Charlie Hebdo: Nicht Nur Am 7
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Lukas R.A. Wilde & Stephan Packard (Hrsg.) Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Eine Online-Publikation der Gesellschaft für Comicforschung e.V. (ComFor) www.comicgesellschaft.de Juli 2018 Impressum: Herausgeber: Lukas R.A. Wilde & Stephan Packard Gestaltung: Lukas R.A. Wilde Eine Online-Publikation der Gesellschaft für Comicforschung e.V. (ComFor) www.comicgesellschaft.de [email protected] Juli 2018 ISBN 978-3-0006-0367-9 : Inhalt Nicht nur am 7. Januar 2015: Politische Karikaturen und Comics in Charlie Hebdo – Zur Einleitung Catherine Michel und Stephan Packard 4 Ein Prophet ist keine Pfeife: Charlie Hebdo und der Karikaturenstreit Barbara Eder 9 Humor ist eine ernste Sache: Charlie Hebdo zeichnet und schreibt die Attentate des 7. Januars Elisabeth Klar 24 Charlie als Symbol oder L’Esprit Charlie? L’après-Charlie in den autobiografischen Comics von Luz und Catherine Meurisse Marie Schröer 46 Lachen über eine Tragödie: Der Nahostkonflikt in Charlie Hebdo Catherine Michel 60 Catherine Michel und Stephan Packard: Nicht nur am 7. Januar 2015: Politische Karikaturen und Comics in Charlie Hebdo – Zur Einleitung „L’assassin court toujours“: „Der Täter ist immer Medien geschah. Diese Ausweitung der Perspektive noch frei!“ titelte Charlie Hebdo im Januar 2016, ein in der vorliegenden Sammlung nimmt die Kari- Jahr nach der Ermordung der Redaktionsmitglieder katuren, Comics und weiteren Formate in Charlie Charb, Cabu, Elsa Cayat, Honoré, Mustapha Ourad, Hebdo in den Blick. Sie versteht diese als politisch Tignous und Wolinski am 7. Januar 2015. Die Täter im starken Sinne des Wortes: Indem sie genuin of- ermordeten an diesem Tag auch den Teilhaber fene Fragen verhandeln, können sie in keinem ein- Bernard Maris; Michel Renaud, der in der Redaktion fachen Konsens, nicht einmal dem bindenden der zu Gast war; den anwesenden Reinigungsarbeiter Demokratie und der Kunst- und Meinungsfreiheit, Frédéric Boisseau; und die Polizisten Franck Brin- auf deren Boden sie stehen, vollständig aufgehen. solaro und Ahmed Merabet. Elf weitere Personen In Charlie Hebdos beißendem Spott geht es re- wurden verletzt. gelmäßig um mehr als die bloße unterhaltsame Die beiden Täter wurden identifiziert und später oder subversive Geste des Spotts, auf die sich Satire anonym bestattet. Diese Täter sind also nicht ge- in der so genannten postpolitischen Demokratie meint. Das Bild zu dem Titel zeigt denn auch als oft zurückzieht. Eine Haltung, die über die Macht Terroristen einen alten Mann, der gängigen Karika- der Mächtigen generell gerne einmal lächeln will, turen Gottes ähnelt, und der in dieser Zeichnung von während deren Macht als selbstverständlich unge- Riss – anders als in ersten Entwürfen zum selben Bild brochen vorausgesetzt wird, reicht nicht aus, um – keineswegs nur einer der drei großen monotheis- auch hier lachen zu können. Denn die Beiträge in tischen Religionen zugeordnet werden kann. Über der Zeitschrift und die Redakteure beziehen seit der dem Kopf trägt er jedenfalls das Dreifaltigkeitssym- Neugründung 1992 immer wieder scharf Position: bol. Ein Maschinengewehr und Blutspuren rücken So etwa mit der „Petition zum Verbot der Front Na- ihn in die Nähe der radikalen Islamisten vom 7. tional“; aber auch mit dem Aufruf, in Gegnerschaft Januar, aber die übrige Darstellung reicht darüber zu militanten Abtreibungsgegnern „commandos anti hinaus. Sie verweist auf die viel breitere Kritik in bon dieu“ aufzustellen. Dass die Redaktion wieder- Charlie Hebdo: Sie erinnert an die umfassende, eben holt Zielscheibe von Strafanzeigen, ebenso wie von durchaus nicht nur gegen den Islam gerichtete stän- gewalttätigen Übergriffen wurde, die sie mundtot dige Religionskritik der Künstlerinnen und Künstler, machen sollten, war daher dreierlei: ebenso illegitim die die Schuld an Gewalt gerade nicht bei nur einer wie erfolglos und darüber hinaus ein Beweis für die Religion, sondern bei vielen Fanatismen und Fein- Substanzialität des Streits, den Charlie Hebdo nicht den der Aufklärung sehen. Und sie öffnet sich noch scheut. einer weiteren Lektüre: Ein weiterer Täter, der auch Der damit verbundene Mut wurde in Charlie Hebdos immer noch frei ist, kann Charlie selbst sein. Damit erstem Titel nach den Anschlägen, in der sog. ‚Aus- bekennt sich die Redaktion zur Aggression, die gabe der Überlebenden‘, in abermals differenzierter, dem kritischen Humor ihrer Satire durchaus inne- spannungsreicher Weise ausgedrückt: „Tout est par- wohnt, und macht sich gleichzeitig über alle lustig, donné“ [„alles ist vergeben“], titelte die Zeitschrift die diese Aggressivität von blutigem Mord nicht und setzte diesen Satz neben die stereotype Karika- unterscheiden können. Ebenso versagt angesichts tur eines weinenden, dunkelhäutigen