DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 7. August 2006 Betr.: Titel, Updike-Gespräch, SPIEGEL-Buch is heute streiten die Historiker, ob das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Bdas 1806 nach fast tausend Jahren unterging, mehr Segen oder Unglück über das Land gebracht hat. Gewiss aber hat es die Deutschen geprägt, etwa durch Födera- lismus, Kultur und Rechtsstaatlichkeit. 200 Jahre nach seiner Auflösung erinnern zahlreiche Museen an das erste deutsche Reich. Die Titelautoren Georg Bönisch, 57, und Klaus Wiegrefe, 41, sprachen aus diesem Anlass mit Ausstel- lungsmachern und Historikern, recherchierten in Museen und Ar- chiven. Sie stießen dabei auf das wohl merkwürdigste Imperium der Weltgeschichte, das Hunder- te Staaten und staatenähnliche Mini-Territorien umfasste. An der Spitze stand ein Kaiser, der in weiten Teilen seines Reiches nichts zu sagen hatte. Der Mon-

arch wurde gewählt – so legte / VISUM LEISSL MARTIN es die „Goldene Bulle“ von 1356 Wiegrefe, Matthäus fest, das Grundgesetz des Alten Reiches. Ein Exemplar dieses kostbaren Dokuments liegt in der schwergesicherten Privilegienkammer im ehemaligen Karmeliterkloster in Frankfurt am Main. Stadt- archivar Michael Matthäus gewährte Wiegrefe einen Einblick. Der SPIEGEL-Mann war überrascht vom geringen Gewicht des an dem Dokument befestigten Siegels, von dem man landläufig glaubt, es sei aus massivem Gold. In Wahrheit, so Wiegrefe, ist es „aus Goldblech, innen drinnen ist nur Wachs“ (Seite 46).

anchmal gibt es zwischen Dichtung und wirklichem Leben seltsame Parallelen. MIn John Updikes neuem Roman „Terrorist“, der Ende August auf Deutsch er- scheint, geht es um einen jungen Amerikaner arabischer Herkunft, der einen Anschlag im New Yorker Lincoln Tunnel vorbereitet; der Plot wurde kürzlich von der Realität eingeholt, als das FBI ein geplantes Sprengstoffattentat im Holland Tunnel zwischen Manhattan und New Jersey aufdeckte. „Zufall“, sagte Updike, 74, im SPIEGEL- Gespräch, das die Redakteure Martin Doerry, 51, und Volker Hage, 56, in einem Bos- toner Hotel führten. Dort erschien der Schriftsteller eine Dreiviertelstunde nach dem vereinbarten Termin – und entschuldigte sich für die Verspätung mit seiner Tunnel- phobie: Weil er sich scheute, eine Unterführung zu benutzen, in der einige Wochen zuvor eine Autofahrerin von herabstürzenden Deckenplatten erschlagen worden war, hatte Updike einen zeitraubenden Umweg mit der Eisenbahn genommen (Seite 142).

eit 1998 stellt der KulturSPIEGEL, das Magazin für Abon- Snenten, in jeder Ausgabe einem Prominenten die Frage: „Mit 17 hat man noch Träume. Erinnern Sie sich?“ Freimütig erzählten Größen aus Film, Pop, Theater, Literatur, Kunst, Mode oder Architektur über ihre Hoffnungen, Enttäuschungen und Glücksmomente – den Anfang machte, natürlich, die Amerikanerin Peggy March, die als 17-Jährige mit dem Lied „Mit 17 hat man noch Träume“ bei den Deutschen Schlager- Festspielen 1965 siegte. 75 dieser Interviews – unter anderen mit Mario Adorf, Anthony Hopkins und Vivienne Westwood – sind nun in einem bei dtv erschienenen SPIEGEL-Buch (6,90 Euro) versammelt.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 32/2006 3 In diesem Heft

Titel Aufstieg und Fall einer fragilen Großmacht – vor 200 Jahren endete das Seite 22 Heilige Römische Reich Deutscher Nation ...... 46 Mini-Aufschwung am Arbeitsmarkt Die Herrschaft der Äbtissinnen ...... 52 Die jüngsten Arbeitslosenzahlen lassen hoffen: Es entstehen wieder neue Jobs in Interview mit dem Historiker Heinrich August Deutschland, quer durch alle Branchen. Schon streiten sich die Politiker darüber, wer Winkler über den Reichsmythos ...... 56 für die guten Nachrichten verantwortlich ist, die alte oder die neue Regierung. Tatsächlich sind viele Gründe für die Erholung des Arbeitsmarktes verantwortlich – Deutschland und für Kanzlerin Angela Merkel und Arbeitsminister Franz Müntefering bleibt noch Panorama: Preiskampf bei Arzneimitteln? / viel zu tun, damit daraus ein wirklicher Aufschwung wird. Harte Linie gegen private Wettanbieter / FDP entdeckt Verbraucherschutz ...... 17 Arbeitsmarkt: Warum wieder neue Arbeitsplätze entstehen ...... 22 Kabinett: Wirtschaftsminister Michael Glos ist Merkels bester Mann in der CSU ...... 26 Außenpolitik: Differenzen zwischen Berlin und Jerusalem ...... 30 CDU: Wachsende Kritik an Generalsekretär Ronald Pofalla ...... 36 Fahndung: Wie das Maut-System Verbrecher überführen soll ...... 38 Straftäter: Prominenter Entführer und Kindsmörder will jugendlichen Gewaltopfern helfen ...... 42

Kriminalität: Für den deutschen PLAMBECK / LAIF SCHULZ / IMAGO Antikmarkt plündern polnische Diebe Müntefering Bauarbeiter Kirchen und Schlösser ...... 44

Gesellschaft Szene: Physiklehrbuch mit Comic-Helden / Schadstoffe in der Kirche ...... 63 Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 64 Spekulieren wie die Profis Seite 76 Computerspiele: Drei deutsch-türkische Zertifikate haben Fonds in der Gunst der Anleger den Rang abgelaufen. Die Finanz- Unternehmer und ihr neues Killerspiel ...... 66 industrie bringt immer mehr dieser Wertpapiere auf den Markt, mit denen auch klei- Ortstermin: Der Münchner Weltkongress ne Anleger auf die Entwicklung von Aktienkursen und Rohstoffpreisen spekulieren der Sozialarbeiter ...... 72 können. Doch am meisten profitieren die Banken. Wirtschaft Trends: Käufer für Woolworth gesucht / Ungeschützte „Gelbe Seiten“ / Unterstützung für Steinbrück ...... 74 Geldanlage: Sind die Deutschen ein Leben mit der Seuche Seite 124 Volk von Zockern? ...... 76 Energie: E.on bekommt Hilfe aus Brüssel ...... 79 Vor 25 Jahren nahmen Mediziner erstmals eine Seuche wahr, die Konzerne: Infineon spaltet sich auf ...... 80 der Pest des Mittelalters den Rang abläuft. Weltweit starben bis- Jobs: Erfahrene Rentner helfen her 25 Millionen Menschen an Aids. Doch in Deutschland kön- Unternehmern in Not ...... 82 nen Infizierte inzwischen gut und lange mit der Krankheit leben. Steuern: Überforderte Finanzbeamte verschonen die Reichen ...... 84 Angriff von HI-Viren auf eine menschliche Zelle

Medien Trends: ARD warnt vor totalem Bezahlfernsehen / Wirbel um Woody-Allen-Beitrag ...... 86 Fernsehen: Vorschau ...... 87 Blutige Spiele Seite 66 Sportberichterstattung: Zu wenig Distanz, Realistisches Töten, blutiger zu viel Show ...... 88 denn je – „“, ein neues Killerspiel, kommt demnächst Ausland auf den Markt. Entwickelt wird Panorama: Iran betreibt ein zweites Programm es von drei deutsch-türkischen zur Urananreicherung / Türkisches Staudamm- Brüdern, mit einem Budget von projekt bedroht Kulturgüter / Argentiniens 16 Millionen Euro, und es liefert Präsident Kirchner baut seine Macht aus ...... 93 neuen Stoff für die Debatte: Nahost: Israels schwerer Stand im Krieg Kann man solche Spiele ver- gegen die Hisbollah ...... 96

bieten? Soll man es tun? ARTS ELECTRONIC Interview mit Libanons Premierminister Fuad Siniora über die Angriffe auf Beirut und die geplante Friedenstruppe Ausschnitt aus „Crysis“ im Süden des Landes ...... 98

6 der spiegel 32/2006 Der israelische Schriftsteller Meir Shalev über den Libanon-Feldzug von Premierminister Ehud Olmert ...... 100 Schlacht um die Bilder aus Nahost ...... 101 Somalia: Die Mullahs am Horn von Afrika ... 102 Afghanistan: Interview mit dem Uno- Beauftragten Tom Koenigs über die Aufbauhilfe des Westens und den Terror der Taliban ...... 104 Kuba: Fidel Castros schwerster Kampf ...... 106 China: Der prominenteste Patient des Volkskrankenhauses von Yichang ...... 111 Global Village: Ein indischer Straßenjunge steigt zum Filmstar auf ...... 112

Sport Fußball: Die Bundesliga nach WAEL HAMZEH / DPA Luftangriff auf Südbeirut dem WM-Rausch ...... 116

Wissenschaft · Technik Israels Krieg gegen den Terror Seiten 96 bis 101 Prisma: Psychologe Erich Kasten über die Sucht nach Piercings / Trotz zunehmender Kritik bleibt Jerusalems Premier Ehud Olmert bei seinem harten Neues Gerät stört Internet-Telefonate ...... 122 Kurs gegen die libanesischen Hisbollah-Kämpfer. Beiruts Premier Fuad Siniora ver- Medizin: 25 Jahre Aids – langt ein Ende der Angriffe, lehnt aber eine Nato-Friedenstruppe ab. das Leben mit der Seuche ...... 124 Soziologie: SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Alltagsforscher Druck auf Berlin Seite 30 Jean-Claude Kaufmann über die Lust am Genuss und den Esstisch als Opferaltar ...... 128 Die Forderung des israelischen Premierminis- Automobile: Der ostdeutsche ters Ehud Olmert nach deutschen Soldaten Sportwagen „Yes“ ...... 130 im Südlibanon setzt Kanzlerin Merkel und Atomkraft: Wie gefährlich war der Störfall Außenminister Steinmeier unter Druck. Die in Schweden? ...... 131 Bundesregierung will sich aber nicht von

einer Konfliktpartei vereinnahmen lassen. DARCHINGER MARC Kultur Merkel, Steinmeier Szene: Regisseur Fatih Akin erklärt sein Hakenkreuz-T-Shirt / Falk Walters ehrgeizige Pläne mit dem Berliner Admiralspalast ...... 133 Zeitgeist: Das Ende des Musikfernsehens und die neue Pop-Revolution im Internet ...... 136 Interview mit der Viva-Moderatorin Collien Fernandes über den Niedergang Der Unsterbliche Seite 106 des Videoclips ...... 138 Zehn US-Präsidenten hat Fidel Castro erlebt – und viele Essay: Der chilenische Autor Jorge Edwards von ihnen auch überlebt. Vergangene Woche brach der über Fidel Castro und die Intellektuellen ...... 140 Comandante krank zusammen, die Regierungsgeschäfte Literatur: SPIEGEL-Gespräch mit dem musste er abgeben. Doch die letzte Symbolfigur des Kal- US-Schriftsteller John Updike über seinen

JOSE GOITIA / GAMMA / STUDIO X / STUDIO / GAMMA JOSE GOITIA ten Krieges ist längst in die Unsterblichkeit entrückt. neuen Roman „Terrorist“ und den Niedergang der amerikanischen Städte ...... 142 Castro Bestseller ...... 146 Ausstellungen: Der Polit-Künstler Hans Haacke wird mit großen Schauen geehrt ...... 149 Nahaufnahme: Emotionale Szenen bei der New Yorker Premiere des Alles Pop, alles Trash Seite 136 Oliver-Stone-Films über den 11. September .... 150 Das einst kreative Musikfernsehen produziert nur noch Celebrity-Shows, in denen etwa Briefe ...... 8 Küchenmöbel oder Fitnesskeller von Stars wie Impressum ...... 152 Shakira bestaunt werden. Die Kreativen der Leserservice ...... 152 Pop-Branche sind längst weitergezogen. Sie ma- Chronik ...... 153 chen Karriere im Internet. DOCE / REUTERS NACHO Register ...... 154 Personalien ...... 156 Shakira Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 158

Titelbild: Fotos AKG 7 Briefe

Bahn-Sparticket), E-Mail und inzwischen „Bei den Berufsanfängern heute ist es Gott sei Dank auch Videokonferenzen rei- chen müssen, weil die Freunde mittlerwei- genau umgekehrt als bei ihrer 68er Eltern- le nicht nur über das ganze Land, sondern generation. Viele von diesen hatten den die halbe Erde verstreut sind. Staat bekämpfen wollen, in dessen sicheren Söhlde (Nieders.) Christian Wittlif beruflichen Nestern sie heute sitzen. Ihren Vielen Dank an Ihre beiden Autorinnen Kindern, angepasst und karriereorientiert, für den ausgezeichneten Artikel. Ich freue mich, dass der SPIEGEL auch einmal die bleibt zwischen den Praktikantenjobs Schattenseiten der Globalisierung be- höchstens noch das Nest des ‚Hotel Mama‘.“ leuchtet. Stuttgart Werner Seeliger Bernhard Ottenbreit aus Bad Kreuznach in Rheinland-Pfalz zum Titel „Generation Praktikum – Jung, gut ausgebildet, fleißig – SPIEGEL-Titel 31/2006 und ein fester Job in weiter Ferne“ Unser ältester Bewerber um ein Volonta- riat war 46 Jahre alt (üblich sind 25 bis 33 Jahre). Eine Bewerberin bietet an, sechs lich vernünftige, sicherere Berufe wie In- Monate gratis zu arbeiten – auf Probe. An- Ein echtes Dilemma genieur oder Naturwissenschaftler einge- dere Bewerber erzählen von 400 Euro im Nr. 31/2006, Titel: Generation Praktikum – Jung, gut gangen? Ich bin 25 Jahre alt, habe BWL Monat als Ausbildungssalär (branchen- ausgebildet, fleißig – und ein fester Job in weiter Ferne studiert und zwei Jahre auf einer unbe- üblich circa 1500 Euro). Wie wollen Sie als fristeten Stelle gearbeitet. Die habe ich Unternehmer solche Bewerbungen ernst Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie aufgegeben, um mich jetzt sehenden Auges nehmen? Selbst wenn man sich bewusst die Probleme der „Generation Praktikum“ der Generation Praktikum hinzugeben. Ob macht, dass ein Arbeitgeber schließlich mal mit einer Titelstory einer breiten Öffent- es gutgeht, weiß ich noch nicht, aber in den Schritt wagen muss, einem solchen Be- lichkeit nähergebracht haben. Als Nächstes mir ist der Glaube fest verankert, dass man werber die Chance auf ein Ausbildungs- sollte man einmal die „Generation Eltern verhältnis zu geben. Andererseits: von Praktikanten“ genauer betrachten. Wie oft werden nicht bestandene Diese finanzieren nämlich ihre Kinder und Probezeiten in Arbeitszeugnissen damit dieses ausbeuterische System maß- als sechsmonatige Praktika schön- geblich durch Zuschüsse aus ihren Erspar- geschrieben? Arbeitnehmer und nissen, Rentenbezügen et cetera. Große Arbeitgeber stecken in einem ech- Teile der Wirtschaft kalkulieren mit diesen ten Dilemma – wo soll man anfan- Geldern und greifen indirekt auf sie zu. gen aufzuräumen? Bleibt die Frage, mit welchen finanziellen Köln Tom Buschardt Mitteln die heutige „Generation Prakti- kum“ dieses System aufrechterhalten soll. Problem erkannt, auf eine neue München Markus Weißenhorn Ebene gehoben und fundiert ana- lysiert – genau das habe ich von

Dieser Artikel hätte mehr Ausgewogenheit / PETERSBILD GUENTER PETERS einem Titel im SPIEGEL nach fast vertragen können. Wo bleiben die Interes- Praktikantenprotest (in Berlin) zehnjährigem Abonnement erwar- sen der Arbeitgeber? Bei aller Anerken- Schrecklich unpopuläre Neinsager tet. Natürlich sind nicht nur Dauer- nung der Mühen, die ein Studium ohne praktikanten mit Hochschulab- Zweifel verursacht, gestaltet sich das Stu- in dem, wofür man brennt, Erfolg hat – schluss betroffen, sondern Menschen in dentenleben doch etwas lockerer. Um das vielleicht mit Zugeständnissen, aber ir- prekären Arbeitsverhältnissen unterschied- „Partyvolk“ jedoch in den Arbeitsalltag gendwie wird es gehen … lichster Art. Das Angebot für ein (bezahl- hochqualifizierter Fachkräfte einzuglie- Stuttgart Christian Fahrenbach tes!) Praktikum bei SPIEGEL ONLINE dern, bedarf es mehr als eines guten Zeug- habe ich wegen einer befristeten, mit 600 nisses. Sowohl Praktika als auch Zeitver- Vielen Dank für diese Titelgeschichte! Ich Euro Bruttolohn im Monat bezahlten Halb- träge erweisen sich hier als hervorragen- denke, Sie sprechen mir und meiner tagsstelle ablehnen müssen. de Möglichkeit, die Belastbarkeit unter ganzen Generation aus dem Herzen. Was Berlin Désirée Grebel Beweis zu stellen. Schließlich geht es ja Sie in Ihrem Artikel vergessen haben, ist, Initiatorin der Petition Nr. 142 um hochbezahlte Stellen mit hohen An- dass nicht nur Partnerschaften zu Wo- forderungen. chenendbeziehungen werden, sondern Der engagierte Gestus der Autorinnen Laberweinting (Bayern) Stefan Kammermeier dass zur Aufrechterhaltung von Freund- wird am Ende dadurch konterkariert, dass schaften Urlaube (dank Billigflieger und ausgerechnet die Medienbranche als posi- Ulrich Beck irrt. Wir sind nicht die Gene- ration des Weniger, sondern die Genera- tion des Nichts. Für viele geht es nur noch Vor 50 Jahren der spiegel vom 8. August 1956 ums momentane Überleben. Und das nut- Adenauers Intervention gegen internationale Rüstungspläne Bonner zen die Unternehmen gnadenlos aus. Ka- Optimismus. Wehrpflichtdebatte in der evangelischen Kirche Die pitalismus? Find ich scheiße. weltliche Seite. Stillstand in Präzisionskettenwerk Angst vor Ratio- Dachau (Bayern) Lars Leisering nalisierung. DDR feiert Spanischen Bürgerkrieg Plötzliche Begeis- terung. Untergang der „Andrea Doria“ Zweifelhaftes Logbuch. Jeder vierte Bühnenkünstler arbeitslos Entwaffnende Hilflosigkeit Wieso betreibt der Titel Panikmache und beim Arbeitsamt. einseitige Schreibe à la „die Armen, nie- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de mand gibt ihnen einen festen Job“? Wieso oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. wird nicht auf Regionen abseits der at- Titel: Ägyptens Staatspräsident Gamal Abd el Nasser traktiven Metropolen oder auf vermeint-

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zusprechen ist. Einfach nur brav die Klap- berg. Ich bin dann mit 20 Jahren aus der pe zu halten dient dieser Gesellschaft am evangelischen Amtskirche ausgetreten. wenigsten. Jetzt, mehr als 20 Jahre später, weiß ich Dortmund Andreas Möhring durch Ihren Artikel über den Mörder- Rechtsanwalt priester einmal mehr, warum ich für mein Christsein die deutsche Amtskirche nicht Besonders der Teil Ihres Artikel über das brauche! Kinderkriegen spricht mir sehr aus dem Frankfurt am Main Wolfgang Käfer Herzen. Mein Freund will schon länger Kinder, ich aber noch nicht, da ich ja noch An der Geschichte von Pfarrer Bernhard keinen Job habe. Nach Ihrem Artikel den- D. wird die ganze Macht des Evangeliums ke ich ernsthaft darüber nach, ob ich das von Jesus Christus offenbar. Der Apostel mit der Jobsuche gleich bleiben lasse, mich Paulus hätte sich wohl in einem Brief an als Kellnerin fest anstellen lasse und drei die empörte Gemeinde folgendermaßen Kinder in die Welt setze, bevor ich 40 bin dazu geäußert: Was sollen wir nun hierzu und immer noch Praktikantin! Zehn Se- sagen? Sollen wir etwa das Evangelium, mester Studium zum Fenster hinausge- das wir euch gepredigt haben, um der schmissen. Vermutlich habe ich mit drei menschlichen Gerechtigkeit willen ab- Kindern und Sozialhilfe am Ende noch schwächen oder gar ändern? Me genoito! mehr Geld übrig denn als motivierte und (Das sei ferne!)

AZZARI / EMMEVI ROPI qualifizierte Absolventin mit Einser-Ab- Reutlingen (Bad.-Württ.) Matthias Gellert Symbolfigur „San Precario“ (in Mailand) schluss. Und da wundert man sich über die Freundschaften per Videokonferenz hohen Emigrationszahlen … Bayreuth Kerstin Müller Geradezu satirisch tives Beispiel dafür herhalten muss, wie Nr. 30/2006, Panorama: prekär Beschäftigte aus der Not eine Tu- Bundeswehr – Schwulenviertel meiden gend und sogar einen Medienpreis machen Die Macht des Evangeliums können. Angesichts von Zigtausenden Nr. 30/2006, Kirche: Wenn etwas „negative Auswirkungen auf hochqualifizierten, aber unterbezahlten Darf ein Mörder Seelsorger werden? das Ansehen der Bundeswehr hat“, dann Praktikanten, Hospitanten, freien Mitar- ist es ein solcher Rückfall in tiefbraune Zei- beitern in den Medien- und Kulturbetrie- 490-mal vergeben, und der niederträchtigs- ten. Ich hoffe, dass Minister Jung zeitnah ben offenbart der SPIEGEL wenig Hang te Mörder ist frei von Schuld. Das ist an den für das Schreiben verantwortlichen zur kritischen Berichterstattung. Ein selte- Naivität und Gefühlskälte gegenüber den Mitarbeitern den Kopf wäscht und dem ner Mangel an Selbstreferenzialität – oder Opfern nicht mehr zu überbieten. Die betroffenen Kölner Hotel zur Entschädi- liegt es daran, dass diese Zustände überall, Oberen der evangelischen Kirche scheinen gung die Buchung eines festen Kontingents nur nicht beim SPIEGEL existieren? nach der Geburt direkt auf den Kopf ge- für Bundeswehrangehörige zusagt. Das Frankfurt am Main Michael Knoche fallen zu sein. wäre das Mindeste. Frankfurt am Main Thomas Hambek Köln Dr. Bernhard van Treeck Um mit ihren antiken Vorbildern gleich- zuziehen, müssten die modernen Sklaven- Die Kirche hat Mut und Charakter bewie- Als Bundeswehrsoldaten repräsentieren halter für Unterkunft, Verpflegung und sen, obwohl sie eigentlich nur ihrem Auf- uns diese Frauen und Männer weltweit, Kleidung ihrer Praktikanten aufkommen. trag treu geblieben ist. Wüste Schmähun- und nun müssen wir darauf achten, ihr An- Ulm Reinhold Mitschang gen ertragen zu müssen ist wohl der Preis sehen nicht durch „so was“ zu gefährden, für ein Verhalten in der Nachfolge Christi. weil es bedenklich wäre für Dritte, zu se- Presseberichten zufolge nahmen an der Berlin Joachim Schultz-Tornau hen, dass sich Deutsche mit Respekt und Praktikanten-Demo ganze 70 Menschen Achtung begegnen, gleich welche sexuellen teil. Viele Politiker sehen keinen Anlass Ich bin evangelisch getaufter und konfir- Vorlieben sie haben, welche Hautfarbe zum Handeln, da man niemandem verbie- mierter Christ, hatte in der Schule immer oder Religion. Anscheinend empfindet das ten will, „umsonst zu arbeiten“. Bei Be- eine Eins in Religion und war Ordner beim Verteidigungsministerium die bloße An- troffenen gelten weiterhin Allerweltsent- Evangelischen Kirchentag 1979 in Nürn- wesenheit gewisser Minderheiten als stö- schuldigungen wie „Ich habe ja keine an- rend und nicht zu vereinbaren mit Deut- dere Wahl“. Genau, Leute, wenn wir schön schen in Uniform. Bravo, Deutschland! weiter alle an diesem Strang ziehen, reißen Osnabrück Daniela Werner wir es ganz herunter. Vergleiche mit Frank- reich sind da müßig. Es geht aber nicht Es ist geradezu satirisch, wenn fast parallel anders, wir kommen besser mal aus zum Antidiskriminierungsgesetz von der dem Quark! Obwohl Neinsager natürlich Bundeswehr Maßnahmen ergriffen wer- schrecklich unpopulär sind. den, die in ein Lehrbuch über Verstöße ge- Lübeck Sonja Grunwald gen dieses Gesetz gehören. Leider zeigt sich hier wieder, dass an Schlüsselpositio- Um dem Grundübel der Ausbeutung Herr nen offensichtlich häufig nicht mit dem zu werden, sollten die Betroffenen en nötigen Know-how und Fingerspitzenge- masse in Erwägung ziehen, sich wenigs- fühl agiert wird. Auch ohne das Antidis- tens nach Beendigung ihres „Praktikums“ kriminierungsgesetz dürfte es anlässlich unter Bezugnahme auf die Sittenwidrig- der allgegenwärtigen Diskussion über In- keit des Vertrags den Lohn nachträglich tegration aller Minderheiten von öffentli-

zu verschaffen, der ihnen nach §612 des / ARGUS SCHWARZBACH HARTMUT cher Seite eigentlich keinen Anstoß mehr Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zuge- Theologe Bernhard D. für solche Schlagzeilen geben! standen hat und von Arbeitsgerichten zu- Frei von Schuld? Schwabach (Bayern) Oliver Blum

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Aber dass Sie in einem Artikel unter dem schützten Bereichen anzubieten. Wie man Auf dem Rücken der Patienten Deckmantel des „Lobbyismus“ Millionen sich bei Banken mit seiner Kontonummer Nr. 30/2006, Gesundheit: Diabetiker als bildungsfern darstellen, die anmeldet, so sollte man sich auf einem fik- Das diskrete Treiben der Pharma-Lobbyisten alle das „Diabetes-Journal“ lesen und vor tiven Portal der GEZ mit seiner GEZ-Kun- allen Dingen auch noch an das glauben, dennummer anmelden können, um an die Interessante Innenansichten. Ich lerne: An was dort geschrieben steht, finde ich doch ach so begehrten Inhalte zu gelangen. der Schnittstelle zwischen Marktwirtschaft sehr platt dargestellt. Auch ich bin seit zehn Schließlich kann ich auch nicht zur Lotto- und staatlicher Mangelwirtschaft werden Jahren Diabetiker und spritze zu meinem Zentrale gehen und zehn Millionen Euro täglichen Langzeitinsulin fünfmal täglich einfordern, nur weil ich irgendwann in Zu- das Kurzzeitinsulin Humalog. Gerade für kunft vielleicht mal einen Schein ausfülle beruflich stark eingespannte Diabetiker ist und natürlich nicht abgebe, da ja die Be- dieses Kurzzeitinsulin ein Segen. reitstellung genügt. Klettbach (Thüringen) Gerd Kessler Nürnberg Daniel Lukacsev

Tipps an die Öffentlich-Rechtlichen: Ver- Aus Freude und Interesse senden Sie Zusammenfassungen Ihrer Sen- Nr. 30/2006, Chemikalien: Hunderte Strafverfahren dungen ungefragt an alle Faxanschlüsse gegen jugendliche Sprengstoffbastler und erklären Sie dann Faxgeräte zu neuar- tigen Rundfunkempfangsgeräten. Verbrei- Ich bin über die Art und Weise, wie Sie alle ten Sie Ihre Inhalte über RFID-Chips als

ULRICH BAATZ ULRICH Hobbychemiker über einen Kamm scheren, Beilage zu jedem beliebigen Artikel – so Insulinproduktion (in Frankfurt-Höchst) sehr wütend. Nur ein kleiner Bruchteil der werden schließlich auch Hühnerbeine zu Schwer durchschaubares System Jugendlichen, die sich mit der Chemie als neuartigen Rundfunkempfangsgeräten. Hobby beschäftigen, synthetisiert Spreng- Berlin Niels van Wieringen Politiker und leitende Beamte zu begehr- stoffe! Die große Mehrzahl betreibt Chemie ten Gesprächspartnern der Anbieter und aus Freude und Interesse an der Naturwis- Ich soll also Gebühren dafür zahlen, dass ich bekommen Einladungen zu Fingerfood- senschaft, ohne irgendwelche Schuppen, ein Internet-fähiges Gerät besitze, auch Partys. Jeder braucht wohl jemanden, der Briefkästen et cetera in die Luft zu sprengen wenn ich gar keinen Internet-Anschluss ihm zeigt, wie wichtig er ist; gönnen wir es oder ihre Mitmenschen zu gefährden. habe? Tja, dann werde ich mal ganz schnell unseren Politikern. Ich könnte schmunzeln Gars (Bayern) Roman Koutny Kindergeld beantragen. Ich habe zwar noch und weiterblättern, wären da nicht die keine Kinder, aber das Gerät ist vorhanden. überproportional steigenden Zwangsversi- Ich danke für die objektive Thematisie- Berlin Patrick Kowal cherungsabzüge auf dem Gehaltszettel. rung der Problematik, doch leider ist zu München Ulf Rostalski befürchten, dass unser „Kundenkreis“ sel- Natürlich hat die GEZ die wachsende ten den SPIEGEL liest. Zum letzten Absatz Gruppe der Fernsehverweigerer (allein in Bereichsweise ist das Arzneienverord- sei angemerkt, dass es nicht um eine meinem Umfeld kenne ich etwa zwei Dut- nungssystem schwer durchschaubar. Den „Nachstellung“ ging, sondern um die Ana- zend Leute) in ihrem begehrlichen Blick. Pharma-Lobbyisten ist das nicht immer lyse des sichergestellten Stoffs. Bei der Was für ein genialer Einfall ist es da doch, unangenehm. Was wir brauchen – auch Analyse, für die ein Laserstrahl verwen- einfach jeden Computer zum Fernseher zu als Konsequenz ihres punktgenauen Arti- det wird, setzten circa 0,1 Gramm der Pro- kels –, sind keine Schuldzuweisungen, son- be explosiv um und zerstörten das Analy- dern Instrumente, die eine medizinisch segerät. Das Herz der Mitarbeiter blieb nachvollziehbare Verordnung aus einem zum Glück nur kurz stehen, und das Pfei- akzeptierten Medikamentenfundus ermög- fen in den Ohren verschwand auch bald. lichen. Diese Funktion kann eine jährlich Kiel Stefan Garbereder neue Positivliste erfüllen, die von einem Amt für Katastrophenschutz unabhängigen Gremium aus Wissenschaft- lern, Ärzten und Krankenkassenökono- men zusammengestellt und mit der Phar- Empfangs-Chip für Neugeborene ma-Industrie kostenbewusst verhandelt Nr. 30/2006, Internet: wird. Das würde dem medizinischen und Streit um Rundfunkgebühren für Handys und Notebooks finanziellen Wohl des Patienten dienen.

Hamburg Dr. med. Eckhardt Stoof Dienstleistungen von Behörden kann man ADVISION teilweise nur mit Internet-fähigen Compu- Werbung der Gebühreneinzugszentrale In Italien gehe ich in eine Apotheke und be- tern in Anspruch nehmen; der Staat inves- Waffenschein für Küchenmesser komme 30 Tabletten Diclofenac 50 mg für tiert Millionen, um seine Dienste im Inter- 4,15 Euro. In Deutschland muss ich zum net anzubieten; jetzt, da man quasi ab- erklären! Noch effektiver wäre es, jedem Arzt für das Rezept, zahle 10 Euro – der hängig ist von der Technik, schlägt der Neugeborenen einen (gebührenpflichtigen) Arzt rechnet zwischen 30 und 50 Euro mit Staat zu. Mit der Argumentation, dass Han- Empfangs-Chip zu implantieren – zwecks der Krankenkasse ab, in der Apotheke zah- dys oder PC im Prinzip in der Lage seien, „informationeller Grundversorgung“. Ich le ich 5 Euro Selbstbeteiligung und meine über Internet Radio und TV zu empfangen werde mich jedenfalls weigern, für etwas Krankenkasse noch mal 14,95 Euro für 20 und diese deshalb gebührenpflichtig ma- zu bezahlen, was ich nicht haben will. Tabletten Diclofenac. Müssen wir dem- chen, könnte man auch für jedes Küchen- Frechen (Nrdrh.-Westf.) Dr. Ulrike Claudi nächst alle ins Ausland, um deutsche Medi- messer einen Waffenschein verlangen. kamente zu normalen Preisen zu erwerben? München Rüdiger Eisele Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Heimweiler (Rhld.-Pf.) René-Jean Roesler schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] Es ist seit je gängige Praxis im Internet, Dass „Lobbyismus“ in jedem Bereich un- Inhalte, die nur einem bestimmten Perso- In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet seres Lebens stattfindet, ist ja nichts Neues. nenkreis zugänglich sein sollen, in ge- sich eine Beilage des SPIEGEL-Verlags/Abo, Hamburg.

14 der spiegel 32/2006 Panorama Deutschland JOCHEN ZICK / KEYSTONE Apotheke, Ministerin Schmidt

Preiskampf auf dem Arzneimittelmarkt fällt zusammen mit der Expansion des Medika- mente-Versandhändlers DocMorris nach Deutschland. Die Aktiengesellschaft, die

HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS SCHWARZBACH HARTMUT ihre günstigen Pillen noch aus den Nieder- landen verschickt, hat in Saarbrücken eine MEDIKAMENTE Apotheke übernommen und baut dort ein Logistikzentrum. „Wenn das Festpreissys- tem fällt, wollen wir schon am Markt prä- Startschuss zum Preiskampf sent sein und von Deutschland aus agie- ren“, sagt DocMorris-Chef Ralf Däinghaus. on der Öffentlichkeit fast unbemerkt hat die Bundesregierung Dagegen klagen vor dem Verwaltungsgericht Apotheker, die Vim Eckpunktepapier zur Gesundheitsreform die Freigabe Discountpreise und Apothekenketten fürchten: Nach deutschem der Arzneimittelpreise festgeschrieben. Statt fester Abgabeprei- Recht dürfen nach wie vor nur sie Apotheken betreiben, nicht se für Medikamente sollen demnach nur noch Höchstsummen aber AGs. „Seit wann ist deutsches Recht nichts mehr wert?“, vorgegeben werden. Die aber könnten, wenn der Plan Gesetz fragt der Vorsitzende der Bundesvereinigung Deutscher Apo- wird, von den Apotheken beliebig unterboten werden – zum thekerverbände, Heinz-Günter Wolf. Saarlands Gesundheits- Nutzen von Patienten und Kassen. Ob die Apotheker ihre Ge- minister Josef Hecken (CDU), dem die Genehmigung der Doc- winnspannen knapper kalkulierten oder sich zusammenschlössen, Morris-Filiale 20 – erfolglose – Anzeigen wegen Rechtsbeugung um bei Pharmaindustrie oder Kassen bessere Konditionen her- eingebracht hat, pocht jedoch auf die Niederlassungsfreiheit in der auszuholen, liege dann in ihrem Ermessen, so eine Sprecherin von EU: „Es kann nicht sein, dass sich die Apotheker weiterhin gegen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Der Startschuss zum jeglichen Wettbewerb abschotten“, so Hecken.

IRAN-KRISE DOPING Netz von Hintermännern zu enttarnen. Vertrauliche Unterlagen zeigen, dass die Fischers Warnruf Roter Retter Guardia Civil bei dem Madrider Arzt Eufemiano Fuentes gefälschte Epo-Mittel enige Wochen vor Ablauf des ie Ermittler in der spanischen Do- aus China gefunden hat. Die Polizei kon- WUltimatums an Teheran wächst in Dpingaffäre, in die auch der deutsche fiszierte zudem Anabolika-Präparate, die Berlin die Sorge, der Konflikt um Irans Radprofi Jan Ullrich verwickelt ist, sind aus „geheimen Labors“ stammen. Aus Atomprogramm könne eskalieren. Diplo- offenbar dabei, ein weltumspannendes abgehörten Telefonaten schließen die maten im Auswärtigen Amt sahen vorige Fahnder, dass Fuentes mit „unabhängi- Woche „wenig Hoffnungszeichen“, dass gen kriminellen Gruppen“ von Sportme- Teheran bis Monatsende einlenken wer- dizinern in Europa zusammengearbeitet de. Von Ex-Außenminister Joschka Fi- hat, die sich etwa bei der Beschaffung scher werden sie in ihrem Pessimismus unerlaubter Medikamente gegenseitig bestärkt: Fischer berichtete nach seiner unterstützten. Zudem sind die Ermittler Iran-Reise, er sei „tief skeptisch“, ob dabei zu klären, warum bisher so wenige Teheran die Aussetzung der Urananrei- Dopingsünder überführt wurden. Die cherung – Hauptbedingung des Westens Polizei fand vier Briefumschläge mit ei- für Verhandlungen – akzeptieren werde. nem roten Pulver; es enthielt ein Ge- Zu befürchten sei keine offene Absage, misch aus Stoffen, die unter anderem aber eine „nicht zureichende Antwort“ synthetisches Epo angreifen, so dass es auf die Forderungen des Uno-Sicherheits- in Tests nicht mehr zu entdecken ist. Die rats. Für diesen Fall droht eine Uno- Fahnder vermuten, dass sich Radler die Resolution vom Juli Zwangsmaßnahmen Substanz vor Kontrollen in die Hände an. Derzeit schienen „die Radikalen die gerieben und beim Wasserlassen in den Oberhand zu haben“, so Fischer. Der Urin gemischt haben. Inzwischen ermit-

Westen solle dringend neue Initiativen BERND WEIßBROD / DPA telt die Staatsanwaltschaft Bonn den starten, um noch auf Iran einzuwirken. Ullrich deutschen Strang der Affäre.

der spiegel 32/2006 17 Panorama

GLÜCKSSPIEL Breitseite gegen Wettanbieter er seit Monaten schwelende Streit um Dprivate Sportwetten eskaliert. Das Re- gierungspräsidium Chemnitz plant, dem Sportwettenveranstalter Bwin (früher Bet- andwin) den Geschäftsbetrieb in Sachsen zu untersagen. Dies schließt auch ein Wer- beverbot ein. Bislang hatte sich Bwin für sein Internet-Geschäft in Deutschland auf eine Lizenz für den Betrieb im ostsäch- sischen Neugersdorf berufen. Die Wett- erlaubnis wurde noch in den letzten Mo- naten der DDR einem heutigen Bwin- Geschäftspartner erteilt. Die sächsischen

Behörden erklären nun diese Lizenz für ROSE / GETTY IMAGES MARTIN unzureichend. Auch das niedersächsische Werder-Bremen-Spieler in Bwin-Trikots Innenministerium geht gegen den Wett- anbieter vor, der Hauptsponsor von Werder Bremen ist. Die nicht beachtet werden, drohen ein Zwangsgeld von 50000 Euro Behörde will dem Verein untersagen, beim ersten Auswärtsspiel und Strafverfahren gegen Club-Verantwortliche. Mit ihrem strik- der neuen Saison am kommenden Wochenende gegen Hanno- ten Vorgehen setzen die Behörden einen Beschluss der Länder ver 96 Trikots mit Bwin-Werbung zu tragen. Sollte die Verfügung um, private Wettanbieter konsequent zu bekämpfen.

GESUNDHEITSREFORM KOMMUNEN Kampf um Korrekturen Teure Nazis eftiger Widerstand in mehreren m zu verhindern, dass der Hambur- Hzentralen Punkten regt sich in der Uger Neonazi Jürgen Rieger ein leer- CDU/CSU gegen den Kompromiss zur stehendes Hotel in der niedersächsi- Gesundheitsreform. Die Vereinbarung schen Stadt Delmenhorst kauft und als erfülle „keineswegs die Notwendigkeiten Tagungszentrum für Rechtsextremisten

und im Vorfeld genährten Hoffnungen FREY / IMAGO THOMAS nutzt, will eine Bürgerinitiative das 100- auf eine umfassende Strukturreform“, Fuchs Betten-Haus nun selbst erwerben. Auch heißt es in einer Bewertung des Parla- die Behörden wollen das Vorgehen un- mentskreises Mittelstand der Unionsfrak- Papier. Der beschlossene Anstieg der terstützen. Die Stadt habe ein Treu- tion. Mittelständlerchef Michael Fuchs Beiträge um 0,5 Prozentpunkte müsse hand-Konto für die Initiative „Für Del- fordert Korrekturen in mehreren Punk- durch eine Senkung der Beiträge zur Ar- menhorst“ eingerichtet und sei bereit, ten. So müssten Versicherte wesentlich beitslosenversicherung auf 3,75 Prozent den fehlenden Teil der Kaufsumme zu stärker als bisher selbst vorsorgen, etwa kompensiert werden. Für Ärger sorgt tragen, bestätigte ein Sprecher der Kom- durch private Absicherung von Sport- auch die Frage eines finanziellen Aus- mune. Obwohl es noch kein Nutzungs- unfällen. „Der Leistungskatalog muss gleichs für Krankenkassen mit über- konzept für das Gebäude gebe, habe stärker auf medizinisch notwendige durchschnittlich vielen alten und kranken auch das niedersächsische Innenminis- Kernleistungen begrenzt werden“, so das Mitgliedern: Die Union will laut einem terium bereits zugesagt, die städtische Arbeitspapier ein „vereinfachtes Verfah- Ausgabe zu genehmigen. Vorbild für die ren“, in dem nur das Alter der Versicher- Aktion ist der Erfolg einer Bürgerinitia- ten eine Rolle spielt. Die SPD hingegen tive aus dem niedersächsischen Verden. drängt auf ein Verfahren, das sich am Ge- Dort wollte Rieger vor zwei Jahren die sundheitszustand jedes Versicherten ori- Stadthalle kaufen, kam aber nicht zum entiert. Die Unionspläne seien durch die Zuge, weil die Bürger das Gebäude für gemeinsamen Eckpunkte nicht gedeckt, 200000 Euro selbst erwarben. Nun hat klagt ein führender Genosse. „Sie stehen Rieger nach eigenen Angaben 3,4 Mil- im Widerspruch zu unseren Verabre- lionen Euro für den Komplex in der dungen.“ Die Union beharrt auf ihrem Innenstadt geboten. Das Geld stammt Vorschlag: Ziel müsse ein möglichst un- nach Einschätzung von Verfassungs-

NEIL TINGLE / AGENTUR FOCUS / AGENTUR NEIL TINGLE bürokratisches Verfahren sein, sagt CSU- schützern auch aus Erbschaften verstor- Risikosportler Gesundheitsexperte Wolfgang Zöller. bener Nationalsozialisten.

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SPORTSTARS „Brittas Chance“ Regine Eichhorn, 45, PR-Ex- pertin und Managerin von Franziska van Almsick, über die Vermarktungsmöglichkei- ten der neuen Schwimmwelt-

PICTURE-ALLIANCE / DPA PICTURE-ALLIANCE rekordlerin Britta Steffen, 22

SPIEGEL: Innerhalb einer Woche stieg Britta

Steffen bei der Europameisterschaft in Buda- / DPA KOSZTICSAK pest vom Nobody zum Schwimmwunder Steffen nach ihrem Weltrekord über 100 Meter Freistil in Budapest auf. Noch nie aber wurde die Leistungs- explosion einer deutschen Sportlerin auch so kritisch beäugt. Eichhorn: Deshalb muss Britta in die Offensive: Blut- und Haar- Ist das ein ungünstiger Zeitpunkt für ein Wunder? proben abgeben, sie sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen. Eichhorn: Das ist sicher so. Seit der jüngsten Häufung von Das wäre der richtige Ansatz. Dopingskandalen herrscht ein verschärfter Generalverdacht. SPIEGEL: Kann sie dann eine neue Franzi werden? Aber damit muss Britta jetzt umgehen. Eichhorn: Franziska van Almsick war 13, noch ein süßes SPIEGEL: Wie? Mädchen, als ihre Karriere begann, ihr Aufstieg war ein Phä- Eichhorn: Sie darf sich nicht verstecken. Sie sollte sich allen Fra- nomen. Das ist nicht wiederholbar, erst recht nicht jetzt in die- gen, allen Zweiflern stellen, sonst wird es für sie sehr schwie- sem Verdachtsklima. Aber genau darin liegt Brittas Chance: Sie rig, ihren Erfolg zu vermarkten. könnte sich hervortun als erste Sportlerin, die dem Publikum SPIEGEL: Unschuldsbeteuerungen von Sportlern werden, spä- ihre Sauberkeit beweist. Und das wäre dann natürlich eine testens seit Jan Ullrich, kaum mehr ernst genommen. Geschichte mit großem Potential.

VERBRAUCHERSCHUTZ BOMBENFUNDE Liberale Freunde Zweifel an Sprengkraft usgerechnet die bislang eher unternehmerfreundliche FDP ine außergewöhnlich komplizierte Ermittlungsaktion haben Awill künftig den Kampf um die Stärkung der Verbraucher- Edie zwei in Regionalzügen gefundenen Kofferbomben rechte zu einem zentralen Anliegen der Partei machen. Bei ausgelöst. So rätselten die Fahnder am Freitagabend noch, ob einem Treffen mit Verbrau- die in Dortmund und Koblenz entdeckten Sprengsätze über- cherschutzverbänden erläu- haupt funktionsfähig waren. Die kriminaltechnische Unter- terte Parteichef Guido Wes- suchung der Bomben, die aus Propangas- und Benzinflaschen, terwelle die neue Linie. Glühbirnen und Neun-Volt-Batterien bestehen, dauerte an. Ku- Auch beim nächsten Bundes- rios erscheint den Ermittlern, dass nur der Dortmunder Bom- parteitag im kommenden benkoffer Stärkepulver enthielt. Die Substanz, die sich in einer Jahr soll das Thema, mit kleinen weißen Tüte mit arabischen Schriftzeichen befand, dem die Liberalen im politi- sollte womöglich einen chemischen oder biologischen Angriff schen Terrain der Grünen vortäuschen. Ob die Tüte aus dem Libanon stammt, wie teils wildern, im Mittelpunkt berichtet, oder auch in Deutschland erhältlich ist, wird nun stehen. „Verbraucherrechte überprüft. Möglicher- sind schließlich Bürgerrech- weise sei die Spur eine te, und die sind den Libe- bewusst gelegte Finte, ralen schon immer wichtig“, so Fahnder, denn die sagt Hans-Michael Gold- Bauart der Bomben sei mann, Fraktionssprecher der für islamische Terroristen

MARKUS SCHREIBER / AP MARKUS FDP für Ernährung und ungewöhnlich. Aus der Westerwelle Landwirtschaft. Die Ver- Auswertung der Aufnah- braucherschutzverbände men von Überwachungs- freuen sich bereits über die neue politische Unterstützung. kameras hatte sich bis Thilo Bode, Chef der Initiative Foodwatch, lobt: „Das hilft uns Freitagabend offenbar sehr.“ Der Sprecher des Bundesverbands der Verbraucher- keine heiße Spur erge- zentralen, Carel Mohn, sieht „viele Anknüpfungspunkte“. Es ben. Die beiden Züge sei „spannend“ zu beobachten, wie sich die FDP künftig ver- hatten in kurzen Abstän- halte. In der Vergangenheit habe die Partei schließlich zusätz- den am selben video- liche Verbraucherrechte meist als unnötige bürokratische Be- überwachten Gleis am

lastung für Unternehmen oder als Wettbewerbsnachteil für ZEITUNG BILD Kölner Hauptbahnhof deutsche Produzenten abgelehnt. Bombe am Dortmunder Bahnhof gehalten.

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ARBEITSMARKT Das kleine Wunder Endlich gute Nachrichten vom Arbeitsmarkt: Nach Jahren der Krise entstehen wieder neue Jobs – vor allem dank der florierenden Exportindustrie und der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. Die Große Koalition dagegen tut vieles, um die konjunkturellen Aussichten wieder zu verdüstern.

nter anderen Umständen wäre aus Thadeus Mazurek wahrscheinlich Uauch einer der rund 2,8 Millionen arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger gewor- den. Es war Ende April, als seine Firma, bei der er mehr als 20 Jahre beschäftigt war, Insolvenz anmeldete. Mitte Juni stellte sie schließlich die Pro- duktion ein. Da wurde Mazurek gerade 59 Jahre alt. Für Arbeitnehmer seines Alters bedeutete das bislang meist den endgülti- gen Abschied vom Erwerbsleben. Kaum ein Unternehmen stellt heutzutage noch Über-50-Jährige ein. Selbst Mazureks Beraterin bei der Göp- pinger Agentur für Arbeit glaubte nicht mehr an eine Zukunft im Erwerbsleben. Zu schlecht sei die Lage in der Region. Der traditionelle Modelleisenbahnbauer Märklin reduzierte massiv Stellen. Der Automobilzulieferer Bellino kämpft ums Überleben. Die persönlichen Daten des gelernten Schmelzers Mazurek nahm die Beraterin noch auf, sein auf einem blauen Bogen ausgefülltes Bewerberprofil schob sie kur- zerhand in den Reißwolf. „In Ihrem Alter müssen Sie sich irgendwie anders durch- wurschteln. Einen Job gibt’s sicher nicht mehr“, sagte sie. Doch die Umstände haben sich geän- dert. Mazurek kümmerte sich in Eigenregie um einen neuen Arbeitsplatz – und fand ihn. Just an jenem Dienstag vergangener Woche, an dem der Chef der Bundesagen- tur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, die positivsten Arbeitsmarktdaten für Juli im Vergleich zum Vormonat seit der Wieder- vereinigung bekanntgab, trat Mazurek bei einem örtlichen Malereibetrieb seinen ers- ten Arbeitstag an. Es tut sich was am deutschen Arbeits- markt – endlich. Nach Massenentlassun- gen und Pleitewellen hat auf historisch niedrigstem Beschäftigungsniveau der Auf- bau von sozialversicherungspflichtigen Ar- beitsplätzen begonnen. Allerdings: Die neuen Jobs stehen auf den Ruinen der alten. Zwischen den Jahren 2000 und 2005 sind rund zwei Millionen sozialversicherungs-

pflichtige Arbeitsplätze verlorengegangen. PRESS JOCHEN ZICK / ACTION

Vizekanzler Müntefering, Kanzlerin Merkel Wem gehört der Siegespokal? 22 durch alle Branchen. Das Hotel- und Gast- stättengewerbe stellte 3000 Mitarbeiter zu- sätzlich ein, nachdem es in den fünf Jahren zuvor etwa 37000 Stellen vernichtet hatte. Die Energie- und Wasserversorgungsun- ternehmen schufen 4000 neue Arbeitsplät- ze. 2001 dagegen gab es noch 10000 Jobs mehr in dieser Branche. Im Gesundheits- wesen, zu dem auch die boomende Well- ness- und Fitnessbranche zählt, entstan- den zusätzlich 8000 neue Jobs. In der Logistik, dem Telekommunikations- und IT-Sektor kamen 29 000 Arbeitsplätze hinzu, aber damit nur etwa die Hälfte der zuvor verlorengegangenen. Am meisten profitierten jedoch die so-

RUDI MEISEL / VISUM genannten unternehmensnahen Dienstleis- Arbeiter in der Bauindustrie: Kein Ruck, aber ein Windhauch tungen, zu denen auch die Zeitarbeits- branche gehört. Dort sind gut 170000 Men- Wenn nun 54 000 neue Vollzeit-Jobs im kratie sei es doch vor allem, die „das Mo- schen mehr angestellt als noch vor einem Vergleich zum Vorjahresmonat gemeldet dell Deutschland erneuere“. Jahr. Randstad, Adecco, Manpower, DIS werden, ist das ein Beschäftigungswunder Seine Stellvertreterin, Ute Vogt, wollte und Co. beschäftigen inzwischen erstmals im Nanoformat. sich einen Seitenhieb auf den Koalitions- mehr als eine halbe Million Menschen – Dennoch ist die Entwicklung bemer- partner nicht verkneifen: „Die CDU glaubt und keineswegs nur Hilfsarbeiter. Rund 70 kenswert. Nachdem die Nürnberger Bun- immer, wenn ihr Name irgendwo drauf- Prozent der Zeitarbeiter sind Facharbeiter desagentur für Arbeit in den vergangenen steht, entstehen neue Arbeitsplätze.“ Das oder Akademiker. Monaten ihre Zahlen auch durch Umstel- sei natürlich Unsinn. Zwar fielen im exportorientierten ver- lungen der Statistik etwas aufhübschen Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Cle- arbeitenden Gewerbe insgesamt rund konnte (SPIEGEL 25/2006), beruht der ment ist alles recht, um seinen zuletzt arg 90000 reguläre Jobs weg. Einzelne Bran- jüngste Rückgang der Arbeitslosenzahl ramponierten Ruf wieder etwas aufzuhel- chen jedoch bauten auch dort kräftig Ar- erstmals auf einer konjunkturellen Bele- len. Der politische Ruheständler hält es beitsplätze auf. Im Maschinenbau waren bung. Es ist kein Ruck, der durch Deutsch- nämlich für erwiesen, dass der von ihm zuletzt 8000 Menschen mehr beschäftigt land geht – aber ein Windhauch der Ver- verantwortete Umbau der Bundesanstalt als noch vor einem Jahr. Zuvor waren al- änderung ist es schon. für Arbeit zu einer schnelleren Vermitt- lerdings auch mehr als 250000 Jobs weg- Gegenüber dem Vorjahr sank die Zahl lung geführt habe – und somit gewisser- rationalisiert worden. der Arbeitslosen um fast eine halbe Million, maßen er selbst „der Hauptfaktor für die „Seit Februar wächst die Stammbeleg- was nach all den Schreckensmeldungen der sinkende Arbeitslosigkeit“ sei. schaft, und die Tendenz zeigt weiter nach vergangenen Jahre für Erleichterung im Unstrittig ist dagegen eins: Das kleine oben“, freut sich Dieter Brucklacher, Prä- Lande sorgt. „Ich nenne das eine Wende Beschäftigungswunder zieht sich quer sident des Verbandes Deutscher Maschi- zum Besseren, jawohl“, sagte der sonst eher vorsichtige Bundesagentur-Chef Weise. Prompt folgte der unvermeidliche wie Trendwende oder Strohfeuer? Juni 2000 Juni 2001 erbitterte Streit um die Vaterschaft des 5,0 überraschenden Erfolges: War es Gerhard 27 826 27 817 Schröders Reformpolitik, die nun ihre Juni 2002 Früchte trägt – oder ist „die kleine Sensa- Juni 1999 27 571 tion“, wie Bankvolkswirte angesichts der Sozialversicherungs- Zahlen frohlockten, der neuen Kanzlerin 27 483 pflichtig Beschäftigte 4,5 Angela Merkel zuzuschreiben? Oder ge- in Tausend hört der Siegespokal womöglich keinem von beiden? Sofort drängte die Berliner Polit-Promi- Juli 2006 nenz selbst vor die Mikrofone. Die Nach- 4 386 143 richt war einfach zu gut, zu schön, zu wich- 4,0 Juni 2003 tig, um den Kollegen aus der zweiten oder 26 955 dritten Reihe die Deutungshoheit zu über- lassen: „Die Politik der Großen Koalition trägt Früchte“, lobte Wirtschaftsminister 3,5 Arbeitslose Juni 2004 Michael Glos sich selbst. Seine Chefin, in Millionen Bundeskanzlerin Angela Merkel, unter- 26 524 Mai 2006 brach ihre Dolomitenwanderung, um sich Juni via „Bild“ an ihr missmutiges und von der 2005 26 228 Arbeit der Großen Koalition nicht sonder- 26 178 lich begeistertes Volk zu wenden: „Ich 3,0 freue mich über diese Entwicklung.“ GROSSE SPD-Chef Kurt Beck, ebenfalls per pe- ROT-GRÜN des im Urlaub unterwegs und seit Wochen Quelle: BA KOALITION wie vom Erdboden verschluckt, konnte da nicht länger schweigen. Die Sozialdemo- 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

der spiegel 32/2006 23 HARRY MELCHERT / DPA (L.); GYSSELS / IFA-BILDERTEAM (R.) / IFA-BILDERTEAM (L.); GYSSELS / DPA MELCHERT HARRY Boombranchen Maschinenbau, Gesundheit: Die neuen Jobs stehen auf den Ruinen der alten nen- und Anlagebau (VDMA). Sogar die Unübersehbar ist ein Trend zur Portio- Außenstehende eine Chance. Es wird wie- seit Jahren schwächelnde Baubranche nierung der Arbeitskraft: „Mit der Ein- der verdient – wenn auch Staat und Un- fasst Tritt und konnte den massiven Stel- führung der Minijobs hatten wir plötzlich ternehmen sich das Gehalt oftmals teilen. lenabbau der Vergangenheit zumindest deutlich mehr Erwerbstätige, obwohl sich So kommen auch der Drogerie-Kette verlangsamen. Und die Metall- und Elek- die Anzahl der Arbeitsstunden nicht än- Rossmann bei ihrer aktuellen Job-Offensi- troindustrie meldet derzeit 240000 offene derte“, sagt Flaig. ve staatliche Fördermaßnahmen zugute. Stellen – so viel wie seit den Boomjahren Die Neuordnung des Arbeitsmarktes Für 120 neue Filialen und ein neues Logis- 1990/91 nicht mehr. hatte genau dies zum Ziel. Qualifizierungs- tikzentrum sucht Rossmann in diesem Jahr Quer durch die Republik werden Jobs maßnahmen, Eingliederungszuschüsse, mehr als 1000 Mitarbeiter und setzt dabei geschaffen. Die Unternehmensberatung Kombilohnmodelle für ältere Arbeitneh- auch auf staatlich geförderte Qualifizie- Accenture plant in diesem Jahr 1200 neue mer, Lockerung des Kündigungsschutzes rungsmaßnahmen und 400-Euro-Jobs. Stellen zu besetzen, die Sandwich-Kette für kleine und mittlere Unternehmen, Ab- Auf diese Weise ist auch Monique Subway 2000, Ikea sucht für neue Möbel- weichungen vom Flächentarifvertrag – all Schwartze zur Drogerie-Kette gekommen. häuser 1000 Mitarbeiter. Lufthansa meldet diese Veränderungen am Arbeitsmarkt Nach einer Ausbildung zur Bürokauffrau bundesweit gar 2400 Neueinstellungen – trugen offenbar dazu bei, dass sich Einstel- jobbte Schwartze, 21, in einer Schlachterei, trotz hoher Kerosinpreise. lungen für die Unternehmen auch dann zerlegte dort Puten, musste den Knochen- Selbst Unternehmen, die eigentlich Ar- rechnen, wenn die Volkswirtschaft ledig- job aus gesundheitlichen Gründen aufge- beitsplätze abbauen wollen, halten nun lich um 1 bis 1,5 Prozent wächst, glaubt ben und wurde zur Hartz-IV-Empfängerin. plötzlich nach neuen Mitarbeitern Aus- Flaig. „Die Berufsberatung der Arbeitsagen- schau. Noch im Februar plante beispiels- Für den Betroffenen waren diese Refor- tur hat mir sehr geholfen“, sagt die junge weise der Leverkusener Chemiekonzern men oft keine Veränderungen, die sie als Frau aus Güntersberge in Sachsen-Anhalt. Lanxess, im kommenden Jahr fast 1500 Ar- Besserungen empfanden. Aber die Exper- Sie absolvierte bei Rossmann zunächst eine beitsplätze zu streichen. Jetzt, fünf Mona- ten nicken zufrieden: „Die Beschäfti- sogenannte betriebliche Trainingsmaßnah- te später, folgt die Wende. Das Unterneh- gungsschwelle zu senken war natürlich me, bezog also weiter Arbeitslosengeld II, men sucht nicht nur technische Ver- auch ein Ziel der Hartz-Reformen“, sagt danach wurde sie als 400-Euro-Jobberin triebsmanager, auch Marketingfachleute, Bert Rürup, Chef des Sachverständigen- übernommen. Kommende Woche beginnt Chemielaboranten und Anwendungstech- rates. „Man denkt nur immer, das wirkt sie eine dreijährige Ausbildung mit einem niker sind gefragt. „Wir können solche auf Knopfdruck“, so der Wirtschaftsweise. Monatsgehalt von 540 Euro im ersten Lehr- hochqualifizierten Jobs nicht mehr intern Aber mit Zeitverzögerung sei nun durch- jahr. Bewährt sie sich weiter, soll sie später besetzen“, stöhnt der für Personal zustän- aus ein positiver Effekt eingetreten. als Kauffrau eingestellt werden. dige Lanxess-Sprecher Ralph Esper. Die Personalchefs bestätigen allerorten, Die Gewerkschaften dürfen sich eben- Der Motor der Entwicklung auf dem Ar- dass es ihnen heute leichter fällt, Neuein- falls als Gewinner fühlen. Ihre Politik der beitsmarkt ist vor allem der Export. Hier stellungen vorzunehmen. Wichen sie frü- moderaten Lohnabschlüsse trägt Früchte, wird seit Jahren klotzig verdient. Der un- her auf Überstunden der Stammbeleg- zumal andernorts kräftig zugelangt wurde. ter Schmerzen vollzogene Arbeitsplatz- schaft aus, bekommen zunehmend auch Während in Deutschland die Reallöhne abbau hat die Firmen schlank und wettbe- seit Mitte der neunziger Jahre gesunken werbsfähig gemacht. Nun gehen die Ma- sind, explodierten sie in den europäischen nager daran, wieder neu zu investieren. Nachbarstaaten geradezu. Zwischen 1995 Mit Zeitverzögerung hat die gute Export- und 2004 kletterte das Einkommen der Be- konjunktur damit auch die Beschäftigten im schäftigten beispielsweise in Schweden um Inland erreicht. Wobei es hier nicht zu einer 25,4 Prozent, in Großbritannien um 25,2 Ausweitung des Arbeitsvolumens kam. Prozent und in Frankreich immerhin noch Die geleisteten Stunden verteilen sich um 8,4 Prozent. Das Ergebnis: Deutschland heute auf mehr Schultern, was darauf hin- wurde attraktiver, auch deshalb, weil die deutet, dass viele einst reguläre Jobs nun anderen teurer wurden. von Teilzeitbeschäftigten geleistet werden. An der strukturellen Arbeitslosigkeit än- „Dass die Beschäftigungsschwelle zuneh- dert das vorerst wenig. Denn jene, die jetzt mend sinkt, liegt vor allem an dem völlig wieder in Arbeit kommen, sind fast aus-

umstrukturierten Arbeitsmarkt“, sagt denn PLAMBECK HANS-CHRISTIAN schließlich gutausgebildete und mobile auch Gebhard Flaig, Beschäftigungsexper- Bundeskanzler Schröder (2003) Menschen. Es sind die Kurzzeitarbeitslo- te des Ifo-Institutes in München. Beschäftigungsschwelle gesenkt sen, die maximal ein Jahr ohne Job leben.

