ELECTRONIC ARTS Ballerspiel „“ (Ausschnitt): Ein Budget größer als für die meisten deutschen Kinofilme

COMPUTERSPIELE „Es muss bluten, ist doch klar“ Für 16 Millionen Euro entwickeln drei Deutschtürken aus Frankfurt das Computerspiel „Crysis“. Bill Gates lobt ihre Fähigkeiten, doch in Deutschland bekommen sie Probleme: „Crysis“ ist ein Killer-Game – und solche Spiele will die Regierung verbieten. Von Ansbert Kneip

lso, wenn er jetzt tot wäre, sagt Ce- und wenn das dargestellt wird mit einer jemandem, der ihnen die weitere Entwick- vat Yerli, er sitzt auf dem hellgrau- ungeheuer detaillierten, noch nie gesehe- lung finanziert. Sie hatten Erfolg. „“ Aen Ledersofa, zurückgelehnt, lässt nen Grafik, wenn seine Spielfiguren durchs verkaufte sich mehr als 2,4 Millionen Mal. die Beine schlaff hängen und legt den Kopf Gelände schleichen und jedes Farnkraut Yerli ist jetzt 28 Jahre alt, vor der Tür nach hinten, um zu zeigen, wie das aus- einzeln erkennbar wird, wenn Yerli jeden parkt sein Mercedes Sportcoupé, man könn- sähe, also nur mal angenommen, er wäre Schattenwurf exakt berechnet, dann, sagt te sagen, er hat es geschafft. Er und seine eine Leiche, und jetzt würde ihm jemand er, kann er von einem Toten auch verlan- Brüder Faruk und Avni sind gleichberech- ins Bein schießen – Yerli feuert mit Dau- gen, dass der sich wie ein echter Toter be- tigte Eigentümer und Geschäftsführer. men und Zeigefinger auf seinen Ober- nimmt. Seine Meinung. Zurzeit arbeitet das Unternehmen an schenkel: „Das muss doch zucken, oder?“ Wie viele junge Türken spricht Yerli sehr dem Nachfolgespiel. „Crysis“ wird es Er bewegt sein Bein, als würde er einen schnell, und wenn er sich aufregt noch ein heißen, Ende des Jahres soll es eigentlich kurzen Pass schlagen. bisschen schneller. Er verschluckt die Sil- fertig sein, wahrscheinlich aber erst An- Einschlagswinkel, Geschossgeschwin- ben, es macht Mühe, ihm zu folgen. fang 2007. Bisher gibt es nur wenige Bilder digkeit, wenn Leichen zucken, ist das rei- Cevat Yerli ist Mitgründer und Chefent- zu sehen, auf Computermessen wie der ne Physik, unappetitlich vielleicht, aber wickler von „“, einer Firma, die bis- Games Convention Ende August in Leipzig nicht zu ändern. her nur ein einziges Spiel veröffentlicht hat, werden Teile des Spiels vorgestellt werden, Gut, es würde keinen Sinn machen, auf aber das war ein Welterfolg. Das Spiel hieß neugierige Fans werden die Präsentatio- Tote zu ballern, im wirklichen Leben nicht „Far Cry“, Yerli hatte im Jahr 2000 eine nen heimlich am Messestand filmen und und im Spiel nicht, es gäbe auch keine Ex- erste Demo-Version fertiggestellt. Er und sie ins Internet stellen. trapunkte oder so, aber trotzdem: Wenn seine Brüder kratzten die letzten 10000 Das Budget für „Crysis“ liegt bei 16 Mil- Yerli schon ein Computerspiel entwickelt, Mark vom Konto, flogen zur Spielemesse lionen Euro, mehr als die meisten deut- in dem die Leute aufeinander schießen, E3 nach Los Angeles, auf der Suche nach schen Kinofilme bisher gekostet haben.

