Russland-Analysen Nr. 402, 14.05.2021 2
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www.laender-analysen.de/russland Nr. 402 | 14.05.2021 Russland–Analysen • Atomenergie • Die Botschaft des Präsidenten ■ ANALYSE Zum 35. Jahrestag von Tschernobyl. Das sowjetische Erbe der russländischen Atomindustrie 2 Achim Klüppelberg (KTH Royal Institute of Technology in Stockholm) ■ ANALYSE Russische Reaktoren und russischer Atommüll 6 Tatiana Kasperski (Universität Pompeu Fabra, Barcelona) ■ DOKUMENTATION Russische Atomreaktoren weltweit 10 ■ ANALYSE Pandemie, soziale Lasten und »Feinde ringsum« Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 21. April 2021 14 Hans-Henning Schröder (Bremen) ■ UMFRAGEN Politische Stimmung in Russland 18 ■ DEKODER Warum Putin dem Volk nichts mehr zu sagen hat 21 Tatjana Stanowaja (Carnegie Moscow Center) ■ RANKING Russen auf der Forbesliste der Milliardäre weltweit 2021 23 ■ STATISTIK Covid-19 in Russland, Stand 14. Mai 2021 27 ■ CHRONIK Covid-19-Chronik, 12. April – 02. Mai 2021 29 ■ CHRONIK 13. April – 01. Mai 2021 32 Leibniz-Institut für Leibniz-Institut für Zentrum für Osteuropa- und Deutsche Gesellschaft für Deutsches Forschungsstelle Osteuropa Agrarentwicklung in Ost- und Südosteuropa- internationale Studien Osteuropakunde Polen-Institut an der Universität Bremen Transformationsökonomien forschung (ZOiS) gGmbH Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen Russland-Analysen Nr. 402, 14.05.2021 2 ANALYSE Zum 35. Jahrestag von Tschernobyl. Das sowjetische Erbe der russländischen Atomindustrie Achim Klüppelberg (KTH Royal Institute of Technology in Stockholm) DOI: 10.31205/RA.401.01 Zusammenfassung Am 26. April 2021 jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 35. Mal. Gleichzeitig findet in Osteu- ropa eine Renaissance der Atomkraft statt. Rosatom, Russlands Staatsunternehmen für den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken, ist dabei, ältere sowjetische Meiler auch außerhalb der GUS durch Neuentwicklun- gen zu ersetzen. Parallel wird der Reaktorexport massiv gefördert. Die Geschehnisse in Tschernobyl laden dazu ein, das nukleare Erbe der Sowjetunion näher zu betrachten und über Russlands Rolle im postsowje- tischen Raum zu reflektieren. Erinnern heißt, die Sicherheit von Atomkraft zu hinterfragen. Nordukraine, 26. April 1986 ab, wodurch weitere Aufräumarbeiten in der direkten Nach einem fehlgeschlagenen Turbinentest, hervorgeru- Umgebung ermöglicht werden konnten. Zeitgleich wur- fen durch Mängel im Reaktordesign, Bedienungsfehler den insgesamt 115.000 Menschen aus den umliegen- und einer unzureichenden Sicherheitskultur, geschahen den Ortschaften evakuiert und umgesiedelt. Neben der mehrere Explosionen im Reaktorblock vier des Atom- nächstgelegenen Stadt Pripjat wurde auch die Kleinstadt kraftwerks Tschernobyl. Bald wurde deutlich, dass der Tschernobyl selbst, sowie 485 weitere Dörfer verlassen. Reaktor vollständig zerstört worden war. Giftige radio- Anfangs war die sowjetische Informationspolitik aktive Stoffe wurden in die Atmosphäre abgegeben und unzureichend, sodass den Evakuierten weder genug verteilten sich durch Wind und Wasser über weite Land- Zeit blieb ihre Abwesenheit vorzubereiten, noch war striche Eurasiens. Belarus, die Ukraine und Russland das notwendige Wissen vorhanden, um sich und ihre wurden besonders schwer getroffen. Der Reaktorkern lag Familien vor dem Fallout zu schützen. Obwohl den für einige Tage offen unter freiem Himmel, bis Gegen- Bewohner:innen anfangs in Aussicht gestellt wurde, bald maßnahmen ergriffen werden konnten. Obwohl vieles heimkehren zu können, blieben ihre Siedlungen gesperrt. nicht erfolgreich gewesen war, wie beispielsweise das Die drei verbliebenen Reaktorblöcke nahmen schnell Bedecken des Reaktorkerns mit durch von Hubschrau- ihre Arbeit wieder auf. Man schaltete sie erst von 1991 bern abgeworfenem Sand, Bor und Blei, oder das kon- bis 2000 sukzessive ab. Parallel wurde vor Ort weiter tinuierliche Fluten des Reaktorraums durch beschädigte an der Dekommissionierung gearbeitet. Ein Meilenstein Kühlleitungen während der ersten Tage der Katastro- war dabei die Fertigstellung des zweiten Sarkophags. phe, konnte die Sowjetunion auch ihre Stärken in der Da der erste mit der Zeit bedeutende Mängel aufwies, schnellen Massenmobilisierung und Konzentration von wurde ein zweiter, viel größerer Schutz mit einer Lebens- Material ausspielen. dauer von 100 Jahren über den ersten Sarkophag gefah- Während eine Sperrzone von schlussendlich drei- ren. Im Juni 2019 war er vollständig funktionstüchtig. ßig Kilometern um den zerstörten Reaktor eingerichtet wurde, zog man eilends hunderttausende Helfer:innen Das Trauma überwinden ein. Diese Liquidator:innen versuchten unter Einsatz Die Katastrophe in Tschernobyl hat die sowjetische ihrer Gesundheit, und teilweise auch ihres Lebens, Atomindustrie in ihrer Expansion nicht gänzlich auf- betroffene Gegenden zu dekontaminieren und die wei- gehalten. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass das tere Verbreitung von Radionukliden zu verhindern. Wachstum entschieden verlangsamt wurde. Beispiels- Ihren Anstrengungen zum Trotz verteilten sich den- weise begann man in Kursk noch am 01. August 1986, noch radioaktive Partikel über Landesgrenzen hinweg also ungefähr drei Monate nach dem Unglück, mit der und beeinträchtigten die Gesundheit vieler Menschen. Errichtung eines neuen baugleichen Reaktors. Später Bis heute kann nicht zuverlässig bestimmt werden, wie wurde in Smolensk im Jahr 1990 ein weiterer in Betrieb viele Opfer die Katastrophe tatsächlich forderte. genommen. Dieser wird voraussichtlich als letzter vom Eine der größten Leistungen der Liquidator:innen Typ Tschernobyl erst 2034 abgeschaltet werden. Zwar war die Errichtung des ersten Sarkophags, welcher schon wurden als direkte Konsequenz aus dem Unglück bau- im November desselben Jahres fertiggestellt wurde. Die- gleiche Reaktoren nachgebessert und Sicherheitsrouti- ser schirmte den strahlenden Inhalt des zerstörten Reak- nen aktualisiert. Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob torraums notdürftig mit Betonplatten von der Umwelt die Sicherheit letztendlich gewährleistet werden kann. Russland-Analysen Nr. 402, 14.05.2021 3 In Zukunft wird versucht werden, das Atomkraft- auf Nordamerika und Westeuropa 219 Reaktoren mit werk (AKW) Tschernobyl und das umliegende Sperr- einer Gesamtkapazität von 214,7 GWe. gebiet der gesellschaftlichen Nutzung wieder zuzufüh- Auch wenn bei dieser Statistik deutlich wird, dass ren. Die Technikhistorikerin Anna Storm hat darauf das Gros weltweiter Atomstromproduktion nicht in Ost- hingewiesen, dass solche Katastrophen postindustrielle europa stattfindet, ist es so, dass der Neubau von Kern- Landschaftsnarben (»post-industrial landscape scars«), kraftanlagen in Westeuropa und Nordamerika stockt hinterlassen. Es sei an der jeweiligen Gesellschaft dis- und deren Gesamtzahl sinkt. Im Kontrast dazu steht kursiv zu entwickeln, wie mit ihnen umgegangen wird. Russland mit dem Staatsunternehmen Rosatom an der Das Gelände, insbesondere als kontaminierter Ort, Spitze von dem, was als nukleare Renaissance in Osteu- kann dabei als Andenken bewahrt, als Aussöhnungs- ropa beschrieben werden kann. Rosatom verfolgt dabei ort kuriert und als mögliche Stätte eines Neuanfangs eine Doppelstrategie. gedacht werden. Erstens werden eigene Atomanlagen modernisiert So wurde in der Zone ein neues relativ kleines Solar- und Schlüsseltechnologien weiterentwickelt. Dabei wird kraftwerk aufgebaut, welches die alte Infrastruktur wie- auch ein Schwerpunkt auf die Demonstration neuer derbelebt. Neben dem bereits etablierten Tourismus Innovationen gelegt, um diese international zu ver- wurde vorgeschlagen, vorhandene Einrichtungen für die markten. Das schwimmende AKW »Akademik Lomo- Lagerung benutzter Brennelemente aus anderen AKWs nossow«, welches von Sankt-Petersburg nach Pewek im zu nutzen. Somit wird versucht, um bei Storms theore- Fernen Osten gebracht wurde, um das ehemalige Kern- tischem Zugang zu bleiben, Tschernobyl als Narbe neu kraftwerk Bilibino zu ersetzen, zeigte der ganzen Welt, zu interpretieren und in etwas Nützliches umzuwandeln. dass kleinere modulare Reaktoren auch als mobile Vari- ante benutzt werden können. Der Einsatz in der Arktis Pfadabhängigkeit und neuer Aufschwung spielte dabei eine besondere Rolle, sollte er doch demons- Nach 1991 war die ehemals sowjetische Atomindustrie trieren, dass mit einem solchen Modell die Explora- schwer getroffen, da die vorherigen Unionsrepubliken tion der nun durch den Klimawandel wirtschaftlich unterschiedliche politische Wege einschlugen. Wäh- gewordenen arktischen Bodenschätze flexibel möglich rend Russland versuchte, die erarbeitete Infrastruktur gemacht werden könnte. Mögliche Umweltschäden blei- zu erhalten, wandten sich andere Staaten schnell von ben bei einer solchen Rechnung unbeachtet. allem Sowjetischen ab. Das AKW Bilibino ist ein gutes Beispiel für das, was Russland, als Haupterbe der Sowjetunion, befand Daniel Headrick als Werkzeuge eines Imperiums (»tools sich während der 1990er und der frühen 2000er Jahre of empire«) definiert hat. Das Kernkraftwerk wurde mit in einer tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen vier kleinen stationären Reaktoren á 12 Megawatt elek- Transformationskrise. Erst nach dieser Krise konnten trisch (MWe) zur Elektrizitäts- und Wärmegewinnung die alten sowjetischen Entwicklungspläne ernsthaft wie- gebaut, die die modulare Entwicklung auf der »Akade- der aufgenommen und im großen Stil an die neue Rea- mik Lomonossow« vorwegnahmen. Dieses Kraftwerk lität angepasst werden. Ein Wendepunkt war dabei die wurde im Permafrostgebiet gebaut und war damit das Inbetriebnahme des ersten