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Vor allem die weniger gut Qualifizierten könnte eine weitere Lockerung des Kün- Auch den Kündigungsschutz würde Mer- bleiben in der Arbeitslosigkeit gefangen, digungsschutzes sein. „Ein rigider Kündi- kel gern weiter lockern, um so vor allem für sie hält der Arbeitsmarkt kaum etwas gungsschutz bedeutet, dass auf dem Bar- für Einsteiger und Ältere die Chance zur bereit. Im Jahresdurchschnitt werden 2006 lohn eine Art Schattenlohn in Höhe der Beschäftigung zu erhöhen. Als Drittes wird nach Berechnungen des Instituts für Ar- nicht bekannten Kosten der Trennung die Einführung eines Kombilohns diskutiert, beitsmarkt und Berufsforschung sogar wei- liegt, was Neueinstellungen erschwert,“ der genau diesen beiden Problemgruppen tere 120000 Menschen das Heer der Lang- sagt auch Rürup. mit Hilfe staatlicher Lohnsubventionen zu zeitarbeitslosen vergrößern. Die Regierung, Bislang konnte sich die Merkel-Regie- einem Job verhelfen soll. Personen unter 25 sagt Rürup, sei nicht entbunden, sich wei- rung zu derlei Reformen nicht durchrin- Jahren und über 50 Jahren sollen nach die- terhin um diese Klientel zu kümmern. gen. Mit ihrer bisherigen Finanz- und Wirt- sen Überlegungen einen Zuschuss bekom- Die Spaltung des Arbeitsmarktes in Ar- schaftspolitik hat die Große Koalition sogar men, wenn die Arbeitsaufnahme gelingt. beitslose erster und zweiter Klasse ist of- eher das Gegenteil dessen getan, was vie- Angepeiltes Ziel ist die Schaffung 100000 fensichtlicher denn je: Allein in diesem le Experten ihr vorschlugen: neuer Beschäftigungsverhältnisse. Jahr werden sich rund 170000 Menschen in • Kaum steigen die Ausgaben für neue Die Debatte um einen gesetzlichen Min- die „stille Reserve“ und damit aus der BA- Maschinen und Anlagen, will die Re- destlohn allerdings ist der Kanzlerin eher

Jobmotor –90 000 Verarbeitendes Gewerbe UMFRAGE: ARBEITSLOSENZAHLEN Zeitarbeit –25 000 Handel, Wartung von Kfz. u. Gebrauchsgütern „Die Zahl der Arbeitslosen lag Der Arbeitsmarkt nach –21 000 Kredit- und Versicherungsgewerbe im Juli gegenüber dem Vorjahr Branchen –16 000 Baugewerbe um 451 000 niedriger und ist auf 4,4 Millionen gesunken. Wie wird STELLENABBAU –13 000 Öffentliche Verwaltung sich die Arbeitslosigkeit während Mai 2006, Zahl der sozialversicherungs- –4000 Erziehung und Unterricht der Amtszeit der Großen Koali- pflichtig Beschäftigten gegenüber dem Vorjahresmonat –4000 Bergbau tion weiterhin entwickeln?“ Land- und Forstwirtschaft, Fischerei +2000 gleichbleibend 47% Gastgewerbe +3000 STELLENAUSBAU Energie- und Wasserversorgung +4000 wird wieder 30% zunehmen Gesundheits-, Veterinär- und Sozialwesen +8000 Sonstige Dienstleistungen, private Haushalte +9000 wird weiter 22% sinken Verkehr und Nachrichtenübermittlung +29 000 Quelle: BA TNS Infratest für den SPIEGEL vom 1. bis 3. August; Zeitarbeit, Grundstücks-, Wohnungswesen u. a. +171 000 rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“

Statistik verabschieden, weil sie nach dem gierung von Bundeskanzlerin Merkel unheimlich. Würden die 7,50 Euro Wirk- Arbeitslosengeld keinen Anspruch auf das im Rahmen der Unternehmensteuer- lichkeit, die der DGB fordert, droht ein Arbeitslosengeld II besitzen. Dadurch sinkt reform die Abschreibungsregeln ver- Massenexitus der kleinen Beschäftigungs- zwar die Arbeitslosenquote – Arbeit haben schlechtern. Das jedoch ist Gift für jede verhältnisse. „Das ist mit mir nicht zu ma- diese Menschen weiterhin nicht. Das Pro- Investition. chen“, sagte Merkel erst kürzlich im Kreis blem verfestigt sich nur. • Kaum steigt die Zahl der offenen Stellen ihrer Berater. Vor allem die wachsende Zahl der Ar- spürbar an, werden die Krankenkassen- Da der DGB vor allem den SPD-Ar- beitslosengeld-II-Empfänger schnell wie- beiträge um einen halben Prozentpunkt beitsminister regelrecht bedrängt, die un- der zu integrieren müsste das vorrangige steigen. Die ausufernden Kosten des teren Einkommensgruppen vor Armuts- Ziel der Regierung sein. Denn gerade die Gesundheitswesens werden damit wei- löhnen zu bewahren, ist Merkel mittler- Ausgaben für jene Klientel sprengten in terhin dem Faktor Arbeit aufgebürdet – weile skeptisch, ob eine Einigung gelingen der Vergangenheit die öffentlichen Haus- und nicht der Allgemeinheit. Der An- kann. Kein Mindestlohn sei besser als ein halte. Für das kommende Jahr plant Fi- reiz, reguläre, sozialversicherungs- zu hoher, lautet daher ihre Parole. nanzminister Peer Steinbrück (SPD) für pflichtige Jobs zu schaffen, sinkt. Merkels Ankündigung, sie werde die Arbeitslosengeld II Ausgaben in Höhe von • Und kaum ist auch die Konsumlaune in Hartz-Reform im Herbst einer „grundle- 21,4 Milliarden Euro ein, während für die- Deutschland, nicht zuletzt durch die genden Überholung“ unterziehen, ließ die ses Jahr die tatsächlichen Kosten auf 26,5 Fußballweltmeisterschaft, einigermaßen Stallwachen im Regierungsviertel zusam- Milliarden Euro geschätzt werden. in Gang gekommen, wird die Mehr- menzucken. Noch immer liegen die staatlichen Trans- wertsteuer erhöht – und zwar gleich um SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler ent- ferleistungen für Lebensunterhalt, Woh- drei Prozentpunkte. Allein deswegen rüstete sich über die „Superklugen“, die nung und sonstige Ausgaben häufig höher schätzen Konjunkturexperten, wird die nun schon wieder nach einer General- als der Lohn für einen niedrig entlohnten Wirtschaft 2007 bestenfalls um bis zu 1,4 revision verlangten, kaum dass der SPD- Arbeitsplatz. Entsprechend gering ist bei Prozent wachsen. Arbeitsminister ein „Hartz-Optimierungs- vielen der Anreiz, einen solchen anzuneh- Zum Herbst sollen Reformen am Ar- gesetz“ vorgelegt habe. men. „Der Staat müsste die Leistungen re- beitsmarkt im Zentrum der Innenpolitik ste- Nein, sagt Stiegler, eine Generalrevision duzieren und gleichzeitig Arbeitsplätze im hen. Merkel will die Hartz-IV-Gesetze einer könne es nicht geben: „Das ist offenbar Niedriglohnsektor schaffen“, sagt Norbert Revision unterziehen – mit dem Ziel der nur ein Tarnmantel für Sozialabbau, und Walter von der Deutschen Bank. Kürzung von Leistungen. Denn je höher dafür stehen wir nicht zur Verfügung.“ Ein weiteres Instrument, die Langzeit- diese Zahlungen sind, desto geringer fällt Sebastian ramspeck, Wolfgang Reuter, arbeitslosigkeit effektiv zu bekämpfen, der Arbeitsanreiz aus. Janko Tietz

der spiegel 32/2006 25 FRANK BOXLER FRANK Wahlkreisbesucher Glos: Er gibt den Leuten das Gefühl, dass er einer von ihnen geblieben ist

gemacht. Viel Ärger wäre ihm erspart ge- KABINETT blieben, auch mancher Spott. Aber er wäre nicht mehr Michael Glos gewesen, jedenfalls nicht der, den die Leu- Minister für Heimatschutz te, die ihn gewählt haben, mögen und schät- zen. Es gibt wenige, die bei ihrer Partei- Wirtschaftsminister Michael Glos hat keine klaren fachlichen Vor- basis so angesehen sind wie Glos. Er spricht die einfache, deftige Sprache der Heimat, er stellungen – und ist damit, aus Sicht der Kanzlerin, leicht zu führen. besitzt den Humor der Franken, auch ihre In der CSU ist er ihr wichtigster Verbündeter. Von Marc Hujer Schlitzohrigkeit. Glos ist Provinzialist, und genau darin liegt seine große Stärke. r geht da jetzt durch, ganz fröhlich, Es sind starke Worte für einen, der als Der gelernte Müllermeister gehört zu zweimal 20 Kilometer zu Fuß, getra- der schwächste Minister im Kabinett Mer- einem Typus von Politikern, der Zu- Egen vom Valleri, Vallera der Heimat- kel gilt. Niemand ist in der Großen Koali- stimmung nicht über Grundsatzreferate musik, umringt von Wählern, die schon tion bisher so scharf kritisiert worden wie oder große Reden herstellt. Er wirkt durch zum Frühstück das erste Glas Frankenwein er, von den Medien, von Wirtschaftsfüh- seine Präsenz, seine bodenständige, volks- zu sich nehmen. rern, auch die Kabinettskollegen haben zu tümliche Art. Er gibt den Leuten das Ge- Es ist Donnerstag gegen zehn Uhr auf tuscheln begonnen über den Michel, den fühl, dass er einer von ihnen geblieben ist, dem Weingut Kirch, und es haben sich sie manchmal den „Trauerglos“ nennen. das stellt Gemeinsamkeit her, auch über 160 Menschen eingefunden, die bei der Aber in diesem Augenblick sieht es nicht den Wahltag hinaus. Es gibt nicht viele Po- 13. „Tour de Glos“ mitwandern wollen. so aus, als ob Glos das sonderlich viel aus- litiker im Kabinett von Angela Merkel, die Auf der Terrasse ist man inzwischen bei machen würde. Berlin liegt von Unter- über diese Gabe verfügen. Silvaner und Spätburgunder angelangt. franken aus gesehen unendlich weit weg. Es hätte also für die Kanzlerin schlim- Gleich läutet die Glocke für den längsten Die Leute nicken und klatschen, sie mer kommen können, als Michael Glos im Ortstermin der Politik. Zwei volle Tage hat schimpfen auf die Presse, die immer so Amt des Wirtschaftsministers zu haben. Er Michael Glos für seine Runde durch den schlecht über ihren Michael Glos schreibe. sorgt nie für Unruhe durch Vorschläge, Wahlkreis in diesem Jahr reserviert, und „Du bist der beste Wirtschaftsminister, den die den Koalitionsfrieden beeinträchtigen der Bundesminister für Wirtschaft und wir je hatten“, ruft einer. könnten, an dem ihr so viel liegt. Er fällt Technologie ist von morgens bis abends Wer Glos in diesen Tagen begleitet, der auch nicht durch Erklärungen zur Wirt- dabei. Wandern, Trinken, Quatschen, bis bekommt eine Ahnung, warum er sich in schaftspolitik auf, die man als Kritik ver- zu zehn Stunden am Tag. seinem Amt in der Scharnhorststraße in Ber- stehen muss. Den Kompromiss in der Ge- Bevor es losgeht, greift sich Michael lin-Mitte so schwertut. Glos hätte bedeuten- sundheitspolitik, der bei allen Kundigen Glos ein Mikrofon und sagt, dass alles, was den Vorgängern wie Ludwig Erhard oder für Kopfschütteln sorgte, verteidigte Glos einen nicht umbringe, einen bekanntlich Otto Graf Lambsdorff nacheifern können. Er als „viele kleine Schritte in die richtige härter mache. „Manche müssen sich erst hätte für ordnungspolitische Grundsätze Richtung“. Die Erhöhung von Steuern und noch an mich gewöhnen in Berlin. Ich bin streiten können, gegen die Mehrwertsteuer, Abgaben nannte er einen „nicht zu ver- weder Lambsdorff II noch Clement IV“, gegen die faulen Kompromisse der Großen meidenden Schönheitsfehler“. ruft er in die Menge. „Bevor ich mich Koalition. Das hätte im Kreis der Wirt- Tatsächlich könnte Merkel derzeit nichts grundlegend ändere, höre ich lieber auf.“ schaftslenker und Notenbankchefs Eindruck weniger gebrauchen als einen zweiten

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Ludwig Erhard. Der Vater des Wirt- hohe Herr aus Berlin“, wie er halb spöt- Am Anfang als Minister hat Glos für schaftswunders lebte im Dauerkonflikt mit tisch, halb ehrfurchtsvoll genannt wird. kurze Zeit versucht, so zu sein, wie er Bundeskanzler Konrad Adenauer. Unter Der Tross bewegt sich langsam auf den dachte, dass man als Wirtschaftsminister Journalisten schuf er sich einen Kreis Gasthof „Zum Goldenen Löwen“ zu. Um sein müsse. Er hat alle möglichen Ein- von Verbündeten, die als „Brigade Erhard“ zwölf gibt es Mittagessen. Aber vorher ladungen angenommen, zu Industrietagen, firmierten und jederzeit bereit waren, kommt Glos noch auf Helmut Kohl zu Verbandstagungen, Wirtschaftskonferen- gegen den Kanzler zu Felde zu ziehen. In sprechen. zen. Er besorgte sich eine Biografie von einer Bundestagsdebatte erhob er den Zu Kohl, sagt Glos, habe er immer ein Ludwig Erhard und legte sie demonstrativ „Führungsanspruch“ in der Wirtschafts- gutes Verhältnis gehabt. Kohl habe schließ- auf den Schreibtisch. Er sagte in Inter- politik. lich in Franken seine Lehre gemacht; es gab views, dass es sein Ziel sei, an Lambsdorff Glos liegt so etwas fern. Von den Män- also so etwas wie gemeinsame Wurzeln. Als anzuknüpfen, daran wolle er seine Amts- nern in der CSU-Spitze ist er der Einzige, Kohl 1976 Fraktionsvorsitzender im Bun- zeit messen lassen. mit dem die Kanzlerin rechnen kann, auf destag wurde, versuchte er Glos als Ver- Es ging nicht gut. Wenn er sich ver- den wirklich Verlass ist. Er hält ihr die Un- bündeten in der CSU zu gewinnen. Aber sprach oder einen Begriff verwechselte, zufriedenen aus der Schwesterpartei vom Glos war klar, auf welcher Seite er stand. stand es anderntags in der Zeitung. Seine Leib. Er ist ihr bester Mann an der bayeri- „Selbst wenn ich etwas wüsste, ich würde es Kalauer, die in der bayerischen Heimat gut schen Basis, zu der ihr der Zugang fehlt. Ihnen nicht sagen“, blockte er Kohl ab. ankommen, lösten Befremden aus, auch Man kann auch sagen, er ist Merkels Mi- Glos holt aus, er erinnert daran, dass er Kopfschütteln. nister für Heimatschutz. Merkel schon als Generalsekretärin emp- Glos sagt, er habe sich vorgenommen, sich jetzt wieder mehr auf Bayern zu konzentrieren, seinen Wahlkreis und die Partei. Er werde nicht mehr jeden Termin annehmen, er wolle nicht mehr wild herumjetten in der Republik. Je mehr sich Glos wieder um die Provinz kümmert, desto wichtiger wird er für die Kanzlerin. „Mich hat die CSU ins Kabinett entsandt. Wenn ich meine Position im Kabinett fes- tigen wollte, müsste ich nur noch Termine in Bayern machen“, sagt Glos. Die Kaffeepause beginnt, Glos begrüßt die Spargelprinzessin im Ort, er macht ein Familienfoto mit ihr und der Familie. Es war ein Tag ohne große Zwischenfälle, es war ein typischer Tour-Tag. Das Handy klingelt, die Europäische Zentralbank hat den Leitzins erhöht, und die „Tagesschau“ möchte dazu ein Kurz- interview. Drei Männer vom Bayerischen

AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Rundfunk (BR) sind schon mit der Kamera Unionspolitiker Merkel, Stoiber: Glos kann in die CSU hineinhorchen unterwegs. Sie sollen sich schon einmal vor der Stadtmauer von Prichsenstadt aufbau- Er kann in die CSU hineinhorchen und fohlen habe, dass sie im Fraktionsvorstand en, sagt Glos, er sei dann gleich bei ihnen. aus ihr heraus berichten; seine wahre Qua- eng zusammengearbeitet hätten, ohne Der Minister springt ins Auto, schaltet lifikation für einen Kabinettsrang ist hier große Kämpfe, ohne bleibende Verletzun- „B5 aktuell“ an und hört den Sprecher zu suchen. Er ist Merkels Informant und gen, dass sie sich auch jetzt in der Regie- gerade noch sagen, dass die Europäische Beschützer, ihr Zuträger und Verteidiger. rung immer eng abstimmen würden. „Mit Zentralbank (EZB) wieder an der Zins- Deshalb kann er im kleinsten Kreise auch Angela Merkel ist das etwas ganz ande- schraube gedreht habe. Ungefähr weiß er Sätze sagen wie diesen: „Die Angie lässt res“, sagt Glos, „ich habe schon vor, hinter auch schon, was er dazu sagen wird, etwas mich niemals fallen.“ und neben ihr gesessen. Ich werde immer von „inflationären Tendenzen“, Realzins Die „Tour de Glos“ führt durch Ort- nach der Sache entscheiden.“ Das klingt und „stabilem konjunkturellem Aufwärts- schaften, die außerhalb Bayerns kaum ganz anders als der Satz, den er damals zu trend“. Er beherrscht das Vokabular der jemand kennt. Es wird nicht viel geredet Kohl sagte. Finanzwelt inzwischen ganz gut. über Politik, schon gar nicht über das, was Seine Karriere war stets ein Grenz- Dann steht er vor der Kamera. Er hat in Berlin los ist, es geht um die Zukunft der gang. Er liebte die Provinz, aber gleich- seine Wanderkluft gegen einen dunkel- Landwirte, neue Bauprojekte, den Gang zeitig war es ihm dort auch etwas eng. blauen Anzug getauscht, er sieht jetzt sehr der Geschäfte vor Ort. Die Politik war ein Fluchtweg in ein an- seriös aus. „Herr Glos“, fragt der Mann Glos hat seine Wanderkluft an, festes deres Leben; eines jenseits von seinem vom BR, „sind Sie glücklich über die Schuhwerk, eine Allzweckhose und ein Heimatort Prichsenstadt, dieser Idylle in Zinserhöhung der EZB?“ Glos sagt seinen altes Polohemd. Es schlabbert alles ein we- Unterfranken, in der es bis heute Nacht- Text auf, er hat es eilig. nig, es sieht aus, als hätte er abgenommen wächter gibt. Die Politik sollte aus dem Die wahre Politik ruft, Glos wird zum in den letzten Wochen, als würde ihm Müllermeister einen Weltmann machen, „Schlußhock“ in Gerolzhofen erwartet, schon jetzt die Provinz besser tun als das aus dem lieben Michel den großen Glos. dem Abschluss des Wandertages. Er ist ewige Hocken in Berlin. Er hat sich ir- Sie sollte ihn befreien, aus der provin- schon überfällig, aber dann schaut er an gendwo in den Lindwurm der wandern- ziellen Enge, von der „Stolz“-Mühle, dem sich herunter, mustert den blauen Anzug den Wähler eingereiht. Er überholt nicht, Familienbetrieb, den er nur übernommen und entscheidet, dass er sich noch einmal er marschiert einfach nur mit. Das ist jetzt hatte, weil er der Älteste war und sein umziehen muss. „Die Leute sollen sich seine Aufgabe, mitmachen, zeigen, dass Vater starb, als er gerade einmal zehn nicht erschrecken“, sagt er, „ich will da man sich treu geblieben ist, auch als „der Jahre alt war. nicht wie ein Fremder aussehen.“ ™

28 der spiegel 32/2006 THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK.NET KOEHLER THOMAS Außenminister Steinmeier*: „Jeder Schnellschuss verbietet sich“

AUSSENPOLITIK Das große Zaudern Israels Premierminister setzt die Bundesregierung öffentlich unter Druck: Die Deutschen sollten Soldaten in den Libanon schicken. Doch die Kanzlerin will die Bundeswehr nicht zum Instrument der israelischen Politik machen. Es ist nicht der einzige Dissens zwischen Jerusalem und Berlin.

iemand konnte unliebsame Fragen In der Großen Koalition verspürt oh- Doch böte sich nicht andererseits auch so gut abwimmeln wie Gerhard nehin niemand ein gesteigertes Bedürfnis, die Gelegenheit, die Vergangenheit zwar NSchröder. „Das meinen Sie nicht an einem der letzten großen Tabus der nicht vergessen zu machen, aber doch in ernst“, raunzte er unbequeme Gesprächs- deutschen Außenpolitik zu rühren. Das Ei- den Hintergrund zu drängen? Es wäre der partner gern an, zog tief an seiner Zigarre serne Kreuz der Bundeswehr im Nahen wohl letzte Schritt, Deutschland als eine – und wechselte das Thema. Auch der Osten, in unmittelbarer Nähe zu Israel? von vielen Mittelmächten im Kreise der Völ- plötzliche Übergang ins vertrauliche Herr- Für viele ist das auch sechs Jahrzehnte kerfamilie uneingeschränkt zu etablieren. schafts-Duzen verwirrte die meisten Inter- nach Krieg und Holocaust undenkbar. Die Kanzlerin zaudert. Sie weiß, dass es viewer. „Was wollt ihr denn jetzt wirklich sehr viel einfacher ist, in den Konflikt hin- wissen?“, frotzelte er – und hatte die Fra- UMFRAGE: UNO einzugeraten, als am Ende wieder heraus- ge erfolgreich vermieden. zufinden. Und sie fürchtet eine öffentliche Schröders Nachfolgerin im Kanzleramt „Ist die Uno für die Beilegung Debatte – wie die meisten Koalitionäre. greift bislang eher zum politischen Stan- von Konflikten heute noch „Wir sagen im Augenblick weder ja noch dardrepertoire, wenn sie sich öffentlich nein“, brachte der SPD-Außenpolitiker nicht festlegen will. In der Außenpolitik wichtig?“ Hans-Ulrich Klose die Stimmung ging das eine Zeit lang gut. Deutsche Sol- seiner Kollegen auf den Punkt. daten im Libanon? „Die Frage stellt sich JA 71% Seit Freitag vergangener Woche für mich im Augenblick nicht“ – mit Flos- ist klar, dass sich das schwierige keln wie dieser ließ die Kanzlerin das heik- NEIN 25% Thema nicht länger vermeiden lässt. In ei- le Thema weitgehend vertrocknen. nem Interview machte Israels Premiermi- TNS Infratest für den SPIEGEL vom 1. bis 3. August; nister Ehud Olmert zum ersten Mal öffent- rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: * Auf dem Weg zur Libanon-Konferenz in Rom am „weiß nicht“ lich, wozu er die Kanzlerin bislang nur in 26. Juli. vertraulichen Telefonaten gedrängt hatte:

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Die israelische Regierung möchte eine Erst in einem dritten und letzten Schritt so wie in der Auseinandersetzung um die Entsendung der Bundeswehr. „Ich wün- gelte es, über die deutsche Beteiligung zu internationale Schutztruppe. sche mir auch eine Beteiligung deutscher entscheiden. Merkel bevorzugt ein ziviles Geht es nach Israel und den USA, soll Soldaten“, sagte Olmert der „Süddeut- Engagement der Deutschen beim Wieder- die internationale Truppe praktisch noch schen Zeitung“ und: „Ich habe Kanzlerin aufbau des Libanon, mag aber auch den während der Kämpfe in den Südlibanon Angela Merkel mitgeteilt, dass wir absolut Einsatz deutscher Soldaten nicht ganz aus- einrücken und letztlich die Entwaffnung kein Problem haben mit deutschen Solda- schließen. der Hisbollah durchsetzen, die Israel allein ten im Südlibanon.“ Ihre Position unterscheidet sich damit so offenkundig schwerfällt. „Wir wollen Mit seinem ungewöhnlichen Vorstoß grundsätzlich von der israelischen. Olmert richtige Soldaten und keine Pensionäre“, machte der kriegführende Premier klar, will die Deutschen in dem blutigen Kon- forderte Olmert in der vergangenen Wo- dass gut 60 Jahre nach der Ermordung flikt mit den Hisbollah-Terroristen auf sei- che in der britischen „Financial Times“. Es von sechs Millionen Juden offenbar alle ne Seite ziehen. Die Bundeswehr, fordert gehe um eine „Armee mit Kampfverbän- Bedenken zerstoben sind, Enkel und Ur- er, wäre „Teil der Truppe, die Israel ver- den“. Nach der geltenden Resolution 1559 enkel der Nazis in Bundeswehruniform an teidigt“. Doch Berlin will genau das ver- des Uno-Sicherheitsrats wäre diese Ent- der Landesgrenze zu begrüßen. „Wenn meiden und sich zudem auf keinen Fall waffnung eigentlich die Aufgabe des liba- Deutschland zur Sicherheit des israelischen von Jerusalem unter Zeitdruck setzen nesischen Staates. Volkes beitragen kann, dann Frankreich hingegen, das wäre das eine lohnende Auf- sich als ehemalige Mandats- gabe für Ihr Land“, lockte Ol- macht als Wahrer der Interes- mert. „Ich wäre sehr glücklich sen des Libanon versteht, war darüber, wenn Deutschland einstweilen strikt dagegen, sich beteiligte.“ dass eine Schutztruppe in den Um etwaige Verständnis- heißen Konflikt hineinläuft. Es fehler zu vermeiden, legte Is- dürfe nichts gegen den Willen raels Botschafter in Berlin um- der ansonsten machtlosen Bei- gehend nach. Bei Olmerts Ein- ruter Regierung geschehen, lassung handele es sich um forderte Paris. nichts weniger als eine „histo- Berlin gehört zwar nicht rische Aussage“, interpretierte dem Sicherheitsrat an, beteiligt Schimon Stein noch am selben sich aber intensiv an allen Ver- Tag die Äußerungen seines suchen, den Konflikt zu lösen. Regierungschefs. Am Mittwochabend telefonier- Doch was als ungewöhn- te Außenminister Steinmeier

liche und großherzige Geste / AFP FURST DAVID zehn Minuten lang mit seiner des Vertrauens angesehen Israels Premier Olmert (M.)*: „Absolut kein Problem“ Kollegin Condoleezza Rice. werden könnte, wird von der Amerikaner und Franzosen Berliner Regierung als kaum müssten bei ihren Verhandlun- verhüllter Versuch der Israe- gen über eine Uno-Resolution lis gewertet, die Deutschen zum Libanon so rasch wie zum Dienst an der Waffe zu möglich fertig werden, drängte pressen. In mehreren vertrau- er – und beide Seiten näherten lichen Telefonaten widerstand sich dann auch tatsächlich an, die Kanzlerin bislang Olmerts die Uno-Botschafter trafen sich Drängen. Sie erklärte dem am Freitag gleich dreimal. Ein israelischen Regierungschef, gemeinsamer Resolutionsent- dass die Bundeswehr bei allem wurf sei sehr nahe, erklärte das Wohlwollen nicht da weiter- US-Außenministerium danach. machen könne, wo die israe- Steinmeier skizzierte im lische Armee sich derzeit Gespräch mit Rice außerdem, befinde. Zu einem so frühen wie man die Abfolge von Zeitpunkt könne und wolle sie Militäreinsatz und Waffen- keine Entscheidung über eine ruhe ineinander verschränken

Entsendung deutscher Militärs / REUTERS GIL COHEN MAGEN könne. Nach einer Feuer- in die Krisenregion her- Israelischer Panzer*: Bundeswehr als „Teil der Truppe“? pause, so die Idee, könnte beiführen. ein Vorauskommando einmar- Ihre Reihenfolge sei eine andere. lassen. „Angesichts der Bedeutung dieser schieren, das den Status quo an der Front Zunächst gelte es, Art und Umfang der in- Frage verbietet sich jeder Schnellschuss“, überwacht. Danach folgten Vereinbarun- ternationalen Friedenstruppe exakt zu de- sagt Außenminister Frank-Walter Stein- gen über einen Waffenstillstand und dann finieren. Die Mandatierung müsse von allen meier, „und zwar in die eine wie in die die gesamte Schutztruppe. Damit hätten getragen werden – Israelis und Libanesen. andere Richtung.“ sich beide Seiten zumindest etwas durch- Zudem dürfe eine Friedenstruppe eben Natürlich wollen auch Merkel und ihre gesetzt. nicht Konfliktpartei werden, sondern solle Koalitionäre die Sicherheit Israels – aller- Über die Frage, wie in diesem Szenario im Wortsinne als „friedliche Truppe“ in dings nicht zu Jerusalems Konditionen. An die Hisbollah zu entwaffnen wäre, mag der Pufferzone eine Wächterfunktion aus- keinem Punkt offenbart sich der Konflikt man sich in Berlin keine Gedanken ma- üben. Gleichzeitig müsse die libanesische zwischen den beiden Regierungen dabei chen. Die ganze Schutztruppe würde ohne- Regierung ertüchtigt werden, die Entwaff- hin erst so spät einrücken, dass die Israe- nung der Hisbollah fortzusetzen. Deutsch- * Oben: mit dem Generalstabschef Dan Halutz und Ver- lis „bis dahin alles längst erledigt“ hätten, teidigungsminister Amir Perez am vergangenen Dienstag; land sei bereit, Ausbildungshilfen für die unten: auf Patrouillenfahrt nahe der libanesischen Grenze hofft man im Auswärtigen Amt. „Kein libanesische Armee und Polizei zu leisten. am vergangenen Donnerstag. Bundeswehrsoldat will die Hisbollah ent-

der spiegel 32/2006 31 „Herr Olmert wünscht sich ganz offen- sichtlich alliierte Truppen für seinen Kampf gegen die Hisbollah.“ Diese Zurückhaltung gilt auch für die Union. So bremst der bayerische CSU-In- nenminister Günther Beckstein: „Es wäre für mich eine Horrorvorstellung, wenn ein Deutscher gezwungen wäre, auf einen is- raelischen Soldaten zu schießen.“ Auch diejenigen unter den Parlamenta- riern der SPD, die einem Bundeswehrein- satz bisher offen gegenüberstanden, wur- den nach Olmerts Forderungen hellhörig. „Wir können eine Friedenssicherung nicht nur im Interesse Israels machen“, kritisiert der SPD-Nahostkenner Mützenich. Ein

BEN CURTIS / AP BEN CURTIS deutsches Kontingent dürfe sich niemals Hisbollah-Sympathisanten*: Wer soll die Miliz entwaffnen? „vorschreiben lassen, in welche Richtung die Gewehre zielen“. waffnen“, sagt Steinmeiers Staatsminister Woche erwägen die beiden SPD-Abgeord- An der sozialdemokratischen Basis Gernot Erler (SPD). neten Rolf Mützenich und Niels Annen wünscht man sich ohnehin mehr Zurück- Doch nicht nur die Differenzen um die eine Nahost-Reise, die sie auch nach Da- haltung der Regierenden gegenüber Israel. deutsche Beteiligung sorgen für Spannun- maskus und Beirut führen soll. In Kreisversammlungen werden lebhafte gen zwischen Israel und Deutschland. Vor allem das Auswärtige Amt will das Debatten geführt und Resolutionen verab- Auch die Diplomatie der Merkel-Regie- Vertrauenskapital nutzen, das die rot-grüne schiedet, die Israel scharf kritisieren. rung in der Region wird in Jerusalem mit Bundesregierung während der Irak-Kon- Reinhold Jost, Generalsekretär der Saar- wachsendem Unbehagen gesehen. troverse in den arabischen Hauptstädten SPD, verlangt statt Zögern Klarheit: „Unter In der vergangenen Woche startete aufgebaut hat. „Wir halten uns – wenn man Freunden müssen auch deutliche Worte Steinmeier eine regelrechte Charmeoffen- uns fragt – für eine vermittelnde Rolle be- der Kritik möglich sein.“ Ein Engage- sive in Richtung Syrien, eines der gefähr- reit“, sagt Erler. Die Strategie des Außen- ment deutscher Soldaten ist für Jost tabu – lichsten Feinde Israels. Olmert reagierte ministers sei es, „wenig spektakulär, aber „das ist das Absurdeste, was man sich vor- betont kühl. „Wenn Deutschland mit Sy- am Ende ganz verdienstvoll“ zu agieren. stellen kann“. rien reden will, wird niemand Deutschland Kleine Reibereien mit Israel werden dafür Im Schatten der politischen Debatte daran hindern“, sagte er und wies gleich- in Kauf genommen. sondierte die Bundeswehr ihre eigenen zeitig darauf hin, dass Syriens Regierung Die Regierung weiß, dass uneinge- Möglichkeiten. Untersuchungen im Ver- seiner Ansicht nach „kindisch, rücksichts- schränkte Solidarität mit Israel auch im teidigungsressort zeigten, wie sehr die los und unverantwortlich“ sei. Bundestag nicht unbedingt populär ist. Für zahlreichen Auslandseinsätze die Truppe Doch die Deutschen ließen sich davon die FDP stellt der ehemalige Fraktionschef belasten. „Ich sehe nicht, wo die Ressour- nicht beeindrucken. Bereits vor zwei Wolfgang Gerhardt auch nach der Olmert- cen herkommen sollen“, sagt CDU-Vertei- Wochen hatte Steinmeier seinen Nahost- Bitte fest: „Wir sollten dort keine bewaff- digungsexperte Bernd Siebert. Direktor Horst Freitag und den Syrien- neten Soldaten stationieren.“ Und der Die übrigen Europäer kennen die Nöte Kenner Volker Perthes nach Damaskus ge- grüne Fraktionsvize Jürgen Trittin sagte: der Deutschen und scheinen sie bislang zu schickt. Ihr Eindruck: Die Syrer fühlten akzeptieren. In den Sitzungen mit seinen sich vom Westen, allen voran den Ameri- Kollegen ist Steinmeier bisher nicht als kanern, isoliert, seien aber bei ein wenig Drückeberger angeprangert worden. Entgegenkommen durchaus zu Gesten der Im Gegensatz zu den Deutschen sind Öffnung bereit. Mit etwas diplomatischem viele der EU-Partner prinzipiell zur Ent- Geschick ließe sich der Einfluss der Syrer sendung von Truppen bereit: Spanien, Ita- auf die Hisbollah womöglich im Sinne ei- lien, Frankreich, die Slowakei und Schwe- ner Verständigung nutzen. den etwa. Paris dachte gar schon laut über Steinmeier nahm die Anregung auf. den Umfang von 20000 Mann, die franzö- Mehrmals telefonierte er mit seinem syri- sische Führung und den Auftrag der Trup- schen Kollegen Walid al-Muallim. Im Kreis pe nach. „Sie muss auch das Feuer eröff- der EU-Außenminister warb er dafür, das nen dürfen“, erklärte Verteidigungsminis- fertig verhandelte Assoziierungsabkom- terin Michèle Alliot-Marie. men mit Syrien zu beschleunigen und da- Nur wenn er selbst das Thema militäri- mit dem armen Staat wirtschaftliche Hilfe scher Beteiligung anspricht, bekommt der in Aussicht zu stellen. Syrien, schmeichel- Deutsche Probleme. Bei seinen zahlrei- te der Deutsche, „ist ein zu wichtiger re- chen Telefonaten machte sich Steinmeier gionaler Akteur, um ihn auf Dauer außen auch ganz unverbindlich auf die Suche vor zu lassen“. nach islamischen Militärkontingenten – da- Die Nachricht kam an. Beim jüngsten mit die Libanesen nicht das Gefühl hätten, Telefonat der beiden Außenminister lud von einer westlichen Besatzungsarmee Kollege Muallim Steinmeier „wärmstens“ heimgesucht zu werden. Er fragte seine nach Damaskus ein – auch im Namen des Kollegen in Ankara, Kairo und Riad nach Präsidenten Baschar al-Assad. Die Deut- ihren Plänen und wurde dabei immer mit

schen sahen sich ermutigt. Für nächste PRESS / ACTION INSIDE FOTO der gleichen Gegenfrage konfrontiert: US-Außenministerin Rice „Und was macht ihr?“ Ralf Beste, Horand Knaup, Roland Nelles, René Pfister * Beim Stürmen des Uno-Gebäudes in Beirut am 30. Juli. So rasch wie möglich verhandeln

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gischen Einheizer der Parteien, sie gleichen teressen seiner Partei geradezu missach- CDU ein bisschen einem Fußballfan, der hem- tet. „Wir brauchen einen Generalsekretär, mungslos jubelt, wenn die eigene Mann- der das Profil der Union schärft. Was wir schaft ein Tor geschossen hat, und sofort sicher nicht brauchen, ist einen zweiten Merkels Foul brüllt, wenn die anderen am Ball sind. Regierungssprecher“, sagt der Chef der Pofalla ist der erste Generalsekretär, von baden-württembergischen CDU-Fraktion, dem man sagen könnte, dass er hurra Stefan Mappus. Sekretär schreit, wenn seine Leute ein Eigentor ge- Andere sehen das genauso, auch wenn In der Union wächst der Unmut schossen haben. sie den Namen Pofalla nicht in den Mund Den kümmerlichen Kompromiss zur nehmen. „Immer mehr Menschen fragen über den als handzahm empfundenen Gesundheitsreform feierte er als Triumph sich, wofür die CDU eigentlich noch CDU-Generalsekretär Ronald für die Union. Das Adenauer-Haus ver- steht und was sie von der SPD unter- Pofalla. Viele wünschen sich eine schickte umgehend eine SMS an hohe scheidet“, sagt Unionsfraktionsvize Wolf- klarere Abgrenzung zur SPD. CDU-Funktionäre: „Durchbruch geglückt. gang Bosbach. Systemwechsel eingeleitet. Erfolg für die Der Generalsekretär darf sich auch an- ie vielleicht auffälligste Eigenschaft CDU“, die bei vielen Empfängern für gesprochen fühlen, wenn der nordrhein- von Ronald Pofalla ist seine Unauf- Bestürzung sorgte. Dass Angela Merkel westfälische CDU-Chef Jürgen Rüttgers Dfälligkeit. Seit 1990 sitzt er im Bun- nahezu dieselben Worte wählte, machte anmerkt, man müsse nicht jeden Kom- destag, genauso lange wie Angela Merkel. die Sache in deren Augen nicht besser. promiss der Koalition „als großen Durch- 16 Jahre sind normalerweise Zeit genug Als eine Unionsabgeordnete dem Gene- bruch feiern“. für einen Politiker, sich ein eigenes Profil ralsekretär vor ein paar Monaten erklärte, Viele blicken auch deshalb argwöhnisch zuzulegen, so etwas wie einen persön- dass der von ihm mit ausgehandelte Kom- auf Pofalla, weil sein größtes Projekt lichen Markenkern. Die meisten brauchen promiss zum Kündigungsschutz vor allem noch aussteht. Der Generalsekretär soll weniger. ein großer Sieg für die SPD sei, beschied ein neues Grundsatzprogramm für die Vom 47-jährigen Pofalla wissen seine ihr Pofalla, sie möge sich nicht so aufregen. Partei ausarbeiten. Wenn die Rede darauf Kollegen nur zu erzählen, dass er in all Sie solle doch einfach mal mit den Genos- kommt, dann spricht er gern von der den Jahren sein Faible für markante Bril- sen ein Bier trinken, empfahl er. „DNA“ der CDU. len behalten hat. Kaum ein Gesetzes- Etliche Christdemokraten haben das Noch gibt es nur Arbeitsentwürfe projekt von ihm ist im Gedächtnis haften- Gefühl, dass ihr Generalsekretär die In- der Programmkommission, aber was sich geblieben, kein Strategiepapier, darin findet, trägt nicht zur Beru- nicht einmal ein handfester higung derer bei, die sich ein kla- Machtkampf. Es ist dieses er- res, konservatives Profil der CDU staunliche Talent zur Blässe, das wünschen. „Familie ist überall Angela Merkel motiviert hat, den dort, wo Eltern für Kinder und Juristen zum CDU-General- Kinder für Eltern Verantwortung sekretär zu machen. übernehmen“, heißt es etwa an Seit acht Monaten ist Pofalla einer Stelle. Es ist ein Satz, den jetzt im Amt, und schon jetzt viele in der CDU noch für eine lässt sich sagen, dass es noch Verbeugung vor dem Zeitgeist nie einen Generalsekretär in der halten. Geschichte der CDU gegeben hat, Pofalla muss seine Gegner der so wenig Lust verspürte, sich vorerst nicht fürchten. Dank sei- für die traditionellen Überzeugun- ner funktionärshaften Loyalität gen seiner Partei zu engagieren. genießt er das Vertrauen von Ende vergangener Woche durften Angela Merkel. Die Kanzlerin ist sich die Christdemokraten wieder mit der Arbeit des Generalse- mal davon ihr Bild machen. kretärs hochzufrieden, noch nie Pofalla wollte sich zur Reform hat sie öffentlich ein kritisches des Arbeitsmarkts zu Wort mel- Wort über ihn verloren. Selbst im den. Es wäre eine große Chance kleinsten Kreis fällt keine böse für die CDU gewesen, zu ver- Bemerkung, anders als etwa über deutlichen, wofür sie in der den glücklosen Fraktionsvorsit- Großen Koalition steht. zenden Volker Kauder. Der Generalsekretär hätte nur Merkel schätzt es, wenn Pofalla aus dem Wahlprogramm der CDU Streit mit der SPD schon im Keim zitieren müssen, und der Applaus erstickt, denn Zwist in der Koa- seiner Leute wäre ihm sicher ge- lition schadet vor allem dem wesen. Von weniger Kündigungs- Ansehen der Regierungschefin, schutz ist da die Rede und davon, glaubt sie. die Macht der Gewerkschaften in So gesehen, dient der General- den Betrieben zu verringern. Es sekretär vor allem der Kanz- sind Dinge, die der CDU immer lerin und nicht der CDU – was wichtig waren. Pofalla aber be- ein Berater Merkels mit den gnügte sich damit, die Sozialde- Worten kommentiert: „Das Letz- mokraten mit der Forderung nach te, was wir brauchen, ist eine stärkeren Einschnitten bei Hartz- Generalmobilmachung der CDU. IV-Empfängern zu reizen. Wenn die Partei zu sehr drängelt,

Normalerweise sind General- PRESS HANSEN / ACTION MARKUS führt das nur zu Auffahrunfällen sekretäre so etwas wie die ideolo- Christdemokrat Pofalla: Erstaunliches Talent zur Blässe in der Regierung.“ René Pfister

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Das Navigations- daraufhin: „Wenn es um die Aufklärung Begehrte Daten system GPS sendet Mit einem eines Mordes geht, muss der Datenschutz Wie das Toll-Collect- laufend Sinale zur Zugang zurückstehen.“ Weitere Fälle verleihen sei- System zu Fahndungs- Positionsbestimmung zum Toll- ner Initiative nun zusätzlichen Schwung. zwecken benutzt des Lkw an die Obu. Die gefahrene Collect-Zentral- mautpflichtige So wurde in der Nacht zum 8. Juli bei werden kann computer könnte Kassel die 18-jährige Schülerin Anna S. GPS-Satellit Strecke wird über die Polizei die Mobilfunk an die Routen verdäch- brutal ermordet. Die Leiche lag auf dem Abrechnungsstelle tiger Lkw nach- Autobahnparkplatz Scharfenstein, vieles Im Fahrzeug wird ei- weitergeleitet. vollziehen. deutet auf einen Lastwagenfahrer als Täter, ne On Board Unit (Obu) der nicht zum ersten Mal zuschlug. Aber installiert. Sie besteht wieder verwies Toll Collect aufs Gesetz. aus einem Empfänger Der Mädchenmörder ist immer noch nicht und einem Sender und gefasst – und eine Gefahr für potentielle ist mit einem digitalen weitere Opfer. Straßenatlas versehen. Für den CDU-Sicherheitsexperten Wolf- KKontroll-ontroll- gang Bosbach dient das Maut-Gesetz des- brückbrückee halb dem Täterschutz. „Es ist geradezu ab- surd, dass mit dem System Maut-Sünder gejagt, Mörder dagegen geschont werden.“ tian Ströbele sind von den Aussichten denn Und der SPD-Innenexperte Dieter Wiefel- FAHNDUNG auch entsetzt. „Die Regierung tut alles, um spütz sagt heute, er verstehe gar nicht, wie unsere schlimmsten Befürchtungen zu be- das Gesetz überhaupt jemals beschlossen stätigen“, klagt er. Und der FDP-Innenex- werden konnte – obwohl er damals auch Elektronisches perte Max Stadler prognostiziert angesichts schon im Bundestag saß. der Debatte über die Einführung der Maut Der Grund war schlicht: Das System ist, auch für Pkw „die flächendeckende Über- seit es nach gewaltigen Anlaufschwierig- Auge wachung“. keiten funktioniert, einfach zu gut, um da- Innenpolitiker wollen das Maut- Schäubles Leute argumentieren, die mit nur Brummifahrer abzukassieren, was Polizei werde nur nach schweren Straftaten mit einer Vignette viel billiger zu machen System auf den Autobahnen zur wie Mord und Totschlag Zugang zu den wäre. Denn die Maschinerie kombiniert Verbrecherjagd nutzen – es gilt Maut-Daten haben – ein Versprechen, dem drei Technologien: Satellitenortung, Mobil- als perfekte Überwachungsmaschine. Stadler nicht traut: „Einschränkungen des funk und Videoüberwachung. Die meisten Datenschutzes sind in Einzelfällen immer Lastwagen haben ein kleines Gerät im Füh- ei der Einführung der Lkw-Maut auf plausibel zu begründen“, sagt er, „aber rerhaus, eine sogenannte On Board Unit deutschen Autobahnen sollte eines wenn der erste Schritt getan ist, gibt es er- (Obu). Sie erfasst die Bewegungen mit Sa- Bvon vornherein klar sein: Die Daten fahrungsgemäß kein Halten mehr.“ tellitenhilfe und meldet die Fahrstrecke per dürften nur für die Gebührenerhebung Dass die alten Bedenken bald fallen SMS an Toll Collect. Wer keine Obu hat, benutzt werden – und für sonst gar nichts. könnten, ahnten Experten schon Mitte No- muss die Strecke vorher buchen. Niemals dürfe etwa die Polizei kontrol- vember vergangenen Jahres: Ein Brummi- 300 Kontrollbrücken lesen die Lkw- lieren, wer wann wo unterwegs war, ver- fahrer hatte auf einem Autohof an der A6 Nummernschilder und prüfen, ob gezahlt sprach die rot-grüne Bundesregierung noch zwischen Heilbronn und Nürnberg einen wurde. Wenn nicht, wird der Wagen foto- 2004 und schrieb das entsprechende Verbot Parkplatzwächter überrollt und tödlich ver- grafiert und zur Fahndung ausgeschrieben. ausdrücklich ins Gesetz – mit Unterstüt- letzt. Der Trucker flüchtete. Hilfesuchend Bislang reicht es der Firma, zehn Prozent zung der damals oppositionellen CDU. wandte sich die Kripo Schwäbisch-Hall an aller Lastwagen zu kontrollieren. Nicht im- Keine zwei Jahre später zeigt nun eine die Maut-Firma Toll Collect und wollte mer sind deshalb alle Brücken eingeschal- Debatte, dass SPD und Union nichts mehr wissen, welche Laster in fraglicher Zeit tet. Das System könnte auch die Pkw-Maut von den alten Bedenken wissen wollen. dort unterwegs gewesen seien. eintreiben, die Politiker wie Bayerns In- Auf Initiative von Bundesinnenminister Doch die Maut-Kassierer verweigern bis nenminister Günther Beckstein längst for- Wolfgang Schäuble, CDU, sollen die Maut- heute die Auskunft – die Daten heraus- dern – und es könnte dabei alle Autos Daten künftig von der Polizei zur Fahn- zurücken wäre schließlich illegal. Schäuble überwachen. dung nach Schwerverbrechern benutzt An den Straßen seines Landes hat der werden dürfen. Über einen Gesetzentwurf christsoziale Innenpolitiker seit Jahres- diskutieren bereits die zuständigen Minis- beginn schon mal 25 stationäre und mobile, terialen, das Papier soll noch im Herbst mit Optik und Elektronik vollgestopfte durch den Bundestag. Kästen installieren lassen. Sie gleichen – Als Anlass für den scharfen Kurswechsel technisch ähnlich den Maut-Geräten – je- dienten zwei Morde, die sich womöglich des Kennzeichen mit dem Polizeicomputer mit Hilfe der Maut-Daten aufklären ließen. ab und schlagen sofort Alarm, wenn Autos Denn das deutsche System mit seinen vorbeifahren, nach denen gefahndet wird. Kamerabrücken auf allen Autobahnen, Andere Länder wie Thüringen und Ham- seinen Lasergeräten und Satellitenemp- burg haben nachgezogen. fängern ist die größte Verkehrsüberwa- Beckstein weiß nur Gutes über die Käs- chungsmaschine der Welt. Technisch wäre ten zu berichten. So sei im Mai ein Mann die einzigartige Hightech-Apparatur in der geschnappt worden, der im rheinland- Lage, den gesamten Verkehr zu kontrol- pfälzischen Minfeld seine Frau mit einem lieren. Kritiker wie der Grüne Hans-Chris- Hammer erschlagen hatte. Das elektroni- sche Auge entdeckte sein Auto auf der A9 Mordopfer Anna S. bei Hof, Streifenpolizisten mussten den

Leiche auf dem Parkplatz DDP Wagen nur noch stoppen. Andreas Ulrich 38 Deutschland

Auch eventueller Schadensersatz werde STRAFTÄTER einer gemeinnützigen Organisation oder, wenn rechtlich möglich, einer eigenen Stif- tung zugutekommen. „Mein Mandant er- Große strebt keinerlei persönliche Bereicherung durch irgendeines seiner Rechtsmittel“, be- teuert Jungjurist Heuchemer. Verlockung Das Gründungskapital der Stiftung Der prominente Entführer und beläuft sich auf 25000 Euro. Über den Be- trag liegt laut Anwalt eine Bankbestätigung Kindsmörder Magnus vor, auch könne man Unterstützungs-

Gäfgen drängt mit einer Stiftung / DDP LOHNES THOMAS erklärungen nachweisen. ins Rampenlicht: Sie soll Angeklagter Gäfgen (2003) Gestandenen Kollegen von Heuchemer misshandelten Kindern helfen. Kunst der Selbstdarstellung wird angesichts des Engagements unwohl: „Für junge Anwälte ist es eine große en Gründungsort einer wohltä- bei den Vernehmungen peinigte: „Dabei Verlockung, mit so einem Fall ihre Karriere tigen Stiftung stellt man sich an- war ich mir völlig sicher, dass ich dies alles anzukurbeln“, urteilt Frank Johnigk, Dders vor. Der Raum ist karg, es nicht überleben würde.“ Für die Veröf- Geschäftsführer der Bundesrechtsanwalts- gibt ein Bett, einen Stuhl, an der Wand fentlichung hat Anwalt Heuchemer extra kammer. „Moralisch scheint das fragwür- ein Bild von Fresken aus der Sixtini- einen Verlag gegründet, verkauft wird das dig, aber rechtlich gibt es daran nichts aus- schen Kapelle, die Fenster sind vergit- Werk unter anderem über eine private zusetzen.“ Georg Prasser, Vizepräsident tert. Und zur Feier des Ereignisses wird Homepage im Internet. des Deutschen Anwaltvereins, hingegen wohl kaum Sekt gereicht werden. Denn Darüber hinaus kämpft Heuchemer der- glaubt, „dass sich der junge Kollege damit die Wiege der Organisation steht in ei- zeit gegen das Land Hessen um 10000 Euro keinen Gefallen tut“. ner Einzelzelle der Justizvollzugsanstalt Schadensersatz für seinen Mandanten. Doch Heuchemer will mit der Stiftung Schwalmstadt. Zudem hat er die Bundesrepublik Deutsch- ganz hoch hinaus, schließe sie doch „eine Hier sitzt der Kindsmörder Magnus land vor dem Europäischen Gerichtshof Lücke in der Opferhilfe“. Demnächst plant Gäfgen, 31, seine lebenslange Freiheits- für Menschenrechte verklagt, weil der man, sich mit Caritas, Weißem Ring und strafe ab. Im September 2002 hatte der ehemalige Frankfurter Polizeivize Wolf- anderen Helfern an einen runden Tisch zu Frankfurter Jurastudent den elfjährigen gang Daschner Gäfgen Schmerzen an- setzen, um über künftige Kooperationen Millionärssohn Jakob von Metzler ent- drohen ließ. zu sprechen. Die meisten der Beteiligten führt und dann getötet. Der Fall sorgte „Aus meiner Geschichte wird man ler- wissen freilich bislang nichts von ihrem bundesweit für erheblichen Wirbel, auch nen können“, schreibt Gäfgen in seinem Glück. „Wir haben davon noch kein Wort weil die Polizei Gäfgen mit Folterdrohun- Buch, und lernen kann man von ihm auf gehört, aber das fühlt sich nicht sehr seriös gen dazu zwang, das Versteck seines jeden Fall die Kunst der Selbstdarstellung. an“, sagt Ilse Zeller, Vorsitzende des Kin- Opfers preiszugeben. Gleich zur Lancierung des Buchs hatte derschutzbundes Koblenz. „Ich muss ge- Ausgerechnet Gäfgen ist nun Initia- Gäfgen angegeben, den Erlös „einem stehen, bei dem Fall bekomme ich Bauch- tor eines wohltätigen Unternehmens, das wohltätigen Zweck“ spenden zu wollen. schmerzen.“ „Horizonte – Kinder- und Jugend- „Das Projekt ist notwendig“, fin- hilfsstiftung“ heißen soll oder schlicht det jedoch Joachim Schultz-Tornau, Magnus-Gäfgen-Stiftung. In der vor- amtlicher Betreuer Gäfgens. Der vergangenen Woche wurden die letz- einstige nordrhein-westfälische FDP- ten Gründungsunterlagen der zu- Vorsitzende hat sich mit dem promi- ständigen Stiftungsbehörde in Trier nenten Schützling schon viel Ärger vorgelegt. In den Papieren heißt es, eingehandelt: Sein „Plädoyer für ei- die Stiftung wolle Kindern und Ju- nen Mörder“ hat zur Landtagswahl gendlichen helfen, die Opfer von Ge- 2005 für Unmut gesorgt, weil der walttaten wurden – mit Geld oder Politiker in seinem Text Gäfgen in juristischem Beistand. Schutz nahm. Jetzt will Schultz- Eingefädelt hat die Sache Gäfgens Tornau, Träger des Bundesverdienst- Anwalt Michael Heuchemer, 30, der kreuzes, im Vorstand der Gäfgen- auch Stiftungsvorsitzender werden Stiftung sitzen. Er glaubt: „Das ist ein soll. „Der Gedanke dieses Engage- sinnvolles Zeichen von Reue.“ ments ist es allein, ein kleines Gegen- Gäfgen werde durch die Stiftungs- symbol zu dem geschehenen Unrecht arbeit gezwungen, sich ständig mit aus dem Jahr 2002 zu setzen“, be- ähnlichen Fällen wie seinem eigenen hauptet der jungenhafte Rolls-Royce- auseinanderzusetzen. Fahrer und Liebhaber großer Weine. Als Stiftungsgründer will der Mör- Doch das Duo Gäfgen/Heuchemer der nicht auftreten, doch soll er aus hat bislang schon einiges unternom- dem Gefängnis heraus entscheiden, men, was der Prominenz der Betei- welche Kinder konkret von der Stif- ligten förderlich ist. „Allein mit Gott“ tung gefördert werden. heißt etwa das Buch, in dem Gäfgen, Ein erster „Pilotfall“, so der An- einst Betreuer bei katholischen Frei- walt, sei schon in Bearbeitung. Es zeiten, versucht, die Ursache seines handle sich um einen 13-jährigen „Scheiterns“ – wie er den Kindsmord Jungen, der allerdings, wie es der gern umschreibt – zu ergründen. Das Anwalt formuliert, nur Opfer einer

Ergebnis: 230 Seiten Selbstmitleid. So / DPA RUMPENHORST FRANK „einfachen Körperverletzung“ wurde. berichtet Gäfgen, wie die Angst ihn Metzler-Grab: „Sinnvolles Zeichen von Reue“? Simone Kaiser

42 der spiegel 32/2006 FOTOS: ERICH WIEDEMANN / DER SPIEGEL ERICH WIEDEMANN FOTOS: Pfarrer Jaworski, niederschlesische Kunstgegenstände im deutschen Antikhandel (in Koblenz): Kick fürs Eigenheim

Hehler ab. Die polnischen Kirchen- und KRIMINALITÄT Grabräuber bekommen nur etwa zehn Prozent, und davon müssen sie auch noch das Schmiergeld bezahlen, mit dem Putten für Königswinter meist die Bewohner benachbarter Häuser ruhiggestellt werden. Jaworski glaubt, dass Deutsche Hehler und polnische Diebe verwandeln Niederschlesien oft gar die Täter aus der Nachbarschaft stammen: „Die Leute sind arm hier, es gibt in eine Kulturwüste: Kirchen und Schlösser werden keine Jobs.“ geplündert, um den Bedarf deutscher Antiquitätenliebhaber zu decken. Selbst ein paar Geistliche und Konser- vatoren sind schon in Tatverdacht geraten. einer hat etwas gehört, keiner hat Zu verlockend ist offenbar, was Schle- So ist beispielsweise kaum vorstellbar, etwas gesehen. Nach der Messe sien zu bieten hat: Der dem Dorf zu- dass nicht Insider mit von der Partie Kaber waren die beiden barocken gewandte Giebel der Kirche in Niwnice waren, als im Mai 2004 die Statue Mutter- Steinsäulen, die das Gotteshaus im nieder- etwa ist mit kunstvoll ziselierten Relief- glück aus dem geschlossenen Kulturhaus schlesischen Niwnice geschmückt hatten, tafeln, sogenannten Epitaphen, beplankt. von Zgorzelec verschwand. Das Stück war einfach weg. Während der heiligen Kom- Sie zeigen die Mitglieder der edlen Fami- immerhin zwei Meter groß. munion hatten draußen die Kunsträuber lie von Salza, die hier im 16. und 17. Jahr- Von der evangelischen Kirche von Nie- an der Längsfassade der Kirche mit gro- hundert das Lehnsrecht ausübte. Pfarrer dów, dem ehemaligen Wolfsberg, ist der bem Gerät Tatsachen geschaffen. Franciszek Jaworski fürchtet, dass die Ta- Außenschmuck abgeschlagen worden, bis Die Pfarrkirche der Heiligen Hedwig feln als Nächstes geklaut werden könnten. auf eines wurden alle Epitaphe aus der (polnisch: Jadwiga) im früheren Neuland „Sie sind so schön, und wir haben keine Wand gebrochen. Und die eine Platte, die hat dicke, fast schalldichte Mauern. Im Chance, denn wir können unsere Kirche ja die Plünderer offenbar deshalb nicht mit- 13. Jahrhundert, als sie gebaut wurde, nicht Tag und Nacht bewachen.“ nehmen konnten, weil sie zu fest saß, diente sie den Bürgern auch als Flucht- Jaworski streichelt über das große schlugen sie kurz und klein. burg, wenn plündernde Banden aus dem steinerne Epitaph, das dem Gutsherrn Das gleiche Elend auf dem Friedhof Osten auf das Dorf vorrückten. Jetzt Nikolaus von Salza gewidmet ist. Epitaphe der Herz-Jesu-Kirche von Swiecie, früher kommt die Plage aus dem Westen. bringen, je nach Alter und Qualität, in Schwertburg: Zwölf Grabplatten sind ver- Seit Polen der Europäischen Union Deutschland 3000 bis 30000 Euro. Den Ge- schwunden, und die Putten auf den Um- beigetreten ist, wird an der Grenze winn dabei sahnen hauptsächlich deutsche friedungsmauern haben keine Köpfe mehr. nur noch lässig oder gar nicht mehr Die Bruchstellen sind ganz frisch, vor kontrolliert. Und nun erlebt Schlesien zwei Monaten war hier noch alles Berlin Posen den größten organisierten Kunstraub heil. Das von Friedrich-Karl Schinkel seit Kriegsende. Oder erbaute Schloss in Kamenz im Kreis Mit Hammer, Meißel und Winkel- Frankenstein hat sehr gelitten. Plün- DEUTSCH- POLEN schleifer ziehen zumeist polnische Die- LAND dernde Sowjetsoldaten hatten 1945 vie- besbanden durch eine der reichsten les mitgehen lassen. Dann brannte das Kulturlandschaften Europas; die Beu- SCHLESIEN Schloss ab. Den Rest räumten die Heh- te verkaufen Händler im Westen dann Niwnice ler und ihre Handlanger ab. an deutsche Kunden. Das Ergebnis Zgorzelec (Neuland) Das Diebesgut wird für gewöhnlich, Dresden Kamieniec dieser besonderen Form deutsch-pol- Niedów unter Gemüse oder Bauschutt ver- nischer Zusammenarbeit: Die meisten Biedrzy- Zabkowicki steckt, mit Lastwagen über die Grenze (Wolfsberg)(Wolfsberg) chowice (Kamenz) der fast 3000 Kirchen und alten Her- (Friedersdorf) nach Deutschland geschmuggelt. Das 50 km Swiecie renhäuser in Niederschlesien sind übel (Schwertburg) Risiko ist gering, Routinekontrollen ramponiert. gibt es gar nicht mehr.

44 der spiegel 32/2006 Deutschland

Und selbst wenn polnische oder deut- der Händler Klaus M. aus dem Großraum ja nur „zwei ganz kleine Dinge“. Anders- sche Zollfahnder einen Tipp aus der Szene Bonn: „Alles schon weggeplündert.“ wo seien, so Kaiser, ganze Altäre verscho- bekommen, haben die Hehler an der Der Mann ist trotzdem gut sortiert. Auf ben worden. 456 Kilometer langen deutsch-polnischen seinem Lagerplatz stapeln sich Säulen, Epi- Und Kaiser sieht auf polnischer Seite Grenze beste Chancen durchzukommen: taphe, Brunnen, Türen und Skulpturen. nirgendwo die Absicht, „die zweite große Ein Lastwagen mit wertvollen Epitaphen Eine ist mit Latten und Stricken für den Plünderungswelle nach dem Zweiten Welt- und Figuren erreichte jüngst problemlos Versand verpackt. krieg“ aufzuhalten. Das stimmt wohl: Jan den Westen, obwohl polnische Beamte auf M. interessiert sich wenig dafür, woher Nikolaiczak, Kunstfahnder der nieder- die heiße Fracht warteten – nur am die Ware stammt. Dabei tragen viele schlesischen Kriminalpolizei mit Sitz falschen Grenzübergang. Steine eingemeißelte Vermerke über ihre in Breslau, ist heillos überfordert. Ein Die Fuhre war für einen Händler be- Herkunft. Das von schwungvollen Orna- einsamer Kulturpolizist für eine ganze stimmt, der in der Szene lediglich unter menten eingerahmte ovale Relief von Woiwodschaft fast so groß wie Hessen – seinem Vornamen Rudolph bekannt ist. knapp einem Meter Größe zum Beispiel, das sei einfach zu wenig, um die Plünderer Seine Kunden sind begüterte deutsche das der Händler für 4000 Euro anbietet, aufzuhalten. Häuslebauer, die den innenarchitektoni- ist per Inschrift als Gedenkstein für die Auf der deutschen Seite sieht es nicht schen Kick fürs neue Eigenheim brauchen. „hochedle Frau Magdalena Agneta, ge- viel besser aus: Im sächsischen Landeskri- Versorgt wird Rudolph von Lieferanten borene Böttnerin“ aus Friedersdorf am minalamt etwa kümmert sich ebenfalls nur wie Tadeusz K. aus dem Bezirk Jelenia Queis ausgewiesen. Friedersdorf, heute ein einziger Beamter um die illegalen Im- Gora. Tadeusz K. war früher Bauer, vor Biedrzychowice, liegt in der niederschle- porte. Der Kulturbeauftragte Sachs, der drei Jahren hat er umgesattelt. Überall auf sischen Oberlausitz. sich seit Jahren mit der Registratur schle- seinem Hof verstreut liegen steinerne und In einem renommierten Kölner Auk- sischer Kunst beschäftigt, hat schon ein schmiedeeiserne Antiquitäten. Es ist zur- tionshaus, so sagt Rainer Sachs, Kulturbe- Dutzend Strafanzeigen gegen mutmaßliche zeit gerade nichts Wertvolles vorrätig, weil auftragter des deutschen Generalkonsulats Hehler und ihre Helfer erstattet. Sie blie- Rudolph aus Berlin soeben eine Ladung in Breslau (Wroclaw), wurden schon zwei ben allesamt ohne Ergebnis. der besten Stücke weggekauft hat. Putten versteigert mit dem ausdrücklichen Selbst ein deutscher Händler, den Nach Artikel 294 des polnischen Straf- Hinweis, dass sie aus der Maria-Magdalena- Sachs angezeigt hatte, weil er die ge- rechts wird mit bis zu zehn Jahren Ge- Kirche in Breslau stammten. stohlene Renaissance-Kanzeltür aus der fängnis bestraft, wer Kulturgüter stiehlt. Heute werden die Putten im „Haus Maria-Magdalena-Kirche auf dem Anti- Und alles, was älter ist als 55 Jahre, darf Schlesien“ in Königswinter verwahrt. Nor- quitätenmarkt angeboten hatte, blieb un- nicht ausgeführt werden. Das Geschäft flo- malerweise werde die Herkunft der Aus- behelligt. Und ein gestohlenes Epitaph riert aber trotzdem, weil die meisten Ab- stellungsstücke in seinem Haus sorgfältig hängt immer noch da, wo es Sachs schon nehmer kaum Unrechtsbewusstsein haben. überprüft, versichert Museumsdirektor vor Jahren aufspürte: in einem Breslauer „Es kommt nicht mehr viel nach“, klagt Stefan Kaiser. Aber die Putten, das seien Bordell. Erich Wiedemann Titel Das ferne Reich Ein Imperium wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gab es kein zweites Mal, beinahe ein Jahrtausend lang hatte es Bestand. 200 Jahre nach seiner Auflösung wird jetzt in großen Ausstellungen an das erste deutsche Reich erinnert. Die Deutschen verdanken ihm große Kunst, den Föderalismus, aber auch Kriege mit Millionen Toten.

Franz II. aus dem Hause Habsburg – das Imperium einfach auf. Der Herold verkündete, dass die Beam- ten von ihrer Pflicht entbunden seien. Die Reichsinsignien ließ Kaiser Franz in der Schatzkammer der Wiener Hofburg weg- schließen: die heilige Lanze, angeblich mit einem Nagel vom Kreuz Christi, das 110 Zentimeter lange Mauritiusschwert oder der aus Harzmasse geformte und mit Goldblech umkleidete Reichsapfel. Nie wieder sollte jemand die prunkvol- len Reichsinsignien als Zeichen der Herr- scherwürde entgegennehmen. Die Men- schen hörten auf, für Kaiser und Reich zu beten. Mit der Auflösung des Reiches kam Franz einer Forderung Napoleons nach, des damals mächtigsten Herrschers in Europa. Der Korse wollte Deutschland politisch neu organisieren; das Reich war dabei lästig. Franz II. durfte sich fortan nur noch Kaiser Franz I. von Österreich nennen. Das Ende des Reiches hatte sich lange

AKG abgezeichnet, und doch war es, wie die Reichsgründer Otto I., Gemahlin* Mutter Johann Wolfgang von Goethes an Anspruch auf die Weltherrschaft ihren Sohn schrieb, „als wenn ein alter Freund sehr kranck ist, die Ärzte geben er kaiserliche Herold erregte Auf- ihn auf, mann ist versichert, dass er sterben sehen, als er hoch zu Ross mit sei- wird und mit all der Gewissheit wird man Dnem reichverzierten Wappenrock doch erschüttert wann die Post kommt er durch die Straßen Wiens trabte. Vor der ist todt“. prachtvollen Fassade der Kirche zu den Das Heilige Römische Reich Deutscher neun Chören der Engel, der damals ältes- Nation – keine Regierungsform und kein ten Jesuitenkirche der Stadt, ließ er die Staat hatte in der deutschen Geschichte Fanfare blasen. länger Bestand. Als das Imperium 962 ge- Es war der 6. August 1806, und was der gründet wurde, hausten die Menschen Mann bei drückender Hitze im Auftrag von noch in Strohkaten; Felle verdeckten im Kaiser Franz II. in die Welt hinausrief, Winter die Fensteröffnungen. Orte wie machte Geschichte: Wimpfen bei Heidelberg, das hessische „Wir erklären durch Gegenwärtiges, dass Gelnhausen und Burg Trifels in der Pfalz Wir das Band, welches Uns bis jetzt an zählten zu den Zentren. Selten wurde je- den Staatskörper des deutschen Reiches mand älter als 35 Jahre. gebunden hat, als gelöst ansehen.“ Beim Untergang des Reiches 1806 stand Das Heilige Römische Reich Deutscher Deutschland hingegen bereits am Beginn Nation hatte annähernd ein Jahrtausend der Moderne. Dampfkraft trieb in Preußen Bestand gehabt. Nun löste der 33. Kaiser – Spinnmaschinen an, die Menschen wohn- ten in Hamburg oder Berlin in Mehr- * Oben: Skulpturen am Magdeburger Dom aus dem 13. Jahrhundert; rechts: 1764 in der Bartholomäuskirche in Frankfurt am Main; Gemälde Johann Dallingers von Krönung Josephs II.* Dalling aus demselben Jahr. „Vivat“ aus tausend Kehlen

46 der spiegel 32/2006 etagenhäusern und begeisterten sich schon für Volk und Vaterland. In den 844 Jahren, sechs Monaten und vier Tagen dazwischen hat das Imperium dieses Land zutiefst geprägt, bis heute. Im Reich hat sich der moderne deutsche Staat entwickelt, und zwar nicht etwa – wie in Frankreich – als Nationalstaat von oben, sondern in den vielen Mittel- und Kleinstaaten des Reiches. In Gebilden wie den Kurfürstentümern Bayern und Sach- sen entstanden zuerst funktionierende Verwaltungen, setzten Landesherren das Gewaltmonopol gegen Raubritter durch, traten stehende Heere an Stelle der Auf- gebote. Dass die Deutschen wie wenige andere Völker am Föderalismus hängen – AKG Letzter Kaiser Franz II.* Krone in der Schatzkammer verschlossen

die Wurzeln dafür liegen in der Kleinstaa- terei des Heiligen Römischen Reiches. Dessen besondere Konstruktion ließ ein Land entstehen, in dem die großen christ- lichen Konfessionen beinahe in gleicher Stärke nebeneinander existieren, unter den EU-Mitgliedern bis heute ein Sonderfall. Es zählt zu den Spätfolgen des Reiches, dass in jeder bayerischen Regierung mindestens ein Protestant vertreten ist (im Augenblick Innenminister Günther Beckstein), dass kein Kanzler es sich leisten kann, nur Ka- tholiken oder Protestanten in sein Kabi- nett zu rufen. Damals entstanden Mentalitäten, die – oft unbewusst – fortwirken. Die sprich- wörtliche Neigung der Deutschen etwa, alle Lebensumstände zu verrechtlichen, ihre Liebe zum Paragrafen ist wohl auch das Ergebnis jahrhundertealter Erfahrun- gen mit der Reichsjustiz. Vor dem Reichs-

KUNSTHISTORISCHES MUSEUM WIEN KUNSTHISTORISCHES * Gemälde von Joseph Kreutzinger, um 1805.

47

Titel kammergericht mit Sitz in Speyer und spä- aus, die ohne politischen Hintergedanken, ter Wetzlar verklagten sogar Bauern ihren wohl aber mit Unbefangenheit und Neu- fürstlichen Landesherrn. gier auf die deutsche Geschichte vor Hitler Und dann das kulturelle Erbe. Ohne die blicken. vielen Fürstenhöfe wäre aus Deutschland Ob in Berlin oder Magdeburg, Stuttgart nicht das Land der Dichter und Denker oder Wetzlar – in mehr als einem halben geworden. Überall finanzierten Mäzene Dutzend Ausstellungen wird den Besu- große Architekten, Musiker und Dichter. chern in den nächsten Wochen und Mona- Die Herrschaften richteten Museen ein ten vor Augen geführt, was 1806 verloren- (allein in Thüringen 180) und gründeten ging, aber auch, wie aus der Konkursmas- Residenztheater, in München und Coburg se des Reiches neue Staaten entstanden, ebenso wie in Celle oder Weimar. In der etwa das Königreich Bayern, Vorläufer des Provinz entstanden Kulturlandschaften, die heutigen Freistaats. heute Besucher und Bewunderer aus aller Die Kuratoren bereiten ein Fest für die Welt anziehen. Sinne vor. Das Deutsche Historische Mu- Trotz einer solchen Bedeutung ist das seum in Berlin präsentiert ab dem 28. Au- sogenannte Alte Reich aus dem öffentlichen gust Preziosen wie die prächtige Bronze- Deutsche Kaiser

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1. Franz II. 1792–1806 9. Heinrich VI. 1191–1197 17. Joseph II. 2. Friedrich I. („Barbarossa“) 10. Ferdinand II. 1619–1637 1765–1790 1155–1190 11. Leopold I. 1658–1705 18. Otto I. 3. Maximilian I. 1508–1519 12. Konrad II. 1027–1039 962–973 4. Rudolf II. 1576–1612 13. Leopold II. 1790–1792 5. Ferdinand III. 1637–1657 14. Maximilian II. 6. Otto III. 996–1002 1564–1576 7. Heinrich IV. 1084–1105 15. Heinrich V. 1111–1125 8. Heinrich III. 1046–1056 16. Lothar III. 1133–1137

Bewusstsein fast vollkommen verschwunden. büste des katholischen Grüblers Kaiser Daran haben auch gelegentliche Hinweise Karl V. oder den edlen, goldtauschierten von Historikern und Politikern nichts ge- Halbharnisch Rudolfs II., eines Sonder- ändert, die in dem vielgliedrigen Multi- lings, der Magier schätzte und Donner- kulti-Imperium einen Anknüpfungspunkt steine sammelte. für die traditionsarme EU sehen. In Magdeburg können Besucher den Als zu mächtig erwies sich bislang die Codex Manesse anschauen, die umfang- Erinnerung an das – nach Altem Reich und reichste Sammlung von Minneliedern der Wilhelminischem Kaiserreich – selbster- deutschen Sprache mit der berühmten nannte „Dritte Reich“, in dem SS-Divisio- Abbildung von Walther von der Vogel- nen „Hohenstaufen“ oder „Das Reich“ weide (www.dasheiligereich.de). hießen und der Angriff auf die Sowjetunion In Wetzlar hingegen kann man ab 1941 unter dem Codenamen „Fall Barba- Mitte September Allongeperücken und rossa“ erfolgte, in Anspielung auf Kaiser die spanischen Trachten der Richter am Friedrich I. („Barbarossa“), der im 12. Jahr- Reichskammergericht bestaunen: schwar- hundert zum Kreuzzug gegen die „Un- ze Umhänge, reich mit Tressen und Bor- gläubigen“ aufbrach. ten besetzt, weiße Spitzenjabots, Zier- Doch die Zeiten ändern sich, und schon degen. seit einer Weile ist zu beobachten, dass Hit- Einen Höhepunkt der Spurensuche bie- ler und der Nationalsozialismus die Erin- tet Frankfurt am Main. Gleich vier Museen nerungswelt der Deutschen nicht mehr al- haben sich zusammengetan und führen lein beherrschen. den Betrachter auf eine Zeitreise in die Da wird verständlich, dass ziemlich ge- mittelalterliche Judengasse oder zum Spek- nau 200 Jahre nach dem Untergang des Al- takel der Kaiserkrönung an den Original- ten Reiches überall in der Bundesrepublik schauplätzen (www.kaisermacher.de). Viele der Versuch zu beobachten ist, das Publi- Besucher, das lässt sich ohne Risiko pro- kum für die versunkene Welt der Kaiser, phezeien, werden überrascht sein, denn Könige und Edelleute zu interessieren. Die die Exponate der zahlreichen Schauen zeu- Initiative geht von den Museen des Landes gen vom Aufstieg und Niedergang des

der spiegel 32/2006 49 Titel

wohl ungewöhnlichsten Impe- Zunächst hielten sich die riums der Weltgeschichte. Blaublütler an die Karolinger, Hunderte Staaten oder staa- die Nachfahren Karls des Gro- tenähnliche Gebilde gehörten ßen. Im 10. Jahrhundert kürten dazu, darunter Großmächte sie allerdings erstmals Männer wie Brandenburg-Preußen und aus dem Geschlecht der Liudol- Österreich, aber auch Mini-Ter- finger, später Ottonen genannt. ritorien wie die winzige Stadt- Und die Neuen auf dem Thron republik Buchhorn in Schwa- versuchten, das Fehlen einer kö- ben mit zeitweilig 800 Ein- niglichen Abstammung zu kom- wohnern. pensieren, indem sie Kaiser Karl An der Spitze stand der Kai- den Großen nachahmten. ser, dem Anspruch nach rang- 962 war es so weit: Der Papst höchster Monarch der Chris- in Rom brauchte dringend Hilfe tenheit. Aber für die meisten gegen aufmüpfige Lokalfürsten; Untertanen blieb es unerheb- König Otto I., ein bärtiger Hüne lich, welche Befehle der Impe- mit rötlich schimmernden Au- rator erteilte. In großen Teilen gen, bot Unterstützung an. Im des Reiches hatte der Monarch Gegenzug empfing ihn der Hei- nichts zu sagen. lige Vater „mit wunderbarer Vieles wirkt auf den heuti- Pracht und ungewöhnlichem gen Betrachter kurios oder Aufwand“ (Chronist Liutprand auch sympathisch. Das Heilige von Cremona) und salbte den Römische Reich war zum 49-Jährigen am 2. Februar in Angriffskrieg jahrhundertelang der St.-Peters-Basilika zum Kai- nicht fähig, auch wenn es ser – so wie es gut 160 Jahre Schauplatz schrecklicher Ge- zuvor mit Karl dem Großen ge- metzel war. Katholiken und schehen war. Protestanten trachteten ein- Die Macher der beiden Haupt- ander mit Schwert und Helle- ausstellungen zum Jahrestag barde nach dem Leben, und 1806 in Berlin und Magdeburg zugleich galt das Reich als sehen in Ottos Krönung den Ort der Toleranz. Frauen Beginn des Heiligen Römischen durften nicht ohne Erlaubnis Reiches Deutscher Nation, eine des Vaters heiraten, aber es vertretbare Entscheidung. gab Herrschaften, die nur Denn Otto und die meisten

Frauen regieren konnten (sie- AKG seiner Nachfolger nannten sich he Seite 52). Bis heute strei- Kaiser Friedrich I. („Barbarossa“)*: Brutalstmögliche Kriege fortan Kaiser (von „Caesar“ ten die Historiker, ob das Reich abgeleitet) des Römischen Rei- mehr Segen oder Unglück über das Land Die Anfänge des Reiches liegen im Dun- ches. Das Siegel zeigt Otto mit dem Reichs- brachte. kel jener Jahrhunderte, als nördlich der apfel in der linken Hand, der den An- Lag es am Alten Reich, dass die Deut- Alpen die Zeugnisse römischer Zivilisa- spruch auf die Weltherrschaft symbolisie- schen ihren Nationalstaat erst 1871 er- tion, die herrlichen Aquädukte und Paläs- ren sollte. Der Adler wurde wie einst in richteten, deutlich später als viele euro- te, verfielen, nicht einmal die Monarchen Rom Wappentier der neuen Macht. päische Nachbarn, wie der Berliner His- lesen und schreiben konnten und in den Aus heutiger Sicht leuchtet zunächst toriker Heinrich August Winkler glaubt Urwäldern das Faustrecht herrschte. Da- nicht ein, warum ein Monarch unbedingt (siehe Seite 56)? Wäre es gar ohne das mals kamen Adlige der Stämme Sachsen, Oberhaupt des Imperium Romanum wer- Erbe des Reiches viel früher gelungen, Alemannen, Bayern, Franken zusammen – den wollte, obwohl dieses seit Jahrhun- Freiheit und Demokratie in Deutschland alles „eigenständige Völker“ (Mediävist derten nicht mehr existierte. Doch Chris- zu verankern? Joachim Ehlers) – und wähl- ten wie Otto glaubten Oder entstanden damals vielmehr jene ten den König des ostfränki- an die Visionen des Pro- Traditionen, die nach 1945 den Aufbau ei- schen Reiches. pheten Daniel aus dem ner der liberalsten Demokratien Europas Alten Testament. Dieser erst ermöglichten? In keinem Fall wird die * Kolorierter Kupferstich von Christian hatte vier Weltreiche vor- Antwort eindeutig ausfallen. Siedentopf, 1847. ausgesagt, dann würde

962 Der deutsche Kö- 1077 In Canossa 1096 Erster Kreuzzug, Das Reich nig Otto I. lässt sich vom (heute Emilia Romagna) sechs weitere Kreuzzüge Papst zum Kaiser des demütigt Papst Gregor VII. folgen bis 1291. Auf dem der Kaiser „Römischen Reiches“ den deutschen König und Weg ins Morgenland er- und die regierenden krönen. Ab 1157 wird späteren Kaiser Heinrich IV. trinkt Kaiser Friedrich I. Herrscherhäuser das Imperium als „Heilig“ Doch der Sturz des („Barbarossa“) 1190 bezeichnet, im 16. Jahr- Monarchen beim Baden im Fluss Deutscher Dichter hundert kommt der Zusatz misslingt. Tannhäuser als Saleph (heute Göksu, „Deutscher Nation“ auf. Ordensritter, um 1270 Türkei). INTERFOTO