66 der spiegel 32/2006 ANDREAS VARNHORN Spieleentwickler Yerli-Brüder Avni, Faruk, Cevat: „Man sollte doch die Eltern entscheiden lassen, was die Kinder spielen“

Hightech-Firma gegründet, Arbeitsplätze Eigentlich sinnvoll findet Yerli die Ein- Normalerweise aber spielt es in der Fir- geschaffen, deutscher Marktführer gewor- stufungen, aber in ihrem Versuch, alles ma überhaupt keine Rolle, ob einer Hans den – eigentlich haben die drei Brüder ganz, ganz genau zu regeln, dann auch heißt oder Osman, die 100 Mitarbeiter alles richtig gemacht. Dummerweise nur wieder sehr deutsch. „Man sollte doch die kommen aus 26 Ländern, ihre Umgangs- geht es in „Crysis“ eigentlich darum, dass Eltern entscheiden lassen, was die Kinder sprache ist sowieso Englisch. Es gibt stän- einer den anderen abknallt. Jugendliche spielen“, sagt er. dig Videokonferenzen mit Kollegen in den spielen so etwas gern, Eltern verstehen Die drei Yerli-Brüder sind Türken der USA, es gibt seit neuestem einen kleinen so etwas nicht, und Politiker lehnen so et- zweiten Generation, als Kinder hergezogen Ableger in der Ukraine, in Kiew. was ab. oder hier geboren, längst heimisch gewor- „Crysis“, das Spiel, ist noch gar nicht Jugendschützer werden „Crysis“ begut- den in Deutschland. Wunschbürger, Bei- fertig, doch schon jetzt hat die Grafikdar- achten, sie werden ein Urteil abgeben, dar- spiele einer gelungenen Integration, das stellung viele Preise auf der Spielmesse E3 über, wie gewalttätig das Spiel ist und ob Gegenteil eines Rütli-Schul-Türken, der in Los Angeles erhalten. In den Szenen, man es Jugendlichen in die Hand geben Akzent eher bayerisch als türkisch. Vor 20 die man schon sehen kann, explodieren darf. Das deutsche Jugendschutzgesetz Jahren, als die Brüder noch in Coburg zur Tankwagen, ein Flugzeugträger brennt, zählt zu den strengsten Europas, das kom- Schule gingen, überredeten sie den Vater, Yerli lobt die realistische Umsetzung von plizierteste ist es gewiss. ihnen einen Computer zu kaufen. Das Funken und Flammen. Nicht viele Firmen Jede Spiele-CD, die auf einer Spiele- müsse man in Deutschland, sagten die Söh- kriegen virtuelle Welten so gut hin, und zeitschrift pappt, braucht eine Altersfrei- ne, ohne Computer laufe hier bald gar wenn, dann kommen solche Firmen nicht gabe für Minderjährige, andernfalls darf nichts mehr. Fast einen Monatslohn koste- aus Deutschland. das Heft nicht an den Kiosk. Ohne Kon- te der Rechner, die Familie verstand das als Eigentlich also eine Erfolgsstory. Drei trolle darf keine CD allen zugänglich im Investition in die Zukunft. Türken aus Deutschland erobern den Welt- Laden stehen. Erst prüft ein Gremium der Bis zu diesem Tag hatte der Vater immer markt – und zwar nicht von Silicon Valley Unterhaltungs-Software Selbstkontrolle: nur Dinge gekauft, die sich leicht trans- aus, sondern von einer Fabriketage über ei- Sie vergibt Altersfreigaben, ab 16 zum Bei- portieren ließen, keine Musikanlage also, nem Möbelhaus im Randbezirk von Frank- spiel. Sie kann festlegen, dass nur Erwach- sondern nur ein Kofferradio, zum Beispiel. furt, an der Ausfallstraße nach Hanau. sene das Spiel kaufen dürfen, sie kann Er dachte immer, er würde bald wieder Gleichzeitig ist die Geschichte der Yerlis auch sagen, dass sie überhaupt kein Prädi- nach Hause fahren, also zurück ans und