Lukas R.A. Wilde & Stephan Packard (Hrsg.)

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015!

Eine Online-Publikation der Gesellschaft für Comicforschung e.V. (ComFor)

www.comicgesellschaft.de Juli 2018 Impressum:

Herausgeber: Lukas R.A. Wilde & Stephan Packard

Gestaltung: Lukas R.A. Wilde

Eine Online-Publikation der Gesellschaft für Comicforschung e.V. (ComFor) www.comicgesellschaft.de [email protected]

Juli 2018 ISBN 978-3-0006-0367-9 : Inhalt

Nicht nur am 7. Januar 2015: Politische Karikaturen und Comics in – Zur Einleitung Catherine Michel und Stephan Packard 4

Ein Prophet ist keine Pfeife: Charlie Hebdo und der Karikaturenstreit Barbara Eder 9

Humor ist eine ernste Sache: Charlie Hebdo zeichnet und schreibt die Attentate des 7. Januars Elisabeth Klar

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Charlie als Symbol oder L’Esprit Charlie? L’après-Charlie in den autobiografischen Comics von und Catherine Meurisse Marie Schröer 46

Lachen über eine Tragödie: Der Nahostkonflikt in Charlie Hebdo Catherine Michel 60 Catherine Michel und Stephan Packard: Nicht nur am 7. Januar 2015: Politische Karikaturen und Comics in Charlie Hebdo – Zur Einleitung „L’assassin court toujours“: „Der Täter ist immer Medien geschah. Diese Ausweitung der Perspektive noch frei!“ titelte Charlie Hebdo im Januar 2016, ein in der vorliegenden Sammlung nimmt die Kari- Jahr nach der Ermordung der Redaktionsmitglieder katuren, Comics und weiteren Formate in Charlie , , , Honoré, Mustapha Ourad, Hebdo in den Blick. Sie versteht diese als politisch und Wolinski am 7. Januar 2015. Die Täter im starken Sinne des Wortes: Indem sie genuin of- ermordeten an diesem Tag auch den Teilhaber fene Fragen verhandeln, können sie in keinem ein- ; Michel , der in der Redaktion fachen Konsens, nicht einmal dem bindenden der zu Gast war; den anwesenden Reinigungsarbeiter Demokratie und der Kunst- und Meinungsfreiheit, Frédéric Boisseau; und die Polizisten Franck Brin- auf deren Boden sie stehen, vollständig aufgehen. solaro und Ahmed Merabet. Elf weitere Personen In Charlie Hebdos beißendem Spott geht es re- wurden verletzt. gelmäßig um mehr als die bloße unterhaltsame Die beiden Täter wurden identifiziert und später oder subversive Geste des Spotts, auf die sich Satire anonym bestattet. Diese Täter sind also nicht ge- in der so genannten postpolitischen Demokratie meint. Das Bild zu dem Titel zeigt denn auch als oft zurückzieht. Eine Haltung, die über die Macht Terroristen einen alten Mann, der gängigen Karika- der Mächtigen generell gerne einmal lächeln will, turen Gottes ähnelt, und der in dieser Zeichnung von während deren Macht als selbstverständlich unge- – anders als in ersten Entwürfen zum selben Bild brochen vorausgesetzt wird, reicht nicht aus, um – keineswegs nur einer der drei großen monotheis- auch hier lachen zu können. Denn die Beiträge in tischen Religionen zugeordnet werden kann. Über der Zeitschrift und die Redakteure beziehen seit der dem Kopf trägt er jedenfalls das Dreifaltigkeitssym- Neugründung 1992 immer wieder scharf Position: bol. Ein Maschinengewehr und Blutspuren rücken So etwa mit der „Petition zum Verbot der Front Na- ihn in die Nähe der radikalen Islamisten vom 7. tional“; aber auch mit dem Aufruf, in Gegnerschaft Januar, aber die übrige Darstellung reicht darüber zu militanten Abtreibungsgegnern „commandos anti hinaus. Sie verweist auf die viel breitere Kritik in bon dieu“ aufzustellen. Dass die Redaktion wieder- Charlie Hebdo: Sie erinnert an die umfassende, eben holt Zielscheibe von Strafanzeigen, ebenso wie von durchaus nicht nur gegen den gerichtete stän- gewalttätigen Übergriffen wurde, die sie mundtot dige Religionskritik der Künstlerinnen und Künstler, machen sollten, war daher dreierlei: ebenso illegitim die die Schuld an Gewalt gerade nicht bei nur einer wie erfolglos und darüber hinaus ein Beweis für die Religion, sondern bei vielen Fanatismen und Fein- Substanzialität des Streits, den Charlie Hebdo nicht den der Aufklärung sehen. Und sie öffnet sich noch scheut. einer weiteren Lektüre: Ein weiterer Täter, der auch Der damit verbundene Mut wurde in Charlie Hebdos immer noch frei ist, kann Charlie selbst sein. Damit erstem Titel nach den Anschlägen, in der sog. ‚Aus- bekennt sich die Redaktion zur Aggression, die gabe der Überlebenden‘, in abermals differenzierter, dem kritischen Humor ihrer Satire durchaus inne- spannungsreicher Weise ausgedrückt: „Tout est par- wohnt, und macht sich gleichzeitig über alle lustig, donné“ [„alles ist vergeben“], titelte die Zeitschrift die diese Aggressivität von blutigem Mord nicht und setzte diesen Satz neben die stereotype Karika- unterscheiden können. Ebenso versagt angesichts tur eines weinenden, dunkelhäutigen Muslimen, der dieses ungebrochenen Muts jede Lektüre, die Charlie vielleicht der Prophet war. Auch dieser Titel ließ sich Hebdos aggressive Kritik auf den Zusammenhang der auf verschiedene Weise lesen: Vergab die Redaktion Anschläge oder auf Auseinandersetzungen über den Tätern, Muslimen, dem Propheten oder der Reli- Islam reduzieren will. gion? Hatte der Prophet oder einer seiner Glaubens- Charlie Hebdos Karikaturen und Comics und ihre anhänger nach den Anschlägen Charlie Hebdo weiteren satirischen Beiträge sind älter als diese An- für die früheren Karikaturen von Muslimen und von schläge und haben sie überlebt: Sie gehen thematisch Mohammed vergeben, oder muss er vielmehr erst weiter, sind vielfältiger und aus mehr Perspektiven den Mördern vergeben? Oder zeigt das Bild einen zu betrachten, als es nach dem Januar 2015 in vielen der Mörder, gerührt durch Vergebung und in Reue? 4

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel und Stephan Packard: Nicht nur am 7. Januar 2015 – Zur Einleitung

Oder muss die Übersetzung angesichts dieser Viel- weniger – auch innerhalb Frankreichs, insgesamt falt nicht vielmehr wie die Maxime von Satire laut- nur wenige Zehntausend – kannten vor dem Attentat en: Alles ist erlaubt – jetzt erst recht, und eben auch von der Zeitung mehr als ihre provokativen Cover solche groben Karikaturen? und haben die dünne Wochenzeitung tatsächlich re- Mit dem Mut und der Komik einer genuin gelmäßig aufgeschlagen, um die ironische, bzw. sar- politischen Satire wird hier vor allem eines pro- kastisch-bitterböse, für manchen geschmack- und duziert: Unsicherheit – dies vielleicht sogar noch taktlose Aufbereitung des politischen, religiösen, mehr als eindeutige moralische Entrüstung. Und gesellschaftlichen und kulturellen Zeitgeschehens in dies gerade dort, wo der öffentliche Diskurs allzu Gestalt von Artikeln, Kolumnen und Kommentar- leicht eindeutige Fronten ziehen und an binäre en, Comics und Karikaturen auch wirklich zu lesen. Oppositionen glauben will. Die sehr wohl eindeutig Die journalistische Qualität von Charlie Hebdo zu verdammenden Morde wären dazu ein billiger reicht für viele nicht an die des ebenfalls linken und Vorwand, so die Bot der überlebenden Satiriker_ wöchentlich seit über 100 Jahren erscheinenden Satire- innen: Schon in der Ausgabe der Überlebenden pro- blatts Canard Enchaîné heran (vgl. Martin 2005). testierten sie gegen die Inbesitznahme durch falsche Allein die deutliche Differenz der Verkaufszahlen – Verbündete: Jetzt könne man sich nicht einmal mehr ca. 75.000 für Charlie Hebdo im Vergleich zu knapp seine Freunde aussuchen. einer halben Million wöchentlich verkaufter Ex- Die Logik des Maschinengewehrs, das nur zwei emplare für den Canard Enchaîné im Jahr 2011 bzw. Enden kennt und damit zwei Parteien definiert, 2010 sprechen für sich (vgl. Baldit 2012: 6). In der reicht daher nicht aus, die Karikaturen in Charlie Hebdo Tat beruht die große Reputation des Canard Enchaîné zu verstehen. Wer von nur zwei Lagern ausgeht, wer auf seinem investigativen Journalismus, während meint, Charlie Hebdo insgesamt entweder in jeder Charlie Hebdo wegen seines überdeutlichen Antikon- Weise zustimmen oder sich mit den feigen Mördern formismus, der sehr linken politischen Ausrich- gemein machen zu müssen, tut der Intelligenz tung und seines sehr provokanten, anstößigen und dieser Karikaturen Unrecht. Wer bei ihrem Be- derben Humors gelesen wird (vgl. ebd.: 30ff). Die trachten kein Unbehagen empfindet, hat sie nicht Rolle Charlie Hebdos ist vorrangig, die Leserschaft verstanden. Wer die Satiriker_innen angesichts in ihren politischen Überzeugungen zu bestätigen ihrer aggressiven Bilder nur als die Opfer vom 7. und sie zum Lachen zu bringen. Diese Überzeugun- Januar 2015 sehen wollte, liefe Gefahr, sie schein- gen sind hauptsächlich Laizismus, Anti-Rassismus bar wiederum mundtot machen zu wollen. Das ist und der damit einhergehende Kampf gegen Rechts- bislang niemandem gelungen. radikalismus und Antisemitismus, sowie Engage- Die vorliegende kleine Sammlung versucht da- ment für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. her, den Blick in zweierlei Hinsicht zu weiten: Dementsprechend deutlich fällt die Kritik Charlie Ausgehend von den Karikaturen, die vor und nach Hebdos an der katholischen Kirche (und anderen Re- dem Anschlag mit diesem in Verbindung gebracht ligionen), am Front National und an verschiedenen wurden, auf andere Themen und Produktionen der Entscheidungen der unterschiedlichen franzö- satirischen Kritik in Charlie Hebdo; und dann zurück sischen Regierungen aus. Beherrscht wird der Inhalt nicht auf die Anschläge, sondern auf weitere Beit- von Charlie Hebdo dementsprechend größtenteils räge der Charlie Hebdo-Karikaturist_innen, die in von französischen Themen, doch auch Sujets aus an- diesem Kontext gelesen wurden und einen breiten deren Ländern werden thematisiert. Zu diesen The- Kontext verdienen. men gehören die jeweiligen amerikanischen Präsi- dentschaftswahlen, genauso wie beispielsweise der Bosnienkrieg und natürlich auch der Nahostkonflikt. Charlie Hebdo vor und nach 2015 Während die Zielscheibe für Kritik und Spott also wechselt, bleiben die Waffen stets die gleichen: Nur wenigen war Charlie Hebdo außerhalb Frank- Ironie, Sarkasmus, zynischer, schwarzer Humor, reichs vor dem 7. Januar 2015 bekannt. Die franzö- beißend, derb, tabulos. Gerade und besonders in den sische politische Satirezeitung wurde 1970 gegründet Zeichnungen entfaltet dieser spezielle Charlie-Hebdo- und erscheint – mit einer zehnjährigen Pause (1982- Humor seine volle Kraft. Während er bei seiner 1992) – seitdem wöchentlich bis heute. Noch viel Stammleserschaft gerade deshalb geliebt und gelesen 5

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel und Stephan Packard: Nicht nur am 7. Januar 2015 – Zur Einleitung wird, um, „se marrer un bon coup“ [„eine ordentli- weitere Seite einer jeden Ausgabe (ab 2000 stets die che Runde abzulachen“] (Baldit 2012: 42) sorgt er Rückseite der Zeitung, also Seite 16), wird von den bei seinen Kritiker_innen hingegen oft für echte „Couvertures auxquelles vous avez échappées“, also Empörung. Vor allem religiös motivierte Gruppen, den „Titelseiten, die Euch erspart geblieben sind“ (im besonders die katholische Kirche und islamische Folgenden abgekürzt als „Couvertures“), ausgefüllt, Vereinigungen, aber auch rechtsextreme Politiker_ flankiert von „brèves“, satirischen Ein-Satz-Kom- innen sowie Journalist_innen von anderen Redak- mentaren mit Aktualitätsbezug. Auch fehlt in keiner tionen etc. reagieren oftmals sehr empfindlich und Ausgabe der Leitartikel des jeweiligen Chefredak- empört auf die Weise, in der sie sich in Charlie Heb- teurs (Cavanna, , Gérard Biard, Riss), do dargestellt finden. Ganz offensichtlich ist es für der in der Regel auf der dritten Seite abgedruckt ist. viele der ins Visier der Zeitung Geratenen nicht Mindestens eine Seite (oft Seite 10) ist dem Welt- möglich, das offen deklarierte Motto Charlie Hebdos, geschehen gewidmet („ vu de la Terre“) „bête et méchant“ [„dumm und böse“] zu sein, zu und die Seiten 8-9, also das Zentrum der Ausgaben, akzeptieren; und sie nehmen es nicht hin, dass die werden oft, ob des dadurch möglichen Posterfor- Zeitung willentlich ihre Religion verunglimpft oder mats, für ein Sonderthema verwendet. Auch gibt es ihre Person beleidigt. In der Tat wurde dutzende eine Rubrik, die Umweltfragen gewidmet ist („Une Male gerichtlich gegen Charlie Hebdo wegen Diffam- bouffée d’oxygène“). Auf den übrigen Seiten find- ierung vorgegangen. 48 Prozesse gab es allein in der en sich, in Längsspalten eingefasst, erneut „brèves“ zweiten Existenzphase Charlie Hebdos, also ab 1992, und einzelne Artikel. Ein starkes strukturgebend- von denen die Zeitung jedoch 75 Prozent für sich es Element sind zudem die unterschiedlichen, fes- und die Pressefreiheit entschieden hat (vgl. anon./ ten Kolumnen bzw. Chroniken einzelner Autoren Le Monde 2015). Ab November 2011 schließlich ha- und Zeichner, die darin wöchentlich ihre Meinung ben muslimisch motivierte Kritiker_innen versucht, kundtun. Sinés’ handschriftliche, von ihm selbst erst durch Akte des Vandalismus, dann durch ter- illustrierte Kolumne wurde in Charlie Hebdo über roristische Anschläge, die Arbeit in der Zeitung un- ein Jahrzehnt lang abgedruckt, anfangs auf Seite 10, möglich zu machen und ihre Redakteure zum Sch- später jahrelang auf Seite 13 und am Ende auf Seite weigen zu bringen, was ihnen beim letzten Anschlag 14. im Januar 2015 bei acht der Autoren leider auch Die linguistische Einschränkung auf männliche gelungen ist. Doch die verbliebene Redaktion ließ Autoren ist in diesem Fall sehr bewusst gewählt, da sich zum Glück nicht mundtot machen und publi- der erdrückende Teil dieser Chroniken/Kolumnen ziert weiterhin jeden Donnerstag auf sechzehn Seit- ausschließlich von männlichen Redaktionsmitglie- en ihre satirische Sicht auf das alltägliche Geschehen dern gehalten wurde. Abgesehen vom stets abge- in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich druckten Hinweis auf das Impressum und Abonne- und anderswo. Der Streit über die Arbeitsweise von mentmöglichkeiten sind die noch verbliebenen Teile Charlie Hebdo geht indessen weiter: unlängst erst hat der Zeitung von Comics angefüllt, d.h. Geschichten, der Bürgermeister vom im August 2016 vom Erdbe- die mindestens aus zwei gezeichneten Bildern mit ben zerstörten, italienischen Dorf Amatrice Anzeige oder ohne Text bestehen, sowie Karikaturen und wegen Diffamierung gegen Charlie Hebdo erstattet, Cartoons, d.h. von politischen oder unpolitischen und zwar aufgrund von Karikaturen von Félix und Einzelzeichnungen mit und ohne Text bzw. Sprech- Coco. blasen. Manche davon sind ebenfalls als Kolumnen Der Umfang der wöchentlichen Ausgabe ist seit der oder Chroniken zu verstehen, jedoch in Comicform Gründung von Charlie Hebdo im Jahr 1970 bis heute (z.B. „Scènes de la vie hormonale“ von Catherine). mehr oder weniger konstant geblieben und umfasst Comics und Karikaturen werden ebenfalls zur Illus- in der Regel sechzehn Seiten; in nur seltenen Fäl- tration von Artikeln genutzt. len vierzehn, bei besonderen Anlässen gelegentlich mehr. Auch der Aufbau der Ausgaben variiert über die Jahrzehnte seiner Existenz nur wenig. Das Titel- Vier Schlaglichter blatt besteht, abgesehen vom Namen der Zeitung Gerade die Tabulosigkeit von Charlie Hebdo, die am oberen Rand, nahezu immer aus einer einzigen die einen herzhaft lachen und die anderen sich Karikatur, die den Rest des Raumes einnimmt. Eine 6

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel und Stephan Packard: Nicht nur am 7. Januar 2015 – Zur Einleitung echauffieren lässt, lohnt die genauere Untersuchung. Leserschaft entwirft, an die sich die Reflexionen und Wo und in welcher Form kommen welche Humor- die Zeitschrift richten: An deren Differenzierungs- formen zum Einsatz? Gibt es Themen, die eher mit bereitschaft nicht weniger als an deren Erinnerung. der einen als mit der anderen Form von Humor be- Die Frage nach der richtigen Lesehaltung kehrt trachtet werden? Gibt es Unterschiede zwischen den auch in Marie Schröers Beitrag wieder. Sie stellt sich Texten und den Bildern? Lassen sich Präferenzen gegen eine vereinfachte Lektüre, die Charlie Hebdo bei den einzelnen Mitarbeiter_innen feststellen? Hat – nicht erst, aber besonders geschmacklos nach den sich der Humor im Lauf des Bestehens der Zeitung Anschlägen – als hegemonial und rassistisch ver- geändert? Und: werden tatsächlich alle Themen von urteilen will; aber auch gegen eine Nivellierung der der Zeitung mit derselben Tabulosigkeit behandelt, Schärfe von Charlie Hebdo in einem alles verschlingen- oder gibt es sogar bei Charlie Hebdo Sujets, bei denen den, vermeintlich freiheitlichen Konsens, der die der Spaß aufhört? Diese und noch viel mehr Fragen gesamte Demokratie zu umfassen meint. Stattdes- kann man sich über diese Zeitung stellen. Und man sen dekonstruiert sie die Interpretation von Charlie könnte im Versuch, Antworten zu finden, sicher Hebdo als Symbol des Rassismus oder der Freiheit. mehrere Bücher füllen. Mit der genaueren Auseinandersetzung mit auto- Die vorliegende kleine Sammlung erhebt keiner- biographischen Comics von Luz und von Catherine lei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will nur Meurisse bricht sie dann mit der ebenso vereinfachten etwas dazu beitragen, die Diskussion um Charlie Vorstellung von der Redaktion als einem politisch Hebdo über den Januar 2015 hinaus zu weiten. So homogenen Monolith und betont die Vielfalt eines diskutiert Barbara Eder die Logiken von Komik und ‚esprit Charlie’. Repräsentation vor dem Hintergrund politischer Catherine Michel wendet den Blick zu einem an- und psychoanalytischer Konzepte, um die politische deren Thema in Charlie Hebdo: Sie erstellt eine breite Suspension transparenter Kommunikation in der Bestandsaufnahme von Auseinandersetzungen mit Reaktion auf den so genannten Karikaturenstreit dem Nahostkonflikt und verfolgt diesen Zusam- 2005 aufzuheben. Sie nimmt besonders die Selbst- menhang durch mehrere Jahre und verschiedene und Medienreflexion in Charlie Hebdos Karikaturen Formate: Karikaturen, Prosa-Beiträge, Kolumnen in den Blick und geht dabei von dem Wiederabdruck und begleitende Stellungnahmen verschiedener der Jyllands-Karikaturen in Charlie Hebdo ebenso Akteur_innen in Charlie Hebdo zieht sie in qualita- wie der Stellungnahme der Zeitschrift 2006 aus. tiven und quantitativen Analysen heran. Auch sie Auf dieser Grundlage verhandelt sie den fraglichen kehrt dabei noch einmal aus einer anderen Perspek- Rassismusvorwurf, gegen den sich die damalige Re- tive zur Funktion des Humors zurück, den sie im daktion bis vor Gericht verteidigen musste. Nicht Rahmen rhetorischer Konzepte im Verein mit Iro- nur der differenzierte Umgang mit den in ihren Bil- nie und Sarkasmus begreift. dern wiederholten Stereotypen, sondern auch die Unsere Sammlung geht aus der durchaus hefti- zu einfache Zuschreibung von Weltanschauungen gen Auseinandersetzung hervor, die zwischen ein- an die vermeintlichen Opfer dieser Karikaturen gilt igen Mitgliedern der Gesellschaft für Comicfor- es dafür genauer zu betrachten: Insbesondere der schung direkt nach den Anschlägen ausbrach. Unter scheinbar einfache Gedanke eines als kulturell fremd- dem Schock der Gewalttat kam es für einige Tage artig missverstandenen ‚Bilderverbots’ wird so zu schweren gegenseitigen Anschuldigungen und schwieriger und ergiebiger. Vorwürfen. Dabei entstand der Wunsch, mehre- Elisabeth Klar beschäftigt sich mit der Zeich- re verschiedene Stimmen zu Charlie Hebdo in einer nung der Anschläge gegen Charlie Hebdo in Charlie ruhigeren, ausführlicheren und differenzierteren Hebdo. Auch ihr geht es darum, mit einem präzisen Weise sprechen zu lassen, als es damals gelang. Auch Verständnis für die Funktion von Humor in der deshalb haben wir uns für diese Ausgabe sehr viel ernsten Debatte den verschiedenen Richtungen Zeit genommen. Sie ist gerade keine Antwort auf nachzugehen, in die die Reflexion führt. Dazu bedarf die feigen Morde vor drei Jahren, sondern Ausdruck es, wie sie zeigen kann, eines Verständnisses für die eines Interesses an der Zeitschrift, das darüber hi- Tradition und die Geschichte der Zeitschrift, die in nausgeht. Die fleckigen Spuren auf dem Titelbild diesen Reflexionen häufig direkt oder indirekt an- und dem Seitenrand meinen daher Tinte. gespielt wird und die damit auch ein Bild von der 7

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel und Stephan Packard: Nicht nur am 7. Januar 2015 – Zur Einleitung

Quellenverzeichnis

Anonym/Le Monde: „‚Charlie Hebdo‘, 22 ans de procès en tous genres “. In: Le Monde. https://www.lemonde. fr/societe/article/2015/01/08/charlie-hebdo-22- ans-de-proces-en-tous-genres_4551824_3224.html, 08.01.2015 (zit. 11.07.2018) Baldit, Etienne: Charlie Hebdo et Le Canard enchaîné: Trajectoires de lecteurs de presse satirique. Master- arbeit (Maîtrise), Institut d’Etudes Politiques de 2012

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Barbara Eder: Ein Prophet ist keine Pfeife: Charlie Hebdo und der Karikaturenstreit

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Reaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo auf das politische Ereignis des Karikaturenstreits. Dieses wurde in Ausgabe 712 unter Rückgriff auf mehr als 18 satirische Zeichnungen kommentiert. Wegen angeblicher rassistischer Beleidigungen musste sich der damalige CH-Chefredakteur dafür in einem Prozess gegen den Dachverband der französischen Muslime verantworten. Im Artikel werden die Zeichnungen von Ausgabe 712 als Grundlage für eine semiotische Analyse herangezogen, die die Frage nach den subjektiven Bedingungen des Rezep- tionsprozesses ebenso aufwirft wie jene nach der mögli- chen Reichweite des gezeichneten Witzes. Aus den betont selbst- und medienreflexiven CH-Karikaturen allein – so die These – lässt sich der Vorwurf einer gezielt betrie- benen, rassistischen Verleumdung keineswegs ableiten. Die CH- Zeichner_innen karikieren in Ausgabe 712 nicht nur Sujets aus der muslimischen Welt, sondern sämtliche höchste Wesen aller Weltreligionen. Sprechpositionen von Menschen aus islamischen Herkunftsländern, die bislang marginalisiert worden waren, finden darin Beachtung. Abb. 1: McCloud 2001: 33 Mit dem Abdruck des Statements „Pour la liberté d´expres- sion“ der „Association du Manifeste des libertés“ beziehen Er hält an einem der visuellen sequenziellen Kunst etwa in Frankreich lebende Atheist_innen in Ausgabe 712 zugrundeliegendem konstruktivistischen Verständ- erstmals Stellung zu den dänischen Karikaturen. nis fest und verweist qua Bildzitat auf alle anderen Medien, die mit, in und durch Comics inkorporiert Nicht danach, was ein Bild ist, sondern nach den werden. Beziehungen, die Betrachter_innen zwischen Bild Anders als indexikalische Medien, die auf Evi- und Realität herstellen, hat Michel Foucault bereits denz-Effekte abzielen, markiert das dem Comic ver- gegen Ende seiner Interpretation von René Mag- wandte Medium Karikatur die Differenz zwischen rittes „Der Verrat der Bilder“ gefragt (vgl. Foucault Bild und Abbild, zwischen Zeichen und Ding, oft sehr 1974). Knapp zwanzig Jahre später dekonstruiert bewusst. Karikaturen rufen bei den Betrachter_in- Scott McCloud sämtliche Prämissen der klassischen nen gar nicht erst die Parameter einer romantischen Abbildtheorie im Medium Comic unter Rückgriff Einfühlungsästhetik auf oder geben vor, Wirklich- auf dasselbe Gemälde. Am Ende einer aus zehn Pa- keit widerzuspiegeln; stattdessen provozieren sie nels bestehenden Sequenz, die Magrittes La Trahison mit grotesken Weltentwürfen, die das Entstellte, das des Images variiert, ist die Frage nach einer mögli- Verrückte und das Befremdliche der außermedialen chen Realität hinter den Bildern obsolet geworden. Wirklichkeit ausstellen, ohne diese unmittelbar zu Mit den Worten „Nee, wieder falsch, es ist eine bezeichnen. Egal ob gemalt, gezeichnet oder (nach) gedruckte Reproduktion einer Zeichnung eines Bil- gedruckt – das Bild einer Pfeife ist keine Pfeife – auch des von einer Pfeife“ (McCloud 2001: 33, Abb. 1) dann nicht, wenn es sich dabei um eine Karikatur wendet sich McClouds Comic-Alter-Ego direkt an desselben handelt. Paradoxerweise scheint dies nicht die Leser_innen. für Bilder von Propheten und anderen religiösen Autoritäten gegolten zu haben.

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Barbara Eder: Ein Prophet ist keine Pfeife

Nachdem der Kulturredakteur der dänischen Im Folgenden werden die insbesondere im Zuge des Tageszeitung Jyllands-Posten, Flemming Rose, am 30. Prozesses gegen Philippe Val stark eindimensional September 2005 zwölf Mohammed-Karikaturen, die interpretierten Karikaturen der CH-Spezialausgabe bei hauseigenen Zeichner_innen in Auftrag gegeben zum Karikaturenstreit etwas genauer in den Blick worden waren, veröffentlicht hatte, verklagten elf genommen. In Ausgabe 712 vom 8. Februar 2006 Vertreter_innen muslimischer Organisationen in finden sich nebst zahlreichen verbalen Kommenta- Dänemark die Zeitschrift. Sie beriefen sich dabei auf ren – so etwa Philippe Lançons „Spinoza, reviens!“1 den Blasphemie-Paragraphen im dänischen Straf- (CH 2006/712: 11) und Antonio Fischettis „Des gesetzbuch und monierten unter anderem auch die points communs entre une pipe et un prophète“2 massive Verletzung eines Bilderverbots, das nicht (ebd.: 5) – mehr als 18 Zeichnungen von erstaunlich nur im Islam, sondern auch in einigen anderen Re- hohem, selbst- und medienreflexivem Niveau. Die ligionen bis heute für die Darstellung religiöser Au- CH-Zeichner_innen demonstrieren mit ihren Bil- toritäten gilt. So etwa musste sich der österreichische dern nicht einfach nur, wie mögliche Verletzungen Karikaturist Gerhard Haderer für seine in Buchform von Bilderverboten elegant umgangen werden kön- erschienene Jesus-Persiflage mit dem Titel Das Leben nen; sie insitieren auch auf einer strikten Trennung des Jesus (2002) im Jahr 2004 vor einem griechischen von Bild und Wirklichkeit, was sich unter ande- Gericht rechtfertigen und wurde in seiner Abwesen- rem in den Verweisen auf die Bildhaftigkeit ihrer heit zu sechs Monaten Haft verurteilt (vgl. anon./ Bilder manifestiert. Während die Zeichner_innen DW 2005, anon./taz 2006). der dänischen Karikaturen mit zehn ihrer zwölf Neben den deutschsprachigen Druckwerken Kro- Bilder offensiv zeigten, was man angeblich nicht zei- nen Zeitung, Kleine Zeitung, Die Welt, Die Zeit, FAZ, gen darf,3 wird in CH das, was gezeigt wird, unter Tagesspiegel, Berliner Zeitung, taz und Titanic sow- Rückgriff auf andere Medien reflektiert. So ist etwa ie der jordanischen Shihane und der ägyptischen in der Cartoon-Serie „Les couvertures auxelles vous Al Fager zählt auch das französische Satiremag- avez échappé“4 im ersten der beiden von Schwartz azin Charlie Hebdo zu jenen Zeitschriften, die die gezeichneten Karikaturen ein Gebeinhaufen zu se- dänischen Karikaturen nach dem Skandal, den sie hen, der auf die Unmöglichkeit einer zeitgemäßen ausgelöst hatten, abgedruckt haben. Im Unterschied Repräsentation Mohammeds verweist. Das zweite zu den Reprints in anderen Zeitungen wurden jene Bild zeigt den Kopf des Propheten am anderen Ende Bilder, die 2005 zum weltweiten ‚Karikaturen- eines Pfeifenstils. Im unteren Bildrand befindet sich streit‘ geführt hatten, in der CH-Spezialausgabe eine gezeichnete Plakette mit dem Satz „Ceci n’est vom 8. Februar 2006 durch eigene Bilder kommen- pas une caricature du prophète“5, ergänzt durch eine tiert. Obgleich – oder gerade weil – Wahrheiten im Auge der Betrachter_innen liegen, führten auch 1 Übersetzung: „Spinoza, komm zurück!“. Alle Über- diese Bilder zu einer Reihe an Missverständnissen. setzungen stammen, falls nicht anders angegeben, von der Au- Gegenüber dem Vorwurf der Beleidigung von in torin. Frankreich lebenden Muslim_innen musste sich der 2 Übersetzung: „Gemeinsamkeiten zwischen einer Pfeife und einem Propheten“. CH-Chefredakteur Philippe Val im März 2006 in einem Prozess gegen den Dachverband der franzö- 3 Alle zwölf Karikaturen sind online einsehbar unter anon./AINA 2006. sischen Muslime verantworten. An der im Vergleich 4 „Les couvertures auxelles vous avez échappé“ heißt im mit dem Anschlag vom 7. Januar 2015 weitaus gerin- Deutschen soviel wie „Die Berichterstattung, die Ihnen entgan- geren öffentlichen Präsenz dieses Ereignisses gemes- gen ist“, wobei „couvertures“ auch mit (Ver-)Deckung im Sinne sen waren die nationalen Solidaritätserklärungen mit von „Deckerinnerung“ als psychoanalytischem Terminus über- CH groß. Politiker_innen unterschiedlicher Couleur, setzt werden könnte. Im Zusammenhang mit Schwartz’ Car- wie etwa der Sozialdemokrat François Hollande und toon-Serie besteht die für eine „Deckerinnerung“ bezeichnende der Konservative François Bayrou, entlasteten CH Verdeckungsleistung darin, dass durch ein Folgebild über das eigentlich Gemeinte hinweggetäuscht wird: Bild 2 übertüncht aus dem Zeugenstand; die französische Tageszei- den in Bild 1 dargestellten Sachverhalt – nämlich den Tod Mo- tung Libération druckte die CH-Karikaturen am Tag hammeds – und schützt die Gläubigen somit vor einer weitaus des Prozessbeginns erneut ab (vgl. anon./DW 2007). traurigeren ,Wahrheit‘: Ihr Prophet ist nicht mehr als Staub und Asche. 5 Übersetzung: „Dies ist keine Karikatur des 10

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Barbara Eder: Ein Prophet ist keine Pfeife

Bildunterschrift, die auf eine hybride Autor_in- Die zwei Gesichter des Propheten: nenschaft hinweist: „Schwartz, d´après Magritte“ Verbotene Bilder und vermeintliche (Abb. 2). Zeug_innen Der Vorwurf der Verletzung des islamischen Bilderverbots zählte zu den im Kontext des Kari- katurenstreits vielfach strapazierten Argumenten für ein Verbot von Mohammed-Karikaturen und damit auch zugunsten von Eingriffen in Presse- und Meinungsfreiheit. Obgleich ein solches historisch umstritten ist – seit dem 13. Jahrhundert existie- ren anthropomorphe Darstellungen Mohammeds – beriefen sich liberale Medienvertreter_innen und muslimische Organisationen gleichermaßen auf dieses Verbot, um Stellung gegen die Karikaturen in der Jyllands-Posten sowie infolgedessen auch gegen jene in CH zu beziehen. Nicht erwähnt wurde in die- sem Zusammenhang, wie oft religiöse Figuren in der islamischen und der orthodoxen Welt gleicher- maßen zum Gegenstand der politischen Satire wurden.6 Ebenso wenig debattiert wurde im Kontext des Karikaturenstreits über die Auslegungsvarianten des vermeintlichen Verbots: Strenggenommen un- tersagt das islamische Bilderverbot nicht einfach die Abbildung von Allah, Mohammed und allen anderen islamischen Propheten, sondern verbietet – nicht anders als in Tanach und Bibel – lediglich die Anbe- CH Abb. 2: 2006/712: 16 tung von Bildern derselben (vgl. Naef 2007: 118f.). CH zeigt in der Spezialausgabe Nummer 712 kein Schwartz’ gedruckte Reproduktion einer gezeich- einziges Bild des Propheten, das nicht als Karika- neten Pfeife mit Prophetenkopf suggeriert, dass der tur desselben erkennbar wäre – und frönt mit sei- Karikaturenstreit des Jahres 2005 nicht nur als Re- nen Bildern auch keinem fröhlichen Götzendienst. aktion auf ein politisches Problem verstanden werden In Kontrast zu den Karikaturen von Wolinski kann, sondern auch das Problem der Repräsenta- und Cabu, die den islamischen Religionsstifter als tion tangiert. Im ersten Teil dieses Textes werde ich Alltagshelden präsentieren, behielten es sich die Kari- zeigen, in welcher Weise CH das in diesem Zusam- katurist_innen der Jyllands-Posten vor, einen gewalt- menhang oftmals strapazierte Bilderverbot heraus- bereiten und moralisch verwerflichen Mohammed zu gefordert hat; ein weiterer Abschnitt ist der Politik porträtieren. des radikalen Atheismus des vermeintlichen „journal irresponsable“ (CH 2015/1178: Cover) gewidmet. Darin wird unter Rückgriff auf einige Karikaturen, die Gott, Mohammed und Jahwe als ineinander 6 Im Speziellen ist an dieser Stelle das ursprünglich in verklüngelte Verbrecherbande darstellen, gezeigt, drei Sprachen – aserbaidjanisch, persisch, georgisch und später dass die von CH artikulierte Kritik am Eigenen – im auch russisch – herausgegebene Satiremagazin Molla Nasreddin zu erwähnen, das 1906-1931 von unterschiedlichen Städten Sinne einer Kritik an Katholizismus, Protestantis- des Kaukasus aus herausgegeben wurde. Das achtseitige Peri- mus, Judentum und allen anderen Spielarten des Re- odikum adressierte sowohl die illiteraten Massen als auch die ligiösen – in indirekter Weise auch mit einer Ethik lokalen Oberschichten und argumentierte noch vor der Sow- des Anderen verbunden ist. jetisierung des Kaukasus für Säkularismus, Frauenrechte und eine Öffnung gegenüber dem Westen. Nähere Informationen zu den durch die Künstler_innen-Gruppe Slavs and Tatars neu aufgelegten Karikaturen des Molla Nasreddin sind online Propheten“. einsehbar unter Slavs/Tartars 2010. 11

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Lediglich zwei der dänischen Karikaturen befassen Der Kommentartext auf dem Cover – „débordé par sich mit originellen Neuformulierungen des ver- les integristes“7 – führt Mohammeds Gemütszustand meintlichen Darstellungsverbots des Propheten. auf eine Indienstnahme durch Fundamentalist_in- So etwa wird in einem der dänischen Cartoons ein nen zurück, gegen die dieser sich dem Sprechblasen- 8 Schüler namens Mohammed gezeigt, der vor einer text zufolge auch zur Wehr setzt (Abb. 3). Tafel mit dem persischen Schriftzug „Die Redak- Cabus’ und Wolinskis Karikaturen sind die einzi- tion von Jyllands-Posten ist eine Bande reaktionärer gen Darstellungen in CH 2006/712, die nicht mithil- Provokateure“ steht (anon./AINA 2006: o.P.). Eine fe eines pars pro toto oder einer anderen Form der andere Karikatur deutet das Antlitz des Propheten Ersetzung des Bildes Mohammeds arbeiten. Letztere durch die immer dichter werden Überlagerungen Strategie sorgt nicht einfach nur für einen pro- des Schriftzuges „Je ne dois pas dessiner Mahomet“ – blemlosen Umgang mit dem Bilderverbot – im Sinne zu Deutsch: „Ich darf Mohammed nicht zeichnen“ – einer „couverture“9 (CH 2006/712: 16) oder eines lediglich an. Ent-Gehens: So etwa entwirft Honoré in einem im U-Comix-Stil gezeichneten Cartoon ein wahrhaft furchtloses Bild Mohammeds.10 Im Rahmen seiner „portraits chinois“11 malt er sich aus, wie die- ser aussehen würde, wenn er ein Tier, eine Frucht, eine Pflanze, ein Gebrauchsgegenstand, ein Beruf, ein Objekt oder ein Gemüse wäre (Abb. 4). Tignous hingegen fragt sich, ob der Prophet ge- zeigt werden dürfte, wenn er dieselbe Gestalt hätte wie eine Frau in Burka, wobei in seinem Bild nur letztere zu sehen ist (CH 2006/712: 8). In einem anderen Cartoon erinnert dieser einen über die dänische Flagge laufenden Gläubigen daran, dass es sich bei der von ihm betretenen Unterlage auch um einen Gebetsteppich handeln könnte und beschwert sich darüber, dass das Bilderverbot scheinbar nicht für Mohammeds Mutter gelte (Abb. 5).

7 Übersetzung: „Von Fundamentalist_innen über- wältigt“. 8 Original: „C’est dur d’être aimé CH par des cons ...“ [„Es ist hart, von Idioten Abb. 3: 2006/712: Cover geliebt zu werden ...“] (CH 2006/712: Cover). Obgleich in CH 712 das Bild eines im ethischen 9 Im Wort „couvertures“ schwingt nach wie vor die Be- deutung von „Deckerinnerung“ mit; vgl. dazu die Ausführun- Sinne guten und zudem selbstironischen Propheten gen in Anmerkung 5. entworfen wurde, sorgten die Karikaturen für Auf- 10 Dazu heißt es im Original: „Comment représenter le regung. Genau genommen sind es jedoch nur zwei prophète sans choquer“ (CH 2006/712: 8), Übersetzung: „Wie Gesichter des Propheten, die darin zu sehen sind. man den Propheten darstellt, ohne zu schockieren“ . Sie lassen auf eine affektive Bipolarität Moham- 11 Ein „portraits chinois“, übersetzbar mit „genaues Por- meds schließen, der sich auf Seite 2 bereits über die trät“, erlaubt es einem/einer Interviewer_in, anhand der Ant- Karikaturen seiner selbst amüsiert zeigt, während worten seines/ihres Gegenübers Informationen über dessen er auf dem Titelbild noch aus Verzweiflung über Persönlichkeit zu bekommen. Mit der Wahl dieses Titels deu- den Beifall von falschen Seiten in Tränen ausbricht. tet Honoré an, dass seine Darstellung mehr Rückschlüsse auf ihn selbst als auf den darzustellenden Sachverhalt zulässt. 12

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Abb. 4: CH 2006/712: 8 Abb. 5: CH 2006/712: 11

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Über einer Zeichnung einer bombenbestückten Ma- Einer Zeichnung von Luz zufolge kann Moham- trone leuchtet wiederum das „wahre Gesicht“12 des med sogar in einem Schwall von Erbrochenem Propheten: Es ist ein gelber Smiley, der von einem auftauchen. In seinem Strip mit dem Titel „Soyons weiteren Gläubigen mit den Worten „trop sym- syncrétiquement corrects“14 führen die Pfeile, die pathique“13 kommentiert wird. die Leser_innen dazu auffordern, die Bilder in un- terschiedlicher Reihenfolge zu kombinieren, eben- so in die Irre wie die auf der Bildebene dargestell- ten Instruktionen zur Wahrung religiöser Gefühle. Am Ende des didaktischen Parcours wird der Pro- phet dort lokalisiert, wo seine Präsenz bislang am Wenigsten vermutet wurde. Luz lässt seinen verzweifelten Protagonisten vor den Augen eines buddhistischen Mönchs erbrechen, der von Glück sprechen kann, dass sein Mageninhalt lediglich für eine Erscheinung Gottes gehalten wird; andernfalls wäre das Chaos bereits ausgebrochen, das im letzten Bild durch ein Feuerwehrauto vor ei- nem brennenden Haus angedeutet wird (Abb. 7). Neben jenen Darstellungen, die durch allzu de- monstratives Zeigen das Offensichtlichste verber- gen, werden mit einigen Cartoons auch Vermu- tungen darüber angestellt, warum der Prophet sich selbst verborgen hält. Luz kann dies nur bedauern, wenn er seinen Protagonisten sagen lässt, dass Mo- hammed im Fall seiner spontanen Wiederkehr nicht einmal auf der Straße erkannt werden würde (CH Abb. 6: CH 2006/712: 6 2006/712: 16). Er vermutet, dass der Prophet auf- grund eines Lottogewinns anonym bleiben wolle Mit Ausnahme der zu Beginn des Heftes zu sehenden (ebd.) und erkennt zugleich die Vorteile dieser Stra- Karikaturen wird der islamische Prophet gleichsam tegie. In einem weiteren Cartoon von Luz ist Mo- zu einem shifting signifier: Der Versuch, diesen bild- hammed mit Handtasche über dem Kopf zu sehen, lich zu referenzieren, erweist sich als unmöglich. De- darüber ist der durch eine Sprechblase vervollstän- shalb kann – ähnlich dem Prinzip in Honorés „por- digte Kommentartext „Comment respecter l’image de traits chinois“ – der Signifikant „Prophet“ nebst einer Mahomet ... sans se casser la geule!“15 zu lesen. Honoré Gummiente, einem Smiley und einem Dosenöffner hingegen beschäftigt sich unter Rückgriff auf ein an- auch die Gestalt eines Firmenchefs annehmen. Ein deres Bild mit den fatalen Folgen einer unheimlichen künftiges Ereignis – die im Juni 2006 unter starkem Unsichtbarkeit (Abb. 8): In seinem Bild sitzt Hergés Druck des transnationalen Stahlkonzerns Arcelor Comic-Kolonialheld Tim auf einem brennenden stattgefundene Fusion mit Mittal – wurde in der- Stuhl, was starke Assoziationen an die Zeit der selben Ausgabe unter Rückgriff auf das dazumal ak- Inquisition hervorruft. Tim ist, während er ver- tuelle Ereignis kommentiert (Abb. 6). Tignous’ mit brennt, von vier Imamen umgeben, die sich fragen, dem Wort „Psychose“ übertitelte Zeichnung spielt ob hier tatsächlich eine Karikatur des Propheten auf die im Zuge des Karikaturenstreits forcierte Feuer fängt.16 Paranoia gegenüber allen möglichen Darstellungen des Propheten an, dessen Bildnis seither selbst den profansten Dingen innezuwohnen scheint. 14 Übersetzung: „Lassen Sie uns synkretistisch korrekt sein!“ (CH 2006/712: 8). 15 Übersetzung: „Wie das Bild Mohammeds respektie- 12 Original: „le vrai visage du prophète“ ren, wenn dieser seine Visage versteckt!“. (CH 2006/712: 11). 16 Original: „Vous êtes surs, que c’est la caricature du 13 Übersetzung: „zu freundlich“. prophète?“. 14

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Abb. 7: CH 2006/712: 8 Nicht anders als in Schwartz’ Magritte-Paraphrase, ist es auch hier kein Bild des Propheten, sondern ein innerhalb der Comicgeschichte fest etabliertes Sujet, das an seine Stelle tritt und dadurch auf die Bild- haftigkeit von Bildern verweist. In zwei weiteren Strips wird die vermeint- liche Evidenz des Propheten durch Augen- zeug_innen-Berichte herausgefordert. In „Le prophète est revenu!“17 nimmt Luz die Lehre von der Wiederkehr Mohammeds allzu wörtlich und lässt diesen in Gestalt einer Burka tragenden Trans*- Person reinkarnieren. Die am Flughafen auf die Ankunft des Propheten wartenden Taxifahrer – offensichtlich ein Schiit und ein Sunnit – spekulie- ren darüber, wie ein Kunde, von dem man sich kein Bild machen darf, in Wirklichkeit aussehen könnte. Einer der beiden wird im Verlauf des Cartoons zum Opfer seiner allzu blühenden Fantasie und glaubt Mohammeds Bart am Kinn eines Ziegenbocks erkennen zu können; während die transsexuelle Besitzer_in des Tiers im Vorüberfahren daran den- kt, wie gut es war, in Brasilien operiert worden zu CH Abb. 8: 2006/712: 16 sein, verprügelt der Schiit den Sunniten. Beide ha- ben umsonst auf einen Propheten gewartet, der die Gepäckkontrolle in islamischen Frauenkleidern un- erkannt passiert hat (Abb. 9).

17 Übersetzung: „Der Prophet ist zurück!“

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Abb. 9: CH 2006/712: 13 Abb. 10: CH 2006/712: 12

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Wenngleich die Darstellung menschlicher Verhält- Karikaturen aufgetretenen gewalttätigen Aus- nisse durch Rückgriff auf das Tierreich im Comic schreitungen per se auf die Gewaltbereitschaft von Tradition hat, schwingt in CHs letzterer Darstellung Angehörigen islamischer Kulturen, die weder die des Propheten viel an Spott mit; auch mit dieser Gleichheit zwischen Frauen und Männern akzep- wird das Bilderverbot jedoch nicht im eigentlichen tierten noch andere Religionen tolerierten, zurück- Sinne verletzt – es werden nur jene karikiert, die führte, wiesen Tariq Moodod und Erik Bleich dieses sich in ihrem Rigorismus darin übertreffen, mögli- Argument mit Verweis auf dessen klischeebehafteten che Verletzungen bereits im Vorfeld zu ahnden; an Charakter im Sinne von „essentializing, stereo- die Stelle des Propheten-Bildes ist wiederum ein an- typing, and branding the entire group as dangerous deres Bild getreten – so auch in Riss’ Cartoon „J’ai or inferior with the likelihood of stirring up hatred“ vu Mahomet“18. Darin wird das Bild Mohammeds (Modood et al. 2006: 21) zurück. Insbesondere die zum Gegenstand einer folgenreichen Verwechslung: atheistische Intelligenzia Europas habe infolge ihrer Jenes Bild, das sich der Protagonist von Riss’ Cartoon eigenen Distanz zur Religion übersehen, dass re- anlässlich einer Zeugenaussage auf einer Polizei- ligiös identifizierte Gruppen wie Jüd_innen und wache vom Religionsstifter gemacht hat, wird am Muslim_innen des besonderen Schutzes bedürften. Ende des Strips durch eine ,Realität‘ herausgefordert, Infolge ihres antiklerikalen Impetus verletzten die die einen ganz anderen Mann mit Bart zeigt. Nicht Karikaturen folglich nicht primär religiöse Gefühle, Mohammed, sondern Jesus ist es, dem der Augen- sondern marginalisierte Personengruppen, die als zeuge im letzten Bild begegnet (Abb. 10). religiös identifiziert werden, ohne dies zwangsläufig zu sein:

Karikatur, Immigration und die Ethik des Satirizing clericalism may have been emancipatory, Anderen: CH und die Bildpolitik des radikalen but vilifying the marginal and exhorting integra- Atheismus tion is a contradiction. For radical secularism – no less than aspects of the ,this is our country, you Während die Bilder selbst – und damit ihre immer Muslims will have to put up with our ways‘ right- nur im Verhältnis zu ihren Betrachter_innen aus- wing nationalism – is an obstacle to Muslims be- lotbaren Interpretationen – im weiteren Verlauf des coming included in Europe and coming to have a Karikaturenstreits zunehmend in den Hintergrund sense of being part of Europe (Modood 2006: 6). traten, spaltete sich im Zuge der Debatten über sie Eine stärker an den gattungsspezifischen Merk- die öffentliche Meinung. Während die Befürwort- malen und ihrem möglichen, weil prinzipiell poly- er_innen der dänischen Karikaturen alsbald mit semen Ausdrucksgehalt orientierte Interpretation dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert wurden, der Karikaturen hätte vielleicht ein differenzier- übersahen alljene, die in diesen ein Instrument zur teres Spektrum an Lesarten hervorbringen kön- Zuspitzung einer vermeintlichen ,Okzident-Orient’- nen. So etwa entdeckte auch Sigmund Freud erst im Dichotomie erkannt haben wollten, dass die Zuge seiner Witz-Analyse jene Spezifika, die ihn zu Forderung nach einem Verbot blasphemischer einer späteren Typisierung veranlassen sollten. Er Bilder auch mit dem Zugeständnis an Religiositäten unterscheidet zwischen dem „zynischen (kritischen, aller Art einhergehen kann.19 blasphemischen) Witz“, dem „entblößenden oder Beispielgebend für solche Positionen innerhalb obszönen“, dem „aggressiven (feindseligen)“ und der Debatte waren auch die Kommentare in der von dem „harmlosen“ Witz (Freud 1985: 105f.) und be- Tariq Modood, Randall Hansen, Erik Bleich, Bren- stimmt anschließend die jeweilige Reichweite dessel- dan O’Leary und Joseph H. Carens herausgegebenen ben. Das Gelingen eines ,jüdischen‘ Witzes besteht Fachzeitschrift International Migration aus dem Jahr Freud zufolge gerade darin, dass dieser sowohl von 2006. Während der irische Terrorismusforscher Jüd_innen geschaffen als auch innerhalb eines Krei- Brendan O’Leary (vgl. 2006: 24f.) die infolge der ses jüdischer Adressat_innen kommuniziert werden muss, um nicht den Charakter „brutale[r] Schwän- 18 Übersetzung: „Ich habe Mohammed gesehen“. ke“ (ebd.: 101) anzunehmen. Er wird erst dann zu 19 Ein Überblick zur gesamten Debatte findet sich exem- einem gegen Jüd_innen – oder in diesem Fall gegen plarisch in Sinram 2015.

