAUM C. RUCKSTUHL / KEYSTONE PRESS ZÜRICH / KEYSTONE C. RUCKSTUHL Späth Weber

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Der Roman beginnt hinterhältig still, hebt handle es sich um die geläufigsten Selbst- unverfänglich sanft ab. Leise rieselt der verständlichkeiten der Welt. Es biegen sich Schnee, allerdings schwerindustriell stark die Schwarten, und es krachen die Balken. angereichert. Oder umgekehrt: Aus Landes- und erst Dann kommt nach und nach zunehmend recht aus Lokalgeschichte, kaum dass We- Merkwürdigeres vor. Warmwasserheilige. ber sie anritzt, schießen ihm die Einfälle Bassfallen. Quellenindianer. Maultrom- schockweise hervor; „Silber und Salbader“ melbäume. Kaisereicheln. Molasseböcke. Felsäpfel und die Vögel Mergelhopf und Gaster. Verenen und Nymphen tauchen Bestseller auf. Man geht lärm- und lachbaden, tanzt scharfe Salpetertänze, kaut Lichtkiesel Belletristik oder die andere Toggenburger Spezialität: Bloderkäse, von Weber als Plauderkäse ge- 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter priesen. Suhrkamp; 49,80 Mark Im bisher unbekannten Tal der Rasch wird der nicht weniger unbekannte Sing- 2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert dialekt Räss gesprochen. In verstecktem Steidl; 48 Mark Abseits das noch einheimischere, sehr ge- heimnisträchtige Quelsch. 3 (4) Noah Gordon Der Medicus Dem jungen Mann im Toggenburg ge- von Saragossa Blessing; 48 Mark lingt es spielend, mit dem Schwung seines ersten Romans „Der Wettermacher“ (1993) 4 (3) Elizabeth George Undank ist der durch die Landschaften seines zweiten zu Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark jagen. Überall klopft seine flinke Phanta- 5 (5) Donna Leon Nobiltà Die Tracht und das Verdauungsgejodel Diogenes; 39,90 Mark sind Pflicht 6 (7) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark sie Figuren aus dem Busch und scheucht scharenweise Geschichten auf. 7 (6) John Irving Witwe für ein Jahr Peter Weber ist ein mit allen Wassern gewaschener Erzähler, ein in der Wolle ge- Diogenes; 49,90 Mark färbter Storyteller. Was Wunder, dass in seinem Roman allenthalben Wasser durch- 8 (8) Marianne Fredriksson drückt. Es trieft in Kordeln, es orgelt in Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark Schluchten, es schliert als Nebel, es baut Druck auf in finsterem Untergrund, es 9 (10) Ken Follett Die Kinder von Eden strömt davon, taut herab. Lübbe; 46 Mark Zum andern ist ausgiebig von Spinnern die Rede; sie weben und sticken und 10 (9) Henning Mankell Die fünfte Frau stricken ihre Macken und Maschen, sie raf- fen dank Falschzwirn und Kunstgeld dicke Zsolnay; 39,80 Mark Vermögen. Sollte die schnelle Chose, was vorkommt, schief oder gar verschütt ge- 11 (–) Frank McCourt Ein rundherum hen, macht’s weiter nix; denn da sind die tolles Land Luchterhand; 48 Mark Frauen, die reißen ihre Männchen immer wieder so selbstlos wie bravourös aus allen 12 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind Strudeln. Heyne; 32 Mark In seinem Phantasiezirkus schwingt We- ber sich als flickflackender Wortakrobat 13 (13) Siegfried Lenz Arnes Nachlass zügig auf und ab durch Zeiten, Geschich- Hoffmann und Campe; 29,90 Mark te und Geschichten. Eine Nummer jagt die andere. Lauter schillernde Kunststücke. 14 (12) Johannes Mario Simmel Liebe Und wirklich alles, was er in entfesselter ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark Sprache herbeizaubert, ist auch wirklich wahr, man kommt gleich dahinter. Und 15 (–) Thomas Brussig schon hat es einen beim Ärmel, schon wird man hineingewirbelt in Webers irrwitzig Am kürzeren Ende rotierende Show. der Sonnenallee Die Salbadergeschichten schwirren und Volk und Welt; 28 Mark flirren.Webers Figuren, eine wahre Street- parade, erleben Unerhörtes, palavern Der Roman zum Film: eine Jugend Phantastisches. In Zürich ist Hanfdampf in im Schatten allen Gassen, da verwandeln sich simple der Berliner Mauer Dinge in nie zuvor gesehene; die werden opulent und so unverfroren aufgetischt, als

254 der spiegel 45/1999 wird zum barocken Narrenspiegel. Und fegen als Fortschritt daher. Allenthalben weil der Wundererzähler die scheinbar sta- wird geklotzt und geboomst. bil geschichtete voralpine Welt als stark Die bislang nur hoch subventionierten schwankendes Tollhaus begreift, mischt er Herren Geißenbauern haben ihre Chance sich demiurgisch ein. Versetzt Berge, bag- genutzt und sich flugs zu dicken Profit- gert Täler, türmt neue Gebirge, reißt brüdern gemausert. Man sömmert Tou- Höhlen auf und lässt alle Winde los – die ristenherden, winters werden sie per Ski- lift zur goldscheißenden Sonne empor- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich gebunkert. ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sentimentale Hauptsache ist die Feste- rei. Aus Alphörnern dünstet in Schwaden Sachbücher schwerer Alpenweihrauch. Man jauchzt, 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben frisst, schwitzt, steckt sich den patrioti- schen Stumpen an. Tracht und Verdau- DVA; 49,80 Mark ungsgejodel sind Pflicht. 2 (2) Sigrid Damm Christiane Drauf im schweren Schlitten auf zur nächsten Hundsverlocherei. Es ist trompe- und Goethe Insel; 49,80 Mark tengoldige Zeit, breitspurig durchdröhnt sie das Land. 3 (3) Waris Dirie Wüstenblume Weber kann ein Lied davon singen, Schneekluth; 39,80 Mark rauschhaft überschäumend, doch Ton um Ton und Satz um Satz exakt gesetzt. Dass 4 (4) Corinne Hofmann so was nicht vom Himmel fällt, weiß ich gut Die weiße Massai A1; 39,80 Mark genug. Solch erzählerische Lust erwächst aus tief gedüngtem Boden. 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark Da sprudeln die Quellen, da kommt unglaublich 6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist viel in Fluss ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark

7 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur Der Roman „Silber und Salbader“ führt glanzvoll vor, was in frühen Jahren Erleb- finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark tes, Gehörtes, Aufgelesenes, Erahntes, 8 (9) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, kurz: was nächste Umgebung, scharf bese- hen und immer deutlicher durchschaut, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark hergeben kann, wenn sie dem sprach- 9 (8) Ulrich Wickert mächtigen Erzähler, Spieler, Erfinder in die Tastatur gerät. Da sprudeln die Quellen, Vom Glück, Franzose zu sein da kommt unglaublich viel in Fluss, es Hoffmann und Campe; 36 Mark springt eins aus dem andern. Mehr oder weniger fern von heimischen 10 (10) Daniel Goeudevert Fließwässern hingegen kann sich leicht et- Mit Träumen beginnt die Realität was verwischen. Drum ist dann auch leicht Rowohlt Berlin; 39,80 Mark beckmessern: Der getigerte Nachtfisch Lota lota schwimmt im Zürichsee als Trü- 11 (11) Klaus Bednarz sche und heißt wohl lieber nicht Treusche, Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark zumal er, je nach Gegend, eh schon genug Namen hat: Aalraupe, Quappe oder Rutte. 12 (–) Dietrich Und der große Platz zu Siena ist nun Schwanitz Bildung mal seit je sienesischer Campo, drum halt etwas anderes als eine Piazza. Eichborn; 49,80 Mark Item: Nach nur knapp 300 Seiten ist der schwirr kreiselnde Tanz aus; wir finden uns Der akademische wieder dort, wo der Roman ganz unver- Entertainer verrät im fänglich sanft begonnen hat. (Könnte alles flapsigen Plauder- ton,was man alles ein heftiger Traum gewesen sein? Fängt wissen muss der eigentliche Roman am Ende erst wirk- lich an?) Vom Großvater des Erzählers wird im 13 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Buch behauptet, er sei der großartigste Integral; 22 Mark Schwindler gewesen, den man im Tal je ge- sehen habe. Ich kenne Peter Weber seit 14 (12) Günter Ogger Macher im Jahren, weiß drum schon lange, was man Machtrausch Droemer; 39,90 Mark jetzt wieder aus jeder Seite seines fulmi- nanten neuen Romans lesen kann: dass 15 (14) Jon Krakauer In eisige Höhen noch einer im Tal ist, der in bisher nie Malik; 39,80 Mark gehörten Tönen ebenso großartig salba- dert. ™

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Klaus ist ein Träumer.Vorm Einschlafen beobachtet er ei- nen Mann im Stasi-Gebäude und führt über dessen Schrit- te von einem Zimmer ins an- dere Buch. Im Geografieun- terricht lernt er die politischen Farben der Erde kennen. Die kapitalistischen Länder sind blau, die sozialistischen rot, die Entwicklungsländer wie die Tomaten: „Erst sind sie grün, dann werden sie rot.“ Klaus’ Banknachbarin, die schöne Yvonne, möchte spä- ter nach Holland, ihr Hund heißt bereits „van Gogh“. Aber Holland ist blau. Klaus plant, es rot zu machen, das wäre eine Möglichkeit. Die einzige, die er sieht. Er ist nur Flachschwimmer, beim Weit- pinkeln im Ferienlager hat er keine Chance, und es ist mehr

FOTOS: SENATOR als überraschend, dass sich „Helden wie wir“-Darsteller Borgwardt, Xenia Snagowski: Kein Glück bei den Frauen Yvonne für ihn interessiert. Die Kamera fährt die Schulflure mit den Augen eines unsicheren Kindes ab, sie zeigt FILM die Schwimmhalle als Ort der Folter und Pein. Ekliges, chloriges Wasser, hallende Kinderschreie und die Kommandos von Eine Packung Ostpralinen fleischig-behaarten Schwimmlehrern. Klaus träumt von seinen sozialistischen Die Verfilmung des Thomas-Brussig-Romans „Helden wie wir“ Helden in Schwarzweiß. Teddy Thälmann ist ein dicker Bär, der durch den Hamburger erinnert an „Forrest Gump“ – nur in den Farben der DDR. Hafen marschiert, die Arbeiter mögen ihn, sein bester Freund ist der kleine Trompeter, inige Menschen im Osten der Repu- in große geschichtliche Szenen montiert. später muss er gestreifte Häftlingskleidung blik glauben, dass am 9. November Allerdings ist es nicht Kennedy, dem er die tragen, aber der Aktivist Adolf Hennecke Eder zweite Teil von „Sonnenallee“ Hand schütteln darf, sondern nur Egon befreit ihn mit seinem Presslufthammer. ins Kino kommt. Sie haben den „Helden Krenz, wenn auch ein Egon Krenz mit be- Klaus findet die Schlagersängerin Dagmar wie wir“-Trailer gesehen und denken: achtlichen Koteletten. Frederic erotisch und lacht mit, wenn sein Noch so was. Noch ein Genauso-wars-Film. Doch erst mal zieht Klaus Uhltzscht Geschichtslehrer den Film von der Befrei- Was mit „Cabinet“-Rauchern, alten Häu- mit seinen Eltern in eine Neubauwohnung, ung Berlins rückwärts laufen lässt. Das ist sern, Wartburgs, Schrankwänden und die an ein Gebäude der Staatssicher- oft komisch, aber selbst dann beklemmend. braungelb gestreiften Ostsofas. Sie hoffen, heit grenzt. Dort ist auch Klaus’ Vater be- Die orangefarbene Klatschkragenbluse dass dieser komische Wohnzimmertisch schäftigt. von Yvonne, die braune Silastikhose der mit der Kurbel wieder mitspielt. Das wäre schau, wenn der Tisch wieder mitmachte. Der Tisch und auch Volkspolizist Buck. Die aufgeschlossenen Westler aber fra- gen interessiert: Welchen von beiden müs- sen wir uns denn nun ansehen? Beide Ge- schichten hat sich der Schriftsteller Thomas Brussig ausgedacht. Die Westler denken an „Manta – Der Film“ und „Manta, Manta“, und natürlich liegt der Gedanke nah. Wer sich „Helden wie wir“ ansieht, merkt, dass er mehr sein will als „Son- nenallee II“ und „Manta, Manta“. Er will „Forrest Gump“ sein. Ein Forrest Gump in den Farben der DDR. Forrest heißt diesmal Klaus Uhltzscht (Daniel Borgwardt). Er wird geboren, als ein Panzer der Sowjetarmee am Urlaubsquartier seiner Eltern vorbeirollt. „Kuda w Pragu?“, fragt der Panzerfahrer, und man weiß, dass der Atem der Geschichte unseren Helden vor sich her bläst.Wie Forrest wird auch Klaus Schauspieler Borgwardt: Blutspenden für Erich Honecker

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NVA mit den gelb-roten Offiziersstreifen wird er plötzlich zum Regimegegner, am Bein von Klaus’ Vater, die Koteletten schlägt seinen Vorgesetzten, rennt in ei- von Egon Krenz und die guten alten DDR- nen U-Bahn-Schacht, klettert aus einem Heftumschläge sorgen für den nötigen Gulli, läuft zur Mauer und lässt seine Ho- Wiedererkennungseffekt. Wie die Vita- sen herunter, worauf die Grenzoffiziere Cola-Flasche und der Hosenkamm in die Tore öffnen. „Sonnenallee“. Auch das Wohnzimmer Zwischendurch werden Dokumentar- sieht aus wie das Wohnzimmer in „Son- filmschnipsel gezeigt, die man kennt, nenallee“. außerdem taucht kurz der volkstümliche Aber es ist lange nicht so gemütlich. Musikant Achim Mentzel auf, weil Achim Es gibt keinen lustigen Kurbeltisch, und Mentzel Kult ist, und es gibt das komplet- Klaus’ Vater, den Udo Kroschwald spielt, te Ostkultmusikprogramm. Gitarrentwist, raucht und schwitzt und ist kein bisschen Schwanenkönig, Gänselieschen und das komisch. Er ist ein brutaler Spießer. Die Lied vom kleinen Trompeter. Bockwürste glänzen kalt auf dem Abend- Das ist sehr fleißig, und man merkt auch, brottisch, die Mutter sorgt für Sauberkeit. wohin die Reise gehen sollte.Aber der Film wirkt, als musste er zur Fei- erstunde noch schnell fertig werden. Es gibt keine Hand- lung, auch „Sonnenallee“ hat ja keine erwähnenswerte Handlung. Aber „Sonnen- allee“ ist wenigstens Kino. Ein Popcorn-Film mit coolen Tanzszenen, den man sich auch drei-, viermal ansehen kann. Man bekommt gute Laune bei „Sonnenallee“; „Helden wie wir“ aber swingt nicht, der Film steht

SENATOR irgendwann auf der Stelle „Helden wie wir“-Darsteller Kirsten Block, Udo Kroschwald und langweilt. Pendeln zwischen Sentimentalität und Grauen Uhltzscht marschiert durch sein Leben wie eine Holz- Die Kinder werfen sehnsuchtsvolle Blicke puppe. Er kann nicht weinen, er kann nicht auf Landkarten und verfolgen ungerührt lieben, er lebt nicht. das Politikersterben in der UdSSR. Vor In der zweiten Hälfte möchte man nur dem Fenster hängt ein hellblauer, sozialis- noch, dass endlich Schluss ist. Die Bilder tischer Papphimmel mit Wolken und Krä- zerren an den Nerven. Insofern ist der nen, der aus einem DDR-Lesebuch ge- Film wie die DDR in ihren letzten Tagen. schnitten worden sein könnte. Endlos, langsam, nervend, schmuddelig Der Zuschauer pendelt zwischen Senti- und eng. Die Frage ist, ob er das gewollt mentalität und Grauen. hat. Der Regisseur schleppt sich bis zum Als Klaus diese Kulisse verlässt, bleibt Ende durch, das ja schon in Brussigs Buch das Grauen übrig. Der kleine Klaus wird wie der Witz eines Kindes wirkt, das die zum großen Klaus und springt von nun an Pointe vergessen hat. Ein Mann öffnet wie ein Gummiball von einer Szene zur seine Hose, worauf die Berliner Mauer nächsten. Er geht zur Stasi und muss für umfällt. den Rest des Films mit einer bescheuerten Und? Dazu läuft jetzt „What a Wonder- Windjacke und einem immer gleichen Ge- ful World“ von Louis Armstrong. sichtsausdruck rumlaufen. Und? Auch die anderen Darsteller dürfen Die Ostler sind in Amüsierlaune, sie nicht viel machen. Klaus fängt in einem wählen, was sie wollen, lassen die FDP Hinterhofbüro an, hat kein Glück bei den sterben, trinken süßen Sekt und denken Frauen, weil sein Schwanz zu kurz ist, an früher. Im Augenblick würde sogar ein rutscht auf seinem Samen aus, fällt eine Mix aus „Nicht schummeln, Liebling“, Treppe runter, bricht sich beide Arme und „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“, trifft zufällig Yvonne wieder, die jetzt im „Spuk unterm Riesenrad“ und den besten Widerstand arbeitet. Sie verliebt sich in Sportreportagen von Heinz Florian Oertel ihn, warum, ist schleierhaft. eine Million Zuschauer bekommen. Viel Er trägt die bescheuerte Jacke, und sein mehr ist „Helden wie wir“ auch nicht ge- Haar ist dünn. Allerdings fällt ihm der Satz worden. „Jedes Blatt Papier ist ein potenzielles „Das Leben ist wie eine Pralinen- Flugblatt“ ein, der sowohl bei der Stasi als schachtel, man weiß nie, was drin ist“, sagt auch bei den Revolutionären gut an- Forrest Gumps Mutter. kommt. Mit Yvonne ist erst mal Schluss, als „Helden wie wir“ ist wie eine Packung Klaus gesteht, dass er bei der Stasi ist. Er mit Ostpralinen. Da wusste man immer, muss Blut für Erich Honecker spenden, was drin ist. Es war selten gut. woraufhin sein Gemächt schwillt. Dann Alexander Osang

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Werbeseite M. SCHWARZ / ABS M. SCHWARZ Beschmierter, gereinigter Findling in Hamburg: „Auch die Existenz des Reichstags hat man

SCHÖNHEIT „Graffiti sind Menetekel“ Der Wuppertaler Ästhetik-Professor Bazon Brock, 63, über Sinn und Unsinn der Schmierereien im öffentlichen Raum