ihres Spiels auch die Geschichte eines kat vergibt. In solchen Fällen kann die Schwarze Meer. Ein Kofferradio hätte er großen Nicht-Begreifens. Yerli will ein gu- Bundesprüfstelle für jugendgefährdende mitnehmen können. Der Computer be- tes Produkt abliefern – nur ist das, was er Medien gerufen werden, und die unter- deutete, dass sein Zuhause und seine Zu- unter „gut“ versteht, etwas völlig anderes sucht, ob das Spiel indiziert werden soll. kunft von nun an in Deutschland lagen. als das, was etwa Jugendschützer meinen. Geprüft wird, wie roh das Spiel ist, ob Avni, der älteste Bruder, besitzt heute „Crysis“ ist ein Ballerspiel. „Ego-Shoo- das Töten einem Zweck dient und wie einen deutschen Pass, die anderen beiden ter“ nennen es die Spieler, „Killerspiel“ realistisch das Blut fließt. Eine zuckende nennen ihn manchmal „Hans“, wenn sie sagen viele Erwachsene. Leiche beispielsweise wäre ein Indiz für ihn ärgern wollen, er ruft die Brüder dann Der Spieler sieht das Geschehen über „ab 18“. „Osman“. den Lauf seiner Waffe. Es gibt keine Per-

der spiegel 32/2006 67 spektive von oben, keinen Überblick, der Spieler steckt selbst mittendrin im Getüm- mel. Per Maus und Tastatur kann man feu- ern, nachladen, die Waffe wechseln, das Zielfernrohr aufschrauben oder mit dem Messer töten. Ego-Shooter simulieren nicht den Uno- Sicherheitsrat. Es geht ums Töten, und bei „Crysis“ wird mit der wohl besten Grafik der Welt getötet. Es ist schön und brutal gleichermaßen, und für Yerli ist das über- haupt kein Widerspruch. Grafik ist eine Sekundärtugend. Was Yerli in seiner Firma programmie- ren lässt, finden viele widerwärtig, wenn nicht sogar gefährlich. Ein Spiel, bei dem man seine Gegner abknallt, ist für sie schon im Prinzip verwerflich – und im De- tail pervers. Es gibt Wissenschaftler, die halten Spie- le wie „Crysis“ für ungesund, sie glauben, dass Gewaltspiele einen schlechten Ein- fluss ausüben, dass sie Aggressivität schüren und die Sinne abstumpfen. Der US-Amerikaner Dave Grossman, ehemaliger Militärpsychologe, sagt, man könne sich am PC die natürliche Tötungs- hemmung regelrecht abtrainieren. US- Streitkräfte nutzten das Spiel „Doom“ für das Training ihrer Marines. Und was bei Soldaten funktioniert, sagt Grossman, das wirke auch bei Jugend- lichen. Er nennt Beispiele: Jonesboro Games Convention in Leipzig (2005): Die Kinder sind die Einheimischen, ihre Eltern die und Littleton – hier töteten minderjährige Jungs ihre Kameraden, sie bewegten Er glaubt, dass man es sich so einfach ter dem bereits geltenden Recht gar nicht sich, sagt Grossman, wie in einem Video- nicht machen kann, aber er erlebt, dass es kaufen. spiel. doch geht. Vor ein paar Jahren hat Yerlis Firma sich Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Im vergangenen Jahr, als SPD und CDU einmal um bayerische Fördergelder be- Erfurt, besaß das wohl berüchtigtste aller über die Koalition verhandelten, meldete müht, die Aufgabe war, ein Fell möglichst Ballerspiele: „Counterstrike“. Nach Erfurt sich Maria Böhmer, Familienpolitikerin der realistisch nachzubilden. So etwas gilt als wurde Grossman auch in Deutschland sehr CDU. Ein Verbot von Killerspielen müsse besonders knifflig, weil Millionen feiner populär. Seine Thesen boten für das Un- her, forderte sie, und dann waren Compu- Härchen dynamisch berechnet