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Barbara Eder: Ein Prophet ist keine Pfeife muslimisch identifizierte Menschen – gerichteten, macht – und damit auch das eingelöst, was Freud die wenn die zugunsten der Selbstdefinition des „schwierig herzustellende subjektive Bedingung der ,Eigenen’ eingeführte Abgrenzung pervertiert wird: Witzarbeit“ (ebd.: 101f., Herv. B.E.) nannte. Den Vorwurf, sich ausschließlich an fremden Fehlern zu Die Witze, die von Fremden über Juden gemacht erbauen, kann man einem Magazin, das sich in der werden, sind zu allermeist brutale Schwänke, in nach den Anschlägen erschienenen Ausgabe Num- denen der Witz durch die Tatsache erspart wird, mer 1178 vom 14. Januar 2015 selbst als ,verant- daß der Jude den Fremden als komische Figur gilt. wortungslos‘ bezeichnet hat, allein schon aus diesem Auch die Judenwitze, die von Juden herrühren, geb- Grund nicht machen. Mit den zahlreichen blasphe- en dies zu, aber sie kennen ihre wirklichen Fehler mischen Karikaturen, die in CH 712 zu finden sind, wie deren Zusammenhang mit ihren Vorzügen, und plädierten die CH-Zeichner_innen für eine radi- der Anteil der eigenen Person an dem zu Tadelnden kale Politik des Atheismus. Darin findet sich etwa schafft die sonst schwierig herzustellende subjektive eine Karikatur von Riss, die die irdischen Vertreter Bedingung der Witzarbeit (ebd.: 101f., Herv. B.E.). von Gott, Mohammed und Jahwe gleichermaßen Infolge der durch das Internet gewährleisteten zu Kriegsverbrechern – „3 fauteurs de guerres“ – Möglichkeit zur globalen Übertragung erreich- erklärt (CH 2006/712: 5). In einem Cartoon von ten dazumal auch die gezeichneten Witze der Cabu bilden dieselben Verdächtigen – nicht anders Jyllands-Posten einen Kreis an Adressat_innen, für als in der politischen Realität des Jahres 2006, die den diese ursprünglich nicht vorgesehen waren. Die eine Verteidigung der Karikaturen-Gegner_innen von Freud insbesondere in Bezug auf den jüdischen durch den Papst vorsah – eine Allianz zum Schutz Witz monierte Spezifität des Adressant_innen- des Propheten (Abb. 11). kreises – Sender_in und Empfänger_in müssen über die exklusive Zugehörigkeit zum selben Kul- turkreis verfügen – wurde dadurch überschritten; infolgedessen lässt sich der Vorwurf des Rassis- mus in Bezug auf die dänischen Karikaturen nicht einfach entkräften. Eine der Karikaturen aus der Jyllands-Posten zeigt Mohammed etwa mit einer Bombe als Turban, an der eine Zündschnur brennt; eine andere platziert diesen als Türsteher vorm Ein- gang zum Paradies, um etwaige Gefolgsmänner mit den Worten „Stopp, die Jungfrauen sind uns aus- gegangen“ von dem Selbstmordattentat abzuhalten. Auf Seite 4 der CH-Ausgabe Nummer 712 wird letz- tere Karikatur jedoch zum Zitat einer weiteren Kari- katur. In einem Cartoon von Tignous hält ein Mann mit Sprengstoffgürtel das Bild des bombenbestück- ten Propheten in der Hand und behauptet, dass man nichts gesagt hätte, wenn die Bombe am richtigen Ort angebracht worden wäre. Freud zufolge deutete ein Lachen über eine Kari- katur wie diese auf eine feindlich-aggressive Haltung CH der Betrachter_innen gegenüber jenen ethnisch Abb. 11: 2006/712: 16 markierten Anderen hin, die nicht Bestandteil der – Charb hingegen lässt Mohammed sich bei Gott in diesem Fall europäischen – In-Group sind. Damit darüber beschweren, in effigie schrecklich entstellt behaupteten die Lachenden ihre Überlegenheit über worden zu sein, woraufhin dieser mit Verweis auf die Verlachten. Im Gegensatz zur Jyllands-Posten die Verunstaltung seiner eigenen Fresse – „la gueule“ hat CH sich jedoch nicht nur über die Götter der – antwortet ( ). Anderen, sondern auch über die eigenen lustig ge- Abb. 12

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Abb. 12: CH 2006/712: 5 Abb. 13: CH 2006/712: 16 Das traditionell auch im Christentum verankerte Gefolgt ist diese Aussage von einer des christlichen Bilderverbot wird von CH noch an anderer Stelle Gottes, der seinem Kollegen erklärt, warum die untergraben: Auf Seite 16 lässt Charb Jesus höchst- Menschen an die Existenz von Göttern glauben.22 persönlich die Frage beantworten, wie man sich Er beruft sich dabei auf die Angst vor dem Tod und über ihn lustig machen soll. Mit erhobenem Zeige- dem Nichts, das danach kommt.23 Der muslimische finger und gepierctem Nippel merkt dieser an, dass Gott outet sich alsbald als ungläubig und erläutert, der Spaß ein anderer wäre – je nachdem, ob man ihn warum die Religion ein profitables Geschäftsmodell 24 als Christen oder als Juden betrachtete (Abb. 13). ist. Im vierten Bild des Comics machen sich alle drei Einer der reflektiertesten und in ihrer Aussage Götter über alljene lustig, die sie anbeten.25 Konsens zugleich radikalsten Karikaturen in CH 2006/712 herrscht zwischen ihnen auch im fünften und letz- stammt von Wolinski. Mit dieser zeigt der Karika- ten Bild: „Warum empört sein, wenn Karikatur- turist, dass man keine Bilder von höchsten Wesen isten sich über uns lustig machen? Wir sind doch braucht und ihnen dennoch ergeben sein kann. In seit Beginn der Zeitrechnung Karikaturen“26, stellt einem aus fünf querformatigen Panels bestehen- der jüdische Gott fest. Der christliche Gott pflichtet dem Comic, der mit „Caricatures“ überschrieben ihm bei und der muslimische ergänzt abschließend: ist, wundern sich die durch schwarz schraffierte Flächen angedeuteten höchsten Wesen des Islam, des Christentums und des Judentums gleicher- maßen darüber, dass ihnen eine so große Vereh- moins“. rung zuteil wird ( ). Sie sehen allesamt 22 Original: „Les humains ont besoin de croire en notre Abb. 14 20 gleich aus und denken auch austauschbar ähnlich. existence. Nous sommes dans l’air de tous les temps“. Als omnipräsente Schatten werden sie zu Markern 23 Original: „L’homme veut croire en quelque chose qui einer paradoxen Präsenz. Im ersten Bild von Wo- le dépasse. Mais n’être rien après la mort, ça le dépasse“. linskis Cartoon gibt der jüdische Gott den Betrach- 24 Original: „Nous, les dieux, nous ne croyons en per- ter_innen zu verstehen, dass es die Menschen war- sonne“. en, die die ewig stummen Götter erfunden haben.21 25 Original: „Ils sont des milliards à prier en remuant la tete, a anonner des textes sacrés a genoux, prosternés, ils psalm- 20 Original: „L’homme ne comprendra jamais que nous odient, ils invoquent, ils nous recommandent leurs âmes“. sommes le même et le seul dieu“. 26 Original: „Pourquoi s’indigner lorsque les caricatur- 21 Original: „L’homme a inventé des dieux éternels et istes se moquent de nous? Puisque nous sommes depuis la nuit muets seuls nos prophetes ouvrent leurs gueules de faux té des temps de caricatures“. 19

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„Die Menschen sind ernst, aber wir, die Götter, wir sind Karikaturen.“27 Gott ist tot – soviel schein- en auch Wolinskis Götter zu wissen. Dass mit der Widerlegung ihrer Existenz die Geschichte der Re- ligionskritik von Feuerbach bis Freud in einfachen Worten rezitiert wird, zeigt wiederum, wie hoch das Niveau der Kritik in CH 2006/712 ist. In Wo- linskis Cartoon wird am Ende selbst die Existenz Nietzsches negiert, mit dessen Tod scheinbar auch jene Re-Naissance der Religionen einsetzt, die der- zeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bere- ichen zu beobachten ist.28

Fazit CHs Reaktion auf den Karikaturenstreit des Jahres 2005 besteht im unverschämt blasphemischen Karik- ieren aller erdenklichen höchsten Wesen. Dabei unterwerfen sich die Zeichner_innen in einer Art und Weise dem islamischen Bilderverbot, die einer subversiven Affirmation gleichkommt. Muslimische Verbände, die dem französischen Satiremagazin genau dies zu Last gelegt haben, irrten jedoch, wenn sie in den Karikaturen eine rassistische Verächt- lichmachung der Anderen Europas sahen. So etwa kritisiert CH in Ausgabe 712 auch die französische Kolonialpolitik und das mit ihr bis heute in Verbind- ung stehende Regime der Immigration. In Honorés holzschnittartigem Cartoon auf Seite 14 erbricht der schwarze Protagonist jene Banane, die man ihm in Frankreich buchstäblich in den Mund gelegt hat. Übertitelt ist das dazugehörige Bild mit den Worten 29 „Banania abandonne le slogan ‚y a bon’“ (Abb. 15).

27 Original: „Les hommes sont serieux, mais nous, les dieux, nous sommes des caricatures“. 28 Diese Aussage kann auch auf ein beliebtes Toilet- ten-Graffiti bezogen werden: „Nietzsche ist tot. Gott“. 29 Die Übersetzung lautet sinngemäß etwa: „Bana- nia wendet sich ab vom Slogan: ,Es ist gut‘“, wobei die in und durch diesen Satz evozierte Anspielung auf mehr als die Geschichte des französischen Kolonialismus verweist. Die Zeichnung erweckt ebenso Anklänge an den bis heute von der österreichischen Julius Meinl AG als Firmenlogo verwende- ten „Meinl-Mohr“; wie sehr ,Banania‘ in Frankreich zum ras- sistischen Sujet geworden ist, zeigt auch ein Zitat von Frantz Fanon: „Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen Merkmale – und Wörter zerris- sen mir das Trommelfell: Menschenfresserei, geistige Zurück- Abb. 14: CH 2006/712: 10 gebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe, und vor allem, ja vor allem: ,Y a bon banania‘“ (Fanon 1985: 81).

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Ob man die in der CH-Spezialausgabe vom 8. Feb- ruar 2006 veröffentlichten Karikaturen als ras- sistisch bezeichnen mag, hängt stark vom jeweiligen Blickwinkel der Betrachter_innen und der daraus resultierenden Perspektive – damit also wiederum von Freuds „subjektive[r] Bedingung der Witzarbeit“ (Freud 1985: 101f., Herv. B.E.) – ab. Die Behaup- tung, dass CH mit den Göttern auch Menschen aus muslimischen Herkunftsländern beleidigt hätte, wäre indes vermessen. In Frankreich und auch an- derswo gab es kaum Zeitschriften, die Atheist_innen aus der muslimischen Welt im Zusammenhang mit dem Karikaturenstreit zur Sprache kommen ließen. Auf Seite 2 der CH-Spezialausgabe wurde jedoch ein Text mit dem Titel „Pour la liberté d’expres- sion“30 veröffentlicht, der in Stellvertretung für die „Association du Manifeste des libertés“ durch den marokkanisch-französischen Intellektuellen Tewfik Allal unterzeichnet wurde.31 Verfasst wurde dieses Manifest von Menschen aus muslimischen Her- Abb. 15: CH 2006/712: 14 kunftsländern, die sich auch dagegen zur Wehr setzen, als religiös identifiziert zu werden. Sie fordern Die vermeintliche Toleranz gegenüber schwarzen in ihrem Text zur weltweiten Solidarität mit Atheist_ Propheten wird in einer Karikatur von Tignous zum innen in und außerhalb von islamischen Ländern auf Thema gemacht. Bereits an anderer Stelle wurde und insistieren abseits von paternalistischen Inter- das auch in diesem Cartoon aus christlichen, musli- ventionen, im Rahmen derer andere für sie sprächen, mischen und jüdischen Stellvertreter_innen Gottes auf ihrem Recht, europäisch zu leben und zu denk- bestehende Triumvirat als Verbrecherbande dar- en. Umsäumt ist das Manifest von den zwölf Kari- gestellt, die den schwarzen Jesus nach seinen Papie- katuren der Jyllands-Posten. Daneben befindet sich ren fragt (Abb. 16). ein von Wolinski gezeichnetes Bild Mohammeds, der beim Anblick seiner eigenen Bilder zu lachen beginnt (Abb. 17). Ein ebenso leidenschaftliches Lachen wird auch alljene Betrachter_innen der CH-Cartoon ergreifen, die immer schon gewusst ha- ben, dass die Bilder von Pfeifen und Propheten nur in Ausnahmefällen identisch sind: „Ceci n’est pas une caricature du prophète“ („Schwartz, d´après Mag- ritte“) (CH 2006/712: 16).

30 Übersetzung: „Für die Meinungsfreiheit“. 31 Die „Association du Manifeste des libertés“ ist eine Vereinigung von Menschen aus muslimischen Herkunfts- ländern, die sich für Meinungsfreiheit und gegen islamischen Abb. 16: CH 2006/712: 4 Fundamentalismus einsetzt. 21

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Barbara Eder: Ein Prophet ist keine Pfeife

Quellenverzeichnis

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Barbara Eder: Ein Prophet ist keine Pfeife

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache: Charlie Hebdo zeichnet und schreibt die Attentate des 7. Januars Die Attentate vom Januar 2015 stellen einen ebenso ent- setzlichen wie entscheidenden Einschnitt in der Geschichte von Charlie Hebdo dar. Sie gehen mit Trauma, Verlust und gleichzeitig drastisch erhöhter medialer Aufmerksam- keit einher: einer verstärkten globalen Rezeption, die von Solidarisierung bis zu Verurteilung reicht. Die Zeitschrift publiziert nach dem 7. Januar 2015 kontinuierlich weiter, und vollzieht den Reflexionsprozess zu den Gewalttaten in ihren Texten und Karikaturen nach. Der folgende Ar- tikel versucht nachzuzeichnen, wie die Gewalttaten und ihre Folgen in Charlie Hebdo während des Jahres 2015 besprochen werden; wie über Texte und Karikaturen Trauerarbeit geleistet, in diesem Kontext politische und gesellschaftliche Kritik verübt, und wie über Rezeption und ästhetische wie politische Möglichkeiten der Kari- katur reflektiert wird. Ausgehend von dieser Analyse lässt sich auch eine ästhetisch-künstlerische wie politische Selbstdefinition der Zeitschrift skizzieren, die sich sowohl auf die Tradition und Geschichte der Zeitschrift rück- CH bezieht als auch ständig neu verhandelt wird – und die Abb. 1: 2015/1178: 9 den Leser_innen eine Position mit großer Verantwortung zuschreibt. On avait l’impression que chacun d’entre eux sortait d’un vieux numéro de ‚Charlie Hebdo‘. On les aurait bien échangés contre une p’tite pépée dessinée par Wolinski; [Man hatte den Eindruck, dass jeder von ihnen Une famille de clowns décimée, dix de einer alten ‚Charlie Hebdo‘-Ausgabe entsprungen retrouvés; war. Wir hätten sie gerne gegen eine kleine von [Eine dezimierte Clownsfamilie, zehn haben wir Wolinski gezeichnete Puppe ausgetauscht] (ebd.). wiedergefunden] (CH 2015/1178: 9).1 Unter dem Übertitel „La contre-manif lepéniste“ Unter diesem Übertitel sieht man in der Karika- [„Die lepenistische Gegendemo“] lässt Schwartz tur von Catherine2 eine Menschengruppe, in der Figuren, die Jean-Marie Le Pen und Marine Le keine Redaktionsmitglieder der Zeitschrift, aber Pen deutlich ähneln, mit Bannern marschieren, auf dafür einige französische Politiker erkennbar sind, denen der Spruch „“ bereits defor- zumindest François Hollande und Nicolas Sarkozy miert ist zu „Je suis ravie“ [„Ich bin begeistert“], „Je ( ). Die Karikatur ist Teil einer Doppelseite Abb. 1 suis raciste“ [„Ich bin rassistisch“], und „Je suis Char- der Ausgabe 1178, der ersten Ausgabe, die nach den lie Martel“ (CH 2015/1178: 8). Letzteres bezieht sich Attentaten vom 7. Januar 2015 auf die Redaktion von auf eine tatsächliche Aussage von Jean-Marie Le Pen Charlie Hebdo erscheinen ist. An anderer Stelle schrei- (vgl. Provost 2015). ben Luz und Coco zu den zahlreich anwesenden Sowohl Catherine als auch Luz, Schwartz und Politiker_innen am Gedenkzug: Coco verbinden hier ihre Trauer über die Gescheh- 1 Die Übersetzungen stammen, falls nicht anders ange- nisse und den Verlust nicht nur mit Humor, sondern geben, immer von der Autorin. auch mit Politik. Sie drücken eine Ambivalenz aus, 2 Zeichner_innen und Autor_innen werden in der die den Umgang der Zeitschrift Charlie Hebdo mit der Folge immer mit den Pseudonymen angegeben, mit denen sie politischen und medialen Reaktion auf die Attentate auch ihre Zeichnungen signieren. des 7. Januars 2015 immer wieder bestimmen wird. 24

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CH Abb. 2: 2016/1224: 2-3 In Anlehnung an den Bibelspruch werden hier wie- derum Trauer, Verlust und Humor verbunden. Die Die erste Welle der Solidarität für CH ist groß, auch Überlebenden und die Verstorbenen werden noch Politiker_innen und andere Akteure, die bisher von einmal an einem Tisch versammelt, die Mission der CH stark kritisiert wurden, deklarieren ihre Unter- Zeitschrift, der Gewalt den Humor und die politische stützung. Weder kann dadurch jedoch der Schmerz Satire entgegenzusetzen, wird mit der Mission der signifikant gelindert werden, noch ist jede dieser Weltreligionen auf eine gleichberechtigte Ebene ge- Loyalitätsbekundungen erwünscht. Über die De- setzt. formierung des Spruchs „Je suis Charlie“ wird statt- Zwischen diesen beiden Ausgaben, vom 7. Jan- dessen bereits angekündigt, dass das Schlagwort und uar 2015 bis zum 6. Januar 2016, spannt sich also die dahinter stehende Empörung über die Attentate ein Bogen, dessen Nachzeichnung sich jedoch viel leicht von unterschiedlichen Interessensgruppen schwieriger gestaltet, als es auf den ersten Blick er- vereinnahmt, instrumentalisiert und deformiert scheint. Denn die Zeichner_innen von Charlie Hebdo werden können. lassen die Analysen, Interpretationen und Kritiken, Charlie Hebdo definiert sich in der Karikatur von die weltweit zu ihnen entstehen, nicht einfach über Catherine als Familie von Clowns. Catherine wird sich ergehen, sondern reagieren wiederum mit Tex- diese Selbstdefinition auch in der Ausgabe zum ten und Karikaturen, und treten damit in einen in- 6. Januar 2016 wieder aufgreifen, indem sie ein direkten Dialog mit den (akademischen) Leser_ letztes Abendmahl der Redaktion entwirft ( ). Abb. 2 innen. CH zu analysieren bedeutet damit immer auch, Im Zentrum des Bildes, das deutlich an Das Abend- sich mit dem Blick der Zeitschrift auf diese Analysen mahl von Leonardo Da Vinci (1495-1498) angelehnt zu konfrontieren, und ihn miteinzubeziehen. ist, sitzt eine Figur, die dem bei den Attentaten er- mordeten Redaktionschef Charb ausgesprochen ähnlich sieht. Übertitelt ist diese Zeichnung mit: (1) Zweiter Einstieg: Welche Geschichte journal irresponsable En vérité, je vous le dis: on va se marrer encore erzählen über das ? longtemps ensemble; Nach den Attentaten stieg nicht nur die Zahl der [In Wahrheit sage ich euch, wir werden noch Abonennt_innen der Zeitschrift sprunghaft an (vgl. lange gemeinsam lachen] (CH 2016/1224: 2-3). Bacqué 2015; 2016), CH geriet auch wesentlich stär- ker in den Fokus der (medialen) Aufmerksamkeit 25

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache als bisher, und nicht immer ist dieser Blick auf das mer wieder darauf hingewiesen wird, dass das Fehl- Satireblatt ein freundlicher. Kritische Rezeption schlagen der Rezeption vor allem aus einem Kontext- hat allerdings seit vielen Jahren die Geschichte der verlust resultiert – des Publikationskontexts einer- Zeitschrift entscheidend geprägt. Sie, beziehungs- seits, des historisch-kulturellen Kontexts der franzö- weise ihre Redaktionsmitglieder, wurden vor 2015 sischen Satirezeichnung andererseits (vgl. Charb mehrmals verklagt, 2011 wurde ein Brandanschlag 2015a: 41-54; CH 2015/1209: 2). Außerdem wird in auf das Büro verübt, und zum Zeitpunkt der Atten- der Zeitschrift auch mehrmals kritisch auf die „prise tate standen die Mitglieder der Redaktion teilweise au premier degré“ hingewiesen, das Wörtlichneh- bereits unter Polizeischutz. Über die sozialen Netzw- men satirischer (medial hybrider) Texte (z.B. in erke wurden auch vor den Attentaten ausgewählte CH 2015/1189:13; 2016/1225:5). CH macht sich Karikaturen über die gesamte Welt verbreitet, meh- über diese Form der Rezeption lustig (vgl. z.B. in rmals folgten daraufhin Wellen der Empörung, Kla- CH 2015/1212: 1) und verurteilt insbesondere die gen oder zumindest die Forderung, die Zeitschrift Medien, d.h. andere Journalist_innen, eine tiefer- solle verantwortungsvoller handeln (vgl. Charb gehende Rezeption bewusst zugunsten sensatio- 2015a: 55). neller Nachrichten über CH zu unterlassen (CH 2015/1209: 2, siehe unten). Tatsächlich ließen sich unterschiedliche Ge- schichten über die 46 Ausgaben erzählen, die zwischen dem 7. Januar 2015 und dem 6. Januar 2016 erschienen sind. Welche Geschichte man er- zählt und wie man CH darin bewertet, ist politisch nicht neutral. Will man Opfer, die Trauer verarbei- ten, oder Journalist_innen, die Kritik an Religionen, Politiker_innen, Medien ausüben, darstellen? Will man die Spannungen innerhalb der Redaktion an- sprechen, die möglicherweise der Grund für den Weggang von Luz und waren (vgl. anon./Der Standard 2015)? Oder aber will man auf jene Karikaturen den Schwerpunkt legen, die im Jahr 2015 weltweit Empörung hervorriefen, und analysieren, inwieweit der wiederholte Vorwurf des Rassismus, der Islamophobie und der Xenophobie, CH Abb. 3: 2015/1189: 8-9 der der Zeitschrift gemacht wird, gerechtfertigt ist? Allein die große Menge an Karikaturen, Comics Im Mai 2015 tituliert CH die Doppelseite in der Mitte und Texten machen eine Auswahl ebenso notwen- der Zeitschrift „Anti-Charlie de tous les pays, unis- dig wie verfälschend, was möglicherweise ein wei- sez-vous!“ [„Anti-Charlies aller Länder, vereinigt terer Grund für die wiederholten Vorwürfe ist: euch“] (CH 2015/1189: 8-9). In der Mitte der Seite Denn wie soll man den Verdacht des Rassismus in sieht man eine Zeichnung von Gros ( ): eine Abb. 3 jeder einzelnen der 2015 veröffentlichten Zeich- Bibliothek, in dem die Schlagworte zu Charlie Hebdo nungen ausschließen, noch dazu in einer Zeitschrift, nach Vorurteilen geordnet sind, wie zum Beispiel die aggressiv mit Stereotypen, Vorurteilen, Parodie „Le racisme dans Charlie Hebdo“ [„Der Rassismus in und Sarkasmus arbeitet? Soll man einzelne, mögli- Charlie Hebdo“] oder „L’islamophobie dans Charlie cherweise rassistische Zeichnungen in Kontrast zu Hebdo“ [„Die Islamophobie in Charlie Hebdo“]. Ein der Menge an Karikaturen stellen, die sich gegen Mann mit Brille sitzt ruhig an einem Tisch, auf dem identitäre Bewegungen richten? Oder sollte man Bücher aufgestapelt sind, vertieft in das Studium. diesen Diskurs vollkommen ausklammern, mit dem Auffallend ist, dass in CH und auch im Lettre aux Argument, der Vorwurf des Rassismus und der escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racistes3 im- racistes (Charb 2015a), der ins Deutsche als „Brief an die Heu- 3 Die Abkürzung Lettre bezieht sich im Folgenden chler und wie sie den Rassisten in die Hände spielen“ übersetzt immer auf Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des wurde (Charb 2015b). 26

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Islamophobie habe nichts den Ereignissen des 7. Es wird zunächst (2) auf die erste Ausgabe nach Januars und deren Aufarbeitung durch CH zu tun? dem 7. Januar 2015 eingegangen, in der der Denn impliziert möglicherweise bereits das Be- Diskurs der Zeitschrift über das Geschehen einsetzt. mühen, den Vorwurf des Rassismus im Kontext der Der Artikel wird sich im darauffolgenden Kapitel Attentate zu entkräften, ein „Je suis Charlie mais (3) mit dem Umgang CHs mit Trauer und Verlust …“ [„Ich bin Charlie, aber …“], d.h. das Zuschreiben beschäftigen. Es wird die Reaktionen der Zeitschrift einer Mitschuld an die Opfer? Der Diskurs über CH auf Angriffe und Solidaritätsbekundungen thema- und eventuelle #jenesuispascharlie-Positionierungen tisiert werden (4), und anhand einer Stellungnahme erinnern nicht zufällig an gesellschaftliche Diskurse zu einer polemisierten Zeichnung der Diskurs der zu sexuellen Übergriffen: Die Frage, ob wir auch in Zeitschrift zu Rezeption besprochen werden (5). Im der Meinungsfreiheit in eine Rocklängendiskussion sechsten Abschnitt wird auf die Reaktionen auf die abrutschen – es sei zwar zu verurteilen, was passiert Attentate des Novembers 2015 eingegangen werden ist, aber CH hätte nicht provozieren sollen – kann (6), da hier ein starker Rückbezug auf die Attentate nicht ohne weiteres vom Tisch gekehrt werden. des 7. Januars erfolgt. Abschließend wird die Gedenk- In jedem Fall wird die Analyse problematisch blei- ausgabe vom 6. Januar 2016 thematisiert (7) und der ben, und den eigenen ideologischen Hintergrund der Versuch einer Konklusion (8) unternommen. Leser_innen mindestens ebenso aufdecken wie den ideologischen Hintergrund der Satirezeitschrift. Die Tout est pardonné: Lösung kann nicht darin liegen, auf eine Objektivität (2) zu pochen, die man nicht einhalten kann. Stattdessen Die Ausgabe der Überlebenden muss man sich möglicherweise eingestehen, dass der kulturelle sowie historisch-politische Publikations- kontext der Zeitschrift die Rezeption erschweren, und dass die Auswahl einzelner Karikaturen, die für das gesamte Jahr 2015 repräsentativ stehen sollen, ebenso problematisch ist, wie das nebensächliche Erwähnen vieler Zeichnungen, ohne sie genauer zu analysieren. Man muss sich allerdings vor allem der Tatsache stellen, dass die Ereignisse des 7. Januars nicht nur die Redaktionsmitglieder der Zeitschrift, sondern unzählige Menschen weltweit traumatisiert und emotionalisiert haben. Insbesondere, wenn man selbst publiziert, bedeutet das Sprechen über die Zeitschrift, das Verurteilen oder Verteidigen ihres Agierens, immer auch einen impliziten Blick auf und ein Urteil über die eigene kreative Produktion. Angst und Wut werden das Denken, Schreiben und Urteilen begleiten – und beeinflussen. Eine neutrale Position einzunehmen scheint kaum möglich. Die CH Geschichte des 7. Januars ist nicht zuletzt eine Ges- Abb. 4: 2015/1178: Cover chichte über den Kontrollverlust über Rezeption. Die Titelseite der Ausgabe 1178 ist wohl eine Sollte man die Forderung an CH nach verantwor- der bekanntesten Titelseiten in der Geschichte tungsvollem Publizieren teilen, müsste man deshalb von CH. ( ). Der Hintergrund ist grün, dem dasselbe Verhalten vom Diskurs über CH erwarten. Abb. 4 Zeitschrift-Namen Charlie Hebdo wird „journal ir- Das zu erfüllen fällt schwer. responsable“ beigefügt. Unter der Überschrift Es bleibt nur zu betonen, dass die folgende Ge- „Tout est pardonné“ sieht man eine bärtige Figur schichte, die über ‚Charlie Hebdos 2015‘ erzählt wird, mit weißem Turban und weißem Gewand, die ein nur eine von vielen ist, und nicht (einmal) von den Schild hält. Auf diesem Schild steht: „Je suis Charlie“. Betroffenen selbst erzählt wird. 27

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache Diese Titelseite ist damit auch ein gutes Beispiel Auffällig ist, dass bereits das Editorial der Zeitschrift dafür, wie sehr Rezeption in Comic und Karikatur (Gérard Biard) mit dem Titel „Est-ce qu’il y aura im Allgemeinen und in der Zeitschrift CH im Be- encore des ‚Oui, mais‘?“ [„Wird es wieder ein ‚Ja, sonderen vom Verstehen impliziter Referenzen, von aber …‘ geben?“] von der Sorge bestimmt ist, man Kontextwissen und dem Wiedererkennen bekan- könne die Opfer direkt oder indirekt für die Gewalt- nter Zeichen abhängig ist. Der Zeichner Luz gibt uns taten verantwortlich machen (CH 2015/1178: 2-3). keine eindeutigen Hinweise, wen die Figur auf der Auf der Rückseite der Ausgabe wirft Babouse dem Titelseite darstellt. Für eine_n uninformierte_n Les- Zeichner Plantu vor, dieses „Je suis Charlie mais“ er_in mag die Zeichnung auch vollkommen unlesbar bereits auszusprechen (ebd.: 16). Die Solidaritäts- sein, die Figur nicht wiedererkennbar, der Spruch bekundungen werden relativiert, Catherine lässt auf dem Schild sinnlos, die Aussage „alles ist verge- auf derselben Seite unter dem Übertitel „Vague ben“ ohne Zusammenhang, ebenso wie der Hinweis, de solidarité pour Charlie. Et après?“ [„Welle der dass die Zeitschrift verantwortungslos sei. Solidarität für Charlie. Und danach?“] Figuren ande- Erst der Kontext der Attentate, das Wissen, dass re Zeitschriften (Équipe, Gala, Closer) lesen und auf die Zeitschrift in der Vergangenheit für die Dar- die Frage mit „Et après quoi?“ [„Und danach was?“] stellung des Propheten Mohammed kritisiert worden antworten. So groß die Begeisterung für CH war, so ist, die Kenntnis dieser Zeichnungen, die Kenntnis schnell ist sie vergessen. um bestimmte Stereotype von (historischen) kul- Die Doppelseite in der Mitte der Ausgabe wid- turellen Kleidungs- und Haartrachtkonventionen, met sich hauptsächlich dem Gedenkumzug des 11. all das lässt uns auf die Idee kommen, dass es sich Januars. Unter „Dimanche 11 janvier 2015“ wird bei der Figur um den bedeutendsten Propheten des verkündet: „Plus de monde pour ‚Charlie‘ que pour la handeln könnte. Ebenso lässt uns das Kontext- messe“ (ebd.: 8-9) [„Mehr Menschen für ‚Charlie‘ als wissen um die Bewegung des 11. Januars 2015 für die Messe“], um diese Überschrift werden meh- verstehen, dass es eine Solidaritätsbekundung be- rere Zeichnungen gruppiert, die Impressionen dieses deutet, wenn er dieses Schild hält, und dass sein Gedenkumzugs wiedergeben. Ambivalente Bezüge Weinen und sein trauriger Gesichtsausdruck sich auf auf politische Persönlichkeiten und Abgrenzung die Attentate des 7. Januars beziehen könnten, die er gegenüber der Partei Front National wurden offenbar nicht gutheißt. In diesem Zusammenhang bereits erwähnt. Weniger ambivalent ist der Blick scheint auch die Aussage „Alles ist vergeben“ auf den auf die große Masse der Teilnehmenden am Ge- ersten Blick auf die Gewalttaten bezogen und eine denkumzug, die lachend, klatschend und mit „Je suis Geste der Versöhnung zu sein. Charlie“-Banner in den Händen dargestellt werden Die Aussage, die Luz hier trifft, ist auf den zwei- (ebd.). Auch auf der Seite 7 lässt Coco mehrere Teil- ten Blick jedoch ambivalenter. Denn wieso be- nehmer_innen am Umzug deklarieren, warum sie zeichnet sich Charlie Hebdo eigentlich als verant- sich mit CH solidarisieren. Luz jedoch sieht zwar in wortungslose Zeitschrift? Wie oben erwähnt, wurde seiner „Premier bilan des jours d’après“ [„Erste Bi- der Zeitschrift in der Vergangenheit „irresponsabil- lanz der Tage danach“] die Demonstrant_innen, die ité“ vorgeworfen (Charb 2015: 74). Vor und auch „tous ensemble“ [„wir alle zusammen“] rufen und das nach den Gewalttaten nehmen sie diese Identität Banner „Je suis Charlie“ hochhalten, als Pluspunkt. freiwillig an, verrücken sie jedoch damit, klagen Dem stellt er allerdings gleich im nächsten Panel möglicherweise bereits diejenigen an, die CH der Demonstrant_innen gegenüber, deren „Je suis Char- Verantwortungslosigkeit beschuldigt haben. Die lie“ durch andere Banner verdeckt ist und die die Aussage „Tout est pardonné“ kann in diesem Kon- französische Nationalhymne singen – was für Luz text ebenso als „Alles ist erlaubt“ gelesen werden. Zu- offensichtlich bereits eine Abgrenzung notwendig mindest auf dem Papier muss alles erlaubt werden, macht (ebd.: 8). es muss Meinungsfreiheit herrschen. Die Ambivalenz der Redaktion gegenüber Medi- In der Ausgabe selbst werden posthum Karika- en und Solidaritätsbekundungen zeigt sich deutlich turen und Artikel von verstorbenen Redaktionsmit- in der Folgeausgabe 1179: Auf Seite 2-3 wird einer- gliedern publiziert. Die übrigen Artikel und Zeich- seits jenen gedankt, deren Solidaritätsbekundungen nungen werden von den Attentaten und das Thema gerne angenommen werden, andererseits erfolgt im des Terrorismus dominiert, von Erlebnisberichten Comicstrip „Ouf! Ils ne sont pas ‚Charlie‘“ [„Uff! Sie und Tributen an die Verstorbenen. sind nicht ‚Charlie‘“] von Coco wiederum eine Ab- 28

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache grenzung von bestimmten Persönlichkeiten (ebd.: Der Gegensatz zwischen der Aussage und den Bildern 3). Auf dem Titelblatt, von Luz gezeichnet, läuft ein baut eine Spannung auf, die auf einen psychischen kleiner Hund, der die Zeitschrift im Mund hält, vor Ausnahmezustand verweist, in dem die Worte für einer Menge wütender Menschen und (anthropo- das Gesehene noch fehlen und der Moment der Ver- morpher) Tiere fort, unter denen sich zumindest der drängung eine tatsächliche Beschäftigung noch ver- Papst Franziskus, Nicolas Sarkozy und ein Mikrofon hindert. Der Comic selbst geht dabei über den ersten des BFM erkennen lassen. Die Solidaritätswelle ist Schock bereits hinaus: Der Gegensatz zwischen Text vorbei, die Jagd ist wieder eröffnet. und Bild ist bewusst eingesetzt, um den Leser_innen ebendiesen psychischen Ausnahmezustand zu ver- mitteln. Es ist nur noch ein Verweis auf diesen, die (3) Umgang mit Trauma und Verlust Reflexion darüber hat bereits begonnen, die ersten Worte und Bilder sind gefunden, der Übergang in Nach dem 7. Januar entsteht in der Zeitschrift ein künstlerische Verarbeitung ist bereits passiert. Diskurs zum Umgang der Redaktionsmitglieder mit Catharsis beginnt mit starren Männchen und über- dem Geschehen. Bereits in der Überlebenden-Aus- großen Augen, das Buch endet ebenso mit einem gabe setzt in Karikaturen und Artikeln eine erste Blatt voller Männchen mit großen Augen. Trotz- fragmentierte Reflexion über die Ereignisse ein. dem hat sich etwas geändert, wie auch eine Figur Immer wieder wird in den darauf folgenden Aus- im Comic – die Freundin von Luz – bemerkt: Die gaben auf den 7. Januar referiert. Man weist auf die kleinen Männchen, bis auf eines, gehen. Sie stehen Verstorbenen hin, posthum veröffentlichte Bücher nicht mehr starr. Der Bewältigungsprozess schreitet werden beworben (CH 2015/1187: 8-9; 2015/1190: voran (vgl. Luz 2015: 124-125). 6; 2015/1213: 12; 2015/1214: 11); im Mai wendet Catharsis verdient ohne Zweifel eine intensi- sich die Redaktion an ihre Leser_innen, um sie über vere Beschäftigung, als es der Rahmen dieses den Genesungsprozess der Verletzten zu informie- Textes zulässt. An dieser Stelle ist vielleicht vor al- ren (CH 2015/1191: 3). Die Häufigkeit dieser Ver- lem interessant zu erwähnen, dass 2015 immer weise und Reflexionen verringert sich nach den wieder Ausschnitte des Buches in der Zeitschrift ersten Ausgaben 2015 deutlich und wird erst durch publiziert wurden, und das Buch selbst hier auch bestimmte Ereignisse – Kritik an CH, weitere terror- beworben wurde (CH 2015/1192: 12). Cathar- istische Attentate, die Gedenkausgabe – wiederbe- sis lässt dabei in seiner Erzählung der Ereignisse lebt. Lücken, die teilweise erst durch die Erlebnis- Luz, der die Zeitschrift noch 2015 verlassen wird, berichte in der Gedenkausgabe geschlossen werden. veröffentlicht nach den Attentaten mehrmals Kari- Beispielsweise behandeln die Seiten 15-18, 24-26 von katuren, in denen er Trauer und Traumaverarbei- Catharsis Erlebnisfragmente, die von Fabrice Nicoli- tung thematisiert. In der Ausgabe 1179 auf Seite 2 no in der Ausgabe 1224 (2-4) noch einmal zu einem veröffentlicht er den ersten dieser Comicstrips, die kohärenten Bericht zusammengefasst werden. er noch 2015 zu Catharsis zusammenfassen wird, ei- Philippe Lançon, dem bei den Attentaten durch nem Comic, der sich intensiv mit dem Prozess der eine Kugel der Unterkiefer zertrümmert wurde, Bewältigung befasst. Auch Catharsis wird mit diesem erzählt beginnend mit der Ausgabe 1179 in seiner Comicstrip beginnen, mit der Zeugenaussage vom 7. Kolumne „Le jacuzzi des ondes“ [„Der Whirlpool“] Januar: Luz wird gefragt, was er gesehen habe, und von seinem Genesungsprozess, dem Alltag im Kran- bittet sein Gegenüber um Stift und Papier. Man sieht kenhaus, Operationen, Physiotherapie und anderen eine zitternde Hand eine beginnende Rundung auf Behandlungen, die zur Rekonstruktion seines Kief- das Papier zeichnen, die zu einem Kreis wird, dann ers notwendig waren. Seine Kolumne bedeutet damit zwei Kreisen, dann zwei Augen. Dann erst fügt sich eine Konstante in der Beschäftigung der Zeitschrift langsam ein kleiner, verglichen mit den Augen viel mit den Attentaten. Die Texte haben meist einen zu kleiner Körper hinzu. Immer mehr Männchen bestimmten Fokus, der sich auch im Titel wider- mit überdimensionalen Augen werden auf das Papi- spiegelt – „Le yaourt“ [„Das Joghurt“] (2015/1181), er gekritzelt, bis die Figur schließlich antwortet: „À „Le fil du rasoir“ [„Messers Schneide“] (2015/1183), vrai dire, j’ai pas vu grand-chose“ [„Um ehrlich zu „Les cicatrices de vénus“ [„Die Narben der Venus“] sein, ich habe nicht viel gesehen“] (CH 2015/1179: (2015/1199). 2). 29

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Dieser Titel verbindet in einer den Artikel über- Auf der Rückseite der Ausgabe 1178 zeigt Catherine spannenden Metapher jeweils körperliche Wunden eine Figur, die klassischen Darstellungen des Todes oder Aspekte der Genesung mit Reflexionen über ähnlich sieht, die Zeitschrift (in einer mise-en-abîme Gefühle, über die Ereignisse oder über allgemeine ihrer selbst auf der Titelseite) in der Hand halten gesellschaftspolitische Themen. und lachen (Abb. 5): Er ruft, dass er die Zeitschrift Ein Beispiel dafür ist „La fuite“ („Fuite“ kann abonnieren werde. Auf den ersten Blick erscheint „die Flucht“, aber auch ein „Entweichen“ oder ein dies als humoristischer Blick auf die Tatsache, dass „Leck“ bedeuten; CH 2015/1208: 11): Es ist nun in gewisser Hinsicht der Tod triumphiert habe. Er bereits September 2015, Philippe Lançon schläft lacht lauthals, er ist glücklich – vielleicht weil ihm zum ersten Mal wieder in seiner alten Wohnung die Zeitschrift Arbeit verschafft hat. Sein Ausruf „Je und merkt, dass seine Heizung leckt. Während der m’abonne“ [„Ich nehme das Abonnement!“] kön- Klempner das winzige Loch abdichtet, wird Lançon nte auch darauf hinweisen, dass er vielleicht in Zu- unwohl, und er erkennt, dass er das Loch mit jen- kunft immer wieder die Redaktion der Zeitschrift em assoziiert, das nach der Rekonstruktion seines besuchen werde. Auf den zweiten Blick könnte sich Kiefers unterhalb der Lippe entstand und über das er der Tod mit seinem Ausruf natürlich auch auf die ebenfalls Flüssigkeit verloren hat. Wie das Leck im Seite von CH stellen. Rohr war das Leck seines Körpers kaum zu sehen, Sogar er findet ihre Karikaturen so lustig, dass er aber im Gegensatz zu dem Rohr war es nicht in ein die Zeitschrift weiter lesen wird – und sich vielleicht paar Stunden zu reparieren – es hat vielmehr drei wiederum noch mehr ihrer Zeichner_innen holen Operationen und drei Wochen aufgezwungenen wird. Die mise-en-abîme mit der auf sich selbst refe- Schweigens benötigt. Er assoziiert dieses Leck am rierenden Zeichnung verstärkt die implizite Bedro- Ende des Kapitels mit der Flüchtlingskrise, einer hung – sie deutet auf einen Kreislauf hin, auf eine Flucht diesmal von Menschen, um die sich nie- Wiederkehr des Gleichen. mand so professionell wie seine Chirurgin oder sein Auf diese Zeichnung werden allerdings wie- Klempner gekümmert habe und deren Ursachen derum andere Zeichnungen referieren, in denen niemand anzugehen gedenke. diverse Figuren, von denen man es möglicherweise Einen wichtigen Teil des Umgangs mit Trauer nicht erwarten würde, deklarieren, die Zeitschrift und Verlust in der Zeitschrift bildet, wie mögli- zu abonnieren. So halten unter anderem anonyme cherweise nicht anders zu erwarten, von Anfang an Leser_innen die Zeitschrift in Händen (2015/1191: (schwarzer) Humor. Die Beispiele dafür sind zahl- 15; 2016/1224: 15); CH wird anthropomorphisiert reich. Repräsentativ sollen hier zwei genauer be- als gute Partie dargestellt (2015/1179: 16); ein Sy- trachtet werden. rienkämpfer liest CH (2015/1212: 1); François Hol- lande bereut, CH unterstützt zu haben, jetzt, da er sie liest (2015/1207: 2); diverse TV-Serienheld_innen machen CH-Tribute (2016/1224: 30); Daech abon- niert CH erneut trotz Finanzproblemen (2016/1224: 32); Gott existiere nicht, da er CH nicht abonniere (2016/1224: 26-27); CH ist in den Banlieues om- nipräsent (2016/1226: 2-3). Einerseits ist dies im Kontext einer humoristischen Aufwertung und der Demonstration von Überlegenheit zu sehen. An- dererseits verweisen diese wiederholten Referenzen wiederum auf den für CH äußerst problematischen Kontrollverlust über Rezeption. Mitglieder des Daech mögen die Zeitschrift zwar nicht abonnieren, rezipieren dank einer aus dem Kontext gerissenen Verbreitung aber dennoch bestimmte Karikaturen. Die Karikatur des personifizierten Todes schwankt damit zwischen einer Deklaration von Stärke und Abb. 5: CH 2015/1178: 16 Schwäche, zwischen einer Aufwertung der eigenen 30

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Arbeit und einer Offenlegung einer marginalisierten [Ah jaaa. Gut, Sie zeichnen wirklich scheiße. und äußerst prekären Situation. Auf derselben Seite Sie werden wohl nicht so bald in die Redaktion der Gedenkausgabe werden andere Karikaturen ge- von ‚Charlie Hebdo‘ kommen, da kann ich Sie zeigt, die eine ähnliche Botschaft vermitteln: Die Be- beruhigen] (CH 2015/1178: 11). zeichnung „journal dangereux“ wird wiederum von Catherines Comic ist damit ein Tribut an eine der Catherine mit einem kleinen Clown juxtaposiert. Verstorbenen, der einerseits deren Arbeit vorstellt Riss vergleicht die harte Arbeit der Zeichner_innen und ehrt – das psychoanalytische Zerlegen von mit der einfachen Arbeit der Terrorist_innen und Aussagen. Andererseits macht sich der Comic über bezeichnet damit die Terrorismus als einen Beruf sie auch lustig, da ihre Analyse in diesem Kontext „de feignant et de branleur“ [„von Faulenzern und absurd ist, ihre Suche nach dem Doppelsinn hier Nichtsnutzen“]. keinen Sinn ergibt. Mindestens ebenso wird der Attentäter lächer- lich gemacht. Seine Abwertung erfolgt insbesonde- re über seinen künstlerischen Ausdruck – er ist kein guter Zeichner (wohl auch kein guter Leser), er ist es damit nicht Wert, Teil von CH zu werden. Die makabre Ironie besteht natürlich darin, dass der Attentäter es tatsächlich in die Redaktion der Zeitschrift geschafft hat, wenn auch nicht mit Blei- stift und Papier. Wie in der vorherigen Karikatur sehen wir damit auch in diesem Comicstrip eine Spannung zwischen solchen Elementen, die CH als dem Terrorismus und damit der körperlichen Gewalt überlegen darstellen, und anderen, die auf einen Sieg der Gewalt über die Kunst verweisen. Ebenso ist dieser Comicstrip ein gutes Beispiel dafür, dass CH auch in Tributen an Abb. 6: CH 2015/1178: 11 Verstorbene Humor einsetzt und eine Darstellung der Verstorbenen, die nicht nur komisch, sondern Auf Seite 11 derselben Ausgabe lässt Catherine ein- auch lächerlich wirken mag, nicht nur erlaubt, son- en der Attentäter sich auf Elsa Cayats psychoanaly- dern an ihr aktiv mitarbeitet. Ein anderes Beispiel tische Couch legen und die Attentate als Traum er- ist dafür die Karikatur Wolinkis durch Besse. Unter zählen (Abb. 6). Er wiederholt einige Tatsachen, die der Überschrift „Wolinski vous dit merci!“ [„Wo- in den Erlebnisberichten immer wieder auftauchen linski sagt euch Danke!“] ruft Wolinski, ausgestattet – dass die Terroristen deklariert hätten, die Frauen mit Engelsflügeln und einem Heiligenschein „Je re- nicht töten zu wollen, dass sie den Hund, der zu dem bande!“ [„Ich werde wieder steif!“], wobei man unter Zeitpunkt in den Büros war, verschont hätten. Elsa seinem weißen Kleid eine Erektion vermuten kann Cayat sucht – wie sie es immer getan habe (vgl. CH (CH 2015/1178: 16). Nicht nur Persönlichkeiten, an 2015/1190: 6) – auch hier den Doppelsinn hinter denen Kritik geübt wird, werden mit sexuell kon- den Äußerungen, nur wird diese Suche durch Über- notiertem Humor karikiert, auch sehr nahe, kür- treibung ins Komische gezogen. Am Ende rät Elsa zlich verstorbene Freund_innen und Kolleg_innen Cayat, die bei den Anschlägen getötet wurde, dem können zur Zielscheibe eines derartigen obszönen Attentäter, den Alptraum auf Papier zu bringen, Humors werden. kommentiert dann allerdings zu seiner Zeichnung: Ah ouais. Ben vous dessinez vraiement comme une merde. C’est pas demain que vous entrerez à ‚Charlie Hebdo‘, je vous rassure;

