EINLEITUNG

Zitat „Wer das aus seiner Zeit und aus der Seele seines Dichters erklärt, der hat die Nibelungenfrage gelöst.“ Andreas Heusler1

In Diplomarbeit „Germanisches Heldenepos. Das Nibelungenlied - Analyse der Hauptfiguren in den Schlüsselmomenten der Handlung.“ befasse ich mich mit dem germanischen Epos des Mittelalters. Zum Ziel meiner Diplomarbeit habe ich die Analyse der im Nibelungenlied auftretenden Figuren aufgrund ihres Handelns gesetzt, sowie auch die Interpretation und Motive ihres Handelns, die zu einem konsequenten Ende führten. Die Interpretationen werden anhand des gelesenen Textes und Fragestellungen durchgeführt und präsentiert.

Die Idee, mich mit dem Nibelungenlied zu befassen, entstand auf Grund meiner Vorliebe in der Geschichte und Literatur. Die Einzigartigkeit der mittelalterlichen Dichtung regte mich an, meine eigene Interpretation des Handels von Figuren zu entwickeln und ihre Charaktere zu analysieren.

Da die Literaturgeschichte mit dem historischen Ursprung und der Entwicklung eines Landes verbunden sind, wird in der Diplomarbeit u. a. auch die Geschichte der deutschen Literatur, die mit der Entstehung des Nibelungenliedes im Zusammenhang stehen, fokussiert.

Die vorgelegte Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. In dem ersten Kapitel befasse ich mich kurz mit den Denkmälern der germanischen Zeit und knüpfe an das zweite Kapitel, das die Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters darbietet. Es werden hier die Erkenntnisse aus der Fachliteratur präsentiert, die auf die Entstehung des Nibelungenliedes Einfluss hatten.

1 Badenhausen, R., 2005, S. 12 9

Das dritte Kapitel fokussiert das mittelalterliche Heldenepos, das als Grundlage für die Figuren-Analyse präsentiert wird - „Das Nibelungenlied“. Als Bestandteile dieses Kapitels werden sowohl die Entstehung, Sagenkreise (von denen der Verfasser wahrscheinlich schöpfen konnte) und die erhaltenen Handschriften des Epos dargeboten. Das Kapitel enthält sowohl die Beschreibung des Nibelungenliedes aus der historischen Sicht, als auch Konzeption, Reimtechnik und Erzählersprache. In dem Nibelungenlied spielen wichtige Rollen nicht nur die Protagonisten, die ihren Ursprung in der germanischen Geschichte haben, sondern auch Symbole wie ein Traum, ein Falke, ein Schwert, ein Hort und eine Tarnkappe. Aus diesem Grund wird hier auch das Symbolische dargeboten. Als Ausgangspunkt für die Durchführung der Figurenanalyse wird die Inhaltsangabe des Liedes vorgelegt.

Die Figuren im Nibelungenlied - Siegfried, Brünhild, Kriemhild, Gunter, von Tronje und Etzel werden in dem vierten Kapitel der Arbeit vorgestellt und anhand des vorliegenden Textes charakterisiert.

Das fünfte Kapitel enthält die Schlüsselmomente der Handlung einschließlich der Analyse der Figuren aus der Erzähl- sowie auch Eigenperspektive. Die Charaktere der Protagonisten und die Art ihres Handelns, sowie auch die Symbole, werden aufgrund der ausgewählten Textpassagen (Aventiuren; Strophen) des Liedes analysiert und interpretiert. Analysiert werden auch die Beziehungen zwischen den Figuren und Zusammenhänge bis zu den konsequenten Folgen.

Die Diplomarbeit wird durch Zusammenfassung und Resümee, sowie auch durch Quellenverzeichnis, Glossar und Textproben im Mittelhochdeutschen ergänzt.

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I. DENKMÄLER DER GERMANISCHEN ZEIT

In folgenden Abschnitten wird ein Überblick der deutschen Literaturgeschichte fokussiert, da sie nicht nur mit dem historischen Ursprung und der Entwicklung eines Landes verbunden sind, sondern auch mit der Entstehung des Nibelungenliedes im Zusammenhang stehen. Es werden hier die Erkenntnisse aus der Fachliteratur präsentiert, die auf die Entstehung des Nibelungenliedes Einfluss hatten.

Die Geschichte der deutschen Literatur reichen in die germanische Zeit zurück. Die Germanenstämme, die eine der bedeutendsten Rolle zur Zeit der Völkerwanderung in der spätantike Welt spielten, besaßen eine eigene Literatur, die zunächst in der Form der Versen und Sprüchen mündlich verbreitet und erst viele Jahre später aufgeschrieben wurde. Die meisten Werke waren leider im Laufe der Zeit verloren gegangen. Die Völkerwanderung im 4. Jahrhundert, die Züge der germanischen Stämme, Entstehung der Klassengesellschaft und die ständige Machtbestrebungen des Römischen Reiches verursachten, dass sich die reiche germanische Dichtung entwickeln könnte.

Die deutsche Literatur bzw. die deutschsprachige Literatur gehört in den breiteren Bereich der westeuropäischen Kultur, die auch als „Abendländische Kultur“ genannt wird. Die Wurzeln dieser Kultur befinden sich in der griechisch-römischen und jüdisch- christlichen Kultur. Der Einfluss dieser Kulturen ist bis heute ersichtlich. Die Existenz der verbalen Kunst aus der germanischen Zeit beweisen nur Quellen, da keine literarische Denkmäler erhalten wurden. Als Quellen werden die Zeugnisse wie römische („Germania“ von Tacitus) oder spätere Werke betrachtet. In der germanischen Zeit wurden häufig Sprichwörter, Rätsel, Zaubersprüche und Heldenlieder entwickelt.2

Die ersten germanischen Textzeugnisse stammen aus der Zeit der Überlieferung aus. Es handelt sich um die volkssprachigen Dialektdenkmäler. Die frühesten Texte weisen auf die heidnisch-germanischer Religiosität auf. Die feierlich gesprochenen und gesungenen Worte waren als Begleiter der magischen

2 Vgl. Kovaříková, A., 1993, S. 10

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Rituale betrachtet, bei denen um Gottesschutz gebeten wurde. Zu dieser Gruppe wurden auch die Opferverse, Zauberformeln und Orakelsprüche gezählt. Die bekanntesten Zeugnisse, die aus der heidnisch-germanischer Zeit stammen, sind die Merseburger Zaubersprüche, die in der althochdeutschen Sprache erst im 10. Jahrhundert (vor dem Jahr 750) im Kloster Fulda niedergeschrieben wurden. Die Merseburger Zaubersprüche bzw. zwei Zauberformeln nehmen Bezug auf die vorchristliche germanische Mythologie.3

Das magisch-natürliche Bewusstsein der germanischen Stämme wurde durch die Völkerwanderung geändert. Die Entstehung von mehreren Sagenkreisen war eigentlich eine neue Folge der hundert Jahre lang andauernden Stammeskämpfe.

Zu den bekanntesten Sagenkreisen, die während der Völkerwanderung entstanden sind, zählen außer der Ältere Edda (Lieder-Edda - entstanden auf Island; präsentiert wurden die beliebten Helden - Goten und Franken) sowie auch die Sagen: ostgotische Sagen wie die Dietrichsage, die Hildebrandsage und Das Lied von der Rabeschlacht, die alemannischen Sagen - Walther und Hildegund, die westgotischen Sagen - Hunnenschlachtsage, die nordgermanischen Sagen wie Sagen von Beowulf, Wieland der Schmied, Hilde und , und die burgundischen Sagen mit dem alten Sigurdlied, dem alten Atlilied und der Sage von den Nibelungen.4

Das Heldenepos aus der Zeit der Klosterkultur bewahrt eine südgermanische Sage. Die Grundlage für die Sagenstoffe, die ergeben das 4. - 8. Jahrhundert als Blütezeit der Heldenlieder, bildeten die geschichtlichen Ereignisse wie z. B. die Kämpfe des Theoderichs des Großen für die Dietrichsagen, der Untergang des Burgundenreiches für den burgundisch-fränkischen Nibelungenstoff.5

Zu den abgefassten Werken, die für die weiteren schöpferischen Aktivitäten von Bedeutung sind, gehören folgende Werke.

3 Vgl. Beutin, W. u. a., 2008, S. 9 4 Vgl. Beutin, W., u. a., 2008, S. 9 5 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 2. „Die metrische Form des agermanischen Verses war der Stabreim. Die rhythmisch hervorgehobenen Silben der Langzeile wurden durch Gleichklang des Anlautes (Alliteration) miteinander verbunden.“ (Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 2) 12

Hildebrandslied aus dem Jahr 820 schildert den Kampf zwischen dem Vater und dem Sohn, der für den wieder gefundenen Sohn tragisch endet. Das Epos Beowulf, die südgermanische Sage des 6. Jahrhunderts (geschrieben um 700 in angelsächsischen Stabreimen), schildert den Kampf zwischen Beowulf und Grendel; die Wert wird auf Ehre, Mut und Tapferkeit gelegt. Ein drastischer Kampf des Propheten Elias mit dem Antichrist um die Seele des verstorbenen Menschen bis zum Weltuntergang erzählt das Muspilli (um 880; einzige erhaltene umfangreiche althochdeutsche Stabreimdichtung). Heliand (um 830), das altsächsische Großepos, beinhaltet poetische Darstellung des Lebens Jesu Christi in der Form der Evangelienharmonie.6

Das Nibelungenlied ist eine der bedeutendsten Dichtungen der germanischen Literatur des 12.-13. Jahrhundert. Die Gestaltung des Liedes, das die Grundlage der Heldenepik darstellt, ist bis heutiger Zeit immer noch von Laien und von Wissenschaftler als faszinierend betrachtet, da sie eine ungewöhnliche Wirkung hat. Das ganze Nibelungenthema und der Stoff geht auch in der Gegenwart seine Attraktivität nach. Das Nibelungenlied gehört zu den Dichtungen, die in Deutschland im späteren Mittelalter am meisten abgeschrieben wurde.

6 Vgl. Kovaříková, A., 1993, S. 11

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II. DEUTSCHE LITERATUR IM MITTELALTER

Der Begriff Mittelalter bezeichnet die Epoche zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Neuzeit (ca. 6. bis 15. Jahrhundert) und zeichnet sich durch eine massenhafte Zunahme der handschriftlichen Textüberlieferung aus. Diese Epoche wird als Blütezeit der deutschen Dichtung bezeichnet. Im Laufe dieser Zeit hat u. a. das Nibelungenlied entstanden. Aus diesem Grund wird die Epoche in diesem Kapitel näher präsentiert, um die Entwicklung des literarischen Schaffens, das mit der Entstehung des Nibelungenliedes zusammen hängt, zu fokussieren.

Die Zeit des Mittelalters hat einen wesentlichen Einfluss auch auf die deutsche mittelalterliche Entwicklung in der „neuen“ Welt gehabt. Es werden drei Epochen bzw. Phasen unterschieden: die - früh-, hoch- und spätmittelalterliche Phase, die für die Forschung der Geschichte von Bedeutung sind. Durch diese Phasen werden Wege in das gesellschaftliche Geschehen gesucht, um das Leben, die menschlichen Bestrebungen, Gedanken und schöpferische Tätigkeiten in der Literatur zu erhellen. Die Phasen der Literaturgeschichte werden in dem Kapitel in der chronologischen Ordnung präsentiert.

2.1 Frühmittelalterliche Literatur 750-1170

Die Anfänge der deutsch geschriebenen Literatur werden gewöhnlich nach den politisch-kulturellen zeitgemäßen Ereignissen bezeichnet oder sie werden sich in der Betätigung Karls des Großen (768-814) befunden. Deshalb wird von der karolingischen Literatur gesprochen.

2.1.1 Karolinger Phase

Der Urbeginn der ersten geschriebenen Vermerke fällt in die Zeit der Regierung Pippins III. und zu Beginn der Regierung Karls des Großen bis zu seinem Ende und zum Anfang der sog. Lücke in der deutschen Literaturgeschichte, bis zum Aussterben der Dynastie.

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Im Zusammenhang mit der deutschen Literatur dieser Zeit werden die Bestrebungen Karls des Großen in der Unterstützung der Bildung gefunden, verbunden mit den Missionsaktivitäten der fränkischen Kirche und unter der Bewirkung des Mönches Alkuin (um 776-856). Selbst Karl der Große regte das Bildungsprogramm in den Klostern an und seine Nachfolger entfalteten es weiter. Die karolingische Literatur, sowie auch die Literatur in der Nationalsprache entwickelten sich auf dem Hintergrund der Koexistenz der mündlichen und schriftlichen Tradition, der Nationalsprache und der hochlateinischen Sprache. Die mündliche Überlieferung eines bestimmten Epos, vor allem der langen Epen spielte sich in der Zeit vor der schriftlichen Verzeichnung nur auf Grund des Gedächtnisses ab. In den erhaltenen epischen Texten aus der Zeit des Mittelalters können die gemeinsamen stilistischen und kompositorischen Merkmale gefunden werden, deren Funktion durch die mündliche Überlieferung erklärt werden kann. Diese Merkmale zeugen davon, dass die epischen Stoffe, wie z. B. , Gudrun, , vor und nach der schriftlichen Verzeichnung parallel Überliefert worden waren.

Zu den ersten und ältesten erhaltenen Denkmäler der karolingischen Zeit gehören die Runeninschriften, die den religiösen Zwecken dienten, sowie auch die Bibelverarbeitungen. Seit dem 5. Jahrhundert wurden nicht nur in dem fränkischen Reich, sondern auch im germanischen Raum die Werke im Latein (in der Sprache der Gebildeten) geschrieben. Das erste schriftliche Denkmal der deutschen Sprache stellt das lateinische Glossar Abrogans des Bischofs Arbeus aus Freising dar, das in 764-769 (noch unter der Regierung Pippin III.) ins Deutsche übersetzt wurde.7

Die Glossare, die Taufzusagen (sächsische und rhein-fränkische), der St. Gallener Paternoster und das Kredo (Credo), Weißenburger Katechismus, Gebete, Glossen zu Psalmen, Predikten, Ermahnung dem christlichen Volk (Exhortatio ad plebem christianam), sowie auch bereits erwähntes Abrogans und Übersetzungen ins Deutsche -

7 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 17-29 15

alles Werke, die für die direkte Konsequenz der Karls Ermahnung sog. Admonitio generalis vom 23. März 789 von Bedeutung sind.8

Unter der Regierung Karls des Großen (768-814) hat die Kirche an Bedeutung gewonnen, zur Umerzieherin der germanischen Stämme wurde und die Sprache, Formen und Stoffe der Dichtung bestimmte. Nach der Eingliederung in die römische Kirche, der Übernahme spätantiker Bildung und der Lateinschrift wurden die germanischen Stämme „literarisch“ produktiv. Nach der Unterwerfung der Völker bemühte sich Karl der Große sie auf der Basis antik-christlicher Bildung umzuformen, verlangte jedoch nicht, dass die Völker ihre heimische Kultur im Ganzen aufgeben. Die Bildungsabsichten Karls des Großen realisierte die geistliche Elite, z. B. der Angelsachse Alkuin, der Langobarde Petrus von Pisa u. a. und das Zentrum der gelehrten Bildung wurde der Hof mit der Gründung von Bibliotheken, Lektüre antiker Schriftsteller, Pflege der lateinischen Poesie.9

Die zentrale Rolle haben bei Karls Kulturmission die Klöster gespielt. Ihre Aufgabe umfasste nicht nur die Verbreitung und Unterweisung des christlichen Glaubens, sondern auch die Vermittlung des Lesens und Schreibens.10

Für das 8. Jahrhundert ist die erste glossarische Tätigkeit (Glossen, Glossare und Interlinearübersetzung) typisch, die als antikes Erbe durch Übernahme von Langobarden in Italien entstand. Anschließend entstand die Gebrauchsliteratur wie katechetische Stücke (Weißenburger Katechismus) und Gebete. Im Allgemeinen handelte es sich (bei den Glossaren) um religiöse Texte, Gebete oder Schilderungen des Lebens Christi - die sog. Evangelienharmonien u. a. (Tatian, Heliand, Otfrieds Evangelienbuch).

8 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 29 Admonitio generalis stellte eine Verordnung dar, die die Priester verpflichtete, die Jungenschulen zu gründen, Psalme, die heiligen Bücher und Texte ins Deutsche zu übersetzen, damit viele Leute ihre Gebete zum Gott verrichten wollen und durch die Nationalsprache den Inhalt der Gebete vermögen zu verstehen (Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005: 29) 9 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 4-5 10 Die Dichtungsauffassung ordnete sich dem System „Sieben freien Künste“ unter und stellte ein Bestandteil der Rhetorischen Ausbildung dar. (Vgl. Beutin, W., 2008, S. 12-14) 16

Den religiösen Werken entgegen standen Heldenepen wie Hildebrandslied, in dem ein Kampf des Vaters mit seinem Sohn geschildert wurde. Das Heidentum als vorchristliche Zeit mit zahlreichen Ritualen wurde z. B. durch Merseburger Zaubersprüche und damit verbundene Gebete, wie Wessobrunner Gebet (bestehend aus neun stabreimenden Langzeilen, das die Erde vor Erschaffung der Welt und die Existenz Gottes schildert) dargestellt.

Zur Zeit Karls des Großen entwickelten sich Klöster Reichenau, St. Gallen, Fulda (unter Einfluss von Rhein, Ostfranken, Alemannen und Bayern). Später, im 11. Jahrhundert war es der alemannische Raum mit Kloster Hirsau. Im Südosten wurden biblische Stoffe bearbeitet, wie Wiener Genesis, Wiener Exodus u. a. Im rheinischen Raum befassten sich die Pflegestätte mit der Legendendichtung und dem von Frankreich vorhöfischen Epos. Karls Verdienst auf dem Gebiet der Literatur ist Schaffung einer deutschen Prosa.11

Nach dem Tod Karls wurden seine Bestrebungen vergessen. „Das mühsam Errungene der ersten Anfänge versank ganz in Vergessenheit; den unter der Herrschaft der Ottonen musste das deutsche als Literatursprache erneut dem Lateinischen weichen.“12

2.1.2 Ottonische, salische und frühe staufische Zeit

Die ersten einhundertfünfzig Jahre der sächsisch-salischen Periode in der Literaturgeschichte werden als „Lücke“ genannt. Aus dieser Zeit blieb keine Literatur, die in der nationalen Sprache niedergeschrieben wurde, erhalten - außer der Gedichte De Heinrico und Kleriker und die Nonne. Die Nationalsprache wurde bis dahin vor allem bei Predikten benutzt. Im Laufe des 9. Jahrhunderts nahm der Bedarf an althochdeutscher Literatur, die zur Christianisierung bestimmt wurde, ab. Bevorzugt wurde die lateinische Sprache. Die geschaffenen Werke fokussierten sich vor allem auf das gebildete Publikum. Als Beispiel kann das lateinische Epos Waltharius von Ekkehard erwähnt werden.

11 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 2-9 12 Vgl. Wener, Hans-Georg und Koll., S. 12 17

„Im Zeitraum von dem 9. bis zum 11. Jahrhundert wurde die deutsche Sprache vor allem in dem mündlichem Kontakt benutzt.“13

Die Abgrenzung dieser literarischen Epochen können nicht genau, sondern nur relativ bestimmt werden. Das 11. Jahrhundert bedeutet eine gewisse Grenze und Wende von zwei Zeitaltern. Später, um 1600 setzte eine kontinuierliche Dichtung deutscher Sprache ein und die deutschsprachige Überlieferung wurde fast völlig verstummt. Der Niedergang der karolingischen Errungenschaften im Feld einer volkssprachlichen Kultur bleibt schwer verständlich, aber gleichzeitig beginnt eine neue geistliche Literatur deutscher Sprache in verschiedenen Bereichen. Es veränderte sich die Sprachgestalt, so wird von Frühmittelhochdeutsch gesprochen. Die charakteristischen Merkmale wurden die fortschreitenden und schließlich vollendeten Abschwächungen der vollen Endsilbenvokale.

Die Epoche des 12. Jahrhunderts kann auch als Zeit der Salier bezeichnet werden. Die literarischen Denkmäler erschienen jedoch erst unter dem dritten Salier, Heinrich IV. Dieser Epochenstil reicht bis in die Zeit Barbarossas, besonders im welfischen Bereich. Die salische Dynastie bringt den neuen Geist und die neue Lage (charakterisiert durch die endgültige Lösung der abendländischen Kirche von Byzanz), wie sie in der deutschen Literatur fassbar ist. Seit der Zeit wird von dem eigentlichen Mittelalter gesprochen.14

Vom Anfang des zehnten Jahrhunderts wurden zwei klösterliche Reformrichtungen zur Geltung gebracht. Aus der Benediktinerabtei in Cluny (gegründet in 910, Burgund) verbreitete sich die sog. Cluny-Reformbewegung in ganz Westeuropa, die von wesentlicher Bedeutung in der Literaturgeschichte wurde.

Am Ende des 11. Jahrhunderts erweckte sich die nationale Literatur wieder zum Leben. Die Literatur, die direkt mit dem Investiturstreit (1076-1122) im Zusammenhang stand, wurde in lateinischer Sprache geschrieben. Durch die unterstützende Strategie erstrebte die Kirche, die Gläubigen an ihre Seite zu gewinnen. Zu diesen Zwecken machte sie sich die Angst der Gläubigen vor dem Tod und vor der Hölle zu Nutze.

13 Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 47-47 14 Vgl. Wehrli, M., 1980, S.117-118 18

Zu den geistlichen Werken dieser Zeit werden z. B. ein ostfränkischer Text aus dem Bamberger Manuskript Himmel und Hölle (2. Hälfte des 11. Jahrhunderts) und das Gedicht Memento mori gezählt. Die Handschrift, in der das Gedicht Memento mori erhalten wurde, beinhaltet auch die sog. Straßburger Version Ezzolied (das Lied schildert die Feier der Erschaffung von der Adams Sünde bis zur Auferstehung Christi).

Bemerkenswert wird auch das fragmentarisch erhaltene Annolied (um 1100) betrachtet, in dem die erste Erwähnung von der mündlichen Volksliteratur in der Nationalsprache und ihrer Thematik gefunden werden kann.15

2.2 Hochmittelalterliche Phase 1170 - 1250

Mit der Herrschaftsübernahme der Staufer (1125) hat die Zeit des Hochmittelalters begonnen. Die damalige Gesellschaft erlebte einen umfassenden Wandel in fast allen Lebensbereichen. Die Veränderungen brachten eine gewisse Entspannung den Menschen, die bisher von der Kirche stark beeinflusst wurden. Die gestiegene Anzahl der Menschen resultierte Verbesserung und Aufschwung der landwirtschaftlichen Produktion, Handwerk- und Handel-Entwicklung. Die Kirche errichtete eine geordnete Hierarchie, deren Oberhaupt ein Papst war. Die Präferenz der kirchlichen Literatur wurde durch die neu entstandene sog. höfische Literatur abgeschwächt.

Unter die meist bearbeiteten Themen gehörte die höfische Art des Lebens und Liebe, wobei die kirchlichen Konventionen auch in dieser literarischen Form vorkamen. Die meist geschaffenen Werke wurden sowohl als Minnelieder als auch die Hof- und Heldenepen vorgetragen.16

15 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 53-60 16 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 64-66 19

2.2.1 Staufer Phase

Die staufische Literaturepoche ist mit der Regierungszeit Kaisers Friedrich Barbarossa verbunden. „Zum Zeitpunkt der Thronbesteigung stand die Literatur noch unter lateinisch-geistlicher Vorherrschaft, und selbst der frühhöfische Versroman war noch fest in der Hand der katholischen Geistlichen.“17

Die wichtigste Epoche der mittelalterlichen deutschen Literatur bilden die Jahre von 1170 bis 1250, da sich in der höfischen Gesellschaft nicht nur eine fränkisch- alemannische Verkehrssprache, sondern auch eine Literatursprache entwickelte; sie brach die bedeutendste Position der lateinischen Sprache. Die deutsche Sprache wurde in ihren dialektalen Abwandlungen zu einer Literatursprache von Rang.18 Die Kirche wollte ihre Position in der Gesellschaft nicht aufgeben, sondern sie aufrechtzuerhalten. Sie führte u. a. zahlreiche Kreuzzüge gegen die Ungläubigen in den islamischen Ländern im Osten. Als ein anderes Mittel zur Machtbestätigung wurde die Literatur genutzt. Zur kirchlichen Präsentation diente z. B. das dreiteilige Annolied (um 1100) als zweckgebundene Propaganda. In 1122 wurde der Investiturstreit durch Wormser Konkordat beendet. Die Kirche erreichte die Bestätigung ihrer Position.19

Während der staufischen Epoche bleibt das Schreiben und Lesen nicht mehr dem Klerus untergeordnet und die Herrschaftsinteressen werden als Feudal- und Machtstrukturen in der literarischen Texte der vorklassischen Periode angewendet, z. B. in den Werken wie Die Kaiserchronik, Rolandslied, Eneit, König Rother.

Um die Lyrik des Mittelalters zu überschauen, werden in der Dichtung vier Gruppen - die religiöse und geistliche, volksliedhafte Dichtung und die ritterliche Lyrik unterschieden. Die ritterliche Dichtung besteht vor allem aus einer großen Gruppe - dem Minnesang.20

17 Beutin, W., 2008, S. 22 18 Vgl. Beutin, W., 2008, S. 23 19 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 61-67 Annolied: Die Benennung bezieht sich auf Anno II., Erzbischof von Köln, der sich in der Politik der Kirche engagierte. Das idealisierende Werk Annolied (Vorgänger der Kaiserchronik) entstand auf den Anlass seiner geplanten Heiligsprechung, die in 1183 tatsächlich stattgefunden war. (Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 61-67) 20 Vgl. Wehrli, M., 1980, S. 240 - 349 20

2.2.2 Frühformen des höfischen Epos

Ein Durchbruch in der Dichtung ist erst mit Heinrich von Veldeke und seiner Gattung Aeneis (Eneit) gekommen und eine neue ritterlich-höfische Dichtung gebracht, die am antiken Vorbild des dynastischen Ahnvaters Aeneas entstand.21 Die Literatur der staufischen Epoche kann also auch als adelige Standesdichtung bezeichnet werden. Gegenüber den o. g. Werken steht die klassische Epik der Gestalter wie Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, die die Wertstrukturen verurteilt und ironisiert. 22

„Die tonangebenden Dichtungsformen sind seit dem das ritterliche Epos und die Minnelyrik; die religiöse Dichtung tritt in ihrer Bedeutung zurück.“23

2.2.2.1 Ritterdichtung

In der staufischen Literatur wird die Bezeichnung Ritter beliebig verwendet und mit jeder dichterischen Geschichte neu definiert und unkonventionell dargestellt, um das Publikum (die adelige Oberschicht) zu überraschen. In der Lyrik des Mittelalters, die auch Standeslyrik bezeichnet wir, treten drei dichtende Stände hervor - der Geistliche, der Spielmann und der Ritter.24

In den ritterlichen Epen werden zahlreiche ritterlichen Tugenden verherrlicht, wie maßvolles Leben, Zurückhaltung, Erziehung nach festen Regeln, ritterliches Ansehen, Würde, Treue, seelische Hochstimmung, Freigiebigkeit, Beständigkeit, Festigkeit, Freundlichkeit und Tapferkeit. In dieser literarischen Epoche kämpften die Helden gegen die gelehrten gesellschaftlichen Konventionen, um ihrem gegebenes Schicksal entgegen zu kommen und es schließlich zu erfüllen. Sie unternahmen deswegen einen langen Weg, wie in den Werken von Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach geschildert wird.

21 Vgl. Beutin, W., 2008, S. 22 22 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 66-121 Die Ritter, die in ihren Werken erscheinen, werden als dauernd suchende Individuen präsentiert, die jederzeit und überall einen Feind begegnen können und die sich mit der Konventionen der menschlichen Gesellschaft überwinden müssen. 23 Beutin, W., 2008, S. 23 24 Vgl. Beutin, W., 2008, S. 24 21

In den neu entstandenen Werken veränderte sich auch die Zeit. Im Vergleich zur Bibel, wo die vergangenen Ereignisse reflektiert wurden, wird diese neue Literatur stärker an der Gegenwart orientiert und durch das höfische Leben und die Kreuzzüge präsentiert. In dem Werk Hartmann von Aue - Erec25 (es handelt sich der erste deutsche Artusroman; 1180-1185) verläuft die Handlung zunächst nach dem von Chrétien de Troyes26 vorgezeichneten Aventiure-Schema. Die Liebesgeschichte behandelt die Maßlosigkeit der Minne, es werden dort die ästhetischen Mittel des frühhöfischen Versromans präsentiert und wird auch die Thematik der ideale Artus-Welt geschildert. Das weitere Hartmanns Werk scheint als direktes Gegenstück Irwein (entstanden nach 1200) abgefasst zu sein. In diesem Werk wird eine Kette von Abenteuer d. h. aventiure geschildert, in der viele Kämpfe beschrieben werden. Schließlich wird der Kampf nicht entschieden, Irweins Ritterehre ist wieder gestellt und Irwein wird in die Tafelrunde Königs Artus aufgenommen. Dieses Versepos Hartmanns von Aue ist das letzte und das formvollendetste. Der nächste Verfasser der ritterlichen Thematik, Wolfram von Eschenbach fußt mit seinem Versepos Parzifal auch auf Chrétien de Troyes, dessen Parceval (in 1185) als Fragment geblieben ist. In diesem Versepos schildert Wolfram den Entwicklungsgang des ahnungslosen Knaben zum Artusritter - die Leitmotive sind Artuskreis und Gralssage.27

Das latente religiöse Thema in der Artusdichtung wird von Hartmann mit einer abenteuerlichen Kombination weltlich-ritterlicher und geistlich-legendarischer Erzählform in zwei Artusromanen Gregorius und Armer Heinrich herausgestellt. Im Gegenteil zum Wolfram hat Gottfried von Straßburg nur ein einziges Epos, Tristan und Isolde hinterlassen. Dieses Epos entstand um 1200 und blieb unvollendet. Seinem Werk diente eine anglo-normanische Vorlage des Romans von Thomas von Britanje.

25 Vgl. Wehrli, M., 1980, S. 282-287 26 Chrétien de Troyes, französischer Dichter, Gründer des europäischen Romans, zusammen mit François Villon bedeutungsvoller Autor des Mittelalters. (Vgl. http://www.la-litterature.com, Letzte Abfrage am 4.7.2012) 27 Vgl. Beutin, W., 2008, S. 27-28 22

Von einem unbekannten Autor Der von Kürenberg stammt das Werk die Großen Heidelberger Liederhandschrift mit fünfzehn unverwechselbar zusammengehörigen und eigenartigen Strophen, das den Typ der vorhöfischen Lyrik repräsentiert (die Datierung um 1200 ist sehr unsicher).28

Das nächste Werk - Falkenlied (von Kürenber) ist ein der ältesten erhaltenen Beispielen des deutschen Minnensangs; es geht aus der Metaphorik der Falknerei aus und kann als ein Bestandteil einer rituellen Funktion der Dichtung aufgefasst werden. Diese Falken-Metaphorik mit ihrer erotischen Spannung, die durch die Freiheit auf einer Seite und die Zähmung auf der anderen Seite präsentiert wurde, wird auch z. B. in dem Nibelungenlied (im Traum Kriemhilds) gefunden.29

2.2.2.2 Die Kreuzzugslieder

Für eine besondere Form der ritterlichen Lyrik werden die Kreuzzugslieder gehalten. Im Gegensatz zu den altfranzösischen, provenzalischen und lateinischen, sind die ersten deutschen Kreuzzugslieder aus der Zeit unmittelbar vor dem dritten Kreuzzug (unter Kaiser Friedrich Barbarossa, 1189 - 1192) überliefert. Es wird hierbei von den Vorformen der Kreuzdeutung in geistlichen Liedern und Pilgerliedern abgesehen, die Lieder sind von Hoffnung und Trauer in den Rittergedanken geprägt. In der Epik sind die Anfänge schon früher, um die Jahrhundertmitte greifbar, z. B. in der Kaiserchronik, im Rolandslied, im Graf Rudolf, Herzog Ernst, König Rother etc.30

Die Kreuzzugslieder präsentieren in der Motivierung und in der Darstellung der Kreuzzüge das christliche Ritterideal, das die Kreuzzüge darstellen, z. B. Walthers Elegie (als eine Form der Kreuzzugspropaganda), Berichten aus dem Heiligen Land (Neidhart) und Kritik der Kreuzzüge (Freidank).31

28 Vgl. Wehrli, M., 1980, S. 262-335 29 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 94-95 30 Vgl. Böhmer M., 1986, S. 13 31 Vgl. Wehrli, M., 1980, S.362-347 Die häufigsten Themen und Motive sind der Abschied von der Herrin und der Heimat (Friedrich von Hausen), die Sorge um ein tugendhaftes Leben der zurückbleibenden Frauen oder die Hoffnung auf Gottes Lohn (Hartmann von Aue). 23

Das französische Rolandslied ist ein nationales Epos in dem richtigen Wortsinn, das in sieben vollständigen Handschriften und drei Fragmenten erhalten wurde. Der Hintergrund des Liedes greift in das historische Ereignis zurück. Als Leitmotiv ist das Bild Karls den Großen präsentiert und dessen Aufgabe, den christlichen Glauben im heidnischen Spanien zu verbreiten und Ehre des Frankreichs zu verteidigen. Die Vasallenverpflichtung und Loyalität wird die Hauptmotivation und treibende Kraft allen Helden durch den Ritter Roland hervorgehoben.32

2.2.3 Minnensang

Die Minne, als Thema der Erzählung, wurde bereits in dem Veldekes Eneit vorgestellt. Der Begriff Minne bezeichnet die höfische Liebe des Mittelalters. Das Wort stammt aus dem althochdeutschen „minna“ = „Liebe“. Die Liebe als Phänomen wurde Zentralbegriff der Gesellschaft, das Thema einer ganz neuen unerhörten lyrischen Gattung - Minnensang. In der Literatur ist das Wort Minnesang Bezeichnung für die höfische Liebeslyrik und gilt für die älteste, schriftlich überlieferte und hoch ritualisierte Form der gesungenen Liebeslyrik im westeuropäischen Sprachraum.33

Das Minnenlied erzählt von der mehr oder weniger problematischen Beziehung zwischen einem Mann (Ritter), der zu den mittels einem ritterlich-ethisch geprägten Sprach- und Musik-Ritual zu der Dame seines Herzens spricht. Die höfische Liebe bezieht sich also auf einen edlen Ritter, der eine schöne Dame verehrt, die sich ihm versagt.34 Der Grundstein der ritterlichen Hövescheit ist die Beziehung „minne“. Der Mann ist ein Vasall seiner Frau und Herrin, der Ritter begibt sich in den Dienst der Frau dar, so wie er in den Dienst seines Landesherrn tritt.

32 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 78 Das Rolandslied schildert eine vernichtende Niederlage in den Pyrenäen, in der der bretonische Markgraf Roland umgekommen ist. 33 Vgl. DUDEN, 2006, S. 1147 34 Vgl. Ehrismann, O., 2007, S. 177-178 Das Wort Dame stammt aus dem Lateinischen und bedeutet domina d. h. Herrin und weist auf geschichtlich bedingte beherrschende Stellung einer verheirateten adligen Frau hin.

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Der Inhalt der Lyrik steht Huldigung einer meist verheirateten Frau, die für den Ritter ein unerreichbar hohes Ideal darstellt, das er verherrlicht und dadurch fühlt er sich erhöht und veredelt.35

2.2.3.1 Vor- und Frühformen des Minnensangs

Sowohl der höfische Roman ist auch der Minnensang primär eine romanische Schöpfung, die etwa seit 1170 in Deutschland nachgebildet wurde. Diese sog. Troubadourlyrik erschien schon um 1100 in Südfrankreich. In der modernen Zeit wird die Sprache der Lieder oft als Provenzalisch bezeichnet. Die Lieder wurden durch die ersten Minnesänger, die Troubadours, verbreitet. Die frühsten erhaltenen Gedichte werden dem Herzog von Aquitanien - Wilhelm IX., der als erster Troubadour bezeichnet wird, zugeschrieben.36

2.2.4 Heldendichtung

Das germanische Altertum hat Schöpfungen hinterlassen, die Heldendichtung oder Heldensage, in denen als Zentralfigur ein Held steht, genannt wird.

Die Jahrhunderte der Völkerwanderung stellten eine schöpferische Zeit dar, in der die Gattungen in der mündlichen Pflege lebten. Im Laufe der mündlichen Überlieferung wurden sie frei weiterentwickelt, umgewandelt und neu gestaltet. In den Denkmälern des Hochmittelalters wird die Heldendichtung aus dem Altertum gefunden, in der Wikingisches, Spielmännisches und Ritterliches mit dem alten germanischen Kern, dem Heroischen in Verbindung gesetzt wurde.

35 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 93 Die Liebe wird als menschliche Grenzerfahrung und höchste Bedrohung zugleich entdeckt. Die charakteristische Form der Liebeserzählung zeigt sich schon in der Kaiserchronik in der Darstellung der unschuldig verfolgten Frau, die zwar Leidenschaften erweckt und trotzdem treu und fromm bleibt (Vgl. Wehrli, M., 1980, S. 252-253). 36 Vgl. Wehrli, M., 1980, S. 348; In der zweiten Jahrhunderthälfte zeigte sich die Troubadourlyrik als geschlossene und reiche literarische Kultur des südfranzösischen Adels wirkte direkt und über die nordfranzösischen Ableger die Trouvères auf die deutsche ritterliche Dichtung.