SPIEGEL: Herr Professor Brock: Ja, und es ist viel Brock, 400000 Jahre lag ein leichter, seine Wut bei den großer Findling auf dem Sprayern abzuladen, die am Grund der Elbe.Wenige Ta- Rande der Gesellschaft ste- ge nachdem er geborgen hen, als bei den Gruppen, und als Naturdenkmal ans die die Welt mit ihren offi- Flussufer gehoben worden ziellen Logos hässlich ma- war, sprühten Sprayer ihre chen. Logos auf den Granit. Nicht SPIEGEL: Die angeblich weit nur die Hamburger sind verbreitete Wut über Wer- empört über solche Bar- belogos existiert womög- barei. Können Sie die Wut lich nur in Ihrem Kopf und teilen? nicht bei der Bevölkerung. Brock: Ich akzeptiere sol- Die ist empört, dass nicht

che Schmierereien nicht. FOTOARCHIV R. OBERHÄUSER / DAS einmal ein Kulturdenkmal Sie kotzen mich an. Kunsttheoretiker Brock wie ein Granitblock aus der Aber … Eiszeit geachtet wird. SPIEGEL: … aber jetzt kommt das berühm- Brock: Wir verstehen die Sprayer nicht. So te Verständnis für die verstörten Subkul- wie wir auch die Werbeleute nicht verste- tur-Jugendlichen in der kalten, verwalte- hen. Auch Touristen treten als Schmierer ten Welt. auf. Schon in der Antike wurden Mar- Brock: Sie unterschätzen mich. Meine und morsäulen beschmiert, oder es wurde in auch die Wut der Bevölkerung resultieren sie mit scharfkantigen Metallen hineinge- aus dem, was uns normalerweise nicht auf- ritzt. „Kilroy was here“ schmierten US- regt. Soldaten als Zeichen der Eroberung auf SPIEGEL: Was wäre das? europäische Kulturdenkmäler. Jeder, der Brock: Die Verschandelung der Welt mit of- ein Kunstwerk verwurstet und durch fiziell genehmigten Werbelogos. Sie befin- Kitschpostkarten ästhetisch überformt, der den sich inzwischen überall, auf jeder Pla- tut letztlich genau das Gleiche, was die ne, auf jedem Brückenpfeiler, auf freiem Sprayer tun. Feld. Die Konsum- und Warenpropaganda SPIEGEL: Wieso? Das Kunstwerk wird doch macht doch die Welt unsichtbar. Jeder klei- durch Postkarten nicht überkritzelt. Je- ne Ladeninhaber beeinträchtigt mit seinen der weiß: Das Original hängt unversehrt Graffiti das Bild historischer Stadtensem- im Louvre. bles. Eigentlich müssten sich die Leute über Brock: Das wissen die Sprayer auch. so etwas aufregen beziehungsweise sich SPIEGEL: Wie bitte? aufregen, dass sie sich nicht aufregen. Brock: Erst durch das Verdecken enthüllt SPIEGEL: Sie meinen allen Ernstes, dass die man das Kunstwerk. Auch Beschmieren Gesellschaft das Gleiche betreibt wie die verhindert das Unsichtbarwerden. Das Sprayer? funktioniert nach ähnlichem Prinzip wie

264 der spiegel 45/1999 den mit Hotels zuzuknallen. Er stellt Lautsprecher auf, die lauthals die Stille verkünden. Er lockt die Massen mit den Verheißungen des Einsamkeitstourismus. Sprayer ma- chen auf solche Widersprüche aufmerksam. SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie die Graffiti-Sprayer insgeheim bewun- dern? Was sagen Ihnen ihre Zei- chen? Brock: Hinter der Aggressivität gibt es das Gefühl der Schwäche. Die Subkulturler benutzen ihre Zeichen wie einen Abwehrzauber gegen das, was ihnen blüht, wenn

C. BRINKMANN sie erwischt werden. Sie wehren erst durch Christo bemerkt“ ihre eigene Unterwerfung ab. Sie zaubern weg, was sie alle erwar- bei Christo. Im Verhüllen wird erst die Vor- ten: Wir sind eigentlich doch die Unterle- stellung von der wahren Ansichtigkeit her- genen. vorgelockt. Die Existenz dieses ekelhaften SPIEGEL: In den Graffiti drückt sich Ohn- eklektizistischen Spielkastenbaus namens machtserfahrung aus? Reichstag hat man erst durch Christo be- Brock: Ja. Ohnmacht ist die Erfahrung merkt. eigener Beschränktheit und damit An- SPIEGEL: Aber der arme Findling, warum trieb für Selbstzerstörung. Und diese darf er nicht unbearbeitet zu uns spre- Selbstzerstörung muss camoufliert wer- chen? Was kann er für verkorkste Stadt- den. Die Sprayerlogos sind ein Tarnnetz planung? für die latente Selbstzerstörung, die sich Brock: Der beschmierte Findling spricht zu so als Schmuck ausgibt. Mit Piercing uns, dass wir alle in der Gesellschaft kei- und Tattoos verhält es sich nicht an- nerlei Respekt vor dem haben, was sich ders. uns entgegensetzt, weder vor der Evolu- SPIEGEL: Das klingt ergreifend.Aber warum tion noch vor der Natur. Das zeigen wir in wirkt die von Ihnen beschriebene Sprache der Genetik, das zeigen wir, wenn Auto- der Selbstzerstörung so uniform, steril und bahnen gewachsene Landschaften zer- humorlos? stören. Brock: Die Graffiti zeugen von einer urhe- SPIEGEL: Solche Botschaft könnte auch ein berlosen Gesellschaft. Die Kollektivität unversehrter Findling mitteilen. wird zum Autor. Brock: Da wäre er gar nicht bemerkbar. SPIEGEL: Die Sprayer entziehen sich vor Die ganze Norddeutsche Tiefebene ist vol- allem der rechtlichen Verantwortung. ler Findlinge. Heimatforscher haben ganze Brock: Wenn Verursacher von schädlichen Bücher über solche Steine geschrieben, Emissionen nicht zur Verantwortung ge- aber die Ehrfurcht vor der Natur hat sich zogen werden, warum sollen Sprayer sich dadurch kaum verbessert. zur Verantwortung ziehen lassen? SPIEGEL: Das hieße, die Behörden hätten SPIEGEL: Warum werben die Subkulturler den Stein ruhig so beschmiert belassen und nicht für ihre Positionen, bevor sie zur nicht, wie sie es jetzt getan haben, seine Farbdose greifen? Säuberung und dann eine Beschichtung Brock: Wenn Künstler solche Wege anbie- anordnen sollen, von der man Graffiti ten, ist das Interesse bekanntlich nicht leicht abwaschen kann? sehr groß. Die Akzeptanz für das Zustan- Brock: Bevor die allgemeine Zerstörung dekommen von Normen wird als Zustim- der Natur begann, hat kein Mensch über mung interpretiert, obwohl kein Mensch die Natur gesprochen. Erst durch den weiß, wie diese Zustimmung zu Stande Verlust wird ihr Wert erkennbar. Die gekommen ist. Ich habe noch keinen Überwältigung durch die Erhabenheit Bauherrn erlebt, der den Ordnungsvor- der Natur – das war ein philosophischer stellungen der Ämter völliges Verständ- Anschauungsbegriff. Die Natur kennt nis entgegenbrachte. Man spricht von keine Erhabenheit oder Ehrfurcht. Die kleinbürgerlichen Funktionärsdiktaturen, von der Natur entlastete Leisure-Class die ihren Geschmack der Mehrheit auf- kann sich erst solch ein ästhetisches Erle- drücken. ben leisten. SPIEGEL: Die Sprayer sollen die ästhetischen SPIEGEL: Stimmt nicht. Menschen aller Erzieher der Gesellschaft sein? Schichten suchen die unverstellte Begeg- Brock: Ihre Zeichen halten das Erschrecken nung mit der Natur. vor dem Nichtverstehen der normativen Brock: Und begeben sich in die Paradoxi- Ordnung fest. Sie sind Menetekel. Da se- en des Tourismus. Der wirbt mit dem Be- hen die Menschen wenigstens noch die treten noch nicht erschlossener Räume Schrift an der Wand. und tut nichts anderes, als solche Gegen- Interview: Nikolaus von Festenberg

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TIERSCHUTZ Neue Hoffnung für den Tiger ie Zahl der Tiger nimmt weltweit zu. Während DExperten Anfang der neunziger Jahre noch das Aussterben des gestreiften Raubtieres bis zum Jah- re 2000 voraussagten, äußern sie sich nun erstmals hoffnungsvoll zur Bestandsentwicklung des Tieres. „Wir schaffen es, den Tiger zu retten“, sagt Joshua Ginsberg, Direktor des asiatischen Programms der Wildlife Conservation Society. Sowohl in Ost-Sibi- rien als auch in Nepal sowie in einigen Gebieten Bhutans und Indiens hat sich die Situation des bis zu 300 Kilogramm schweren Raubtiers offenbar

deutlich verbessert. Im Ranthambhore-Wald südlich BILD ARNOLD / SAVE P. von Delhi etwa waren 1993 höchstens noch 20 Tiger Tigerpaar in Indien übrig. Jetzt sollen es doppelt so viele sein. Selbst in Ländern wie Sumatra, Burma, Thailand und Kambodscha, wo Tigern oder Tigerprodukten etwa für die traditionelle chinesi- das Tier bereits als ausgestorben galt, siedelt sich der Tiger of- sche Medizin dem Tier schwer zu schaffen. Problem Nummer fenbar wieder an. Inzwischen ist die Jagd auf die Raubkatze eins jedoch ist die sinkende Zahl möglicher Beutetiere. Wilde überall illegal.Viele asiatische Länder gehen entschiedener ge- Rinder, Hirsche und Wildschweine fresse das Tier „wie Ham- gen Wilderer vor. Vollständige Entwarnung wollen die Exper- burger“, sagt der indische Zoologe Ullas Karanth. „Wenn wir ten trotzdem nicht geben. Auch heute noch macht die Zer- uns intensiv um den Erhalt der Beutetiere kümmern, werden störung geeigneten Lebensraumes und der illegale Handel mit die Tiger auf sich selbst aufpassen.“

CHIRURGIE den Strahlenschäden entgehen, COMPUTER sondern auch weiterhin Östrogen Eierstöcke im Arm produzieren, um der Patientin ein Hellhöriger Rechner vorzeitiges Einsetzen der Meno- merikanische Chirurgen ha- pause zu ersparen. Unter Exper- in elektronisches Spracherkennungssystem, das Aben erstmals einer Frau die ten ist das Experiment umstrit- Egesprochene Worte besser versteht als menschli- Eierstöcke vom Unterleib in den ten. Die Reaktionen reichten von che Ohren, haben Forscher der University of Sou- Arm verpflanzt. Die Mediziner „großartig“ bis „grotesk“. Sollte thern California, Los um den New Yorker Chirurgen die Transplantation erfolgreich Angeles, entwickelt. Kutluk Oktay entnahmen der sein, will Oktay sie bei krebs- Das neue Computer- krebskranken Patientin, deren kranken Frauen anwenden, die system erkennt Kom- Unterleib bestrahlt werden sollte, nach der Bestrahlung noch Kin- mandowörter wie die Eierstöcke, schnitten diese in der haben wollen. Aus dem Arm, „ja“, „nein“ oder schmale Streifen und implantier- so Oktay, könnten Eier „geern- „stopp“ selbst dann ten sie in ihren Arm. Dort soll tet“ und anschließend im Labor noch mit hoher Si- das Eierstockgewebe nicht nur befruchtet werden. cherheit, wenn das

Tonsignal von bis zu E. MANKIN tausendfach stärke- Liaw, Berger rem Rauschen über- lagert ist. Menschliche Hörer können solche Sprach- fetzen, die zum Beispiel von lauten Hintergrundge- sprächen übertönt werden, bestenfalls erraten. Die Forscher Theodore Berger und Jim-Shih Liaw benut- zen ein computersimuliertes „neuronales Netz“, das die Fähigkeit von menschlichen Nervenzellen nach- ahmt. Dieser Ansatz wird zur Sprach- und Bildverar- beitung schon lange genutzt. Erstmals programmier- ten Liaw und Berger ihr „neuronales Netz“ jetzt jedoch so, dass, ähnlich wie im Gehirn, auch der zeitliche Ablauf der Impulsfolgen an den Netzkno- ten berücksichtigt wird. Offenbar steckt darin das

A. MOHIN / NYT Geheimnis des Erfolgs: Den Sprachtest bestand das Operationsteam bei der Verpflanzung der Eierstöcke Berger-Liaw-Netz mit nur elf simulierten Neuronen.

der spiegel 45/1999 267 Prisma Wissenschaft•Technik

PSEUDOWISSENSCHAFT „Warten am Fenster“ Der britische Esoterik-Star Rupert Sheldrake, 57, über sein neues Buch, in dem er Hunden und Katzen übernatürliche Fähigkeiten zuspricht*

SPIEGEL: Herr Sheldrake, haben Sie ein Haustier? Sheldrake: Ja, eine Katze. Auf mich rea- giert sie kaum. Aber sie scheint voraus- zuahnen, wann meine Kinder nach

B. OERSTED / NORDFOTO / DANA PRESS B. OERSTED / NORDFOTO Hause kommen. Grönländisches Inlandeis SPIEGEL: Sie behaupten im Ernst, Tiere könnten hellsehen? AUTOINDUSTRIE Sheldrake: Ja. Wir haben 2200 Hunde- halter befragt. Jeder zweite gab an, sein Härtetest auf dem Eis Hund spüre die Rückkehr von Familien- mitgliedern lange im Voraus. Die Tiere tatt des Elchtests plant VW für seine neuen Fahrzeuge eine Art Eisbärenprobe. sitzen erwartungsvoll am Fenster. SDer Wolfsburger Konzern hat mit der grönländischen Regierung einen Vertrag SPIEGEL: Die Hunde könnten auch auf über den Bau einer Teststrecke im ewigen Eis abgeschlossen.Wie die Kopenhagener Bekanntes oder aus Routine reagieren. Zeitung „Berlingske Tidende“ berichtet, soll die rund 50 Kilometer große Anlage auf dem Inlandeis Grönlands in der Nähe des 600-Seelen-Ortes Kangerlussuaq entstehen.Ab Sommer 2000 will VW neben den eigenen Fahrzeugen offenbar auch Autos der Marken Audi, Seat, Skoda, Rolls-Royce und Lamborghini zum klimati- schen Härtetest in das polare Gebiet verfrachten. Ein eigenes Hüttendorf für die VW-Mitarbeiter ist bereits geplant. Selbst zwei Köche sollen die VW-Leute schon angeheuert haben.

MEDIZINTECHNIK Patient, Operateur und Operations- / FSP GASTON J. werkzeugen. Anhand dieser Daten wird Sheldrake mit Testhund Röntgenblick das Computerbild ständig mit der Wirk- lichkeit abgeglichen. Auch die Werkzeu- Sheldrake: Das versuchen wir auszu- für Orthopäden ge des Arztes werden in das Bild proji- schließen. In unseren Tests kommen die ziert, so dass er gleichsam am offen lie- Besitzer im Taxi und zu einem zufälli- etaillierten Durchblick bei schwie- genden Knochen operieren kann, ohne gen Zeitpunkt nach Hause. Trotzdem Drigen orthopädischen Operationen diesen wirklich zu sehen. „Bislang reagieren viele Hunde. Auch bei einem wie etwa Beckenbrüchen erlaubt ein mussten wir oft viel Gewebe weg- Unfall wissen sie gleich Bescheid. neues Verfahren, das von dem US-Me- schneiden“, sagte DiGioia. „Mit der SPIEGEL: Ein unsichtbares Band der diziner Anthony DiGioia entwickelt neuen Methode können wir viel scho- Sympathie zwischen Seelenverwandten? wurde. Mit Hilfe des Systems kann der nender operieren.“ Sheldrake: Ich glaube tatsächlich, dass Arzt während der eine Verbindung zwischen Lebewesen Operation gleichsam besteht, die nicht an den Ort gebunden per Röntgenblick in ist. Das ist wie in der Quantenmecha- den Patienten hinein- LCD-Monitor nik. Dinge, die zum selben System sehen. Ein Computer Referenzpunkt gehören, bleiben in Kontakt. erzeugt aus vorher zur Positions- SPIEGEL: Eine sehr eigenwillige Interpre- angefertigten Rönt- bestimmung tation der Quantentheorie. genbildern ein dreidi- Sheldrake: Ich war auch erst skeptisch. mensionales Bild des Trotzdem: In China werden Tiere zur Infrarot-Kameras Halb durchlässiger Patientenskeletts. Bei Spiegel zur Bild- Erdbebenvorhersage genutzt. Viele Hun- der Operation wird projektion de finden von Orten, an denen sie nie dieses virtuelle Ske- zuvor waren, wieder nach Hause. Keine lett auf einen halb Operationswerkzeug gängige Theorie kann dies erklären. durchsichtigen Spie- SPIEGEL: Wie steht’s denn bei Ihnen mit gel projiziert, durch dem Hellsehen? den der Arzt auf den Sheldrake: Noch nicht sehr gut. Aber ich Patienten blickt. In- habe angefangen zu üben. frarotkameras bestim- men millimetergenau * Rupert Sheldrake: „Der siebte Sinn der Tiere“. die Positionen von Scherz Verlag, Bern; 416 Seiten; 39,90 Mark.