Ottonen Salier

960 970 980 990 1000 1010 1020 1030 1040 1050 1060 1070 1080 1090

50 der spiegel 32/2006 der Antichrist kommen und Aber 1073 wurde der be- die Welt untergehen. Nach da- dingungslose Reformer und maliger Zählung galt das Rö- Mönch Hildebrand Papst, er mische Reich als das vierte nannte sich Gregor VII. Und Imperium; sein Fortbestand der Fundamentalist aus der schob also das Jüngste Gericht Toskana zeigte sich fest ent- hinaus und versah den Impe- schlossen, der Kirche die Welt- rator mit einem heilsgeschicht- herrschaft zu sichern. In seiner lichen Auftrag. Briefablage fand sich später ein Für die Ottonen bedeutete Papier, das als Dictatus Papae der Kaisertitel einen enormen in die Geschichte einging. Ein Prestigezuwachs, für das neue Auszug: Reich stellte die Kaiserwürde „Alle Fürsten (dürfen) nur hingegen auch eine Bürde dar. des Papstes Füße küssen Denn schon vor der Krö- – ihm (ist) erlaubt, Kaiser nung ließ sich das ostfränkische abzusetzen Territorium, das über die Al- – die römische Kirche (ist) pen reichte, kaum kontrollie- niemals in Irrtum verfallen und ren. Der Ritt von einem Ende (wird) nach dem Zeugnis der bis zum anderen dauerte über Schrift niemals irren.“ einen Monat. Es gab keine zen- Besonders folgenreich war trale Verwaltung und keinen der vorvorletzte Absatz: Justizapparat, die den Willen Nur der Papst allein könne des Monarchen durchsetzten. „Bischöfe absetzen und wie- Mit 1000 Mann Hofstaat zog der einsetzen“. Otto von Pfalz zu Pfalz und Der Konflikt, der unter Gre- hielt selbst Gerichts- und Hof- gor ausbrach, nennt sich Inves- tage ab. Waren die Vorräte auf- titurstreit, und er zählt zu den gebraucht, ging es weiter. Schlüsselereignissen der deut- Nördlich des Mains tauchte der schen Geschichte. Monarch so gut wie nie auf. Denn die Kirche hatte die Und nun kamen auch noch einzige Verwaltung, die funk- weitere Teile Italiens dazu, das tionierte. Nur dort gab es Leu- schon damals lockte. Mancher te in größerer Zahl, die lesen Nachfolger Ottos verbrachte und schreiben konnten und den größten Teil seiner Regie- zugleich als Reichsfürsten über

rungszeit in südlichen Gefil- / INTERFOTO SCHNEIDERS TONI größere Territorien regierten. den. Kein Wunder, dass die Dichter Walther von der Vogelweide*: Freiraum für Künstler Kein Wunder, dass der Kö- deutschen Reichsfürsten immer nig und spätere Kaiser Hein- mächtiger wurden und mit dem Monarchen mann und dem Stellvertreter Gottes rich IV. darauf bestand, die Kirchendiener konkurrierten. schwächte den Kaiser enorm. selbst auszusuchen: „Ohne die Reichs- Es waren Weichenstellungen wie die Schon die unmittelbaren Nachfolger Ot- kirche“, so Buchautor Herbert Schmidt- Kaiserkrönung, die Deutschland einen tos waren davon betroffen. Sie hatten sich Kaspar, „war Deutschland nicht zu beherr- anderen Weg gehen ließen als die euro- das Recht vorbehalten, nach Belieben schen.“ päischen Nachbarn. Die Reichsgründung Bischöfe, Reichsäbte und manchmal sogar Als Heinrich IV., ein treuer Kirchgän- kettete Papst und Kaiser in besonderer Päpste zu berufen. Man nannte das Inves- ger, dem Allmachtsanspruch von Gregor Weise aneinander, denn nur das Christen- titur – Einkleidung –, weil der Monarch VII. widersprach, griff das Christenober- oberhaupt konnte nach damaligem Ver- den Kirchenmann mit dem Amtsornat ein- haupt zu seiner schärfsten Waffe: der Ex- ständnis den heiligen Akt der Krönung kleidete. kommunikation des Monarchen und da- vollziehen, mit der der deutsche König mit auch aller, die mit ihm zu tun hatten. zum Schutzherren der Christenheit auf- * Miniatur aus dem Codex Manesse, entstanden zwischen Die Christen des Mittelalters waren von stieg. 1305 und 1340. Untergangsvisionen gepeinigte Seelen. Sie Doch beide erhoben den Anspruch auf glaubten ihren Kirchenvorderen, dass man Vorherrschaft, und der Jahrhunderte an- vor dem Jüngsten Gericht nur dann ewiges dauernde Konflikt zwischen dem Amt- Heil erlangte, wenn man ohne schwere um 1100 Der Begriff 1122 Mit dem 1220 und 1250–73 Nach dem Tod „Deutsch“ („diutisc“) Wormser Konkordat 1231/32 Friedrichs II. beginnt das In- findet Verbreitung für endet der Investitur- Kaiser Friedrich II. tritt terregnum: Mehrere Könige Land und Leute. Ab streit; der Kaiser wesentliche Privilegien konkurrieren um die Macht. wann die deutschen verzichtet darauf, an die Reichsfürsten Sie geben königlichen Besitz Stämme ohne Über- Kirchenämter nach ab. Diese treiben in weg, um Fürsten und Städte setzer auskamen, Gusto zu ihren Territorien die auf ihre Seite zu ziehen, und Staufer- ist umstritten. besetzen. burg Trifels Staatsgründung schwächen damit nachhaltig

in der Pfalz / IMAGO PETER SANDBILLER voran. die Krone. Süpplingen- Salierburger Staufer Welfen Staufer

1100 1110 1120 1130 1140 1150 1160 1170 1180 1190 1200 1210 1220 1230

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pers-Braun, gelangten dennoch einige Frauen zu Macht und Ansehen. Eigent- Herrschaft der Frauen lich sei hierzulande der Versuch gängige Praxis gewesen, Frauen „von politischer In zehn Reichsterritorien regierten Fürstäbtissinnen. Herrschaft“ fernzuhalten. Ausnahmen gab es vor allem zu Beginn der Reichs- ur Zeit des Alten Reiches hatte geschichte, wie die Karriere der Mathilde die heutige Ruhrgebietsmetropole von Quedlinburg (10. Jahrhundert) zeigt: ZEssen etwa die Größe des heutigen Sie regierte anstelle ihres Neffen Otto III., Liechtensteins, dazu kamen Besitztümer der im Felde war, und sie amtierte auch sowohl am Ijsselmeer als auch an der Erft, als Äbtissin. der Lahn oder rheinaufwärts bei Breisig Wann genau es zum Dualismus und Königswinter. Ein finanzstarkes Ge- einer geistlich-weltlichen Herrschaft meinwesen also, mit einigen Wein-, über auch bei den Frauen kam, lässt sich 140 Rittergütern, 3000 Bauernhöfen und präzise nicht rekonstruieren, es gibt zeitweise 13000 Einwohnern. kein Dekret, es gibt keine Urkunde. „Peu Wirklich bemerkenswert aber ist, dass à peu“ sei dies gegangen, sagt Schilp. in Essen die Frauen regierten. An der Historiker können nur feststellen, dass Spitze stand die Äbtissin des örtlichen Ende des 13. Jahrhunderts plötzlich Frau- Stifts, die zugleich den hochmögenden en auf dem Reichstag Sitz und Stimme Titel einer Reichsfürstin trug. Sie war haben, eine „Virilstimme“, das sagt schon eine Königin im Kleinen, nur untertan alles. dem Kaiser. Klar aber ist: Von jeher bedachten Fürstäbtissinnen machten im Reich Könige und Kaiser die Stifte mit üp- über ein halbes Jahrtausend lang Staat – pigen Gaben. Schließlich waren solche oftmals „politisch äußerst clever“, sagt „Etablissements“ (Küppers-Braun) ein der Geschichtsforscher Thomas Schilp. geeigneter Ort, Töchter und andere

Als Souverän übten die Frauen alle ESSEN / DOMSCHATZKAMMER ENGELBRECHT MARTIN weibliche Verwandte kommod unterzu- Hoheitsrechte aus, sei es die Polizeige- Regentin Maria Kunigunde (um 1780) bringen. walt, das Justizwesen oder die Prägung Fast ein Stück weiblicher Demokratie Und das wurde genutzt. Die Damen von Münzen. Zehn solch frauenregierter regierten nicht nur, sie frönten dem Bezirke gab es, Buchau in Schwaben Weder mussten die Damen ein Ar- Reitsport, sie schossen, oft besser als ihre beispielsweise, Herford, Gandersheim mutsgelübde ablegen noch lebenslange Brüder, sie spielten Billard, sie spielten oder Quedlinburg. Etwa 400 Äbtissinnen Keuschheit versprechen, sie durften in ei- Karten – das Erbe der Äbtissin Anna haben über die Jahrhunderte im Reich genen Häusern wohnen, ja einige ließen Salome von Manderscheid-Blankenheim regiert. es sich nicht nehmen, gar im Chor mit verzeichnet 20 „schlechte“ und 17 neue Ihr Amt erhielten die Frauen, indem Männern zu singen. Kein Wunder, dass Kartenspiele. sie von den Stiftsschwestern gewählt wur- sie oftmals verdächtigt wurden, ein Lot- Die Bücherwände waren meist gut den, „ein überaus bemerkenswerter Vor- terleben zu führen. gefüllt, sogar eine Kopie des römischen gang“, so Schilp. Fast schon ein Stück Die unterstellte „Zuchtlosigkeit“ führ- Handbuchs „De re militari“ stand in weiblicher Demokratie inmitten einer te dazu, dass so manches Damen- Essen. In den ottonischen Frauen- Welt der Männer. stift geschlossen oder in ein Männer- gemeinschaften galten – vermeintlich Dass Frauen einmal Territorialmacht kloster umgewandelt wurde, etwa das anrüchige – Liebeskomödien des alt- ausüben sollten, geht auf das Jahr 816 im sauerländischen Meschede. Aus dem römischen Dichters Terenz als anregende zurück, als Kaiser Ludwig – „der From- „Haus Gottes“, zürnte der Kölner Erz- Lektüre. me“ – zum Konzil nach Aachen lud. Hier bischof, sei ein „Haus der Dirnen“ ge- Kurzweil war die eine Sache, die an- wurde beschlossen, künftig zu trennen worden, unbewiesen zwar der Vorwurf, dere verlangte Standhaftigkeit. Oftmals zwischen Nonnen, die nur dem Himmel aber er griff. mussten sich die Frauenstifte gegen die verpflichtet waren, und den sogenannten „Ausgerechnet im Raum der Kirche“, territorialen Begehrlichkeiten viriler Kanonissen. sagt die Essener Historikerin Ute Küp- Nachbarn wehren; Truppen des Kaisers

1348 Karl IV. gründet in 1356 Die Goldene Bulle regelt um 1450 Johannes 1490 Maximilian I. grün- 1495 Der Worm- Prag die erste deutsche die Wahl der deutschen Könige Gutenberg erfindet det einen Kurierdienst, ser Reichstag ver- Universität. Im gleichen durch die sieben Kurfürsten in den Buchdruck, ein den Vorläufer der Post. kündet den „Ewigen Jahr beginnt die Pestepi- Frankfurt am Main. Die Krönung halbes Jahrhundert Der aus Italien stammen- Landfrieden“ und demie, der in Europa über erfolgt zunächst in Aachen, ab später erreicht die de Kaufmann Francesco gründet das Reichs-

JOCHEN REMMER / BPK 20 Millionen Menschen 1562 meist in Frankfurt. Die Auflage von Druck- de Tassis wird um 1500 kammergericht, das zum Opfer fallen. Reichsinsignien werden bis erzeugnissen bereits Hofpostmeister in Brüssel; ab 1689 seinen Karl IV. 1794/96 in Aachen und Nürn- über zehn Millionen seine Familie nennt sich Sitz in Wetzlar hat. 1346–1378 berg aufbewahrt, später in Wien. Exemplare. später von Thurn und Taxis. Nas- Habs- Luxem- Wittels- Interregnum Habsburger sauer burger burger Habsburger bacher Luxemburger

1240 1250 1260 1270 1280 1290 1300 1310 1320 1330 1340 1350 1360 1370

52 der spiegel 32/2006 WOTHE / IMAGEBROKER / IMAGO Ritterspiel in Bayern (2004): „Hoffieren, tantzen, stechen und durnieren“

(und auch des Papstes in früherer Zeit) Sünde war, sonst drohte die Hölle. Ex- wand im Burghof verharren – scheinbar halfen dann, falls sie fix genug zur Stelle kommunizierte konnten nicht ordnungs- eine Demütigung. waren. Die „Streitmacht“ der Landes- gemäß Ehen schließen, ihnen wurde die Doch sein eigentliches Ziel, den König herrinnen bestand mal aus 6, mal aus 20 Messe verweigert, sie traten ohne Verge- zu stürzen, erreichte Gregor nicht. Der Soldaten. Aber entscheidend geschlagen bung den Weg ins Jenseits an. Druck, dem sich reuevoll gebenden Mon- wurden sie nie. Unter dem Druck seiner Fürsten und archen zu verzeihen, war zu groß, er muss- Das Ende aller Frauenregierungen Bischöfe gab Heinrich nach und erklärte, te den Bann aufheben. Heinrich kehrte kam mit dem Reichsdeputationshaupt- „dass er aufgrund heilsamer Einsicht sein nach Deutschland zurück und regierte bis schluss im Jahr 1803, für Essen schon früheres Urteil geändert“ habe. Die Adli- kurz vor seinem Tode. einige Monate früher. Anfang August gen räumten ihm ein Jahr Zeit ein, sich mit Der Investiturstreit währte fast 50 Jahre 1802 rückten zwei preußische Kompa- dem Papst zu vertragen. Andernfalls woll- und überdauerte beide Kombattanten. nien ein, das reichte diesmal. Die In- ten sie einen neuen Monarchen wählen. Am Ende einigten sich die Nachfolger signien der letzten Fürstäbtissin Maria Im Winter 1077 machte sich der König Heinrichs und Gregors 1122 auf einen Kunigunde von Sachsen, die einst von auf den Weg über die Alpen nach Canos- Vertrag, der Wormser Konkordat genannt Kaiser Joseph II. wegen fehlender sa bei Parma, wo ihn der Papst in der Burg wird. Es regelte auf komplizierte Weise die „regulairer Schönheit“ als Gattin ver- einer befreundeten Comtessa erwartete. Frage, wer Bischöfe ernennen durfte – und schmäht worden war, wurden sofort Der Gang nach Canossa ist später war zugleich eine krachende Niederlage entfernt – und durch den Preußenadler sprichwörtlich geworden und hat Heinrich für die Kaiser. ersetzt. Georg Bönisch traurige Berühmtheit eingebracht: Drei Denn die Hoffnun- Tage lang ließ Gregor den Monarchen bei gen, das Imperium mit Eis und Schnee barfuß und im Büßerge- Hilfe loyaler Bischöfe

1517 Martin Luther 1524–26 Die Bauern 1530 Der Papst ab 1550 Höhepunkt der veröffentlicht seine rebellieren in Süd- und krönt zum letzten Mal Hexenverfolgung. Mehrere Kritik an der Kirche Mitteldeutschland gegen einen Kaiser, es ist zehntausend Menschen in 95 Thesen. Die die Obrigkeit. Thomas Karl V. Die Habsburger werden in Europa verbrannt, Reformation beginnt. Müntzer setzt im thüringi- bauen ihre Macht in Deutschland stirbt die Die Reichsfürsten schen Mühlhausen eine inner- und außerhalb letzte „Hexe“ 1775 in gewinnen in ihren radikaldemokratische des Reiches aus. Kempten/Allgäu.

Territorien zusätzlich AKG Verfassung durch. Er Postbote im an Macht. Luther wird später hingerichtet. 16. Jahrhundert AKG Wittels- bacher Luxemburger Habsburger

1390 1400 1410 1420 1430 1440 1450 1460 1470 1480 1490 1500 1510 1520

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Zeitgenossen magische Kräfte zusprachen und die lange Zeit auf Burg Trifels lagerten. Doch die Salier starben 1125 aus, und die Nachfolger – erst ein Süpplingenburger, dann Staufer, später Wittelsbacher, Lu- xemburger, Habsburger – regierten lieber in Sizilien, Prag oder Worms. Die Kaiser wurden in ihrer Heimat beigesetzt oder dort, wo sie gestorben waren. Und so fin- den sich Gräber der Monarchen in Palermo

MARTIN LEISSL / VISUM LEISSL MARTIN und Königslutter, dem englischen Glou- Goldene Bulle in Frankfurt am Main cester oder auch dem heute rumänischen Grundgesetz des Reiches Nagyvarad. Verschiedene Wege der Staatsbildung und Äbte zu regieren, ließen sich damit standen den europäischen Monarchen im nicht erfüllen. Mittelalter offen. In Frankreich etwa ver- Die Kirche nutzte vielmehr fortan jede fügten die königlichen Kapetinger zunächst Gelegenheit, um auf ihren Gütern und nur über die Ile-de-France um Paris. Sie Latifundien auch politisch zu herrschen. konsolidierten dort ihre Herrschaft und ex- Schon bald entstanden im Reich Dutzende pandierten von dieser gesicherten Basis Kirchenstaaten, darunter so mächtige Ge- aus. Den Anspruch der Päpste auf Ober- bilde wie die Fürstbistümer Mainz, Trier hoheit beantwortete Paris mit einer weit- oder Köln, aber auch kleine Hochstifte – gehenden Nationalisierung der Kirche. eine Besonderheit in Europa und ein we- Demgegenüber hatten die Kaiser ein sentlicher Grund für die innere Zerrissen- Handicap, das, so der Hamburger Histori- heit des Reiches. ker Sven Tode, aus urgermanischen Zeiten Die Landkarte des alten Kontinents war herrührte: Anders als die gekrönten Häup- damals noch unbestimmt. Viele der heuti- ter Englands und Frankreichs verfügten sie gen Völker bildeten sich erst, entwickel- nicht über das ganze Land im Reich; die Schlacht am Weißen Berg (im Dreißigjährigen ten eine gemeinsame Sprache und ein Zu- Reichsfürsten besaßen vielmehr eigene sammengehörigkeitsgefühl. Die Urkunden Territorien und wirtschaftliche Vorrechte – Friedrich führte brutalstmögliche Kriege des Reiches waren lateinisch, die Unterta- und waren damit unabhängig. gegen die reichen Städte Oberitaliens, um nen verständigten sich lieber auf Ober- und Insofern hätte es nahegelegen, dass die sein Imperium zu finanzieren. Das wider- Niederdeutsch, Okzitanisch, Alpenroma- Kaiser alle Kraft der Innenpolitik widme- spenstige Mailand ließ er niederbrennen und nisch oder Polabisch; im Osten der heuti- ten. Doch die Staufer aus Schwaben, seit siedelte die Einwohner an vier verschiede- gen Bundesrepublik siedelten damals Sla- 1138 auf dem Kaiserthron, wollten lieber nen Orten neu an, was freilich die Mailänder wen (siehe Grafik Seite 59). Weltpolitik betreiben. Statt Goslar, Qued- an einem Wiederaufbau nicht hinderte. Ab wann die deutschen Stämme unter- linburg, Gandersheim lockten Armenien Schon bald erregten die Allmachtsphan- einander ohne Dolmetscher auskamen, ist und der Nahe Osten. tasien des Staufers internationalen Wider- umstritten. Das Bewusstsein, einer Welt- Der von seiner Sendung überzeugte spruch. „Wer hat denn die Deutschen zu monarchie anzugehören, scheint nach An- Friedrich I. ließ sich von servilen Dichtern Richtern über die Nationen eingesetzt? Wer sicht von Experten beim Zusammenwach- bereits als „Herr der Welt“ feiern. Sein hat diesen rohen und gewalttätigen Men- sen geholfen zu haben. Nach 1100 be- Kanzler verspottete andere Monarchen schen das Recht gegeben, dass sie nach zeichnen sich immer mehr Schwaben, Europas als „reguli“ (Kleinkönige). Die kai- Willkür einen Herrn über die Häupter der Alemannen und Franken gegenüber Frem- serliche Kanzlei fügte dem Titel des Rö- Menschenkinder setzen?“, schimpfte etwa den als „Diutisce“. mischen Reiches seit 1157 das Wort „Heilig“ der englische Bischof Johann von Salisbury, Es war ein Reich ohne Hauptstadt, ob- hinzu, um den Anspruch auf Gleichberech- als der Kaiser einen ihm genehmen Papst wohl zeitweise Speyer gute Chancen hatte, tigung mit dem Papst zu unterstreichen. etablieren wollte. das deutsche Paris zu werden. In der Stadt Die Barbarossa-Jahre werden heute gern Am Ende musste sich Friedrich den am Rhein ließen die Kaiser aus dem Haus verklärt. Minnesänger erfreuten ihr Publi- Widersachern im In- und Ausland beugen. der Salier – sie regierten seit 1025 – ihre kum, bei farbenprächtigen Turnieren tra- 1177 küsste er dem rechtmäßigen Kirchen- Söhne beisetzen; der Dom wurde dafür ten Ritter auf edlen Rossen gegeneinander oberhaupt Alexander III. sogar öffentlich extra ausgebaut. In Speyer sollte auch dau- an. „Hoffieren, tantzen, stechen und dur- den Fuß. erhaft der königliche Schatz aufbewahrt nieren“ lautete der Wahlspruch des Adels. Sein Enkel Friedrich II., der in Süd- werden: die Reichsinsignien, denen die Aber die Schattenseiten überwogen. italien den damals wohl modernsten Staat

1555 Im Augsburger Reli- 1605/09 Die ersten regel- 1619 1756 Preußens 1765 Joseph II., Sohn gionsfrieden einigen sich mäßigen Zeitungen erscheinen In Weimar König Friedrich II. be- Maria Theresias, wird Kai- die Reichsstände, ihre Kon- in Straßburg und Augsburg. wird die ginnt den Sieben- ser. Er schafft in Österreich fessionsunterschiede zu Schulpflicht jährigen Krieg – ein die Leibeigenschaft und tolerieren. Die Untertanen 1618–48 Im Dreißigjährigen eingeführt. krasser Verstoß ge- die Folter ab. müssen sich nach den Lan- Krieg sterben bis zu zehn Millio- gen das Reichsrecht. desherren richten oder aus- nen Menschen. Die Reichsfürsten Preußen etabliert 1769 Erster Blitzableiter Friedrich II. wandern: „Wessen Land, bekommen die freie Ausübung „der Große“ sich als europäi- in Deutschland an der dessen Religion.“ ihrer Landeshoheit verbrieft. 1740–1786 sche Großmacht. Jakobikirche in Hamburg. AKG

Habsburger

1530 1540 1550 1560 1570 1580 1590 1600 1610 1620 1630 1640 1650 1660

54 der spiegel 32/2006 Karmeliterkloster in Frankfurt am Main, heute Sitz des Instituts für Stadtgeschich- te. Der Name der Pergamenturkunde leitet sich von dem Siegel (lateinisch „bulla“) her, dieses ist aus Goldblech gefertigt und wurde mit Wachs ausgegossen. Die 31 Kapitel der Bulle legten fest: • die Wähler des Königs. Das waren fortan die sieben Kurfürsten („kur“ bedeutet Wahl), also die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, der König von Böhmen, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg und der Pfalzgraf bei Rhein. Später änderte sich die Zusam- mensetzung; • den Wahlort: die Bartholomäuskirche in Frankfurt am Main, im Volksmund Kai- serdom genannt. Man entschied sich für die Messestadt, weil sie über ausrei- chend Unterkünfte verfügte, zentral lag und einen Ruf als „Versöhnungsort“ (His- toriker Michael Matthäus) genoss. Mehr- fach hatten sich hier deutsche Royalties nach Zwistigkeiten öffentlich ausge- söhnt. Nur in wenigen Fällen wichen die Kurfürsten später auf Augsburg, Regens- burg oder Köln aus;

INTERFOTO • das Procedere: Starb ein König, sollte der Krieg)*: Urtrauma der Deutschen Mainzer Erzbischof innerhalb eines Mo- nats zur Wahl des Nachfolgers laden. Der Europas aufbaute, sich aber für das Reich torie anderer Länder, und manche Wissen- Entwurf für die Einladungsschreiben fin- wenig interessierte, schwächte die Krone schaftler sprechen auch deshalb von einem det sich in Kapitel XVIII der Bulle. In endgültig. Sonderweg. Aus dem Reich mit seinen der kleinen Wahlkapelle in der Bartho- Die Kaiser verfügten nämlich über be- mächtigen Stämmen und Geschlechtern bil- lomäuskirche bat der Mainzer Kirchen- sondere Rechte, die sogenannten Regalien: dete sich kein Nationalstaat mit einem fürst seine Kollegen der Reihe nach um Nur sie durften beispielsweise Silber und machtvollen Regenten an der Spitze. ihre Meinung; er selbst äußerte sich zum Erze abbauen, Münzen prägen, Zölle ver- Während die Kapetinger in Frankreich Schluss. War nach 30 Tagen keine Eini- hängen. Um seinen Sohn Heinrich als und die Plantagenets in England die Erb- gung erzielt, sollte das Verfahren be- potentiellen Nachfolger durchzusetzen, trat monarchie etablierten, mussten sich Stau- schleunigt werden. Für die Wahlfürsten Friedrich II. 1220 und 1231/32 einen wesent- fer, Luxemburger oder Wittelsbacher wäh- gab es dann nur noch Wasser und Brot. lichen Teil seiner wirtschaftlichen Privi- len lassen, und ihnen gelang es immer nur Aber so weit ist es nie gekommen. „In legien an die Reichsfürsten ab und verzich- für einige Generationen, ihre Sippenmit- der Regel“, so Matthias Kloft vom Frank- tete zu deren Gunsten auch auf Justiz und glieder durchzusetzen. Die zeitweise gut furter Dommuseum, „war der Monarch Gesetzgebung in großen Teilen des Reiches. hundert Reichsfürsten wählten lieber un- schon vor der Veranstaltung ausgeguckt.“ Danach war an ein Durchregieren gar terschiedliche Geschlechter, damit kei- Die Kaiserkrönung – bis 1530 durch den nicht mehr zu denken. ne Familie zu viel Macht erlangte. Und Papst – fand dann zumeist in Rom statt. Deutschlands Geschichte unterschied manchmal kürten sie sogar Gegenkönige. Später fielen Kaiser- und Königskrönung in sich von nun an wesentlich von der His- 1356 wurde der Wahlmodus schriftlich Frankfurt zusammen und erfolgten meist zwischen dem Kaiser – es war Karl IV. aus einige Wochen nach der Wahl. * Gemälde von Pieter Snayers, 1620. dem Hause Luxemburg – und den wich- Es waren prächtige Veranstaltungen, die tigsten Reichsfürsten festgelegt, in der Gol- bei solchen Gelegenheiten am Main statt-

AKG denen Bulle, dem Grundgesetz des Alten fanden. Die Wächter schlossen die Stadt- Reiches. tore; außer den Kurfürsten und ihrem Eine der sieben Ausfertigungen liegt in umfangreichen Gefolge – allein der Köl- der Privilegienkammer im ehemaligen ner Erzbischof reiste schon einmal mit

1775 Goethe geht nach Weimar. 1801–03 Das Reich muss die 1806 Dort sammelt Herzogin Anna Amalia Gebiete links des Rheins an Kaiser Franz II. Dichter und Denker um sich, die Napoleon abtreten. Um die legt die Krone Weimar berühmt machen. Auch betroffenen Fürsten zu ent- nieder und löst der Dichter Wieland und der Philo- schädigen, wird das Reich mit das „Heilige soph Herder folgen dem Ruf. dem Reichsdeputationshaupt- Römische Reich schluss neu organisiert – und der Deutscher Schiller liest am Hof Kaiser entscheidend geschwächt. Nation“ auf. von Herzogin Anna Amalia Wittelsbacher Lothringer Lothringen-Habsburger

1680 1690 1700 1710 1720 1730 1740 1750 1760 1770 1780 1790 1800 1810

der spiegel 32/2006 55 Titel „Erste Macht Europas“ Der Geschichtswissenschaftler Heinrich August Winkler, 67, über den Reichsmythos und Deutschlands Weg zum Nationalstaat

SPIEGEL: Professor Winkler, das Die deutschen Liberalen Winkler: Der Anspruch, als Schutzmacht Ende des Heiligen Römischen und Demokraten hat dieses der Christenheit die erste Macht Europas Reiches Deutscher Nation vor Doppelziel am Ende über- zu sein. Der Reichsmythos enthielt den 200 Jahren betrauerten die fordert, daran ist die 48er Gedanken, dass Deutschland mit der Kai- Deutschen nicht sonderlich. Revolution in der Hauptsache serkrönung Karls des Großen im Jahr 800 Goethe, der auf einer Reise gescheitert. das Erbe des alten Römischen Reiches davon erfuhr, schrieb, ein SPIEGEL: Weil die Deutschen angetreten hatte. Es galt nach der Pro- Streit zwischen Kutscher und Einheit und Freiheit nur um phezeiung Daniels als das letzte der vier Diener habe mehr interessiert den Preis des Krieges bekom- Weltreiche vor dem Weltuntergang. Dem

als diese Nachricht. Warum MARCO-URBAN.DE men hätten? Reich kam damit nach eigenem Verständ- die geringe Anteilnahme? Historiker Winkler Winkler: Die 48er wollten ur- nis eine heilsgeschichtliche Aufgabe zu. Winkler: Der Gegensatz zwi- „Leere Hülse“ sprünglich einen großdeut- SPIEGEL: Warum erfuhr der Reichsmythos schen Österreich und Preu- schen Nationalstaat, also un- im 20. Jahrhundert eine Renaissance? ßen, den beiden deutschen Großmäch- ter Einbeziehung der deutschsprachigen Winkler: Nach dem Untergang des Habs- ten, hatte im 18. Jahrhundert so krasse Teile Österreichs. Ein solcher Staat hätte burgerreichs schien die großdeutsche Lö- kriegerische Formen angenommen, dass das Habsburgerreich gesprengt und das sung erstmals möglich. Die Beschwörung den meisten Beobachtern das darüber europäische Gleichgewicht zerstört. Die- eines großdeutschen Reiches erfüllte schwebende Reich als eine leere Hülse ses Programm lief auf einen großen euro- überdies kompensatorische Zwecke. Ge- erschien. päischen Krieg hinaus. rade das im Ersten Weltkrieg geschlagene SPIEGEL: Es berührte die Menschen in SPIEGEL: Eine Hypothek der jüngeren Deutschland brauchte nach Meinung ihrer Lebenswirklichkeit nicht mehr? deutschen Geschichte ist unter dem Be- konservativer Intellektueller eine Verge- Winkler: So ist es. Am ehesten hatte das griff „Reichsmythos“ bekannt. Was war wisserung seiner historischen Sendung. Reich noch einen Rückhalt in den mitt- der Kern dieses Mythos? Das Reich als europäische Ordnungs- leren und kleinen Staaten, da gab es noch macht: Das ist eine Formel, die man erst so etwas wie Reichspatriotismus. Den recht auch nach 1933 wiederfindet. meisten Menschen aber schien das Reich SPIEGEL: Das Heilige Römische Reich war fern und überlebt. doch in seiner fast tausendjährigen Ge- SPIEGEL: Im 1806 untergegangenen Reich schichte nie Ordnungsmacht. existierten einst über 300 souveräne Winkler: Entscheidend ist der Gedanke, Territorien. War die Kleinstaaterei ein dass das Reich immer etwas anderes und Hemmschuh für die Deutschen auf dem mehr war als ein normaler Nationalstaat. langen Weg nach Westen? Als Hitler 1939 in der sogenannten Rest- Winkler: Ja. So sahen es aus guten Grün- tschechei das Protektorat Böhmen und den die vorwärtsdrängenden Kräfte im Mähren errichtete, bescheinigten ihm Bürgertum und später auch in der Arbei- großdeutsch gesinnte Rechtshistoriker, terschaft. dies liege ganz auf der Ebene der alten SPIEGEL: Was bedeutete dies für Deut- Reichsidee, die stets übernational ge- sche im 19. Jahrhundert, die nach Frei- wesen sei. Deswegen sei das Reich heit, Gleichheit, Brüderlichkeit streb- nicht an nationalstaatliche Grenzen ge- ten? bunden. Ganz ähnlich argumentierte Winkler: Die fortschrittlichen Kräfte muss- der berühmt-berüchtigte Staatsrechtler ten zwei Dinge zugleich wollen, nämlich Carl Schmitt, der das Deutsche Reich Einheit und Freiheit. Sie mussten einen auf dem Weg zu einer neuen Großraum- Verfassungsstaat und den Nationalstaat ordnung sah. gleichzeitig anstreben. Das war ein unge- SPIEGEL: Sie haben den Reichsmythos ein- heuer ehrgeiziges Programm, wie sich mal als Brücke zwischen Hitler und dem etwa in der Revolution von 1848 zeigte. gebildeten Deutschland bezeichnet, viel- Die deutschen Revolutionäre, wenn man leicht als die wichtigste. War er ein sie so nennen will, hatten sich mehr Grund für den Erfolg Hitlers? vorgenommen als die französischen im Winkler: Ich denke, ja. Ein Blick auf die Jahr 1789 … konservative Literatur vor 1933 zeigt, dass SPIEGEL: … die ja einen Nationalstaat keine Parole so populär war wie diese. bereits vorgefunden hatten, wenn auch Das Reich erwachte zu neuer gedankli-

einen vormodernen. VERLAG SÜDDEUTSCHER cher Größe, und es stellte sich als Alter- Winkler: Der Rahmen in Frankreich Diktator Hitler, Reichsinsignien (1938) native dar sowohl gegenüber der westli- war da, in Deutschland hingegen nicht. Suche nach großdeutscher Ideologie chen Demokratie wie gegenüber dem öst-

56 der spiegel 32/2006 AKG Fränkische Metropole Nürnberg (um 1895): Propaganda vom „gewaltigen germanisch-deutschen Reich“ lichen Bolschewismus. Es hieß, nur ein Winkler: Darüber könnte ich nur speku- 1600 Begleitern und 750 Pferden an – durf- von den Deutschen geführtes Europa kön- lieren. Sicher ist, dass die Legitimierung te kein Fremder mehr die Stadt betre- ne ein befriedetes Europa werden. Das des Krieges gegen die Sowjetunion durch ten. Noch heute zeugen die vielen Fenster war die Suche nach einer Ideologie, die maßgebliche Vertreter der Kirchen bis hin in den Fronten der Häuser um den Rö- die traumatische Erfahrung der Niederla- zum Bischof von Münster, Graf von Ga- merplatz vom Geschäftssinn der Frankfur- ge im Ersten Weltkrieg ausgleichen sollte. len, etwas zu tun hat mit der Überzeu- ter, denn sie wurden wegen der guten Sicht SPIEGEL: Der Begriff „Reich“ hat ja auch gung, dass der atheistische Bolschewis- auf das Spektakel an Neugierige vermietet. eine sinnliche Qualität. Glauben Sie, dass mus der Hauptfeind des Christentums ist. Die Reichsinsignien wurden ab 1424 in die Menschen für den Reichsmythos SPIEGEL: 1945 ist Hitler mitsamt seiner Ge- Nürnberg, teilweise auch in Aachen ver- empfänglich waren, weil viele in den da- schichtspolitik untergegangen. War dies wahrt; Gesandte beider Städte brachten mals unzerstörten Städten das Mittelalter auch das Ende des Reichsmythos? sie zur Bartholomäuskirche, wo der Erzbi- quasi aufgesogen haben? Winkler: In der Tat, der Kult um das deut- schof von Mainz den gewählten Königs- Winkler: Ja, denken Sie an den Kult um sche Mittelalter ist erst 1945 zu Ende ge- kandidaten empfing. Nach feierlichem Ein- Nürnberg. Hitler hat nach dem „An- gangen. Auch die Berufungen auf das zug und Gebeten salbten die Weihbischö- schluss“ Österreichs die Reichsinsignien, Alte Reich hören danach weitgehend auf. fe von Mainz und Köln dem angehenden wie Krone, Szepter und Schwert, von SPIEGEL: Ist der Mythos auch deswegen Monarchen die nackte Brust, den Nacken, Wien hierhin bringen lassen, aus der verschwunden, weil der Begriff Reich Schulterblätter, den rechten Arm. Dann Stadt der Habsburger in die Stadt der durch die Nazis diskreditiert wurde? zog sich der Prätendent zurück und legte Reichsparteitage. Er wollte auf diese Wei- Winkler: Eindeutig ja. Als im Parlamen- die königlichen Gewänder an. Die drei se dokumentieren, dass lange vor der tarischen Rat 1948/49 der Vorschlag auf- erzbischöflichen Kurfürsten setzten ihm Entdeckung der Neuen Welt „schon ein tauchte, den Begriff Reich wiederzu- gemeinsam die Krone auf. gewaltiges germanisch-deutsches Reich beleben und auf die nachmalige Bundes- Später zog der Monarch mit Gefolge bestanden“ habe, wie er es im September republik zu übertragen, da blieb diese zum Römer, in dessen Kaisersaal das 1938 auf dem Reichsparteitag „Groß- Überlegung ein Minderheitsvotum, das Krönungsbankett stattfand. deutschland“ formulierte. sofort quer durch die Parteien zurückge- Goethe hat die Szene in der Frankfurter SPIEGEL: Gehörte zum Reichsmythos auch wiesen wurde. Für die politische Ord- Innenstadt beobachtet, wie sie sich 1764 bei der Missionsgedanke im Osten? nung in Deutschland konnte dieser Ter- der Krönung von Joseph II. zutrug. Roter Winkler: Den haben bekannte Historiker minus nicht mehr benutzt werden. und weißer Wein strömte aus den zwei im Zweiten Weltkrieg immer wieder SPIEGEL: Heute gibt es den Versuch man- Schnäbeln des Doppeladlers auf dem beschworen. Manche sahen in Moskau cher Ihrer Kollegen, das Alte Reich zum Springbrunnen vor dem Rathaus. Glocken- den „Antichrist“ am Werk. Der war dem Anknüpfungspunkt für die Europäische geläut kündigte der Menge den Monarchen frühchristlichen Mythos zufolge das Union zu machen, etwa unter Verweis an, der unter einem reichbestickten, von Oberhaupt der Häretiker und zudem ein auf den föderalen Charakter. zwölf Schöffen und Ratsherren getragenen Jude. Auch Hitler spielte darauf an. An- Winkler: Das ist eine Romantisierung einer Baldachin einherschritt. Ergriffen notierte fang 1942 verkündete er, bald werde die- unwiederbringlich vergangenen Zeit. Un- der Dichter: ser „böseste Weltfeind aller Zeiten we- weigerlich würden durch die Beschwörung „Wir sehen die irdische Majestät vor Au- nigstens auf ein Jahrtausend seine Rolle des Reiches die Ängste vor deutschen An- gen, umgeben von allen Symbolen ihrer ausgespielt“ haben. sprüchen geweckt, wieder ein Modell für Macht, aber indem sie sich vor der himm- SPIEGEL: Hat der Reichsmythos auch mit- die Ordnung Europas zu sein. Vor solchen lischen beugt, bringt sie uns die Gemein- geholfen, Hitlers monströse Verbrechen Versuchen kann man nur warnen. schaft beider vor die Sinne.“ zu unterstützen – bis hin zum Holocaust? Interview: Georg Bönisch, Klaus Wiegrefe Ein ungestümes „Vivat“ erscholl aus tau- send Kehlen und – wie Goethe glaubte – „gewiss auch aus den Herzen“. Die Gol-

der spiegel 32/2006 57 Titel AKG Schriftsteller Goethe*, Anna Amalia Bibliothek in Weimar (2001): In den deutschen Kleinstaaten fanden Dichter und Denker großzügige dene Bulle regelte die Verhältnisse in ei- selseitige Treueeide zwischen Reichsfürs- milian aus dem Hause Habsburg zusam- nem Reich, das von einer uns unbekannten ten und Kaiser, Rittern und Landesherren, men, einem Mann, der mittelalterliches „vormodernen Fremdartigkeit“ geprägt Bauern und Grundherren. Rittertum und aufkommende Renaissance war, so die Historikerin Barbara Stollberg- Eine eigentümliche Welt, kleinteilig und in einer Person verband. Die Männer be- Rilinger**. vielfältig. Es gab Städte wie Kempten im schlossen, der störenden Wegelagerei ein 12 bis 15 Millionen Menschen lebten dort Allgäu, deren eine Hälfte dem Kaiser un- Ende zu bereiten. Am 7. August verkün- im Mittelalter, vier Fünftel davon Bauern. terstand und die andere der gleichnami- dete Maximilian den „Ewigen Landfrie- Sie siedelten zwischen Dünkirchen und gen Reichsabtei. Zeitweise kursierten über den“ – erstmals wurde reichsweit und zeit- Laibach, zwischen Hamburg und Parma, in 500 verschiedene Währungen im Reich. lich unbegrenzt die Selbstjustiz untersagt. Fürstentümern, Grafschaften oder Reichs- Solange Geld keine Rolle spielte, weil Ein großer Fortschritt, auch wenn es noch städten. die Menschen lieber ihre Felle und Pelze Jahrhunderte dauerte, bis das staatliche Landkarten mit den Grenzen des Reichs direkt gegen Wein oder Salz eintauschten, Gewaltmonopol flächendeckend durchge- könnten den Eindruck erwecken, es habe hielt sich der Unmut über den kleinstaat- setzt werden konnte. sich um einen Flächenstaat gehandelt wie lichen Wirrwarr in Grenzen, zumal viele Der sogenannte Reichstag zu Worms war etwa die Bundesrepublik, mit gleichen Deutsche davon nichts mitbekamen. Man ein gesellschaftliches Großereignis. Die Rechten und Pflichten für alle Bürger. lebte, arbeitete und starb im Umkreis des 7000 Wormser mussten die gleiche Anzahl Doch den Untertanen standen nicht etwa Geburtsorts. an Delegierten unterbringen, zudem noch kaiserliche Beamte gegenüber, die einheit- Doch dann löste sich die Wirtschafts- 6000 Pferde versorgen. Und die Gäste be- liche Steuern einzogen, Recht sprachen ordnung des Mittelalters auf. Neben den nahmen sich oft daneben, wie ein Chro- oder Strauchdiebe verhafteten. Handwerker trat der Tagelöhner in der ar- nist berichtet: Sie hatten vielmehr mit mehreren Ob- beitsteilig produzierenden Manufaktur. „Es ist allhier zu Worms bey der Nacht rigkeiten klarzukommen: der Kirche, dem Bankhäuser entstanden, die Investitionen nicht gut zu gehen; ist selten eine Nacht, da Landesherrn, dem Grundherrn, dem Kai- finanzierten; im 15. Jahrhundert wurden nicht 3 oder 4 Menschen ermordet wer- ser. Und jeder verlangte Abgaben, jeder die ersten aktienähnlichen Papiere ausge- den. Der Kaiser hat einen Profos (für Dis- sprach sein eigenes Recht. geben. Die Städte blühten auf und brachten ziplin zuständiger Offizier –Red.), der hat Das Ergebnis war ein großes Durchein- ein selbstbewusstes Bürgertum hervor, das ueber 100 Menschen ertraenkt, gehangen ander. Benachbarte Bauern zahlten unter- in Europa seinesgleichen suchte. Denn nie- und ermordet, Es geht hier ganz auf Roe- schiedlich hohe Abgaben, weil sich der mand profitierte vom Reich so sehr wie die misch zu, mit Morden, Stehlen und schoe- Satz auch nach der Wirtschaftskraft des- Bewohner der freien Reichsstädte, die dem ne Frauen sitzen alle Gassen voll.“ jenigen richtete, dem der Boden gehörte. Kaiser unmittelbar unterstanden. Sie gaben Bei seiner Abreise hinterließ Maximilian Die Bestrafung für Mord hing vom Stand sich Gesetze, traten Bündnissen – wie etwa den Wormsern einen Berg Schulden und des Opfers und dem Wohnort des Täters der Hanse – bei und häuften Wohlstand an. als Pfand seine ungeliebte Gemahlin Bian- ab. Brachte ein städtischer Bürger einen Da störte es zunehmend, dass Adlige ca Maria Sforza, was die Zeitgenossen Landmann um, konnte es sein, dass er mit ihr (angebliches) Recht mit dem Schwert nicht verwunderte. Denn die Geldnot des einer Geldbuße davonkam. Massakrierte durchsetzten, Kaufleute überfielen und Monarchen mit der großen Nase und der hingegen ein Bauer einen Adligen, musste den Handel behinderten. Etwa der durch legendären Habsburger Unterlippe sorgte er aufs Schafott. Zusammengehalten wur- Goethe verewigte Götz von Berlichingen, schon damals für Spott. Der italienische de das merkwürdige Gebilde durch wech- ein schwäbischer Reichsritter, der von sich Philosoph Niccolo Machiavelli etwa ätzte, selbst sagte, er habe allein in eigener Sache selbst wenn man die Blätter aller Pappeln * Gemälde von Johann Tischbein, 1786/87. 15 „Fehden“ (vulgo Kleinkriege) geführt. Italiens in Gold verwandele, würde dies ** Barbara Stollberg-Rilinger: „Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation“. Verlag C. H. Beck, München; 1495 trafen die Reichsfürsten in Worms nicht ausreichen, um die Bedürfnisse des 136 Seiten; 7,90 Euro. mit dem König und späteren Kaiser Maxi- klammen Regenten zu stillen.

58 der spiegel 32/2006 Auch sonst kam manches Kluge bei den Beratungen heraus, etwa eine Anti-Mono- pol-Gesetzgebung, die sich gegen die mäch- tigen süddeutschen Handelshäuser richtete. Allerdings erlangten die Reichsparagrafen nur Gesetzeskraft, wenn die Rechtslage in den Territorialstaaten dafür Raum ließ, und das war viel zu selten der Fall. Später sind die Reichsinstitutionen Ziel- scheibe bösen Spotts gewesen, insbesondere das Reichskammergericht in Wetzlar, über das schon Goethe herzog, der dort einige Monate als Referendar zubracht. 20000 Pro- zesse hatten sich zu seiner Zeit angestaut, und nur 60 wurden jährlich bearbeitet. Das war in der Tat ein Skandal, was sich auch daran erkennen lässt, dass manche Verfahren über ein Jahrhundert dauerten. Richter, Kläger, Anwälte waren dann bei Urteilsverkündung meist schon in der drit- ten Generation mit dem Fall beschäftigt, und mancher der Beteiligten wird sich viel- leicht gewundert haben, wenn er von einer Universität ein Gutachten bekam, dass der

JENS-ULRICH KOCH / DDP KOCH JENS-ULRICH Vorgänger 30 Jahre zuvor in Auftrag gege- Auftraggeber ben hatte – so geschehen in einem Rechts- streit zwischen der Stadt Essen und der Maximilian interessierte sich wenig für Auf den heutigen Betrachter wirkt die dortigen Reichsabtei. das Heilige Römische Reich Deutscher Na- Konstruktion des Reiches in der frühen Doch allein die Tatsache, dass die Men- tion. Ihm ging es vorrangig um die Habs- Neuzeit eigenartig. Die Schweiz und die schen gegeneinander prozessierten, wer- burger Hausmacht inner- und außerhalb Niederlande schieden im Laufe der Jahr- ten Historiker als Beitrag zum inneren des Reiches, die er mit Söldnertruppen und hunderte aus. Die meisten Reichsbewohner Frieden. Man schlug sich während des Pro- geschickter Heiratspolitik enorm zu meh- wussten nicht, wo die Außengrenzen ver- zesses nicht mehr die Köpfe ein. ren vermochte. liefen. Sie orientierten sich lieber an Flüs- Und gemessen an den Umständen der Kein Wunder, dass die Habsburger im- sen, Bergen oder den Sprachgrenzen. Zeit waren die Richter erstaunlich profes- mer wieder zu Königen und später Kai- Fremde Dynastien mischten mit, weil sie sionell und unabhängig. Als etwa der Lan- sern gewählt wurden; niemand wollte sich über Besitzungen in deutschen Landen ver- desherr und Kardinal von Straßburg im mit ihnen anlegen. fügten: etwa die Königin von Schweden als südbadischen Ettenheim die besten Häuser Und sie ließen die Fürsten des Reiches – Herzogin von Bremen-Verden, der König beschlagnahmen und die dort lebenden Ju- die Hohenzollern in Brandenburg, die Wel- von Dänemark als Herzog von Holstein. den vertreiben wollte, wandten sich seine fen im Herzogtum Braunschweig-Lüne- Deutsche Dynasten wiederum suchten Untertanen an das Gericht und bekamen burg, die Wittelsbacher in Bayern – in Macht und Anerkennung jenseits der Gren- Recht. Und das war kein Einzelfall. Ruhe tun, was sie selbst in den Habsburger zen. Der Kurfürst von Brandenburg ließ sich Immer wieder schützte das Gericht die Landen auch taten: auf dem eigenen Ter- 1701 zum König in Preußen krönen, was Menschen vor der Willkür der Obrigkeit – ritorium Vorformen des modernen Staates außerhalb des Reiches lag; die sächsischen mit möglicherweise weitgehenden Folgen. aufbauen, mit einer halbwegs funktionie- Herzöge herrschten eine Weile über Polen. Experten wie der Rechtshistoriker Bern- renden Verwaltung, überwiegend regel- 1529 standen die Türken erstmals vor hard Diestelkamp glauben sogar, dass „das mäßigen Steuereinnahmen und einem Wien, und da die habsburgischen Kaiser spezifisch deutsche Vertrauen auf die Re- Staatsverband, in dem nur der Landesherr Geld für den Krieg brauchten, riefen sie form von oben“ eine Folge der Reichsjustiz etwas zu sagen hatte. regelmäßig den Reichstag zusammen, um sei – und nicht etwa in einem besonderen Steuern zu beschließen. Kurfürsten, Fürs- Untertanengeist der Deutschen wurzele. Deutsche ten, Bischöfe, Abgesandte der Reichsstäd- War das Heilige Römische Reich Deut- te trafen sich – manchmal jährlich, manch- scher Nation also ein Segen für die Deut- Sprache mal nur alle Jahre – für einige Wochen oder schen? Ein Schutzwall gegen die Men- Monate in Nürnberg, Augsburg oder Spey- schenschinder auf den Fürstenthronen? er. Später tagte der Reichstag durchgehend Es gab Zeiten, da sah es danach aus. ungefährer Verlauf der deutschen im Regensburger „Alten Rathaus“. Nach der Reformation etwa, als die reli- Sprachgrenze im Es war kein Parlament, was sich in dem giösen Leidenschaften hochkochten. Die 10./11. Jahrhundert prächtigen Patrizierbau versammelte, son- Kritik des Augustinermönchs Martin Lu- Grenze des Reiches dern eine Mischung aus heutigem Bundes- ther an Papst und Kirche 1517 spaltete da- unter Otto I. (962– 973) rat und Wiener Kongress. Man beriet über mals das Land. Außenpolitik, aber auch Frieden im In- Kaiser Karl V., ein Überzeugungstäter nern, Steuerfragen und Währungsproble- wie sein Gegenüber Luther, war und blieb me. Für die Abwehr der Osmanen brach- katholisch. Doch manche Landesfürsten ten die Stände enorme Mittel auf, die zur nutzten die Chance, die ihnen Luthers Leh- Rettung des Abendlandes wesentlich re bot. Dem Mönch zufolge hatte die Kir- Quelle: Wilhelm Schmidt, beitrugen und von einigen Historikern als che in der Politik nichts zu suchen. Da lag „Geschichte der deutschen Sprache“ Beleg für die Funktionstüchtigkeit des Rei- es nahe, sich das Hab und Gut der vielen ches gewertet werden. kleinen Kirchenstaaten anzueignen. Bald

der spiegel 32/2006 59 Dom in Speyer Chance, ein deutsches Paris zu werden standen sich beide Seiten feindlich gegen- über. In anderen Ländern Europas muss- ten religiöse Minderheiten früher oder spä- ter weichen: die Juden aus Spanien, die Hugenotten aus Frankreich. Im Reich hin- gegen einigten sich die Stände im Augs- burger Religionsfrieden 1555 darauf, un- tereinander Frieden zu halten, auch wenn sie Katholiken, Lutheraner oder Refor- mierte waren. Für Menschen, die seit Jahr- hunderten nur die Alternative kannten, Anhänger anderen Glaubens zu bekehren oder zu töten, war das ein geradezu revo- lutionärer Schritt. Den Untertanen ließ man freilich ledig- lich die Wahl, sich dem Bekenntnis des Landesherrn anzuschließen oder auszu- wandern: „Wessen Land, dessen Religion“. Und auch das änderte sich: 1648 ver- pflichteten sich die Stände, „in Geduld zu ertragen“, wenn Untertanen die Konfes- sion wechselten. Schon bald rühmten aus- ländische Beobachter das Alte Reich als Ort der Toleranz. Der Philosoph Charles de Montesquieu schwärmte gar von der „Ewigen Republik“ in diesen Landen. Der hohe Preis für solchen Fortschritt wird allerdings leicht übersehen. Schon der Augsburger Religionsfrieden 1555 kam nur zustande, weil Katholiken und Protestan- ten von den Kriegen untereinander er- schöpft waren. Auch die Vereinbarung von 1648 hatte

eine denkbar blutige Vorgeschichte: den SIEBIG / IFA

Die Herrschaft im Reich* Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648), dem Geteilte Macht bis zu 10 der wohl 20 Millionen Einwohner König und Kaiser Kurfürsten Mitglieder des Reiches des Reiches zum Opfer fielen, ein weit wählen höherer Anteil, als die Deutschen in den · Oberhaupt des Reiches · Kurfürsten beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts ernennen Böhmen, Brandenburg, Köln, Mainz, · formal oberster Lehnsherr Pfalz, Sachsen und Trier, später auch zu beklagen hatten. und Richter Bayern und Braunschweig-Lüneburg Das Reich als Ganzes hat diesen Krieg · wichtigste Machtgrundlage · geistliche und weltliche Fürsten nicht geführt, wohl aber seine Mitglieder, sind eigene Territorien die Reichstag und Reichsjustiz völlig lahm- („Hausmacht“) · Grafen und Herren · Reichsstädte legten. Der Kaiser, die Kurfürsten, Reichs- städte und Grafschaften betrieben ge- · Reichsritter meinsam mit anderen europäischen Mon- archen das Gemetzel. genehmigt ernennt bilden** Glaubens- und Machtfragen spielten in- den Reichskammergericht einander; nordeuropäische Protestanten standen gegen die Katholiken im Süden. Das katholische Frankreich fühlte sich von Reichstag der Habsburger Herrschaft in Spanien und erlässt Österreich bedroht und unterstützte die REICHSABSCHIEDE protestantischen Schweden. (Beschlüsse des Reichstags) Es war der Tiefpunkt in der nahezu tau- sendjährigen Geschichte des Imperiums, Umsetzung ernennen Umsetzung Mitwirkung durch durch in und zu Recht ist seitdem immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob den Deut- 10 Reichskreise schen dieses Urtrauma ihrer Geschichte er- Bayern, Burgund, Franken, Kurrhein, Niederrhein-Westfalen, Niedersachsen, Oberrhein, herr- spart geblieben wäre, wenn sie damals über Obersachsen, Österreich, Schwaben schen im einen machtvollen Staat verfügt hätten. Stattdessen wurden sie zum Hauptopfer des mörderischen Treibens der Lands- Reichsgebiet knechtshorden. 1637 ließ der schlesische *nach 1512 **ohne Reichsritter; geistliche und weltliche Fürsten sowie Grafen und Herren nur teilweise Quelle: Putzger Dichter Andreas Gryphius das „verwüste-

60 der spiegel 32/2006 Zerstörer Napoleon* Angriff aufs morsche Reich

Gerichtsvorladung zustellen. Der preußi- sche Gesandte warf den armen Überbrin- ger der Vorladung die Treppe hinunter mit den Worten: „Was! Er insinuieren?“ Friedrichs Rechtsbruch blieb ohne Folgen. Das Reich verkam zur bedeutungslosen Hülle. Wenn schon der Kaiser und der bei- nahe ebenso mächtige preußische König – auch er als Kurfürst von Brandenburg Teil des Reichsverbands – kein Interesse an den Reichsinstitutionen hatten, wer sollte die- sen dann zur Durchschlagskraft verhelfen? Napoleon musste 50 Jahre später keine großen Kräfte aufbringen, um das morsch gewordene Imperium zusammenkrachen zu lassen. Nach Siegen über Preußen und zuletzt Österreich erzwang er 1801 die Abtretung der linksrheinischen Gebiete des Reichs. Die betroffenen Reichsstände sollten mit Territorien östlich des Rheins entschädigt werden. Eine gigantische Umstrukturie- rung in Deutschland war die Folge. Gut 100 der über 300 Staaten oder staatenähn- lichen Minigebilde des Reiches wurden aufgelöst. Wenige Jahre später lockte Napoleon die deutschen Klein- und Mittelstaaten mit Kö- nigskronen (für Bayern und Württemberg) oder der Aufwertung zum Großherzogtum (für Baden, Hessen-Darmstadt und andere) oder drohte mit seiner Grande Armée. Am 12. Juli 1806 sagten sich die großen Reichs-

AKG stände im Süden und Westen vom deut- schen Kaiser los und schlossen sich zum te Deutschland“ klagen: „Wir sind doch das Dichten; aber dieser floh etwa hundert Rheinbund unter Führung Napoleons zu- nunmehr gantz/ ja mehr als gantz ver- Kilometer nach Mannheim, das zur Kur- sammen. Der Empereur war endgültig zum torben. Die Kirchen sind vorheert/ die pfalz gehörte, und konnte dort weiter- Herrscher über Deutschland aufgestiegen, Starcken umbgehawn Die Junckfrawn sind arbeiten. Der Theaterreformer Johann das Rest-Reich nur noch eine Farce. geschänd; vnd wo wir hin nur schawn Jst Christoph Gottsched ging aus Preußen Einige Wochen danach legte Franz II. Fewr/ Pest/ Mord vnd Todt / hier zwischen nach Leipzig; Paul Gerhardt, Dichter zahl- die Kaiserkrone nieder. Schantz vnd Korben Dort zwischen Mawr reicher Kirchenlieder, setzte sich ebenfalls Nahm damit das deutsche Verhängnis vnd Stad/ rint allzeit frisches Blutt …“ aus Berlin nach Sachsen ab, Johann Gott- seinen Lauf? Wäre alles anders gekommen, Als das Töten mit dem Westfälischen fried Herder gab seine Stelle als Hofpredi- wenn unsere Vorfahren das Reich macht- Frieden 1648 ein Ende hatte, begann die ger bei Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lip- voll verteidigt hätten? wohl sympathischste Zeit des Reiches. Aus- pe auf und zog nach Weimar zur Herzogin Die Trauer hielt sich jedenfalls in engen geblutet und geschwächt, präsentierte sich Anna Amalia. Grenzen, und je weiter die Zeit voran- dieses nun als ein vergleichsweise tole- Wirtschaftlich allerdings, urteilt der Ber- schritt, umso weniger wusste man mit dem rantes und friedliches Staatswesen. Das liner Historiker Heinz Schilling, vermoch- Alten Reich etwas anzufangen. Reichsheer konnte nur fallweise zusam- te das kleinteilige Reich „nie eine auch nur In der sich bald ausbreitenden nationalen mengerufen werden (etwa zur Abwehr der annähernd vergleichbare“ Dynamik zu Hybris sprach manches gegen das vergan- Türken, die 1683 erneut vor Wien stan- entwickeln wie die Niederlande, Frank- gene Imperium: dass niemand begeistert den), einen zentralen Oberbefehl gab es reich, Großbritannien. Auch deshalb ver- für die Kaiserkrone gestorben war (wie spä- nicht, auch keinen zentralen Zugriff auf lor das Reich im 18. Jahrhundert immer ter Millionen für „Führer“ und Vaterland), die Kriegskasse. Ein Angriffskrieg ließ sich mehr an Eigengewicht und wurde zum dass die Ahnen mit anderen Völkern fried- damit nicht führen. Spielball der europäischen Potentaten, die lich in einem Staat gelebt hatten, dass man Es war ein aus Schwäche saturiertes Im- es für eigene Zwecke zu instrumentalisie- keine Angriffskriege geführt hatte. perium ohne kolonialen Besitz, wie er Spa- ren suchten. Statt das eigentlich Moderne des Heili- nier, Belgier oder Briten zu Massenmör- Die beiden aufstrebenden deutschen gen Römischen Reiches Deutscher Nation dern werden ließ. Zugleich ein Reich von Großmächte Österreich und Preußen bra- zu übernehmen und auszubauen, klam- Dichtern und Denkern; in den deutschen chen bezeichnenderweise das Reichsrecht, merten sich die Deutschen an den mittel- Kleinstaaten fanden Maler, Literaten, Ar- wie es ihnen passte. Als 1756 der preußische alterlichen Mythos, der von ihrer Überle- chitekten, Musiker großzügige Auftragge- König Friedrich II. in Sachsen einfiel, woll- genheit in Europa handelt und mit der ei- ber und manchen Freiraum. te ihm der Reichstag in Regensburg eine gentlichen Geschichte nichts zu tun hat. Herzog Karl Eugen in Stuttgart verbot Die Folgen sind bekannt. zwar seinem Untertan Friedrich Schiller * Gemälde von Jacques-Louis David, 1801. Klaus Wiegrefe

der spiegel 32/2006 61 Szene Gesellschaft Was war da los, Herr Vergara? Der mexikanische Bauarbeiter Manuel Vergara, 33, über den Schrecken, leben- dig begraben zu sein „Mein Bruder Herberto und ich waren allein auf der Baustelle in Brooklyn und hoben eine 4,5 Meter tiefe Baugrube aus, als die Stützen nachgaben. Sekunden spä- ter stürzten Tonnen Bauschutt auf uns nieder, ich war komplett verschüttet, mein Bruder nur bis zur Brust. Es dauerte eine Stunde, bis sie mich fanden. Meine Ret- tung war, dass mein rechter Arm in die Luft reichte. Entlang des Arms hatte sich ein schmaler Luftkanal gebildet, so dass ich gerade noch atmen konnte. Das Erste, was ich wieder hörte, war ein riesiger Staubsauger, der Erde absaugte. Bis auf ein paar Schrammen blieb ich unverletzt. Jetzt arbeite ich wieder, und das Gute ist, kündigen wird mich mein Chef so schnell nicht. Es war seine Schuld, dass die Bau-

grube nicht ausreichend gesichert war.“ TIMES ANGELA JIMENEZ / NEW YORK

Vergara (M.)

SACHBUCH man mit einem Satz über ein Hoch- KIRCHE haus springen kann, und Iceman es Supermans Physik schafft, alles um sich herum in Eis zu Göttliche Abgase verwandeln? Die Ergebnisse präsen- ie Idee, mit Hilfe von Comic- tierte Kakalios den jungen Studenten; er in die Kirche geht, denkt nicht an Dhelden Newtons Gravitations- seine Seminare wurden so beliebt, WSchadstoffmessungen und Grenzwerte. gesetz zu erklären, kam James Kakali- dass er ein Buch schrieb mit dem Na- Er betet. Nachdem aber ein niederländisches os, Physikprofessor an der Universität men „Physik der Superhelden“. Es ist Wissenschaftlerteam vor zwei Jahren in ei- von Minnesota, als er Erstsemestern kein Lehrbuch, sondern ein schmerz- ner Studie vor gefährlichen Schadstoffen in physikalische Grundlagen vermitteln loser und unterhaltsamer Weg, physi- Kirchen gewarnt hatte, wollte es der Klima- wollte – mit Spaß. Und weil Kakalios kalische Gesetzmäßigkeiten zu erler- tologe Stephan Weber von der Universität selbst als Junge großer Comicfan war, nen und sie auch zu verstehen. Duisburg-Essen genau wissen. An religiösen nahm er die Helden seiner Kindheit Hochbetriebstagen ging er in eine katholi- und durchleuchtete sie ganz neu auf James Kakalios: „Physik der Superhelden“. Aus sche Kirche, stellte dort seine Messgeräte dem Amerikanischen von Doris Gerstner und ihre Fähigkeiten, physikalisch. Er frag- Christoph Hahn. Rogner & Bernhard, Berlin, bei auf, notierte alles, wertete aus und zeigt te sich, wie es sein kann, dass Super- Zweitausendeins; 472 Seiten; 29,90 Euro. jetzt, dass in Gottesdiensten bis zu 220 Mi- krogramm Feinstaub pro Kubikmeter in der Luft liegen. Das ist mehr als das Vierfache des zulässigen EU-Grenzwerts und etwa zweimal so viel wie an einer starkbefahrenen Straße. Schuld waren zum einen die mehr als 80 Kerzen, die in der Kirche brannten. Sie erhöhten den Feinstaubanteil um 70 Prozent. Vor allem aber der Weihrauch, den Katholi- ken an besonderen Feiertagen benutzen, trieb den Wert um rund 700 Prozent nach oben. Der Feinstaub sei für kranke und älte- re Kirchgänger immer wieder eine Gefahr, meint Weber. In gewöhnlichen Gottesdiens- ten, bei denen nur wenige Kerzen und auch

JONATHAN CHAPMAN PHOTOGRAPHY; FIGUREN: MARVEL COMICS FIGUREN: MARVEL PHOTOGRAPHY; CHAPMAN JONATHAN kein Weihrauch brennen, ist die gemessene Buchcover Kakalios mit Comicfiguren Schadstoffkonzentration harmlos.

der spiegel 32/2006 63 Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Green hatte nicht das Gefühl, dass sie sich etwas hatte zuschulden kom- men lassen. Sie entschloss sich, mit ihrem Vorgesetzten zu reden. Der sag- Zahltag bei der Bank te: „Tja, so ist das hier nun mal. Jeder ist mal dran. Das geht vorbei.“ Doch es Warum eine Ex-Sekretärin eine Millionen-Entschädigung erhält ging nicht vorbei. Es ging immer weiter. Vor Gericht erzählte Green, dass sie as oberste Zivilgericht Großbri- Die Kolleginnen zur Rede stellen? Sich an Panikattacken gelitten habe, morgens, tanniens ist ein dunkler viktoria- beim Vorgesetzten beschweren? Sie ent- vor dem Weg ins Büro. Nachts habe sie Dnischer Bau im Herzen Londons, schied sich, den Mund zu halten. Sie praktisch nicht mehr geschlafen. und Helen Green betrat ihn am vergan- war die Neue, sie wollte es sich mit nie- Im November 2000, nach drei Jahren genen Dienstag in der Hoffnung, dass mandem verderben. Der Job schien gut als Unperson, als Büro-Zombie, erlitt sie endlich Ruhe einkehren würde in ihr Le- zu sein, die Firma angesehen, das Ge- ihren ersten Nervenzusammenbruch. ben. Neun Jahre hatte sie gekämpft, erst halt war ordentlich. Es ermöglichte ihr, Nach einigen Monaten kehrte sie wieder um ihren Arbeitsplatz, dann um ihre Ge- weiter in London zu leben, in dieser an ihren Arbeitsplatz zurück. Nichts hat- sundheit, schließlich um ihr Recht. großartigen, aber grotesk teuren Stadt. te sich geändert. Im Oktober 2001 folgte Im Saal nahm der Richter seinen Kurze Zeit später ging Green an der zweite Kollaps. Sie wurde wieder in Platz ein und verkündete das Urteil: ihren Kolleginnen vorbei, und plötzlich ein Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte Greens früherer Arbeitgeber, eine Toch- wurde jeder ihrer Schritte von einem diagnostizierten eine massive Depressi- terfirma der Deutschen Bank, habe sich seltsamen Geräusch begleitet, das an ei- on. Man stufte sie als selbstmordgefähr- des Mobbings schuldig gemacht det ein und beobachtete sie rund und werde dazu verurteilt, ihr um die Uhr. Diesmal kehrte sie 817 000 Pfund, umgerechnet 1,2 nicht an ihren Arbeitsplatz zurück. Millionen Euro, zu zahlen. Green Im September 2003 wurde sie von und ihre Anwälte waren begeistert. der Deutschen Bank entlassen. Sie verließen das Gericht und Es fällt schwer, eine Begrün- trafen auf die Presse. Green dung für solch ein Verhalten zu lächelte. Es war ein breites, ein finden, es fällt schwer zu erklären, sehr breites Lächeln, und wahr- warum Greens Vorgesetzte nicht scheinlich war es ein Fehler. Ka- eingriffen, wenn schon nicht aus meras klickten, am folgenden Tag Mitleid, dann wenigstens aus konnte man ihr Lächeln in vielen Gründen der Arbeitseffektivität. Zeitungen sehen, und sie konnte Die Mitarbeiter, die Green das ihre Hoffnung auf ein ruhiges Le- Leben schwergemacht hatten, sag-

ben erst einmal begraben. / REX FEATURES MAISEY STEVE ten vor Gericht, das seien doch al- Ihr Lächeln spaltet die Stadt. Klägerin Green les nur dumme Scherze gewesen. Gewerkschafter sagen, es sei Greens Anwälte sprachen von ei- rechtschaffen, die Tageszeitung „Daily ner Mobbing-Tradition in dieser Firma, Mail“ legt stattdessen nahe, es gehöre und einer von Greens Kollegen be- einer gerissenen Profiteurin, und Green stätigte das. Auch er sagte, es sei eben muss feststellen, dass sie jetzt zwar nicht jeder mal dran. Und vielleicht kommt mehr im Zentrum eines aufsehenerre- das der Wahrheit am nächsten. Es gab genden Prozesses vor einem der höchs- andere, die Ähnliches erlebt hatten, ten Gerichte des Landes steht, dafür aber sie waren nicht mutig oder ver- aber im Zentrum einer heftigen Debat- zweifelt genug gewesen, um zu klagen. te, die sich um zwei Fragen dreht: Was Vielleicht waren die Sticheleien, die ist Mobbing, seelische Folter oder eine Beleidigungen, die Gemeinheiten Teil ei- grob überschätzte Nichtigkeit? Und ner Initiation, die sicherstellen sollte, dass Helen Green, was ist sie, eine aufrech- nur die angeblich Besten, Widerstands- te Kämpferin für die Rechte ge- fähigsten in dieser Firma arbeiten, die demütigter Arbeitnehmer oder eine sich an einem der wichtigsten Finanz- schamlose Opferdarstellerin? Aus dem „Hamburger Abendblatt“ plätze der Welt, in einer durch und durch Greens Probleme begannen im globalisierten Branche, bewähren muss. Oktober 1997 mit einer Bagatelle. Sie nen Furz erinnert. Ihre Kolleginnen fan- Richter Robert Owen nannte Greens arbeitete seit wenigen Tagen als den das wahnsinnig lustig. Vorgesetzte in seiner Urteilsbegründung Sekretärin bei der DB Group Services Green versuchte das Ganze abzutun „schwach und ineffektiv“, in der Per- Limited in London, als ein paar Kolle- als grobe Scherze von Spätpubertie- sonalabteilung entdeckte er einen ginnen vor ihrem Schreibtisch erschie- renden, und anfangs gelang ihr das außergewöhnlichen Mangel an Fürsor- nen. Eine blickte über sie hinweg und auch. Doch die Situation wurde schlim- ge, außerdem kritisierte er „sozialdar- fragte laut in den Raum: „Was stinkt mer. Ihre Kolleginnen blickten durch winistische“ Methoden, unter denen hier denn so?“ Die anderen lachten. sie hindurch. Ihre Arbeitsunterla- Helen Green zu leiden hatte. Dann verließ der Trupp das Büro. gen verschwanden über Nacht. Man Ob die Deutsche Bank Widerspruch Was war das gewesen, fragte sich löschte ihren Namen aus den E-Mail- einlegen wird, ist noch nicht entschie- Green. Was sollte sie tun? Schweigen? Verteilern. den. Uwe Buse

64 der spiegel 32/2006 ELECTRONIC ARTS Ballerspiel „Crysis“ (Ausschnitt): Ein Budget größer als für die meisten deutschen Kinofilme

COMPUTERSPIELE „Es muss bluten, ist doch klar“ Für 16 Millionen Euro entwickeln drei Deutschtürken aus Frankfurt das Computerspiel „Crysis“. Bill Gates lobt ihre Fähigkeiten, doch in Deutschland bekommen sie Probleme: „Crysis“ ist ein Killer-Game – und solche Spiele will die Regierung verbieten. Von Ansbert Kneip

lso, wenn er jetzt tot wäre, sagt Ce- und wenn das dargestellt wird mit einer jemandem, der ihnen die weitere Entwick- vat Yerli, er sitzt auf dem hellgrau- ungeheuer detaillierten, noch nie gesehe- lung finanziert. Sie hatten Erfolg. „“ Aen Ledersofa, zurückgelehnt, lässt nen Grafik, wenn seine Spielfiguren durchs verkaufte sich mehr als 2,4 Millionen Mal. die Beine schlaff hängen und legt den Kopf Gelände schleichen und jedes Farnkraut Yerli ist jetzt 28 Jahre alt, vor der Tür nach hinten, um zu zeigen, wie das aus- einzeln erkennbar wird, wenn Yerli jeden parkt sein Mercedes Sportcoupé, man könn- sähe, also nur mal angenommen, er wäre Schattenwurf exakt berechnet, dann, sagt te sagen, er hat es geschafft. Er und seine eine Leiche, und jetzt würde ihm jemand er, kann er von einem Toten auch verlan- Brüder Faruk und Avni sind gleichberech- ins Bein schießen – Yerli feuert mit Dau- gen, dass der sich wie ein echter Toter be- tigte Eigentümer und Geschäftsführer. men und Zeigefinger auf seinen Ober- nimmt. Seine Meinung. Zurzeit arbeitet das Unternehmen an schenkel: „Das muss doch zucken, oder?“ Wie viele junge Türken spricht Yerli sehr dem Nachfolgespiel. „Crysis“ wird es Er bewegt sein Bein, als würde er einen schnell, und wenn er sich aufregt noch ein heißen, Ende des Jahres soll es eigentlich kurzen Pass schlagen. bisschen schneller. Er verschluckt die Sil- fertig sein, wahrscheinlich aber erst An- Einschlagswinkel, Geschossgeschwin- ben, es macht Mühe, ihm zu folgen. fang 2007. Bisher gibt es nur wenige Bilder digkeit, wenn Leichen zucken, ist das rei- Cevat Yerli ist Mitgründer und Chefent- zu sehen, auf Computermessen wie der ne Physik, unappetitlich vielleicht, aber wickler von „“, einer Firma, die bis- Games Convention Ende August in Leipzig nicht zu ändern. her nur ein einziges Spiel veröffentlicht hat, werden Teile des Spiels vorgestellt werden, Gut, es würde keinen Sinn machen, auf aber das war ein Welterfolg. Das Spiel hieß neugierige Fans werden die Präsentatio- Tote zu ballern, im wirklichen Leben nicht „Far Cry“, Yerli hatte im Jahr 2000 eine nen heimlich am Messestand filmen und und im Spiel nicht, es gäbe auch keine Ex- erste Demo-Version fertiggestellt. Er und sie ins Internet stellen. trapunkte oder so, aber trotzdem: Wenn seine Brüder kratzten die letzten 10 000 Das Budget für „Crysis“ liegt bei 16 Mil- Yerli schon ein Computerspiel entwickelt, Mark vom Konto, flogen zur Spielemesse lionen Euro, mehr als die meisten deut- in dem die Leute aufeinander schießen, E3 nach Los Angeles, auf der Suche nach schen Kinofilme bisher gekostet haben.