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Die Heldendichtung des frühen Mittelalters hatte in der Stoffwahl (Herkunft in Norddeutschland, Skandinavien) und in der Stimmung ihren eigenen Still - den heroischen Still. Von Bedeutung sind die germanischen Sagenkreise von , Siegfried und die Nibelungen, Attila, Wieland und in der romanischen Tradition Roland. Als älteste Heldendichtung Europas gilt die homerische Epik Ilias und Odyssee. Neben den geschichtlichen Wurzeln werden in der Heldendichtung mythische und übernatürliche Elemente (Alben, Drachen usw.) gefunden.37

Ein der bedeutungsvollen Werke des Mittelalters, das aus der Volksliteratur stammt und in der schriftlichen Form erhalten wurde, ist Das Nibelungenlied (niedergeschrieben um 1200).38

2.3 Spätmittelalterliche Phase 1250 - 1500

Die spätmittelalterliche Phase dauerte etwa von der Hälfte des 13. Jahrhunderts bis zum Ende des 15. Jahrhunderts.39 Von den wichtigsten Autoren dieser Zeitperiode können wenigsten einige genannt werden, wie z. B. Meister Eckhart mit seinen Mystischen Schriften, Predikten, und Legenden, Dietrich von Freiberg - mystische Schriften, alle lateinisch, Reinke de Vos mit Tierepos („Reinke“), Volkssänger Neidhart mit der dörperlichen Dichtung - Spielart des Minnensangs, Hans Folz und seinen Werken wie Meistersang, Fastnachtspiele und Reimreden genannt werden.40 Zu den wichtigsten Prosadichtungen gehört das Werk Der Ackermann aus Böhmen von Johannes von Tepl (auch Johannes von Saaz genannt).

Die spätmittelalterliche Phase kann als Übergang zur Neuzeit des Humanismus und Renaissance betrachtet werden, deswegen hängt sie mit der Entstehung des Nibelungenliedes nicht mehr zusammen.

37 Vgl. Hoops, J. (Hrsg.), 1913, S. 487-492 38 Vgl. Bahr, E./ Bäuml, H. F./ Gaede, F./ Hillen, G., 2005, S. 144 39 Vgl. Erishmann, O., 2007, S. 3 40 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 64-84

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III. DAS NIBELUNGENLIED HERKUNFT UND GESTALTUNG

3.1 Entstehung des Nibelungenliedes

„Die größte dichterische Überraschung der klassischen Zeit ist das machtvolle Wiedererscheinen der heroischen Dichtung, deren subliterarische Existenz seit dem Hildebrandslied nur erschlossen werden kann, und die eigentlich, nach jahrhundertlanger Einübung in christliche, historische, höfisch-romanhafte Formen längst als überwunden erscheinen könnte.“41

Das Nibelungenlied, ein mittelhochdeutsches Heldenepos, ist um 1200, in der Blütezeit der höfischen Dichtung entstanden. Der Verfasser ist unbekannt. Dieses bedeutendste Epos aus germanischen Zeiten existiert in zehn vollständigen und zweiundzwanzig bruchstückhaften Handschriften. Obwohl der Epiker nicht bekannt ist, spricht manches dafür, dass seine Herkunft der Gegend um das Donauland zwischen Passau und Wien bzw. dem bischöflichen Hof in Passau angehört.42 Die Jahreszahl der Entstehung des Nibelungenliedes um 1200 kann durch die die Bezüge zur zeitgenössischen Dichtung ziemlich genau festgelegt werden. Im Vergleich zu der westfränkischen heroischen Dichtung, die ihren ursprünglichen Charakter schnell verloren hat, entwickelte sich die deutsche Dichtung zum Aventiure- und Minnenroman.43

41 Wehrli, M., 1980, S. 392 Als Entstehungsort des Nibelungenliedes scheint das Gebiet zwischen Passau und Wien wahrscheinlich. Es zeugen dafür genauere Ortskenntnisse des Verfassers, ein Übergewicht der frühen Überlieferung im südostdeutsch-österreichischen Raum und die augenfällige Hervorhebung des Bischofs von Passau als handelnde Figur. Der Bischof Wolfger von Erla, der von 1191 bis 1204 den Bischofsstuhl von Passau innehatte, wird für den potentiellen Auftraggeber gehalten. Der Verfasser ist uns nicht bekannt, wie für dieses literarische Genre üblich war. Manches spricht dafür, dass er dem bischöflichen Hof in Passau angehört hat (Vgl. Brackert, H., 2011, S. 287.) 42 Vgl. Genzmer, F., 1965, S. 3 43 Vgl. Beutin, W, u. a., 2008, S. 34

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Das Nibelungenlied ist eigentlich kein Lied, obwohl es althochdeutsche Heldenlieder zu Vorläufern hat. Es kann gesagt werden, dass dieses Werk ein Heldenbuch bzw. ein Epos ist.

Der Unterschied zwischen Heldenlied und Heldenbuch kann auf Grund der Ausdrücke erklärt werden. Das erste Kriterium ist die Spannung, die aber jede dieser Gattungstypen aufweist. Von den anderen Kriterien sind es liedhafte Kürze, epische Länge, liedhafte Knappheit und epische Breite. Davon ergibt sich, dass während die Heldenlieder mündlich geschaffen und weiter übertragen wurden, wurden die Heldenbücher mit Tinte und Feder aufs Pergament oder Papier niedergeschrieben und abschnittsweise vorgelesen. Im Vergleich mit Homers Odyssee oder auch mit den meisten höfischen Dichtungen liegt der Unterschied darin, dass das Nibelungenlied in Strophen abgefasst ist.44

3.1.1 Überlieferung und Handschriften

Sagen und Mythen gehörten immer zu jeder Landschaft. Sie bereicherten die Kultur, wurden gepflegt und von Generation zu Generation überliefert. Die Sagen, die im Laufe einer gewissen Zeit mündlich überliefert worden waren, können nicht als Geschichtschroniken betrachtet werden, da durch die Erzählmodifikationen zu vielen Ungenauigkeiten in der Faktenüberlieferung kommen konnte.

Das Nibelungenlied, das für berühmtestes mittelhochdeutsches Heldenepos gilt, wurde auf zweifache Weise überliefert. Zuerst ging es von einer breiten mündlichen Tradition aus, erst danach entstanden die Handschriften des Werkes. Der Text ist in 35 vollständigen oder fragmentarischen Handschriften aus dem 13. bis 16. Jahrhundert überliefert. Heutzutage geht man davon aus, dass aus der ersten Schriftfassung selbstständige Versionen entstanden sind, oder dass mehrere Fassungen niedergeschrieben wurden.45

44 Vgl. Genzmer, F., 1981, S. 5 45 Vgl. Brackert, H., 2011, S. 398

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Das Nibelungenlied ist ein der wenigen mittelalterlichen Texten, von denen die Originalvorlage erhalten wurde. Die ältesten Manuskripte werden ins 13. Jh. datiert. Die Handschriftbezeichnungen wurden durch Karl Lachmann geschaffen und durch die späteren Neufunde erweitert.46 Die drei wichtigsten erhaltenen und vollständigen Handschriften sind die St. Gallener Handschrift B aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, die man auch Vulgata nennt; die älteste die Hohenems-Laßbergische Handschrift C aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (befindet sich heute in Donaueschingen) und die Hohenems- Münchener Handschrift A aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts.47

3.2 Reim und Reimtechnik

Das auffälligste metrische Stilmittel, das in der mittelhochdeutschen Literatur zu betrachten werden kann, ist der Reim, der hilft, die Texte zu strukturieren und im Zusammenspiel mit der Versmetrik den Inhalt besonders zu fokussieren und hervorzuheben. Er kommt häufig in mittelheudeutschen literarischen Gattungen, wie in lyrischen und epischen Texten, Reimchroniken vor. Der Reim sichert vor allem in Versdichtungen die Gleichklang oder die Klangähnlichkeit von Phonemen.48

3.3 Form und Metrik

Das Nibelungenlied besteht aus der Lyrik übernommenen Strophen, die über vier Langzeilen verfügen. Diese Strophe wird heute als Nibelungenstrophe bezeichnet. Die Nibelungenstrophe, die aus einem vierhebigen Anvers und einem dreihebigen Abvers besteht, ist am bekanntesten aller epischen Strophen. Der letzte Abvers einer jeden Strophe hat vier Hebungen (auf jede Hebung folgt eine Senkung). Jeder dieser Langverse werden in Anvers und Abvers (aa, bb) - durch eine Zäsur in der Mitte

46 Vgl. Ehrismann, O., 2005, S. 112 47 Vgl. Genzmer, F., 1965, S. 3 48 Vgl. http://www.uni-muenster.de/MhdMetrikOnline/sites/metrik/3.5.0_reim.php, Letzte Abfrage am 3.12.2011 29

getrennt - gegliedert. Dies ist für die Heldenepik (z. B. das „Kudrun-Epos“ eines unbekannten Dichters und die Dietrichepik) charakteristisch.49 Die achttaktigen Langzeilen mit klingender Zäsur sind paarweise gereimt und in den ersten drei Zeilen der letzte Takt in die Pause fällt.50 Mit der Gesetzmäßigkeiten des Versbaus und den Versmaßen befasst sich Lehre, die Metrik genannt wird. In der Musik stellt die Metrik eine Lehre vom Takt und von der Taktbetonung dar.51

3.4 Erzählungsform und Sprache

Die gesungene Strophenepik unterscheidet sich aufs deutlichste von der zeitgleichen höfischen Erzählliteratur, v. a. dem Antiken- und Artusroman, die fast ohne Ausnahme in (gesprochenen) Reimpaarversen gehalten ist.

In dieser Hinsicht war das Nibelungenlied „archaischer“ als die „moderne“ Ritterliteratur Hartmanns von Aue, Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach. Die über 2000 vierversigen Strophen des Nibelungenlieds sind in 39 âventiuren (Aventiuren) gegliedert. Die kapitelartigen Erzähleinheiten weisen variable Länge aus und tragen Überschriften in den meisten Handschriften. Der Epiker des Nibelungenliedes hält sich im Hintergrund. Der Text ist von ihm aufgrund der alten mæren zusammengefasst und erzählt, wobei hier Mündlichkeit in Schriftlichkeit konvertiert. Von dem Epiker werden jedoch nicht die idealisierten Menschen präsentiert, sondern eine Welt, die das Barbarische mit dem Höfischen verbindet und zugleich die mythisch-heroische germanische Vorzeit in ein christlich-hochadelig-höfisches Umfeld adaptiert.

In dem Epos lässt sich die Sensibilität des Inhaltes aus den Schlüsselwörtern des Textes erkennen, wie z. B. küene (kühne), êre (Ehre), minne (Minne = Liebe),

49 Vgl. Beutin, W., u. a., 2008, S. 34 50 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 40 51 Vgl. DUDEN, 2006, S. 1140

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übermuot (Übermut), hövesch (höfisch), edel (Adel), triuwe (Treue), râche (Rache) und andere.

Die Handschriften C und A beginnen mit einer rhetorisch brilliant eingeformten Vorschau, die an die Zuhörer gerichtet wird. Die heroische Zeit steht in Vordergrund. Durch Benutzung der übertreibend klingelnden Ausdrücke, wie z. B. wunders vil, grôze arebeit u. a. und Abwechslungen wie helt, recke oder rîtter, degen u. a. weisen die Versen den rhetorischen Schmuck aus.52

3.5 Inhaltsangabe

Das Nibelungenlied besteht aus 39 Aventüren (= Kapitel). Inhaltlich ist das Epos in zwei Teile gegliedert: der erste Teil - Siegfrieds Tod (Aventiuren 1-19) und der zweite Teil - Kriemhilds Rache (Aventiuren 20-39).

3.5.1 Erster Teil - SIEGFRIEDS TOD

Aventiure 1 - 5 Das Epos beginnt am burgundischen Hof in Worms, wo Kriemhild unter Vormundschaft ihrer Brüdern, den Königen , Gernot und Giselher lebt. Dort leben und Dienste leisten die Gefährten der Könige - Hagen von Tronje, sein Bruder Dankwart, Ortwin von Metz, Gere, Eckewart, Volker von , u. a. Am Königshof in Xanten53 am Niederrhein lebt ein Sohn der Königin Sieglinde und König Sigmund, Siegfried. Er hört von der Schönheit Kriemhild und reitet nach Worms um die Hand der schönen Königin zu werben.

52 Vgl. Ehrismann, O., 2005, S. 11-13 und 60-61 53 Xanten (Im Nibelungenlied = Santen; NL, Genzmer, F. 1965, Strophe 20, Vers 4): Xanten liegt am unteren Niederrhein im Nordwesten Nordrhein-Westfalens. Ihre Anfänge liegen in der Errichtung von Vetera und der Colonia Ulpia Traiana im Römischen Reich und setzen sich fort mit der Gründung des Stifts St. Viktor im 4. Jahrhundert. Viktor wurde wie der Sagenheld als Drachentöter gefeiert. Ein Epiker, der von der „rȋchen bürge“ Xanten erzählte, durfte an das staufische Kaiserhaus denken und dem Reich gepflegte mythische Legitimation geben. (Vgl. Ehrismann, O., 2005, S. 24-26).

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In Worms54 kann er um Kriemhild nicht gleich werben, so erbringt er zuerst den Nachweis seiner Königswürde und bleibt am Burgunder Hof. Siegfried verteidigt Burgund gegen Sachsen und Dänen und feiert einen Triumph. Als Belohnung darf er Kriemhild treffen und begrüßen. Siegfried und Kriemhild fühlen von Anfang an intensive Zuneigung zueinander.

Aventiure 6 - 11 Gunther möchte um eine schöne Frau werben - es ist Brünhild, Königin von Island. Sie ist stark und verfügt über außergewöhnliche Kraft. Jeder Bewerber muss einen schweren Wettkampf bestehen, oder ums Leben kommen. Gunther, mit Siegfrieds Hilfe, der Lüge und zauberhafter Tarnkappe gewinnt Brünhild. Er verspricht Siegfried seine Schwester Kriemhild als Belohnung. Siegfried, der sich als man55 Königs Gunther präsentierte, besiegt die Königin, die Gattin Gunthers wird.

Bald danach wird am Burgunderhof eine Doppelhochzeit gefeiert - Kriemhild mit Siegfried und Brünhild mit Günther. In der Hochzeitsnacht verweigert Brünhild ihrem Gemahl den Beischlaf. Der entwürdigte König Gunther benötigt nochmals die Hilfe von Siegfried. Siegfried, an Gunthers Stelle, bricht den Widerstand der hochmütigen Königin, entwendet ihr ihren Ring und Zaubergürtel - die Gegenstände ihrer übermäßigen Kräfte und schenkt sie später seiner Gemahlin Kriemhild. Dann ziehen Siegfried und Kriemhild nach Xanten. Dort tritt der König Siegmund seinem Sohn Siegfried die Krone ab.

Zehn Jahren vergehen, die beiden Frauen bekommen Kinder. Kriemhild gebiert in Xanten einen Sohn, der Gunther getauft ist und Brünhild gebiert in Worms auch einen Sohn, der Siegfried heißt.

54 Worms: Es ist nicht bekannt, wie der Name der Stadt in das Nibelungenlied kam. Der Ursprung kann dem altdeutschen Wort „wurm“ mit mittelduetschen „o“ nahe stehen und Drache/ Lindwurm bedeutete. Die Stadt Worms nahm eine zentrale Stellung im Römischen Reich ein, war sie sogar ein Zentrum der staufischen Herrschaft. Im Nibelungenlied ist Worms die Residenz der drei burgundischen Könige Gunther, Gernot und Giselher. (Vgl. Ehrismann, O., 2005, S. 21-22). 55 Der Begriff man bedeutet die Bezeichnung des Lehnsmanns, der von seinem König ein Lehen bekommen hat, ein Vasall. Der Lehnsmann zahlt seinem König Steuern und leistet Dienst. Freier in der Gefolgschaft eines Herrn in dessen Schutz er sich begeben hat; Gefolgsmann des Königs. (DUDEN, S. 1108, 1062, 1788)

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Aventiure 12 - 16 Brünhild geht der man-Status von Siegfried nicht aus dem Kopf. Sie denkt herum, warum Siegfried keine Steuern seinem Herrscher schickt und keine Dienst leistet, wenn er ein Lehnsmann des Königs ist. Sie überredet Gunther, Siegfried und Kriemhild nach Worms einzuladen. Sie will das Geheimnis Siegfrieds entschlüsseln. Während dem Besuch geraten die beiden Königinnen, Brünhild und Kriemhild in bösen Streit, in dem Kriemhild sagt, dass nicht Gunther, sondern Siegfried der Mann war, der Jungfräulichkeit Kriemhilds entwendet. Hagen überzeugt Gunther, dass solche Beleidigung des burgundischen Reichs gerächt werden muss. Siegfried muss büßen. Inzwischen drohen Sachsen und Dänen den Frieden zu brechen und Krieg zu erklären. Siegfried ist bereit Hilfe zu leisten. Hagen bereitet ein hinterlistiger Plan.

Aventiure 17 - 19 Hagen nutzt die Zeit vor dem angeblichen Kampf aus und besucht Kriemhild in ihrem Zimmer. Sie macht sich Sorgen um Siegfried, will ihn beschützen und im besten Glauben verrät sie Hagen das Geheimnis - Siegfrieds Unverwundbarkeit. Auf einer Jagt ermordet der hinterlistige Hagen Siegfried mit seinem eigenen Speer. Als Kriemhild ihren toten Gemahl sieht, beschuldigt sie Hagen des Mörders und schwört Rache. Gunther nimmt Hagen in Schutz. Nach der christlichen Beerdigung Siegfrieds bleibt Kriemhild in Worms. Formal versöhnt sie sich mit Gunther und lebt mit ihrem Gesinde in Erinnerung an Siegfried. Den Hort Siegfrieds, ihre Morgengabe56, lässt sie aus dem Nibelungenland holen und benutzt sie zur Beschenkung von vielen Rittern. Hagen befürchtet, dass Kriemhild mit ihrem Reichtum die Ritter und fremde Recken heranzieht und mit deren Hilfe ihre Rache an ihm ausübt. Er stiehlt den Hort, versenkt ihn im Rhein und hielt das Versteck geheim. Kriemhild muss weiter am Hof in Leid und in Hoffnung auf Rache leben.

56 Morgengabe: In der Zeit, wo die meisten deutschen mittelalterlichen Rechte verfassen wurden, bekam die Braut Geld von dem Bräutigam. Neben diesem Geld bekam die Braut auch sog. Morgengabe d. h. den Preis für ihre Jungfräulichkeit. (Vgl. Otis - Cour, 2002, S. 30) 33

3.5.2 Zweiter Teil - KRIEMHILDS RACHE

Aventiure 20 - 23 Nach dreizehn Jahren tritt auf die Szene die Figur des Hunnenkönigs - Etzel (=Attila) auf. Seine Frau ist gestorben und die Herren beraten ihn, die edle Witwe Kriemhild zu heiraten. Im Auftrag Etzels wirbt Markgraf Rüdiger von Bechelâren um Kriemhild. Etzel ist ein Heide und zweifelt daran, dass sie ihn heiraten wird. Kriemhild ist eine Christin. Schließlich willigt sie ein und reist ihm entgegen. Unterwegs macht sie einen kurzen Aufenthalt bei Bischof Pilgrim von Passau. Hagen ahnt, dass Etzels Heirat mit Kriemhild eine Gefahr für ihn darstellt - sie könnte mithilfe der Hunnen an den Burgundern Rache nehmen. Die Hochzeit wurde in Wien gefeiert. Anschließend reist das Ehepaar nach Hunnenkönigshof Etzelnburg. Sieben Jahre verspinnt Kriemhild zielstrebig ihre Rache. Inzwischen bringt sie einen Sohn Namens Ortlieb zur Welt. Sechs Jahre vergehen und Kriemhild bittet Etzel um Erlaubnis, ihre Brüder zu einem Fest einzuladen. Etzel konnte nicht ahnen, dass seine Gattin ihre Rache für Siegfried nehmen will.

Aventiure 24 - 28 Hagen rät die Könige von dem Besuch im Hunnenland ab, sie hören auf ihn jedoch nicht zu. Er will sich nicht als Feigling vorführen, so fährt er mit den Königen und einem großen bewaffneten Heer nach Etzelnburg. Die Burgunder kommen zu Donau an, sie benötigen eine Fähre, da die Flut sehr stark ist. Hagen sucht einen Fährmann. In der Quelle sieht er weissagende Meerfrauen, die ihn eine Prophezeiung offenbaren. Die Nixen warnen Hagen vor der Reise und prophezeien den Tod im Land Etzels. Es soll keiner der Burgunder diese Reise überleben, außer dem Kaplan des Königs. Hagen versucht es, den Kaplan zu ermorden, dies aber misslingt. Bevor die Recken ins Land Rüdigers kommen, besuchen sie den Bischof Pilgrim. An der Grenze zum Hunnenland begegnen sie Ritter Eckewart. Er warnt sie vor dauernder Trauer Kriemhilds um Siegfried. In der Residenz Rüdigers verlobt sich Giselher mit seiner jungen Tochter, Markgräfin Dietlind. Dann reiten alle zur Etzelnburg. Dort sind sie von Kriemhild kalt

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empfangen, sie begrüßt nur ihren Bruder Giselher, dadurch ist ihre feindselige Gesinnung den anderen gegenüber deutlich gemacht. Kriemhild beobachtet die Reaktion der Gäste. Dietrich von Bern, der Freund Hagens, will die Gastfreundschaft nicht verletzen. Etzel erweist sich als ein wohlwollend Gastgeber.

Aventiure 29 - 36 Kriemhild hetzt Hagen und fordert das Geständnis des Mordes an Siegfried heraus. Er gibt es zu. Als nächster Schritt plant Kriemhild, Hagen in der Nacht anzugreifen, jedoch die Hunnenkrieger wagen es zu tun. Kriemhild überredet den Etzels Bruder Bloedel sie verspricht ihm großzügige Geschenke und eine Braut. Während dem Festgemahl lässt Bloedel neun Tausend Gesinde der Burgunder ermorden. In dem Kampf fallen Tausende Mann zum Opfer, sterben alle Hunnen und Burgunder, nur Hagens Bruder Dankwart überlebt und erschlägt Bloedel. Hagen tötet Kriemhilds Kind und lässt es ihr hereinbringen. Dietrich hilft dem Königspaar den Saal zu verlassen. Etzel ist bereit, gegen die Gäste kämpfen und den Tod seines Sohnes rächen. In dem Kampf werden auch dänische und thüringische Krieger getötet. Obwohl die Burgunder wissen, dass dieser Kampf zur Rache an Hagen gerichtet wird, wollen sie Hagen nicht ausliefern. In diesem Abschnitt des Nibelungenliedes ist die Zusammenschließung der Burgunden, die Nibelungentreue57 (35. Aventiure, 2171f) zu ersehen. Kriemhild hat vor, alle Burgunder zu töten, so lässt sie den Festsaal anzünden. Sie halten jedoch dem Brand stand.

Aventiure 29 - 36 In den Kampf greifen nun Rüdiger und seine Krieger, Gernot, Giselher und Dietrich ein. Gernot, Rüdiger und Giselher fallen. Dietrich besiegt die letzten überlebenden Nibelungen und fesselt sie, sowie auch Gunther und Hagen und führt sie als Geisel zu Kriemhild. Kaltblütig fordert Kriemhild von Hagen den gestohlenen Hort, er weigert sich jedoch das Versteck zu verraten. Kriemhild lässt Gunther enthaupten. Nicht einmal

57 Nibelungentreue: Ein mittelhochdeutscher Begriff triuwe, der die personale Bindung im mittelalterlichen Lehnssystem bedeutet. Der Begriff beschreibt eine Form bedingungsloser, emotionaler und potenziell verhängnisvoller Treue. (Vgl. http://www.enzyklo.de/Begriff/nibelungentreue, Letzte Abfrage am 13.12.2012) 35

bewegt Hagen diese Tat, den Hort preiszugeben. Daraufhin nimmt Kriemhild Siegfrieds Schwert Balmung58, das Hagen umgebunden hat und enthauptet ihn selbst. Hildebrand ist entsetzt. Etzel ist erschüttert, dass sich eine Frau wagte, den großen Held zu töten. Hildebrand zerschlägt Kriemhild. Dietrich und Etzel klagen über ihre getöteten Verwandten. Die Menschen weinen und klagen über die großartigen Helden, Rittern und Lehnsmänner. So leidvoll endet das königliche Fest. Die blinde Rachesucht hat zur Folge den Untergang der Nibelungen59.

3.6 Symbolisches im Nibelungenlied

Im Hochmittelalter wirkte neben der christlich-transzendenten die mythische Denkform. Im Sinne des christlich-höfischen Weltbildes diente diese Denkform der symbolischen Erschließung der Wahrheit. Im Nibelungenlied tritt eine Reihe der mystischen Elemente mit ihrer Symbolik hervor, die insbesondere mit Siegfried im Zusammenhang stehen.

3.6.1 Traum

Ein Traum ist eine besondere Form des Erlebens mit intensiven Gefühlen, das im Schlaf verläuft. Aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen und Symbole wird versucht, die Bedeutung der Träume zu entschlüsseln. Durch die Deutung der Träume wird der Mensch zum Nachdenken gezwungen um ihren eigenen Lebensweg zu suchen oder zu folgen. Die mittelalterliche Literatur ist reich an Beispielen für Visionen und Träume.

58 Balmung: Ein magisches Schwert, Balmung, wurde von Wayland Smith gemacht. Odin erstach mit Balmung den Branstock Baum, eine Eiche in dem Palast Volsung. Derjenige, der das Schwert aus dem Baum ziehen konnte ist dazu bestimmt, im Kampf zu gewinnen. Es gelang Sigmund. Das Schwert später von Siegfried gegen Fafnir verwendet. (Vgl. http://www.pantheon.org/articles/b/balmung.html, Letzte Abfrage am 18.1.2013) 59 Nibelungen: Im Nibelungenlied werden als Nibelungen die Burgunden bezeichnet. Die Etymologie führt auf ein germanisches *nebula-, nibhila-, dazu u. a. althochdeutsch nebul, altsächs. nebal, altfries. nevil „Nebel“, altnord. njȏl „Nacht“, angelsächs. nifol „dunkel“, altnord. nifl-, in niflheim, einer Bezeichnung für die Unterwelt.(Vgl. Ehrismann, O. 2002, S. 31).

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Die Menschheit ist von den Träumen nicht erst seit der Veröffentlichung der ersten Bücher mit Traumdeutungen fasziniert, sondern schon seit biblischen Zeiten. Die biblischen Texte erzählen davon, dass die Menschen die Gottes Botschaft in Träumen und Visionen erfahren. Der Mensch gewinnt durch die Visionen und Andeutungen das Wissen, dass Gott gerade dann handelt, wenn es die Menschen nicht mehr schaffen.

Die Träume bzw. Traumsymbole (auch Sinnbilder genannt), haben in der Literatur verschiedene Funktionen, da die Traumepisoden verschiedene Aufgaben übernehmen. Im Weiteren dienen die Träume in der Literatur als epische Vorausdeutungen; die Handlung wird in ihnen schon vorweggenommen. Es muss jedoch in Rücksicht genommen werden, dass nicht jeder Traum alle Fragen deuten und beantworten kann. Im Nibelungenlied steht im Mittelpunkt der Traum als Schlüsselsymbol, der zu mehreren Interpretationen auffordert. Es werden hier jedoch nur Frauen mit den Warnträumen konfrontiert. In ihren Träumen tritt wiederholt ein Falke auf.

„Realsymbol Falke, eingeformt in die traumsymbolische Vorwegnahme von Siegfrieds Tod, bildet als erstes Handlungselement den eigentlichen Einsatz des mittelalterlichen Nacherzählers der alten ´maeren´.“60

Dreimal träumt Kriemhild im Nibelungenlied den Tod ihres Mannes. In der ersten Aventiure träumte Kriemhild, dass sie sich einen Falken aufgezogen hatte. Dann kamen zwei Adler, die das edle Tier vor Kriemhilds Augen erkrallten. Ihre Mutter Ute deutete die Erscheinung so, dass der Falke, den sie zog, ein edler Mann ist.61 Wenn ihn jedoch Gott nicht vor seinen Feinden beschützt, wird ihn Kriemhild bald verlieren.

„Tierträume haben vorausweisende Funktion. Zukünftiges Geschehen wird in einem Tiertraum offenbart. Den Traum kann derjenige entschlüsseln, der die Verweisstruktur zwischen Tier und Mensch erkennt und die Hintergründigkeit des im Traum Dargestellten richtig deuten kann.“62

60 Müller, G., 1968, S. 30-56 61 Vgl. Genzmer, F., 1965, 1. Aventiure, Strophe 13-14 62 Beck, H., 1965, S. 135 37

In der deutschen Literatur erwecken das Interesse vor allem Symbole der Macht und Liebe. Unter die Machtsymbole gehören vor allem das Schwert und der Hort, aber auch Tiere - wie Raubtiere bzw. Raubvögel (Falkenlied, Nibelungenlied).

3.6.2 Falkensymbol

Ein der Motive, die als die Ältesten in der mittelhochdeutschen Dichtung betrachtet werden, ist der Falke. Dieses Symbol und seine Deutung findet man im Falkentraum des Nibelungenliedes (und in den Falkenstrophen des Kürenbergers) besonders betrachtenswert. Außer dem Kürenbergers Falkenstrophen und dem Falkentraum Kriemhilds in dem Nibelungenlied können in der deutschen Dichtung auch andere Falkenmotive und Metaphern gefunden werden, z. B. Burkharts von Hohenvels Falkenlieder.63

„Die bildliche Verwendung des Falken und die Aussagekraft der Falkenmotive hängen aufs engste zusammen mit den Eigenschaften des Vogels und der charakteristischen Weise, in welcher Mensch und Falke zueinander in Beziehung treten.“64

Die Eigenschaften, über die der Falke verfügt, zeigen Kraft, Ausdauer, Mut, Angriffslust und Geschicklichkeit. Besonders auffallend wirken vor allem seine Scharfsinnigkeit, Eigentümlichkeit, elegante und auffallende Flugweise, sein majestätisches Aussehen und Jagdweise. So verkörpert sich in dem Raubvogel Stolz, Adel und Schönheit mit Kraft und Freiheitsliebe.65

Die Falken zusammen mit Adler wurden seit frühester Zeit als Sonnenvögel gesehen und für die religiös-mythische Weltanschauung galten sie als untrennbare Bestandteile der Natur. Damit stellten sie die ursprünglich gegebene lebendige Einheit dar. „Die Götter wurden als Tiere und die Tiere als Götter und Menschen erlebt.“66

63 Vgl. Reiser, I., 1963, S. 15 64 Reiser, I., 1963, S. 15 65 Vgl. Reiser, I., 1963, S. 17-19 66 Reiser, I., 1963, S. 45-48 38

In der ägyptischen Religion wurde der Falke, dessen dunkles Falkenauge alles sieht, zum Symbol der Übermenschlichen. Er wurde als Symbol der Göttlichkeit betrachtet - der falkenköpfige Gott Horus bewachte sein Land. Eine wesentliche Rolle, die dem Falken als Sonnengott zugeschrieben wurde, war die Inkarnation. Mit dem mystischen Symbol des Falken als Gottwesen verwebt sich aufs engste die Symbolik, die den Falken zum Sinnbild des Helden macht. Das Tier, der Gott und der Mensch waren in den frühen Heldensagen als Verwandlungswesen (Falkengott und Heldenfalke) betrachtet. Zum Motiv des Falken als Symbol für den Geliebten ist es nicht mehr soweit - ein geliebter Sohn oder ein Gatte, der bewundert wird, ein junger geliebter Mann bzw. auch ein Mädchen verkörpern das Bild des adeligen Raubvogel von China über die Mongolei, im ganzen slawischen Raum bis zur Donau.

Der wilde Falke mit seinem majestätischen, freien, hochstrebenden Flug symbolisiert das Sinnbild des Willens, des höchstes Ehrgeizes nach Ruhm oder des ungestümen Liebesbegehrens.

Das Falkenmotiv nahm seine Stelle nicht nur in dem deutschen Minnesang ein - als Gott, Held und Geliebter mit hoher Mut, sogar in der morgenländischen Dichtung hat er eine beträchtliche Bedeutung, wobei er als Sinnbild für die „vereinte Kräfte zur Erreichung hoher Ziele“ dargestellt wird. Diese Motive sind zwar in ihrem Ursprung nicht an die bestimmten sozialen Schichten gebunden, später sind jedoch als aristokratisch-höfische Falkenmotive gesehen.67

3.6.3 Hort, Ring und Schwert

Der Hort bzw. der Drachenhort gehört zu den symbolischen Deutungen des altüberlieferten Stoffelements wie Drachenmythos. Am öftesten kann der Hort in den mittelalterlichen nordeuropäischen und deutschen Heldenepen gefunden werden. Später fand dieses Element in Volkssagen und Märchen der Neuzeit ihre Stelle. Der Königsschatz stellt u. a. ein der Gegenstände des machtpolitischen Faktors dar, sowie auch im Nibelungenlied.

67 Vgl. Reiser, I., 1963, S. 45-50 39

Der Ring wird zu den bekanntesten Schmuckformen gezählt und kann nicht nur als ein Symbol der Liebe sein, sondern auch als Symbol der Macht und Unendlichkeit.

Sowohl ein Schatz, als auch das Schwert gehört zu den symbolischen Deutungen der Macht (sowie auch die anderen königlichen Insignien wie ein Ring, eine Krone, ein Hort), und der höchsten gesellschaftlichen Position in dem Land des Herrschers. Im Nibelungenlied vertritt das Schwert keine entscheidende Rolle.68

3.6.4 Linde

Einen besonderen Stellenwert hat für die Menschen die Linde. Der Baum mit herzförmigen Blättern, süßem Blütenduft und ausladender Krone spendet ein Gefühl von Geborgenheit. Die Linde gilt als Symbol für Gerechtigkeit, Liebe, Treue, Frieden und Heimat sowie als Platz der Gemeinschaft; ein Blatt von der Linde ist ein Symbol des freien Standes, der Grundbesitzer und Viehzüchter, sowie auch Symbol für Tapferkeit und Sieg. 69

Im deutschsprachigen Raum hat die Linde eine ganz besondere Bedeutung als Symbol für die Heimat. Der Baum bleibt als Symbol der Liebe und der Familie. Der Lindenbaum erfüllte immer die Funktion des Schattens, deshalb wurden bzw. werden von Linden häufig Begräbnisplätze und Denkmäler beschattet.

Im Nibelungenlied stellt die Linde bzw. das Lindenblatt ein Symbol des Todes und Schicksals dar.

68 Vgl. Müller, G., 1968, S. 38 69 Vgl. http://www.uni-goettingen.de/de/41770.html, Letzte Abfrage am 14.7.2012

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3.7 Historischer Hintergrund

Die Entstehung des Nibelungenliedes fällt historisch in die Zeit der germanischen Staatenbildung am Ende des 4. Jahrhunderts und hängt mit der Völkerwanderungszeit zusammen, an deren Ende das Weströmische Reich untergegangen war. Während dieser Zeit sind zahlreiche Sagen entstanden, die nach einer gewissen Zeit vor allem mündlich überliefert worden waren. Die Sagen können jedoch nicht als Geschichtschroniken betrachtet werden. Auf Grund des mehrfachen Umerzählens sind neue Geschichten entstanden, die ursprünglichen Motive wurden vertauscht, umgeändert und anderen Personen zugeordnet. Die Werke bzw. die ersten Sagen, lehnen sich vermutlich nah an die wirklichen geschichtlichen Ereignisse an.

„Die verschiedenen germanischen Königshäuser und auch Sippen sich oft dadurch auszeichneten, dass deren Mitglieder oft gleiche Namensbestandteile besaßen, beziehungsweise deren Namen mit demselben Buchstaben begannen, was sie als Mitglied der Familie kennzeichnete. Diese Namensähnlichkeiten förderten häufig den Verschmelzungsprozess in der Sage. So kann Gunther als Verkörperung der Burgunderkönige, Siegfried als Verkörperung der Frankenkönige und Dietrich von Bern als Verkörperung der Ostgotenkönige angesehen werden.“70

In Bezug auf die historischen Grundlagen wird vermutet, dass der Siegfried- Handlung die Einheirat eines Merowingers in das burgundische Königshaus entspricht. Durch den Tod, durch die Eroberung der Stadt Worms im Jahre 407 und durch den Sieg der hunnischen Truppen in 435, die das weströmische Heer unter Aetius verstärkten über die Burgunden unter König Gundahar kam in 436 der Untergang des Burgunderkönigsreiches. Gundahar bat zwar untertänig um Frieden, in 436 wurde das Burgundenreich plötzlich von Hunnen angegriffen und vernichtet, so fand Gundahar mit allen seinen Angehörigen den Tod. Die Vernichtung des Burgundenreiches wurde im Jahre 538 durch die Franken vollendet.