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(4) Je suis Charlie (mais …): Reaktionen auf den aneinander, von denen sich die Zeitschrift auf- weltweiten Diskurs über CH grund bestimmter Aussagen abgrenzt (CH 2015/ 1179: 3). Es werden hier einerseits Personen kriti- Charlie Hebdo spiegelt von der ersten Ausgabe nach siert, die direkt oder indirekt der Zeitschrift die Schuld dem 7. Januar 2015 an die Welle der Unterstützungs- an den Attentaten zuschreiben: Papst Franziskus erklärungen, die sich vor allem in dem Spruch „Je (vgl. anon./Zeit 2015a), Samy Naceri (vgl. anon./Le suis Charlie“ über die sozialen Netzwerke und Me- Parisien 2015a), Geluck (vgl. Duguet 2015), aber auch dien ausbreitete. Sie danken denjenigen, die sie Patrick Balkay – der Tweet des letzteren impliziert unterstützen (CH 2015/1179: 2-3), sowie der Re- zwar keine Schuldzuweisung, die Formulierung daktion der Libération für deren Gastfreundschaft En raison du deuil national décrété par le Président (CH 2015/1211: 3). Mehrmals drücken sie außerdem de la République, la Galette des rois est réportée au ihre Dankbarkeit für den verstärkten Polizeischutz samedi 17/01; aus, der ihnen nach dem 7. Januar 2015 zur Verfü- [Aufgrund der Nationaltrauer, die vom Staatspräs- gung gestellt wird, gedenken in der Ausgabe 1224 ident verhängt wurde, ist der Dreikönigskuchen der verstorbenen Polizist_innen (CH 2016/1224: auf Samstag, den 17.01., verschoben worden] (CH 4) und vergleichen ihre Situation mit der Situation 2015/1179: 3) von Zeichner_innen und Journalist_innen in an- deren Ländern, die keinerlei Schutz genießen (CH machte (in ihrer unkommentierten Gegenüberstel- 2015/1216: 3). lung des Attentats und des Dreikönigsfests) bei In- Von anderen Gruppierungen und Persönlich- ternetnutzer_innen und offensichtlich auch bei der keiten grenzt sich CH hingegen ab. Die Teilnahme CH-Redaktion allerdings den Eindruck einer gewis- des Front National am Gedenkumzug vom 11. Jan- sen Indifferenz (vgl. anon./LeLab 2015). uar 2015 kritisieren sie in der bereits erwähnten Im obersten Panel des Strips von Coco ist Karikatur in der Ausgabe 1178 (siehe oben). In der Jean-Marie Le Pen dargestellt, der die Atten- Ausgabe 1189 distanzieren sie sich von #WeAreGar- tate in direkten Zusammenhang mit Immigra- land. Unter der Überschrift „Charlie n’est pas Texan“ tion brachte (vgl. Clavel 2015); im selben Sinne [„Charlie ist nicht texanisch“] betont Sol, dass CH erfolgt die Abgrenzung von Éric Zemmour (vgl. mit der American Freedom Defensive Initiative (der anon./LePoint 2015). Die Solidaritätsbekundung anti-muslimische Hetze vorgeworfen wird) nichts Plantus wird ebenso abgelehnt, vermutlich da er die gemeinsam habe (CH 2015/1189: 3; zur AFDI vgl. Zeitschrift in der Vergangenheit dafür kritisierte, Yan 2015). CH grenzt sich ebenso gegenüber Ver- den Propheten Mohammed darzustellen (vgl. u.a. schwörungstheorien ab, denen zufolge die Attentate anon./L’Obs 2006). nicht dem djihadistischen Terrorismus zuzuschrei- Als Reaktion auf Aussagen Boobas gegen die ben sind, sondern beispielsweise der Regierung der Zeitschrift (vgl. Kucinskas 2015) widmet Luz dem USA oder dem Mossad. Insbesondere attackieren sie französischen Rapper eine ganzseitige Karikatur hier Thierry Meyssan, der argumentiert hat, dass (Abb. 7). Unter dem Titel „Luz vs. Booba“ klettern die Attentate keinen islamistischen Hintergrund mehrere winzige, aber bekleidete, Figuren, die Luz haben könnten (vgl. Meyssan 2015). Der Titel des ähnlich sehen, auf einem riesigen nackten Körper, entsprechenden Artikels in CH: „Conspirationnistes der Booba darstellt. Die Luz-Figuren bekritzeln Boo- et djihadistes, même combat“ [„Verschwörungs- bas Körper mit Graffiti und rappen. Luz tritt gegen theoretiker und Djihadisten – derselbe Kampf“] (CH Booba damit sowohl auf dessen Terrain (in Form 2015/1180: 8-9), macht die Meinung der Zeitschrift des Raps) als auch auf dem eigenen Terrain (der deutlich, dass Theorien dieser Art dem Terrorismus Zeichnung) an – und während er wesentlich kleiner in die Hände spielen. als sein Gegner ist, kann er sich vervielfältigen und Insbesondere allerdings auf Stimmen, die sich ist im Gegensatz zu Booba bekleidet, folglich weni- mehr oder weniger direkt gegen die Satirezeitschrift ger exponiert. Booba wird auf den Gegenangriff von wenden, reagiert CH deutlich. Bereits in der Aus- Luz mit einer Zeichnung reagieren (vgl. ebd.), auf gabe 1179 reiht Coco unter der Überschrift „Ouf! Il die wiederum Coco mit einer Karikatur antworten ne sont pas Charlie“ [„Uff! Sie sind nicht Charlie“] wird (CH 2015/1188: 4). mehrere Persönlichkeiten in ihrem Comicstrip 32

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Abb. 8: CH 2015/1189: 8-9 die Emmanuel Todds These widerlegt. Kritik an Emmanuel Todd beziehungsweise Karikaturen und satirische Texte, die ihn oder seine Thesen zum Ge- genstand haben, tauchen auch in späteren Ausgaben wieder auf, unter anderem im Zusammenhang mit den November-Attentaten in (CH 2015/1220: 5). Hier werden die Thesen Todds in einem sati- rischen Artikel übertrieben und dadurch ins Lächer- liche gezogen. Die Reaktion auf Emmanuel Todd fällt zeitlich CH Abb. 7: 2015/1187: 2 zusammen mit der Verleihung des „Prix du cour- age pour la liberté d’expression“ des amerikanischen Nach der Veröffentlichung von Qui est Charlie? von PEN-Clubs an CH. Deshalb reagiert auf derselben Emmanuel Todd (2015), in dem die Bewegung Doppelseite Philippe Lançon in dem Artikel „Les no- des 11. Januars über statistische Korrelation in das bles aveugles“ [„Die noblen Blinden“] auf den Boykott Umfeld rechter politischer Bewegungen gerückt der Preisverleihung durch mehrere Mitglieder des wird, werden Todd und seiner These in Charlie PEN-Clubs. Dieser Boykott ließe sich nach Lançons Hebdo ein Artikel und mehrere Karikaturen gewid- Worten mit dem Vorwurf des Rassismus resümie- met (CH 2015/1189: 8-9). Seine statistische Ana- ren (CH 2015/1189: 9). Lançon kritisiert nicht das lyse wird in einer Karikatur von Riss übertrieben, Fernbleiben von der Zeremonie, sondern ebenjene in der Emmanuel Todd als Comic-Figur nun auch Argumente, die er als uninformiert beurteilt. Er einen Zusammenhang zwischen der Bewegung und sieht in Teju Coles Artikel „Unmournable Bodies“ Kindesmord sowie Pädophilie sieht ( ). Auf Abb. 8 (Cole 2015) den Beginn dieser Charlie-Kritik, ver- derselben Doppelseite sieht man eine karikierte mutet, dass Cole die Zeitschrift nie gelesen habe und Version von Emmanuel Todd, der sich das Hinter- offensichtlich den kulturellen Kontext ihrer Pub- teil mit der Zeitschrift abwischt. Er hält ein Ban- likation nicht miteinbeziehe. Peter Carey kritisiert ner in der Hand mit der Aufschrift „J’essuie Char- er für seinen Bezug auf die sogenannte französische lie“ [„Ich wische mich mit Charlie ab“]. Luz spielt Arroganz (vgl. anon./Zeit 2015b): in dieser Karikatur mit der lautlichen Ähnlichkeit zwischen „Je suis“ und „J’essuie“ und führt damit das wiederkehrende Motiv der Deformationen Veut-il parler de Charlie, du mouvement du 11 jan- des Slogans weiter. Zwei Wochen später stellt die vier, du gouvernement ou de la en général, Zeitschrift der These eine Studie des Centre Nation- depuis Louis XIV peut-être?; al de la Recherche Scientifique (dem französischen [Will er über Charlie sprechen, über die Bewe- Forschungsministerium unterstellte Organisation) gung des 11. Januar, über die Regierung oder über entgegen (CH 2015/1191: 6; vgl. Tiberj/Mayer 2015), Frankreich im Allgemeinen, möglicherweise seit Ludwig XIV?] (CH 2015/1189: 9). 33

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Er attackiert damit ein verallgemeinerndes und Sophie Leclere, auf ihrem Facebook-Konto ein konfuses Aufgreifen von kulturellen Vorurteilen, Video veröffentlicht, das Christiane Taubira mit spricht allerdings selbst von „la stupidité du moral- einem Affen vergleicht (vgl. Touati 2013). Auf- isme éthique américain“ [„der Dummheit des amer- fallend an Coles Artikel ist sein Erscheinungsdatum, ikanischen ethischen Moralismus“] (ebd.). Auch nur drei Tage nach den Anschlägen. Es überrascht, Robert McLiam Wilson mutmaßt in derselben wie schnell Cole zu einem Urteil über die Zeitschrift Ausgabe, dass die boykottierenden Schriftsteller_ und die Bewegung des 11. Januar gekommen ist und innen die Zeitschrift nie gelesen hätten, „vu qu’ils ne dies in Worte fassen konnte. Ein derart schnelles parlent pas français“; „da sie nicht französisch spre- Urteil müsste eine bereits intensive Beschäftigung chen“ (ebd.: 13). mit der Zeitschrift vor den Anschlägen voraussetzen. Die Kritik an Charlie Hebdo ist nicht der Schwer- Auch auf Kritik an einzelnen Zeichnungen wird punkt von Teju Coles Artikel „Unmournable Bod- – teilweise sehr ausführlich – reagiert. So antwor- ies“, der mit der Frage endet, warum die „Western tet Luz beispielsweise auf die Polemik um die in der societies“ (Cole 2015: o.P.) manche Todesfälle oder Ausgabe 1207 veröffentlichte Zeichnung des Aylan Verletzungen der Menschenrechte mehr betrauer- Kurdi mit einer ganzseitigen Apologie (siehe unten). ten als andere. Dennoch ist die Aussage insbesonde- Nach der Veröffentlichung einer umstrittenen Kari- re von Robert McLiam Wilson, der Vorwurf des katur, in der Nadine Morano als Kind mit Triso- Rassismus würde sich auf wenige aus dem Kontext mie 21 in den Armen Charles de Gaulles dargestellt gerissene Karikaturen stützen (und insbesondere auf wird (CH 2015/1211: 1), druckt CH in der Ausgabe eine Karikatur Christiane Taubiras), bis zu einem ge- 1212 (3) einen Leser_innenbrief, der die Zeichnung wissen Grade begründet. Cole verweist auf mehrere verteidigt. In der Ausgabe 1225 (5) wird diese Kari- Zeichnungen in der Begründung seiner Kritik, und katur noch einmal aufgenommen und von Yann es ist schwierig zu urteilen, ob all diese Zeichnun- Diener in dem Artikel „Die Karikatur“ besprochen gen falsch verstanden wurden; denn Cole erwähnt – diesmal erfolgt eine psychoanalytische Aufschlüs- sie nur im Vorübergehen, geht nicht auf den Kon- selung von Witz, Humor und Karikatur mit Bezug text ein und zitiert zumindest in der Online-Version auf Sigmund Freund und Jacques Lacan. des Textes nie die Ausgabe, auf die er sich bezieht. CH reagiert jedoch nicht nur auf direkte An- Er referiert jedoch auf zumindest zwei Karikaturen, griffe gegen die Zeitschrift, sondern problematis- deren Rezeption bereits von Charb in Lettre prob- iert generell auch das Phänomen „Je suis Charlie“ lematisiert wurde und die ihm zufolge lange in so- über wiederkehrende Transformationen des Slo- zialen Netzwerken im Umlauf waren (Charb 2015b: gans u.a. in „Je suis Marine“ [„Ich bin Marine (Le 49-69). Pen)]“ (2015/1183: 16;), „Je suis Kenyan“ [„Ich bin Zumindest zwei dieser Zeichnungen sind damit Kenianerin“] (2015/1185: 16), „Je suis blasphème“ weiter verbreitet als die Zeitschrift selbst, und wenn [„Ich bin Blasphemie“] (2015/1191: 15), oder auch auf die Karikatur von Christiane Taubira in Coles „Je suis aigrie“ [„Ich bin verbittert“] (2015/1204: 16). Artikel etwas genauer eingegangen wird, so werden Ebenso wird der Originalspruch parodiert, indem wichtige Elemente sowohl der Zeichnung als auch er auf einen Knebel geschrieben wird (2015/1204: des Kontextes ihrer Publikation übergangen. Cole 12), oder indem „Je suis Charlie“-Schilder von erwähnt so zwar die Verteidigung gegen Vorwürfe Hungernden in Syrien gegessen werden (2016/1225: des Rassismus, „naturally, the defense is that a vio- 10). Bereits in der Überlebenden-Ausgabe kritisiert lently racist image was being used to satirize rac- CH die Kommerzialisierung und Vereinnahmung ism“ (Cole 2015: o.P.), erwähnt jedoch weder die der Bewegung, indem Catherine in einer Karikatur Überschrift der Zeichnung, die Christiane Taubira ausgehungerte Näher_innen in Bangladesh „Je suis den Körper eines Affen verleiht, „Rassemblem- Charlie“-T-Shirts nähen lässt (CH 2015/1178: 16). ent bleu-raciste“ [„Rassistisch-blaue Vereinigung“, Ebenso werden die zahlreichen Bücher parodiert, Charb 2015b: 66], noch, dass es eindeutige Referen- die zu CH erscheinen (dieser Artikel wäre implizit zen auf Wahlplakate des FN in der Zeichnung gibt. wohl mitgemeint) (CH 2015/1216: 11). So führt CH Er erwähnt ebenso nicht, dass sich die Karikatur die Transformierbarkeit des einfachen Slogans vor, auf einen bestimmten Vorfall bezieht: Im Oktober die es leicht macht, ihn für andere Zwecke zu verein- 2013 hat eine Kandidatin des Front National, Anne- nahmen – darunter auch durch rechtsradikale Politik, 34

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache wie die Transformationen in „Je suis Marine“, „Je Staaten sowie der EU angeprangert werden.4 In der suis raciste“ [„Ich bin rassistisch“], und „Je suis Char- Ausgabe 1206 wird ein Artikel zur Begriffsverwend- lie Martel“ zeigen. ung von „migrants“ und „réfugiés“ veröffentlicht – die Bezeichnung „migrants“ für syrische Flüchtlinge wird problematisiert – und gerade die umstrittene (5) Reflexion über Rezeption: Eine gute Ausgabe 1207 legt ihren Fokus wiederum auf eine Zeichnung ist ein Faustschlag ins Gesicht scharfe Kritik an der europäischen Flüchtlingspoli- tik. Der Umgang mit kritischer Rezeption ist für CH In der Ausgabe 1209 verweist Luz nun in sei- nicht neu. Ein großer Teil des posthum veröffen- nem ganzseitigen Comic mit dem Titel „Le dessin tlichten Lettre von Charb widmet sich dieser Er- satirique expliqué aux cons (et en particulier aux fahrung, und nach dem 7. Januar erfolgt in den Aus- médias)“ [„Satirische Zeichnungen, für Dummköpfe gaben der Zeitschrift eine wiederholte Reflexion erklärt (und insbesondere für die Medien)“] nur auf über Humor, über Karikatur, und darüber, was eine diese eine Karikatur, und erwähnt auch nur negative solche machen soll, kann oder darf. Reaktionen auf diese Zeichnung ( ). Das vielleicht interessanteste Beispiel im Jahr 2015 Abb. 9 Tatsächlich hat die genannte Karikatur für Kon- ist ein ganzseitiger Comic von Luz in der Ausgabe troversen gesorgt, und die Zeitschrift ist erneut 1209. Ausgangspunkt dafür war eine Karikatur von in den Verdacht der Xenophobie geraten (vgl. Riss in der Ausgabe 1207. Auf der Rückseite der Arama 2015; Nelson 2015; Bastié 2015). Gerechtfer- Zeitschrift (16), also an prominenter Stelle, war eine tigt wurde dieser Vorwurf vorrangig mit der oben Zeichnung abgedruckt worden, die wiederum ein erwähnten Zeichnung und zwei anderen aus der- bekanntes Pressefoto zur Grundlage hat: das Foto selben Ausgabe. eines ertrunkenen Kindes an einem Strand. Das Die Konzentration auf drei Karikaturen ist in- Pressefoto – und damit auch die Zeichnung – sind sofern überraschend, als viele andere Variationen natürlich im Kontext der Flüchtlingsaufnahmekrise der Zeichnung als ebenso problematisch inter- zu sehen. Das Originalfoto hat in Europa zu starken pretiert werden könnten. In der Ausgabe 1208 Reaktionen geführt, in deren Folge die europäische nimmt Coco beispielsweise das gleiche Pressefoto Flüchtlingsaufnahme-Politik kritisiert wurde (vgl. im Kontext eines karikierten Fragebogens zur In- anon./Le Parisien 2015b). tegration auf, und stellt es neben Abbildungen von Riss verweist über den Bildausschnitt, die Ze- Schwimmer_innen. Die Frage zu den Bildern lautet: ichnung des Kindes und dessen Position (auf dem „Lequel de ces trois nageurs n’a pas été champion de Bauch liegend, den Kopf zum Meer gewandt) auf natation?“ [„Welcher der drei Schwimmer hat nicht das Original. Man sieht im Hintergrund einen indi- den Meistertitel errungen?“] (CH 2015/1208: 4). Die rekten Verweis auf eine McDonalds-Werbung, die Interpretation, das tote Kind könnte hier ins Lächer- zwei Kindermenüs zum Preis von einem anpreist. liche gezogen werden, wäre in Cocos Zeichnung ver- Die Überschrift lautet „Si près du but…“; „So nah mutlich ebenso naheliegend wie in jener von Riss. am Ziel…“. Die Zeichnung auf der Rückseite der Die Frage stellt sich, ob die prominente Platzierung Ausgabe 1207 ist dabei nur eine in einer Reihe von der umstrittenen Zeichnungen auf der Rückseite Karikaturen, die immer wieder dasselbe Pressefo- und dem Titelblatt zu einer verstärkten (kritischen) to aufnehmen, wiederholen, und Details abändern, Rezeption geführt hat – was wiederum das oben sowohl in dieser Ausgabe als auch in späteren (z.B. erwähnte Argument Philippe Lançons und Robert CH 2015/1207: 3, 10, 12, 14; 2015/1208: 4, 7, 9; McLiam Wilsons stärken würde, die Kritiker_innen 2015/1211: 5; 2015/1218: 8). Die Zeichnungen, die CHs hätten die Zeitschrift nicht (gründlich) gelesen. sich um das Pressefoto drehen, sind wiederum im Kontext von CHs Diskurs über die Flüchtlingsauf- nahmekrise zu sehen. Die Zeitschrift veröffentlicht im Jahr 2015 kontinuierlich und gehäuft Karikaturen zu diesem Thema, wobei in der überwiegenden Meh- 4 Vgl. u.a. CH 2015/1184: 12; 2015/1187: 1, 7, 16; rheit dieser Zeichnungen das Sterben der Flücht- 2015/1188: 9; 2015/1191: 8-9; 2015/1195: 1, 9, 16; 2015/1199: linge im Mittelmeer und die Reaktion europäischer 4; 2015/1200: 4; 2015/1202: 16; 2015/1203: 7; 2015/1206: 3; 2015/1207: 1, 7, 16; 2015/1209: 7, 16; 2015/1215: 3. 35

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Abb. 9: CH 2015/1209: 2

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache Luz nutzt nun in der Ausgabe 1209 die Gelegenheit immer wieder auftaucht. seiner Verteidigung der Zeichnung, um grundsätzli- Auf den Vorwurf einer der Leser_innen, dass man che Probleme der Rezeption sowie in gewisser Hin- ein totes Kind nicht karikieren dürfe, antwortet Luz sicht das poetologische Programm der Zeitschrift mit einer Gegenüberstellung von Zeichnung und darzustellen und zu erklären. Deshalb möchte ich Karikatur und einer Erklärung, was eine Karikatur auf diesen Comic genauer eingehen – er erhellt (zum ausmache: das Übertreiben von bestimmten Ge- Teil), wie die Zeitschrift, mit Luz als ihrem Fürspre- sichtszügen. Das Kind auf der Zeichnung sei jedoch cher, auf Karikatur und Satire blickt, und wie sie lediglich skizziert (also nicht karikiert) worden und verstanden werden möchte. nur die Pose und der Kontext der Mediatisierung Luz wendet sich an unterschiedliche Zielgruppen, mache es uns möglich, es zu erkennen. die jeweils in der ersten Panelreihe karikiert und Er geht danach auf die starke Mediatisierung mit repräsentativen Aussagen dargestellt werden. In des Fotos ein, stellt die (rhetorische) Frage, ob ein weiterer Folge richtet sich Luz an die einzelnen Les- Fotograf oder ein Journalist das Recht habe, über er_innengruppen, und passt seine Argumentation Gräuel zu berichten, ein Zeichner aber nicht, und an sie und ihre Kritikpunkte an. sieht in der Zeichnung (im Gegensatz zum Foto) Zunächst spricht Luz zu den neuen Leser_innen, eher ein Angebot zu einer heilsamen Distanz.5 die durch die Zeichnung schockiert sind – dass die Er fragt, im Namen welches Dogmas man be- Figur im Panel die Zeitschrift falsch herum (auf den stimmte (insbesondere tagesaktuelle) Themen aus Kopf gedreht) liest und auf Englisch „shocking“ sagt dem Bereich der Zeichnung ausschließen solle. Er (ebd.), verweist wiederum darauf, dass die Zeitung betont die Rohheit der Zeichnung, die nicht durch nun weltweit und, wie Luz andeutet, nicht immer Symbolik aufgeladen sei, da das Kind bereits genug richtig gelesen wird. symbolische Last trage. Luz stimmt jedoch (schein- Folgerichtig spricht Luz zunächst das Problem bar) mit einem Leser überein, der einen Respekt- der kulturellen Distanz an, in der viele der neuen mangel kritisiert, verschiebt diese Respektlosigkeit Leser_innen zu CH stehen. Zunächst bestätigt er sie jedoch, indem er sich offen als „clownophob“ (ebd.) auch in ihrer „schockierten“ Reaktion. Er zitiert den bezeichnet (der Beweis: der Clown sei im Gegensatz Gründer der Zeitschrift, Cavanna, der gemeint habe, zum Kind karikiert worden). Dieses Bekenntnis di- eine gute Zeichnung sei ein Faustschlag ins Gesicht. ent offensichtlich dazu, den ursprünglichen Vorwurf Und tatsächlich sehen wir im Comic die Figur Luz des Respektmangels und des Rassismus ins Lächer- einen Faustschlag von einem Stück Papier erhalten, liche zu ziehen. das er in Händen hält. Riss habe mit der Zeichnung Danach wendet Luz sich an eine Leserin, die den das reiche konsumsüchtige Europa aufgezeigt, das Hashtag #jenesuispascharlie hochhält und erinnert auf die Mediatisierung des Todes eines Kindes ge- sie daran, dass sie die Zeitschrift nicht lesen müsse wartet hat, um sich endlich mit dem Schicksal der – auch diesen Hinweis gibt die Zeitschrift wieder- Flüchtlinge zu beschäftigen. Man reagiere auf diese holt (bereits in der Überlebenden-Ausgabe lassen sie Zeichnung anders als auf andere Karikaturen: einen Jugendlichen diesen Rat an seine Gesprächspartner_in am Telefon geben, vgl. CH Plutôt qu’un rire, on expulse un râle nerveux face à 2015/1178: 5). Die französischen Medien werden la collision entre la pertinence du propos et l’absur- von Luz am schärfsten angegriffen: dité du dessin; [Eher noch als ein Lachen entfährt einem ein Au final, les plus énervants sont surtout les médias nervöses Röcheln, wenn man mit dem Zusammen- français […] qui savent tout ça mais qui préfèrent re- stoß von treffsicherer Aussage und absurder Zeich- layer la merde que certains ont dans les yeux plutôt nung konfrontiert wird] (ebd.). que de saluer l’intelligence d’un dessin; Es geht hier also um eine bestimmte Form des Hu- mors beziehungsweise des Lachens, das aus einer 5 In der umstrittenen Ausgabe 1207 kritisiert Riss auf Spannung heraus entsteht – der Spannung zwischen Seite 14 die Mediatisierung des Bildes: Er zeichnet mehrere der Ernsthaftigkeit oder Tragik des Themas und der Zeitungen und Zeitschriften, darunter Elle, Cuisine Actuelle, oder Psychologie, die in dieser satirischen Übertreibung alle das Absurdität in der Darstellung. Die Kombination von Foto des Kindes auf das Titelblatt stellen, es aber mit Über- Lächerlichkeit und Tragik ist tatsächlich ein Grund- schriften juxtaposieren, die entweder eine Ignoranz gegenüber konzept, das in den Zeichnungen und Comics in CH der Flüchtlingskrise oder Rassismus bloßstellen. 37

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[Die nervenaufreibendsten sind schlussendlich in Köln zu Neujahr 2016 sehen (vgl. Meister 2016). die französischen Medien […], die das alles wissen Der Vorwurf ist insofern begründet, da durch Über- aber die es vorziehen, die Scheiße zu verbreiten, titel und Untertitel – „Que serait devenu le petit die manche auf den Augen haben, als die Intelligenz Aylan s’il avait grandi? Tripoteur de fesses en Al- einer Zeichnung zu begrüßen] (CH 2015/1209: 2.). lemagne“ [„Was wäre der kleine Aylan geworden, wenn er erwachsen geworden wäre? Pograpscher in Luz geht folglich davon aus, dass seitens franzö- Deutschland“] – zumindest auf den ersten Blick das sischer Journalist_innen grundsätzlich eine hohe Stereotyp des Frauen sexuell belästigenden männ- Lesekompetenz gegenüber Zeichnungen besteht, lichen Flüchtlings tatsächlich perpetuiert wird. Auf dass diese absichtlich missverstanden werden und Stern-Online wird dieser Vorwurf hingegen wie- Sensationsschlagzeilen gegenüber einer differen- derum von Stefan Maus dekonstruiert. Maus sieht in zierten Aufschlüsselung der Zeichnungen präferiert der Karikatur mehrere Verweise auf gängige Kon- werden. ventionen des Nachrichtengenres, und interpretiert Mehrere wiederkehrende Elemente in der Pub- die Zeichnung wiederum als Kritik des medialen likationspolitik der Zeitschrift lassen sich auch hier Diskurses, der genau jene Perpetuierung des Stereo- hervorheben: Humor soll bei CH nicht unbedingt typs, die CH vorgeworfen wird, unreflektiert fördert zum Lachen, sondern möglicherweise viel eher zu (vgl. Maus 2016). einer Reflexion anregen. CH richtet sich außerdem primär an Leser_innen, die die Zeitschrift in ihrer Gesamtheit und ihrer Kontinuität rezipieren, Ver- (6) Paris est une fête: weise und Kontext verstehen und eine hohe Lese- Reaktionen auf die Attentate des Novembers kompetenz gegenüber Karikatur, Satire und Parodie 2015 besitzen. Die Verantwortung für die Interpreta- tion der Zeichnungen wird zu einem großen Teil Wie zu erwarten war, reagiert CH auf die terror- den Rezipient_innen gegeben, wie auch Coco in istischen Anschläge in Paris im November 2015, einer Karikatur in derselben Ausgabe klarstellt: Ein und bezieht die Ereignisse zurück auf die Attentate Leser liest die Gebrauchsanweisung CHs zur Rezep- vom 7. Januar. Coco zeichnet auf das Titelblatt der tion und meint, „Merde, il manque une pièce“ [„Ver- Ausgabe 1217 eine Figur, die Champagner trinkt – dammt, mir fehlt etwas“]. Die Zeichnung deutet an, der Champagner sprudelt jedoch aus diversen Ein- dass es das Hirn ist, das dem Leser fehlt (CH 2015/1209: schusslöchern im Körper der Figur wieder heraus. 3). Leser_innen, die nicht bereit sind, diese aktive Der Übertitel besagt: „Ils ont les armes. On les em- Rolle und Verantwortung an der Rezeption zu merde, on a le champagne!“ [„Sie haben die Waffen. übernehmen, werden aufgefordert, die Rezeption Wir gehen ihnen auf die Nerven, denn wir haben einzustellen. In einem noch höheren Maße wird von den Champagner!“] (CH 2015/1217: 1). CH referiert den Medien erwartet, ein Parodie-Bewusstsein zu damit auf eigene Bewältigungsstrategien nach den zeigen, gleichzeitig wird der mediale Diskurs aller- Januar-Attentaten – Wein zu trinken und gut zu es- dings scharf kritisiert. sen (siehe unter anderem Sylvie Coma, „On ne va pas In späteren Ausgaben wird CH wieder die (medi- tous mourir“, CH 2015/1178: 5) – aber auch auf die in ale) Indifferenz gegenüber dem Sterben von Men- den sozialen Medien kursierende Aufforderung nach schen auf Fluchtwegen anprangern. In der Ausgabe den November-Attentaten, sich die „Pariser Lebens- 1216 (16) wird das Pressefoto ein weiteres Mal weise“ nicht nehmen zu lassen (CH nimmt hier auf aufgegriffen: Einander beinahe identische Kinder -Hashtags nach den Attentaten Bezug, vgl. liegen übereinander gestapelt auf dem Strand, ein u.a. anon./Actu France 2015; Leurquin/Percy 2015). Journalist fotografiert sie. Der Übertitel besagt: „Le Die Figur auf dem Titelblatt wirkt sowohl triumphal drame continue et tout le monde s’en fout“ [„Das als auch verletzlich, besiegt – sie zeigt wiederum die Drama geht weiter, und allen ist es egal“]. Es ist je- ambivalente Haltung der Zeitschrift zu diesen Er- doch nicht diese Karikatur, die für einen erneuten eignissen, die einerseits ihre Trauer und ihre Verlus- Skandal sorgen wird, sondern eine in der Ausgabe te offenlegt, andererseits mehrmals deklariert, sich 1225 (7) veröffentlichte Zeichnung, in der viele nicht unterkriegen zu lassen. Auch auf anderen Seit- Leser_innen eine unhinterfragte Assoziation des en in der Ausgabe veröffentlichen sie Karikaturen ertrunkenen Kindes mit den sexuellen Übergriffen zu der „Pariser Lebensweise“, die es zu verteidigen 38

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache gelte. CH referiert direkt oder indirekt auf diese Auf- des Lebens – die Angst vor dem Tod, so Erner, forderung u.a. in folgenden Karikaturen in der Aus- bedeute hingegen die Liebe zum Leben, schütze vor gabe 1217: 6 (Coco), 7 (Foolz), 9 (Willem), 16 (Coco, der Radikalisierung, helfe gegen die Faschist_innen Juin, Riss, Willem). zu kämpfen. Riss beschwört im Editorial das Bild Londons der CH changiert in seinen Karikaturen über die 1940er Jahre, meint, dass noch Schlimmeres gesche- Paris-Attentate zwischen Emotionen, und zieht hen werde, und kritisiert die Suche nach Gründen mehrmals optimistische Kampfansagen ins Lächer- für die Attentate, die immer den Opfern Verantwor- liche, wie „La France se relève“ [„Frankreich erhebt tung für die Taten auflaste. Er kritisiert weiter, dass sich wieder“] – auf Seite 9 erheben sich bloß Geister aus Angst weder das Wort „Religion“ noch „Islam“ vom Tatort (Juin) –, „Même pas peur“ [„Nicht mal in den Mund genommen würde, und sagt, dass die Angst“] – auf der Rückseite sagt dies eine Figur, die Muslime Frankreichs in dieser Situation von allen eben von einem Terroristen erschossen wird (Wil- im Stich gelassen würden – bedroht von der Mar- lem, ebd.: 16) – und „ils ne changeront pas notre ginalisierung auf der einen und vom Radikalismus mode de vie“ [„Sie werden nicht unsere Lebensweise auf der anderen Seite (CH 2015/1217: 3). verändern“] – eine Frau deklariert dies, die die Auss- Guillaume Erner greift das Thema der Schuldzu- cheidungen ihres Pudels wegräumt (Riss, ebd.: 16). weisung auf, und geht auf das Phänomen des locus CH weist in mehreren Karikaturen auf die of control ein – hier also die Annahme einer Ur- ersten Anzeichen stärkerer Militärpräsenz hin: sache für die Gewalt beim Opfer – das bereits bei Auf Seite 9 sieht Coco die „circulation alternée“ den Januar-Attentaten fehl am Platz gewesen sei [„Wechselverkehr“] als eine zwischen Streitwagen und spätestens hier scheitern müsse. Ebenso fehl am und Panzern, auf derselben Seite lässt sie Verkäufer Platz sieht er allerdings den Spruch „Même pas peur“ ihre Eiffeltürme als Waffen an Soldaten verkaufen [„Nicht mal Angst“]: – statt an die Tourist_innen, die alle geflohen sind. Auf der Titelseite der Ausgabe 1218 lässt Coco un- D’accord avec cette banderole si elle doit être inter- zählige Soldaten vor dem Eiffelturm aufmarsch- pretée comme une forme de dénégation ou d’an- ieren, mit dem Übertitel „Daech inverse la courbe du tiphrase. Dans ces conditions, ce mot d’ordre doit chômage“ [„Daech senkt die Arbeitslosigkeit“]. Mehr- être traduit par ‘évidemment, nous avons peur’, mals bezieht sich insbesondere Coco auch auf nous sommes vivants de peur, parce que, lorsque die Schuldzuweisungen an CH nach den Januar- nous sommes morts, nous n’aurons plus peur. Seuls Attentaten und zieht sie anhand der November-An- les fascistes, ceux d’hier comme d’aujourd’hui, n’ont schläge ins Lächerliche. So weist sie in einer Kari- pas peur de la mort. C’est parce que nous aimons katur auf Seite 8 darauf hin (CH 2015/1217), welche trop la vie, et eux la mort, que nous sommes voués (harmloseren) Konzerte Daech nicht angegriffen à les affronter; hätte; sie lässt es zwei ältere Frauen als Provokation [Ich bin einverstanden mit dieser Banderole, bezeichnen, kalifornischen Rock zu hören (mit dem wenn sie als eine Art Verleugnung oder Anti- Übertitel „Je suis Bataclan mais…“ [„Ich bin Bataclan, phrase zu interpretieren ist. Unter diesen Be- aber…“], ebd.); und schließlich lässt sie auf der Rück- dingungen müsste die Devise mit ‚natürlich haben seite die Terroristen ihre Anschläge damit begrün- wir Angst‘ übersetzt werden, wir leben von Angst, den, dass sie das Bildnis des Propheten im Kaffeesud denn wenn wir tot sind, werden wir keine Angst einer Bar gesehen hätten. mehr haben. Nur die Faschisten, jene von früher CH zieht hier eine Grenze zwischen Angst – die als wie jene von heute, haben keine Angst vor dem berechtigt wahrgenommen wird – und der Paranoia, Tod. Weil wir das Leben zu sehr lieben, und sie den die sie wiederum lächerlich machen. Coco widmet Tod, haben wir geschworen, ihnen die Stirn zu bie- in der Ausgabe 1218 die gesamte Seite 2 der Para- ten] (CH 2015/1217: 4). noia, die die gesamte Bevölkerung ergriffen habe Erner weist hier folglich der Angst nicht nur einen und zu absurden Anschuldigungen führe. Auf der wichtigen Platz zu, er sieht in ihr sogar einen essen- Rückseite der Ausgabe zeichnet sie erneut eine ältere tiellen Unterschied zwischen Opfern und Täter_in- Frau, die einen Einkaufswagen hinter sich her zieht, nen. Das Selbstmordattentat aus Furchtlosigkeit ihn aus den Augenwinkeln anblickt und meint, sie vor dem Tod bedeutet zugleich eine Entwertung glaube, sie werde verfolgt. Das Thema der Paranoia 39

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache wird auch in der Weihnachtsausgabe 1222 wieder- Symbol für Gott. Das weiße Gewand der Figur ist aufgenommen: Auf der Doppelseite 8-9 veröffen- blutig, der Übertitel lautet „1 ans apres – l’assassin tlicht Willem eine Karikatur, in der der Weihnachts- court toujours“ [„Ein Jahr danach – der Mörder noch mann mit einem Terroristen verwechselt wird; immer auf freiem Fuß]“ (Abb. 10). auf Seite 11 werden von Foolz die Ratschläge zum Die Waffe und die roten Flecken auf seinem Ge- Erkennen verdächtigen Verhaltens lächerlich ge- wand weisen der Figur, die allgemein als Gott inter- macht: Ein Terrorist, der seine Bomben für jeder- pretiert wurde (vgl. u.a. anon./LeMonde 2016), rela- mann sichtbar am Körper trägt, wird deshalb aus tiv eindeutig die Rolle des Täters zu, des Terroristen. dem Zug geworfen, weil er zu höflich ist und damit Das in Kombination mit dem schwarzen Hinter- nicht die „französische“ Lebenshaltung erfüllt: „Vous grund – möglicherweise als Farbe der Trauer zu ver- ne changerez pas notre manière de vivre ensemble!!!“ stehen – und der roten Schrift, in der „numéro spé- [„Sie werden nicht unsere Art und Weise verändern, cial“ geschrieben ist, und die sich stark vom Schwarz zusammenzuleben!!!“] (CH 2015/1222: 11). abhebt, aber mit den Blutflecken harmoniert, spricht jedenfalls eine deutlich andere Sprache als die Über- lebenden-Ausgabe. Hier geht es nicht um eine (7) Die Gedenkausgabe: Versöhnung, sondern um eine Anklage. Laizität als Konstante Der Schwerpunkt der Ausgabe ist das Thema Laizität, deren Wichtigkeit für eine Demokratie in mehreren Artikeln betont wird, und deren Rück- gang ebenso beklagt wird. Unter anderem ver- öffentlicht Richard Malka auf Seite 8 den Artikel „Avec ma laïcité de métèque …“, auf Seite 10 Jacques Littauner den Artikel „L’Université a les foies“.6 Auf Seite 26-27 wird von Antonio Fischetti im Artikel „Le délit du blasphème est en pleine forme“ [„Dem Blasphemie-Delikt geht es gut“] der Rückgang der Meinungsfreiheit im Kontext der Religionskritik beklagt. CH bezieht sich damit auch deutlich auf die posthum veröffentlichten Lettre von Charb zurück, der ebenso eine Apologie der Laizität darstellt. Charb trat in Lettre für eine Trennung der Be- griffe Islamophobie und Rassismus ein. Der Begriff der Islamophobie, so Charb, sei irreführend und spiele dem Rassismus letztendlich in die Hände. Indem man jegliche Kritik am Islam als Islamo- phobie auffasse und mit dem alltäglichen Rassis- mus gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen amal- gamiere, die der islamischen Religion angehören, lege man die Identität dieser Menschen auf ihre Religionszugehörigkeit fest, reduziere sie darauf. CH Abb. 10: 2015/1224: 1 Das führe erstens zu einer gefährlichen Vermi- schung von Religion und der Bürgerschaft von Die erste Ausgabe nach dem 7. Januar 2015 war grün, Menschen mit einer bestimmten Religionszuge- sie zeigte (möglicherweise) den Propheten Moham- hörigkeit und lasse das Individuum gegenüber der med, der ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Char- Ideologie in den Hintergrund treten. Charb führt lie“ in Händen hielt. Die Überschrift sagte uns: Al- das Beispiel einer Frau an, die auf der Straße auf- les ist vergeben. Die Gedenkausgabe zum Jahrestag grund ihres Kopftuchs tätlich angegriffen wird. hingegen ist schwarz. Man sieht eine bärtige Figur fortlaufen, die nach hinten und zu den Leser_innen blickt, eine Schusswaffe über der Schulter. Über dem 6 „Avoir les foies“ heißt hier einerseits „Muffensausen Kopf schwebt ein Dreieck mit einem Auge darin, ein haben“, andererseits verweist „foi“ auf „Glaube“. 40

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache Spräche man hier von Islamophobie oder einem Hundes der Redaktion während der Gewalttaten – Mangel an Respekt gegen den Islam, so spräche man immer wieder aufgenommen. Themen wie Laizität, nicht mehr von einem Individuum, das sich auf- Meinungsfreiheit und Abgrenzung gegenüber Para- grund seiner Bürger_innenrechte kleiden dürfe, noia und Rassismen tauchen zwischen der Tages- wie es wolle, ohne deshalb angegriffen zu werden. aktualität auf und werden auf die Attentate rück- Stattdessen sei eine Ideologie angegriffen, die damit bezogen. Es erscheinen mehrere, teilweise posthum über dem Individuum stehe (vgl. Charb 2015a: 7-14). veröffentlichte Bücher wie Charbs Lettre (2015), Den zweiten problematischen Punkt sah Charb in Elsa Cayats und François-Xavier Petits La capacité de einer Gefährdung der Meinungsfreiheit. Sobald s‘aimer (2015) oder die Catharsis (2015) von Luz. Kritik an einer Religion nicht mehr möglich sei, sei Die Gedenkausgabe vom 6. Januar 2016 steht in die Kritik an jeglicher Form von Religion im Vi- gewisser Hinsicht in einem Kontrast zu diesem frag- sier, und damit die Meinungsfreiheit überhaupt mentierten Diskurs, einer Selbstreflexion, von der (ebd.: 67-85). die Leser_innen immer nur Teilstücke kannten. CH stellt sich, nicht nur in der Gedenkausgabe, Zum ersten Mal werden in der Ausgabe 1224 die sondern auch in anderen Ausgaben, klar hinter Ereignisse chronologisch aufgeschlüsselt, von den Charb. So wird er in der Ausgabe 1178 auf Seite Überlebenden aus mehreren Perspektiven durch- 14 zu dem Thema zitiert, in Ausgabe 1187 nimmt gängig erzählt. Die Zeitschrift geht so weit, einen sein Buch Lettre, in Auszügen, die gesamte Dop- Plan des Büros aufzuzeichnen, in dem Nummern die pelseite 8-9 ein. Außerdem veröffentlicht CH im- räumlichen Positionen der einzelnen Menschen zum mer wieder religionskritische und pro-laizistische Zeitpunkt des Attentats markieren. Sigolène Vinson Artikel und Zeichnungen (vgl. u.a. CH 2015/1179: spricht in „Les dormeurs de la rue nicolas-appert“ 2-3; 2015/1191: 15; 2015/1207: 10; 2015/1219: 3; [„Die Schlafenden der Straße Nicolas-Appert“] (CH 2015/1217: 2, 2015/1223: 15), und spricht bezüglich 2016/1224: 5) von den Widersprüchen zwischen der Trennung von Islamophobie und Rassismus die- ihrer persönlichen Erinnerung und dem, was sie selbe Sprache. später auf der Videoüberwachung sehen kann. Eine Woche nach der Gedenkausgabe, in der Wenn die Geschichte nicht festgeschrieben wird, so Ausgabe 1225, spricht Gérard Biard in „Pour la wird doch eine erste Version auf Papier gebracht. déchéance de divinité“7 (2-3) noch einmal das The- Auch in anderer Hinsicht scheint die Ausgabe ma Religionskritik an und beklagt, dass diese immer 1224 eine klarere Position einzunehmen, als wäre weniger toleriert werde. Er deklariert die über- ein Denkprozess zu einem Ergebnis gekommen: Es zeugte Laizität und den Atheismus der Zeitschrift. wird noch einmal die deutliche Medienkritik wie- Der Wiederabdruck zweier Titelblätter der derholt, gegenüber bestimmten Formen der Rezep- Zeitschrift von 1995 (177) und 2002 (539), die beide tion erfolgt eine scharfe Abgrenzung, Laizität und „Gott“ als rechtsradikalen Mörder beziehungsweise das Recht auf Religionskritik nehmen viel Raum ein. Kriegsverbrecher anklagen, ist ein weiterer Hinweis Auch in der Ausgabe 1224 findet jedoch in meh- darauf, dass von CH gegenüber Religionen primär reren Karikaturen Selbstreflexion statt, die auch die Kritik zu erwarten ist. eigene Situation ins Lächerliche zieht: Coco zeichnet eine anthropomorphe göttliche Prozac-Pille, mit der Überschrift „Charlie Hebdo, le journal qui a failli croire (8) Schließt die Gedenkausgabe die en dieu“ [„Charlie Hebdo, die Zeitschrift, die beinahe Geschichte ab? an Gott geglaubt hätte“] (ebd.: 15) – vermutlich ein Verweis auf den Konsum von Antidepressiva in der In der ersten Ausgabe nach den Attentaten und in Redaktion. Juin erklärt in einer Karikatur, CH habe vielen darauffolgenden Ausgaben sind Berichte über als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme einen zweiten das Geschehen am 7. Januar 2015 fragmentarisch, Code für die Eingangstüre eingebaut (ebd.). Das ist lückenhaft. Über das Jahr hinweg werden manche einerseits eine eindeutig parodistische Untererfül- Anekdoten oder Zufälle – wie die Verschonung des lung von Sicherheitsmaßnahmen, andererseits ein Rückverweis auf die Attentate selbst: Die Attentäter 7 „Für den Entzug der Göttlichkeit“ – hier handelt es zwangen Coco, den Code der Eingangstüre zur Re- sich wohl auch um eine Anspielung auf die „déchéance de la daktion einzugeben und ihnen damit Eintritt zu nationalité“, den Entzug der Staatsbürgerschaft für Mitglieder verschaffen (CH 2015/1224: 2). terroristischer Netzwerke. 41

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Riss macht sich über den verstärkten Polizei- ellen Tagesgeschehen verbindet, den Diskurs darüber schutz lustig (ebd.: 15, 32) und zeichnet auf Seite 9 analysiert, und versucht, die Gewalttaten in einen einen Mann, der offensichtlich nicht gehen kann – größeren politischen und gesellschaftlichen Zusam- er schleppt sich auf Krücken voran. Übertitel und menhang zu stellen. Andererseits erfolgt ebenso Sprechblase sagen: „Miracle à Lourdes – ‚Char- regelmäßig eine Selbstreflexion, in der Emotionen lie Hebdo‘ remarche tout seul“ [„Das Wunder von und Bewältigungsstrategien einzelner Redaktions- Lourdes – ‚Charlie Hebdo‘ läuft wieder ganz von mitglieder angesprochen werden. Selbstironie ist ein selbst“]. Hier wird einerseits das religiöse Wunder Teil davon, aber ebenso eine Rückbesinnung auf die als Täuschung entlarvt, die von CH problematisierte Tradition CHs und der Vorgängerzeitschrift Hara- Verwunderung der Medien über das Überleben der Kiri. Nicht umsonst wird der Gründer Cavanna in Zeitschrift wird noch einmal thematisiert (siehe dazu Luz’ „Le dessin satirique expliqué aux cons (et en auch den Artikel „Crève, Charlie! Vis, Charlie!“ von particulier aux médias)“ [„Satirische Zeichnungen Riss auf Seite 5), dieses Überleben wird jedoch auch erklärt für Dummköpfe (und insbesondere für die entzaubert: Die Figur auf der Zeichnung mag sich Medien)“] zitiert. Diese Tradition wird nach außen fortbewegen, sie braucht jedoch dazu inzwischen vertreten und verteidigt. CH tritt zwar mehrmals in Krücken und schleift die Beine am Boden. einen Dialog mit den Leser_innen, erklärt das eigene Sogar die Apologie der Religionskritik und der Agieren, zeigt allerdings auch zu mehreren Gele- Meinungsfreiheit in CH wird ins Lächerliche gezo- genheiten, dass dieser ursprüngliche Kurs nicht gen: Coco zeichnet auf Seite 10 Salman Rushdie in verlassen werden wird. weißem Gewand, mit dem die Göttlichkeit anzei- Ein Aspekt des Umgangs Charlie Hebdos mit dem 7. genden gelben Dreieck über dem Haupt. Im Hinter- Januar 2015 wurde jedoch noch nicht angesprochen: grund werfen sich Figuren nieder und rufen „Rush- Der Tod von Zeichner_innen und Autor_innen hat die Akbar!“, der Übertitel lautet, „Un an après: Char- allein dadurch die Zeitschrift neu geformt, dass deren lie s’est converti!“ [„Ein Jahr danach: Charlie ist kon- Texte und Zeichnungen von nun an fehlten. CH vertiert!“] (ebd.: 10). Salman Rushdie hat CH nach bekommt ein anderes Gesicht, andere Autor_ der Kritik durch Mitglieder des amerikanischen innen und Zeichner_innen müssen die Lücken fül- PEN-Clubs unterstützt (vgl. Yuhas 2015), auch die- len – bereits in diesem Artikel fällt anhand der zitier- sem „Gott“ wird sich die Zeitschrift aber offensicht- ten Karikaturen auf, wie deutlich Coco, Catherine, lich nicht unterordnen – oder wenn sie es tut, wird Riss und in geringerem Maße Luz in den Vorder- sie sich jedenfalls darüber lustig machen. grund getreten sind. Diese Veränderungen werden Die Selbstironie, die in der Zeitschrift immer wie- jene Leser_innen am meisten wahrnehmen, die die der an den Tag tritt, könnte auch als eine dialek- Zeitschrift schon vor dem 7. Januar 2015 rezipiert tische Relativierung der eigenen Position geseh- haben – für das neue Publikum wird sie nur dann en werden. Die Zeitschrift nimmt sich selbst nicht sichtbar, wenn vermehrt Karikaturen und Texte der wesentlich ernster als alle anderen Akteur_innen auf Verstorbenen abgedruckt werden, wie in der Über- der Weltbühne. lebenden-Ausgabe und der Gedenkausgabe. Führt Die Attentate des 7. Januars 2015 stellen CH vor die Reduktion der Redaktion zu einem anderen oder vielfältige Herausforderungen – dazu gehören (scheinbar) einheitlicheren Diskurs? Das müsste (körperliches wie seelisches) Trauma und Verlust, die an anderer Stelle beantwortet werden. Aber allein damit einhergehende Reorganisation der Zeitschrift, die Absenz bestimmter Kolumnen, bestimmter der Finanzen, der Umgang mit einem neuen Pub- Zeichenstile formt eine Stimme, die ohrenbetäubend likum, die damit einhergehende oft, kritische laut schweigen kann. Rezeption einzelner Karikaturen, der Umgang mit Ein Schlussstrich und eine Synthese können Medien und mit deren Blick auf die Zeitschrift, in jedem Falle nur gezogen werden, wenn die sowie der Umgang mit neuen terroristischen An- Geschichte zu Ende wäre – es erscheint jedoch weiter- schlägen, die für CH immer auch einen Rückbezug hin Ausgabe um Ausgabe von Charlie Hebdo. CH auf die Ereignisse des 7. Januars bedeuten. kommentiert die Tagesaktualität kontinuierlich, CH reagiert auf all dies mit einer kontinuierlichen reagiert auf Ereignisse und Meinungen. Karika- Reflexion, die einerseits einen Blick nach Außen turen und Texte bauen weiterhin auf kulturelles, bedeutet, d.h. den 7. Januar immer mit dem aktu- historisches und politisches Kontextwissen. 42