66 der spiegel 32/2006 ANDREAS VARNHORN Spieleentwickler Yerli-Brüder Avni, Faruk, Cevat: „Man sollte doch die Eltern entscheiden lassen, was die Kinder spielen“

Hightech-Firma gegründet, Arbeitsplätze Eigentlich sinnvoll findet Yerli die Ein- Normalerweise aber spielt es in der Fir- geschaffen, deutscher Marktführer gewor- stufungen, aber in ihrem Versuch, alles ma überhaupt keine Rolle, ob einer Hans den – eigentlich haben die drei Brüder ganz, ganz genau zu regeln, dann auch heißt oder Osman, die 100 Mitarbeiter alles richtig gemacht. Dummerweise nur wieder sehr deutsch. „Man sollte doch die kommen aus 26 Ländern, ihre Umgangs- geht es in „Crysis“ eigentlich darum, dass Eltern entscheiden lassen, was die Kinder sprache ist sowieso Englisch. Es gibt stän- einer den anderen abknallt. Jugendliche spielen“, sagt er. dig Videokonferenzen mit Kollegen in den spielen so etwas gern, Eltern verstehen Die drei Yerli-Brüder sind Türken der USA, es gibt seit neuestem einen kleinen so etwas nicht, und Politiker lehnen so et- zweiten Generation, als Kinder hergezogen Ableger in der Ukraine, in Kiew. was ab. oder hier geboren, längst heimisch gewor- „Crysis“, das Spiel, ist noch gar nicht Jugendschützer werden „Crysis“ begut- den in Deutschland. Wunschbürger, Bei- fertig, doch schon jetzt hat die Grafikdar- achten, sie werden ein Urteil abgeben, dar- spiele einer gelungenen Integration, das stellung viele Preise auf der Spielmesse E3 über, wie gewalttätig das Spiel ist und ob Gegenteil eines Rütli-Schul-Türken, der in Los Angeles erhalten. In den Szenen, man es Jugendlichen in die Hand geben Akzent eher bayerisch als türkisch. Vor 20 die man schon sehen kann, explodieren darf. Das deutsche Jugendschutzgesetz Jahren, als die Brüder noch in Coburg zur Tankwagen, ein Flugzeugträger brennt, zählt zu den strengsten Europas, das kom- Schule gingen, überredeten sie den Vater, Yerli lobt die realistische Umsetzung von plizierteste ist es gewiss. ihnen einen Computer zu kaufen. Das Funken und Flammen. Nicht viele Firmen Jede Spiele-CD, die auf einer Spiele- müsse man in Deutschland, sagten die Söh- kriegen virtuelle Welten so gut hin, und zeitschrift pappt, braucht eine Altersfrei- ne, ohne Computer laufe hier bald gar wenn, dann kommen solche Firmen nicht gabe für Minderjährige, andernfalls darf nichts mehr. Fast einen Monatslohn koste- aus Deutschland. das Heft nicht an den Kiosk. Ohne Kon- te der Rechner, die Familie verstand das als Eigentlich also eine Erfolgsstory. Drei trolle darf keine CD allen zugänglich im Investition in die Zukunft. Türken aus Deutschland erobern den Welt- Laden stehen. Erst prüft ein Gremium der Bis zu diesem Tag hatte der Vater immer markt – und zwar nicht von Silicon Valley Unterhaltungs-Software Selbstkontrolle: nur Dinge gekauft, die sich leicht trans- aus, sondern von einer Fabriketage über ei- Sie vergibt Altersfreigaben, ab 16 zum Bei- portieren ließen, keine Musikanlage also, nem Möbelhaus im Randbezirk von Frank- spiel. Sie kann festlegen, dass nur Erwach- sondern nur ein Kofferradio, zum Beispiel. furt, an der Ausfallstraße nach Hanau. sene das Spiel kaufen dürfen, sie kann Er dachte immer, er würde bald wieder Gleichzeitig ist die Geschichte der Yerlis auch sagen, dass sie überhaupt kein Prädi- nach Hause fahren, also zurück ans und ihres Spiels auch die Geschichte eines kat vergibt. In solchen Fällen kann die Schwarze Meer. Ein Kofferradio hätte er großen Nicht-Begreifens. Yerli will ein gu- Bundesprüfstelle für jugendgefährdende mitnehmen können. Der Computer be- tes Produkt abliefern – nur ist das, was er Medien gerufen werden, und die unter- deutete, dass sein Zuhause und seine Zu- unter „gut“ versteht, etwas völlig anderes sucht, ob das Spiel indiziert werden soll. kunft von nun an in Deutschland lagen. als das, was etwa Jugendschützer meinen. Geprüft wird, wie roh das Spiel ist, ob Avni, der älteste Bruder, besitzt heute „Crysis“ ist ein Ballerspiel. „Ego-Shoo- das Töten einem Zweck dient und wie einen deutschen Pass, die anderen beiden ter“ nennen es die Spieler, „Killerspiel“ realistisch das Blut fließt. Eine zuckende nennen ihn manchmal „Hans“, wenn sie sagen viele Erwachsene. Leiche beispielsweise wäre ein Indiz für ihn ärgern wollen, er ruft die Brüder dann Der Spieler sieht das Geschehen über „ab 18“. „Osman“. den Lauf seiner Waffe. Es gibt keine Per-

der spiegel 32/2006 67 spektive von oben, keinen Überblick, der Spieler steckt selbst mittendrin im Getüm- mel. Per Maus und Tastatur kann man feu- ern, nachladen, die Waffe wechseln, das Zielfernrohr aufschrauben oder mit dem Messer töten. Ego-Shooter simulieren nicht den Uno- Sicherheitsrat. Es geht ums Töten, und bei „Crysis“ wird mit der wohl besten Grafik der Welt getötet. Es ist schön und brutal gleichermaßen, und für Yerli ist das über- haupt kein Widerspruch. Grafik ist eine Sekundärtugend. Was Yerli in seiner Firma programmie- ren lässt, finden viele widerwärtig, wenn nicht sogar gefährlich. Ein Spiel, bei dem man seine Gegner abknallt, ist für sie schon im Prinzip verwerflich – und im De- tail pervers. Es gibt Wissenschaftler, die halten Spie- le wie „Crysis“ für ungesund, sie glauben, dass Gewaltspiele einen schlechten Ein- fluss ausüben, dass sie Aggressivität schüren und die Sinne abstumpfen. Der US-Amerikaner Dave Grossman, ehemaliger Militärpsychologe, sagt, man könne sich am PC die natürliche Tötungs- hemmung regelrecht abtrainieren. US- Streitkräfte nutzten das Spiel „Doom“ für das Training ihrer Marines. Und was bei Soldaten funktioniert, sagt Grossman, das wirke auch bei Jugend- lichen. Er nennt Beispiele: Jonesboro Games Convention in Leipzig (2005): Die Kinder sind die Einheimischen, ihre Eltern die und Littleton – hier töteten minderjährige Jungs ihre Kameraden, sie bewegten Er glaubt, dass man es sich so einfach ter dem bereits geltenden Recht gar nicht sich, sagt Grossman, wie in einem Video- nicht machen kann, aber er erlebt, dass es kaufen. spiel. doch geht. Vor ein paar Jahren hat Yerlis Firma sich Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Im vergangenen Jahr, als SPD und CDU einmal um bayerische Fördergelder be- Erfurt, besaß das wohl berüchtigtste aller über die Koalition verhandelten, meldete müht, die Aufgabe war, ein Fell möglichst Ballerspiele: „Counterstrike“. Nach Erfurt sich Maria Böhmer, Familienpolitikerin der realistisch nachzubilden. So etwas gilt als wurde Grossman auch in Deutschland sehr CDU. Ein Verbot von Killerspielen müsse besonders knifflig, weil Millionen feiner populär. Seine Thesen boten für das Un- her, forderte sie, und dann waren Compu- Härchen dynamisch berechnet werden begreifliche eine einfache Erklärung: Kil- terspiele – vor allem aber auch Maria Böh- müssen, und das möglichst schnell. „Kön- lerspiele schaffen Killer. mer – in den Medien. nen wir“, sagte Yerli damals, er bekam das Die jugendlichen Täter von Columbine Von Beamten eines Landesministeriums Geld in Aussicht gestellt. Doch als die Lan- hatten „Doom“ gespielt, bevor sie ihre wird seitdem verbreitet, Böhmer habe ein- desbeamten merkten, dass die Technik für Mitschüler töteten. Doch Tausende andere fach etwas werden wollen, Staatssekretärin das Fell aus der Entwicklung eines Ge- spielen Doom, ohne deshalb zur Waffe zur etwa, und deshalb einen billigen Punkt ge- waltspiels stammt, gab es gar nichts. Auch greifen. Der Dokumentarfilm des Filme- macht. Böhmer, heute Integrationsbeauf- kein Gespräch mehr. tragte der Bundesregierung Möglicherweise hätte der eine auch gar und Staatsministerin im nicht verstanden, was der andere meint. Es geht ums Töten, und bei „Crysis“ wird mit Kanzleramt, bestreitet, dass Für den einen ist ein Fell putzig und eine der besten Grafik der Welt getötet. ihr Vorschlag nur ein PR-Gag Waffe böse, für den anderen sind beides war, sie kämpfe schon seit nur Pixel. machers Michael Moore heißt „Bowling Jahren gegen die virtuellen Grausamkei- Yerlis erstes Spiel war ein Killerspiel, for Columbine“: Die Täter waren auch ten, sie ist Initiatorin der Kampagne „Rote das zweite wieder eins, warum immer nur bowlen gewesen – ebenso wie Tausende Karte“ gegen Gewalt in den Medien. Ego-Shooter? andere auch. Es werde ja auch immer schlimmer, sagt Yerli, Sweatshirt, dunkle Hose, weiche Yerli kennt diese Diskussion, er würde Böhmer, „jetzt gibt es das schon auf dem Puma-Schuhe, teure Uhr, sitzt jetzt nicht mit den Kritikern gern mal reden, über Handy“. Sie meint wohl Gewaltvideos, die mehr als Leiche da. Er richtet sich auf, das Spiel, über die Gewalt am PC und dar- von Handy zu Handy getauscht werden, stolz: „Ja“, sagt er, „die Königsklasse. Das über, was das mit der Gewalt in der Rea- nicht Spiele. hat uns niemand zugetraut.“ lität zu tun hat. Er würde gern versuchen, In der Koalitionsvereinbarung stand am Er strahlt. Er hat die Frage als Kompli- ein paar Dinge zu erklären, aber bisher Ende tatsächlich, dass Killerspiele verbo- ment verstanden. hat ihn noch niemand gefragt – keine Ein- ten werden sollen – wobei nicht ganz klar Im Jahr 2001 prägte der amerikanische ladung zur Expertenanhörung im Bun- ist, was die Politiker überhaupt unter ei- Computerspezialist Marc Prensky einen destag, kein Gespräch mit Wissenschaft- nem Killerspiel verstehen und was genau Begriff, es war die Überschrift seines Auf- lern, keine Diskussion mit dem Jugend- sie jetzt verbieten wollen: Jugendliche satzes: „Digital Natives, Digital Immi- schutz. dürfen viele einschlägige Spiele auch un- grants“, die digitalen Einheimischen und

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sein an seiner Wirklichkeit. In der ersten da. Die Menschheit, so verfeindet sie auch Klausur schrieb er eine Fünf, „Mangel- immer sein mag, muss also erst mal zu- haft“. Yerlis Dozent hatte alte Antworten sammenhalten, und Yerli findet, das sei aus veralteten Büchern hören wollen und doch eine ganz gute Botschaft. nicht das, was Yerli an Neuem längst wuss- Man braucht viel taktisches Geschick, um te. Er brach das Studium ab. durch das Spiel zu kommen, blinde Gewalt Cevat Yerli, das Gastarbeiterkind, lebt hilft nicht. Man muss im Team arbeiten, als im realen Deutschland als Einwanderer, er Rambo wird der Spieler die Welt nicht ret- hat sich arrangiert, manchmal kollidieren ten. Strategie, kluge Wahl der Waffen, dar- die Wertvorstellungen, aber er kommt zu- um gehe es, sagt Yerli, nicht ums Töten. recht. In der digitalen Welt aber ist er Ein- Hinterher, wenn die Welt gerettet ist, heimischer, ist er zu Hause, hier kennt er kann man die Koreaner immer noch er- sich aus. Die Professoren, die Politiker, die schießen. Dafür bietet das Spiel den Eltern, denen er sein Spiel gern erklären „Deathmatch“-Modus, da geht es nur noch würde, mögen alteingesessene Deutsche darum, so viele Gegner wie möglich her- sein. In der digitalen Welt aber sind sie auszunehmen. Und wenn jemand stun- fremd. denlang Koreaner tötet? Werden Tod und Ihre Wirklichkeit ist eine andere als die Leid nicht banalisiert, ändert sich da nicht eines Erfinders von Computerspielen. irgendetwas im Kopf des Spielers? „Nein“, „Kommen Sie“, sagt Yerli, „ich zeig sagt Yerli. Er glaubt nicht. „Eine Million Ihnen was.“ Er führt durch seine Firma, Deutsche spielen ‚Counterstrike‘, das sind Grafiker und Programmierer sitzen in doch auch nicht alles Massenmörder.“ Großraumbüros, es geht vorbei an der Ab- Dass jemand zum Killer wird, einzig, teilung für künstliche Intelligenz, viele An- weil er Stunden vor dem PC mit Baller- gestellte tragen Kapuzenpullis, fast alle sind spielen verbringt, dafür gibt es tatsächlich deutlich jünger als dreißig. keinen eindeutigen Beweis. Wissenschaft- Unterwegs erklärt Yerli, worum es in ler können messen, dass die Aggressivität „Crysis“ überhaupt geht, die Geschichte steigt, während jemand spielt. Aber nach hat er sich selbst ausgedacht. Also: Auf kurzer Zeit beruhigen die Probanden sich einer nordkoreanischen Insel landet ein Ali- wieder. Langzeitwirkungen sind noch un- en-Raumschiff, der Spieler verkörpert ei- klar. JOCHEN ZICK / KEYSTONE Einwanderer der digitalen Welt

digitalen Einwanderer. Mit den Einheimi- schen meint Prensky die jüngere Genera- tion, aufgewachsen mit Computern, Han- dys, MP3-Playern. Für die Einheimischen ist der Umgang mit allem Digitalen Alltag, etwas völlig Natürliches. Sie lesen keine Bedienungsanleitungen, sie vertrauen dar- auf, dass Programme und Geräte sich schon selbst erklären werden. Eine Gene- ration, die sich ganz selbstverständlich in Chaträumen und Foren bewegt, andauernd online und vernetzt via ICQ. Die Immigrants, das sind die, die sich das ganze Computerwissen angeeignet ha- ben, mehr oder weniger mühsam. Die viel- leicht sogar einigermaßen versiert auf den Tasten tippen, schon mal bei Ebay gekauft haben, aber im Grunde doch noch immer in der analogen Welt zu Hause sind, oder

anders gesagt: die gar nicht wissen, was ARTS ELECTRONIC ICQ überhaupt ist. Sie erleben die Digita- Ausschnitt aus „Crysis“: „Hollywood-Realität“ nennt es der Schöpfer lisierung der Welt mit, aber sie sind nicht Teil davon. Wie Einwanderer in der realen nen US-Soldaten. Seine Aufgabe ist, sich Jemand, der immerzu Autorennen am Welt, so fühlen sich die Immigranten in durch den Dschungel so nah wie möglich an PC spielt, fährt auch im wirklichen Leben Digitalien immer ein bisschen fremd, ein das Schiff zu schleichen, er soll die Techno- auf Dauer nicht aggressiver als andere Au- bisschen unsicher. logie der Außerirdischen ausforschen. Lei- tofahrer, das ergab eine großangelegte Stu- Auf der Hauptschule in Coburg konnten der stehen dabei nordkoreanische Soldaten die der Bundesanstalt für Straßenwesen. Yerlis Lehrer damals mit Computern nichts im Weg, auch sie wollen von den Aliens Entwarnung also? Ballerspiele doch anfangen, sie kamen aus der analogen Welt. profitieren. Der Spieler kann nun die Kore- nicht gefährlich? Genauso war es auf der Realschule und da- aner einen nach dem anderen „herausneh- Das Unbehagen bleibt, unter anderem nach auf der Fachoberschule. Die Schule men“, wie Yerli sagt, das heißt: erschießen. deswegen, weil das Töten so selbstver- bereitete ihn auf irgendetwas vor, aber nicht Allerdings stellen sich die Aliens bald ständlich geschieht, so amoralisch, so banal auf das, was er für die moderne Welt hielt. als üble Brut heraus, als der wahre Feind. und so ganz ohne schlechtes Gewissen. Yerli begann ein Informatikstudium, Wer bis dahin zu viele Koreaner erledigt Yerli geht Richtung Studio, dort, wo hier, so dachte er, müssten sie näher dran hat, steht gegen die Aliens ziemlich allein sechs Toningenieure am Soundtrack von

der spiegel 32/2006 69 manchen anderen Spielen saften ange- schossene Monster grün, manche Firmen erschaffen für den deutschen Jugendschutz extra blutarme Spielversionen – und übers Internet laden die Kids dann die schärfere Originalfassung nach. Aber Yerli will nicht verzichten: „Es muss bluten, ist doch klar“, sagt er, schon aus praktischen Gründen: „Der Spieler will wissen, ob er getroffen hat.“ Blut, so sagt Yerli, sei ein „visuelles Feedback“. Mehr nicht. Außerdem, sagt Yerli, sooo realistisch sei „Crysis“ nun auch wieder nicht: „Es gibt im ganzen Spiel keine Leiche mit of- fenen Augen“, sagt er. Darauf hat er ge- achtet. „Offene Augen irritieren mich immer.“ Yerli gibt zu, dass sein Spiel gefährlich sein könnte – könnte, wohlgemerkt, und das gar nicht mal in erster Line wegen der Gewalt. Gefährlich ist, wenn einer über das Spiel seine realen Kontakte ver- liert, wenn er der sozialen Kontrolle ent- gleitet. Computerspieler, so sagen ein paar Stu- dien, erdaddeln sich außerdem auf Dauer eine vergleichsweise niedrige Frustrations- toleranz. Allzu knifflige Spiele lassen sich nicht verkaufen – viele Spiele sind deshalb so konstruiert, dass jeder Benutzer relativ

ELECTRONIC ARTS ELECTRONIC schnell zum Erfolg kommt. Und daran ge- Figuren aus „Crysis“: Blut als „visuelles Feedback“ wöhnen sie sich. Mit Hindernissen im wirk- lichen Leben werden die Spieler dann „Crysis“ basteln. Der Ton ist ungeheuer tet ein Video, aufgenommen im Frühjahr schlechter fertig. wichtig, ein Geländewagen soll ja wirklich auf einer Computermesse in Los Angeles. In einem Ego-Shooter ist der Spieler rumpeln, Blätter müssen rascheln, und ein Bill Gates ist dort zu sehen, der Gründer permanent bedroht, jede Bewegung kann Schuss ins Herz sollte sich auch anhören von Microsoft, er hielt einen Vortrag über falsch sein, und jeder Fehler bedeutet den wie ein Schuss ins Herz. das kommende neue Betriebssystem, „Win- Tod. Um am PC zu überleben, braucht Man kann Töne fertig kaufen, vorzugs- dows Vista“. Gates spricht davon, dass sein man eine gewisse Grundparanoia, ein weise in Hollywood, aber man kann sie neues Windows mit hochkomplexen Gra- Misstrauen gegenüber der virtuellen Um- auch selbst herstellen. Ein Schlag auf einen fikdarstellungen fertig werde, und um das zu welt. Einige Studie legen deshalb nahe, Kohlkopf beispielsweise ist von der Klang- verdeutlichen, startet er ein Computerspiel: dass PC-Spieler sich auch in der Wirklich- struktur her schon mal eine passable eine Vorabversion von „Crysis“. keit leichter bedroht fühlen. Grundlage. Ein Treffer ins Fleisch klingt Aber es kommt noch besser. Bill Gates Yerli sitzt im Vorführraum von Crytek, ganz ähnlich, man muss den Sound natür- lässt die Animation etwa eine Minute lau- er hat per Beamer seine Aliens vorgeführt, lich noch bearbeiten. fen. Als er das Spiel ausschaltet, sagt er, ein stählerne Kampfmonster, ausgestattet mit Yerlis Soundingenieure sind echte Spe- paar hundert Leute hören ihm live dabei künstlicher Intelligenz, sie werden in je- zialisten, aus einem Dutzend Bestandteile zu: „Cooles Spiel.“ dem Spiel anders reagieren. Yerli glaubt, Cooles Spiel, wow. Und wer die Monster gesehen hat, die Licht- „amazing“ hat Gates angeb- effekte, die natürlichen Bewegungen der Für Kritiker ist das Unbegreifliche einfach: lich auch noch gesagt, Yerli Ungetüme, der müsse „Crysis“ gut finden. Killerspiele schaffen Killer. spult in der Rede hin und her, Er glaubt, dass seine Kritiker in der di- er findet gerade die Stelle gitalen Welt nicht heimisch, sondern nur komponieren sie am PC das Geräusch nicht, ruft rüber ins Nachbarbüro. Einer Immigranten sind, und dass sie deshalb jedes einzelnen Schusses. Kugel auf Holz der Brüder soll mithelfen beim Suchen. auch die Gewalt nicht richtig einordnen klingt anders als Kugel auf Metall, Pistole Bill Gates soll Yerlis Zeuge sein, er will können. Und zwar aus genau dem gleichen anders als Gewehr, jeder Feuerstoß zeich- den Videoschnipsel unbedingt finden. Grund wie Kinder: Sie halten das, was sie net neue, andere Grafiken auf den Bild- Er glaubt, er müsse nur genügend Au- sehen, für allzu echt. schirm, die lassen sich zerren, stauchen, toritäten auffahren, und dann würde ihm „Crysis“ wird nur an Erwachsene ver- mit Hall versehen. geglaubt. Geglaubt, dass „Crysis“ wirklich kauft werden dürfen, wenn es auf den Markt „Hollywood-Realität“ nennt Yerli das. cool ist – und nicht brutal. Einer wie Gates kommt. Yerli sagt, er finde das richtig. Ein echtes Gewehr in der Wirklichkeit würde doch sonst nicht „amazing“ sagen. „Crysis“, so sagt Yerli „soll Spielspaß knattere langweilig hell und trocken, so Einem wie Gates würde man glauben, bieten“ – und nicht die Realität ersetzen. was kann man niemandem anbieten. Yerli dass rote Pixel auf dem Bildschirm etwas Kann er was dafür, wenn die Leute das käme gar nicht auf die Idee, an dieser Stel- völlig anderes sind als Blut in der Wirk- nicht kapieren? Er sagt: „Erziehen müs- le nach Moral zu fragen. lichkeit. sen die Eltern, nicht ich.“ Er klappt seinen Laptop auf, sucht nach Theoretisch könnte Yerli in „Crysis“ Er jedenfalls würde seine minderjährigen einer Datei, „das müssen Sie sehen“. Er star- natürlich auf Blutspritzer verzichten. In Neffen nicht „Crysis“ spielen lassen. ™

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Die Sandalen des Guten Ortstermin: In München tüfteln die Sozialarbeiter der Welt an der Veredelung des Menschen.

m Raum „Walchensee“ läuft Frau Yoke In Saal 13 b wird die Lage von Kindern Soldaten aus aller Welt werden in den Wah Barbara Yen aus Malaysia barfuß in Nigeria besprochen, in Saal 03 geht es Kongo geschickt, Armeen für den Frieden. Iüber die graue Auslegeware und ver- um „Behinderung und Armut in Kroa- Politiker ringen um Lösungen, die Uno hält teilt Zeichnungen. Auf den Zeichnungen tien“, in Saal 22a erfährt man, dass sich Versammlungen ab, und hier sitzt Mary sind das Meer, Dächer, Menschen und der die Lage der Ureinwohner in den USA Kay Jou, eine Frau in schwarzen Sandalen, Tod. So ist es am Beginn der Thera- kaum gebessert hat, in Saal 04 erklärt je- spricht von Rollenspielen, und man weiß pie, sagt Frau Yen. Sie reicht weitere mand die Situation tibetischer Flüchtlin- nicht, was man davon halten soll. Es ist ein Zeichnungen herum. Auf den Zeichnun- ge, in Saal 22b geht es um „Gewalt gegen Beispiel für den großen Traum der Sozial- gen sind Vögel, Blumen, Menschen und Pflegekräfte“, und in Saal 02 sitzt Mary arbeiter: Der Mensch ist gut, man muss die Sonne. So ist es am Ende der Therapie, Kay Jou, Sozialarbeiterin aus den USA, ihm nur dabei helfen, das zu erkennen. sagt Frau Yen und strahlt: „Ist das nicht eine Frau mit kurzen, angegrauten Haa- Unten im Foyer ist dieser Traum zu wunderbar?“ ren und grüner Bluse. Sie moderiert einen besichtigen, der Traum ist ein Wunsch- Zum Workshop „Kunsttherapie zur Runden Tisch zum Thema „Frieden schaf- baum mit roten Kunstäpfeln, und man Traumabewältigung von Tsunami-Über- fen im Kongo“. Das klingt nach Hoffnung. kann auf Zetteln in Apfelform und Apfel- lebenden in Sri Lanka“ sind 13 Leute ge- Sogar für den hoffnungslosen Kongo. farben einen Wunsch schreiben. Der kommen, und alle schauen jetzt auf die Jou stellt einen Laptop auf den Tisch Baum ist voller Sozialarbeiter-Wünsche: kleine Frau Yen, die eigentlich schon in und zeigt ein paar Fotos. „Woran denkt ihr „Love between people“, „Eine funk- Rente ist. Worte rollen durch den Raum: beim Kongo? An Massaker und Blut? Gut, tionierende, gerechte Weltordnung“, „Ich Assoziation, Träume, Seele, Befreiung, aber der Kongo ist auch eines der schöns- wünsche mir, dass ich fliegen kann“, „To- Transformation, Body-Feelings, leranz und Geduld“, „Peace in Group-Support. Alles gute Wor- the world“. te, Hoffnungsworte, geboren in Wahrscheinlich gibt es kei- der Sozialarbeiterwelt. Es geht ne andere Berufsgruppe, die immer weiter, sagen die Worte, Wunschbäume aufstellt auf ihren auch nach einem Tsunami, auch Tagungen. Was sind das also für wenn du alles verloren hast, auch Leute? Sozialarbeiter gehen in die wenn alles schwarz ist. Ecken der Welt, in die sonst nie- Maltherapie ist sehr effektiv, mand will, sie sind unentbehrlich, sagt Frau Yen. Und Malthera- werden lausig bezahlt, sie brin- pie hilft sehr schnell. Malthera- gen die Dinge in Ordnung, die pie hilft Traumapatienten, Op- unser schönes Erste-Welt-Leben fern von Naturkatastrophen und in der Dritten Welt hinterlässt, Vergewaltigungen, HIV-Patien- man möchte ihnen Glück wün- ten, Drogenabhängigen, Leuten schen und sie anfeuern, aber mit Sprachbarriere und emo- dann sieht man die Sandalen.

tionsgestörten Männern. Eigent- EINBERGER / ARGUM THOMAS FOTOS: Viele Konferenzteilnehmer tragen lich jedem. Womöglich ist al- Weltkonferenz-Teilnehmerinnen: „Frieden schaffen im Kongo“ Sandalen. Sandalen sind die Be- les ganz einfach. Vielleicht sind sohlung des Weltgewissens. Es ist nur die Probleme groß und die Antwor- ten Länder der Welt“, sagt Mary Kay Jou. nur leider so, dass man mehr an die Jungs ten klein. „Schaut euch diese Fotos an“, sagt sie fröh- in den harten, polierten Schuhen glaubt. Frau Yen sammelt die Zeichnungen wie- lich. Die Fotos zeigen Berge. Es könnten Man glaubt eher an Sicherheitskonferen- der ein, und alle rennen weiter, zum nächs- Urlaubsfotos sein. „It’s the land of the zen, an die Solanas und die Anans, an ten Workshop, zu Runden Tischen, Dis- thousand mountains.“ schnelle Eingreiftruppen, weniger an die kussionen, Vorträgen. Konferenzen funk- Sie leitet Konfliktlösungs-Workshops, kleine Frau Yen und Mary Kay Jou. Ihre tionieren wie Brunch-Büfetts. Man schafft auch im Kongo. Nach Massenvergewalti- Waffen sind so winzig, sie wollen malen immer zu wenig für das Geld. gungen werden Frauen oft von ihren und reden und damit das Böse bezwingen. Ein Tagesticket der „18. Weltkonferenz Ehemännern verstoßen, und Mary Kay Jou Sie laufen von einem Raum in den für Soziale Arbeit“ kostet 100 Euro. Dafür versucht es mit Rollenspielen, um die Paa- nächsten, von einem Weltproblem zum an- kann man vom Foyer aus in verschiedene re wieder zusammenzubringen. Die Män- deren. Kinderarmut, sexuelle Gewalt, Dro- Richtungen gehen, in verschiedene Räume ner sollen verstehen, dass Vergewaltigun- gen, Rassismus. Es hört nie auf. Die erste und Säle, und bekommt einen Überblick gen ein Mittel des Kriegführens sind, eine Weltkonferenz der Sozialarbeiter fand über den Zustand der Welt. Über die Pro- Waffe, genauso wie Gewehre und Gra- auch in München statt. Vor 50 Jahren. Man bleme, Konflikte und Abgründe, über das naten. Der Erfolg sei großartig, sagt sie. kann sagen, es hat sich nichts getan. Der ganze Verhängnis des Lebens. Rund 1500 Die Methode könne auch Kindersoldaten Mensch ist schlecht, dunkel und verloren. Sozialarbeiter aus 60 Ländern sind nach helfen. Man kann aber auch sagen, dass es glück- München gekommen, in ein klimatisiertes „Rollenspiele?“, fragt jemand. licherweise ein paar Leute gibt, die daran Kongresszentrum, es gibt 600 Veranstaltun- „Sicher“, sagt Mary Kay Jou. „Rollen- arbeiten, ihn besser zu machen. gen. Womöglich sind die Probleme groß. spiele haben große Transformationskraft.“ Jochen-Martin Gutsch

72 der spiegel 32/2006 Trends CHRISTIAN RUDNIK / ACTION PRESS RUDNIK / ACTION CHRISTIAN DPA / PICTURE-ALLIANCE/ SCHRADER MATTHIAS Harisch GoYellow-Werbespot (mit Paris Hilton)

GELBE SEITEN Entscheidung der Münchner Markenbehörde ist ein schwerer Schlag für die Deutsche Telekom. Deren Tochter DeTeMedien hatte die gängigen Begriffe immer für sich allein beansprucht Harter Schlag für und alle Konkurrenten, die ihre Branchenbücher und Internet- Verzeichnisse als „Gelbe Seiten“ bezeichneten, bislang mit zahllosen Klagen überzogen. Allein der Internet-Dienst die Telekom GoYellow Media AG, der die Löschung der beiden Marken be- antragt hatte, war von der Telekom in den vergangenen zwei ach rund zweijähriger Prüfung hat das Deutsche Patent- Jahren in mehr als einem Dutzend Prozessen wegen angebli- Nund Markenamt (DPMA) die Marken „Gelbe Seiten“ und cher Verletzung der Markenrechte angegriffen worden. „Das ist „Yellow Pages“ aus ihrem Register gelöscht. Es handele sich bei ein echter Durchbruch“, sagt GoYellow-Chef Klaus Harisch, der diesen Begriffen nur um allgemeingültige Beschreibungen für für seine Branchenverzeichnisse bis vor kurzem mit dem US- bestimmte Dienste, die nicht geschützt seien, heißt es in dem Party-Girl Paris Hilton warb. Für Fachjuristen kommt die Ent- Beschluss. Damit können nun alle Anbieter von Branchen- scheidung des DPMA nicht überraschend. Kürzlich wurden büchern ihre Adressverzeichnisse „Gelbe Seiten“ nennen. Die bereits die Marken Post und Lotto gelöscht.

UNTERNEHMENSTEUERN ÖFFENTLICHE VERWALTUNG Unterstützung für Teurer Bürokratieabbau Steinbrück er von der Bundesregierung ange- Dstrebte Abbau von Bürokratie ist undesfinanzminister Peer Steinbrück nicht nur eine höchst bürokratische An- Berhält von Seiten der Wissenschaft gelegenheit – sondern obendrein teuer: Rückendeckung für seine Unternehmen- Insgesamt 8,4 Millionen Euro kostet das steuerreform. Unternehmerverbände Vorhaben allein im Jahr 2007. Das geht hatten die Pläne zuvor heftig kritisiert. aus einer Antwort der Bundesregierung Der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor auf eine kleine Anfrage des Abgeordne- Lorenz Jarass hält dagegen den Plan, ten Volker Wissing (FDP) hervor. Und Schuldzinsen nur zur Hälfte steuerlich obwohl der Staatssekretär im Innen- geltend zu machen, für ausgesprochen ministerium, Hans Bernhard Beus, in sinnvoll. „Dadurch werden die Möglich- der Antwort mehrfach betont, dass für keiten, Gewinne ins Ausland zu trans- die „Steuerung der Daueraufgabe Büro- ferieren, massiv eingeschränkt“, so der kratieabbau“ in der Regel keine „eige-

Steuerexperte, „zudem haben die eher PRESS / ACTION HENNING SCHACHT nen Organisationseinheiten“ und keine unterkapitalisierten Firmen in Deutsch- Steinbrück neuen Stellen geschaffen werden sollen, land einen Anreiz, Eigenkapital zu bil- fallen die „Mehrausgaben für Personal den.“ Die Kommunikation des Reform- entstehe so der Eindruck, dass Zinsen und Sachkosten“ laut des Schreibens vorschlags sei hingegen ein Desaster, besteuert würden. Tatsächlich aber beim Statistischen Bundesamt an – vor meint Jarass. Steinbrück und seine könnten Unternehmen künftig nur die allem für „das zentrale Vorhaben der Beamten sprächen ständig davon, dass Hälfte ihrer Schuldzinsen von der Bundesregierung zum Bürokratieabbau, die Hälfte der Schuldzinsen dem Unter- Steuer absetzen. „Von Substanzbesteue- der Bürokratiekostenmessung“. 3,4 Mil- nehmensgewinn hinzugerechnet wür- rung zu reden ist da eine böswillige lionen Euro dieser Summe muss die den. Rein bilanztechnisch sei das zwar Irreführung“, sagt Jarass an die Adresse Bundesbehörde selbst aufbringen, den richtig, weil die Zinsen zunächst vom der Arbeitgeberverbände – die genau Rest erhalten die Wiesbadener Beamten Gewinn abgezogen würden. Doch diesen Vorwurf machen. aus dem Bundeshaushalt 2007.

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INSOLVENZEN Versicherer muss nicht für Heros-Pleite zahlen andelskonzerne wie Rewe oder nicht versicherbar“, fasst der Papen- HEdeka bleiben wohl auf dem Scha- burger Rechtsanwalt Michael Klein den von mehr als 300 Millionen Euro das von ihm erstrittene Urteil zu- sitzen, den die Pleite des Geldtranspor- sammen. Er hatte einen ehemaligen teurs Heros verursacht hat. Das Land- Prokuristen von Heros verteidigt, gericht Hannover kam in einem ersten bei dem die Mannheimer Geld ein- Urteil zu dem Ergebnis, dass der Trans- klagen wollte. portversicherer von Heros – die Mannheimer-Gruppe – nicht zahlen muss. Das gilt zumindest dann, wenn der Versicherungsfall durch die Führungsmannschaft vor- sätzlich herbeigeführt wur- de. Nach einem Geständnis des ehemaligen Heros-Ge- schäftsführers Karl-Heinz Weis geht die Staatsanwalt- schaft davon aus, dass die Führungsmannschaft der Firma Kundengelder in

großem Stil veruntreut hat. PRESS HANSEN / ACTION MARKUS „Vorsätzliches Handeln ist Heros-Geldtransporter

HANDEL Woolworth steht zum Verkauf it Hilfe des Investmenthauses Blackstone aus dem Verkaufsprozess MAcris will sich der britische mit dem Codenamen Weagewood aus- Finanzinvestor Electra Private Equity gestiegen. Grund: Die von Electra ge- von seiner Mehrheitsbeteiligung an der forderten rund 200 Millionen Euro la- defizitären Kaufhauskette Deutsche gen deutlich über der Unternehmens- Woolworth trennen, mitsamt deren bewertung durch die Investmentgesell- über hundert eigenen Immobilien. schaft Blackstone. Insider gehen davon Doch die Käufersuche gestaltet sich aus, dass die Kette bis 2008 mindestens schwierig. In der vergangenen Woche 70 Millionen Euro an frischen Mitteln ist nach einer viermonatigen braucht, um Verluste und dringend Unternehmensprüfung eine Investoren- benötigte Investitionen zu finanzieren. gruppe um die US-Private-Equity-Firma Zudem müssten bis zu einem Viertel der bislang über 330 Woolworth-Kaufhäuser in Deutschland geschlossen werden, um den Kauf- hauskonzern wieder ren- tabel führen zu können, heißt es aus dem Interes- senten-Umfeld, zu dem auch der Immobilien- Investor Cerberus zählt. Hauptprobleme der Wool- worth-Kette, die auch zwölf Häuser in Öster- reich betreibt, sind neben einer mangelnden Markt- positionierung ein für den hiesigen Markt viel zu umfangreiches Sortiment, sowie eine schlechte

STEINACH / IMAGO STEINACH Flächenstruktur mit klei- Woolworth-Filiale (in Berlin-Neukölln) nen und großen Häusern.

der spiegel 32/2006 75 RAINER DREXEL / BILDERBERG Händlersaal der Deutschen Bank (in Frankfurt am Main): Hohe Gewinne beim Bündeln der Risiken

GELDANLAGE Der 100-Milliarden-Markt Die deutsche Finanzindustrie hat ein neues Erfolgsprodukt: Zertifikate. Mit Hilfe dieser Wertpapiere können Anleger von nahezu allen Markttrends profitieren, sie eignen sich für Zocker wie für sicherheitsbewusste Familienväter. Besonders lukrativ aber sind sie für die Banken.

aben Sie Angst, dass die Benzin- rechnet? Glauben Sie an eine Fortsetzung knapp 100000 täglich gehandelten Papie- preise weiter steigen? Dass sich die der Rohstoff-Hausse? An die Zukunft der ren auswählen, um sich gegen Risiken ab- HInflation ausbreitet? Dass die schö- Bioenergie? Für alle diese Entwicklungen zusichern – oder einfach nur, um zu zocken. nen Zeiten steigender Aktienkurse wieder gibt es das richtige Produkt – und auch für Anfangs reagierten die Deutschen eher einmal vorbei sind? ihr schieres Gegenteil. zurückhaltend auf diese neue Form der Keine Sorge, Ihnen kann geholfen wer- An jedem Handelstag an der Börse er- Geldanlage, inzwischen greifen sie begierig den. Mit der „Super Bleifrei Protect An- schaffen Banker über hundert neue soge- zu. Knapp 100 Milliarden Euro liegen mitt- leihe“ der US-Bank J.P. Morgan zum Bei- nannte Zertifikate speziell für den deut- lerweile in den Anteilsscheinen. spiel, mit dem „Pro-Inflations-Zertifikat“ schen Markt. Der Phantasie sind keine Zertifikate sind Inhaberschuldverschrei- der HypoVereinsbank oder mit diversen Grenzen gesetzt. Mal wird die künftige bungen, deren Wert an die Kursentwick- Reverse-Bonus-Zertifikaten der Deutschen Entwicklung des Wetters, mal der Weizen- lung der zugrunde liegenden Aktien, Roh- Bank. Die versprechen hohe Gewinne, preis in zehn Monaten, mal die künftige stoffe oder irgendwelcher Indices gekop- wenn Ihre Befürchtungen eintreten. Entwicklung aller Aktiengesellschaften pelt ist. Ihr besonderer Charme liegt darin, Oder sind Sie ein unverbesserlicher Op- Chinas in einem Wertpapier gebündelt. dass sie je nach Ausgestaltung sowohl für timist, der mit weiter steigenden Kursen Privatanleger können mittlerweile unter abgebrühte Zocker wie für sicherheits-

76 der spiegel 32/2006 Wirtschaft orientierte Familienväter taugen. „Die Zer- Transparenz“, klagte DWS-Chef Axel bei einem Einstieg nahe dem Knock-out tifikate sind der Exportschlager, den die Benkner noch im Mai 2004 in einem In- an einem einzigen Tag Gewinne von meh- deutsche Finanzindustrie in den vergange- terview – die DWS ist die Fondsgesellschaft reren 100 Prozent möglich. Die Kehrseite: nen Jahren hervorgebracht hat“, sagt Phi- der Deutschen Bank. Manche Produkte überleben nicht mal die- lip Holzer, der für Goldman Sachs das Natürlich hat Benkner recht. Die sen einen Tag. Wertpapiergeschäft in Deutschland ver- Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger Während der Anleger in der Regel ent- antwortet. Mittlerweile würden die Pro- (SdK) spricht wie der Fonds-Chef von scheiden muss, ob er daran glaubt, dass dukte in Nachbarländern wie Italien, der „großen Missständen“, beispielsweise bei die Kurse in Zukunft nach oben oder un- Schweiz und Frankreich, aber auch in der Transparenz der Preise. „Es gibt Pro- ten gehen, macht die Bank das genaue Ge- Hongkong emittiert. dukte, die für Anleger keinerlei wirt- genteil. Je mehr Zertifikate sie an Optimis- Mit einer Zuwachsrate von rund 20 Pro- schaftlichen Sinn haben“, klagt SdK-Vor- ten verkauft, desto mehr sichert sie sich zent im ersten Halbjahr wird die Zertifi- stand Harald Petersen und fordert eine für den Fall ab, dass doch das Gegenteil kate-Industrie immer mehr zu einer erns- staatliche Regulierung. eintritt. Natürlich zahlt der Anleger die ten Konkurrenz für die Fondsbranche. Doch die Wucht des Erfolgs ließ Benk- Absicherungskosten. Denn Zertifikate sind wesentlich flexibler, ner einknicken. Als ihm die Wertpapier- Das ist dann besonders lukrativ, wenn es ihr Markt ist weitgehend unreguliert. händler sogar noch mit einer eigenen Fonds- der Bank gelingt, möglichst viele Zertifi- Bis ein neuer Fonds nach einem mona- gesellschaft, der DB Platinum aus Luxem- kate an Optimisten wie an Pessimisten zu telangen Genehmigungsverfahren auf den burg, intern Konkurrenz machten, lenkte verkaufen. Sie kassiert zweimal die im Zer- Zocken mit Zertifikaten An der Börse gehandelte 100 Derivate in Milliarden Euro, geschätzt 90

80

70

60

50

Quelle: Derivate Forum 40 2005 2006 „ZertifikateJournal“-Herausgeber Heussinger, Röhl: Mal als Journalist, mal als Bankberater unterwegs

Markt kommt, haben die etwa 30 Emitten- die DWS ein. Benkner musste im Oktober tifikat versteckten Risikoprämien, ohne ten von Zertifikaten schon längst mit Hun- 2005 sogar einen Zertifikate-Profi als tatsächlich ein Risiko einzugehen. derten Produkten darauf reagiert, dass Quereinsteiger in seiner Geschäftsleitung „Aus dem Bündeln und Verwalten der Rohstoffen zurzeit eine glänzende Zukunft akzeptieren. Risiken entsteht unsere Marge“, sagt Hol- verhießen wird oder dass die Aktienkurse Seitdem gibt es kein Halten mehr. ger Bosse, Chef für strukturierte Produkte orientierungslos hin- und herschwanken. Fonds- und Zertifikate-Industrie wachsen bei der Dresdner Bank. Er verweist auf die Zertifikate werden innerhalb von 24 Stun- zusammen. Die DWS hat genauso wie der „unglaublich billigen“ Indexzertifikate, mit den anhand mathematischer Risikomodel- DIT, die Fondsgesellschaft der Dresdner denen man ohne Kosten eins zu eins an der le entwickelt, meistens in den Handelsräu- Bank, mehrere Zertifikate-Fonds aufgelegt. Wertentwicklung des Dax oder des US- men der Londoner Investmentbanken. Das hat aus Sicht der Banken den Vorteil, Aktienindex Dow Jones teilnehmen kann. Beim Marktführer Deutsche Bank wa- dass sogenannte Doppeldeckergebühren Doch das sind Lockvogelangebote, mit ren es denn auch die Investmentbanker, anfallen können. Neben den offen ausge- denen Kunden in den Finanzsupermarkt die als Erste die Gewinnchancen bei der wiesenen Ausgabeaufschlägen für den der Zertifikate gelockt werden. Je intrans- Emission von Zertifikaten entdeckten. Das Fonds kann, kaum kontrollierbar, bei den parenter und komplizierter das Produkt, X-Markets-Team aus dem Bereich von Zertifikaten abkassiert werden. desto kräftiger kassieren die Banken ab. Anshu Jain, dem obersten Wertpapier- Besonders beliebte Kunden sind bei den Da wird mit Twin-win-Zertifikaten oder händler der Bank, hat inzwischen Tausen- Banken die reinen Zocker. Für diese An- Nikolaus-Zertifikaten das Blaue vom Him- de Zertifikate aufgelegt. Interessenten er- leger haben sie eine eigene Produktpalet- mel versprochen, doch Barrieren im Klein- halten kostenlos ein monatliches Hoch- te, sogenannte Knock-out-Zertifikate, ge- gedruckten entpuppen sich als Fallstricke: glanzmagazin, in dem neben Anlegertipps schaffen. Hohen Gewinnchancen steht das Beim Abkassieren ihrer Kunden sind die auf 178 engbedruckten Seiten die Pro- Risiko des Totalverlusts gegenüber. Wenn Zertifikate-Anleger ähnlich kreativ wie duktpalette mit den Kursen steht. der Kurs des zugrunde liegenden Wert- beim Entwickeln neuer Produkte. Der Erfolg der Kollegen führte zu lau- papiers einen bestimmten Wert unter- oder Während die Zocker für die höchsten tem Wehklagen bei den Traditionsbankern überschreitet, kann das ganze Zertifikat Umsätze sorgen, liegt das meiste Geld in aus Frankfurt. Der große Teil des Mark- wertlos werden. In den vergangenen drei sogenannten Garantiezertifikaten. Sie bie- tes für Zertifikate „besteht aus irgend- Monaten wurden knapp 10000 Zertifikate ten in der Regel einen Kapitalerhalt plus welchen Strukturen, die kein Mensch ausgeknockt, weil sie so eine Schwelle er- Minizinsen von vielleicht 1,5 Prozent plus versteht. Das kann der Anleger nicht reichten. Es ist wie im Casino: Wenn die einen Teil der Gewinne, die sich eventuell durchschauen, da gibt es überhaupt keine Kurse in die richtige Richtung gehen, sind auf den Aktien- oder Rohstoffmärkten ein-

der spiegel 32/2006 77 lungen in der Branche. Viele Zocker und Branchenprofis lesen den Infobrief, fast alle Banken werben hier für ihre Produk- te. „Die redaktionell gepflegten ‚Best Buy‘- Listen werden auch von zahlreichen etablierten Print- und Online-Medien über- nommen“, heißt es stolz. In Zusammen- arbeit mit der „Welt“ und der Deutschen Börse AG werden die Zertifikate Awards verliehen. Gleichzeitig kassierte die Zertifikate- Journal AG, bei der Röhl und Heussinger Großaktionäre sind, 2005 eine Manage- mentgebühr von über einer Million Euro

DANIEL LECLAIR / REUTERS LECLAIR DANIEL dafür, dass sie für den ABN Amro ZJ Port- Goldproduktion (in Guatemala): Wetten auf die Rohstoffpreise der Zukunft folio aus dem Gesamtmarkt die besten Zer- tifikate auswählt. In einem Analystenre- stellen. Kein schlechtes Produkt für Si- Beim Nachrichtensender Bloomberg TV port über Röhls Firma wird als Negativum cherheitsfanatiker. hat Röhl alle zwei Wochen eine eigene auf die „Abhängigkeit von wenigen Kun- Die DZ Bank allein hat dafür 2005 vier Fernsehsendung, bei N-tv ist er regelmäßig den“ hingewiesen. Die drei großen Kun- Milliarden Euro eingesammelt. Insbeson- Gast. Kaum ein Seminar, kaum eine Anle- den sind ABN Amro, die Deutsche Bank dere Sparkassen und Genossenschaftsban- germesse, bei der nicht der eloquente und Sal.Oppenheim. ken haben die Produkte an sicherheits- Mann über die Hintergründe von Quanto- Mittlerweile kamen weitere Partner aus orientierte Anleger vertrieben. Schließlich Zertifikaten und die Abgründe einiger Dis- der Bankenwelt wie Merrill Lynch oder bleiben beim Verkauf eines solchen Zerti- count-Angebote räsoniert. Barclays dazu, die die Medienpower und fikats häufig drei Prozent der Prämie als Auf rund 15 Seiten beleuchtet das „Zer- das Know-how von Röhl und Co. anzapfen Vertriebsprovision bei der Filiale hängen, tifikateJournal“ jede Woche, manchmal wollen. Zwei Drittel des Umsatzes stam- beim Verkauf sicherer Anleihen liegt die durchaus kritisch, die neuesten Entwick- men aus solchen Beratungsmandaten. Bei Provision bei einem halben Prozent. der DWS wirken Röhl und Heussinger als Viele Anleger solcher Garantiepapiere Investmentberater an der Auswahl der müssen allerdings bald feststellen, dass der Zertifikate-Markt Zertifikate für zwei Fonds mit. Der eine Kurswert ihrer in der Regel fünf bis sieben Anteil der Anlageprodukte am heißt „ZJ Zertifikate Select DWS-Fonds“, Jahre laufenden Zertifikate manchmal um Marktvolumen in Prozent der andere kommt gewichtig als „DWS zehn Prozent unter den Ausgabekurs ge- Funds World Risk Master“ daher. fallen ist, bei frühzeitigem Verkauf also ein Die muntere Verquickung von Journa- Verlust anfallen würde. Die Garantie wird Garantiezertifikate lismus und Beratertätigkeit wird mittler- erst am Ende der Laufzeit ausgezahlt, und Der Inhaber erhält am Ende der weile auch in der Bankenwelt kritisch ge- bis dahin schlagen die niedrigen Zinsen Laufzeit mindestens das Emissi- sehen. „Röhls Geschäftsmodell ist nicht onskapital zurück, darüber hinaus profitiert auf das Gemüt und auf den Kurs. er im Falle einer positiven Entwicklung des mehr tragbar“, heißt es in den Führungs- Viel tiefere Fallgruben bieten die seit Basiswertes, allerdings nur in begrenztem etagen mancher Kreditinstitute. Er müsse kurzem äußerst populären Spekulationen Umfang. sich schon entscheiden, ob er Wachhund in Agrarrohstoffe. „Jetzt erstmals unlimi- oder Mitspieler sein wolle. ted Turbos auf Weizen und Mais“, wirbt Bonuszertifikate Manche Banker sehen ein, dass die Öf- die Commerzbank für ihr neues Produkt, Der Anleger erhält zusätzlich fentlichkeit bei einer 100-Milliarden-Euro- kurz nachdem die Bauernverbände über einen Bonus, wenn der Basiswert Industrie genauer hinsieht. Der Branchen- den trockenen Sommer geklagt hatten. während der gesamten Laufzeit einen verband Derivate Forum hat für den „Bei Zertifikaten auf Weizen oder Mais bestimmten Wert nicht unterschritten hat. Herbst eine Transparenzoffensive verspro- und Soja war in den letzten 20 Jahren chen. „Wir müssen erwachsen werden“, kaum Geld zu verdienen“, warnt Christian Expresszertifikate meint einer der Beteiligten. Röhl. Der Herausgeber des „Zertifikate- Den Inhabern bietet sich die Das hat sich auch Röhl vorgenommen. Journals“ hat ausgerechnet, dass in den Chance einer Sonderzahlung, wenn „Wir sind keine Journalisten mehr“, sagt er vergangenen fünf Jahren der Weizenpreis der Basiswert am Ende eines Quartals oder freimütig, wenn er auf die mannigfaltigen eines Jahres höher liegt als am Anfang der um jeweils 15 Prozent hätte zulegen müs- Interessenkonflikte angesprochen wird. Zwei Laufzeit. sen, damit in einem Zertifikat ein Gewinn große Medienhäuser sollen, so Röhl, an dem entstanden wäre. Discountzertifikate Erwerb des Anlegerjournals interessiert sein. Röhl, die Haare immer frisch nach hin- Sie werden zu einem Preis ange- Röhl und Heussinger wollen sich künftig ten gegelt, ist der Guru der Zertifikate-In- boten, der unter dem Basiswert nur noch als Berater von Banken und Ver- dustrie. Vor fünf Jahren stellte er mit sei- liegt – im Gegenzug ist allerdings auch die mögensverwaltern verdingen. Um großen nem Kompagnon Werner Heussinger sein Gewinnmöglichkeit limitiert. Familienvermögen in der Schweiz bei der Journal kostenlos ins Internet. Nun sind Auswahl geeigneter Zertifikate zu helfen, die beiden dank eines Börsengangs der Indexzertifikate haben sie einen Spezialisten von der Deut- ZertifikateJournal AG Multimillionäre. Sie haben als Basiswert einen schen Bank abgeworben. Röhl hat vor kurzem seinen Wohnsitz in Börsenindex etwa für Aktien oder Auch die Investmentbanker von der das Schweizer Steuerparadies Zug verlegt. Rohstoffe, so dass der Anleger vergleichs- Deutschen Bank lassen ihren Geschäfts- Es ist eine Karriere, die an die wilden weise einfach an einem breiten und damit partner nicht hängen. Sie legten fünf sehr Zeiten des Neuen Marktes erinnert. Röhl sicheren Markt partizipieren kann. spezielle Diskont-Zertifikate auf: Ihre Käu- wechselt mehrmals am Tag seine Rollen; An 100 fehlende Prozent: Sonstige fer partizipieren an der Wertentwicklung mal ist er Journalist, mal Anlageguru, Quelle: Derivate Forum der ZertifikateJournal AG. Bankberater oder Fernsehstar. Christoph Pauly

78 der spiegel 32/2006 Wirtschaft

spanischen Protektionismus zu tolerieren. unattraktiver machen. Neben dem Verzicht ENERGIE Das geharnischte Schreiben der Kommis- auf zahlreiche Kraftwerke sollen auch sarin könnte einen Wendepunkt in der ver- spanische Versorgungsgebiete, etwa die In- bissen geführten Übernahmeschlacht um selgruppen des Landes, ausgeklammert Spanischer Endesa markieren. werden. Im Februar hatte E.on-Chef Wulf Ber- Doch die unverhohlene Freude der Spa- notat sein 29-Milliarden-Euro-Angebot nier über diesen Coup währte nicht lange, Sonderweg vorgelegt, mit dem er zum größten Strom- denn das Schreiben der Brüsseler Wett- Die Übernahme des spanischen versorger der Welt aufsteigen will. Ihm war bewerbshüterin ist mehr als eine nüchter- klar, dass er damit bei der spanischen Re- ne Aufforderung, den Sachverhalt zu er- Versorgers Endesa durch E.on gierung keine Jubelstürme hervorrufen klären. Es ist vielmehr das klare Signal, entwickelt sich zu einem Krimi. würde. Was dann geschah, verwunderte dass die EU-Behörde nicht gewillt ist, einen Jetzt setzt die EU-Kommission jedoch selbst neutrale Beobachter. spanischen Sonderweg zu dulden. die Regierung in Madrid unter Druck. Schon wenige Tage nach Vorlage der „Nach der vorläufigen Untersuchung“, Übernahmepläne verabschiedete die spa- schreibt Kroes in ihrem Brief, habe es den Anschein, dass es sich bei den meisten von Spanien erlassenen Auflagen um eine „willkürliche Diskriminierung“ oder eine „versteckte Behinderung des freien Kapi- talverkehrs und der Niederlassungsfrei- heit“ handele. Das gelte sowohl für die vorgeschriebene Abgabe der Endesa- Atom- und -Kohlekraftwerke als auch für den Verzicht auf die Versorgung spanischer Inseln wie etwa Mallorca. Die von Spanien geltend gemachten Si- cherheitsinteressen, kritisiert die Nieder- länderin, schienen in weiten Bereichen vorgeschoben oder seien schlichtweg nicht zutreffend. All das, so Kroes, sei mit den „Prinzipien der Gleichbehandlung und Anti-Diskriminierung“ auf dem EU-Markt kaum in Einklang zu bringen. Wohl auch um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen, erhob Kroes den Endesa- Fall sogar zu einem äußerst seltenen „Eil- verfahren“. Das bedeutet, dass die spani-

REA / LAIF sche Regierung gerade einmal fünf Ar- Endesa-Kraftwerk bei Barcelona: Weitreichende Auflagen für die Deutschen beitstage Zeit hat, auf das Schreiben zu reagieren. eelie Kroes verlor keine Zeit. Wenn es ihr in dieser Frist nicht gelingt, Kaum hatte die spanische Regie- die Brüsseler Zweifel auszuräumen, könn- Nrung ihre strengen Auflagen für te Kroes die Spanier in einem nächsten eine Übernahme des spanischen Energie- Schritt Anfang September endgültig an- versorgers Endesa durch den deutschen weisen, die umstrittenen Auflagen auszu- Energieprimus E.on verkündet, griff die setzen – mit weitreichenden Konsequen- niederländische EU-Kommissarin auch zen. Denn sollte sich Zapatero auch daran schon zum Telefon. nicht halten, würde das nach Einschätzung Eilig beorderte sie wichtige Kommis- von Experten nicht nur bedeuten, dass die sionsbeamte aus dem Urlaub zurück, berief Kommission ihre Zahlungen an Spanien Meetings ein und ließ die Rechtslage prü- einbehalten kann. Es drohten dann auch fen. Die spanischen Auflagen, meint Kroes, milliardenschwere Schadensersatzklagen

könnten gegen EU-Recht verstoßen. Zu- DARCHINGER FRANK von E.on- und Endesa-Aktionären. ständig für eine Genehmigung der Endesa- Wettbewerbskommissarin Kroes E.on-Chef Bernotat passt der entschlos- Übernahme sei allein ihre Behörde – und „Willkürliche Diskriminierung“ sene Kurs der EU-Wettbewerbshüter – aus- die hatte den Deal bereits vor Monaten nahmsweise – ausgezeichnet ins Konzept. durchgewinkt. nische Regierung eine Verordnung, mit der Denn der Druck aus Brüssel, hofft man in Spanien fordert von E.on, bei einem sie die heimische Regulierungsbehörde Düsseldorf, könnte dazu führen, dass die Einstieg bei Endesa etwa Atom- und (CNE) – entgegen allen EU-Bestimmun- spanische Regierung doch noch von Maxi- Kohlekraftwerke abzugeben. Das könnte gen – bevollmächtigte, die Übernahme zu malforderungen wie etwa dem Verzicht auf die gesamte Übernahme vereiteln, erklär- prüfen. Um nationale Sicherheitsinteres- Atomkraftwerke abrückt und sich auf ei- ten die spanischen E.on-Anwälte den Brüs- sen zu wahren, kann das Amt seitdem so- nen Kompromiss einlässt. seler Wettbewerbshütern am Dienstag ver- gar Auflagen erlassen, die eine Übernahme Einen Termin für einen solch versöhn- gangener Woche. erschweren oder gar unmöglich machen. lichen Ausgang zumindest haben E.on-Be- Schon zwei Tage später schickte Kroes Genau das geschah denn auch am Frei- rater schon im Visier. Der spanisch-deut- einen zwölfseitigen Brief an die Regierung tag vorvergangener Woche. Da stellte die sche Gipfel mit Bundeskanzlerin Angela von Ministerpräsident José Luis Rodríguez CNE zwar eine Genehmigung für E.on in Merkel Mitte September, heißt es dort, Zapatero. Darin macht sie unmissver- Aussicht, gleichzeitig aber erhob sie For- wäre ein guter Anlass, eine Einigung zu ständlich klar, dass sie nicht gewillt ist, den derungen, die das Geschäft für Bernotat verkünden. Frank Dohmen

der spiegel 32/2006 79 Wirtschaft

KONZERNE Verstoßene Tochter Der Börsengang des Infineon-Ablegers Qimonda beendet ein wenig ruhmreiches Kapitel deutscher Industriegeschichte. Die neuen Eigentümer brauchen Geduld – und gute Nerven.

ür eine Firma, deren Produkte einst Abgang ihres einstigen Kerngeschäfts ne- den Standort Deutschland retten soll- ben wertvollen Patenten etwa 40 Prozent Ften, wirkt die Zentrale des Chip-Her- ihres Umsatzes und den Zugriff auf rund stellers Qimonda im Münchner Arbeiter- ein Dutzend Werke, die über die ganze viertel Neuperlach erstaunlich unpräten- Welt verstreut sind und teilweise mit Part- tiös. Weil in dem schlichten Backsteinbau nern betrieben werden, darunter ihr unweit vom S-Bahnhof nicht genügend Platz hochmodernes Speicherchip-Werk in Dres- ist, wurden auch in umliegenden Gebäu- den sowie Produktionsstätten in den USA, den zahlreiche Büros angemietet. Von dort China oder Taiwan. blicken die Beschäftigten auf gesichtslose Dennoch dürfte sich der Trennungs- Wohnsilos und Unternehmen, die deutlich schmerz in Grenzen halten. In den ver- stabilere Gewinne abwerfen als ihr eige- gangenen Jahren rissen die Verluste der nes Geschäft mit Speicherbausteinen für Sparte immer wieder tiefe Löcher in das

PC oder Digitalkameras: Pizzabäckereien, Rechenwerk der einstigen Siemens-Tochter / LAIF ZIELSKE Schnellimbisse oder Sonnenstudios. (siehe Grafik). Und die schmalen Gewinne Chip-Herstellung bei Infineon (in Dresden): Tiefe Am Mittwoch dieser Woche, hoffen die des Ablegers reichten oft kaum aus, um Qimonda-Angestellten, wird endlich ein anstehende Investitionen zu finanzieren. Münchner Konzernzentrale eine mutige Hauch der großen weiten Welt in ihrer Befreit von dem teuren Kostgänger wol- Entscheidung. Weil Siemens und andere Vorstadtidylle wehen. Dann soll ihr Unter- len die Infineon-Manager mit dem Geld Großunternehmen versäumt hatten, recht- nehmen an der New Yorker Börse ein- aus dem Börsengang nun ihr verbliebenes zeitig in die Silizium-Winzlinge zu inves- geführt werden und einen Preis von bis zu Geschäft mit sogenannten Logik-Chips auf- tieren, die große Datenmengen elektro- 18 Dollar pro Aktie erzielen. päppeln. Die Mini-Schaltzentren, die etwa nisch speichern, starteten die Münchner Läuft alles nach Plan, hält die bisherige Waschmaschinen oder Automotoren steu- mit anderen europäischen Partnern und Mutter Infineon, die vor sieben Jahren ern, sind aufwendiger zu entwickeln, brin- üppigen Staatssubventionen eine ehrgeizi- selbst aus der großen Siemens-Familie ver- gen aber stabilere Gewinne ein. ge Aufholjagd im Chip-Geschäft. Sie soll- stoßen wurde, künftig nur noch rund 80 Was auf den ersten Blick wie eine nor- te verhindern, dass die deutsche Industrie Prozent der Qimonda-Anteile. Die Ampu- male Kapitalmarkttransaktion aussieht, in eine gefährliche Abhängigkeit von asia- tation soll dem Alteigentümer und der un- markiert eine Zäsur in der deutschen Wirt- tischen und US-Zulieferern gerät. geliebten Tochter rund eine Milliarde schaftsgeschichte. Der Siemens-Konzern Nach etlichen Anlaufschwierigkeiten Dollar einbringen – und den späteren Aus- investierte einst Milliarden, um in der Mi- heimste das neue Geschäftsfeld bald erste verkauf der Speicherchip-Sparte einleiten. kroelektronik eine führende Rolle zu spie- Erfolge ein. Berauscht von den verlocken- Die bereits zum 1. Mai vollzogene juris- len – und ist grandios gescheitert. den Gewinnaussichten bauten Siemens, tische Abspaltung kommt einer Zerschla- Der vorläufig letzte Akt in dem High- aber auch viele Konkurrenten, massenhaft gung des Münchner Chip-Konzerns gleich. tech-Drama soll diese Woche im fernen neue Fabriken – und begründeten damit Von den rund 36 000 Beschäftigten des New York aufgeführt werden. Da soll das ungewollt einen Schweinezyklus, unter Halbleiterherstellers hat seither ein Drittel einstige Siemens-Gewächs meistbietend dem die Branche noch heute leidet. Stei- eine neue Heimat – bei Qimonda – und verhökert werden. gen die Preise für die Mini-Datensamm- einen neuen Chef: den Malaysier Kin Wah Dabei hatte alles so vielversprechend ler, werden auch die Produktionskapazitä- Loh. Die Mutter selbst verliert durch den begonnen. Am 6. Februar 1984 fiel in der ten erhöht. Kommen sie später schließlich auf den Markt, sind die Preise meist schon wieder im Sinkflug – weil ein Überangebot herrscht. Die anfallenden Verluste sorgen dafür, dass kleinere und unprofitable Anbieter aufgeben müssen. Das Angebot schrumpft erneut, die Preise ziehen wieder an und die Achterbahnfahrt beginnt aufs Neue. Das hektische Auf- und Ab in der Chip- Industrie passte von Anfang an nicht so recht zum Selbstverständnis der Siemens- Manager, die mit ihren Kraftwerken oder Bahnsystemen ganz andere Produktzyklen gewohnt waren. Trotzdem fütterten sie die

GETTY IMAGES ungeliebte Sparte lange Zeit durch.