268 der spiegel 45/1999 Werbeseite

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MEDIZIN Das kalte Herz Unbegrenzt verfügbar, billig und frei von Komplikationen: Dämmert eine Ära neuer Ersatzorgane? Eine amerikanische Firma will im nächsten Frühjahr einem Patienten ein komplettes Herz aus Kunststoff und Titan einbauen.

as Gerät ist so groß wie eine Pam- Wenn dieser Hohlmuskel aufhört zu pul- als eine geschlossene Faust, kontrahiert in pelmuse, es wiegt 900 Gramm. In sen, erlischt unabwendbar das Leben. Als 24 Stunden rund 100 000-mal, in einem Dseinem Innern surrt leise ein Elek- einzig vollwertiger Ersatz für das Herz gilt 70-jährigen Leben drei Milliarden Mal. tromotor aus Titan. An den Außenseiten bisher ein anderes. Über eine Reizleitung vom Gehirn kleben zwei mit glasigem Gel gefüllte An Spenderherzen besteht deshalb überwacht, pulsiert der Herzmuskel. Die Kunststoffkammern, die an die Brötchen- weltweit ein enormer Bedarf. Allein in Antriebsenergie wird durch das Blut ge- hälften eines Hamburgers erinnern. Vier Deutschland werden derzeit pro Jahr rund liefert, welches das feine Geäst der Herz- daumendicke Schlauchenden ragen aus 1000 Menschen für eine Transplantation kranzgefäße durchströmt. Bei jedem Herz- dem Gebilde – Anschluss-Stutzen für jene angemeldet. Etwa jeder Dritte stirbt, bevor schlag stößt der Pumpmuskel nur 70 Mil- Gefäße, die den Lebenssaft durch den Or- ein geeignetes Organ über die Transplan- liliter Blut aus. Doch mit der Zeit sum- ganismus transportieren: Blut. tationszentren angeboten wird. miert sich das: Jeden Tag vollbringt der Entwickelt wurde die Titanmaschine von Um dem Mangel abzuhelfen, investier- kleine Muskel ein Arbeitspensum, das aus- Ingenieuren der Medizintechnikfirma Abio- ten Industrie und Forschung Milliarden in reichen würde, um ein Mittelklasseauto med in Danvers bei Boston (US-Staat Mas- den Versuch, neue Organe verfügbar zu aufs Dach eines dreistöckigen Hauses zu sachusetts). Im Frühjahr nächsten Jahres machen: Sie manipulieren das Erbgut von hieven. soll das Gerät, wenn alles nach Plan läuft, Schweinen, damit ihr Gewebe für Men- Bisher war selbst raffinierteste Technik erstmals in der Brust eines zum Tod ver- schen verträglich wird. Oder sie mühen diesem natürlichen Wunderwerk unterle- dammten Kranken den wichtigsten Mus- sich ab, menschliche Herzmuskelzellen im gen. Allenfalls konnten die Ärzte dem kel eines Menschen ersetzen – ein künstli- Labor zu züchten in der vagen Hoffnung, Zentralorgan mit Schrittmachern, künstli- ches Herz, gesteuert und sekundengenau dereinst einmal vollständige Pumpmuskel chen Klappen oder Unterstützungspum- überwacht von ausgetüftelter Elektronik, heranreifen zu lassen. pen bei seiner unermüdlichen Schwerar- betrieben von einer Batterie im Bauch. Nun scheint es, als laufe herkömmliche beit helfen. Schon üben Chirurgen an vier amerika- Ingenieurskunst den Biotechniken den Das modernste Gerät aus dem Arsenal nischen Herzzentren, Kälbern das Kunst- Rang ab. Abiocor kommt seinem organi- der Medizintechnik wurde vorletzte Woche herz einzupflanzen. In rund 100 Tieren hat schen Vorbild verblüffend nahe, dessen er- in Bad Oeynhausen verpflanzt. Zwei Her- das Ersatzteil bereits gepocht. Die jeweils staunliche mechanische Leistung bisher un- zen, so war es den überschwänglich for- 20-köpfigen OP-Teams arbeiten inzwischen erreicht ist. mulierten Meldungen der Nachrichten- so routiniert zusammen, dass „spätestens Ein echtes Herz, bei einem Gesunden agenturen zu entnehmen, schlagen nun im sechs Stunden nach Einleitung der Narko- rund 300 Gramm schwer und etwas größer Körper eines 67-jährigen Patienten – sein se das Kalb wieder auf den eigenen Beinen stakst“, berichtet David Lederman, Grün- der und Präsident von Abiomed. Vier Wochen lang lassen die Mediziner die Maschine (Markenname: Abiocor) in den Rindviechern schlagen. Dann werden die Tiere eingeschläfert und die Herzen zur Prüfung wieder entnommen. Grund der laut Lederman „humanen Tötung“: „Die Kälber wachsen zu schnell, das künst- liche Herz aber nicht, seine Pumpleistung ist auf rund zehn Liter pro Minute be- grenzt.“ Für ein ausgewachsenes Rind ist das viel zu wenig, für einen Menschen al- lerdings reicht es allemal. Das kalte Herz aus Massachusetts könn- te eine medizintechnische Revolution ein- läuten. Für Gelenke und Gefäße, sogar für ganze Gliedmaßen können Ingenieure in- zwischen Ersatz aus Kunststoff und Metall schaffen. Ein ganzes inneres Organ gegen eine Maschine im Körper auszutauschen, gelang ihnen bisher jedoch nicht. Nun wagen sie sich ausgerechnet an das

Herz heran, jenes Organ, das den Men- EVERKE T. schen wie wohl kein anderes fasziniert. Abiomed-Chef Lederman (mit Kunstherz Abiocor): Ersatzorgan zum Schnäppchenpreis

270 der spiegel 45/1999 Neuer Rhythmus Wie das künstliche Herz „Abiocor“ arbeitet

Das Kunstherz arbeitet in zwei Zyklen. Klappen steuern den Wechsel von Lungen- zu Im ersten wird sauerstoffreiches Blut Körper-Kreislauf. Die eigentliche Arbeit leistet aus den Lungen angesaugt und ein Motor aus Titan. Er pumpt ein hydraulisches zugleich verbrauchtes Blut in die Gel hin und her, das von einer elastischen Lungen gepresst. Im zweiten Lungen- Membran umschlossen ist. Arbeitsgang drückt die Pumpe Kreislauf sauerstoffreiches Blut in den sauerstoff- sauerstoff- Körper und saugt sauerstoff- armes Sensoren reiches armes an. Blut Blut zum Beispiel sauerstoff- zur Messung reiches Blut von Druck, Temperatur Antenne und Blutfluss sendet Kunstherz Betriebsdaten in die Klinik sauer- Titan-Motor stoff- armes Blut Induktions- hydraulisches Körper-Kreislauf spule im Gel Bauchraum flexible Membran Klappen Induktions- spule auf der Haut Denn mit dem Abiocor-System wird eine angeordnete Sensoren. Sie erfühlen die Batterie Kontroll- Radikalkur angestrebt. Acht Stunden soll wichtigsten Daten, die für den sicheren Be- einheit die Operation dauern: Die Chirurgen öff- trieb des Kunstherzens ausschlaggebend nen den Brustkorb des Patienten, zerren sind: Fließgeschwindigkeit, Druckverhält- Ladegerät für die implantierte Batterie seinen Rippenkäfig mit schwerem Spreiz- nisse, Temperatur. gerät auseinander. Dann durchtrennen sie Ihre Daten geben die Sensoren über Arterien und Venen am natürlichen Herzen ein Kabel an ein knapp handtellergroßes natürliches und ein künstliches mit dem und verbinden sie mit der Herz-Lungen- Kontroll- und Steuergerät weiter. Es sorgt schlagzeilenträchtigen Namen „Lion maschine – das Herz liegt frei und wird unter anderem dafür, die Pumpleistung Heart“: Löwenherz. herausgehoben. zu erhöhen, wenn der Abiocor-Patient Doch von einer „Weltpremiere für ein In die zwölf Zentimeter tiefe Leere zwi- Treppen steigt, Fahrrad fährt oder auch neuartiges Kunstherz“, die am Herz- und schen Rückgrat und Vorderrippe wird dann wenn er erschrickt. „Das kann zum Bei- Diabeteszentrum in dem nordrhein-west- die elektromechanische Pumpe platziert spiel passieren, wenn plötzlich ein Hund fälischen Kurbad gelungen sei, konnte in und die daumendicken Blutgefäße mit den vors Auto läuft“, erklärt Lederman. Ist Wahrheit keine Rede sein. Der Patient hat- Ein- und Austrittsstulpen des Kunstherzens die Stress-Situation bewältigt oder die te lediglich ein mechanisches Kreislauf- verbunden. Auf der kunststoffumhüllten physische Belastung verringert, so lässt unterstützungssystem erhalten, das inzwi- Antriebseinheit befinden sich ringförmig die elektronische Automatik die Titan- schen zum Standardrepertoire der Herz- chirurgie zählt. Neu an dem implantierten „Left Ventri- cular Assist System“ – so genannt, weil es die Schwerstarbeit verrichtende linke Herzkammer unterstützt – war nur eines: „Patient Löwenherz“ spazierte Mitte letz- ter Woche schon über den Klinikflur, wo- bei er sich mit der Batterie, die die 1,6 Ki- logramm schwere Minipumpe antreibt, nicht herumplagen musste. Denn die Chir- urgen hatten sie im Bauchraum platziert. Der Akku lässt sich mit Hilfe von Induk- tionsspulen von außen aufladen. Hauptvorteil dieser Methode ist die ver- ringerte Infektionsgefahr. Denn bisher führten Kabel durch die Haut. Außerhalb des Körpers wurden diese an einen trag- baren Batteriepack gestöpselt. Für Bakte- rien waren die Öffnungen Portale, durch die sie in den Körper des Patienten gelan- gen konnten. Die nun in Bad Oeynhausen angewand- te Induktionstechnik soll bald auch das

Abiomed-Kunstherz mit Strom versorgen. R. MEIER / BILD ZEITUNG Damit ist freilich jede Parallele erschöpft. „Patient Löwenherz“ in Bad Oeynhausen: Hilfe bei der Schwerarbeit

der spiegel 45/1999 271 Wissenschaft pumpe wieder auf Nor- malbetrieb runtersurren. Anders als sein biolo- gisches Vorbild hat das Titanherz nicht vier, son- dern nur zwei Hohlräu- me. „Wir glauben, auf die zwar arbeitsintensiven, aber nicht übermäßig in- telligenten Herzventrikel verzichten zu können, und haben nur die Funktion der so genannten Vorhö- fe nachgebildet“, erläutert Lederman. Der natürliche Herz-

muskel dreht sich in einer AP Schraubenbewegung zu- Kunstherzpatient Schroeder (1984): Schlimmer als der Tod sammen: Indem es sich gleichsam selbst auswringt, drückt das Was lag näher, als dass sich die Physiker Herz Blut durch die Klappen in die Lunge und Ingenieure herausgefordert fühlten? und den Körperkreislauf. Die äußere Ge- Schließlich hatten sie die größten Erfah- stalt des nun entwickelten Kunstherzens rungen über das physikalische Verhalten hingegen ist starr. Stattdessen wölben sich von Körpern in flüssiger und gasförmiger in seinem Innern Gel-Kissen, die das Blut Umgebung gesammelt. 22 Firmen aus der aus der einen Kammer herauspressen und Luft-, Raumfahrt- und Rüstungsbranche gleichzeitig in die andere hineinsaugen witterten lukrative Geschäfte. Doch die an- (siehe Grafik Seite 271). visierte zehnjährige Entwicklungsphase für Durch diese Anordnung erreichen die ein Kunstherz erwies sich als zu optimis- Abiomed-Techniker, dass in ihrem Kunst- tisch. Ein Team nach dem anderen gab auf, herzen das Blut pulsiert wie im natür- darunter auch Ledermans damaliger Ar- lichen Zentralmuskel; das Kardiogramm beitgeber, die Firma Avco. Dort war die zeigt die gewohnten regelmäßigen Zacken. Ummantelung von Atomsprengköpfen für Auf diese Weise bleiben die Arterien elas- den Wiedereintritt in die Atmosphäre ent- tisch. Flösse das Blut hingegen ruhig wickelt worden. und stetig, so würden sie verhärten. Als Avco seine medizintechnische Ab- Günstig wirkt sich der kontinuierliche teilung auflöste, wurde auch der gelernte Druckwechsel auch auf die biochemischen Luftfahrtingenieur Lederman arbeitslos. Er Abläufe in den Endothelzellen aus, mit gründete 1982 Abiomed, nach eigenen An- denen Venen und Arterien ausgekleidet gaben „mit dem einzigen Ziel, alles zu er- sind. forschen und zu bauen, was kranken Her- Besonders wichtig aber ist das An- und zen helfen kann“. Abschwellen des Blutflusses, weil sich da- Abiomeds bislang erfolgreichstes Pro- durch die Gefahr verringert, dass bereits dukt ist das Kreislaufunterstützungssystem bestehende Ablagerungen in den Blutbah- BVS-5000. Die mit Luftdruck betriebene nen weiter aufgebaut werden. „Derartige Glaskolbenapparatur wird parallel zum Vorschäden dürften beim typischen Abio- menschlichen Herzen angeschlossen. Sie cor-Patienten mit Sicherheit vorhanden soll leicht geschädigten Herzen Zeit für die sein“, sagt Lederman. Selbstheilung verschaffen. In nahezu je- Der Medizin-Pionier will die künstlichen dem großen US-Herz- und Transplanta- Blutpumpen rund um die Uhr überwachen. tionszentrum steht mittlerweile mindestens Dies soll eine Sendeantenne ermöglichen, eines dieser Geräte, an über 3000 Patienten die im Bauchraum des Patienten ausgelegt wurden sie bisher weltweit eingesetzt. ist. Sie übermittelt sämtliche Herzdaten an Sein „Traumziel eines kompletten Er- das OP-Team sowie in die Abiomed-Zen- satzherzens“ verlor Lederman unterdes trale. Lederman: „Wir werden für die Pati- nie aus den Augen. Doch Vorsicht war ge- enten die Rolle von Houston in der Zeit boten. Denn das Thema war just im Jahr des Apollo-Programms übernehmen: die der Abiomed-Gründung ungemein heikel einer Mission Control.“ geworden. Im Dezember 1982 hatte US- Ledermans ehrgeiziger Vergleich weist Herzchirurg William DeVries an der Uni- auf den Ursprung der amerikanischen versity of Utah das erste von fünf Kunst- Kunstherzentwicklung hin. 1964, drei Jah- herzen vom Typ Jarvik-7 dem Zahnarzt re vor der ersten Transplantation eines Barney Clark eingepflanzt. menschlichen Herzens durch den südafri- Clark lebte 112 Tage mit der Kunstpum- kanischen Chirurgen Christiaan Barnard pe, zu deren Betrieb ein kühlschrankgroßes und inmitten der optimistischen Auf- Aggregat nötig war. Der zweite Jarvik-7- bruchstimmung zum Mond, hatten die Na- Empfänger, William Schroeder, hielt im- tional Institutes of Health das Kunstherz- merhin 620 Tage durch. Doch für beide war programm angeschoben. es ein Horrortrip: Nahtstellen platzten auf,

272 der spiegel 45/1999 Millionen Dollar Firmenkapital. Eine 9000 Quadratmeter große Fabrikhalle wurde vorletzten Monat fertig gestellt. In den Abiomed-Labors tuckern dutzende von Kunstherzen in Lösungen, die den zer- setzenden Einfluss menschlicher Körper- flüssigkeiten auf Metall und Plastik nach- ahmen. Knapp zwei Dutzend Exemplare müssen nach Vorgaben der FDA ein Jahr lang na- hezu fehlerlos funktionieren, ehe die Im- plantation eines Abiocor in einen mensch- lichen Brustkorb versucht werden darf. „Unser Ziel ist es, dass die Membranen unseres Gerätes sich kontinuierlich 160 Mil- lionen Mal bewegen, genug um in fünf Jah-

T. EVERKE T. ren ein Transportvolumen von elf Millio- Abiomed-Testlabor: Dutzende von Kunstherzen tuckern in ätzenden Lösungen nen Litern Blut durch die Adern eines Menschen zu pumpen“, sagt Lederman. Blutgerinnsel bildeten sich und wanderten 1990 stoppte die US-Aufsichtsbehörde Ein Fernziel, das beim ersten Empfänger durchs Gefäßsystem. Die Nieren siechten FDA alle weiteren Menschenversuche mit wohl ebenso wenig erreicht werden könne dahin, die Immunabwehr brach zusammen, dem Jarvik-7-Herz. Die Entwicklung al- wie die anvisierten Implantationskosten. innere Blutungen mussten operativ ge- ternativer Kunstherzprojekte wurde jedoch Lederman: „Wenn wir 1000 Stück pro Jahr stoppt werden. Die Patienten litten unter weiter finanziert. Von den ehemals 22 Fir- absetzen können, wird jede Operation Krämpfen, Bewusstseinsstörungen und men sind nur zwei Entwicklungsteams etwa so teuer werden wie der Kauf eines Schlaganfällen. übrig geblieben: Forscher an der Penn Sta- Mittelklassewagens – 25 000 Dollar ein- Von Schroeder ist die Aussage überlie- te University in Philadelphia und die Abio- schließlich der Batteriekosten von 5000 fert, es gebe Schlimmeres als den Tod – med-Techniker in Danvers. Dollar für fünf Jahre.“ und das Kunstherz gehöre dazu. Zwar fei- Jeweils insgesamt 13 Millionen Dollar Im Vergleich zu einer Herztransplanta- erten die Medien DeVries anfangs als Skal- hatten die beiden Gruppen bis dahin er- tion nachgerade ein Schnäppchenpreis. Die pell-Virtuosen. Das Kunstherz wurde den- halten. Letztes Jahr glaubte Lederman nämlich kostet, je nach Verlauf und Auf- noch zum Inbegriff einer neuen, men- dann, dass die Entwicklung reif sei für die wand für Medikamente, 10- bis 20-mal so schenverachtenden Gerätemedizin. Kommerzialisierung, und investierte zehn viel. Rainer Paul Werbeseite

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ist zu erkunden, wie Kinder und Erwach- sene mehr über die Welt lernen.Aber Lego HOCHSCHULEN bestimmt nicht, was wir erforschen.“ Res- nick schweigt einen Augenblick, während der Junge einen X-Wing-Fighter in die Luft Professor Coca-Cola steigen lässt, und fügt hinzu: „Natürlich hören wir uns Legos Vorschläge genau an.“ In den USA gewinnen Firmen als Sponsoren von Universitäten Während der letzten zwei Jahrzehnte haben Unternehmen die US-Hochschul- immer mehr Einfluss auf die Forschung. forschung als wichtigen Hebel im Räder- werk der Wirtschaft entdeckt – es locken Prestigegewinn, Patente und billige Labor- arbeit. Unter dem Druck steigender Kosten und des Wettbewerbs der Unis unterein- ander lassen sich Forscher nur allzu gern vom Unternehmergeist anstecken. Die Abhängigkeit beginnt mit subtiler Bestechung. Bisweilen lassen Unterneh- men für ein paar hunderttausend Dollar Lehrstühle auf ihren Namen taufen – so gibt es etwa einen IBM-Professor für In- ternationale Beziehungen in Princeton oder einen Taco-Bell-Lehrstuhl für Infor- mationstechnik an der University of Cali- fornia, Irvine. Die Gelder stiften Firmen zur Förderung bestimmter Forschungsthe- men, inhaltlicher Einfluss auf die Arbeit steht ihnen offiziell nicht zu. Doch der Coca-Cola-Professor Ellis Johnson für Industrie- und Systemtechnik an der Uni Georgia gibt durchaus zu, dass