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache

Sie verweisen aber auch aufeinander, Motive und Quellenverzeichnis Figuren wiederholen sich, werden wiedererkenn- bar, immer mit einer entscheidenden Differenz – der Anonym/Actu France: „#TousAuBistro: la riposte con- ernsten Pointe des gerade erzählten Witzes. In der tre la peur“. In: Actu France. https://www.actu-france. Überlebenden-Ausgabe schließt com/tousaubistro-riposte-contre-peur, 18.11.2015 eine Anekdote über Charb mit einer Aussage, die (zit. 11.07.2018) vielleicht am besten für Charlie Hebdos Jahr 2015 stehen kann – mit all der Spannung ihres Paradox- Anonym/Der Standard: „Weiterer Mitarbeiter ver- ons: „On le savait, nous, à Charlie, que l’humour était lässt ‚Charlie Hebdo‘“. In: Der Standard. http://der- quelque chose de très sérieux“ [„Wir wussten es alle, standard.at/2000022858803/Weiterer-Mitarbeiter- bei Charlie, dass der Humor eine sehr ernste Sache verlaesst-Charlie-Hebdo, 27.09.2015 (zit. 11.07.2018) war“] (CH 2015/1178: 10). Anonym: „Patrick Balkany ferme son compte Twitter après un tweet lié à l’attentat de Charlie Hebdo“. In: leLab. https://lelab.europe1.fr/patrick-balkany-ferme- son-compte-twitter-apres-un-tweet-lie-a-l-attentat- de-charlie-hebdo-20092, 08.01.2015 (zit. 11.07.2018) Anonym/LeMonde: „Un an après l’attentat, un Dieu as- sassin à la ‚une‘ de ‚Charlie Hebdo‘“. In: LeMonde. http://www.lemonde.fr/actualite-medias/arti- cle/2016/01/04/un-an-apres-un-dieu-assassin-a- la-une-du-numero-anniversaire-de-charlie-heb- do_4841110_3236.html, 04.01.2016 (zit. 11.07.2018) Anonym/L’Obs: „Je revendique l’autocensure“. In: L’Obs. https://www.nouvelobs.com/medias/20060207. OBS5514/je-revendique-l-autocensure.html, 07.02.2006 (zit. 11.07.2018) Anonym/Le Parisien: „Une de Charlie Hebdo: échange tendu entre Naceri et Pulvar“. In: Le Parisien. http:// www.leparisien.fr/tv/une-de-charlie-hebdo-echange- tendu-entre-naceri-et-pulvar-22-01-2015-4469607. php, 22.01.2015a (zit. 11.07.2018) Anonym/Le Parisien: „Aylan, l’enfant noyé en Turquie dont ‚la photo fait taire le monde‘“. In: Le Parisien. http:// www.leparisien.fr/faits-divers/enfant-noye-en- turquie-l-histoire-derriere-la-photo-qui-fait-taire-le- monde-03-09-2015-5058717.php, 03.09.2015b (zit. 11.07.2018) Anonym/Le Point: „‚Charlie Hebdo‘: Éric Zemmour s’exprime sur la vague d’attentats“. In: Le Point. http://www.lepoint.fr/societe/charlie-hebdo-er- ic-zemmour-s-exprime-sur-la-vague-d-atten- tats-04-02-2015-1902419_23.php, 04.02.2015 (zit. 11.07.2018) Anonym/Zeit: „Papst Franziskus zum Faustschlag bereit“. In: Zeit. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeit- geschehen/2015-01/papst-franziskus-meinungsfrei- heit-faust, 15.01.2015a (zit. 11.07.2018) 43

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Anonym/Zeit: „Schriftsteller kritisieren Preis für ‚Char- vraie-reflexion-a-faire-pour-geluck-2344027, lie Hebdo‘“. In: Zeit. https://www.zeit.de/kultur/lit- 14.01.2015 (zit. 11.07.2018) eratur/2015-04/charlie-hebdo-pen-preis-boykott, Kucinskas, Audrey: „‚Charlie Hebdo‘: Booba répond 28.04.2015b (zit. 11.07.2018) à Luz avec un dessin osé: choquant ou amusant?“. Arama, Valentine: „Les dessins de Charlie Hebdo sur la In: L’Obs. http://leplus.nouvelobs.com/contribu- mort du petit Aylan choquent à l’étranger“. In: JDD. tion/1357827-charlie-hebdo-booba-repond-a-lu- http://www.lejdd.fr/Medias/Presse-ecrite/Les-des- zavec-un-dessin-ose-choquant-ou-amusant.html, sins-de-Charlie-Hebdo-sur-la-mort-du-petit-Aylan- 22.04.2015 (zit. 11.07.2018) choquent-a-l-etranger-751409, 16.09.2015 (zit. Leurquin, Anne-Sophie und Percy, Matthieu: „Après 11.07.2018) les attentats, des hashtags décalés en guise d’hom- Bacqué, Raphaëlle: „Le nouveau public de ‚Charlie‘ est-il mage“. In: Le Soir Plus. http://plus.lesoir.be/13859/ prêt pour l’humour de ‚Charlie‘?“. In: Le Monde. http:// article/2015-11-16/apres-les-attentats-les-reseaux- www.lemonde.fr/police-justice/article/2016/01/06/ sociaux-appellent-faire-la-fete, 16.11.2015 (zit. le-nouveau-public-de-charlie-est-il-pret-pour-l- 11.07.2018). humour-de-charlie_4842337_1653578.html, Luz [Renald Luzier]: Catharsis. Paris 2015 06.01.2016 (zit. 11.07.2018) Maus, Stefan: „Darum ist die Aylan-Karikatur nicht ras- Bacqué, Raphaëlle: „‚Charlie‘: le casse-tête de la recon- sistisch“. In: Stern. https://www.stern.de/panorama/ struction“. In: Le Monde. http://www.lemonde.fr/m- weltgeschehen/charlie-hebdo--darum-ist-die-karika- actu/article/2015/02/19/charlie-hebdo-le-casse-tete- tur-von-aylan-kurdi-nicht-rassistisch-6650436.html, de-la-reconstruction_4578595_4497186.html?xtmc= 15.01.2016 (zit. 11.07.2018) luz&xtcr=5, 19.02.2015 (zit. 11.07.2018) Meister, Martina: „‚Charlie Hebdo‘ zeigt Aylan als Bastié, Eugénie: „Les dessins de Charlie Heb- Pograpscher in Köln“. In: Welt. http://www.welt.de/ do sur la mort d’Aylan ne font pas rire tout le politik/ausland/article151029361/Charlie- monde“. In: Le Figaro. http://www.lefigaro.fr/ Hebdo-zeigt-Aylan-als-Pograpscher-in-Koeln.html, actualite-france/2015/09/16/01016- 14.01.2016 (zit. 11.07.2018). 20150916ARTFIG00112-les-dessins-de-charlie- hebdo-sur-la-mort-d-aylan-ne-font-pas-rire-tout- Meyssan, Thierry: „Qui a commandité l’attentat con- le-monde.php, 16.09.2015 (zit. 11.07.2018) tre Charlie Hebdo ?“. In: Voltaire.net. http://www. voltairenet.org/article186408.html, 07.01.2015 (zit. Charb [Stéphane Charbonnier]: Lettre aux escrocs de l’is- 11.07.2018) lamophobie qui font le jeu des racistes. Paris 2015a Nelson, Sara: „Charlie Hebdo veröffentlicht umstrit- Charb [Stéphane Charbonnier]: Brief an die Heuchler und tene Karikatur über das ertrunkene Flüchtling- wie sie den Rassisten in die Hände spielen. Übs. v. Werner skind Aylan Kurdi“. In: Huffington Post. https:// Damson. Stuttgart 2015b www.huffingtonpost.de/2015/09/15/charlie-heb- Clavel, Geoffroy: „Jean-Marie Le Pen: l’attentat con- doaylan-kurdi_n_8137908.html, 15.09.2015 (zit. tre Charlie Hebdo ‚porte la signature de services se- 11.07.2018) crets‘, phrase qu’il récuse“. In: Huffington Post. https:// Provost, Lauren: „Jean-Marie Le Pen appelle à voter Front www.huffingtonpost.fr/2015/01/16/jean-marie- National et déclare ‚Je suis Charlie Martel‘ après l’at- le-pen-charlie-habdo-front-national-services-se- tentat de Charlie Hebdo“. In: Huffington Post. https:// crets_n_6487686.html, 16.01.2015 (zit. 11.07.2018) www.huffingtonpost.fr/2015/01/09/jean-marie-le- Cole, Teju: „Unmournable Bodies“. In: The New pen-front-national-charlie-martel-hebdo-tweet-dec- Yorker. http://www.newyorker.com/culture/ larations_n_6443248.html?utm_hp_ref=fr-jean-ma- cultural-comment/unmournable-bodies, 09.01.2015 rie-le-pen, 09.01.2015 (zit. 11.07.2018) (zit. 11.07.2018) Tiberj, Vincent und Mayer, Nonna: „Le simplisme Duguet, Margaux: „Geluck: ‚la Une de Charlie est dan- d’Emmanuel Todd démonté par la sociologie des ‚Je gereuse mais je la comprends‘“. In: Europe 1. http:// suis Charlie‘“. In: Le Monde. http://www.lemonde.fr/ www.europe1.fr/culture/une-de-charlie-hebdo-une- idees/article/2015/05/19/le-simplisme-d-emmanu- 44

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Elisabeth Klar: Humor ist eine ernste Sache

el-todd-demonte-par-la-sociologie-des-je-suis-char- lie_4635826_3232.html, 20.05.2015 (zit. 11.07.2018) Todd, Emmanuel: Qui est Charlie? Paris 2015 Touati, Nabil: „Vidéo: Taubira comparée à un singe: le ‚nouveau visage‘ du Front national?“. In: Huffington Post.fr: https://www.huffingtonpost.fr/2013/10/18/ video-taubira-singe-fn_n_4119665.html?utm_hp_ ref=france, 18.03.2013 (zit. 11.07.2018) Yan, Holly: „Garland Shooting: What is the American Freedom Defense Initiative?“. In: CNN. https://edi- tion.cnn.com/2015/05/04/us/what-is-american-free- dom-defense-initiative/index.html, 04.05.2015 (zit. 11.07.2018) Yuhas, Alan: „Two Dozen Writers Join Charlie Hebdo PEN Award Protest“. In: The Guardian. https://www. theguardian.com/books/2015/apr/29/writers-join- protest-charlie-hebdo-pen-award, 29.04.2015 (zit. 11.07.2018)

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Marie Schröer: Charlie als Symbol oder L’Esprit Charlie? L’après-Charlie in den autobiografischen Comics von Luz und Catherine Meurisse Nach den Attentaten wurde Charlie Hebdo zu Position oft mit einer Auswahl von besonders einem Symbol, dessen verschiedene Gruppen sich mehr provokativen Titelbildern. Exemplarisch kann oder weniger plakativ bedienten. In einer der im In- der am Tag des Anschlags veröffentlichte Artikel ternet verbreiteten links-liberalen Lesarten wurde von die Jacob Canfield genannt werden, der breit primär die Oberfläche betrachtet, d.h. die Wahrneh- rezipiert wurde und dessen Argumentationslinie mung auf die kontextlose Sichtung der Titelkarikaturen und Bild-Auswahl nachfolgende Artikel und Blog- beschränkt, um CH zum beispielhaften Symptom einträge inspiriert haben dürften (vgl. Canfield eines hegemonialen und rassistischen Diskurses zu 2015).2 Der Kontext der jeweiligen Abbildungen erklären, der zur weiteren Marginalisierung der (franzö- wurde indes selten mitgeliefert: Auf Seiten der sischen) Muslime beitrage. Die entgegengesetzte Ex- CH-Kritiker_innen mangelte es (ob absichtlich tremposition bestand darin, die CH-Mitarbeiter_innen oder mangels besseren Wissens) an Hintergrund- zu Märtyrer_innen, die Zeitschrift zum Symbol für informationen zu kulturellen und ju- Freiheit zu verklären. Auch dabei wurde wenig über die ristischen Besonderheiten der franzö- eigentlichen Inhalte, Motivationen und Motive der Satire- sischen Situation; die landespolitischen Zeitung berichtet. In Folge werden diese Symbole daher Diskurse, ohne die einige der Karikaturen schlicht- dekonstruiert und der Blick anschließend auf die auto- weg nicht verständlich sind, wurden nicht erläutert. biografischen Comics der überlebenden Redaktions- Der Tenor in etwa: Man müsse die Zeitung nicht mitglieder Luz und Catherine Meurisse gerichtet: en détail kennen und des Französischen nicht un- Zwei Stimmen einer ehemals vielstimmigen Redaktion, bedingt mächtig sein, um zu erkennen, dass hier zwei Menschen hinter dem Mythos, zwei Variationen des islamophober3 oder rassistischer Humor auf Kosten Esprit Charlie. 2 Canfield vertritt die These, es handle sich um rassistische Cartoons (und Cartoonist_innen), die man aller Wer ist Charlie für wen? Zerrbilder des Meinungsfreiheit zum Trotz kritisch betrachten sollte (vgl. ebd.). Abgebildet oder beschrieben wurden von Canfield und Diskurses anderen Kritiker_innen nicht nur die Cover mit den berühmt- Sehr schnell nach den Attentaten vom 7. Januar berüchtigten Mohammed-Karikaturen, sondern auch das Bild, das die schwarze Politikerin Christiane Taubira als Affen zeigt, 2015 manifestierten sich in der hiesigen Diskus- oder aber die Zeichnung hochschwangerer Boko-Haram-Sex- sion um Charlie Hebdo scheinbar zwei dichotome sklavinnen. Der Einfluss von Canfields Post wird nicht nur Lager. „Je suis Charlie“ skandierten die einen; „Je anhand der exzessiv frequentierten Kommentarspalte unter ne suis pas Charlie“ empörten sich die anderen. Für dem Artikel deutlich: In klassischen Publikationsorganen wie ein uneingeschränktes Recht auf Meinungs- und der New York Times begnügte man sich mit Beschreibungen der Pressefreiheit (inklusive des Rechts auf Blasphemie) Cartoons und verwies in diesem Kontext auf Canfields viralen 1 Artikel (vgl. Schuessler 2015). Um sich ein Bild von den Bildern traten erstere ein. Die zweite Gruppe verurteilte machen zu können, ist die Abbildung absolute Voraussetzung die Anschläge selbstredend ebenfalls, monierte aber und die entsprechende Kontextualisierung erforderlich (zu den die (vor)eiligen uneingeschränkten Solidaritäts- jeweiligen Entstehungsgeschichten vgl. z.B. Moneyron 2015). bekundungen. Diese illustrierte und begründete ihre 3 Es sei kurz darauf hingewiesen, dass die Problema- tisierung und Instrumentalisierung des Begriffs „Islamopho- bie“ (als umbrella term) reflektiert werden muss. Exemplarisch 1 Leider nicht ohne die unerwünschten rechtspopulis- sei hier Floris Biskamp zitiert, der auf perlentaucher.de auf tischen Nebenwirkungen, die in diesen Zeiten jede Diskussion die Diskussion zwischen Pascal Bruckner und Farid Hafez begleiten, die mit dem Thema Islam in Verbindung gebracht reagiert: „Es ist also ebenso falsch, das Ressentiment gegen den werden kann. Rechtspopulistische Trittbrettfahrer_innen, die Islam zu verleugnen, wie es falsch ist, jede Kritik an nun wahrlich nicht als Apologet_innen der Meinungsfreiheit islamischen Autoritarismen als islamfeindlich zu delegitimieren. bekannt sind, nutzen die Gunst der Stunde, frönen ihrem meist Wünschenswert wäre eine breite Anstrengung, einen Begriff recht undifferenzierten Islam-Hass und sonnen sich im Schein- antiislamischer Ressentiments herauszuarbeiten, der weder werferlicht. Auch in Deutschland wappneten sich Pegida-An- die Kritik autoritärer islamischer Religiositäten unterminiert, hänger_innen mit „Je suis Charlie“- oder gar „Pegida = Char- noch in einer falschen Gleichsetzung mit dem Antisemitismus lie“- Plakaten. endet“ (Biskamp 2011: o.P.). 46

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Marie Schröer: Charlie als Symbol oder L’Esprit Charlie? von Minderheiten gemacht werde, der zur Eskala- delt das Thema Religion,4 acht beinhalten eine An- tion einer sowieso schon aufgeheizten Stimmung spielung auf den Djihadismus), der Kampf gegen den beitrage (vgl. dazu Parkhill 2015). Begnügen wir Front National dagegen einen sehr großen. Money- uns mit einem Blick auf die ausgewählten Titelbil- ron gibt zunächst an, das Korpus nutzen zu wollen, der, stellen wir fest: Charlie Hebdo ist derb, brutal um die Techniken der Minoritäten-Darstellungen und schwarzhumorig. Unter der Gürtellinie. Ges- (und -Diskriminierungen) zu ergründen, lässt aber chmacklos. Knut Rio diskutiert den wirtschaftlichen implizit anklingen, dass sie Zweifel an den ver- Anreiz der Islam-Kritik und resümiert dabei en pas- breiteten Einschätzungen über CH hat: sant seine Sicht auf Charlie: The hope is that, with a segment this size, we can From random nonsense and obscene mockery of investigate the techniques used to represent racial politicians and celebrities, it suddenly touched on minorities, and especially the Muslim community. something of a whole other order: an indefinable After all, they have been constantly under attack, terrain of massive popular interest, an intimation of haven’t they? (Moneyron 2015: o.P.). danger, of stepping across a line (Rio 2015: 18). Vorschnelle Identifikation vs. vorschnelle Verurtei- Und: „Puerile Grobheit ist der Standardstil von Char- lung? Die omnipräsente digitale Kommunikation lie“ (Ziegler 2015: o.P.) schreibt der Romanautor Ulf verführt zu rapiden Reflex-Reaktionen; die vir- E. Ziegler Ende Januar 2015 auf perlentaucher.de. tuelle Kondolenz-Community bietet Geborgen- Auch wenn die politische Dimension der Vorfälle heit und stiftet (Gruppen-)Identität, die demon- im Vordergrund der Analyse steht und die alleini- strativ differenzierte Haltung ist nicht selten ein ge Fokussierung auf die Mohammed-Karikaturen so nicht minder großes Zeugnis von Borniertheit und vielleicht legitimiert werden könnte, begnügen sich Selbstgerechtigkeit: Political correctness, die mit- auch wissenschaftliche Publikationen nicht selten unter keine ist (!), wird zur Ersatzreligion der mit einem einseitigen Verweis auf die mangelnde Dogmatik- und Doxa-Bedürftigen. Empathie ver- Qualität der Zeichnungen und Zeitung, scheuen liert ihre Unschuld,5 wenn sie aus einem unreflek- folglich nicht vor vorwiegend „ästhetizistische[n] tierten Verhaltens-Kanon resultiert – die Folge sind Reaktion[en]“ (Chervel 2015: o.P.) zurück. Selbst geringe Ambiguitätstoleranzen und eine diffuse Sub- der US-amerikanische Cartoonist Garry Trudeau sumtion des gesamten Blatts unter einige im Diskurs schmückt seine Kritik des Inhalts mit einer Abwer- wabernde Schlagwort-Begriffe: ‚obszön‘, ‚roh‘, tung der Form: 4 Moneyrons Beitrag ist sicherlich als implizite Replik By punching downward, by attacking a powerless, auf den zuvor erwähnten Artikel von Jacob Canfield (2015) zu disenfranchised minority with crude, vulgar draw- lesen, der auf der gleichen Seite veröffentlicht wurde. Céline ings closer to graffiti than cartoons, Charlie wan- Goffette und Jean-François Mignot haben in ihrer quantita- dered into the realm of hate speech, which in France tiven Analyse ein größeres Korpus der Titelbilder von 2005 bis is only illegal if it directly incites violence (Trudeau 2015 betrachtet und zeigen ebenfalls, dass das Thema Religion auf 38 von 523 Titelbildern eine Rolle spielt; 75 Prozent dies- 2015: o.P.). er Titelbilder beschäftigen sich mit dem Katholizismus (vgl. Er bezeichnet die Autor_innen als „free speech ab- Alonso 2015: o.P.). Dies bedeutet indes nicht, dass CH sich je- mals in seiner Religions-Kritik zurückgehalten hätte. Es ist zur solutists“ (ebd.) und damit implizit zugleich als Genüge darauf hingewiesen worden, dass ein Grundpfeiler der Fantatiker_innen: „[A]t some point free expression Zeitung die Verteidigung des Laizismus, und damit die Reli- absolutism becomes childish and unserious. It be- gions- und vor allem Institutionenkritik ist. Besonders die comes its own kind of fanaticism“ (ebd.). Doppelmoral der katholischen Kirche war und ist immer wie- Als Reaktion auf diese Vorwürfe demonstrier- der Sujet der Karikaturen, aber auch (anders als immer wieder ten verschiedene Wissenschaftler_innen und zu Unrecht perpetuiert) das orthodoxe Judentum. Journalist_innen, wie z.B. Josselin Moneyron für The 5 Leslie Jamison untersucht in ihrer Essay-Sammlung Hooded Utilitarian (Moneyron 2015), dass das The Empathy Exams die verschiedenen Facetten der Empathie, und kreiert dabei den Neologimus der ‚Inpathie‘: „I obsessed, Thema ‚Islamismus‘ im Gesamtprogramm von and told myself this obsession was empathy. But it wasn’t, Charlie einen eher geringen Platz einnehme (ein quite. It was more like inpathy. I wasn’t expatriating myself Cover von 52 Covern aus dem Jahr 2014 behan- into another life so much as importing its problems into my own“ (Jamison 2014: 20).

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‚krude‘, ‚vulgär‘, ‚brutal‘, ‚kindisch‘ oder auch ‚pueril‘. Der Blick auf die Mehrzahl der Titelbilder, die den Zusammenfassend ließe sich Folgendes festhalten: französischen Rechtsruck kritisieren; der Blick in die Charlie Hebdo wurde von unterschiedlichen Grup- Zeitschrift, die sich u.a. und durchaus intellektuell pen zu einem Symbol gemacht und als solches in- mit Kultur, Umweltschutz oder Psychoanalyse (und strumentalisiert. Bilder wurden zu aus dem Kontext das nicht nur anhand von Comics und Karikaturen) gerissenen Zerrbildern, mit deren Hilfe sich entspre- befasst; der Blick auf die Stil- und Stimmenvielfalt chend verzerrte Wahrnehmungen und Weltbilder innerhalb der Zeitung; der historisch reflektierte transportieren ließen: Charlie als Märtyrer der Frei- Blick, der sie als links-laizistisch zu verorten erlaubt; heit, als Ventil für rechtspopulistische Propaganda, die auto-ironische Selbst(be)schreibung der Zeitung als Stellvertreter-Beispiel für allgegenwärtige Rassis- als Nachfolger von Hara-Kiri, die die Fremdzusch- men, als Kriegserklärung an ,den‘ Islam. In den meis- reibung seitens der Autoritäten zu ihrem Untertitel ten Fällen dienten – wenn überhaupt – die Titelbil- machte: „Journal bête et méchant“ [„blöde und böse der als Illustration der Positionen, hier wiederum im Zeitung“]. Und, so impliziert es der letztgenan- häufigsten Fall allein die Mohammed-Karikaturen. nte Aspekt bereits, vor allem: es mangelt an einem Die Kontexte wurden indes nicht mitgeliefert. Blick auf den Humor, es mangelt an Kompetenz, diesen Humor auch in Karikaturen zu dechiffrie- ren. Dass Humor-Geschmäcker zu einem Großteil auf der Sozialisation, dem kulturellen Umfeld und der Bildung basieren, ist kein Geheimnis. Pierre Bourdieu zählt Charlie Hebdo in La Distinction zu den Produkten der contre-culture, „die in journalistischer Verpackung die Erzeugnisse der intellektuellen Avantgarde anbieten“ (Bourdieu 1982: 149f.), welche, so seine Vermutung, in erster Linie von Auto- didakten konsumiert werden, die nicht aus einem hochkulturellen Umfeld stammen, aber eine gute Bildung genossen haben. Giselinde Kuipers kommt in ihrer an Bourdieu anknüpfenden soziologischen Studie Good Humor, Bad Taste zu dem Schluss: [H]umor will never completely belong to great art, high culture or pure beauty: even the highest hu- mor will always be a bit low. A common glint and tarnished glow, with all their positive and negative associations will continue to emanate from all hu- mor, even from genres many times more refined, restrained, sophisticated, witty and creative than the joke. Good humor always implies some bad taste Abb. 1: CH 2011/1016: Cover (Kuipers 2006: 248).

Was hingegen kaum erfolgte: Der Blick auf an- dere Titelblätter, die die Verunglimpfung katholischer Integrismen illustrieren ( ).6 unter dem deutlich milderen Titel Dinner für Spinner veröffent- Abb. 1 licht wurde, wörtlich übersetzt müsste es „Dinner für Be- kloppte“ heißen). Anlass dieses Covers war der Prozess gegen 6 Hier ein CH-Cover von Catherine Meurisse (als den Pariser Theater-Direktor Jean-Michel Ribes, der das Stück CH-Autorin kurz ‚Catherine‘), deren autobiografisches Werk Golgota Picnic aufführen ließ, an dem katholische Verbände weiter unten behandelt wird. Das Cover zeigt, dass die Kennt- Anstoß nahmen, da es sich über das Christentum mokiere, nis der aktuellen (kultur-)politischen Debatten für das Ver- Heiliges entweihe und so zu Hass (Christianophobie) anstifte. ständnis erforderlich ist. Die Überschrift „le dîner de cons“ Man beachte die ,wurstige‘ Nase Jesu, die an den Stil von Charb verweist auf das Abendmahl-Motiv und zitiert einen schwarz- und Luz erinnert und eben nicht bloß den muslimischen humorigen Film aus den neunziger Jahren (der auf Deutsch, Figuren vorbehalten bleibt (auch bei Charb und Luz nicht).

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In ihrer Studie assoziierten die Befragten den „Die Folge einer solchen Haltung ist genau die, die ‚guten‘ highbrow-Humor u.a. mit eben jenen Adjek- man in solchen Fällen erwarten kann: Je mehr die tiven, die zur Verunglimpfung von Charlie Hebdo westlichen Linksliberalen ihrer eigenen Schuld gebraucht werden: Dieser sei eben oft ‚sharp‘ und nachspüren, desto massiver werden sie von musli- ‚coarse‘ (beißend und grob) – nicht gefällig, nicht nur mischen Fundamentalisten als Heuchler bezichtigt, pointen-orientiert, nicht glatt, nicht moralisierend, die ihren Hass auf den Islam zu verbergen suchen. nicht emphatisch, nicht kitschig. Diese Konstellation reproduziert exakt das Paradox des Über-Ich: Je mehr man sich dem fügt, was der andere von einem will, desto schuldiger wird man“ Pragmatismus im Umgang mit Terrorismus? (Žižek 2015a: o.P.). Charb argumentiert in seinem posthum veröffent- lichten Brief Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui Charlie als Symbol: font le jeu des racistes (2015) gegen die Vorwürfe, Über Fremdzuschreibungen und Selbst- Charlie Hebdos Zeichnungen seien islamophob: Es wahrnehmungen sei vielmehr die Unterstellung, dass jede Muslim_in sich von einer Mohammed-Karikatur, die den Niemals aber sollte man von der Ermordung eines radikalen Islam oder den Terrorismus angreife, Menschen wie von einer Figur sprechen, noch nicht automatisch beleidigt fühlen müsse, welche den einmal wie von einer exemplarischen Figur in einer Rassismus des Karikaturen-Kritikers in sei- Logik des Emblems, einer Rhetorik der Fahne oder nem übergriffig-protektiven Verhalten entlarve. Martyriums. Das Leben eines Menschen, so einzig Dieser Gedanke ist plausibel, klärt aber nicht die wie sein Tod, wird immer mehr als ein Paradig- Frage danach, wie in solch aufgeheizten Zeiten mit ma sein und immer etwas anderes als ein Symbol Karikaturen zu verfahren ist, die eine Stellvertreter- (Derrida 1995: 7). funktion in komplexen politischen Debatten einneh- men. Die Frage, ob wir angesichts der gewaltigen So schreibt es Jacques Derrida 1993 in Marx’ Gespen- und gewalttätigen Reaktionen auf die Lektüre, mit ster. Der überlebende Zeichner Luz reflektiert die Trudeau (losgelöst von seiner implizierten Herab- Symbolwerdung Charlies drei Tage nach dem An- würdigung sämtlicher Inhalte) für einen verant- schlag in einem Interview mit dem Magazin Les wortungsvolleren Umgang mit der Meinungsfrei- Inrocks: heit plädieren sollten, ist berechtigt. Der Ruf nach The media made a mountain out of our cartoons, Deeskalation steht dem nach mehr Satire gegenüber, when on a worldwide scale, we are merely a da die Zurückhaltung sonst rückwirkend gewalttä- damn teenage fanzine. This fanzine has become a tige Reaktionen zu legitimieren drohe – und damit national and international symbol, but it was people nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch die that were assassinated, not the freedom of speech! künstlerische Freiheit samt der ihr inhärenten Am- People who sat in an office and drew cartoons biguität gefährde. Gute Kunst, wie guter Humor, ist (Luz/Laffeter 2015: o.P.). meistens doppelbödig, mehrdeutig, ambivalent – und damit missverständlich. Nachdem wir uns einen Eindruck von den Fremd- Es ist generell zu hinterfragen, ob das Pragmatis- zuschreibungen verschafft haben und überfordert mus-Argument (,Kein Öl ins Feuer gießen!‘) hier auf die komplexe politische Gemengelage blicken, ist überhaupt trägt. Slavoj Žižek warnt mit Verweis es also an der Zeit, das Symbol Charlie zu dekonstru- auf Salman Rushdies Satanische Verse (1988) vor den ieren, um die getöteten und lebenden Individuen zu Nebenwirkungen des vorauseilenden Gehorsams:7 Wort (und Bild) kommen zu lassen. Charb, einer der Zeichner, der bei den Anschlägen ums Leben kam, äußerte sich in Interviews (vgl. Charb 2009) immer 7 Der Gastbeitrag aus der Zeit ist ein Ausschnitt aus wieder besorgt über den Status der Pressezeichnung Žižeks Buch Der neue Klassenkampf: Die wahren Gründe für Flucht und Karikatur. Er beklagte einen Analphabetismus und Terror (2015b). Auch andere laizistisch orientierte Links- Intellektuelle wie der italienische Philosoph Paolo Flores d’Ar- der Verantwortlichen bei den Zeitungen, die nicht cais plädieren für mehr statt weniger Kritik – und ergo auch mehr wüssten, wie sie Karikaturen lesen sollten und Satire und Karikatur (vgl. D’Arcais Flores 2015). daher sehr rigide Vorgaben machten. 49

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Diesem Analphabetismus zum Trotz konnte Char- destroying symbols, breaking down taboos, burst- lie Hebdo weitermachen und -scherzen, da die Pub- ing bubbles of fantasy“ (ebd.: o.P.). Die Publika- likation eben anders als die Tagespresse den nö- tionsbedingungen erlaubten es, das inspirierende, tigen Freiraum für eine spezifische Leserschaft emanzipatorische und aufklärerische Potential von bot. Wie Luz es hervorhebt, war es aber nicht das Bildern, Glossen und Comics zu nutzen, um Dok- Anliegen der Zeichner_innen zu einem Symbol zu trinen in Frage zu stellen, Symbole zu dekonstru- werden. Er beklagt mit Charb die Unfähigkeit der ieren, Tabus zu brechen, und sich abgenutzter Leser_innen (vor allem derjenigen, an die die Zei- Klischees zu entledigen: Religiöse Dogmen, der tung nicht einmal adressiert war), die Bilder in ihrer Populismus der Rechten, stereotype Rollenbilder Doppelbödigkeit zu begreifen. werden und wurden aufgezeichnet, karikiert und so dekonstruiert. Es soll hier ein aktuelles Beispiel Since the cartoons of Muhammad, the irresponsible gegeben werden, das (wie die meisten) absolut nature of cartoons has gradually disappeared. Since nichts mit dem Islam, sondern mit dem politischen 2007, our cartoons are read literally. People or car- Tagesgeschehen zu tun hat. Zuletzt sorgte am 10. toonists, like Plantu, believe we shouldn’t do draw- Mai 2017 das folgende Cover von Riss für Furore ings on Muhammad because they go viral on the In- ( ): ternet. Therefore, we have to be careful what we do Abb. 2 in France as someone may react in Kuala Lumpur or somewhere else. It’s unbearable (Luz/Laffeter 2015: o.P.). Eine ‚irresponsible nature‘ ist also genau das Merk- mal, das die Karikaturen und Comics Charlies Luz zufolge charakterisiere. Seine Erläuterungen helfen den gemeinsamen Nenner der Charlie-Autor_innen herauszufiltern, der eben nicht die Obszönität ist, sondern ein Stilpluralismus in den humoristischen Reaktionen auf die Schrecken der realen Welt. Sometimes goofy, other times crass, punk for sure. Sometimes it doesn’t work, other times it’s simply beautiful. Charlie is the combination of a group of very different people, who all draw cartoons. The nature of the cartoon changed depending on which cartoonist was working on it, using his or her style, drawing on previous political or artistic influences. But this modesty and diversity of expression no lon- ger exists. Each cartoon is seen to having been done by all of us (ebd.: o.P.). Abb. 2: CH 2017/1294: Cover Luz’ Befremdung angesichts der Vereinnahmung Charlies seitens der Medien, Politik und Öffent- „Il va faire des miracles!“ [„Er wird Wunder voll- lichkeit gibt noch detaillierter Aufschluss über ein bringen!“] heißt es über den dümmlich grinsenden Hauptcharakteristikum der Zeitung. Es wurde be- Macron, der den voluminösen Bauch seiner ebenso reits erwähnt, dass die Kirchen- und Autoritätskri- grinsenden schwangeren Partnerin berührt. Über- tik schon immer grundlegendes Merkmal war. nimmt man nun die von Luz monierte ‚wörtliche‘ Luz verweist nicht nur auf die Vielfalt der Stim- Lesart, ist das Cover durchaus #aufschrei-tauglich,8 men und Stile, mit der diese Kritik in bildlicher „Bescheidenheit“ (modesty) artikuliert wurde. Er beschreibt auch implizit das Ethos, das hinter die- 8 Der #aufschrei (gesprochen: Hashtag Aufschrei) sem Pluralismus steht: „The symbolic weight is markiert (seit und, vor allem, Anfang 2013) auf Twitter die- exactly what Charlie has always worked against: jenigen Tweets, in denen Frauen über ihre Erfahrungen mit Sexismus berichteten (vgl. dazu Drüeke/Klaus 2014). 50

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Marie Schröer: Charlie als Symbol oder L’Esprit Charlie? wie in den Facebook-Kommentaren auf der offi- unglaublich schnell an Kraftausdrücke,[9] wenn sie ziellen Charlie Hebdo-Seite nachzulesen ist: Die einer Wahrheit oder einer Notwendigkeit entspre- Kinderlosigkeit des Paares ist bekannt, Brigitte chen. Ich erinnere mich, wie übel mir am Anfang Macron ist nicht mehr im gebärfähigen Alter wurde, wenn ich die Ungeheuerlichkeiten von Ca- – insofern sei dieses Szenario respektlos. Der Sexis- vanna, Cabu, Reiser oder Wolinski in ,Charlie Hebdo‘ mus manifestiere sich zudem bereits darin, dass der las, über das, was sie immer noch als ,Tampax‘ be- Altersunterschied in dieser Konstellation zeichnen. Diese Ketzer verletzten ein Tabu, indem (ältere Frau, jüngerer Mann) überhaupt thema- sie es wagten, offen über etwas zu lästern, worüber tisiert werde. Auch die von mir favorisierte alter- wir selbst nur flüstern. Je öfter ich diese obszönen native Lesart bestreitet nicht, dass das Bild verletzen Scherze aber las, je öfter ich sah, wie Männer sie kann. Das macht es aber nicht sexistisch, sondern erst lasen, die mir nahestanden, desto deutlicher fühlte einmal satirisch: Es handelt sich um eine Karikatur, die ich mich erleichtert, als würden diese Scherze end- den allgegenwärtigen Sexismus in der medialen und lich den Hexenbann brechen, dessen heimliche und öffentlichen Diskussion um das Paar überspitzt und schändliche Riten wir Frauen nun selbst ausüben, damit exponiert. Brigitte Macron ist in keiner Form kaum daß wir vom Urfluch und dem mittelatler- unvorteilhafter dargestellt als ihr Ehemann. Thema- lichen Gerede erlöst sind. Heute würde ich es mir tisiert wird neben dem Hauptthema der Boulevard- ohne weiteres zutrauen, Cavanna darum zu bitten, presse (das ungleiche Paar) die Glorifizierung Ma- mir Tampax mitzubringen. Er ist der einzige Mann, crons als Wunderkind und Hoffnungsträger. Ange- den ich, ohne zu zögern, um diesen Dienst bitten griffen werden also primär die Sensationslüsternheit würde, eben weil er sich über Tampax kaputtlacht. oder das Pathos, die sich genauso im Geläster über Was für ein Geschenk hat er mir damit gemacht private Beziehungen wie in der unverhältnismäßi- (Groult 1985: 85). gen Verehrung eines Menschen äußern. Die von Groult beschriebene Entsakralisierung der Auf anderer Ebene lässt sich die Entrüstung bei weiblichen Menstruation zeigt das empowerment-Po- einem solchen Thema sicherlich prognostizieren: tential des energischen Tabubruchs. Groults Wün- Angegriffen werden also gleichsam auch die starren sche sind ein Stück weit in Erfüllung gegangen. Es Dogmen, die – ihrem Kanon verhaftet – zur Humor- gibt zwar keine ‚Charlotte Hebdo‘, aber: Charlie ist losigkeit tendieren. Ja, Charlie Hebdo war in seinen weiblicher geworden.10 Anfängen sicherlich ein Blatt, das vom Humor- geschmack einer Gruppe weißer Männer domi- niert war. Dies bedeutet aber nicht, dass die Thema- L’Esprit-Charlie dans la BD de l’après-Charlie – tisierung von Sexualität und Sexismus automatisch Catharsis von Luz und La légèreté von Catherine patriarchale Strukturen zementiert. „Von einer Meurisse satirischen Zeitschrift, einem ,Charlie Hebdo‘ für Damen, können wir nur träumen, von einem Blatt, „Unlike the Anglo-Saxons or Plantu, Charlie fights das endlich einmal mit unserem Heiligenschein against symbolism. Doves of peace and other meta- und den anderen heiligen Werten herumjongliert phors of a world at war aren’t our cup of tea“ (Luz/ – mit diesen gottverdammten Werten“, schreibt die Laffeter 2015: o.P.). So fasst Luz in Les Inrocks im feministische Autorin B. Groult 1975 in ihrer Essay- Sammlung Ödipus‘ Schwester (Groult 1985: 83). Sie 9 Im französischen Original heißt es hier „grossièreté“. macht anhand eines simplen Beispiels deutlich, dass Das in der deutschen Übersetzung gewählte „Kraftausdrücke“ im Humor von Charlie Hebdo emanzipatorisches reduziert die „grossièreté“ allerdings auf einen Teilaspekt. Potential für Leserinnen der (damals) aktuellen Passender wäre die wörtliche Übersetzung „Grobheit“, die sich Frauenpresse steckt, das idealerweise in einem weib- in Sprache, Themenwahl und Zeichenstil manifestieren kann. Im nächsten Satz müsste es sinnigerweise heißen: „das was sie lich dominierten Pendant noch bessere Wirkkraft immer als ,Tampax‘ bezeichnen“ (statt: „was sie immer noch als erzielen könnte. ,Tampax‘ bezeichnen“), hier wurde „toujours“ falsch übersetzt. Für diese Frauen wäre eine satirische Frauen- 10 Im Jahr 2015 gehörten z.B. die (bei den Anschlägen zeitschrift, eine ,Charlotte Hebdo‘, eine Erlösung, getötete) Psychologin Elsa Cayat, die Zeichnerin Catherine Meurisse, die Zeichnerin Coco und die Journalistin Zineb al eine wohltuende Ablenkung. Wir gewöhnen uns Rhazoui zur festen Belegschaft.

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Januar 2015 die Linie des Journals zusammen und mokiert sich über Verschwörungstheorien und stellt die daraus resultierende Frage: imaginiert Zwiegespräche mit dem verstorbenen Was tun, wenn man selbst zu dem gemacht Freund und Kollegen Charb. Vor allem aber find- wurde, was man immer bekämpft hat? Diesem et er Bilder für den Terror, im wörtlichen, wie im Problem wollen wir uns nun widmen, indem wir übertragenen Sinne, und hangelt sich über die Auf- den Blick über die Titelblätter, sogar über das Blatt zeichnungen zurück in seinen Beruf und das Leb- hinaus, auf zwei Überlebenden-Comics lenken, die en. Wir werden uns hier nicht auf die Inszenierung nach dem Attentat veröffentlicht wurden. Wir be- des Schmerzes konzentrieren, sondern versuchen, geben uns also auf die Suche nach dem ominösen Es- seinen spezifischen Esprit Charlie (und sein prit Charlie, der fast schon sprichwörtlich geworden Mantra der Symbol-Dekonstruktion) in der ist und profitieren dabei von der Mehrdeutigkeit grafischen Trauerverarbeitung zu identifizieren und dieses Begriffs.11 Im Deutschen, Englischen und dabei deutlich zu machen, wie er immer wieder mit Französischen stehen „Geist“, „spirit“ und „esprit“ den verstorbenen Kolleg_innen kommuniziert, also (wie auch die „Inspiration“, aus dem Lateinischen deren ‚Geister‘ heraufbeschwört. „spiritus“ abgeleitet), sowohl für den Verstand, den Die im folgenden abgebildete Traumepisode Witz, als auch für das Wesen einer Sache, deren (Abb. 3, Abb. 4), die zu Beginn des Comics steht, Seele – und das Fantom. Dass der Geist von Charlie ist repräsentativ für Luz’ Galgenhumor. Der halb ein autoritätskritischer ist, der es sich zur Aufgabe entstellte und blutende Autor-Avatar inszeniert eine gemacht hat, skandierte Wahrheiten (und Klein- Redaktionssitzung, apostrophiert seine Kolleg_ geistigkeit) in Frage zu stellen, haben wir bereits innen, jongliert mit Ideen und Pointen, lacht sich gesehen. Dass hinter diesem Geist viele Menschen alleine halbtot. „Verdammt seid ihr heute schlapp. stehen, die mal feingeistig, mal derb über Religion, Habt ihr euch gefetzt oder was?“ (Luz 2015b: 10) lau- Politik, Umwelt, Militär oder auch Psychoanalyse tet seine ins Nichts gewandte Frage in der deutschen diskutieren, wurde erwähnt. Anhand der Präsenta- Übersetzung. Im Original ist die Sprache etwas vul- tion der zwei Comic-Autobiografien von Luz und gärer („engueuler“ = anschnauzen), aber auch origi- Catherine Meurisse (langjährige Redaktionsmitglie- neller und authentischer („Putain, vous êtes amorphes der und zufällig Überlebende des Attentats) sollen aujourd’hui“ [Scheiße, was seid ihr heute amorph die Menschen hinter dem Symbol gezeigt werden, drauf]). Der blutende Luz als einsamer Possenreißer, mitsamt ihrer humoristischen hommages an die ver- der nicht nur die genannten Freunde, sondern zu storbenen Geister ihrer Kolleg_innen, die in ihren allem Überfluss auch noch seinen Kuchen verloren Aufzeichnungen wieder zum Leben erweckt werden. hat („Ich habe meine galette verloren“, so die wört- Beiden Comics ist gemeinsam, dass es sich um liche Übersetzung von „J’ai perdu ma galette“, wie es Trauma-Autobiografien handelt, die nach den An- im Original heißt) demonstriert hervorragend den schlägen veröffentlicht wurden.12 Luz setzt in Ca- Esprit Charlie: Neue Bilder statt konventio- tharsis (im französischen Original im Mai 2015 neller Trauersymbolik, der Dreikönigskuchen als veröffentlicht), wie der Titel impliziert, zunächst absurdes Element, makabre Tragikomik anstelle einmal therapeutisch an: er behandelt sich selbst. von kitschiger Emphase. Genau in der grotesken In kurzen Fragmenten rekapituliert er den Tag des Redaktionssitzung, mit der Mischung aus Albern- Attentats, zeigt Szenen aus seinem Eheleben, kämp- heit, Profanem und dem Szenario des einsamen Da- ft gegen die Rastlosigkeit der schlaflosen Nächte, hinsiechens, setzt er den Kolleg_innen schon im Auftakt des Comics ein humoristisches Denkmal. 11 Eine entsprechende Google-Suche ergibt eine hohe Diese Mini-Hommages in Form von demonstrativer Trefferzahl (auch wenn man die Damenschuhe abzieht). Be- Pietätlosigkeit ziehen sich durch den Comic. Auch sonders kurz nach dem Attentat sprachen deutsche, englische in der Szene, in der er Charb von dessen Beerdigung und französische Medien (z.B. Le Monde, Die Süddeutsche, bbc. und seiner Grabrede berichtet ( ), ist es allein com) immer wieder vom ‚Esprit Charlie‘. Abb. 5 die rohe Sprache, mit der sich angemessen Respekt 12 Luz und Catherine Meurisse haben mittlerweile die zollen lässt, ohne in Platituden zu verfallen („Ich Zeitung verlassen, da sie die Situation (wie in verschiedenen Interviews geschildert) ohne ihre ehemaligen Kolleg_innen habe auch ,Schwanz‘, ,nackt‘ und ‚Muschi‘ gesagt“, 13 nicht erträglich fanden. Beide haben aber das Zeichnen nicht Luz 2015b: 70). aufgegeben, sondern sich dem weniger schnelllebigen Medium Comic (auch hier mit politischer Motivation) gewidmet. 13 Im französischen Original heißt es „bite“, „poil“ (also 52

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Abb. 3: Luz 2015b: 9 Abb. 4: Luz 2015b: 10

Abb. 5: Luz 2015b: 70 nicht „nackt“, sondern „Schamhaar“) und „chatte“.

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Die Episode „Des crayons de bois partout“ [„Über- all Bleistifte“] ist deutlich weniger heikel, demons- triert aber ebenfalls die Skepsis und Abneigung gegenüber der aufgeladenen Symbolik – in diesem Fall jener der konventionalisierten Metaphern (wie wir im Interview gelesen haben, ist Luz kein Fan der ‚Friedenstauben-Metaphorik‘). Als im Büro kistenweise Riesen-Bleistifte von neu gewonne- nen Unterstützer_innen angeliefert werden und ein Künstler ihn um einen Gravur-Text für eine Riesenstift-Skulptur zugunsten der Opfer bittet, macht er auf Drängen’’ eines Mitarbeiters folgen- den Vorschlag: „ich weiß nicht … irgendwas wie: ‚Und mein Arsch ist n‘ Anspitzer‘“ (Luz 2015: 100). Luz distanziert sich damit eindeutig von der flachen Symbolik der Solidaritätswelle.15 Erhellend kann in diesem Zusammenhang auch die Position des ehe- maligen Charlie Hebdo-Mitarbeiters und Comic- Autors Joann Sfar sein. Er erklärt auf seinem Blog, nur einen Monat nach dem Attentat: Ich habe weder schreiben noch zeichnen kön- nen, nachdem ich von den Attentaten erfahren hatte. Gegen 17.00 habe ich dann ein paar Wörter notiert: Die Namen der toten Zeichner. Einen Satz: ,Sie glaubten, sie könnten die Zeichner erledigen, aber sie haben auf den Islam geschossen.‘ Und wie Abb. 6: Luz 2015b: 67 alle habe ich ein idiotisches Bild von einem Stift und einer Kalaschnikow gemalt. Bei sehr großen Zwei weitere Auszüge seien wegen ihrer Ver- Ereignissen hat man die Pflicht ein idiotisches handlung der viel diskutierten Symbolik erwähnt. Bild zu zeichnen. Es sind Momente, wo besonders Im ersten Auszug ( ) wird der Diskurs um Abb. 6 pfiffig zu sein, obszön erscheinen kann. die Mohammed-Karikaturen ad absurdum geführt. Luz übertritt demonstrativ die Grenze (des ,guten harmlos um Bilder und Stifte, malen Hunde und geben an, Geschmacks‘, der ,verantwortungsvollen Karikatur‘) später auch mal Zeichner werden zu wollen. Als der Autor- und folgt damit dem Plädoyer Charbs. Sein Tinten- Avatar sie nach ihren Namen fragt, nennen sie die Vornamen der fass kippt um, der schwarze Fleck auf dem weißen Kouachi-Brüder. Im Subtext schwingt also folgende, fast Blatt wird von einem paranoiden Fanatiker für eine versöhnliche Botschaft mit: Das waren mal ganz normale, lieb- Mohammed-Abbildung gehalten. Die Luz-Figur enswerte Kinder. Und die daraus folgende Frage: Was hat sie dann zu Attentätern gemacht? beruhigt diesen und schlägt vor, einen Rorschach- test zu machen: „Rorschach, ist das nicht ein jü- 15 Bereits das Abstract des Artikels „On the origin of metaphors“ von Martí Domínguez (2015) macht deutlich, wie discher Name?“ fragt der Paranoide (Luz 2015b: 67) omnipräsent die Stiftsymbolik nach den Attentaten war: „An- und erkennt schließlich im Fleck die Vagina seiner alyzing 414 cartoons published after the death of the cartoon- Mutter. Keine Ehrfurcht vor der Religion, keine ists of the French satirical magazine Charlie Hebdo, I propose Ehrfurcht vor dem Ehrbegriff.14 a metaphoric founder effect with the metaphors ,PENCIL IS A WEAPON,‘ ,PENCIL IS A CARTOONIST,‘ and ,PENCIL IS FREEDOM,‘ and a subsequent metaphor drift that creates many 14 Auch hier kann etwas Kontextwissen helfen, die related metaphors. Additionally, the success of these metaphors Szene besser einzuordnen – und sie nicht als gezielte Beleidi- turns the pencil meme into a very efficient and fast-spreading gung aller Muslime zu verstehen. In einer anderen Episode, item representing not only the work of cartoonists, but also einem Flashback über Luz‘ Anfänge bei Charlie Hebdo, kom- the fundamental values of Western culture, such as freedom of men zwei Kinder zu Besuch in die Redaktion. Sie kebbeln sich expression“ (Domínguez 2015: 240).