70 Bauch, M., 2006, S. 2, Zugänglich online unter: http://www.nibelungen-forum.de/seite_1.htm, Letzte Abfrage am 18.12.2011 41

In 451 findet die riesige Völkerschlacht auf den Katalaunischen Feldern statt. Attila, der Hunnenkönig, wird schließlich durch die verbündeten weströmischen Truppen unter Aetius geschlagen und muss sich zurückziehen. 453 heiratete Attila eine Germanin, Ildico (=Hildiko). Attila stirbt in der Brautnacht an einem Blutsturz.71 Hinsichtlich des Nibelungenliedes konnte der Tod Attilas wohl als Motiv betrachtet werden: Attila wurde zum Vernichter des Burgundenreiches und seiner Königssippe und Ildico (= Hildiko) zur Rächerin ihrer Verwandten gemacht.72

Bei der Suche nach der Grundlage für das Nibelungenlied73 ist es notwendig, in die nordischen Gattungen des 5. - 6. Jahrhunderts hereinzublicken, da gerade um die Jahrhundertwende die burgundisch-fränkische Heldenlieder entstanden. Die burgundisch-fränkischen Lieder wanderten im 8.-11. Jahrhundert aus dem rheinischen in den bayrisch-österreichischen Raum und wurden zu größeren Liedern ausgeweitet. Es werden jedoch mehrere Quellen als Grundlagen für die Entstehung des Nibelungenliedes gefunden. Die dänischen Chroniken aus dem 12. Jahrhundert beinhalten die Erwähnung von einem niedersächsischer Sänger, der ein Lied von dem Verrat Kriemhilds vor Herzog Knut Lavard vorgetragen hat.74

In der Thidrekssaga (um 1250, Begren) wird die Gewinnung Brünhilds durch Siegfried und Gunther, den Untergang der Burgunder und die Rache ihrer Schwester an dem Mörder Attila geschildert: Nachdem die Burgunder Siegfried ermordet haben brechen sie die Tür ins Schlafzimmer Kriemhilds auf und werfen den toten Siegfried in Kriemhilds Arme, wovon sie erwacht. Die Saga ist in Prosa erzählt und schildert das Leben eines Helden, der im deutschen Sprachraum als Dietrich von Bern bekannt wurde.75

Aus den gefundenen Gattungen geht hervor, dass den Umfassungen des Nibelungenstoffes die überlieferten Fassungen in der Älteren Edda aus dem 9. Jahrhundert das alte Sigurdlied und das alte Atlilied am nächsten stehen.

71 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 40 72 Vgl. Grenzmer, F. 1965, S. 8 73 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 40 74 Vgl. Brackert, H., 2011, S. 285-286 75 Bauch, M., 2006, http://www.nibelungen-forum.de/seite_1.htm, Letzte Abfrage am 18.12.2011 42

Die burgundisch-fränkischen Lieder wanderten im 8.-11. Jahrhundert aus dem rheinischen in den bayrisch-österreichischen Raum und wurden zu größeren Liedern ausgeweitet. Als Grundlage für den Charakter Etzels wurde die Dietrich Saga.

In der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts entstand in Österreich nur ein Epos, in dem der Untergang geschildert wurde - die Ältere Not. Dieses Epos wurde in der sog. Nibelungenstrophe geschrieben, blieb jedoch nicht erhalten.76

Seit dem 13. Jahrhundert sind neben den altnordischen Liedern bedeutende Prosafassungen entstanden, die durch Snorri-Edda von dem isländischen Dichters Snorri Sturluson präsentiert werden. Aus dem Nibelungensagenkreis kann weiter auch die Völsungasaga, die auch Elemente des deutschen Nibelungenliedes enthält, erwähnt werden - die Hauptfiguren sind u. a. , Brynhild, Gunnar, Gudrun und Atli). Das Hauptthema der Völsungasaga wird auf die Jugend Siegfrieds - Siegfried der Drachentöter - und seine Herkunft fokussiert.77

In der nordischen Literatur können noch andere Lieder gefunden werden, die sich mit den Figuren der Nibelungensage befassen.

3.8 Neuanerkennung des Nibelungenliedes

Der Stoff des Nibelungenliedes wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts vergessen. Die Neuanerkennung des Nibelungenliedes kam erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In 1782 veranstaltete Professor Christoph Heinrich Myller der erste Druck des Gedichtes. Im Jahre 1812 erschien das Epos in den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten und fand auch im Schulbereich seinen Platz. In 1803 forderte der oft verkannte Literaturhistoriker, Übersetzer, Schriftsteller, Indologe und Philosoph August Wilhelm Schlegel in seiner Vorlesung „Geschichte der romantischen Literatur“ dazu auf, die Erneuerung der Nationalmythologie zu entwickeln.

76 Vgl. Herbert, A. und Frenzel, E., 1953, S. 40 77 Vgl. Brackert, H., 2011, S. 285-286 43

Ein wesentliches Verdienst auf der Verbreitung des Nibelungenstoffes hat auch Karl Simrock. Seine Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche wurde in 1827 veröffentlicht. Seine vortreffliche Übersetzung gilt bis heutiger Zeit als klassische.78

Das 19. Jahrhundert hat in den verschiedenen Stilrichtungen und Medien eine Etablierung der beträchtlichen Nibelungenkunst gebracht, die eher als quantitativ als qualitativ gekennzeichnet werden kann. Ein der bekanntesten Dichter, die das Thema des Nibelungenliedes für die Literatur entdeckte, war Johann Wolfgang von Goethe, obwohl sein Verhältnis in den jüngeren Jahren zur älteren deutschen (bzw. althochdeutschen) Literatur erst relativ indifferent war. Nachdem er in 1807 von Friedrich Heinrich von dem Hagen die modernisierende Edition des Nibelungenliedes erhalten hatte, erweckte das Werk sein Interesse und Patriotismus. Er begann sich der deutschen Literaturtradition widmen und in der Zeitrahmen von November 1808 bis Januar 1809 hielt er „Mittwochsvorträge“ vor Damen des Hofs und der Weimarer Gesellschaft. Seine Vorträge behandelten das Thema des Nibelungenliedes, die von ihm vorgelesen und erörtert wurden.79 Unter die Künstler, die sich vor allem für den Text des Nibelungenliedes interessierten, gehören auch z. B. Friedrich Hebel mit dem Drama Die Nibelungen und Richard Wagner mit seinem Bühnenfestspiel .

3.8.1 Die Gegenwart

Nach 1945 hat das Nibelungenlied als Nationalepos seine Stelle nicht nur in dem dramatischen Bereich durch Texte von Wilhelm F. Schäfer (1948), Rheinhold Schneider (1951) und Max Mell (1952) gefunden, sondern auch im Roman - durch Texte von Martin Beheim-Schwarzbach (Der Stern von Burgund, 1961) und Joachim Fernau (Disteln für Hagen (1966). Seit den sechziger Jahren wurde das Epos allmählich aus den Schulen genommen (Erishmann/ Hardt 2003).

78 Vgl. Genzmer, F., 1965, S. 3-4. 79 Vgl. http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/wissen/projektepool/rezeption_nibelungen/goethe_gri mm.pdf, Letzte Abfrage am 13.12.2012

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Die Nibelungenthematik kehrte in den siebziger Jahren im Rahmen der neuen Mittelalterlichkeit aufzublühenden Fantasy-Kultur zurück. Heutzutage gibt es viele, obwohl nicht auffällige Texte in verschiedenen Medien, wie z. B. das Drama Die Nibelungen von Moritz Rinke (2002), den „historischen“ Roman Siegfried und Kriemhild von Jürgen Lodemann (2002) und den Roman Der Ring der Nibelungen des deutschen Fantasy-Autor Wolfgang Hohlbein (2004) u. a.80

Das Epos hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sogar in Museen etabliert. Ein der berühmtesten Museen befindet sich in Worms, wo die Nibelungenthematik aufgrund verschiedenen Projekten der europäischen Umfang präsentiert werden.81

80 Vgl. Erishmann, 2005, S. 89-108 81 Mehr unter http://www.worms.de/deutsch/kultur/museen/nibelungenmuseum.php, Letzte Abfrage am 13.12.2012

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IV. HAUPTFIGUREN IM NIBELUNGENLIED

In diesem Kapitel werden die Protagonisten des Nibelungenliedes vorgestellt und charakterisiert. Um ihre Charaktere, die durch ihre Handlung dargestellt werden, aufzufassen und ihre Handlung zu interpretieren, war es notwendig, nicht nur das Epos ausführlich zu lesen, sondern auch weitere Literaturquellen nachzuschlagen. Da das Epos im in der Schriftsprache Mittelhochdeutsch geschrieben wurde, entschied ich mich, die übertragene Version des Nibelungenliedes von Felix Genzmer (1965) und das Werk von Helmut Brackert (2011; Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung) als Primärliteratur zu verwenden. Als Sekundärliteratur, die sich mit den ehelichen Beziehungen, der Stellung der Männer, Frauen und Adeligen im Mittelalter beschäftigt, verwendete ich die Werke von Georges Duby „Rytíř, žena a kněz. Manželství ve Francii v době feudalismu.“ (2001) und Ennenová, Edith „Ženy ve středověku.“ (2001). Diese Werke haben mir u. a. auch im Weiteren geholfen, die Schlüsselmomente des Epos wahrzunehmen und zu interpretieren.

Die Figuren in dem Epos können als „handelnde“ bezeichnet werden. In dem Epos ist es deutlich zu ersehen, was sie tun und wie sie handeln. Unter dem Einfluss des Geschehens spielt sich eine Geschichte ab, die durch den Erzähler zum Leben erwacht. Stolz, Hochmut und Emotionen sind Begleiter des Tuns der Figuren, die über die Umstände nicht viel nachdenken, sondern sie einfach handeln. Eine Basis für das Handeln der Figuren und gleichzeitig der Schwachpunkt stellen die Verwandtschaft, die Beziehungen und die Treue dar. Das Tun der Figuren wird von dem Epiker beschrienen und passend kommentiert, z. B. die Todesszene, als Siegfried von Hagen ermordet wurde - unter großen Schmerzen, mit letzten Gedanken an Kriemhild stirbt „der Kriemhilde Mann“ (Genzmer, F., 1965, Strophe 1003). Die Tragik, die weitgreifende Folge haben wird, wurde von dem Erzähler genau bezeichnet (Krimhilds Verrat).

Obwohl sich die Geschichte im Nibelungenlied im Laufe von vielen Jahren entwickelt, werden die Protagnisten nicht alt. Am deutlichsten ist es bei dem Bruder Kriemhilds - Giselher - zu ersehen, da er von Anfang an bis zu Ende als „Kind“ bezeichnet wird.

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Die Kriemhild-Figur erweist jedoch die markanteste Entwicklung - von einer schönen Mägdelein wird „minnigliches Weib“, später reiche hochmutige Königin, dann tief unglückliche Witwe und schließlich kaltblütige Rächerin.

In dem Epos treten jedoch nicht nur die Hauptfiguren (Kriemhild, Siegfried, Gunther und Hagen), sondern auch eine Menge der Nebenfiguren auf. In der Handlung werden u.a. gesellschaftliche Sitten und höfische Zeremonien geschildert. So bietet das Lied ein Bild der differenzierten Gesellschaft damaliger Zeit dar.

„Diese Komplexität des Figurenensembles lässt eine feudale epische Welt entstehen. Damit werden die alten maeren zur Erzählung von feudaler Welt mit einigen ihrer Konflikte umgeformt. Es wird nicht die Geschichte und die heroische Behauptung einzelner herausragender Gestalten (wie im Heldenlied), sondern die Geschichte einer zwar vergangenen, aber doch auch sehr zeitgenössischen Gesellschaft erzählt. Gerade das ist wichtig, weil die alten maeren dadurch dem zeitgenössischen Publikum beziehungsreiche Assoziationsmöglichkeiten eröffnen.“82

In den weiteren Kapiteln werden die Figuren des Nibelungenliedes näher vorgestellt und charakterisiert. In den Klammern werden Verweise auf Aventiuren, Strophen und Verse angeführt, die der Übersetzung des Nibelungenliedes von Felix Genzmer (1965) entnommen wurden.

4.1 Siegfried

Siegfried ist eine der handelnden Figuren, tritt jedoch nur in dem ersten Teil des Nibelungenliedes auf. Als Figur vertritt er eine entscheidende Rolle in dem ersten Teil des Epos, vor allem in Bezug auf sein Verhältnis zu den Burgundern. Außerdem stellt Siegfried einen Helden - Drachentöter - dar, wovon er schließlich stark profitiert hatte.83

Er gewann einen märchenhaften Hort und das Schwert Balmung (95-97) als Symbole der Macht und königlicher Prestige, überdies auch eine Tarnkappe des

82 Göhler P., 1989. S. 119 83 Genzmer F., 1965, S. 16-17 47

Zwerges Alberich84, die ihn unsichtbar machte (101). Die zauberhafte Tarnkappe85 wird später bei der Werbung um , Königin von Island und gleichzeitig bei der Rettung des Lebens von König Gunther die entscheidende Rolle spielen (445; 468; 476; 481). Siegfried, ein Held mit der mythischen Herkunft, wird in der zweiten Aventiure als Adlige präsentiert - „eines reichen Königs Kind“ (20, 1), der Sohn des königlichen Ehepaares Siegmund und Sigelind von Xanten (= Santen; 20, 4). Dort wurde er zum Ritter erwachsen - „Ruhmreich und kräftig ward bald der kühne Mann…“ (21, 3). Siegfried repräsentiert die höfische Welt und ritterliche Kultur, er ist „Zierde für seines Vater Land.“ (25, 3).

Die Eigenschaften Siegfrieds wurden in dem Epos häufig und wiederholt hervorgehoben - kräftig, kühn, schneller Degen, mit kraftbeherzten Mut, von ihm möchte man viele Wunder sagen, durch sein eigenes Wesen gewann er viele Tugend, die Leute sehen ihn gerne, die Frauen und Mädchen träumten von ihm. Manche Frau und manche Maid wünschten, dass „sein Wille ihn immer zöge dahin“ (26, 2-3). Siegfried war nicht nur ein Königssohn und Ritter, sondern auch ein Mann, mit Ehrgeiz - „mochte er wohl erwerben beides: die Leute und das Land“ (27, 4) der auch als Mann nach Liebe sehnte - „er dachte sein in Minne“ (24, 4) und wünschte, eine schöne Ehefrau erwerben zu können - „manches ahnmutige Weib“ (24, 4).

In der dritten Aventiure schildert der Epiker einen neuen Weg Siegfrieds und damit auch der Anfang des kommenden Schicksals. Um Kriemhild zu gewinnen, kommt Siegfried nach Worms an. Dort erweist er Gefälligkeit, Klugheit und strategisches Geschick. Hilfsbereitschaft und Tapferkeit schafft er bravourös nicht nur beim Eintritt in Burgunder Hof. Er bestätigt sich den Burgunder nebeneinander als tapferer triumphierter Kämpfer im Krieg mit Dänen und

84 ist ein Zwerg, der als Bewacher des Nibelungenschatzes auftritt. 85 Tarnkappe: Im Nibelungenlied errang Siegfried die Tarnkappe von Alberich, zusammen mit dem Hort. Die Tarnkappe macht Siegfried unsichtbar. Das Motiv konnte der Epiker der griechischen Mythologie entnehmen, da ihre Funktion dem klassischen Tarnmantel des Helden Perseus entspricht (Perseus bekam den zauberhaften Tarnmantel von den Nymphen geschenkt - er konnte Medusa das Haupt abschlagen. Vgl. Zamarovský, V., 1980, 287; 374-378)

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Sachsen (4. Aventiure). Durch seine persönliche Strategie wurde er zweifacher Sieger, da er auch Kriemhild, die schöne Burgunder Prinzessin erwirbt.

Siegfrieds durchaus heroisches Bild stört einen wesentlichen Makel in Form seines listenreichen Benehmens zu Gunsten des Königs Gunther. Erstens hilft ihm Siegfried beim Erwerb der Königin Brünhild auf Island (398; 400; 468; 476; 481) und rettet dabei das Leben des Königs. Kurz danach greift er (anstelle des Königs Gunther) beim Unterwerfen der mächtigen Königin während der Hochzeitsnacht (675-693) ein. Obwohl Siegfried ein starker Mann ist, gerät er in Situation, wo die irdischen Kräfte ungenügend sind. Deshalb benutzt er (445, Erwerb Brünhilds) die zauberhafte Tarnkappe, die ihn unsichtbar macht und den Betrug ermöglicht.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine außergewöhnliche Eigenschaft Siegfrieds, und zwar seine Unverwundbarkeit (104). Das Geheimnis steckt in dem Drachens Blut. Nachdem er den Drachen erschlug, badete er in seinem Blut. Die Haut des Helden wurde unverwundbar - „von solcher Härte, dass keine Waffe sie versehrt“ (104) - bis auf eine kleine Stelle auf dem Rücken, wo ein Lindenblatt landete. Dieses Lindenstück wurde später die Folge der Erfüllung des Schicksals Siegfrieds.

Siegfrieds eindrucksvolle Stärke wird auch weiter hervorgehoben - in der sechzehnten Aventiure auf der Jagd, da er eine Menge Großwild erjagt. Kurz danach wird er heimtückisch ermordet (986, 1-2). Durch seinen Tod (1015) wird die Ehe mit Kriemhild geschlossen, gleichzeitig bleibt er in den Erinnerungen seiner Gattin lebendig: Kriemhild hat seinen Tod nicht verarbeitet, wie mehrmals in dem Epos vorgelegt wird.

Die Siegfried-Figur bleibt bis zu Ende des Liedes im Fokus. Sein Tod wurde ein der entscheidendsten Motive zur Vernichtung des Burgundenreiches.

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4.2 Kriemhild

Kriemhild stellt das Idealbild einer edlen Prinzessin dar, die in der höfischen Welt Verehrung genießt. Sie wächst am burgundischen Königshof in Worms, von ihrer Eltern - König Dankrat und seine Gemahlin Ute geliebt, unter dem Vormund ihren Königlichen Brüdern Gunther, Giselher und Gernot. Im Gegensatz zu den anderen Figuren im Nibelungenlied ist Kriemhild die einzige Figur, bei der in dem Epos deutliche Entwicklung vermerkt werden kann. Sie steht im Mittelpunkt des ganzen Liedes. Als Figur verbindet sie dessen beiden Teile.

Kriemhilds Figur tritt in die Handlung in der dritten Aventiure ein. Sie ist nicht gleich eine der Teilnehmer des Empfangs Siegfrieds, sie ist jedoch von ihm geahnt.

Die burgundische Prinzessin wird in dem Nibelungenlied als „schöne Maid“ (47, 2), „edele Jungfrau“ (48, 1) „mit ihrer stolzen Schönheit“ (48, 1) und „Hochgemüt“ (52, 1) geschildert. Die Schönheit Kriemhilds ist oft betont, besonders in der fünften Aventiure, als sie Siegfried begegnet hatte. Der Erzähler sieht sie als „minnigliches Wesen“, „Morgenrot“ (287, 1) mit „minniglichem Schein“ (288, 2), und betont, dass er „auf dieser Erde etwas Schöneres nie gesehen hat“ (288, 4). Kriemhilds Schönheit spiegelt ihre menschlichen Werte wider. Sie wirkt als „Verkörperung der idealen inneren und äußeren Harmonie“ (287-291). Durch die Eheschließung mit Siegfried gewinnt sie den Gattin-Status des Königssohnes.

Die Kriemhild-Figur nimmt in dem Epos mehrere Stellen ein. In dem ersten Teil tritt sie als Siegfrieds Objekt der Minne auf, später als seine Gattin und in dem zweiten Teil nicht nur als Frau und Witwe, die jahrelang in maßloser Trauer um ihren verstorbenen Mann lebt, sondern auch als Etzels Gattin und Herrscherin des Hunnenlandes (22. Aventiure) und schließlich Rächerin (37. - 38. Aventiure), die ihre Macht nutzt, um Siegfrieds Mord zu rächen, ohne die blutigen Folgen ihrer Tat zu bedenken (38. - 39. Aventiure).

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4.1 Brünhild

Brünhild, Königin von Island, die auf dem Hof Isenstein lebt, ist eine der wichtigsten Figuren des Nibelungenliedes. „Ihre mythischen Kräfte sind weit und breit bekannt“ (333-335) - wie der Epiker hervorhebt. Sie ist schön, stark, stolz, selbstbewusst und auch misstrauisch (6. Aventiure).

Die Brünhild-Figur tritt ins Geschehen in der sechsten Aventiure ein. Auch diese Frau bzw. Königin schildert der Epiker als wunderschöne, herrliche Weib, welche man nur schwer finden könnte: „… die ihr gliche, fände man wohl schwer: schön war sie über die Maßen, gewaltig ihre Kraft;“ (333, 2-3).

Diese Figur scheint jedoch als eine kalte Herrscherin und stolze Frau, die ihre Macht über alles vorzieht. Wer das Herz der Königin gewinnen möchte, muss sich einem Wettbewerb unterziehen, drei Spiele gewinnen und sie besiegen. Der Verlierer kommt jedoch ums Leben. Brünhild wünscht sich einen tatsächlich starken Mann - einen Helden - heiraten (334-336). Die mächtige Königin wird jedoch nicht von König Gunther, sondern von Siegfried besiegt, da er seine zauberhafte Tarnkappe benutzt, sich unsichtbar macht und durch diesen Betrug gewinnt er Brünhild für Gunther.

Brünhild ist jedoch keine leichtgläubige Frau, sie kann einfach nicht glauben, dass Gunther so gut und stark ist und sie tatsächlich besiegte. Sie ist zornig, trotzig, fühlt sich betrogen und gedemütigt. Sie verweigert Gunther in der Hochzeitsnacht den Beischlaf; sie beabsichtigt, für immer Jungfrau zu bleiben und keinesfalls Gunthers „minnigliches Weib zu werden“ (643-646). Ihre Würde und Stolz wurden verletzt. Ihre mythischen Kräfte sind nämlich von ihrer Jungfräulichkeit abhängig.

Die Entwürdigung in der Hochzeitsmacht verletzt Brünhilds Stolz tatsächlich tief. Es ist kein Wunder, dass Brünhild eine anständige Genugtuung erreichen wollte, nachdem sie den Betrug Siegfrieds durchschaute. Solche Entwürdigung musste schwer bestraft werden. Brünhild wünscht sich den Tod Siegfrieds (857; 859).

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4.4 Gunther

Gunther, ein der drei Könige des Burgunderlandes herrscht in Worms. Außerdem vertritt er auch die Rolle des Vormunds von seiner Schwester Kriemhild. Seine Eltern, Dankrat und Ute, hinterließen ihrem Sohn Gunther das Erbe (5, 1-2). Im Nibelungenlied ist er (sowie auch seine zwei Brüder Gernot und Giselher) als „edel und reich“ (4, 1), „kühn an Kräften“ (6, 2) und „mit hohem Heldenmut“ (8, 2) geschildert. Die Beziehung zwischen Gunther und seiner Schwester Kriemhild hat sich im Laufe des Geschehens wesentlich verändert. Während am Anfang Hochachtung, Gewogenheit und Treue unter Geschwistern spürbar ist, verursacht der Tod Siegfrieds eine starke Veränderung des Verhaltens aller Akteure. Aus der geschwisterlichen Liebe wird Hass, aus der Hochachtung wird Verachtung und Respektlosigkeit, die Kriemhild mehr oder weniger bekundete, bis zur offenbaren Feindschaft. Charaktermäßig scheint Gunther wie eine schwache Figur, da er viel zu oft von den anderen Protagonisten geleitet wird - nicht nur von seinen Brüdern Giselher und Gernot, sondern vor allem von seinem Vasallen Hagen von Tronje. Gunther ist leicht beeinflussbar, was sich in den wichtigen Situationen eindeutig zeigt: Gunther geht Hagens Ratschläge nach, ohne sie mit seinen Brüdern zu besprechen oder Hagen zu widersprechen. Die Stellung Gunthers und der Ausweg bei der Werbung um Brünhild hebt seine Schwäche hervor. Obwohl er von Siegfried gewarnt wird, um die isländische Prinzessin nicht zu werben, hört Gunther nicht zu. Sein Stolz und seine Hochmütigkeit sind zu groß. „Nie ward geboren ein Weib, so stark und so kühn auch, daß ich ihren Leib, im Streit nicht bezwänge mit meiner eignen Hand.“ (339) Seine Kräfte sind dagegen zu klein. Er überschätzt seine Fähigkeiten und ist dazu gezwungen, Siegfried um Hilfe zu bitten. Statt sich als Mann und Kämpfer zu bestätigen, beauftragt er Siegfried, den Erwerb zu erledigen und Leben einzusetzen.

Siegfried schließt mit Gunther einen geschäftlichen Vertrag ab: Er hilft dem König Brünhild zu besiegen und als Entlohnung verspricht Gunther dem jungen Helden seine Schwester Kriemhild als künftige Ehefrau. „So wie es steht mit mir, gibst du mir deine Schwester, so will ich helfen dir.“ (Siegfried; 344,1-2).

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„Das gelobe ich“, sprach Gunther, Siegfried, dir in die Hand. Kommt die schöne Brünhild her in dieses Land, so will ich dir zum Weibe meine Schwester geben,…“ (Gunther; 345,1-3)

Gunthers Schwäche wird später nochmals in der Brautnacht gezeigt. Brünhild ahnt, dass nicht Gunther selbst ihre Kräfte besiegte, so lehnt sie Gunther ab, fesselt ihn und hängt an die Wand (648). Er ist zu schwach um sich zu wehren. Gunther selbst war nicht in der Lage die mächtige Königin zu erobern, deshalb musste er Siegfried um Hilfe bitten. Durch die listige Tat, an der Siegfried beteiligt war, wurde Brünhild gezwungen, schließlich Gunthers Ehefrau zu werden (676-696).

Gunthers Manipulierbarkeit ist ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Mordplanung Siegfrieds (14. Aventiure). Zuerst will Gunther an Hagens Ratschläge nicht hören, mehrmals lehnt er sie ab. Schließlich zeigt sich der König als ein schwacher Herrscher, er ändert seine Meinung und bewilligt die grimme Ermordung Siegfrieds. Gunther behandelt Siegfried undankbar. Er denkt nicht mehr daran, dass Siegfried immer behilflich war und sich achtungsvoll zu ihm benahm. Hagen von Tronje, als Vasall des Königs, profitiert von der Schwäche und Säumigkeit Gunthers und gewinnt die führende Rolle.

4.5 Hagen von Tronje

Hagen von Tronje gehört zu den interessantesten Figuren, vor allem für seine Umstrittenheit. Er wird im Nibelungenlied als mächtiger Vasall - „König Gunthers Mann“ (421, 4.) präsentiert, der seine Treue zu den burgundischen Königen durch die loyale Verpflichtung bestätigt. Seine körperlichen Eigenschaften und seine Stärke bestimmen seine Rolle des hervorragenden Kämpfers voraus: „Das Held war wohl gewachsen…“ (1782, 1), „…seine Brust war gewaltig (1782, 2), „…herrenhaft war sein Gang.“ (1782, 4). In dem Epos zeigen sich jedoch auch die dunklen Seiten Hagens Charakter - er ist grimmig und verschlagen. Hagens Aussehen erregte Angstgefühle. „Furchtbare Blicke er so viele tut. Er hat in seinem Wesen, glaub ich, grimmigen Mut.“ (427, 4). Als einzige der Figuren im Epos wurde Hagen detaillierter beschrieben: „…sein Haar

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mit grauer Farbe, die Beine waren lang und sein Gesicht gar nicht schrecklich…“ (1782, 3-4).

Hagen und Kriemhild vertreten in dem Epos die Gegenspieler. Hagen ist die meist gehandelte Figur. Das Geschehen wird durch das Handeln Hagens differenziert und vorwärts gerückt. Im Unterschied zu Kriemhild steht Hagen mit Gunther gewissermaßen in dem positiven Verhältnis; diese Figuren gehören zusammen. Er tritt nicht nur als Diener und Vasall des Königshauses, sondern auch als nicht immer vorausschauender Ratgeber.

In dem ersten Teil des Liedes (3. Aventiure) rät Hagen, Siegfried wie einen Helden zu empfangen (105, 1-4); König Gunther stimmt völlig zu: „Du sprichst, mein ich wahr.“ (106, 1). Vor dem drohenden Krieg mit Sachen und Dänen empfiehlt Hagen, Siegfried als Kampfgefährte einzustellen (156, 4).

Bei der Werbung um Brünhild steht Hagen wieder als Ratgeber zur Dienst und rät dem König Gunther, sich an Siegfried zu wenden: „So will ich Euch wohl raten“, sprach da Hagen, „dass ihr Sigfrid bittet, mit Euch zu tragen die starke Beschwerde. Mein Rat dahin geht, da es ihm so bekannt ist, wie es um Brünhilde steht.“ (342, 1-2). Einen Fehler beging der gierige Hagen in dem Moment der Handlung, wo er das Nibelungenhort (Kriemhilds Morgengabe) aus Xanten nach Worms liefern wollte (1124) mit der Begründung, dass es Kriemhild zu Gunsten würde. König Gunther bewilligt es, da er sich die Versöhnung mit seiner Schwester (nach dem Tod Siegfrieds) wünschte (1125). Hagens Gier wird später blutige Folgen haben.

In dem zweiten Teil des Nibelungenliedes befindet sich Hagen in der Position des weit blickenden Ratgebers, da er von der Vermählung Kriemhild und Etzel abrät (1236, 4). Er ahnt Gefahr (Kriemhilds Rache wird kommen), trotzdem kommt er seine Verpflichtungen in dem Glauben nach, dass er mit ausreichender Anzahl der Krieger und mit voller Ausrüstung die Gefahr vermeiden werden kann (1510). Ebenfalls wird Hagen durch das listenreiche und kaltherzige Handeln auch dämonisiert (Siegfrieds Ermordung, Hortraub, Vereitelung der Prophezeiung, blutiger Angriff der Hunnen während der Feier im Etzelshaus, Ortliebs Ermordung). Auf Grund seines gewalttätigen Handelns erwartet ihn ein unheroischer Tod.

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4.6 Etzel

Etzel wird im Nibelungenlied als sozusagen aufgeklärter Herrscher des Hunnenlandes präsentiert. Er verfügt nicht nur über starke Autorität, sondern zeigt auch Toleranz in den religiösen Fragen (seine Eheschließung mit Kriemhild, die eine andere Religion angehörte; Christen und Heiden an dem Etzels Hof nebeneinander). Trotz seiner guten Eigenschaften wird er als zögernde Figur dargestellt (33.-39. Aventiure), da er die drohende Gefahr seitens Burgunden und Kriemhilds Absicht ihre Rache zu begehen, unterschätzt. Sein Säumen führt zu einem unerträglichen Zustand, wo er eine Menge seiner Krieger im blutigen Kampf mit den Burgundern verliert und sein Land nicht mehr retten kann.

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V. ANALYSE DER CHARAKTEURE IN DEN SCHLÜSSELMOMENTEN DER HANDLUNG

Die epische Dichtung beinhaltet verschiedene Elemente wie Erzähler, Motiven, Figuren, Handlung, Symbole u. a. die als Strukturträger betrachtet werden können und bei der Realisation der Dichtung von Bedeutung sind.

Im Vergleich zu dem eddischen Lied, in deren im Zentrum der Handlung nur einzelne Figur steht, wird das Geschehen im Nibelungenlied von vielen Figuren gekennzeichnet und beeinflusst. Obwohl das Epos Nibelungenlied nicht als ein Geschichtsbuch betrachtet werden kann, bietet es ein bemerkenswertes Bild der feudalen Welt dar. Die Gründe zu einer bestimmten Handlungsart der Figuren werden nicht immer offenbar gestellt, die Ereignisse werden mit mystischen oder märchenhaften Symbolen verbunden. Die Szenenfolge hält die Rezipienten in Erwartung von einem neuen Umschwung, lässt sie unterbewusst die Abfolge des Geschehens raten und in der schlagartig gradierten Szene schließlich in sprachloses Erstaunen geraten.

Auf Grund des wechselnden und gradierenden Geschehens treten Fragen auf, die durch Einblickversuche verschiedenartig und oft nur mit Schwierigkeiten eindeutig beantwortet werden können. In diesem Kapitel werde ich mich bemühen, die passende Interpretation des Handelns von einzelnen Figuren zu finden und aufgrund ihrer Charakterzüge zu präsentieren.

Erzähler als Szenenführer

Der Erzähler des größten überlieferten mittelhochdeutschen Versepen, des Nibelungenliedes beginnt mit Wörtern - „alten Mären Wunder“ (1, 1), die bei den Rezipienten Erwartung und Spannung erwecken sollen.

„Uns sind in alten Mären Wunder viel gesagt Von Helden, reich an Ehren von Kühnheit unverzagt, von Freude und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen, von Kühner Recken Streiten mögt ihr nun wunder hören sagen.“(1)

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Die Rezipienten können die umfangreiche Erzählung von den Rittern und heroische Taten erwarten - kühner Recken Streiten, die ein Drama schildern werden - Freude und Festlichkeiten, Weinen und Klagen. Der Epiker macht auf die ineinander verwobene Themenkreise, die den Inhalt des Liedes bilden, aufmerksam: Burgunden, die Stadt Worms, schöne Frauen usw., beispielsweise „Kriemhild, die minnigliche Maid“ (2; 3; 7), „edle und reiche Könige, Gunther, Gernot und Giselher“ (4; 5) mit ihrer hervorgehobenen Herkunft (sie seien hochgeboren), „die besten Recken mit maßlosen Kräften, scharfe Kämpfe, späterer Einfluss der Recken auf das Etzels Land“ (2; 3). Es wird auch der Schlüsselkonflikt durch „zweier edler Frauen“ (7; 8) angedeutet.

Eine Menge der Protagonisten im Nibelungenlied - von den Königen und Rittern, edlen Frauen bis zu den Nebenfiguren - versprechen eine spannungsvolle Erzählung von bedeutenden Ereignissen, bei denen die Helden, Minne und Macht im Mittelpunkt stehen. Um die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu fesseln, verwendet der Epiker mystische Elemente wie magische Tarnkappe, Unverwundbarkeit des Helden Siegfried, Ring und Gürtel als Gegenstände der außergewöhnlichen Kraft, Nixe mit ihrer Prophezeiung und Träume als hellseherische Fähigkeiten (Kriemhild).

5.1 Kriemhilds Träume

Die Träume, als psychische Aktivität während des Schlafens sind eigentlich Bilder, die gewissermaßen Wünsche der träumenden Person widerspiegeln oder in bestimmten allegorischen Verschlüsselungen Warnungen bringen.

Am Anfang des Liedes kann sich der Rezipient Fragen stellen, wie z. B. „Welche Funktion hatte ein Traum im Mittelalter?“ und „Welche Bedeutung kann der Rezipient ersehen?“, die im Laufe der Handlung teilweise von dem Epiker durch die epische Gestaltung beantwortet werden.

Kriemhilds Träume stellen im Nibelungenlied die Schlüsselpfeiler dar, die in der Interpretation den zukünftigen Ausgang ahnen lassen.

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Drei Schlüsselträume Kriemhilds werden die Vorboten des Todes Siegfrieds. Interessant finde ich, dass in dem Epos nur Frauen träumen (nicht nur Kriemhilde, sondern auch Brünhild). Folgend werde ich versuchen, die Traumdeutungen vorzulegen bzw. die Träume Kriemhilds zu interpretieren. Die Entschlüsselung der Traumsymbole ist für die durchlaufende Handlung sehr wichtig, da sie ermöglicht, die Protagonisten, das globale Geschehen und die Charaktere der Figuren besser zu deuten und zu verstehen.

5.1.1 Der Falkentraum

Die erste Aventiure des Liedes bringt dem Rezipienten Erkenntnisse über Prinzessin Kriemhild, über ihre Brüder und übermittelt die gegebenen Verhältnisse auf dem Wormser Hof. Kriemhild träumt ihren ersten Traum.

Obwohl die Prinzessin eher als passive Figur wirkt, spielt sie in dem Traum eine aktive Rolle - „…sie zöge einen Falken, einen starken schönen, wilden Falken…“ (13, 2). Der Falke kreist nicht irgendwo über den Kopf Kriemhilds - als eine Bedeutung der Passivität, sondern sie zieht den Falken zu sich. Dies weist auf die Aktivität der handelnden Figur. Eine Weile danach kann Kriemhild sehen, wie zwei Aare (Adler) einen starken schönen, wilden Falken erkrallten (13, 3). Diese Adler, die auch unter die königlichen Tiere gezählt werden, stellen im Nibelungenlied die Täter dar; der Falke musste zum Opfer fallen. Dieser Falke ist mit Siegfried identisch.

Im deutschen Mittelalter wird oft der Held oder insbesondere der Geliebte mit einem Falken verglichen, so auch im Nibelungenlied.86

86 Vgl. Bächtold-Stäubli, H. u. a., 1978, S. 1156

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Kriemhild ist ein zartes Wesen, die vor Minne (= Liebe) geschützt werden möchte: „Ohne Reckenminne, so will ich immer sein.“ (15, 2). Sie hat „Angst vor Mannesminne und vor der Not“ (15, 2-4), sie ahnt, dass die Liebe mit Leid verknüpft wird. Je mehr sie sich weigert, desto größere Bedeutung hat für sie der Traum, in dem der Falke einen Ritter darstellt. Heimlich wünscht sich Kriemhild „einen kühnen Ritter gewinnen“ (18, 3-4). Zugleich fürchtet sie den Tod des Mannes, wie das Sterben des Falken in ihrem Traum andeutete. Kriemhilds Warnträumen stellen im Nibelungenlied das Vorzeichen einer späteren Tragödie dar.

Kriemhild sucht einen Ausweg, um die Erfüllung der schrecklichen Prophezeiung zu vermeiden, deshalb vertraut sie ihrer Mutter Ute zu, dass sie „nie einem Mann ihre Liebe und ihr Herz schenken wird“ (15, 1-4). Als Kriemhild den Traum ihrer Mutter Ute erzählte, reagierte die Königin eher positiv: „Der Falke, den du siehst, das ist ein edler Mann. Ihn volle Gott behüten; sonst ist es bald um ihn getan.“ (14, 3-4).