R. SCHULTZ / MATRIX / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MATRIX R. SCHULTZ es ihm unangenehm wäre, eine Studie für Legoforscher Resnick: Die Abhängigkeit beginnt mit subtiler Bestechung den Erzrivalen Pepsi zu erstellen: „Das ist eine Frage des Taktgefühls.“ lastiknoppen, so weit das Auge reicht: Sheldon Krimsky, Professor an der Tufts- In der Halle türmen sich transparen- University in Boston, der seit Jahren In- Pte Eimer mit Legosteinen in meter- teressenkonflikte in der Wissenschaft ana- hohen Regalen, nach Farben sortiert, auf je- lysiert, versteht solche Zaghaftigkeit nicht der Brettreihe eine: Gelb, Rot, Blau und als bloßen Ausdruck sittlicher Empfind- Grün. In einer Ecke inszenieren ein Junge samkeit: „Professoren wollen Sponsoren und ein Mädchen das Duell zwischen Darth nicht in die Quere kommen, da sie sonst Vader und Luke Skywalker inmitten eines ihre finanzielle Unterstützung verlieren Raumschiffhafens im Rohbau. könnten.“ Das Kinderparadies ist die Wirkungs- Viele Fragen, die ihren Gönnern un- stätte eines veritablen Professors. Der angenehm sein könnten, meint Krimsky, Computerwissenschaftler Mitchel Resnick würden gar nicht erst gestellt. Forschungs- führt stolz seine Erfindung vor: Mind- daten, die mit Interessen der Sponsoren storms, einen Legoziegel mit integriertem kollidieren, gelangten nie ans Licht der Öf- Computer, den Lego letztes Jahr auf den fentlichkeit. Markt brachte. Zwei Rechner hat der voll- US-Firmen gaben 1997 rund 1,7 Milliar-

bärtige Ingenieur in bunte Dinosaurier ein- EFLANDP. / UNIVERSITIY OF GEORGIA den Dollar für Forschung an höheren Lehr- gebaut, die, von Infrarotsensoren aktiviert, Cola-Wappen an der University of Georgia anstalten aus, siebenmal so viel wie 20 Jah- Purzelbaumtänze aufführen. „Das ist eine Frage des Taktgefühls“ re zuvor. Über 90 Prozent aller US-Fir- Das Legolabor gehört zum Media Lab men, die in Biotechnik und Medizin tätig des Massachusetts Institute of Technology diskutiert. Die Bandbreite reicht von un- sind, pflegten 1996 den Kontakt mit Hoch- (MIT), der besten Technischen Hochschu- auffälliger Selbstzensur bis zu massivem schulforschern. 60 Prozent wurden dafür le Amerikas. Resnicks Arbeitsgruppe be- Druck auf die Forscher. mit Patenten oder neuen Produkten be- fasst sich mit dem „Spielzeug von mor- „Seit den achtziger Jahren üben Un- lohnt. Uni-Patente bescherten den Unter- gen“. Spielwarenfabrikanten wie Hasbro, ternehmen denselben Einfluss auf Uni- nehmen 1997 einen geschätzten Umsatz Mattel, Walt-Disney und Lego finanzieren versitäten aus wie einst die Regierung in von 30 Milliarden Dollar. Im Gegenzug die Forschungen mit je mehreren hundert- den fünfziger und sechziger Jahren“, klagt nahmen die Universitäten über 600 Millio- tausend Dollar jährlich. Lawrence Soley, Professor für Kommuni- nen Dollar an Gebühren ein. Allianzen wie diese schließen Industrie kationswissenschaften an der Marquette Daran sei nichts Schlechtes, rechtfertigt und Hochschulen in den USA immer häu- Universität in Milwaukee. „Hochschulen sich Gregory Gardiner, Direktor des Büros figer ab. Die einen kaufen so vergleichs- dienen inzwischen den Konzerninteressen, für Kooperative Forschung an der Univer- weise günstig hochkarätiges Know-how, die nicht mehr der Öffentlichkeit – es ist der sität Yale: „Die Zusammenarbeit mit der anderen gewinnen finanziellen Freiraum. Ausverkauf akademischer Freiheit.“ Industrie hat unter anderem zur Entwick- Doch welche Verpflichtungen die Akade- Spielzeug-Professor Resnick wischt sol- lung des HIV-Medikaments Zerit geführt miker damit eingehen, wird selten offen che Vorbehalte vom Tisch: „Unser Projekt oder zu einer synthetischen Version des

276 der spiegel 45/1999 Werbeseite

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Krebsmittels Taxol. Diese Mittel retten Medikament gegen Unterfunktionen der Die Eingriffe in die akademische Freiheit heute Leben.“ Schilddrüse, das acht Millionen Amerika- sind nicht immer so augenfällig wie in die- Doch ganz so makellos ist der Pakt nicht. ner Tag für Tag schlucken. Als der Herstel- sem Fall – auch kleine Gefälligkeiten er- David Blumenthal, Professor für Gesund- ler Knoll Wind davon bekam, dass eine mit halten die Freundschaft. So erschien kürz- heitswesen an der Universität Harvard, hat 250000 Dollar geförderte Untersuchung an lich im renommierten „Journal of the Ame- ermittelt, dass Forscher, die mit der Indu- der University of California in San Fran- rican Medical Association“ eine Studie, in strie kooperieren, die Veröffentlichung ih- cisco zu dem Ergebnis gelangt war, Syn- der behauptet wurde, dass 43 Prozent al- rer Ergebnisse nicht selten im Interesse ih- throid sei billigeren Alternativen nicht ler Frauen und 31 Prozent aller Männer an rer Geldgeber verschleppen. Außerdem überlegen, griff das Unternehmen ein. Es „sexuellen Funktionsstörungen“ leiden. In zeigen sich Wissenschaftler vermehrt un- machte von seinem Vetorecht Gebrauch, dem Artikel blieb allerdings unerwähnt, willig, Informationen mit ihren Kollegen dass zwei der Autoren dem Pfizer-Konzern zu teilen – umso stärker, je mehr sie für die 98 Prozent der Forscher, die als Berater zur Seite stehen, der mit der Industrie tätig sind. für Pharmafirmen Medikamente Wunderpille Viagra just solche Leiden aus- „Das widerspricht der Vorstellung der zurotten verspricht. Universität als einem Ort, an dem kreativ testen, urteilen positiv Solche unschönen Details bremsen den und kooperativ gearbeitet wird“, klagt Enthusiasmus der Universitäten nicht Blumenthal. Mildred Cho und Lisa Bero, das ihm der Vertrag mit der Uni einräum- merklich. Im letzten Herbst verkündete zwei Experten für biomedizinische Ethik, te: Die Studie blieb einige Jahr lang unter der Chemiekonzern Novartis, er werde in- warnten in einer Analyse von universitären Verschluss. nerhalb der nächsten fünf Jahre den Fach- Forschungsberichten, dass 98 Prozent aller Gleichzeitig ließ Knoll eine der Firma bereich für Pflanzen- und Mikrobiologie US-Wissenschaftler, die für Pharmafirmen wesentlich angenehmere Analyse veröf- der Eliteuniversität Berkeley mit 25 Mil- Medikamente testen, ein positives Urteil fentlichen. Als dann die kritische Unter- lionen Dollar unterstützen. Das Unter- über die Wirksamkeit der Mittel fällen. suchung doch noch aus der Versenkung nehmen erhält dafür die Vorrechte an ei- Fehlt die industrielle Unterstützung, auftauchte, strengten betroffene Patienten nem Drittel der Entdeckungen, die in den äußern sich nur 79 Prozent vorteilhaft. einen Prozess gegen den Synthroid-Her- Labors gemacht werden. Krimsky folgert daraus: „Forscher haben steller an, weil sie sich wegen der über- In der Kommission, die über For- heute zwei Seelen in ihrer Brust: die des höhten Preise des Medikaments geprellt schungsprojekte des Fachbereichs ent- Wissenschaftlers und die des Produktent- fühlten. Der Konzern musste 69 Millionen scheidet, sitzen drei Mitarbeiter von No- wicklers.“ Dollar Schadensersatz zahlen, auf 170 Mil- vartis drei Fakultätsmitgliedern aus Ber- Nur selten werden Konflikte zwischen lionen könnte die Summe in laufenden Ver- keley gegenüber; nur in dem Ausschuss, Forschern und Geldgebern öffentlich. Ei- fahren noch anwachsen – ein Bruchteil des der das Geld verteilt, hat die Universität nigen Wirbel verursachte eine Studie Gewinns, den die Firma durch Synthroid eine Stimme Mehrheit. Steven Briggs, der über die Wirksamkeit von Synthroid, ein erwirtschaftet hatte. den Vertrag mit Berkeley für Novartis un- Üblicherweise beschäftigt sich ein Drit- tel der Forschung mit dem Unternehmen FedEx, unter den übrigen untersuchten Fir- men sind nicht selten FedEx-Kunden. Mit anderen Transportfirmen befasst sich das Institut nicht. „Das wäre ein klarer Inter- essenkonflikt“, erklärt Zeitzyklus-Profes- sor Mark Frolick ganz offen. „Viele Wissenschaftler sind völlig auf die Unterstützung der Industrie ange- wiesen“, kritisiert Blumenthal. Der Medi- ziner fordert, der Staat müsse künftig genü- gend Geld für qualifizierte Wissenschaftler bereitstellen, die sich auch Fragen von we- niger kommerziellem Interesse widmen können. Es geht aber auch umgekehrt: Frede- rick Winter, Direktor der Pittsburgher Katz School of Business, verfiel jüngst auf die Idee, das Prestige seiner Hoch- schule mit den Mechanismen des Börsen- handels zu messen. Er gab an seine Ange- Geplantes FedEx-Forschungszentrum in Memphis: „Ausverkauf der Freiheit“ stellten symbolische Aktien aus – pro Kopf 80 Stück zu einem Nennwert von je 20 terzeichnete, gab bei dem Abschluss freu- samtes Budget aus Industrietöpfen finan- Dollar. dig bekannt, für ihn sei das Abkommen ziert, ist keine Ausnahme mehr. Seit 1993 „So etwas motiviert die Leute“, meint der „wahre Ausdruck akademischer Frei- gibt es an der Universität Memphis in Winter. Der Lehrkörper könne nun seinen heit“: Es eröffne nicht nur die Möglich- Tennessee ein „FedEx-Institut für Zyklus- Wert in Dollar und Cent ermessen. Weil keit, sich zu wünschen, etwas zu tun; son- zeitforschung“, das sich mit der Beschleu- die Kaderschmiede auf der Frühjahrshit- dern auch die Ressourcen, diese Wünsche nigung von Arbeitsprozessen beschäftigt. liste der 50 besten Managementschulen ein zu verwirklichen. Der Paketdienst entsandte zugleich Ver- paar Plätze nach oben kletterte, stieg der Auch das lange Zeit einmalige Förder- treter in die Universitätskommission, die virtuelle Anteilschein um einen halben modell des Media Lab am MIT, das sein ge- über die Forschungsprojekte entscheidet. Dollar. Hubertus Breuer Werbeseite

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TIERE Kinderstube der Medusen Das Halten von Quallen gehört zu den großen Herausforderungen in der Aquaristik. Dem Berliner Zoo gelingt es sogar, die empfindlichen Tiere zu züchten. uallenversand im Berliner Zoo: Per Lufthansa-Cargo werden Jungtiere Qder Gattungen Aurelia und Phyllo- rhiza auf den Weg nach Italien geschickt. Empfängerin ist Isabella d’Ambra an der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Nea- pel. Die Wissenschaftlerin will die Eigen-

schaften der beiden Gruppen vergleichen. N. WU / WILDLIFE Regelmäßig verlassen Pakete mit glib- Kompassqualle, Wurzelmundqualle: In Japan als berigem Getier das Berliner Aquarium. Denn hier beherrschen Biologen und Tier- stellung stehen bleibt, ahnt kaum den Auf- pfleger eine Kunst, die weltweit nur weni- wand, der hinter Haltung und Aufzucht ge Zoos praktizieren: das Züchten von der fremdartigen Wesen steckt. Quallen. Für Jürgen Lange, den Leiter der Die transparenten Körper, höchst ele- Berliner Unterwasser-Ausstellung, ist es die gant im Wasser schwebend, üben eine Aufgabe eines Großaquariums, „Rezepte seltsame Faszination auf den Betrachter zu entwickeln, nach denen man die Tiere, aus. Vor knallblauem Hintergrund blähen die man hält, auch selbst nachzüchten tropische Wurzelmundquallen ihre ge- kann“. Bei verschiedenen Quallenarten ist punkteten Schirme, die an Fliegenpilze das gelungen. erinnern. Von handtellergroßen Exempla- Viele Aquarien mit Quallenschau be- ren, die mit gleichmäßig pulsierendem schränken sich darauf, ihren Nachschub Schirm durch das künstliche Meerwasser aus dem Meer zu fischen. Eine etablierte gleiten, bis hinunter zu aufgeregt pum- Zuchtstation für mehrere Arten haben penden Winzlingen sind alle Größen ver- außer den Berlinern nur das Monterey Bay treten. Aquarium in Kalifornien sowie die Aqua- Aurelia aurita, die Ohrenqualle im Nach- rienhäuser von Toba und Enoschima in Ja- barbecken, strahlt dagegen eine majestäti- pan. Dort widmen sich die Biologen mit sche Ruhe aus. Minutenlang schwebt sie besonderer Hingabe der Aufzucht von regungslos im Wasser, nur ab und zu zieht Kompassquallen – sie gelten in der japani- sich, unendlich langsam, ihr durchsichtiger schen Küche als schmackhaftes Gemüse. Schirm zusammen. Wer als Besucher vor den bläulich be- Aurelias Kinderstube liegt fernab des leuchteten Glaskästen am Beginn der Aus- täglichen Besucherstroms in einem Keller- N. MICHALKE Quallenzüchter Lange: Licht und richtige Strömung wecken Frühlingsgefühle

282 der spiegel 45/1999 „Normalerweise tut sich dann innerhalb von zwei Wochen etwas.“ Nicht immer allerdings ist die Strobilation bereits Anlass zum Jubel. Ein Zuchtversuch mit Lungenquallen zum Bei- spiel scheiterte an der über- mäßigen Teilungsfreudigkeit der Polypen – die Tiere stro- bilierten sich regelrecht zu Tode. „Irgendwann“, erinnert sich Lange, „wurden sie ein- fach zu winzig.“ Ist die Vermehrung ohne Pannen abgelaufen, über- siedeln die Zoologen die entstandenen Mini-Quallen in ein anderes Becken. Jetzt kommt es vor allem auf die richtige Wasserbewegung an: Allzu große Turbulenzen

N. WU / WILDLIFE können die fragilen Tiere schmackhaftes Gemüse begehrt zerstören; ist keine ausrei- chende Strömung vorhan- raum. An den Wänden sind kleine Becken den, sinken die Quallen zu Boden und bis auf Augenhöhe übereinander ange- sterben. bracht. Jedes von ihnen beherbergt eine Bei den Larven genügen aufsteigende Stufe im heiklen Prozess der Quallenver- Luftblasen zur Strömungserzeugung.Wenn mehrung. sie größer werden, brauchen sie eine aus- So einfach der Bauplan der gallertigen geklügeltere Strömungsanlage. Denn Bla- Wesen ist – zwei Zellschichten, ein simpler sen könnten sich unter dem Schirm größe- Verdauungstrakt und eine schwabbelnde rer Tiere verfangen. „Der klappt dann um Füllmasse, die in erster Linie aus Wasser wie ein Regenschirm im Wind“, erzählt besteht –, so komplex ist ihre Fortpflan- Lange. Deshalb werden die heranwach- zung. senden Medusen in einem Becken mit V- Die meisten Quallenarten kennen zwei förmigem Boden gehalten.An dessen tiefs- Formen der Vermehrung: Aus befruchte- tem Punkt sitzt das Zuflussrohr und sorgt ten Eiern schlüpfen winzige Larven, die für gleichmäßige Zirkulation. sich am Meeresgrund festsetzen und zu Po- Ausgewachsene Medusen haben wie- lypen werden. Diese bringen durch unge- derum sehr unterschiedliche Ansprüche an schlechtliche Fortpflanzung die nächste die Strömung. Die Ohrenqualle mit ihrem Quallengeneration hervor. Dabei schnüren großen Schirm und dem relativ leichten sie vom eigenen Körper kleine Scheibchen Körper fühlt sich in einer horizontalen Zir- ab, die davonschwimmen und sich später kulation am wohlsten. Die Wurzelmund- zur ausgewachsenen Qualle, der Meduse, quallen hingegen, mit ihren Fliegenpilz- entwickeln. schirmen eher Schwergewichte, benötigen „In der Natur kann man das kaum be- eine vertikale Strömung. obachten“, erklärt Lange.Viel zu klein sind Einige Quallenarten sind zudem auf in- die Quallenlarven, um sie im offenen Meer tensives Licht angewiesen. Sie leben in überhaupt zu finden. Die Polypen im Symbiose mit bestimmten Algen, den Zoo- Aquarium dazu zu bringen, durch den als xanthellen, für die das Licht überlebens- Strobilation bezeichneten Abschnürungs- wichtig ist. Um ihre Symbionten mit Licht prozess Mini-Quallen zu produzieren, ist zu mästen, recken die Medusen ihre Schir- indes nicht weniger knifflig. me in Richtung der Lampe. Deswegen wer- Nur ganz bestimmte Bedingungen sug- den die Becken von oben beleuchtet. Fie- gerieren den Polypen, der Frühling sei ge- le Licht von vorn hinein, würden die Qual- kommen und mit ihm die Zeit der Strobi- len die Glasscheibe rammen. lation. Eine Veränderung von Wassertem- Quallen zu züchten, gehört im Berliner peratur und Lichtintensität, streng defi- Aquarium inzwischen zum Standardpro- nierte Strömungsverhältnisse und ein er- gramm. So routiniert sind Lange und seine höhter Jodgehalt im Wasser, so die Er- Kollegen, dass sie regelmäßig Gastforscher kenntnisse der Berliner Quallenzüchter, aus aller Welt empfangen, um sie in die wecken die Lust zur Knospung. Methoden einzuweisen. „Dazu setzen wir ein paar Polypen, die Die Kandidaten für das nächste Projekt besonders gut in Form sind, in ein anderes sind gleichwohl etwas handfester: In einer Becken um“, erklärt Lange. So wird ver- Kooperation mit israelischen Meeres- mieden, dass die ganze Polypenkultur forschern sollen Korallenfische gezüchtet stirbt, sollte das Experiment fehlschlagen. werden. Julia Koch

der spiegel 45/1999 283 Werbeseite

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Werbeseite Wissenschaft GAMMA / STUDIO X Felsmalereien in der Chauvet-Höhle: Selbst die anspruchsvollsten Gemälde gingen den Künstlern binnen Minuten von der Hand

ARCHÄOLOGIE Das Genie der Schamanen Wozu bemalten Menschen Felswände mit Nashörnern und Löwen? Eine neue Expedition in die Chauvet-Höhle erlaubte weitere Einblicke in das Leben während der Eiszeit. Aufschlussreich ist nicht nur die prächtige Bildergalerie. Auch der Höhlenboden gibt Geheimnisse preis.

anche Rätsel sind unlösbar, so- etwas an“, hatte Clottes ihnen zuvor ein- bald ihre Schöpfer tot und ver- Fußspuren geschärft. Deshalb nähern sich die Wis- Mgessen sind. Jean Clottes weiß das Steinblock senschaftler ihrem Forschungsgegenstand nur zu gut, aber es verdrießt ihn nicht: mit aufgeleg- mit nichts als Fotoapparaten, Vermes- Seit sieben Jahren ist Clottes, 66, der rang- tem Bären- sungsgerät, Zeichenblöcken und scharfem höchste Prähistoriker Frankreichs und schädel Feuer- überwiegend Blick. Nicht einmal frei bewegen dürfen fischt dabei zwangsläufig meist im Trüben. stellen sie sich; sie tippeln auf schmalen Plas- Nun aber hat er die Chance, heller zu se- tikbahnen herum, die zum Schutz des Bo- hen. Unter allen Prähistorikern der Welt dens ausgelegt sind. ist Clottes der wohl meist beneidete Mann, Gravierter schwarze Wandmalereien Hier, tief im Fels an der Ardèche ha- denn ihm ist etwas Einzigartiges anver- Uhu 20 Meter ben Menschen mit Kohle und rotem Ocker traut – ein Schatz, der vielleicht den vor über 30 000 Jahren Wollnashörner Schlüssel zu bisher unlösbaren Rätseln gemalt. Und Mammuts, Bären, Löwen, birgt: la Grotte Chauvet, die sagenhafte von Menschen Auerochsen, Pferde, Bisons, Hyänen, ei- Chauvet-Höhle. arrangierte nen Panter, einen Moschus-Ochsen und Gerade ging die letzte von bisher nur Steinformationen eine Eule. vier Grotten-Expeditionen zu Ende – seit Manche der mehr als 460 Zeichnun- Entdeckung der Höhle vor fünf Jah- Grundriss gen sind simpel und kaum mehr als Krit- ren wurde die wissenschaftliche Unter- der zeleien. Andere sind wahre Meisterwer- suchung immer wieder verschoben, weil Chauvet- ke: ineinander krachende Rhinozerosse, vor den Gerichten noch darüber gestrit- schnaubende Rösser, hungrige Wildkatzen, ten wird, wem die Höhle gehört. Höhle Bildnisse von unbändiger Kraft und tech- Über ein Dutzend For- nischer Brillanz. Es sind die ältesten be- scher durchforstete diesmal 100 km Lyon kannten Malereien der Welt, gefertigt von 14 Tage lang das Schaufens- Rhône Menschen, die, in Anzug und Krawatte ge- ter in die Vorzeit. In Dril- Grenoble steckt, heute in keiner Werbeagentur auf- liche vermummt und mit Chauvet-Höhle fallen würden.