Infineon-Chef Ziebart, Qimonda-Chef Loh Mitgift für den teuren Kostgänger Infineon künftig nicht mehr beide Chip- Arten aus einer Hand anbieten. Nun müssen die Anleger entscheiden, wem sie was glauben. Ein Investment dürfte ohnehin eher für Zocker und risiko- bereite Investoren in Frage kommen, denn das Geschäft mit den Winzlingen schwankt extrem stark – und die Konkur- renz ist hart. In einigen seiner Werke fertigt der Sie- mens-Ableger noch immer teurer als die Wettbewerber im Rest der Welt. Betriebs- räte fürchten, dass die Qimonda-Manager nach dem Börsengang verstärkt Jobs im Inland einsparen könnten – etwa im älte- ren Teil des Dresdner Werks. Ein Firmen- sprecher versichert allerdings, dass der Betrieb zurzeit gut ausgelastet und ein Stel- lenabbau bislang nicht geplant sei. Breiten Raum nehmen im knapp 300 Seiten starken Börsenprospekt diverse Pro- zessrisiken ein, die Qimonda von seiner Mutter geerbt hat. Nun rächt sich, dass die Infineon-Manager zwischen 1999 und 2002 illegale Preisabsprachen mit Wettbewer-

Löcher ins Rechenwerk gerissen

1998 verlor der damalige Konzernchef mals gefeierte Infineon-Aktie rund 75 Pro- Heinrich von Pierer die Geduld. Die Silizi- zent ihres Wertes. Erboste Aktionäre ha- um-Winzlinge, die als Vorläufer für die in- ben das Werbemotto des Konzerns („Ne- telligenteren Logik-Chips gelten, hatten ein ver stop thinking“) inzwischen schon in Loch von fast einer Milliarde Euro in seine „Never stop sinking“ umformuliert. Bilanz gerissen. Der Siemens-Chef schloss Halbwegs ungeschoren kam nur die kurzerhand ein gerade erst unter großem frühere Mutter Siemens davon. Sie hat sich Pomp mit der britischen Queen eingeweih- inzwischen von all ihren Infineon-Anteilen tes neues Speicherchip-Werk im britischen getrennt – und zumindest in der Anfangs- North Tyneside. Pierer ließ das Chip- phase noch einen guten Schnitt gemacht. Geschäft unter dem Kunstnamen Infineon Auch im Management rissen die Turbu- ausgliedern und im März 2000 von dem lenzen nicht ab. Ende März 2004 wurde

damaligen Vorstandschef Schumacher von seinen / DPA / PA HUMPHREYS Ulrich Schumacher an die 100 eigenen Kollegen zum Siemens-Chef Pierer (l.), Queen Elizabeth II.* Börse bringen. Infineon-Aktienkurs Rücktritt gedrängt. Nun Achterbahnfahrt nach der Aufholjagd in Euro Doch auch die neuen 80 exekutiert sein Nachfol- Eigentümer wurden mit ger Wolfgang Ziebart die bern getroffen hatten, um ein Absinken der Siemens-Altlast nicht 60 Quelle: schon länger geplante der Speicherchip-Preise zu verhindern. Be- glücklich. Seit dem Bör- Thomson Abspaltung der anfälli- reits vor zwei Jahren musste der Konzern senstart verlor die einst- Financial gen Speichersparte. dafür Strafgeldern in Höhe von 160 Mil- 40 Datastream Da der technische lionen Dollar zustimmen. Ausgestanden ist Fortschritt bei Speicher- die Affäre damit noch lange nicht. 20 Gewinn/Verlust* und Logik-Chips inzwi- Erst Mitte Juli wurde bekannt, dass 34 bei Infineon und der schen ähnlich schnell US-amerikanische Bundesstaaten Infine- Sparte Speicherprodukte 0 voranschreite, argumen- on ebenfalls verklagen wollen, weil ihnen in Milliarden Euro 2000 2002 2004 2006 tiert Ziebart, mache es durch das künstliche Aufblähen der Chip- 1,5 heute kaum mehr Sinn, Preise Mehrkosten entstanden seien. Auch * vor Zinsen und Steuern erst teure Fabriken für die Standardbau- zahlreiche Infineon-Aktionäre fordern 1,0 **1. bis 3. Quartal, elemente zu errichten und sie später auf Schadensersatz. Geschäftsjahr endet zum 30. September die Fertigung ihrer intelligenten Verwand- Für die drohenden Kosten hat das Infi- 0,5 Quelle: Infineon ten umzurüsten. Außerdem könnten Inves- neon-Management bislang schon 140 Mil- 0 toren nach dem Börsengang von Qimonda lionen Euro zurückgestellt, die nun ihre nun gezielt entscheiden, in welches der verstoßene Tochter als Mitgift erhält. Soll- –0,5 beiden Geschäfte sie investieren wollen. ten künftige Pönalen diese Summe über- SPEICHER- Ziebarts Kritiker sehen das anders. Zwi- steigen, teilen Infineon und Qimonda die –1,0 PRODUKTE schen den beiden Bereichen gebe es nach Mehrbelastung gleichberechtigt unter sich. seit –1,5 1. Mai 2006: wie vor Synergieeffekte in dreistelliger Mil- Bis die Verfahren rechtskräftig entschie- lionenhöhe, behaupten sie. Auch könne den sind, dürften allerdings noch Jahre ver- –2,0 gehen. Vermutlich hält die Mutter Infineon 1998 2000 2002 2004 2006** * Bei der Einweihung des Siemens-Speicherchip-Werks dann nur noch eine Minderheit an ihrer in North Tyneside bei Newcastle, 1997. schwierigen Tochter. Dinah Deckstein

der spiegel 32/2006 81 SVEN DOERING / VISUM SVEN Senior-Experte Wimmeroth (M.), Mittelständler Georg und Josef Pietschmann: „Schön, wenn man als alter Mann noch gebraucht wird“

sellschaften und Vereine mittlerweile Fach- JOBS kräfte im Ruhestand als Berater. Der Grün- der Support Ruhr aus Essen beispielsweise stellt jungen Firmengründern erfahrene Grauer Markt Ex-Unternehmer zur Seite. Etliche regio- nale Wirtschaftssenioren- und Alt-hilft- Während Franz Müntefering mehr Arbeitsplätze für Ältere Jung-Vereine unterstützen Start-up- und Problemfirmen. schaffen will, erleben hochqualifizierte Senioren Auch Konzerne nutzen immer häufiger einen zweiten Frühling. Ihr Fachwissen ist gefragter denn je. das Rentner-Wissen. Bosch, Siemens oder der deutsche Ableger des Pharmakonzerns ass ihnen ausgerechnet ein Rentner Zu den Pietschmanns im sächsischen Pfizer etwa engagieren ihre eigenen Ex- aus der Patsche helfen würde, da- Ebersbach fuhr Hans-Reinhard Wimme- Mitarbeiter für dann allerdings gutbezahl- Dmit hatten die Pietschmanns nun roth, 61, der jahrzehntelang ein Bauge- te Kurzeinsätze. wirklich nicht gerechnet. schäft geführt hatte. Mit Josef Pietsch- „Der Prozess des Umdenkens ist in Kurz vor Weihnachten hatte ihre Lüf- mann, 62, und dessen Sohn Georg, 29, vollem Gange“, sagt Hans Böhm, Ge- tungsfirma Außenstände von 250000 Euro studierte er den Pleitefall. schäftsführer der Deutschen Gesellschaft aufgetürmt – und die Hausbank kündigte Unterstützt von zwei weiteren SES-Män- für Personalführung. Immer mehr Perso- das Konto. 15 Mitarbeiter bangten um nern, einem Ex-Wirtschaftsprüfer und ei- nalchefs würden erkennen, dass mit Rent- ihren Job. „Wir standen vor der Pleite und nem Anwalt a. D., half er beim Ausfüllen ner-Einsätzen vorhandenes Know-how haben mit dem Schlimmsten gerechnet“, von Formularen, suchte den Kontakt zum rasch, günstig und vor allem flexibel ein- sagt Juniorchef Georg Pietschmann, „bis Insolvenzverwalter, beschwor die Banken gekauft werden könne. Zudem kenne oft uns ein Freund den Rat gab: ‚Geht doch und telefonierte mit Auftraggebern. Wie niemand die Bedürfnisse einer Firma bes- zum SES.‘“ im TV-Hit „Der große Bellheim“ waren es ser als die Ex-Mitarbeiter. Der Senior Experten Service (SES) in graue Stars, die das Unternehmen schließ- Mit Nachwuchsproblemen haben die Bonn schickt Fachkräfte im Ruhestand als lich retteten. Rentner-Pools jedenfalls nicht zu kämpfen. ehrenamtliche Entwicklungshelfer rund „Im Kern war die Firma gesund, es fehl- Mehr als 20 Millionen Ruheständler leben um den Erdball – und seit geraumer Zeit te nur etwas unternehmerisches Know- schon jetzt in der Bundesrepublik. Und es vermehrt in ein nahe liegendes Krisenge- how“, sagt Wimmeroth. Die guten Kunden werden immer mehr – auch mit staatlicher biet: den deutschen Mittelstand. und alle Mitarbeiter wurden schließlich Unterstützung. Firmen in Not erhalten kostenlose So- von einer Nachfolgefirma in Familienbesitz Denn auf dem regulären Arbeitsmarkt fortberatung von einem der etwa 7200 re- übernommen – das 1875 gegründete Ge- sind Frauen und Männer ab 50 teurer als gistrierten Senior-Experten. Bloß Spesen schäft war gerettet. jüngere Kandidaten und deshalb oft schwer und Bearbeitungsgebühren müssen die Un- Solche Rentner-Einsätze machen Schu- vermittelbar. Mit einem zweistelligen Mil- ternehmen bezahlen. le: Quer durch die Republik vermitteln Ge- liardenbetrag unterstützt allein die öffent-

82 der spiegel 32/2006 Wirtschaft liche Hand deshalb jährlich Frühverren- zählt Wimmeroth. Zu Hause würden sich Als Ruheständler mag Weinmann frei- tungen. Mit weiteren 500 Millionen Euro die Ruheständler deshalb rasch langwei- lich nicht bezeichnet werden. Der Begriff will SPD-Arbeitsminister Franz Müntefe- len. Beim SES riefen sogar mitunter Ehe- stigmatisiere. Und schließlich gebe es ring, 66, im Gegenzug die Einstellung frauen an, um zu fragen: „Habt ihr denn „20-jährige Greise und 80-jährige Jüng- arbeitsloser Noch-nicht-Rentner subven- nichts für meinen Mann, der geht mir auf linge“. tionieren. den Geist?“ In Suzhou gehört er dennoch zum alten Dabei attestieren Arbeitgeber nach einer Solche Nöte kennen die Frauen von Ex- Eisen. Das Durchschnittsalter der Beleg- aktuellen Studie des Marktforschungs- Bosch-Mitarbeitern nicht. Wohl nirgend- schaft liegt bei 27 Jahren, die ausländischen instituts Psychonomics älteren Mitarbei- wo in Deutschland werden die eigenen Manager sind im Schnitt knapp 40. „Der tern nicht nur deutlich mehr „Fachwissen“ Ruheständler so systematisch eingesetzt Jugendwahn ist auch in China angekom- und eine „höhere soziale Kompetenz“, wie beim Konzern mit Sitz in Gerlingen- men“, resümiert Weinmann. Früher sei sondern auch eine tendenziell „höhere Schillerhöhe bei Stuttgart. man als Senior automatisch respektiert Leistungsbereitschaft“. „Jeder kann sich bei uns melden, sobald worden, „heute muss man sich seinen Sta- Gerade bei kleinen Firmen sind die Se- er im Ruhestand ist, vom Arbeiter bis zum tus schon erarbeiten“. nioren-Experten hochwillkommen. „Es Spitzenmanager“, sagt Dieter Büschel- Er selbst tut das mit dem Aufbau einer gibt Beratungsbedarf an allen Ecken und berger, Chef von Bosch Management Sup- Qualitätsmanagement-Abteilung, die den Enden“, sagt Gunter Kayser, Geschäfts- port (BMS). Die Konzerntochter vermit- internationalen Standards des Bosch-Kon- führer des Bonner Instituts für Mittel- telt ehemalige Angestellte im Ruhestand zerns genügen muss. Sobald die Abteilung standsforschung. Doch weil kommerziel- bedarfsweise an Bosch-Werke im In- und funktioniert und der neue Chef eingear- ler Rat teuer ist, nehme nur etwa jeder 20. Ausland. beitet ist, hat der Senior-Manager seine Kleinbetrieb die Dienste einer Unterneh- Allein in diesem Jahr werden die etwa Mission beendet. Auf den nächsten Ein- mensberatung in Anspruch. 300 eingetragenen Ex-Mitarbeiter circa satz freut er sich schon: „Ich will das ma- Die Pietschmanns standen mit ihrer Lüf- 9000 Einsatztage leisten, fast sechsmal chen, solange ich fit bin.“ tungsfirma vor genau diesem Problem. mehr als noch vor vier Jahren. Die Bosch- Was in Deutschland noch immer Pio- „Hilfe von der Handwerkskammer war auf ler a. D. im Alter von bis zu 72 Jahren be- niercharakter besitzt, ist in den USA be- die Schnelle auch nicht zu bekommen“, kommen für ihre Einsätze ein Tageshono- reits ein boomendes Geschäft. Kommer- erinnert sich der Juniorchef. „Ohne Wim- rar von 300 bis 800 Euro. zielle Vermittler befriedigen die steigende meroth vom SES hätten wir den Kopf in „Aber das ist nicht die Hauptmoti- Nachfrage nach rüstigen Rentnern mit den Sand gesteckt.“ vation“, betont Büschelberger, 64. „Die Webseiten wie Dinosaur-Exchange.com Für den rüstigen Rentner war es nicht Männer und Frauen freuen sich vor allem oder auch Seniors4Hire.org. der erste Einsatz bei einem kriselnden Mit- darüber, dass sie ihr Wissen einbringen Der Pharmakonzern Eli Lilly und der Konsumgüter-Riese Procter&Gamble grün- deten vor drei Jahren gemeinsam die Platt- Arbeiten im Alter form YourEncore.com. Mittlerweile haben Beschäftigtenquote bei den sich auch weitere Firmen beteiligt, darun- 55- bis 64-Jährigen, in Prozent ter der Flugzeugbauer Boeing. Auch jeder andere Arbeitgeber kann das Angebot ge- Schweden 69,4 gen eine Gebühr nutzen. Die Webseite soll den Firmen helfen, Großbritannien 56,9 das in den Ruhestand verabschiedete Fach- Finnland 52,7 wissen zu reanimieren. Die hochqualifi- Portugal 50,5 zierten Rentner werden dabei mit durchaus hohen Honoraren gelockt: letztes Gehalt Niederlande 46,1 plus Teuerungsausgleich plus 20 Prozent Deutschland 45,4 Zuschlag. Die Idee begeisterte auch Steffen Haas, Spanien 43,1 45. Der Start-up-Unternehmer aus Mann- EU 25 42,5 heim gründete vor einem halben Jahr Er- fahrung Deutschland (ED) und ist seit Frankreich 37,9 März mit einer Webseite online. Österreich 31,8 Inzwischen haben sich nach seinen An- Belgien 31,8 gaben etwa 1400 ehemalige Führungskräf- te in die firmenunabhängige Datenbank Italien 31,4 eingetragen. Bis Ende des Jahres hofft ED- Polen 27,2 Chef Haas auf 5000 Vermittlungswillige. Mit den Zugangsgebühren für die interes- Quelle: Eurostat

MARTIN STORZ MARTIN sierten Firmen will ED bald schon 2,5 Mil- Ex-Manager Weinmann: „20-jährige Greise, 80-jährige Jünglinge“ lionen Euro pro Jahr umsetzen. Haas rechnet vor, dass von den deut- telständler. Im vergangenen Sommer half können, dass sie alte Kollegen wiedersehen schen Ruheständlern, „konservativ ge- er schon einer Gartenbaufirma in Leipzig, – und einen Werksausweis bekommen.“ schätzt“, 120000 seiner Zielgruppe zuzu- die drohende Pleite abzuwenden. Die Walter Weinmann, 67, absolviert gerade ordnen seien: hochqualifiziert und heiß Einsätze brächten ihm zwar kein Honorar, seinen dritten BMS-Einsatz. Der Manager darauf, die eigene Rente mit Beraterjobs aber viel Zufriedenheit, sagt Wimmeroth: im Ruhestand berät eine konzerneigene Fa- noch ein bisschen aufzubessern. „Es ist schön, wenn man als alter Mann brik in Suzhou bei Shanghai. Weinmann Erfahrungen im Geschäft mit Senioren noch gebraucht wird.“ spricht Chinesisch und kennt die Verhält- hat Haas bereits gesammelt. Er ist Initia- In der Bonner SES-Zentrale hilft er auch nisse vor Ort wie kaum ein Zweiter, hat er tor einer virtuellen Apotheke und einer bei der Senioren-Rekrutierung. Der Nach- doch in den neunziger Jahren eine der ers- Partnervermittlung für graumelierte Kun- wuchs sei topfit und voller Tatendrang, er- ten Bosch-Fabriken in China mit aufgebaut. den. Sebastian Ramspeck

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Reichenparadies Baden-Baden „Eine intensive Prüfung unterblieb“

Das Risiko, beim Schummeln erwischt zu werden, ist gering. Viel zu selten, so der Rechnungshof, werde der Außendienst los- geschickt, um Angaben der Großverdie- ner zu kontrollieren. Zum Teil ließen die Außendienstler aber auch die Kontrollvor- schläge ihrer Kollegen einfach unbearbei- tet liegen – in einem Fall seit 1997. „Der Zeitdruck ist oft enorm“, recht- fertigen Praktiker wie Fleischhacker die Situation. Nach bundesweiten Zeitvorga- ben habe ein Beamter für die Bearbeitung einer Manager-Steuererklärung mit sechs

SORGE / CARO Anlagen genau 210,38 Minuten Zeit. „Das klingt viel, aber der Teufel steckt im das Personal in den Ämtern ausgedünnt Detail“, sagt Fleischhacker. Die beiden An- STEUERN werde. Jedes Jahr entstünden dem Staat lagen V für die Vermietung zweier Häuser dadurch Einnahmeausfälle von mehr als muss der Steuerbeamte im Schnitt in 70 Milliarden Euro, sagt Gewerkschaftschef knapp 20 Minuten gecheckt haben. Da las- Einfach glauben Dieter Ondracek. Ein Drittel dieser Summe se sich oft nicht einmal feststellen, ob sich Ausgerechnet bei Großverdienern würde reichen, um die Erhöhung der hinter Modernisierungsausgaben ein „Er- Mehrwertsteuer überflüssig zu machen. haltungsaufwand“ oder ein „Herstellungs- schauen Finanzämter oft nicht Besonders die Angaben von Personen aufwand“ verbirgt – beide sind steuer- genau genug hin. Angeblich sind mit Einkünften von mehr als 500 000 Euro rechtlich unterschiedlich zu behandeln. die Beamten überlastet. bergen „wegen komplexer Sachverhalte ein Noch problematischer geht es bei der Risiko von Steuerausfällen“, mahnt der Anlage AUS für ausländische Einkünfte s ist eine dieser Steuererklärun- hessische Rechnungshofpräsident Manfred zu. „Da stoßen unsere Beamten oft an die gen, die Finanzbeamte fürchten: Der Eibelshäuser. Zwar sollen solche Fälle nach Grenzen“, gibt Hessens Finanzminister EManager mit hohem sechsstelligem den „Grundsätzen zur Neuorganisation der Karlheinz Weimar (CDU) zu. Regelungen Jahreseinkommen, verheiratet, hat seinem Finanzämter“ besonders genau unter die wie das Halbeinkünfteverfahren oder Dop- Mantelbogen eine Anlage N, zwei Anlagen Lupe genommen werden. Doch die Praxis pelbesteuerungsabkommen mit anderen V, die Anlage AUS, die Anlage KAP und sieht anders aus: Bei der hessischen Stich- Ländern lassen die Prüfer nicht selten re- die Anlage SO beigelegt, dazu einen di- probe hätten fast 100 der 350 Steuerakten signieren. „Wir müssen da oft glauben, was cken Stapel mit Rechnungsbelegen. Wann einen genauen Check erfordert. „Eine in- Steuerberater und Banken für ihre Kunden immer ein solches Werk auf seinem tensive Prüfung unterblieb jedoch“, mo- aufgeschrieben haben“, sagt ein Experte Schreibtisch landet, weiß Gerd Fleisch- nierte der Rechnungshof. aus Weimars Ministerium. hacker, 44, sofort: „Da müsste man ei- Eibelshäusers Leute stießen auf „gra- Weimar hofft, dass Reformen der Steuer- gentlich ganz genau hingucken.“ vierende Bearbeitungsmängel“: Angaben gesetze die Lage entschärfen werden – Müsste. Der hessische Beamte und Steu- über hohe Verluste aus selbständiger Tätig- etwa eine Abgeltungsteuer, die viele Ein- ergewerkschaftsvertreter ist Realist: Viele keit seien häufig ungeprüft akzeptiert wor- zelregelungen zur Zinsbesteuerung über- Angaben in hochkomplexen Einkommen- den, ebenso angebliche Werbungskosten flüssig machen könne. Zudem will Hessen steuererklärungen von Großverdienern „in nicht unerheblicher Höhe“ für Ein- die Finanzämter umbauen. Bearbeiter- müssen er und seine Kollegen im Arbeits- künfte aus Kapitalvermögen. Bezüge, die teams mit Experten für verschiedene Steu- alltag einfach glauben, hinter mancher ge- einfach als „steuerfrei“ deklariert worden erbereiche und Außendienstprüfern sollen wagten Konstruktion im steuerrechtlichen waren, wurden „oftmals ohne weitere den bisherigen Einzelsachbearbeiter bei Graubereich mit gemischten Gefühlen ein Überprüfung steuerfrei belassen“. der Prüfung von Steuererklärungen mit Häkchen machen. „Zu mehr“, sagt Fleisch- hohen Summen ablösen. hacker, „reicht die Zeit nicht.“ In Nordrhein-Westfalen, lobt die Steuer- Wer eine halbe Million Euro und mehr Gewerkschaft, würden Großverdiener mit verdient, hat gute Chancen, beim Fiskus mehr als einer halben Million Euro Jahres- auch mit fragwürdigen Steuererklärungen einkommen wie Betriebe behandelt; sie durchzukommen – zumindest in Hessen. müssen dort – zumindest theoretisch – alle Dort hat der Landesrechnungshof 350 paar Jahre eine ausführliche Betriebsprü- Steuerakten aus vier Finanzämtern nach- fung über sich ergehen lassen. kontrolliert und festgestellt: Die mit vie- Dennoch haben Praktiker die Finanz- len Anlagen und Steuersparmodellen an- minister im Verdacht, kein großes Interes- gereicherten Erklärungen von Großver- se an personalintensiven Steuerprüfungen dienern wurden nicht intensiver geprüft zu haben. Denn durch das System des als die Standarderklärungen von Durch- Länderfinanzausgleichs profitiert ein Bun- schnittssteuerbürgern. desland nur begrenzt von Investitionen Das Problem ist nicht auf Hessen be- in zusätzliche Prüfer: Einen großen Teil schränkt: Seit Jahren warnt die Deutsche der Steuereinnahmen, die jeder neue Steuer-Gewerkschaft, die rund 135 000 Fi- Prüfer heranschaffen könnte, müsste der

nanzamtsbeschäftigten könnten ihre Kon- / DPA ARNE DEDERT Minister gleich wieder an Länder mit un- trollfunktion nicht mehr wahrnehmen, weil Minister Weimar, Regierungschef Koch terdurchschnittlichen Einnahmen über- das Steuerrecht immer komplizierter und Schummeln ohne großes Risiko weisen. Matthias Bartsch

84 der spiegel 32/2006 Medien

PRESSE MEDIENPOLITIK Wirbel um Woody Pay-TV total inen kleinen Scoop schien das EMagazin „Cicero“ seinen Le- ie Verträge über die Ein- sern in der aktuellen Ausgabe prä- Dführung einer Satelliten- sentieren zu können: „Essen mit gebühr für einige Free-TV-Pro- Woody Allen“ wirbt es schon auf gramme ab dem Jahr 2007 dem Cover, im Heftinnern findet bringen nicht nur Medienpoli- sich ein Essay des New Yorker Re- tiker und Verbraucherschützer gisseurs („Manhattan“, „Match in Wallung – die massivsten Point“) und Autors, in dem er sich Kritiker sitzen bei ARD und unter dem Titel „Also aß Zarathus- ZDF. „Das ist der direkte tra“ laut Redaktionsvorspann Weg ins totale Bezahlfernse- damit auseinandersetzt, „was die hen“, wettert der amtieren- kulinarische Postmoderne für de ARD-Vorsitzende Thomas Intellektuelle zu bedeuten hat“. Gruber über die Pläne, „die Optisch garniert ist das Ganze mit den politisch gewollten Um- einer opulenten Fotostrecke von stieg in die digitale Welt David LaChapelle – insgesamt um-

blockieren statt fördern.“ Im / DPA PILICK STEPHANIE Übrigen entstehe durch die direkte Adressierbarkeit die Gefahr, dass baren „Free TV“-Sender künftig „grund- die Bürger für die beteiligten Medien- verschlüsselt“ ausgestrahlt. Die Digital- konzerne „zu gläsernen Kunden und Zu- Sat-Zuschauer brauchen dann neben ei- schauern“ würden. SWR-Intendant Peter nem Decoder eine Smart-Card und sollen Voß appellierte an die Politik, nicht bloß eine „Monatspauschale von bis zu 3,50 „über diesen Zustand zu lamentieren“, Euro“ bezahlen. ZDF-Intendant Markus sondern sich dafür stark zu machen, Schächter hatte seinen Fernsehrat intern dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk vor den möglichen Folgen der Entwick- hier ein wirksames Gegengewicht bleibe. lung gewarnt: Lizenzgeber von Sportrech- „Die Politiker müssen verhindern, dass ten und Spielfilmen könnten künftig auch ARD und ZDF mit der Grundverschlüsse- bei ARD und ZDF auf eine „gebietsweise lung ins Bezahlfernsehen weggesperrt eingeschränkte und damit verschlüsselte werden“, so Voß. Den vergangene Woche Ausstrahlung“ drängen, heißt es in einem bekannt gewordenen Verträgen des füh- internen Papier. „In der Konsequenz renden europäischen Satellitenbetreibers könnte dies zu einem programmlich ab- SES Astra mit der RTL Gruppe und MTV gemagerten öffentlich-rechtlichen Rund- Networks zufolge, die dem Bundeskartell- funk“ führen, in dem „unverzichtbare Pro- amt zur Prüfung vorliegen, würden die grammfarben wie Sport und Spielfilm bislang über Astra digital frei empfang- weitgehend nicht mehr vorkommen“. „Cicero“-Cover

fasst der Beitrag so stattliche neun Magazinseiten. Zur Quelle des Allen-Textes findet sich kein Wort, INTENDANTEN sein Korrespondentenleben. Es müsse nur der Name eines Übersetzers ist jedoch nicht, so heißt es nun beim WDR, genannt. Für „Cicero“-Leser muss Abschied vom Abschied in einer „Elegie“ auf den scheidenden der Eindruck entstehen, der Regis- Pleitgen münden, sondern könne auch für seur habe sich eigens für „Cicero“ eim WDR schlägt sich das Gezerre um runde Geburtstage oder sonstige wichtige Gedanken gemacht. Davon kann Bdie unklare Zukunft des Intendanten Jahrestage verwendet werden. indes keine Rede sein. Das Stück Fritz Pleitgen nun auch in Über- erschien nicht nur im Original auf legungen des Senders zur Programm- zwei Seiten Anfang Juli im „New planung nieder: Für den Fall, dass Yorker“ (Titel dort: „Thus Ate der 68-jährige Pleitgen, dessen Ver- Zarathustra“) – „Cicero“ druckte trag Mitte 2007 ausläuft, weiter im es offenbar auch ohne Geneh- Intendantenamt bleiben sollte, könn- migung nach. So kam man dem te sein Abschiedsfilm umgewidmet Gesellschaftsmagazin „Park werden. Das Material, das in den ver- Avenue“ zuvor, dessen New gangenen Monaten bei Dreharbeiten Yorker Repräsentantin bereits über in Moskau, Berlin, New York und die Nachdruckrechte für Deutsch- Washington entstanden ist, zeigt land verhandelt und schon eine Pleitgen als Zeitzeugen auf einer Zusage erhalten hatte. Bei „Cicero“ filmischen Erinnerungsreise durch war Donnerstag und Freitag nie- mand für eine Stellungnahme zu

Pleitgen WDR erreichen.

86 der spiegel 32/2006 Fernsehen TV-Vorschau Schramm in „Bin ich sexy?“ Das Literarische Quartett pubertäre Nöte und all- Freitag, 23.15 Uhr, ZDF tägliches Chaos in einer Brecht geht immer: „Wir stehen selbst Kleinfamilie präzise und enttäuscht und sehn betroffen/Den amüsant beschreibt, bietet Vorhang zu und alle Fragen offen“ – den Darstellern, allen vor- zitiert „Quartett“-Leiter Marcel an Birge Schade in der Reich-Ranicki am Ende jeder Sen- Rolle einer stark geforder- dung. Diesmal passt der Satz aus ten Mutter, eine dankbare „Der gute Mensch von Sezuan“ noch Spielvorlage. Der Film besser als sonst: Reich-Ranicki & Co. ist wie seine Heldin und diskutieren über Bertolt Brecht, der nimmt jedem Thema am 14. August vor fünfzig Jahren

DIRK HAEGER / ZDF leichtfüßig die Schwere. starb. Weitere „Quartett“-Sitzungen zu anderen wichtigen Jahrestagen Bin ich sexy? Helden der Lüfte sind zu erwarten. O-Ton Brecht: „Verehrtes Publikum, jetzt kein Ver- Montag, 20.15 Uhr, ZDF Montag bis Freitag, 20.15 Uhr, Arte druss:/Wir wissen wohl, das ist kein Wuchtig betritt sie den Laufsteg und Einst wurden Piloten als „tollkühne rechter Schluss.“ bringt die Bretter, die angeblich die Männer in fliegenden Kisten“ verklärt, Welt bedeuten, zum Vibrieren: Die 15- und der Sänger Reinhard Mey glaubte, Criminal Minds jährige Schülerin Mareike (Marie-Luise über den Wolken müsse „die Freiheit Schramm) will unbedingt zur Miss Ba- wohl grenzenlos sein“. Von wegen. In Sonntag, 21.15 Uhr, Sat.1 den-Württemberg gekürt werden und einer zehnteiligen Dokumentationsreihe Sie sind Spezialisten für den Blick in stört sich nicht daran, dass sie um eini- zeigt Arte jetzt die eher profanen Seiten die Seele des Täters: Sogenannte ge Pfunde von der Ideallinie für Mo- der Fliegerei: der Himmel als Arbeits- Profiler erstellen Persönlichkeitsprofi- dels abweicht. Selbstbewusst stöckelt platz für Ärzte, Cowboys oder Marine- le von Verbrechern. Auch die fünf Er- sie im Takt der Musik daher und piloten. Die erste Folge (Regie: Mike mittler der BAU (Behavioral Analysis scheint dabei von Schritt zu Schritt Magidson) porträtiert TV-Reporter in Unit), Helden dieser neuen US-Krimi- leichter zu werden. Vom Kampf der Los Angeles, die per Hubschrauber auf Serie (Autor: Jeff Davis), können sich Willenskraft gegen die Schwerkraft er- Recherche gehen: Sie filmen Autover- scheinbar beliebig in Serienmörder zählt Regisseurin Katinka Feistl in ihrer folgungsjagden. Faszinierender, weil hineinversetzen. Bodenständiger als so beschwingten wie berührenden Tra- unbekannter ist aber der Job, den Do- etwa die Kollegen von „CSI“ spart gikomödie. In Zeiten, in denen viele ku-Filmer Franck Cuvelier am Dienstag das Team um Sympathieträger Jason junge Mädchen unter Essstörungen lei- vorstellt: Von einem Wasserflugzeug aus Gideon (Mandy Patinkin) mit Fach- den, feiert der Film den drallen Körper sucht ein Pilot vor der Küste Alaskas begriffen und kriminaltechnischen und die unbändige Energie seiner Hel- nach Heringsschwärmen und lotst die Wundermitteln. Erster Fall: ein Se- din. Das lakonische und temporeiche Fischer ans Ziel – gegen üppige Ge- xualstraftäter, der Frauen beim Auto- Drehbuch von Sabine Brodersen, das winnbeteiligung. kauf zu fatalen Probefahrten einlädt. Medien

MARTIN HOFFMANN / IMAGO ZDF-„Sportstudio“ mit Moderator Poschmann (r.), Ex-Radprofi Manzano: „Sportbetrug im großen Stil übertragen“

SPORTBERICHTERSTATTUNG Kumpeliges Miteinander Egal ob Bundesliga, Radsport oder Olympia: Für die TV-Sender ist Sport in erster Linie eine Ware, die es zu verkaufen gilt. Kritischer oder auch nur distanzierter Journalismus bleibt rasch auf der Strecke. Nun scheint, nach den jüngsten Skandalen, ein Umdenken einzusetzen.

ie Entschuldigung schickt die ARD der weiter anschwellenden Welle der Kri- Sender „teilweise gemeinsame Interessen gleich voraus, ohne dass auch nur tik scheint in den Chefetagen nun tatsäch- haben, nämlich erfolgreiche, stimmungs- Deine Minute gesendet worden ist: lich ein langsames Umdenken einzusetzen. volle und attraktive Sport-Events zu prä- „Männer waren schon immer so. Jeden- Man habe in der Vergangenheit „vielleicht sentieren“. Es gebe jedoch, das ist offenbar falls samstags.“ So steht es auf den Pla- nicht systematisch genug hinterfragt, wie nötig zu sagen, „in keinem Vertrag, den katen zum Bundesliga-Start der „Sport- bestimmte sportliche Leistungen zustande die ARD abgeschlossen hat, eine Verpflich- schau“, und die kickenden Neandertaler, gekommen“ seien, sagt ZDF-Chefredak- tung zur positiven Darstellung eines Sport- die darauf zu sehen sind, lassen nichts Gu- teur Nikolaus Brender. Events“. tes erwarten. Blöde sehen sie aus. Unter- Quantitativ will er sich keinen Vorwurf Gibt es ein leichtes Umdenken? Die entwickelt zumindest. Nein, doch blöde. machen lassen. Er ließ sogar eigens nach- ARD-Sportchefs beschlossen jüngst, die Jedenfalls ein bisschen so, als müsse man rechnen: Im Jahr 2005, so Brender, habe Präsentation von Boxkämpfen etwas ihnen so richtig auf die Rübe hauen, damit das ZDF insgesamt zweieinhalb Stunden zurückhaltender zu gestalten: „Da war sie auch merken, dass etwas Besonderes über Doping berichtet, vor allem in den zeitweise so viel ARD-Eigenwerbung zu passiert ist. So wie das im Fernsehsport ja Magazinen wie „Frontal21“ oder in den sehen, dass nicht mehr klar war, ob es sich mittlerweile üblich ist. Jeder Sender brüllt Nachrichtensendungen wie dem „heute um eine Veranstaltung der ARD handelt Sportattraktionen im Gestus permanenter journal“. In diesem Jahr komme man bis- oder ob wir nur berichten“, so Boßdorf. Eigenwerbung hinaus. lang schon auf mehr als sechs Stunden – Mit einem Mal ist alles anders. Das Do- Sport ist Show und Verkaufe und Wer- und zwar vermehrt in großen Sport-Live- ping-Desaster wirft ein grelles Schlaglicht bung. Manchmal hat er auch mit Journa- Strecken wie von den Olympischen Win- auf die eklatanten Versäumnisse in der lismus zu tun. Allerdings sehr selten. Zu- terspielen in Turin. Sportberichterstattung. Von überall kommt mindest im Fernsehen. Auch ARD-Sportkoordinator Hagen jetzt Kritik. Bayerns Ministerpräsident Ed- Doch angesichts der Flut der Sport- Boßdorf macht sich verstärkt Gedanken mund Stoiber wirft den öffentlich-recht- skandale rund um die Tour de France und darüber, dass Veranstalter, Verbände und lichen Sendern vor, sie hätten „letztlich

88 der spiegel 32/2006 LORENZ BAADER (L.); ANDREAS GEBERT / DPA (R.) / DPA (L.);GEBERT BAADER ANDREAS LORENZ ARD-Boxkampf-Übertragung, Telekom-Experte Beckenbauer (2. v. l.), Partner*: Warum noch kritisch fragen, wenn man mitfeiern kann?

Sportbetrug im großen Stil übertragen“, bringt Marktanteile, Image und Abonnen- Intendant Peter Voß. Soll heißen: Nimmt und forderte ARD und ZDF auf, sie sollten ten. Längst kann der Besitz von attraktiven man der ARD den Fußball, dann fragen auch über die schädlichen Wirkungen des Sportrechten über Wohl und Wehe von sich einige Millionen Zuschauer, warum Dopings informieren. Medienkonzernen entscheiden. So brach sie überhaupt Gebühren zahlen. Außer- Es hat lange gedauert, sehr lange sogar, der Börsenkurs des Bezahlfernsehanbie- dem: „Wer bis 20 Uhr die ‚Sportschau‘ ge- aber mit den neuesten Skandalen rund um ters Premiere nach dem Verlust der Bun- sehen hat, nimmt auch die ‚Tagesschau‘ die Tour de France könnte auch das Be- desliga-Rechte im Dezember um die Hälf- noch mit“, hofft Voß. wusstsein wachsen, dass etwas grundsätz- te ein. Und schoss prompt wieder ein paar Jedenfalls erreicht die ARD durch Sport lich falsch läuft im Verhältnis zwischen Prozente nach oben, als klar wurde, dass einige junge Leute, die ihr sonst so bitter dem Leistungssport und seiner Begleitung Premiere sich über die Hintertür Telekom fehlen. Das Durchschnittsalter der Sport- im Fernsehen. doch noch ein paar Brosamen sichern zuschauer im Ersten lag 2005 um zwei Jah- Zeit dafür wäre es. Denn nicht nur beim konnte. re unter dem des Senderdurchschnitts, in Radsport scheinen Fernsehmacher und Die öffentlich-rechtliche ARD hängt den ersten sechs Monaten 2006 sogar um Sportveranstalter eine für beide Seiten ebenfalls am Tropf des Sports. Nicht nur vier Jahre. gewinnbringende Arbeitsgemeinschaft zu wegen der Quote – die kann der Sender Längst hat seine massiv gestiegene öko- bilden. Kritische Distanz wächst da nur zur Not auch mit Schmalzfilmchen nach nomische Bedeutung das Verhältnis des schwer. oben treiben. Doch erreicht er damit fast Sports zu den Medien zu dessen Gunsten Beispiel Bundesliga: Die Fernsehsender nur die Alten. Die ARD lebt aber davon, verändert. Fernsehsender sind häufig nicht zerren an der Ware Fußball, wie Schnäpp- dass sie von allen Zuschauern Gebühren mehr nur Berichterstatter, sie sind Co- chenjäger es am Grabbeltisch im Kaufhaus bekommt, und auf Dauer wird dieses Sys- Vermarkter geworden, „Medienpartner“ tun. Dabei gibt es nichts im Sonderangebot. tem nur funktionieren, wenn auch alle – und, wie die ARD über mehrere Jahre in Alle haben viel Geld bezahlt, und nun muss zumindest ab und an – etwas davon ha- Sachen Radsport, manchmal sogar Team- sich die Ware auch verkaufen. Keiner wird ben, dass es ARD und ZDF gibt. Sponsor. sie sich da mutwillig kaputtreden. Weder „Wenn die ARD mehrheitsfähig bleiben Das blieb natürlich nicht ohne Folgen für die Pay-TV-Sender Premiere und Arena, will, dann braucht sie auch große Fußball- die Berichterstattung. Seit die exklusive die sich monatelang erbittert um ihren Teil ereignisse wie die Bundesliga“, sagt SWR- Ware Live-Sport auf allen Kanälen als an den Liga-Rechten stritten. Auch ARD „Event“ und „Entertainment“ zelebriert und ZDF nicht. Und schon gar nicht die wird, seit Sportler konsequent wie Top- Telekom, die nicht nur Bundesliga-Spiele Abgesahnt Stars behandelt werden – seitdem spielt der per Internet-TV überträgt, sondern auch klassische Sportjournalismus eine zuneh- sonst auf allen Ebenen der Bundesliga zu Sender-Marktanteil 1. Halbjahr 2006 mend untergeordnete Rolle. Gesucht ist der finden ist: als Sponsor des FC Bayern Mün- Marktanteil der Sportsendung Typ des Co-Zelebranten. Warum noch kri- chen; als Sponsor der ARD-„Sportschau“; in Prozent tisch fragen, wenn man mitfeiern kann? als Arbeitgeber für Fußballfachmann Franz 13,9 Der schleichende Abschied vom Journa- Beckenbauer; und vermutlich schon bald – Fußball-WM-Spiele 54,4 lismus zeigt sich nirgends so deutlich wie in das ist nur konsequent – als Namensgeber den Top-Personalien. Die WM-Bericht- für die gesamte Liga. 14,7 erstattung der großen Kanäle dominierten Dass der Sport zunehmend nicht nur beim ZDF Jürgen Klopp (Trainer), Urs Mei- Fußball-WM-Spiele 53,6 nach den eigenen Regeln funktioniert, er (Schiedsrichter) und Johannes B. Kerner 26,6 sondern sich immer stärker ökonomischen Sportschau 2005/2006 (Moderator und Entertainer). Bei RTL Regeln unterwirft, wird von Fans und Be- ARD/ZDF waren es Rudi Völler (Ex-Spieler, Ex- obachtern schon lange beklagt. Zu welch DFB Pokal (Live) 2005/2006 24,0 Teamchef) und Günther Jauch (Moderator einer kostbaren Ware er geworden ist, ver- Tour de France 2006 16,1 und Entertainer). Bei Premiere ein Team deutlichen immer wieder aufs Neue die aus Lothar Matthäus (Ex-Profi, Trainer), Milliarden, die Fernsehanbieter interna- 13,0 Ottmar Hitzfeld (Ex-Trainer) und Claudia tional für die Live-Rechte ausgeben. Fußball-WM-Spiele 45,4 Effenberg (Spielerfrau). Und bei der ARD Die Gleichung ist einfach – und wurde Formel 1 (nach 12 Rennen) 45,3 das unvermeidliche Duo Günter Netzer durch die Fußballweltmeisterschaft gerade (Ex-Profi, Fußball-Rechtehändler) und, im- Vierschanzentournee 27,7 wieder eindrucksvoll belegt. Live-Sport Quelle: merhin: Gerhard Delling (Sportjournalist). ARD/ZDF/ RTL/Sat.1 Im Spiel mit den Worten rund um den rol- 10,1 lenden Ball waren die Genannten oft vir- * Telekom-Vorstand Walter Raizner, FC-Bayern-München- Champions League 20,0 Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge und Premiere- 2005/2006 tuos. Doch im Spiel ohne Ball, wenn es um Chef Georg Kofler am 28. Juli in München. Hintergründe oder gar um Sportpolitik

der spiegel 32/2006 89 JOERG KOCH / DDP JOERG KOCH PR-Veranstaltung für Pay-TV-Abo*: Sport ist Show und Verkaufe und Werbung

geht, fehlt ihnen jede Distanz. Das ist nur kommt die Unschuldsvermutung nicht ein- dann kein Problem, wenn diese Themen mal mehr theoretisch vor. einfach ausgeblendet werden. Es war auffallend, dass es nach der Tour

STEFAN SIMONSEN / DDP STEFAN Schlimmer noch: Wenn sich jemand de France vor allem ZDF-Mann Brender traut, innerhalb der ARD zu viele Fragen war, der wetterte, er wolle keine „Phar- zu stellen, kann das sogar der Karrie- ma-Leistungsschau“ übertragen. Für das re schaden, wie das Beispiel des RBB- Zweite war die Radsportsaison da gelaufen. Doping-Experten Hajo Seppelt zeigt. Er Die ARD hingegen hatte noch die von wurde von seiner Spezialdisziplin, dem ihr als „Medienpartner“ unterstützte Schwimmsport, abgezogen. Deutschland-Tour vor sich und war spürbar Die Sportverbände, nicht nur im Fuß- vorsichtiger. „Wir können nicht in dem ball, haben sich an das für sie überaus ku- Moment, in dem die Dinge endlich ans schelig-kumpelige mediale Miteinander Tageslicht kommen, sagen, wir ziehen längst gewöhnt. Wie selbstverständlich ver- uns zurück“, so Programmdirektor Günter suchte die Fifa im Vorfeld der WM denn Struve. auch, bislang beispiellos rigide Medien- Und wer moderierte jüngst für den Ver- und Werberegularien durchzudrücken anstalter ein Radrennen in Bühl und leite- (SPIEGEL 16/2006). Nachhaltig kritische te auch noch die Pressekonferenz? Hagen Geister wie der britische Journalist An- Boßdorf. Ohne Gage und mit Genehmi- drew Jennings, der seit Jahren im Korrup- gung von Struve, wie er eilig versicherte. tionssumpf rund um die TV-Rechtevergabe „Das ist doch ein völlig üblicher Vorgang recherchiert, schließt die Fifa gar von ihren bei Sportjournalisten“, wehrt sich Boßdorf. Pressekonferenzen aus. „Andere machen das auch. Fernsehleute Angesichts der Ausmaße des Doping- und Zeitungsleute. Aber immer wird der Debakels ist nun in den Sportredaktionen ganze Ärger an meiner Person festge- eine erste allgemeine Verunsicherung aus- macht. Wenn Sportjournalisten so etwas gebrochen, die der Berichterstattung deut- nicht mehr machen dürfen, dann muss das lich anzumerken ist – jetzt rächt es sich für alle gelten.“ bitter, dass ganze Themenfelder vorher Bleibt abzuwarten, wie sich von dieser praktisch verwaist waren. Woche an der Neuling in der hiesigen Die neue Devise scheint jedenfalls zu Sportwelt präsentiert: der Abo-Sender lauten: Jetzt bitte mal alle auf kritisch – Arena, der mit der Übertragung des mit teils kuriosen Folgen. Münchner Lokalderbys FC Bayern gegen Im samstäglichen „Aktuellen Sportstu- 1860 München am Dienstag seinen Live- dio“ des ZDF befragte Moderator Wolf- Sendebetrieb beginnt. Dieter Poschmann jüngst den Ex-Radpro- Das Personal jedenfalls verspricht Un- fi und Ex-Doper Jesus Manzano, der un- terhaltendes: Neben den Kommentatoren- widersprochen sagen durfte, dass bei der Originalen Werner Hansch und Günther Tour de France alle Radfahrer dopen. Koch sowie dem bisherigen Sat.1-Gesicht Dann ließ Poschmann die Zuschauer per Oliver Welke kommen frische Kräfte wie Telefon über die Frage abstimmen. „Wer, Steven Gätjen, Isabella Müller-Reinhardt glauben Sie, ist bei der Tour de France und Matthias Opdenhövel zum Einsatz. gedopt?“ Gätjen machte bislang bei Kabel 1 eine A: Die Top Ten. Chart-Show und berichtete für ProSieben B: Die überwiegende Mehrheit. vom roten Teppich der Oscar-Verleihung. C: Alle Fahrer. Die anderen beiden bewährten sich als Fra- Wer so fragt, müsste eigentlich sofort gensteller in Quizsendungen. aus der Übertragung aussteigen, immerhin Immerhin: Opdenhövel war seiner Vita zufolge mal Stadionsprecher bei Borussia Markus Brauck, * Mit Arena-Moderator Oliver Welke und Geschäftsfüh- Mönchengladbach. Marcel Rosenbach rer Dejan Jocic am 27. März in München.

90 der spiegel 32/2006 Panorama Ausland AGENTUR FOCUSAGENTUR Iranische Atomanlage Buschehr

IRAN dende Vorteile, die gerade für Iran wichtig sind: Sie ist weniger energieaufwendig, erfordert geringeren Platz für die Produktion und führt zu einer größeren Ausbeute der nötigen Stoffe Uran Heimliche Forschung 235 und Plutonium 239; allerdings gilt dieser Weg bislang als kompliziert. Laut Aussage des Fachblattes „Jane’s Intelligence ntgegen anderslautenden Behauptungen treibt die Tehe- Review“ hatte Teheran bereits 1974 ein Forscherteam zusam- Eraner Führung offenbar weiterhin Forschungen über eine mengestellt, um die Lasertechnologie zu entwickeln. Ende der Urananreicherung mit Hilfe von Lasertechnik voran. Wie ein neunziger Jahre wandten sich die Iraner erstmals an Russland russischer Ingenieur, der sich an einem Institut außerhalb Mos- und erbaten vom Jefremow-Institut in St. Petersburg fachli- kaus mit der Entwicklung von Atomreaktoren befasst, gegen- chen Beistand. Drei Jahre später jedoch teilte die Mullah- über dem SPIEGEL bekräftigte, würden die Iraner seit März Führung in einem Brief vom 19. August 2003 der Internatio- 2004 fachliche Hilfe auch in Russland suchen und bekommen – nalen Atomenergiebehörde IAEA mit, die entsprechenden für ein daheim betriebenes Programm, das sich „Lasersystem Experimente seien endgültig eingestellt. zur Trennung schwerer Isotope“ nenne. Die Exilorganisation Nationaler Widerstandsrat Irans allerdings Im Vergleich zur üblichen Methode, Uran mit Hilfe von Gas- hatte danach wiederholt behauptet, die Zusicherung der irani- zentrifugen anzureichern und auf diese Weise Sprengstoff für schen Führung stimme nicht, die Arbeiten würden im „Mi- Atombomben zu erhalten, bietet die Lasertechnik entschei- litärkomplex Parchin“ südöstlich von Teheran fortgesetzt.

BULGARIEN sie weiter „blaue Kuverts“ annehmen vor kurzem ein wahres Desaster beim sollten. Präsident Georgi Parwanow rief Abschöpfen von EU-Mitteln offenbart. Bestechliche Beamte alle Politiker auf, ihr Vermögen offenzu- Von den 511 Millionen Euro, die Bulga- legen – er selbst ging mit gutem Beispiel rien im Rahmen des „Phare“-Pro- eil immer neue Skandale den für voran. Brüssel sorgt sich schon jetzt um gramms zur Vorbereitung auf den W2007 geplanten Beitritt zur EU ge- die Milliarden-Subventionen, die Bulga- Unionsbeitritt erhalten hatte, waren fährden, geht Bulgariens Regierung mit rien und Rumänien nach ihrer Aufnah- über die Hälfte ganz oder teilweise ungewöhnlichen Mitteln gegen die ver- me erhalten werden, denn ein Bericht zweckentfremdet worden. Im Oktober breitete Korruption vor. 50000 Staats- des Europäischen Rechnungshofes hatte wird endgültig über die EU-Mitglied- diener werden nun in Seminaren über schaft des Balkanlands entschieden – das heikle Problem aufgeklärt, mit Hilfe bis dahin muss Sofia sichtbare Erfolge von Vorträgen und Filmen. Das Thema: vorweisen. Die Parlamentsabgeordne- „Wie erkenne ich Bestechung, und wie ten wurden deshalb mit einem Urlaubs- kann ich der Versuchung widerstehen, stopp für August belegt, um die von diese anzunehmen?“ Auch konkretere Brüssel geforderten Gesetze noch ter-

Maßnahmen hat die Regierung im Sinn: / REUTERS NENOV STOYAN mingemäß durchzubringen. Den Beschäftigten im Gesundheitswe- sen wird mit Entlassung gedroht, falls Zollbeamte in Sofia 93 Panorama

NORDKOREA Kims Kirche TÜRKEI igentlich ist der nordkoreanische „Ein Schatz EDiktator Kim Jong Il ein kommunis- tischer Atheist – doch nun betätigt er sich in seinem Reich als Förderer der geht verloren“ russisch-orthodoxen Religion: Am 13. August soll in der Hauptstadt Pjöng- it aller Macht treibt die Regierung in jang die erste orthodoxe Kirche des MAnkara den Bau des umstrittenen Landes eröffnet werden. Zur Weihe will Ilisu-Staudamms in Südostanatolien voran auch Russlands Metropolit Kyrill anrei- – trotz anhaltender Proteste von Bürger- sen, in der orthodoxen Hierarchie der gruppen und trotz ungeklärter Finan- zweite Mann hinter dem Patriarchen. zierungsfragen. Selbst das europäische Religionsfreiheit existiert in Nordkorea Baukonsortium, an dem auch der schwäbi- nur auf dem Papier, die Gründe für sche Konzern Züblin beteiligt ist, wurde Kims Hinwendung zur orthodoxen Reli- von der Entscheidung Ankaras überrascht, gion sind unklar. Auf die Idee zum Kir- mit dem ersten Spatenstich am vergange- chenbau kam der Diktator wohl wäh- nen Wochenende das Projekt nun zu star- rend einer Russland-Visite im August ten. Denn über die beantragten Export- 2002, bei der er ein Gotteshaus besuch- kredite ist noch längst nicht entschieden. te. Schon im folgenden Jahr entsandte Auch Berlin soll mit einer Hermesbürg- ein neugegründetes nordkoreanisches schaft helfen – ein heikler Fall für die Bun- „Orthodoxes Komitee“ vier junge Män- desregierung, die den Partner Türkei nicht ner mit Geheimdienst-Hintergrund zur verprellen will und doch sicherstellen muss, dass sie kein fragwürdiges Projekt unterstützt. Antiker Ort Hasankeyf Für das Kraftwerk soll das Wasser des Tigris auf einer Fläche von 313 Quadratkilometern kische Regierung will mit dem 1,2-Milliar- gestaut werden und so einen riesigen künst- den-Euro-Projekt die verarmte Kurdenre- lichen See bilden. Rund 15000 Menschen gion entwickeln. Sie preist das Stauwerk, müssen umgesiedelt werden; insgesamt das jährlich 3800 Gigawattstunden Strom 50000 verlieren Land oder Eigentum, dür- liefern soll, als Beitrag zur alternativen fen aber auf Entschädigung hoffen. Die tür- Energiegewinnung.

INDONESIEN Zunehmende Härte m ganzen Land wurden die Bilder Ivorvergangene Woche ausgestrahlt: Ein junges Paar wird in der Provinz Aceh öffentlich mit dem Stock gezüch- tigt – die beiden waren nicht verheiratet

VLADIMIR SAYAPIN / ITAR-TASS VLADIMIR SAYAPIN und dennoch zu zweit ertappt worden. Priester Fjodor Solche Bestrafungen häufen sich in den letzten Monaten, das islamische Scha- Ausbildung ans Moskauer Geistliche Se- ria-Recht wird in Aceh mit zunehmen- minar. In einem Crash-Kurs wurden die der Härte angewendet. Zwar war es be- Kader zu Kirchendienern geschult, den reits 2001 auf Drängen der Bevölkerung dunklen Anzug mit dem Kim-Abzei- eingeführt worden, wurde aber lange chen tauschten sie gegen ein Priesterge- Zeit kaum praktiziert. Doch weil der

wand. Nach dem Seminarbesuch absol- Tsunami, der vor 19 Monaten über den / DPA NANI AFRIDA vierten die frischgetauften Christen, die Nordzipfel Sumatras hinwegfegte und Öffentliche Züchtigung in Aceh zuvor nur mit der Staatsideologie „Ju- etwa 160000 Einwohner tötete, von vie- che“ vertraut gewesen waren, ein Prak- len gläubigen Muslimen als „Strafe wurden eingerichtet, die über die Höhe tikum im fernöstlichen Wladiwostok. Gottes“ empfunden wurde, verschärfte der Bestrafungen entscheiden sollen. Fjodor Kim, einer der neuen nord- man in der Folge die Anwendung des Für den Rest des bevölkerungsreichsten koreanischen Geistlichen, gestand, es religiösen Rechts. Ein halbes Jahr nach muslimischen Landes der Erde könnte sei „sehr schwer“ gewesen, sich die or- der Katastrophe kam es zur ersten öf- Aceh zum Vorbild werden: In weiteren thodoxe Religion anzueignen. Aber der fentlichen Auspeitschung von 15 Män- der 33 Provinzen Indonesiens wird in- „liebe Führer“ habe den Bau der Kir- nern, die beim Glücksspiel erwischt zwischen darüber diskutiert, das islami- che nun mal beschlossen. worden waren. Scharia-Gerichtshöfe sche Recht verstärkt anzuwenden.

94 der spiegel 32/2006 Ausland

ARGENTINIEN voraussichtliche Aus- dehnung des Stausees Diyarbakir Ende der Republik? Batman räsident Néstor Kirchner hat seine Tigris PMacht über die demokratischen In- stitutionen des Landes drastisch ausge- Hasankeyf weitet. Vergangene Woche boxte die Regierung eine Gesetzesänderung TÜRKEI durch, die dem Staatschef praktisch un- Ankara geplanter beschränkte Verfügung über die Haus- Staudamm haltsmittel gewährt. Kirchner regiert Mittel- SYRIEN 50 km meer wie seine Vorgänger überwiegend mit Dekreten, die jetzt quasi automatisch in Gesetze verwandelt werden sollen. Im loren“, klagt Ercan Ayboga von der Initia- Obersten Gerichtshof hat der Peronist tive zur Rettung Hasankeyfs: Große Teile fünf von neun Posten mit regierungs- des Gebiets, dessen Besiedlung mehrere tau- freundlichen Richtern besetzt, die Pres- send Jahre vor Christus begann, seien noch se ist weitgehend von staatlichen Anzei- gar nicht erschlossen. „Wir glauben, dass gen abhängig. Kein ziviler Präsident der Hasankeyf zum Weltkulturerbe gehört“, argentinischen Geschichte habe je so sagt die türkische Denkmalschützerin Zey- viel Macht besessen, kritisiert die So- nep Ahunbay. ziologin Beatriz Sarlo, eine der angese- Die Regierung verspricht indes, Hasankeyf hensten Intellektuellen des Landes: zu retten: Die historischen Gebäude sollen „Kirchner regiert wie ein Monarch.“ abgetragen und in einem Archäologiepark Der ehemalige Präsident Raúl Alfonsín

INTERFOTO wiederaufgebaut werden. Experten wie Ahunbay halten das für „kaum möglich“. Die Anlagen aus dem Mittelalter seien aus so Kritiker dagegen empört besonders, dass feinem Stein gebaut, dass sie zusammenfal- das Wasser einzigartige Kulturgüter über- len würden. Zudem sei Hasankeyf ein ein- fluten würde – wie die antike Stadt Hasan- zigartiges Naturdenkmal, das kein Park nach- keyf, die sich als eindrucksvolles historisches bilden könne. Mit weiteren Gegnern hat sie Ensemble am Tigris-Ufer in die Felshänge Klage beim Europäischen Gerichtshof für schmiegt. „Ein wahrer Schatz ginge ver- Menschenrechte in Straßburg eingereicht.

GROSSBRITANNIEN bour die Mitglieder von der Fahne: Seit AFP dem Amtsantritt Blairs 1997 schwand Kirchner Drückende Schulden ihre Zahl um mehr als die Hälfte auf nur noch knapp 200000. Blairs pro- sprach angesichts dieser Machtverschie- ie Lage der britischen Regierungs- amerikanischer Kurs im Irak und seine bung gar vom „Ende der Republik“. Dpartei ist fatal: Labour steht nicht bedingungslose Unterstützung Israels Seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren mehr hinter Premier Tony Blair, die ziehen die Umfragewerte nach unten. hat Kirchner nicht eine einzige Kabi- Wähler stehen nicht Mehr als die Hälfte der nettssitzung abgehalten, er gibt prak- mehr hinter Labour, und Briten beurteilen dem- tisch keine Interviews oder Pressekon- jetzt wurde auch noch nach das Verhalten ihrer ferenzen. Der Präsident regiert mit ei- bekannt, dass die Arbei- Regierung als „sehr nem kleinen Kreis von Vertrauten aus terpartei wohl Mitarbei- schlecht“ oder seiner Heimatprovinz Santa Cruz in ter entlassen muss. Die „schlecht“. Ein Partei- Patagonien, wichtigste Beraterin ist sei- rund 230 Angestellten spenden-Skandal kratzt ne Frau Cristina. Seinem Ansehen in sollten sich auf eine „ra- zusätzlich am Image: So der Bevölkerung schadet der autoritäre dikale Restrukturierung“ wollte ausgerechnet die Führungsstil nicht: Kirchner ist beliebt, gefasst machen, sagte Arbeiterpartei millio- weil er das Land nach dem Crash von Vorstandsmitglied Sir Je- nenschwere Sonderkre- 2001/2002 aus der schweren Wirtschafts- remy Beecham. 27 Mil- dite privater Geldgeber krise geführt hat. Außerdem trieb er die lionen Pfund Schulden mit Adelstiteln vergel- Aufarbeitung der Verbrechen aus der hat die Partei auflaufen ten. Vergangenen Monat Zeit der Militärdiktatur voran. Er hat lassen, 14,5 Millionen al- sah sich Labour-Veteran die peronistische Partei unter Kontrolle, lein 2005. Teure Wahl- Roy Hattersley bereits die Oppositionsparteien sind weitge- kämpfe wie im vergange- veranlasst, Blairs Kopf hend ohne Einfluss. Beobachter rech- nen Jahr gehen ins Geld. zu fordern. Je länger er nen damit, dass der Staatschef im kom- Vor allem aber gehen La- im Amt bleibe, desto menden Jahr seine Frau als Präsident- mehr schade er der Par- schaftskandidatin lancieren wird – wenn

Labour-Chef Blair / GETTY IMAGES PETER MACDIARMID tei und sich selbst. er nicht selbst wieder antritt.

der spiegel 32/2006 95 JEROEN KRAMER Libanesische Opfer des israelischen Luftangriffs auf Kana: „Wir müssen diese Tat aufs Schärfste verurteilen“

NAHOST Kampf gegen die Zeit Immer tiefer im Land einschlagende Hisbollah-Raketen und hohe Verluste der eigenen Truppen im Südlibanon – in Israel wächst die Kritik am Feldzug gegen die islamischen Extremisten. Premier Olmert will seine Militärs erst stoppen, wenn eine robuste Friedenstruppe ins Nachbarland einrückt.

ann immer Israel über Grund- in der man ihm Vorhaltungen machen te, forderten mindestens 28 Tote, darunter sätzliches streitet, über Fragen könnte.“ 16 Kinder. „Wir müssen diese Tat aufs Wvon Gut und Böse, von Erlaub- Seinen moralischen Feuerschutz für den Schärfste verurteilen“, forderte Uno-Ge- tem und Verbotenem, von Ethik und Mo- Premier hat Shalev inzwischen eingestellt. neralsekretär Kofi Annan. Aus Rom rief ral, ist der Schriftsteller Meir Shalev, 58, ein Wie bei vielen Israelis, die anfangs in einer Papst Benedikt XVI. „alle Verantwortli- gefragter Mann. Der renommierte Literat Art nationalem Schulterschluss für eine chen dieser Spirale der Gewalt“ dazu auf, zählt zu jenen, die als das Gewissen des Vergeltung der Hisbollah-Raketenschläge die Waffen niederzulegen, und zwar „so- Landes gelten – auch wenn nicht alle gern plädiert hatten, überwiegen auch bei Sha- fort!“. Selbst in der israelischen Regierung hören, was Shalev zu sagen hat. lev nun die Zweifel am Wert des Waffen- hinterließ das Debakel Spuren. An dem einstigen Premier Benjamin Ne- gangs. Der Grund für den Krieg sei ge- Kana sei, gestand Jerusalems Außenmi- tanjahu kritisierte Shalev dessen „rück- recht gewesen, glaubt der Romancier, „die nisterin Zipi Livni vor dem Verteidigungs- sichtslose Wirtschaftspolitik“. Unter dem Kriegführung aber ist es nicht“. ausschuss der Knesset, „ein Wendepunkt“. späteren Ministerpräsidenten Ariel Scha- Eine neue Nachdenklichkeit hat das Mit jedem weiteren Fehlschlag, so die Sor- ron geißelte der Autor den „Hass und die Land erfasst, seit der Blutzoll der eigenen ge in Jerusalem, könnte Israel mehr und Kaltschnäuzigkeit“ der israelischen An- Truppen immer höher wird und die Zahl mehr zum moralischen Verlierer im Krieg griffe auf palästinensische Zivilisten. der zivilen Opfer im Nachbarland rapide gegen die Hisbollah werden. „Die traurige Doch als Mitte Juli die libanesische His- steigt. Nach gut drei Wochen Krieg stehen Wahrheit ist, dass unsere Situation heute bollah zwei israelische Soldaten entführ- mehr als 950 getötete Libanesen, die meis- schlimmer ist als am Anfang des Krieges“, te und acht weitere tötete, befürwortete ten von ihnen Zivilisten, 60 israelischen stellte die Tageszeitung „Haaretz“ fest. selbst der alte Linke eine militärische Ant- Hisbollah-Opfern gegenüber, in der Mehr- Tatsächlich hat sich die bedrohliche Lage wort: „Wir hätten schon viel früher ge- heit Soldaten. Den vorläufigen Höhepunkt für die Menschen im Norden Israels nicht gen die Raketen der Hisbollah vorgehen markierte ein verheerender Fehlschlag am verbessert. Eingedeckt durch nahezu täg- müssen.“ Sogar gegen voreilige Kritiker vorvergangenen Sonntag. lichen Raketenhagel der Hisbollah, befin- nahm Shalev seinen Premier Ehud Olmert Bomben auf das südlibanesische Dorf det sich die Region weiterhin im Ausnah- in Schutz. „Der Ministerpräsident be- Kana, aus dem die Hisbollah nach israe- mezustand. Mehr als 2300 Raketen haben findet sich jetzt nicht in einer Situation, lischen Angaben Raketen abgefeuert hat- die von Iran inspirierten Gotteskrieger bis-

96 der spiegel 32/2006 Ausland lang auf eine Fläche niederregnen lassen, die nur wenig größer ist als Hamburg. Mehrmals heulen am Tag die Sirenen, sie lassen die Menschen in die Bunker stür- men und verwandeln beliebte Badeorte wie Naharija in Geisterstädte. Oft ertönt das Warnsignal jedoch erst, nachdem die Raketen bereits eingeschla- gen sind. Eine militärische Abwehr gegen die ebenso schlichten wie gefährlichen Waffen der Hisbollah-Leute gibt es nicht. Aus Angst leben inzwischen Hundert- tausende mehr oder minder ständig in Bunkern und Schutzräumen auf engstem Platz, oft in feuchten Räumen ohne Tages- licht. Doch es waren die Bilder toter libanesi- scher Frauen und Kinder, die den Glau- ben vieler Israelis an die moralische Über- legenheit ihrer Armee erschütterten. Ver- teidigungsminister Amir Perez hatte der Truppe ausdrücklich freie Hand gegeben, auch in Wohngebieten zu bomben. „Das ist ein leichtsinniger Schritt, der das Unheil heraufbeschwört“, mahnte „Jediot Acha- ronot“. „Mein Gesicht erfüllt sich mit

Scham“, bekannte der Leitartikler des APONTE / REUTERS ELIANA Blattes, Nachum Barnea. Beisetzung eines israelischen Hisbollah-Opfers*: Angst vor den Gotteskriegern Trotz der Großoffensive, die den Süden des Libanon von Hilfsleistungen so weit- 20000 US-Bürger leben, hat Washington sie deren Unterstützung für die Nasrallah- gehend abschnitt, dass die Uno vor Seu- seinen wohl letzten Kredit verspielt. Truppe, das Aufhängen von Hisbollah- chen warnte, gewann Israel militärisch Außenminister Prinz Saud Ibn-Faisal rüg- Flaggen an ihren Notunterkünften inklusi- nicht die Oberhand – und legte daher Ende te zum ersten Mal öffentlich die „unaus- ve. „Unser Dilemma ist“, klagt die Christin vergangener Woche noch einmal nach. Ob- gewogene Außenpolitik Amerikas“. Rania Massud, „dass wir Israel hassen, wohl bereits 10000 israelische Soldaten im Im traditionell prowestlichen Jordanien aber die Hisbollah nicht lieben.“ Zedernstaat kämpften, bereiteten sich wei- wurde die Hisbollah in der regierungs- Die gemeinsame Bedrohung aber, die tere 35000 Reservisten an der Grenze auf treuen Presse sogar für „ihre militärischen täglichen Bombenangriffe auf Gebiete, in den Einmarsch in den Libanon vor. Erfolge“ und „nationalen Heldentaten“ ge- denen nicht nur Schiiten leben, lässt öf- Nach mehreren Tagen Pause kehrten is- feiert. Ein westlicher Botschafter fragte im fentliche Kritik kaum aufkommen. His- raelische Kampfjets auch in den Luftraum Kollegenkreis, ob nun auch das Amerika bollah-kritische Schiiten wie Dawwi Lub- über der libanesischen Hauptstadt Beirut seit Jahrzehnten eng verbundene König- nan Ali, 25, stehen inzwischen auf Seiten zurück. Fünf Menschen fielen den Angrif- reich der Haschemiten, das mit Israel 1994 der Gottespartei. Der Fabrikarbeiter lebte fen zum Opfer. Und am Freitagnachmittag Frieden schloss, „ins Lager islamistischer vor Beginn der Kämpfe im südlibanesi- lösten Meldungen über einen weiteren Fanatiker abgerutscht“ sei. Seine Kollegen schen Dorf Aitarun, das bis zum Abzug Fehlschlag Ängste vor einem zweiten Kana blieben die Antwort schuldig. der Israelis im Mai 2000 in der Besat- aus: Bei einem Luftangriff auf ein Lager- Und im von Bomben erschütterten zungszone lag. Es sei ihnen nicht schlecht haus nahe der syrischen Grenze starben Beirut bekundete der liberale und west- unter den Israelis ergangen, berichtet er. über 30 libanesische Landarbeiter. freundliche Premier Fuad Siniora uner- Lubnan Ali hatte sein Einkommen, das Zumindest im Krieg der Bilder konnte wartet deutlich seine Solidarität mit dem ganze Dorf lebte vergleichsweise gut. Heu- die Hisbollah dadurch einen Etappensieg untergetauchten Milizenführer Nasrallah: te schläft Lubnan Ali unter freiem Him- verbuchen. Die Aufnahmen von zivilen „Ich danke allen, die ihr Leben opfern für mel im völlig überfüllten Sanajeh-Park von Opfern und massiven Zerstörungen ver- die Unabhängigkeit und Souveränität des Beirut. Sein eigenes Haus wurde in Schutt schafften den islamischen Extremisten in Libanon.“ Die Hisbollah-Kämpfer sind für und Asche gelegt, Nachbarn liegen unter der arabischen Welt weiteren Zulauf. Auch Siniora erst überflüssig, wenn alle Streit- den Trümmern begraben. Nichts wünscht dem Westen eher verbundene Regime ka- punkte mit Israel ausgeräumt sind. sich der Flüchtling inzwischen mehr als ei- men vergangene Woche nicht umhin, ge- Politische Beobachter in Libanons nen Sieg Nasrallahs, den er als „arabischen gen das „barbarische Vorgehen der israeli- Hauptstadt verweisen zwar darauf, dass Ché Guevara“ feiert. schen Soldateska“ zu hetzen, wie etwa die „positive Umfragewerte für die Hisbollah Sollte der wortgewaltige Scheich tatsäch- regierungsnahe „Stimme der Araber“ in in Kriegszeiten keineswegs eine Unter- lich bei einem der zahllosen Angriffe auf Kairo. Zum Entsetzen von US-Diploma- stützung für deren langfristige politische seine mutmaßlichen Verstecke getötet wer- ten am Nil geißelte die halboffizielle Ta- Ziele bedeuten oder gar ein Veto gegen den, fordern viele Schiiten schon jetzt ein geszeitung „al-Ahram“, sonst überaus deren Entwaffnung nach dem Krieg sind“, Mausoleum an prominenter Stelle: am zurückhaltend in der Kritik am großen so die Beiruter Hisbollah-Kennerin Kristin Märtyrerplatz in Beirut, gleich neben dem Verbündeten und Finanzier Amerika, die Dailey. Vielen Libanesen, gerade in den Grabmal des ermordeten Ex-Premiers Ra- „unverzeihliche Einseitigkeit“ und die wohlhabenderen Vierteln Beiruts, in den fik al-Hariri. „Na wunderbar“, spottet ein „Doppelzüngigkeit“ Washingtons. sunnitischen Küstenstädten, aber auch im junger Druse, der sich selbst an der Seite Im wirtschaftlich und sicherheitspoli- christlichen und drusischen Bergland, sind tisch eng mit den USA verbundenen Sau- die Flüchtlinge aus dem Süden inzwischen * Am vergangenen Freitag nach einem Raketenangriff auf di-Arabien, in dem nach wie vor über höchst suspekt. Nur widerwillig ertragen die israelische Stadt Akko.

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Siniora: Ich sage Ihnen ganz offen: Weder ich noch meine Kollegen im Ministerrat wussten etwas von den Entführungsplä- „Wir tappen im Dunkeln“ nen der Hisbollah, und wir tragen da- her auch keine Verantwortung. Libanons Premierminister Fuad Siniora, 63, über Wege zum Frieden SPIEGEL: Hisbollah-Chef Nasrallah be- und sein Verhältnis zur Hisbollah hauptet, Ihre Regierung informiert zu haben. SPIEGEL: Erwarten Sie ei- SPIEGEL: Auch die His- Siniora: Das stimmt nicht. nen schnellen Waffenstill- bollah? SPIEGEL: Hat Ihnen die Hisbollah nicht stand? Siniora: Jawohl, die beiden wenigstens gesagt, wo die Gefangenen Siniora: Wir arbeiten in- Hisbollah-Minister in mei- festgehalten werden? tensiv daran, aber es wird ner Regierung haben zu- Siniora: Wir wissen absolut nichts, wir noch dauern, womöglich gestimmt. tappen nach wie vor im Dunkeln. Wir bis Mitte der Woche. Viel- SPIEGEL: Welche Gegen- haben auch keine Ahnung, wo die leicht noch länger, ich leistung mussten Sie er- Kämpfer und die Waffen der Hisbollah möchte keine falschen bringen? sind. Nasrallah hat uns im Rahmen des Hoffnungen wecken. Siniora: Die Hisbollah gibt nationalen Dialogs lediglich mitgeteilt,

SPIEGEL: Die Waffenruhe / INTER-TOPICS LANDOV sich mit den im Sieben- dass militärische Operationen liefen. Das ist der erste von sieben Premier Siniora Punkte-Plan enthaltenen ist alles. Punkten, die Sie in Ihrer „In Stücke zerrissen“ Kernelementen wie Rück- SPIEGEL: Hat Deutschland nicht angebo- Friedensinitiative festge- gabe der Schibaa-Farmen ten, bei dem Gefangenenaustausch zu schrieben haben. Bleiben Sie bei diesem und der Freilassung der Gefangenen zu- vermitteln? Programm? frieden. Wenn Israel echte Friedensab- Siniora: Nein, niemand ist bei uns vor- Siniora: Ja, wir wollen eine dauerhafte sichten verfolgt, sollte es unser Konzept stellig geworden. Lösung, zumal Israel unser Land jetzt jetzt ernst nehmen. Denn was haben die SPIEGEL: Wird der Libanon mit Israel zum siebten Mal in drei Jahrzehnten an- fast 60 Jahre Kriegsbereitschaft den Is- Frieden schließen? gegriffen hat. Die jetzige Offensive ist raelis letztendlich gebracht? Siniora: Das können wir erst, wenn Sy- die schlimmste von allen, hinsichtlich der SPIEGEL: Aber die Hisbollah ist doch seit rien und die anderen arabischen Län- zivilen Opfer und der wirtschaftlichen Jahren eine Bedrohung für Israel. der im Rahmen jener Bedingungen, Schäden. Der Libanon ist nun in Stücke Siniora: Die Hisbollah ist ein Produkt wie sie auf dem Arabergipfel 2002 in zerrissen. der israelischen Invasion von 1982. Beirut verabschiedet wurden, mit Is- SPIEGEL: Wer soll für den Schaden auf- Die Besatzung und die ständigen rael auf der Grundlage gegenseitigen kommen, die arabischen Bruderländer? Erniedrigungen ließen in der arabischen Respekts Frieden geschlossen haben Siniora: Israel muss zahlen, da es dem Welt ein Gefühl der Demütigung und werden. Libanon jetzt die Lebensgrundlage Ohnmacht entstehen, das in Verzweif- SPIEGEL: Sie meinen das Verlangen, dass nimmt. Israel besetzt immer noch einen lung mündete und Terror erst möglich Israel sich hinter die Grenzen von 1967 Teil unseres Landes und hält sogar die machte. zurückzieht … Übersichtskarten zurück, auf denen die SPIEGEL: Zur Beilegung der Krise müssen Siniora: Bis dahin können wir aber auch Minenfelder eingetragen sind. Ich habe die gefangenen israelischen Soldaten und mit einer glaubwürdigen Friedensver- Israel von Anfang an dafür verantwort- die in Israel inhaftierten Libanesen aus- einbarung gut leben. lich gemacht. getauscht werden. Wie laufen die Ver- Interview: Daniel Steinvorth, SPIEGEL: Was sind weitere wichtige Punk- handlungen? Volkhard Windfuhr te Ihres Plans? Siniora: Als Erstes müssen wir unser Ter- Hisbollah-Anhänger (in Teheran): Ruf nach dem Ende des „zionistischen Regimes“ ritorium und unsere Gefangenen zu- rückbekommen. Sodann sollte die Re- gierung unsere Grenzen kontrollieren, wozu niemand anderes als unsere Ar- mee berechtigt ist. Darüber hinaus soll- te uns die Weltgemeinschaft eine inter- nationale Friedenstruppe zur Verfügung stellen. SPIEGEL: Akzeptieren Sie auch Nato-Ver- bände? Siniora: Auf keinen Fall, wir haben mit den Truppen der früheren Kolonial- und Mandatsmächte in diesem Teil der Welt schlechte Erfahrungen gemacht. Wir Libanesen bestehen auf der uneinge- schränkten Wiederherstellung unserer Souveränität und wollen auf keinen Fall eine Rückkehr zu jener Situation, wie sie vor Ausbruch der Krise herrschte. Am liebsten wäre uns eine Wiederbelebung jener Waffenstillstandsvereinbarung, die es 1949 gegeben hat. Alle Parlamentsfrak- tionen haben diesen Plan unterschrieben.