Ich bin der Ansicht, dass die heutigen Rezipienten Kriemhilds Schwur - das Leben „ohne Reckenminne“ (15, 2) zu verbringen - nicht ganz ernst nehmen würden. Kriemhilds Mutter sorgt jedoch um ihre junge unerfahrene Tochter und versucht sie zu ermutigen (15; 1). Kriemhilds einzige Behüterin und Beraterin ist also ihre Mutter Ute, die zu ihr liebevoll spricht:

„Lehn es nicht so gänzlich“, die Mutter sprach also „ sollst du je auf Erden von Herzen werden froh, das ist von Mannesminne. Du wirst ein schönes Weib, wenn Gott dir bescheret noch eines guten Ritters Leib.“ (16, 1)

Obwohl Ute ihre Tochter von der Entscheidung - ohne Recken-Minne bis zum Tod bleiben (15; 2-3) - abbringt und die Einblicke in die Zukunft positiv schildert, nimmt Kriemhild die Warnung ihres Traums ernst. Später versucht sie, aktiv zu werden und Siegfried vor dem Tod zu schützen. Ihre Bemühungen scheitern jedoch an Misstrauen, Habgier und Machtgier (s. weiter 5.8 Siegfrieds Ermordung). Der Prophezeiung über den Tod und das Schicksal kann jedoch Siegfried nicht entkommen.

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Der Epiker äußert die Vorausdeutung durch den Tod des Ritters bzw. des Falken: „…kam mancher Mutter Kind in Not…“ (19, 4) und macht deutlicher, dass der Ritter „derselbe Falke“ ist, „den sie (Kriemhild) im Traume sah“ (19, 1), und dass der Ritter Siegfried sein wird (s. weiter 5.8 Siegfrieds Ermordung). Die von dem Erzähler geschilderte Szene der zerreißenden Adler musste bei der zarten Kriemhild ein schreckliches blutiges Bild hervorrufen. Der Erzähler erhöhte damit die Spannung beim Publikum. Spricht man von den Träumen, bleibt eine Frage offen (wie folgt).

 Dürfte Siegfried am Leben sein, falls er Kriemhild nicht heiraten würde?

Diese Frage kann kaum eindeutig beantwortet werden. Erstens handelt es sich hier um ein Epos, in dem die Handlung von dem Erzähler bestimmt wird. Zweitens muss es sich nicht um eine Geschichte handeln, die auf der Basis der Tatsächlichkeit geschildert wird. Deshalb bleibt die Antwort auf die o.a. Frage nur für Spekulationen offen gestellt.

In den meisten Kulturen spricht man von dem Schicksal als von einer Bestimmung, die im Voraus gegeben ist. Das Schicksal, das von den Menschen wahrgenommen wird, bedeutet nicht nur Glück, sondern auch Unglück.

Zu Siegfried war sein Schicksal hart. Sein Leben wurde von mehreren menschlichen Schwächen deutlich beeinflusst und schließlich wurde ihm seine Kraft und Leben entnommen. Ein einziger Streit zwischen zwei Frauen, Begierde und Sehnsucht nach Rache, sowie auch nach unbegrenzter Macht vernichtete die langjährig aufgebauten Beziehungen und schließlich auch das ganze Nibelungenland.

 Konnte in diesem Fall tatsächlich von dem Schicksal gesprochen werden? Oder passierte die Vernichtung auf Grund der unkontrollierbaren niedrigen Treiben der Menschen wie Gunther, Hagen, Kriemhild und Brünhild?

Unbestritten ist die Tatsache, dass der Epiker große Sorgen der königlichen Eltern Sigmund und Sigelind um ihren Sohn wiederholt äußerte, als Siegfried seine Absicht um Kriemhild zu werben, bekundete.

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„Diese Märe hörte da König Sigmund. Davon sprachen die Leute. Dadurch ward ihm kund der Willen seines Sohnes. Das war ihm bitter leid, daß er werben sollte um diese herrliche Maid.“ (53).

 Existierten Gründe dafür, um Siegfried zu sorgen?

Offensichtlich wurde dem König Sigmund das Burgundenland, sowie auch seine Herrscher Gunther und Gernot bekannt. Er versuchte seinen Sohn von der Werbung abzuraten und vor Gunthers übermütigem Mann (= Hagen; 56, 4) zu warnen. Sigelind, als Frau und Mutter, mit ihrem mütterlichen Instinkt ist die gleiche Meinung. Am liebsten würde sie ihr Kind vor allen Bösen behüten; ihre bösen Ahnungen deuteten, dass sie Siegfried verlieren wird.

„So vernahm es auch die Mutter, die edle Sigelind. Sie mußte schwere Sorge haben um ihr Kind: sie meint ihn zu verlieren durch Gunthers Heeresbann. Die Werbung man dem Degen sehr zu widerraten begann.“ (54)

Zu Ende des Nibelungenliedes wird die Prophezeiung, die in Erfüllung kommt, von dem Epiker geschildert. Hochmütigkeit, Neid und das Nibelungengold brachten nicht nur viel Leid, sondern den Untergang des ganzen Burgunderlandes.

5.1.2 Der Ebertraum

Kriemhilds erster Wunsch - „ohne Reckenminne“ (15, 2) zu bleiben, kommt nicht in Erfüllung. Sie begegnete Siegfried, der in ihrem Herzen Minne erweckte. Sie heiratete ihn und wurde Königin (717; 726-727) bzw. die Ehefrau Königs Siegfried.

Zwölf87 Jahre vergingen. Kriemhild gebar einen Sohn, der nach ihrem Bruder Gunther getauft wurde (729). Wie es von dem Epiker vorgelegt wurde, ist ihre Ehe

87 Zwölf: Im Nibelungenlied ist auffällig, wie oft die Zahl zwölf auftaucht. „Die Zwölf gibt zum Ausdruck, dass alles Sein nach Durchlauf sämtlicher Stufen der Entwicklung wieder in seinen Ursprung zurückkehrt. In der Zwölf, der Urzahl, der Mutter aller Zahlenmystik, finden wir die Anleitung zum Glücklichsein. Da man schon in der Vorzeit in der Zwölf eine kosmische Zahl sah, musste sie für die damals Lebenden als von Gott gegeben gelten.“ (Vgl. Gruss, A. M., 2009; Mehr zu diesem Thema s. Anlage 2. - Glossar.) 61

anhand einer zweckmäßigen trügerischen Vereinbarung zwischen Gunther und Siegfried zustande gekommen. Kriemhilds Hochmut und jahrelang verborgener Hass zu Brünhild, der einen starken Königinnenstreit erregte, brachte tödliche Folgen, an denen der Lehnsmann Gunthers - hinterlistiger Hagen - einen grundlegenden Anteil hatte.

Hagen, der angeblich Brünhilds öffentliche Entehrung rächen will, bemüht sich, über Siegfrieds verwundbare Stelle von Kriemhild zu erfahren, und zwar unter dem Vorwand, dass er ihn besser schützen könne: „Wie ich Euch dienen könne an Siegfried, Eurem Mann.“ (908, 2-3).

Kriemhild träumt in der Nacht vor der trügerischen Jagd, die Hagen mit Gunthers Einwilligung geschmiedet haben (919). Ihre bösen Träume erzählt Kriemhild ihrem Mann und äußert eindringliche Bitten um ihn heim zu halten.

Sie sprach zu dem Recken: „Laß Euer Jagt sein! Mir träumte von Leide: wie Euch zwei wilde Schwein jagten über die Heide. Da wurden die Blumen rot. Drum muß so sehr ich weinen. Das schafft mir armen Weiben Not.“ (935)

Die „zwei wilde Schwein“ (935, 2) in dem Traum Kriemhilds können als zwei gewaltige Gegner interpretiert werden. Kriemhild träumte schon früher einen Traum, in dem ein wilder Falke als Siegfried interpretiert werden kann (13, 2).

Durch den zweiten Traum, in dem der Tod Siegfrieds dargeboten wird, bestätigt die Überzeugung Kriemhilds, dass sie eine übernatürliche Eigenschaft besitzt und die Zukunft hineinsehen kann. „…ich fürchte deinen Fall. Mir träumte nächtlich Unheil, als ob hier zu Tal stürzten zwei Berge; ich sah dich nimmermehr.“ (938, 1-3). Die Königin ist richtig verzweifelt und macht sich um Siegfried Sorgen.

Siegfried hält die Träume als belanglos, er fühlt sich sicher und unverwundbar: „Ich weiß hier keine Feinde…“ (937, 2). Kein Argument konnte Siegfried von seiner Absicht, an der Jagt teilzunehmen, abbringen. Sein Nichtbeachten der mächtigen Feinde - „wilde Schweine“ (935, 2) - wurde für Siegfried schicksalhaft. Seinen Tod symbolisiert die Schilderung des Erzählers: „…da wurden die Blumen rot.“ (935, 3).

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5.1.2 Der Bergetraum

Kriemhild weiß, dass sich Siegfried in Gefahr befindet. Sie kann es besser als Siegfried einschätzen. „Nein doch, Herr Siegfried, ich fürchte deinen Fall.“ (938, 1), deshalb versucht sie ihn zu überzeugen, bei ihr zu bleiben und auf die Jagt mit Gunther und Hagen zu verzichten. Sie erzählt ihm ihren Traum: „Mir träumte nächtlich Unheil, als ob hier zu Tal stürzten zwei Berge; ich sah dich nimmermehr.“ (938, 2-3). Dieser Traum prophezeit den Tod Siegfrieds, sowie auch die zwei vorherigen Träume. Kriemhilds verzweifelten Worte zu ihrem geliebten Siegfried - „Willst du nun von mir scheiden, das schmerzt mich innerlich gar sehr.“ (938, 4) klingen, als ob sie eine Prophezeiung selbst wären. Siegfried konnte jedoch nicht einschätzen, was damit Kriemhild sagen will. Er weiß von der wirklichen Lage nicht Bescheid. Nach dem „innigen Küssen“ (939, 2) verlässt er seine „tugendliche Weib“ (939, 1) ohne weiteres Wort zu sagen. Der Epiker bestätigt das Drama, das nach der Abreise Siegfrieds geschehen wird. Die prophetischen Träume werden in Erfüllung gehen. Er macht den Rezipienten klar, dass Kriemhild ihren Mann leider nimmermehr gesund sehen wird (939, 4). Mit diesen Worten betonte der Erzähler das tragische Ende des geliebten Mannes.

Kriemhild vermutet, dass sie eine Fähigkeit besitzt, in die Zukunft hineinzublicken. Durch das Verraten der verwundbaren Stelle Siegfrieds an Hagen verstärkt sich bei ihr das Gefühl, dass sich das unvermeidbare Ende des Helden nähert. Kriemhilds Träume zeigen zwei Mörder - zwei Adler, zwei Wildschweine und zwei Berge. Nur in dem ersten Traum erscheint ein Tier, der wilde Falke, in dem das Opfer (Siegfried) verschlüsselt wurde. In den nächsten zwei Träumen kann der Rezipient deutlich erkennen, dass Siegfried zum Opfer eines Mordes wird. In diesen Träumen wird Siegfried als Mensch dargestellt. Merkwürdig finde ich, dass Kriemhild lieber schweigt, statt ihrem Gatten ihr Versagen anzuvertrauen. Ihre Angst - aufgrund der Todesträume - zeigt sich später in der Handlung als berechtigt zu sein. Sie ist die Einzige, die weiß, wer Siegfried umbringen wird. Trotzdem unternimmt sie keinen kräftigen Schritt für eine Rettung.

Der Epiker deutet den Rezipienten an, dass Kriemhild den potentiellen Mörder Siegfrieds (Hagen) sieht. Kriemhild weiß (von ihren Träumen), dass es zwei Mörder

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gibt. Fraglich ist also, ob Kriemhild ihren eigenen Bruder (Gunther) als den zweiten Mörder einschätzt. Da Hagen von Tronje auf dem Hof des Königs Gunther offensichtlich eine privilegierte Stellung einnimmt (er berät den König viel zu oft), ist es möglich, dass ihn Kriemhild von Anfang an nicht richtig abschätzte. Sie konnte ihn für einen Vasallen88 halten, der von seinem Herrscher (Gunther) im Privaten nicht kontrolliert wird. Gunther scheint jedoch als Mitschuldige Hagens. Schließlich griff er nicht ein, als Hagen Kriemhilds Mann Siegfried ermorden wollte; nicht einmal bei der Ermordung. Gunther wusste über die Pläne Hagens, trotzdem reagierte mit keinem einzigen Wort zu seinem sterbenden Schwager. Das gefühllose Verhalten stellt Gunther und Hagen auf gleiches Niveau, als ob die Beiden ebenbürtig wären. Dies zeigten auch Kriemhilds Träume: zwei Feinde, die gegenüber Siegfried standen, erschienen als ebenbürtig. Die Träume sind offensichtlich prophetisch präsentiert, sie zeigen das wahre Verhältnis der Täter.

 Ist es möglich, dass diese Tatsache Kriemhild übersehen hatte?

Da Gunther Kriemhilds Bruder und Vormund war, bevor sie Siegfried heiratete, konnte es passieren, dass Kriemhild zu ihm geschwisterliches Vertrauen hatte und keinen Verrat bedachte. Beim achtsamen Lesen der siebzehnten Aventiure, als Kriemhild bei der Bestattung Siegfrieds mit ihrem Bruder spricht und er zwingt ihr die Schuld der Schächer an der Ermordung Siegfrieds auf, äußert sie ganz deutlich, dass sie sich der Mitschuld Gunters bewusst ist.

„Diese Schächer sind mir wohlbekannt. Gott lasse es noch rächen seiner Freunde Hand! Gunther und Hagen, ihr habt es getan.“ (1064, 1-3).

88 Vasall - ein Herr, der sich freiwillig als Gefolgsmann in den Dienst eines anderen Herrn stellte und sich diesem für bestimmte militärische oder diplomatische Dienstleistungen verpflichtete. (Vgl. DUDEN, S. 1788)

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5.1.3 Träume – Teilschlussfolgerung

Die Handlung des Nibelungenliedes umfasst eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten, in deren lässt sich nicht bestreiten, dass Kriemhild eine wesentliche Charakterentwicklung durchmacht, die sich auch in ihren Träumen widerspiegelt.

Im Falkentraum spielt sie eine aktive Rolle, was ganz im Gegenteil zu dem alltäglichen höfischen Leben steht. Im Laufe der Zeit bis zu den anderen Träumen kann man beobachten, wie es zur Umkehrung der Verhältnisse kam. Die passiv auftretende Prinzessin veränderte sich in ihrem Traum zu einer aktiven Herrscherin. Aus der undurchsichtigen und passiven Kriemhild als einer der Mitglieder des Hofes von Burgund, auf dem sie nur eine symbolische (obwohl auch verehrte) Position vertritt, wird später mit Hilfe eines höfischen und idealen Partner (Falke) bzw. eines Helden (Falke = Siegfried) und später ihres Ehemannes und Königs eine aktive und selbstbewusste Frau. Davon lässt sich bei Kriemhild eine gewisse Progression der Individualität erkennen.

Die Merkmale der Persönlichkeit Kriemhilds im Vergleich zu den ersten Strophen und zu dem Ende des Liedes zeigen, wie sie sich von der unschuldigen, liebevollen Jungfrau zur furchtbaren, erbarmungslos rächenden Teufelin verändert.

Die zwei anderen Träume, die unmittelbar vor dem Beginn der todbringenden Jagd auftauchen, prophezeien den Tod des Haupthelden und akzentuieren das Ende des ersten Teiles des Nibelungenliedes.

Nach diesen Träumen tritt Kriemhild als eine aktive Figur auf, als eine liebende und sorgenvolle Ehefrau, die ihren Gatten überzeugen will, an der Jagt nicht teilzunehmen. Kriemhilds Argument, um Siegfried zu überzeugen, war die doppelte nachdrückliche Warnung, die sie in ihren Träumen entschlüsselt hatte. Kriemhild nimmt alle Träume, die von prophetischer Natur waren, sehr ernsthaft. Sie will diese Träume nicht wahr werden lassen, deshalb versucht sie, entsprechend zu handeln. Interessanterweise berichtet sie Siegfried nicht, dass sie im Gespräch mit Hagen das Geheimnis Siegfrieds (die verwundbare Stelle auf Siegfrieds Schulter) verraten hatte. Stattdessen bemühte sie sich anhand der Traumbilder ihren Ehemann zu überzeugen, dass am Hof die böse Feindschaft gegenüber ihm herrscht. Damit konnte

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Kriemhild seine Gedanken auf Brunhild (aus meiner Sicht etwa betrügerisch) lenken und ihre eigene Schuld verbergen.

Kriemhilds aktives Handeln und argumentativ belegte Überzeugung bleibt erfolglos. Siegfried schließt die Szene mit einem Kuss ab, was von den Rezipienten als ein Abschiedskuss vor dem Weg in den Tod betrachtet werden kann.

Kriemhild erkannte mit Befürchtung, dass ihre Bemühungen gescheitert sind und die offenbarten Zukunftsbilder unaufhaltsam wahr werden. Die Traumbilder brachten sie dazu, sich mit ihnen ernsthaft zu beschäftigen, Schlussfolgerungen zu ziehen und entsprechend zu handeln bzw. versuchen zu handeln.

5.2 Siegfrieds und Kriemhilds Annäherung

Bevor Siegfried nach Worms gekommen war, vernahm er die Mär von „der stolzen Schönheit“ (48; 1) und „Minne“ (49; 1) Kriemhilds. Er musste bedingungslos zu den Burgunden fahren und das minnigliche Maid erwerben.

„Von ihrer stolzen Schönheit ging die Kunde weit; und auch ihr Hochgemüte zu der gleichen Zeit hatte bei der Jungfrau so mancher Held erkannt. Das lockte viele Degen hin in König Gunthers Land.“ (48)

Siegfried hat Kriemhild nie gesehen, trotzdem hatte er das Gefühl, sie wäre die richtige Braut für ihn. Er „sann auf hohe Minne“ (50; 1) und beschloss, die Prinzessin zu heiraten: „Kriemhild alsdann ich nehme.“ (51, 4).

Interessant finde ich, dass Siegfried nach Worms gekommen ist, um nicht nur die schöne Maid zu gewinnen. Primär scheint es so, dass er in Absicht hatte, die Herrschaft über das Burgundenreich zu erlangen und erst dann um die burgundische Prinzessin zu werben. In dieser Reihenfolge schildert der Epiker Siegfrieds kühne Pläne in der jugendlichen Impulsivität des edlen Königsohnes: „…ich trau mich zu erzwingen beides, Leute und Land…“ (58, 4).

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Aus diesen Indizien ist es ersichtlich, dass die Motive des Handelns Siegfrieds Macht und Liebe sind. Nicht durch Liebe, sondern durch seine Taten will Siegfried Kriemhild verdienen (49). Der Erzähler schildert Siegfrieds Absichten ganz deutlich: Als Siegfried in Worms ankam, trat er als Aggressor auf, obwohl er kein Kriegsheer mitgebracht hat. Er wollte um das Land und um die Herrschaft kämpfen (111-114). Dies bestätigen auch seine Worte: „Ich will von Euch erzwingen, was Euch gehöret an; Land sowie Burgen, das soll mir werden untertan.“ (114, 3-4).

Nachher brach ein Streit aus, der aber gemildert wurde. Siegfried erhielt ein Angebot, und zwar, die Gastfreundschaft des burgundischen Königshofs anzunehmen (124-125). Siegfried erinnerte sich an das wahre Ziel seines Besuches in Worms - die herrliche Maid, Kriemhild (127, 4).

Obwohl in diesem Teilabschnitt des Nibelungenliedes nicht explizit gesagt wurde, dass Kriemhild die Empfangsszene und auch den vorher drohenden Streit beobachtete, ist es ganz gut möglich, dass sie es heimlich tat. Kriemhild musste jedoch eine längere Zeit abwarten, bis sie dem schönen Helden Auge in Auge gegenüberstehen durfte. Die erste Annäherung Siegfrieds und Kriemhilds (284, 287, 290-295) passierte nach seinem Triumph in dem Krieg mit Sachsen und Dänen, während der Festlichkeit (276, 1), die zu Ehren des Sieges veranstaltet wurde.

Kriemhilds zurückhaltendes Verhalten kann besser verstanden werden, nachdem man die mittelalterlichen Sitten näher kennenlernt. Nach Edith Ennenová (2001, S. 34-37) beteiligten sich Frauen im Mittelalter an dem öffentlichen Leben nicht, nahmen an den „Männersachen“ oder an einem Kampf bzw. einem Streit nicht teil und traten an der Öffentlichkeit nicht auf. Die Stellung der Frauen im Mittelalter war gegenüber den Männern keinesfalls gleichwertig.

Kriemhild war noch Jungfrau und stand unter der Vormundschaft ihres Bruders Gunther. Bevor sie Königin wurde, musste sie sich den mittelalterlichen und höfischen Sitten und Gewohnheiten unterwerfen.

Das negative Bild der Frauen wurde vermutlich vor allem durch ihre schwächere Körperkonstitution dargestellt. Diesem Bild entspricht auch Kriemhild. Sie stellt das

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Bild der zärtlichen Naivität, mit fast ätherischem Aussehen dar. Wie das Morgenrot scheint aus trüben Wolken“ (287, 1) schildert sie der Epiker.

Verschiedene (logisch nur schwer begründete) Vermutungen, dass die Männer Recht haben, die Frauen zu beherrschen, sie sogar körperlich zu bestrafen, weil die Männer den Frauen übergeordnet sind, beruhen auf einem Teil der Bibel bzw. auf einigen falschen Interpretationen (Evas Ursünde als Ausgangspunkt für die untergeordnete Rolle der Frau in der Gesellschaft).89 Kriemhild im Nibelungenlied ist keine Ausnahme. Der Erzähler nennt Kriemhild mehrmals als „Königin“, sie konnte jedoch erst nach der Heirat mit einem passenden edlen Mann - König - die „richtige“ Königin werden. Bisher lebte sie auf dem Hof als Prinzessin, unter der Vormundschaft ihres Bruders Gunther. Ich bin der Ansicht, dass der Epiker die Benennung „Königin“ (Kriemhild) aufgrund des prächtigen Aussehens, der Erhabenheit, der reichen Gewand und Majestät dieser jungen Frau verwendete d. h. er musste damit nicht explizit den Königstitel meinen.

Siegfrieds Vater Sigmund hat seinem Sohn die Krone angeboten, er wollte sie aber nicht annehmen solange seine Eltern leben (45). Erst nach der Heirat mit Kriemhild wurde Siegfried König und seine junge Frau Königin. Kriemhild verliebte sich in Siegfried sozusagen auf den ersten Blick und liebte ihn als Mann und Herrscher, obwohl die Ehe mehr oder weniger von ihrem Bruder Gunther erzwungen war.

Im Mittelalter war es nicht üblich, dass sich die Leute aufgrund der Liebe für die Eheschließung entschieden haben. Die Ehe wurde als Geschäft betrachtet und unter Herrscher und höheren Adeligen auch als ein politischer Vertrag akzeptiert. Die Frauen durften an den Verhandlungen unter Männern nicht teilnehmen, sondern sie mussten sich im Hintergrund halten.90 Das war auch Kriemhilds Fall.

Nach dem Ankommen Brunhilds auf den Wormser Hof erinnerte Siegfried König Gunther an das Versprechen, dass Kriemhild seine Ehefrau werden soll. Siegfried verdiente sie nämlich als „Belohnung“ von Gunther - nach der Werbung um Brünhild.

89 Vgl. Ennenová, E., 2001, S. 34-37 90 Vgl. Ennenová, E., 2001, S. 34-37

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Kriemhild wusste nichts davon, dass sich ihr Bruder Gunther mit Siegfried auf der Ehe einigte. Sie wurde von Gunther „angeboten“, Siegfried zu heiraten (623).

Da sprach der König Gunther: „Laß dirs nicht werden leid, meine liebe Schwester, und löse meinen Eid!“ Ich gelobte dich einem Recken; und wird er dein Mann, so hast nach meinem Willen gar getreulich du getan.“ (623)

Gunther demonstrierte vor dem Hof seine Macht und Autorität - sein Wille ist wie Gesetz. Kriemhild, wie eine gut erzogene edle junge Frau, konnte sich einen Widerstand nicht leisten. Sie willigte ein.

„Da sprach die edle Jungfrau: ´Viellieber Bruder mein, du sollst darum nicht flehen. Denn ich will immer sein, was ihr mir gebietet; das sei nun getan. Ich will mich dem verloben, den Ihr, Herr, mir gebt zum Mann.´“ (624)

Siegfrieds und Kriemhilds Ehe hatte unbestreitbar nicht nur die politischen Vorteile, sondern sicherte auch ein gewisses Ausmaß der steigernden Macht. Gunther war sich dieser Tatsache bestimmt bewusst. Für Kriemhild hatte jedoch diese Ehe eine ganz andere Bedeutung. Sie, als eine typische mittelalterliche Frau, die keine übermäßige Wahl von potentiellen Ehemännern hatte, konnte die Begegnung mit Siegfried tatsächlich als einen positiven Schicksalsschlag betrachten. Der Held führte seine besten Eigenschaften vor: Mut, Entschiedenheit, Hilfsbereitschaft, Offenherzigkeit, körperliche Kraft und Stärke, sowie auch seine adelige Herkunft und Tapferkeit. Zusammen mit der Schönheit (wie der Epiker oftmals betont) und seinem glänzenden ritterlichen Aussehen stellt Siegfried im Nibelungenlied einen Idealmann dar, nach dem jedes Mädchen oder jede Frau sehnen muss. Kriemhild war hier keine Ausnahme. Ihr Herz musste einfach die Liebe ausfüllen.

 Ist es möglich, dass Siegfried, Gunther und Kriemhild kalt kalkulierten und die Heiratsabsicht den macht-politischen Zielen unterordneten?

Gunther ist im Nibelungenlied König eines mächtigen Landes (Burgundenland) und seine Schwester sollte nach den adeligen Sitten einen mächtigen Mann heiraten. Siegfrieds Herkunft wurde dem Ort Santen (= Xanten; 20, 4) in den Niederlanden

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zugeschrieben (20, 1). Er ist ein Held, Drachentöter und Besitzer des Nibelungenhortes aus dem märchenhaften Ort, der als Nibelungenland bekannt war (3. Aventiure).

In der Zeit des Mittelalters wurde eine königliche Ehe oft aus politischen Gesichtspunkten geschlossen. Die Gefühle fanden in den adeligen Bündnissen keinen großen Platz. Bevorzugt wurden die wirtschaftlichen und politischen Interessen.91

Der Rezipient des Nibelungenliedes kann annehmen, dass alle drei Protagonisten (Siegfried, Gunther und Kriemhild) ihre eigenen Gründe hatten, ihre machtpolitischen Ziele durch die Heirat (Siegfried mit Kriemhild) erreichen zu wollen. Aufgrund der Andeutung des Epikers können jedoch bei Kriemhild die möglichen kaltblütigen Kalküle in Zweifel gezogen werden - sie war nämlich in Siegfried verliebt. Dass die Beiden gegenseitige Zuneigung fühlen mussten, kann der Rezipient einfach den Worten des Epikers entnehmen: „Da schied von jeder Not, wer sie trug im Herze.“ (287, 2-3), Siegfried gewann von Kriemhild den wonniglichen Anblick (297, 3), „in minniglicher Tugend“ begrüßte sie Siegfried (297, 4) und „sie faßt ihn an der Hand. Wie minniglich zu schauen, der Recke bei ihr stand! Mit liebevollen Blicken sah sie einander an“ (299, 2-4) „in herzlieber Minne“ (300, 2).

5.3 Brünhilds Niederlage

Brünhild stellt im Nibelungenlied eine unabhängige Herrscherin des nordischen Landes (Island) dar. Da der Erzähler die Geschichte ins 12. Jahrhundert situiert hat, ist diese Tatsache mehr als beachtenswert. Die Mittelalterliche Geschichte nimmt keine einzige Herrscherin eines gewissen Landes auf dem alten Kontinent auf. 92 Bezüglich dieser Feststellung bietet sich folgende Frage dar.

91 Vgl. Otis-Cour, L., 2002, S. 54-59 92 Vgl. Ennenová, E., 2001, S. 30

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 Warum Brünhild über das Privileg einer emanzipierten Frau verfügt? Worin ist sie so einzigartig? Wie sie ihre faszinierende Kraft beherrscht?

Brünhilds vorheriges Leben und ihr Weg zur Macht und Herrschaft auf Island ist im Nibelungenlied nicht bekannt gegeben. Der Epiker bietet nur die reine Tatsache, dass Brünhild die Königin auf Island ist.

„Es war eine Königin gesessen überm Meer; Eine, die ihr gliche, fände man wohl schwer: Schön war sie über die Maßen, gewaltig ihre Kraft; Sie warf mit schnellen Degen um die Minne den Schaft.“ (333)

Brünhild ist anscheinend die erste Wegbereiterin der Frauenemanzipation im Mittelalter. Sie ist stark, selbstständig, entschlossen, verfügt über nordische Schönheit. „Ihre Kraft war gewaltig (333, 3), sie benahm sich wie ein Ritter: „Da war gekommen Brünhild, die man gewaffnet fand…“ (453); „...einen Waffenrock sie trug“ (453).

Diese Märe von Brünhild vernahm Gunther, dem diese außergewöhnliche Frau kräftig imponieren musste und er wollte sie unbedingt haben. Brünhilds außerordentliche Schönheit und Kraft war bestimmt eine gute Motivation für ihn, damit er seinen Status des Herrschers erhöhen und verstärken könnte. Er missachtete jedoch das Risiko, dass er ums Leben kommen könnte und dadurch sein Land gefährden würde. „Um ihre Schönheit willen wage ich Leben und Leib. Die will ich gerne verlieren; Brünhild werde denn mein Weib.“ (337, 3-4). Gunthers Benehmen kann gut verstanden werden. Er ist der Herrscher eines der reichen Länder, der in der Zukunft Nachfolger brauchen wird. Die Märe von einer schönen Königin aus dem nordischen Land konnte unter anderem auch sein politisches Interesse erwecken. Zwei großen Länder mit starker Herrschaft könnte doch das Ziel vielen Könige sein, sodass ist Gunthers Ehrgeiz in diesem Sinne leicht begreifbar.

 Warum sollte gerade Gunther zögern und auf die lockende politische und männliche Begierde zu verzichten?

Gleich oder ähnlich konnten Gunthers Gedanken bestürmen. Er dachte über das Risiko nicht hinaus, sein Ehrgeiz überschritt die Grenze der vernünftigen Einschätzung,

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er wollte das Risiko unbedingt eingehen und beides - das Land und die schöne kräftige Frau zu erlangen.

 Warum ist aber Gunther so hartnäckig und hört nicht einmal an Siegfrieds guten Rat? Spielen hier eine Rolle seine männlichen Charaktereigenschaften wie Eitelkeit, Hochmutigkeit, Neid oder die Sehnsucht nach Brünhild? Will er sich nicht nur als Herrscher, sondern auch als Mann behaupten?

Siegfried warnte Gunther vor der Königin, deren außergewöhnliche und sogar magische Kräfte weit und breit bekannt waren. Er bat ihn, seine Sitte zu bedenken und sich der Kraftprobe nicht zu unterziehen. Alles vergeblich. Gunthers Hochmut überwältigte ihn selbst. „Nie ward geboren ein Weib, so stark und so kühn auch, dass ich ihren Leib, im Streit nicht bezwänge, mit meiner eigenen Hand.“ (339, 1-3).

Gunther war nicht in der Lage, die guten Ratschläge Siegfrieds zu hören. Er sah keine Gefahr vor sich. Brünhild war mit mythischen Kräften ausgestattet, dagegen war Gunther im Vergleich mit der isländischen Königin zu schwach. Möglicherweise, ist es genau das, was ihn anziehen konnte und auch der Grund dafür, warum ihn die physische Kraft Brünhilds so stark reizte. Er setzte alles aufs Spiel - seine Ehre und sein Leben.

An dieser Stelle sehe ich vor allem reine Hochmutigkeit des Königs. Sein Selbstbewusstsein und überschätzte Meinung über eigene ritterliche und männliche Eigenschaften stehen sehr hoch. Seine Eitelkeit verursachte, dass er für die Minne der isländischen Königin das tödliche Risiko eingeht. Er wurde von seinem Vasall, dem listigen Hagen von Tronje unterstützt, der Gunther riet, Siegfried um Hilfe zu bitten.

„So will ich Euch wohl raten,“ sprach da Hagen, „dass Ihr Siegfried bittet, mit Euch zu tragen die starke Beschwerde. Mein Rat dahin geht, da es ihm so bekannt ist, wie es um Brünhilde steht.“ (342)

Der Epiker schildert die spannende Werbung um Kriemhild bis ins Detail. Im Fokus steht die aktive Hilfe Siegfrieds, der seine magische Tarnkappe benutzt und unsichtbar mit Brünhild kämpft. Während der drei tödlichen Spiele rettete Siegfried Gunthers Leben (468; 476; 481).

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Unbeantwortet bleibt jedoch eine Frage, die zwischen den folgenden Zeilen versteckt bleibt: „Mein Rat dahin geht, da es ihm so bekannt ist, wie es um Brünhild steht.“ (Hagen, 342, 3-4). Es scheint nämlich so, als ob Siegfried Brünhild gut kannte.

 Wie konnte Hagen wissen, dass Siegfried Erfahrungen mit Brünhild hat?

Im Nibelungenlied kann über die vorherige Begegnung Siegfrieds und Brünhilds keine Erwähnung gefunden werden. Trotzdem muss diese Tatsache nicht ausgeschlossen sein. Es ist ganz gut möglich, dass Siegfried der Königin von Island einst begegnete.

Wenn man nur aus dem verfügbaren Text ausgehen sollte, sind Siegfried und seine Heldentaten bereits bekannt. Deshalb konnte auch Hagen die Märe in Betracht ziehen und denken, dass Siegfried in seinen jüngeren Jahren mit der isländischen Königin etwas zu tun hatte. Der Epiker bringt davon jedoch keine Auskunft.

Die tödlichen Werbungsspiele Brünhilds bzw. der Dreikampf um ihre Jungfräulichkeit kann als umstritten gesehen werden. Die spezifische Weise ihres Handelns während den Werbungsspielen, die eigentlich als Kampf auf Leben und Tod betrachtet werden können, regen einige Fragen an.

 Warum tritt Brünhild im Nibelungenlied so herrisch und unnahbar auf? Sehnt sie sich nicht nach Liebe, genauso wie jede andere Frau?

Interessant finde ich, dass Brünhild mit vielen Männern den Dreikampf einging, obwohl sie wissen musste, dass sie jedes Mal Siegerin sein wird. Wahrscheinlich wollte sie doch einen (Ehe)Mann gewinnen, den sie doch lieben dürfte - einen starken Helden, in dessen Armen sie sich sicher fühlen könnte, der ihr Land vor möglichen Aggressoren verteidigen würde und den sie auf Grund seiner Kräfte, Mut und Furchtlosigkeit achten und lieben könnte.

Meiner Vermutung nach, wartete Brünhild auf einen „richtigen“ Mann, den sie irgendwann in der Vergangenheit, als sie noch ein junges Mädchen war, begegnete und ihn immer noch in ihrem Herzen trug. Der Dreikampf war ein geschicktes Mittel, das sie verwendete, um ihren ersehnten Helden zu sich anzulocken und damit auch den würdigen Herrscher für ihr Land zu gewinnen.

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 Durfte der Mann ihres Herzens Siegfried sein?

Obwohl diese Vermutung auf keinen Gründen stützt, könnten die Erinnerungen Brünhilds an einen Geliebten der Wahrscheinlichkeit entsprechen, sodass sie ihn durch die Wettbewerbe zurück gewinnen wollte. Sie musste wissen, dass „er“ (ein geliebter Held) derjenige ist, der sie bewältigen dürfte.

Der gesamte Eindruck, den das Verhalten Brünhilds hervorruft, kann nur schwer definiert werden, da der Nibelungenepiker über die Vergangenheit der isländischen Königin kein Wort erwähnt. Ausgeschlossen ist es jedoch nicht. Möglicherweise dachte sie eher an Siegfried, als sie ihn im Gefolge des Königs Gunther sah. Sie konnte ihn (im Gegensatz zu Gunther) für einen würdigen Mann betrachten, mit dem sie gerne ihre Kräfte messen würde und später mit ihm ihr Land und Herz (falls sie einen hatte) verknüpfen könnte.

Die moderne Zeit, in der wir jetzt leben, kennt die sog. Körpersprache, Gesichtsausdruck und Psychologie, die in dem täglichen Menschenkontakt häufig verwendet werden. Vor hunderten und tausenden Jahren wurden an der ersten Stelle die menschlichen Instinkte, die ermöglichten zu erkennen, in welcher Lage sich der Gegner befindet. Diese Instinkte waren sehr gut entwickelt und spielten oft eine wesentliche Rolle in dem menschlichen Leben, z. B. beim Überleben in einem fremden Land, im Kampf usw.

Brünhild lebte in einem wilden nordischen Land, sie hatte eher ritterliches bzw. männliches Verhalten, das sie auch bei der Brautwerbung rückhaltlos zeigte. Als sie sich Gunther zum ersten Mal ansah, durfte Brünhild über seine Kräfte und Fähigkeiten sogar misstrauisch werden. Nach dem Triumph Gunthers (dank Siegfried) musste sie Verdacht schöpfen, dass der Kampf ungleicher war; sie konnte jedoch keinen Beweis erbringen. Sie war sich ihrer Machtposition und ihrer Pflichten, die sie als Königin verehrte, bewusst, deshalb war sie gezwungen ihr Wort zu halten und Gunthers Triumph anzuerkennen. In den Augen der Zuschauer (die Gefolgsleute Gunthers, Brünhilds Fürsten und Gesinde) verlief der Dreikampf regelrecht. Übrigens nutzte auch Brünhild unverschämt ihre außerirdischen Kräfte gegenüber den „normalen Sterblichen“.

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 Sollte man sich wundern, dass die mutige Königin nach dem Kampf zornig war?