Bergmannslampen auf dem A Wandmalereien überwiegend rote Clottes und seiner Forschertruppe sind rd Kopf krochen Archäolo- èc die Schöpfer der Bildnisse von Chauvet he Einstieg gen, Geologen und Höhlen- nahe und unsagbar fern zugleich. Warum kunst-Experten durch die drangen die in Felle gepackten Vorväter Toulouse Marseille Gesamtlänge: labyrinthischen Tropfstein- 490 Meter tief in das dunkle Innere der Berge vor, räume. „Hier fasst niemand Mittelmeer um dort wilde Tiere an die Wände zu pin-

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ihrer Galerie. Erst aus den vergangenen 14000 Jahren finden sich eindeutig iden- tifizierbare Hundeknochen in der Nähe Die Spur des Gefährten menschlicher Siedlungen. Wölfe hinge- gen sind den Urmenschen seit 400 000 Ein seltsamer Pfotenabdruck in der Chauvet-Höhle gibt Rätsel auf. Jahren nah. Muss die Geschichte des Hundes neu geschrieben werden? In dieses Bild passt Garcias Vorzeit- Pfote überhaupt nicht – in das der Gene- ief in der Höhle von Chauvet stu- – sie war fast identisch mit derjenigen aus tiker aber schon. Vor zwei Jahren haben dierte Michel-Alain Garcia, Prähis- der Höhle. US-Forscher die Geburtsstunde des Hun- Ttoriker aus Paris, vorletzte Woche „Ich habe hier einen Wolf aus der Vor- des weit vordatiert: Schon vor 135 000 Tierfährten, über die sich der Calcitpanzer zeit“, sagt Garcia so vorsichtig wie ratlos, Jahren hätten Menschen angefangen, der Jahrtausende gelegt hatte. Er fand vor „der aussieht wie ein Hund.“ Wölfe zu domestizieren. Diesen Schluss allem die Abdrücke vom Bären, aber auch Die Vorsicht des Forschers ist ver- jedenfalls ziehen Carles Vilà und Robert die vom Löwen, vom Wolf und vom Hund. ständlich. Denn er weiß: Falls er Recht be- Wayne aus einem Erbgutvergleich an 162 Vom Hund? Garcia konnte es kaum halten sollte, müsste die Geschichte des Wölfen und 140 Hunden. fassen. Doch die Konturen im Höhlenbo- Hundes umgeschrieben werden. Der Der Mensch hätte nach diesem Szena- den sind eindeutig: Die Hundepfote un- Hund gilt zwar als ältester Freund des rio Wölfe aufgegabelt, kaum dass er aus terscheidet sich von der des Wolfs vor al- Menschen, doch bislang nehmen die Afrika in den Nahen Osten kam. Mensch lem in der Position der Zehen. Der Ab- Forscher an, dass die Wurzeln dieser und Hund eroberten dann gemeinsam die druck, vermutlich rund 25000 Jahre alt, Freundschaft nur 10000 bis 14000 Jahre Welt, gleichsam beim Gassigehen. ist hervorragend erhalten, sogar die Kral- zurückreichen. Erst als Menschen sesshaft Keinen Zweifel lassen die Genstudien len des Tieres haben Spuren hinterlassen. wurden, so die Theorie, fingen sie an, im Übrigen daran, dass alle Hunde- Zweifel an der Identität des prähis- Wölfe zu zähmen und später immer neue rassen, ob handtaschengroßer Chihua- torischen Tiers beseitigte Garcia in der Varianten zu züchten – ob als Gefährte, hua oder bulimischer Windhund, vom Jugendherberge, die Schoßtier, Jagdhelfer, Hüter von Vieh Wolf abstam- den Erforschern der oder als wandelnde Fleischreserve. men. Kojoten Chauvet-Höhle als Archäologische Funde bestätigten bis- und Schakale Stützpunkt dient. Er her die Theorie der späten Domestika- haben sich entge- fotografierte die Fähr- tion. Die Höhlenmaler von Chauvet gen anderen Vermu- te eines zufällig vorüber- zeichneten zwar Hyänen und Raubkat- tungen genetisch nicht laufenden Schäferhundes zen, ein Hund jedoch findet sich nicht in eingebracht.

Ältester Freund Wie der Wolf zum Hund wurde vor 135 000 Jahren vor ca. 25 000 Jahren vor 14 000 Jahren von 500 v. Chr. bis 500 n. Chr. vom 13. bis 15. Jahrhundert Umstrittenen genetischen Fährten aus der Chauvet- Älteste Knochen- Entwicklung der wichtigsten Zucht- Die modernen Hunderassen Studien zufolge wird der Höhle zeigen eindeutig den funde von Hunden linien: Jagd-, Wach-, Hütehund entstehen Wolf erstmalig domestiziert Abdruck einer Hundepfote seln? Falsch ist offenbar die Schulbuchleh- re, wonach die Frühmenschen ihr Jagd- glück steigern wollten, denn die meisten der dargestellten Tiere gehörten keines- wegs auf den Speiseplan. Falsch ist auch die Idee, Menschen hätten in den Höhlen ge- lebt. Es finden sich keine verbrannten Kno- chen von Jagdtieren wie Wisent, Steinbock oder Pferd. Es gibt keine Hinweise auf Schlafstellen, keine Gräber. Wozu diente die Höhle dann? Warum malten die Höhlenkünstler nur Tiere und

keine Bäume oder Landschaften? War GAMMA / STUDIO X hier nur ein Künstler tätig, oder waren Hyänen-, Panter-Darstellung in der Chauvet-Höhle: Standen die Maler unter Drogen? es viele? Weshalb sind manche Bisons, Löwen und Pferde mit roten Nasen dar- Jean Michel Geneste, 50, fest. Er entdeck- Scheite ab. Am Fuß der Malereien liegen gestellt? Das sind Fragen, die Clottes klä- te, dass die Maler Helfer und Begleiter Halden von Holzkohle, manche sind, das ren will. gehabt haben müssen. Mindestens an zeigen Bruchstellen im Boden, bis zu 30 Erste Ergebnisse zeigen, dass die Grot- drei Stellen hat Geneste große Steinfor- Zentimeter tief. te mindestens zweimal von Menschen mationen gefunden, die nicht auf natür- Höhlen zu bemalen war wohl kein Spaß. der Vorzeit entdeckt wurde. Clottes hat liche Weise entstanden sein können. Es „Es muss fürchterlich gewesen sein, diese mit dem Skalpell aus den Gemälden ein sind riesige Platten und mächtige Brocken, Höhle zu betreten“, glaubt Geneste. Die paar Kohleproben entnommen und sie über 150 Kilogramm schwer. Mit enormem Menschen mussten die Grotte mit Höhlen- datieren lassen. Das Resultat: Die ersten Kraftaufwand müssen die Menschen sie bären teilen – Monster mit Tatzen so groß Malereien sind etwa 32000 Jahre alt. Da- quer durch die Höhle geschleift ha- wie zwei Hände, sie wogen 900 Kilogramm nach wurde die Höhle über Jahrtausen- ben; aus welchem Grund, das weiß nie- und überragten selbst Grizzlys. Die Tiere de nur von Bären bevölkert – bis rund mand mehr. lebten, starben und verrotteten in der Höh- 5000 Jahre später wieder Menschen vor- Geneste hat außerdem vier riesige Feu- le; der Boden ist über und über mit ihren beikamen und die Tiergalerie ergänzten. erstellen gefunden. Jede war so groß, dass Knochen übersät. Neben dem Gestank der Wahrscheinlich standen sie, wie Clottes leicht 25 Kilogramm Holz auf ihr brennen lebenden und toten Tiere mussten die heute, staunend vor den Bildern der alten konnten. Auch das Brennmaterial, glaubt Höhlenmaler den Qualm ihrer eigenen Meister. Geneste, musste von einer ganzen Gruppe Fackeln und Feuer ertragen – „nein, diese Die Forscher aber sind nicht nur von den in die Höhle transportiert werden. Um die Höhle war ganz sicher kein schöner Ort“, phantastischen Malereien in den Bann ge- Feuerstellen herum sind kleine weiße meint Geneste. zogen. Für sie ist die eigentliche Sensation Steinchen ausgelegt – „Reflektoren“, sagt Das erklärt vielleicht auch, weshalb der Höhlenboden: ein unversehrtes Vor- Geneste, die Steinchen sollten das Licht in selbst die prächtigsten Höhlenmalerei- zeitrelikt.Auf ihm liegen bis heute die Hin- der Höhle verteilen. en in kürzester Zeit angebracht wurden. terlassenschaften der Höhlenkünstler, so Doch Licht zu geben war vielleicht nicht Für keines der Bilder, so glaubt Clottes, deutlich, als hätten sie den Ort erst gestern einmal der wichtigste Zweck dieser Feuer. brauchten die Maler länger als wenige verlassen. Dazwischen: Skelette von Höh- Geneste meint, dass die Feuerstellen als Minuten. Die Künstler waren schnell wie lenbären und anderen Tieren, Fährten von Produktionsstätten für die Holzkohle der Graffiti-Sprayer, selbst die anspruchsvolls- Löwen und Wölfen. Maler dienten. Für ihre Bilder brauchten ten Bildnisse, bei denen die Maler mit ver- „Die Höhlenkünstler waren auf kei- sie davon offenbar große Mengen. Ganz wischter Kohle arbeiteten, den Unter- nen Fall allein“, stellt der Prähistoriker leicht brachen die armdicken Holzkohle- grund vorbehandelten und die Umrisse Wissenschaft teilweise noch mit Gravuren herausarbei- lichtfressenden Ruß zu befreien. Einmal teten, gingen ihnen ruck, zuck von der stolperte er: Er rutschte mit dem linken Hand. Fuß auf dem glatten Lehmboden, aber er Womöglich nahmen die Menschen aus stürzte nicht. Erst nach etwa 70 Metern Furcht vor den Bären auch Waffen mit verliert sich die Spur. in die Höhle. Geneste hat eine Speerspit- Kinder, das wissen die Forscher auch ze aus Mammut-Elfenbein gefunden. Der aus anderen Höhlen, liefen häufig in Höh- dazugehörige Speer ist restlos verrottet. len herum. Spielten sie hier? Besuchten Die Speerspitze „sieht aus wie neu“ und sie die Höhle an der Hand von Erwachse- sei vielleicht niemals benutzt worden. nen als Teil eines Initiationsritus? Wurden „Solche Speere“, so Geneste, „waren vor Ausgewählte hier unterrichtet in Spiritua- allem in Osteuropa und Sibirien verbrei- lität und Höhlenmalerei? All dies sind Fra- tet.“ Ein derartiger Fund in Frankreich sei gen, die ungeklärt bleiben. ungewöhnlich und deute hin auf weitläufi- Nur in einem ist sich Clottes sicher: Die ge Handelsbeziehungen der damaligen Höhlen stellten für die Menschen damals Menschen. ein Heiligtum dar. Ziemlich selten kamen Beim sorgfältigen Absuchen des Bo- die Menschen in den Berg, vielleicht wa- dens hat Geneste vor zwei Wochen eine ren alle Besucher Auserwählte. Wären sie weitere Entdeckung ge- macht. Er fand wie in Gips gegossen die perfekten Ab- drücke von Hölzern, Stö- cken und Samen aus der Vorzeit. Sehr rasch nach den menschlichen Besuchen in der Höhle ist kalkhalti- ges Wasser eingeströmt. Ei- ne Schicht aus Calcit, dem Baumaterial der Stalakti- ten und Stalagmiten, hat den Boden überzogen. Or- ganisches Material darin hat sich aufgelöst, aber der Ab- druck vom Anmachholz der Frühmenschen zum Beispiel blieb erhalten. „Das ist absolut einzigar-

tig“, findet Geneste; anhand / EDITING BAJARD J.-P. dieser Abdrücke werde sich Höhlenforscher Clottes: „Hier fasst niemand etwas an“ womöglich die damalige Ve- getation klären lassen. Bisher glauben die häufiger gekommen, hätten sie ihre Spu- Forscher, das Klima im Ardèche-Tal un- ren selbst zerstört. Im Berg wollten sie weit der großen europäischen Gletscher der Erde nahe sein, der nach ihrer Vor- habe dem im heutigen Südschweden stellung alles Leben entsprang. Auf einen geähnelt. solchen Glauben, so Clottes, weisen die Den spektakulärsten Fund aber hat wie- Bilder hin: Manche Mammuts, Löwen oder der Michel-Alain Garcia, 57, gemacht. Der Bisons sind in ihren Umrissen nicht voll- Höhlen-Ichnologe, spezialisiert auf Fuß- endet. Ihre Form wird nicht vom Kohle- spuren und Fährten, stieß auf die Pfoten- strich angedeutet, sondern vom natürli- abdrücke von Hunden. Die Geschichte die- chen Relief des Felsens. „Es soll so ausse- ser Menschengefährten muss nach diesem hen, als käme das Tier aus dem Boden“, Fund womöglich neu geschrieben werden sagt Clottes. (siehe Kasten Seite 288). Die Höhlenmaler waren nach Clottes Bereits bei der letzten Höhlen-Kampa- Überzeugung Schamanen, eine Art von gne im Mai hatte Garcia ganz hinten in Priestern, die besonders ausgebildet wa- der Höhle eine Aufsehen erregende Ent- ren für den Kontakt mit Geistern und deckung gemacht: die ältesten je gefunde- Göttern. Tief im Berg malten sie „nicht nen Fußabdrücke des modernen Homo die natürliche, sondern die übernatürli- sapiens. che Welt“. Deswegen verzichteten sie Einen winzigen Moment aus der Vor- auf die Darstellung von Landschaft oder zeit kann der Forscher jetzt im Detail re- Menschen, und womöglich, so Clottes, konstruieren. Vor etwa 26000 Jahren lief haben sie unter Einfluss von Drogen ge- demnach ein acht- bis zehnjähriger Junge malt. mit einer Fackel in der Hand durch den Das könne die Unförmigkeit eines der hinteren Höhlenbereich, der kaum einen seltsamsten Tiere von Chauvet erklären: Meter hoch und daher nur für Kinder zu- Es sieht aus wie ein indischer Tempelaffe gänglich war. Der Junge ging langsam. Im- mit dem Kopf eines Mammutbabys auf mer wieder streifte er seine Fackel wie überdimensionalen Rollschuhen. eine Zigarre an der Wand ab, um sie vom Marco Evers

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Trümmer der abgestürzten Maschine ent- deckten, orteten Sonare das charakteristi- FLUGZEUGKATASTROPHE sche „Ping, Ping“, mit dem Flugdaten- schreiber und Cockpit-Voicerecorder ihre Position im Wasser verraten. Schweres Wet- Trauer im Heartbreak Hotel ter verhinderte bis Ende vergangener Wo- che die Bergung. Mit dem Absturz der ägyptischen B 767 nahe New York setzt sich Die hell orangefarbenen Boxen könnten die entscheidenden Hinweise liefern, ob eine Unglücksserie mit Boeing-Maschinen fort. Wie sicher bestimmte Flugzeugtypen des US-Herstel- sind die Langstrecken-Jets des weltgrößten Flugzeugherstellers? lers Boeing besonders fehleranfällig sind. Mehrfach hatte die amerikanische Luft- aufsichtsbehörde Federal Aviation Admi- nistration (FAA) Nachbesserungen und In- spektionen von Maschinen des Typs B 767 gefordert, die mit Pratt-&-Whitney-Turbi- nen der PW4000-Serie ausgerüstet sind. Schon die spärlichen Fakten, die über den Unglücksflug bislang bekannt wurden, liefern erste Hinweise, wie es zu dem De- saster gekommen sein könnte. Mit über zwei Stunden Verspätung war Flug 990 am Sonnabendabend in Los Angeles gestartet, weil zwei Reifen des Fahrwerks ausgewechselt werden muss- ten. Nach dem Flug quer über den Konti- nent landete die Maschine in New York, nahm weitere Fluggäste für den Elf-Stun- den-Flug nach Kairo auf – und raste ins Verderben. So rätselhaft der jähe Sturzflug von EgyptAir 990 zunächst erschien – er weist deutliche Parallelen zum Absturz einer Lauda-Air-Maschine im Mai 1991 in Thai- land auf. Auch damals war die Unglücks-