werden begreifliche eine einfache Erklärung: Kil- terspiele – vor allem aber auch Maria Böh- müssen, und das möglichst schnell. „Kön- lerspiele schaffen Killer. mer – in den Medien. nen wir“, sagte Yerli damals, er bekam das Die jugendlichen Täter von Columbine Von Beamten eines Landesministeriums Geld in Aussicht gestellt. Doch als die Lan- hatten „Doom“ gespielt, bevor sie ihre wird seitdem verbreitet, Böhmer habe ein- desbeamten merkten, dass die Technik für Mitschüler töteten. Doch Tausende andere fach etwas werden wollen, Staatssekretärin das Fell aus der Entwicklung eines Ge- spielen Doom, ohne deshalb zur Waffe zur etwa, und deshalb einen billigen Punkt ge- waltspiels stammt, gab es gar nichts. Auch greifen. Der Dokumentarfilm des Filme- macht. Böhmer, heute Integrationsbeauf- kein Gespräch mehr. tragte der Bundesregierung Möglicherweise hätte der eine auch gar und Staatsministerin im nicht verstanden, was der andere meint. Es geht ums Töten, und bei „Crysis“ wird mit Kanzleramt, bestreitet, dass Für den einen ist ein Fell putzig und eine der besten Grafik der Welt getötet. ihr Vorschlag nur ein PR-Gag Waffe böse, für den anderen sind beides war, sie kämpfe schon seit nur Pixel. machers Michael Moore heißt „Bowling Jahren gegen die virtuellen Grausamkei- Yerlis erstes Spiel war ein Killerspiel, for Columbine“: Die Täter waren auch ten, sie ist Initiatorin der Kampagne „Rote das zweite wieder eins, warum immer nur bowlen gewesen – ebenso wie Tausende Karte“ gegen Gewalt in den Medien. Ego-Shooter? andere auch. Es werde ja auch immer schlimmer, sagt Yerli, Sweatshirt, dunkle Hose, weiche Yerli kennt diese Diskussion, er würde Böhmer, „jetzt gibt es das schon auf dem Puma-Schuhe, teure Uhr, sitzt jetzt nicht mit den Kritikern gern mal reden, über Handy“. Sie meint wohl Gewaltvideos, die mehr als Leiche da. Er richtet sich auf, das Spiel, über die Gewalt am PC und dar- von Handy zu Handy getauscht werden, stolz: „Ja“, sagt er, „die Königsklasse. Das über, was das mit der Gewalt in der Rea- nicht Spiele. hat uns niemand zugetraut.“ lität zu tun hat. Er würde gern versuchen, In der Koalitionsvereinbarung stand am Er strahlt. Er hat die Frage als Kompli- ein paar Dinge zu erklären, aber bisher Ende tatsächlich, dass Killerspiele verbo- ment verstanden. hat ihn noch niemand gefragt – keine Ein- ten werden sollen – wobei nicht ganz klar Im Jahr 2001 prägte der amerikanische ladung zur Expertenanhörung im Bun- ist, was die Politiker überhaupt unter ei- Computerspezialist Marc Prensky einen destag, kein Gespräch mit Wissenschaft- nem Killerspiel verstehen und was genau Begriff, es war die Überschrift seines Auf- lern, keine Diskussion mit dem Jugend- sie jetzt verbieten wollen: Jugendliche satzes: „Digital Natives, Digital Immi- schutz. dürfen viele einschlägige Spiele auch un- grants“, die digitalen Einheimischen und