Muslimen, der dieses ungebrochenen Muts jede Lektüre, die Charlie vielleicht der Prophet war. Auch dieser Titel ließ sich Hebdos aggressive Kritik auf den Zusammenhang der auf verschiedene Weise lesen: Vergab die Redaktion Anschläge oder auf Auseinandersetzungen über den Tätern, Muslimen, dem Propheten oder der Reli- Islam reduzieren will. gion? Hatte der Prophet oder einer seiner Glaubens- Charlie Hebdos Karikaturen und Comics und ihre anhänger nach den Anschlägen Charlie Hebdo weiteren satirischen Beiträge sind älter als diese An- für die früheren Karikaturen von Muslimen und von schläge und haben sie überlebt: Sie gehen thematisch Mohammed vergeben, oder muss er vielmehr erst weiter, sind vielfältiger und aus mehr Perspektiven den Mördern vergeben? Oder zeigt das Bild einen zu betrachten, als es nach dem Januar 2015 in vielen der Mörder, gerührt durch Vergebung und in Reue? 4 Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel und Stephan Packard: Nicht nur am 7. Januar 2015 – Zur Einleitung Oder muss die Übersetzung angesichts dieser Viel- weniger – auch innerhalb Frankreichs, insgesamt falt nicht vielmehr wie die Maxime von Satire laut- nur wenige Zehntausend – kannten vor dem Attentat en: Alles ist erlaubt – jetzt erst recht, und eben auch von der Zeitung mehr als ihre provokativen Cover solche groben Karikaturen? und haben die dünne Wochenzeitung tatsächlich re- Mit dem Mut und der Komik einer genuin gelmäßig aufgeschlagen, um die ironische, bzw. sar- politischen Satire wird hier vor allem eines pro- kastisch-bitterböse, für manchen geschmack- und duziert: Unsicherheit – dies vielleicht sogar noch taktlose Aufbereitung des politischen, religiösen, mehr als eindeutige moralische Entrüstung. Und gesellschaftlichen und kulturellen Zeitgeschehens in dies gerade dort, wo der öffentliche Diskurs allzu Gestalt von Artikeln, Kolumnen und Kommentar- leicht eindeutige Fronten ziehen und an binäre en, Comics und Karikaturen auch wirklich zu lesen. Oppositionen glauben will. Die sehr wohl eindeutig Die journalistische Qualität von Charlie Hebdo zu verdammenden Morde wären dazu ein billiger reicht für viele nicht an die des ebenfalls linken und Vorwand, so die Bot der überlebenden Satiriker_ wöchentlich seit über 100 Jahren erscheinenden Satire- innen: Schon in der Ausgabe der Überlebenden pro- blatts Canard Enchaîné heran (vgl. Martin 2005). testierten sie gegen die Inbesitznahme durch falsche Allein die deutliche Differenz der Verkaufszahlen – Verbündete: Jetzt könne man sich nicht einmal mehr ca. 75.000 für Charlie Hebdo im Vergleich zu knapp seine Freunde aussuchen. einer halben Million wöchentlich verkaufter Ex- Die Logik des Maschinengewehrs, das nur zwei emplare für den Canard Enchaîné im Jahr 2011 bzw. Enden kennt und damit zwei Parteien definiert, 2010 sprechen für sich (vgl. Baldit 2012: 6). In der reicht daher nicht aus, die Karikaturen in Charlie Hebdo Tat beruht die große Reputation des Canard Enchaîné zu verstehen. Wer von nur zwei Lagern ausgeht, wer auf seinem investigativen Journalismus, während meint, Charlie Hebdo insgesamt entweder in jeder Charlie Hebdo wegen seines überdeutlichen Antikon- Weise zustimmen oder sich mit den feigen Mördern formismus, der sehr linken politischen Ausrich- gemein machen zu müssen, tut der Intelligenz tung und seines sehr provokanten, anstößigen und dieser Karikaturen Unrecht. Wer bei ihrem Be- derben Humors gelesen wird (vgl. ebd.: 30ff). Die trachten kein Unbehagen empfindet, hat sie nicht Rolle Charlie Hebdos ist vorrangig, die Leserschaft verstanden. Wer die Satiriker_innen angesichts in ihren politischen Überzeugungen zu bestätigen ihrer aggressiven Bilder nur als die Opfer vom 7. und sie zum Lachen zu bringen. Diese Überzeugun- Januar 2015 sehen wollte, liefe Gefahr, sie schein- gen sind hauptsächlich Laizismus, Anti-Rassismus bar wiederum mundtot machen zu wollen. Das ist und der damit einhergehende Kampf gegen Rechts- bislang niemandem gelungen. radikalismus und Antisemitismus, sowie Engage- Die vorliegende kleine Sammlung versucht da- ment für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. her, den Blick in zweierlei Hinsicht zu weiten: Dementsprechend deutlich fällt die Kritik Charlie Ausgehend von den Karikaturen, die vor und nach Hebdos an der katholischen Kirche (und anderen Re- dem Anschlag mit diesem in Verbindung gebracht ligionen), am Front National und an verschiedenen wurden, auf andere Themen und Produktionen der Entscheidungen der unterschiedlichen franzö- satirischen Kritik in Charlie Hebdo; und dann zurück sischen Regierungen aus. Beherrscht wird der Inhalt nicht auf die Anschläge, sondern auf weitere Beit- von Charlie Hebdo dementsprechend größtenteils räge der Charlie Hebdo-Karikaturist_innen, die in von französischen Themen, doch auch Sujets aus an- diesem Kontext gelesen wurden