AP maschine ein Langstrecken-Jet vom Typ

Absturz der Boeing 767 nach Auswertung von Radardaten 1:49:52 Uhr Flughöhe 10 000m Bergung von Wrackteilen der EgyptAir-Boeing: „Wir wollen wissen, warum!“ 9000 kurzer Steigflug m 1.49 Uhr und 52 Sekunden, 30 ein Großraumflugzeug aus dem 8000 auf 7300m Minuten nach dem Start vom New Boeing-Konzern kurz nach dem 7000 Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen, Start von New York abgestürzt: Im 6000 U 5000 bahnte sich das Desaster an. EgyptAir-Flug Juli 1996 hatte eine Explosion im 1:50:32 Uhr 4000 990 hatte gerade seine Reiseflughöhe von fast leeren Rumpftank eines TWA- Sturz auf 5000m 1:51:17 Uhr 10000 Metern erreicht, Flugbegleiter ser- Jumbos zur Katastrophe geführt 3000 letztes Radarecho vierten Drinks in der ersten und in der (230 Tote); im September letzten 2000 bei 3000m, Teile lösen sich vom Jet Business-Klasse, als der Jet abrupt in den Jahres fiel die Swissair-Maschine SR 1000 Sturzflug ging. 111 nach einem Kabelbrand vor der 0 Innerhalb von 40 Sekunden, so ergab Küste Neuschottlands mit 229 Men- die Auswertung von Radardaten, sackte die schen an Bord in die Fluten. Maschine um 5000 Meter ab. Gut 100-mal Wie bei den vorangegangenen Flugzeug- Boeing 767-300ER. Wie EgyptAir 990 war schneller, als gewöhnliche Aufzüge von Abstürzen versammelten sich auch vergan- auch Lauda Air mit PW4000-Turbinen aus- höheren Stockwerken zur Lobby sinken, gene Woche verzweifelte Hinterbliebene gerüstet. Die Todesjets waren sogar als raste die Boeing 767-300ER („Extended im Ramada Plaza Hotel nahe dem Flug- Zwillinge mit den Produktionsnummern Range“) der Meeresoberfläche entgegen. hafen. Geistliche und Psychologen küm- 282 (EgyptAir) und 283 (Lauda Air) aus In etwa 5000 Meter Höhe zog der Jet wie merten sich um die Trauernden im „Heart- dem Boeing-Werk in Everett gerollt. auf einem Achterbahnkurs noch einmal bis break Hotel“, wie das Ramada inzwischen Was bisher über den EgyptAir-Absturz auf 7300 Meter hoch, um dann endgültig genannt wird. Was viele der Betroffenen bekannt wurde, ähnelt in der Tat auf fata- atlantikwärts zu stürzen. Etwa 3000 Meter neben dem Verlust ihrer Nächsten bewegt, le Weise der Lauda-Air-Katastrophe vor über dem Meer brachen Teile vom Alumi- umschrieb ein Mann aus Seattle, dessen acht Jahren. 15 Minuten nach dem Start in niumleib. Das Wrack riss 217 Menschen in Frau vier Angehörige verlor: „Wir wollen Bangkok – Lauda-Flug NG 004 war gera- den Tod. wissen, warum der Jet abstürzte!“ de auf 7500 Meter Höhe gestiegen – hatte Mit dem Absturz der EgyptAir-Maschi- Die Antwort liegt etwa 100 Kilometer sich die Schubumkehr (Thrust Reverser) ne am vorletzten Sonntag setzte sich eine südlich der Insel Nantucket in 80 Meter des linken Triebwerks ruckartig geöffnet. unheimliche Unglücksserie fort. Zum drit- Tiefe auf dem Meeresgrund. In einem Ge- Diese Bremshilfe darf eigentlich nur bei ten Mal innerhalb von nur drei Jahren war biet, in dem Schiffe der U. S. Coast Guard der Landung ausfahren und dient dann

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Werbeseite Technik dazu, einen Teil der Schubleistung der besonders gut an, und der reduzierte wiederum könne zu „Schäden an der Flug- Fahrtrichtung entgegenzulenken. Schub müsste auch dem Reverser einen zeugstruktur und möglicherweise raschem Der jähe Bremsruck an der linken Fläche Teil seiner Wirkung genommen haben. Druckverlust“ im Flugzeug führen. Auch drehte den Lauda-Jet in Rückenlage. 29 Se- Sollte sich aber etwa der intakte Rever- sei „eingeschränkte Lenkfähigkeit“ zu be- kunden nach dem Reverser-Ruck, so erga- ser des rechten Triebwerks ohne jede Vor- fürchten, wenn das Leitwerk beschädigt ben später Auswertungen des Voicerecor- warnung geöffnet haben, so könnte das die wird. ders, zerbarst der Jet in der Luft. Crew gleichwohl so überrascht haben, dass Ob das Desaster vor der US-Küste Nach dem Lauda-Absturz hatte die FAA mögliche Ruderkorrekturen zu spät kamen tatsächlich durch Kalamitäten mit der mehrere Sicherheitsauflagen erlassen, um – und die Maschine über eine Tragfläche Schubumkehr verursacht wurde, werden ein neuerliches Schubumkehr-Desaster abkippte. die Ermittlungen der NTSB-Fahnder zei- auszuschließen. Alle mit PW4000-Trieb- Der eigenartige Berg-und-Tal-Kurs, den gen. Für Boeing, den größten Flugzeug- das Flugzeug laut Radardaten dann voll- bauer der Welt, bedeutet das Unglück in führte, wäre vermutlich dem verzweifel- jedem Fall einen weiteren Imageverlust. ten Bemühen der Piloten zuzuschreiben, Einen Tag bevor die EgyptAir-Maschine die Maschine abzufangen. Wie bei einer abstürzte, erregte die amerikanische Öf- Achterbahn, wo die stärksten Kräfte beim fentlichkeit die Nachricht, dass Boeing 19 Übergang aus der Tal- in die Bergauf-Fahrt Jahre lang eine Studie unter Verschluss ge- wirken, hatte das Abfangmanöver ernorme halten hatte, die vor Überhitzungsproble- Belastungen zur Folge, die womöglich zu men im Rumpftank von Jumbos warnte. dem Bruch von Teilen der Flugzeugstruk- Genau diese Schwäche wurde der TWA tur geführt haben. 800 zum Verhängnis, als sich Resttreibstoff Dass es auch nach der zusätzlichen Si- im Rumpftank erhitzte und vermutlich cherung der Reverser als Konsequenz aus durch Funkenschlag entzündete. Hätte dem Lauda-Air-Unglück noch Probleme Boeing die Tank-Studie nicht zurückge- mit der Schubumkehr von PW4000-Turbi- halten, warfen Politiker dem Konzern dar- nen gab, belegt eine im September erlas- aufhin vor, könnten die Passagiere von

REUTERS sene FAA-Erklärung. Darin warnt die Luft- TWA 800 noch leben. Trümmer der Lauda-Air-Boeing (1991) fahrtbehörde vor einem möglichen Öffnen Einen Tag nach dem EgyptAir-Unglück Jäher Ruck beim Steigflug der Reverser im Flug, ausgelöst durch musste Boeing zudem einräumen, dass defekte Sicherungsstifte. Feuchtigkeitsabweiser im Cockpit von werken bestückten Boeing-Muster, darun- In einem weiteren Schreiben zur Schub- 747-, 757-, 767- und 777-Jets nicht den Feu- ter auch 747-Jumbos, mussten mit einer umkehr vom 19. Oktober weist die FAA erschutznormen entsprechen. Die Auslie- zusätzlichen Schubumkehr-Sicherung ver- auf Probleme mit Reverser-Führungsschie- ferung von 34 Jets wurde sofort gestoppt, sehen werden. nen an PW4000-Turbinen der Boeing-Mo- die Umrüstung hunderter bereits ausgelie- Die EgyptAir-Maschine wurde 1993 mit delle 747-400, 767-300 und 767-200 hin. ferter Flugzeuge dürfte folgen. einer solchen Reverser-Sicherung ausge- Laut FAA können die Schienen, in denen Boeing, so fasste der Herausgeber des stattet. Beim Abflug in Los Angeles hatte die beweglichen Teile der Schubumkehr US-Fachblatts „Commercial Aviation Re- die Crew den Reverser des linken Trieb- laufen, ausschlagen, was unter Umständen port“ die jüngste Pannenserie zusammen, werks sogar deaktiviert, da er defekt war. zur Folge hat, dass zwei metallene Halb- entpuppe sich als ein Unternehmen, „das Die Piloten durften nach internationalen schalen von etwa zwei Quadratmeter Grö- nichts mehr auf die Reihe kriegt“. Regularien dennoch starten, weil Landun- ße aus dem Triebwerk herausbrechen. Das Ulrich Jaeger gen auf hinreichend langen Bahnen auch ohne Schubumkehr als sicher gelten. Trotz der von der FAA in den letzten Luftströmung an der Flugzeugtragfläche (Auftrieb) Jahren erzwungenen Reverser-Modifika- tionen halten Experten es für plausibel, dass B-767-Jet Nummer 282 das Schicksal Mantelstromtriebwerk seines in Thailand zerborstenen Zwillings bei normalem Schub... 283 teilte. Der jähe Sturzflug der Egypt- Mantelstrom Air-Maschine deutet auf eine abrupt auf- Fatale Bremskräfte getretene, dramatische Lageveränderung Hauptluftstrom Mantelstromtriebwerke erzeugen einen Teil des Jets. ihres Schubs, indem einströmende Luft um Beim Lauda-Air-Unglück war es beson- die heiße Brennkammer gelenkt und nach ders fatal, dass der Reverser-Ruck im Steig- hinten gepresst wird. flug, also bei hoher Triebwerksleistung pas- Auftriebsverlust sierte. Diese sorgte für einen entsprechend Reverser geschlossen starken Bremsstrom aus der Schubumkehr. durch Schubumkehr Obwohl die Piloten durch ein Warnlicht minutenlang auf ein mögliches Schubum- ...und mit kehr-Problem vorbereitet waren, hatten sie, aktivierter Schubumkehr Öffnet der Pilot nach der Lan- wie später Simulationen des Unglücks im dung die Schubumkehr, so wird der Windkanal zeigten, keine Chance, die Mantelstrom gegen die Fahrtrichtung Maschine in der Luft zu halten. gelenkt und bremst den Jet ab. Im Flug Die EgyptAir-Maschine hingegen hatte führt die Öffnung der so genannten Rever- am vorletzten Sonntag bereits ihre Reise- ser zu einer Drehung des Jets um seine flughöhe erreicht und flog ihren Ostkurs Hochachse und einem schlagartigen Auf- mit etwa 900 Kilometern pro Stunde – was triebsverlust an der Tragfläche. Beide Mo- die Absturzgefahr an sich verringerte: Die mente zusammen drehen eine Maschine Ruder sprechen während des Reiseflugs Reverser geöffnet binnen Sekunden in Rückenlage.

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FUSSBALL Häppchen in der Baracke Rosenborg Trondheim, Geheimfavorit in der Champions League und Bayern Münchens nächster Gegner, steht für den Aufschwung des norwegischen Fußballs. Am Sonntag spielt die deutsche Nationalelf in .

er Tag, an dem für Nils Arne Eggen verdreher klang so abschätzig, als wollte er „das Unmögliche möglich“ wurde, ein für alle Mal klarstellen: Zwerge wie Dwar der 4. Dezember 1996. die von der Packeisgrenze haben im ex- An diesem lausig kalten Mittwochabend klusiven Champions-League-Zirkel nichts gastiert der Trainer des norwegischen Fuß- verloren. ballclubs Rosenborg Trondheim mit sei- Inzwischen hat der wendige Fußball- nem Team im San Siro Stadion. Trondheim Kaiser seine Meinung korrigiert. Rosen-

Norwegische Nationalspieler (nach dem 2:1 gegen

Michael Meier, Manager der Westfalen, über die Lehrstunde. Inmitten einer Gesellschaft, in der sich die reichen Clubs jedes Jahr eine neue Welt- auswahl zusammenkaufen, wirkt Rosen- borg Trondheim wie ein Relikt aus der Gründerzeit des Europapokals. Geradezu paradox mutet an, dass der norwegische Fußball ausgerechnet in jenem Jahrzehnt erstrahlt, in dem viele Experten weisma- chen wollen, dass internationale Konkur- renzfähigkeit den Erwerb millionenteurer Stars voraussetzt. In einer Zeit, in der Bayern Münchens

M. KIENZLER / BONGARTS Vizepräsident Karl-Heinz Rummenigge Rosenborg-Stürmer Carew (r.)*: „90 Minuten Vollgas und Spaß dabei“ eine Verdopplung der TV-Gelder for- dert, „um uns in den Top Five in Euro- muss beim AC Mailand gewinnen, um die borg, in der europäischen Edelliga Ende pa halten zu können“, lehrt Trondheim, nächste Runde der Champions League zu des Monats Gruppengegner des FC Bay- dass ein Jahresbudget von rund 25 Mil- erreichen – die Buchmacher grinsen mit- ern, wird von Beckenbauer längst als „Ge- lionen Mark (FC Bayern: rund 210 Mil- leidig jeden Wettnarren an, der sein Geld heimfavorit“ geachtet. lionen Mark) für Spitzenfußball ausrei- auf die Skandinavier setzt. Doch was pas- Schließlich haben nur wenige Mann- chen kann. siert? Rosenborg siegt 2:1. schaften die zweite Runde der Champions Und das scheint andere Vereine zu beflü- „Rosenheim Trondborg“, höhnte der League so souverän erreicht wie die Nor- geln: Vizemeister Molde FK schaltete in der RTL-Sachverständige Franz Beckenbauer weger. Prominentestes Opfer ihrer offen- Qualifikation zur Champions League den damals im Fernsehstudio, und sein Wort- siven Spielkultur: der Titelträger von 1997, spanischen Spitzenclub Real Mallorca aus. Borussia Dortmund. „Die ziehen das Visier Auch die Nationalmannschaft hat sich * Im Zweikampf mit dem Dortmunder Jürgen Kohler runter, geben 90 Minuten Vollgas und ha- Respekt verschafft: Zweimal haben die beim 3:0-Sieg am 19. Oktober im Westfalenstadion. ben auch noch Spaß dabei“, schwärmt Norweger in den beiden vergangenen Jah-

300 der spiegel 45/1999 WEREK Brasilien bei der WM 1998): Überwintern auf dem mediterranen Stützpunkt

ren Brasilien bezwungen. Und vor wenigen sche Fußball-Bund Mitglieder zählt (6,2 Rosenborg Trondheim hat sich trotz al- Wochen qualifizierte sich das Team ohne Millionen), doch die Ressourcen werden ler Zugeständnisse an den Zeitgeist – im erkennbare Mühe zum ersten Mal für eine optimal genutzt. Wie wohl in keinem an- nächsten Jahr wird das Lerkendal-Stadion Europameisterschaft. deren Land wurde die Ausbildung für Fuß- für 100 Millionen Mark in eine reine Fuß- Da kommt das Freundschaftsspiel am baller in den letzten zehn Jahren verbes- ballarena umgebaut – Erdnähe bewahrt. Sonntag gegen Titelverteidiger Deutsch- sert. Der Verband engagierte mehr als Die Geschäftsstelle ist in einer einstöckigen land gerade recht. , jahre- ein Dutzend hauptberuflicher Trainer, die Baracke untergebracht, die von den deut- lang Abwehrchef bei Werder Bremen und sich zwischen Oslo und Hammerfest aus- schen Besatzern im Zweiten Weltkrieg als seit 1994 Manager von Rosenborg Trond- schließlich um die Förderung von Talen- Proviantlager errichtet worden war. heim, orakelt: „Ich wäre überrascht, wenn ten kümmern. Rune Bratseth schenkt Kaffee aus einer die Deutschen in Oslo gewinnen.“ Der Plan geht auf. Von landesweit Thermoskanne nach und bedient sich am Zwar leben in Norwegen deutlich weni- 300000 Spielern sind mehr als zwei Drittel Büfett. Gereicht werden Roastbeefhäpp- ger Menschen (4,4 Millionen), als der Deut- unter 15 Jahre alt. Selbst nördlich des chen und Obstsalat, übrig geblieben vom Polarkreises können die Kicker das ganze Vorabend beim Champions-League-Spiel Jahr trainieren – Norwegen leistet sich gegen Boavista Porto. Der Manager hat mittlerweile mehr als 60 Großfeldhallen sich an einem großen Tisch im Gemein- mit Kunstrasen. schaftsraum niedergelassen, dem Wohn- Um den langen Wintern zu entfliehen, zimmer des Vereins. Morgens um halb sie- hat sich der Fußballverband gar einen me- ben wird der „husrom“ aufgeschlossen, ge- diterranen Stützpunkt errichtet. In La gen Mitternacht sperrt ihn der Hausmeister Manga bei Alicante entstand eines der wieder zu. größten und modernsten Trainingszentren Hier hocken sie und reden über Fußball: Europas. Alle norwegischen Erstligisten Spieler, Vereinsbosse, Autogrammjäger, können die Anlage nutzen. Auch ausländi- Schulkinder, Rentner und Journalisten. sche Gäste sind gern gesehen. Alex Fergu- Bratseth deutet auf die Grüppchen. „Ro- son, der Coach von Champions-League- senborg-Denken“, sagt er knapp. Was er

A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN Gewinner Manchester United, zeigte sich damit meint: sieben Tage in der Woche ein Rosenborg-Manager Bratseth, Trainer Eggen nach einem Trainingslager beeindruckt: offenes Haus zu haben. Und sieben Tage Ministeramt abgelehnt „Wir kommen wieder.“ in der Woche auf dem Boden zu blei-

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Eggen gilt als Sturkopf. Manager Bratseth flachst, der Trainer diskutiere nicht, son- dern er beiße, was ihn auf den Bei- namen „Pit Bull“ brachte. Doch Bratseths Sarkasmus wirkt leicht gekünstelt. Denn die wichtigsten Prinzipien Eggens vertritt der Manager wie seine eigenen. So wird das Vollprofitum in Trondheim als Irrweg der Evolution betrachtet. Ein Drittel ihrer freien Zeit sollen die Spieler ihren Studien oder erlernten Berufen nach- gehen. „Fußballer“, nölt Eggen, „werfen sich doch sonst nach dem Training nur aufs Sofa und schauen schlechte Filme.“ Die Mehrheit der Mannschaft hält sich an den Ukas. Kapitän betätigt sich nebenher als Sozialarbeiter, Mittel- feldspieler Fredrik Winsnes studiert Medi- zin, und Stürmer Mini Jakobsen schafft bei einer TV-Produktionsgesellschaft. Noch auffälliger als die Teilzeitarbeit markiert den Trondheimer Sonderweg al- lerdings der weitgehende Verzicht auf Aus- länder. 22 Spieler stehen momentan im Ro- senborg-Kader – bis auf den isländischen