98 der spiegel 32/2006 von Premier Siniora sieht, „dann liegt dort einer, der Beirut aufgebaut, und einer, der es zerstört hat.“ Mit dem Rückenwind wachsender Po- pularität gibt sich die Hisbollah unver- mindert kämpferisch und radikal. „Wenn ihr Beirut angreift, dann greifen wir Tel Aviv an, dazu sind wir in der Lage“, droh- te Terrorscheich Nasrallah in einer Fern- sehansprache, die vom parteieigenen Propagandasender al-Manar ausgestrahlt wurde. Wenig später startete Israels Luft- waffe die bislang schwersten Angriffe auf die libanesische Hauptstadt. Am Freitag-

abend schlugen drei Hisbollah-Raketen 40 MENAHEM KAHANA / AFP Kilometer vor Tel Aviv ein, dem Herz- Israelische Panzer auf dem Weg in den Südlibanon: Gerechter Krieg? schlag Israels so nah wie nie zuvor. Die Regierung versetzte die gut eineinhalb Trotz aller diplomatischen Hektik war Den Vorschlag des deutschen Außenmi- Millionen Einwohner des Großraums Tel ein Waffenstillstand nicht abzusehen. Zwar nisters und ausgewiesenen Israel-Sympa- Aviv prompt in „erhöhte Alarmbereit- sollte am Wochenende der aus Israel- thisanten Frank-Walter Steinmeier aber, schaft“. Freunden wie den USA und Kritikern wie das vergleichsweise zurückhaltende Re- Wohl kaum etwas reizt die Israelis so Frankreich zusammengesetzte Uno-Si- gime von Baschar al-Assad in Damaskus in sehr wie die stets mit geradezu provozie- cherheitsrat zu Beratungen zusammen- die Verhandlungen einzubeziehen, lehnte render Ruhe vorgetragenen Drohungen kommen. Großbritanniens Premier Tony Israel rundum ab. Syrien sei „kindisch, des Hisbollah-Führers. „Nasrallah bringt Blair versprach eine Lösung „innerhalb rücksichtslos und unverantwortlich“, pol- jeden in Israel zum Wahnsinn“, erklärt Au- weniger Tage“. Skeptiker wie der ehema- terte Olmert. tor Shalev die Überreaktion der Regierung lige Uno-Chef Butros Butros Ghali be- Unklar blieb auch, aus welchen Ländern Olmert. Der Premier versuchte in einer In- fürchten allerdings, dass „der Entschei- sich die Stabilisierungstruppe rekrutieren terview-Offensive mit ausländischen Me- dungsprozess womöglich länger dauert, als könnte, die mindestens 10000 Mann zählen dien, wenigstens die Lufthoheit im Propa- es die unhaltbaren Zustände im Libanon soll. Um gar eine bis zu 30 Kilometer tiefe gandakrieg wiederzugewinnen – und geriet zulassen“. Im Sicherheitsrat werde „ma- Pufferzone im Südlibanon zu sichern, for- dabei ins Trudeln. Mal behauptete er, die növriert und taktiert“, das brauche viel dern Experten in Jerusalem an die 30000 Hisbollah könne nicht mehr viel anstellen, Zeit, so Ghali zum SPIEGEL. Soldaten. Frankreich, das die Stabilisie- dann analysierte er, ein sofortiger Waffen- Allerdings würde nach einem Beschluss rungstruppe wohl anführen wird, hofft auf stillstand würde bedeuten, dass Israel aus New York die entscheidende Überzeu- Kontingente aus Spanien, Italien, Belgien „nichts“ erreicht habe. gungsarbeit für Generalsekretär Annan, den oder der Slowakei sowie Norwegen und Die internationalen Bemühungen um ei- EU-Außenbeauftragten Javier Solana und Kanada; aber Paris baut auch auf die Un- nen Waffenstillstand verfolgte Jerusalem europäische Unterhändler aus London und terstützung aus islamischen Ländern wie eher zurückhaltend. Für Israel ist der Krieg Paris erst beginnen. In mühevoller Shuttle- Indonesien, Malaysia, der Türkei und gegen die Hisbollah längst ein Kampf ge- Diplomatie gilt es dann, die Akteure in Je- Ägypten. gen die Zeit geworden. Solange die Armee rusalem und Beirut zur Zustimmung zu Premier Olmert würde in der Truppe noch weit von ihrem Minimalziel – der bewegen. sogar gern deutsche Soldaten sehen – trotz Verdrängung der Milizen aus dem Grenz- Vor allem das Einverständnis der His- der Vorbehalte vieler Israelis. Ihnen gilt gebiet – entfernt ist, käme Ruhe an der bollah zu zwei zentralen Punkten der er- als Horror, dass Uniformierte aus dem Ho- Front einem Sieg Nasrallahs gleich. warteten Resolution scheint unwahr- locaust-Land im Konfliktfall auf jüdische scheinlich: Weder dürfte sich die Miliz zur Soldaten treffen. Es gebe derzeit „keine bedingungslosen Freigabe der entführten Nation, die sich Israel gegenüber freund- israelischen Soldaten bereit erklären noch schaftlicher verhält als Deutschland“, warb ihrer eigenen Entwaffnung zustimmen – der Regierungschef dennoch um die Un- zumindest nicht ohne gewaltige Gegen- terstützung Berlins und brachte damit Bun- leistungen. deskanzlerin Angela Merkel in Verlegen- Auch über den politischen Preis, den die heit (siehe Seite 30). Terrorpaten der Hisbollah in Damaskus In jedem Fall soll die Truppe nach Jeru- und Teheran für ihre Zustimmung verlan- salems Vorstellungen mit einem möglichst gen, herrscht Ungewissheit. Auf der eilig „robusten“ Mandat und dem Recht aus- einberufenen Krisensitzung der Organi- gestattet sein, Verstöße gegen ein Waffen- sation der Islamischen Konferenz (OIC) stillstandsabkommen selbst zu ahnden – in Malaysia gab sich Irans Staatschef notfalls mit Gewalt. „Bitte keine Rentner, Mahmud Ahmadinedschad weiter radikal sondern echte Soldaten“, unterstrich in Je- und forderte das Ende des „zionistischen rusalem Premier Olmert seinen Wunsch Regimes“ in Jerusalem. nach einer schlagkräftigen Truppe. Erst Damaskus hingegen soll seine Erwar- wenn die Stabilisierungseinheiten im Kri- tungen für mäßigenden Einfluss auf die sengebiet stationiert sind, will Israel seine Hisbollah schon angedeutet haben: eine Truppen aus dem Südlibanon abziehen. Normalisierung seiner Beziehungen zu Eu- Das kann dauern. Mit der Ankunft der ropa, Aufhebung der internationalen Sank- Friedenssoldaten rechnet Jerusalem frühes- tionen und neuerliche Verhandlungen über tens Ende des Jahres. die Rückgabe der israelisch besetzten Go- Dieter Bednarz, Daniel Steinvorth, Christoph Schult, Volkhard Windfuhr VAHID SALEMI / AP SALEMI VAHID lanhöhen mit Hilfe der Uno.

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den Konsens ihrer Zeit stellten, die Ge- schichte und die Lebenserwartung des jü- dischen Volkes verlängert. Mose zum Bei- spiel. Er führte die Sklaven fast gegen ihren Willen aus Ägypten in die Wüste. „Wie wütende Stiere“ SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, mit Vorhal- tungen dem Feind in die Hände zu spielen? Der israelische Schriftsteller Meir Shalev über den Krieg im Libanon Shalev: In einer echten Demokratie redet ein Führer, der genügend Selbstvertrauen und die Politik von Premierminister Ehud Olmert besitzt, nicht so, wie Olmert es tut. Natür- lich wäre man ein Verräter, wenn man Nas- verlassen, besonders wenn be- rallah anriefe und ihm mitteilen würde, wo reits Brücken, Häfen und der sich unsere Flugzeuge auf die Angriffe Flughafen zerstört wurden. vorbereiten. Aber den Regierungschef darf Aber es ist nicht nur eine Fra- man selbstverständlich kritisieren. ge der Moral. Die Libanesen SPIEGEL: Olmerts Durchhaltereden wurden werden auf ewig unsere Nach- in der israelischen Öffentlichkeit sehr po- barn sein, viele Menschen sitiv aufgenommen. aber richten sich nun gegen Is- Shalev: Ich mag sie nicht. Sie sind schmal- rael. Diese Bürger würden uns zig. Es ist diese amerikanische Art von unterstützen, wenn wir im Schmalz, wenn man den Vornamen der Kampf gegen die Hisbollah Opfer nennt und dadurch eine falsche Art maßvoller aufgetreten wären. der Nähe zur Schau stellt. Ich mag dieses SPIEGEL: Viele Israelis sagen: Ritual nicht: sich die Kippa aufzusetzen, „Die Araber hassen uns oh- wenn man Verse aus der Bibel liest. Ent- nehin.“ weder trägt man ständig eine Kippa, oder Shalev: Ein großer Teil der Li- man liest ohne sie aus der Bibel. Es ist ein- banesen war gegen die His- fach lächerlich. bollah. Sie ist eine Gefahr für SPIEGEL: Kann Israel den Krieg gewinnen?

LIOR MIZRAHI / BAUBAU MIZRAHI LIOR ihr Land, besonders für eine Shalev: Olmert hätte die Kriegsziele gleich so offene und liberale Stadt zu Anfang definieren müssen. Aber alles, Shalev, 58, veröffentlichte zuletzt den wie Beirut. Denn die Fundamentalisten was er sagte, war: „Wir werden siegreich Roman „Fontanelle“ (Diogenes Verlag). werden eines Tages versuchen, diese west- sein“ – ohne zu erklären, was er unter liche Lebensart zu verbieten. Zu Beginn „Sieg“ versteht. Auch mit Verteidigungs- SPIEGEL: Herr Shalev, kämpft die israeli- des Krieges konnte man den Erklärungen minister Amir Perez können wir nicht ge- sche Armee einen gerechten Krieg? libanesischer Führer entnehmen, dass so- winnen. In grandioser Selbstüberschätzung Shalev: Der Grund für den Krieg war ein gar sie ziemlich zufrieden damit waren, hat der gesagt: Nasrallah werde „den Na- gerechter, die Kriegführung ist es nicht. dass Israel sich der Hisbollah annimmt. men Perez nicht vergessen“. Olmert und Und damit meine ich nicht nur die Tragö- Aber wir sind in den Libanon eingefallen Perez führen sich auf wie zwei Maulhelden die von Kana, sondern das, was bereits in wie wütende Stiere in die Arena und ha- in der Kneipe. den ersten Tagen passierte: Beirut auf die- ben alles attackiert, was sich bewegte. SPIEGEL: Das erklärte Ziel ist die Zerschla- se Weise anzugreifen, Zivilisten im Liba- SPIEGEL: Premier Olmert verlangte von den gung der Hisbollah. non zu töten. Vom ersten Tag des Krieges Abgeordneten: „Spart euch die Kritik für Shalev: Was heißt das? Besteht der Sieg an hätten wir uns besser darauf beschrän- die Zeit nach dem Krieg auf.“ Ist es un- darin, dass sie auf allen vieren zu uns ge- ken sollen, die Hochburgen der Hisbollah patriotisch, der Regierung Vorwürfe zu ma- krochen kommen, um ihre Waffen abzu- entlang der israelisch-libanesischen Gren- chen, während israelische Soldaten sterben? liefern? Wir haben es nicht mit einem Staat ze zu attackieren. Shalev: Die jüdische Geschichte ist voll von zu tun, der in einer offiziellen Zeremonie SPIEGEL: Warum wurden der Armee keine Menschen, die sehr kritisch waren. Tat- kapitulieren wird. In der Medizin gibt es Beschränkungen auferlegt? sächlich haben diejenigen, die sich gegen etwas, das „Schmerzmanagement“ heißt: Shalev: Man konnte eine hohe Man eliminiert den Schmerz Dosis Testosteron spüren, ein nicht vollständig, man versucht Hormon, das in einer solchen Si- ihn so in den Griff zu bekom- tuation eigentlich keinen Platz men, dass der Patient damit le- haben dürfte. Aber Scheich Nas- ben kann. Genau das müssen rallah bringt jeden in Israel zum wir mit der Hisbollah tun. Wir Wahnsinn: wie er dasitzt mit die- müssen sie schwächen, ihre ser sanften Stimme, nie wütend, Frontlinien zerstören. Aber al- nie fluchend, in gewisser Weise lein mit militärischen Mitteln wirkt er geradezu gütig. Unsere kann Israel seine Probleme Politiker und Militärs wollten nicht lösen. Unsere Stärke ist Rache nehmen. der demokratische Charakter SPIEGEL: Die israelische Regie- unserer Gesellschaft, die Nas- rung hält ihr Verhalten für mo- rallah unterschätzt. Wir verlo- ralisch korrekt, weil sie die liba- ren, als Olmert sagte, wir wer- nesische Bevölkerung vor den den gewinnen. Trotzdem wer- Bombardierungen warnt. den wir am Ende siegen, denn Shalev: Selbst wenn sie die Men- die israelische Gesellschaft ist

schen warnt, sind viele trotzdem PRESS / GPO SIPA MILNER klüger als ihre politischen Füh- nicht in der Lage, ihre Orte zu Premier Olmert, Leibwächter: „Wir werden siegreich sein“ rer. Interview: Christoph Schult

100 der spiegel 32/2006 Manar, der Propagandasender der Schiiten- ihrer Gegner. Ausländische Korresponden- truppe, als neuen Rekord bejubelte. ten werden schon morgens von der israe- Beiden Seiten geht es längst nicht mehr lischen Armee mit Ideen für Geschich- nur um Entscheidungen auf dem Schlacht- ten versorgt und Begegnungen mit Op- Schüsse feld, es geht auch um den Sieg im Kampf fern von Hisbollah-Raketen auf Wunsch um die Herzen und Hirne der ganzen Welt. sogar mehrsprachig organisiert, Lunch- Denn psychologische Kriegführung und paket inklusive. Die Hisbollah hat es al- aus dem Off Propaganda sind bei diesem asymmetri- lenfalls auf ein paar mürrische Führun- Propagandakampagnen und schen Kampf zweier ungleicher Gegner be- gen durch zerstörte Gebiete in Südbeirut sonders wichtig. gebracht. psychologische Tricks Und derzeit macht Israel eine deprimie- Warnungen vor bevorstehenden Bom- sollen das Bild des Krieges im rende Erfahrung: Die Hisbollah und ihr benangriffen verbreiten die Israelis nicht Nahen Osten formen. Führer, Scheich Hassan Nasrallah, brau- nur per Flugblatt und Rundfunk, sondern chen einfach nur zu überleben, um – zu- auch per SMS. Im Libanon wurden Ein- ür den vergangenen Mittwoch hatte mindest in der arabischen Welt – als Hel- wohner morgens um 5.30 Uhr durch Tele- Israels Ministerpräsident Ehud Ol- den dazustehen. Und das haben die Isla- fonanrufe geweckt, in denen eine Stimme Fmert einen medialen Großkampftag misten bisher mit Aplomb geschafft. vom Band die Gründe für den israelischen angesetzt. Zwei Stunden lang gab er israe- So erschien Nasrallah am dritten Kriegs- Einmarsch erläutert. lischen Journalisten Interviews, drei Stun- tag nach einem besonders schweren An- Doch auch der Einsatz modernster Tech- den lang widmete er sich ausländischen griff der Israelis auf dem Bildschirm und nik zeigt kaum mehr als den vorhersehba- Medien, deren Vertreter er gleich paar- verkündete: „Hier sind die Überraschun- ren Effekt. Während amerikanische und weise ins Zimmer bat: AP hatte mit den gen, die ich versprochen habe. Die israeli- europäische Medien zumindest anfäng- Konkurrenten von Reuters zu erscheinen, schen Kriegsschiffe werden brennen und lich viel Verständnis für Israels Krieg- die Londoner „Times“ mit der „Financial vor ihren Augen versinken.“ Wenige Mi- führung zeigten, berichteten arabische Me- Times“. nuten später wurde die israelische Korvet- dien ausschließlich über das Leid der zivi- len Bombenopfer im Libanon – von den zivilen Opfern in Israel war natürlich kei- ne Rede. Pausenlos brachten die Fernsehsender al-Manar, al-Dschasira und al-Arabija die entsetzlichen Bilder verstümmelter Toter. „Wir haben sehr viel mehr gezeigt als die deutschen Medien und sehr viel weniger, als unser Publikum von uns verlangt“, sagt der deutsche al-Dschasira-Korrespondent Aktham Suliman. Am heftigsten entzündete sich der Krieg der Bilder um die Opfer, die ein israeli- scher Angriff auf Kana am vorvergangenen Sonntag gefordert hatte. 56 Tote beklag- ten die Libanesen zunächst, darunter vie- le Kinder. Zehn Jahre nachdem am glei- chen Ort israelische Granaten über hun- dert libanesische Flüchtlinge getötet hat- ten, schien Kana erneut zum Schauplatz eines Blutbads geworden zu sein. Doch diesmal fiel, zumindest im Westen, die Re- aktion anders aus. Im Internet bezichtigten

AFP Blogger die Hisbollah, zugunsten der Fo- Überblendung eines Nasrallah-Bildes auf al-Manar: „Hisbollah-Mitglieder, aufgepasst“ tografen wieder und wieder dieselbe Kin- derleiche aus dem zerstörten Haus gebor- Durchschlagende Erfolge im Kampf ge- te „Speer“ von einem Marschflugkörper gen zu haben – Anschuldigungen, die sich gen die Hisbollah wollte der Regierungs- getroffen und geriet in Brand. Israel nicht zu eigen machte. chef verkünden: Die Infrastruktur der is- Seit der ersten Kriegsminute steht al- Drei Tage später untersuchten Experten lamistischen Extremisten sei „komplett Manar im Zentrum der israelischen Auf- der Menschenrechtsorganisation Human zerstört“, 770 Kommandostände der Ter- merksamkeit. Als das Hauptquartier des Rights Watch den Zwischenfall und stellten roristen seien eliminiert worden. Senders in Schutt und Asche versank, dau- klar: Es habe keine 56 Opfer gegeben, son- Doch selten wurde ein angeblicher erte es nur zwei Minuten, bis die Fernseh- dern 28, darunter 15 Kinder. 13 weitere Durchbruch so schnell – und so brutal – techniker der Islamisten einen Ausweich- Personen werden noch vermisst. Aller- dementiert. Noch während Olmert die sender hochgefahren hatten. dings: Hinweise auf eine inszenierte Ber- Wirksamkeit der israelischen Waffen pries, Den Israelis dagegen gelang es, sich in gung der Opfer konnten sie nicht ent- entfesselte die Hisbollah einen Raketenha- das Programm der Hisbollah-Station ein- decken. gel gegen Israel, wie es ihn in den 21 Kriegs- zuhacken. Über dem Bild von Schiiten- Dass Israel derzeit Gefahr läuft, den tagen zuvor nicht gegeben hatte: Insgesamt führer Nasrallah erschien plötzlich ein Kampf um die Bilder zu verlieren, gestand 230 Geschosse gingen auf israelischem Ge- Schriftzug: „Dein Tag wird kommen, kom- als erste Außenministerin Zipi Livni ein. biet nieder, ein Zivilist starb, Dutzende men, kommen.“ Dazu peitschten drei Sie bezeichnete den Angriff auf Kana als wurden verletzt. Eine Rakete schlug bei Schüsse aus dem Off. „einen Wendepunkt, der eine problemati- Beit Schean ein, gut 70 Kilometer von der Insgesamt arbeiten Israels Propaganda- sche Dynamik gegen Israel in Gang ge- libanesischen Grenze entfernt – was al- abteilungen weitaus professioneller als die bracht hat“. Hans Hoyng, Christoph Schult

der spiegel 32/2006 101 MOHAMED SHEIKH NOR / AP Muslim-Milizionäre, zerstörte Häuser in Mogadischu: „Wir räumen jetzt auf und machen sauber“

„Wir haben eine strahlende Zukunft vor SOMALIA uns“, verspricht einer der zwei Führer der neuen Machthaber, Scheich Scharif Ah- med, anlässlich einer Stippvisite beim Ar- Allahs Putzkolonne beitsdienst im Trümmerfeld: „Wir räumen jetzt auf und machen sauber; es geht vor- Islamisten könnten bald das ganze Land beherrschen. Die USA sind an.“ Dann ruft er den Frauen zu: „Ihr seid die Zukunft des Landes, die wahren alarmiert, aber die Bevölkerung begrüßt die neuen Macht- Somalier.“ haber: Nach 15 Jahren Chaos bringen sie ein wenig Sicherheit. Einigen bewaffneten Männern in der Nähe empfiehlt er: „Hört auf, in die Luft eden Morgen, wenn sich fahles Son- Doch seit der Einnahme der Stadt durch zu schießen. Es werden wieder Flugzeuge nenlicht zwischen die düsteren Ruinen die Truppen des „Rats der islamischen Ge- landen, und die wollen wir nicht vom Him- Jvon Mogadischu tastet, marschieren richte“ vor über zwei Monaten hat sich mel holen.“ Schließlich warnt er ausländi- lange Kolonnen von Trümmerfrauen durch alles geändert. Nach 15 Jahren Anarchie sche Mächte, allen voran Äthiopien, vor die Straßen der somalischen Hauptstadt. und Bürgerkrieg erwacht Mogadischu zu einer Invasion. Dann verschwindet er in Sie tragen Schaufeln und Besen geschultert neuem Leben. Schon 1800 Frauen haben einem Pulk bewaffneter Turbanträger mit und schwenken den Koran, sie folgen den sich den Putzkolonnen Allahs angeschlos- langen Bärten. grünen Fahnen des Propheten und den sen. Dabei erhalten sie nur ein wenig Seit Allahs Krieger Einzug hielten, ist es blauweißen der Republik, und sie rufen Trinkwasser als Lohn für die schwere Ar- ruhiger geworden in Mogadischu. Die ver- „Allahu akbar“ in die Morgenröte – Gott beit unter afrikanischer Sonne. Dennoch wahrlosten Miliz-Soldaten, die seit Beginn ist groß. Dazu werfen sie die Fäuste in die melden sich mehr und mehr Freiwillige der neunziger Jahre das Land terrorisierten Luft. zum Dienst in der Ruinenstadt. Auch jun- und rund 300000 Menschen umgebracht Viele Besen-Brigadistinnen sind voll- ge Männer schlagen sich aus anderen Lan- haben sollen, sind aus dem Straßenbild ständig verschleiert und lugen nur durch desteilen zu den Islamisten durch, um sich verschwunden. Einige hundert befinden schmale Schlitze in die Welt. Die Dis- nun den Milizen der Gotteskrieger anzu- sich angeblich in versteckten Umerzie- ziplin, mit der sie den ganzen langen schließen. hungslagern. Die anderen haben sich in Weg hindurch ihre Marschformation ein- Selbst aus dem Ausland kommt Unter- Richtung der südwestsomalischen Stadt halten, bildet einen seltsamen Kontrast zur stützung. Vor zwei Wochen landeten auf Baidoa zurückgezogen, wo die somalische apokalyptischen Kulisse, durch die ihr dem internationalen Flughafen der Stadt Übergangsregierung der Zukunft entge- Geisterzug führt: kohlschwarze Haus- angeblich zwei Maschinen, deren kasachi- genzittert. wände, Schuttberge von der Größe gan- sche Hoheitszeichen überpinselt waren. Ihre Mitglieder stecken in einer unkom- zer Fußballfelder, Mauerreste voller Ein- Seitdem kursieren um die Herkunft und fortablen Situation, seit sich die Islamisten schusslöcher, überall mannshohes Un- die Ladung der Frachtflieger wüste Ge- in Mogadischu als Saubermänner feiern kraut. Noch bis vor kurzem versteckten rüchte: Eritrea habe eine Lieferung Waffen lassen, sie selbst aber tief zerstritten in der sich hier die Milizen diverser Warlords, geschickt, um die Islamisten gegen den Provinz ausharren müssen. ballerten mit ihren automatischen Waf- gemeinsamen Feind Äthiopien zu rüs- Nachdem sich die Regierung Ende fen auf alles, was sich regte, und spiel- ten. Demnächst soll auch der marode See- 2004 im Nachbarland Kenia konstituiert ten im Drogenrausch Herren über Leben hafen wieder in Betrieb genommen hatte, sollte sie die verfeindeten soma- und Tod. werden. lischen Clans und Warlords sammeln, um

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Und Ghedi gilt, genauso wie der Präsident, als Freund des ungeliebten Nachbarn. Für kurze Zeit droht eine Massenschlägerei im Hohen Haus. Draußen nesteln Unifor- mierte nervös an ihren Pistolenhalftern. Schließlich lösen die Polizisten den Tumult unter den keifenden Volksvertretern auf, indem sie kurzerhand ein paar Abgeord- nete festnehmen. Seit Wochen sorgen Gerüchte für Unru- he, dass sich längst äthiopische Trup- pen im Land befinden. Mehrere tausend Soldaten sollen es sein, Uno-Sicherheits- koordinator Julien Buckmire will gar von Flugzeugen und Hubschraubern gehört haben. Doch es gibt keine Fotos der Invasoren. Noch sind in Baidoa keine äthiopischen Uniformen zu sehen, auch nicht auf der Straße nach Wadschid, nahe der Grenze, über die sie angeblich

THILO THIELKE / DER SPIEGEL THIELKE THILO herangezogen sein sollen. „Was in Mogadischu passiert ist, war ein Volksaufstand ge- ERITREA JEMEN gen die Warlords“, gibt sogar SUDAN Mohammed Nureni Bakar, der Energieminister, zu: „Die Men- DSCHIBUTI Golf von Aden schen sehnten sich nach Ruhe SOMALIA Indischer und Ordnung.“ Bakar hat in Ozean Addis Abeba Puntland Dubai jahrelang für verschiede- endlich das blutige Chaos im Land zu ÄTHIOPIEN ne Ölkonzerne gearbeitet, seine beenden. Cadaado Familie lebt in Nairobi. Nun Zum Präsidenten wählten die Vertreter von Islamisten sitzt er in Baidoa in einem Ka- kontrolliert der einflussreichen somalischen Sippen binett, von dem niemand weiß, Mogadischu den Führer der autonomen Region Punt- KENIA wie lange es noch existieren land, Abdullahi Jussuf Ahmed, einen einst Regierungssitz wird. Jeden Tag verliert er wei- in Moskau geschulten Oberst und Gefolgs- Baidoa 500km tere Kollegen. Es scheint, als mann des kommunistischen Diktators wolle niemand der Letzte sein, Mohammed Siad Barre, der das Land bis wenn alles zusammenbricht. zum Zusammenbruch des Ostblocks be- Warlords, deren Milizen das Land schon Dennoch hofft Bakar immer noch auf herrscht hatte. lange plagten. Doch die Unterstützung eine Lösung. „Wir haben doch gar nichts Seit Jussuf offiziell Präsident ist, sind aus Washington für die bis dahin geächte- gegen Gerichte, die nach islamischem die Dinge am Horn von Afrika wieder in ten Banditen brachte den Religionskrie- Recht urteilen“, sagt er, „sie sind sogar Bewegung geraten – wenn auch ganz an- gern nur noch mehr Sympathie der Be- verfassungsgemäß.“ Beide Seiten müssten ders als geplant. Kaum gewählt, forderte völkerung ein. Washington fürchtet, dass jetzt den Dialog suchen und könnten sogar Jussuf noch aus seinem Hotel in Nairobi sich Somalia zum Tummelplatz auslän- eine gemeinsame Regierung bilden. Das 20000 internationale Soldaten an, die sei- discher Al-Qaida-Aktivisten entwickelt wäre, glaubt Bakar, fast die einzige Chan- nen Einzug in Mogadischu absichern soll- hat. Währenddessen treten die Islamisten ce, das Land vor neuem Leid zu bewahren ten. Das christlich geprägte Äthiopien er- in Mogadischu als Friedensstifter auf – – und die eigene Haut zu retten. klärte sich bereit, Truppen zu schicken – und die Regierung in Baidoa zerbröselt Kommen die Äthiopier doch noch, droht was durchaus fatale Folgen hatte. langsam. erneut ein endloser Krieg. Kommen sie Die Aussicht, Soldaten des Erzfeindes In der provisorischen Hauptstadt des nicht, werden die Islamisten früher oder Äthiopien könnten im Lande auftauchen, Jussuf-Kabinetts herrscht der Ausnahme- später wohl zum Marsch auf Baidoa rüsten. trieb die Menschen in Massen auf die Sei- zustand: Überall ist Militär mit Flugab- Mit der Wiedereröffnung der See- und te der Islamisten – schließlich hatte Soma- wehrkanonen und schweren Maschinen- Flughäfen sowie der Unterstützung der is- lia schon in den sechziger und siebziger gewehren aufgefahren. Schon 40 Minister lamischen Staatengemeinschaft scheint ihr Jahren zwei blutige Kriege mit dem Nach- und stellvertretende Minister sind bis Ende Nachschub gesichert. barland geführt. Es ging um Ogaden, ein vergangener Woche zurückgetreten, der Während Premierminister Ghedi im überwiegend somalisches Siedlungsgebiet Minister für Verfassungsfragen wurde von Lagerhallen-Parlament nach endlosen im Südosten Äthiopiens. einem unbekannten Täter vor einer Mo- Debatten ein Misstrauensvotum abwenden Der internationalen Gemeinschaft, die schee füsiliert. kann, haben die Islamisten mit Cadaado maßgeblich an der Bildung der Jussuf-Re- Im Parlament, einer ehemaligen Lager- eine weitere Stadt unter ihre Kontrolle gierung beteiligt war, liefen die Dinge aus halle, fliegen nicht nur die Beleidigungen, gebracht. Sie liegt nicht weit von Präsident dem Ruder. Erst viel zu spät erkannte der sondern auch die Fäuste der Abgeordne- Jussufs Heimatregion Puntland entfernt. Westen, dass der vermeintliche Friedens- ten. Es geht um ein Misstrauensvotum ge- Und weil Alkohol streng verboten ist, prozess vor allem den Islamisten Vorteile gen Premierminister Ali Mohammed Ghe- begießen die jubelnden Anhänger der brachte. di. Doch in Wahrheit dreht sich alles um Islamisten in Mogadischu ihren Sieg aus- Nervös geworden, finanzierten die USA die Frage, ob die Regierung in ihrem Über- gerechnet mit dem Lieblingsgetränk der eine „Anti-Terror-Koalition“ gegen die Is- lebenskampf gegen die Islamisten die verhassten Amerikaner – mit Coca-Cola. lamisten, ein loses Bündnis verschiedener Äthiopier zu Hilfe rufen darf oder nicht. Thilo Thielke

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AFGHANISTAN „Gefährlich siegesgewiss“ Der Uno-Sonderbeauftragte Tom Koenigs über die Stärke der Taliban, den Kampf gegen Drogen und die Risiken einer Demokratisierung von oben DER SPIEGEL / AGENTUR FOCUSDER SPIEGEL / AGENTUR Koenigs, 62, stammt aus einer Kölner Koenigs: Unsere Sicherheitsleute sagen, Uno-Gesandter Koenigs Bankiersfamilie; sein vorab ausgezahltes dass tatsächlich Taktiken und Techniken „Polizei und Armee sind viel zu schwach“ Erbteil schenkte er 1973 dem Vietcong und aus dem Irak kopiert werden, zum Beispiel chilenischen Widerstandskämpfern. Seit die Bomben am Straßenrand. Was aber später unter islamistischen Einfluss, im 1983 ist Koenigs Mitglied der Grünen. Von vor allem aus dem Irak kommt, ist der schlimmsten Falle wird er ein Taliban. Wer 1993 bis 1997 war er Stadtkämmerer in Glaube, man könne ein Land dauerhaft den Nachwuchs der Islamisten austrock- Frankfurt am Main, von 1999 bis 2002 destabilisieren oder eine Regierung über nen will, muss selbst Schulen gründen, die Leiter der Uno-Verwaltung im Kosovo. den Haufen werfen. Das macht die Auf- Chancen vermitteln und ohne fundamen- ständischen in Afghanistan so gefährlich talistisches Gedankengut auskommen. SPIEGEL: Herr Koenigs, gibt es eine realis- siegesgewiss. SPIEGEL: Dafür brauchen Sie nicht nur eine tische Aussicht auf stabile Verhältnisse in SPIEGEL: Wie soll die Allianz darauf rea- neue Strategie, sondern viel Geld. Afghanistan? gieren? Koenigs: In der Tat. Afghanistan ist das Koenigs: Die Demokratie bleibt das Ziel, Koenigs: Erst mal, indem wir unsere Ana- fünftärmste Land der Welt. Im Kosovo aber wir sind noch nicht auf die Zielgerade lyse korrigieren. Diese Bewegung wird haben wir pro Einwohner zehnmal mehr eingebogen. Die Erwartungen waren aller- nicht bloß von Qaida-Terroristen oder alten investiert. dings auch nicht realistisch. Taliban-Führern getragen. Zu den Auf- SPIEGEL: Das liegt ja auch viel näher … SPIEGEL: Warum? ständischen zählen auch Kinder afghani- Koenigs: … aber ist deshalb nicht unbe- Koenigs: Sie waren schlicht zu hoch, weil scher Flüchtlinge, die in pakistanischen Ko- dingt wichtiger. Auch die Terroristen, die in nach dem Sieg über die Taliban 2001 alles ranschulen ausgebildet wurden und für die London die U-Bahnen in die Luft spreng- so gut angefangen hatte. Daraufhin hat Freiheit ihres Landes kämpfen. Oder jun- ten, hatten ihre ideologischen Wurzeln in die Staatengemeinschaft in gefährlicher ge Männer aus dem Land selbst, die keine dieser Region. Es geht darum, zu verhin- Weise an Personal und Geld gespart, zum Perspektive haben. Diese Perspektive müs- dern, dass der internationale Terrorismus Beispiel beim Aufbau einer afghanischen sen wir ihnen geben, wenn wir die Auf- eine Zufluchtsstätte findet. Polizei. standsbewegung austrocknen wollen. SPIEGEL: Und deshalb muss der Westen SPIEGEL: Seit sechs Monaten leiten Sie jetzt SPIEGEL: Klingt nach Träumerei. mehr Entwicklungshilfe leisten? die Uno-Mission in Kabul, hat sich in die- Koenigs: Natürlich ist das nicht leicht. Aber Koenigs: Die Entwicklungshilfe des Ostens ser Zeit die Lage verschlechtert? ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Wenn ist mir genauso willkommen. Noch ein Bei- Koenigs: Ja. Anfang des Jahres glaubte heute ein einfacher Bauer einen intelli- spiel: In Afghanistan gibt es nicht genug man, das Problem der Taliban vor allem genten Sohn auf die Schule schicken will, Lehrerinnen für Mädchenschulen. Die Ira- militärisch schnell erledigen zu können. bleibt ihm nur die Koranschule in Paki- ner hätten davon genug. Sie sprechen auch Inzwischen wissen wir, dass wir es mit stan. Dort gerät sein Junge früher oder dieselbe Sprache wie die meisten Afgha- einer richtigen Aufstandsbewegung zu tun haben, und je schneller alle das einsehen, desto besser. SPIEGEL: Ist der „Krieg gegen den Terror“ zu wichtig genommen worden, zu Lasten der Stabilisierung des Landes? Koenigs: Polizei und Armee sind viel zu schwach. Wieso haben die Taliban in man- chen Gegenden Erfolg? Weil sie Sicherheit versprechen und Rechtsprechung. Beides existiert im Süden nicht. Dort gibt es Distrikte mit 45 Polizeibeamten auf 100000 Einwohner. Das würde nicht mal in Bayern gutgehen. SPIEGEL: Was ist die Lösung? Koenigs: Mehr afghanische Soldaten und Polizisten. Auch Deutschland sollte mehr Polizeiausbilder nach Afghanistan schicken, und die Regierung braucht mehr Geld für die Besoldung. Solange die Taliban dem gemeinen Landser ein Mehrfaches an Sold zahlen wie der Staat, muss man sich nicht wundern. SPIEGEL: Die Aufständischen in Afghani- stan scheinen zunehmend vom Irak zu lernen. Bundeswehrsoldaten in Kabul: „Wir sollten uns auf einen langen Kampf einstellen“

104 der spiegel 32/2006 nen. Wir müssten einfach ideologisch über zeipräsidenten haben wir kritisiert. Aber: Koenigs: Wir dürfen vor allem nicht so vie- unseren Schatten springen und mit Tehe- Als Karzai uns Anfang des Jahres intensiv le Fehler machen. Im Irak hätte man die ran kooperieren – schon könnten wir ein um Polizeihilfe für den Süden bat, haben Baath-Partei nicht verbieten und die Ar- ganz konkretes Problem lösen. wir ihn abgewimmelt. Heute sehen wir, mee nicht auflösen dürfen. Aus dem Erfolg SPIEGEL: Warum verlangt man den Afgha- dass wir ihn besser unterstützt hätten. der Hamas in Palästina müssen wir lernen, nen selbst nicht mehr Engagement ab? SPIEGEL: Ist Karzai noch der Richtige? dass der Kampf gegen Korruption auch Koenigs: Ein Problem besteht darin, dass Koenigs: Er ist der gewählte Präsident, und über die Legitimität von Regierungen ent- die Demokratie von oben kam und jetzt wenn man Afghanen fragt, wer denn geeig- scheidet. Genauso wie es hochpolitisch ist, von oben nach unten durchgesetzt wird. neter wäre, dann schweigen alle. Und das ist ob eine Regierung Kontrolle über ihr Erst hat man den Präsidenten gewählt, für einen Politiker eine ganze Menge. Territorium hat oder nicht. Denn wenn es dann das Parlament, dann die Provinzpar- SPIEGEL: Er hat sich eben mit den Mächti- irgendwo ein Rückzugs-, Aufmarsch- oder lamente. Auch die Gouverneure und Bür- gen arrangiert. Trainingsgebiet für terroristische Gruppen germeister sind ja von oben eingesetzt. Koenigs: Tatsächlich ist das Gleichgewicht, gibt, haben wir alle ein Problem. Und zwar Was dann ganz unten in den Dörfern pas- das Karzai mit den Warlords und anderen wir zu Hause, ob in Frankfurt, London, siert, entzieht sich im Wesentlichen der Leuten von zweifelhafter Vergangenheit Delhi oder New York. Regierungsgewalt. Die Taliban dagegen hergestellt hat, uns manchmal fremd. Aber SPIEGEL: Wie wollen Sie die Menschen in sind eher eine Basisbewegung. immerhin hat er so den Einflussbereich des Afghanistan von der Überlegenheit des li- SPIEGEL: Die Demokratie kommt von oben, Zentralstaats erheblich erweitert. beralen Weges überzeugen? die Taliban kommen von unten. Wie soll SPIEGEL: Es gibt immer wieder Gefechte Koenigs: Das ist schwierig, wie wir beim das gutgehen? mit angeblich schweren Verlusten der Tali- Fall von Abdul Rahman erlebt haben, der Koenigs: Afghanistan hatte nie eine starke ban. Stimmt Sie das hoffnungsvoll? zum Christentum übergetreten ist und des- Zentralregierung. Aber immerhin sind die Koenigs: Ich fürchte, das sind keine Er- halb mit der Todesstrafe bedroht wurde. Warlords immer weiter zurückgedrängt folgsmeldungen. Das Reservoir der Tali- Da hat der US-Präsident den Präsidenten worden. Regierung und Präsident sitzen ban-Kämpfer ist praktisch grenzenlos. von Afghanistan angerufen. Der hat ver- zwar in Kabul, aber allmählich ist die Man wird die Bewegung nicht durch eine sucht, den Obersten Richter zum Frei- Macht der Zentralregierung in die Provin- hohe Zahl an Verlusten besiegen können. spruch zu drängen. Was hätte George W. zen hineingewachsen. Soeben hat der Prä- Deshalb muss man sich militärisch und Bush zu Hamid Karzai gesagt, wenn dieser sident neue Polizeipräsidenten ernannt polizeilich auf die gutausgebildeten und von ihm gefordert hätte, die Todesstrafe oder bestätigt. Es hat bei aller Kritik keine ideologisch motivierten Führungsleute für einen in Amerika vor Gericht stehen- einzige Provinz gegeben, die sich seiner konzentrieren. Für die Mitläufer aber muss den Afghanen abzuwenden? Bush hätte Entscheidung widersetzt hätte. Das wäre man ein Programm der Reintegration ent- ihm gesagt, unsere Justiz ist unabhängig, vor zwei Jahren undenkbar gewesen. wickeln. wir haben Gewaltenteilung. Müssen wir SPIEGEL: Und dennoch gilt: Präsident Ha- SPIEGEL: Lässt sich der Kampf überhaupt das nicht auch umgekehrt für Afghanistan mid Karzai ist für den Westen zusehends militärisch gewinnen? gelten lassen? weniger ein glaubwürdiger Kämpfer für Koenigs: Nein, denn in Afghanistan tobt, SPIEGEL: Der Westen hätte also einfach die Demokratie. Er reformiert die Polizei wie anderswo auch, ein Konflikt zwischen zuschauen sollen? schwerfällig, er bekämpft den Drogenan- dem islamischen Fundamentalismus und Koenigs: Nein, Abdul Rahman ist ja frei- bau nicht. Kann oder will er nicht anders? dem auf Menschenrechten gegründeten Li- gekommen; aber wir sollten nicht so tun, Koenigs: Wir können den Erfolg der afgha- beralismus. Nimmt man etwa die jüngsten als hätten wir immer Recht. nischen Reformen nicht daran messen, ob Wahlen in Palästina oder Iran, dann steht SPIEGEL: Gilt das auch für das Thema Dro- einzelne Maßnahmen uns passen oder der militante Fundamentalismus gegen- genanbau? nicht. Die Polizeireform haben wir sehr wärtig sicher nicht auf der Verliererseite. Koenigs: Da haben auch die Klügsten unter begrüßt; 14 der 86 Ernennungen von Poli- SPIEGEL: Wie lässt sich das ändern? uns keine Patentrezepte. Eines haben wir jedenfalls gelernt: Mit der Zerstörung von Feldern anzufangen ist falsch. Die Taliban haben sich der empörten Bauern gern an- genommen. SPIEGEL: Und doch ist schwer vermittelbar, wenn die Bundeswehr im Norden der Her- stellung von Opium tatenlos zuschaut. Koenigs: Die Bundeswehr kann nicht als Polizei tätig werden. Die Soldaten müssten dann ermitteln, festnehmen, Felder zer- stören. Nein, das muss die afghanische Po- lizei machen. SPIEGEL: Die ist ja so schon überfordert, wie Sie selbst sagen. Koenigs: Im Drogengeschäft geht es um viel Geld und letztlich auch um Sicherheit. Wir sollten uns auf einen langen Kampf für ei- nen liberalen Rechtsstaat in Afghanistan einstellen und werden auch mit Rück- schlägen fertigwerden müssen. In Kabul wird gerade ein supermodernes Hoch- sicherheitsgefängnis für Drogenbarone gebaut. Da gab es schon vorab so reges In- teresse, dass die Baupläne unter der Hand

KNUT MÜLLER (L.); MÜLLER KNUT / LAIF (R.) GRABKA THOMAS verkauft wurden. Interview: Ralf Beste, Afghanische Kinder bei der Opiumernte: „Die Zerstörung von Feldern ist falsch“ Horand Knaup

der spiegel 32/2006 105 Brüder Fidel und Raúl, Uferpromenade Malecón in Havanna: Im Kampf mit Amerika ist Castro selbst zur wichtigsten Waffe geworden – halb

KUBA Das letzte Symbol Seit fast 50 Jahren versuchen die USA, Fidel Castro zu bezwingen. Er hat zehn amerikanische Präsidenten erlebt, und er kämpft immer noch. Um sein Leben und seine Revolution. Von Alexander Osang

n einem der fensterlosen, bunkerähnli- Schatten in einem beigen Kostüm, der an- „Nein, nein, es geht nicht um Castro“, chen Räume des US-Außenministe- derthalb Minuten bleibt. Sie sagt, dass sagt McCarry. „Es geht um die Freiheit des Iriums präsentiert Amerika vor vier Wo- Amerika Kuba nicht im Stich lassen werde. kubanischen Volkes.“ chen seinen neuesten Plan zur Befreiung Dann verschwindet sie und lässt Caleb McCarry ist blass, rothaarig, groß, er Kubas. Es ist ein heißer Julimorgen in Wa- McCarry zurück, den Chef der „Kommis- trägt eine milchige Brille und einen strup- shington, die Raumtemperatur liegt bei sion zur Unterstützung eines freien Kuba“. pigen Bart. Der Mann, der Kuba in die etwa zehn Grad Celsius, der Plan ist 93 Er erzählt, dass die Mehrheit des kuba- Freiheit begleiten soll, sieht aus wie ein Seiten dick. Es ist der „Bericht der Kom- nischen Volkes zu einem Wechsel bereit Kartoffelbauer aus Idaho. Zusammen mit mission zur Unterstützung eines freien sei und die amerikanische Regierung sie seinem sperrigen Bericht wirkt er wie ein Kuba an den Präsidenten der Vereinigten bei diesem Wechsel unterstützen werde. Geburtstagsgeschenk der Amerikaner an Staaten von Amerika“. 80 Millionen Dollar werde man ausgeben, Fidel Castro. Castro hat zehn amerikani- Den sperrigen, wichtigtuerischen Titel um die Opposition zu stärken und die sche Präsidenten erlebt, er scheint in die- hätte sich das kubanische Politbüro aus- Desinformationspolitik des Regimes zu sem Moment, im fensterlosen Bunker in denken können, aber darüber muss man brechen. Man werde einer kubanischen Washington, ebenbürtig, wenn nicht grö- sich nicht wundern. Amerikanische und Übergangsregierung nach Fidel Castro mit ßer als alle zusammen. kubanische Propagandisten beschäftigen Rat und Tat zur Seite stehen. Sie haben versucht, ihn zu stürzen, sie sich schon so lange miteinander, dass sie Die Präsentation des Berichts ist viermal haben versucht, ihn durch Attentate aus anfangen, sich zu ähneln. In der Schlacht verschoben worden, das letzte Mal heute dem Weg zu räumen, zuletzt hat ihn Prä- der Ideen vergessen sie manchmal, in wes- früh, um zwei Stunden. Wenn man ihn sident George W. Bush neben Kim Jong sen Gehirn sie gerade stecken. liest, ahnt man, warum: Es steht nichts drin. Il, Saddam Hussein und dem iranischen George W. Bush, heißt es, habe den Be- Das Papier entwirft vage Szenarien für ein Staatschef auf die Achse des Bösen gesetzt. richt gelesen und befürwortet, könne aber Leben nach Fidel. Oben drüber steht in Vor zwei Jahren hat Bush die Kommission nicht selbst kommen, um ihn vorzustellen. fetten Buchstaben: „Beschleunigung eines zur Unterstützung eines freien Kuba ge- Was verständlich ist, denn andernorts fliegt Wechsels in Kuba“. Es ist eine Mischung gründet und deren ersten Bericht präsen- gerade die Welt auseinander: Nordkorea, aus Drohung und Hoffnung. Wahrschein- tiert. Seither müssen Reisen auf die Insel Iran, Irak, Libanon, Israel. Bush schickt lich ist der einzige Grund, weswegen der vom US-Finanzministerium genehmigt Condoleezza Rice als Zeichen seiner An- Plan überhaupt erscheint, der bevorste- werden, und die Exilkubaner dürfen nur teilnahme. Die Außenministerin ist in Ge- hende 80. Geburtstag Fidel Castros. noch alle drei Jahre zu ihren Verwandten danken woanders, nicht mehr als ein Stimmt das? reisen. Die USA hofften, so trockne das

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es nicht gemacht, weil er eben Clinton war, er wollte die Wähler in Florida nicht ver- graulen. Aber er hat es nicht verschlim- mert. Aber jetzt haben wir die inkompe- tenteste, ehrloseste, verachtenswerteste Regierung in unserer Geschichte. Unser Ansehen in der lateinamerikanischen Welt ist so niedrig wie nie. Bush ist das Beste, was Fidel Castro passieren konnte.“ Über Wayne Smith’ Schreibtisch hängt eine kleine Holztafel, auf die jemand in Kyrillisch geschrieben hat: HÄNDE WEG VON KUBA! Smith hat sie aus Moskau mitgebracht, wo er in den sechziger Jahren als Diplomat arbeitete, und er glaubt, dass es eine aktuelle Forderung ist. Etwa zur gleichen Zeit, als Bush seinen Kreuzzug gegen das Böse in der Welt be- gann, startete Fidel Castro seine „Schlacht der Ideen“. Es schien ihm die einzige Mög- lichkeit, sich mit dem übergroßen Feind zu messen, der nur 90 Seemeilen entfernt übers Meer liegt. Das sozialistische Lager war zerfallen, er wurde alt, da spülte das Meer den kleinen Elián González an die

JOSE GOITIA / AP (L.); SVEN CREUTZMANN (R.) / AP (L.);CREUTZMANN SVEN JOSE GOITIA Küste von Florida. Patronenkugel, halb Gott Elián González floh mit seiner Mutter im Jahr 1999 über das Wasser aus Kuba. Er Land aus, aber zuletzt schien es Kuba bes- Niemand hatte in diesem Moment daran wurde von amerikanischen Fischern aus ser zu gehen denn je. gedacht, dass er, Fidel Castro, ja damit dem Ozean gerettet, seine Mutter war er- Der Tourismus brummt, Südamerika schon drei Jahre über die Zeit war. Aber trunken, sein Vater auf der Insel geblie- wird rot, und Fidel Castro scheint so etwas ein paar Tage später übergab er seine Ge- ben. Monatelang stritten Verwandte in wie der Schirmherr dieser Bewegung zu schäfte an seinen Bruder Raúl, zum ersten Miami mit dem Vater um das Sorgerecht, sein. Am Vorabend des 1. Mai empfing er Mal in seiner Geschichte als Revolutions- am Ende war es eine Schlacht zwischen den venezolanischen Präsidenten Chávez führer. Er war krank, sehr krank offenbar. Havanna und Washington. und den bolivianischen Staatschef Morales In der Interessenvertretung der USA liefen In einer komplizierten Rechnung ermit- in Havanna. Einen Tag später kündigte die Telefone heiß. Es gab gute Nachrichten. telte Fidel Castro persönlich, dass Havan- Morales an, die Öl- und Gasfelder Boli- Die Vertretung der USA ist ein Hoch- na eine lebenswertere Stadt sei als New viens zu verstaatlichen. haus, das wie ein falscher Zahn am Male- York. Endlich gab es wieder etwas, wofür Kuba exportierte die Revolution und im- cón steht, der prächtigen Uferstraße Ha- es sich zu kämpfen lohnt. Ein Kind. Im portierte Busse und Kleinlaster aus China, vannas. Wayne Smith hat die glücklichsten Fernsehen sah man die aufgeregten, exil- Klimaanlagen und Kühlschränke aus Süd- Jahre hier verbracht, sagt er. Smith ging kubanischen Verwandten, die Elián in korea. Es entwickelt mit deutschen, spani- 1958 als Botschaftssekretär hierher und buntbedruckte T-Shirts steckten, und ei- schen und kanadischen Unternehmen den verließ Havanna mit allen anderen ameri- nen besonnenen, ernsthaften Vater. Kuba Fremdenverkehr, schickt seine Ärzte in alle kanischen Diplomaten 1961, nach dem Ab- gewann, Castro gewann, der sechsjährige Welt und bohrt demnächst vor seiner Küs- bruch der diplomatischen Beziehungen. In Junge kehrte zu seinem Vater zurück. Sei- te nach Öl. Bei den Baseballweltmeis- den Siebzigern kam er als Chef der Inter- ne Schule in Cárdenas wurde in eine Ge- terschaften in diesem Frühjahr ließen die section zurück, wie die Amerikaner ihre denkstätte umgewandelt. Sie heißt „Mu- Kubaner die Amerikaner hinter sich. Als frühere Botschaft nun nannten. seum der Schlacht der Ideen“. New Orleans im Wasser versank, bot Ha- Unter Jimmy Carter versuchte Smith, Es gibt Fotos von amerikanischen Rake- vanna den USA medizinische Hilfe an. die Beziehungen zu Kuba zu normalisie- ten, kubanischen Computerkabinetten dort, Und um alles kümmerte sich Fidel Ca- ren. Er hat Hunderte Stunden mit Castro stro persönlich. gesprochen, meist sprach natürlich Castro. Der neue Kuba-Plan der Amerikaner Wayne Smith ist heute Leiter des Kuba- besteht darin, dass sie warten. Sie warten, Programms am Center for International dass Fidel Castro stirbt. Und mit ihm die Policy in Washington und glaubt, dass die Revolution. Im Moment sieht es ganz gut Politik seiner Regierung daran schuld sei, für sie aus. In der vorigen Woche brach dass Kuba immer noch kommunistisch ist. Fidel Castro zusammen und stand nicht „Castro wird überall in Lateinamerika mehr auf. empfangen wie ein Held“, sagt Smith. In seiner letzten Rede zum Revolutions- „Nicht, weil alle jetzt sozialistisch werden feiertag hatte er noch einmal die Zahlen wollen, nein, weil er der Einzige ist, der seines Erfolgs heruntergerattert, wie eine uns die Stirn bot und damit durchkam. Bis letzte Bilanz. 262000 Schnellkochtöpfe hät- heute. 1992 wäre der perfekte Zeitpunkt ten sie ausgeliefert und Hunderttausende gewesen, unsere Beziehungen zu Kuba zu Energiesparlampen, sie hätten 20000 Ärz- normalisieren. Das sozialistische Weltsys-

te mehr als das gesamte Schwarzafrika, tem war zusammengebrochen, der Kalte CREUTZMANN SVEN und die Lebenserwartung sei von 70 auf 77 Krieg vorbei, Kuba stellte nicht die ge- Dissident Menoyo Jahre angestiegen. ringste Bedrohung mehr da. Clinton hat Gehalten wie ein exotisches Tier

der spiegel 32/2006 107 aber auch eine Plastik, die einen kubani- schen Jungen zeigt, der sich aus den Fängen der amerikanischen Popkultur befreit. Er lässt eine Micky-Maus und eine Superman- Figur hinter sich und steigt auf, in ein bes- seres, reineres Leben. Der Künstler, der die Plastik modellierte, schuf auch das Monu- ment, das 2000 vor der amerikanischen Ver- tretung in Havanna aufgestellt wurde: Es ist der kubanische Freiheitskämpfer José Mar- tí, in seinen Händen hält er einen Jungen, sein Mantel weht, sein Finger zeigt drohend auf das Gebäude der Ständigen Vertretung. Der Bildhauer heißt Andrés González. González hat ein kleines Studio in Ha- vanna. Es ist vollgestellt mit Modellen von Fäusten und Armen und Büsten von Frei- heitskämpfern. Unter einer Plane liegt seine aktuelle Arbeit. Ché Guevara, nach- denklich, ein Buch auf den Knien. Gon- zález ist 48 Jahre alt, er studierte in Mos- kau unter Lew Kerbel, der Berlin mit einem Thälmann-Denkmal versorgte. Die Vorgaben für das Monument am Malecón stammten von Fidel Castro persönlich. Er wählte González’ Entwurf unter mehreren aus und empfing den Künstler. „Ich habe selten so einen ethischen Menschen getroffen. Ich habe in ihm den Geist von José Martí gespürt“, sagt Andrés González. Hätte er Lust, eine Plastik von Fidel an- zufertigen? „Fidel möchte das nicht zu seinen Leb- zeiten. Im Moment denkt niemand in Kuba daran, ihm ein Denkmal zu setzen. Die Diskussion um Elián hat unserem Volk die Werte zurückgebracht, die verloren ge- gangen waren. Die stärkste Waffe, die Kuba hat, ist unser Bewusstsein. Ich hoffe, dass ein Teil meiner Botschaften auch beim

Gegner ankommt“, sagt der Künstler. PRESS ENFOQUE / SIPA Castro auf einer Revolutionsfeier*: „In ganz Lateinamerika empfangen wie ein Held“

Das ist passiert. Vier Tage nachdem in einem fensterlo- Im vorigen Jahr richtete James Cason, sen Washingtoner Keller der neue Kuba- der unter George W. Bush bis 2005 die US- Report vorgestellt wurde, treten in einem Vertretung leitete, in der obersten Etage fensterlosen Keller des kubanischen Presse- des Hochhauses ein elektronisches Nach- instituts in Havanna drei amerikanische richtenband ein. Mit großen, roten, weit Studenten auf eine Bühne, um zurückzu- sichtbaren Buchstaben wurde die Bevöl- schlagen. Sie kommen aus New York und kerung von Havanna nun über Staatsbe- aus Kalifornien und renovieren als Mit- suche, Sportwettkämpfe und Katastrophen glieder der Venceremos-Brigade eine Schu- in aller Welt informiert. Unterbrochen le am Stadtrand von Havanna. Sie waren werden die Nachrichten von propagandis- auch im vergangenen Jahr schon hier. tischen Ausrufen wie: „Fidel Castro zählt Die Studenten sagen, dass sie von der zu den zehn reichsten Männern der Welt!“ US-Regierung Briefe mit Fragebögen be- oder „Der kubanische Pitcher José Con- kamen, in denen sie beantworten sollten, treras hat für die Chicago White Sox das wer ihre Reise organisierte, mit wem sie re- 13. Spiel in Folge gewonnen!“ deten, wie viel Geld sie ausgaben und Castro sah sich das zwei Monate an, wofür. Für den Fall, dass sie diese Fragen dann ließ er 138 hohe Fahnenmasten vor nicht beantworteten, wurden ihnen Strafen der Vertretung aufstellen, an denen 138 bis zu 9000 Dollar angedroht. Die Studen- schwarze Fahnen wehen, die den Blick auf ten wollen dagegen gerichtlich vorgehen. den amerikanischen Nachrichtenticker ver- Sie wollen Öffentlichkeit in den USA, sa- decken. Die 138 steht für den 138-jährigen gen sie, schaffen es aber nur in die Abend-

MARTIN H. SIMON MARTIN Befreiungskampf des kubanischen Volkes. nachrichten des kubanischen Fernsehens. US-Politiker Díaz-Balart Sie verschwinden zwischen Meldungen „Wenn der tot ist, ist es vorbei“ * In der Provinzhauptstadt Bayamo am 26. Juli. über die Fortschritte beim Energiesparen,

108 der spiegel 32/2006 bekam er noch mal 15 Jahre. Nach 22 Jah- ren Haft bat der spanische König um seine Freilassung, und weil Fidel Castro Ge- schäfte mit den Spaniern plante, ließ er ihn gehen. Menoyo flog nach Miami, machte eine Videothek auf, zeugte drei Kinder, aber blieb immer Kubaner. 1995 schrieb er Castro einen Brief und erklärte ihm, was anders werden müsse in Kuba. Castro empfing ihn, sie redeten drei Stunden lang. Dann flog er zurück nach Miami zu den Exilkubanern, mit denen er nichts anfangen konnte. Menoyo will ein freies Kuba ohne amerikanischen Einfluss. 2003 kam er nach Havanna zurück, um eine Opposition von innen zu gründen. Bis jetzt ist er nicht weit gekommen. Im Moment wohnt er in der Neubau- wohnung einer Freundin am Stadtrand von Havanna. An der Wand hängen fünf Ur- kunden, die er von obskuren amerikani- schen Organisationen für seinen lebens- langen Freiheitskampf erhielt. Castro lässt ihn hier leben, weil er ungefährlich ist. Er hält ihn wie ein exotisches Tier. „Vielleicht erinnere ich ihn auch an sei- ne Geschichte, seine ursprünglichen Pläne. Fidel wurde zum ersten Dissidenten sei- ner eigenen Revolution“, sagt Menoyo. „Aber wahrscheinlich passe ich einfach in irgendeine seiner Strategien.“ Der kubanische Parlamentspräsident Ri- cardo Alarcón dagegen wird von Fidel Castro als Weltmann eingesetzt. Er war 15 Jahre lang kubanischer Uno-Botschafter in New York, er kann plaudern und sehr ko- misch sein. Er sitzt im Salon seines Amts- sitzes, eine Zigarre in der Hand, auf seinen Knien den Bericht der „Kommission zur Unterstützung eines freien Kuba“ aus Wa- shington. Er hat ihn sich aus dem Internet INGOLF POMPE / LOOK INGOLF Altstadt von Havanna: „Bürger zweiter Klasse im eigenen Land“ Um alles auf Kuba kümmert sich Castro persönlich. die von einem Mann verlesen werden, der Aus diesem Grund ist auch Eloy Gu- Wer also soll ihn ersetzen? einen brikettgroßen Schnurrbart unter der tiérrez Menoyo noch am Leben. Castro hat Nase trägt und eine Handpuppe von Fidel ihn begnadigt, nachdem er ihn bestraft hat, Castro sein könnte. und er begnadigt und bestraft ihn immer heruntergeladen. Eine Woche bevor er of- Castro kümmert sich in Kuba um alles noch. Er hat Menoyos Leben geschrieben. fiziell veröffentlicht wurde. persönlich. Deswegen kann sich auch nie- Menoyo ist 72 Jahre alt. Er kämpfte mit „Zu diesem Zeitpunkt kannte ihn noch mand so richtig vorstellen, wer ihn erset- Castro gegen Batista. Sie wollten ein frei- nicht mal George W. Bush“, sagt Alarcón zen soll. Sein Bruder Raúl nuschelt und es Kuba, Brot und Freiheit für alle. Er be- und grinst. sieht aus wie ein alkoholkranker Rentner gleitete Castro auf seiner ersten Auslands- „Haben Sie ihn gelesen?“, fragt er. in einer Karnevalsuniform. Es gab immer reise nach Venezuela, er stand neben ihm, Ja. mal junge aufstrebende Politiker an Ca- als er die Bodenreform ausrief, und 1961 „Herzlichen Glückwunsch. Ich hab’s stros Seite, aber die verschwanden, als sie bot ihm Fidel Castro ein Ministerium an. nicht ganz geschafft.“ zu populär wurden. Roberto Robaina Aber da waren sie schon auf einem Er zündet sich die Zigarre an, nippt an etwa, der Anfang der neunziger Jahre ku- kommunistischen Weg, und Menoyo woll- seinem Kaffee und erzählt ein paar absur- banischer Außenminister wurde. Es heißt, te nicht mehr, sagt er. Er verließ Kuba 1961, de Geschichten aus seiner Zeit in New der spanische König habe Robaina gesagt, ging nach Miami und kam drei Jahre spä- York, als die „Schlacht der Ideen“ noch dass er in Zukunft auf ihn bauen werde. ter mit ein paar Freunden und Waffen im „Kalter Krieg“ hieß. Die kubanischen Re- Ein paar Tage später war der so Gepriese- Motorboot zurück, um in den Bergen ei- gierungsvertreter durften sich damals nur ne weg, die Partei, hieß es, habe dem Ge- nen Guerillakrieg gegen das kommunis- in einer 25-Meilen-Zone um den Columbus nossen Robaina eine neue Aufgabe ge- tische Kuba zu beginnen. Circle bewegen, und auf keinen Fall durf- stellt. Wie sich herausstellte, war es die Nach vier Wochen hatten sie ihn. Sie ten sie nach Brooklyn. Alarcón hat nie er- Aufgabe eines Parkwächters in Havanna. verurteilten ihn zu 25 Jahren Haft. Eigent- fahren, warum eigentlich nicht. Irgend- Immerhin durfte Robaina sein russisches lich hätten sie ihn hinrichten müssen, sagt wann fällt ihm der Bericht auf seinen Auto behalten. Es heißt, Fidel Castro Menoyo, er hat Fidel wohl sein Leben zu Knien wieder ein. Er legt die Zigarre ab, mochte ihn. verdanken. Nach einer Gefängnisrevolte reibt auf den Passagen herum, die er un-

der spiegel 32/2006 109 terstrichen hat, und seine Ge- und Benzin wollte, um nach Miami abzu- lassenheit fällt von ihm ab. hauen. Sie standen da auf der Rollbahn, „Was soll das heißen: ,Be- Cason, Castro und der kubanische Innen- schleunigung eines Regie- minister. Castro fragte Cason, ob Flugzeug- rungswechsels in Kuba?‘ Wieso entführungen in den USA bestraft würden. denkt Amerika über ein Leben Ja, sagte Cason. Gut, sagte Castro, ließ nach dem Tod von Fidel Ca- dem Kidnapper Benzin geben und befahl, stro nach? Außerdem gibt es die Bremsklötze wegzunehmen. noch einen geheimen Teil. Ich „Er kümmert sich um alles selbst, selbst möchte nicht wissen, was da um die beschissenen Bremsklötze. Das ist drin steht. Wir sind ein kleines kein Regime. Das ist ein Zirkus. Und er ist Land, und wir sind so dicht der Dompteur, er ganz allein. Wenn der tot dran. Viel dichter als der Irak. ist, ist es vorbei. Der muss noch nicht mal Sie müssen verstehen, dass wir kalt sein, dann fängt die Demokratie an.“ uns bedroht fühlen“, sagt er. Díaz-Balart wird die Meldungen vom Er zerpflückt den Bericht, in Krankenbett Castros sicher mit viel An- dem er sich ziemlich gut aus- teilnahme verfolgen. Er hat am 13. August kennt, dafür, dass er ihn nicht Geburtstag. Genau wie sein Onkel. Er wür- richtig gelesen hat. Er findet de seinen Geburtstag gern richtig feiern. es schändlich, dass amerikani- Das letzte Gefecht in der „Schlacht der schen Kirchen der Kontakt mit Ideen“ zwischen Kuba und Amerika ist kubanischen untersagt wird, ein Totentanz. In Miami jubelten sie, als dass humanitäre und medizini- die Nachricht von Castros Krankheit be- sche Hilfe illegal wird, dass Exil- kannt wurde. Zu früh, feuert Fidel Castro kubanern verboten wird, ihre vom Krankenbett zurück. Er schrieb einen Familien zu sehen. Er glaubt, Brief, der im kubanischen Fernsehen ver-

dass der Bericht vor allem dazu CREUTZMANN SVEN lesen wurde. Es gehe ihm gut. Seine Stim- diene, zuzuspitzen. Die beiden Leibarzt Selman: Produkt einer positiven Einstellung mung sei hervorragend. Länder aufeinanderzujagen. Im fast 50-jährigen Kampf mit Amerika „Das ist das, was die reaktionären Exil- Ist er mit dem neuen Bericht zur Unter- ist Fidel Castro selbst zur wichtigsten Waf- kubaner in Miami wollen“, sagt Ricardo stützung eines freien Kuba zufrieden? fe geworden. Er ist halb Patronenkugel, Alarcón. „Leute wie der Kongress-Abge- „Ja, ja“, sagt Díaz-Balart, „ich bin ja halb Gott. Er soll nur fünf Stunden am Tag ordnete Díaz-Balart wollen keine Flüge, von den Autoren konsultiert worden. Es schlafen, sagen die Kubaner. 1994, als sich keinen Handel, keinen Austausch, weil sie geht vor allem darum, die Restriktionen wütende Demonstranten in der Innenstadt keine zwischenstaatliche Normalität wol- aus dem ersten Bericht durchzusetzen. versammelten, soll Castro mitten in die len. Sie wollen die Krise. Und sie haben Kein Handel, kein Austausch, kein Touris- tobende Menge geschritten sein, bevor die eine Regierung, die auf einem Kreuzzug mus. Wir sind die Vereinigten Staaten von Polizei da war. Die Leute hörten auf zu gegen das Böse ist. Das ist für uns eine Amerika, wenn wir mit diesem totalitären schreien, sie klatschten, als sie ihn sahen. ziemlich gefährliche Kombination. Unsere Regime zusammenarbeiten, geben wir grü- Er rief das Jahr des Energiesparens aus. stärksten Verbündeten sitzen, so seltsam nes Licht für andere Nationen. Und wir Er organisierte eine eigene Olympiade in das klingt, im Pentagon. Die amerikani- müssen die Dissidenten unterstützen, die Kuba, die er eröffnete und beschloss. Aber schen Militärs haben festgestellt, dass Kuba unter diesem Diktator leiden.“ so lange das wichtigste Symbol zu sein keinerlei Bedrohung darstellt.“ Díaz-Balart hält kurz inne. zehrt an den Kräften. Castro hat sich ab- Für den Kongress-Politiker Lincoln „Diktator, was sage ich. Gangster. Ca- genutzt. Zuletzt taumelte er manchmal, Díaz-Balart in Washington wiederum sind stro ist ja weniger ein Diktator als ein Ma- einmal fiel er, brach sich die Kniescheibe, die Leute im Pentagon irgendwelche see- und niemand dachte, dass er jemals wieder lenlosen College-Absolventen, die nicht „Wir müssen die Dissidenten laufen würde. Aber er lief. wissen, worum es in Kuba wirklich geht. unterstützen, die Wenn man seinen Leibarzt, Eugenio Sel- Díaz-Balart ist ein Neffe von Fidel Ca- unter diesem Diktator leiden.“ man Housein, fragt, so war dies das Pro- stro. Seine Tante war Castros erste Frau, dukt einer positiven Einstellung und eines die beiden haben einen Sohn zusammen, vorbildlichen ethischen Charakters. „Fidel Fidelito, der später in Moskau Atomphysik fiaboss. Er hat meinem Vater schon 1948 wollte gesund werden. Und so wurde er studierte und heute Kubas Wissenschaft- gesagt: ,Al Capone war ein Idiot. Wenn du gesund“, sagt der Mediziner. Der kleine licher Berater ist. Díaz-Balarts Vater war eine Bank ausraubst, dann riskierst du, Mann, der bei Großveranstaltungen im- ein Jugendfreund von Fidel Castro und verhaftet zu werden. Es ist doch besser, du mer mit einem Arztkoffer am Rande steht, wurde später sein Feind, weil er unter Ba- stiehlst die Bank und wirst ein respektier- spricht, wenn man ihn nach Castros Ge- tista Politik machte. 1959 verließ Díaz-Ba- ter Bankbesitzer.‘ Er war immer ein Gangs- sundheit befragt, über das einzigartige Ge- lart als Vierjähriger mit seiner Familie das ter. Der hatte nie was für Kuba übrig, bis sundheitswesen im revolutionären Kuba, Land. heute nicht. Er macht alles für die Auslän- über kubanische Ärzte, die in aller Welt Hat er seinen Cousin Fidelito jemals der. Die Kubaner sind Bürger zweiter Klas- helfen, und über den 120-Jahre-Club, den wiedergesehen? se in ihrem eigenen Land.“ er vor ein paar Jahren gegründet hat. Für „Kein Interesse“, sagt Díaz-Balart. Er Warum ist er dann noch an der Macht? jene, die 120 Jahre werden wollen. sitzt in einem gesteppten Ledersessel in „Weil er mit Terror regiert, dieses fa- Er redet über eine Idee, nicht über einen seinem Washingtoner Büro, die Wände schistische Schwein“, sagt Díaz-Balart. Er Menschen. sind mit Fotos von kubanischen Opposi- erzählt, wie der Chef der US-Vertretung Das ist Castros letzter Schachzug in der tionellen behängt, im Vorzimmer klebt James Cason einmal von Castro nachts Schlacht der Ideen. Seine Verwandlung in eine große Kuba-Karte. „Es geht hier nicht zum Flughafen von Havanna bestellt wur- eine unsterbliche Idee. Er ist dem 120-Jah- um familiäre Beziehungen. Das ist nicht de, wo jemand ein kleines Flugzeug mit re-Club nicht beigetreten. Womöglich muss persönlich. Verstehen Sie?“ Passagieren und Piloten gekidnappt hatte Amerika bald einen Geist bekämpfen. ™

110 der spiegel 32/2006 Ausland

ten. Er sei viel zu dünn, als dass man damit CHINA jemanden niederschlagen könne. Ein Sonderantrag an die Provinzregie- rung in Wuhan ist nötig, um den Un- Spuren in der glücksort in Zigui besichtigen zu dürfen. Am Eingang des grauen Städtchens wacht ein Soldat, die Region ist wegen des Drei- Sperrzone Schluchten-Damms Sperrzone. Ortstermin beim gelähmten Polizist Jia klettert den Pfad hinab, den auch Fu gegangen ist, um nach dem Be- Fu Xiancai: Wurde der such auf der Wache in sein Dorf zu gelan- Regimekritiker zum Opfer einer gen. Im Hintergrund ragt die graue Wand

Racheaktion? DER SPIEGEL des Dammes empor. Nach einer Linkskur- Patient Fu (im Volkskrankenhaus in Yichang) ve stoppt er: „Hier war es. Wir haben das s ist Freitag, der 4. August, nachmit- „Sie verdrehen Fakten“ Gras gemäht, um Hinweise zu finden.“ tags um halb vier. Wie jeden Tag um 60 Zentimeter breit, berichtet er, sei die Ediese Zeit drängt sich im vierten nem „freundlichen“ Gespräch bei Polizei- Rutschspur gewesen, „65 Grad das Gefäl- Stock des Volkskrankenhauses von Yichang chef Wang Xiankui gewesen sei. „Um 10.46 le“ an dieser Stelle. Fu sei kopfüber rund eine Menschentraube. Die Tür zur Intensiv- Uhr ging der Alarmruf ein, um 11.18 Uhr vier Meter hinab auf Zement gestürzt, un- station öffnet sich um einen Spalt: Nach war der Leiter der Kriminalpolizei vor Ort. ter dem Abwasserrohre liegen. Man fand und nach lässt eine Krankenschwester die So wie es Vorschrift ist“, sagt Jia. ihn bewusstlos. Besucher hinein. Unter ihnen ist ein schlak- Das alles berichten die beiden in einem Für die Polizisten ist die Sache klar: Hier siger junger Mann mit langen Haaren, in Sitzungszimmer des Außenbüros der Yang- geschah kein Verbrechen. Doch es bleiben blauem T-Shirt und Bermudashorts. Fu Bin, tze-Stadt Yichang, das die Kontakte mit Fragen: Der Hang fällt nicht sofort steil ab, 23, schaut nach dem Patienten im Bett Ausländern kontrolliert. Beide tragen blaue Fu kannte den Weg gut, er nahm ihn fast Nr. 5 – seinem Vater Fu Xiancai, 47. Uniformhemden, auf der Brust stehen ihre jeden Tag. Er rutschte an zwei Zement- Der Bauer brach sich am 8. Juni sein Dienstnummern: 056570 und 062102. haufen, einem schmalen Baumstumpf und Genick, er wird nie wieder laufen können. Dem SPIEGEL-Korrespondenten er- einem Bäumchen vorbei. Warum hat er Es geht ihm heute ein bisschen besser. „Ich laubten die Behörden am vergangenen sich nicht festgehalten? kann meinen Arm wieder etwas bewegen“, Freitag als erstem Journalisten, vor Ort mit Unklar bleibt auch, ob die Polizisten an sagt er und hebt ihn ein paar Zentimeter in Ermittlungsbeamten, Ärzten und Fus Sohn Fus Händen Schmutz oder Gras fanden, die Höhe. „Aber von der Hüfte abwärts zu sprechen. Per Powerpoint werfen die die auf den Versuch hindeuten würden, spüre ich nichts.“ Fu atmet hastig und Offiziere Fotos und Schriftsätze an die den Sturz zu stoppen. Oder konnte er ihn schwer. In seinem Hals steckt ein Rohr. So Wand, ein Beamter schreibt jedes Wort gar nicht aufhalten, weil er bereits das Be- soll Schleim aus Luftröhre und Lunge ge- mit. Wenn der Außenbüro-Chefin eine Fra- wusstsein verloren hatte? saugt und ihm das Luftholen erleichtert ge nicht gefällt, unterbricht sie: „Dieses Erstaunlich ist, dass Fu – gelähmt und werden. Thema war nicht beantragt.“ geschockt, wie er war – sofort nach Einlie- Das Schicksal dieses geplagten Patienten Die Polizisten zeigen ein Foto von Fus ferung ins Krankenhaus immer wieder be- ist binnen weniger Wochen zum Symbol ausgelatschten Schuhen, den rechten hat er hauptete, er sei überfallen worden. Wie für Chinas Umgang mit kritischen Geistern bei dem Sturz verloren. „Hier sind die kaltblütig muss jemand sein, der in solcher geworden: Fu behauptet, er sei am Vor- Rutschspuren“, sagt Jia und zeigt auf die Lage eine Lüge auftischt? „Viermal hat er mittag des 8. Juni auf einem Pfad in der Sohle. „Ein klarer Beweis, dass Fu ausge- seine Aussage wiederholt“, bestätigt das Ortschaft Zigui brutal niedergeschlagen glitten ist.“ Es folgt ein Foto des Schwer- Polizisten-Duo: „Aber es kann nicht sein.“ worden. Hinter der Tat, so vermuten er verletzten: „Am Nacken ist keine Spur von Die Unfallchirurgen Du Yuanli und Li- und seine Freunde, steckten gedungene Blut, auch kein blauer Fleck. Ausgeschlos- ang Jie neigen der Polizeimeinung zu. Schläger, die ihm eine Abreibung verpas- sen, dass er geschlagen wurde. Die Wun- Auch sie fanden auf Fus Rücken keine sen wollten. den entstanden durch den Fall.“ Schlagspuren. „Solche Brüche wie der an Denn Fu gilt als unbequemer Mann: Er Auf einem anderen Foto liegt neben Fu seiner Wirbelsäule werden von einem kämpfte für höhere Entschädigungszah- ein 325 Gramm schwerer und 81 Zentime- schweren Sturz oder durch einen Auto- lungen an jene Dörfler, die dem gigan- ter langer Stock. „Er hat nichts mit den unfall verursacht“, erklärt Liang: „Wenn tischen Drei-Schluchten-Damm weichen Verletzungen zu tun“, beteuern die Polizis- Fu heftig geschlagen worden wäre, hätte mussten – und damit auch für er Blutungen im Gehirn ge- sich. Er schrieb Eingaben, gab habt.“ ausländischen Journalisten und Drei Stockwerke höher zum Schluss auch dem deutschen bleibt Fu bei seiner Aussage: ARD-Fernsehen ein Interview. „Das ist kein Platz, wo man Fu trug damit Chinas Probleme selbst herunterfallen kann. Sie nach außen, eine Todsünde in verdrehen die Fakten, ihre Be- den Augen der Funktionäre. weise halten den Tatsachen Die gehen nun in die Offensi- nicht stand.“ Er sei von dem ve: „Seine Version stimmt nicht“, Täter nicht nur in den Nacken sagen die Polizei-Oberstleutnan- geschlagen worden, berichtet te Jia Li und Hu Xinglong aus Zi- er schwer atmend, sondern gui. „Unsere Ermittlungen haben auch auf die rechte Wade. ergeben: Es gab keine Fremdein- Ein Polizeifoto zeigt an die- wirkung.“ Fu sei ausgerutscht ser Stelle einen schweren Blut- und einen Abhang hinunterge- erguss. Doch für die Polizisten

stürzt, so erklären sie. Gesche- / AP EUGENE HOSHIKO Jia und Hu ist dies kein Be- hen sei dies, nachdem Fu zu ei- Vertriebene Bauern: Kritik als Todsünde weis. Andreas Lorenz

der spiegel 32/2006 111 Sport

Team-Präsentation von Bayern München: Wie baut man eine große Mannschaft?