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Katastrophen von dieser Tragweite sind die einzi- gen Momente im Leben eines Zeichners, in denen er so platt sein darf, wie Plantu, alles in einem Bild zu resümieren. Das ist billig. Bilder dienen dazu nicht. Diese Zeit, in der man sich sagte: ,Du hast sein Bild gesehen, jetzt hast Du alles verstanden‘, das steht für alles, was ich bekämpfe. Ich glaube, dass Zeichnungen und Wörter wie ein Faden ohne Ende sind. Man kann weiter und weiter am Garn ziehen und man sucht das ganze Leben nach dem Sinn. Ein Bild, das zusammenfasst, das vereinfacht, das einem das Gefühl gibt, dass man weiß, worum es geht, das ist ein Bild, das ich nicht mag. Wenn es mir das Leben komplizierter macht, wenn es eine Diskussion ohne Endpunkt aufwirft, dann mag ich das Bild (Sfar 2015a: o.P.; Übers. M.S.). Abb. 7: Sfar 2015b: 5 Während die Über-Reflektion im akuten Moment Catherine Meurisse hat in Interviews immer wie- der Katastrophe obszön erscheinen kann, kann das der betont, dass es Luz‘ Catharsis war, das ihr symbolverhaftete und damit beliebige Pathos im den Weg ebnete, statt an das ‚Wir‘ an das ‚Ich‘ zu Nachgang ebenso obszön wirken. Auch in seinem denken und sich so ein Stück weit selbst zu thera- Carnet mit dem Titel Si Dieu existe (das zuerst in Blog- pieren. Ihr autobiografischer Comic Die Leichtigkeit Form in der Huffington Post veröffentlicht wurde) be- (2017) ist denn auch weniger eine Bestandaufnahme dient sich Sfar bisweilen einer rohen Sprache (Abb. der aktuellen Verfassung als mehr die Nachzeich- 7) und reflektiert gleichsam die Hintergründe dieser nung einer Entwicklung, die sie peu à peu die titelge- Wahl: „Ansonsten gehe ich kaputt. Ich breche ein bende Leichtigkeit zurückgewinnen ließ. Ihre Auf- bisschen zusammen, meine ich. In meinem Arsch, arbeitung unterscheidet sich stilistisch stark von dem außerhalb von meinem Arsch, ich bin am Arsch. Werk ihres Kollegen: Sie ist zarter, strukturierter, Nichts geht gut. Ich sage ,Arsch‘ aus Feingefühl. / stiller. Wir begleiten Meurisse auf ihrer Suche nach Um nicht zu sagen ‚in meinem Herzen‘“ (Sfar 2015b: Trost, den sie vor allem in der Schönheit der Kunst 5; Übers. M.S.). Gerade Takt- und Feingefühl erlau- zu finden gedenkt: in der klassischen Musik, in der ben es angesichts extremer Situationen nicht immer, bildenden Kunst, in der Literatur. Aller Hochkultur sich geschliffen und eloquent auszudrücken. Diese zum Trotz zeigt auch Meurisse, dass sich, ganz im Sprache würde die der Lage angemessenen Emo- Geist von Charlie, die feingeistige intellektuelle Aus- tionen nicht transportieren. Dies gilt auch für die einandersetzung und das Derbe nicht ausschließen. Bildsprache. Luz berichtet in einem Interview mit Sie sucht gleichsam Halt bei ihren verstorbenen Télérama (vgl. Le Saux 2015), dass ihm die Rück- Mentoren wie bei Proust.16 Sie macht Penis-Witze meldung gegeben worden sei, es handle sich bei und stellt noch vor den Beginn ihrer recherche ein Catharsis um ein ‚schönes‘ Buch, und er dieses Nietzsche-Zitat: „Wir haben die Kunst, um nicht an Feedback zu seinen Arbeiten früher eher selten der Wahrheit zugrunde zu gehen“ (zit. nach ebd.: gehört habe. Diese Fußnote ist deshalb erwähn- o.P.). enswert, weil sich vielleicht an der Langform des Wie raffiniert sie die Werke von Proust, Comics eher die Grenzen der eingangs thematisierten Stendhal, Caravaggio oder Munch in ihre Erzählung ästhetizistischen Abschätzung zeigen: Eine Karika- einwebt und damit neue Metaphern und Bilder für tur kann natürlich grenzüberschreitend und ihre die Verwundung und Genesung findet, wäre eine (Bild)sprache vulgär sein. Genau diese Extreme sind vertiefende Betrachtung wert. es aber, die begleitet von leiseren Zwischentönen, eine Erfahrung so unmittelbar kommunizieren kön- 16 Z.B. sehen wir in einem Flashback die Anfänge ihrer nen, dass die Leser_innen von der Schönheit (!) der CH-Sozialisation vor über zehn Jahren. Sie zitiert ihre Men- toren, zeichnet liebevoll deren Schrullen auf und schafft so eine Komposition in ihren Bann gezogen werden. Art Mini-Bildungsroman innerhalb ihrer Erzählung.

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Auch hier konzentrieren wir uns aber erstmal auf die Suche nach dem (verlorenen?) Esprit Charlie. Wie Luz spürt sie dem Geist Charlies in einer einsamen Redaktionssitzung am runden Tisch nach (Abb. 8). Die nachgezeichneten Titelbilder, die auf den leeren Stühlen ihrer verstorbenen Kolleg_innen Platz finden, sind eine Hommage an ihr Erbe und repräsen- tieren einen Querschnitt der Geschichte des Blattes.

Abb. 8: Meurisse 2017: 23 Auch sie rekapituliert den Prozess der Ideenfindung, in diesem Fall aber anhand eines realen Beispiels. Sie integriert z.B. ihre krakeligen Notizen für das erste Blatt, das eine Woche nach dem Attentat er- schien, und zeigt ihre Überforderung angesichts dieser Aufgabe. Ihr Kopf ist leer. Die Ergebnisse des Brainstormings, zu denen sie trotz der psychischen Extremsituation gelangt, finden wir sowohl in der grünen Ausgabe als auch im Comic abgedruckt. Schon dort befasst auch sie sich mit der Hysterie um das Phänomen: ‚Je suis Charlie‘.17 Im Comic kontras- tiert sie das affirmierte Wir-Gefühl des Labels mit der von ihr empfundenen Einsamkeit, Leere und Identitäts- und Schaffenskrise (Abb. 9).

17 Einer der Cartoons von Catherine Meurisse, die in der sogenannten ,grünen Ausgabe‘ eine Woche nach dem Attentat erschienen sind, zeigt z.B. die ausgemergelten Textil-Näher_innen in Bangladesh, die in Massen „Je suis Abb. 9: Meurisse 2017: 51 Charlie“- T-Shirts produzieren (CH 2015/1178, 16). 56

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Marie Schröer: Charlie als Symbol oder L’Esprit Charlie?

Wie bei Luz ist der (Galgen-)Humor für Meurisse eine Möglichkeit, die Traumata zu verarbei- Dieser Esprit wird in Form von Zeichnungen zu ten (Abb. 10). Auch sie macht einen der Terror- einer befreienden Botschaft gegen den Hass und die isten zur Figur ihres Comics. Es handelt sich bei Kleingeistigkeit. Die vielfach monierte Obszönität dieser Szene um eine Hommage an die Psycho- in Wort und Bild dient dann als Stilmittel, wenn analytikerin Elsa Cayat, Verfasserin der CH-Kolumne Obszönitäten der realen Welt abgebildet werden. „Charlie Divan“, die bei dem Attentat getötet wurde. Reaktionären Tendenzen, Vereinnahmungen, In- Auf ihrem Divan liegt einer der Kouachi-Brüder, dem strumentalisierungen begegnen sie mit Scherzen, die sie (nach der hier etwas subtileren Anspielung auf das zwar schmerzen, aber auch trösten können. Mögli- Geschlecht seiner Mutter, siehe Luz) schließlich cherweise ermöglicht es die Langform des Comics, empfiehlt, seine Albträume aufzuzeichnen. „Ah ja, den schwarzen Humor besser einzuordnen als in sie zeichnen wirklich grauenhaft. Bei ‚Charlie Heb- Form der Karikatur. Gerade die autobiografische do‘ kommen Sie so schnell nicht rein, kann ich Ihnen Schreibweise erlaubt es, die Menschen hinter Char- sagen“ (Meurisse 2017: 32) konstatiert sie nach Be- lie, vom Symbol zu abstrahieren, mit ihnen zu leiden trachtung des Resultats. und – trotz allem – zu lachen. Luz und Meurisse haben ihren jeweiligen Esprit Charlie bewahrt: Es handelt sich nämlich nicht um einen einheitlichen Stil, sondern um Esprit, in dem Sinne, in dem wir das Wort im Deutschen benutzen. Witz, Schlagfertigkeit, geistige Wendigkeit.

Abb. 10: Meurisse 2017: 32

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie: Der Nahostkonflikt in Charlie Hebdo Über die Jahrzehnte ihres Bestehens wurde in Charlie Gesagten ausdrückt. Sarkasmus wiederum wird Hebdo regelmäßig der Nahostkonflikt satirisch kom- als eine ‚böse‘ Form der Ironie definiert: Wie bei mentiert. Ausgehend von Schlüsseldaten der Geschichte der Ironie wird das Gegenteil dessen gesagt, was des Nahostkonflikts bietet der Artikel eine Bestandsauf- tatsächlich gemeint ist, allerdings soll das Gemeinte nahme der Thematik über die einzelnen Jahre, Rubriken (ein wenig oder sogar sehr) wehtun. Sarkasmus im- und Autor_innen, wie auch die exemplarische Analyse pliziert dementsprechend Stichelei, Hohn, Demü- einzelner Bildbeiträge. tigung, sogar Vernichtung, wohingegen Ironie in der Regel einen „freundlichen Charakter“ bewahrt Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der The- (Maschke 2015: 42). Was ‚schwarzen Humor‘ matisierung des Nahostkonflikts in der Zeitschrift betrifft, geht der Begriff („humour noir“) auf den Sur- Charlie Hebdo. Im Zentrum stehen Fragen rund um realisten André Breton zurück (vgl. Breton 1966), den Aktualitätsbezug, d.h. welche Ereignisse (nicht) der sich bei seiner komplexen Definition auf Hegels aufgegriffen werden, die Verteilung der Beiträge Konzept des objektiven Humors und auf Freud auf Text und Bild, die Autorenschaft, d.h. welche stützt (vgl. u.a. Graulle 2000). Seit den 1960er Jahren Beiträger_innen1 sich mit der Thematik system- wurde der Begriff weitgehend auf eine Humorform atisch oder nur gelegentlich auseinandersetzen, und reduziert, die in ihm eine Antwort auf eine Zeit schließlich der Humor selbst, mit dem an dieses ex- sieht, die von Nihilismus und Desillusion geprägt ist plosive Themenfeld herangegangen wird. (vgl. Lohse 2004: 282): Sie soll mit groteskem, mor- Dafür muss kurz allgemein auf das Thema bidem Humor dem Aberwitz des (menschlichen) Da- ‚Hu­mor‘, die Vorgehensweise bei der Recherche für seins, insbesondere dem Tod, gegenübertreten (vgl. diesen Beitrag und das daraus resultierende Korpus Cloutier 1983). eingegangen werden. Daran anschließend wird die Die Identifikation der jeweiligen Humorform, eigentliche Auswertung der Text- und Bildbeiträge bzw. bereits die Beantwortung der Frage, ob es erfolgen; zunächst quantitativ hinsichtlich ihrer sich überhaupt um Humor handelt, ist deutlich Verteilung auf Text und Bild, ihre Verteilung auf die schwieriger. Denn die Empfänger_in muss nicht einzelnen Epochen bzw. Publikationsjahre und auf zwangsläufig das, was die Sender_in selbst für Hu- die einzelnen Zeichner_innen/Autor_innen, und mor hält, ebenfalls als solchen verstehen. Oder schließlich qualitativ, indem exemplarisch die Bei- die intendierte Humorform stimmt nicht mit der tragsformen und deren Humor betrachtet werden. wahrgenommenen überein: Während die Sender_ in ihren Humor beispielsweise als Ironie versteht, kann dieser von der Empfänger_in als sarkastisch Humorformen aufgefasst werden. Generell muss die Fähigkeit, bes- timmte Humorformen als solche zu erkennen, von Humorformen wie Ironie, Sarkasmus und schwarzen Kindern erst erlernt werden (vgl. Milner/Hawkins/ Humor klar zu definieren und voneinander abzu- Milner 2014: 254). Witz- und Humorverständnis grenzen, fällt nicht leicht. Ironie wird gemein- sind aber auch stark medien- und modalitäts- sowie hin als eine Form verstanden, bei der der Sprech- auch gattungs-, kontext- und gemütsabhängig. Iro- ende „vorgeblich etwas sagt, was er für falsch hält, nie beispielsweise wird in einem verbal-mimisch- um damit etwas seines Erachtens nach Wahres gestischen Kontext wie einem Gespräch von den auszudrücken“ (Taneva 2008: 172): Sie ist mit an- Empfänger_innen einfacher als solche wahrgenom- deren Worten eine Form, die das Gegenteil des men, als in einem rein schriftlichen Text, in dem 1 Die Chefredaktion und die Herausgeberschaft von die Sender_in nicht mittels Betonung und Mimik Charlie Hebdo war und ist bis heute nur in männlichen Händen. andeuten kann, dass das, was sie gerade sagt, iro- Auch die Mehrheit der Karikaturen, Comics und Artikel über nisch gemeint ist. Und was von manchen als Sar- den Nahostkonflikt stammen von männlichen Mitarbeitern. kasmus verstanden wird, kann von anderen bereits Da jedoch auch einige Frauen zum Thema beigetragen haben, als eine ernsthafte Beleidigung aufgefasst werden, je wurden die Begriffe, wo nötig, gegendert. 60

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie nachdem, wie ‚dick ihr Fell‘ ist. Bestimmte Daten und Ereignisse werden daher Wenn die ‚zeitweise Anästhesierung des Her- nicht von allen stets gleich gewichtet und eingeord- zens‘ (vgl. Bergson 1993: 4), welche Henri Bergson net. Insofern birgt dieser Wunsch, sich bei der Un- als Grundvoraussetzung für das Verständnis des tersuchung auf Schlüsseldaten und -ereignisse des Komischen betrachtet, bei der Empfänger_in also Nahostkonflikts beschränken zu wollen, bereits eine nicht stattfindet, sondern sie dem Gesagten emotio- gewisse Problematik. nal begegnet, wird sie den Humor entweder nicht Als Anhaltspunkt für diese historischen Ereignisse verstehen, ihn missverstehen und sich gar beleidigt und Daten wurden von folgenden Publikationen oder in ihrer Ehre gekränkt fühlen. Das, was von der veröffentlichte Chroniken verwendet: BBC und Sender_in ursprünglich als Humor intendiert war, The Guardian, auf der Seite timelines.ws, infoplease. ist für die Empfänger_in keiner mehr. In der Tat ist com und den englischen Wikipedia-Seiten (vgl. u.a. es für viele schwer, für manche sogar unmöglich, ei- Rowen 2000; Brown 2001; anon./BBC 2017; anon./ ner Äußerung, die unmittelbar mit der eigenen Per- Timelines o.J.; anon./Wikipedia o.J.). Auf diesen son, der Familie, engen Freund_innen, aber auch der Seiten werden, mehr oder weniger detailliert, die eigenen Weltanschauung oder Religion in Verbin- Kriege bzw. kriegsähnlichen Auseinandersetzun- dung steht, emotional ‚neutral‘ gegenüberzutreten gen zwischen den Konfliktparteien des Nahostkon- sodass sie mit gerichtlichen Klagen reagieren. Zu flikts, die diversen Zusammenkünfte, um eine einer solchen hatte beispielsweise der türkische Präs- friedliche Lösung des Konflikts zu finden, der Tod ident Recep Erdoğan u.a. auf das Jan-Böhmermann- von wichtigen Politikern (u.a. Rabin, Arafat, Sha- Gedicht gegriffen (vgl. z.B. anon./Zeit 2016; anon./ ron), spezifische politisch motivierte Aktionen Is- Welt 2017), aber eben auch dutzende Einzelpersonen raels, wie etwa der Bau des Sperrzauns oder der und Gruppen auf Publikationen von Charlie Hebdo. Rückzug aus Gaza, aber auch manche Anschläge Die Karikaturen, Comics, Artikel usw. zum Nahost- und Attentate von beiden Seiten, die großes media- konflikt, die in Charlie Hebdo bis heute veröffen- les Aufsehen erregt haben, gelistet. Beispiele hierfür tlicht wurden, haben m.W. bis dato keine derartigen sind u.a. die Erschießung des Jungen Mohammed gerichtlichen Auseinandersetzungen nach sich gezo- Al-Dura, der Lynchmord an den beiden israelischen gen. Die Einschätzung schließlich, welcher Humor- Reservisten in Ramallah, die Tötung der amerika- form die einzelnen Beiträge zuzuordnen sind, ist aus nischen Friedensaktivistin Rachel Corrie und das o.g. Gründen immer teilweise auch meinem subjek- vom ultraorthodoxen Siedler Goldstein angerichtete tiven Standpunkt geschuldet. Massaker in Hebron. Was derartige Israel-Chrono- logien auf Webauftritten französischsprachiger Me- dien betrifft, konnte im Rahmen einer oberflächli- Vorgehensweise bei der Recherche des chen Suche, wie sie jede ‚normale’ Internetnutzer_in Quellenmaterials und das daraus resultierende durchführen würde, lediglich die von L’Express ge- Korpus funden werden (vgl. Gouëset 2012). Französische öffentlich-rechtliche Medien (z.B. France 2, France Angesichts der Fülle des Materials – die Ausgabe Info) bieten hingegen keine solchen Datenaufbe- vom 7. September 2016 trägt die Nummer 1259, reitungen. Stattdessen lassen sich Zeitleisten auf Zählung beginnend ab dem Neuanfang 1992 – konnte mehreren französischen Internetseiten, die von bei den Recherchen für diesen Artikel leider nicht Solidaritätsbewegungen für Palästina betrieben die komplette Durchsicht sämtlicher Ausgaben ge- werden, finden (vgl. Vidal 2007; anon./Palestine-sol- leistet werden. Stattdessen wurden, ausgehend von idariate o.J.). ‚Schlüsseldaten‘ des Nahostkonflikts, punktuell nur Da Charlie Hebdo jedoch anders als Le Canard En- jene Ausgaben durchgesehen, die unmittelbar nach chaîné keinen Schwerpunkt im investigativen Jour- dem jeweiligen Ereignis veröffentlicht wurden so- nalismus hat, sondern eher direkt auf die Aktualität wie alle folgenden Ausgaben, die noch Hinweise auf reagiert – und dementsprechend darauf, was in an- das Ereignis vorzuweisen hatten. Doch was genau deren Medien jeweils als ‚aktuell‘ thematisiert wird sind Schlüsseldaten bzw. -ereignisse? Wer trifft die –, wäre es sehr interessant, zunächst die franzö- Auswahl? Sicherlich wird die Selektion von der sische Medienlandschaft nach Thematisierungen (kulturellen, politischen) Perspektive der jeweiligen des Nahostkonflikts im Zeitraum des Bestehens der Autor_in und der Herausgeber_in (mit)bestimmt. 61

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Satirezeitung zu durchsuchen, um anschließend Quantitative Analyse: vergleichen zu können, was davon wiederum von Verteilung Text/Bild Charlie Hebdo aufgegriffen wurde. Aus Gründen des Umfangs konnten leider allein die Ausgaben von Hinsichtlich der Gewichtung der beiden Beitragsar- Charlie Hebdo untersucht werden, die sich in den ten dominieren mit 629: 175 überdeutlich die Bild- bereits zitierten Internetchroniken anhand jener beiträge. Allerdings ist damit lediglich die schiere Daten und Ereignisse nachlesen lassen. Allerdings Anzahl der Beiträge gemeint und nicht die Flächen, wurden zu diesen Daten noch frankreichspezifische die auf den Seiten der Zeitung tatsächlich von den Ereignisse hinzugenommen, die im Kontext des Nah- Bild- bzw. Textbeiträgen beansprucht werden. Ohne ostkonflikts stehen, wie beispielsweise die großen dass ich dies genau gemessen und ausgerechnet Anti-Israel-Demonstrationen im Winter 2008-2009 hätte, lässt sich dennoch behaupten, dass auch der während des Gaza-Kriegs. flächenmäßige Anteil der Bilder größer ist, als der Das anhand dieser Daten ermittelte Korpus der Texte. Der daraus resultierende Eindruck wird schließt, für die erste ‚Epoche‘ von Charlie Hebdo (im darüber hinaus noch dadurch gesteigert, dass Sinés Folgenden Charlie Hebdo I genannt), Beiträge von (immerhin zehn Jahre lang fast wöchentlich publi- 1972 (über die Olympischen Spiele in München, bei zierte) Kolumne handschriftlich verfasst und stets denen die israelische Mannschaft von Mitgliedern mit eigenen Zeichnungen illustriert ist. Obwohl die der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer Kolumne dadurch sehr graphisch wirkt, wurde sie September als Geiseln genommen wurde) ein und aufgrund ihrer Textlastigkeit jedoch den Textbeiträ- reicht bis 1981 (Raketenabschüsse aus dem Südliba- gen zugeordnet (wobei die Illustrationen nicht sepa- non nach Israel). Für die zweite ‚Epoche‘, d.h. nach rat zu den Bildern gezählt wurden). dem Neuanfang der Zeitung (im Folgenden Charlie Die Thematisierung des Nahostkonflikts in Char- Hebdo II genannt), gibt es Beiträge ab dem Jahr 1993 lie Hebdo entspricht somit zunächst einmal dem Ge- (über das Oslo I Abkommen). Die letzten Beiträge samteindruck der Zeitung, dem der Bildanteil im aus dem Jahr 2016 beschäftigen sich mit den für Ok- Vergleich zum Textanteil überwiegt. tober 2016 angekündigten Wahlen in den Palästin- ensischen Autonomiegebieten. Insgesamt konnten bei dieser Vorgehensweise 793 Textbeiträge Beiträge in Charlie Hebdo I & II gefunden werden. Ein Die erfassten 175 Textbeiträge über den Nahost- weiterer Beitrag wurde noch im kurzfristigen Nach- konflikt lassen sich verschiedenen Kategorien zuord- folgeblatt von Charlie Hebdo I, La Semaine de Charlie nen. Bei 74 Dokumenten handelt es sich um Artikel, (von 1981) entdeckt, sowie zwei in Hara Kiri (eben- wovon 20 Leitartikel sind. Dazu kommen vier länge- falls im Jahr 1981). re Stücke, die im Gegensatz zu den anderen Artikeln Die Art der so erfassten Dokumente umfasst ob ihrer höheren Neutralität als Reportage einzu- sowohl Schrift-, als auch Bildbeiträge. Zu den schrift- stufen sind. Weitere neun Texte sind Interviews lichen Beiträgen zählen Leitartikel, Artikel, Report- mit verschiedenen Expert_innen bzw. Persönlich- agen, Interviews, Titelseiten-Teaser sowie Brèves keiten. Der größte Anteil der Textdokumente, ins- (Kurzkommentare) und Kolumnen. Als Bildbeiträge gesamt 77 Stück, wird jedoch von Kolumnen bzw. – auch wenn sie in der Regel auch Informationen in Textform enthalten – wurden sowohl Karikaturen und Comics (also alle Geschichten, die aus mind- estens zwei Panels bestehen), Fotomontagen, aber auch Titelseiten gewertet, da diese bei Charlie Hebdo stets durch eine große Zeichnung – ganz selten von einer Gruppe von Zeichnungen – konstituiert wird. Des Weiteren lassen sich noch satirische Quizze und Spiele zu dem Thema finden, die separat gezählt wurden.

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Chroniken gestellt, die ausschließlich die Meinung der jeweiligen Kolumnist_innen/Chronist_innen reflektieren. Unter den restlichen zehn Beiträgen sind sogenannte Brèves, aber auch Schlagzeilen auf der Titelseite zusammengefasst.

Bildbeiträge Bei den 628 gefundenen Bildelementen, die den Nah- ostkonflikt thematisieren, handelt es sich in über- wältigender Mehrheit um Karikaturen. Diese sind überall in der Zeitung für sich stehend zu finden, kommen zudem noch drei, zum Teil illustrierte, sat- teils aber auch als Illustrationen bei Artikeln. In irische Quizze und ein Brettspiel, die zu dem Thema den meisten Fällen handelt es sich jedoch um Kari- in der Zeitung abgedruckt wurden (CH 1993/63: 8-9; katuren aus der Rubrik „Couvertures auxquelles CH 2002/512: 10; CH 2008/863: 3). vous avez échappées“ [„Titelseiten, die euch erspart Darüber hinaus fanden sich noch zehn Sonder- geblieben sind“], im folgenden Couvertures genannt. Doppelseiten (CH 2000/433: 8-9; CH 2000/434: Insgesamt 267 dieser Couvertures ließen sich finden, 2-3; CH 2000/435: 8-9; CH 2000/440: 8-9; CH sowie weitere 208 Karikaturen. Auch 27 Titelseiten, 2001/469: 8-9; CH 2001/492: 8-9; CH 2001/494: die ja eigentlich auch fast immer als Karikatur(en) zu 2-3; CH 2001/541: 7-8; CH 2003/599: 7-8; CH verstehen sind, beschäftigen sich mit dem Konflikt 2006/736: 2-3), sowie mehrere, in der Regel umran- bzw. beziehen sich direkt oder indirekt auf ihn. Dies dete Sonder-Einzelseiten, die mittig, oder leicht zur tun, darüber hinaus, 121 Comics in Charlie Hebdo I & Mitte versetzt auf einer Doppelseite angeordnet sein II, wobei bei der Zählung kein Unterschied zwischen können (CH 2001/494: 2-3; CH 2005/655: 2-3; CH solchen, die lediglich zwei Panels umfassen, und an- 2005/688: 2-3; CH2006/708: 2-3; CH 2005/711: 2-3; deren, die eine ganze Zeitungsseite (etwa im Format CH 2010/941: 15; CH 2014/1154: 15), ein halbseitiges A3) oder gar Doppelseite lang sind – was durchaus Sonderformat (CH 2004/648: 7) und schließlich gelegentlich vorkommt – gemacht wurde. Weitere drei Interview-Doppelseiten (CH 2006/755: 8-9; drei Comics konnten in den Nachfolgeblättern von CH 2007/785: 8-9; CH 2008/833: 8-9). Die jeweils Charlie Hebdo I gefunden werden. Ein verschwin- auf diesen ‚Sonderseiten‘ abgedruckten Elemente dend geringer Anteil der Bildbeiträge entfällt, eben- wurden entsprechend ihrer Form gesondert als falls mit drei Stück, auf Fotos bzw. Fotomontagen, Text- bzw. Bildelemente gezählt. wobei der letzte dieser Art im Jahr 2000 publiziert wurde. Zu diesen reinen Bild- bzw. Textbeiträgen

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Aktualitätsbezug arabischen Staatsbesuch des ägyptischen Präsident- en Anwar as-Sadat in Israel (vgl. CH 1977/366: 10; Wie gestaltet sich jedoch die Verteilung dieser CH 1977/367: 1, 2, 3, 10). 1979 ist, wie zu erwarten, Beiträge über die gesamte Existenz der Zeitung? das erste Friedensabkommen zwischen Israel und Hat Charlie Hebdo auf alle Nahostkonflikt-Schlüssel- Ägypten Thema, welches von Anwar as-Sadat und daten und -ereignisse Bezug genommen? Zunächst Menachem Begin im Beisein von US Präsident ist zu beobachten, dass in Charlie Hebdo I (1970-1981) Jimmy Carter in Camp David unterzeichnet wurde mit 106 Beiträgen deutlich weniger zum Nahost- (vgl. CH 1979/437: 20). Die restlichen Beiträge aus konflikt publiziert wurde als in Charlie Hebdo II, wo der ersten Epoche von Charlie Hebdo behandeln u.a. nach meiner Zählung bis dato 690 Beiträge seit der verschiedene Sprengstoffattentate auf PLO-Stütz- Neugründung 1992 veröffentlicht wurden, was ei- punkte im Südlibanon im Jahr 1978 und 1981 (CH nem Durchschnittsverhältnis von neun Beiträgen 1978/405: 8 und Hebdo Hara Kiri – Journal dangereux (Charlie Hebdo I) zu 28 Beiträgen (Charlie Hebdo II) pour la jeunesse 1981/1: 5) und die Bombardierung pro Jahr entspricht. eines irakischen Atomkraftwerks durch die is- raelische Armee im Rahmen der „Operation Baby- lon 1981“ (La Semaine de Charlie 1981/5: 6). Hinzu Charlie Hebdo I (1970-1981) kommen in den untersuchten Ausgaben auch ver- einzelte Comics, die ganz allgemein den Nahost- Die meisten Beiträge in Charlie Hebdo I fallen in die konflikt aufgreifen, darunter einige von Willems Jahre 1973 (56 Beiträge), 1972 (26 Beiträge), 1977 Barnstein-Comics (CH 1977/337: 9; CH 1977/336: (12 Beiträge) und 1979 (sechs Beiträge). In den übri- 16) sowie ein satirischer Beitrag von Reiser über die gen Jahren wurde nur vereinzelt etwas über den Frauenrechtsbewegung in Palästina (CH 1977/369: Nahostkonflikt publiziert, in manchen Jahren – zu- 5). mindest konnte nach der hier angewendeten Re- Einerseits wurden somit in Charlie Hebdo I (und den cherchemethode nichts gefunden werden – nichts. kurzfristigen Nachfolgeblättern aus den frühen 80er Was 1973 betrifft, so ist der Grund für das große Jahren) wichtige Ereignisse, Schlüsseldaten des Nah- Publikationsvolumen der sogenannte ‚Jom-Kippur- ostkonflikts, insbesondere der Jom Kippur-Krieg, Krieg‘, der am 6. Oktober 1973 mit einem zeit- rezipiert und satirisch verarbeitet. Andererseits gleichen Angriff Ägyptens und Syriens auf die von fehlen bemerkenswerterweise mehrere Schlüssel- Israel besetzten Gebiete beider Staaten begann und daten, darunter u.a. die ‚Operation Entebbe‘, bei der mit einem Waffenstillstand am 25. Oktober 1973 eine Spezialeinheit der israelischen Armee in der endete. Aber nicht nur der Krieg selbst, sondern Nacht vom 3./4. Juli 1976 ein von palästinensischen auch die unmittelbar damit verknüpfte Erdölkrise und deutschen Terroristen entführtes Flugzeug auf in Europa und den USA, die aus dem Embargo der dem ugandischen Flughafen Entebbe befreite. Auch OPEC-Staaten resultierte, wird in den Ausgaben aus die UN-Resolution 3379 vom 11. November 1975, dem Herbst 1973 thematisiert (ab CH 1973/152 bis in der Zionismus als eine Form von Rassismus ver- CH 1973/160). Dementsprechend werden also nicht urteilt wird, wurde interessanterweise in Charlie nur der ‚reine‘ Nahostkonflikt, sondern auch dessen Hebdo I nicht erwähnt. Konsequenzen und Implikationen für Europa und speziell Frankreich von Charlie Hebdo I in den Blick genommen. Die Beiträge aus dem Jahr 1972 bezie- Charlie Hebdo II (1992-2016) hen sich ausschließlich auf die Geiselnahme der is- raelischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen Abgesehen von der bereits erwähnten, exponentiell im September in München (vgl. CH 1972/95: 1, 2, gestiegenen Beitragsdichte in der zweiten Epoche 3, 5, 13, 15; CH1972/96: 2, 14; CH 1972/97: 5). 1977 von Charlie Hebdo fällt zunächst einmal auf, dass der fokussieren die gefundenen Beiträge hauptsäch- Nahostkonflikt in fast jedem Jahr in der Wochenzei- lich die Neuwahlen in Israel, bei denen mit Ex- tung thematisiert wurde, mit Ausnahmen allein in Irgun Chef Menachem Begin zum ersten Mal in den Jahren 1992, 1996 und 1999. der Geschichte Israels die Konservativen gewannen Allerdings variiert die Beitragsdichte dabei von (vgl. CH 1977/341: 4), sowie den ersten offiziellen Jahr zu Jahr extrem. Am umfangreichsten ist die

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Liste der Beiträge für das Jahr 2006, mit insgesamt Auf der anderen Seite wiederum lassen sich Dut- 132 Beiträgen; mit großem Abstand gefolgt von 2001 zende von Beiträgen zu den Gaza-Kriegen finden, (76 Beiträge), 2000 (72 Beiträge), 2002 (60 Beiträge), d.h. zu ‚Operation Gegossenes Blei‘ (Ende 2008-An- 2014 (59 Beiträge) und 2004 (50 Beiträge). 2009 fang 2009), ‚Operation Wolkensäule‘ (November wurden 37 Beiträge zum Nahostkonflikt veröffent- 2012) und ‚Operation Starker Fels‘ (Juli 2014). Auch licht, 2005 insgesamt 32, 2010 dann nur noch 27, zum Tod Yasser Arafats (November 2004) gibt es 2003 und 2008 je 22 Stück und 19 Beiträge im Jahr etliche Beiträge, ebenso zur Räumung der jüdischen 1993, im Jahr 1994 nur 13. Die restlichen Jahre ver- Siedlungen im Gaza-Streifen (Juli-August 2005), zur zeichnen zwischen 14 und 5 Beiträgen. Blockade des Gaza-Streifens (2010) oder zum Aus- Diese Zahlen lassen jedoch nur bedingt bruch der Zweiten Intifada nach Ariel Sharons Be- Rückschlüsse auf die systematische Thematisierung such des Tempelbergs (September 2000). Überhaupt von Schlüsselereignissen zu. Zwar fanden 2006, also sind die Selbstmordattentäter_innen und -attentate, in jenem Jahr, das in Charlie Hebdo II die mit Abstand die im Zuge der Zweiten Intifada verübt wurden, in größte Beitragsdichte aufweist, viele Ereignisse Charlie Hebdo II über alle diese Jahre hinweg immer rund um den Nahostkonflikt statt, nämlich u.a. die wieder Thema: Angesichts der Attentatsfülle oft- Bombardierung des Südlibanon durch Israel (Juli- mals ganz allgemein, manchmal aber auch spezifisch, September), das Koma des damaligen israelischen wie beispielsweise im Fall eines Attentats in Tel Ministerpräsidenten Ariel Sharon (Januar), die von Aviv im März 1997 oder im Fall einer Selbstmor- der Hamas in Gaza gewonnenen Wahlen (Feb- dattentäterin, die in der Zeitung gleich eine Reihe ruar), die Geiselnahme des israelischen Soldaten von Beiträgen provozierte (Januar 2002). Doch auch Gilad Shalit durch die Hamas und die daraufhin von die von jüdischen Extremist_innen verübten Atten- Israel begonnene Bombardierung des Gazastreifens tate, vor allem das von Baruch Goldstein in Hebron (‚Operation Sommerregen‘, Juni). Doch andererseits (März 1994), wurden in Charlie Hebdo II behandelt. wurden in den Jahren 1994 und 1995 im Vergleich Weitere, immer wieder aufgegriffene Themen sind dazu nur verschwindend wenig Beiträge zum The- die Planung bzw. der Bau jüdischer Siedlungen im ma publiziert, obwohl in diesen Jahren ‚immerhin‘ Westjordanland (März 1997, Januar 2006, Janu- Yasser Arafat und Izhak Rabin mit dem Friedensno- ar 2013, November 2014), aber auch die Räumung belpreis ausgezeichnet wurden (Dezember 1994), von jüdischen Siedlungen im Gazastreifen (Som- das Gaza-Jericho Abkommen geschlossen und mer 2005). Andere Ereignisse wiederum, wie etwa dabei die Palästinensische Autonomiebehörde ins die Tötung der amerikanischen Friedensaktivistin Leben gerufen und ihr Jericho und der Gazastreifen Rachel Corrie, die sich im März 2003 israelischen unterstellt wurden (Mai 1994); in denen aber auch Bulldozern entgegenstellte, wurde, ausgehend von und vor allem das tödliche Attentat auf Izhak Rabin dem hier analysierten Korpus, allein von Siné in des- durch einen jüdischen Extremisten stattgefunden sen Kolumne erwähnt (vgl. CH 2003/561: 14). hat (November 1995). 65

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Neben diesen und vielen weiteren palästina- und gefunden werden); ebenso jene, in die Frankreich israelspezifischen Schlüsseldaten wie etwa den ver- involviert war. Auffallend ist zudem die starke schiedenen Wahlen (vgl. CH 2003/554: 10; CH Variation der Beitragsdichte je nach Thema: das 2005/656: 3, 7, 16; CH 2006/711: 1, 2-3, 16; CH eine Thema wird von mehreren Autor_innen inten- 2007/783: 16), oder auch dem UNESCO-Beschluss, siv bearbeitet, ein anderes kommt gar nicht erst in der Palästina als Beobachterstaat anerkannte (vgl. die Zeitung oder wird nur von eine_r einzigen Au- CH 2011/1012: 10, 11), werden in den gut zwei tor_in einmal behandelt. Was ausschlaggebend für Jahrzehnten von Charlie Hebdo II aber natürlich auch die Auswahl der satirisch kommentierungswürdigen viele frankreichspezifische Aspekte des Nahost- Ereignisse durch die Charlie Hebdo-Redaktion war, konflikts, die nicht zu den Schlüsseldaten gezählt darüber kann an dieser Stelle leider nur spekuliert werden können, in den Blick genommen. So werden werden: Vielleicht ist diese rein quantitativ so unter- beispielsweise Staatsbesuche (z.B. Mahmoud Abbas schiedliche Gewichtung ein Spiegelbild der jeweils im Mai 2006 bei Jacques Chirac) kommentiert (vgl. zeitgenössischen französischen Medienlandschaft, CH 2006/724: 16), aber auch die Reisen einzelner oder sie könnte in den jeweiligen Interessenschwer- französischer Politiker_innen und Präsidentschafts- punkten einzelner Autor_innen begründet sein. kandidaten in den Nahen Osten (Lionel Jospin, Februar 2000; Jean-Pierre Raffarin, März 2005; Ségolène Royal, Dezember 2006; Nicolas Sarkozy, Autor_innen Juni 2008; vgl. CH 2000/415: 11; CH 2005/666: 16; Bevor im zweiten Teil dieses Artikels eine Auswahl CH 2006/755: 16; CH 2009/864: 16). Besonders aber der Beiträge näher betrachtet wird, lohnt sich ein die Solidaritätsdemonstrationen für Gaza und die kurzer Blick auf die Autor_innen, die sich mit dem Hamas in Paris im Winter 2008/2009 und im Som- Nahostkonflikt in der Zeitung beschäftigt haben. mer 2014 und die verschiedenen, antisemitischen Tatsächlich haben über beide Epochen von Char- Ausschreitungen und Attentate auf Synagogen in lie Hebdo hinweg mindestens 39 unterschiedliche den Jahren 2000, 2002 und 2014 als Kritik an Israels Personen zum Thema beigetragen. Basierend auf Politik sowie zuletzt die Anerkennung des palästi- den Angaben auf Wikipedia, wo 104 ständige und nensischen Staates durch die französische Natio- gelegentliche, ehemalige und aktuelle Autor_in- nalversammlung wurden in Charlie Hebdo II thema- nen der Zeitung gelistet sind (vgl. anon./Wikipe- tisiert (vgl. u.a. CH 2009/865: 2; CH 2014/1155: 4; dia 2017), entspricht das erstaunlichen 40%. Diese CH 2000/435: 8; CH 2002/511: 16; CH 2014/1153: 4; Angabe bleibt leider approximativ, da insgesamt 61 CH 2014/1172: 10). der Text- und Bildbeiträge aufgrund fehlender Sig- Sehr viele, aber längst nicht alle wichtigsten naturen nicht eindeutig zugeordnet werden konnt- zeitgenössischen Ereignisse rund um den Na- en. Hinzu kommen zudem noch neun auf der Seite hostkonflikt wurden demnach in Charlie Heb- nicht gelistete, weil einmalig aufgetretene Inter- do II aufgegriffen und kommentiert. (U.a. er- viewpartner hinzu. scheinen nicht alle Ereignisse in 1992, 1996 und Betrachtet man nun jene Autor_ 1999, zumindest konnten keine Beiträge zu den innen, die mindestens fünf Beiträge in Bild- oder Themen nach der oben erwähnten Methode

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Textform zu dem Thema verfasst haben, so stellt männlichen Autoren, welche 15 Beiträge und mehr sich heraus, dass Charb sich – mit großem Abstand zum Thema beigesteuert haben, sowie von denjeni- – am meisten mit dem Nahostkonflikt auseinander- gen, deren Arbeiten in vorliegenden Artikel näher gesetzt hat; es waren 171 Beiträge von Charb zu diskutiert werden, sind im Anhang zu finden. finden. In 79 Beiträgen – also noch nicht ein- mal der Hälfte des Produktionsvolumens von Charb – hat sich Riss mit dem Nahostkonflikt Qualitative Analyse befasst, gefolgt von Luz mit 69 Bildbeiträgen, Angesichts der mit insgesamt 801 Stück vergleichs- Willem (Redaktionsmitglied in beiden Charlie- weise hohen Anzahl von Beiträgen zum Nahost- Epochen) mit 57 Bildbeiträgen, 52 Erwähnungen konflikt in Charlie Hebdo I und II kann im Rahmen in Sinés Kolumne, und Jul, der immerhin noch 44 dieses Artikels eine qualitative Analyse des kom- Zeichnungen bzw. Comics in der Wochenzeitung pletten Korpus leider nicht vorgenommen werden. zum Thema publiziert hat. Um dennoch einen Einblick in die Arten der The- Gébé, zusammen mit Willem ebenfalls bereits matisierung geben zu können, soll zunächst ein Zeichner von Charlie Hebdo I, setzte sich 34-mal mit Überblick über einige Kategorien gegeben werden, der Thematik auseinander, gefolgt von Tignous und um dann anhand von einigen Ereignissen exemplar- Cabu (26, beide in CH II), Reiser (23, in CH I), Honoré isch einzelne Beiträge näher vorzustellen. Da Charb (22, in CH II) und Wolinski (20 in CH I & II). Philippe einer der produktivsten Beiträger zur Nahostkonf- Val ist in seinen Leitartikeln bis zu seinem Weggang likt-Thematik war, werden dabei seine Arbeiten, im Juni 2009 (vgl. Weston Vauclair und Vauclair soweit möglich, besonders in den Blick genommen, 2015: 160) mindestens 17 Mal auf den Nahostkon- wie auch Beiträge von Siné und Philippe Val, da in flikt eingegangen, gefolgt von 15 Leitartikeln Gérard ihren Reaktionen aufeinander in den jeweiligen Ar- Biards, der ab 2004 Chefredakteur der Satirezeitung tikeln sehr gut zum Ausdruck kommt, wie kontro- war. Foolz hat 13, Kamagurka zehn und Schwartz vers der Nahostkonflikt innerhalb der Charlie Hebdo hat acht Zeichnungen zu dem Thema publiziert (alle Redaktion diskutiert wurde. in CH II). Auch der Politologe und Spezialist für Rechtsextremismus Jean-Yves Camus (CH II) be- fasste sich in acht Artikeln mit dem Nahostkonflikt, Titelseiten insbesondere mit den Solidaritätsdemos in Frank- reich, aber auch mit der innenpolitischen Lage Is- Wie bereits weiter oben erwähnt, thematisiert Char- raels während des Libanonkriegs. Antonio Fischetti, lie Hebdo bereits auf mindestens 27 Titelseiten den seit 2007 eigentlich für Ökologie und Wissenschaft Nahostkonflikt. Acht davon wurden in der ersten bei Charlie Hebdo II zuständig, hat ebenfalls insgesa- Periode des Magazins publiziert, die restlichen 19 mt fünf Reportagen im Kontext des Nahostkonflikts in der zweiten Periode. Im Fokus standen in Charlie verfasst. Cavanna, Gründungsmitglied und Chefre- Hebdo I die Geiselnahme bei den Olympischen Spie- dakteur von Charlie Hebdo I, verfasste hingegen nur len 1972 (vgl. CH 1972/95: 1), der Yom-Kippur- vier Leitartikel zum Thema. Philippe Lançon, einer Krieg (vgl. CH 1973/152: 1; CH 1973/153: 1), die da- der Überlebenden des Attentats am 7. Januar 2015, raus resultierende Ölkrise und deren Konsequenzen der erst Ende 2014 für Charlie Hebdo zu schreiben für die französische Bevölkerung (vgl. CH 1973/156: begonnen hatte, hat sich in dieser kurzen Zeit dre- 1; CH 1973/160: 1; CH 1977/337: 1), der Besuch des imal mit der Thematik befasst. , der ägyptischen Präsidenten as-Sadat in Israel (vgl. CH von 1992 bis 2001 mit dabei war, genauso. Jeweils 1977/367: 1) sowie die zweite Ölkrise während des dieselbe Anzahl wurde von den Zeichner_innen Iran-Irak-Kriegs (vgl. CH 1979/437: 1). Catherine, Carali und Felix zu Ausgaben von Char- Bei dieser Aufstellung fällt auf, dass von den acht lie Hebdo II beigesteuert. Die restlichen Autor_innen Titelseiten knapp die Hälfte der Ölkrise von 1973 ge- publizierten jeweils nur einmal, maximal zweimal, widmet ist. Zu vermuten ist, dass die ökonomischen etwas zum Nahostkonflikt. Konsequenzen, die das mit dem Yom-Kippur-Krieg Was Informationen über die Biographien der verknüpfte OPEC-Ölembargo für die europäische einzelnen Mitwirkenden angeht, sind diese derzeit bzw. französische Wirtschaft und den Alltag hatte, noch relativ spärlich. Eckdaten zu den ausschließlich für die damaligen Zeitungsmacher_innen, aber 67

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie auch für ihre Leserschaft, von größerer Bedeutung 1993/ 63: 1; CH 1993/94: 1), eines das Attentat auf war als der Krieg selbst. Ein besonders erwäh- Izhak Rabin (vgl. CH 1995/177: 1) und eines Arafats nenswertes Cover aus dieser ersten Periode ist Tod (vgl. CH 2004/647: 1), acht die Zweite Intifada jedoch das von Carali gezeichnete, welches die Sadat- und die Reaktion der israelischen Regierung (vgl. Reise nach Israel aufgreift (vgl. CH 1977/367: 1). In CH 2000/433: 1; CH 2000/434: 1; CH 2001/452: 1; einer Halbtotalen kadriert, sind darauf zwei Männer CH 2001/467: 1; CH 2001/497: 1; CH 2002/502: 1; zu sehen, von denen der linke dem rechten, dessen CH 2002/511: 1; CH 2002/536: 1); eins den Wahl- Hose heruntergelassen ist, den Hintern mit seiner sieg der Hamas im Gazastreifen (vgl. CH 2006/711: sehr langen Zunge ableckt und ihn dabei fragt (Abb. 1), zwei den Libanonkrieg (vgl. CH 2006/736: 1; 1): „Alors, on fait la paix?“ [„Also, machen wir Frie- CH 2006/739: 1) und zwei den Gaza-Krieg (vgl. den?“]; woraufhin der Rechte entgegnet: „Continue, CH 2008/863: 1; CH 2009/865: 1) – wobei ersteres on verra après“ [„Mach weiter, wir werden später gleichzeitig Nicolas Sarkozy, den damaligen franzö- sehen“]. Darüber, also direkt unterhalb des Magazin- sischen Präsidenten, aufs Korn nimmt. Weitere zwei titels, prangt in großen, dunklen Blockbuchstaben Titelseiten setzen sich ebenfalls mit den Zuständen in die Überschrift: „Un bicot lèche le cul d’un youpin“ Frankreich, die jedoch einen konkreten Israel-Bezug [„Ein Kameltreiber leckt einen Juden am Arsch“], haben, auseinander: Die Ausgabe vom 21.07.2004 wobei „youpin“ einen genauso pejorativen Unter- (vgl. CH 2004/631: 1) zeigt auf der Titelseite Ariel ton hat, wie die Bezeichnung „bicot“, die mit „Ka- Sharon, der den französischen Jüd_innen empfiehlt, meltreiber“ übersetzbar ist, was in diesem Kontext Frankreich zugunsten von Israel zu verlassen, und ‚Araber‘ meint. Das Cover zielt in seiner verbalen, die Ausgabe vom 23.07.2014 (vgl. CH 2014/1153: aber auch visuellen Drastik selbstredend darauf ab, 1) beschäftigt sich mit der Bombardierung des zu schockieren. Gaza-Streifens durch die israelische Armee sowie Ohne den zeitlichen Kontext der Sadat-Reise ist mit den pro-palästinensischen Demonstrationen in diese sarkastische Titelseite nicht verständlich. In Paris zur gleichen Zeit, bei der sehr starke antisemi- diesem historischen Rahmen jedoch wird klar, dass tische Propaganda zum Vorschein kam. Carali die harsche Kritik an Sadat aus den arabischen Ländern aufgreift: Statt hinter den Palästinenser_ innen und der Arabischen Liga zu stehen, ‚biedert‘ Sadat sich – und damit Ägypten (in den Augen der anderen arabischen Staaten) – Israel an, übt also ‚Verrat‘ an den arabischen Werten und dem Prinzip, niemals Israel anzuerkennen. Dass diese Geste für Frieden zwischen den beiden Ländern sorgen kön- nte, was zu dem Zeitpunkt des Besuchs zwar noch nicht klar, wohl aber voraussehbar war und in der Tat eingetreten ist, wird weder in Betracht gezogen, noch begrüßt. Ganz offensichtlich ist Carali mit dem Kurs des ägyptischen Präsidenten nicht einverstan- den. Anstatt diese Kritik jedoch offen und deutlich zum Ausdruck zu bringen, fordert er die Leserschaft auf, ‚um die Ecke‘ zu denken, da weder die eine noch die andere Figur als Anouar as-Sadat respektive als Menachem Begin identifizierbar ist. Dieses ‚um die Ecke denken‘ der Leserschaft wird systematisch auch durch die neunzehn Titelseiten der zweiten Periode erzwungen, die sich mit dem CH Nahostkonflikt beschäftigen. Allerdings bleiben Abb. 1: 1977/367: Cover auf ihnen die Staatsmänner, insoweit sie dargestellt sind, stets identifizierbar. Zwei der Cover themati- sieren den Oslo-Friedensprozess „Oslo I“ (vgl. CH 68

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In der Regel sind die Titelseiten oft Ausdruck und mit großen Augenringen anschaut (vgl. CH von sarkastischem, tiefschwarzen, tabu- und pi- 2004/647: 1). Über der Zeichnung prangt die Frage: etätslosem Humor: Anlässlich von Arafats Tod „Qui va succéder à l’ourse Cannelle?“ [„Wer wird beispielsweise, der zeitlich mit der Erschießung der Nachfolger der Bärin Cannelle?“] (Abb. 2). Braunbärin „Cannelle“ in den Pyrenäen korrelierte, Die Zeichnung einer anderen Titelseite (vgl. CH zeichnete Jul einen auf den Hinterbeinen stehenden 2002/502: 1), diesmal von Riss, zeigt eine explo- Bären mit einem im Stil Yasser Arafats drapierten dierende Frau, die einen intakten Sprengstoffgürtel Keffieh auf dem Kopf, der den Betrachter verstört am Leib trägt, während ihre Extremitäten und ihre Brüste in alle Richtungen davonfliegen. Die Karika- tur wird von folgendem Text begleitet: „Yves Saint Laurent habillait les femmes ...... le Hamas les désha- bille!“ [„Yves Saint Laurent kleidete die Frauen ...... die Hamas entkleidet sie!“ (Punkte im Original, da Text die Zeichnung von oben und unten einfasst)] (Abb. 3). Anlass für diese Karikatur zum Höhepunkt der Zweiten Intifada war die erste Selbstmordat- tentäterin in der Geschichte des Nahostkonflikts, Wafa Idris, die sich am 27. Januar 2002 in Jerusalem in die Luft sprengte (vgl. Chehab 2007: 87). Anders als von Charlie Hebdo suggeriert, war Idris jedoch keine Hamas-Aktivistin, sondern wahrscheinlich Anhängerin der Al-Aqsa-Brigaden, zumal sich die politische Linie der Hamas zu diesem Zeitpunkt noch gegen weibliche Selbstmordattentäterinnen aus- sprach (vgl. ebd.: 87f.). Wohl eine der bekannteren Titelseiten zum Nahostkonflikt ist die von Willem anlässlich des tödlichen Anschlags auf Yizhak Rabin (vgl. CH 1995/177: 1) (Abb. 4). Abb. 2: CH 2004/647: Cover