FOTOS: A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN FOTOS: Ersatztorhüter stammen alle aus Norwe- Trondheimer Profis: Schuhe putzen und sich dazu bekennen gen. Zum Vergleich: Glasgow Rangers lief vorige Woche in Mün- ben. Wer für Rosenborg stürmt, putzt sei- chen mit nur einem ne Fußballschuhe selber und bekennt sich schottischen Profi auf, dazu wie Torjäger John Carew: „Sonst Chelsea London trat ge- würde ich sie nicht tragen.“ gen Hertha BSC mit Die Autos, die die Spieler vor der Ba- zwei Engländern an. racke abgestellt haben, könnten auch auf Eggen hebt seine dem Personalparkplatz der Hafenpolizei Schultern, als bitte er von Trondheim stehen: Golf, Passat,Vectra. um Verständnis: keine Zwar zahlt kein Fußballverein in Nor- andere Wahl. „Auslän- wegen so gut wie Rosenborg, die Spie- der, die uns voranbrin- ler kassieren im Schnitt ein Grundgehalt gen“, sagt er, „kommen von 200000 Mark. Aber das entspricht in nicht nach Norwegen.“ Deutschland der Gage von manchem Dritt- Sein bedachter Blick auf ligakicker. „Gibt es einen vernünftigen den Nachwuchs im eige- Grund“, fragt Nils Arne Eggen spitz, „war- nen Land ist deshalb so um ein Fußballer doppelt so viel erhält wie Rosenborg-Clubheim: Sieben Tage ein offenes Haus etwas wie der Sieg der der Ministerpräsident?“ Vernunft in einem Ge- Da kommt der Trainer in seinem kaum des früheren Premiers Thorbjörn Jagland, werbe, in dem sich Manager vermehrt über zehn Quadratmeter großen Büro so richtig ein Ministeramt zu übernehmen, hat ihn die „Söldnermentalität“ ihrer Profis be- in Rage. Er senkt seinen Kopf, so dass sein fortlocken können. klagen. Kinn eine dicke Falte wirft, und schaut her- Es ist diese Kontinuität, die den Stil und So lamentiert der Dortmunder Michael ausfordernd über den Rand seiner Lese- die Spielweise des Vereins geprägt haben. Meier: „Die Identifikation mit dem Verein brille. Ein „sozialer Demokrat“ sei er, Eggen ist ein Pedant. Beim täglichen Trai- hat gelitten.“ Und das habe Folgen: Die bekräftigt Eggen, und so ist es ihm ein ning triezt er seine Kicker mit einstudier- Mentalität sei entscheidend dafür, „ob Gräuel, wenn Vereine die Spieler mit Geld ten Angriffsvarianten wie ein Lateinlehrer man ganz großen Erfolg hat oder mittel- zuschmeißen. seine Klasse mit dem Konjugieren unre- mäßigen“. Ronaldo in Mailand? David Beckham in gelmäßiger Verben. Rosenborg hat ein anderes Problem. Manchester? Nicolas Anelka in Madrid? „Schattentraining“ nennt er das.Auf die Denn immer wieder werden die Leis- „Nein danke“, brummelt Eggen, „die ha- Idee hat ihn einst Hennes Weisweiler ge- tungsträger von ausländischen Vereinen ab- ben doch die Motivation verloren, sich zu bracht. In den siebziger Jahren reiste Eggen geworben. Seit Anfang 1997 verließen sie- bewegen.“ zu Bildungszwecken nach Deutschland, um ben der wichtigsten Spieler den Club. Kürzlich klingelte bei ihm das Telefon. an Vorlesungen des Trainergurus teilzu- Einer verabschiedete sich, typisch für Der FC Liverpool war dran. Eggen hörte nehmen. Und weil er von dessen Traktat Trondheimer Umgangsformen, mit ei- sich die Offerte an und lehnte dankend ab „Der Fußball“ so angetan war, übersetzte ner noblen Geste. Obwohl sein Wechsel – er ist nicht kompatibel. Denn er verach- er es ins Norwegische, genauso wie die zu Celtic Glasgow beschlossene Sa- tet Clubs, die eine Mannschaft zusam- Schrift „Neue Fußball-Lehre“. Im Okto- che war, verlängerte sei- menkaufen. Er will eine Mannschaft zu- ber hat Eggen ein eigenes Buch herausge- nen Vertrag bei Rosenborg noch einmal sammenbauen. bracht: „Auf gutem Fuß“ erzählt die Er- um fünf Jahre. Der Stürmer verzichtete Mit zwei kurzen Unterbrechungen ar- folgsstory von Rosenborg. 25 000 Exem- auf ein Handgeld der Schotten – dafür er- beitet Eggen deshalb seit 1978 bei Rosen- plare seien schon verkauft, erwähnt er hielt Trondheim sechs Millionen Mark borg Trondheim – nicht mal das Angebot beiläufig, mithin ein Bestseller. Ablöse. Michael Wulzinger

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die Nummer 45 der Weltrang- liste, ein Weltmeister zweiter Klasse? Khalifman: Nein! Wieso auch? Das ist im Schach wie im Fuß- ball: Vor, während und nach der letzten Weltmeisterschaft waren sich alle einig, dass Bra- silien die stärkste Elf hat – aber Frankreich ist Weltmeister geworden. Zweifelt jemand daran? SPIEGEL: Frankreich und Brasi- lien haben aber gegeneinander gespielt. Sie mussten weder ge- gen Kasparow noch gegen Ti- telverteidiger Anatolij Karpow antreten. Khalifman: Ich kann doch nie- manden zwingen, an der WM teilzunehmen. Es ist schade, dass sie nicht am Start waren, aber viele Spitzenspieler wa- ren in Las Vegas dabei – und ich habe gewonnen. SPIEGEL: Trotzdem behaupten sowohl Kasparow als auch Kar- pow, der wahre Weltmeister zu sein. Sogar das amerikani-

C. AUGUSTIN sche Schach-Phantom Bobby Schachspieler Khalifman: „Brasilien hat die stärkste Fußballelf, aber Weltmeister ist Frankreich“ Fischer, dem 1975 der Titel ab- erkannt wurde, weil er nicht zum Finale erschien, erhebt Anspruch auf die WM-Krone. SCHACH Khalifman: Bobby Fischer ist ein Fall für die Ärzte – so leid es mir tut. Kasparow hat nie ein WM-Match verloren, das stimmt. „Meine Chance genutzt“ Aber er hatte ja auch seit 1995 nie eine Chance dazu. Er hat seitdem an keiner Der russische Weltmeister Alexander Khalifman über den offiziellen WM teilgenommen. Wenn er meint, der Veranstalter sei nicht ver- sportlichen Wert seines Titels, die schwache trauensvoll, dann ist das sein Problem. Kas- Zahlungsmoral des Verbands und die Bedeutung des Internets parow … SPIEGEL: … der 1993 aus der Fide ausge- Alexander Khalifman, 33, gewann Ende die Weltmeisterschaften gewinnt. Und ich treten ist … August in Abwesenheit der beiden besten habe Ende August die Weltmeisterschaft Khalifman: … will seine eigene Weltmeis- Schachprofis die Weltmeisterschaft in Las des Weltschachverbands Fide in Las Vegas terschaft organisieren und schafft es nicht. Vegas. Obwohl in der internationalen gewonnen. Und Karpow ist schon lange nicht mehr so Rangliste nur an Position 45 geführt, be- SPIEGEL: Bei der die zwei besten Profis der gut wie früher. Sein letztes Top-Ergebnis, siegte er bei dem vierwöchigen Turnier- Welt, Kasparow und der Inder Viswanathan der WM-Sieg über Gata Kamsky, ist be- marathon nacheinander sieben Spieler. In Anand, nicht mitgespielt haben. Sind Sie, reits über drei Jahre her. Danach hatte er seiner Heimat St. Petersburg keinen großen Erfolg mehr. Er unterhält Khalifman eine spielt nur noch auf einem sehr Schachschule, die vor allem moderaten Level. begabte Kinder fördern will. SPIEGEL: Karpow hat beim In- ternationalen Sportgericht in SPIEGEL: Herr Khalifman, wer Lausanne Klage eingelegt ge- ist der beste Schachspieler? gen die Wertung der Weltmeis- Khalifman: Garri Kasparow. Er terschaft. Fürchten Sie, dass ist ein Genie, der beste aller Ihnen der Titel wieder ab- Zeiten. erkannt wird? SPIEGEL: Aber Sie sind Welt- Khalifman: Karpows Gründe meister. sind lächerlich. Mehr will ich Khalifman: Natürlich. Im Lexi- dazu nicht sagen, schließlich kon steht: Weltmeister ist, wer verfügt er über große juristi- sche Erfahrung. SPIEGEL: Sie könnten alle Kriti- * Am 3. Mai 1997 im Spiel gegen den

IBM-Schachcomputer Deep Blue in New AP ker zum Schweigen bringen, York. Konkurrent Kasparow*: „Hilfe von Mega-Pentium-Monstern“ wenn Sie in den nächsten Mo-

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Werbeseite Sport naten gegen Kasparow oder Karpow spie- ist arm. Niemand weiß so recht, woher das len. Werden Sie das tun? viele Geld stammt, das er in die Fide steckt. Khalifman: Das Problem im internationalen Stört Sie das? Schachsport ist derzeit, dass man nie si- Khalifman: Wenn es um viel Geld geht, cher sein kann, ob ein angekündigtes Tur- kann man doch nie richtig nachvollziehen, nier auch tatsächlich stattfindet. Oft fin- aus welchen Quellen es kommt. Und es ist den sich keine Sponsoren – und schon wird völlig kindisch von Kasparow, wenn er sagt, der Wettbewerb kurzfristig abgesagt. Mein er spiele nur für Geld, dessen Herkunft ge- Turnierplan fürs nächste Jahr ist deshalb klärt ist. Es ist Aufgabe des Staates her- noch nicht ganz fertig. Ich würde natür- auszufinden, ob da jemand das Gesetz lich gern gegen diese beiden Großen spielen, es wäre bestimmt in- teressant. SPIEGEL: In Las Vegas wurde nach einem Knock-out-System ge- spielt. Wo liegen die Unterschiede zum klassischen System, bei dem Titelverteidi- ger und Herausforde- rer 24 Partien spielen müssen? Khalifman: Es kommt

auf Kondition an, Kon- AFP / DPA zentration und Tempo. Khalifman in Las Vegas*: Kondition, Konzentration, Tempo Früher hatte es Kaspa- row leichter. Gemeinsam mit einem Bera- bricht. Für uns Schachspieler ist es nur gut, terteam nahm er sich ein halbes Jahr Zeit, dass nun Turniere gesponsert werden. um sich mit Hilfe von Mega-Pentium- SPIEGEL: Vielleicht bekommen Sie das rest- Monstern auf alle möglichen Eröffnungen liche Preisgeld in kalmückischem Öl oder des Gegners vorzubereiten. Da spielte in Kaviar ausgezahlt? nicht Mann gegen Mann. In Las Vegas war Khalifman: Das glaube ich kaum. Die Fide das anders. Man konnte anhand des Tur- ist eine internationale Organisation, die in nier-Tableaus nur vermuten, gegen wen Lausanne registriert und vom Internatio- man in der dritten oder vierten Runde spie- nalen Olympischen Komitee anerkannt ist. len muss, man wusste es nicht. Das ist viel Ich bin optimistisch, dass ich zu meinem objektiver. Ich habe meine Chance genutzt. Preisgeld komme. SPIEGEL: Als WM-Sieger stehen Ihnen SPIEGEL: Im Veranstaltungssaal der WM in 482705 Dollar an Preisgeld zu. Hat Fide- Las Vegas verloren sich selten mehr als Präsident und Multimillionär Kirsan 20 Zuschauer. Dagegen wurde auf die Iljumschinow Ihnen das Geld schon über- Homepage täglich fast zwei Millionen Mal wiesen? zugegriffen. Ist das die Zukunft des Khalifman: Bisher erst ungefähr zehn Pro- Schach? zent. Spieler wie Wladimir Kramnik oder Khalifman: Schach ist die Internet-Sportart Wladimir Akopian haben noch gar nichts schlechthin: Zwei Akteure, der eine, sagen gekriegt. Es heißt, Fide habe zurzeit tech- wir, in Hamburg und der andere in Sydney, können im Internet eine Schachpartie „In fünf Jahren wird nur noch ein gegeneinander austragen. Und auf der Turnier gespielt wie bisher – ganzen Welt können Leute das Spiel live verfolgen, sich in Chat-rooms darüber un- der Rest findet im Internet statt“ terhalten. So etwas ist im Tennis oder Fuß- ball unmöglich. nische Probleme, aber wir bekämen das SPIEGEL: Was kann das für die internatio- Geld so schnell wie möglich. Was immer nale Turnierszene bedeuten? das auch bedeutet. Khalifman: In fünf Jahren wird vielleicht SPIEGEL: Und nun? noch ein Turnier gespielt wie bisher, höchs- Khalifman: Meine Kollegen und ich haben tens zwei – der Rest findet im Internet der Fide einen Brief geschrieben. Darin statt. steht: Wir haben alle Vertragspunkte er- SPIEGEL: Büßt das Schachspiel nicht dann füllt, jetzt seid ihr am Zug. Kriegen wir in eine Dimension ein: jene Spannung, die Kürze nicht unser Preisgeld, gehen wir vor entsteht, wenn sich die beiden Kontrahen- Gericht. ten in die Augen blicken? SPIEGEL: Iljumschinow ist Staatschef der Khalifman: Ein Schachspieler sollte sich so- russischen Republik Kalmückien. Das Volk wieso auf das Brett konzentrieren und nicht auf sein Gegenüber. Schach ist ein * Bei seinem WM-Finalsieg gegen den Armenier Wladi- Kampf der Gehirne. Nur darauf kommt mir Akopian am 28. August. es an. Interview: Maik Großekathöfer

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Auskunft zum Abonnement Fax 9400506 Redaktion: Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, NEW DELHI Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi Telefon: (040) 3007-2700 Dietmar Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexan- 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 Fax: (040) 3007-2898 der Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, E-Mail: [email protected] Bölke; Berliner Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) Redaktion: Markus Dettmer, Oliver Gehrs, Christian Reiermann, 2217583, Fax 3026258 Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Ulrich Schäfer Postfach, 6002 Luzern, PARIS Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, E-Mail: [email protected] PEKING Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Abonnement für Blinde von Ilsemann, Reinhard Krumm, Claus Christian Malzahn, PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene Zuber. Autoren, RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, Erich Wiedemann 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. Abonnementspreise Stampf (stellv.); Jürgen Petermann. Redaktion: Dr. Harro Albrecht, (003906) 6797522, Fax 6797768 Inland: Zwölf Monate DM 260,– Philip Bethge, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul, SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. Autoren, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. Europa: Zwölf Monate DM 369,20 KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, (0065) 4677120, Fax 4675012 Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, TOKIO Dr.Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Lothar Gorris, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 werden anteilig berechnet. Dr.Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim WARSCHAU Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Kronsbein, Reinhard Mohr, Anuschka Roshani, Dr. Johannes Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia WASHINGTON Michaela Schießl, Dr. Stefan Simons, 1202 National ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Dr. Jürgen 3473194 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Neffe, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. 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Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoff- Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, mann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea E-Mail: [email protected] Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Name, Vorname des neuen Abonnenten Michael Walter, Stefan Wolff Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödi- ger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland PLZ, Ort TITELBILD Thomas Bonnie; Maria Hoffmann, Stefan Kiefer, Oliver INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Peschke, Monika Zucht Wiedner, Peter Zobel Ich möchte wie folgt bezahlen: KOORDINATION Katrin Klocke REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND LESER-SERVICE Catherine Stockinger BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, mation GmbH & Co.) ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12 Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4jährlich DM 65,– BONN Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington 26703-20 Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Bankleitzahl Konto-Nr. DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfäl- Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 tigungen auf CD-Rom. ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Geldinstitut Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 FRANKFURT A. M. Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel.(069) 9712680, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Hannover, Tel. 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312 der spiegel 45/1999 Chronik 30. Oktober bis 5. November SPIEGEL TV

SAMSTAG, 30. 10. AFFÄRE Der französische Wirtschafts- und MONTAG Finanzminister Dominique Strauss-Kahn 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 AUFRUHR In der Berliner Vollzugsanstalt tritt wegen Korruptionsverdachts zurück. Tegel kommt es zu einer Messersteche- SPIEGEL TV REPORTAGE rei, bei der fünf Insassen verletzt werden. AMOKLAUF 2 Im amerikanischen Honolulu Die Grenzer, die die Mauer öffneten erschießt ein Mann aus Verärgerung Bornholmer Straße, 9. November 1989 SONNTAG, 31. 10. über seine Kündigung sieben Arbeits- UNGLÜCK Ein Passagierflugzeug vom Typ kollegen. Boeing 767 der EgyptAir stürzt nach dem Start vom New Yorker John-F.-Kennedy- MITTWOCH, 3. 11. Flughafen ab – keiner der 217 Insassen WISSENSCHAFT Mainzer Forschern gelingt überlebt. es, den Nachweis der Rinderseuche BSE an einem lebenden Tier zu erbringen. FORMEL 1 Das letzte Rennen der Saison und damit den Weltmeistertitel gewinnt VERBRECHEN Der designierte argentini- der Finne Mika Häkkinen mit einem sche Präsident de la Rúa weigert sich, die McLaren-Mercedes. internationalen Haftbefehle gegen 98 Mitglieder der ehemaligen Militärjunta KIRCHE Katholiken und Lutheraner unter- zeichnen am Reformationstag eine ge- vollstrecken zu lassen. SPIEGEL TV meinsame Erklärung zur Rechtfertigungs- Maueröffnung in Berlin DONNERSTAG, 4. 11. lehre, die den alten Theologenstreit um die Vergebung der Sünden beenden soll. GESCHÄFT Vertreter der deutschen Wirt- Als am Abend des 9. November 1989 ein schaft unterzeichnen während des China- eher untergeordneter Stasi-Offizier auf MONTAG, 1. 11. Besuchs von Bundeskanzler Schröder in eigene Faust den Befehl zur Öffnung des Peking mit chinesischen Unternehmen Schlagbaums gab, konnte ein SPIEGEL- AMOKLAUF 1 Der 16 Jahre alte Martin TV-Kamerateam die Vorgänge exklusiv Peyerl erschießt im oberbayerischen Bad Abkommen im Gesamtwert von 5,9 Mil- liarden Mark. dokumentieren. Was ist aus den Gren- Reichenhall vier Menschen und verletzt zern von damals geworden, wie leben sie fünf weitere zum Teil schwer, bevor er GESUNDHEIT Der Bundestag verabschiedet heute, zehn Jahre danach? Wie haben sie Selbstmord begeht. die Gesundheitsreform. jene Nacht in Erinnerung? Und: Was ge- schah damals wirklich? ATOMWAFFEN Russland und die USA FINANZEN Die Europäische Zentralbank in eröffnen in der Nähe von Moskau ein Frankfurt erhöht den Leitzins von 2,5 auf von den Amerikanern finanziertes Si- DONNERSTAG 3 Prozent, um einer möglichen Inflation 22.05 – 23.00 UHR VOX cherheitszentrum, um russische Offiziere vorzubeugen. für eine wirksame Bewachung von Atom- SPIEGEL TV EXTRA waffenlagern auszubilden. GESCHICHTE Die umstrittene Wehrmachts- ausstellung des Hamburger Instituts für Traumschiff mit kleinen Fehlern DIENSTAG, 2. 11. Sozialforschung wird wegen diverser Vor kurzem startete das neue Flaggschiff Fehler bei der Zuschreibung von Bildern der Reederei Hapag-Lloyd, die MS „Eu- URTEIL In einem Revisionsverfahren vorerst nicht mehr gezeigt. ropa“, zu seiner ersten Kreuzfahrt. Ein spricht das Kieler Landgericht den liba- schwimmendes Luxushotel für mehr als nesischen Angeklagten Safwan Eid vom FREITAG, 5. 11. 400 Gäste. Doch die Werft in Helsinki Vorwurf der schweren Brandstiftung frei hatte den Fünf-Sterne-Dampfer zu spät – bei dem Feuer in einem Lübecker Asyl- INDIEN Papst Johannes Paul II. beginnt abgeliefert. Als die ersten Passagiere an bewerberheim waren 1996 zehn Men- trotz schwerer Hindu-Proteste einen Bord gingen, wurde noch gehämmert. schen umgekommen. viertägigen Besuch in Indien. SAMSTAG 20 Jahre nach Besetzung der US- 22.15 – 0.20 UHR VOX Botschaft in der iranischen Haupt- stadt Teheran zerreißt ein islami- SPIEGEL TV SPECIAL scher Fanatiker die amerikani- People's Century – Das Jahrhundert sche Flagge mit seinen Zähnen. Der totale Krieg und die Folgen Der Zweite Weltkrieg verwischt den Unterschied zwischen Zivilisten und Sol- daten.