FUSSBALL Projekt Alltag Was bleibt von der WM, was lässt sich lernen aus dem märchenhaften Sommer 2006, was bringt die neue Bundesliga-Saison? Und wie hat sich der Lieblingssport der Nation verändert? Ein Trainer, ein Psychologe, ein Spielerberater und ein Torwart geben Antworten. Von Klaus Brinkbäumer

ach dem Rausch kommt der Kater, halb Wochen seit Jürgen Klinsmanns Rück- ser Halbzeit habe ich die ganze Zeit ge- es kommt der Alltag, und die Kunst zug. Und Jürgen Klopp, während der WM dacht: Wie geil ist das denn! Ich bin ein Fan Nist es, den Alltag so aussehen zu ZDF-Experte im Adlertrikot mit Retrochic, von Michael Ballack geworden, der seine lassen wie die Wochen des Rauschs. Geht sitzt im blauen Hemdchen des FSV Mainz Fähigkeiten perfekt in die Mannschaft ein- das? 05 auf grünen Polstern im Hotel The Mon- gebracht hat, das hat dieser Mannschaft „Das geht“, sagt Jürgen Klopp, „klar“, arch im bayerischen Bad Gögging, und er supergutgetan.“ sagt er, „in Mainz freuen sich alle auf die trägt Shorts, Dreitagebart und seine rand- Und was sind die Lehren aus alldem? Bundesliga, die ganze Stadt fiebert, Mainz lose Brille. Jürgen Klopp trinkt Apfel- Klopp sagt: „Ich brauche Talent, das ist ist ja Kleindeutschland.“ Und Jürgen schorle und raucht und bilanziert. immer Punkt 1. Unsere Jungs konnten ja Klopp meint damit, dass ganz Mainz eine Klopp sagt: „Es war eine gute WM mit alle richtig kicken, einer wie Klose wäre im Fanmeile sei, und dann sagt er, dass in guten Mannschaften, die sich neutralisiert Ausland längst ein Weltstar. Punkt 2: Jeder Mainz auf einen Rausch nicht der Alltag haben. Es war eine Bestätigung der alten Mensch ist leistungsfähiger, wenn sein Um- folge, sondern immer der nächste Rausch. Weisheit: Offensive gewinnt Spiele, De- feld ihm diese Leistung zutraut. Bei der Die 44. Saison der Bundesliga beginnt. fensive gewinnt Turniere. Ich habe viele WM sind unsere Jungs doch alle mit ei- Die 18. Weltmeisterschaft ist Geschichte. großartige Zweikämpfe und eine der bes- nem Grinsen eingeschlafen, und so wird Vier Wochen sind seit dem Fest und sei- ten deutschen Halbzeiten aller Zeiten ge- Verantwortung reine Lust und nicht Last. nem Berliner Finale vergangen, dreiein- sehen, gegen Schweden, und während die- Der Trainerstab muss überragend zusam-

116 der spiegel 32/2006 Das erste Problem des deutschen Fuß- balls ist eine gewisse Halbseidenheit. In Ober- und Regionalligen und auch noch in der zweiten Liga scheint es eher wenige Transfers zu geben, bei denen nicht Trainer oder Manager mitverdienen; junge deut- sche Spieler können sich in dieser Welt sel- ten auf Zusagen verlassen, und Ausländer werden hin- und hergeschoben ohne Sinn und Strategie. Durch diesen Dschungel kommen Talente eher zufällig nach oben, und das sind Leute wie der hochbegabte, beim FC St. Pauli aber in drei Regionalliga- Jahren lausig ausgebildete Innenverteidiger Ralph Gunesch, den Jürgen Klopp in die Bundesliga holte. In diesen unteren Ligen sind Leute zu- gange, denen es um schnelle, fette Beute geht und selten um eine Idee des Spiels. Und dann ist da das Problem, dass vie- le Clubs nicht besonders viel oder nicht das Optimale aus dem Geld machen, das sie zur Verfügung haben. Sogar in München. Jahr für Jahr klagen die Herren des FC Bayern ja, dass Italiener und Engländer mehr Fernsehgeld kriegen (richtig) und dass die Bayern deshalb nicht mithalten können (falsch). Wer ein paar Tage am Trainingsgelände an der Säbener Straße zubringt, lernt, dass auch in München nicht alles so professionell zugeht, wie es könn- te. Oder sollte. Auch die Bayern, das sagen Bayern, kaufen recht populistisch ein. Sie kaufen

BERND FEIL / MIS (L.); FABIAN BIMMER / AP (R.) BERND FEIL / MIS (L.); FABIAN für zehn Millionen Euro den Hamburger WM-Fanfest (in Hamburg): „Wie geil ist das denn!“ Verteidiger Daniel van Buyten, oberes Bundesliga-Niveau, aber keine Weltklas- menarbeiten, dies ist Punkt 3. Wenn man die pure Spaßveranstaltung, verglichen mit se, und für zehn Millionen den Kölner eine Vision hat und mutig ist und an seiner dem, was ich eine Klasse drunter erlebt Stürmer Lukas Podolski, den nicht einmal Vision gegen alle Widerstände festhält, habe – in Liga zwei geht es um Existenzen, Trainer Felix Magath haben wollte, doch kann man Leistung erwecken und am Le- da kämpfen sie gegen die Arbeitslosigkeit.“ sie lassen Stefan Kießling von Nürnberg ben halten.“ Er muss dann zum Mittagessen, in der nach Leverkusen wechseln, den eigene Jürgen Klopp, 39, als Spieler einst ein Hotelküche haben sie ein paar Hähnchen Scouts für stärker als Podolski halten. Ein ordentlicher Verteidiger, als Trainer mit zu wenig gebraten für die Mainzer Fuß- Spieler eines Konkurrenten spielt gut ge- Mainz zweimal beinahe und schließlich baller, und auch so etwas muss ein Bun- gen die Bayern – gesehen und gekauft. Sie doch noch in die Bundesliga aufgestiegen, desliga-Trainer regeln. verlängerten sehr früh so gut wie alle Ver- dort zweimal über den Abstiegsplätzen ge- Eine Reise durch Deutschland mit einer träge und waren handlungsunfähig, als in blieben, ist ein richtiger Star geworden Frage für alle Gesprächspartner: Wie Italien, wegen der Manipulationsaffäre, während der WM. Er hat uns den Fußball schlecht, wie gut, wie reformiert oder re- jede Menge Weltstars verfügbar wurden. erklärt mit Kringelchen und Pfeilchen, und formbedürftig ist der deutsche Fußball? Sie kaufen keinen Spielgestalter, obwohl damit hat er etwas verändert im Fuß- Noch hat Jürgen Klopp sie nicht beant- sie einen brauchen. Sie kümmern sich ballland. Denn Klopp sorgte dafür, dass wortet, und jetzt ist er erst einmal weg. nicht einmal ums eigene Tor. Stammtische, die früher über Blinde und Wie gut, wie schlecht? Der Altmeister Mehmet Scholl nannte faule Säcke schimpften, nun über „Rau- Es ging da manches durcheinander im den Altmeister Oliver Kahn mal „Johannes ten“ und „doppelte Sechser“ und die „fla- Juni und im Juli, es gab während dieser Heesters“ (weil Kahn ungefähr so flink aus che Vier“ diskutieren. Er will, so beschreibt Diskussion über Leistung und Wirkung dem Tor herauslaufe, wie Heesters, 102, er seine Aufgabe, „der Art, wie über Fuß- von Jürgen Klinsmann, über Soll und Sein auf die Bühne kommt). Das war ein ball geredet wird, Nahrung geben“. der Bundesliga ein Kuddelmuddel aus Pa- Scherz, aber Kahn ist 37 Jahre alt, und den Aber nun ist er zurück im Trainings- rolen und Polemik. Das hatte mit unter- Ersatzmann Michael Rensing finden auch lagerleben, seine Jungs kommen gerade schiedlichen Interessen zu tun. Wahr die, die mit ihm trainieren, „am Ende nicht vom Pool, und Klopps Aufgabe wird in die- scheint zu sein, denn das sagen alle, die stark genug“. Müsste nicht langsam Robert ser am Freitag beginnenden Saison wie im- man fragt, dass der deutsche Spitzenfuß- Enke, der Hannoveraner, ins Bayern-Tor? mer darin bestehen, seine Mannschaft so ball keine Nachwuchssorgen mehr hat, Oder Roman Weidenfeller aus Dortmund? stark zu machen wie die vom letzten Jahr. nicht einmal mehr Rückstände in Trai- Letztlich geht es darum, wie diskret, wie Nach all den Abgängen. Mit all den Neuen. ningslehre und Sportwissenschaft. geschickt, wie konsequent man eine Mann- „Das macht Laune in der ersten Liga“, sagt Wenn man so eine Weile durchs Land schaft baut, damit sie eine große wird. Klopp, „weil: Es gefällt uns da, und der fährt und hier und dort ein bisschen bohrt, Wie Arsène Wenger bei Arsenal? Wie Abstiegskampf in der Bundesliga ist doch hört man im Grunde immer das Gleiche: Frank Rijkaard in Barcelona? Wie Thomas

der spiegel 32/2006 117 DOMINIK ASBACH / BILDERBERG (L.); VLADIMIR RYS / GETTY IMAGES (R.) / GETTY IMAGES (L.); VLADIMIR RYS / BILDERBERG DOMINIK ASBACH Mainzer Trainer Klopp, Hannovers Torhüter Enke: „In Mainz folgt auf den Rausch immer der nächste Rausch“

Schaaf und Klaus Allofs in Bremen? Ma- Herr Becker kann unterhaltsam sein und Mannschaft noch sehr jung seien: „Es be- nager Uli Hoeneß mochte das nicht disku- Sekunden später wieder ziemlich ernst. steht also Hoffnung.“ tieren, Vorstandschef Karl-Heinz Rum- „Wir haben ja viele Mitläufer, die Klins- Und einer jener, die den deutschen Fuß- menigge gilt seit Monaten als missgelaunt. mann glänzend zusammengeführt hat, ball der Zukunft prägen sollen, ist ein Es gibt beim FC Bayern Menschen, die den aber wir haben wenige Stars“, sagt er. Mann namens Robert Enke, einer, der Club schon für schlagkräftiger hielten. „Wir haben bei der WM die Teams ge- nicht als Spieler bei der WM war, nur als Wenn man durch die Fußball-Republik schlagen, die wir schlagen mussten, Costa Fan, obwohl ihn seine Kollegen zweimal Klinsland fährt in diesen Wochen des kol- Rica war die schwächste Mannschaft im zum besten Torwart der Liga gewählt ha- lektiven Entzugs, in denen der Vordenker Turnier, ungefähr so stark wie Waldhof ben. Enkes Ära könnte demnächst als inzwischen auch nur noch ein Phantom Mannheim, trotzdem gab es zwei Gegen- Nummer zwei und 2008 dann als Nachfol- ist, scheint es ganz sinnvoll, einen Abste- tore. Die wirklich Großen, Argentinien ger Jens Lehmanns beginnen. Dieser Enke, cher nach Luxemburg zu machen, denn und Italien, konnten auch zu Hause nicht 28, sitzt nun auf einer Terrasse am Masch- dort, Rue des Arquebusiers, steht ein rau geschlagen werden, nicht im Feld. Wir sind see von Hannover, trinkt Cranberry-Schor- verputztes Haus, Nummer 6, und am Ein- weit gekommen, auch deswegen, weil le, er trägt ein ockerfarbenes T-Shirt und gang hängt ein kleines Messingschild: „Me- Michael Ballack entschieden hat, seine Kinnbärtchen, er hat gewaltige Oberarme. diocrity sucks“ steht darauf, Mittelmäßig- Rolle defensiv zu spielen, und weil die Robert Enke sagt, dass die WM „nicht keit nervt. Und drinnen steht Michael Bal- Trainer das zugelassen haben. Das Heulen viel Neues, wenige Überraschungen“ ge- lack aus Pappe, Trikots der Nationalspieler wird dann losgehen, wenn der Alltag der boten habe, „kein Gegentor zu bekom- Brdaric, Mertesacker, Neuville, Ballack EM-Qualifikation zeigt, wo wir wirklich und Schneider hängen an der Wand, ein stehen.“ UMFRAGE: FUSSBALL-BUNDESLIGA goldener Ball des FC Chelsea liegt auf ei- Wenn er gefragt wird, welche Vereine nem flachen Regal. klug an der Verbesserung ihrer Mann- „Am kommenden Wochenende Der Anwalt Michael Becker, 52, Bade- schaften arbeiten, nennt Becker Werder beginnt die Fußball-Bundesliga. schlappen, Shorts, graues T-Shirt, etwas Bremen, den Hamburger SV, ihren Mög- strubblige Haare, ist einer der Mächtigen lichkeiten entsprechend Mainz 05 und den Welche Mannschaft wird deut- im deutschen Fußball und sicherlich einer 1. FC Nürnberg. Das Problem? Nun, das scher Meister?“ der Schlauesten, da er nach dem Bosman- Problem sei zum einen, dass es das Mäze- Urteil von 1995 seinen Job beim Europäi- natentum, all diese Patrone, die ihre Mil- FC Bayern München 43% schen Rechnungshof aufgab und Spieler- lionen in ihren Verein werfen, eben nur berater wurde; Becker ist der Mann, der noch in Spanien, Italien und England gebe. 11% Werder Bremen Michael Ballack den perfekten Karriere- Und dass es vielerorts an der richtigen Hal- weg ebnete und sich auch selbst so zu ei- tung mangele. „Das taktische Ziel ist zu nem wohlhabenden Mann gemacht hat. oft, vor 66 000 Begeisterten irgendwann 2% Hamburger SV „Es könnte nach hinten losgehen“, sagt das 1:0 zu machen und dann unverletzt ins Michael Becker über die Stimmung im Entspannungsbecken zu kommen“, sagt FC Schalke 04 großen Nachbarland, „die Euphorie ist ja Becker, und man könnte vermuten, dass er 2% eigentlich eine Mogelpackung.“ Er meint über Bayern München spricht. damit, dass die vielen Millionen, die die „Die Bundesliga ist seit Jahren nicht 5% andere WM auf den Fanmeilen begleitet haben, erstklassig. Ich wundere mich immer, dass keine Fußballer seien, sondern Party- sich alle so wundern, wenn deutsche 23%: „Habe kein Interesse an Fußball“ People, die nun weiterziehen nach Hocken- Teams sich in der Champions League so TNS Infratest für den SPIEGEL vom 1. bis 3. August; heim oder zur „Tokio-Hotel-World-Tour früh verabschieden“, sagt er, aber dann rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ nach Dinslaken und Aue“. sagt er auch, dass viele Fußballer der WM-

118 der spiegel 32/2006 men, das war das oberste Ziel. Italien stand und wollte seine Familie beim Torjubel Und nun muss er gehen, Torwarttrainer mit neun Mann hinter dem Ball“. analysieren. Jörg Sievers wartet auf ihn. Und viele Spieler seien ausgelaugt ge- Etwas verbissen, die Enkes. Ziemlich vieles von dem, was Klins- wesen, die Brasilianer vor allem. Robert Enke ist auch deshalb einer der manns Leute forderten, gibt es längst im Und viele Fernschusstore habe es gege- interessanteren Bundesliga-Spieler, weil er deutschen Fußball. Überall. In den Bun- ben, was am schnellen und stets flatternden eine Biografie hat. Er war ein Jungstar, desliga-Städten kommen zwar die Fitness- neuen Ball liege, der für die Stürmer ge- aber ungeduldig, damals in Mönchenglad- trainer nicht aus Arizona, sondern bloß fertigt wurde und gegen die Torhüter. bach, und darum ging er nach Lissabon, aus Hannover-Zentrum oder Mainz-Mom- Und Jürgen Klinsmann habe unrecht ge- „nie wusste ich zu schätzen, was ich hatte“, bach; aber das Team Klinsmann hatte ja habt mit seiner Ausgangsthese, dass mo- sagt er. Weil ihm Benfica nicht professio- auch Geld nach Belieben zur Verfügung, derner Fußball schnell und immer nach nell genug war, ging er nach Barcelona, weil der Rausch der WM jede Maßnahme vorn gespielt werde; „die meisten Natio- aber dort kam er unter die Räder, als der rechtfertigte, und darum wurde Deutsch- nalmannschaften haben gar nicht so ge- Holländer Frank de Boer ihn öffentlich kri- lands Nationalmannschaft unter Klins- spielt, aber so spielen natürlich die besten mann in wenigen Wochen globalisiert. Die Vereinsmannschaften, Arsenal und Bar- „Die Euphorie“, sagt der Berater Schleifer kamen aus Amerika, die E-Mails celona. Es geht immer darum, dass eine von Michael Ballack, „ist ja aus dem Internet und die Motivations- Mannschaft Zeit hat und sich einspielt eigentlich eine Mogelpackung.“ techniken aus der Welt der Manager, und und Automatismen lernt“, sagt Robert der Scout war ein Schweizer. Enke. Mainz 05 dagegen kalkuliert mit 27,5 Und darum werde auch in der Bundes- tisierte, und sehr schnell wurde er aussor- Millionen Euro für eine Saison, aber das liga der Trend zur Spezialisierung weiter- tiert. „In so einer Stadt, bei so einem Ver- macht die vor allem von Oliver Bierhoff gehen, zum Training in Kleingruppen. ein bekommst du dann dermaßen viel auf verbreitete These von den altmodischen Enke sagt: „Es hat Gründe, warum be- den Deckel, dass dir Hören und Sehen ver- Trainern, die unfähig seien, Macht zu tei- stimmte Vereine international immer wie- geht“, sagt er. Enke zog weiter zu Fener- len und Neues zu wagen, nicht wahrer. der etwas reißen, und es hat Gründe, war- bahçe Istanbul, wo ihn die eigenen Fans Die Generation Lattek, diese sprach- um Portugal, Frankreich, Italien und nach dem ersten Fehler mit Telefonen und arme Spezies der Haudegen-Trainer, lebt in Deutschland im Halbfinale waren.“ Flaschen bewarfen, und darum tat er et- Wahrheit nur noch an Tresen und beim Wesentlich sei, und das sei natürlich ein was, was Profifußballer selten tun: Er kün- „Doppelpass“, dem Fußballfrühschoppen Vorbild für die Bundesliga, „dass man das digte und wurde arbeitslos. am Sonntagvormittag im Deutschen Sport- Spiel und den Wettbewerb in seinen Es dauerte, bis er in Teneriffa wieder ei- fernsehen. Heute haben alle 18 Mann- ganzen Facetten annimmt, sich durch nen Job bekam, zweite spanische Liga, schaften Trainer, die reden können und nichts vom eigenen Weg abbringen lässt. dann kam Hannover 96, und als Enkes Fachleute um sich scharen, „jeder Bun- Da braucht man Vertrauen unter allen Be- Tochter Lara mit einem ziemlich kompli- desliga-Trainer versucht ja das Bestmögli- teiligten, da braucht man tatsächlich …“, zierten Herzfehler geboren wurde, hatte che zu erreichen, unter den Umständen, sagt er und macht eine Pause und kichert der Torwart längst verstanden, dass das unter denen er arbeiten muss“, das sagte in und sagt dann: „Eier, um jetzt mal mit Olli Leben Wendungen parat hat. Enke sagt, Bad Gögging Jürgen Klopp. Kahn zu sprechen.“ heute schätze er sehr, was er habe. Er kön- Und in Bremen, in einem Büro im We- Robert Enke wuchs in Jena in Ost- ne Fehler besser hinter sich lassen als serstadion, sitzt auf einem Lederstuhl ein deutschland auf. Die erste WM, an die er früher und einfach weiterspielen. Und die, Mann in Jeans und blauem Hemd, mit sich erinnern kann, war die von 1990, und die ihn regelmäßig weiterspielen sehen, blauen Augen und Ohrring, Kaffee und während des Endspiels, kurz vor Andreas so ruhig und so klar, sagen, es gebe kei- Wasser trinkt er; und neben ihm steht eine Brehmes Elfmeter, drehte Vater Enke den nen Besseren: Der Kerl werde 2010 für Schautafel, Thema: „Synchronizing“, und Ton ab – Vater Enke ist Psychotherapeut Deutschland im Tor stehen. auf der Schautafel stehen Begriffe wie „Lö-

der spiegel 32/2006 119 Sport

Zaudern, Rennen oder Stehen, Wollen oder Nichtwollen; guter Fußball entsteht durch die Bereitschaft und die Fähigkeit, Hochleistung zu erreichen, und dafür braucht es Voraussetzungen. „Für den Leistungsbegriff interessiert sich jeder Sportler“, sagt Uwe Harttgen, „junge Menschen werden aber leicht unterschätzt. Jungen Sportlern werden immer nur Vorga- ben gemacht: Aufstehen, Training, Schule, Hausaufgaben, Essen, Schlafen, alles ist vor- gegeben, und dann wächst bei vielen jungen Spielern eine uninspirierte Haltung.“ Der Psychologe fährt nach dem Ge- spräch in den Urlaub, während die Profis draußen auf dem Platz längst wieder trai- nieren. Und wer wird gewinnen am Ende? Die Bayern, trotz allem, aber wieder nur na- tional, das sagen einige, mit denen man über den Fußball redet in diesen Wochen nach der WM. Schalke, womöglich. Le- verkusen, eventuell. Der HSV, nun ja, falls er Stürmer hat, die hin und wieder aufs Tor schießen. Oder Dortmund? Nein, am Ende schaffen es die Bremer, das sagen die meis-

DARREN WALSH / CHELSEA FC / EMPICS / CHELSEA WALSH DARREN ten; und die Bremer könnten es sogar in Ex-Bayern-Spieler Ballack (M.) im Training bei Chelsea London: Wollen oder Nichtwollen Europa weit bringen, weil es ihnen inzwi- schen gelingt, ihre Besten zu halten, Miros- sungen suchen“, „Ideen geben“, „inte- pi sind Sieger; es geht darum, überhaupt lav Klose etwa, den sie schlau bezahlen, grieren“, das sind die guten Begriffe, aber ein Konzept zu entwickeln und die Kom- großzügig nämlich bei großer Leistung, für da stehen auch böse wie „heucheln“, „er- plexität von Leistung zu verstehen, in allen jede Qualifikation zur Champions League niedrigen“, „nötigen“. Bereichen die Grundlagen für Leistung zu mit rund 450000 Euro extra. Das sind die Killer einer Gemeinschaft. schaffen und an diesem Konzept trotz Es ist darum auch nach der WM wie im- „Moin, Moin“, sagt der Mann zur Be- „Bild“ und Lokalpresse und trotz hekti- mer vor einer Bundesliga-Saison: Man grüßung. Uwe Harttgen, 42, ehemals Bun- scher Funktionäre festzuhalten. Darum wird sehen, was kommt und wer siegt, kei- desliga-Profi, ist seit vier Jahren Psycholo- also geht es, das sagt Uwe Harttgen: „Er- ner weiß es, denn auch der flatternde Plas- ge im Nachwuchsleistungszentrum von folg ist nur bedingt planbar, weil Zufällig- tikball ist rund. Und wie immer gibt es die Werder Bremen. Und er sagt, dass man keiten im Spiel enthalten sind, aber Leis- skeptischen Menschen wie Michael Becker aus den vier WM-Wochen natürlich eine tung ist planbar. Man kann eine Dynamik und euphorische wie Jürgen Klopp. Menge lernen könne, aber das sei viel- schaffen, man kann in kleinen Schritten Als der Trainer Klopp seinen Spielern schichtig, denn das Leben sei etwas kom- immer besser werden. Man braucht eine im Trainingslager in Bad Gögging halbe plizierter als die Fußballwelt und ihre Idee, dann Kontinuität, man muss diese Hähnchen besorgt hat und vom Mittages- Schlagworte und -zeilen. sen zurückkommt, setzt er sich wieder in Gesehen haben wir bei der WM viele Fußball nach Klinsmann heißt: die Lobby, auf ’nen Kaffee und ’ne Kippe, Mannschaften mit nur einem oder gleich Konzept schlägt Talent, wie die Mainzer sagen, und spricht vom gar keinem Stürmer. Gesehen haben wir Arbeit kann Brasilien schlagen. Niveau der Liga. „sich selbsterfüllende Prophezeiungen wie Jürgen Klopp sagt, dass sie im deutschen die Angst der Spanier vor dem Ausschei- Fußball vor der WM doch alle gedacht hät- den, wenn es ernst wird, oder die Angst Idee vermitteln können und die Zeit ha- ten, nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein – der Engländer vorm Elfmeterschießen“ ben, lange daran zu arbeiten. So kann man „und nun wissen wir, wir rennen nicht vor- (Harttgen). Gesehen haben wir all diese die Spieler daran beteiligen, sie davon aus, aber wir fallen auch nicht ab. Es ist Helden, die vorab gefeiert worden waren überzeugen, und am Ende finden sie zu alles in Ordnung in der Liga, Kosten und und dann nicht weiter auffielen. dieser selbstbewussten Haltung, die die Ertrag stehen im besten Verhältnis. Wir ha- Ronaldinho zum Beispiel – das sagt aber Nationalmannschaft hatte.“ ben eine sensationelle Atmosphäre und nicht Harttgen, das hat Jürgen Klopp ge- Dann hat ein Konzept „Strahlungswir- sind gut aufgestellt im internationalen Ver- sagt – „wusste ja gar nicht, dass er so kung“, so nennt es der Psychologe, der in gleich“. Doch umstritten ist auch dies. schlecht spielen kann“. Bremen für Jugendinternat und Talentför- Der Fernsehsender Premiere hat sich ge- Gesehen haben wir vor allem, und das derung zuständig ist und im gelegentlichen rade die deutschen Rechte am italieni- sagt nun wieder Uwe Harttgen in Bremen, Austausch mit dem zweifellos neugierigen schen, englischen und französischen Fuß- „dass man Leistung entwickeln kann“. Für Bundesliga-Trainer Thomas Schaaf nach ball gesichert, sogar die Rechte an „Chel- Trainingswissenschaftler ist dies nun keine Verbesserungen fahndet. sea TV“, um auch künftig Michael Ballack sensationelle Erkenntnis, aber man kann Vielleicht ist es ja so, dass dies eine der zeigen zu können. Am frühen Samstag- nicht behaupten, dass sie sich im Fußball größten Leistungen Klinsmanns war: Er nachmittag, vor der Bundesliga, soll die schon durchgesetzt hätte: Konzept schlägt hat, zum Beispiel durch die Einbeziehung neue Sendung laufen, der Arbeitstitel Talent, Arbeit kann Brasilien schlagen. des Psychologen Hans-Dieter Hermann, heißt: „Welcome to the real world“. Und es geht nicht darum, dass nur eine Mauer eingerissen. Fußball ist, nach Mit diesen Worten begrüßte José Mou- Klinsmanns Konzept richtig wäre, denn Klinsmann, nicht mehr so plump wie vor rinho, Chelseas Trainer, Ballack in Lon- auch defensivere Trainer wie Marcello Lip- Klinsmann, ist nicht länger Kämpfen oder don. ™

120 der spiegel 32/2006 Prisma

COMPUTER Dreidimensionaler Eiffelturm ie Nutzer von Fotoportalen im In- Dternet können viele ihrer Aufnah- men möglicherweise bald auch in 3-D betrachten. Microsoft hat vergangene Woche auf einer Konferenz in Boston eine neue Technologie vorgestellt, die digitale Fotos in virtuelle dreidimensio- nale Modelle verwandelt. Aus verschie- denen Aufnahmen ein und desselben Motivs, beispielsweise des Eiffelturms, er- rechnet die Software ein 3-D-Modell, das es Nutzern erlaubt, die Szenerie aus ver-

schiedenen Blickwin- (R.) (L.); AKG / IFA-BILDERTEAM KIMBALL keln zu betrachten Leopard Vormenschen bei der Jagd (Illustration) oder sich sogar auf das Motiv zu oder BIOLOGIE von ihm wegzubewe- gen. „Wo auch immer Leute Fotos gemein- Schlau durch Flucht sam nutzen, wird es möglich, diese zu enschen haben ein großes Gehirn, weil sie ihre Feinde nicht überlisten bündeln und dadurch Mweil ihre Vorfahren einst Beute- könnten, folgert Shultz. Intelligenz da- viel sinnvoller nutz- tiere waren und nur die Schlauesten un- gegen befördere offenbar die Verteidi- bar zu machen“, er- ter ihnen den Räubern entkamen. Diese gungsfähigkeit oder verbessere die läutert Richard Szelis- provokante These präsentieren Forscher Fluchtstrategie. Dies habe vermutlich ki von der Microsoft- um Susanne Shultz von der University einst auch für die Vorfahren des Men-

FRANK AUSSIEKER / VISUM FRANK Forschungsabteilung, of Liverpool jetzt in den „Biology Let- schen gegolten. „Als wir aus den Bäu- welche die „Photo- ters“ der britischen Royal Society. Die men herabkletterten, standen wir plötz- synth“ genannte Software zusammen Forscherin untersuchte das Jagdverhal- lich in einem viel gefährlicheren Le- mit Experten der University of Wa- ten von Raubtieren wie Jaguaren, Leo- bensraum“, sagt Shultz. Nur in der shington entwickelt. Auch für die Pro- parden und Pumas in Afrika und Süd- Gruppe und mit Hilfe sozialer Intelli- grammierung virtueller Spaziergänge, amerika und stellte fest, dass diese mehr genz und schlauer Strategien – beför- etwa durch Städte, könne das System Tiere mit kleinem Gehirn erbeuteten als dert durch ein wachsendes Gehirn – genutzt werden. Mit der Marktreife der solche mit größerem Denkorgan. Düm- habe sich der Urmensch in der Savanne Software rechnet Szeliski noch in die- mere Tiere würden zuerst gefressen, durchschlagen können. sem Jahr.

BOTANIK DNA, die anschließend repariert wer- den“, erläutert Hohn. Bei diesen Repa- Stress in der Familie raturarbeiten würden die Genschnipsel neu kombiniert. Das verblüffende Re- eraten Pflanzen unter Stress, hin- sultat: Obwohl diese Rekombinationen Gterlässt dies sogar Spuren bei ihren selbst gar nicht weitervererbt werden, Nachkommen. Zu diesem Ergebnis zeigen die Nachkommen der gestressten kommen jetzt Forscher um Barbara Gewächse ähnliche Reparaturspuren. Hohn vom Friedrich Miescher Institut Über vier Generationen hinweg konn- für biomedizinische Forschung in Basel ten die Forscher die Stressreaktion im Fachmagazin „Nature“. Hohn und nachweisen – obwohl die Nachkommen ihre Kollegen setzten Exemplare der dem Stress gar nicht mehr ausgesetzt Ackerschmalwand ultravioletter Strah- waren. Hohn spricht von einer Art „Ge- lung aus oder traktierten die Gewächse dächtnis“, mit dessen Hilfe die Infor- mit einem Stoff, der einen Schädlings- mationen weitergegeben werden: „Wie befall vortäuscht. Derart behandelt, ver- der Mechanismus genau funktioniert,

änderte sich das Erbgut von Zellen in FOCUSJEREMY BURGESS / SPL AGENTUR ist noch nicht bekannt.“ den Pflanzenstengeln und Blättern. „Es entstehen vermutlich Brüche in der Ackerschmalwand 122 Wissenschaft · Technik

KOMMUNIKATION Sabotage am Internet-Telefon elefongespräche übers Internet könnten künftig in unver- Tständlichem Gestotter enden. Das Münchner Technologie- unternehmen Infineon hat eine Anwendung zum Patent an- gemeldet, mit der sich die „Voice over IP“ genannte Technik stören lässt. Dabei analysiert ein Gerät im Computernetzwerk Datenpakete und identifiziert diejenigen mit Sprachinhalt. Wird eine Serie von Sprach-Datenpaketen erkannt, fügt die Maschine automatisch störende „Pseudo-Datenpakete“ in den Kommunikationsstrom ein. Gleichzeitig hält ein Filter die Sprach- und Pseudo-Datenpakete zurück – während andere Datenpakete ungehindert passieren. Im Patentantrag schreibt Infineon: „Dadurch wird die Tonqualität (zum Beispiel von ‚Voice over IP‘) wie gewünscht verschlechtert.“ Bevor die ver- zerrten Sprachfetzen die Leitung verlassen, werden die Pseu-

do-Datenpakete wieder herausgefiltert – die Ursache der IMAGES PEDRO PEREZ / MAURITIUS Störung bleibt versteckt. Mit weitreichenden Folgen: Telekom- Mädchen beim Telefonieren übers Internet munikationskonzerne, die sowohl Telefon- als auch Internet- Dienste anbieten, könnten damit die wachsende Konkurrenz vidern, verschiedene Dienstklassen anzubieten.“ Wer eine durch Anbieter günstiger Internet-Telefonie spurlos beseitigen. höhere Übertragungskapazität benötige, weil er auch übers Dies sei aber gar nicht das Ziel, beteuert Infineon-Sprecher Internet telefonieren wolle, müsse dann einfach mehr dafür Reiner Schönrock: „Die Erfindung ermöglicht es Internet-Pro- bezahlen.

PSYCHOLOGIE Kasten: Unter amerikanischen Jugendli- Kasten: Ich schätze, dass ungefähr jeder chen werden Zungenspaltungen immer Hundertste, der sich tätowieren oder „Zungenspaltungen beliebter. Auf einschlägigen Internet- piercen lässt, süchtig danach wird. Meist Seiten findet man auch erstaunlich viele fängt es mit einem einzelnen Körper- immer beliebter“ Bilder von aufgespaltenen Penissen. schmuck an und steigert sich dann im- Andere Menschen schneiden sich ganze mer mehr. Erich Kasten, 52, Gliedmaßen ab, weil sie sie als fremd SPIEGEL: Und die Erklärung? Professor am Insti- und überflüssig empfinden. Wieder an- Kasten: Der Mensch ist ein Suchtwesen: tut für Medizinische dere werden sexuell erregt durch den Wenn uns etwas Spaß macht, dann Psychologie der Uni- Anblick eines Arm- oder Beinstumpfs. wollen wir immer mehr davon. Nor- versität Magdeburg, Die Ursachen solcher Störungen sind malerweise verteilen wir unsere Süch- über die Lust am weitgehend unbekannt. Sie lassen sich te auf viele verschiedene Bereiche: Schmerz und die auch kaum therapieren. Wir haben ein bisschen Sex, trinken Sucht nach Piercings SPIEGEL: Wie verbreitet ist die Sucht manchmal Alkohol und genießen ab und Tätowierungen nach Körperveränderungen? und zu ein gutes Essen. Wenn aber jemand ganz viel Frust SPIEGEL: Ihr Buch „Body-Modification“ erlebt und auf einmal zeigt bizarrste Formen der Körperver- eine einzelne Sache fin- änderung, vom Tattoo bis hin zu Penis- det, in der er völlig spaltungen oder Amputationen. Wo aufgeht, dann wird er liegt die Grenze zwischen normal und krankhaft süchtig. Diese krankhaft? Leute verkehren zudem Kasten: Wer seinen Körper verändert, häufig in Cliquen, die um attraktiver auszusehen, und es bei ähnlich denken. Wer einem oder zwei Tattoos belässt, ist si- 30 Piercings hat, wird cherlich noch normal. Bei depressiven normalerweise auf der oder psychisch gestörten Menschen je- Straße schräg ange- doch kann Körperveränderung schnell schaut. Wenn aber alle pathologisch werden. Sie merken, dass Freunde so viele Pier- sie sich besser fühlen, wenn sie sich cings haben, ist das zum Beispiel ein Piercing stechen las- schnell wieder ganz sen. Die Bewältigung der Schmerzen normal. führt zur Ausschüttung von Endorphi- nen, die Euphorie auslösen und süchtig Erich Kasten: „Body-Modifica- machen können. Diese Menschen pier- tion – Psychologische und medi- cen oder tätowieren sich dann von Kopf zinische Aspekte von Piercing, bis Fuß oder machen noch viel schlim- Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen“. mere Sachen mit ihrem Körper. / IMAGO KOLVENBACH Ernst Reinhardt Verlag, Mün- SPIEGEL: Nennen Sie uns Beispiele! Bauchnabelpiercing chen; 392 Seiten; 29,90 Euro.

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MEDIZIN Gnade der späten Geburt Ein Vierteljahrhundert nach Entdeckung von Aids sterben jeden Tag 8000 Menschen an der Seuche – vor allem in Afrika. In Industrieländern wie Deutschland hingegen ist die Krankheit zu einem behandel- baren chronischen Leiden geworden. So nimmt die Sorglosigkeit zu, die Zahl der Neuinfektionen steigt.

ina Löffler, 26, spritzt keine Drogen, bis hin zur Internierung. Die Geschlechts- von jungen Homosexuellen in New York, sie ist keine Prostituierte, sie lebt krankheit war aus dem Nichts gekommen, die an einer sehr seltenen Form von Haut- Tnicht promisk, nicht leichtsinnig, sie ihr war alles zuzutrauen. Damals schienen krebs litten. Seither hat das vernichtende war auch nie in Afrika. Die Frankfurterin zwei Wahrheiten festzustehen. Erstens: Die Virus, das sie alle umbrachte, rasend schnell gehört zu keiner der sogenannten Risiko- Zahl der Aids-Kranken verdoppelt sich alle den Erdball erobert. Mehr als 25 Millionen gruppen für das todbringende HI-Virus, 12 bis 18 Monate. Zweitens: Wohl alle wer- Menschen sind tot. Mehr als 40 Millionen wie sollte sie sich schon damit anstecken? den früh und qualvoll sterben – erst die tragen das Virus in sich. In weiten Teilen Und doch ist es passiert. Ihr erster Freund Homosexuellen, mit denen die Seuche be- der Welt ist die Seuche außer Kontrolle. hat sie nicht nur entjungfert, sondern auch gann, dann die übrigen Infizierten. In Afrika verheert das Virus Völker und infiziert. Sie war 14 Jahre alt, er 18, vier Der SPIEGEL hatte als erstes deutsches Volkswirtschaften. Millionen Kinder wach- Jahre war sie mit ihm zusammen. Sie nahm Printmedium über die rätselhafte Krank- sen auf ohne Eltern; Lehrer, Ärzte, An- die Pille, um sich vor einer Teenie-Schwan- heit berichtet (Heft 22/1982). Später hat er wälte, Ingenieure, Offiziere und Beamte gerschaft zu schützen. An Aids dachte sie dem Thema allein 17 Titelgeschichten ge- sterben in ihren ersten Berufsjahren. In In- nie – und er wohl auch nicht, denn wie sie widmet – und Anlass zu Optimismus gaben dien, China und Osteuropa droht das Virus jetzt weiß, hat er sich nebenher auf vieler- sie selten: Dieses Virus, das seine Form be- den gleichen Weg der Zerstörung einzu- lei Weise ungeschützt vergnügt. ständig ändere, sei zu trickreich, als dass schlagen. Jeden Tag sterben weltweit 8000 2000, da war sie 19, musste die Arzthel- Menschen es jemals besiegen könnten. Menschen an Aids, 13000 stecken sich an. ferin wegen einer Operation ins Kranken- Wenn nichts Eingreifendes geschehe, so Im Jahr 2025, so erwarten Forscher, wird es haus. Dort wurde ein Bluttest gemacht: der Tenor, nahe ein apokalyptischer Zu- 100 Millionen Infizierte geben. „HIV-positiv“; sie konnte es nicht fassen. stand – und für weite Teile des Planeten Eine Schutzimpfung für die Gesunden Vier Wochen lang wand sie sich in Heul- stimmt diese Prognose mehr denn je. ist nicht in Sicht, Heilung für die Kranken krämpfen. „Ich hatte so viele Fragen im Nächste Woche kommen im kanadi- auch nicht – die Bilanz von 25 Jahren mil- Kopf: Habe ich meinen neuen Freund an- schen Toronto mehr als 20000 Forscher, liardenteurer Forschung wäre erbärmlich, gesteckt? Werde ich je eine Familie haben? Aktivisten und Betroffene zur Welt-Aids- gäbe es jetzt nicht Menschen wie Tina Löff- Kann ich meinen Beruf weiter ausüben?“ Konferenz zusammen. Dort werden sie Bi- ler, Ralf Lorenz oder Christian Stegnitz, Still ist es geworden um die Aids-Epide- lanz ziehen über den nunmehr 25 Jahre drei Frankfurter mit HIV. mie in Deutschland – fast, als gäbe es sie währenden Kampf gegen das Schreckens- Tina Löffler ist eine junge hübsche Frau. nicht mehr. Noch in den achtziger und virus. Ihr Urteil wird zwiespältig ausfallen. Sie lacht viel, sie macht viel, sie hat einen frühen neunziger Jahren war Aids das be- Im Juni 1981 berichteten Mediziner von Hund, leidenschaftlich spielt sie Fußball. stimmende Gesundheitsthema und der Ku- fünf jungen Schwulen in Los Angeles, die Sie sagt: „Ich lebe ganz normal, wie jeder mulationspunkt aller Ängste. Gesundheits- an einer bis dahin seltenen Variante der andere auch.“ Sie arbeitet in einem Kran- politiker Peter Gauweiler (CSU) forderte Lungenentzündung erkrankt waren. Wo- kenhaus. Zweimal im Monat besucht sie staatliche Maßnahmen gegen HIV-Positive chen später informierten andere Mediziner Schulklassen, um aufzuklären über HIV PETER SCHINZLER (L.); TIM WEGNER (R.) PETER SCHINZLER HIV-Patienten Stegnitz, Löffler: „Ich lebe ganz normal, wie jeder andere auch“

124 der spiegel 32/2006 NIBSC / SPL / AGENTUR FOCUS HI-Viren auf menschlicher T-Zelle: Trickreiche Angreifer und Aids. „Man sieht es den Infizierten ler das Virus sogar ganz – bis 7000 HIV-Neuinfektionen nicht an“, erzählt sie den Teenies. Niemand es sich wieder Aufmerksam- 6000 in Deutschland, geschätzt verkündet die Botschaft glaubwürdiger. keit verschafft: Gerade be- Aus ihrer Infektion macht sie kein Ge- merkte die Arzthelferin einen 5000 heimnis, aber sie will kontrollieren, wem, Herpes-Ausschlag an ihrem wann und wie sie es sagt, und darum ist Rücken. Er hat zu tun mit 4000 „Tina Löffler“ auch nicht ihr richtiger ihrem geschwächten Immun- Name. Denn trotz allem ist Aids auch in system. „Des iss voll die 3000 Deutschland ein Stigma geblieben – die Seusch“, seufzt sie in über- Lustseuche der Nimmersatten, die Pest der spitztem Hessisch. 2000 Schwulen und Heroinsüchtigen; die Krank- Alle drei Monate geht sie heit ist weniger salonfähig als Krebs, ob- in das „Haus 68“, das HIV- 1000 wohl sie hierzulande bei weitem nicht so Center der Frankfurter Uni- Quelle: Robert-Koch-Institut tödlich ist. Immer noch weiß nicht jeder, Klinik. Dort lässt sie sich Blut dass sich HIV eben nicht beim Händedruck abnehmen und erfährt, wie 19798183 85 8789 9193 95 97 99 01 03 05 oder Wangenkuss überträgt. es um sie steht. Im Augen- Nach dem anfänglichen Schock hat Tina blick schwirren in jedem Milliliter ihres tyrium, weil das eigene Immunsystem Löffler zu leben gelernt mit den Viren in Bluts 16000 HI-Viren, kein schlechter Wert. vernichtet war: eine Kaskade von Infek- ihrem Blut. Sie hat die Erreger nicht wei- Aber zum Zeitpunkt ihrer Diagnose waren tionen, Tumoren, Auszehrung, Invalidität, tergegeben an den Freund, den sie zum es nur 5000. Irgendwann werden es Hun- dann die Erlösung durch den Tod. Zeitpunkt ihrer Diagnose hatte. Vor zwei- derttausende sein: „Es kommt der Tag, an Haus 68, ein unförmiger Betonklotz, war einhalb Jahren hat sie einen neuen Partner dem ich Medikamente schlucken muss – eine spezielle Station, ein Frontlazarett in ei- gefunden. Schutz beim Sex ist für das Paar für den Rest meines Lebens.“ Doch auch nem gespenstischem Blitzkrieg. Kaum hat- selbstverständlich. Gemeinsam denken sie davor fürchtet sie sich nicht. te sich Krankenschwester Michaela Bracone jetzt über Kinder nach, und wie ihre Ärz- Bis in die neunziger Jahre hinein hätten ein Gesicht eingeprägt, da war der dazu- te ihr versichern, spricht nichts dagegen. Mediziner einer Patientin wie Tina Löffler gehörige Mensch auch schon gestorben. Die Virus-Übertragung auf den Säugling wohl geraten, das Leben im Eiltempo zu HIV war ein Lebensvernichter, wie ihn ist dank moderner Medikamente sehr un- genießen. Wer damals HIV-positiv war, Ärzte und Pfleger noch nicht gesehen hat- wahrscheinlich. „Wegen HIV“, sagt Tina musste sich nach menschlichem Ermessen ten; machtlos waren sie, und darum, sagt Löffler, „mache ich mich nicht verrückt.“ über seine Rentenlücke keine Sorgen ma- Bracone, hatte die Atmosphäre damals et- So ist das im Jahr 25 der Pandemie, zu- chen. Auf die mehrjährige Inkubationszeit was ganz Unvergleichliches: „Da hat sich mindest in Deutschland. Oft vergisst Löff- ohne größere Beschwerden folgte ein Mar- keiner über kleine Probleme des Alltags

der spiegel 32/2006 125 aufgeregt.“ Die Dramatik der täglichen Ereignisse überragte alles. Das ist vorbei. Michaela Bra- cone muss nachdenken, wann in Haus 68 zuletzt jemand ge- storben ist. Das HIV-Center versorgt jetzt mehr als 2000 Pa- tienten und ist damit die größte Aids-Ambulanz Deutschlands. Ansonsten ist es ein ganz nor- maler medizinischer Betrieb ge- worden, nichts erinnert mehr an das Elend der frühen Jahre. Die HIV-Infizierten, die hier ein- und ausgehen, sind nicht spindeldürr, sie haben keine Kaposi-Sarkome im Gesicht; sie wirken munter und gesund. Ihre Lebenserwartung, sagt Schlomo Staszewski, der Leiter des HIV-Centers, „gleicht sich langsam der der Restbevölke-

rung an“. JÖRG MODROW / LAIF Mit HIV lässt es sich in Aids-Tote in Kenia: Apokalyptischer Zustand – weil die richtigen Pillen fehlen Deutschland mittlerweile gut leben – längst nicht so gut wie ohne, aber immerhin. Globale Seuche Ralf Lorenz*, 38, weiß erst seit Okto- HIV-Infizierte 2005, in Millionen 0,720,72 1,6 ber 2005, dass er HIV-positiv ist. In sei- Osteuropa und nem Umfeld wissen nur vier Leute davon, 1,2 Europa Zentralasien seine Mutter zählt nicht dazu. Auch auf 0,87 Nordamerika Ostasien seiner Arbeitsstelle in der IT-Abteilung ei- 0,51 nes Frankfurter Großkonzerns darf nie- 0,3 Karibik mand davon erfahren, „dann wäre meine Nordafrika und Karriere gelaufen“, glaubt er. Süd- und Naher Osten Südostasien Mit Leuten wie sich selbst geht er gern 77,4,4 hart ins Gericht. „Früher hätte ich gesagt: Selber schuld, der hätte sich ja schützen 1,8 können, jeder weiß, wie das geht.“ Darum 0,07 ist ihm die Tatsache seiner Infektion auch Südamerika 25,8 Schwarzafrika so peinlich. „Ich schäme mich unsagbar.“ Australien, Er hatte immer „Safer Sex“ im Kopf, Neuseeland sagt er. Selbst mit seinem Freund, mit dem er seit sechs Jahren zusammen ist, habe er Quelle: UNAIDS/ World Health Organization immer Kondome benutzt, ihn habe er jetzt auch nicht angesteckt. Aber irgendwann freut sich über „die Gnade der späten Ge- HAART standen Todgeweihte auf und gin- hat sich Lorenz unter Inkaufnahme von burt“, deswegen wird er weiterleben, gen wandern. Hospize schlossen mangels Risiken einem anonymen Abenteuer hin- „auch wenn das Thema Aids natürlich Sterbenden. Anfangs fürchteten viele, dass gegeben in einem Darkroom. Und da, ver- nicht mehr aus dem Kopf geht, vor allem sich die wandlungsfähigen Viren darauf mutet er, sei es wohl geschehen. beim Sex. Alles ist schwieriger“. einstellen würden. Doch bislang ist die Als er seinem Partner bange davon be- „HIV“, urteilt Staszewski, „ist für die Therapie wirksam wie am ersten Tag. richtete, „haben wir beide geheult“. Sein meisten Patienten eine gut beherrschbare Lorenz’ Körper ist jetzt Schauplatz einer Freund hielt zu ihm, und das hat Lorenz chronische Krankheit geworden.“ Ähnlich Schlacht wie beim klassischen Showdown darin bestärkt, „dass wir zusammen- wie eine infektiöse Form von Diabetes, von James-Bond-Filmen. Den Viren geht’s gehören“. Jetzt ist die Infektion bereits wenn es so etwas gäbe. Immer noch sterben an den Kragen. Ihre Zahl wird in nur Ta- fortgeschritten. In jedem Milliliter seines auch in Deutschland Menschen an Aids, gen oder Wochen dramatisch sinken – bis Bluts schleppt er 300000 Viren herum. Er etwa 750 im vergangenen Jahr. Die meisten kein Test in seinem Blut überhaupt noch ist chronisch müde, schlapp im Sport, neu- haben die Therapie zu spät begonnen oder HI-Viren nachweisen kann. erdings wachsen Haare auf seiner Zunge, ihre Medikamente nicht genommen. Lorenz’ Immunsystem wird sich erho- kürzlich hatte er eine Lungenentzündung. Für die anderen, vor allem für die frisch len, seine jetzt dezimierten T-Zellen, wich- Es ist so weit: Seit zwei Wochen muss Infizierten, kann Staszewski viel tun. Seit tige Kräfte seiner Abwehr, werden auf na- Lorenz die Medikamente schlucken, die rund zehn Jahren gibt es die Kombinati- hezu normales Niveau emporschießen. das Schicksal von Infizierten wie ihm so onstherapie HAART („Highly Active Anti- Nur geheilt wird er nicht sein. Die Aids-Vi- dramatisch verändert haben. Lorenz ist retroviral Therapy“). US-Mediziner hatten ren verharren im Unterschlupf; sobald Lo- guter Dinge: „Ich werde die Pillen neh- herausgefunden, dass sie drei verschiedene renz aufhört, sie mit den Medikamenten men, und alles wird in Ordnung sein.“ Er antiretrovirale Substanzen miteinander unter Dauerbeschuss zu nehmen, treten kombinieren mussten, um einen durch- sie wieder hervor, dann vielleicht sogar in * Name geändert. schlagenden Effekt zu erzielen. Dank stärkerer Form. Das darf nicht passieren.

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der Schauspieler Klaus Schwarzkopf und der Tennisprofi Michael Westphal. Im Au- genblick sind hierzulande etwa 49 000 Menschen HIV-infiziert. Zwei Drittel wis- sen davon. 20000 haben das Vollstadium von Aids erreicht und werden mit anti- retroviralen Medikamenten behandelt. Bei 85 Prozent von ihnen, so Staszweski, „sind keine Viren mehr nachweisbar“. Jedes Jahr kommen rund 2500 Neuin- fektionen hinzu, der Großteil Schwule. Je mehr Aids seinen Schrecken verliert, desto mehr wächst auch die Risikobereitschaft. Schon gibt es Anzeichen, dass Kondome bei manchen Homosexuellen wieder ver- pönt sind. Wenn ein potentieller Sexual- partner jung und gesund aussieht, so den- ken sie neuerdings wieder, dann wird er wohl auch HIV-negativ sein. Für heterosexuelle, nicht drogensüchti- ge Frauen und Männer in Deutschland ist das HIV-Infektionsrisiko unterdes fast ver- schwindend gering geblieben. Tina Löffler

TIM WEGNER hatte einfach großes Pech – so wie Leute, Pflegeleiterin Bracone, Mediziner Staszewski: „Wir haben auf alles eine Antwort“ die vom Blitz getroffen werden. Dennoch rät der Epidemiologe Ulrich Marcus vom Christian Stegnitz* war ein Alptraum telbar; meldete er sich zurück, verlöre er Berliner Robert-Koch-Institut den Heteros deutscher Seuchenbekämpfer. Er hat es seine Rente und wäre ein Fall für Hartz IV. nach wie vor zu Kondomen. Stärker als krachen lassen, früher. Am Tage war er So war das damals: Wer Aids bekam, durch HIV seien Frauen nämlich von Kreditsachbearbeiter der Dresdner Bank wurde sofort erwerbsunfähig geschrieben. Chlamydien bedroht, sexuell übertragba- in Frankfurt. Abends ging er aus, ziemlich Das fiele heute niemandem mehr ein. ren Bakterien, die zwar nicht zum Tod, immun gegen alle Botschaften der Aids- Am Anfang schluckte Stegnitz zur HIV- aber oft zur Unfruchtbarkeit führen. In den Aufklärung. Er wusste, wie sich das Virus Therapie 20 Pillen am Tag nach strengem Großstädten seien schon bis zu zehn Pro- überträgt, Kondome hat er trotzdem nicht Reglement. Manche musste er nachts ein- zent der jüngeren Frauen infiziert. benutzt. „Ich habe alle halbe Jahre einen nehmen, für andere durfte er nichts Fett- Was war der Grund dafür, dass Deutsch- Test gemacht“, erzählt er, „und wenn er haltiges im Magen haben, manche mussten land vergleichsweise glimpflich davon- wieder negativ war, konnte ich eben wei- immerzu gekühlt bleiben. Viele Kranke ka- gekommen ist? In den achtziger Jahren termachen.“ Rational könne er sein Ver- men mit den Stundenplänen nicht zurecht. glaubten manche Experten, dass sich schon halten heute nicht erklären; er habe eben Die Hersteller haben sich Mühe gegeben, damals mehrere hunderttausend Deutsche immer das Risiko gesucht, so sei er halt. es ihnen leichter zu machen. Jetzt nimmt infiziert hätten. Eine Schlüsselrolle in der Als er im März 1988 von seinem Arzt Stegnitz gegen seine HI-Viren nur noch Abwendung der Katastrophe spricht Mar- hörte, dass er positiv sei, hat er das ohne drei normalgroße Pillen am Tag, alle auf ei- cus den Prostituierten zu. Die Profis im Emotion hingenommen. Mit dem Thema nen Schlag um die Mittagszeit. Rotlichtgewerbe hätten frühzeitig auf Kon- „habe ich mich danach acht Jahre lang In den USA ist sogar gerade die Einmal- domen bestanden – und damit das Entste- nicht weiter befasst“. Bis 1996. Da wurde am-Tag-Pille zugelassen worden. Dank raf- hen von eigenständigen Infektionsketten bei dem Raucher Speiseröhrenkrebs fest- finierter Tricks erreichen alle Inhaltsstoffe unter Heteros verhindert. In Afrika war gestellt. Außerdem hatte er in jedem Milli- den Organismus in der richtigen Reihen- das ganz anders. liter Blut 7,5 Millionen HI-Viren. Er kam folge zur rechten Zeit. Dort wünscht sich Staszewski jetzt mehr ins Haus 68, sah anderen beim Sterben zu Manche therapierten HIV-Patienten kla- Engagement der Deutschen. In der Ent- – und wollte unbedingt leben. gen zwar noch über ernste Nebenwirkun- wicklungshilfe spiele Aids noch kaum eine Er unterzog sich der Chemotherapie, gen. Sie leiden unter unkontrollierbaren Rolle. „Was wir hier gelernt haben“, sagt gleichzeitig bekam er die Kombinations- Durchfällen, die es ihnen unmöglich ma- er, „das müssen wir in die Welt bringen.“ präparate. Er war 42 Jahre alt. Seine Ärzte chen, die Wohnung zu verlassen. Bei an- Mit einer Klinik in Lesotho, wo fast jeder taxierten seine Lebenser- deren verändert sich die Vierte HIV-positiv ist, hat Staszewski nun wartung auf ein bis zwei Fettverteilung im Körper: eine Partnerschaft vereinbart. Ärzte von Jahre. Nach über 20 Dienst- Die Wangen werden schmal, dort sollen in Frankfurt lernen, ihren Pa- jahren reichte er die Er- der Hintern wird schmerz- tienten zum Überleben zu verhelfen. werbsunfähigkeitsrente ein. haft knochig, obwohl der Das ist eine der guten Nachrichten, die Das ist es, was ihm immer Bauch hervortritt. Doch vie- die Teilnehmer der Welt-Aids-Konferenz noch leid tut. Wer konnte le Nebenwirkungen können von Toronto vernehmen werden: Über 1,3 ahnen, dass er alles überle- die Mediziner inzwischen Millionen Aids-Patienten auf der Welt be- ben würde? Jetzt ist er 52 abstellen oder lindern. Stas- kommen jetzt moderne lebenserhaltende und bei guter Gesundheit; zewski: „Wir haben auf al- Medikamente. Zugang dazu haben auch die größte seiner Beschwer- les eine Antwort.“ immer mehr arme Menschen in der Dritten den in Zusammenhang mit Der Weg dahin ist frei- Welt – aber längst nicht alle. Aids ist das Nichtstun. Er lich gepflastert mit Toten: Drei Millionen Kranke, vor allem in würde so gern wieder arbei- In den vergangenen 25 Jah- Afrika, werden in diesem Jahr sterben, ten, aber auf dem Arbeits- ren sind 18000 Deutsche an weil ihnen die richtigen Pillen fehlen. markt wäre er kaum vermit- SPIEGEL-Titel 23/1983 HIV gestorben – darunter Marco Evers

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Götter von heute sind wir“ Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann über die Lust am Genuss, den Esstisch als Opferaltar und das komplizierte Projekt einer gelungenen Mahlzeit

Kaufmann, 58, forscht am Centre Natio- nal de la Recherche Scientifique in Paris über Alltagstätigkeiten wie Putzen oder Wäschewaschen und deren Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen. Für sein neues, soeben auf Deutsch erschie- nenes Buch befragte er Familien nach ihren Koch- und Essgewohnheiten*.

SPIEGEL: Herr Kaufmann, wieso haben Sie Ihr neues Werk ausgerechnet einer Oster- pastete gewidmet? Kaufmann: Als ich ein Kind war, hat meine Familie Ausflüge mit dem Motorrad unter- nommen, Hunderte Kilometer durch Frank- reich. Im Zentrum dieser Fahrten stand das Picknick. Immer hatte meine Mutter diese Pastete dabei. Heute macht sie die nur noch zu Ostern. Sobald ich davon esse, zieht die Erinnerung auf: eine Familie, die etwas Schönes erlebt. Ich bin versessen aufs Es- sen. Doch meine Lust auf Osterpastete ent- springt dem Wunsch nach Geborgenheit. Für mich schmeckt die Pastete nach Familie. SPIEGEL: Das erinnert an das berühmte Ma- deleine-Gebäck in Marcel Prousts Roman- zyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“: In Tee getränkt, löst es in dem Hel- den Erinnerungen an glückliche Momente der Kindheit aus. Kaufmann: Ja. Es ist ein altes Bedürfnis des Menschen, ein bestimmtes Essen mit besonderen Momenten in Verbindung zu

bringen. Früher waren es Festtage: der FOODPIX / MAURITIUS Truthahn zu Erntedank, der Karpfen zu Restaurantbesucher: „Wir streben danach, unser Leben intensiver zu spüren“ Silvester. Heute verschaffen wir uns auch im Alltag solche besonderen Momente: Menschen wechseln mühelos zwischen Genusses. Doch je mehr uniformes Fast- Sushi, Enchiladas, Straußenfilet – alles schnellen und aufwendigen Mahlzeiten hin food im Angebot ist, desto mehr wächst Versuche, sich für Augenblicke aus dem und her. Manche verbinden sogar beides insgesamt das Bedürfnis nach Speisen, die Trott herauszustehlen. Wir streben da- miteinander: Eine der Familien, mit denen irgendwie besonders sind. Die Leute sind nach, mehr zu erleben und dadurch un- ich Interviews geführt habe, kaufte zur Fei- wild auf Rezeptbücher und gucken wie ser Leben intensiver zu spüren. er eines Tages mal bei McDonald’s ein. Das verrückt Kochsendungen. SPIEGEL: Die Erfolgsgeschichte haben Eltern und Kinder SPIEGEL: Die wenigsten probieren die Ge- gewöhnlicher Fastfood-Ge- dann zu Hause verzehrt wie richte dann allerdings aus. Stattdessen rei- richte spricht dagegen – auch gewohnt: von Porzellan und ßen sie weitere Rezepte aus Zeitschriften in Ihrem koch- und genuss- mit Silberbesteck. und tapezieren damit ihre Küchenschränke. lustigen Land. Allein für Bur- SPIEGEL: Unter den 14 Millio- Kaufmann: Ja und? Wichtig ist doch, dass ger geben die Franzosen im nen übergewichtigen Kindern dieser Fetzen Papier eine neue Geschmacks- Jahr 2,5 Milliarden Euro aus. in der Europäischen Union ist erfahrung überhaupt möglich machen wür- Kaufmann: Fastfood und Ge- ein derart bürgerlicher Um- de. Das Leben besteht nun mal auch dar- nuss schließen sich nicht aus. gang mit Fastfood doch wohl in, dass der Mensch verschiedenste Pro- Im Gegenteil: Die meisten eher selten. jekte ständig hin und her bewegt. Das ist Kaufmann: Die Familie stamm- ein permanentes Kino im Kopf: Man er- * Jean-Claude Kaufmann: „Kochende te tatsächlich aus dem schi- wägt dies und das, sieht sich in dieser und Leidenschaft“. UVK, Konstanz; 372 Sei- THOMAS BREGARDIS / ANDIA THOMAS cken 16. Pariser Bezirk. Na- jener Rolle – und hält vieles für denkbar. ten; 19,90 Euro. Das Gespräch führte die Redakteurin Soziologe Kaufmann türlich sind Wohlhabende und So ist es auch mit den Rezepten. Selbst Katja Thimm. „Versessen aufs Essen“ Gebildete die Pioniere des wenn es abends doch nur wieder eine Tief-

128 der spiegel 32/2006 kühlpizza wird: In Gedanken erlebt man gehen öfter zum Essen aus oder greifen zu Und auch die Gläubigen bildeten so eine sich vielleicht schon als tatkräftigen Kü- Aperitif und Kerzen, um aus den Mahlzeiten Gemeinschaft. Im Grunde ist unser Ess- chenchef und leckt sich die Lippen, wenn zu Hause kleine Ereignisse zu machen. tisch das Nachfolgemodell der Opferaltäre man ein Rezept bloß durchliest. SPIEGEL: Das Essen soll darüber hinweg- – und wir Menschen sind in der gleichen SPIEGEL: Das klingt, als sei Rezeptesam- täuschen, dass man sich nicht viel zu sagen Situation wie damals: Wir suchen Gemein- meln erst einmal eine Ersatzhandlung für hat? schaft beim Essen. Und die Götter von ungelebte Freuden. Kaufmann: Kaum etwas ist so schwer wie heute sind wir selbst: unsere kleine Fami- Kaufmann: Manchmal ist das so. Es ist ver- Gespräche zwischen Paaren. Und trotz- lie, die Freunde, die wir bekochen. rückt, was ein Forscher über Menschen dem meinen wir, ein Paar müsse einander SPIEGEL: Zumindest widmen manche Gast- erfährt, wenn er ihnen beim Kochen und jederzeit etwas Wesentliches mitzuteilen geber den Essensvorbereitungen derart Essen zuschaut. Die Küche ist ein Hort haben. Dabei ist so ein dauernder funda- viel Energie, als beköstigten sie Götter. psychologischer Erkenntnisse; da Kaufmann: Auch das ist ein Ver- offenbart sich alles: Sehnsüchte, such, dem Alltag zu entfliehen. Konflikte, Dramen, Selbstbetrug. Gute Gastgeber kreieren ein SPIEGEL: Erzählen Sie doch mal. Kunstwerk: das gute Essen. Klar, Kaufmann: Allein schon die Ent- es wird zerstört. Doch wenn alles scheidung: „Was essen wir heu- nach Plan verläuft, erschaffen te?“ Derjenige, der einkauft und sie dadurch ein noch ausgefeil- kocht, will alle bei Laune halten, teres Kunstwerk: ein paar Stun- doch was dem einen Freude be- den geteilten, unbeschwerten Ge- reitet, mag der andere gar nicht. nusses. Und dann soll die Mahlzeit – zu- SPIEGEL: Bis es so weit ist, müssen mindest in bildungsnahen Famili- Gastgeber viele Hürden nehmen. en – irgendwie auch noch gesund Kaufmann: O ja. Am Anfang über- sein. Eine der befragten Frauen wiegt meist das wohlige Gefühl, hat zum Beispiel einen Kabeljau- für gute Freunde ein schönes Es- Tick entwickelt, eine wahre Mis- sen zu bereiten. Doch irgendwann sion im Namen der Omega-3- wirbelt man in der Küche, und es Fettsäuren. Aber Mann und Kin- wird einem schlagartig bewusst, der hassen Kabeljau. Also püriert auf welches Abenteuer man sich sie ihn oder versteckt ihn in eingelassen hat. Nicht nur die Or- Eintöpfen zwischen Allerlei. Die ganisation und die Arbeit, nein, Familie schmeckt ihn trotzdem viel schlimmer: das Gefühl, zu und meckert. Manchmal macht sie versagen. Das ist höchster Stress – dann am nächsten Tag Tiefkühl- aber er holt einen aus dem Alltag pizza. So vermeidet sie Streit und heraus. erhält die Anerkennung, die sie SPIEGEL: Bei aller Unbill: Von wel- sich wünscht. chen Glücksmomenten haben Ihre SPIEGEL: Beim Essen fällt also die Interviewpartner berichtet? Entscheidung über den Familien- Kaufmann: Einige erleben trance- frieden? ähnliche Zustände wie Kinder im Kaufmann: Das ist oft so. Gemein- Sandkasten: Man formt Teig zwi- same Mahlzeiten sind die Bühne schen den Händen, man erschafft einer Familie: Jeder kann eine eine Welt. Da packt es einen, da Rolle spielen oder aus der Rolle schält man begeistert fünf Kilo

fallen. Oft sind sie der einzige An- GUENTER BEER / VISUM Spargel, pult zwei Kilo Erbsen, da lass, bei dem die Familienmitglie- Familienmahl (auf Mallorca): Jeder kann aus der Rolle fallen kennt man keine Müdigkeit. Man der zusammentreffen – und häufig bearbeitet Gemüse – und bereitet missglückt schon der Auftakt, weil sich mentaler Austausch oft gar nicht so wichtig. einen freundschaftlichen und familiären plötzlich jeder in die Gruppe fügen muss: Auch Bemerkungen über scheinbare Ne- Moment vor. Das ist die hohe Kochkunst das Kind, das weiterspielen möchte; der bensächlichkeiten verbinden – eben auch des Alltags. Ein magischer Moment. muffelige Teenager, der kein Wort spricht; ein Gespräch darüber, was man gerade isst. SPIEGEL: Und hinterher zerreißen sich die der Mann, der weiterwerkeln will. Meist Hinter vielen Gerichten verbirgt sich eine Geladenen den Mund: „Was war das denn fehlt das Korsett verbindlicher Regeln: So- Familiengeschichte. Und wenn man sie er- für ein Wein?“ Oder: „Die Suppe: super, bald man den Löffel erhebt, steht jedes zählt, bestärkt man das Gefühl von Zusam- aber mal ehrlich – der Fisch: viel zu faserig!“ Mal der Familienzusammenhalt auf dem mengehörigkeit. Seit je geht es bei Mahl- Kaufmann: So ist es häufig. Und das Bitte- Spiel. zeiten darum, dass die Anwesenden sich re ist: Alle tun es, jeder zieht Bilanz. Nicht SPIEGEL: Wie anstrengend! Dabei sagt Paul als Gruppe empfinden. Der Ursprung liegt nur das Essen wird hinterher kommentiert, Rozin, Ernährungspsychologe an der Uni- im Opferfest: In vielen Religionen opferte auch die Stimmung, die anderen Gäste, die versity of Pennsylvania, ein gelungenes man Lebensmittel auf einem erhöhten Al- Unterhaltung. Und wenn alle gegangen Essen sei für manche Menschen ein wich- tar – und die Götter waren, welches Glück, sind, geht auch der Gastgeber seine inne- tigeres Vergnügen als Sex. bescheiden: Sie haben bloß symbolisch ge- re Liste durch und quält sich: War es ein Kaufmann: Das macht es ja so heikel! Und gessen. gelungener Abend, waren die Gespräche wenn alles gutgeht, birgt eine gemeinsame SPIEGEL: Also konnten die Gläubigen an- interessant? Hat sich das ersehnte Gefühl Mahlzeit ja auch ungemeine Möglichkeiten: schließend ordentlich zulangen. von Gemeinschaft eingestellt? Oder waren Allein sich über den Geschmack der Speisen Kaufmann: Und ob! Sie haben sich direkt wir doch eher eine distanzierte Tischge- zu unterhalten kann lustbetont und fleisch- vom üppig gedeckten Altar bedient. Da- sellschaft und die Filets matschig? lich sein. Manche Paare machen sich das zu- hinter steckte der Wunsch, sich durch das SPIEGEL: Hatte Ihre Mutter damals ähn- nutze, wenn ihr Leben zur Routine wird. Sie geteilte Mahl mit den Göttern zu vereinen. lichen Stress mit ihrer Osterpastete?

der spiegel 32/2006 129 Kaufmann: Nein. Kochen gehörte zu ihrer festgefügten Rolle. Anders als die Gast- geber heute hatte sie keine Wahl: Es gab diese Familienausflüge, und sie musste sie ausrichten. Dafür hat auch niemand ihr Können in Frage gestellt: Was sie fabrizi- erte, war auf der Höhe der Kochkunst. Heute machen alle alles. Es gibt kaum kla- re Kompetenzen. Deshalb ist es so schwie- rig zu bestehen. SPIEGEL: Und wenn der Abend misslingt, ist der Gastgeber schuld? Kaufman: So urteilen die anderen gemein- hin: Irgendetwas hat er falsch gemacht. Im Zweifel hat er etwas aufgetischt, das nicht zum aktuellen Speisentrend passt.