Abb. 3: CH 2002/502: Cover Abb. 4: CH 1995/177: Cover 69

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Die Karikatur zeigt einen Haufen menschlicher malbürger_in sei lediglich besorgt, dass kriegsbe- Knochen und Schädel, über dem das ‚Auge Gottes‘, dingt der Nachschub an Datteln abreißen könnte. in ein Dreieck gefasst und von Strahlen umkränzt, Kapitalist_innen hingegen freuen sich in einer von schwebt. Darüber ist der Text „Dieu est un tueur schwarzem Humor bestimmten Zeichnung darüber, d’extrême droite“ [„Gott ist ein rechtsextremer Kill- dass der Krieg endlich wieder die Märkte ankurbelt. er“] zu lesen. Zynisch thematisiert Willem dabei Diese Stimmung spiegelt sich auch größtenteils in nicht das Zunichtemachen des Friedensprozesses den Comics zum selben Thema wider, wovon weiter durch Rabins Tod, sondern übt angesichts des At- unten noch die Rede sein wird. Was die dargestell- tentats, das der jüdisch-orthodoxe Fanatiker Ygal ten Politiker_innen betrifft, so liegt der Fokus eher Amir verübte, eine allgemeine, sehr harsche Kritik auf den inländischen: Zwei Mitglieder der franzö- an Religion, die extremistische Menschen dazu ver- sischen Regierung, Premierminister Pierre Messmer leitet, andere Menschen aus Glaubensgründen zu und Innenminister Raymond Marcellin, kommen töten. Die humoristische Note wird der Karikatur in den Karikaturen zu Wort, wohingegen von den in meinen Augen allein durch die Sprechblase „Et Kriegsparteien allein die damalige Premierminis- borgne“ [„Und einäugig“] verliehen, die vom ‚Got- terin Israels, Golda Meir karikiert wird, und zwar tesauge‘ ausgeht, wie auch – wenn auch nur auf Me- als Eseltreiberin, die sich inkognito, unter einem taebene – durch die Präsenz des ‚Gottesauges‘ selbst, Schleier verborgen, im letzten Augenblick mit dem da es sich um ein christliches, nicht um ein jüdisches Sold der israelischen Soldaten davon macht (vgl. Symbol handelt. CH 1973/152: 4, Zeichnung im Zentrum). In der Tat gab es damals große Pannen in der internen Kommunikation des israelischen Geheimdiensts „Couvertures auxquelles vous avez échappé“ Mossad, aber auch in der Kommunikation mit der israelischen Regierung, die dazu führten, dass Isra- In der ersten Periode entsprechen die Couvertures el mehr oder weniger vom Angriff Ägyptens und in Charlie Hebdo mehr oder weniger dem Spektrum Syriens überrumpelt wurde (vgl. Lappin 2012). Be- jener Themen, die es auf die Titelseite geschafft ha- merkenswert ist, dass in dieser Karikatur offensicht- ben. Mit anderen Worten: Mehrere Karikaturen lich der israelischen Premierministerin kriminelle thematisieren das Geiseldrama bei den Olympischen Handlungen (Diebstahl, Fahnenflucht) unterstellt Spielen in München (vgl. CH 1972/95: 15), den Jom- werden und der Überraschungsangriff Ägyptens Kippur-Krieg (vgl. CH 1973/152: 4) und die Ölkrise und Syriens auf Israel nicht kritisiert wird. (vgl. CH 1973/156: 13). Sadats Reise nach Israel wird in den Couvertures zwar nicht weiter kommentiert, dafür aber das eineinhalb Jahre später von Sadat, Be- gin und Carter unterzeichnete Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel (vgl. CH 1979/437: 20). Die aussortierten Coverkarikaturen zur Geisel- nahme in München, größtenteils signiert von Gébé und Reiser, nehmen erneut nicht direkt den politischen Kontext dieser Geiselnahme in den Blick, sondern üben stattdessen mehrheitlich eine harsche, von Zynismus geprägte Kapitalismuskritik an der ‚The-show-must-go-on‘-Haltung des Olympischen Komitees bzw. des Veranstalters (CH 1972/95: 15). Angesichts des Jom-Kippur-Kriegs (vgl. CH Abb. 5: CH 1979/437: 20 1973/152: 4) suggerieren die Karikaturist_innen, dass die französische Gesellschaft, aber auch der Leider sind sämtliche Couvertures dieser Aus- Papst dem Krieg desinteressiert, höchstens belus- gabe unsigniert, sodass eine genaue Zuordnung zu tigt gegenübersteht, da es sich ja schließlich lediglich einer bestimmten Autor_in nicht möglich ist. Die um „métèques“ [„Kanaken“ (wobei hier Personen jü- Thematisierung der Unterzeichnung des Friedens- dischen Glaubens miteingeschlossen sind)], handeln abkommens zwischen Ägypten und Israel im Jahr würde, die sich bekriegen. Die französische Nor- 1979 (Abb. 5) in drei Couvertures aus der Ausgabe 70

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie vom 29. März (vgl. CH 1979/437: 20) weist auf eine ähnliche politische Haltung hin. Erneut ist nicht klar, wer sie gezeichnet hat; wahrscheinlich Gébé, Wolinski oder Reiser. Eine der drei Karikaturen zeigt drei Männer – Sadat, Carter und Begin – in Rückenansicht, nebeneinander auf einer Bank an einem Tisch sitzend. Alle drei haben ihre rechte Po- backe angehoben und flatulieren. In der Überschrift ist von „la paix foireuse“ [„dem vermurksten bzw. faulen Frieden“] die Rede. Eine weitere Karikatur direkt darüber zeigt einen unzufrieden dreinblick- enden Palästinenser mit Kalaschnikow und Keffieh. Ein grinsender Westeuropäer/Amerikaner fragt ihn: „Alors, c’est la paix?“ [„Also, ist Frieden?“]. Die dritte Karikatur, überschrieben mit „Égypte-Israël Le porte-plume de la paix“ [„Ägypten-Israel Der Feder- halter des Friedens“, Herv. im Orig.], zeigt einen Abb. 6: CH 2000/422: 16 dreiarmigen Federhalter, der von drei verschiedenen Händen gleichzeitig gehalten wird. Alle drei Karika- Was die Couvertures in Charlie Hebdo II im Allge- turen suggerieren ein negatives Bild des Friedens- meinen betrifft, so lässt sich zunächst feststellen, abkommens zwischen Israel und Ägypten, wenn dass sich in ihnen ebenfalls die Themen wieder- auch alle in unterschiedlicher Weise. Während die finden, die bereits auf den Titelseiten thematisiert Federhalter-Karikatur impliziert, dass drei Personen wurden; in der Tat gibt es in jeder Ausgabe, die nicht simultan mit ein- und demselben Schreibge- auf der Titelseite den Nahostkonflikt behandelt, rät arbeiten können, und im übertragenen Sinn also mindestens eine Couvertures-Karikatur zur sel- auch keinen Frieden aufrechterhalten werden, setzt ben Thematik. Ausnahmen sind, soweit ersicht- sich die Palästinenser-Karikatur mit dem Inhalt bzw. lich, ausschließlich die Ausgabe vom 14.02.2001 ‚Nichtinhalt‘ des Abkommens auseinander und kri- (vgl. CH 2001/452: 1), welche Sharons Wahl zum tisiert, dass die Palästinenserfrage nach wie vor un- Ministerpräsidenten zum Anlass nimmt, und jene geklärt bleibt, sodass die Betroffenen de facto nichts vom 21.07.2004 (vgl. CH 2004/631: 1), auf der Sha- von dem Abkommen haben. Die Flatulenz-Karika- ron im Brustporträt prangt und den französischen tur wiederum kommuniziert überdeutlich, dass allen Juden die Einwanderung nach Israel empfiehlt: Diese drei Beteiligten der Frieden ‚am Allerwertesten vor- Titelseiten-Ausgaben beinhalten keine weiteren beigeht‘ und dieser dementsprechend nichts taugt. Couvertures zum jeweiligen Thema. Abgesehen von Eine ähnliche, von Gébé gezeichnete Karikatur lässt den so verbleibenden 17 ‚Titelseiten-Ausgaben‘ las- sich zu den von Bill Clinton initiierten Friedens- sen sich noch in 57 anderen Ausgaben sog. „Couver- gesprächen zwischen Yasser Arafat und Ehud Barak tures-Karikaturen“ zum Nahostkonflikt finden, was (Camp David II) in den Couvertures in Charlie Hebdo die Vermutung zulässt, dass das Thema in der Re- II finden: Übertitelt mit „Révélation – Camp David daktion in bestimmten Perioden sehr präsent war, – Camp de nudisme“ [„Enthüllung – Camp David – auch wenn die jeweiligen Zeichnungen es nicht auf Nudistencamp“] sind alle drei Politiker entkleidet im die Titelseite, sondern lediglich in die Couvertures- Freien zu sehen. Während Arafat (zu erkennen an sei- Rubrik geschafft haben. Das war beispielsweise im nem Keffieh) und Barak (mit Kippa) der Betrachter_ Jahr 2001 der Fall, nach dem Beginn der Zweiten in die Rücken zuwenden und Hand in Hand über die Intifada (9 Ausgaben zuzüglich zu den drei Titel- Wiese laufen, liegt im Bildvordergrund Bill Clinton seiten-Ausgaben: vgl. CH 2001/448: 16; CH 2001/466: mit einem Blümchen im Mund auf dem Rücken (vgl. 16; CH 2001/467: 16 – Titelseitenausgabe, CH CH 2000/422: 16). Geschickt kommuniziert das Bild 2001/468: 16; CH 2001/477: 16; CH 2001/480: 16; CH der Leser_in vermittels seiner Absurdität, dass die 2001/482: 16; CH 2001/494;16; CH 2001/495: 16; CH Verhandlungen zu nichts führen und nicht ernst zu 2001/496: 16; CH 2001/497: 16). Auch 2002 lassen sich nehmen sind (Abb. 6). sieben Ausgaben Couvertures mit Intifada-Thematik 71

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie finden (vgl. CH 2002/500: 16; CH 2002/501: 16; CH 2002/502: 16 – Titelseitenausgabe, CH 2002/510: 16; CH 2002/511: 16 – Titelseitenausgabe; CH 2002/512: 16; CH 2002/536: 16 – Titelseitenausgabe). Im Jahr 2006, jenem Jahr, in dem Ariel Sharon ins Koma fiel, die Hamas die Wahlen in Gaza gewann, im Sommer der Libanonkrieg und im Herbst die Nahostreise der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Frank- reichs stattfanden, während im Winter der Konflikt zwischen Hamas und Fatah offen ausbrach, gibt es sogar 15 Ausgaben mit Couvertures; drei davon in Ausgaben, die sich bereits auf der Titelseite mit dem Nahostkonflikt beschäftigen.2 Die anderen Jahre: sieben im Jahr 2004,3 sechs im Jahr 2005,4 fünf im 5 6 Jahr 2000, je vier in den Jahren 2009 und 2014, Abb. 7: CH 1995/177: 3 drei in 2008,7 1993, 2003, 2007, 2010 und 2015 je zwei,8 und schließlich je eine in 1995, 1997, 1998 dieser der jüngste von Charlie Hebdo in dieser Form und 2013.9 aufbereitete Krieg ist. Was die Aufbereitung der Themen selbst an- Hinsichtlich des Attentats auf Rabin waren acht geht, kann hier leider nur auf eine kleine Auswahl Couvertures zu finden. Alle sind in derselben Ausgabe eingegangen werden. Gewählt wurden zusät- abgedruckt und machen genau die Hälfte der Kari- zlich zu der bereits weiter oben erwähnten Camp- katuren der Rubrik in dieser Ausgabe aus (vgl. CH David-II-Karikatur das Attentat auf Rabin sowie der 1995/177: 2-3.). Bemerkenswert ist die Vielfalt der Tod Arafats, um die Todesfälle der beiden Friedens- Herangehensweisen, denn hier wurde, anders als auf nobelpreisträger einander gegenüberstellen zu kön- der bereits weiter oben beschriebenen Titelseite zum nen, und der letzte Gaza-Krieg aus dem Jahr 2014, da Thema, oft mit sehr beißendem, schwarzen Humor gearbeitet. Zwei Karikaturen stellen den rechtsradi- 2 Vgl. CH 2006/708: 16; CH 2006/711: 16 – kalen Hintergrund des Aktes in den Vordergrund, Titelseitenausgabe; CH 2006/723: 16; CH 2006/724: 16; CH darunter die von Tignous, die einen weinenden 2006/735: 16; CH 2006/736 – Titelseitenausgabe; CH 2006/737: Skinhead zeigt, der nach den Urheberrechten fragt. 16; CH 2006/738: 16; CH 2006/739: 16 – Titelseitenausgabe; Übertitelt ist die Zeichnung mit „Un juif assassine CH 2006/740: 16; CH 2006/742: 16; CH 2006/751: 16; CH 2006/752: 16; CH 2006/755: 16; CH 2006/757: 16. Rabin“ [„Ein Jude ermordet Rabin“], darauf Bezug 3 Vgl. CH 2004/618: 16; CH 2004/630: 16; CH 2004/631: nehmend, dass Rabins Mörder ein rechtsradikaler 16; CH 2004/646: 16; CH 2004/647: 16; CH 2004/649: 16; CH Jude war (CH 1995/177: 3 oben links, Abb. 7, links). 2004/654: 16. Die andere, m.E. im Ton deutlich kritischere Zeich- 4 Vgl. CH 2005/656: 16; CH 2005/660: 16; CH 2005/666: nung stammt von Riss. Er zieht eine unmittelbare 16; CH 2005/684: 16; CH 2005/686: 16; CH 2005/688: 16. Verbindung zwischen Rechtsradikalismus und Re- 5 Vgl. CH 2000/415: 16; CH 2000/422: 16; CH 2000/433: ligion, indem er einen sitzenden Hitler mit einem 16; CH 2000/434: 16; CH 2000/435: 16. Dreieck hinter dem Kopf und in ein weißes, wallen- 6 Vgl. CH 2009/864: 16; CH 2009/865: 16 – Titel- des Gewand gehüllt abbildet, übertitelt mit: „Assassi- seitenausgabe; CH 2009/866: 16 – Titelseitenausgabe; CH nat de Rabin Le commanditaire identifié.“ [„Ermor- 2009/867: 16; CH 2014/1152: 16; CH 2014/1154: 16; CH dung von Rabin Der Auftraggeber ist identifiziert“, 2014/1155: 16; CH 2014/1156: 16. Herv. im Orig.] (CH 1995/177: 2, Mitte links). Charb 7 Vgl. CH 2008/822: 16; CH 2008/840: 16; CH 2008/863: wiederum macht sich über die orthodoxen Jüd_in- 16 – Titelseitenausgabe. nen lustig, die nicht den ‚Skandal’ akzeptieren kön- 8 Vgl. CH 1993/63: 2-3 und CH 1993/64: 2-3 – beide Titelseitenausgaben; CH 2003/559: 16; CH 2003/286: 16; CH nen, dass einer von ihnen Rabin erschossen hat: 2007/783: 16; CH 2007/787: 16; CH 2010/937: 16; CH 2010/938: „C’est un juif qui a tué un autre juif!“ [„Es ist ein Jude, 16; CH 2015/1202: 16; CH 2015/1213: 16. der einen anderen Juden getötet hat!“], echauffiert 9 Vgl. CH 1995/177: 2 – Titelseitenausgabe; CH sich der rechts im Bild geifernde, woraufhin der 1997/249: 3; CH 1998/332: 2 und CH 2013/1121: 16. links im Bild erwidert „On ne peut vraiment pas faire 72

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie confiance aux arabes!“ [„Man kann den Arab- in ein untergegangenes Bistum in Algerien, Partenia, ern wirklich nicht vertrauen!“] (CH 1995/177: versetzt wurde, weil er mit seinen progressiven, 3 oben rechts, Abb. 7, rechts). Eine leichte Kri- u.a. pro-homosexuellen Äußerungen nicht den tik an den Palästinenser_innen, in Gestalt von Leitlinien der katholischen Kirche entsprochen hatte Arafat schließlich, lässt sich aus einer weite- (vgl. Gaulmyn 2015). Die zweite Karikatur, wieder ren (vermutlich von Gébé gezeichneten) Kari- von Riss, ist eine Anspielung auf den Spielfilm An- katur herauslesen, die diesen zeigt, wie er gélique Marquise des Anges (Borderie 1964), durch (hämisch?) grinsend seinen Daumen hebt, um- den der männliche Hauptdarsteller Robert Hossein schrieben mit dem Kommentar „Je vous enterrerai berühmt wurde. Die Karikatur zeigt Rabin in langem ... Tous!“ [„Ich werde Euch beerdigen ... Alle!“] (CH Kleid und Krönchen, mit einem schwarzen Balken 1995/177: 3, Mitte links). „Annulé“ [„Abgesagt“] quer darüber. Titel: „Rabin Eine sarkastische Form des Humors offenbart Marquise des Anges par Robert Hossein“ (Herv. im Riss in seiner Karikatur, die einen LKW, auf des- Orig.). Der Historienfilm im Tenor von Die Schöne sen Plane „Friedensprozess“ zu lesen ist, zeigt. Der und das Biest war damals ein so großer Erfolg, dass Lastwagen fährt mit hoher Geschwindigkeit davon, in den Folgejahren noch weitere Teile produziert nachdem er Rabin, der im Bildvordergrund zu seh- wurden. Indem Riss in seiner Karikatur Rabins Tod en ist, überfahren hat. Übertitelt ist diese Karikatur in den Kontext dieses schwülstigen Films setzt und mit „Ouf! Rien n’arrêtera le processus de paix!“ [„Uff! ihm die Rolle der Angélique, der ‚Schönen‘ zuteilt, Nichts wird den Friedensprozess stoppen!“, Herv. im die sich in das durch Narben entstellte ‚Biest‘ (Arafat) Orig.] (CH 1995/177: 2, oben rechts).10 Willem, des- verliebt, kann er die Leser_innen zum Lachen brin- sen Karikatur zum selben Thema es auf die Titelseite gen. Humoristischer Tenor der Karikaturen ist so- der Ausgabe geschafft hat (siehe oben), hat noch mit vorwiegend Sarkasmus und schwarzer Humor. eine weitere zum Rabin-Mord gezeichnet, die als Allerdings richtet sich dieser – mit Ausnahme viel- zynische Kritik an der Presse (und der Gesellschaft) leicht von der letzten – nicht gegen Rabin, sondern zu verstehen ist, da das Attentat die Auflagen erhöht gegen Rechtsradikalismus und Religion. und so die Kassen füllt, was wiederum für die Berich- Das ist etwas anders bei Arafats Tod, der in den terstatter Anlass zur Freude ist: Volltrunken schun- Morgenstunden des 11. Novembers 2004 offiziell kelnde, anthropomorphe Tauben, die Flaschen in festgestellt wurde. Insgesamt siebenmal, verteilt auf ihren ‚Händeflügeln‘ halten, amüsieren sich prächtig drei Ausgaben, beschäftigen sich Autoren mit der bzw. befinden sich bereits im Alkoholrausch. Über- Thematik und zielen mit ihrem Humor auf Ara- titelt ist diese Zeichnung mit den Worten „Rabin fat selbst: in der Ausgabe vom 24.11.2004 (vgl. CH mort: festival des colombes de la paix dans la presse“ 2004/649: 16) zweimal, viermal in der Ausgabe vom [„Rabin tot: Festival der Friedenstauben in der Pres- 10.11.2004 (vgl. CH 2004/647: 16), sowie einmal in se“] (CH 1995/177: 3 Mitte rechts). der vom 11.12.2013, die auf die Exhumierung Ara- Die zwei restlichen Couvertures zu dem Thema fats und die Analyse seiner sterblichen Überreste erfordern eine gewisse Kenntnis der französischen wegen einer vermuteten Poloniumvergiftung Be- Gesellschaft und Kultur, um verstanden (und zug nimmt (vgl. CH 2013/1121: 16). In einer weit- witzig gefunden) zu werden. Unter der Überschrift eren Ausgabe vom 3.11.2004 (vgl. CH 2004/646: 16) „Après avoir ordonné de tuer Rabin, Dieu ordonne lassen sich ebenfalls zwei Couvertures finden, die mit aux évêques de tuer Gaillot“ [„Nachdem er die schwarzem Humor auf den extrem verschlechter- Tötung von Rabin angeordnet hat, ordnet Gott den ten Gesundheitszustand des Politikers nach seiner Bischöfen an, Gaillot zu töten“] zeigt die erste, von G. Verlegung in ein französisches Militärkrankenhaus (Gébé) gezeichnete Karikatur drei finster dreinblick- Bezug nehmen. Die erste dieser beiden Karikaturen, ende, schwerbewaffnete Bischöfe, welche ausrufen, gezeichnet von Cabu, ist übertitelt mit „Arafat soi- dass „Gott ... nicht Liebe [sei]“ und dass „Schluss gné dans un hopital militaire“ [„Arafat in einem mit diesem Blödsinn“ sein müsse. Gaillot ist ein Militärkrankenhaus behandelt“] (CH 2004/646: 16, Bischof, der im Januar 1995 abgesetzt und pro forma links oben). Sie zeigt Arafat, nur mit seinem Keffieh und einem Laken um seine Lenden vor dem Tisch 10 N.B. der Ausdruck „über Leichen gehen“ existiert in eines Militärs stehend, hinter ihm wartende Män- dieser Form im Französischen nicht. ner. Der Militär, unschwer als Franzose am Képi 73

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie und den Streifen an der Seite seiner Hose erkennbar, französischen Innenpolitik, was es der Leser_in er- schickt Arafat mit einer Geste weg und schreit: „Pas möglicht, auch über einen französischen Politiker zu de Tire-au-cul ici!“ [„Keine Faulpelze hier!“]. lachen: Luz zeigt Nicolas Sarkozy, der in seinen Kal- ender schaut und grinsend erklärt: „J’ai un trou dans mon planning le 12“ [„Ich habe eine Terminlücke am Zwölften“] (CH 2004/647: 16, oben links). Über- titelt ist die Couverture mit der Frage, wer Arafat er- setzen könne. Angespielt wird hier auf die zu die- sem Zeitpunkt bereits bestehende bzw. absehbare Kumulation von Ämtern des französischen Poli- tikers: Einerseits war Sarkozy damals Wirtschafts- und Finanzminister in der Raffarin III-Regierung und zudem Präsident des Départements Hauts-de-Seine, gleichzeitig lag seine Kandidatur für den Parteivorsi- tz des UMP vor (gewählt wurde am 28.11.2004). Die Abb. 8: CH 2004/647: 16 zweite, von Cabu gezeichnete Karikatur (ebd., Mitte links) ist übertitelt mit: „Alliot-Marie nous confirme: Der Witz der zweiten Karikatur von Honoré Arafat n’est pas mort“ [„Alliot-Marie bestätigt: Ara- (CH 2004/646: 16, rechts oben) basiert auf einem fat ist nicht tot“, Herv. im Orig.] und zeigt die dama- Wortspiel. Der Titel der Karikatur ist „Arafat, état lige französische Verteidigungsministerin Michèle stable“ [„Arafat, stabiler Zustand“], wobei ‚état‘ im Alliot-Marie von hinten, sich zum Betrachter um- Französischen auch ‚Staat‘ heißt. Auf diesen bezieht drehend, in Uniform an einem Krankenbett. Der sich die gezeichnete Figur, Ariel Sharon, der „état?“, Kranke – erneut durch den Keffieh als Arafat identi- also ‚Staat?‘, fragt, womit Honoré darauf anspielt, fizierbar – fasst der Ministerin an den Hintern. dass die Palästinenser nach wie vor keinen eigenen, Am 24.11.2004 wird erneut eine Zeichnung von autonomen Staat haben (Abb. 8). In der Folgeaus- Riss über den nun offiziellen Tod Arafats abge- gabe (CH 2004/647: 16) thematisieren vier der ins- druckt, viermal so groß wie die anderen auf der gesamt 12 Couvertures den Gesundheitszustand Ara- Seite. Der Karikaturist greift hier die Hypoth- fats. Zwei davon antizipieren bereits den Tod des ese einer möglichen Vergiftung auf und zieht sie Politikers. Die eine davon, von Tignous, stellt sich gleichzeitig ins Lächerliche, indem er unterstellt, die Frage, wo man Arafat begraben solle: Ein Palästi- dass der Politiker durch Baujolais Nouveau, also nenser hebt ein Grab am Fuß der Trennungsmauer durch den ganz jungen Baujolais Primeur-Wein, der aus, auf der auf dem Mauerelement direkt dahint- noch im Jahr seiner Herstellung verkauft wird, ver- er bereits „Yasser Arafat“ eingemeißelt steht (CH giftet worden sei (CH 2004/649: 16, Mitte rechts). 2004/647: 16, Mitte rechts). Ein danebenstehender Der Witz, eigentlich unnötig zu erklären, basiert Palästinenser fragt, ob das nicht ein wenig zu groß selbstredend auf der Absurdität dieser Aussage, da für einen Grabstein sei, wobei eine Anspielung auf Arafat zu seinen Lebzeiten keinen Alkohol getrunk- die unglaubliche Höhe dieses Bollwerks von acht Me- en hat, und stellt gleichzeitig eine Spitze gegen diesen tern gemacht wird. Die zweite, von Charb gezeich- Modewein dar, der eher wegen der durch ihn ver- nete Couverture (ebd., links unten) ist mit „Arafat tou- mittelten Feststimmung denn für seine Reife kon- jours pas à la morgue“ [„Arafat noch immer nicht im sumiert wird (vgl. Arnaud 2016). Die zweite Karika- Leichenschauhaus“] übertitelt und zeigt die Leiche tur der Ausgabe (vgl. CH 2004/649: 16, links unten), Arafats – erkennbar am Keffieh – auf einer Toten- ebenfalls von Riss, zeigt eine hämisch grinsende, mit bahre. Die Hände sind gefaltet, Fliegen umkreisen der Krankenakte ihres Mannes, aus der Geldscheine ihn. Ein Mann im Kittel steht neben ihm, zeigt sich flattern, unter dem Arm weglaufende Souha Arafat. selbst an den Kopf, sagt: „Tant qu’il n’enlève pas son Riss spielt damit womöglich auf das Luxusleben der signe ostentatoire, c’est niet!“ [„Solange er nicht sein in Paris lebenden Arafat-Witwe an, welches sie un- ostentatives Zeichen abnimmt, heißt es niet!“]. gestört nach seinem Tod weiterführen will, denn Die anderen beiden Karikaturen verweben Ara- zum Zeitpunkt der Publikation hatte die Witwe fats Schweben zwischen Leben und Tod mit der noch nicht die Krankenakte eingefordert. Dies tat 74

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie sie erst acht Jahre später, um der Vergiftungstheo- Couverture damit, dass Israel seine Ziele vorwarnen rie, die sie zum Zeitpunkt des Todes selbst propagi- würde (vgl. CH 2014/1152: 16, links unten). ert hatte, auf den Grund gehen zu lassen (vgl. Mal- Mehrfach und mit nicht minder sarkastischem brunot 2012; Pelletier und Pontaut 2012). Erneut bzw. schwarzen Humor greifen Autor_innen auch greift Riss die mögliche Vergiftung Arafats und die wiederholte Bombardierung der von den ver- gleichzeitig auch den bereits aus der Ausgabe vom einten Nationen betriebenen UNRWA-Schulen 11.12.2013 bekannten Humorstil auf, nachdem zwar durch den IDF auf (vgl. Jalabi/McCarthy/Popo- ein schweizer Forschungsteam, nicht aber das rus- vich 2014): Riss am 30.7.3014, Charb am 30.7. und sische und das französische, diese Theorie bestätigte 6.8.2014 (alle auf S. 16). Sie kombinieren darin die (Chrisafis und Sherwood 2013): Das groteske Kari- karikierende Darstellung toter und/oder verstüm- katurporträt des einstigen Palästinenserführers wird melter Kinder in UNRWA-Schulen mit Sprüchen, diesmal von der Information begleitet, dass „Arafat die die Leser_in über die Grausamkeit der Bom- nicht durch Ermordung gestorben ist“, sondern „le- bardierungen lachen lassen. In einer von Charbs diglich fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag Zeichnungen (CH 2014/1154: 16 Mitte, Abb. 9), ist aß“ (CH 2013/1121: 16, Mitte rechts). beispielsweise eine aus einem Transistorradio kom- Was die Thematisierung der beiden Politikertode mend Sprechblase zu sehen, die Teile des Refrains angeht, ist zunächst auffallend, dass sich die Bei- des fröhlich-lustigen Lieds „L’école est finie“ der träge im Falle Rabins eher mit dem politischen Hin- französischen Jungenband Les Poppys aus den 1970er tergrund der Tat auseinandersetzen, wohingegen in Jahren wiedergibt (vgl. Poppys 2009). Tignous wie- Bezug auf Arafat die Urheber_in einer möglichen derum deutet in seiner Karikatur an, dass die Hamas Vergiftung nicht ernst genommen werden. Mit die zu dem Zeitpunkt gerade ausgehandelte Waffen- Ausnahme der „Angélique“-Karikatur über Rabin ruhe nicht respektieren, sondern weiter Tunnel gra- mokieren sich die Zeichner auch nicht über ihn als ben wird (CH 2014/1156: 16, Mitte unten). Person, ganz im Gegensatz zu Arafat. Was die siebenwöchige sogenannte ‚Operation Starker Fels‘ vom Sommer 2014 betrifft, so neh- men sich insgesamt zwölf Couvertures dieses The- mas an, verteilt auf vier Ausgaben (CH 2014/1152: 16, eine; CH 2014/1154: 16, vier; CH 2014/1155: 16, sechs und CH 2014/1156: 16, eine). Dieser Gazakrieg sollte für Israel durch gezielte Bombardierung von Abschussstützpunkten für Qassam-Raketen den Be- schuss von Israel aus Gaza beenden. Ca. 2.100-2.300 Bewohner_innen des Gazastreifen kamen dabei ums Leben, weit über die Hälfte davon Zivilist_ innen, was in Frankreich eine Reihe von Anti-Isra- el-Demonstrationen auslöste. Charlie Hebdo thematisiert in den Couvertures den Krieg selbst, aber auch die französische Innenpoli- tik bzw. die Meinung der französischen Normal- bürger_innen. Was Ersteres betrifft, erinnert Luz CH beispielsweise mit einigem Sarkasmus an die Praxis Abb. 9: 2014/1154: 16 der israelischen Armee, die Gazaouis vor ihrer Bom- Eine andere Gruppe von Karikaturen nimmt im bardierung über ihre Handys u.a. per SMS über die Kontext des Gazakriegs die Befindlichkeiten im Bombenangriffe zu warnen (vgl. anon./IDF 2014), Hexagon in den Blick: Der Krieg verdirbt den ‚ar- indem er einen Panzer zeichnet, aus dessen Kanon- men‘ Franzosen ihren Urlaub, was Luz in einer enrohr ein Handy schießt, auf dessen Display die großformatigen Karikatur mit nahezu gleichna- von einem Davidstern umgrenzte Onomatopöie migem Titel („La guerre qui nous gâche les va- „Boum!“ zu lesen ist. Der Panzerfahrer erklärt dabei, cances“) vom 06.08.2015 zum Ausdruck bringt (CH dass er erst mal eine SMS schickt. Übertitelt ist die 75

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie

2015/1155: 16, links oben). Diese zeigt einen nur dem Emblem der Liga hält und erklärt: „Ne laissons mit einer Badehose bekleideten, im Meer stehenden pas le racisme au Front National!“ [„Überlassen wir Mann, der traurig auf eine Eiswaffel, die er in der den Rassismus nicht dem Front National!“] (CH Hand hält, blickt. Statt Eiskugeln stecken in dieser 2014/1155: 16 rechts Mitte). Riss wiederum rea- der grüne Kopf eines Hamaskämpfers und der blaue giert sarkastisch auf „den Fortschritt der Menschheit eines orthodoxen Juden, die sich ineinander verbis- innerhalb eines Jahrhunderts“, indem er in der Kari- sen haben. Unten tropft aus der Waffel Blut. So im- katur direkt links neben Charbs, von dem Spiel pliziert diese Karikatur – über allen Sarkasmus hin- mit den Worten „Poilu“ und „Barbu“ ausgehend, weg – so etwas wie Mitgefühl, vermittelt durch den die Gegenüberstellung eines französischen Sol- Gesichtsausdruck des Mannes, den die Nachrichten daten aus dem 1. Weltkrieg mit einem Hamaskämp- vom Krieg offensichtlich nichtkalt lassen. Direkt fer ableitet (CH 2014/1155: 16, Mitte). Erstere sind in rechts daneben ist eine Karikatur von Riss mit dem die Geschichte als „Poilus“ [„Behaarte“] eingegangen, Titel „Les vacances des Français menacés – par les wohingegen „Barbu“ [„Bärtiger“], auf den religiösen tunnels du Hamas!“ [„Die Ferien der Franzosen Hintergrund der Hamas anspielt. Die letzte hier zu bedroht – durch die Tunnel der Hamas!“] zu finden, erwähnende Couverture zu diesem Thema ist von Luz auf der zwischen den leicht angewinkelten, gespreiz- (CH 2014/1155: 16, rechts oben). Sie trägt den Titel ten Beinen von erschrockenen Strandbesucher_ „Hollande droht Israel“ und zeigt den französischen innen je ein Hamaskämpfer aus dem Sand auftaucht. Präsidenten François Hollande vor dem Fern- Weil so unendlich grotesk und absurd, lässt sich seher, in dem gerade Die Abenteuer des Rabbi Jacob mit darüber wahrscheinlich leichter lachen als über Louis de Funès in der Hauptrolle läuft (Ouri 1973). Luz’ Karikatur, zumal sie keine Gewalt suggeriert Hollande verkündet, dass er die Komödie – in der und vornehmlich die Befindlichkeiten der Urlau- ein notorischer Rassist und Antisemit in die Rolle ber_innen in den Blick nimmt. In der Ausgabe der eines Rabbiners schlüpfen muss – verbieten wird. vorangegangenen Woche bezog sich bereits Charb Luz ironisiert mit dieser Couverture die angeschla- mit einer Zeichnung auf die Urlaubszeit. Unter dem gene Glaubwürdigkeit des Präsidenten im Zusam- Titel „Épilation: La mode est à la bande de Gaza!“ menhang mit seiner zunächst pro-israelischen, dann [„Enthaarung: Die Mode à la Gazastreifen“] zeigt israel-kritischen Einschätzung des Gazakriegs (vgl. die sarkastische Karikatur den nackten Rumpf einer Rescan/Léchenet/Vaudano 2014). Frau am Strand mit einer in Form des Gazastreifens rasierten Scham (CH 2014/1154: 16, rechts Mitte). In der dritten Couverture, die Charb zu dieser Aus- Karikaturen gabe beigesteuert hat, spielt er auf die aus dem Ruder In der ersten Periode von Charlie Hebdo ließen sich gelaufenen Anti-Israel/Pro-Gaza Demonstrationen keine Einzelkarikaturen zum Nahostkonflikt finden, in Paris an, indem er eine Ruinenlandschaft zeigt, sondern nur Comics, auf die im nächsten Abschnitt vor der eine einzelne Frau mit einem Wanderbün- eingegangen wird. Einzelne Karikaturen zu dem del über dem Rücken von dannen zieht, beschriftet Thema gab es erst in der zweiten Periode von Char- mit „Une manif‘ pro-israélienne tourne mal à Gaza“ lie Hebdo, zunächst in der Ausgabe vom 08.09.1993 [„Eine pro-israelische Demonstration in Gaza geht in Gestalt einer Zeichnung von Luz, direkt neben schlecht aus“] (CH 2014/1154: 16, links unten). den Couvertures, aber nicht ihnen zugehörig (vgl. CH In der Folgeausgabe widmet er sich erneut den 1993/63: 3, rechts unten), sowie einer von Willem Ausschreitungen in Paris, die sowohl die Rechts- (vgl. ebd, S. 10, rechts oben). Luz’ Karikatur mit dem extremen auf den Plan gerufen hatten, die sich mit Titel „Fabiola, Königin des neuen palästinensischen den pro-palästinensischen Demonstrant_innen Staates“ zeigt Arafat, der seinen Arm um Fabiola, die solidarisiert hatten (vgl. Licourt 2014), als auch, als Witwe des belgischen Königs Boudewijn legt, die Gegendemonstranten, die Ligue de la Défense Juive. sichtlich schwanger ist. Fabiola sagt: „Et en plus il Letztere, ist eine nicht eingetragene, extremistische, m’a mise en cloque!“ [„Und außerdem hat er mich pro-israelische Organisation, die mit Gewalt gegen geschwängert!“] Luz nimmt mit seiner Zeichnung Israel-Kritiker_innen vorgeht (vgl. Le Devin und einerseits das von Yizhak Rabin und Yasser Arafat Albertini 2014). Die Zeichnung zeigt einen Juden, unterzeichnete Oslo-I-Abkommen aufs Korn, das erkennbar an Kippa und Tallith, der eine Fahne mit 76

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie den Palästinenser_innen nur auf Interimsbasis das Die Blockade des Gazastreifens Recht auf Selbstverwaltung zuerkannte (vgl. anon./ Israel 1993). Andererseits mokiert er sich über die Israel und die USA hatten nach der Machtergrei- Königswitwe Fabiola, die nach Boudewijns Tod den fung der Hamas im Juni 2007 im Gazastreifen ihre Titel ‚Königin der Belgier‘ erhalten hatte, ohne aber Embargo- und Blockadetaktik auf den Gazastreifen regieren zu dürfen (ihr Neffe Philippe übernahm reduziert. Das Embargo betraf nicht nur Waffen- dagegen das Zepter, weil die Verbindung kinderlos lieferungen, sondern eine ganze Reihe von Produk- und daher ohne Thronfolger geblieben war, vgl. ten, deren Verbot nicht unbedingt nachvollziehbar, Lady Leana 2008). Indem Luz Fabiola in den Kontext vielleicht aber einer Zermürbungstaktik geschuldet von Palästina bringt, ironisiert er die Machtlosigkeit war. Auf der gesamten Seite 15 der Ausgabe vom dieses politischen Konstrukts. Willems Karikatur 30.06.2010 veröffentlichte Charb unter dem Thema hingegen ist allein eine Anspielung auf das Oslo-Ab- „Gaza Blockade“ einen kurzen Artikel mit dem Titel kommen: Sie zeigt Arafat und Rabin knutschend in „Ces produits sont dangereux“ [„Diese Produkte sind Nahaufnahme, wobei Arafat genauso zu Rabin ge- gefährlich“] (CH 2010/941: 15). Der Artikel listet wendet gezeichnet ist, dass sich die beiden Politiker all jene Produkte auf, deren Import in den Gaza- – angelehnt an eine Sexstellung – gegenseitig an der streifen untersagt ist: Angefangen bei spezifisch- Nase lutschen (vgl. CH 1993/63: 10, rechts oben). en Gewürzen, über Bauholz, Ersatzteile für Trak- Übertitelt ist die deftige Zeichnung mit den iro- toren und Marmelade, bis hin zu Ziegen und Küken. nischen Worten, dass, was „Israel-Palästina“ betrifft, Wahrscheinlich hat sich Charb bei dieser Auflistung „die Liebe stets Siegerin“ sei. auf das Dokument von Gisha – Legal Center for Free- Solche Einzelkarikaturen sind über die Jahre im- dom Movement gestützt, denn diese stimmen in der mer wieder zu finden; wenn das Thema mehrere Reihenfolge der Produktnennungen abweichungslos Autor_innen inspiriert hat, wurden die Karikaturen miteinander überein (vgl. anon./Gisha 2010). Der zu einem Sonderthema zusammengefasst und/oder Artikel schließt mit der ironischen Feststellung, dazu genutzt, um einen Artikel zu illustrieren oder dass manche gutgläubigen Menschen nicht verste- diesen visuell einzurahmen. Derartige Sonderthe- hen können, was an diesen Produkten so gefährlich men waren u.a. eine Reportage über die Hezbollah sein soll, und fordert sie auf, sich vorzustellen, was (vgl. CH 2000/433: 8-9), die Zweite Intifada (vgl. die Hamas beispielsweise mit einem mit Sprengstoff CH 2000/434: 2-3; CH 2000/435: 8-9; CH 2001/494: gestopften Küken anstellen könnte. 2-3), das Koma von Ariel Sharon (vgl. CH 2006/708: Der Artikel wird von insgesamt zehn Kari- 2-3), Auszüge aus dem Wahlprogramm der Hamas katuren umrahmt, die jeweils das Importverbot (vgl. CH 2006/711: 2-3), der Libanonkrieg im Som- eines spezifischen Produkts (A4-Papier, Walnüsse, mer 2006 (vgl. CH 2006/736: 2-3), die Blockade von Musikinstrumente, Industriemargarine, Schreibge- Gaza (vgl. CH 2010/941: 15) und die Aufnahme räte, Angeln, Bonbons, Marmelade, Ziegen, Ingwer Palästinas in die UNO als Beobachterstaat (vgl. CH und Chips) ironisieren, indem dargestellt wird, in 2012/1068: 10). welcher Hinsicht das Produkt gefährlich sein könnte. Auch bei den Karikaturen muss aufgrund ihrer Das Marmeladen-Verbot erklärt Charb beispiels- Fülle leider darauf verzichtet werden, diese in Gänze weise damit, dass ein israelischer Panzer in einer vorzustellen. Die folgende Auswahl fiel zum einen Marmeladenlache kleben bleiben könnte (Karikatur auf die Blockade des Gazastreifens und das damit Mitte rechts). Links oben wird die Schnittkante von verknüpfte Embargo, nachdem die Hamas dort, ab A4-Papier zu einem gefährlichen Folterinstrument, Sommer 2007, die Regierungsmacht übernommen direkt rechts daneben werden Walnüsse zu tödlichen hatte, zum anderen auf die Erteilung des Beobach- Waffen, die, noch schlimmer als Steine sind, da sie terstatus Palästinas bei der UNO im November den Schädel direkt zertrümmern können. Links un- 2012. Diese beiden Ereignisse wurden ausgewählt, ten wird das Ziegeneinfuhrverbot damit begründet, weil die Karikaturen über den Beobachterstatus ein dass die Gefahr darin bestünde, dass die Palästinens- besonders prägnantes Beispiel für den Charlie-Heb- er eine Ziege als Nachfolger des (vom IDF getöteten) do-typischen Humor darstellen, während die Ga- Hamas-Führers Cheikh Yassine bestimmen könn- za-Blockade ein nicht minder gelungenes Beispiel für ten. In Charbs Zeichnung steht eine Ziege erhöht Realsatire in Gestalt von Charbs Sonderseite liefert. auf einem großen Stein, und ein Hamaskämpfer mit 77

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie erhobener Kalaschnikow davor, was wohl auch ent- Knauer 2010). Unter dem Titel „Stoppé par l’armée fernt an die biblische Anbetung des goldenen Kalbs Israélienne: La flotille humanitaire pro palestini- erinnern soll (Abb. 10). Das Einfuhrverbot von enne“ [„Von der israelischen Armee gestoppt: Die Angelschnur und Bonbons erklärt Charb damit, dass humanitäre pro-Palästinensische Flotte“] zeigt israelische Soldaten sonst einen an einer Angel be- er drei bedrückt dreinblickende Männer von BP in findlichen Bonbonköder schlucken könnten (Mitte Anzug an einem Tisch sitzen, von denen der Mittlere links, Abb. 10). fragt, ob die Israelis nicht die Ölpest für BP stoppen In der Ausgabe vom 02. Juni 2010, wenige Tage könnten. Auf derselben Seite ist Charbs Karikatur nach der Enterung der „Gaza Freedom“-Flotte, las- von IDF-Soldaten zu sehen, die einen Mann in zivil sen sich abgesehen von zwei Couvertures auch drei wie einen großen Fisch kopfüber an den Knöcheln Einzelkarikaturen zu dem Thema finden: eine von hochhalten. Der Titel spricht von „Skandal“, weil „Is- Tignous (vgl. CH 2010/937: 3) und zwei von Charb rael nicht seine Fangquoten“ einhalte. Eine weitere (vgl. ebd und S. 10). Tignous’ Karikatur beschäftigt Karikatur von Charb zum Thema, auf S. 10, stellt die sich mit der Enterung der Hilfsflotte, erinnert Ungleichheit der beiden Seiten heraus: Während ein aber gleichzeitig an die Ölverschmutzung im Golf in einem palästinensisch beflaggten Boot stehender von Mexiko nach der Explosion der BP-Bohrin- Mann einen Fisch auf einen israelischen Soldaten sel Deepwater Horizon (vgl. u.a. Lüdemann und wirft, schießt dieser mit scharfer Munition zurück und trifft den Mann in der Körper- mitte. Diese „Intifada zu Wasser“ wird von Charb im Titel als Neuheit ange- priesen (CH 2010/937: 10). Eine Woche später wird das The- ma erneut in vier Karikaturen aufge- griffen, die in einer orangefarben um- randeten Längsspalte untereinander, begleitet von der Überschrift „Isra- el, de l’Atlantique à l’Oural“ [„Israel, vom Atlantik zum Ural“], abgedruckt wurden (CH 2010/938: 10). Die erste, von Riss, zeigt einen Mauerbau di- rekt im Wasser, mit dem Titel „Isra- el ändert seine Taktik“, in Anspielung an den Bau des Abgrenzungs- zauns an den Grenzen zum und inner- halb des Westjordanlands und rund um den Gazastreifen. Charbs Karika- tur direkt darunter macht sich über die Haltung Israels lustig, indem er einen israelischen Soldaten, der eine Granate auf eine Meerjungfrau wirft, erklären lässt, dass es keine Meerjungfrauen mehr gebe, weil diese den Palästinenser_ innen geholfen hätten. Jul wiederum bezieht sich in seiner Karikatur auf die französische Kinderscherzfrage der beiden Figuren Pince-mi et Pince-moi (frei übersetzt etwa als „Kneif-Muck“ und „Kneif-Mich“: Kneif-Muck und Kneif-Mich sitzen in einem Boot. Kneif- Abb. 10: CH 2010/941: 15 Muck fällt ins Wasser. Wer bleibt 78

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übrig? Wenn logischerweise der Name „Kneif-Mich“ vom Gegenüber genannt wird, kneift der Fragende diesen, da er dazu ja aufgefordert wurde): Er benennt einen in einem Ruderboot sitzenden Mann, des- sen Augen verbunden sind, „Pince-moi“. Auf der Kennungsflagge des Bootes steht „Free Gaza“. Ein Kriegsschiff und ein, das Ruderboot angreifender Helikopter der israelischen Marine wiederum sind mit „Pince-mi“ beschriftet. Durch die Augenbinde des Bootfahrers mutet das Ganze wie eine Exekutions- szene an. Die Karikatur trägt dabei den ironischen Titel „Disproportionné?“ [„Unverhältnismäßig?“]. Jul bringt mit dieser Karikatur zum Ausdruck, dass die Gaza-Bewohner_innen und die Solidaritätsbe- wegung Free Gaza die Gekniffenen sind – immer- hin kamen neun Aktivist_innen bei dem Angriff der israelischen Marine auf die Gaza Freedom-Hilfsflotte ums Leben (vgl. Booth 2010). Dieser Angriff war in seinen Augen also alles andere als angemessen (Abb. 11, dritte von oben). In der letzten Karikatur der Spalte spielt Tignous ebenfalls auf die von der israelischen Armee geen- terte Hilfsflotte an. Auch er stellt die Situation, ob- wohl er sie lächerlich macht, als extremes Ungleich- gewicht zwischen einer übermächtigen israelischen Armee und einer ohnmächtigen Hamas dar. Unter dem Titel „Assaut de la flotille humanitaire par Is- rael: le Hamas appelle à l’intifada“ [„Enterung der Humanitären Flotte durch Israel: Die Hamas ruft zur Intifada auf“], zeigt er einen bärtigen, älteren Mann in Djellaba und Keffieh neben einem Jungen mit Keffieh am Strand stehen. Der Junge wirft spiel- erisch einen Stein hoch. Auf ein Kriegsschiff der israelischen Marine blickend, schiebt der Alte mit einer Hand den Jungen auffordernd nach vorne und spornt ihn an: „Allez, fais-nous des ricochets!“ [„Los, lass’ mal Steine hüpfen!“] (Abb. 11, unterste Abbil- dung). Indem Tignous das Steinewerfen der Intifida hier in ein harmloses Steine-über-das-Wasser-hüp- fen-lassen transformiert, macht er die Ohnmacht der von der von der Hamas regierten Gaza-Bewohner_ innen gegenüber der militärischen Übermacht der israelischen Armee überdeutlich und verharmlost gleichzeitig die Taten der Hamas. Alle Karikaturen in der Spalte stehen somit auf der Seite der Palästinenser und machen deutlich, dass in diesem Konflikt die Machtverhältnisse ungleich ge- wichtet sind.