Meiner Ansicht nach, verhielt sich Brünhild auf solche Weise wie es erforderlich war. Sie verteidigte ihre Freiheit (bzw. auch ihre Jungfräulichkeit), Selbstständigkeit und ihr Land. Kein Wunder, dass sie bis zum Tode kämpfen wollte. Außerdem verfügte sie über solche außergewöhnliche Kräfte, dass sie Hagen für „die Teufels Weib“ (452) und „Teufels Braut“ (466) hielt. Brünhild musste jedoch während des Dreikampfs Verdacht schöpfen, dass sich nur ein einziger Held mit magischen Kräften ihr gegenüber als ebenbürtiger Gegner stellen durfte, und zwar Siegfried. Da sie keine Beweise bezüglich des unregelrechten Kampfes erbringen konnte, wurde sie selbstverständlich zornig.

 Konnte Brünhild Siegfrieds Betrug erahnen? Sind Brünhilds Instinkte richtig gewesen?

Zu Ende des dritten Werbungsspieles reagierte Brünhild zornig, sie legte alle ihre Kräfte in das letzte Werbungsspiel ein. Ihre magischen Kräfte waren jedoch nicht stark genug. Siegfried mit seiner Tarnkappe, zusammen mit seinen magischen Kräften (er musste über sie verfügen, sonst hätte er bei Brünhild keine Chance gehabt) besiegte die isländische Königin und gewann sie dadurch für den König Gunther.

Brünhild musste es später sehr schwer fallen, dass sie von einem - auf den ersten Blick - „Schwächling“ (Gunther) öffentlich gedemütigt wurde.

5.4 Brünhilds Bewältigung in der Hochzeitsnacht

Die Werbung und Kampf um Brünhilds Hand wird von dem Epiker in gravierenden Stufen präsentiert. Merkwürdig finde ich, dass sich Brünhild nach ihrer Niederlage im Dreikampf (467; 472; 478) ohne weiteren Widerstand in ihr Schicksal ergab und dem König Gunther ihre Hand reichte, ohne ein weiteres Wort zu sagen. „Er grüßte sie in Minne; denn er war tugendsam. Die liebliche Jungfrau an der Hand ihm nahm. Sie erlaubt ihm, dass er sollte haben die Gewalt.“ (484, 1-3).

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 Welche Motive zum Erwerb der nordischen Herrscherin hatte der König Gunther? War es tatsächlich die Minne, als das höchste menschliche Gefühl oder einfach nur die sexuelle Begierde und Machtgier eines Mannes, diese schöne Amazone nur für sich zu gewinnen und sie zu unterwerfen?

Gunthers Dickköpfigkeit hätte ihn ohne Siegfrieds Hilfe umbringen können. Nach dem Kampf, wie es der Epiker erwähnt, begrüßte Gunther die edle Königin in Minne; „denn er war tugendsam“ (484, 1). Ich vertrete die Ansicht, dass Gunther seinen männlichen Selbstwert erhöhen und bestätigen wollte. Die Minne musste dabei gar keine Rolle spielen.

Der Erzähler verwendete ein außergewöhnliches Element in der Handlung, das in den historischen Quellen sehr selten gefunden werden kann - der Kampf zwischen Mann und Frau. Die Inspiration suchte er wahrscheinlich in der griechischen Mythologie, in dem Werk „Ilias“ (8. Jahrhundert v. Ch.) von dem antiken Dichter Homer. Homer schildert die Kämpfe zwischen den griechischen Helden (z. B. Bellerophon aus Lykien; Herakles/ Hercules; Theseus, der mythische König von Athen) und Amazonen93 die ein mythisches Frauenvolk darstellen.

Gunther konnte die mächtige isländische Königin für eine der Amazonen halten. Man kann auch vermuten, dass er Brünhild brauchte, um seine eigenen Unzulänglichkeiten zu vertuschen. Um sein Ziel zu erreichen, versprach er Siegfried seine Schwester Kriemhild als Braut: „Kommt die schöne Brünhild hier in dieses Land, so will ich dir zum Weibe meine Schwester geben.“ (345, 2-3).

Obwohl Siegfried den Sieg über Brünhild erreichte, musste er noch einmal dem König vertrauliche Hilfe leisten - in der Hochzeitsnacht. Meiner Meinung nach konnte sich bei Gunther um Angst des Mannes vor der starken Frau, oder sogar vor dem intimen Versagen handeln, deshalb brauchte er Siegfried, den starken Mann, um sich durch ihn und durch einen Betrug als Ehemann zu bestätigen. Siegfried Hilfe kam rechtzeitig, so wurde Gunthers Unterlegenheit unter

93 Vgl. Zamarovský, V., 1980, S. 45 76

Brünhild nicht offenbart. Seitdem wurden Gunther und Siegfried mit einem gleichen Geheimnis verbunden.

Das Geheimnis - Gunthers Versagung in der Hochzeitsnacht und schließlich auch Gunthers Fehlverhalten bei dem Königinnenstreit verursachte, dass Hagen von Tronje mit seinem Machtehrgeiz in Vordergrund eindrang. Statt seinen Schwager und Helfer Siegfried zu schützen und den Mordvorschlag Hagens abzulehnen, schwieg er und duldete es, dass Hagen seine Mordpläne in Erfüllung bringen durfte. Gunthers Schwäche und Feigheit zeigte sich deutlich in der Szene, wo Siegfried ermordet wurde. Er sprach kein Wort zu dem sterbenden Held und seinem Freund Siegfried.

In dem Epos wird offenbar die sexuelle Lust der Helden hervorgehoben, und die Empfindungen der männlichen Protagonisten werden betont. Die Gefühle und das Innenleben der Frauen können die Leser jedoch kaum erfahren. Zur Minne gehört im Nibelungenlied nicht nur die geschlechtliche Liebe, sondern auch die aggressive männliche Besitzergreifung (z. B. Gunthers Brautnacht, die mit einem Kampfspiel verglichen werden kann). Brünhilds Verweigerungshaltung führt dazu, dass sie Siegfried zähmen muss und ihr den Gürtel und Ring als Gegenstücke ihrer mystischen Kraft wegnimmt. Der Gürtel wird als Beweisstück, das Kriemhild im Streit vor dem Domportal präsentiert. Dies führte zu Brünhilds Demütigung.

5.5 Kriemhild und Brünhild

Kriemhild stellt in dem Nibelungenlied eine Frau dar, die sich scheinbar in einer „niedrigeren“ Position im Vergleich zu Brünhild befindet (631). Brünhild ist die zweite Frau, die im Nibelungenlied eine der entscheidenden Rolle hat. Sie beteiligte sich (sowie auch Kriemhild) an dem Untergang der Nibelungen.

Obwohl Brünhild als eine recht starke Herrscherin auftritt und gegenüber der zarten Kriemhild, der zweiten „femme fatale“ mit distinguiertem Verhaltensweisen, vorteilhaftere Position einnimmt, verfügt sie über die typischen weiblichen Eigenschaften wie Streitsüchtigkeit, Neid und Eifersucht. Diese Eigenschaften und

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ihren freien Lauf, den die Hauptheldinnen nicht meiden konnten, verursachte die vernichtende Katastrophe des Burgundenreiches.

Das Bild von der isländischen Königin wurde bei der Hochzeit offensichtlich irrtümlich vorgelegt, und zwar, als ob sie eine schwache, empfindliche und unsichere Frau wäre, der Kriemhilds Wohl auf dem Herzen liegt: Es handelt sich um die Szene, in der sie weinen begann und Gunther sie nach dem Grund fragte (629-630).

„Ich kann mit Recht wohl weinen,“ sprach die schöne Maid. Um deine Schwester ist mir so grimmes Leid. Ich seh sie sitzen nahe dem Eigenholden dein. Ich muss mich immer grämen, soll sie so verstoßen sein.“ (631)

 Welches Ziel folgte die schöne Gunthers Braut? Warum sie so hartnäckig alles über Siegfried wissen wollte?

Brünhild nutzte einfach ihre weiblichen Waffen aus, um festzustellen, wer Siegfried ist und warum er sich der Hochachtung auf dem Hof freuen darf und wie es möglich ist, dass er die Königstochter Kriemhild heiratet, wenn er als Vasall des Königs Gunther präsentiert wurde (435). Meiner Ansicht nach durchschaute Brünhild ihren Gatten, nutzte ihre weiblichen Tricks und erfuhr von Gunther das, was sie bereits ahnte: Siegfried ist kein üblicher Gefolgsmann. Gunther gestand die Wahrheit: „Ich gab Euch bekannt: er hat so vielen Burgen wie ich und weites Land; er ist ein König reich.“ (634, 1-3).

 Was haben die beiden Frauen gemeinsam?

Ich vertrete die Ansicht, dass sich sowohl Brünhild als auch Kriemhild unter einer großen leidenschaftlichen Liebe befindet, beide erfahren Machtverlust (Brünhilds Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht (11. Aventiure); Kriemhild wird durch den Tod Siegfrieds tiefst betroffen, durch den Hortraub verlor sie die Hoffnung (16. Aventiure), beide sind liebende und leidende Wesen, deren Vergeltungssucht eine irreversible Tragödie Verursacht. Der Kampf ist den beiden Frauen ebenso

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gemeinsam. Die Kriemhild-Figur erinnert an eine Frauengestalt der griechischen Antike - Elektra94, die an ihrem Stiefvater Rache beging. Dagegen Brünhild, die Liebe mit Schwert erworben musste, sogar im ehelichen Bett um ihre Jungfräulichkeit kämpfte, zeigte sich als eine Gestalt aus der germanischen Mythologie - die kriegerische Walküre95. Sie wurde als das Böse, „die Teufels Braut“ (466, 4) gezeichnet.

Diese zwei minniglichen Frauen initiierten die Streitigkeiten und Kämpfe und infolge ihrer Taten haben sie sich an dem Untergang der Nibelungen beteiligt. Ihr Hass entsprang aus dem Gefühl, dass die eine die andere nicht genug schätzte.

Es gibt noch einen Charakterzug, der Kriemhild und Brünhild gemeinsam ist, und zwar Eifersucht. Kriemhild dachte, dass Siegfried die Jungfräulichkeit Brünhild abnahm (852) und fühlte sich betrogen zu sein. Brünhild fühlte sich erniedrigt, desto mehr, weil sie einen Schwächling heiratete (Gunther), den sie, meiner Ansicht nach, nur schwer aufrichtig lieben konnte.

Kriemhild und Brünhild traten in bestimmten Passagen der Handlung wie aktive, energische und entscheidende und selbstständige Personen auf: Brünhild als starke emanzipierte Frau und isländische Herrscherin, die (bevor sie Gunther heiratete) für sich selbst entscheidet und Kriemhild als eine beharrliche Rächerin (nach dem Tod Siegfrieds).

Brünhild, die isländische Königin weist keine wesentliche Progression ihres Charakters auf. Auf ihrer königlichen Position auf Island erwies sich als eine „Powerfrau“ - schön, stark, stolz, selbstbewusst aber auch misstrauisch, die ihre gesellschaftliche und persönliche Stellung leidenschaftlich verteidigte. Nach dem Machtverlust (erstens bei der Brautwerbung, zweitens in der Hochzeitsnacht, drittens nach Kriemhilds Demütigung vor dem Dom) wurde Brünhild zwar Königin - jedoch im Schatten ihres Gatten (Gunther).

94 Elektra ist in der griechischen Mythologie die Tochter des Königs von Mykene - Agamemnon. Sie half ihrem Bruder Orest die Mörder ihres Vaters zu bestrafen und die Blutrache begehen. (Vgl. Zamarovský, V., 1980, S.123) 95 Walküre: Die Walküren werden als Naturgeister oder Halbgöttinnen der germanischen Mythologie beschrieben; auch jungfräuliche Kriegerinnen des Gotten Odins. (Vgl. DUDEN, 2007, S. 1886)

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5.6 Der Königinnenstreit

Die beiden Frauen - Kriemhild und Brünhild sind erst nach zwölf Jahren, „zur Zeit einer Vesper“ (829, 1) wieder zusammengekommen. Die Initiatorin war Brünhild, die ständig überlegte, warum Siegfried als Gunthers Lehnsmann seinem König „keinen Dienst leistet“ (737, 4) und „kein Zins“ (827, 4) zahlt. „Wie ihr der Teufel riet“ (828, 1), spinnt Brünhild gezielt ihren Plan, um die Wahrheit herauszufinden.

Da gedachte Brünhild: ich kanns nicht mehr ertragen, wie ichs auch beginne, Kriemhild muß mir sagen, warum uns solange den Zins vergessen hat ihr Mann, der unser eigen. Ich weiß mir keinen andern Rat.“ (827)

 Was liegt der Königin tatsächlich am Herzen? Warum sie alle ihre weiblichen Tricks benutzt, um Kriemhild mit Siegfried nach Burgundenland bringen zu können? Ist sie so goldgierig oder stecken hinter ihrer Eigensinnigkeit andere Gründe?

Der Epiker spricht über das Vermögen Gunthers nicht direkt. Dagegen wird im Nibelungenlied über den Hort Siegfrieds mehrmals gesprochen. Dagegen kann vermutet werden, dass Gunther auch ein mächtiger König reich ist und über ein weites Land verfügt (47, 3). Brünhild durfte deswegen noch einen anderen Grund haben, um Kriemhild zu treffen und ihre eigenen Interessen zu folgen. Nicht die Höhe der Zinsen selbst, sondern der Grund - warum sich Siegfried nicht als ein typischer Vasall benimmt - war für sie wichtig. Sie trug Verdacht in ihrem Herzen. Sie musste ahnen, dass dahinter etwas Unreines stecken könnte, weil Siegfried und Kriemhild ranggleich seit der Doppelhochzeit (10. Aventiure) zusammen mit den Königen an der Öffentlichkeit auftreten. Es war jedoch „in Heimlichkeit“ (738, 1). Brünhild bemühte sich erfolglos von Gunther eine Antwort zu bekommen, trotzdem spielte sie eine nette Schwägerin, die Siegfried und der Schwester Gunthers unheimlich gerne sehen möchte. „So könnte mir auf Erden nimmer Lieberes geschehn.“ (742, 4). Sie gab jedoch nicht auf und drängte so lange, bis Gunther einwilligte, Kriemhild und Siegfried nach Worms einzuladen (746).

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 Wer könnte den Wünschen der schönen Königin schon widerstehen?

Siegfried und Kriemhild wurden mit hohen Ehren im Burghof empfangen. „Minnigliche Fraun“ (806, 1), „prächtige Gesinde“ (807, 1), „manches reiche Kampfspiel“ (808, 4), „man diente ihnen fröhlich und ohne jeden Haß“ (815), später die „Messe in Münster“ (825-826). Nichts wies darauf hin, dass das fröhliche Fest dramatisch umstoßen wird. Der Epiker deutet die angehende Handlung an: „Bald ward getrennt die Liebe; da erhob sich grimmer Streit.“ (825,4).

 Wer hat den Streit begonnen und warum?

Der Epiker bietet den Rezipienten ein Bild der starken und emanzipierten Königin auf Isenstein, die zwölf Jahre in Hass zu dem Eigenholt96 (631, 3) ihres Mannes lebte, so könnten die Rezipienten annehmen, dass Brünhild der Gattin Siegfrieds ihre Hass verspüren lässt. Brünhild tat es eben nicht.

Kriemhild musste jedoch ihren verborgenen Hass zum Ausdruck bringen - sie entschied die Rangprobe: „Ich habe einen Mann, dem alle diese Reiche sollten untertan.“ (830, 3-4). Sie rühmte sich ihres Mannes: „…wie er herrlich vor den Recken geht, wie es der Monde, der lichte, vor den Sternen tut!“ (832, 2-3). Schonungslos missachtete Kriemhild die Gattin Gunthers - Brünhild - und ihr verbaler Angriff gradierte: „So wert ist mein Mann, dass ich über Gebühren ihn nimmer oben kann. An so mancher Tugend ist seine Ehre groß. Glaube mir das Brünhild! Er ist wohl Gunthers Genoß.“ (834, 3-4). Obwohl sich Brünhild tapfer währte und ihre Meinung (Siegfried sei der Eigenhold Gunthers) beharrlich verteidigte, behauptete Kriemhild, dass „Siegfried ein edlerer Held als Gunther ist“ (839, 2) und Brünhild soll vergessen, dass „er jemals einen Zins geben müsste“ (839, 3-4).

96 Eigenleute sind im Mittelalter die einem anderen gehörenden Menschen. Sie bilden keine in sich einheitliche Gruppe. Teils schulden sie Abgaben, teils Dienste. Hörige. (Vgl. http://koeblergerhard.de/zwerga-f.htm, Letzte Abfrage am 30.7.2012)

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Brünhild wollte sich selbst und auch ihren Mann als edler behaupten und „selber nicht bescholten sein“ (842, 3), so forderte sie Kriemhild auf, zu Münster zu gehen. Dort sollte sich zeigen, welche von den beiden Königinnen den Vorrang hat (844-847).

 Wie stellte sich Brünhild vor, ihren Vorrang zu behaupten? Warum wagte sie sich, an einem öffentlichen Ort den Streit zu entscheiden?

Bevor Brünhild Gunther heiratete, war sie eine selbstständige Königin, die gewöhnt war, ihre Angelegenheiten eigenständig zu erledigen, Entscheidungen zu treffen und mit einem Schwert wie ein Ritter um ihre Jungfräulichkeit zu kämpfen. Ihre Gestalt ähnelt eher einer kämpferischen Amazone oder einer kriegerischen Walküre als einer typischen mittelalterlichen und adeligen Frau.

Brünhild war nun in ihrem Land (Burgundenland) als Königin, ihr Mann war König des Landes, sie war dort zu Hause. So wie sie einst um ihre Jungfräulichkeit kämpfte, wollte sie jetzt um ihren Rang kämpfen. Sie trat emanzipiert auf, mit der Überzeugung, dass sie Recht hat, sich vor den Augen ihrer Leute selbst zu verteidigen. „Die edle Kriemhilde hieß sie da stillstehen; „Es soll vor Königs Gattin die Eigenholde nimmer gehen.“ (852, 3-4).

Dann passierte etwas, was niemals passieren sollte. Die zornige Kriemhild attackierte Brünhild: „Wie kann eine Kebse mit Recht werden Königs Weib?“ (853, 4)“…denn deinen schönen Leib minnte als erster Sigfried, mein viellieber Mann.“ (854, 2-3). Unmittelbar danach trat sie ins Münster als Siegerin ein.

 Warum sagte Kriemhild die bösen Worte? Welche Beweise hatte sie für ihre Behauptung?

Die gute schöne Schwester Gunthers, die tugendreiche Frau, musste etwa voll von Hass sein. Sie bekräftigte ihren grimmen Hass: „Zu traulicher Freundschaft bin ich dir nimmermehr bereit.“ (856, 4). Als Beweis ihrer Behauptung zeigte Kriemhild der vor dem Münster weinenden und sorgenschweren Königin (859,1) einen Goldring (861) und einen Gürtel (863).

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Diese Gegenstände gewann Siegfried von Brünhild in der Brautnacht, nachdem er sie bezwungen hatte (694; 695, 1-2; 699). Später schenkte er die beiden Prachtstücke seiner Gattin (695, 1-3). Brünhild musste sich stark verhöhnt und erniedrigt fühlen. Es ist völlig verständlich. Es wäre undenkbar, dass sie in ihrem Rang - als Königin und Frau des mächtigsten Königs einen sexuellen Kontakt mit jemandem anderen hätte (Siegfried).

Im Mittelalter waren die sexuellen Abenteuer der verheirateten Adligen - eher der Männer, nicht adliger Frauen - mit nichtadligen Frauen geduldet. Bei den adligen Frauen war jedoch diese Art der Untreue undenkbar.97

Für eine stolze Frau wie Brünhild musste die Tatsache, dass sie (ihrer Ansicht nach) von Siegfried bzw. von dem Eigenholt ihres Mannes „geminnt“ (871, 4) wurde, die allerhöchste Demütigung sein.

Kriemhild fühlte sich ebenfalls gedemütigt, weil sie ihren Mann verdächtigte, dass er einen sexuellen Kontakt mit ihrer Rivalin (Brünhild) hatte - überdies in der Hochzeitsnacht. Sie hielt doch in ihren Händen die Beweisstücke.

Diese Schmuckstücke beweisen jedoch nicht, dass Siegfried die schöne Brünhild „zuerst geminnet“ (871,4). Siegfried hat diese Tatsache (vor oder nach der Hochzeitsnacht) nicht bestätigt aber auch nicht dementiert. Erst wenn Siegfried von Gunther vor dem Münster aufgefordert wurde, die Wahrheit zu sagen, lehnte er die Lüge seiner Frau wider.

Da sprach der Herr Sigfrid:„Hat sie das gesagt, ich will nicht eher ruhen, bis sie es beklagt. Ich will dirs widerlegen vor deinem ganzen Heer mit meinem hohen Eide, daß ichs behauptet nimmermehr.“ (871)

97 Vgl. Otis-Cour, L., 2002, S. 47-60

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 Warum hat Gunther dem Eid Siegfrieds vertraut und ihn danach freigesprochen hat?

Die Antwort kann einfach beantwortet werden. Er war in der Hochzeitsnacht mit Siegfried und Brünhild im Schlafzimmer, nutzte Siegfrieds magische Tarnkappe, die ihn unsichtbar machte und konnte beobachten, wie Siegfried die zornige Königin bezwang. Gunther durfte dieses Geheimnis keinesfalls öffentlich stellen, da er sich einem Hohn und Verachtung aussetzen würde. Gunther wusste, dass Siegfried die Jungfräulichkeit Brünhilds nicht geraubt hat. Ein wichtiger Aspekt kann von den Rezipienten des Liedes nach dem Königinnen Streit anerkannt werden: Kriemhild wurde von ihrem Mann gerügt. Gunther sollte dasselbe tun.

„Mann soll Frauen ziehen,“ sprach Siegfried, der Degen, dass sie so üppige Reden lassen allerwegen. Gebiet es deinem Weibe! Dem meinen tu das ich. Ihr großes Unrecht hat fürwahr beschämet mich.“ (876)

Aus dem Nibelungenlied geht hervor, dass Siegfried seine Ehefrau liebte. Trotzdem war Siegfried derjenige, der sich ganz im Gegenteil zum Traum Kriemhilds erwies; nicht Kriemhild wurde die Erzieherin ihres Ehemannes (im Traum wurde Siegfried allegorisch durch einen Falke dargestellt), sondern sie befand sich in der untergeordneten Position und stand der Gewalt bzw. der Züchtigung ihres Mannes gegenüber. Für Kriemhild, die Schwester des burgundischen Königs und gleichzeitig die königliche Ehefrau konnte das Vorgehen ihres Mannes als zweite und demütigende Entehrung betrachtet werden, da sie immer noch glauben musste, dass Siegfrieds Lüge (keinen sexuellen Kontakt mit Brünhild zu haben) zweckmäßig war.

Meiner Ansicht nach existierte keinen Beweis, dass Siegfried seine Gattin je betrogen hat. Obwohl Kriemhild keinen Beweis vorlegen konnte, wurde ihre Eifersucht die entscheidende Triebkraft, die einen schweren Streit erregte. Um die Verhältnisse Brünhilds vs. Siegfrieds darf noch eine Frage naheliegen wie folgt.

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 Begegnete Siegfried Brünhild in seinen Jungenzeiten?

Der Epiker vermittelt diese Tatsache zwar nicht ausdrücklich, ist es aber möglich, dass Siegfried die junge Brünhild in der Vergangenheit begegnen konnte. Er versuchte es doch, Gunther vor Brünhild zu warnen: „Dem muss ich widerraten“, „Es macht ihre Sitte gefährlich solchen Schritt.“ (338,1-2) als Gunther um die isländische Königin werben wollte. Hagens Bemerkung dürfte bestätigen, dass Siegfried Brünhild kennen musste: „…da es ihm so bekannt ist, wie es um Brünhilde steht.“ (342, 4). Falls Siegfrieds Erfahrungen seiner Gattin bekannt wurden, ist es kein Wunder, dass sie ihrer Eifersucht freien Lauf gegeben hat.

 Worin bestehen die schicksalhaften Fehler Siegfrieds?

Den ersten Fehler hat Siegfried damals beging, als er den Gürtel und den Ring Brünhilds zu sich genommen hat. „Dann nahm er den Gürtel; der war aus Borten gut. Ich weiß nicht, ob er dieses tat aus Übermut.“ (695, 1-2). Der zweite Fehler Siegfrieds war, dass er die beiden Gegenstände seiner Gattin schenkte. „Er nahm ihr ein Ringlein von Golde sodann. Wollte Gott im Himmel, er hätte nimmer es getan!“ ( 694, 3-4).

Von dem Epiker wurde eine kurze Andeutung geäußert, dass der Raub der Gegenstände Brünhilds nur Leid bringen wird. „Er gab ihn seinem Weibe. Das schuf ihm später Leid.“ (695, 1-3). Seine Vorhersage ging später in Erfüllung. Siegfried beging noch einen Fehler, nachdem er von Brünhild zu Kriemhild ins Ehebett zurückkam. Er schwieg zu der Frage Kriemhilds nach seiner Verspätung.

 Konnte diese Episode den Anfangsverdacht und Eifersucht in Kriemhild erregen?

Hätte Siegfried damals eine vernünftige Ausrede benutzen können, würde Kriemhild beruhigt sein. Das Schweigen finde ich nämlich nicht als das richtigste Mittel in der ehelichen Beziehung. Trotzdem ist Siegfrieds Verhalten begreiflich. Er versprach Gunther, das Ereignis mit Brünhild geheim zu halten. Als mittelalterlicher Herrscher und Ritter repräsentierte er die Macht, Unabhängigkeit und Stärke.

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Dagegen muss in Betracht gezogen werden, dass die Frauen im Mittelalter in den unausgeglichenen Beziehungen durch die Loyalität zu ihren Männern gebunden wurden. Dies ist auch der Fall der Gattin Siegfrieds. In dieser Beziehung - Siegfried, Gunther, Kriemhild - können die konkurrierenden Loyalitäten erkannt werden, da Siegfried auch zu Gunther loyal bleiben musste.

 Hat auch Gunther Fehler begangen?

Ich vertrete die Meinung, dass auch Gunther seinen wesentlichen Anteil an dem Königinnenstreit hatte. Um seine falschen Schritte zu entdecken, muss man in die Handlungszeit der Brautwerbung zurückgehen.

Erstens hätte Gunther das Siegfrieds Angebot, für ihn Brünhild zu erwerben, nicht annehmen sollen. Zweitens sollte er Siegfried nicht als Lehnsmann vorstellen. Von diesen zwei ersten Fehlern wickelten sich die weiteren Fehler ab. Gunther gewann Brünhild mit Hilfe Siegfrieds und in der Hochzeitsnacht musste er wieder Siegfried um dasselbe bitten, da er selbst den magischen Kräfte Brünhilds nicht widerstehen konnte. Es wäre unvorstellbar, diesen Betrug öffentlich zu präsentieren, deswegen war es notwendig, Siegfrieds Eid zu fordern: Siegfried durfte keinen sexuellen Kontakt mit Brünhild haben. Man kann vermuten, dass Gunthers Anforderung zum Eid verdächtigt und falsch aussehen könnte.

Im Nibelungenlied gibt es keine Erwähnung über Siegfrieds auffallende Zuneigung zu Brünhild, deshalb finde ich das Misstrauen Gunthers unbegründet. Die Gewichtigkeit der unangenehmen Situation unterstrich Brünhild, die nicht nach Wahrheit fragte, obwohl ihr Instinkt bestimmt sagen musste, es ist nicht alles so, wie es aussieht.

 Warum sich Brünhild gegen die falsche Beschuldigung nicht energischer verteidigt hat? Warum fragte sie nicht nach Wahrheit?

Den Königinnenstreit schürte eindeutig Kriemhild. Brünhild hat zwar lange überlegt, wie und wenn sie nach Siegfrieds Vasallität fragen sollte, wurde sie jedoch gegenüber Kriemhild nicht angriffslustig. Sie trat jedoch energisch auf und stand der Gattin Siegfrieds entschlossen wider. Brünhild unterstützte ihre Machtposition durch

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Gunther: „…der Vorrang steht doch an Gunther, dem Recken, dem edlen Bruder dein.“ (834, 2-3) und hob ihn als den höchsten Herrscher hervor: „Er muss vor allen Königen fürwahr berühmt als erster sein.“ (834, 4).

Wie sich aus ihren Worten ergibt, ging Brünhild zuerst diplomatisch vor. Sie vertrat nicht sich selbst, sondern ihren Ehemann Gunther, den sie rühmte. Sie erinnerte Kriemhild daran, dass nach ihrem Wissen „Siegfried des Königs Mann ist“ (836, 2).

Der Streit gradiert, Kriemhild Zorn hat keine Grenzen mehr, sie verletzte Brünhild durch scharfe Beschuldigungen: „Wie kann eine Kebse mit Recht werden Königs Weib?“ (853, 4), „Wie ließest du ihn minnen, wenn er dein eigen ist?“ (855, 2; hier ist Siegfried gemeint). Die Weise, die Gunther wählte, um den Streit zu beenden, konnte Brünhild nicht zufrieden machen. Gunther zeigte sich dabei keinesfalls als ein Ritter, sondern als ein Verschwörer. Es gab jedoch eine Person, die das Leid Brünhilds achtsam beobachtete und ihrer Seite beistand - Hagen von Tronje.

5.7 Kriemhilds Verrat

Bestimmte Umstände verursachten, dass die Wachsamkeit Siegfrieds und Kriemhilds abgeschwächt wurde. Die Beiden fühlten sich in der freundschaftlichen Beziehung mit ihren Verwandten glücklich und stark. Siegfried musste sich gar keine Sorgen machen, da er mit seinen Kräften und herrschaftlichen Strategien durch keine Feindschaft bedroht wurde. Er war unbesiegbar. Außerdem ging er, nach seinem guten Gewissen, in seinen Taten gegenüber Burgundern und vor allem Gunther redlich vor. Er ahnte keine drohende Gefahr. Seine Überzeugung, ein wahrer Ritter und tapferer Mann zu sein, war ernsthaft. Der Held lebte und handelte mit derzeitigen (mittelalterlichen) Sitten und Moral im Einklang.

Siegfried hat nicht eingestanden, dass sein Handeln gegenüber Brünhild (hier ist der Betrug bei dem Erwerb und die Gewalt in der Hochzeitsnacht gemeint)

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ungeziemend war. Er war überzeugt, dass er immer alles in gutem Glauben tat und die ritterlichen und freundschaftlichen Dienste für Gunther leistete. Sein Gefühl der Außergewöhnlichkeit, Unverwundbarkeit aber auch eine gewisse Portion Naivität schwächte seine Wachsamkeit in entscheidenden Momenten wesentlich ab. Selbst in seinen Träumen hätte Siegfried nicht gedacht, dass unter der Oberfläche seiner Nächsten und scheinbaren Freunden Eifersucht, Hass und Rachegelüst schlummerte.

Brünhild fühlte sich nach der Beschuldigung „Siegfrieds Kebse zu sein“ (853, 4; 867, 3) gesellschaftlich stark gedemütigt und wünschte sich eine schwere Rache. „Da trat Hagen von Tronje zu seiner Herrin heran“ (877, 4) und traf die Entscheidung, dass „Kriemhildes Mann dafür büßen müsste“ (870, 3). Hagen begann Siegfrieds Tod zu planen. Für das „Betrüben des schönen Brünhilds Leib“ (875, 2) „muss der Kriemhildes Mann büßen“ (878, 3-4). Unter der Berücksichtigung, dass Siegfried unbesiegbar ist, kann Hagens rasche Entscheidung, den unverwundbaren Helden zu töten, als reine Torheit betrachtet werden.

 Wie kann das Handeln Hagens interpretiert werden? Ist Hagen tatsächlich ein Tor oder tapferer Ritter, der die Ehre seiner Herrin (Brünhild) schützen und rächen will?

Als Siegfried zum ersten Mal nach Worms gekommen war, riet Hagen seinem Herrscher Gunther, den kühnen Siegfried zu empfangen (105, 1), „hold ihm nahm“ (105, 3) und warnte vor seinem starken Hass (105, 2). Es scheint so, als ob Hagen auf Siegfrieds Ruhm, Reichtum und Mut eifersüchtig wäre.

Im Laufe der Handlung ließ Hagen keine einzige Angelegenheit aus, um Siegfrieds Qualitäten zu prüfen und riet seinem König Gunther den Helden Siegfried mit gefährlichen Aufgaben zu beauftragen, wie z. B. in dem Kampf mit Dänen den Burgundern zur Hilfe zu stehen (156, 173) und bei Brünhilds Werbung aktiv zu helfen; „Ich will Euch raten, daß Ihr Sigfrid bittet mit Euch zu tragen die starke Beschwerde.“ (342, 1-3).

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Es ist möglich, dass Hagen die Fähigkeiten Siegfrieds gezielt prüfte, um die Wirklichkeit über seine Unsterblichkeit herauszufinden und seine „Achillesferse“98 zu entdecken.

Siegfried verfügt im Nibelungenlied über mythische Kräfte (seine Unsterblichkeit war durch seine Hornhaut bestimmt, die er nach dem Baden im Drachenblut gewann), wie die Rezipienten (3. Aventiure; 104) erfahren konnten. Aber auch Hagen scheint aus einer anderen Welt zu sein: „Wie ein Wesen aus der Hölle.“ (456, 2). Selbst ein Bote Kriemhilds betrachtete Hagen als einen bösen Mann: „Er hat in seinem Wesen, glaub ich, grimmigen Mut…“ (427, 3-4). Überdies wird Hagen im Nibelungenlied vielmals als „grimmig“ bezeichnet.

Hagens Gestalt wirkt so, als ob er ein Bote der Todesangst wäre. Davon zeugt auch sein professionelles Umgehen mit dem Tod in den kämpferischen Szenen des Liedes. Hagen fürchtete vor Siegfrieds Unbesiegbarkeit nicht im Geringsten. Er wollte Brünhilds Ehrverlust rächen, ohne zu wissen, wie er ihn töten würde. Er verlässt sich darauf, dass er die „Achillesferse“ Siegfrieds von Kriemhild ablistet: „Wie man ihn könne erschlagen, das verrät mir sein Weib.“ (889, 4). Sein heimtückischer Plan basierte auf der Leichtgläubigkeit Kriemhilds. Hagen musste wissen, wie sehr Kriemhild ihren Ehemann liebt und kalkulierte mit ihrer ehelichen Ergebenheit. Hinterlistig benutzte er eine Lüge: „Gunther, dem reichen, sei Krieg angesagt.“ (891, 3), die Gunther selbst vor Siegfried guthieß: „Lüdeger und Lüdegast die fördern mich zum Streit.“ (898, 2). „Der kühne Ritter“ (898, 4) trug seine Kräfte und Dienste an und stellte dem König „seinen Haupt zur Pfand“ (899, 4). Genau das wollte Hagen erreichen.

„Da ging Hagen von Tronje, wo er Kriemhild fand.“ (904, 3). Kriemhild, nach Treu und Glauben, legte ihr Vertrauen in die Hände Hagens: „Viellieber Freund Hagen, nun bedenkt an das, dass ich hold Euch immer…“ (906, 1-2). Hagen reagierte

98 Achilleus (dt. Achill oder latinisiert Achilles) ist in der griechischen Mythologie ein beinahe unverwundbarer Held der Griechen vor Troja und der Hauptheld der Ilias des Homer. Er ist der Sohn der Meernymphe Thetis. Achilleus’ Mutter tauchte ihn in den Unterweltsfluss Styx, der unverwundbar macht. Thetis hielt dabei seine Ferse fest, um ihn eintauchen zu können und er wurde daher verwundbar. Die einzige verwundbare Stelle blieb die Ferse. (Vgl. Zamarovský, V., 1980, 23-27) 89

auf ihre Freundlichkeit prompt: „…wie Euch dienen können an Siegfried, Euerm Mann…“ (908, 3) und sobald Kriemhild ihre Beunruhigungen über Siegfrieds mögliche Verwundung im Kampf erwähnte, merkte der grimme Hagen seine Chance. „Frau, habt Sorge Ihr, man könne ihn verletzen, so sagt dieses mir, mit welchen klugen Künsten ich dem soll widerstehn!“ (910, 1-3).

Der entscheidende Augenblick kam kurz danach; aus liebender Kriemhild wurde eine Verräterin: „Ich sage im Vertrauen, viellieber Freund, es dir, damit du deine Treue bewährest an mir…“ (914, 1-2).

„Als aus des Drachen Wunden floß das heiße Blut und sich darin badete der kühne Degen gut, da haftete zwischen den Schultern ein breites Lindenblatt. Dort kann man ihn verwunden. Viel Sorge mirs bereitet hat.“ (915)

 Warum hat Kriemhild Hagen zweimal als „viellieber Freund“ (906, 1) genannt? Warum sprach sie über die Verwundbarkeit ihres Mannes gerade mit Hagen und nicht mit ihrem Bruder Gunther?

Merkwürdig finde ich, dass Kriemhild Hagen „viellieber Freund“ (906, 1) nannte und gleichzeitig betonte, wie sehr sie ihren Mann liebt. Unmittelbar danach sie (gar nicht widerwillig und ohne Angst) Siegfrieds Geheimnis preisgab.

Kriemhild behauptete zwar, wie sehr sie ihren Mann liebt, es ist aber schwer zu glauben. In dem Fall, dass sie unabsichtlich das Geheimnis verraten würde, kann man verstehen, dass es passieren könnte. Hagen drängte an sie nicht, um das Geheimnis zu erfahren. Kriemhild war eindeutig die Aktive, die Hagen im Gespräch leicht manipulierte.

 Wünschte sich Kriemhild Siegfrieds Tod?