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sein an seiner Wirklichkeit. In der ersten da. Die Menschheit, so verfeindet sie auch Klausur schrieb er eine Fünf, „Mangel- immer sein mag, muss also erst mal zu- haft“. Yerlis Dozent hatte alte Antworten sammenhalten, und Yerli findet, das sei aus veralteten Büchern hören wollen und doch eine ganz gute Botschaft. nicht das, was Yerli an Neuem längst wuss- Man braucht viel taktisches Geschick, um te. Er brach das Studium ab. durch das Spiel zu kommen, blinde Gewalt Cevat Yerli, das Gastarbeiterkind, lebt hilft nicht. Man muss im Team arbeiten, als im realen Deutschland als Einwanderer, er Rambo wird der Spieler die Welt nicht ret- hat sich arrangiert, manchmal kollidieren ten. Strategie, kluge Wahl der Waffen, dar- die Wertvorstellungen, aber er kommt zu- um gehe es, sagt Yerli, nicht ums Töten. recht. In der digitalen Welt aber ist er Ein- Hinterher, wenn die Welt gerettet ist, heimischer, ist er zu Hause, hier kennt er kann man die Koreaner immer noch er- sich aus. Die Professoren, die Politiker, die schießen. Dafür bietet das Spiel den Eltern, denen er sein Spiel gern erklären „Deathmatch“-Modus, da geht es nur noch würde, mögen alteingesessene Deutsche darum, so viele Gegner wie möglich her- sein. In der digitalen Welt aber sind sie auszunehmen. Und wenn jemand stun- fremd. denlang Koreaner tötet? Werden Tod und Ihre Wirklichkeit ist eine andere als die Leid nicht banalisiert, ändert sich da nicht eines Erfinders von Computerspielen. irgendetwas im Kopf des Spielers? „Nein“, „Kommen Sie“, sagt Yerli, „ich zeig sagt Yerli. Er glaubt nicht. „Eine Million Ihnen was.“ Er führt durch seine Firma, Deutsche spielen ‚Counterstrike‘, das sind Grafiker und Programmierer sitzen in doch auch nicht alles Massenmörder.“ Großraumbüros, es geht vorbei an der Ab- Dass jemand zum Killer wird, einzig, teilung für künstliche Intelligenz, viele An- weil er Stunden vor dem PC mit Baller- gestellte tragen Kapuzenpullis, fast alle sind spielen verbringt, dafür gibt es tatsächlich deutlich jünger als dreißig. keinen eindeutigen Beweis. Wissenschaft- Unterwegs erklärt Yerli, worum es in ler können messen, dass die Aggressivität „Crysis“ überhaupt geht, die Geschichte steigt, während jemand spielt. Aber nach hat er sich selbst ausgedacht. Also: Auf kurzer Zeit beruhigen die Probanden sich einer nordkoreanischen Insel landet ein Ali- wieder. Langzeitwirkungen sind noch un- en-Raumschiff, der Spieler verkörpert ei- klar. JOCHEN ZICK / KEYSTONE Einwanderer der digitalen Welt

digitalen Einwanderer. Mit den Einheimi- schen meint Prensky die jüngere Genera- tion, aufgewachsen mit Computern, Han- dys, MP3-Playern. Für die Einheimischen ist der Umgang mit allem Digitalen Alltag, etwas völlig Natürliches. Sie lesen keine Bedienungsanleitungen, sie vertrauen dar- auf, dass Programme und Geräte sich schon selbst erklären werden. Eine Gene- ration, die sich ganz selbstverständlich in Chaträumen und Foren bewegt, andauernd online und vernetzt via ICQ. Die Immigrants, das sind die, die sich das ganze Computerwissen angeeignet ha- ben, mehr oder weniger mühsam. Die viel- leicht sogar einigermaßen versiert auf den Tasten tippen, schon mal bei Ebay gekauft haben, aber im Grunde doch noch immer in der analogen Welt zu Hause sind, oder