Abb. 11: CH 2010/938: 10

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UNO-Beobachterstatus In der Ausgabe vom 05.12.2012 beziehen sich vier Karikaturen auf die Erteilung des Beobachterstatus für Palästina, die in der UN-Resolution 67/19 (vgl. anon./United Nations 2012) am 29.11.2012 verab- schiedet wurde (CH 2012/1068: 10-11). Drei dieser vier Zeichnungen sind erneut in einer Spalte an- geordnet, die farbig vom Rest der Seite abgesetzt ist und den Titel „Tout va bien en Palestine“ [„Al- les läuft prima in Palästina“] trägt (CH 2012/1068: 10). Vom Tonfall her sind alle Karikaturen sarkas- tisch, Ausdruck von tiefschwarzem Humor: Foolz beispielsweise macht in dem Titel seiner Zeichnung ein Wortspiel: „ONU: La Palestine devient un état non-membre“ [„UNO: Palästina wird ein Nicht-Mit- glied“, Herv. im Orig.], wobei „membre“ gleichzeitig eine Bezeichnung für Gliedmaßen ist. Diese fehlen dem Mann in der Zeichnung, der beinlos in sei- nem Blut inmitten von Ruinen liegt und feststellt, dass sich Gaza schon vorher in diesem verstümmel- ten Zustand befand (Abb. 12). Charb, in der dritten Karikatur der Spalte, macht, wie Foolz, ebenfalls gleich ein doppeltes Wortspiel. Der Titel lautet CH „L’ONU a du mal à reconnaître la Palestine ...“ [„Die Abb. 12: 2012/1068: 10 UNO tut sich schwer, Palästina anzuerkennen ...“]. Abgebildet ist ein Mann mit Keffieh, der augen- scheinlich einen Palästinenser darstellen soll. Der Mann hat ein blutendes, mit Beulen, Narben und Pflastern entstelltes Gesicht, und zugeschwollen Au- gen. Ein Mann im Anzug, der im Hintergrund steht, fragt ihn „Qui a pu vous mettre dans un état pareil?“ [„Wer konnte Sie in so einen Zustand versetzen?“], wobei das französische Wort für ‚Zustand‘ (état), auch ‚Staat’ bedeutet, und das Verb ‚reconnaître‘ im Titel je nach Kontext sowohl ‚anerkennen‘ als auch ‚wiedererkennen‘ heißen kann. Charb ironisiert hier also die Haltung der UNO, dem (von Israel in der Zeichnung geschundenen) Palästina lediglich den Beobachterstatus zuerkannt zu haben (Abb. 13). Luz geht an die Nachricht mit ähnlich schwarzem Humor heran: in seiner Karikatur, der zweiten der Spalte, die den Titel „La Palestine a enfin un état“ [„Palästina hat endlich einen Staat“] trägt, zeigt er zwei israelische Soldaten in einem Panzer, welcher Abb. 13: CH 2012/1068: 10 gerade einen Palästinenser mit Flagge überrollt. Der eine Soldat fragt, auf den Titel der Zeichnung (vgl. CH 2012/1068: 11) und stellt fest, dass „Palästi- bezugnehmend, wo dieser (Staat) denn sei, worauf- na der am meisten beobachtetste Beobachter- hin der andere „bei der UNO“ antwortet. Die vierte staat der UNO ist“. Auf der Zeichnung ist Mahmoud Karikatur zum UNO-Beobachterstatus ist von Riss Abbas mit erhobenen Armen zu sehen, das Victory- 80

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Zeichen sowie den Drei-Finger-Schwur (allerdings Sadat in Israel. Die Comics wurden von vier Autoren mit der linken Hand) ausführend, umzingelt von gezeichnet: Wolinski, Willem, Reiser und Carali. aus Feldstechern starrenden Augen, welche von je Von Reiser stammen 16,11 wovon gelegentlich zwei zwei Händen gehalten werden, und die Abbas von oder mehr auf einer Seite angeordnet sind oder ein- einer Mauer, einem Hubschrauber, einem Pan- er auf mehreren Seiten abgedruckt ist, von Wolins- 12 13 14 zer, einem Wachturm usw. aus beobachten (Abb. ki 15, von Willem neun und von Carali zwei. 14). Riss spielt in dieser Karikatur dementsprech- Etwa die Hälfte der Wolinski-Comics zu dem The- end darauf an, dass Palästina einerseits ständig un- ma sind „Monsieur-Comics“, eine Serie des Autors, ter der Beobachtung Israels, und andererseits (und in dem er in einer Bar zwei Männer (einer groß, dies nun genauso wie Israel) im nicht nachlassen- selbstsicher und dominant, der andere klein, dünn den Interessensfokus der anderen Staaten steht, so- und schüchtern) miteinander ins Gespräch kommen lange der Nahostkonflikt ungelöst bleibt. Dazu sug- und das Zeitgeschehen kommentieren lässt, wobei geriert die Zeichnung die Existenz einer Vielzahl sie oft aneinander vorbeireden. Diese zumeist halb- von Nichtmitgliedsstaaten mit Beobachterstatus bei seitigen, in der Regel im Hochformat abgedruckten der UNO, obwohl derzeit nur zwei diesen Status in- Comics sind in einfachstem Zeichenstil gehalten, nehaben: Palästina und der Vatikan. haben nie einen Titel und beginnen stets mit einem „Monsieur“, das der eine an den anderen adressiert, unmittelbar gefolgt von seinem ersten Kommentar. Ganz seinem unnachahmlichen Stil entsprechend, sind Reisers Comics noch deutlich skizzenhafter und ‚unordentlicher‘. Die Comics von Willem sind deut- lich detailreicher gezeichnet als die der Vorgenannt- en. Anders als Reiser – zumindest in Charlie Hebdo – und ähnlich Wolinski hat Willem verschiedene Fi- guren entwickelt, die bereits in dieser ersten Epoche der Zeitung auftauchen: Bob Robinson, Dick Talon und Barnstein, der Terrorist. Carali schließlich hat seine beiden Nahost-Thematisierungen in seiner Comic-Rubrik C’eut pu été15 untergebracht, die eben- falls sehr detailreich gezeichnet ist. Im Folgenden möchte ich kurz auf die Art und Weise eingehen, wie die Geiselnahme bei den

11 Vgl. CH 1972/95: 5; CH 1972/97: 5; CH 1973/152: 5; Abb. 14: CH 2012/1068: 11 CH 1973/153: 5 und 15; CH 1973/156: 5-6; CH 1973/157: 5-6; CH 1976/287: 5; CH 1976/295: 5; CH 1977/369: 5; CH 1978/405: 8. Comics 12 Vgl. CH 1972/95: 2 und 13, CH 1973/152: 2 und 7; CH 1973/155: 2 und 11; CH 1973/154: 2 und 4; CH 1973/155: 2 und In der ersten Epoche von Charlie Hebdo wurden 12; CH 1973/157: 13; CH1973/160: 2 und 12; CH 1977/367: 2; nach meinem Kenntnisstand 42 Comics zum The- CH 1979/434: 18. ma Nahostkonflikt abgedruckt. Mit Comics sind 13 Vgl. CH 1972/96: 14; CH 1973/153: 6; CH 1973/154: in diesem Zusammenhang sämtliche gezeichneten 11; CH 1973/156: 16; CH 1977/336: 16; CH 1977/337: 9; CH Bildgeschichten mit oder ohne Text gemeint, die 1977/341: 4; CH 1977/372: 12; CH 1979/345: 17. aus mindestens zwei miteinander zusammen- 14 Vgl. CH 1977/366: 10 und CH 1977/367: 10. hängenden Bildern/Panels bestehen. Die Hauptthe- 15 Eine Konjugation, die keinen Sinn ergibt, da die Form men der Comics sind das Attentat von München, „eut pu“ (Passé antérieur) vom Infinitiv gefolgt sein muss, d.h. der Jom-Kippur-Krieg und die damit verbundene nicht von „été“, sondern „être“. Korrekter wäre allerdings „eût pu“ (Konjunktiv II der Vergangenheit), doch das Dachzeichen Erdölkrise. Aber auch der Libanesische Bürgerkrieg fehlt, wohingegen die beiden Accents aigus auf „été“ nicht fe- (1975-1980) wird in Charlie-Hebdo-Comics themati- hlen. Auch hier müsste korrekterweise die Form vom Infinitiv siert, wie auch der Besuch des ägyptischen Präsidenten gefolgt sein. Frei übersetzt: „Was hätte gekonnt war gewesen.“ 81

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Olympischen Spielen in München in den Comics ils n’étaient communistes!... Ce serait le paradis!“ thematisiert wurde, welche in drei Ausgaben (CH [„wenn sie doch bloß nicht kommunistisch wären!... 1972/95-97) erschienen sind, gezeichnet von Wo- Das wäre das Paradies!“]. linski, Willem und Reiser. Der erste Comic, ganz- Eine Woche später ist das Thema der tragisch seitig und von Wolinski, zeigt zwei französische verlaufenen Geiselnahme, zumindest in den Wo- Olympioniken im Gespräch, Robert und Daniel linski-Comics, wieder in den Hintergrund getreten. (CH 1972/95: 2). Daniel ist sichtlich erschüttert von Zwar sind erneut zwei Comics von ihm abgedruckt, den Ereignissen in der vergangenen Nacht, spricht in denen er die Olympischen Spiele erwähnt, aber von den vielen Toten und davon, dass die Palästi- das wirklich nur am Rande. In dem einen kari- nenser_innen die Israelis angegriffen hätten. Robert kiert der Autor die sprichwörtliche Angewohnheit wiederum lässt sich in keiner Weise aus der Ruhe der Franzosen, sich stets über alles zu beschweren, bringen. Während des Gesprächs macht er Fit- auch wenn es gar keinen Anlass gibt. Die Erklärung nessübungen und erklärt, dass er sich nur auf sich dafür, so der Comic, liege darin, dass Frankreich selbst konzentrieren würde. Auch auf die Frage nicht genug Medaillen bei den Olympischen Spie- Daniels, wie er denn reagieren würde, wenn die len gewonnen hätte, da die französischen Schwarzen, Olympischen Spiele auf Grund der Ereignisse abge- anders als die amerikanischen, keine Medaillen ge- brochen würden, reagiert Robert gelassen und er- wonnen hätten. Anspielungen auf die Geiselnahme widert, locker von dannen joggend, dass das nicht fehlen in diesem Comic dementsprechend völlig. sein Ernst sein könne angesichts all der Menschen, Der zweite, direkt daneben – ein Gespräch zwischen die sich überall auf der Welt gegenseitig massakrie- dem damaligen französischen Präsident Georges ren würden. Daniel, der allein zurückbleibt, muss Pompidou und Bundeskanzler Willy Brandt – macht fatalistisch feststellen, dass der andere Sportler im eine kurze Anspielung auf den Terrorakt, hat dabei Grunde recht habe. aber vielmehr die Politik Deutschlands in Europa im In derselben Ausgabe greift Wolinski das Thema Blick und deren Verhältnis zu Amerika und Frank- im Rahmen seiner „Monsieur“-Reihe erneut auf (CH reich. Es ist Brandt, der Pompidou fragt, ob er ‚das 1972/95: 13). Der Dominante beginnt das Gespräch Drama in München gesehen‘ hätte, woraufhin der und erklärt, dass nur Unzivilisierte solche Sachen Befragte genervt feststellt, dass der Kanzler ihn für machen könnten, worauf der Schüchterne fragt, ob dumm verkaufen wolle, so wie er vom Thema ablen- er „déjà vu d’arabes avoir l’esprit sportif?“ [„Schon ken würde. mal Araber mit Sportsgeist gesehen?“] hätte, was Reiser beschäftigt sich in fünf Comics für Char- wiederum den Dominanten eine Parallele zum Krieg lie Hebdo mit der Thematik bzw. mit der daran an- im Allgemeinen ziehen lässt, der „früher“ sportlicher schließenden Terrorismusdebatte. Die ersten zwei, als heute gewesen sei. Als der Schüchterne ein- „La vie des athlètes“ [„Das Leben der Athleten“] und wirft, dass der Vietnamkrieg vielleicht zu nennen einer ohne Titel, sind nebeneinander abgedruckt (CH sei (der zu dem damaligen Zeitpunkt noch in vol- 1972/95: 5). „Das Leben der Athleten“ ist ein sarkas- lem Gange war), erklärt der Dominante kurzerhand, tisches Porträt von Sportlern, welche von klein auf dass das kein Krieg sei, denn wenn es einer wäre, ausgewählt, wissenschaftlich begleitet, ernährt und hätten ihn die Amerikaner schon längst gewonnen. überwacht werden als wären sie Kälber. Sein Fazit Er glaubt vielmehr, dass die westlichen Staaten weh- im letzten Panel, das einen Mann in Shorts in ein- rlos gegenüber „de ces assassins déguisés en révolu- er Blutlache zeigt während ein weiterer gerade fällt tionnaires“ [„diesen als Revolutionäre verkleideten und ein dritter – das suggeriert die Onomatopöie Mördern“] seien. Er fährt fort: „nous sommes trop „Pan“ – gleichzeitig erschossen wird, lautet, dass humains. Voilà!“ [„wir (die westlichen Staaten) sind man sich daher auch nicht wundern müsse, wenn zu menschlich. So!“]. Eigentlich hätten die Spiele in man am Ende gelegentlich eine „boucherie“ vorfind- Moskau stattfinden sollen, da hätten die Palästinenser en würde, auf Deutsch zu übersetzen in: „Fleischerei“ sich nicht getraut, so ein Massaker anzurichten. Er bzw. „Schlachterei“ wie auch „Gemetzel“. schließt seine Ausführungen damit, dass er manch- Im zweiten Comic daneben karikiert Reiser die mal denke, allein in den Ostblockstaaten würde noch Deutschen (klischeehaft dargestellt als ein Mann ein wenig Ordnung herrschen. Der Comic endet mit in Lederhosen) und suggeriert, dass die Deutschen der Bemerkung des Schüchternen, „si seulement nach wie vor Rassisten und verkappte Nazis seien, 82

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie indem er ihn sagen lässt, dass es 1972 „sehr korrekte hässlich sei, kommt der Redner ins Stammeln, Spiele“ gegeben hätte, wenn Hitler sämtliche Juden womit er sich das Gelächter der Versammlung zu- im Jahr 1940 getötet hätte, und dass die Spiele noch zieht, als sein Kontrahent ironisch feststellt, dass besser geworden wären, wenn Hitler auch noch alle sich so jemand, der auf solch eine Frage keine klare Araber und „Neger“ getötet hätte (CH 1972/95: 5). Antwort habe, Realist schimpfe. Zwei Wochen später hat Reiser gleich drei Com- Willems steuert einen ganzseitigen Comic, „La ics auf einer Seite zum Thema veröffentlicht (CH question Palestinienne“ [„Die palästinensische 1972/97: 5). Der erste, der im Groben die Hälfte der Frage“], zur Thematik bei (CH 1972/96: 14). Der Seite ausmacht, spielt auf den am 8. September vom Comic ist in zwei Hälften unterteilt: Im ersten Teil damaligen UN Generalsekretär Kurt Waldheim ge- spricht Willem die allgemeine Angst vor dem Ter- machten Vorschlag an, „Terrorismus“ auf die Tages- rorismus an, vor dem niemand mehr sicher sei. In ordnung der UN Vollversammlung zu setzen und sehr sarkastischer Form kommentiert er die harte auf die Einrichtung eines UN-ad-hoc-Komitees zum Linie der israelischen Regierung, nicht auf die internationalen Terrorismus (vgl. Blumenau 2014: Forderungen der Geiselnehmer eingegangen zu sein, 92ff). Reiser verulkt die Debatte, indem er Überle- worüber sich eine zerfetzte, am Boden liegende Geisel gungen, wie man gegen Terrorismus vorgehen könn- freut. Im dritten Panel wird Willem noch böser und te, mit Zeichnungen versieht, welche die Aussagen vergleicht den damaligen israelischen Verteidigungs- ins Lächerliche ziehen: Ein Polizist betatscht eine minister Moshe Dayan – identifizierbar anhand sei- Frau unter dem Vorwand, dass Durchsuchungen ner Augenklappe – mit Hitler, indem er ihn von ein- vermehrt durchgeführt werden sollen; zwei Hunde er Endlösung für die Palästinenser sprechen lässt und besteigen sich im Kontext der Aussage, dass die An- die Augenklappe, wie einen Schnurrbart, unter sei- zahl von Polizeihunden erhöht werden solle; Män- ner Nase eingezeichnet hat. Willem ist sarkastisch, ner, die in einem Überwachungszentrum sitzen und, wenn er im anschließenden Panel darstellt, wie Is- statt auf die Bildschirme zu schauen, Karten spiel- raelis ein palästinensisches Flüchtlingslager bombar- en, erklären, dass man mehr Überwachungskameras dieren und einen beteiligten Piloten sagen lässt, dass bräuchte und schließlich wären auch noch solche er hoffe, die bombardierenden Flugzeuge würden Flugzeuge gut, die keine Außenwände und nur noch nicht von den Palästinensern entführt werden. einen flachen Untergrund haben, da sie sich für Als sich schließlich im letzten Panel dieser ersten Durchsuchungen sehr gut eignen würden. Hälfte ein Israeli (erkennbar an einem Davidstern Im Comic direkt darunter, „Faut se méfier des Ar- auf seinem Bauch) bei dem Präsidenten der UNO abes“ [„Man muss sich vor den Arabern in Acht neh- beschwert, dass die Palästinenser nicht kleinzukrie- men“], der heute aktueller denn je erscheint, wird die gen seien, deutet letzterer an, eine Lösung zu haben. Angst der Bevölkerung vor Arabern (bzw. arabisch Diese ‚Lösung‘ wird von Willem im zweiten Teil des aussehenden Personen) persifliert, indem eine Toi- Comics dargestellt. Die Idee ist, die Palästinenser lettenfrau einen Araber auf die Toilette begleitet, um einfach in Frankreich anzusiedeln. Um Platz zu zu überprüfen, ob er dort eine Bombe deponieren schaffen, werden die dortigen Bewohner zwangs- will. Neben der Angst (die ja heute genauso, wenn evakuiert. Die Konsequenz: Frankreich prosperiert nicht sogar noch mehr, umgeht), greift der Comic und wird reich unter palästinensischer Herrschaft. ferner die gefühlte Aufwertung ihres prekären Jobs Doch der Frieden ist dahin beim ersten Bombenat- auf, da die Toilettenfrau sich auf einmal, ob ihrer tentat, bei welchem Palästinenser – gezeichnet in neuen Aufgabe, wichtig und besonders fühlen kann. traditioneller arabischer Tracht – ums Leben kom- Reisers dritter – unbetitelter – Comic auf der Seite men. Das letzte Panel des Comics zeigt Palästinenser, karikiert eine politische Parlamentsdebatte: Ein Poli- die Franzosen – erkennbar an Baskenmützen, Wein- tiker erklärt, dass, damit die Palästinenser, Iren und flaschen und Baguettes – treten, beschimpfen und Schwarzen nicht mehr Bomben werfen, man diesen ausrufen, dass die Terroristen vernichtet werden ein Zuhause und ihre Freiheit geben müsse. Ein an- sollen. Durch diese Transposition erklärt Willem in derer Politiker beschimpft den Redner als Idealisten, dieser zweiten Hälfte des Comics die Situation der woraufhin dieser sich als Realist bezeichnet. Auf Palästinenser in Israel aus seiner Sicht: Zwar pros- die Frage, ob Golda Meir (die damalige israelische periert das Land dank der Eingewanderten, aber die Premierministerin) jung und hübsch oder alt und Vertriebenen/Unterdrückten wollen ihre Heimat 83

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie zurückhaben und greifen, um dies zu erreichen, zu Comics – wie beispielsweise dem Beitrag von Riss Mitteln des Terrorismus, was wiederum harte Re- zum Touvier-Prozess (vgl. CH 1994/95: 5), über Re- pressionen seitens der neuen Machthaber_innen zur portagen über Reisen nach Palästina, gezeichnet von Folge hat, sodass der Kreislauf von Gewalt und Ge- Charb und Riss (vgl. CH 1994/95: 11; CH 2001/491: gengewalt von Neuem beginnt. 2-3, CH 2001/492: 8-9, über Comics zum Ausbruch In der zweiten Periode von Charlie Hebdo wurden der Zweiten Intifada (CH 2000/434: 2-3), die Tren- nach dem letzten Kenntnisstand 78 Comics zum nmauer, thematisiert von Charb (vgl. CH 2002/524: Nahostkonflikt veröffentlicht, deren Formate von 10; CH 2002/525: 7, CH 2002/526: 10), den Liba- Doppelseiten bis hin zu Zwei-Panel-Comicstrips nonkrieg im Sommer 2006, u.a. von Tignous (vgl. reichen. Die meisten, nämlich 26, stammen von CH 2006/736: 15), die Blockade des Gazastreifens, Charb16 gefolgt von 13 von Luz,17 zehn von Jul,18 u.a. von Luz (vgl. CH 2010/938: 9), Yasser Arafat acht von Riss,19 sieben von Willem,20 fünf von und Ariel Sharon, u.a. ebenso thematisiert von Luz Gébé,21 drei von Cabu,22 zwei von Honoré,23 und je (vgl. CH 2003/599: 7-8), Cheikh Yassine (u.a. von einen von Kamagurka (vgl. CH 2002/509: 13), Sfar Jul, vgl. CH 2004/615: 7), bis zu Comics über die in- (vgl. CH 2004/632: 13), Tignous (vgl. CH 2006/736: nenpolitische Lage in Frankreich, wo u.a. im Som- 15) und Wolinski (vgl. CH 2001/497: 6), wom- mer 2014 mehrere Solidaritätsdemonstrationen für it Letzterer auf insgesamt 16 kommt (wieder beide Gaza stattfanden (z.B. Luz, vgl. CH 2014/1154: 2). Epochen zusammengerechnet). Inhaltlich setzen sich Wie bei den Karikaturen ist der humoristische diese Comic-Beiträge mit sehr vielen unterschiedli- Ton der Comics in der Regel (sehr) sarkastisch bzw. chen Aspekten des Nahostkonflikts auseinander: Ausdruck schwarzen Humors oder auch komplett Das Themenspektrum reicht von sehr kurzen, nur absurd. In manchen Fällen scheint der Humor je- auf ein Panel beschränkten Anspielungen auf Israel doch auch abhandengekommen zu sein, ersetzt in ansonsten in völlig anderen Kontexten stehenden durch einen eher nüchternen, fast ‚neutralen‘ Ton. Da auch hier die Anzahl der vorgestellten Comics stark eingegrenzt werden muss, es aber wichtig er- 16 Vgl. CH 1994/95: 11; CH 1997/238: 11; CH 2000/421: 15; CH 2000/435: 13; CH 2000/436: 13; CH 2000/440: 15; CH scheint, dennoch das gesamte Spektrum der Formate 2001/478: 10; CH 2001/481: 20; CH 2001/494: 3; CH 2001/496: (vom Doppelpanel bis zur Doppelseite), wie auch 10; CH 2002/512: 7; CH 2002/525: 7; CH 2002/526: 10; CH die unterschiedlichen Humorformen vorzustellen, 2003/573: 11; CH 2003/592: 11; CH 2004/643: 11; CH 2004/647: ist es nicht möglich, nur ein oder zwei Themenbe- 2; CH 2006/707: 6; CH 2006/738: 2 und 14; CH 2006/740: 10; reiche aufzugreifen. Die Auswahl ist dabei mehr CH 2007/783: 11; CH 2008/863: 2; CH 2014/1155: 11; CH oder weniger subjektiv, orientiert sich aber an den 2014/1156: 15. oben genannten Kriterien und auch an jenen Autor_ 17 Vgl. CH 2000/343: 2-3; CH 2000/435: 8 und 9; CH 2001/474: 10; CH 2001/497: 10; CH 2002/511: 7; CH 2002/522: innen, die quantitativ am meisten Comics zu dem 10; CH 2003/587: 10; CH 2003/594: 7; CH 2003/599: 7-8; CH Thema in Charlie Hebdo II veröffentlicht haben, also 2006/755: 8-9; CH 2010/938: 9; CH 2014/1154: 2. Charb, Luz, Jul und Riss. 18 Vgl. CH 2001/479: 10; CH 2002/498: 10; CH 2002/524: Relativ am Anfang von Charlie Hebdo II, im Jahr 10; CH 2004/615: 7; CH 2004/633: 7; CH 2004/645: 6; CH 1994, publizierte Charb seinen ersten Comic zum 2005/698: 15; CH 2006/735: 10; CH 2006/736: 5 und 12. Thema, den Onepager „En Palestine au frais du 19 Vgl. CH 1994/95: 5; CH 2000/434: 2; CH 2001/482: contribuable“ [„In Palästina auf Kosten des Steuer- 10; CH 2001/491: 2-3; CH 2001/492: 8-9; CH 2002/502: 10; CH zahlers“] (CH 1994/95: 11). Charb kennzeichnet 2004/619: 11; CH 2007/784: 11. seinen Comic im ersten Panel als „Reportage“. In 20 Vgl. CH 2000/415: 11; CH 2001/448: 11; CH 2001/466: der Tat handelt es sich ganz offensichtlich um einen 11; CH 2001/478: 11; CH 2001/479: 11; CH 2005/656: 7; CH 2011/1015: 13, sodass er also auf insgesamt 16 Comic-Beiträge Bericht über eine Reise von Charb und Gébé nach kommt, wenn die neun aus der ersten Periode Charlie Hebdos Israel anlässlich einer Ausstellung von Zeichnungen hinzugerechnet werden. aus Charlie Hebdo im März 1994, die vom Centre Cul- 21 Vgl. CH 2000/434: 2 und 12; CH 2000/437: 12; CH turel Francais de Jérusalem organisiert wurde, wie eine 2000/489: 12; CH 2001/494: 2. in Panel 2 reproduzierte Einladungskarte nahelegt. 22 Vgl. CH 1994/107: 16; CH 2003/601: 15; CH 2003/602: Die Reise fand knapp einen Monat nach dem Massa- 15. ker von Hebron statt, bei dem Baruch Goldstein, ein 23 Vgl. CH 2001/477: 10; CH 2011/1011: 15. rechtsextremer, jüdisch-orthodoxer Sanitätsoffizier 84

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie des IDF, am 25. Februar am Grab der Patriarchen Elemente, Hasspamphlet und Schinkenbild, ver- 29 Palästinenser_innen erschossen und 150 verletzt ulken zwar durch komplette Überzeichnung und hatte. Übertreibung die anti-arabische Propaganda, Der Comic, bestehend aus sechzehn gleichgroßen offenbaren gleichzeitig aber sehr wohl einen wahren Panels (wovon eins den Titel beinhaltet), ist eine Kern der aufgeheizten, völlig verfahrenen Situation. Art Reisetagebuch, welches punktuell Erlebnisse Im nebenstehenden Panel gibt er eine Zeichnung mit und Gedanken Charbs festhält: Angefangen bei der berühmten Handala-Figur von Nadj al-Ali wieder Kommentaren über das unfähige Botschaftsperson- (vgl. al-Ali 2009) und erklärt darunter, dass die- al, über ein Abendessen mit Konsulatsmitarbeiter_ ser palästinensische Zeichner ermordet worden sei, innen, Eindrücken von der Ausstellung, hin zu Im- weil er den Mut gehabt hätte, „die Golfstaaten, Isra- pressionen und Gedanken zu Straßenszenen in Je- el, Arafat zu kritisieren“. Charb endet seinen One- rusalem und dem französischen Institut in Jericho pager mit der Zeichnung eines Hydranten, der und Gaza sowie zur Wiedergabe von Erzähltem mit zwei Augen und Grinsemund verziert ist und und Gelesenem. Vier der Panels thematisieren das schließt mit einem völlig unpolitischen Beobachter- Hebron-Massaker: In einem regt sich ein palästin- Kommentar, dass palästinensische „Knirpse“ die ensischer Professor, der die Ausstellung über Char- Hydranten derartig verzieren würden. Auf den er- lie Hebdo in Jerusalem besucht, über die Rezeption sten Blick wirkt diese Reportage somit nachdenklich des Massakers in einem französischen Lokalblatt und atmosphärisch, zumal sich Charb, wie sonst nie, aus Lothringen, Le Républicain Lorrain (Panel 6) einer rigorosen Seitenaufteilung unterwirft. Auch auf, im darauffolgenden Panel zeigt Charb einen lässt er in seinen Bildern andere zu Wort kommen Kreisverkehr in Ost-Jerusalem, in dessen Zentrum und gibt nicht unbedingt seine politische Position im Anschluss an die Unterzeichnung der Friedens- wieder. Diese wird jedoch sehr deutlich in sei- verträge von Palästinensern drei Olivenbäume ge- nen Kommentaren wie auch in seiner sarkastischen pflanzt wurden. Nach dem „Blutbad von Hebron“, Überziehung, dass für die rechten Israelis nur ein wurden, laut Charb, die Bäume von Unbekann- toter Araber ein koscherer, also ‚guter’ Araber sein ten ausgerissen und daraufhin durch einen großen könne. Stein ersetzt. (Die Richtigkeit dieser Aussage Diese eher lose Aneinanderreihung von konnte nicht überprüft werden.) Im zwölften Panel Einzelszenen lässt sich auch in einem anderen zeigt Charb, in Froschperspektive, das Nah-Porträt Comic von Charb wiederfinden, der wenige Monate eines verängstigten Juden (erkennbar an der Kip- vor dem offiziellen Ausbruch der Zweiten Intifada pa), der die Augen und den Mund weit aufgerissen abgedruckt wurde (vgl. CH 2000/421: 15, Abb. 15). hat und von welchem Schweißtropfen wegfliegen. Der Titel des Comics lautet „Enfin! L’état Palestinien Links unten im Bild ist ein Stein dargestellt, der bientôt proclamé!“ [„Endlich! Der Palästinensische wohl auf den Kopf des Mannes zufliegen soll (die Staat bald ausgerufen!“]. In diesem Comic bezie- comicüblichen Linien fehlen). Links unten steht ht sich Charb auf die Camp-David-II-Gespräche klein das Wort „Reconstitution“ [„Nachstellung“]. In zwischen Ehud Barak und Yasser Arafat (siehe oben). seinem Kommentar, der wie bei den anderen Panels Anders als im vorgenannten Comic ist dieser eine stets unterhalb der Zeichnung angeordnet ist, erklärt einzige, sarkastische Persiflage, in der der Zeichner Charb, dass ihm Freunde aus Ramallah erzählt ha- deutlich macht, dass er keinen Deut an den Erfolg ben, dass ein Jude sich nach Ramallah verirrt und „en dieser Friedensgespräche und schon gar nicht an a vraiment pris plein la gueule“ [„und echt voll eins eine Verbesserung der palästinensischen Situation auf die Fresse gekriegt“] habe. glaubt. Unter dem Titel steht das Wort „avec“, also Im dreizehnten Panel schließlich besteht der Hin- „mit“, was sich sodann auf die einzelnen, durch kein- tergrund aus einem kaum entzifferbaren englischen erlei Trennlinien separierten Zeichnungen bezieht. Text, den Charb in seinem Kommentar als einen in Zu sehen sind u.a. ein einsamer Briefkasten, gekenn- der Jerusalem Post abgedruckten Solidaritätsaufruf zeichnet als ‚Hauptstadt‘, ein trockenes Abwasser- zugunsten von Baruch Goldstein identifiziert. Über rohr, gekennzeichnet als ‚seine Wasserressourcen‘, diesem Text hat er einen Schinken gezeichnet, der mit einem Mann, der kommentiert, dass diese nur ein „koscherer Araber“ sein soll, wie ein Text dane- da seien, wenn Israel die Spülung betätige; oder ein ben erklärt. Das Zusammenwirken dieser beiden Mann mit Fliegermütze, der mit den Armen wie mit 85

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Flügeln schlägt und dazu ein Motorgeräusch nach- ahmt, gekennzeichnet als ‚seine Fluggesellschaft‘. Auf ihn zielt ein anderer, etwas weiter unten stehender Mann mit einer Panzerfaust, der mittels Kippa als Jude gekennzeichnet ist. Dieser sagt, dass der andere es ruhig versuchen solle, seinen Flugraum zu über- queren. Kurz: Es handelt sich um eine Reihe von Einzelszenen, die allesamt die durch die israelische Politik auf eine sehr kleine Fläche geschrumpfte Größe eines zukünftigen palästinensischen Staates verulken, oder die Übermacht von Israel ironisie- ren. Doch Charb kritisiert nicht nur Israel, sondern auch die korrupte palästinensische Politik, indem er Arafat zweimal abbildet: Einmal gekennzeichnet als Präsident, das zweite Mal als Opposition. Aber von Charb stammen nicht nur Comics, die aus unzusammenhängenden Einzelszenen bestehen, sondern auch zusammenhängende Minigeschicht- en. In einem etwa viertelseitigen, fünf Panels um- fassenden Comic in Schwarz-Weiß vom Oktober 2004 beispielsweise (vgl. CH 2004/643: 11) zeich- net er die Erschießung der 13-jährigen palästinen- sischen Schülerin Iman Darweesh Al-Hams nach, die am 5. Oktober 2004 in der Nähe von Rafah im Gazastreifen von einem IDF Offizier regelrecht mit Kugeln durchsiebt wurde (vgl. anon./Associated Press 2004). Die ersten drei nebeneinanderstehen- den Panels zeigen ein rennendes Mädchen in Kleid mit Schultasche, während im Bildhintergrund die Onomatopöie „PAN!“ in einer gezackten Sprech- CH blase einen Schuss suggeriert. Über ihrem Kopf Abb. 15: 2000/421: 15 fliegt ein Projektil von links nach rechts. Im zweiten Panel läuft sie schneller, Schweißperlen sind auf ihrer Stirn zu sehen, der Rucksack flattert hinter ihr, nur noch an einem Arm umgeschnallt. Im dritten Panel sind vier Schuss-Onomatopöien zu sehen, der Rucksack ist im Fallen, das Mädchen wird von meh- reren Kugeln getroffen, durchsiebt. Der untere Teil des Comics besteht aus zwei ne- beneinanderstehenden, etwas größeren Panels, in denen sich zwei IDF-Soldaten unterhalten, während sie die Sachen des Mädchens, dessen Beine jeweils links im Bildvordergrund zu sehen sind, durch- suchen. Der eine Soldat stellt fest, dass es sich um ein unschuldiges Schulmädchen gehandelt habe. Der andere, der ein Heft durchsieht, wiegelt ab und sagt, dass das nicht stimme, da sie eine eins in Chemie ge- habt habe, was darauf schließen ließe, dass sie gel- ernt habe, wie man Bomben baue ( ). Zwar Abb. 16 CH zeugt der Schlusssatz des Soldaten von Charbs tief- Abb. 16: 2004/643: 11 86

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie schwarzem Humor, andererseits ist er mit diesem bereist. Die beiden Reportagen, die die Titel „Pire Comic sehr nah an der Wahrheit, da der Offizier in que des chars ... des bulldozers“ [„Schlimmer als Pan- seinem Sicherheitswahn von seiner Tat vollkommen zer ... Bulldozer“], und „Palestine, une nation mort- überzeugt war und nach eigenen Aussagen selbst ein née“ [„Palästina, eine totgeborene Nation“] tragen, dreijähriges Kind erschossen hätte, wenn es sich, wie sind Zeugnisse dieser Reise. Im ersten Teil stellt er Al-Hams, in der Sicherheitszone bewegt hätte (vgl. mehrere Palästinenser_innen vor, u.a. aus dem ost- McGreal 2005a). jerusalemer Flüchtlingslager Shuafat. Alle Porträ- Wie Charb hat auch Riss nicht nur sarkastische tierten haben ihre Häuser verloren; diese wurden bzw. von schwarzem Humor geprägte Comics ge- von israelischen Bulldozern planiert, weil sie von zeichnet, sondern sich auch an einer Mini-Repor- ihren Besitzern ohne Genehmigung erbaut wurden. tage versucht, die er in zwei aufeinanderfolgenden Zeitgleich wird der Konstruktion von jüdischen Ausgaben jeweils auf einer Doppelseite veröffent- Siedlungen im Westjordanland vorangetrieben; licht hat (vgl. CH 2001/491: 2-3; CH 2001/492: eine davon, in Betlehem, wird gar nicht genutzt, so 8-9). Genau wie sein Weggefährte, allerdings ein berichtet Riss. paar Jahre später und ein Jahr nach dem Ausbruch Weiterhin präsentiert er den Rabbiner Arik der Zweiten Intifada, hat Riss das Westjordanland Ascherman in einem Porträt (Abb. 17) und stellt

Abb. 17: CH 2001/491: 2-3 87

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie dessen pro-palästinensisches Engagement vor. In Belastung der Kinder und Frauen spricht. Wie im der Tat ist Ascherman Mitbegründer des Vereins ersten Teil seines Comics geht Riss auch in diesem „Rabbis for Human Rights“, der sich aktiv gegen zweiten Teil nicht auf die israelische Seite ein. Ob- die Zerstörung von palästinensischen Häusern wohl sein Ton zurückhaltender ist als in der vorh- einsetzt (McGreal 2005b). Am Ende des Comics ergegangenen Woche, wird auch hier unmissver- kommuniziert der Autor die Email- und Internet- ständlich klar, dass er auf der palästinensischen Seite adresse des Vereins, damit die Leserschaft ihn unter- steht. stützen kann. Der Comic, in Schwarz-Weiß und Die anderen Comics von Riss sind Ausdruck von realistischen Zeichnungen gehalten (Ascherman ist Satire und schwarzem Humor. Der nur zwei Panels sehr gut identifizierbar), ist sprachlich nüchtern, umfassende Minicomic beispielsweise, welcher in vergleichsweise neutral. Auch wenn Riss darum der Ausgabe vom 11.10.2000, also kurz nach Aus- bemüht ist, die harten Fakten wiederzugeben, ver- bruch der Zweiten Intifada, abgedruckt wurde, ist raten mehrere Stellen seine Empörung gegenüber ein Ausdruck seines Sarkasmus (vgl. CH 2000/434: der israelischen Politik und seine Sympathie für die 2-3). In der Ausgabe ist der Comic Teil der dem Palästinenser. Am deutlichsten wird dies im Kom- Konflikt gewidmeten Doppelseite (2-3), die den Aus- mentar eines nahezu zentral angeordneten Panels, bruch der Intifada bzw. den Nahostkonflikt in den in dem er die Besetzung einer Handvoll Häuser in religiösen Kontext rückt: „Arrêtez tout! Dieu n’ex- Hebron durch jüdische Siedler_innen thematisiert. iste pas!“ [„Hört mit allem auf! Gott existiert nicht!“]. Nach einem vergleichsweise neutralen Kommentar, In der Tat wird gemeinhin der offizielle Auslöser der die Ausgangslage beschreibt, bricht im letzten der Al-Aqsa-Intifada im Tempelbergbesuch Ariel Satz sichtlich seine Wut durch: „Qui foutra dehors Sharons gesehen. ces tarés paranos qui se complaisent dans leur rôle Riss’ Beitrag ist ein Vergleich zwischen dem laizis- d’assiégés par les Arabes, alors que personne ne les tischen Staat und dem religiösen Staat am Beispiel a obligés à venir s’incruster ici?“ [„Wer wird diese Israels: Während ersterer aus Panzern mit einem bekloppten Paranoiden rausschmeißen, die sich in Geschützrohr die Schüsse abfeuert, schießt der Pan- ihrer Rolle der von den Arabern Besetzten gefallen, zer des religiösen Staats aus einem (selbstverständlich obwohl niemand sie gezwungen hat, sich hier einzu- unrealistischen) Menorah (Leuchter)-förmigen nisten?“]. Geschützrohr, das sieben parallele Schüsse er- Der zweite Teil dieses Comics, der eine Woche möglicht. Auch der Leserschaft, der vielleicht nicht später erschien, ist auf der ‚Poster-Innenseite‘ abge- sofort bewusst wird, dass diese Laufanordnung re- druckt. Horizontal in drei gleichgroße Teile un- ligiösen Ursprungs ist, versteht sofort, dass Reli- terteilt, setzt sich Riss erneut mit der Situation der gion gefährlich ist und großen Schaden anrichtet; Palästinenser auseinander, die von der israelischen eine Kernaussage von Charlie Hebdo, wo man sich Politik „asphyxiés“ [„erstickt“], „parqués“ [„geparkt“] prinzipiell gegen alles Religiöse wehrt und sich und „flingués“ [„abgeknallt“] würden: Der Autor Weltlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat (vgl. berichtet von den unzähligen Check-Points und Weston Vauclair und Vauclair 2015: 44). davon, dass die palästinensische Wirtschaft große Diese anti-religiöse Haltung wird ebenfalls in Probleme ob des Umstands habe, dass die vie- einem anderen, diesmal halbseitigen, vertikalen und len Check-Points und für Palästinenser gesperrte panellosen Comic von Riss deutlich, der unmittel- Straßen ein einfaches Fortbewegen innerhalb des bar nach den Terroranschlägen auf das World Trade Westjordanlands verhindern würden. Er beschreibt Center publiziert wurde (vgl. CH 2001/482: 10). Un- die Situation der Beduinen, die von ihren ange- ter dem Titel „Contre l’échec scolaire – 100% de réus- stammten Platzen umgesiedelt werden, und zwar site à l’école des kamikazes“ [„Gegen Schulversagen in die Nähe einer Mülldeponie, und nennt dabei – 100% Erfolg in der Kamikaze-Schule“] nimmt Riss einzelne von ihnen mit Namen. Und er berichtet gnadenlos die religiöse Indoktrinierung der Selbst- auch von den vielen palästinensischen Toten der mordattentäter_innen muslimischen Glaubens auf zweiten Intifada, von der ständigen Ungewissheit die satirische Schippe: Er lässt aus einem Schul- und Angst, von israelischen Scharfschützen er- ranzen, den ein dümmlich blickender junger Mann schossen zu werden, und lässt eine palästinensische mit Stirnband trägt, einen Koran schauen, verseh- Psychologin zu Wort kommen, die von der großen en mit dem Kommentar, dass das Schulprogramm 88

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie stofflich entlastet worden sei. In den beiden mittleren abschlägt, kommentiert mit: „Des sanctions pour des Zeichnungen bezieht er sich jeweils auf die Scharia, profs trop souvent en arrêt maladie“ [„Strafen für indem er sog. „Hadd“-Strafen thematisiert. („Hadd“- diejenigen Lehrer, die sich zu oft krankmelden“]. Die Strafen sind sog. „Grenzstrafen“ für Vergehen, für darunterliegende Zeichnung, welche mit „Un suivi die im Koran bzw. im Hadith, der islamischen Über- personnalisé des élèves en difficulté“ [„Eine persön- lieferung, konkrete Strafmaße vorgesehen sind, zum liche Begleitung von Schülern mit Schwierigkeiten“] Beispiel Auspeitschung und Steinigung für uner- kommentiert ist, zeigt einen unbekleideten Mann, laubten Geschlechtsverkehr; vgl. anon./IGFM o.J.). der, auf dem Bauch quer über einem Bock lie- In der ersten Zeichnung zeigt Riss zwei Geistliche, gend, von einem weiteren Geistlichen ausgepeitscht gekleidet in schwarzer Jubbah und schwarzem Tur- wird. In der untersten Zeichnung schließlich fliegen ban, von dem der eine dem anderen beide Hände Köpfe, Gliedmaßen und Dynamitstangen aus ei- nem Explosions-Ideogramm, in dessen Zentrum der sarkastische Satz steht: „Et à la fin de l’année le bac pour tout le monde!“ [„Und am Ende des Jahres das Abitur für jedermann!“]. Abgesehen von Riss’ Religionskritik ist dieser Comic gleichzeitig eine au- genzwinkernde Bezugnahme auf die in Frankreich alle Jahre im September von allen thematisierte sog. „rentrée“ (der Schulanfang nach den großen Ferien), anlässlich dessen intensiv über Reformen usw. dis- kutiert wird. Abgesehen von einer Comicreportage über eine pro-palästinensische Demonstration in Paris (vgl. CH 2014/1154: 2) sind Luz’ Comics hingegen alle humoristischer Natur. In der Hälfte der restlichen Comicbeiträge (sechs von zwölf), nimmt er Arafat und/oder Sharon aufs Korn (vgl. CH 2001/474: 10; CH 2001/497: 10; CH 2002/522: 7; CH 2003/599: 7-8; CH 2003/587: 7; CH 2006/755: 8-9), in den anderen thematisiert er allgemeiner die Spirale der Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis (vgl. CH 2000/434: 2-3; CH 2002/522: 10) und nimmt in einem sehr drastischen Onepager die Blockade des Gazastreifens und dessen Folgen für die Gaza- Beohner_innen in den Blick (vgl. CH 2010/938: 9), macht sich aber auch über die französischen Normal- bürger_innen lustig, der glaubt, ein Nahostpoli- tik-Experte zu sein (vgl. CH 2000/435: 8), wie auch über französische Demonstrant_innen, die in ihrem Opportunismus ihr ‚Palituch‘ in einem jüdischen Geschäft gekauft haben (vgl. CH 2000/435: 9). In seinem Comic „Géopolitique fiction“ [„Fik- tive Geopolitik“] (CH 2002/511: 7) nimmt Luz Be- zug auf die sukzessive Einschließung Yasser Arafats durch die israelische Armee in Ramallah, die erst durch das Einwirken der Amerikaner aufgehoben wurde (anon./N-tv 2003) (Abb. 18). In der Tat war Arafats Aktionsradius zu Beginn (Dezember 2001) noch auf die ganze Stadt ausgedehnt, aber schon Abb. 18: CH 2002/511: 7 einen Monat später wurde der Amtssitz von der 89

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie israelischen Armee belagert, sodass Arafat diesen dass die Würmer sich aber frei bewegen dürften. nicht mehr verlassen konnte. Im März schließlich In einem anderen Comic über Arafat (CH besetzte die israelische Armee große Teile des Ge- 2003/587: 7) thematisiert der Autor die erneute Ab- bäudes, sodass Arafat und seinem Stab nur noch ein sicht der israelischen Regierung, den PLO-Chef zum paar Räume zur Verfügung standen. Die ersten drei Exil zu bewegen (vgl. anon./WND 2003), verwebt (übereinander angeordneten, rahmenlosen) Panels diese aber auch mit französischer Zeit- und Char- dieses vertikalen, in Schwarz-Weiß gehaltenen lie-Hebdo-spezifischer Geschichte (Abb. 19). In dem Strips (nur die Erzählkästchen sind in Grüngelb in etwa ein Viertel einer Seite ausmachenden Comic koloriert) zeigen karikierend die frühere und dama- stellt sich Arafat verschiedene Orte für ein Exil vor; in lige Situation Arafats: Im ersten ist Arafat mit einem Saudi-Arabien, auf dem Mars, im Hintern Ariel Sha- Baguette unter dem Arm in der Stadt zu sehen, im rons, in Vilnius, oder bei dem Zeichner und Kolum- zweiten sieht man ihm am Fenster seines Amtssitzes, nisten von Charlie Hebdo, Siné. In den Gedankenblasen umstellt von Panzern, im dritten sitzt er in seinem sind entsprechende Szenen zu den einzelnen Orten Büro, Geschützrohre ragen durch die Fenster he- dargestellt, welche entweder durch Sprechblasen rein und wurden als Regale umfunktioniert. Stets oder Gedankenblasen der Protagonisten, oder durch werden diese Bilder von zynischen Kommentaren andere schriftliche Hinweise ergänzt sind. In Saudi- von Israelischen Soldaten begleitet: „Mais il peut se Arabien ist Arafat dazu verdammt, Toiletten zu déplacer librement“ [„Aber er kann sich frei bewe- putzen, und wird von einem Scheich als „Ben Co- gen“], und: „Mais ce n’est pas lui qu’on vise!“ [„Aber sette“ [„Cosettes Sohn“], bezeichnet, in Anspielung er ist es nicht, auf den wir zielen!“]. Die letzten drei auf die gleichnamige Roman-Figur aus Les Misérables Panels zeigen die Zukunft, die Situation „morgen“: (1862) von Victor Hugo. Im Gedanken-Panel über Zunächst ist Arafats Aktionsradius auf die Toilette das Exil auf dem Mars ist Arafat ebenso wenig will- beschränkt und vom Helikopter aus wird ihm die kommen, Marsianer mit Maschinengewehren halten Toilettenpapierrolle in der Hand zerschossen. Dann ihn auf Abstand, ein Schild, „Colonie“, nimmt Bezug nur noch auf sein Keffieh, kommentiert mit: „Mais auf die jüdischen Siedlungen im Westjordanland. il peut tourner la tête librement“ [„Aber er kann frei Die ebenso realitätsferne Zeichnung, die Arafat im seinen Kopf drehen“], und am Ende ist seine Bewe- Slip von Ariel Sharon zeigt, ironisiert ebenfalls die gungsfreiheit auf seinen Sarg beschränkt, was der tatsächliche politische Situation, denn Arafat sagt: daneben dargestellte Sharon u.a. damit kommentiert, „Le seul endroit que Tsahal n’ira pas bombarder“

Abb. 19: CH 2003/587: 7 90

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[„Der einzige Ort, den Tsahal nicht bombardieren schaft gezogen und schmerzt sichtlich (verdeutlicht wird“]. Das Gedankenblasen-Panel über das Exil durch einen kleinen Stern). Im letzten Panel nähert in Vilnius nimmt Bezug auf die Erschlagung Marie sich eine neue Fliege, die wieder „Djihaad!“ schreit. Trintignants durch ihren damaligen Geliebten, den Jul bringt mit diesem allegorischen und gleich- Sänger Bertrand Cantat von der Rockband Noir zeitig sarkastischen Comic geschickt die aussichtslose Désir (vgl. anon./SZ 2010): Dieser prügelt nun auf Lage der israelischen Regierung im Kampf gegen die Arafat ein, mit der Begründung, dass er eine SMS Hamas zum Ausdruck. Zwar ist es ihr gelungen, den von Cheikh Yassine bekommen hätte. Im letzten Hamasführer (nach einem misslungenen Versuch, Panel schließlich nimmt Luz Bezug auf die Interna vgl. anon./Aljazeera 2004) zu töten, doch hat sie sich Charlie Hebdos: Arafat ist bei Siné, und dieser zwingt selbst großen Schaden bei dieser Operation zuge- ihn, mit ihm zu trinken, was Arafat nach eigenem fügt. In der Tat provozierte die gezielte Tötung, bei Dafürhalten nie bis zum nächsten durch- der nicht nur Yasin selbst, sondern auch zwei seiner halten werde. Die Anspielung gilt hier vor allem der Leibwächter und neun Passanten ums Leben kamen, Person Sinés, der eine offen pro-palästinensische internationale Proteste und eine UN-Resolution, bzw. antizionistische Position vertritt, die in ihrer die diese Tat verurteilte (vgl. anon./United Nations Vehemenz nicht von allen Redaktionsmitgliedern 2004). Zwar ist es also Israel gelungen, einen starken geteilt wird – was im nächsten Abschnitt noch wei- Widersacher zu töten, doch erreichte die Regierung ter auszuführen sein wird. damit nichts weiter, als eine Welle von Solidaritäts- Doch zuvor soll noch kurz auf Juls Comicproduk- bekundungen zu generieren. Yassine wurde umge- tionen eingegangen werden. Wie Charb und Riss hat hend durch einen neuen Hamasführer, Abdel Aziz auch Jul einen reportageähnlichen Comic zum Nah- Rantissi ersetzt. Zwar wurde auch dieser nur wenige ostkonflikt beigesteuert, und zwar über eine pro- Tage nach seinem Antritt durch die Armee ermor- libanesische Demonstration während des Libanon- det (vgl. anon./BBC 2004), doch Israel konnte die kriegs im Sommer 2006 (vgl. CH 2006/736: 12). Seine Hamas bis heute nicht vernichten. anderen neun Comics sind in einem satirischen Ton Auch in anderen Comics arbeitet Jul gerne mit gehalten und thematisieren den eben genannten Allegorien oder Bildern: In „Ariel au pays des Libanonkrieg (vgl. CH 2006/736: 5), die Erschießung merveilles“ [„Ariel im Wunderland“] (CH 2006/735: des Hamas-Führers Scheich Ahmad Yasin durch den 10) beispielsweise erzählt er in einem vertikalen, IDF (vgl. CH 2004/614: 10), die Trennmauer (vgl. halbseitigen Comic die fiktive Geschichte von Sha- CH 2004/633: 7), Arafat kurz vor seinem Tod (vgl. ron (der zu dem Zeitpunkt bereits monatelang – um CH 2004/645: 6), und Sharon im Koma (vgl. CH genau zu sein, seit Januar – im Koma lag, vgl. anon./ 2006/735: 10), und allgemeiner, die ausweglose Situ- BBC 2006), der in einem Reich in der Art von Alice ation in Gestalt von Gewalt und Gegengewalt im im Wunderland aufwacht. Verschiedene Figuren aus Nahen Osten (vgl. CH 2001/479: 10; CH 2002/498: Lewis Carolls Roman (1865) treten in dem panellosen 10; CH 2002/524: 10; CH 2005/698: 15). Comic auf: zunächst einmal Alice selbst in Gestalt Der Comic zur Erschießung von Scheich Ahmad von Sharon, der ihre Kleidung trägt; das Kaninchen, Yasin (vgl. CH 2004/615: 10) ist besonders interes- die Grinsekatze, die Raupe, die Karten-Soldaten. sant, weil er im Gegensatz zu vielen anderen Comics Jul stellt die Figuren dieses Kinderromans ironisie- mit sehr wenigen Worten auskommt, die Situation rend in den Kontext des Nahostkonflikts: Die Katze, allegorisch aufarbeitet und daher bei den Lesenden vom Kaninchen als „Katze der Hamas“ identifiziert, einiges Vorwissen voraussetzt. Er besteht aus sechs fragt das Kaninchen, ob sein Wecker für ein Selbst- rahmenlosen Panels, angeordnet in zwei Strips mit mordattentat bestimmt sei, woraufhin Letzteres je drei Panels. Alle sechs zeigen Ariel Sharon im antwortet, dass es ein Nicht-Geburtstagsgeschenk Halbprofil. Im ersten Panel nähert sich eine Fliege, für die Osloverträge sei. Vor dem Pilz, auf dem sich die sich im zweiten auf seiner Nase niedergelassen die Raupe befindet, ruft das Kaninchen, dass aus- hat; Sharon schielt, um sie zu sehen. Im dritten Panel gemacht gewesen sei, dass es im Westjordanland schreit die Fliege: „Djihaad!“. Im zweiten Strip keine „colonies-champignons“, also keine wie Pilze schlägt Sharon mit einem Knüppel auf das Insekt. aus dem Boden schießenden Kolonien geben solle. Dieses fällt im fünften Panel tot nach unten, doch Allein ein ultraorthodoxer Jude, der in Bezug auf Sharons eine Gesichtshälfte ist stark in Mitleiden- die Karten-Soldaten anmerkt, dass Kartenspielerei 91