Diese Idee kann richtig absurd klingen, trotzdem aber nicht ausgeschlossen werden. Kriemhilds Verhalten finde ich seltsam. Man konnte voraussetzen, dass sie engere Beziehung zu ihrem Bruder Gunther hatte und mit ihm über ihre Sorgen sprechen würde. Falls sie ein anderes Ziel folgen sollte, z. B. nach dem Tod Siegfrieds

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eine unabhängige Herrscherin von Niederlanden zu werden und Brünhild zu übertrumpfen, müsste sie ihre Machtkräfte mit dem Einfluss Hagens verbinden. Übrigens ist doch Kriemhild von Anfang an als Herrscherfigur präsentiert. Hagens Figur erweckt auch weitere Fragen wie folgt.

 Was hat solchen Hass gegenüber Siegfried gelöst? Warum bewilligte Gunther die mörderische Tat Hagens?

Hagen von Tronje erzeigt sich im Nibelungenlied durchaus wie ein Chamäleon. Sein Anfangsurteil gegenüber seiner Herrin Brünhild war am Anfang äußerst negativ. Sie wurde von ihm als „Teufels Weib“ (452, 4) und „die üble Teufels Braut“ (466, 4) benannt. Später, als sie Gunthers Gattin wurde, veränderte sich seine Beziehung zu Brünhild. Hagen nahm unter den Vasallen den ersten Platz ein und stand zum Dienst dem König Gunther, sowie auch Brünhild (als Königin). Sie wurde dann von Hagen als Gunthers Gattin und Königin geehrt und beschützt.

Das polarisierende Verhalten Hagens ist aus meiner Sicht erstaunlich und es fordert zum Suchen nach Gründen und Zielen auf. Hagens Figur weist keine unüberlegten Schritte auf, die sich in seinem sprunghaften Verhalten widerspiegeln. Sein Handeln kann als ein dynamischer Prozess betrachtet werden, der im Nibelungenlied ersichtlich ist. Die Motive seines Verhaltens müssen ebenfalls geklärt werden um herauszufinden, ob Hagen die Interessen seiner Herrscher folgte oder ob es sich um seine eigensüchtigen Machtinteressen handelte.

Meiner Ansicht nach ist Hagen kein typisch höfischer Held, der seine heroischen Taten berühmt und geehrt macht. Er weist seine Tugenden nur selten vor, wenn sie ihm vor allem zum Vorteil sind. Hagens Sorgen um Kriemhild, Brünhild und Gunther haben kein heroisches Ziel d. h. jemanden der Herrscher zu schützen. Sein Ziel ist, Siegfried zu töten. Er denkt über die Konsequenzen nicht nach. Seine Charakterzüge - Macht- und Habgier sind so stark, dass er Siegfrieds Verdienste (z. B. in dem Krieg mit Dänen und Sachsen) nicht schätzt. Er will ihn um jeden Preis aus der Welt schaffen.

Gunther behauptete zwar, dass Siegfried „nichts getan als getreue Dienste“ (882, 1-2), „treu war er immer und tat aus gutem Willen das“ (882, 4), trotzdem unternahm

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nichts, um Hagens mörderische Bestrebung anzuhalten. Hagen folgte vor allem seine Ziele, sodass er Gunther reizte: „Wenn Siegfried nicht lebte, so würden untertan ihm viele Königslande…“ (885, 3-4).

 Wie konnte Gunther dieser Idee widerstehen?

Der König fragte ganz offen - „Wie sollte das wohl gehen?“ (888, 1), um sich zu vergewissern, dass es doch möglich wäre, Siegfried zu töten; nachher still unterstützte Hagens Mordabsicht. Die Aussicht, noch reicher und mächtiger zu werden (mit Siegfrieds Hort) war für Gunther reizvoll. Seine Gier war zu groß, als dass er seine Treue zu Siegfried einhalten würde.

Die Rezipienten, die das Nibelungenlied folgen konnten, wünschten sich bestimmt, dass Gunther Gewissensbisse haben wird, weil sein Freund Siegfried für ihn so viel Gutes getan hat. Leider versagten alle Siegfrieds Nächsten - nicht nur Kriemhild beging Verrat an Siegfried, sondern auch ihr Bruder - König Gunther.

In der Nacht vor der trügerischen Jagd träumte Kriemhild über den Tod Siegfrieds: „Mir träumte von Leide: wie Euch zwei wilde Schwein jagten über die Heide. Da wurden die Blumen rot.“ (935, 2 - 3). Sie machte sich schwere Sorgen um ihren Gatten und versuchte ihn von der Jagt abzuraten. „Laß Euer Jagt sein! (935, 1).

„Zwei wilden Schweine“ (935, 2) in dem Traum Kriemhilds können als zwei gewaltigen Gegner interpretiert werden. Kriemhild träumte schon früher einen Traum, in dem ein „wilde Falke“ (13, 2) als Siegfried interpretiert wurde. Durch den zweiten Traum, in dem wieder Siegfrieds Tod dargeboten wurde, bestätigte ihre Überzeugung, dass sie eine übernatürliche Eigenschaft besitzt und in die Zukunft hineinsehen kann. „…ich fürchte deinen Fall. Mir träumte nächtlich Unheil, als ob hier zu Tal stürzten zwei Berge; ich sah dich nimmermehr.“ (938, 1-3). Die Königin war richtig verzweifelt und machte sich Sorgen um Siegfried. Siegfried hielt die Träume als belanglos, er fühlte sich jung, stark, sicher und unsterblich: „Ich weiß hier keine Feinde.“ (937, 2). Kein Argument konnte Siegfried von seiner Absicht, an der Jagt teilzunehmen, abbringen. Er war doch ein Recke, der

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sich vor Eifersucht nicht verzehrte und konnte nicht sehen, dass unter der Seelenoberfläche Hagens grimmer Hass herrschte.

Siegfrieds Nichtbeachten der Warnung vor möglichen mächtigen Feinde - hier Metaphorisch als „wilde Schweine“ (935, 2) ausgedrückt - wird später für ihn schicksalhaft sein. Seinen Tod symbolisiert Blut auf den Blumen: „da wurden die Blumen rot“ (935, 3).

Kriemhild war sich ihrer Mitschuld bewusst, da sie dem „viellieben Freund“ (906, 1) Hagen Siegfrieds Geheimnis verriet. Dieses Bewusstsein zwang sie, Siegfried von der Jagd abzuraten: „Bleibet mein Gebieter! In Treuen rate ich Euch das.“ (936, 4). Sie traute sich aber einfach nicht, ihrem Mann zu offenbaren, dass Hagen sein Geheimnis von ihr erfuhr.

Meiner Ansicht nach ist es gut möglich, dass durch Siegfrieds Mord den niedrigen Charakter Gunthers vertuscht werden sollte. Er hielt doch auch ein Geheimnis geheim und nur Siegfried wusste es, wie Gunther seine Ehefrau gewonnen hat. Gunther wollte offenbar nicht dulden, dass Siegfried dieses Geheimnis kennt und vielleicht irgendwann in der Zukunft gegen ihn nutzen könnte. Der König musste sich grässlich davor fürchten, da die „Hochzeitsepisode“ sein Ende als Herrscher und Ehemann sein durfte.

Hagen von Tronje durfte vermutlich auch eine Chance für sich selbst ersehen, und zwar, die mächtigere Position auf dem Burgunderhof oder sogar in dem ganzen Land zu erwerben. Durch die eifersüchtige Königin Kriemhild bzw. auch durch die hochmütige Brünhild und den unbeständigen schwachen König Gunther hätte Hagen in der Zukunft ein märchenhaftes Reichtum und gewaltige Macht gewinnen können. Als kristallsauber sollten also seine Absichten nicht betrachtet werden.

Der Epiker äußert sein Erstaunen in dem sich seine Trauer widerspiegelt: „…als schädlicher Verräter, wie Hagen sich erwies, als sich auf seine Treue Kriemhild, die Königin, verließ.“ (920, 3-4; hier ist Hagen gemeint).

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5.8 Siegfrieds Ermordung

Hagens Mordplan ruhte auf einer glaubhaften Lüge, an der sich auch Gunther aktiv beteiligt hat. „Lüdeger und Lüdegast fordern mich zum Streit, sie drohen mir offen, zu reiten in meinem Land.“ (898, 2).

Siegfried, der Narr und kühner Ritter mit dem großen Herzen beeilte sich, sowie immer, mit seiner Hilfsbereitschaft dem König Gunther entgegen: „Dem soll führwahr Siegfrieds Hand wohl zu Eurer Ehre nach Kräften widerstehn.“ (898, 4; 899, 1). Der drohende Krieg war nur ein Vorwand, um Siegfried in den Wald herauszulocken. Hagen wollte Siegfried zum Schein auf dem Feldzug begleiten und das von Kriemhild gemachte Zeichen (die verwundbare Stelle an dem Siegfrieds Rücken) auf dem Gewann Siegfrieds zu beobachten. Zufrieden mit dem Ergebnis schickte er seine Mannen um zu bekunden, dass „Frieden haben sollte Gunthers Land“ (922, 3).

Inzwischen schmiedete Brünhild mit ihrem Mann und Hagen den Mordplan. Sie riet: „Siegfrieds Leben an einem kühlen Brunnen zu nehmen“ (931, 3-4).

„Wie ungern da Siegfried zurück weiter ritt! Wider Gunthers Feinde keinen Sieg er nun erstritt“ (923, 2). Als ob nichts passiert wäre, bedankte sich Gunther bei Siegfried „Nun lohnt Euch Gott den Willen, Freund Siegfried…“ (924, 1) und lud ihn zu einer Jagt ein „…will zur Jagt ich reiten von Worms übern Rhein und will Kurzweile zum Odenwald hinan…“ (925, 3).

Zwei Personen aus dem höfischen Kreis hätten den Mord Siegfrieds vereiteln können: Giselher, „der edeln Ute Kind“ (879, 4) und Gernot. Sie wussten, was passieren sollte und sprachen sich dagegen aus. „Weh, Ihr guten Degen, warum tut ihr das? Siegfried hat verdienet niemals solchen Haß.“ (880, 1-2).

Nicht nur die Rezipienten mussten sich bewusst werden, dass dieser Augenblick entscheidend war. Durch einen rechtzeitigen Einsatz konnte Siegfrieds Leben gerettet werden. Giselher und Gernot haben jedoch nicht entsprechend aktiv gehandelt, als ob sie vor ihren Brüder (Gunther) und auch vor Hagen fürchteten.

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„Warum verdiente Siegfried seinen Tod?“ stellt der Epiker den Rezipienten diese offene Frage und knüpft an seine Erwägung an: „Ich weiß nicht, aus welchem Neid sie Siegfried nicht warnten. Sie büßten es in späterer Zeit.“ (929, 3-4). Aus seinen Worten geht hervor, dass er ein böses Ende der Beteiligten andeutet. In der sechzehnten Aventiure schildert der Erzähler mit spannender Meisterschaft die ganze Handlung bis zur Ermordung Siegfrieds.

Siegfried fasste einen Entschluss zusammen mit Gunther und Hagen, an der Jagt teilzunehmen. „Mit ihnen ritt Siegfried in heiterem Sinn.“ (931, 1), der ahnungslose Held. Vor der Jagt schaffte er, „von seiner trauten Liebsten“ (933, 1) sehr liebevoll Abschied zu nehmen.

„Gott lasse mich, Fraue, dich wieder sehen gesund und mich deine Augen. Mit den holden Magen dein Magst du Kurzweil treiben. Ich kann hier dabei nicht sein.“ (933, 2-4)

In diesem Augenblick wurde Kriemhild vollkommen klar, welchen Fehler sie beging, wenn sie dem grimmen Hagen das größte Geheimnis ihres Ehemannes anvertraute und damit auch sein Leben aufs Spiel setzte. Diese grundsätzliche Tatsache verschwieg sie jedoch. Sie sagte zu ihrem geliebten Mann kein Wort davon, was zwischen ihr und Hagen passierte. Kriemhilds Verhalten finde ich seltsam, da sie ihren Ehemann lieben musste.

Noch einmal versuchte Siegfrieds Gattin den Helden von der Jagt erfolglos abzuhalten. „Nein doch, Herr Siegfried, ich fürchte deinen Fall. Mir träumte nächtlich Unheil, als ob hier zu Tal stürzten zwei Berge; ich sah dich nimmermehr. Willst du nun von mir scheiden, das schmerzt mich innerlich ganz sehr.“ (938)

 Die Frage ist, ob Siegfried irgendwelche Andeutungen im Laufe der Jagt merken konnte. War das Verhalten seiner Mitjäger nicht auffällig?

Die Jagt war erfolgreich - Siegfried erlegte viel Wildes (948-953; 962 - 967) mit erstaunlicher Geschicklichkeit und wurde als Jägermeister gerühmt. Der Epiker selbst

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erwähnt die Anerkennung: „Das hätt ein anderer Jäger so leicht nicht getan.“ (953, 3). Später zogen alle Jäger zu einer Raststätte, „wo sich ein Brunnen befand“ (959). Siegfried wollte sich mit dem kühlen Wasser erfrischen (991). Nichts deutete daran, dass Siegfried in wenigen Minuten seinen letzten Kampf führen wird, und dass er sein Leben verliert. Als der Erste kam zum Brunnen der König Gunther, dem Siegfried in der Tugend den Vorzug gab. „Gunther trank aus dem Bach“ und dachte, „Siegfried würde dasselbe tun.“ (994). Der Epiker deutet an: „Seine Zucht entgalt er.“ (995, 1).

„Der kühne Sigfrid aus der Quelle trank“ (996, 1). Hagen trug inzwischen „Siegfrieds Schwert und Bogen beiseite.“ (995, 1-2). Der Held geriet in Lebensgefahr. Hagen sah seine Chance. Er „warf er den Ger durch das Kreuzlein, daß aus der Wunde sprang das Blut von seinem Herzen bis an Hagens Hemd.“ (996, 2-3). Kaltblütig beobachtete Gunther die niederträchtige Tat Hagens.

„Solche schwere Untat ist jedem andern Degen fremd.“ (996, 4) - bestärkt der Erzähler das Publikum in der Meinung, dass ein kaltblütiger Mord keinem Helden angehört und keinesfalls einem Ritter, der sich an einer bedeutenden Position auf dem Hof befindet. Ich vertrete die Ansicht, dass die echten Ritter und Christen nie eine solche Tat begehen würden.

Mit der höchsten Spannung konnten die Rezipienten Siegfrieds letzten Kampf ums Leben folgen. Voller Zorn wollte der verwundete Held sein Schwert ergreifen, konnte es jedoch nirgendwo finden; der einzige Gegenstand in seiner Nähe war nur sein Schild (999). „Ob wund er war zu Tode, so kräftig er schlug … gerächt hätte gerne sich der herrliche Degen.“ (1000, 1-3).

„Hätt er das Schwert in Händen, es wäre Hagens Tod. Der Held ertann in Ängsten ihm nur mit genauer Not.“ (1001, 3-4)

„Seine Kraft war entwichen; er konnte nicht mehr stehn. Seines Liebes Stärke, die musste nun vergehn… „(1002, 1-2)

„Da fiel in die Blumen der Kriemhilde Mann. Man sah, wie aus der Wunde das Blut strömend rann.“ (1003, 1-2)

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Siegfried, schwer verwundet, verlangte von Hagen eine Erklärung, warum er den Tod verdiente; er versuchte es, sich zu verteidigen: „Ich war getreu euch immer; den Lohn ich spüren kann.“ (1004, 1-3). Als Todesflucht klangen seine letzten Worte zu Hagen: „In Schanden sollt geschieden ihr von guten Recken sein.“ (1005, 4). Der unverzagte Siegfried, der vielkühne Ritter wurde von allen, die hinzuliefen, beklagt. Ebenfalls Gunther, der verräterische König beklagte Siegfrieds Tod (1007, 1). Solche Niederträchtigkeit würde von ihm kaum erwartet, da ihm Siegfried jederzeit in Getreu beistand. Der König opferte das Leben seines Freundes den Interessen Hagens und Brünhilds. Desto weniger kann man Gunthers geäußertes Leid verstehen. Er musste wissen, dass es nur einen der Wege gibt - entweder Siegfried zu retten oder an Hagens und Brünhilds Hetzen zu hören. Seine Entscheidung finde sich äußerst falsch.

Hagen, der gefühllose Mörder kann jedoch nicht verstehen, warum Gunther traurig ist. Auch er, der König, wollte doch den Tod des Helden. Aus dem Verhalten Hagens kann reine Kaltblütigkeit erkannt werden: „Nun hat alles ein Ende, unsere Sorge und unser Leid.“ (1008, 2). Er versichert den König, dass „diesen Mord keinen bestehen kann.“ (1008, 3). Seine Zufriedenheit mit der mörderischen Tat äußert Hagen ganz auf seine eigene grimme Art: „Wohl mir, dass seiner Herrschaft ich ein Ende nun gewann!“ (1008, 4).

 Wie viele bittere Gedanken mussten durch Siegfrieds Kopf wirbeln? Konnte er (in seinen letzten Minuten) hören, was Hagen zu Gunther sagte?

Siegfried musste, meiner Meinung nach, eine böse Überraschung erleben - seine Freunde haben ihn ermordet. Er durfte an seine Ehefrau denken und sich selbst fragen, was er tat, um dieses grausame Ende verdienen zu müssen. „Nun hat alles ein Ende, unsere Sorge und unser Leid.“ (1008, 2) - waren Hagens einzige Worte. Wenn diese Äußerung zu dem sterbenden Siegfried ankam, musste er tiefst leiden. Er musste wissen, dass Hagen nicht der einzige war, der sich seinen Tod wünschte.

Ich finde es furchtbar, dass die Rede Hagens - „Wohl mir, dass seiner Herrschaft ich ein Ende nun gewann!“ (1008, 4) - vor dem sterbenden Siegfried geführt wurde. Siegfried musste die bösen Worte hören und seine eigene Gutgläubigkeit bedauern. Er erinnerte Hagen daran, dass er doch einen Sohn gewann, der einen Vorwurf immer machen kann und bittet den Gott mit ihm Erbarmen zu haben (1010, 1-2). Siegfried 97

wusste, dass sich auch Gunther an seinem Mord beteiligt hat. „Nimmer ward auf Erden ein schlimmer Mord erdacht, als Ihr an mir vollbracht.“ (1011, 1-2). Ungeachtet dieser Tatsache fordert er vom König, die „geliebte Traute“ (1012, 1), Kriemhild zu beschützen und „sie in Fürstentugend alle Zeit getreu zu pflegen, wenn bei ihm noch Treue gelten kann“ (1013, 2).

Siegfrieds letzter Augenblick näherte sich. Die letzten Worte des sich vor Schmerz krümmenden Helden klangen wie eine schicksalhafte Prophezeiung und Verfluchung. Er sprach da voll Kummer: „Der mörderische Tod mag euch wohl gereuen noch nach diesen Tagen. Glaubt mir das in Treuen, dass ihr euch selber habt erschlagen.“ (1014). Das tragische Ende des Recken musste das Publikum zum stummen Entsetzen und langen Schweigen bringen. Der Epiker beschrieb die letzten Augenblicke Siegfrieds mit meisterhaftem Geschick.

„Die Blumen allenthalben vom Blute waren naß. Da rang er mit dem Tode. Nicht lange tat er das, da des Todes Waffe allzu sehr ihn schnitt. Der kühne, wackre recke konnte lange reden nit.“ (1015)

Ich kann mir gut vorstellen, dass in dieser Passage des Liedes eine dramatische Pause von dem Erzähler gemacht wurde (unter der Voraussetzung, dass das Lied mündlich als Gedicht vorgetragen wurde). Wer von Gunther gegenüber Siegfried oder seiner Gattin Mitleid erwarten würde, der irrt sich. Als erster Schritt wurde eine Ausrede für den Tod Siegfrieds gesucht und fiktive Täter, „die Schächer“99 vorgeführt (1017). Dem grimmen Hagen war es ganz gleichgültig, ob der Täter bekannt wird oder nicht. Er hatte seine „Aufgabe“ nacherfüllt. Schließlich war er bereit, die Leiche Siegfrieds ins Land zu bringen. Gegenüber Kriemhild, die nun Witwe wurde, brachte er vor allem rückhaltlosen Hass zum Ausdruck. „Ich achte es geringe, ob sie nun auch weinen tut.“ (1018, 4).

99 Schächer: Ein alter Ausdruck (mhd.) für Räuber, Mörder, biblische Bezeichnung für die beiden rechts und links von Jesus gekreuzigten Räuber. (Vgl. DUDEN, 2006, S. 1440-1441)

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5.9 Kriemhilds Klage

Nach dem dramatischen und schmerzhaften Tode Siegfrieds würden die Rezipienten erwarten, dass der kühne Held mit Pietät behandelt wird. Es passierte jedoch das Gegenteil. Die grimme Rache war dem grimmen Hagen offensichtlich nicht genug. In seinem Übermut gelang er bis zu einer grausamen Idee, den toten Siegfried vor die „Kemenate Kriemhilds“ (1021, 4) zu legen, damit sie ihn „beim Gang zur Frühmesse“ (1022, 3) finden konnte.

 Warum überschritt Hagen in seinem Hass alle gesellschaftlichen Sitten? Warum behandelte er den verstorbenen Siegfried schlechter als einen Bettler und warum hinterließ er ihn vor der Kriemhilds Tür? Welcher Absicht konnte er folgen?

Am Morgen fand der Kämmerer den erschlagenen Ritter vor der Tür und die Trauernachricht erfuhr bald auch Kriemhild. Ohne zu wissen, dass es sich um Siegfried handelt, „begann sie über jedes Maß zu klagen“ (1025, 4) und „an die Frage Hagens zu denken.“ (1026, 2), wie er ihn schützen wollte.

Als sie dann ihren toten Ehemann erkannte, sank sie zu Boden nieder und sprach kein Wort (1027, 1). Eine Weile später erklang aus ihrem Mund harte Beschuldigung des Mordes: „Geraten hat es Brünhild, und Hagen hat es getan.“ (1028, 4) und brachte sinnfällig ihre Gier nach Vergeltung zum Ausdruck: „Wüßte ich den Täter, den Tod ich wirkt ihm fort und fort.“ (1030, 4).

Kriemhild wollte nicht akzeptieren, dass Gunther die Schächer als Täter nannte. Voll von Leid beschuldigte sie öffentlich Hagen und Gunther des Todes Siegfrieds: „Diese Schächer sind mir wohlbekannt.“ (1064, 1), „Gunther und Hagen, ihr habt es getan.“ (1064, 3). Wieder erklang die Warnung Kriemhilds von Rache: „Gott lasse es noch rächen seiner Freunde Hand!“ (1064, 3).

Der Epiker gibt in seinem Werk keine Andeutungen an, die den Rezipienten helfen würden, die Absicht Hagens und/ oder Kriemhilds interpretieren zu können.

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Meiner Ansicht nach, zeigte Hagen in seinem Handeln all blinden und jahrelang unterdrückten Hass gegenüber Siegfried, vermutlich aus dem Grund, dass er sich in seiner eigenen Position auf dem Burgunderhof bedroht fühlte. Hagens Aufgabe, wie er sie aus seiner Sicht betrachtete, scheint rein staatspolitisch zu sein.

Wie es aus der geschilderten Handlung im Nibelungenlied hervorgeht, vertritt Hagen die Position des politischen Beraters der Burgunderkönige. Er ist ein Vasall der in den meisten Situationen aus Gefolgschaftstreue handelt. Sein Gefühl, dem Königshaus treu zu bleiben ist maßlos. Hagens Charakter wird im Nibelungenlied durch seine Tate der Burgunderkönige zugunsten als ruchlos und hinterlistig geschildert. Deshalb kann nicht erwartet werden, dass er irgendeine Sitte (Siegfrieds würdevolle Versorgung nach dem Tod) verehren würde. Hagen kann sogar als ein Usurpator betrachtet werden, da Siegfrieds Tod der erste Schritt auf seinem Weg zu einer höheren Position sein konnte - vermutlich die Erhaltung seiner Herrschaft in Worms. Die Eifersucht gegen den Einfluss eines Fremdlings (Siegfried) kann auch als ein der grimmen Motive Hagens wahrgenommen werden.

Die Hagenfigur ist fragwürdig und zieht das heroische Krieger-Ethos in Zweifel. Für den übermütigen Hagen gilt es, dass er seine Vergeltungssucht über seine eigene Ehre stellt. Seine Macht und grimmer Charakter zeigt sich nicht nur bei der Ermordung Siegfrieds und bei dem anschließenden Hortraub, sondern vor allem in dem blutigen Kampf mit Hunnen (ab 33. Aventiure). Sein blinder Hass spiegelt sich in der Rache an Hunnen wider und seine blutige Vergeltung ist maßlos.

 Warum rächte sich Kriemhild nicht unmittelbar nach dem Tod Siegfrieds?

Nicht nur Kriemhild, sondern auch König Sigmund, die Fürsten, die Nibelungen und das ganze Burgunderland trauerten um Siegfried. „Der König Sigmund mit seinen Mannen rief die Not zum Kampf.“ (1050, 1). Obwohl sich die Nibelungen auf der Stelle rächen wollten und kampfbereit zur Verfügung standen, lehnte sie Kriemhild ab. „Wenn bessere Zeit sich bietet, will ich den Gatten mein immer mit Euch rächen.“ (1051, 2-3).

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Ihre Worte - „Der ihn mir genommen, gewönn ich des Gewißheit, es sollte ihm zum Schaden frommen.“ (1051, 3-4) zeugen davon, dass sie Zeit (vermutlich zum Überlegen) gewinnen wollte. Zwei Gründe zur Verzögerung der Rache können jedoch gefunden werden: Kriemhild wollte nicht, dass ihr Verrat herauskommt und/ oder sie fokussierte ein anderes Ziel.

Kriemhilds Angst vor der Offenlegung und Beschuldigung musste tatsächlich groß sein, falls sie vorhatte, die entstandene Situation ihr zugunsten auszunutzen und ihr eigenes Ziel zu folgen - beispielsweise eine unabhängige Herrscherin zu werden, wie vor Jahren Brünhild auf Island war. Sie musste wissen, dass sie genug reich wäre, um ihre Machtziele (falls sie es gegeben haben) zu Verwirklichen. Sie verfügte über ihre Morgengabe, so könnte sie eine reiche Herrscherin werden.

 War die Beerdigung Siegfrieds in Übereinstimmung mit den Sitten? Sind die Burgunder im Nibelungenlied Heiden oder Christen gewesen?

Siegfrieds Leiche wurde in einem Sarg „aus edelm Marmelsteine“ (1056, 2) von den Nibelungen zum Münster gebracht. „Der König Gunther mit seinen Mannen kam, mit ihm der grimme Hagen, wo man den Klageruf vernahm.“ (1058, 3-4).

Im Nibelungenlied widmet sich der Epiker nicht explizit der Religionsfrage. In seinem Werk erwähnt er jedoch Ereignisse, die auf christliches Milieu deuten. Das christliche Totengedenken wurde durch aufwendige Zeremonien präsentiert, wie Glockenläuten und Gesang der Geistlichen, Totenmesse (1058, 1068,1070, 1079).

Nach der christlichen Zeremonie im Münster blieb Kriemhild bei ihrem Geliebten bloß mit einem Wunsch: „Der Gott bringt ihr das Ende ihrer Not.“ (1072). Sie war dort nicht allein, „ohne Essen und Trinken blieb da mancher Mann.“ (1074, 1). Alle „baten um die Seele des Recken so kühn und hehr.“ (1075, 4).

Kriemhild hielt die Totenwache drei Tage und Nächte lang, zusammen mit Geistlichen und Mönchen. Aus der Schilderung der Trauer geht hervor, dass der Kummer unheimlich sein musste. Ein außerordentlicher Held, König und Ehemann verlor sein Leben durch niederträchtige Art „der grimmen Schächer“ - wie es von

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Günther behauptet wurde (1063, 3-4). Unter großer Anteilnahme gingen die Trauernden zur Totenmesse, wo sie Opfergaben für Siegfrieds Seelenheil spendeten (1070, 1078). Die Zeit von drei Tagen verging. Kriemhild musste von ihrem viellieben Mann für immer Abschied nehmen. „Mit dem Gottesdienste beendet der Gesang, mit ungemeßnem Leide viel des Volkes rang. Man hieß ihn aus dem Münster zu dem Grabe tragen.“ (1079, 1-3).

Das Jammern nahm kein Ende. „Als man den edeln Herren hatte nun begraben, Leid ohne Maßen sah man die haben.“ (1086, 1-2). Sowie Kriemhild als auch König Sigmund lagen „in denselben Nöten“ (1088). Während einer großen kirchlichen Zeremonie wurde Siegfried vor dem Münster beerdigt (1079, 1086).

5.10 Kriemhilds Leben als Witwe

Wenn Eltern ihr Kind überleben, ist die Trauer noch viel schlimmer. Sigmund verlor seinen Sohn, „seine Macht war gelähmt“ (1089, 2). Er war jedoch Herrscher, deshalb musste er voll von Leid mit seinen Mannen „zurück ins Nibelungenland“ reiten (1089, 4; 1090). Kriemhild wurde Witwe. König Sigmund hat sie geboten, ins Nibelungenland zu ziehen: „Das Land und auch die Krone sei euch untertan.“ (1092, 3) aber ihr Bruder Giselher meinte, sie sollte bei ihrer Mutter bleiben (1095, 4). Ute, Kriemhilds Mutter und auch Gernot baten sie im Burgunderland zu bleiben (1098, 2). Kriemhild musste eine Entscheidung, die ihr sehr schwer fiel, treffen.

 Kann das Verhalten der Könige Kriemhild gegenüber als üblich gesehen werden? Wo ist Kriemhilds Sohn geblieben?

In der mittelalterlichen Literatur wird das Leben der Frauen in drei Phasen eingeteilt, die mit bestimmten, sehr klaren Rollen verbunden waren. Als junges Mädchen (oder Jungfrau) lebte die Frau/ Mädchen unter Vormundschaft ihres Vaters (im Nibelungenlied vertraten diese Vormund-Rolle Kriemhilds königliche Brüder),

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welcher für ihr Benehmen und für ihre Taten verantwortlich war. Wenn das Mädchen heiratete, übernahm sie die Rolle der Gattin und Mutter. Nach dem Tod des Ehemannes lebte sie als Witwe. Unter diesen Bedingungen gab es für eine Witwe zwei Möglichkeiten - entweder wieder zu heiraten oder unverheiratet bleiben. Wenn die Witwe über genug Geld verfügte (im Nibelungenlied erhielt Kriemhild ihre Morgengabe), konnte sie sich in ein Kloster oder in ein Stift zurückziehen und dort ein frommes Leben führen.100

Sehr merkwürdig finde ich, dass Kriemhild nicht einmal an ihren kleinen Sohn dachte. Sigmunds Zureden „Fahrt mit uns auch heimwärts um Eurer Kindelein!“ (1104, 1) war von keinem Nutzen. Kriemhild entschied sich endgültig - nicht mit Sigmund zu fahren: „Ich muss hier verbleiben.“ (1105, 2). Sigmund war enttäuscht, akzeptierte jedoch Kriemhilds Entscheidung - „Wenn Ihr bleiben wollet bei unseren Feinden hie…“ (1106, 4), trennte sich aber mit rechtem Kummer von ihr. „Da ward ihm Unfreude kund.“ (1108, 3). Er wollte in dem Feindesland nicht mehr bleiben. „Nie soll man uns wieder bei den Burgunden sehn.“ (1109, 4). Kriemhild blieb mit ihrem ungeheuren Leid allein. „Brünhild, die schöne, im Übermut saß. Ob Kriemhild auch weinte, gleichgültig war ihr das.“ (1117, 1).

An dieser Stelle möchte ich bemerken, dass Kriemhild eine seltsame Stellung zu ihrer Zukunft einnahm. Sie wollte ohne ihren und Siegfrieds Sohn leben, sie wollte in einem Land bleiben, wo sie von der Königin missachtet und/ oder sogar gehasst wurde. Die übermutige Königin Brünhild duldete Kriemhild an ihrem Hof nur wegen ihren Gatten Gunther.

Meiner Ansicht nach, musste diese unfreundliche Lage für alle Akteure - die beiden Königinnen, König Gunther und vor allem für Hagen - unbedingt sehr schädlich sein. Schließlich zeigte sich, dass die Einmündung des lebenslänglichen ungesunden Zusammenlebens nach dem Tode Siegfrieds ihre giftigen Früchte brachte.

100 Vgl. http://www.deutschland-im-mittelalter.de/frauen.php#lebensalter, Letzte Abfrage am 10.1.2013

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5.11 Kriemhild, Hagen und Hortraub

Kriemhild als Witwe wohnte in einem großen Haus bei Münster. Sie genoss keine Ehren der unabhängigen Königin. Sie legte keinen Wert an ihrem Sohn, als ob er für sie nicht mehr existierte. In ihrem Herzen pflegte sie vor allem ihre leidenschaftliche Liebe zu ihrem gestorbenen Mann.

Da die Minnigliche als Witwe ward, blieb in dem Lande der Graf Eckeward bei ihr mit seinen Mannen. Die Treue ihm das gebot. Er diente seiner Fraue freiwillig bis an seinen Tod. (1118)

 Wie ist Kriemhild mit ihrem Kummer zurechtgekommen? Hat sie ihre Ruhe gefunden, nachdem ihr Verrat so viel Kummer brachte?

Kriemhilds Liebe scheint vermutlich nicht, als ob sie echt wäre. Ihre Leidenschaft verblendete sie selbst und erlaubte nicht, eine gesunde Einsicht in das wirkliche Leben, in dem sie ihr Sohn brauchen könnte, zu gewinnen. Als Beweis ihres selbstsüchtigen Verhaltens ist die Tatsache zu merken, dass sie den angebotenen Lebensweg, nach Heimat ihres gestorbenen Mannes zu ziehen, die traditionelle Fortsetzung des königlichen Geschlechts zu folgen und zu pflegen, und vor allem die liebende Königin-Mutter ihres Sohnes zu sein, abgelehnt hatte.

Wenn ich zu dem Königinnenstreit zurückkomme, sehnt Kriemhild nach Ehre und Anerkennung als Königin in gleichem Maß wie Brünhild. In ihren Zukunftsplänen hatte jedoch ihr und Siegfrieds Sohn keinen Platz. Nach dem Tode ihres Mannes hatte sie das Nibelungengold, sie konnte mit ihrem Sohn in Behaglichkeit leben und ihn in einen starken Nachfolger Siegrieds großziehen. Anscheinend nichts davon lag ihr an dem Herzen.

 Warum verzichtete Kriemhild auf alles, was ihr Sigmund (Siegfrieds Vater) angeboten hat? Wäre es möglich, dass sie durch ihre tiefe Trauer alles Positive übersah? Oder war ihr Hass so riesig, dass sie bereit war, auf ihre Gelegenheit zur Rache jahrelang zu warten?

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Kriemhilds einziger Freund verblieb Graf Eckeward. Ihre täglichen Tätigkeiten begrenzten sich auf die häufigen Besuche der Kirche. Ihre Mutter Ute bemitleidete sie, trotzdem konnte Kriemhild keine Ruhe finden. Sie sprach mit ihrem Bruder Gunther kein Wort und den verräterischen Hagen sah sie nicht mehr.

Es wird gesagt, dass der Teufel nie schläft. Das gilt auch für den heimtückischen Hagen von Tronje. Er bemühte sich bei Gunther, eine Erlaubnis zu gewinnen, um das Nibelungengold nach Burgund bringen zu dürfen (1124). Gunther willigte rasch ein und bat ihm, seine Brüder und die besten Mannen zur Verfügung zu stellen um den Hort zu holen. Hagen, der untreue Mann, ging so weit, dass er um die Versöhnung bei Kriemhild bitten wollte (1132-1133). So groß war seine Gier. Kriemhild lehnte Hagen jedoch ab und er wagte es nicht mehr, sie anzusprechen. Kriemhilds Brüder, Gernot und „Giselher, das Kind“ (1127), überzeugten sie jedoch, den von Alberich aufbewahrten Schatz zu holen. Mit zwölfhundert Mann rieten sie hin (1136). Zwölf volle Lastwagen lieferten das Gold und Edelsteine vier Tage lang 1141, 2-3), so groß war der Hort. Trotzdem wäre Kriemhild lieber arm bleiben, nur wenn sie mit Siegfried leben dürfte (1146). Der Hort brachte ins Land viele fremden Recken. Kriemhild beschenkte alle - die Armen und die Reichen (1148). Kriemhilds Freigebigkeit erregte in Hagen (mit Recht) Verdacht, dass sie „den Dienst von manchen Mann gewinnen will“, um sich rächen zu können (1149).

5.12 Kriemhild und Etzel

Kriemhild hat von dem Schicksal eine neue Lebenschance bekommen. Markgraf Rüdiger von Bechlaren brachte nach Worms eine Begrüßung aus Hunnenland und erbat bei dem König Gunther Kriemhilds Hand für seinen Herrscher, den Hunnenkönig Etzel.

Obwohl Kriemhild Zweifel über die Ehe mit einem Heiden hatte (sie war eine Christin), ließ sie sich zum Heirat überzeugen, vor allem unter der Beteuerung Rüdigers, dass der Hunnenkönig jeden bestrafen wird, der ihr Leid antun würde. Ein anderer Grund dafür, Etzel zu heiraten, war auch Hagens niederträchtige Tat, die

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Kriemhild beschädigen sollte. Er raubte den Nibelungenhort und versenkte ihn im Rhein, damit Kriemhild nicht genug Gold hatte, um fremde Männer zu werben und sich rächen zu können. Als Kriemhild von dem Hortraub erfuhr, verständigte sie sofort Rüdiger, dass sie Etzels Angebot annimmt und nach Hunnenland reisen wird.