anders gesagt: die gar nicht wissen, was ELECTRONIC ARTS ICQ überhaupt ist. Sie erleben die Digita- Ausschnitt aus „Crysis“: „Hollywood-Realität“ nennt es der Schöpfer lisierung der Welt mit, aber sie sind nicht Teil davon. Wie Einwanderer in der realen nen US-Soldaten. Seine Aufgabe ist, sich Jemand, der immerzu Autorennen am Welt, so fühlen sich die Immigranten in durch den Dschungel so nah wie möglich an PC spielt, fährt auch im wirklichen Leben Digitalien immer ein bisschen fremd, ein das Schiff zu schleichen, er soll die Techno- auf Dauer nicht aggressiver als andere Au- bisschen unsicher. logie der Außerirdischen ausforschen. Lei- tofahrer, das ergab eine großangelegte Stu- Auf der Hauptschule in Coburg konnten der stehen dabei nordkoreanische Soldaten die der Bundesanstalt für Straßenwesen. Yerlis Lehrer damals mit Computern nichts im Weg, auch sie wollen von den Aliens Entwarnung also? Ballerspiele doch anfangen, sie kamen aus der analogen Welt. profitieren. Der Spieler kann nun die Kore- nicht gefährlich? Genauso war es auf der Realschule und da- aner einen nach dem anderen „herausneh- Das Unbehagen bleibt, unter anderem nach auf der Fachoberschule. Die Schule men“, wie Yerli sagt, das heißt: erschießen. deswegen, weil das Töten so selbstver- bereitete ihn auf irgendetwas vor, aber nicht Allerdings stellen sich die Aliens bald ständlich geschieht, so amoralisch, so banal auf das, was er für die moderne Welt hielt. als üble Brut heraus, als der wahre Feind. und so ganz ohne schlechtes Gewissen. Yerli begann ein Informatikstudium, Wer bis dahin zu viele Koreaner erledigt Yerli geht Richtung Studio, dort, wo hier, so dachte er, müssten sie näher dran hat, steht gegen die Aliens ziemlich allein sechs Toningenieure am Soundtrack von

der spiegel 32/2006 69 manchen anderen Spielen saften ange- schossene Monster grün, manche Firmen erschaffen für den deutschen Jugendschutz extra blutarme Spielversionen – und übers Internet laden die Kids dann die schärfere Originalfassung nach. Aber Yerli will nicht verzichten: „Es muss bluten, ist doch klar“, sagt er, schon aus praktischen Gründen: „Der Spieler will wissen, ob er getroffen hat.“ Blut, so sagt Yerli, sei ein „visuelles Feedback“. Mehr nicht. Außerdem, sagt Yerli, sooo realistisch sei „Crysis“ nun auch wieder nicht: „Es gibt im ganzen Spiel keine Leiche mit of- fenen Augen“, sagt er. Darauf hat er ge- achtet. „Offene Augen irritieren mich immer.“ Yerli gibt zu, dass sein Spiel gefährlich sein könnte – könnte, wohlgemerkt, und das gar nicht mal in erster Line wegen der Gewalt. Gefährlich ist, wenn einer über das Spiel seine realen Kontakte ver- liert, wenn er der sozialen Kontrolle ent- gleitet. Computerspieler, so sagen ein paar Stu- dien, erdaddeln sich außerdem auf Dauer eine vergleichsweise niedrige Frustrations- toleranz. Allzu knifflige Spiele lassen sich nicht verkaufen – viele Spiele sind deshalb so konstruiert, dass jeder Benutzer relativ

ELECTRONIC ARTS schnell zum Erfolg kommt. Und daran ge- Figuren aus „Crysis“: Blut als „visuelles Feedback“ wöhnen sie sich. Mit Hindernissen im wirk- lichen Leben werden die Spieler dann „Crysis“ basteln. Der Ton ist ungeheuer tet ein Video, aufgenommen im Frühjahr schlechter fertig. wichtig, ein Geländewagen soll ja wirklich auf einer Computermesse in Los Angeles. In einem Ego-Shooter ist der Spieler rumpeln, Blätter müssen rascheln, und ein Bill Gates ist dort zu sehen, der Gründer permanent bedroht, jede Bewegung kann Schuss ins Herz sollte sich auch anhören von Microsoft, er hielt einen Vortrag über falsch sein, und jeder Fehler bedeutet den wie ein Schuss ins Herz. das kommende neue Betriebssystem, „Win- Tod. Um am PC zu überleben, braucht Man kann Töne fertig kaufen, vorzugs- dows Vista“. Gates