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie vom Talmud verboten sei, gehört nicht unmittelbar Artikel und Kolumnen zu den klassischen Romanfiguren, sondern nimmt die starre Haltung der Ultrareligiösen aufs Korn. Im 171 Textbeiträge zum Nahostkonflikt wurden nach letzten Panel erwacht Sharon und bemerkt erleich- meinem Kenntnisstand im eingangs genann-ten tert (dargestellt durch einige Schweißtröpfchen), Publikationszeitraum in beiden Epochen von Char- dass das zum Glück alles nur ein Traum gewesen lie Hebdo publiziert. 19 davon sind Leitartikel der sei. Hinter dem Fenster ist tristes Kriegsschauspiel Seite drei, verfasst vom jeweiligen Chefredakteur. zu sehen, mit Panzern, Hubschraubern, und Ar- 51 weitere Artikel zum Thema lassen sich ander- meezaun, und zwei im Boden steckenden Schildern, swo in der Satirezeitung finden. Hinzu kommen 77 auf denen „Libanon“ und „Gaza“ steht. In dieser letz- Kolumnen- bzw. Chroniken-Beiträge, die den Nah- ten Szene spielt Jul auf die damals aktuellen Kriegs- ostkonflikt entweder vollständig oder zum Teil zum schauplätze und -operationen Israels an: „Operation Thema haben. Weiterhin lassen sich Interviews Sommerregen“ ab dem 25. Juni in Gaza (vgl. anon./ (neun) und Reportagen (vier) finden. Der Rest Israel 2006) und ab dem 12. Juli der Libanonkrieg ge- sind Teaser auf der Titelseite und Kurznachrichten gen die Hezbollah (vgl. Arkin 2007: 39ff). Angesichts (Brèves) auf der letzten Seite, neben den Couver- der sichtlichen Erleichterung des alten Kriegsvete- tures. Im Folgenden soll schwerpunktmäßig auf die ranen Scharon kann dieser (Juls Darstellung zufolge) Leitartikel und die Wochenkolumnen eingegangen offensichtlich mit der (Kriegs-)Realität Israels leich- werden, da diese sehr persönliche Meinungsbilder ter umgehen als mit der surrealen Welt des Wun- des jeweiligen Verfasser_innen darstellen und gleich- derlands, auch wenn der Nahostkonflikt für so man- zeitig Aufschlüsse über jenen intraredaktionellen chen sicherlich nicht weniger absurd sein dürfte als Konflikt geben können, der in der Kündigung Sinés dieser Comic. mündete (vgl. Scalbert 2008). Wie die Karikaturen setzen die Comics in Char- In den Ausgaben von Charlie Hebdo I ließen sich lie Hebdo also ebenfalls einiges an Vor- bzw. Hin- nur drei Leitartikel finden, alle von Chefredakteur tergrundwissen bei der Leserschaft voraus, doch Cavanna. Der erste, erschienen unter dem dama- anders als erstere sind letztere nicht ausschließlich ligen Titel der Leitartikelrubrik „Je l’ai pas lu, je l’ai humoristisch. Wenn humoristisch: Egal, ob sie sich pas vu ... mais j’en ai entendu causer“ [„Ich hab’s nicht des schwarzen Humors bedienen oder ironisch oder gelesen, ich hab’s nicht gesehen ... aber ich hab davon sarkastisch sind, die Pointe kann in der Regel nur labern hören“], thematisiert die Attentate bei den mit entsprechendem Vorwissen verstanden werden. Olympischen Spielen in München (CH 1972/95: 3). Aber das Format Comic wird von den Autoren auch In dem Artikel regt sich Cavanna zunächst darüber genutzt, um quasi-dokumentarisch über Teilaspekte auf, dass die Presse versucht zu entscheiden, ob die des Nahostkonflikts zu berichten. Viele der Autoren Geiselnahme als Kriegsakt gewertet werden könne, legen sich nicht auf ein spezifisches Genre fest, son- anstatt die tatsächliche Lage der Palästinenser dern scheinen jeweils das zu nutzen, was ihnen im zu analysieren. Ferner kritisiert er harsch, dass die jeweiligen Kontext am effizientesten erscheint (oder Palästinenser überall über einen Kamm geschoren vielleicht, für das sie in dem Moment die bessere Idee und in Sippenhaft genommen würden. Golda Meir haben). Auffallend ist jedoch, dass die reportage- wiederum wirft er ihren harten Kurs vor, nicht auf artigen Erzählweisen stets in einem autobiografischen die Forderungen der Geiselnehmer einzugehen, Kontext zum Einsatz kommen. womit sie den Tod der israelischen Sportler_innen Im Sinne Bergsons wäre die Nutzung dieses billigend in Kauf genommen habe. Genres in der fehlenden emotionalen Distanz der Im zweiten vorliegenden „Je l’ai pas lu ...“- Leitar- Autor_innen zu ihren Berichten zu suchen, da das tikel, „Intervilles“ [„Wettkämpfe zwischen Städten“] Gefühl der größte Feind des Lachens ist (vgl. Berg- (CH 1973/152: 3), geht er auf den Jom-Kippur-Krieg son 1993: 3). Allerdings erscheint diese Erklärung in ein. Er ironisiert den Umstand, dass die Franzosen diesem Fall etwas holzschnittartig, zumal ja für eine genüsslich – ähnlich einer Sportveranstaltung – dem ‚objektive‘ Herangehensweise, die die Leserschaft Kriegsgeschehen mittels der Medien zuschauen und bei Dokumentationen und Reportagen in der Regel Partei ergreifen würden, ohne selbst involviert zu erwartet, à priori ebenfalls ein emotionaler Abstand sein. Für Cavanna ist klar, dass die Gründung des der Autor_innen hilfreich ist. Staates Israel allein religiösen Ursprungs und damit 92

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie völlig ungerechtfertigt sei. Andererseits existiere der Rabin (CH 1995/177: 3), mehrfach die Zweite Intifa- Staat nun mal seit bereits mehreren Jahrzehnten, so- da (CH 2000/434: 3; CH 2000/435: 3; CH 2000/443: 3; dass mit dieser Situation umgegangen werden müsse. CH 2001/481: 3; CH 2002/511: 3), die Wahlen in den Den Angriff auf Israel durch mehrere arabische palästinensischen Gebieten (vgl. CH 2005/656: 3), Staaten sieht er als eine Maßnahme, um eine Einheit den Abzug aus Gaza (vgl. CH 2005/688: 3), Sharon der arabischen Welt herbeizuführen. Ferner thema- im Koma (CH 2006/708: 3), die Machtübernahme tisiert er das Erdölproblem und die Abhängigkeit der der Hamas im Gazastreifen (vgl. CH 2007/784: 3), westlichen Welt vom arabischen Öl, was zu Engpäs- und den Gazakrieg im Winter 2008/2009 (vgl. CH sen führen könnte, wenn Frankreich (und andere 2009/864: 3; CH 2009/865: 3), kritisiert aber auch westliche Staaten) auf der Seite Israels wären. Der die Äußerungen des Islamforschers Tariq Rama- letzte aufgefundene Leitartikel zum Nahostkonf- dan, die er als antisemitisch einstuft (CH 2003/594: likt von Cavanna behandelt Sadats Besuch in Israel 3), und entwirft die Idee, dass eine Aufnahme Israels (CH 1977/3: 3). In dem Artikel mit dem Titel „Pas und der Palästinenser in die EU dort für Frieden sor- besoin de Genève, le boulot est fait!“ [„Genf ist un- gen könnte (vgl. CH 2003/595: 3). nötig, die Arbeit ist gemacht!“], der auf die Genfer Warum Val eher den konservativen Linken zu- Friedenskonferenz 1973 und die Pläne, Israel und geordnet wird (vgl. Weston Vauclair und Vauclair Ägypten erneut in Genf für Gespräche an einen 2015: 159), wird u.a. daran deutlich, wie er dem Nah- Tisch zu bekommen, Bezug nimmt (vgl. z.B. Ran- ostkonflikt gegenüber steht. So erklärte er beispiels- dolph o.J.), erklärt Cavanna, dass Sadat der einzige weise 1994 deutlich sein Unverständnis darüber, dass in der arabischen Welt gewesen sei, der für diese Ak- vielerorts gefordert würde, im Gegenzug zu dem von tion, d.h. den Besuch Israels, in Frage käme. Beide einem rechtsextremen Israeli ausgeführten Massaker Seiten würden zwar den Gegner als Verlierer und Palästinenser_innen freizulassen, da das eine mit sich selbst als Gewinner dieser Aktion darstellen dem anderen nichts zu tun habe (vgl. CH 1994/88: (und Begin habe Sadat in der Knesset erniedrigt), 3). In der Tat hat Israel im März 1994, als Zeichen aber letztlich sei ein weiteres Genf nicht nötig, alles des guten Willens, 800 palästinensische Gefangene sei bereits abgesprochen. Und die Palästinenser? Die freigelassen (vgl. Cowell 1994). In seinem zweiten würden in den Verhandlungen leer ausgehen. Artikel nach dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada Sicherlich hat Cavanna nicht unrecht mit der prangert Val einen Teil der Palästinenser-Sym- Annahme, dass viel abgesprochen war und beide pathisant_innen an und vergleicht sie mit Stier- Seiten aus dem Besuch Profit schlagen konnten. kampf-Afficionados, die den Kampf des Stiers be- Andererseits auch nur zur Hälfte; immerhin sollte wundern, sich aber nicht im Geringsten für das ein weiteres Jahr vergehen, bis beide Politiker das Schicksal des Tiers interessieren, und unterstellt ih- Camp-David-Abkommen beschlossen hatten. Was nen zudem Antisemitismus: „Il y a aussi et surtout die Palästinenser_innen betrifft: In der Tat änderte ceux qui trouvent dans la défense des Palestiniens sich durch den Besuch Sadats und die nachfolgenden, – victimes d’un sort indiscutablement injuste – un erfolgreichen Verhandlungen im Camp David und moyen d’exprimer sournoisement un antisémitisme dem darin mündenden Friedensvertrag (vgl. anon./ inavouable“ [„Es gibt auch und vor allem diejenigen, Israel 1979) für sie nichts. Die lange versprochene die in der Verteidigung der Palästinenser_innen – Autonomie wurde erst 15 Jahre später Realität, nach Opfer eines unbestreitbar ungerechten Schicksals – Oslo I. Cavanna sympathisierte demnach offenbar eine Möglichkeit finden, hinterlistig einen schändli- mit den Palästinensern und stand der israelischen chen Antisemitismus zum Ausdruck zu bringen“] Politik eher kritisch gegenüber. (CH 2000/435: 3). Bei Philippe Val, dem ersten Chefradakteur von An dieser Stelle offenbart sich der große Streit- Charlie Hebdo II, der bis zu seinem Weggang zu France punkt zwischen Philippe Val und anderen Re- Inter im Juni 2009 mindestens sechzehn Leitartikel daktionsmitgliedern, vor allem Siné. Denn Val sie- zum Nahostkonflikt verfasst hatte (so viele konnten ht in der harschen Israelkritik Sinés einen Ausdruck zumindest bei der Suche gefunden werden), ist dies von Antisemitismus. In zwei Leitartikeln nimmt er längst nicht so eindeutig. In diesen Artikeln thema- direkt Bezug auf Sinés Kolumne und stellt klar, dass tisiert er u.a. Oslo I (vgl. CH 1993/64: 3), das Massa- er dessen Ansicht nicht teile. So schreibt er in „Sio- ker in Hebron (CH 1994/88: 3), den Tod von Yizhak nisme = SS?“ [Zionismus = SS?]: 93

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D’ailleurs [...], je ne suis d’accord ni avec l’article de bzw. Urheber dieser Gewalt zu sein. Michèle Manceaux, du Monde,24 ni avec Siné,25 qui, Doch auch Siné reagiert in drei seiner Siné sème cette semaine, reprend et commente ses propos. sa zone-Kolumnen sehr kritisch auf Philippe Vals [...] vouloir à toute fin que les Juifs se comportent, Äußerungen (vgl. CH 2000/444: 13; CH 2004/624: précisément eux, comme des nazis ne mène à rien 14; CH 2007/785: 14). Der Chefredakteur übte d’autre qu’à la petite satisfaction de pouvoir dire beispielsweise in seinem Leitartikel „Israel- pour pas cher une énormité lourde de conséquences. Palestine: Les Athés se tournent vers la Mecque“ C’est une façon de nier l’intensité, la mesure, le [„Israel-Palästina: Die Atheisten drehen sich in projet spécifique, les moyens mis en œuvre, et les Richtung Mekka“] (CH 2000/443: 3) harsche Kritik conséquences humaines de la „solution finale“; an einer bestimmten Gruppe von Linken, die die Hamas und die Hezbollah unterstützen, weil diese [Ich bin übrigens weder einverstanden mit gegen Israel kämpfen, obwohl sie religiöse Vereini- Michèle Mancheaux’ Artikel aus dem Monde noch gungen seien und als solche von Linken eigentlich mit Siné, der diese Woche ihre Äußerungen auf- abgelehnt werden müssten. In seinem Leitartikel greift und kommentiert. [...] Um jeden Preis glau- konstatiert Val schockiert, dass seit dem Nahost- ben zu wollen, dass die Juden, ganz besonders sie, konflikt im linken Lager nicht nur Kritik an Israel, sich so verhalten wie die Nazis, hat keinen anderen sondern auch Antisemitismus salonfähig geworden Sinn, als die billige Befriedigung, ohne viel Aufhe- sei. Siné reagiert auf Vals Kritik sehr empfindlich, bens eine folgenschwere Ungeheuerlichkeit von da er sich eben genau jenem linken Lager zugehörig sich zu geben. So werden die Intensität, das Aus- fühlt und sich von Val nun in eine antisemitische maß, das spezifische Projekt, die dafür verwende- Ecke gedrängt sieht. Diese Frustration macht er eine ten Mittel und die menschlichen Konsequenzen der Woche später in seiner Siné sème sa zone-Kolumne „Endlösung“ negiert] (CH 2001/481: 3) deutlich, die er in Form eines offenen Briefs an den Sieben Monate später steht Val erneut Sinés, diesmal Chefredakteur Val verfasst hat: aber auch Luz’ Standpunkt im Bezug auf den Nah- Je n’ai jamais [...], comme tu l’écris, cher Philippe, ostkonflikt kritisch gegenüber und tut dies offen in „couvert collectivement de boue la race élue“. J’es- seinem Leitartikel „Grève des chauffeurs de bus au pérais que depuis longtemps, l’adage sioniste éculé: moyen orient“ [„Streik der Busfahrer im Mittleren „ANTI-ISRAÉLIEN = ANTISÉMITE“ avait fait Osten“] (CH 2002/511: 3) kund. Er distanziert sich long feu! vom weiter oben beschriebenen Comic von Luz, in dem dieser die sukzessiv enger gezogene Belagerung [Ich habe niemals [...], wie Du es schreibst, lieber bzw. Besetzung von Arafats Regierungssitz kari- Philippe, „kollektiv die auserwählte Rasse mit Dreck kiert (vgl. CH 2002/511: 7) und von Sinés Kolumne beworfen“. Ich hatte gehofft, dass der abgenutzte derselben Ausgabe (vgl. CH 2002/511: 13), in der zionistische Spruch „ANTI-ISRAELISCH = AN- dieser sich darüber erregt, dass überall lediglich TISEMITISCH“ schon lange nicht mehr aktuell ist!] „Krokodilstränen“ für die Palästinenser vergossen (CH 2000/444: 13) würden, während „la folie meurtrière“ [„der mörde- Am Ende seines Briefes erwähnt er noch ein jü- rische Irrsinn“] Sharons keine Grenzen mehr kenne. disch-arabisches Kollektiv in Frankreich, das die In seiner Kolumne beschimpft Siné ferner Sharon Palästinenser unterstütze, und fragt Val offen, ob – der seinerzeit Verteidigungsminister Israels war – deren Mitglieder in seinen Augen auch Unterstützer als „brute“ [„Bestie“] und als „salaud“ [„Dreckskerl“], der Hezbollah seien. Betroffen schließt er mit den prangert dessen Art, gegen die Selbstmordattentäter Worten, dass er sich unter der Chefredaktion von von Hamas und Co. vorzugehen, als „méthodes bar- Val stets frei und willkommen bei Charlie gefühlt bares“ [„barbarische Methoden“] und als „politique hätte. Nun fühle es sich seltsam an, auf einmal uner- sauvage“ [„Berserkerpolitik“] an und beschuldigt wünscht zu sein. ihn, dadurch die Gewaltspirale nach oben zu drehen Zwei Jahre später reagiert Siné (vgl. CH 2004/624: 14) erneut im Kontext des Nahostkonflikts auf 24 Val bezieht sich auf den Beitrag „L’engrenage fatal“ Philippe Val. Letzterer thematisierte in seinem von Michèle Manceaux in Le Monde (vgl. Manceaux 2001). Leitartikel vom 26.05.2004 Antisemitismus und 25 Vgl. Kolumne von Siné (CH 2001/481: 13). 94

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Rassismus und differenzierte zwischen beiden (vgl. sondern erklärt, dass er noch einen Schritt weiter- CH 2004/623: 3). Zwar ist Siné im Großen und gehen würde und auch die letzte Wahl in Israel, bei Ganzen mit Vals Differenzierung einverstanden, der Ariel Sharon zum Ministerpräsidenten gewählt sieht aber eine noch größere Diskrepanz zwischen worden war, wie auch die Präsidentschaftswahl in Anti-Rassisten und Anti-Antisemiten. Für ihn kann Frankreich, aus der Nicolas Sarkozy als Sieger her- ein Anti-Rassist kein Antisemit sein, da dies ein vorging, als ebenso antidemokratisch betrachten Widerspruch in sich sei, ein Anti-Antisemit aber würde wie die Wahl in Gaza (CH 2007/785: 14). sehr wohl ein Rassist. So berichtet er von Begegnun- Die Differenzen zwischen dem Chefredakteur gen mit einigen israelischen Juden während seiner Philippe Val und dem Kolumnisten Siné kulmi- Reise nach Israel/Palästina Mitte der Neunziger nieren schließlich im Juli 2008, als Siné in sein- Jahre, die offen anti-arabisch – also rassistisch – er Kolumne über einen politisch-wirtschaftlichen gleichzeitig aber militante Anti-Antisemiten gewesen Klüngel-Zusammenhang zwischen der bevorste- seien. Auch regt er sich darüber auf, dass im franzö- henden Heirat von Sarkozys Sohn, Jean Sarkozy, mit sischen Fernsehen zwei französische Juden, Gilles Jessica Darty, der Tochter des Chefs einer der größten William Goldnadel und Pierre Rehov in der Talk- Unternehmensgruppen Frankreichs – Darty – show C dans l’air einen dezidiert anti-arabischen schreibt. Aus Sicht von Claude Askolovitch von Diskurs geführt hätten, sodass sogar der Moderator RTL war Sinés Kommentar antisemitisch, zumal es mehrfach eingreifen musste. Siné erwähnt ferner, sich bei den Dartys um eine jüdische Familie handelt. dass einer der beiden (Goldnadel) gegen den Soziolo- Askolovitchs Kritik an Siné schlug in Frankreich gen Edgar Morin wegen antisemitischer Äußerun- medial hohe Wellen, und es wurde heiß diskutiert, gen geklagt habe, eine Anklage, die das Gericht zum ob es mit Siné nun einen Antisemiten in einer dezi- Glück (wie Siné findet) zurückgewiesen habe; und diert Anti-Antisemitschen Zeitung – Charlie Hebdo er erwähnt ferner, dass glücklicherweise auch eine – geben würde (vgl. anon./L’Obs 2008). Philippe Val Anklage gegen den Kabarettisten Dieudonné abge- reagierte auf Askolovitchs Beschuldigung mit der wiesen wurde (dieser wurde inzwischen wegen anti- außerordentlichen Kündigung des Kolumnisten, ge- semitischen Äußerungen verurteilt).26 gen die Siné wiederum gerichtlich vorging. In der 2007 schließlich ist erneut, eine Woche versetzt, letzten Instanz wurde Siné 2012 schließlich recht eine Reaktion von Siné auf Vals Leitartikel (vgl. CH gegeben und Charlie Hebdo zur Zahlung von 90.000 2007/784: 3) in der Ausgabe vom 27.06. zu finden Euro Entschädigung verurteilt (vgl. Delahaie 2012). (vgl. CH 2007/785: 14). In seinem Leitartikel kom- mentiert Val die Wahl der Hamas in Gaza und stellt fest, dass diese Wahl gar nicht demokratisch gewesen Schluss sein könne, da es sowohl politisch als auch philoso- Der Nahostkonflikt war in Charlie Hebdo als Thema phisch unmöglich sei, dass Menschen freiwillig ihre präsent, sowohl in der ersten Ära bis 1982, als auch eigene Freiheit beschneiden würden. Siné schreibt in der zweiten, d.h. nach der Neugründung im Jahr als Antwort (selbst-)ironisch in seiner Kolumne: 1993, bis hin zum Attentat im Januar 2015. Die The- „Cela vous étonne peut-être, mais je suis on ne peut matik wurde dabei sehr vielfältig aufgegriffen, sei plus d’accord avec lui“ [„Euch erstaunt das vielleicht, es in Gestalt von Karikaturen und Comics, in Form aber ich bin mehr als einverstanden mit ihm“]. Doch von sogenannten „couvertures auxquelles vous avez auch in diesem Fall zeigt sich der Konflikt zwischen échappé“ [„Titelseiten, die Euch erspart geblieben den beiden, denn Siné lässt es nicht darauf beruhen, sind“] und Titelseiten, sei es in Leitartikeln, Repor- tagen, Interviews oder Kolumnen bzw. Chroni- 26 Allerdings wurde Morin vom Gericht in Versailles ken einzelner Autor_innen. Sehr viele Autor_innen im Jahr 2004 doch verurteilt, ein Urteil, das 2006 vom Kas- sationsgericht wieder aufgehoben wurde (vgl. anon./Monde-di- und Zeichner_innen haben sich des Nahostkonflikts plomatique 2006). Dieudonné wurde über mehrere Instanzen angenommen, wobei die meisten dies allerdings freigesprochen, nachdem er für einen Sketch wegen antisemi- nur vereinzelt taten. Lediglich einige wenige, al- tischer Äußerungen angeklagt worden war, in welchem er sich len voran Charb, aber auch Riss, Luz, Willem, Siné als israelischer Siedler verkleidet hatte und u.a. eine Hitler- und Jul, haben regelmäßig zu diesem Thema pub- gruß-artige Armbewegung vollführt und so etwas wie „Is- liziert. Inhaltlich thematisierten die besprochenen ra-heil“ gerufen hatte (vgl Cotte 2007). 95

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Autor_innen, wie aufgezeigt werden konnte, viel- beigekommen wird. Andererseits hört gerade in den fach ‚Schlüsseldaten‘ bzw. ‚Schlüsselereignisse‘, d.h. Texten der Spaß oftmals auf: offensichtlich fehlt den Kriege, Friedensgespräche, den Tod von wichtigen Autor_innen emotional gelegentlich die Distanz, um israelischen/palästinensischen Politikern, aber auch dem Thema mit Humor begegnen zu können, wie Taten bzw. Schicksale einzelner Personen, wie das beispielsweise in den quasi-dokumentarischen Re- der ersten palästinensischen Selbstmordattentäterin portagen von Riss und Charb deutlich wurde. oder die gezielte Erschießung einer palästinen- In anderen Fällen wird die Sache noch deutlich sischen Schülerin durch israelische Soldaten. Aller- paradoxer und birgt dadurch selbst eine gewisse dings haben sie längst nicht alle dieser markan- Komik. Denn beispielsweise angesichts des Streits ten Ereignisse aufgegriffen. Die Operation Entebbe zwischen Siné und Val oder Vals Kritik an Luz’ Arafat- bspw., 1976 durchgeführt von der israelischen Ar- Comic (vgl. CH 2002/511: 7) wird klar, dass an mee, bei der die einwöchige Entführung eines Air bestimmten Stellen der Humor redaktionsintern France-Passagierflugzeugs durch die RAF- und aufhört oder dieser zumindest nicht goutiert wird. palästinensische Terroristen gewaltsam beendet Ironischerweise gelang es also den Redaktionsmit- wurde, fehlt, soweit ersichtlich, in Charlie Hebdo. gliedern nicht immer, die Leitlinie des Satireblatts, Andere Ereignisse wurden deutlich weniger exten- nämlich „bête et méchant“ [„dumm und boshaft“] zu siv aufgegriffen als erwartet, wie z.B. der Tod der sein, auch sich selbst gegenüber und gegenüber ein- Friedensaktivistin Rachel Corrie, die am 16. März ander zu akzeptieren. Dementsprechend gewannen 2003 von einem israelischen Bulldozer in Rafah zer- – zumindest zeitweise – also selbst bei Charlie Heb- quetscht wurde, oder, das jüngste Beispiel, der Tod do gelegentlich persönliche Kränkung, Verletzung von Shimon Peres . und tiefstes Beleidigtsein die Oberhand, in einem Zwar konnte nicht systematisch überprüft werden, Satireblatt also, in dem mittels Sarkasmus und welche der in Charlie Hebdo behandelten Ereignisse schwarzem Humor gesellschaftliche und politische zuvor in der französischen Medienlandschaft the- Zu- bzw. Missstände gezielt unter Beschuss genom- matisiert wurden, doch bei den drei hier genannten men werden und das sich gnadenlos an den Fehltrit- Beispielen ist klar, dass sie auch durch die französische ten und Äußerungen von Personen des öffentlichen Presse gingen. Die Themenauswahl – zumindest die Lebens labt. mit Nahost-Konflikt-Bezug – ist dementsprechend Ausschlaggebend für dieses Abweichen von der ei- nicht zwangsweise abhängig von den Sujets, die zeit- genen Linie ist dabei ganz offensichtlich die politische gleich anderswo in der Medienlandschaft behandelt Überzeugung, die gerade im Fall des Nahostkonflikts werden. Anders als bei anderen Medien, bei denen ein erstaunliches Konfliktpotential birgt: Denn links in der (Chef-)Redaktion bestimmt wird, welche ist nicht gleich links. Beim Betrachten und Abwä- Themen Eingang in die nächste Ausgabe finden und gen der unterschiedlichen historischen Aspekte des wer diese jeweils behandelt, scheinen die Mitarbei- Nahost-Konflikts und des heutigen Zustands in der ter von Charlie Hebdo einen deutlich größeren Freiheits- Region Israel/Palästina kommen Menschen aus grad bei ihrer Themenwahl genossen zu haben bzw. dem vermeintlich gleichen politischen Lager oft zu immer noch zu genießen. Das Resultat ist einerseits sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Und je nach- eine quantitativ sehr heterogene Behandlung der dem, wie diese Interpretation und Gewichtung aus- einzelnen Nahost-Konflikt-Ereignisse und anderer- fällt, wird man von den anderen mit der angeblich seits eine sehr ungleiche Verteilung der Arbeiten gleichen politischen Grundüberzeugung politisch auf die einzelnen Autor_innen: Zwar scheinen sich auf einmal anders wahrgenommen, als man sich viele von ihnen für den Konflikt interessiert zu ha- selbst sieht und verortet. Zank, Streit und tiefe Ver- ben, doch nur wenigen, allen voran Charb, schien letzungen sind die Folge. Paradebeispiel ist die im- das Thema eine Herzensangelegenheit. mer wieder aufflammende Antisemitismus-Debatte, Hinsichtlich der Humorform konnte festgestellt die, wie aufgezeigt wurde, auch offen im Herzen von werden, dass die erfassten Beiträge in Charlie Heb- Charlie Hebdo geführt wurde: So kam es, dass der do – zumindest im Kontext des Nahostkonflikts Zeichner und Kolumnist Siné als Antisemit – ebenfalls alles andere als homogen sind. Ironie, bezichtigt wurde, während er sich selbst als Anti- Sarkasmus und schwarzer Humor sind die ‚Waffen‘, zionist verstand. mit denen dem Nahostkonflikt in der Zeitung 96

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Ob derartiges, einerseits sehr menschliches, aber Riss hat lediglich eine Couvertures-Karikatur zum gleichzeitig so komisches, weil so paradoxes Verh- Thema beigetragen (vgl. CH 2015/1202: 16). alten in der jetzigen, dritten Ära von Charlie Hebdo Die einzigen, die seit 2015 (Forschungsstand Ende ebenfalls vorkommen wird, ist unklar, zumindest, 2016) den Nahostkonflikt noch in Text- oder Bild- was den Nahostkonflikt betrifft. Denn das Thema form kommentiert haben, waren Jean-Yves Camus, ist im aktuellen Satireblatt kaum mehr präsent. Le- Gérard Biard, Foolz, sowie Patrick Chesnet und diglich fünf Beiträge im gesamten Jahr 2015 widme- gros (alias Pascal Gros). Letzterer ist seit den An- ten sich der Thematik, auch im laufenden Jahr 2016 schlägen als neues Mitglied zur Redaktion gekom- waren ebenfalls kaum mehr als eine Handvoll (2017 men. Bleibt zu hoffen, dass die Verbliebenen und wurde nicht mehr untersucht, die Tendenz scheint die Neuzugänge sich wieder mehr des Themas an- jedoch ähnlich). 2014 hingegen waren es noch 59 nehmen, denn der Konflikt zwischen Israel und den Beiträge. Diese Entwicklung mag mehrere Gründe Palästinensern bzw. zwischen Israel und den Nach- haben. Zum einen war Israel weder 2015 noch 2016 in barstaaten ist noch lange nicht beigelegt. Und Satire, einen Krieg oder eine kriegerische Auseinander- gepaart mit Sarkasmus und schwarzem Humor, also setzung verwickelt, sodass das Geschehen im Nahen vor allem dann, wenn sie beißt und wehtut, kann Osten nicht so sehr auf der französischen Nach- dabei helfen, sich diesen Umstand immer wieder zu richtentagesordnung stand. Diese wird vielmehr im vergegenwärtigen. eigenen Land beherrscht von den Problemen, wie beispielsweise dem Wechsel der Minister und dem Aufstieg von Emmanuel Macron, der Schwäche von François Hollande, den Bemühungen von Nicholas Sarkozy, Präsidentschaftskandidat der bürgerlichen Rechten zu werden, den Skandalen um François Fil- lon, Macrons Gewinn der Präsidentschaftswahlen, der wirtschaftlichen Probleme Griechenlands, sowie, natürlich, den Attentaten von Paris (13.11.2015) und von Nizza (14.07. 2016). Aber auch die Zika-Krank- heit in Brasilien, die Spannungen in Russland, der niedergeschlagene Putsch in der Türkei, die Europa- meisterschaft im Sommer 2016, der Wahlkampf in den USA zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, die Flüchtlinge, das Erstarken der Rechts- extremen überall in Europa und des Front National in Frankreich wie auch der Brexit haben die franzö- sische Presse beschäftigt und beschäftigen sie zum großen Teil nach wie vor. Charlie Hebdo entspricht dieser Tendenz. Ein weiterer Grund mag sein, dass diejenigen Autor_ innen, die sich mehr oder weniger intensiv der The- matik widmeten, bis auf Riss und Willem schlicht nicht mehr da sind: Charb, Wolinski, Cabu, Tignous, Honoré, aber auch Cavanna, Gébé und Siné sind tot (wobei Siné schon 2009 gekündigt wurde), die einen im Terroranschlag erschossen, die anderen friedlich verstorben; und Philippe Val, Luz und Jul haben Charlie Hebdo mittlerweile verlassen. Die beiden ver- bliebenen, Riss und Willem, die früher sehr viel zum Thema verfasst haben, scheinen sich nicht mehr so sehr für den Nahostkonflikt zu interessieren. Wil- lem hat seitdem nichts mehr dazu gezeichnet, und 97

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Anhang: Cavanna Kurzvitae der im Artikel besprochenen Francois Cavanna, Autor, humoristischer Zeichner Autoren (A-Z) und Journalist, geboren 1923 in Paris, starb 2014 in Créteil. Zunächst Postangestellter, Gemüsehändler, Cabu Maurer, Zwangsarbeiter, wurde Cavanna erst nach dem Zweiten Weltkrieg Zeichner und Autor. 1954 Cabu, mit bürgerlichen Namen Jean Cabut, der 1938 wurde er zunächst Mitarbeiter vom Magazin Zéro, in der Marne-Region geboren wurde, ist dem Atten- dann dort Chefredakteur. 1960 gründete er zusam- tat 2015 zum Opfer gefallen. Er war einer der großen men mit Georges Bernier (alias ) Köpfe von Charlie Hebdo, von der satirischen Pres- das Magazin Hara-Kiri, das später zu Charlie wurde. se Frankreichs überhaupt, hat bei Hara-Kiri und Le Nachdem dieses auf Grund von einer Karikatur über Canard Enchaîné publiziert, diverse Reportagen ge- den Tod von Charles de Gaulle verboten wurde, macht. Zusammen mit Philippe Val, mit dem er von gründeten sie Charlie Hebdo. Nach der Auflösung des weggegangen ist, um unabhängig zu Journals 1982 arbeitete er wieder für die neu aufge- sein, gründet er Charlie Hebdo 1992 neu und finan- legte Zeitung Zéro. Beim Neuanfang von Charlie Heb- ziert, wie auch der Sänger Renaud, die erste Ausgabe do 1992 war Cavanna zusammen mit Wolinski und mit (vgl. Weston Vauclair und Vauclair 2015: 155). Gébé von Anfang an mit dabei (vgl. Weston Vau- Cabu, so sein Filmbiograph Jean-Marie Pasquier, clair und Vauclair 2015: 118). Cavannas Anliegen war „Rebell“ und „Humanist“, der sich gegen jede war es, in einer frechen, poetischen, provozieren- Form von Autorität aufgelehnt habe. Cabu wollte, den, politischen und revolutionären Wochenzei- indem er das Recht auf Blasphemie verteidigt habe, tung (vgl. Weston Vauclair und Vauclair 2015: 143) die Demokratie verteidigen (vgl. Pasquier 2015). die folgenden Ideale zu verbreiten: das von einer tatsächlichen Demokratie, das von Rationalismus und fruchtbarer Reflektion, das von der Bewusst- Carali werdung des Tierleidens und das eines aktiven, umfassenden Umweltschutzes. Diese Ideale ließ Paul Karali wurde 1945 in Heliopolis, Ägypten, Cavanna in dem Vertrag, in dem er der Gesellschaft geboren. Nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Li- Kalachnikof die Namensrechte an „Charlie Hebdo“ banon seit seinem 15. Lebensjahr, immigriert er An- übertrug, in einem „Testamentsnachtrag“ festhalten fang der 1970er Jahre nach Frankreich, wo er sich in (vgl. Lemonnier und Monier 2015). Paris niederlässt. Dort arbeitet er u.a. für die Kinder- zeitschrift Pif Gadget und die Comic- und Satire- magazine/-zeitungen L’Echo des Savannes, Hara- Charb Kiri, Pilote, Fluide Glacial und Charlie Hebdo I. 1982 gründet er das heute noch existierende, alternative Charb war, zusammen mit Luz, Riss, Honoré und Comicmagazin Le Petit Psikopat, später umbenannt Tignous, einer der neuen Zeichner, die zusammen in Psikopat (vgl. anon./Éd.Zébu o.J.). Sein auf Ab- mit der alten Zeichnergarde von Charlie Hebdo I surdität, Sex, Drogen etc. basierender Humor und (Reiser, Wolinski, Gébé, Cabu) 1992 die Redak- Zeichenstil ist stark von dem den Underground-Co- tionsmitglieder der ersten Stunde im neu gegrün- mix-Zeichnern Robert Crumb und Gilbert Shelton deten Charlie Hebdo II um Redaktionschef Philippe geprägt, welche er auch in seinem 1989 gegründeten Val waren (vgl. Weston Vauclair und Vauclair 2015: Verlag Éditions Zébu für den französischen Markt 153ff). Mit bürgerlichem Namen Stéphane Char- publiziert hat; eine seiner bekanntesten Figuren ist bonnier, war Charb eines der Opfer des Attentats Docteur Tutut, ein Arzt, der seinen Patienten u.a. vom 07.01.2015. 1967 geboren, gehörte er zum ganz halluzinogene Drogen verschreibt. Neben seinen linken Flügel der Redaktionsmitglieder von Charlie Aktivitäten als Zeichner und Verleger war er auch Hebdo und war u.a. ein treuer Unterstützer der PCF, als Musiker aktiv, in der von ihm mitgegründeten der Kommunistischen Partei Frankreichs, und des Band Copains comme Cochons (vgl. anon./Lambiek Front de Gauche, dem Zusammenschluss unter- 2016; anon./Wikipedia 2016). schiedlicher französischer linker Parteien, gegründet

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie anlässlich der Europawahlen 2009. In Charlie Hebdo regelmäßig Zeichnungen und Karikaturen publi- II veröffentliche er u.a. seine Chronik/Kolumne zierte, u.a. in Hara-Kiri, Les Inrockuptibles, aber auch „Charb n’aime pas les gens“ [„Charb mag die Leute in den Literatur-Zeitschriften Lire und Le Magazine nicht“], die er bereits im Vorgängerblatt La Grosse Littéraire. Sein Tuschestrich, der an Holzschnitzarbe- Bertha publizierte (vgl. Weston Vauclair und Vau- iten erinnert, ist derartig markant und gleichzeitig clair 2015: 163). Doch Charbs Schwerpunkt waren ästhetisch, dass er gebeten wurde, verschiedene hauptsächlich Karikaturen, Couvertures, Titelseiten Bücher und Buchumschläge für u.a den Larous- und auch Comics. Nach dem Weggang von Philippe se-Verlag zu illustrieren (vgl. Loret 2015; anon./ Val im Jahr 2009 übernahm er, zusammen mit Riss, Larousse o.J.). die ‚Doppelspitze‘ des Blattes: Er als Herausgeber, Riss als Redaktionschef. Was Charbs Interesse am Nahostkonflikt betrifft, geht aus einem seiner Jul Reportagecomics von 1994 hervor, dass er min- Französischer Pressekarikaturist und Comiczeich- destens einmal, nämlich in jenem Jahr, nach Israel ner, wurde 1974 in einem Pariser Vorort unter dem gereist ist und dabei auch das Westjordanland be- bürgerlichen Namen Julien Berjeaut geboren. Schon sucht hat (vgl. CH 1994/95: 11). Mit Ausnahme von als Kind zeichnete er Pressekarikaturen, besuchte 1996 und 1999 hat er jedes Jahr etwas zu dem The- die renommierte École Normale Supérieure, stud- ma beigetragen, wobei sein produktivstes Jahr 2014 ierte Geschichte und Chinesisch. Politisch linksste- war, dicht gefolgt von 2006. hend, sich aber keiner Partei oder Gruppierung zu- rechnend, wurde Jul von Philippe Val im Jahr 2000 Gébé für Charlie Hebdo rekrutiert (vgl. Perrignon 2005). Außerhalb seiner Tätigkeit als Pressekarikaturist Geboren 1929 in der Nähe von Paris, begann Gébé, und Autor von politischen Comics hat er mehrere mit bürgerlichem Namen Georges Blondeaux, Comics publiziert, insbesondere Silex and the City seine Karriere als Industriezeichner bei der franzö- (Dargaud, 7 Alben seit 2009), der 2012 auch als sischen Staatsbahn SNCF. In den 1960er Jahren Zeichentrickfilmserie, produziert von Arte, adap- wurde er bekannt durch Publikationen u.a. in Paris tiert wurde (Horeau 2012). 2013 verließ Jul Charlie Match, wechselte aber Ende der 1960er die Aus- Hebdo (vgl. anon./Bscnews 2013). richtung und wurde erst Chefredakteur des Charlie Hebdo-Vorgängers Hara-Kiri und dann von Charlie Hebdo. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern Luz von Charlie Hebdo II und hat bis zu seinem Tod im Auch Luz ist ein Pseudonym, der bürgerliche Name Jahr 2004 aktiv zum Inhalt der Zeitung beigetragen, dieses französischen Zeichners und Karikaturisten, wie auch in der Funktion des Herausgebers. Bekannt der 1972 geboren wurde, ist Rénald Luzier. Seine wurde Gébé durch sein als Storyboard angelegtes Karriere begann er bei der Zeitschrift Psikopat, Comic-Projekt L’An 01, das er auch verfilmt hat die Anfang der 1980er Jahre von Carali gegründet (F 1973). Neben seinen Comicarbeiten hat er u.a. wurde. Seit dem Neuanfang von Charlie Hebdo ar- auch Hörspiele und Theaterstücke geschrieben und beitete er für die Zeitung. Seine besonderen Schwer- in Radio- und Fernsehsendungen mitgewirkt (vgl. punkte sind Antirassismus, Antifaschismus und Weston Vauclair und Vauclair 2015: 125). der Rechtsextremismus in Frankreich. Das Atten- tat überlebt er nur durch Zufall, weil er zu spät zur Honoré Redaktionssitzung erschienen war. Seit September 2015 gehört er nicht mehr der Redaktion von Charlie Philippe Honoré, 1941 in Nancy geboren, war einer Hebdo an (vgl. Weston Vauclair und Vauclair 2015: der Opfer des Attentats. In seiner Jugend hat er sich 166). das Zeichnen selbst beigebracht und arbeitet zu- nächst als Industriezeichner bei der Société Natio- nale des Gaz du Sud-Ouest. Später zog er nach Par- is, wo er in mehreren Zeitschriften und Magazinen 99

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Reiser Siné Jean-Marc Reiser, 1941 in Réhon, unweit der Gren- Siné, mit bürgerlichem Namen Maurice Sinet, 1928 ze zu Luxemburg geboren, verstarb schon früh in Paris geboren und dort im Mai 2016 auch gestor- (1983, mit 43 Jahren) an Knochenkrebs. Nach der ben, war ein politisch sehr engagierter Zeichner und Schule hat er u.a. für mehrere Jahre beim Wein- Karikaturist, überzeugter Anarchist, Antikapitalist händler Nicholas gearbeitet und sich, wie viele ande- und Antikolonialist. Er war gegen Kirche und Re- re von Charlie Hebdo, das Zeichnen selbst beigebracht. ligion, und, was in hiesigem Zusammenhang be- Seine Karriere als Zeichner begann er 1958 und pub- sonders wichtig ist, offen antizionistisch. Er begann lizierte bis zu seinem Lebensende in mehreren Zei- am Ende von Charlie Hebdo I seine Chronik „Siné tungen/Magazinen, darunter die Comiczeitschriften sème sa zone“ zu veröffentlichen. Mit dieser Chro- L’Echo des Savanes und Métal Hurlant, wie auch in der nik/Kolumne ist er auch von Anfang an bei Charlie seriösen Tageszeitung Le Monde, dem Satireblatt Hara- Hebdo II mit dabei, bis er die Wochenzeitung 2009 Kiri, das er 1960 gemeinsam, u.a. mit Cavanna ge- nach seiner außerordentlichen Kündigung durch gründet hatte, sowie auch in Pilote und Action, wo er Philippe Val verlassen muss. Im Anschluss an sein- Siné und Wolinski kennenlernte. Nach dem Verbot en Rauswurf gründete er seine eigene Zeitung, Siné von Hara-Kiri gehörte er zu den Mitarbeitern der er- Hebdo, die aufgrund finanzieller Probleme nach nur sten Stunde von Charlie Hebdo (vgl. Weston Vauclair einem Jahr wieder eingestellt werden musste (vgl. und Vauclair 2015: 120f). Reisers Stil ist sehr einfach Weston Vauclair und Vauclair 2015:133f). gehalten, ohne viel Dekor und Hintergrund. Eine seiner wichtigsten Figuren ist „Gros Dégueulasse“, ein ungepflegter, dickbäuchiger, nur mit einem Tignous schmutzigen Slip bekleideter Mann, der dennoch Tignous war Presse-Karikaturist und Zeichner und von seinem Sexappeal überzeugt ist, und unablässig wurde unter dem Namen Bernhard Verlhac 1957 sexistische Sprüche reißt (Reiser 1982); eine iro- in Paris geboren. Er kam beim Attentat auf die Re- nische Antwort auf den Normalbürger. daktionsräume von Charlie Hebdo im Januar 2015 ums Leben. Nach einer Ausbildung zum Zeichner Riss an Kunstschulen begann er in den 1980er Jahren als Karikaturist für die Presse zu arbeiten. Er wirkte bei Riss heißt mit bürgerlichem Namen Laurent Souris- vielen Magazinen und Zeitungen mit, wie bspw. La seau. Geboren 1966, ist er französischer Journalist Grosse Bertha. Viele davon sind politischer Natur, wie und Zeichner. Zunächst studierte er Jura und arbei- die von der kommunistischen Partei herausgegebe- tete bei der französischen Bahn (SNCF). 1991 bot er ne L’Humanité und L’Humanité Dimanche. Tignous seine Zeichnungen der Redaktion von La Grosse Berta war auch von Anfang an Redaktionsmitglied des an, wo er einige derjenigen – u.a. Charb – kennen- neugegründeten Charlie Hebdo. Bekannt ist er u.a. lernt, die ein Jahr später Charlie Hebdo neugrün- auch durch seinen Reportage-Comic „Le Procès Co- den werden. Nach dem Weggang von Philippe Val lonna“, den er in Zusammenarbeit mit Dominique wurde er 2009 der Redaktionsdirektor von Charlie Paganelli gezeichnet hat (Tignous und Paganelli Hebdo. Riss wird nachgesagt, etwas schüchtern und 2008). deutlich weniger politisiert zu sein als bspw. Charb. Er gehört keiner Partei an und versteht sich vielmehr als Angehöriger der intellektuellen Linken. Bei dem Philippe Val Attentat wurde er am Schulterblatt verletzt, über- Philippe Val ist französischer Journalist und Autor, lebte aber. Seitdem ist er Herausgeber von Charlie der 1952 in Neuilly-sur-Seine geboren wurde. Seine Hebdo; eine Fatwa wurde gegen ihn ausgesprochen Karriere begann er zunächst als Chansonnier und (vgl. Weston Vauclair und Vauclair 2015:164). Humorist. Nach seiner Sängerkarriere gründete er 1992 Charlie Hebdo neu; bis 2009 leitete er die Zei- tung. In seiner Funktion als Herausgeber ist Val sehr umstritten: insbesondere seine Kündigungspraxis 100

Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Catherine Michel: Lachen über eine Tragödie von Autoren wird scharf kritisiert. Seiner Entschei- la ville d’Angoulême (vgl. Potet 2013). 2015 blieb er dung, Siné aufgrund seines angeblich antisemi- vom Attentat in den Redaktionsräumen von Charlie tischen Kolumnenbeitrags im Juli 2008 außerorden- Hebdo verschont, da er nicht bei der Redaktionssitzu- tlich zu kündigen, verdankt es Charlie Hebdo, dem mit ng anwesend war, da er diese nicht mag (vgl. Seelow Schmach und Schande davongejagten Autor nach 2015). mehreren Instanzen 90.000 Euro Schadensersatz zahlen zu müssen. Philppe Val vertrat 2010-2012 Charlie Hebdo vor Gericht in dieser Angelegenheit Wolinski allerdings nicht mehr, er war zu diesem Zeitpunkt , 1934 in Tunis geboren, zählt bereits Chef des staatlichen Radiosenders France In- zu den Opfern des Attentats auf Charlie Hebdo im ter, ein Posten, den er jedoch 2014 räumen musste. Januar 2015. Nach dem Tod seines Vaters wächst er Nach dem Anschlag im Januar 2015 bot er der ver- bis zu seinem 13. Geburtstag bei seinen Großeltern bliebenen Redaktion an, wieder zu Charlie Hebdo zu- in Tunis auf und zieht dann zu seiner Mutter nach rückzukehren, was aber von dieser abgelehnt wurde. Briançon, Frankreich. Dort arbeitet er an der Zei- Auch, was seine politische Entwicklung angeht, tung seiner Schule mit. Auch an der weiterführen- wurde er, gerade innerhalb der Redaktion von Char- den Schule ist er Mitglied der Schulzeitungsre- lie Hebdo, nicht unkritisch gesehen. Anfangs lag sein daktion. 1960 präsentierte er seine Zeichnungen thematischer Schwerpunkt bei jeder Form von Ras- Cavanna, der ihm daraufhin eine Mitarbeit bei Hara- sismus und Antisemitismus und richtete sich insbe- Kiri anbot. Nach der Umwandlung von Hara-Kiri in sondere gegen Rechtsextremismus und christlichen Charlie Hebdo arbeite Wolinski weiterhin für die Zei- Fundamentalismus. Später jedoch begann er auch, tung und fungierte in den letzten Jahren der ersten gewisse Formen von Rassismus innerhalb des linken Periode auch als Chefredakteur. Wolinski gehört Lagers, wie auch den Islam zu kritisieren. Ersteres zu den Gründungsmitgliedern von Charlie Hebdo brachte ihm harsche Kritik aus dem linken Lager der zweiten Periode und hat bis zu seinem Tod re- ein, das ihn nunmehr als neokonservativ, reaktionär gelmäßig an der Zeitung mitgearbeitet (vgl. anon./ und regierungstreu betrachtet (vgl. Weston Vauclair Wikipedia 2018). und Vauclair 2015: 154-161). Was den Nahostkonf- likt angeht, wird ihm nachgesagt, auf der Seite Is- raels und der USA zu stehen (vgl. Gresh 2007).

Willem Willem wurde 1941 in Ermelo in den Niederlanden unter dem bürgerlichen Namen Bernhard Willem Holtrop geboren. Zunächst studierte er Bildende Kunst in Arnheim und Herzogenbosch (1962-67). Ab 1966 wurde Willem als Zeichner und Illustrator für die Zeitung der niederländischen Anarchiebe- wegung Provo aktiv. 1968 zog der Karikaturist nach Frankreich, wo er bis heute lebt. Seit der Gründung von Charlie Hebdo zählte er zu den freien Mitarbeitern der Wochenzeitung. 1981 wird er kurzfristig zum Chefredakteur des „Interim-Magazins“ zwischen Charlie Hebdo I und II, Charlie Mensuel. Neben Char- lie Hebdo publiziert er auch regelmäßig in Libération, Le Monde, Psikopat, Métal Hurlant, L’Echo des Savanes und einer Reihe niederländischer Zeitungen/Maga- zinen. Willem hat mehrere Preise bekommen; 2013 erhält er als erster Niederländer den Grand Prix de

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Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015! ISBN 978-3-0006-0367-9