Nach der Heirat mit Etzel am Pfingsttag101 in Wien lebte Kriemhild auf dem Hof Etzels. Sie freute sich großer Anerkennung und Liebe in ihrer neuen Heimat. “Ihr war nach vielem Leide so viel Ehre nun geschehen:“ (1404, 4). „Die Frau Kriemhild saß bei Etzel mit der Krone.“ (1407, 4).

Der Dichter des Nibelungenliedes schildert glückliches Leben des Ehepaares: „In dem Hunnenland sie lebten mit keiner Herrin so angenehm.“ (1015, 4). Etzel liebte Kriemhild sehr (1419). Nichts deutete an die tragische Wende in der Handlung.

In hohen Ehren lebte Kriemhild mit Etzel bis zum siebten Jahr (1420). Sie brachte einen Sohn zur Welt, der „nach christlichem Brauche Ortlieb getauft wurde.“ (1421). „Hohes Lob erwarb sie erwarb sie bei den Hunnen bis zum zwölften Jahr“ (1423,4) und „aller Zeiten sah sie zwölf Könige um sich.“ (1424,3) so konnte sie sich hier wohl fühlen.

 Welche Frau wünschte sie nicht geliebt zu werden, reich und geehrt zu sein? Konnte Kriemhild ihr Glück in dem heidnischen Land finden?

Trotz allen Gunsten, die Kriemhild genießen durfte, sehnte sie sich nach Nibelungenland, wünschte ihre Mutter und ihren Bruder Giselher zu sehen. Kriemhild „wegen Siegfrieds Tod immer schwere Herzenskummer fühlte“ (1427,2) und wollte „ihres Mannes Tod rächen.“ (1430,3).

Ich vertrete die Ansicht, dass sie sich durch ihr eigenes Versagen und ihre Schuld an dem Tod Siegfrieds tief unglücklich und bedrückt fühlte. Möglicherweise, dachte sie, dass die Rache alle ihren schwarzen Gedanken mildern wird und seelische Ruhe bringt.

101 Pfingsten ist ein christliches Fest. Gefeiert wird von den Gläubigen die Entsendung des Heiligen Geistes. (Vgl. DUDEN, 2006, S. 1278)

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 Ist es möglich, dass Kriemhild ihre Rolle einer „armen“ Frau (Witwe) konsequent spielte, um ihre Rache bis ins Detail kalkulieren zu können und nicht nur ihre persönliche Genugtuung gegenüber Hagen zu erreichen, sondern auch den verlorenen Nibelungenhort zusammen mit grenzloser Macht über zwei großen Ländern (Burgundenland und Hunnenland) zu gewinnen, um mächtiger als je eine Frau weit und breit werden zu können?

Dass Kriemhild eine skrupellose und kalt kalkulierte Rächerin ist, kann der Rezipient nur schwer glauben. Ausgeschlossen ist diese Tatsache jedoch nicht. Eine wahrscheinliche Abschätzung, dass sie mächtig und als unabhängige Königin über ein großes Land herrschen wollte, dürfte der Wahrheit nähern. Sie war immer noch jung und ihr Charakter konnte im Laufe der Zeit wesentliche Veränderungen durchmachen. Sie konnte sich ihren Vorränge und Vorteilen mehr bewusst werden, ihr Ehrgeiz durfte deswegen erhöht werden. Es ist ganz gut möglich, dass ihr Vorbild vor allem Brünhild, die sie vor Jahren als eine unverheiratete Königin auf Island herrschte, war.

Aus der schönen Mägdelein, zarten Prinzessin, die als „Morgenrot“ genannt wurde, die anfangs passiv auftrat, wird „minnigliches Weib“, Siegfrieds Gattin und Königin, die sich vor der Ermordung Siegfrieds in eine aktiv handelnde Figur umwandelt. Ihre leidenschaftliche Liebe zeigt sich in voller Kraft als quellend und ungestüm erst nach dem Tod Siegfrieds. Ihre überdauernde Bindung an Siegfried stellt die treibende Kraft für ihre Rache dar. Ihre anhaltende Feindschaft und Hass zu Hagen brachte sie in die neuen Beziehungen - zu dem Hunnenkönig Etzel (als Ehemann) und später zu Rüdeger (als getreuer Gefolgsmann).

Kriemhild wurde in Leid gestürzt, sie spürt das Unrecht, das nicht getilgt wurde, da ihr Bruder Gunther in seiner Pflicht zur Gerechtigkeit versagt und den Siegfried- Mörder nicht bestraft. Unter dem jahrelang bedrückenden Leid wird die schöne Idealistin Kriemhild wird zur rächenden mörderischen Teufelin.

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5.13 Kriemhilds Rache

Einem der bewegtesten und gewaltigsten Momente des Nibelungenliedes kam die deutende Handlung zuvor, die das sich nähernde Drama vorausbestimmte. Aus dem Epos geht hervor, dass sich Kriemhild bemüht hat, ihre Gefreundten nach Nibelungenland einladen zu dürfen. „Die böse Absicht niemand an Kriemhild hat erkannt.“ (1432, 4). König Etzel, „getreu in seinem Mut“ (1435, 1), willigte ein (1437). Die Festlichkeit sollte zur Sonnenwende102 stattfinden (1446,3).

Kriemhild zielte ihre Einladung sehr geschickt, damit sie auch Hagen ins Hunnenland bringen könnte: „Und saget auch Gernot, dem lieben Bruder mein, daß er bringe unsere besten Freunde…“ (1451), „Und saget auch Giselher, daß ich durch sein Verschulden nie ein Leid gewann…ihn sehe gerne hier“ (1452) „…sagt auch meiner Mutter, welche Ehre man mir zollt; und wenn von Tronje Hagen zurückbleiben wollt, wer wohl dann sie sollte führen durch das Land? Von Kind auf sind die Wege zu den Hunnen ihn bekannt.“ (1453).

Nicht nur den Boten, die nach Burgundenland reiten sollten (um die Festlichkeit zu verkünden), war Kriemhilds Wunsch „Hagen, der Kühne zurück an dem Rhein nimmer bleiben sollte“ (1454, 2-3) verdächtig, sondern bestimmt auch den Rezipienten des Liedes. „Durch ihn (Hagen) ward mancher Degen dem grimmen Tode geweiht“ (1454, 4) - erlaubte sich der Epiker zu bemerken. Aus meiner Sicht kann Hagens Figur als Synonym des Todes wahrgenommen werden.

 Konnten Gunther und seine Brüder eine gewisse Gefahr seitens Kriemhild vorausahnen? Dürften sie die Einladung nach Hunnenland ablehnen? Hätten sie eine Chance, dem Unglück vorzubeugen?

102 Die Sommersonnenwende wird seit jeher von den Menschen als mystischer Tag betrachtet oft begleitet von religiösen Feierlichkeiten. Sonnenwendfeste hatten wohl vor allem in den germanischen, nordischen, baltischen, slawischen und keltischen Religionen einen festen Platz. (Vgl. http://www.heidenhemd.de/tag/sonnenwende/, Letzte Abfrage am 15.1.2013)

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Als Gunther die von Etzel und Kriemhild gesandten minniglichen Grüße mit der Einladung zur Festlichkeit im Land des Königs Etzel erhielt, nahm er sich sieben Tage Zeit, bis er den Boten eine Antwort gab (1484). Dem Rezipienten musste dieser Verzug wohl auffällig vorkommen, da er einen Grund hatte: Der König brauchte einen Rat hören: „Gunter, der edle, fragte Mann für Mann, wie sie darüber dächten.“ (1491).

Hagen von Tronje befürchtete Kriemhilds Rache und äußerte sich vor Gunther in diesem Sinne: „Ihr wisset, was wir ihr getan. Drum zieht uns immer Sorge vor Kriemhilds Plan.“ (1493, 1-2). Gunter war eine andere Ansicht, sowie auch Giselher und Gernot. Die Beiden wollten zu Etzel hinreiten. Außerdem wäre es kaum denkbar, dass Gunther die Ehre von Etzel ablehnen würde. Es gab keinen Grund dafür. Trotz in diesem Moment unbegründete Befürchtung hatte der Herrscher keine Wahl. Solche Ehre durfte nicht missachtet werden. Hagen schloss sich die Helden ungern an, erreichte jedoch, dass der Heerbann wohlgerüstet nach Hunnenland fahren wird (1510, 4). Beachtenswert finde ich die Anzahl der Gefolge, die der Epiker erwähnt: „…tausendsechzig Mannen und neuntausend Knechte mit reichem Gewand.“ (1546, 3-4) ritten vom Rheine ab.

 Ist Hagen ein hervorragender vorausblickender Stratege, kalt kalkulierte Krieger oder Mörder, dessen schwarzes Gewissen nie schläft?

Die Anzahl der von Hagen ausgewählten und zum Krieg ausgerüsteten Recken entspricht nicht der Gelegenheit der friedlichen Festlichkeit, sondern eher einem schweren Kampf. Die blutigen Ereignisse haben die Burgunder bereits während der Reise nach Hunnenland betroffen. Hagen von Tronje beging einen Mord an einem Fährmann und versuchte es, noch einen zweiten Mord (1627) an dem Kaplan des Königs zu begehen, um die Prophezeiung der Meerfrauen (1579-1582) - „ihr sterben müsset in König Etzels Land“ (1582, 3) - umzustoßen. Da die Meerweib Winelind nur dem Kaplan die Lebenserhaltung prophezeite, versuchte es Hagen, ihm das Leben zu entnehmen (1616- 1625); dies aber misslang (1627-1629). Als „ungetreuer Mörder“ (1627, 3) wurde er von dem Kaplan verfluchtet: „Gott lasse Euch nimmer zum Rheine wiederkommen!“ (1629,3). Sogar der Ritter Eckewart äußerte seine Sorgen und machte Hagen darauf

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aufmerksam, dass man bei den Hunnen wider ihn Hass hegt (1682, 3). Dazu sprach Hagen anscheinend ohne tiefes Interesse „Nun möge uns Gott behüten“ (1684, 1). Diesem gewaltigen Handeln Hagens kann entnommen werden, dass er jederzeit „über Leichen“ gehen würde, um seine Ziele zu erreichen. Er hatte nicht vor, sich durch eine einzige Frau (Kriemhild) töten zu lassen, so versuchte er, durch seine Tate das düstere Schicksal zu überlisten. Hagens Verhalten ist oft äußerst grob und gefühllos, sogar grausam. Deshalb finde ich Hagens Worte zu Gott - „Nun möge uns Gott behüten.“ (1684, 1) als Schändung des Gottes.

 Mit welchen Gefühlen erwartete Kriemhild die Gäste, vor allem die Leute, die ihr solches tiefen Leid verursachten (Hagen, Gunther u. a.)?

Kurz danach, als die Boten die Kunde nach Etzels Land gebracht haben (die Burgunder können bald erwartet werden) erfuhr sie auch Kriemhild von Etzel. Ihr erster Gedanke beschäftigte sich jedoch nicht mit dem Empfang der edlen Gäste. Kriemhilds erwartender Rachemoment näherte sich. „Ich muss es also schaffen, daß meine Rache ergeht bei diesen Festtagen...“ (1765, 1).

 Hat Kriemhild begonnen, die Rache erst jetzt zu planen? Oder hatte sie ihren Mörderischen Plan bereit?

Aus der Handlung geht nicht hervor, ob Kriemhild über die Rache bis ins Detail nachgedachte hat. Der Epiker erwähnt keinen Indizienbeweis dazu. Kriemhild dachte zwar oft an die Rache, hier scheint es jedoch so aus, als ob sie sich gerade jetzt bewusst wäre, dass die Genugtuung kommen muss. Meiner Ansicht nach wurde sie sich unter dem Druck des nachstehenden Treffpunktes mit den Tätern (Hagen und Gunther) bewusst, wie tief sie ihren Hass unter damaligen Umständen unterdruckte und wie nun dieser Hass und die ungestillte Sehnsucht nach Rache nach oben aufquellen. Sie musste sich sicher sein, dass sie ihre Rache ohne Zögern begeht.

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„Liebe und Leid“ (1771, 2) - so schätzte König Dietrich von Bern zum Empfang kommende Königin Kriemhild ein. „Solange Kriemhild lebet, wird sie Euch (hier ist Gunther gemeint) Schaden tun“ (1774, 2). Nach kalter Begrüßung „Seid willkommen, wer euch gerne sieht“ (1787, 1) fragte Kriemhild Hagen, ohne große Umstände zu machen, „woher er den Hort der Nibelungen getan hat“ (1789).

 Wie konnte es passieren, dass sich Kriemhild nicht als eine richtige Königin und wahre Gastgeberin höflicher verhielt? Warum behandelte sie ihre Gäste so geringschätzig, obwohl sie aufgrund einer Einladung gekommen sind?

Kriemhilds Kälte und deutlicher Vorstoß „Um der Verwandtschaft Willen mein Gruß nicht geschieht.“ (1787, 1-2) weisen auf eine Provokation hin. Sie selbst, als Etzels Ehefrau, dürfte keinen offenen Kampf beginnen, deswegen wählte sie eine bewährte Strategie - Provokation. Ganz offen verlangte sie den Hort und erwartete Hagens Widerstand. Da ihre Strategie erfolglos war, kam sie mit dem weiteren Schritt und verbot allen Recken, ihre Waffen in den Saal zu tragen. Hagen lehnte es ab. Die begonnene Streitigkeit verhütete „voll Zornes König“ Dietrich von Bern (1797, 1). Furchtlos nannte er die Königin „Weib des Teufels“ (1797, 4). Kriemhild sprach danach kein Wort mehr.

 Wäre es möglich, dass Kriemhild eine tatsächlich große Macht besitzen konnte, um einen offenen Streit beginnen zu dürfen?

Wie in meiner Diplomarbeit (s. 5.2 Siegfrieds und Kriemhilds Annäherung) erwähnt wurde, besaßen die königlichen Frauen im Mittelalter keine Macht, wie in der gleichen Sinne die Männer/ Könige, und waren nur als Gattinnen der Könige. Eine andere Tatsache sind die Hintergrundpraktiken, die eben die Frauen meisterhaft beherrschten (oft mit dem stillen Einverständnis ihrer Gatten).

Falls die Figur Etzels auf dem historischen Grund gebildet wurde (Etzel=Attila), ist es wichtig zu erwähnen, dass Etzel ein starker, mächtiger, selbstbewusster, aber auch

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grausamer Herrscher mit unermesslichem Ehrgeiz war (er wollte die ganze Europa erobern).103

Etzel merkte zwar das ungeeignete Verhalten seiner Frau, trotzdem griff er nicht ein. Wenn die Charakteristiken Etzels betrachtet werden können, ist es schwer zu glauben, dass er ohne ein Wort zu sagen seiner Frau so viel Freiheit überlassen würde. Trotzdem konnte seine (Nicht)Handlung triftige Gründe haben.

 Wie kann Etzels Verhalten interpretiert werden?

In diesem Fall können zwei Beweggründe erahnt werden, die den Hunnenkönig dazu führten, sich zurück zu halten. Etzel, wie es aus dem Epos hervorgeht, war ein hervorragender Gastgeber, seine Gastfreundlichkeit war ein Ausdruck der Achtung gegenüber den kommenden Boten und Fremden. Dies konnte der erste Grund dazu sein, warum Etzel auf das unfreundliche Benehmen seiner Frau nicht reagierte. Der zweite Grund konnte vermutlich sein strategisches Denken sein. Möglicherweise wartete er ab, bis die Burgunden ihre Absichten zeigen, damit er in dem geeigneten Moment eingreifen könnte. Jedenfalls gab sich Etzel echte Mühe, seine Gäste, sogar auch Hagen, mit freundlichen Worten zu begrüßen und herzlich willkommen zu heißen (1858-1859; 1863): „Nun will ich euch gestehn, mir konnte in diesen Zeiten nichts Lieberes geschehen, als durch euch, ich Recken, daß ihr zu uns kommen.“ (1862, 1-3).

Das Nibelungenlied bringt keine Auskunft darüber, wie das Leben in den beiden mächtigen Ländern (Burgunden- und Hunnenland) im Laufe von vergangenen Jahren verlief. Wie der Rezipient annehmen kann, merkte Etzel keine Indizien, die auf die Feindlichkeit der Burgunden gegenüber Hunnen hinweisen sollten. Seine Reaktion finde ich deshalb diplomatisch, strategisch und menschlich angemessen.

103 Vgl. Bednaříková, J., 2007, S. 43-57

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Die Aktion und Gegenaktion in der Handlung löste allmählich eine Gewaltspirale aus, die sich in den Aventiuren 29 - 34 abspielt. Nach dem Empfang der Gäste schien Kriemhild ausgeglichen und vornehm zu sein aus. Im starken Kontrast war jedoch ihre Stimmung: Vor den Männern Etzels äußerte sie ihre Absicht, an Hagen Rache zu begehen. Das Gerücht blieb jedoch Hagen nicht fremd. Die Handlung der Bugrunden zeugte davon, dass sie sich zu einem Kampf vorbereiten. Volker (Spielmann) und auch die anderen Männer schwören Hagen ihre Treue und Hilfe (1826-1827).

Wie es aus der Handlung hervorgeht, war Hagen bereit, den Kampf hervorzurufen. „Hagen, der starke, legte übers Bein eine lichte Waffe. Im Knauf strahlte rein in viellichter Jaspis104, grüner als das Gras.“ (1832, 1-3), die Kriemhild sofort erkannte - es war das Siegfrieds Schwert Balmung (1833).

 Was wollte Hagen mit dem Schwert vorführen? War er sich bewusst, was er tut und wie Kriemhild reagieren wird?

Ich vertrete die Meinung, dass Hagen nichts (außer seinem Leben) zu verlieren hatte. Auf die Provozierung Kriemhilds reagierte er gleichartig. „Kriemhild ergriff in grimme Not“ (1833, 1). Sie attackierte Hagen mit Fragen: „Wer hat Euch gesandt“, „warum Ihr es waget“(1836,1-2), „warum tatet ihr das“(1838, 1) und mit Beschuldigungen des Todes Siegfrieds (1838). Hagen bestritt es nicht, es schien sogar, endlich die für ihn geltende „Schnee von gestern“ hinter sich bringen zu wollen und er gab auch ganz offen zu, dass er Siegfried ermordet hat (1839-1840). Seiner Äußerung nach hat er alles wegen der Beleidigung seiner Herrscherin Brünhild getan (1839).

104 Jaspis: Die Inspiration für ein Schwert mit Jaspis (im NL befand sich ein ähnlicher Stein auf dem Schwert Siegfrieds - Balmung) konnte der Epiker in der griechischen Mythologie finden bzw. der Jaspis auf dem Schwert Balmung könnte eine Entlehnung aus Vergils Äneas sein. Äneas (der letzte Prinz aus Troja) „trug ein Schwert, von gelblichem Jaspis“. (Vgl. Zamarovský, V., 1980, S. 33-35).

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 Ist es möglich, dass sich Hagen auf die Angst Kriemhilds vor dem Verrat (ihre Schuld an dem Tod Siegfrieds) verließ, mit ihrem vorgeblich schwachen Charakter rechnete und sie einschüchtern wollte?

Hagens Worte erklangen eindeutig: „Nun räche, wenn es wolle; es sein Weib oder Mann!“ (1840, 3). Hagen ist ein furchtloser Recke, wenn er noch so niederträchtig ist, er kämpfte viele Jahre und erschlug seine Feinde in unbarmherzigen Schlachten, sodass er vor einer Frau nicht vor Angst zittern musste. Er setzte alles aufs Spiel. Doch er unterschätzte die Königin. Das öffentliche Geständnis Hagens wurde die imaginäre Sprengkapsel, die langfristig verborgenen Hass Kriemhilds vervielfachte. Als ob Kriemhild auf diesen Augenblick gewartet hätte, sprach sie die Recken an: „Nun hört, ihr Recken, wie er mir dreist gesteht alle meine Leiden!“ (1841, 1-2).

Die Degen, die Hagen ihre Treue zugesagt haben wurden schnell Kampfbereit: „Freund beim Freund getreulich steht - halten zusammen.“ (1850). Um den Treue- Beweis zu erbringen, vereinbarten sich die Helden zwecks der Sicherheit Hagens die Nachwache zu halten. „Volker und Hagen trennten sich nimmermehr.“ (1854, 2).

 Ist Hagen entschlossen gewesen, um jeden Preis zu kämpfen? Wird es Hagen sein, der den Angriff später eröffnet?

Kriemhild bemühte sich zwar, den Anschein hervorzurufen, dass die Burgunden nicht im Frieden gekommen sind. In der Tatsache gibt es nur eine einzige Person, die ihr Feind und Gegner war - Hagen von Tronje. Es gab nur einen Grund für Kriemhilds Hass - der Verlust ihres Ehemannes Siegfried. Damit dürfte jedoch die Königin keinen offenen Kampf beginnen.

Hagen war scheinbar zur Offensive bereit. Erstens war er sich bewusst, welchem Schicksal er standhalten muss (die Prophezeiung der Meerfrauen; 1579-1582), zweitens sagte ihm sein Instinkt, dass die Rache Kriemhilds unabwendbar kommen muss. Drittens nutzt er die Chance aus, das Schicksal abzuwenden. Als erfahrener Krieger fürchtete er nicht, dem Tod ins Auge zu schauen.

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 Gibt es doch noch einen anderen Grund für Hagens Kampftrieb?

Angenommen hat Hagen den Nibelungenhort nicht in den Rhein gesenkt, oder im Gegenteil - er weiß wo der Hort versenkt wurde und nach dem langjährigen Warten sieht er die Gelegenheit, ihn für sich selbst zu holen und zu nutzen. Nur ein „kleines“ Hindernis muss er überwinden: Kriemhild, eine Frau, die dasselbe Ziel folgt, und zwar, den Hort zu gewinnen. Sie muss (nach Hagens Meinung) jedoch sterben. Hagen musste sich bewusst sein, dass solange Kriemhild leben wird, darf er den Hort nicht herausholen und der mächtigste Mann von zahlreichen Ländern werden. Er sieht keinen Ausweg, bloß einen Kampf. Hagens klare Worte - „Wir müssen heute kämpfen“ (1907, 1) und „…uns nahet der Tod“ (1908, 4) - deuten auf die Fortsetzung der Gewalt in der Handlung.

 Ist Hagen derjenige Initiator, der die „Gewaltspirale“ von Gräueltaten in Bewegung brachte?

Es gibt mehrere Indizien im Nibelungenlied, die auf Hagens offene Aggressivität hinweisen. Hagen und Volker (ein Spielmann, der später ihre Fiedel mit dem Schwert verwechseln wird), wollten ihre Waffen nicht ablegen, obwohl sie aufgefordert wurden, sie nicht zu tragen. Sie provozierten durch diese vielsagende Geste die Hunnen und Kriemhild. Sie machten der Königin vor dem Münster keinen Platz, damit sie sich durchdrängen müsste (1912). Die Burgunder trugen ihre Waffen in die Kirche, obwohl Etzel seinen Unwillen zeigte. Hagens Worte erklangen dazu kompromisslos „Es ist meiner Herren Sitte...“ (1916, 2).

Hagen verhielt sich auch weiter, als ob er in einem Kriegszug wäre. Er ließ bei den einschlafenden Burgunden die Nachtwachen halten, um zu vermeiden, dass sie von Hunnen überfallen werden. Kriemhild hatte es zwar vor, ihre Rache vollzuziehen, sie fokussierte jedoch explizit nur Hagen von Tronje: „Mir hat Hagen so viel angetan…“ (1955, 1), „Wer ihn von anderen schiede, dem wäre mein Gold bereit.“ (1955, 3) und wollte gegen dem Entgelt Hagens Tod erreichen. Vielmehr bemühte sich Hagen, die Hunnen zu einem Vergeltungsangriff zu provozieren.

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Die Gewalt kam zum Ausbruch, meiner Meinung nach, etwa in der 33. Aventiure und danach nahm immer mehr zu. Aus der friedlichen Festlichkeit, während der die Christen und Heiden an gemeinsamen Tisch saßen, brach ein ernsthafter Kampf aus.

Nachdem die Ingesinde Etzels seinen Sohn Ortlieb in den Saal trugen und der König seinen Schwägern ein Angebot vorfuhr, seinen Sohn im Burgunderland zum Mann und Ritter großwachsen lassen zu können (1971-77), äußerte sich Hagen von Tronje nicht gerade höflich zu Etzels Sohn, da er Ortlieb mit Bosheit ablehnte: „Doch ist der junge König schwächlich anzusehen.“ (1977, 3). Dadurch erzürnte er die Hunnen und beleidigte den König Etzel (1978-1979). Das war der erste Funke des offenen Hasses. „Blödelins Recken, die waren allbereit…“, „Da erhob sich unter den Degen Mord und feindlicher Haß.“ (1981, 1; 4). Sehr merkwürdig finde ich, dass der König Gunther nicht einmal versuchte einzugreifen, um die gewaltigen Attacke seines Vasallen zu verwehren. Nach meiner Ansicht erwies sich Gunther wiederum wie ein Schwächling und Feigling. Andererseits unternahm nicht einmal der König Etzel einen Schritt, um das attackierende Verhalten Hagens abzulenken.

 Existierte die Möglichkeit, die kommende Gewalt in diesem Augenblick zu stoppen und Frieden zu schließen?

Kriemhild hatte nicht in Absicht, ihre Rache aufzugeben. Sie versprach Blödel, dem Bruder Etzels eine reiche Stiftung - eine schöne Frau, Gold, Burgen und eine Grenzmark an, wenn er alle Knechten (die Burgunder) in ihrer Unterkunft erschlagen würde. Ein schwerer Kampf löste in der Herberge aus (1981), in dem Blödel seinen Tod fand (1987, 1-2). Dankwart, der Bruder Hagens, rächte an ihm. „Das sein deine Morgengabe, für die Witwe Nudungs, die du zur Freude dir erwählt!“ (1987, 3-4). „Die Hunnen rüsteten sich in ihrem Hass, zwei tausend oder mehr als das…“ (1994, 1-2), „die Ungetreuen drangen in das Gemach und zwischen den Recken hob sich ein ungeheuer Krach“ (1995, 1-2). Ein grauenvoller Kampf brach aus.

Der Epiker weist auf die Grausamkeit der Schlacht hin: „…neuntausend Knechte, die lagen da erschlagen“ (1996, 2), als der kühne Dankwart gegen die Hunnen ging, sein Weg ward von neuem benetzt von heißem Blut“ (2007, 1), „sein Gewand war mit Blut beronnen.“ (2011, 3). 116

Die Gewalt gradiert in der 33. Aventiure, immer mehr Menschen umkommen, die Zahl der erschlagenen kann nicht gesagt werden. Der schlimmste Augenblick sollte aber erst kommen. Der blutüberströmte Bruder Hagens - der kühne Dankwart erreichten zusammen mit Hagen die Festtafel im Königspalast (1920-1921). Das kämpferische Handeln war eine Antwort Hagens auf Kriemhilds Anschlag (d. h. Blödels Angriff; 1985). Er rächte sich für die in der Herberge ermordeten Knechte wirklich grauenhaft. „Da schlug das Kind Ortlieb Hagen, der Recke gut, daß ihm von der Schwerte zur Hand strömte das Blut und daß das Haupt des Kindes Kriemhild sprang in den Schoß.“ (2022, 1-3).

In diesem Moment war es viel zu spät, die durch die rachgierige Absicht Kriemhilds geschädigten Verhältnisse wieder gut zu machen und den Kampf unter Freunden zu meiden und zu stoppen.

 Sind Kriemhilds Hass und Not tatsächlich so groß gewesen, dass sie ihren Sohn Ortlieb der Rache opfern musste? Wie hätte eine Frau so schrecklich handeln können?

Der Epiker deutete den Tod Ortliebs im Voraus an: „Alsbald vier da kamen von Etzels Ingesinde, sie trugen den Ortlieb, das junge Königskind, zu dem Königstische, wo auch Hagen saß. Das Kind musste sterben durch einen mörderischen Hass.“ (1972).

Kriemhilds Plan, ihre Rache direkt an Hagen auszuüben, scheiterte. Blödel und seine Recken waren tot. Etzel griff bisher nicht ein. Hagen reagierte auf Kriemhilds Absicht, ihn in den öffentlichen Kampf hereinzuziehen. Es bleibt jedoch offen, ob dies tatsächlich der Plan Kriemhilds war und ob ihr Sohn sterben musste.

Da in dem Epos keine Erwägungen Kriemhilds zu finden sind, kann nur vermutet werden, dass ihre überdauernde Not und gleichzeitig unurteilsfähige Liebe zu Siegfried ihre Mutterliebe soweit überstieg, dass sie Ortlieb ihrer Rache opferte. Trotzdem bin ich der Meinung, dass dieses Verhalten Kriemhilds nicht ganz richtig interpretiert werden kann. Ortlieb war doch der Nachfolge Etzels und konnte später (als Mann und König eines weiten Landes) die Entehrung seiner Mutter im Burgundenland rächen. Es musste jedoch kein Zufall sein, dass er als Kleinkind zum Sterben verurteilt wurde. 117

 Wer entschied über das Tod Ortliebs? Kriemhild oder Hagen? Was konnte der Tod des jungen Königs bringen?

Hagen musste wissen, dass er durch diese grausame Tat den Hunnenkönig herausfordern wird, jedoch auch sein eigenes Todesurteil unterschreibt. Er war bereit, das Risiko einzugehen und den jungen König zu töten, wie es sich aus seinen Worten ergibt: „Nun trinken wir die Minne und zahlen Etzels Wein. Der jungen Hunnenkönig, der muss hier der erste sein.“ (2021, 3-4).

Der Kindsmord zeigt deutlich den Hass Hagens gegenüber Kriemhild. Aus seiner Strategie kann die Absicht ersehen werden, aus Kriemhild eine Rachefurie zu machen. Er musste wissen, dass Kriemhild den Tod ihres Kindes nicht vertragen wird. Nicht nur Kriemhild, sondern auch Etzel durfte solche Entehrung nicht ohne Vergeltung übergehen lassen.

 Konnte jemand Hagen anhalten? Wie ist die Einstellung des Königs Gunther und den anderen Fürsten und Recken zu der entstandenen Situation?

Die mörderischen Absichten Hagens nahmen kein Ende. „Er frönte in dem Hause der grimmen Mordlust sehr“ (2026, 2). Seite an Seite standen ihm Dankwart, Gunther und Giselher, auch Volker, „der kühne Spielmann“ (2026-2039).

Bloß der Hunnenkönig Etzel bleibt im Hintergrund und - im Gegensatz zu dem historischen Vorbild (Attila) greift nicht zum Schwert. Etzels Verhalten kann tatsächlich nur schwer verstanden werden. Er ist jedoch nicht allein, der in auffallender Neutralität bleibt. Der nächste ist Dietrich von Bern: „Nun laßt mich aus dem Kampfe mit dem Gefolge mein.“ (2053, 3). Gunther stimmte zu (2055).

Dietrich leistete wenigstens einen Dienst - er führte Kriemhild und Etzel aus dem Saal hinaus. Die Hunnen blieben jedoch dort und alle kamen um. Maßen von Menschen lagen da tot, die Leiche des Spielmanns Volker, der als ein wilder Eber für Hagen kämpfte (2062, 4) lag dort auch. Der „Bodenstrich im Saal war rot von Blut“ (2063, 1) von „zweitausend Toten“ (2076, 2), die auf Giselhers Rat aus dem Saal hinausgebracht in den naheliegenden Tal geworfen wurden (2074-2076).

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 Wie kommt es, dass Hagen und Volker die Hunnen bloß in die Position der erbärmlichen Menschen stellten? Durften die Hunnen selbst einen bestimmenden Grund finden, um die Vergeltung in ihre Hände greifen zu können?

Aus der Sicht des damaligen Ritters musste es seltsam vorkommen, dass ein Krieger und mächtiger König wie Etzel gegenüber den Angreifern nicht kämpfte, sondern das blutige Geschehen nur von draußen beobachtete. Im Nibelungenlied ist er nicht nur als ein gütiger, toleranter und freigebiger, als auch ein passiver Herrscher geschildert. An seiner Stelle würde jeden seiner Krieger das Schwert ergreifen um die Rache an Burgunden zu begehen.

Wie bereits erwähnt wurde kann der Hunnenkönig seine Anteilnahme an dem Kampf - nach der Ermordung seines Sohnes Ortlieb (1980) - nicht versäumen. Etzel wurde diesmal ungewollt in den Kampf verwickelt und fiel in schwere Not. Nichtsdestoweniger reizte die Passivität Etzels Hagen und seinen Gesellen Volker dazu, den Herrscher mit den Hunnen zu verspotten (2078, 2083).

Aufgrund der Fassung des Nibelungenliedes lässt sich nach meiner Ansicht eine voraussichtliche Interpretation finden. Die Rache will Etzel nicht an sich nehmen. Er durfte die Ansicht vertreten, dass es sich um die Angelegenheit von Hagen und Kriemhild handelt, deshalb hatte er nicht vor, sich einzumischen und den Konflikt gar nicht mit Waffengewalt zu lösen. Darüber gab es auch Gespräch (2082-2084) zwischen Hagen, Gunther, Volker und Etzel. Sie baten dem Hunnenkönig um Frieden (2156), den er erstaunlicherweise schließlich ablehnte. „Die erlittene Kriegsnot, Verluste und Schande“ konnte er nicht mehr verzeihen (2156-2157).

 Warum war Kriemhild nicht bereit, die Ehre seines Gatten (und dadurch auch die Ehre des ganzen Hunnenlandes) zu retten?

Aus der Handlung geht hervor, dass Kriemhild nicht einmal die blutigen Kämpfe und starke Verluste an Kämpfern von ihrem Ziel abgeraten haben. Kriemhilds geäußerte Not bewegte den Markgraf Iring von Dänemark allein gegen Hagen anzutreten (2094).Verwundet in dem Kampf, sowie mit Hagen, als auch

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mit Volker, Gunther, Gernot und Giselher (2095-2122), trat er zum zweiten Mal dem von Tronje gegenüber, jedoch erfolglos. Nach dem schweren Kampf verlor er sein Leben vor den Augen seiner Verwandten und der Gattin Etzels (2116-2136). „Tausendvier Krieger“, die Dänen und Thüringer drangen zur Vergeltung in den Saal ein (2137), „das Blut drang allenthalben durch die Löcher“ (2144, 2), viele Degen, Dänen und Thüringer fanden dort ihren Tod (2146).

„Die Königin und auch der König klagten bitter“ (2146), jedoch nicht einmal die überall liegenden Gefallenen brachte sie von der Vergeltung gegenüber den Burgunden ab, „sie versuchten noch mehr, um den Gästen Leid zu bringen.“ (2149).

Es kann aus der Handlung erkannt werden, dass nun Kriemhild und Etzel einig gewesen sind. Kriemhild musste es deshalb recht sein, dass „sie ihr Leid da rächte“ (2152, 2). Durch die Gräueltaten wurde der Kreis um die berühmten Krieger immer kleiner, Kriemhild trat jedoch nicht mehr zurück. „Das schuf der üble Teufel, daß es über alle brach herein“ (2053, 4).

 Bestätigt sich durch die Handlung Kriemhilds, dass ihre erlittene Not nach vergangenen Jahren mit einer neuen Rasanz an die Oberfläche auftauchte? Ist Hagens langjährig verborgener Hass stärker geworden?

Obwohl der Konflikt tatsächlich eine Angelegenheit von Kriemhild und Hagen war, wurden aufgrund der neu aufgetauchten beiderseitigen Emotionen (vor allem Hass der Protagonisten) alle Helden und Gesellen zusammen mit ihren Herrschern in den Todeskampf hereingezogen. Der Hass ist das leitende Motiv zur Rache.

Eine Aussöhnung der Burgunden und Hunnen war in diesem Moment nicht mehr möglich, wie es aus dem Text hervorgeht: „Da hier den Frieden versagen, es sei uns beklagt.“ (Dankwart, 2174, 3). Die Königin da sagte: „Ihr Helden tatbereit, nun geht der Treppe näher und rächet unser Leid!“ (Kriemhild, 2175, 1-2) und ließ den Saal an allen vier Seiten anzünden (2178, 1).

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 Gilt es vorbehaltlos, dass die Gewalt die Gegengewalt erzeugt?

Im Nibelungenlied wickelt sich die blutige Gewaltspirale sehr rasant. Die Anzündung des Saals befindet sich nah dem Gipfel der mörderischen Taten. „Das Feuer fiel gewaltig auf sie in den Saal.“ (2185, 1).Wegen dem entsetzlichen Durst tranken die dort gesperrten Recken den fließenden Blut ihrer Toten (2182, 3). Mit Furcht sprachen sie zum Gott: „Nun lohne Euch Gott im Himmel.“ (2183, 1).

Kriemhild glaubte kaum, dass jemand überlebte. „Zwölfhundert oder mehr Streiter waren dort“ (2201, 2); „Da kühlten an den Feinden die Gäste ihren Mut. Sie konnte niemand trennen. Drum sah man fließen das Blut.“ (2201, 3-4). Bis diesem Moment griffen in die Kämpfe keine bedeutenden Fürste ein. Das sollte sich jedoch bald ändern. Zum Hof kam Rüdeger von Bechlaren105 und sah auf beiden Seiten gar schwere Schmerzen. Er wünschte, das Leben vom Gott nicht zu bekommen (2203-2204). Der getreue Recke entkam nicht den Vorwürfen des Königspaars: Er, als vielgetreuer Mann geriet in eine ausweglose Situation, da ihn Etzel und Kriemhild an seine Lehnsdienste erinnerte und die Erfüllung erforderte: „Ich mahne Euch zur Treue und was Ihr geschworet habt.“ (Kriemhild, 2217, 1).