SONNTAG 22.45 – 23.30 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN „Wie war ich, Deutschland?“ – eine Wo- che aus dem wahren Leben des Bundes- kanzlers; Warum Kinder zu Killern wer- den – ein Psychogramm des Amokschüt- zen aus Bad Reichenhall; Führerschein für Bakschisch – der florierende Fahr- schulmarkt in Berlin. DPA

313 Register

Gestorben Heinrich Seewald, 81. Der promovierte Historiker brachte als einer der ersten Ver- Martin Hellberg, 94. Der Schauspieler, leger zeitgeschichtliche Bücher in der Bun- Filmregisseur, Theaterintendant und Schrift- desrepublik heraus. Sein 1956 in Stuttgart steller konnte mehrere Klaviaturen bedie- gegründeter Verlag spezialisierte sich nen. Der umtriebige Pastorensohn, der 1942 zunächst darauf, Erin- von den Nazis aus dem Dresdner Theater nerungen und Visionen verjagt wurde, in den fünfziger Jahren in der von Politikern wie DDR als einer der mächtigen Männer in Ba- Franz Josef Strauß, Er- belsberg galt, baute seine Karriere auf vie- hard Eppler oder Hel- lerlei Talente auf: So glänzte er in der Rol- mut Schmidt zu ver- le des Goethe im Film öffentlichen. Seewald „Lotte in Weimar“, wollte „das offizielle schuf als Regisseur bei politische Leben um der Defa 15 Filme, vor oppositionelle Denk-

allem Klassikeradap- BLATT WESTFALEN anstöße bereichern“, tionen („Emilia Galot- stand aber bald auch ti“, „Kabale und Lie- für konservative bis reaktionäre Editionen be“), war Generalin- deutschnationalen Schrifttums. Er gründe- tendant der Dresdner te den rechten Verein „Konzentration De- Staatstheater und hin- mokratischer Kräfte“. Heinrich Seewald

HIPP-FOTO terließ der Nachwelt starb am 28. Oktober in Stuttgart. drei pathetische Me- moirenbände. Martin Hellberg starb am Rafael Alberti, 96. Er war der Letzte der 31. Oktober in Bad Berka bei Weimar. großen Dichter, die das „Goldene Zeital- ter“ der spanischen Lyrik prägten und Träu- Marianne Rosenbaum, 58. Umgeben von me wie Tragödien ihrer Heimat in Poesie „blutenden und gequälten barocken Heili- verwandelten. Der Sohn einer verarmten genfiguren“ verbrachte Marianne Rosen- Weinbauernfamilie ge- baum ihre Kindheit im Nachkriegsbayern. wann seinen ersten Li- Aus diesen Erinnerungen heraus hat die teraturpreis 1925, den Filmemacherin, die zunächst als Malerin letzten 1996. Wie sein begann und nach einem Filmstudium in Jugendfreund Federico Prag umsattelte, 1983 ihren ersten Kino- García Lorca brachte film gemacht: „Peppermint Frieden“ mit Alberti eine neue Mu- Peter Fonda in der Hauptrolle, der in sikalität und Leichtig- Schwarzweiß die Jahre bis 1950 nach- keit in die spanische zeichnet und mit dem Max-Ophüls-Preis Dichtung. Als über-

ausgezeichnet wurde.Autobiografisch, von zeugter Antifaschist AP „Wende“-Erlebnissen inspiriert, war auch trat er in jungen Jahren „Lilien auf der Bank“, den Rosenbaum der Kommunistischen Partei bei und galt 1996 mit ihrem Ehemann Gerard Samaan lange sogar als deren offizieller Dichter. Die drehte. Marianne Rosenbaum, die an der Franco-Diktatur überlebte Alberti in Italien Potsdamer Filmhochschule unterrichtete, und Argentinien. Sein Rang unter den Lyri- starb am 29. Oktober in München. kern des Jahrhunderts erklärt sich ebenso wie die enorme Popularität, deren er sich Hans-Joachim Preil, 76. Als Komikerduo nach der späten Heimkehr von 1977 in Spa- waren Preil & Herricht in der DDR un- nien erfreute, aus der sprachlichen Erneue- schlagbar. Rolf Herricht gab den Liebens- rungskraft und der emotionalen Intensität würdig-Naiven, Preil vor allem der frühen Lyrik. In seinem spa- dagegen durfte der nischen Geburtsort Puerto de Santa María ewig meckernde, bes- starb Rafael Alberti am 29. Oktober. serwisserische Ober- lehrer sein. Der Tod sei- Daisy Bates, 84. Sie gehörte 1957 zu den nes Partners vor 18 Jah- ersten schwarzen Bürgerrechtlern, die ver- ren nahm Preil so mit, suchten, für Schwarze das Recht einzukla- dass er nicht mehr als gen, eine bis dahin nur Weißen vorbehal- Komiker auftrat. Doch tene Schule in Little Rock (Arkansas) zu die auf CD gepressten besuchen. Um sie vor dem Hass der auf-

Wortduelle (alle stam- DPA gebrachten Weißen zu schützen, schickte men aus Preils Feder) Präsident Eisenhower sogar Armeetruppen finden noch heute ihr dankbares Publikum. nach Little Rock. Die spätere Journalistin Preil schrieb Bühnenstücke, inszenierte Bates wurde zum Symbol für schwarzen Shows für den Friedrichstadtpalast und Widerstand und als Menschenrechtsakti- gehörte 30 Jahre lang dem Ensemble des vistin mehrfach ausgezeichnet (Präsident DDR-Fernsehens an. Hans-Joachim Preil Clinton: „Eine Heldin“). Daisy Bates starb starb vergangenen Dienstag in Berlin. vergangenen Donnerstag in Little Rock.

314 der spiegel 45/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Al Gore, 51, US-Vizepräsident und einer der beiden demokra- tischen Präsidentschaftsbewer- ber, musste vergangene Woche viel Spott einstecken. Durch einen Artikel des Magazins „Time“ war ruchbar geworden, dass der immer irgendwie steif- leinern wirkende Vize sich von der sattsam bekannten Femini- stin und Bestsellerautorin Naomi Wolf („Promiscuities“) für ein saftiges Monatssalär von 15000 Dollar in Image-Fragen beraten ließ. Die Dame diagnostizierte,

der gehemmte Gore sei, in der FOTOS: AP ( li.); REUTERS ( re.) Sprache der Verhaltensforschung gesagt, ein Beta-Männchen, also allenfalls ein Helfertyp. Um das Oval Office zu erobern, müsse er sich aggressiv wie ein „Al- pha-Mann“ aufführen. So trat er denn auch zur Fernsehdis- kussion mit seinem demokratischen Mitbewerber Bill Bradley am 27. Oktober in Cowboy-Stiefeln (Lieblingsschuhwerk des Alpha-Manns Bill Clinton) und olivgrünem Anzug an und blieb, als Bradley nach Ende der Debatte bereits nach Hause gegan- gen war. „Ich bleibe, solange es noch Fragen gibt“, versprach er dem Publikum, „auch wenn die Kameras abgeschaltet sind.“ Gores Verwandlung zum Leitwolf setzte sich fort zu Halloween am 31. Oktober: grotesk und sanft. Da empfing er die Gäste sei- ner Halloween-Party im Kostüm der Cartoon-Figur „Under- dog“ und ließ die Muskeln spielen. Die Frau an seiner Seite, Tipper, 51, gab bescheiden die Comic-Partnerin „Polly Pure- bred“. Im vergangenen Jahr zu Halloween waren die Eheleu- te Gore noch wie Schwerstversehrte aufgetreten, Körper und Extremitäten vollständig mit Mullbinden bandagiert.

Ehepaar Gore in Halloween-Kostümen

Henning Scherf, 61, Bür- beiter tätig und neuerdings als Kolumnist Christian Ströbele, 60, Bundestagsabge- germeister und Regierungs- des Kölner Boulevardblatts „Express“. Dort ordneter der Bündnisgrünen, staunte nicht chef des Stadtstaates Bre- nimmt er unter der Überschrift „So sehe schlecht: Als er unlängst beim Wiesbadener men, machte sich um das ich es“ Stellung zu aktuellen Themen wie Bundeskriminalamt (BKA) um Prüfung Gemeinwohl verdient. Zwei 630-Mark-Jobs, Arbeitslosigkeit oder auch bat, ob in den Speichern auch sein Name Stunden radelte der passio- zu Schröders Position in der Partei. Jetzt zu finden sei, erhielt er Post vom Daten- nierte Pedalist für die TV- komme es darauf an, so Lothar Vosseler in schutzbeauftragten des Amtes. Gleich in Vorabendserie „Aus gutem seiner ersten Kolumne am 29. Oktober, vier Dateien erfuhr Ströbele, liege er ein, Hause“ durch die bremi- „dass die Partei hinter ihm steht“. Dazu darunter im Programm für Häftlingsüber- sche Innenstadt, die Kame- drücke er seinem Bruder ganz fest die Dau- wachung. Selbst Ströbeles Fingerabdrücke, ras stets dabei. Jetzt wurde men: „Zwischen den Gerd und mich passt die 1976 einmal genommen worden waren, der Laiendarsteller für sei- nämlich wirklich kein Blatt Papier.“ weil damals gegen den Anwalt „wegen Ver- ne Mühen belohnt. Mit 1500 dachts der Unterstützung ei- Mark Gage zeigte sich das ner kriminellen Vereini-

J. SARBACH J. Produktionsteam erkennt- gung“ ermittelt wurde, wa- Scherf lich. Den Zaster ließ der un- ren noch vorhanden. Das bestechliche Hanseat an die Amt aber vergaß, die Daten bremische Initiative „Zivilcourage“ über- nach Ablauf der dafür vor- weisen – die will mit ihren Aktionen die gesehenen Zeit zu löschen. Bremer ermutigen, in schwierigen, für an- „Ich bedaure dieses Ver- dere bedrohlichen Situationen nicht ein- säumnis sehr“, ließ der fach wegzusehen. BKA-Datenschützer Strö- bele wissen. Mittlerweile hat Lothar Vosseler, 52, Halbbruder des Bun- sich auch die Berliner Se- deskanzlers, bemüht einen zweifelhaften natsverwaltung für Inneres Vergleich, um Nähe und Harmonie unter bei dem Anwalt, der früher Brüdern zu betonen. Vosseler ist nach Jah- RAF-Terroristen verteidig- ren der Arbeitslosigkeit jetzt als Kanalar- Vosseler im Kölner „Express“ (Ausriss) te, entschuldigt.

316 der spiegel 45/1999 Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler, White Rabbit. Britney-Alice wird zu Be- wurde beim Staatsbesuch in Japan ver- ginn der Filmhandlung von einem VW Rab- gangene Woche mit Raritäten überhäuft. bit überfahren. MTV nennt die Produktion Gleich am ersten Tag brachte der Chef des ein „zeitgemäßes Musical“, das sogar den Verbandes der Automobilindustrie, Bernd Segen des Gründers und Vorsitzenden der Gottschalk, dem Kanzler eine Auto- Lewis Carroll Society hat. Kenn Oultram grammkarte des Finnen Mika Häkkinen freut sich: „I’m amused.“ Er findet dieses mit, der im Motodrom von Suzuka jetzt Filmvorhaben gerade wegen seiner Distanz Weltmeister geworden war. Text: „All the zum Original besonders gut: Frühere Film- best to Gerhard.“ Die Gastgeber landeten versionen „floppten, weil sie sich ganz eng mit einem weiteren Unikat, einem Druck an den Text von Lewis hielten“. des Malers Hokusai, einen Volltreffer. Schöngeist Schröder hatte den Maler und Meister des Farbholzschnitts durch den Hamburger Maler Horst Janssen schätzen gelernt. Ohnehin präsentierte sich der Kanzler als Asien-Fan: „Konfuzius“, be- kannte Schröder, „habe ich schon immer sehr geschätzt.“

Britney Spears, 17, amerikanischer Tee- nie-Star, spielt demnächst die Hauptrolle in der Wiederverfilmung von „Alice in Won- derland“. Und wie es sich für eine Verfil-

mung durch einen Musikkanal wie MTV / DPA PA gehört, geht es schrill und kreischend zu. Gormley mit „Quantum Cloud“-Modell Da ist die Raupe ein haschrauchender Rastafari und die Teegesellschaft beim ver- Antony Gormley, 49, britischer Bildhauer, rückten Hutmacher, den der Latino-Sänger fürchtet, er könnte mit einem Kunstwerk Ricky Martin spielt, eine wilde Mixtur aus an der berühmten Unschärferelation des Rock’n’Roll-, HipHop- und Rapkonzert. deutsche Physikers Werner Heisenberg Nach dem noch unvollständigen Drehbuch scheitern. Der Brite arbeitet zur Zeit an ei- trifft sich Alice zu Beginn ihres Traum- ner 20 Meter hohen Skulptur für den so ge- abenteuers nicht wie in Lewis Carrolls nannten Millennium Dome in London, eine Werk mit dem Weißen Kaninchen, dem gigantische Veranstaltungsarena, in der der Beginn des Jahres 2000 mit rekordverdächtigen Unter- nehmungen gefeiert wer- den soll. Gormleys Werk, die „Quantum Cloud“, soll einen Mann inmitten ei- ner Wolke darstellen, fünf Stockwerke hoch, und aus 3500 Nadeln zusammenge- setzt sein. „Wir könnten den Körper darin sichtbar machen, wenn es funktio- niert“, gestand der Künstler jetzt der „Times“. Doch die Quantum Cloud sei nach „dem Heisenberg- schen Prinzip der Unschär- fe gebaut, so dass wir nicht wissen, ob wir den Körper in der Wolke tatsächlich zu Gesicht bekommen wer- den“. Den Bürgern von London, die mit Sponsorengeldern für das geplante Spek- takel aufkommen, sei also vorsichtshalber gesagt: „Man kann nicht den Kuchen ha- ben und ihn gleichzeitig essen; man kann nicht die Quantenrealität haben und noch einen Körper erkennen wollen.“ Gormley vertraut jetzt darauf, „dass der Glaube ob- siegt“ – die Quantum Cloud existiert bis-

MTV ( li.); ( PICTURE LIBRARY EVANS MARY re.) lang nur als Modell.

Spears, zeitgenössische Alice-Darstellung 317 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem „Schwäbischen Tagblatt“: „Durch Zitat die Umstellung bleibt es morgens länger hell, abends wird es hingegen früher Die „Zeit“ zum Kommentar von dunkel.“ SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein zur Außenpolitik Joschka Fischers „Der Nationalstaat wird verabschiedet“ (Nr. 42/1999):

Rudolf Augstein wirft Fischer – mit exor- bitanter Heftigkeit – vor, er opfere die Aus den „Ruhr-Nachrichten“ deutschen Interessen dem amerikanischen Vormachtstreben, und unterstellt ihm ei- nen von menschenrechtlichem Missio- narismus getriebenen deutschen Grö- ßenwahn. Er nennt ihn einen „Hasar- deur“, der den „Nationalstaat abschaffen“ und an seine Stelle „die grenzüber- greifende Polizeitruppe unter Führung der USA“ setzen wolle. Das ehemalige Aus der „Bild“-Zeitung „größte Schimpfmaul gegen den verbre- cherischen Krieg der USA in Vietnam“ werfe jetzt „seine Vergangenheit hinter sich wie der Apostel Paulus. Er betet nun an, was er immer bekämpft hat, den Kriegskapitalismus“. In der publizistischen Kampagne gegen Fischer überlagern sich die ideologischen Fronten auf höchst verwirrende Weise. Der Generalverdacht Aus der „Frankfurter Rundschau“ gegen die USA, sie benutzten Menschen- rechte nur als moralischen Vorwand für die Durchsetzung imperialistischer Zie- Aus der „Berliner Morgenpost“: „Beson- le, und die Warnung vor einem neuen ders betroffen sind Untersuchungen zufol- deutschen Militarismus im Windschat- ge Frauen und Menschen in nördlichen ten der amerikanischen Führungsmacht Ländern mit wenig Sonnenschein.“ sind traditionell Teil „linker“ politi- scher Deutungsmuster. Von Augstein und von konservativen Kommentatoren wie dem „FAZ“-Redakteur Konrad Adam werden diese Vorwürfe jetzt in einem an- Aus der „Rendsburger Tagespost“ deren Begründungszusammenhang aufge- griffen.

Der SPIEGEL berichtete …

… in Nr. 21/1999 Titelgeschichte von SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein „Was bleibt von Jesus Christus?“ Aus der „Bild“-Zeitung über den Mythos, der die Welt prägte.

In dieser Woche beginnt an der Univer- sität Kassel eine Ringvorlesung mit dem Titel „Was bleibt von Jesus Christus?“. Bis Ende Januar berichten sieben Hochschul- Aus dem Bad Kreuznacher „Öffentlichen lehrer aus Göttingen, Kassel und Marburg Anzeiger“ über ihre Arbeitsgebiete. „Anstoß gab“, so die Einladung der Fachgruppe Theolo- gie/Religionspädagogik, „die gleichnami- Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Die ge- ge Titelstory des SPIEGEL“ vom 24. Mai gerbte und gefärbte Lederhaut, natur- dieses Jahres, in der Rudolf Augstein „For- gemäß selten makellos und besonders bei schungsergebnisse,Vermutungen, Meinun- südamerikanischen Peccori-Fellen für die gen und eigene Wertungen zusammenge- begehrten und unverwüstlichen Schweins- mischt“ habe. Die Titelgeschichte Rudolf ledernen von Schrotkugeln durchsiebt – Augsteins beruht auf der erweiterten und sie sind gleichzeitig das Hauptnahrungs- überarbeiteten Neuausgabe seines Buches mittel der Indios –, wird zunächst in alle „Jesus Menschensohn“, die jetzt bei Hoff- Richtungen gezogen und gedehnt, bis das mann und Campe erschienen ist (574 Sei- Leder nicht mehr nachgibt.“ ten, 54 Mark).

318 der spiegel 45/1999