spricht davon, dass sein man eine gewisse Grundparanoia, ein weise in Hollywood, aber man kann sie neues Windows mit hochkomplexen Gra- Misstrauen gegenüber der virtuellen Um- auch selbst herstellen. Ein Schlag auf einen fikdarstellungen fertig werde, und um das zu welt. Einige Studie legen deshalb nahe, Kohlkopf beispielsweise ist von der Klang- verdeutlichen, startet er ein Computerspiel: dass PC-Spieler sich auch in der Wirklich- struktur her schon mal eine passable eine Vorabversion von „Crysis“. keit leichter bedroht fühlen. Grundlage. Ein Treffer ins Fleisch klingt Aber es kommt noch besser. Bill Gates Yerli sitzt im Vorführraum von Crytek, ganz ähnlich, man muss den Sound natür- lässt die Animation etwa eine Minute lau- er hat per Beamer seine Aliens vorgeführt, lich noch bearbeiten. fen. Als er das Spiel ausschaltet, sagt er, ein stählerne Kampfmonster, ausgestattet mit Yerlis Soundingenieure sind echte Spe- paar hundert Leute hören ihm live dabei künstlicher Intelligenz, sie werden in je- zialisten, aus einem Dutzend Bestandteile zu: „Cooles Spiel.“ dem Spiel anders reagieren. Yerli glaubt, Cooles Spiel, wow. Und wer die Monster gesehen hat, die Licht- „amazing“ hat Gates angeb- effekte, die natürlichen Bewegungen der Für Kritiker ist das Unbegreifliche einfach: lich auch noch gesagt, Yerli Ungetüme, der müsse „Crysis“ gut finden. Killerspiele schaffen Killer. spult in der Rede hin und her, Er glaubt, dass seine Kritiker in der di- er findet gerade die Stelle gitalen Welt nicht heimisch, sondern nur komponieren sie am PC das Geräusch nicht, ruft rüber ins Nachbarbüro. Einer Immigranten sind, und dass sie deshalb jedes einzelnen Schusses. Kugel auf Holz der Brüder soll mithelfen beim Suchen. auch die Gewalt nicht richtig einordnen klingt anders als Kugel auf Metall, Pistole Bill Gates soll Yerlis Zeuge sein, er will können. Und zwar aus genau dem gleichen anders als Gewehr, jeder Feuerstoß zeich- den Videoschnipsel unbedingt finden. Grund wie Kinder: Sie halten das, was sie net neue, andere Grafiken auf den Bild- Er glaubt, er müsse nur genügend Au- sehen, für allzu echt. schirm, die lassen sich zerren, stauchen, toritäten auffahren, und dann würde ihm „Crysis“ wird nur an Erwachsene ver- mit Hall versehen. geglaubt. Geglaubt, dass „Crysis“ wirklich kauft werden dürfen, wenn es auf den Markt „Hollywood-Realität“ nennt Yerli das. cool ist – und nicht brutal. Einer wie Gates kommt. Yerli sagt, er finde das richtig. Ein echtes Gewehr in der Wirklichkeit würde doch sonst nicht „amazing“ sagen. „Crysis“, so sagt Yerli „soll Spielspaß knattere langweilig hell und trocken, so Einem wie Gates würde man glauben, bieten“ – und nicht die Realität ersetzen. was kann man niemandem anbieten. Yerli dass rote Pixel auf dem Bildschirm etwas Kann er was dafür, wenn die Leute das käme gar nicht auf die Idee, an dieser Stel- völlig anderes sind als Blut in der Wirk- nicht kapieren? Er sagt: „Erziehen müs- le nach Moral zu fragen. lichkeit. sen die Eltern, nicht ich.“ Er klappt seinen Laptop auf, sucht nach Theoretisch könnte Yerli in „Crysis“ Er jedenfalls würde seine minderjährigen einer Datei, „das müssen Sie sehen“. Er star- natürlich auf Blutspritzer verzichten. In Neffen nicht „Crysis“ spielen lassen. ™

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