Rüdeger war jedoch auch Freund der Brüder Kriemhilds, seine Tochter wurde mit Giselher verlobt, so fiel ihm schwer, gegenüber den Burgunden zu kämpfen. Aus diesem Grund bat er Gunther, seine Lehnspflicht lösen zu dürfen, das Land und die Burgen an Hunnenkönig zurückzugeben und „ohne all sein Eigen das Land zu räumen.“ (2225-2226). Er war sich jedoch bewusst, dass er seinen Lehnsdiensten nachkommen muss und dies wird seinen Tod bedeuten (2244-2246).

Mit schwerem Herzen löste Rüdeger die Verbindungen mit seinen Freunden (2248-2250), trat in einen schweren Kampf. Die Not von Giselher, sogar auch Hagen war tief. Der schwer verletzte Rüdeger schenkte Hagen seinen Schild (2266). „Wie grimm auch Hagen wäre und wie hartgemut, doch erbarmt ihn die Gabe…“ (2267, 1-2)

105 Der Markgraf Rüdiger von Bechlaren gehört zu den Germanen, die in Etzels Lehnsdienst stehen. Im Nibelungenlied tritt er in Erscheinung in der 20. Aventiure, als er Etzel berät, die Witwe Kriemhild zu heiraten. (Vgl. Genzmer, 1965) 121

und stattete Dank dem Recken „Nun lohn Euch Gott im Himmel, vieledler Rüdeger! Gott soll es gebieten, daß Eure Tugend immer lebe!“ (2268).

In mörderischer Absicht kämpften Gunther und Hagen gegenüber den Degen Rüdegers weiter (2276, 1); der Tod des edlen Rüdegers näherte sich. Gernot attackierte ihn gewaltig (2284-2287). Mit den scharfen Schwertern erschlugen sich die Beiden gegenseitig zum Tode (2247).

 Wie könnte ein stetiger Kampf zu Ende kommen?

Hagens Trauer für Rüdeger hatte keine hemmende Wirkung an die kämpfenden Recken. Die gegenseitige Vergeltung nahm kein Ende. Gunther und Giselher, Dankwart und Volker schlugen die Recken jeden nach dem anderen (2294). Etzels Jammer für Rüdeger war so stark, wie eines Löwen Stimme, „Kriemhild beklagte seinen Tod ungestüm“ (2303). Es gab niemanden, der die blutige Schlacht beenden könnte.

In der 37. Aventiure verliefen Gespräche und die Handlung wurde durch den Jammer der überlebenden unterbrochen - „bei den Leuten war so großer Jammer noch nie gesehen“ (2310, 4), Rüdegers Tod wurde am tiefsten beklagt (2313-2015, 2323, 2330-2335); doch der Kampf setzte sich fort.

Bedenken wir, dass zusammen Christen und Heiden kämpfen. Bei den Heiden war die Blutrache ein natürlicher Bestandteil ihrer Kultur. Dagegen Christentum bemühte sich, diese Form der Gerechtigkeit-Durchsetzung (im Laufe von vielen Jahren leider erfolglos) zu beseitigen. 106 Im Nibelungenlied stehen gegenüber nicht nur zwei verschiedene Kulturen, sondern auch Freunde, denen es nicht gelingt, das blutige Toben unter Kontrolle zu bringen.

106 Die Blutrache existierte in allen Kulturen der Welt. Die Blutrache hat den archaischen Ursprung - in den Gesellschaften mussten der Familien-/ Sippenmitglieder und ihre Familien/Sippen das Recht selbst in die Hände nehmen. Die Regel „Einer für alle“ ist hier charakteristisch. (Vgl. Otto, J., 1901, 829–830)

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„Das kann nicht wollen Gott. Es wär eine schlimme Rache und auch des Teufels Spott.“ deutete Dietrich von Bern (2314, 2). Hildebrand, der Waffenmeister Dietrichs bat die Burgunden, ihm den Leichnam Rüdegers herauszugeben (2330); es wurde jedoch von Volker abgelehnt (2335, 1). Wieder entstand ein Streit, wobei Volker und Wolfhart (Hildebrands Neffe) zu hartem Kämpf bereitstanden (2340-2341). Hildebrand griff Hagen an (2344). „Feuer aus den Ringen hieben sich genug, heftigen Haß jeder wider den andren trug.“ (2347, 1-2).

Von dem Epiker werden die Kämpfe sehr anschaulich beschrieben, wie die Kämpfe im Detail ablaufen. Der antreibende Hass von vielen kämpfenden Kriegern kann deutlich gespürt werden (2347-2354). „Manche kühne Recken sterbend fallen in das Blut. Den Rüdeger rächten diese Recken kühn und gut.“ (2351, 2-4). Viele Recken fielen unter den grimmen Schläge des Spielmannes Volker. Erst Hildebrand beendete Volkers Toben. Als Hagen den Tod seines Gesellen sah, begann er grimmig zu rächen (2358). Wolfhart und Giselher kämpften voll von Kampfeszorn, da aber das edle Ute Kind seinen Gegner durch die Brunnen schlug. Aus letzten Leibeskräften schlug der kühne Wolfhart das edle Utes Kind (Giselher) zum Tode (2362-2367); Die Beiden hatten sich den grimmen Tod angetan (2368, 1).

Die gräulichen Heldenkämpfe zwischen Burgunden und Hunnen beschreibt der Epiker wiederholt mit den Adjektiven wie grimmig/ grimmen, hart. Die Worte wie Blut und Not werden akzentuiert, um die Eindrücke der Rezipienten zu erhöhen und die wahrnehmende Spannung zu spitzen.

Nachdem die Kämpfenden durch Tausende von Wunden den furchtbaren Tod gefunden haben, standen da nur Gunther, Hagen und der verwundete Hildebrand (2375) - die Einzigen, die überlebten. Da von Dietrich alle Kämpfe verboten wurden, versuchte der Fürst die weitere Schande zu vermeiden (2379-2382). Er beklagte tief den Verlust seiner Freunde, vor allem dachte er an Rüdeger: „Dieser Jammer muß mir vermehren meine Not.“ (2384, 2). Dietrich fühlte sich vom Gott verlassen: „So hat Gott mein vergessen“; „Nun muß wohl ich heißen der gar arme Dietrich.“ (2389, 3). Der kräftige Mann klagte über die verlorenen Recken. (2394, 3). Gunther und Hagen wagten sich jedoch noch weiter zu gehen und mit ihren Beschuldigungen gegenüber Dietrich anzugreifen: Er sei an dem Blutvergießen mitschuldig (2403, 2405).

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Obwohl Dietrich von Bern sein ganzes Heer im Kampf mit Burgunden verlor, machte er einen mäßigen Vorschlag: Gunther und Hagen sollen sühnen und sich ihm als Geisel ergeben (2406-2407). Hagen lehnte ab: „Das verhüte Gott im Himmel…“ (2408, 1), „Nicht ziemt es, daß zwei so kühne Degen mit Euch als Geisel gehen.“ (2411, 2-3).

Hagen beabsichtigte, keinesfalls aufzugeben und bemühte sich, mit allen ihren Kräften zu schützen. „…ich will es hier versuchen, mit Stichen und mit Schlägen“ (Hagen; 2417, 2) und sprang rasch auf Dietrich (2418, 3-4), der sich den gefährlichen Schlägen des Balmungs scheute (2420). Dietrichs Kraft war groß, sodass er mit seinen Armer Hagen von Tronje umschloss und bezwang (2422). Den gefesselten Gunthers Mann fuhr Dietrich vor Kriemhild vor (2423).

Kriemhild freute sich, da sie so nahe ihrem Ziel stand. König Dietrich bat jedoch, den Vasallen Gunthers (d. h. Hagen) am Leben zu lassen (2425). Gunther, der bis dahin als passive Figur wirkte, versuchte Hagens entwürdigende Position zu ändern - er trat dem König Dietrich entgegen: „Wo bleibt der Herr von Berne? Er hat mir Leides getan.“ (2426, 4) und tobte zornig in seinem Grimme. Doch der „von Berne zwang ihn, wie es auch Hagen geschah“ (2430, 1). Gunther wurde von Dietrich „gefesselt, wie nie Könige sollten erleiden solch ein Band“ (2431, 1-2) und vor die Königin vorgeführt.

 Wie konnte diese Szene auf die Rezipienten wirken? Wurden hier Höflichkeit und höfische Umgangsform bis zu bitterem Ende aufrechtgehalten oder die Macht gezeigt? Wie kann die letzte bzw. Finalszene verstanden werden?

Für Kriemhild konnte Hagen als Geisel vermutlich keine adäquate Genugtuung leisten. Ihrem gefesselten Bruder Gunther zeigte sie jedoch, wie ihr durch seine Leide der Schmerz ganz genommen war (2432, 3).

Mit kaltem Stolz begrüßte sie ihn nach höfischen Sitten: „König Gunther, seid von Herzen mir willkommen!“ Gunther, der feige Mann durfte wissen, dass die Abrechnung für Siegfrieds Tod bald kommen muss und begrüßte seine Schwester entgegen: „Ich müßte danken, vieledle Schwester mein, wenn Euere Grüße möchten gnädiger sein. Ich weiß Euch, edle Fürstin, also zornegemut, daß mir ihr und Hagen einen schwachen Gruß nur tut.“ (2433).

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Der Herr von Berne bemühte sich sozusagen diplomatisch, die drohende Kriemhilds Rachelust wiederholt zu meiden und bat sie, „die guten Ritter als Geisel in ihre Hut zu nehmen“ (2434). Mit weinenden Augen und dem Versprechen an den Lippen rächte sich jedoch grimmig, „Königs Etzel Weibs“ (2435, 3-4). Voll grimmigen Hassen trat sie zu Hagen und verlangte das versteckte Hort (2437), er antwortete da hochmütig: „ ...ich habe es geschworen, daß ich den Hort nicht zeige, solange ich lebe, meiner edlen Herrin, und ihn niemanden gebe.“ (2438, 3-4), da er wusste es - sie lässt ihn nie mehr frei.

Der Epiker schildert den nächsten Schritt der Königin, die nicht mehr lange überlegte, als Schritt eines Kriegers, der über Leichen gehen würde. Ohne lange nachzudenken, ließ sie ihrem Bruder den Kopf abhauen (2440). Als Hagen, voll von Unmut seines Herren Haupt ansah, sagte er zu Kriemhild, dass er ihr Verhalten und ihre Absicht, die grimme Rache zu Ende zu führen, genau voraussetzte (2441).

„Nun ist von Burgunden der edle König tot, Giselher und Volker, Dankwart und Gernot. Den Hort, den weiß nun niemand als Gott und ich allein. Dir Teufelin soll er immer wohl verborgen sein.“ (2442)

Meiner Meinung nach musste Kriemhild nun endgültig begreifen, dass sie ihr „Spiel“ konsequent verloren hat. Sie verlangte von Hagen den Schwert Siegfrieds (2443, 2): „…es trug mein treuer Friedel107, da Ihr ihn schluget tot mörderisch in Untreu…“ (2443, 3-4) und zog es aus der Scheide.

Kriemhilds letzte Tat begrub danach ihre Chancen auf die Gottes Vergebung. Kriemhild hob das Balmung mit ihren Armen und vor den Augen Etzels schlug sie Hagen den Kopf ab (2444, 3).

107 Felix Genzmer (1965) erwähnt in der Strophe 2443 Kriemhilds toten Ehemann mit liebevollem Kosenamen „Friedel“. Die Koseform von Namen, die mit 'Fried' gebildet sind, z.B. „Friedrich“ und „Gottfried“ hat mehrere Bedeutungen, beispielsweise der Friedliche, der Beschützende, der Mächtige, der Herrscher“. (Vgl. http://www.vorname.com/name,Friedel.html, Letzte Abfrage am 1.2.2013)

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Der Epiker dürfte an dieser Stelle eine dramatische Pause machen, um den Rezipienten, die (vermute ich) mit angehaltenem Atem die gräuliche Tat der zornigen Frau folgten, die Zeit für die Verarbeitung der grausamen Szene zu lassen.

Wie es schon erwähnt wurde, galten die Prinzipien einer Blutrache nicht auch bei der heidnischen Kultur (mehr s. Anlage 2. - Glossar), so konnte die Finalszene des Nibelungenliedes nicht anders dargestellt werden.

Wie feindlich schon Hagen war, wurde er jedoch „der allerbeste Degen, der von eines Weibes Hände tot gelegen ist“ (Etzel, 2445, 2). „Es kommt ihr nicht zugut, daß sie ihn erschlagen durfte… so will ich dennoch rächen, des vielkühnen Helden Tod.“ (Meister Hildebrand, 2446).

Hildebrands Schwert beendete „die Kriemhilds Sorge höchste Todespein“ (2447) endgültig.

Das Ende des Nibelungenliedes begleiten die Worte des Erzählers:

„Da war gelegen aller der Todgeweihten Leib, in Stücke lag zerhauen da das edle Weib. Etzel sowie Dietrich zu weinen begann. Jammervoll sie klagten um jeden Magen und Mann.“ (2448)

Die Christen und Heiden beweinten ihre Toten, sie trugen um ihre Freunde das allergrößte Leid (2450). In dieser Szene, in der das Nibelungen Leid geschildert wird, endet die Mär.

Der Erzähler muss als Schluss das bittere Ende feststellen - alle sind tot; außer Dietrich und Etzel. Sie beweinen die gestorbenen Helden, Verwandten, Gefolgsleute und Freunde. Zwei mächtige Länder, die früher befreundet waren, wurden zu Grunde zerstört, sodass der Epiker nichts mehr weiter zu berichten hat.

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5.14 Dietrich von Bern - Diplomat, Ritter und/oder Geistliche

Dietrich von Bern kann im Nibelungenlied als religiöse und leicht diplomatisch angelegte Gestalt betrachtet werden. Folgt man aufmerksam die Handlung, scheint Dietrichs Charakter ziemlich ambivalent; manche seiner Schritte scheinen edelmütig zu sein (z. B. als Dietrich bat, Hagen am Leben zu lassen, Strophe 2425), die anderen Züge in seinem Handeln können als negativ wahrgenommen werden (als er die Geiseln der rachsüchtigen Königin Kriemhild in ihre Hut überlieferte; Strophe 2434).

Aus diesen zwei Beispielen kann jedoch die Folgerung, dass er im Nibelungenlied eine negative Figur darstellt, gezogen werden. Im Ganzen kann man bei Dietrich humane Gesinnung merken, da er wiederholt versucht, die gräulichen Kämpfe zu verhindern. Er lehnt die Vergeltung Kriemhilds deutlich ab und versucht die Bedrängten zu retten und schließlich auch das ihm angetanes Leid und der Tod seiner Mannen zu verzeihen (2406).

Dietrich von Bern benimmt sich als ein Christ, der nach den christlichen Sitten Vergebung und göttliche Begnadigung sucht und bekennt. Dietrich von Bern scheint, einem christlichen Rittersideal des 12. Jahrhundert entsprechen zu können.

Hildebrand, der Waffenmeister Dietrichs wollte jedoch - im Gegenteil zu Dietrich - die verlorene Ehre wieder herzustellen, deshalb rächte er den Tod Hagens. Sein Verhalten kann auch so interpretiert werden, dass er die Macht einer Frau, die selbst entscheidet und die starken Kämpfer und Helden enthauptet, nicht akzeptieren kann. Seine Einstellung kann durch die Worte „Es kommt ihr nicht zugut, daß sie ihn erschlagen durfte…“ (2446, 2-3) begründet werden.

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5.15 Nibelungentreue

In der mittelalterlichen Version des Nibelungenliedes wiederholt sich oft ein Begriff - „triuwe“, der als eine moralische Verpflichtung interpretiert werden kann. Ins Hochdeutsche wird das Wort als Treue108 übersetzt. Bezüglich des Epos und der dort erwähnten Nibelungen109, wird über die „Nibelungentreue“ gesprochen, wobei sich hier, Anhand einer Analyse der ausgewählten Textabschnitte um die personale Bindung des mittelalterlichen Lehnssystems handelt könnte.

Im Nibelungenlied werden keine Definitionen des Begriffs „Treue“ bzw. „triuwe“ (mhd.) präsentiert. Durch die Textanalyse werden mehrere Bindungen gefunden, die diesem Begriff seinen spezifischen Inhalt geben und die der Treue unterliegen. In der ersten Linie handelt es sich um die Verwandtschaftstreue, weiterhin um die Vasallentreue und in der letzten Linie steht die personale Treue.

Eine der wichtigsten Rollen, die im Nibelungenlied zu erkennen sind, ist die Rolle der Verwandtschaftstreue bzw. die Treue zwischen den Blutverwandten. An dieser Stelle kann die Sippe Kriemhilds genannt werden. Kriemhild hat jedoch eine Person aus dem Burgunderkreis bezüglich der Verwandtschaftstreue falsch abgeschätzt, und zwar Hagen von Tronje, da sie ihm das Geheimnis Siegfrieds anvertraute. „Du bist mein Mage, wie ich der deine bin, ich gebe dir in Treue, …damit du mir beschirmest meinen lieben Mann.“ (911, 1-3). „Ich sage im Vertrauen, viellieber Freund, es dir, damit du deine Treue bewährest an mir…“ (914).

108 Die Treue gilt als ein gesellschaftsordnendes Prinzip, nach dem sich treuer Mensch rechtfertigt. Um die Treue zu halten, soll der Mensch Gut und Blut gern daransetzen. Nicht nur in Handlungen, sondern auch in Worten und Gesinnungen soll der Mensch getreu werden. (Vgl. Kirchner, Friedrich, Lic. Dr., 1890, S. 459) 109 Nibelungen (pl.): Germanisches Sagengeschlecht. (DUDEN, 2006, S. 1208)

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Aus dem Inhalt der Worte Kriemhilds ergibt sich, dass sich die Königin auf die Verwandtschaftstreue Hagens beruft. An dieser Stelle ist ersichtlich, dass sie gleichlaufend an ihren Mann Verrat begeht (die verwundbare Stelle offenbart).

Nach dem Tod Siegfrieds bat Sigmund seine Schwiegertochter, ihn ins Land Siegrieds zu folgen. Giselher beruft sich dagegen auf die verwandtschaftlichen Bündnisse und fordert Kriemhild auf, am Rhein zu bleiben: „Vielliebe Schwester mein, du sollst in Getreuen hier bei deiner Mutter sein.“ (1095, 3). Kriemhild steht vor einer schwierigen Wahl. Sie ist mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Ehemann tot ist und muss sich entscheiden, ob sie ihrem neuen Familienverband d. h. Siegfrieds Familie gegenüber Treue halten wird. Überraschend finde ich, dass sie die Entscheidung, die Verwandtschaftstreue zu bevorzugen, getroffen hat: „Mir raten die Magen mein, die getreu mir bleiben, ich sollte bei ihnen sein. Ich habe keine Magen im Nibelungenland.“ (1102, 1-3).

In dem Nibelungenlied wird deutlich die Vasalität der Protagonisten hervorgehoben. Von den Vasallen wurde vor allem Schutz geleistet. Sie standen als Gefolgsmänner in den Dienst einem Herrn zur Verfügung und waren mit bestimmten militärischen oder diplomatischen Dienstleistungen verpflichtet. Diese Verpflichtungen galten sowie rechtsverbindlich als auch gegenseitig, so kann in diesem Fall von der Vasallen- bzw. Gefolgschaftstreue (mhd. triuwe) gesprochen werden.

Diese Form der Treue wird mittels mehrerer Textstellen des Nibelungenliedes belegt, z. B. in der Szene, wo sich die Burgunder an die Reise nach Hunnenland vorbereiten, versichert der Küchenmeister Rumolt (1499) über seine Treue: „…ich bin Euch in Treuen dienstbeflissen hold.“ (1500, 2).

Die personalen Bündnisse, die dem Nibelungenlied zu entnehmen sind, können als freiwillige und einmalige betrachtet werden. Sie haben unterschiedliche Herkunft, verschiedene Motive und werden unter unterschiedlichen Geschlechtern geschlossen. Eine besondere Art der personalen Verbindlichkeiten stellen die Bündnisse dar, die durch Eid bekräftigt werden.

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Über die personale Treue zeugt Siegfrieds Bindung zu Gunther, die er freiwillig durch unterstützenden Eid dem König angeboten hat. „Empfanget meinen Eid! Ich will Euch wenden helfen all Euer Leid. Wollt Ihr Freunde suchen, so will ich einer sein. Ich denkt es zu vollbringen in Ehren bis zum Ende mein.“ (161).

Siegfried verspricht, seine treuen Dienste immer zu leisten. „Euch soll immer dienen fortan in Treuen Siegfrieds Hand.“ (166, 4). Er ist kein Vasall Gunthers, obwohl er eine Lüge seines Standes gebrauchte, als er um Brünhild warb (434, 4), so entspricht seine Treue nicht der Gefolgschaftstreue.

Ein weiteres Beispiel der Treue findet man in der Szene, als sich Kriemhild entscheiden sollte, Etzel zu heiraten. Sie bat Rüdeger, bei ihr zu stehen und in dem fremden Land zu behüten: „So schwört mir Rüdeger, wer mir etwas tut, daß ihr mir seid der nächste, der rächte mein Leid!“ (1285, 2-3).

Rüdeger schwor es: „Dazu bin ich Frau bereit.“ (1285, 4). Er äußerte unter vier Augen seine Absicht, sie für alles, was ihr jemals angetan worden ist, zu entschädigen. Mit allen seinen Gefolgsleuten schwor Rüdeger, ihr immer treu zu dienen und versicherte sie, sich persönlich einzusetzen - „gelobte ihr Rüdegers Hand“ (1286).

Kriemhilds Wusch fokussierte eher die Freundschaft (d. h. personale Beziehung) als das Vasalität-Verhältnis gezielt. Später erinnert sie Rüdeger an diesen Schwur - „Ich mahne Euch zur Treue und was Ihr geschworen habt…“ (2217, 1).

Als Kriemhild von Rüdeger verlangte, seinen Schwur zu halten und ihr Leid zu rächen - „Bedenke, Rüdeger, der hohen Eide dein, der Festigkeit und Treue, daß du den Schaden mein immer wolltest rächen, sowie all mein Leid.“ (2219, 1-3), sollte der treue Mann eine schwierige Entscheidung treffen. Er war sich jedoch bewusst, dass er für seine eigene Entscheidung Verantwortung übernehmen muss. Seine Worte erklangen fest: „Die Seele zu verlieren, das hab ich nicht geschworen…“ (2218, 3).

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Im Sinne der freiwilligen Treuebindungen ist Rüdeger nämlich auch den Verpflichtungen gegenüber Gunther und den anderen Burgunden (u. a. auch Hagen) nachgegangen (z. B. die Verlobung seiner Tochter mit Giselher usw.), sodass er in dieser Situation den Treuekonflikt ausgesetzt ist. Es fällt ihm schwer, eine Entscheidung zu treffen, die der Vasallen- und Verwandtschaftstreue, sowie auch der personalen Bündnisse und deren Treueverpflichtungen in einem Konflikt steht.

Die Problematik der „Treue“ schließt auch den Begriff „Nibelungentreue“ ein, die sich ausschließlich auf die Vasallentreue bezieht.

Nachdem Kriemhilds Brüder in dem Kampf gefährdet wurden (2158) fordert sie, dass Hagen als Geisel ausgeliefert wird (2171), damit ihre Verwandten den schweren Kampf überleben können. In diesem Fall beruft sich die Königin nicht mehr auf die Verwandtschaft zwischen ihr und Hagen, wie damals, als sie das Geheimnis Siegfrieds verriet (914), sondern auf ihre Verwandtschaft zwischen ihr und ihren Brüdern:

„Doch wollt ihr mir als Geisel meinen Feind nun geben, so will ich nicht verweigern, euch zu lassen am Leben; denn ihr seid meine Brüder, derselben Mutter Kind; so rede ich um die Sühne mit den Recken, die hier sind.“ (2171)

Obwohl Giselher den Verstoß Hagens kennt (Ermordung Siegfrieds), lehnte er in Treue ab, Hagen als Geisel auszuliefern.

„Nicht wolle es Gott im Himmel, sprach da Gernot, ob unser tausend wären, wir lägen alle tot, unsrer Sippe Magen, eh wir einen Mann hier als Geisel geben. Das wird nimmermehr getan.“ (2172).

Giselher weiß mit Sicherheit, dass niemand überlebt, in seiner Treue bleibt er aber unerschütterlich - „Uns soll niemand scheiden von ritterlicher Wehr...“, „… an meinen Freunden ließe von meiner Treue ich nimmermehr.“ (2173, 1, 3) - seine Freunde würde er nie verlassen. Sein Gefolge schließt sich mit Giselher zusammen.

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„Da wollten sich nicht trennen die Fürsten und ihr Heer. Sie wollten in der Treue voneinander lassen nimmermehr.“ (2177)

Der mutige Giselher zieht die Treue über alles andere vor. Er ist bereit, für jeden zu kämpfen und will niemals einen Freund durch einen Treuebruch verlieren.

Die Fürsten und ihre Männer bestehen darauf, sich nicht zu trennen, da sie die zueinander haltende Treue nicht brechen wollen.

5.16 Untergang der Nibelungen

Das Nibelungenlied ist eine unerschöpfliche Quelle von Angaben, deren Sinn, Hintergrund und Folgen nur aufgrund der exakt gezielten Fragen auseinander gesetzt werden kann. Die allerwichtigsten Fragen fokussieren zwei Bereiche - die Urheber und die Folgen.

 Wer hat die Schuld an dem Untergang der Nibelungen?

Der Untergang wurde durch die sich aufeinander anhäufenden Fehler, die die Protagonisten begangen haben, verursacht. Diese Fehler entwickeln sich vor allem von dem abgelegten Eid, der sowie Hagen als auch Kriemhild versprochen hat. Hagens Treue zu seiner Königen und Kriemhilds Treue zu ihrem toten Ehemann stehen im Nibelungenlied im Widerstreit. Die beiden Gegner gehen ihrem Ziel bewusst vor, bis in den Untergang. Sie nehmen keine Rücksicht auf ihre Verwandten und Freunde. Das höchste sittliche Gesetz - die Treue, die auch eine Blutrache einschließt - stellen sie hoch über die christlichen Sitten.

Die verschiedenen Arten der Treuebindung können jederzeit je nach Figur unterschiedlich gewertet werden, sowie auch die Motive, die zum Verstoß gegen das Treue-Gesetz bzw. zur Verletzung des Gesetzes geführt haben.

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Ein eindeutiges Beispiel für den sittlichen Vorstoß des o. g. Gesetzes ist hier Hagen von Tronje. Er handelte in Treue zu seinen Königen - Gunther, Giselher, Gernot), brach jedoch seine Treue gegenüber Kriemhild, die der Könige Schwester war und die ihn für ihren Freund hielt, soweit, dass er ihren Gatten Siegfried ermordete. In seinem Fall kann man beachten, dass Hagen die Treue eher zu seiner Königin Brünhild hielt, wenn er ihr vor Kriemhild Vorzug gegeben hat und damit ihr Vertrauen schwer erschütterte.

Man muss jedoch bedenken, dass die Treue und ihr Gegensatz d. h. die Untreue immer unlöslich miteinander verflochten sind. Aus dem Inhalt des Nibelungenliedes kann wahrgenommen werden, dass sich alle Protagonisten ihrer Handlung und ihres Schicksals bis zu dem Untergang bewusst sind.

Die Burgunderkönige, sowie auch Kriemhild berufen sich auf die Treue, die als höchstes Gesetz gültig ist. Die Treue, die sie auf der einen Seite hochhalten, verstoßen gegen die Treue auf der anderen Seite.

Die wiederholten Fehler der Protagonisten und vor allem der Verstoß gegen das Treue-Gesetz auf mehreren Seiten führten unzweifelhaft zum endgültigen Untergang der mächtigen Nibelungen.

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NACHWORT

Das Nibelungenlied ist eine Erzählung, die von dem Epiker mit märchenhaften Elementen belebt ist, sodass er eigentlich einen Überblick von dem, was real und was nur eine fiktive Geschichte ist, erschwert. Auch aus diesen Gründen, kann man das Nibelungenlied nicht völlig für eine Geschichte halten, die sich genauso, wie sie erzählt ist, passierte.

Dem Epiker kann es nicht übel nehmen, denn wir auch heute die Elemente der Unwirklichkeit oder Märchen-Motive in den Geschichten bzw. Erzählungen finden können, die auf Idealisierung der Charaktere, Orte und Handlungen basieren. Solche Idealisierung ist verständlich. Der Erzähler versucht, die Handlungen und Ereignisse in Vordergrund der Bedeutung hervorzuheben und die Bedeutung der Protagonisten oder die Orte, die Schauplätze der Geschichte werden, zu betonen.

Die Kombination von Elementen der Wirklichkeit und Mythos ruft das Gefühl hervor, in die Handlung hereingezogen zu werden. Der Rezipient wird nicht nur zur Wahrnehmung der Geschichte mit allen Sinnen gezwungen, sondern auch zum Nachdenken gebracht oder umgekehrt - das Publikum darf sich durch die Farbigkeit der Geschichte unterhalten lassen.

Die Analogie der Nibelungenlied-Protagonisten mit Figuren aus der griechischen Mythologie - Kriemhild als Electra, Brünhild als kriegerische Walküre, Siegfried als Achilles - zeigt davon, dass der Schöpfer tatsächlich gelehrt und belesen sein musste.

Im Nibelungenlied spiegelt sich die Mentalität und Lebensweise der feudalhöfischen Gesellschaft, die mit einigen ihrer Konflikte umgeformt wird. Es wird eine Welt gezeigt, in der die christlichen Ideale nichts gelten. Für die christliche Gesinnung und wahrhafte Treue kann hier kein Raum gefunden werden. Die Tugenden, die die Herrscher auszeichnen sollen, werden vergessen.

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ZUSAMMENFASSUNG

In meiner Diplomarbeit „Germanisches Heldenepos. Das Nibelungenlied - Analyse der Hauptfiguren in den Schlüsselmomenten der Handlung.“ befasste ich mich mit dem germanischen Epos des Mittelalters.

Zum Ziel der Arbeit setzte ich mir, die im Nibelungenlied auftretenden Figuren auf Grund der Schüsselmomente der Handlung zu analysieren, ihr Handeln und ihre Entwicklung zu folgen und Motive, die zu dem bitteren Ende führten, herauszufinden.

Anhand des Lesens der ins Deutsche übersetzten Fassung des Liedes (Genzmer, 1965) stellte ich mir Fragen bezüglich der Handelns, Figuren, Motiven und Zusammenhänge, und versuchte es, sie aus der Personalperspektive zu beantworten. Betrachtet wurden nicht nur die offensichtlichen Indizien der Handlung wie der wörtliche Ausdruck der einzelnen Figuren, sondern auch die zusammenhängenden, verhüllten und metaphorischen. Die Analyse unterstütze ich mit Zitierungen.

Eine schwierige Aufgabe für mich war festzusetzen, wer von den Protagonisten als eine Hauptfigur gekennzeichnet werden kann. In dem ersten Teil des Liedes treten Siegfried, Kriemhild und Gunther als drei der wichtigsten Figuren auf, dagegen in dem zweiten Teil Kriemhild und Hagen. Brünhilds Figur kann als Bindeglied zwischen den zwei Teilen gesehen werden, gleichzeitig jedoch auch als Ursache des Streits, dessen Auswirkung zum konsequenten Ende - zu dem Untergang der Nibelungen stark beiträgt.

Das zentrale Motiv der Handlung ist die Treue bzw. Untreue. Obwohl die Treue als höchstes Ideal gestellt wird, gehören die Protagonisten oft zu denen, die das Treuegesetz mehrfach brechen. Schließlich stehen nur zwei stärksten Figuren sich gegenüber - Hagen und Kriemhild. Hagen von Tronje als kein rechter Held mit seiner Überheblichkeit, Unmoral, Gold- und Machtgier und Kriemhild, deren Rachesucht maßlos ist. Die Folge ist das bittere Ende - der Untergang der Nibelungen.

Zum Ziel meiner Diplomarbeit habe ich die Analyse der Protagonisten gesetzt, sowie auch die Interpretation ihrer Motive, von denen ihr Handeln beeinflusst wurde. Durch die gezielten Fragen folgte ich das vorgenommene Ziel, das ich, meiner Ansicht nach, zum größten Teil erreicht habe.

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RESÜMEE

Die Diplomarbeit „Germanisches Heldenepos. Das Nibelungenlied - Analyse der Hauptfiguren in den Schlüsselmomenten der Handlung.“ fokussiert das berühmteste germanische Epos aus verschiedenen Perspektiven - als mittelalterliches Werk und Heldenepos mit ritterlichen und märchenhaften Elementen, wo Liebe, Politik, Hass, Verrat und Rache das menschliche Leben durchaus verändern.

Aus dem Spektrum der mittelalterlichen Werke habe ich zum Zwecke meiner Diplomarbeit das Nibelungenlied aufgrund meiner Vorliebe in der Geschichte und Literatur gewählt.

Das Nibelungenlied halte ich für ein meisterhaftes Werk, eine Erzählung mit Kombination von Elementen der Wirklichkeit und Mythos, die auch gewisse Indizien der Verbundenheit mit der wahren Geschichte, die sich über Jahrzehnten erstreckt, aufweist. Die spezifischen Erscheinungsformen in dem Epos, sowohl das Barbarische und das Höfische, als auch das Sozialverhalten und christliche Sitten weisen auf die Entwicklung einer Kultur. Dem Epiker ist es gelungen, die Rezipienten des Liedes in die Handlung hereinzuziehen und durch wechselhafte spannende Momente ihre Neugier wecken, sowie auch zum Nachdenken anzuregen.

Meine Absicht war, nicht nur ein der Rezipienten zu bleiben, sondern sich bemühen, die in dem Werk auftretenden Figuren zu verstehen, Zusammenhänge herauszufinden und Antworten suchen. Das Ziel meiner Diplomarbeit habe ich, meiner Ansicht nach, zum größten Teil erreicht.

Zum Schluss gestatte ich mir eine Bemerkung, und zwar, dass das Nibelungenlied immer noch viele Interpretationsmöglichkeiten gewährt und bestimmt im Fokus des Interesses von künftigen Generationen stehen wird. Außerdem bleibt das Thema der Liebe, Treue und Verrat nach wie vor aktuell.

Das Nibelungenlied finde ich in jeder Hinsicht faszinierend. Die Arbeit brachte mir viel Vergnügen und erweiterte Horizonte sowohl in der literarischen Welt, als auch in der Geschichte.

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RÉSUMÉ

The diploma thesis on „Germanic heroic epic The Song of the - Analysis of the main characters in the key moments of the story.“ focuses on the best- known Germanic epic of the Middle Ages and its conception viewed from different perspectives. It is a classic heroic epic of the medieval literary epoch furnished with knightly and fairytale elements, in which love, politics, hatred, betrayal and revenge entirely change the lives of the characters.

I have chosen The Song of the Nibelungs for the purpose of my thesis out of the spectrum of the medieval literary works pursuant to my fondness of history and literature.

I consider The Song of the Nibelungs a masterpiece. It is a narration combining reality and myth which contains some indicia suggesting the links with real historical events throughout the centuries. The specific forms such as barbarian elements or courtly manners, as well as the social behaviour and Christian traditions which appear in the epic show the great level of development of the contemporary culture.

The narrator managed to draw the listener into the plot and raise curiosity through a line of gripping and thought-provoking moments.

My intention was to be more than just a listener (reader) but try to immerse into the characters and the context of the story and seek deeper understading. I believe I have reached for the most part the tobjective of my thesis.

In conclusion I would like to acknowledge the complexity of the story of The Song of the Nibelungs and its many possible interpretations which will certainly secure its position in the focus of attention of the future generations. Besides, the theme of love, faithfulness and betrayal will always be actual and topical.

I am finding The Song of the Nibelungs a fascinating work in all aspects. The process of writing about the epic has supplied many enjoyable moments and has enlarged my horizons in both areas of interest - literature and history.

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RESUMÉ

Diplomová práce „Germánský hrdinský epos. Píseň o Nibelunzích - analýza hlavních postav v klíčových momentech děje.“ se zaměřuje na nejznámější germánský epos středověké epochy - Píseň Nibelungů a jeho pojetí z různých perspektiv - jako dílo středověké literární epochy hrdinský epos s rytířskými a pohádkovými prvky, kde láska, politika, nenávist, zrada a pomsta naprosto změní lidské životy.

Ze spektra středověké literární tvorby jsem si pro účely své práce vybrala Píseň Nibelungů na základě mé záliby v historii a literatuře.

Píseň Nibelungů považuji za mistrovské dílo, vyprávění s kombinací skutečnosti a mýtu, které vykazuje také indicie naznačující spojení se skutečnou historií, která se prolíná stoletími. Specifické formy, jako jsou prvky barbarství a dvorských mravů, jakož i sociální chování a křesťanské zvyky, které se v eposu objevují, ukazují na rozvoj kultury.

Vypravěči se podařilo vtáhnout posluchače do děje a prostřednictvím napínavých okamžiků v nich vzbudit zvědavost, jakož je i podnítit k přemýšlení.

Mým záměrem bylo nezůstat pouze posluchačem (čtenářem), nýbrž vynasnažit se porozumět postavám, které v písni vystupují a nalézat souvislosti a hledat odpovědi. Dle mého názoru jsem cíl své diplomové práce z větší části dosáhla.

Na závěr si dovolím ještě poznámku, a sice že Píseň Nibelungů poskytuje stále ještě mnoho možností interpretace a jistě bude v centru pozornosti budoucích generací. Kromě toho zůstává téma lásky, věrnosti a zrady stále aktuální.

Píseň Nibelungů shledávám po všech stránkách fascinujícím dílem. Práce s tímto dílem mi přinesla mnoho potěšení a rozšířila obzory jak po stránce literární, tak i v oblasti historie.

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LITERATURVERZEICHNIS

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