SPIEGEL: Schildkrötensuppe etwa. Die war DOERING / VISUM SVEN mal modisch und ist heute indiskutabel. Sportwagen „Yes“, Firmengründer Funke: Noch immer ein hinreichend nacktes Auto Die Frage, wer was warum isst oder nicht, trägt zuweilen auch religiöse Züge. gend kostspieligen Verzichts: Zum Grund- AUTOMOBILE Kaufmann: Das liegt an der großen Aus- preis von 57370 Euro liefert die Funke & wahl, die macht es kompliziert. Irgendwie Will AG ein hinreichend nacktes Auto. müssen wir unsere Entscheidungen recht- Ausrüstungen wie eine Innenraumbe- fertigen, also schaffen wir uns neue Glau- Luxus des leuchtung werden auf der Aufpreisliste ge- benssätze wie „gut für die Gesundheit“. führt, ebenso ABS, Airbag oder Klima- Das heißt aber keinesfalls, dass das er- anlage. Immerhin sind derlei Sachen jetzt wählte Lebensmittel dann tatsächlich ge- Verzichts verfügbar. Das Auto sei angesichts solcher sundheitsförderlich ist. Allein die Über- Der spartanische Sachsen-Roadster Zugeständnisse „ein bisschen weichge- zeugung genügt oft für ein Wohlgefühl. spült“, gesteht Arnd Sünner, Marketing- Eine der befragten Frauen, Hortense, er- „Yes“ bekommt einen mann bei Funke & Will. klärte mir immerzu: „Was ich esse, ist na- Nachfolger. Die Basisversion hat Beibehalten wurde die Grundarchitektur türlich!“ „Natürlich“, das war ihre magi- jetzt sogar ein Dach. aus Aluminiumrahmen und Kunststoffka- sche Formel. Als ich fragte, was das denn rosserie, die dem Yes ein sehr geringes Ge- heiße, meinte sie: „Ich kaufe Fleisch beim u den beständigsten Dokumenten samtgewicht von 890 Kilogramm beschert. Metzger.“ Es war der Metzger einer Su- deutscher Besatzungsgeschichte zäh- Mit vergleichsweise volkstümlicher An- permarktkette. Aber das Fleisch ist für Zlen die Immobilienreste der sowje- triebstechnik soll er Fahrleistungen der Hortense „natürlich“, weil es nicht abge- tischen Militärluftfahrt. Riesenflughäfen Ferrari-Liga erreichen. Der vom VW-Kon- packt im Regal liegt. verwittern in blühender Landschaft und zern übernommene V6-Zylinder-Motor – SPIEGEL: Anderen sind „Produkte aus der inspirieren manch kühnen Jungunterneh- wie beim Rennwagen hinter dem Fahrer Region“ heilig. mer. Südlich von Berlin diente ein solches untergebracht – leistet serienmäßig 255 PS Kaufmann: Unser Umgang mit Nahrungs- Gelände etwa als Bauplatz für das größte und in einer getunten Turbo-Variante 355 mitteln zeigt, wie sehr unsere Gesellschaft Luftschiff aller Zeiten, ehe die hochsub- PS. Diese kostet dann 69 912 Euro, be- letztlich am Glauben hängt. Natürlich ventionierte Cargolifter-Vision platzte. schleunigt laut Herstellerangaben in weni- wirkt das irrational. Doch wir werden lau- Aussichtsreicher erscheint eine weit be- ger als vier Sekunden auf 100 und soll ein fend mit wechselnden Botschaften über- scheidenere, ebenfalls mit öffentlichen Gel- Spitzentempo um 280 km/h erreichen. Der flutet: das gute Olivenöl, das böse Fett, das dern unterstützte Unternehmung auf dem Prospekt empfiehlt den Wagen als „Fahr- gute Geflügelfleisch, und dann der nächste ausgedienten Fliegerhorst in Großenhain maschine, die Grenzen verschiebt“. Fleischskandal – ja, was denn nun? Ein in- nordwestlich von Dresden. Dort ist seit fünf Der erste Vorführwagen wird von der formierter Mensch wird wahrscheinlich Jahren die Funke & Will Aktiengesellschaft zahmeren Variante ohne Turbo angetrie- verrückt, wenn er sich nicht seinen eigenen ansässig. Der 70-Mann-Betrieb wurde mit ben. Schon diese prescht sehr hurtig davon privaten kleinen Lebensmittelglauben zu- dem Deutschen Gründerpreis ausgezeich- und zeugt im Übrigen von verschobenen legt. Wir Menschen haben das Bedürfnis, net und produziert bereits die zweite Ge- Grenzen im Sinne großzügiger Montage- Nahrungsmittel in gut und schlecht einzu- neration eines offenen Sportwagens. standards. Die Fugen etwa zwischen Front- stufen. Dieses Rein-unrein-Schema hat Er trägt den Namen „Yes“ als Kurzform haube und Karosserie wirken ähnlich eine lange religiöse Tradition. für „Young Engineers Sportscar“. Die jun- schief wie die Buchstaben im Firmen- SPIEGEL: Nicht wenige starten den Tag mit gen Ingenieure, inzwischen zu Enddreißi- emblem, die den Eindruck erwecken, beim einer reinen Pampelmuse und greifen eine gern reifend, heißen Herbert Funke und Lackieren sei eine Schablone verrutscht. Stunde später zum ersten Schokoriegel. Philipp Will. Sie entwarfen den ersten Yes Insgesamt erfüllt der Qualitätseindruck Kaufmann: Tja, das ist ein Faszinosum un- einst im Rahmen einer Diplomarbeit und des Wagens nicht die durch den Preis ge- serer Zeit. Wir schaffen es, innerhalb von haben bis heute gut 150 Exemplare davon setzten Erwartungen. Auch das Armatu- Momenten eine Überzeugung über Bord verkauft. Es war ein Sportmobil reinster renbrett, ein Potpourri aus Großserien- zu werfen, und haben auch schon den Machart, also ohne jeglichen Komfort. In teilen von Volkswagen, wirkt eher lieblos nächsten Glauben parat: „Schließlich muss der Grundversion hatte es keine Lüftung – zusammengeschustert. man sich auch mal was gönnen.“ So dreht was auch nicht nötig war, denn es gab Penible Feinarbeit, erklärt Firmengrün- er immerzu Pirouetten, der moderne ebenfalls kein Verdeck. der Funke, sei „nicht die Zielstellung“. Der Mensch. Doch jammern sollte er darüber Der Yes der zweiten Generation verfügt Yes wende sich an ein Publikum von En- nicht: Das ist der Preis für seine Freiheit. nun serienmäßig über ein Stoffdach, das thusiasten. „Da können wir es uns leisten, SPIEGEL: Herr Kaufmann, wir danken Ih- sich von Hand auf die Karosserie knüpfen auf bestimmte Dinge keine Rücksicht zu nen für dieses Gespräch. lässt. Im Übrigen pflegt er weiter die Tu- nehmen.“ Christian Wüst

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kraftwerks funktionierte. Automatisch vermuten die Experten der SKI sogenann- ATOMKRAFT senkten sich die Steuerstäbe in den Reak- te Wechselrichter, die durch den Kurz- torkern und stoppten das Höllenfeuer. schluss in Mitleidenschaft gezogen wurden „Die Gefahr eines Unfalls bestand zu und die Inbetriebnahme der Dieselgenera- Meiler ohne keinem Zeitpunkt“, beteuert Anders toren vereitelten. Laut SKI wurden die Markgren von der Betreibergesellschaft Bauteile vom Elektrokonzern AEG gelie- Forsmarks Kraftgrupp. Erleichtert, dass fert. Die Experten vermuten die Kompo- Strom Forsmark nicht mehr läuft, ist Markgren nenten auch im Meiler Forsmark 2 sowie in Der Störfall im schwedischen dennoch: Schon der Ausfall der Hälfte der zwei weiteren AKW im südschwedischen Notstromdiesel bereitet den Experten ge- Oskarshamn, die ebenfalls vorsorglich vom Atomkraftwerk Forsmark zeigt, wie nug Kopfzerbrechen. „Wenn die anderen Netz genommen wurden. verwundbar die Reaktor- beiden Einheiten auch versagt hätten, wäre Ob in hiesigen Atomkraftwerken die elektrik ist. Experten rechnen mit es zu einem totalen Stromausfall gekom- gleichen Bauteile arbeiten, war bis Ende weiteren Zwischenfällen. men“, heißt es in einem Bericht der schwe- vergangener Woche noch nicht abschlie- dischen Nuklearbehörde Statens Kärn- ßend geklärt. Das BMU kündigte eine chuld war ein profaner Kurzschluss. kraftinspektion (SKI). technische Überprüfung der Meiler an. Kurz darauf schrammte das schwedi- Selbst die auf Batterien basierende so- Vattenfall-Sprecher Ivo Banek, dessen Ssche Atomkraftwerk Forsmark 1 nur genannte unterbrechungslose Stromver- Konzern die AKW in Krümmel und Bruns- knapp an einer Katastrophe vorbei. sorgung hätte dann nicht mehr geholfen, büttel betreibt, wiegelte ab: „Wir haben Um die Mittagszeit am vorvergangenen befürchten die Experten. Das System ist keinen Anlass, an der Sicherheit unserer Dienstag brach im Kontrollraum des zum der Notnagel eines jeden AKW. Bricht die Anlagen zu zweifeln.“ Und auch das Deut- Vattenfall-Konzern gehörenden AKW Stromversorgung komplett zusammen, sche Atomforum, ein Lobbyverein der Hektik aus – die Stromversorgung war zu- kann es schnell zur Kernschmelze à la Atomwirtschaft, gab Entwarnung: „Es gibt sammengebrochen. Zwei Dieselaggrega- Tschernobyl kommen, weil der Reaktor keinerlei Anhaltspunkte für eine Über- te für die Notstromversorgung versagten nicht mehr gekühlt wird. tragbarkeit des Vorfalls“, hieß es. Alle ihren Dienst. Anzeigen spielten verrückt. Für Kritiker zeigt der Vorfall einmal deutschen AKW arbeiteten mit anders auf- Erst nach 23 Minuten hatte die zeitweise mehr, wie verwundbar AKW durch Aus- gebauten Sicherheitssystemen. Kernkraftwerke in Schweden

NORWEGEN Forsmark Oslo Stock- holm

1 Göteborg Siede- Ringhals wasser- Oskars- reaktor hamn

1 Druck- wasser- Hamburg 200 km reaktor PRESSENSBILD / PICTURE-ALLIANCE / DPA / PICTURE-ALLIANCE PRESSENSBILD Reaktorhalle des Atomkraftwerks Forsmark: „Die Schwachstelle von Kernkraftwerken ist ihre Komplexität“

orientierungslose Betriebsmannschaft das fälle der Elektrik sind. „Die Steuerung von Das Unbehagen über den Beinahe-GAU, Kraftwerk wieder unter Kontrolle. Atomkraftwerken kann jederzeit durch ausgelöst möglicherweise allein durch ein Von „Geisterbetrieb“ sprach Green- Kurzschlüsse beziehungsweise Überspan- defektes Elektrobauteil, bleibt. Auch meh- peace. Das Bundesumweltministerium nungen aus dem Ruder laufen und zum rere unabhängige Stromversorgungen kön- (BMU) stufte den Vorfall als „sicherheits- Super-GAU führen“, warnt Henrik Paulitz nen die Meiler offenbar nicht vor ernsten technisch ernstes Ereignis“ ein. Der schwe- von der Organisation Internationale Ärzte Problemen bewahren. „Die Schwachstelle dische Nuklearexperte Lars-Olov Höglund, für die Verhütung des Atomkrieges. Bei- von Kernkraftwerken ist ihre Komple- bis 1986 Vattenfall-Konstruktionschef, spiele für elektrische Pannen gibt es auch xität“, sagt Michael Sailer, Nuklearexper- drückte es drastischer aus: „Es war reiner in Deutschland. Paulitz etwa berichtet von te vom Öko-Institut in Darmstadt. „Schon Zufall, dass es zu keiner Kernschmelze einem Notstromfall im Atomkraftwerk Bib- vom Prinzip her kann man in solchen Sys- kam – das ist die gefährlichste Geschichte lis B am 8. Februar 2004: „Und das nur, temen nicht alle Eventualitäten testen.“ seit Harrisburg und Tschernobyl.“ weil das Wetter schlecht war und es zu ei- „Wenn irgendwann wieder ein wirklich Doch was geschah wirklich in Forsmark? nem Kurzschluss in der Stromleitung schwerer Unfall passiert, liegt es wahr- Der Vorfall ist ernst – und gleichzeitig we- kam.“ Ein Blitzeinschlag hatte im selben scheinlich an Störungen wie diesen“, sagt niger dramatisch, als es die Schlagzeilen AKW schon 1986 zu einem Aussetzer ge- Sailer. Schon ein Bericht, den die Ge- der vergangenen Woche zunächst vermu- führt. Und 1992 verursachte in Philipps- sellschaft für Anlagen- und Reaktorsicher- ten ließen. Wie viele AKW hat Forsmark burg ein defektes Elektrobauteil einen Zwi- heit 1992 veröffentlichte, kommt in Bezug vier unabhängige Notstromaggregate. schenfall, der Ähnlichkeit mit dem in Fors- auf den Blitzeinschlag am AKW Biblis B Während zwei der Diesel tatsächlich ver- mark gehabt haben soll. zu dem Fazit: „Eine Wiederholung des sagten, arbeiteten die anderen beiden nor- Hätten die Schweden also vorgewarnt Vorkommnisses lässt sich nicht ausschlie- mal. Auch die Notabschaltung des Kern- sein müssen? Als Ursache der Probleme ßen.“ Philip Bethge, Sebastian Knauer

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ZENSUR Anarchie in der Provinz orrupt sind sie, brutal und unver- Kschämt. Niemand wagt es, sich dem Clan des Bürgermeisters entgegenzu- stellen. Als die vier bösen Brüder dann auch noch zwei Mädchen aus der Nach- barschaft entführen, reicht es dem un- beholfenen Parteichef des Dorfes „Schwarzer Brunnen“. Heimlich plant er die Rebellion der Dörfler gegen die Geschwister Xiong. Der Film „Stören- friede“ des Regisseurs Cao Baoping, 41, greift ungewöhnlich deutlich die Miss- stände auf, die in vielen Gegenden Chinas Alltag sind. Über sechs Jahre hatte der Filmemacher gebraucht, sein brisantes Drehbuch durch die Zensur zu boxen. Cao, Dozent an der Pekinger Filmakademie, hatte sich bewusst dage- gen entschieden, die Kulturbürokratie zu umgehen und, wie viele seiner Kolle- gen, einen sogenannten Untergrundfilm HOLLWECK / IMAGO HOLLWECK Ausstellungssaal in der Eremitage in St. Petersburg

MUSEEN Geduldete Schlamperei as Verschwinden von 221 Juwelierarbeiten, Ikonen und anderen Kunstwerken Daus dem Archiv der Eremitage in St. Petersburg ist offenbar nur eine Episode in einer jahrelangen Diebstahlsserie, von der das weltbekannte Museum betroffen Szene aus „Störenfriede“ ist. Das fürchten Fahnder des russischen Innenministeriums und des Föderalen Si- cherheitsdienstes, die davon ausgehen, dass die Diebe unter Eremitage-Mitarbei- zu drehen, der nicht in chinesischen Ki- tern zu suchen sind: Die Leitung des Museums habe Sicherheitsfragen zu lax nos gezeigt werden darf. „Ich will, dass gehandhabt. So wurden Mitarbeiter beim Verlassen der Gebäude meist nicht kon- die Bauern meinen Film sehen kön- trolliert, viele Ausstellungsstücke nicht durch Beschreibung und Foto erfasst, so dass nen“, sagt Cao. Doch nun hat ihn trotz immer noch unklar ist, welche Stücke genau fehlen. Anatolij Wilkow, Vize der staat- Freigabe Chinas cineastische Realität lichen Museumsaufsicht Rosochrankultury, moniert, die Leitung des Hauses habe eingeholt, die abseits vom Glamour um Warnungen seiner Behörde seit über zehn Jahren ignoriert. Auch der Staat, so Wil- Stars wie Zhang Yimou und Zhang Ziyi kow, erleichtere Kunstdieben und Hehlern das Geschäft, weil Wirtschaftsminister herrscht: Nachdem er und die Produ- German Gref die Lizenzpflicht für Antiquitätenhändler abgeschafft habe. Eremi- zenten rund vier Millionen Yuan tage-Direktor Michail Piotrowski sinniert derweil hilflos über eine „Krankheit der (400000 Euro) für die Produktion aus- Gesellschaft“ im Nachwende-Russland als Ursache für den Kunstklau. Doch dabei gegeben haben, fehlt das Geld für den kam es schon vor 25 Jahren, in der vermeintlich beschaulichen Sowjetzeit, als Vertrieb. „Wir brauchen wenigstens Piotrowskis Vater das Haus leitete, zu schwerem Diebstahl durch einen Archiv- 1000 Dollar pro Kopie. Und wir wollen beschäftigten. Ein Angestellter ersetzte damals zahlreiche wertvolle Juwelierarbeiten für jede Provinz wenigstens eine Kopie durch gläserne Exponate und floh ins Ausland. ziehen“, sagt der Regisseur.

KIRCHENMUSIK wird diese Reiseroute als Sponsorenpro- Ton Koopman ebenso wie der Unter- jekt zum Wiederaufbau einer histori- nehmer Michael Otto, der SPIEGEL- Radeln für Bach schen Orgel wiederbelebt. Mit einer Verlag oder die „Zeit“-Stiftung für Startgebühr von 100 Euro beteiligen den Orgelneubau in der protestan- ahre Musikfreunde sind leidens- sich die Teilnehmer einer Fahrradtour tischen St.-Katharinenkirche ein. Über Wfähig. Beschwerliche 60 Kilometer an den Rekonstruktionskosten der Or- eine eigens gegründete Stiftung legte der Lateinschüler Johann Sebas- gel in der Hamburger Katharinenkirche (www. stiftung-johann-sebastian.de) tian Bach um 1700 zu Fuß von Lüne- am Hafen. Unter der Schirmherrschaft sollen 2,5 Millionen Euro bei Privat- burg nach Hamburg zurück, um in den von Bürgermeister Ole von Beust setz- personen, Industrie und Organisationen Hauptkirchen seine großen Vorbilder ten sich Bach-Forscher Christoph Wolff, eingesammelt werden, knapp ein Fünf- an der Orgel zu hören. Am 19. August der niederländische Barock-Spezialist tel des Geldes ist bereits gespendet.

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LITERATUR Allerletzte Gedichte ls der Schriftsteller und Maler ARobert Gernhardt am 30. Juni im Alter von 68 an Krebs starb, waren zwei neue Buchmanuskripte abgeschlossen, denen er sich bis zuletzt mit Energie und Leidenschaft gewidmet hatte: ein Erzählband, der im nächsten Frühjahr publiziert werden soll (geplanter Titel: „Denken wir uns“), und der Gedicht- band „Später Spagat“, der jetzt erschie- nen ist und sich unverzüglich einen Platz auf der SPIEGEL-Bestsellerliste erobert hat – ungewöhnlich genug für

Lyrik. Gernhardt war eine große Aus- DEE CONWAY nahme innerhalb der Gegenwartslitera- Szene aus „Borrowed Light“ tur: als Schriftsteller spät, dann aber nachdrücklich von der Kritik beachtet, FESTIVALS bei Lesern schnell als Meister des Sprachspiels und der packenden Pointe – oft in Wort und Bild – beliebt, ver- Plastik zum Geburtstag mochte er den großen literarischen s ist Deutschlands größtes internationales Festival für zeitgenössischen Tanz. Zum Themen unerhörte E18. Geburtstag gönnt sich „Tanz im August“ (17. August bis 2. September an Leichtigkeit und so verschiedenen Spielorten in Berlin) ein pralles Programm mit 24 Produktionen aus noch größere Dring- 15 Ländern. Neben den Größen des Modern Dance wie den Belgierinnen Michèle lichkeit zu geben. Anne De Mey und Anne Teresa De Keersmaeker ist auch Platz für Compagnien, die Der Humor verließ noch nicht in den europäischen Tanzmetropolen aufgetreten sind. Nelisiwe Xaba aus ihn selbst dann Johannesburg etwa beschreibt in „Plasticization“, ganz in Plastik gekleidet, wie der nicht, als er sich ei- sterile Kunststoff das Leben in seiner Heimat Südafrika verändert hat. Der Finne Tero ner Operation am Saarinen dagegen verarbeitet in „Borrowed Light“ die traditionellen Tänze und Lie- Herzen unterziehen der der Shakers, einer radikalen protestantischen Religionsgemeinschaft in den USA, musste („Herz in die versucht, ohne die Errungenschaften der modernen Zivilisation auszukommen. Not“ nannte er ei- nen Gedichtzyklus) und als, Jahre spä- ter, die Diagnose PROTESTKULTUR bin ich überzeugt. Meiner Meinung Krebs hieß. Der Humor wurde nur bit- nach sind das Faschisten. terer – und bissiger: „Durch die Auen, / „Portion Dummheit“ SPIEGEL: Der Vergleich ist doch absurd. durch die Triften, / reise ich, mich zu Eine deutsche Justizministerin musste vergiften“. Der lange Titel des Gedichts Der Regisseur zurücktreten, weil sie angeblich Hitler lautet: „Krebsfahrerlied oder Auf dem Fatih Akin, 32 und Bush verglichen hatte. Weg zur Chemotherapie im Klinikum („Gegen die Akin: Als Künstler ist das was anderes. Valdarno oder Die Hoffnung stirbt zu- Wand“), über Ich habe die Freiheit der freien Mei- letzt“. Als nur noch wenig Hoffnung sein Anti-Bush- nungsäußerung. war, entstanden Verse von so tiefer T-Shirt SPIEGEL: Aber doch nicht unbegrenzt. Traurigkeit, dass sie wahrlich zu Herzen Sie wissen sicher, dass Hakenkreuze in gehen: „Und mußt dich doch ergeben, / SPIEGEL: Auf jeder Form in Deutschland verboten Du hast nur dieses Leben. / Mach also Ihrem T-Shirt tra- sind. nicht so ’n Wind.“ Haltung war es, die gen Sie die Auf- Akin: Man muss den Kontext betrach- ihm Rückhalt gab, auch in poetischer schrift „Bush“, ten. Das Hakenkreuz steht ja nicht al-

Hinsicht: strenge Form und melancholi- INGO RÖHRBEIN bei der der Buch- lein für sich da, sondern ist Teil des sches Spiel kommen zur Perfektion. stabe „s“ durch Schriftzugs „Bush“. Es gehört doch Selbst „Blut, Scheiß und Tränen“ fin- ein Hakenkreuz ersetzt ist. Was haben eine große Portion Dummheit dazu, den so ein lyrisches Echo: unerbittlich Sie sich eigentlich bei dieser Provoka- das nicht zu verstehen. auch gegen den, dessen Körper die tion gedacht? SPIEGEL: Finden Sie es allen Ernstes in Flüssigkeiten entweichen wie die Ratten Akin: Bushs Politik ist mit der des Drit- Ordnung, gerade in Deutschland ein dem „Schiff, das sie beherbergt“. Am ten Reichs vergleichbar. Ich glaube, verbotenes Nazi-Symbol für eine politi- Ende bleiben nur noch gezielt hilflos dass in Hollywood unter Bush be- sche Kampagne einzusetzen? gemeißelte Verse wie: „Bist jetzt viel stimmte Filme im Auftrag des Pentagon Akin: Man kann so was ja auch ironi- schwach. / Wirst bald viel tot.“ produziert werden, um solche Dinge sieren. Das Symbol neu definieren wie Folter und Guantanamo zu norma- in einem politisch korrekten Horizont. Robert Gernhardt: „Später Spagat“. S. Fischer Verlag, lisieren. Die Bush-Administration ist Mein T-Shirt ist mehr als bloße Pro- Frankfurt am Main; 128 Seiten; 14,90 Euro. auf einen dritten Weltkrieg aus, davon vokation.

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POP Liebe zum Tourbus oel Gallagher von Oasis zeichnet Neinen Smiley, der auf wilde Acid- Phantasien schließen lässt. Andere Mu- siker malen Hotelzimmer, Stadtszenen oder Monsterfratzen. Mit dem Auftrag „Zeichnet einen Ort, der euch beson- ders wichtig ist“, konfrontierten der Journalist Manuel Schreiner und die Kunstpädagogin Silke Leicher Rockstars und Bands der Independent-Szene. Bildercollage aus „Trip“ 106 Originale von Rockern wie Maxïmo

3ROSEN Park, Kaiser Chiefs und Maroon 5 Kino in Kürze

„Trip – Remix Your Experience“ ist ein mul- fentlichkeit hätten gelangen dürfen. So timedialer Egotrip des Hamburger Un- macht sich Otto zum leicht peinlichen ternehmers Frank Otto. Zusammen mit Paparazzo in eigener Sache. dem Musiker Bernt Köhler-Adams kom- ponierte Otto ein „Klang-Opus“ aus „Trennung mit Hindernissen“ beschreibt Rock-, Jazz- und Avantgarde-Elemen- unaufgeregt die Erosion der Liebe durch ten, ließ es von 33 Regisseuren bebil- den Alltag und die Schwierigkeit, eine dern und tourt mit dem audiovisuellen Beziehung zu beenden. Gary Grobowski Spektakel ab nächster Woche durch (Vince Vaughn) und Brooke Meyers Deutschland. Während einzelne Passa- (Jennifer Aniston) beschließen nach ei-

gen des Films live begleitet werden, lau- nem Streit, sich zu trennen, klammern DINA KANTOR fen auf mehreren Leinwänden Bilder sich aber fortan immer stärker an die We Are Scientists mit Cain (r.) aus dem Ozean, der Berliner U-Bahn Reste ihres gemeinsamen Lebens. Karg, und Ottos Auto. Die ungetrübte Begeis- mit wenigen Kamerabewegungen und schafften es in das „Skizzenbuch Unter- terung für die eigene Kunstanstrengung spärlicher Musik, setzt Regisseur Peyton wegs“ (Rockbuch Verlag; 19,90 Euro). ist zwar grundsätzlich sehr sympathisch, Reed in seiner melancholischen Komö- Mit Filzstift oder Kreide erzählen die überträgt sich allerdings nur bedingt auf die das amouröse Beharrungsvermögen Malermusiker von Selbsterkenntnis und das Publikum. Neben einigen überra- ins Bild. Er lässt den Zuschauer teilhaben von der Angst, dereinst im sozialen schend eindrucksvollen Zufallsbegeg- am Widerstreit der Gefühle, in den Gary Nichts zu enden. „Für mich war das nungen zwischen Bild und Ton wirken und Brooke geraten, doch wie die beiden Zeichnen eine willkommene Abwechs- Aufnahmen eines ekstatisch musizie- tritt auch sein Film bisweilen etwas ratlos lung zum teilweise recht drögen Tour- renden Otto wie Dokumente eines Pri- auf der Stelle und dreht sich einige Male alltag“, behauptet Chris Cain, Bassist vatvergnügens, die niemals in die Öf- um die eigene Achse. von We Are Scientists, der eine Liebes- erklärung an seinen Tourbus beisteuerte.

UNTERHALTUNG Badetempel ist geplant, fast so Brecht mit Bad aufwendig, wie es ihn Anfang ine riesige Veranstaltungshalle be- des 20. Jahrhun- Esitzt er schon in Berlin, auch Rech- derts schon ein- te an Theaterstücken („Vagina-Mono- mal dort gab, zu- loge“), und an der Spree liegen sein dem ein Nacht- Bade- und sein Gastroschiff und ma- club, ein Grand chen Umsatz. Nun will Falk Walter, 41, Café und, ach ja, Ex-DDRler aus Guben, ins ganz große ein Theater. Im

Unterhaltungsgeschäft einsteigen. Für ANNE SCHÖNHARTING ehemaligen Ope- eine Million Euro kaufte er den histori- Admiralspalast (1936), rettensaal wird schen Admiralspalast an der Berliner Walter derzeit Brechts Friedrichstraße. 15 Millionen verbauen „Dreigroschen- er und seine Geschäftspartner, um aus oper“ geprobt, mit prominentem En- dem Vergnügungstempel, in dem einst semble (Premiere: 11. August). Campino die Girls von der Haller-Revue die lan- von den Toten Hosen etwa ist Mackie gen Beine warfen und bis zur Wende Messer. Die Inszenierung besorgt Klaus die DDR sozialistisch aufbereitete Ope- Maria Brandauer, Weltstar a.D. und als rettenseligkeit verbreitete, wieder eine Regisseur von der Kritik bislang nur sel-

erste Event-Adresse zu machen. Ein BILDERDIENST ULLSTEIN ten belobigt. 135 HARRY GOODWIN / REDFERNS HARRY CINETEXT „Top of the Pops“-Moderator Savile (1964), Madonna-Video „Material Girl“ (1985): Ironisches Spiel in unironischen Zeiten

ZEITGEIST Das Ende einer Welt Die letzte Sendung von „Top of the Pops“ markiert das Ende des Musikfernsehens. Auch die Spartenkanäle MTV und Viva haben ihre großen Zeiten hinter sich. Die Avantgarde der Jugendkultur ist weitergezogen, ins Internet, und erzieht dort völlig neue Konsumenten.

as Finale war lieblos, aber ange- dass am Ende der zum „Sir“ erhobene ers- besgeschichte ist an ihr Ende gekommen: messen. Nach über 42 Jahren lief te Ansager, Jimmy Savile, den Spuk im die zwischen Fernsehen und Popkultur. Dam vorvergangenen Sonntag die fast leeren Haus beendete. Die Rüstigeren unter den Babyboomer- letzte Ausgabe von „Top of the Pops“ auf Eine Waterkant-Parade wie „Lachen & Rentnern können sich noch erinnern, wie BBC. Nicht als glanzvoller Schlussreigen, Stimmung aus ‚Lüders Krug‘“ hätte sicher cool das einst begonnen hatte, am Neu- sondern als Zombie-Parade abgetakelter mehr Glamour aufgeboten. Hier aber war jahrstag 1964 in einer ehemaligen Kirche in Moderatoren. Silberhaarige Jupp-Derwall- das Ende einer Welt zu besichtigen, und Salford, einem Stadtteil von Manchester. Figuren standen in Reihe, zwischen keiner schaute hin. „Top of the Pops“ war Den Anfang machten die Rolling Stones Trockeneisnebel und bonbonfarbenen Luft- mehr als ein britischer Klassiker. mit „I Wanna Be Your Man“, es folgten ballons, und rissen Witzchen über früher. Es war einst der Gold-Standard der glo- Dusty Springfield, die Hollies und zum Ein Gruftie-Alptraum: Sie trugen balen TV-Pop-Kultur, und die letzte aus- Ausklang ein Einspieler der Beatles. Alles Raumschiffanzüge aus Gold, die wohl die gestrahlte Episode darf auch als Ende des in einer einzigen Episode. Alles in „wilde Zeit“ der Sechziger und Siebziger Musikfernsehens alter Schule gelten. Es Schwarzweiß. repräsentieren sollten. Pop der Methusa- war eine im Kern unschuldige Welt. Heute ist alles Pop, alles Trash. Damals lem-Gesellschaft. Ab sofort gibt es, was die Glotze angeht, dagegen waren „Top of the Pops“ oder der Die Verantwortlichen hatten sich nichts nur noch Revival-Shows für verblödete in Deutschland bald nachfolgende „Beat- einfallen lassen, ganz so, als ob sie sich gar Alt-Hippies, den ganzen Weißt-du-noch- Club“ mit der unvergleichlichen Uschi nicht anstrengen wollten, irgendetwas zu Jammer hoch und runter. Nerke Inseln im ernsten Alltag, waren iro- beschönigen. Die Sendung plätscherte da- Ansonsten: Myriaden von interessanten, nisches Spiel in unironischen Zeiten. hin, sogar die im Studio anwesenden Zu- kreativen, jugendlichen Guerilla-Musikern Sie waren Ereignisse, zu denen man sich schauer verließen den Raum vorzeitig, so im World Wide Web. Eine lebenslange Lie- im globalen Dorf um ein einziges Lager-

136 der spiegel 32/2006 Kultur MTV MTV-Moderatorin Anastasia Zampounidis, Gast Marilyn Manson: Das Leben – ein Clip feuer verabredete, um Elvis zu bestaunen als Authentizitätszitate waren sie kaum Das Leben – ein Clip. So wie Madonnas oder Mick Jagger. noch brauchbar, denn überwiegend wurde Video zu „Material Girl“, in dem sie als Keine zehn Jahre später, mit der An- Playback benutzt. Monroe-Kopie eine Showtreppe herunter- kunft von David Bowie als glitzerndem Mit MTV hatte Pop als Industrie gesiegt, tanzt, oder „Take on Me“, in dem Morten „Starman“, hatte Pop gesellschaftlich ge- weltweit. MTV war der erste eigene TV- Harket, Sänger von a-ha, zur Zeichentrick- siegt. Kanal der Jugendkultur, und er funktio- figur wird. Lauter triviale Eskapismen, lau- Neil Tennant, Sänger der Pet Shop Boys, nierte. Die Einführung der Compact Disc ter große Träume. damals nicht mal 20, erinnert sich: „Nach (CD) hatte mehrere Generationen von Mu- Der erste Video-Blockbuster, ein Ereig- Bowies Auftritt bei ‚Top of the Pops‘ war sikfans veranlasst, ihre schwarzen Vinyl- nis von Tokio bis Teufelsbrück, war Mi- im Land die Hölle los. So eine wilde Krea- Plattensammlungen auf den Dachboden zu chael Jacksons „Thriller“, ein 13 Minuten tivität hatte man noch nie gesehen.“ tragen und sich das gleiche Set noch einmal langes, etwa eine Million Dollar teures Damals in den Siebzigern sahen sich je- in CD-Form zuzulegen. Werk eines offensichtlich Größenwahnsin- den Donnerstag bis zu 15 Millionen Men- Videos waren ein neues Marketing-In- nigen, das der Hollywood-Regisseur John schen „Top of the Pops“ an, und Moderator strument – und eine zeitgemäße Art, Geld Landis inszenierte. John Peel sagte Dinge wie: „Wenn dieser zu verschwenden. Der Musiksender wurde Es gab sogar amerikanische TV-Serien, Song nicht Nummer eins wird, komme ich zum Mediator globaler Pop-Phantasien. die wie ein einziger langer Clip aussahen, persönlich vorbei und lasse in Ihrer so wie „Miami Vice“ mit all den Küche einen fahren.“ gutgebräunten schönen Menschen Parallel entwickelten sich die ers- in Sportwagen, vor cremefarbenen ten kleinen Musikfilme. Da war Häusern. bereits 1967 der Surrealismus der Zu den jungen Pionieren der Beatles im legendären „Strawberry Bildkunst im Video-Universum Fields Forever“-Clip oder das sar- zählte der Brite Peter Gabriel. Die kastische Knast-Filmchen der Rol- überschäumenden Spielereien sei- ling Stones für „We Love You“. nes legendären „Sledgehammer“- Doch zur großen Kunstform, zum Clips laufen noch heute. Und der Massenphänomen wurde dies erst Markt wuchs, Pop war Mainstream, mit MTV, dem 1981 gestarteten Pop kannte nur Zuwächse. Die Er- Spartenkanal, der Videos Nonstop wachsenen blieben ihm treu, die zeigte. Kinder stießen hinzu. Im Prinzip waren „Top of the In Deutschland erlebte die Mu- Pops“ und andere Chart-Shows sik-TV-Branche besonders durch schon damals stehend k.o. Mit den den Start des MTV-Konkurrenz- visuellen Reizen von Clips konnten senders Viva Ende 1993 ihre größte TV-Auftritte nicht mithalten. Selbst MySpace-Site (mit Robbie Williams): Das Warten verlernt Blüte, und innerhalb des Senders

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schien es fast anarchisch zuzugehen. Der Stab der Moderationsschreiber bestand aus Haudegen der untergegangenen Hard- „Geringe Schleimquote“ Rock-Szene, jungen Stubenhockern und pickligen Jungs, die gerade das Abitur ge- Viva-Moderatorin Collien Fernandes, 24, zum Niedergang knickt hatten. Was geschrieben wurde, des Musikfernsehens wurde auch gesendet. Die Texte liefen über den Teleprompter, und junge Wilde wie SPIEGEL: Warum gibt es keinen reinen pen, die aus gecasteten Leuten beste- Nils Bokelberg, Stefan Raab oder Heike Musikkanal mehr, der 24 Stunden täg- hen, die ein bisschen singen und tanzen Makatsch lasen sie ab. lich Musikvideos zeigt? lernen, aber keine Energie, keine Lei- Das eigentliche Ereignis blieb jedoch im- Fernandes: Bis vor kurzem liefen bei denschaft, keine Tragik haben. Das mer der Musikclip, auch in den neunziger Viva Plus nur Musikvideos. Aber an- reicht für einen Hit, aber die Musik hat Jahren, und je mehr Wirbel der Clip ver- scheinend hat das nur noch wenige an- keine Seele. ursachte, um so gefragter wurden seine gesprochen, denn sonst würde Viva Plus SPIEGEL: Und deutscher HipHop? Regisseure. Phantasievolle Clip-Macher nicht demnächst zum Comedy-Kanal Fernandes: Ist auch völlig abgeschmiert. wie Spike Jonze oder Chris Cunningham werden. Die meisten Videos sind heute In Amerika wurde HipHop buchstäb- waren berühmter als manche ihrer Klien- schlecht, also viel einfallsloser als die lich von der Pornografie aufgefressen, ten. Selbst die Zuarbeiter führten sich nun von früher. Die Branche hat eben seit und bei uns machen das nur noch ein- auf wie Superstars. Regisseur Nigel Dick, den illegalen Downloads kein Geld mehr. fallslose Prolls. Die Texte sind schau- der für Guns N’ Roses und Britney Spears SPIEGEL: War Viva früher anders? derhaft geworden. Es geht nur noch tätig war, erinnert sich: „Eines Tages Fernandes: Es war richtiges Anarcho- darum, wie scheiße alles sei, die ganze schickte mir jemand, der nur für das Make- Fernsehen, gemacht oftmals von Prak- Stadt ein Ghetto, die Frauen Nutten up zuständig war, eine Liste der Flugzeug- typen, mit denen er nicht fliegen würde, die Sorte von Mietwagen, die zur Verfü- gung zu stehen hätten, sowie die akzep- table Größe von Hotelzimmern.“ Das Ende kam dann jäh: Mit den Um- satzeinbrüchen der Musikindustrie im neuen Jahrtausend war für teure Video- Produktionen kein Geld mehr vorhanden, doch MTV hatte längst diversifiziert und war zum ganz normalen Programmkanal geworden. Heute erreicht der Sender knapp 500 Millionen Haushalte, ist also längst ein so- genannter Global Player mit Filialen in nahezu allen nichtfundamentalistischen Ländern. Die einstigen Spartensender der Popkultur haben mittlerweile die Celebri- ty- und Klatschprogramme der Eltern

STEFAN MENNE / THOMAS & THOMAS MENNE / THOMAS STEFAN kopiert. Die Kids sind ihren kindisch ge- Moderatorin Fernandes: „Es reicht für einen Hit, aber die Musik hat keine Seele“ bliebenen Eltern ähnlich geworden. Es wimmelt vor Frauke Ludowigs in den Kin- tikanten. Alles war durcheinander, und so weiter. Es spielt immer in Ber- derzimmern, ob sie nun Sarah Kuttner schrill und bunt. Die Moderatoren re- lin, aber es soll so sein wie Harlem oder heißen oder Roger Willemsen, die letzte deten, was sie wollten. Man sah auch die Bronx. Woche auf MTV aufgeregt miteinander mal Leute aus dem Team im Bild SPIEGEL: Und Tokio Hotel? über Penisschmuck plapperten. rumstehen. Die jungen Moderatoren Fernandes: Sie sind die Ausnahme. Ich Die Kreativen der Musikbranche? Sie waren teilweise betrunken oder be- finde Tokio Hotel ziemlich authentisch, sind in der Zwischenzeit nicht ausgestor- kifft und thematisierten das sogar in weil sie nicht „gemacht“ sind. Aber ben, sondern einfach weitergezogen. Wer der Sendung. Musikfernsehen ist übri- auch hier sehe ich Missbrauch: Die heute nach den neuen Videos von Franz gens auch heute noch das ehrlichste Band wird auf tausend Autogramm- Ferdinand, Prince oder 50 Cent sucht, Fernsehen. Die Schleimquote ist ge- stunden und Auftritte geschickt, weil findet sie zuverlässig im Internet, bei ringer. das heute mehr Geld einbringt als der YouTube.com, Yahoo, AOL oder den Web- SPIEGEL: Wie lief es ab, als MTV Viva CD-Verkauf. Künstlerisch wäre es aber seiten der Künstler. „Video Killed the schluckte? viel wertvoller, das nächste Album Radio Star“ hieß die erste Nummer, die Fernandes: Die meisten der 300 Leute rauszubringen. Die Jungs haben doch vor 25 Jahren bei MTV lief. Das ist Ge- wurden entlassen. Und die Bands wur- längst 30 neue Songs im Kasten! schichte. Ab sofort gilt: „Internet Killed den in MTV- und Viva-Bands aufge- SPIEGEL: Wird es bald gar keine Musik- the Video Star.“ teilt. Seitdem kann man sagen: Bei kanäle mehr geben? Die Musik spielt im Internet, während MTV läuft Rock und bei uns so- Fernandes: Viele zappen tatsächlich MTV überwiegend auf Klatsch setzt und auf genannte „Bravo“-Musik, also Teenie- gleich weiter, sobald die Klingelton- musikfremde Formate wie „Pimp My Ride“, pop. werbung kommt. Ich glaube aber, dass in denen schrottreife Autos zu fahrenden SPIEGEL: Ist das der Grund für den Nie- der Bedarf an künstlichen, gezüchte- Entertainment-Units aufgemöbelt werden. dergang? ten Teeniebands bald gedeckt ist und es Statt sündhaft teurer Videos präsentie- Fernandes: Das Problem kam mit den dann wieder aufwärts geht. ren Mariah Carey oder Robbie Williams in Teenieacts. Das sind künstliche Grup- Interview: Joachim Lottmann Shows wie „Cribs“ lieber ganz exklusiv ihre Zweit- und Drittwohnsitze. Also un-

138 der spiegel 32/2006 benutzte Edelstahlküchen, mit goldenen einst das bizarre Treiben der skurrilen Sip- Der Legende nach wuchs die Zahl ihrer Platten tapezierte Fitnesskeller, gewaltige pe des betagten Hard-Rock-Stars Ozzy Os- Zuschauer von 70 bis zu angeblich 70000. Wohnzimmer mit ebenso überdimensio- bourne verfolgt, vom Toilettengang bis zu Fest steht, dass sie am Ende mit einem nalen Flachbildfernsehern und die Gelän- den Drogenproblemen des Juniors. Plattenvertrag dastand und ihre erste dewagensammlung in den lagerhallen- Der Impuls ist geblieben, doch die tech- Single „I Wish I Was a Punk Rocker (with großen Garagen. Dafür geht es in Dauer- nische Revolution hat eine neue Stufe ge- Flowers in My Hair)“ an die Spitze der brenner-Kuppel-Shows wie „DisMissed“ zündet und die Chancen vervielfältigt. Mit britischen Hitparade schoss. wieder um Grundsätzliches: Junge sucht einer am Computer angeschlossenen Web- Erstaunliche Erfolgsgeschichten einer lä- Mädchen oder umgekehrt. Die Essenz al- Cam hat jeder die Chance auf Popularität, dierten Industrie. Das Internet wird zu- ler großen Popsongs eben – nur ohne auf die eigene „Reality-Show“. nehmend zum globalen Talentschuppen. Musik. Bei MySpace sammelt man „Freunde“ Dank preiswerter Technik können heute Das klassische Musikfernsehen ist am wie Bonuspunkte an der Tankstelle. Mit Amateure aus Hildesheim Platten aufneh- Ende. Die neuen technischen Möglichkei- 5000 Freunden ist man schon ziemlich men, die so gewaltig wie die von Pink ten haben den neuen Konsumenten ge- weit, also relativ berühmt. Ein Filmchen, Floyd klingen, sogar Video-Clips lassen formt. Der harrt nicht vor dem Fernseher die Biografie, die Vorlieben, die eigenen sich preiswert selbst produzieren. aus, sondern klickt sich sein Lieblings- Freunde, die eigenen „Stars“ – schon ist Und so können auch zwei Internet-ver- Video im Internet an und lädt es auf sei- man eingerichtet im Netz. Das kann jeder liebte Popspinner wie Gnarls Barkley mit nen iPod. Der neue Konsument ist ein schaffen. ihrer Nummer „Crazy“ für mehr Furore SCOTT GRIES / GETTY IMAGES SCOTT Rapper 50 Cent (mit Model), Musikvideo mit Paris Hilton bei Google Video: Globaler Talentschuppen

Mensch, der das Warten verlernt hat. Er Jeder ist Produzent seiner eigenen sorgen als eine neue Single von Madonna stellt sich seine eigenen „Top of the Pops“ Show, und das hat Auswirkungen auf die oder Janet Jackson. zusammen. Musikbranche. Und was für welche. So ist die Popmusik wieder dort ange- Auch die grassierende Celebrity-Sucht Die junge Britin Lily Allen, Lieferantin langt, wo sie traditionell hingehört: in den lässt sich im Internet besser befriedigen als des lässigen UK-Sommerhits „Smile“, hat Schlafzimmern und Garagen von aufge- irgendwo sonst. Bei MySpace.com, diesem ihren Ruhm einem kecken MySpace-Auf- kratzten Teenagern. So aufregend muss es wilden Mix aus virtuellem schwarzem tritt zu verdanken. Dort philosophierte sie sich in den frühen Tagen von „Top of the Brett und Kontakthof, kann sich jeder als in ihrem Online-Tagebuch über Jungs, Sex Pops“ angefühlt haben. Star inszenieren, kann Gedichte, Lieder, und London. Auch die Veteranen haben die Zeichen Fotos, Clips und Grübeleien zum Lauf der Eigene Songs verschenkte sie. Gescha- der Zeit begriffen. Kim Wilde, die blonde Welt oder zu Orgasmusproblemen zum det hat das nicht: Ihr Debütalbum Sirene der Achtziger, die in der letzten Besten geben. „Alright, Still“ landete in Großbritan- „Top of the Pops“-Show noch einmal zu Nicht Sex oder Reichtum ist schließlich nien direkt auf dem zweiten Platz der sehen war, veröffentlicht demnächst eine Sehnsuchtsziel in der Teenagerkultur, son- Charts. neue Single. Das Video hatte letzte Wo- dern Ruhm. Der Wunsch, wahrgenommen Wie ein PR-Märchen klingt auch die Er- che Weltpremiere. Nicht auf MTV, son- zu werden. Wer nicht berühmt wird, hat in folgsgeschichte der 24-jährigen Londoner dern auf Yahoo. dieser hysterisierten Mediengesellschaft Singer/Songwriterin Sandi Thom. Weil sie Musikfernsehen ist tot. Es lebe das Netz. sein Leben verfehlt. sich angeblich eine Konzertreise durchs Und die Wiedergeburt des Pop, in Com- Und auch andersherum stimmt es: Land nicht leisten konnte, installierte sie puterprogrammen und Garagen und Chat- Berühmtheit kann noch das verpfuschteste stattdessen eine Web-Cam im Keller ihrer rooms und Nischen. Eine Welt ist unterge- Leben adeln. Über zwei Jahre hinweg hat Wohnung, spielte als Ersatz drei Wochen gangen. Eine neue entsteht. das globale Teenagerpublikum auf MTV lang für Online-Zuschauer. Christoph Dallach

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ESSAY Der gute Stern des Tyrannen Von Jorge Edwards

idel Castros Zeit ist abgelaufen. Ich glaube nicht, dass er – lesen, an der Inhaftierung des dissidenten Dichters, der später in seinem Alter und gesundheitlich derart angegriffen – die eine Selbstkritik im besten stalinistischen Stil lieferte. Doch FMacht über mehrere Wochen abgeben und später wieder mit dem ihm eigenen Pragmatismus begriff Fidel, dass Kuba ganz an sich binden kann. Das bedeutet, dass die Post-Castro- nicht China ist und eine revolutionäre Weichenstellung dieser Zeit noch zu Lebzeiten des Comandante en Jefe beginnt, wie Art sich als zu gefährlich für ihn und sein Regime erweisen wür- auch die Post-Franco-Zeit sich einige Zeit vor Francos Tod an- de. Schließlich entschloss er sich, einen vernünftigeren Weg ein- bahnte. Mit dem Postcastrismus setzt eine politische Wende zuschlagen und von der zeitweiligen Öffnung Nordamerikas zu in Kuba ein, zweifellos ein historisches Ereignis, aber wir profitieren, wie sie etwa Jimmy Carter oder Bill Clinton vertra- können noch nicht wissen, welche Richtung dieser Prozess ten. Sein einziger wahrer Freund in intellektuellen Kreisen, nehmen und wie lange er dauern wird. Politische Weissagungen Gabriel García Márquez, diente ihm gelegentlich als hervor- zu machen wäre hierbei ziemlich riskant und vollkommen ragendes Aushängeschild in den Medien. nutzlos. Was wir tun können, ist, erste Kor- Bei unserem letzten unterkühlten Tref- rekturen vorzunehmen. fen, am Vorabend meiner Abreise von der Zu den großen Eigentümlichkeiten des Insel, sagte er mir, Padilla, der gut 24 Stun- Mythos um Castro gehört die Tatsache, den zuvor inhaftiert worden war, hege dass besonders Intellektuelle und Künstler „gewisse Ambitionen“. Es war unmissver- aus aller Welt zu ihm pilgerten, weil er ihre ständlich, dass er damit politische Ambitio- Phantasie entzündete. Nichts war unange- nen meinte, und die durfte sich kein ande- brachter. Castro hielt wenig von Künstlern. rer Sterblicher außer ihm auf Kuba leisten. Als ich in meiner Eigenschaft als diplo- Ich antwortete ihm, Padilla sei ein Poet und matischer Gesandter der Regierung von ein integrer Mensch, aber es war offen- Salvador Allende Anfang Dezember 1970 sichtlich, dass jeder Versuch, Padilla ver- auf die Insel kam, mit der Mission, nach ei- teidigen zu wollen, absolut nutzlos war. Als ner fast siebenjährigen Unterbrechung der er mich später an der Tür des Raums ver- diplomatischen Beziehungen die chileni- abschiedete, in dem wir zusammengeses- sche Botschaft wiederzueröffnen, zitierte sen hatten, sagte er unvermittelt: „Wissen mich der Comandante Castro am ersten Sie, was mich bei diesem Gespräch am Abend zu einem Gespräch in die Redaktion meisten verwundert hat?“ „Was denn, Herr der Zeitung „Granma“. Dort fragte er mich, Präsident?“ „Ihre Gelassenheit!“ Vielleicht warum Chile denn „einen Schriftsteller“ hatte er erwartet, ich würde vor ihm die nach Kuba geschickt habe. Aus seiner Fra- Nerven verlieren, so dass meine Gefasst-

ge klang eine leicht spöttische Neugierde, / ZEITENSPIEGEL SALAS ROBERTO heit ihn irritieren musste. als sei die Entsendung eines belletristischen Revolutionsführer Castro (1965) Es gibt Politiker, die einen guten Stern Autors ein weiterer Beweis für die politi- haben, sowenig man ihn auch rational er- sche Naivität der Regierung Allendes. Bei unseren späteren Be- klären kann, und es gibt andere, die unter einem schlechten gegnungen kam er immer wieder auf diesen Punkt zurück, und Omen stehen. Ché Guevara gehörte zu dieser letzten Kategorie mehr als einmal fügte er hinzu: „In der ersten Etappe haben wir der populären Führer, die zum Scheitern verurteilt scheinen und das auch getan, aber dazu wird es nicht mehr kommen.“ möglicherweise unbewusst, dabei aber geradezu selbstmörde- Castro hob stets hervor, dass er selbst nur praktische Bücher risch dieses Scheitern heraufbeschwören. Ebenso Salvador Al- lese. Als ich ihn einmal in Begleitung der Offiziere des chileni- lende, vor einem anderen Hintergrund und in völlig anderer schen Schulschiffs „Esmeralda“ in einer seiner Hütten auf dem Form. Fidel Castro dagegen, der Comandante en Jefe, der Máxi- Land besuchte, konnte ich einen Blick auf seine Bibliothek wer- mo Líder, war das ganze politische Leben lang der Mann mit fen. Die Literatur glänzte durch Abwesenheit, stattdessen gab es dem anhaltenden guten Stern. Seine Revolution mochte da- dort natürlich ein wenig Politikwissenschaft, vor allem aber auf- hindarben, sich rückläufig entwickeln, von ihren einstigen Weg- wendige Bildbände zu Flora und Fauna. Bei diesem Besuch ließ gefährten aufgegeben worden sein, doch er hielt die Stellung. er uns einige Produkte von seiner Versuchsfarm kosten, wobei er Ein einzigartiger Fall in der jüngeren Geschichte. uns darauf hinwies, dass wir nicht einmal in Frankreich einen so guten Camembert bekämen, wie wir ihn gerade probierten. Er astros persönliches Charisma, seine Intuition und das Talent legte Wert auf so was. „Aber Comandante“, entgegnete ich ihm, zur medialen Selbstdarstellung sind hier entscheidend. Noch „das wäre doch, als würde man behaupten, in Rumänien gebe es Cauf den letzten lateinamerikanischen Gipfeln, als er neben einen besseren Daiquiri als auf Kuba.“ so renommierten Staatschefs wie etwa Ricardo Lagos stand, war es Nein, Dichter interessierten ihn nur insoweit, ob sie für ihn oder doch nicht zu übersehen, dass der Comandante en Jefe selbst nach gegen ihn waren. Anfang 1971, auf dem Gipfel einer schweren in- über vierzig Jahren auf der politischen Bühne immer noch die ternen Krise, sah er sich zu einer Kulturrevolution nach chinesi- lautesten Ovationen bekam und die größte Aufregung bei der an- schem Vorbild verleitet. So war es am Fall Heberto Padilla abzu- wesenden Presse auslöste. Dabei ist es ganz egal, ob seine einsti- gen kommunistischen Verbündeten inzwischen vom Erdboden ver- Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. schwunden sind, wie katastrophal die kubanische Wirtschaftslage

140 der spiegel 32/2006 ist oder wie lange die sogenannte Sonderperiode schon anhält, und sein Leben endete bei einem Kavallerieangriff auf die zah- dieser dunkle Tunnel ohne Ende. Unvermeidlich stellt sich also die lenmäßig weit überlegenen spanischen Truppen. Es ist nicht be- Frage, wie es dazu kommt; und gibt es darauf auch keine magische kannt, wie ernsthaft sich Fidel von der Symbolhaftigkeit des in Antwort, reichen politische Analysen allein jedenfalls nicht aus. Kuba als „der Apostel“ bezeichneten José Martí hat inspirieren las- Bereits beim Angriff auf die Moncada-Kaserne in Santiago de sen. Die ersten Gefährten, die sich zu Beginn des Kampfes gegen Cuba 1953, mitten in der Diktatur von Fulgencio Batista, zeigte Batista in Fidels Schatten zusammenschlossen, hießen im Volks- sich Castros guter Stern. Die militärische Operation an sich erwies mund jedenfalls „die zwölf Apostel“. Fidel war folglich der Erlö- sich als ein wahres Desaster. Sie war schlecht geplant und noch ser, der Messias höchstpersönlich. Aber Fidel war niemals auf schlechter durchgeführt. Mehr als die Hälfte der 26 Fahrzeuge, die einen Märtyrertod aus. Er ist das absolute Gegenteil des Apostels die Angreifer transportierten, nahm eine falsche Abzweigung und Dichters Martí und auch Ernesto Ché Guevaras, der im tiefs- und verirrte sich in den Straßen Santiagos. Ein Teil der Wagen ten bolivianischen Urwald Nerudas „Der Große Gesang“ las und fuhr durch andere Tore in die Kaserne ein als auf dem Angriffs- nur schwer der Falle hätte entkommen können, in die er selbst ge- plan vorgesehen. Einigen der Rebellen wurden diese Fehler zum tappt war. Im Unterschied zu ihnen ist Fidel der am wenigsten poe- sofortigen Todesurteil. Andere wurden festgenommen und grau- tische und selbstmörderische Politiker des gesamten vorigen Jahr- sam zu Tode gefoltert. Fidel gelang es jedoch, mit einigen seiner hunderts. Nein, Gedichte interessierten ihn nicht, dafür aber Ab- Gefährten in die Berge zu fliehen und sich dort zu verstecken. Die handlungen zur Militärgeschichte, Verse kamen nicht über seine Folterungen der festgenommenen Rebellen, von denen manche Lippen; dafür konnte er stundenlang über Themen wie Kaffeean- einflussreichen Familien der Provinz entstammten, wurden trotz bau, Tomatenzucht oder industriellen Fischfang reden. Pressezensur wenige Tage später bekannt, und der Skandal zwang Der Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus brachte Batistas Handlanger, von nun an Vorsicht walten zu lassen. Fidel Fidel erneut in eine höchst gefährliche Situation, nur vergleichbar Castro, den man fünf Tage nach dem Angriff in einer Hütte auf- mit der Krise Ende 1962. Aber man musste davon ausgehen, dass stöberte, wurde eine wesentlich bessere Behandlung zuteil als der schlaue Comandante en Jefe mit seinem ausgeprägten Über- den früheren Gefangenen. lebensinstinkt noch mindestens einen Trumpf im Ärmel hatte. Während der Gerichtsverhandlung glänz- Und so war es auch. Ohne jeden ideologi- te er mit all seinem rhetorischen Talent. schen Skrupel machte er sich daran, ein- Die Richter könnten ihn verurteilen, sagte zelne Bereiche seiner sozialistischen Plan- er, aber die Geschichte würde ihn freispre- wirtschaft ausländischen Investoren zu chen. Manche sahen in Fidels Worten ent- überlassen. In Gegenwart eines linken fernte Anklänge an eine Rede, die Adolf Dichters fühlt der Anführer der Revolution Hitler in ähnlichen Umständen einmal ge- sich vielleicht nicht besonders wohl, mit halten hatte. Doch viel wichtiger ist etwas einem kapitalistischen Unternehmer kann ganz anderes, nämlich das bemerkenswer- er sich dagegen prächtig verstehen. Wer te Geschick Castros, eine schlecht geplan- sich mit ihm über Bergbau, Landwirtschaft te Aktion und einen katastrophalen Fehl- oder Energiefragen unterhält, wird in ihm schlag in eine politische Sternstunde ersten einen Menschen finden, der gern so etwas Ranges zu verwandeln. Er war stets ein wie ein wandelndes Lexikon wäre. eher mittelmäßiger Militär und ein träu- merischer Wirtschaftsplaner, doch sein ge- n den vergangenen Jahren ist in Latein- niales Talent zur Propaganda konnte ihm amerika ein eigenartiges Phänomen zu niemand absprechen. Ibeobachten. Man hat den Eindruck, als Nach dem Sieg der Revolution sah sich setze die Wiederholung eines geschicht- Fidel noch einmal in einer besonders heik- lichen Zyklus ein. Tatsächlich hatte der ame- len Lage, als Präsident Dwight D. Eisenho- rikanische Kontinent stets eine große Schwä-

wer und sein Vizepräsident Richard Nixon / REUTERS CLAUDIA DAUT che für messianische Figuren. Viele führen- ihn beseitigen lassen wollten. Die geheimen Redner Castro (2006) de Politiker und Intellektuelle fordern lie- Pläne für Castros Sturz standen kurz davor, ber eine reinigende Erneuerung ihres jewei- ausgeführt zu werden. Doch erneut zeigte sich der gute Stern des ligen Landes als schlicht und einfach einen notwendigen Fortschritt. Politikers. Die republikanischen Hardliner verlassen das Weiße Parolen, die auf das Volk von jeher ansteckend wirkten und wirken. Haus, und ein junger Hoffnungsträger hält Einzug, John F. Ken- Aus diesen Keimzellen entstanden etwa die Santería, der Kult des nedy – der kurz darauf allerdings die Schweinebucht-Invasion zu heiligen Lazarus oder der Jungfrau von Guadalupe. Und dieser verantworten hatte. Und an der Spitze der sowjetischen Regierung südamerikanische Symbolismus, wie man es vielleicht nennen könn- befindet sich ein wesentlich abenteuerlustigerer, längst nicht so te, hat auch die neuen Messias-Figuren oder vielmehr die messia- misstrauischer Zeitgenosse wie Stalin, der vom ersten Augenblick nischen Ambitionen eines Hugo Chávez, eines Andrés Manuel Ló- an mit Castro sympathisiert, Nikita Chruschtschow. pez Obrador oder eines Ollanta Humala hervorgebracht. Sie alle Auch wenn Castro auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise durch könnte man als die geistigen Kinder des Comandante Castro be- den Abbau der sowjetischen Raketen durch Chruschtschow ver- zeichnen, und ich bin mir dabei völlig bewusst, welchen Wider- prellt wurde, machte er doch stets das Beste aus seinem Bündnis spruch die Vorstellung eines spirituellen Marxismus impliziert. Man mit der Sowjetunion. Im August 1968, als viele linke Intellektuelle mag darin die etwas unlogischen Beweise von Fidels erneuerter glaubten, er würde den Einmarsch der Truppen des Warschauer Bedeutung sehen, seiner dritten Wiedergeburt, wenn man so will. Pakts in Prag verurteilen, stieß er fast alle vor den Kopf, indem er seinen östlichen Verbündeten in einer inzwischen berühmten Edwards, 75, kam 1970 unter Salvador Allende Ansprache die Treue hielt. Unabhängigkeitsbestrebungen sind als chilenischer Gesandter nach Havanna. Zu- etwas für bürgerliche Intellektuelle, schien seine Botschaft zu nächst ein Sympathisant der kubanischen Re- sein. Dem Bündnis mit dem sowjetischen Block verdankte er volution, sagte sich der Romancier bald von eine Art anhaltende zweite Jugend. Fidel Castro los und beschrieb den Diktator Fidel Castro ist bis heute eine verwirrende Mischung aus Mes- in seinem illusionslosen Buch „Persona non sias und Pragmatiker. Oft hat er zu verstehen gegeben, er sei der grata“, das jetzt im Berliner Wagenbach-Verlag wahre Erbe von José Martí, der großen Figur des kubanischen Un- zum ersten Mal auf Deutsch erscheint (284 Sei-

abhängigkeitskampfes. Doch Martí war ein Literat, ein Dichter, ten; 22,50 Euro). BILDERDIENST FRIEDRICH / ULLSTEIN

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Das liegt doch in der Luft“ Der US-Schriftsteller John Updike, 74, über seinen Roman „Terrorist“, der einen sympathischen Attentäter zum Helden hat, die Gefahr eines neuen Anschlags am fünften Jahrestag des 11. September und den Niedergang der amerikanischen Städte

SPIEGEL: Mr Updike, kürzlich wurden drei Männer unter dem Verdacht verhaftet, ein Sprengstoffattentat im Holland Tunnel, ei- nem Straßentunnel zwischen Manhattan und New Jersey, geplant zu haben – ganz ähnlich wie in Ihrem neuen Roman „Ter- rorist“**. Was war das für ein Gefühl, als Sie davon in der Zeitung lasen? Updike: Es gab ja in letzter Zeit eine ganze Menge solcher Nachrichten, sogar über Terroristen, die in den USA geboren wur- den. Die Sache in New Jersey war noch nicht besonders weit gediehen, das war eher Wunschdenken als reale Planung. Ich halte die Parallele für einen Zufall. Viel- leicht hat es dem Buch ein wenig geholfen, mag sein. SPIEGEL: Aber es muss doch eigenartig für Sie gewesen sein, von einem immerhin an- gestrebten Anschlag auf einen Tunnel zu lesen – genau wie in Ihrer Geschichte? Updike: Es liegt doch einfach in der Luft, dass etwas in der Art passieren könnte. Diese Kultur, unsere amerikanische Kul- tur ist ganz und gar auf Schlagzeilen aus- gerichtet, in denen alles möglich erscheint, und dann gibt es natürlich Nachahmer. Im Übrigen glaube ich, dass von allem Frem- den und Unbedingten etwas Verlockendes ausgeht, so dass junge Menschen, die un- zufrieden sind und die Welt anklagen, im- mer wieder zum Extremismus hingezogen werden. Ich habe sogar den Eindruck, dass jungen Leuten heute das eigene Leben re- lativ wenig bedeutet und Selbstmord für sie keine abwegige Idee ist.

SPIEGEL: Sie sprechen jetzt nicht nur von RICK FRIEDMAN jungen Muslimen, sondern von Menschen Autor Updike*: Die eigene Gesellschaft als respektlos und ungläubig erfahren rund um den Globus? Updike: Ja, das ist mein Eindruck, wenigs- wenn junge Menschen sich überlegen, et- SPIEGEL: Aber was könnte ihn treiben? tens was Amerika angeht. Die Vereinigten was in der Art zu planen wie die Attentä- Updike: Wer weiß? Gott ist tot, es gibt hier- Staaten sind angeblich das Land der unbe- ter des 11. September. Aber so was als Hel- zulande ein Überangebot an allem, wie grenzten Möglichkeiten, und viele glauben dentat anzusehen, als Weg, das eigene überall im Westen. immer noch daran. Aber ich habe meine Leben sinnvoll einzusetzen, ist eine Sache, SPIEGEL: Aber nehmen die muslimischen Zweifel, ob die Jungen das heute noch mit etwas ganz anderes ist es, das tatsächlich ins Attentäter nicht gerade Gott für sich in derselben Naivität tun, wie ich es vor 50, Werk zu setzen, an den Sprengstoff her- Anspruch? Ist bei ihnen nicht eher das Ge- 60 Jahren getan habe. anzukommen und einen konkreten Plan genteil der Fall: ein Zuviel an Gott? SPIEGEL: Wie war das bei Ihnen? zu haben. Daher erwarte ich nicht, dass es Updike: Sie haben recht. Mein Romanheld Updike: Der Gedanke an Selbstmord wäre sehr viele hier in den USA geborene und fühlt sich deswegen vom Islam angezogen, für mich der unattraktivste überhaupt ge- aufgewachsene Terroristen geben wird. weil er die eigene Gesellschaft als ungläu- wesen. Heute, so glaube ich, sind die jun- Schon einer ist allerdings übel genug. big und respektlos erfährt. Er versucht, gen Leute rücksichtslos, auch gegen sich etwas anderes zu leben, nach seinem Glau- selbst. Drogenkonsum ist eine Art von * In der Athenæum-Bibliothek in Boston. ben zu leben. Aber im Allgemeinen habe Selbstmord. Eine leichtsinnige Fahrweise ** John Updike: „Terrorist“. Aus dem Amerikanischen ich den Eindruck, ein Großteil der Teil- von Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Reinbek; 400 Sei- ist eine andere Möglichkeit, dem Tod den ten; 19,90 Euro. Die deutsche Ausgabe erscheint Ende nahmslosigkeit und der Art von brutaler Hof zu machen. Mich überrascht es nicht, August. Verrohung – wie beim Columbia-High-

142 der spiegel 32/2006 School-Massaker in Littleton, Colorado – er will sie nicht mögen. Also registriert er dass es sich um einen beharrlichen mensch- rührt tatsächlich von einem Verfall der tra- genauestens die zunehmend provokative lichen Instinkt handelt. Aber Sex ist eine ditionellen religiösen Vorschriften her, der Kleidung der jungen Frauen. Von derlei sehr auf den Moment bezogene Aktivität, jüdisch-christlichen Richtlinien, was das Wandel gab es zu meiner eigenen Lebens- nicht sehr haltbar, ganz wie das Leben Tabu des Selbstmords angeht. Während es zeit wahrlich genug. Ich erinnere mich selbst. Was bleibt zurück? im Islam, auch wenn die einschlägigen Tex- noch daran, dass meine Mutter Kleider SPIEGEL: Selbst Ahmad ist nicht völlig des- te gegen jede Art von Tötung argumentie- trug, die über ihre Knöchel reichten, und interessiert. ren, dennoch eine Tradition eines ehren- ihre Mutter bedeckte sogar noch den Updike: Ja, selbst Ahmad macht seine klei- vollen Todes in der Schlacht gibt. ganzen Fuß – so dass es einst aufregend ge- ne sexuelle Erfahrung, die ihm doch zu SPIEGEL: War es für Sie als Schriftsteller wesen sein muss, einen Frauenfuß zu er- denken gibt. Er hat sein Leben auf einige ein besonderes Vergnügen, auf unsere blicken. Heute gibt es nur noch sehr wenig, wenige Ideen gegründet, geborgte Ideen, westliche Zivilisation mit den Augen dieses das verborgen ist. die Ideen anderer Leute – und mit 18 ris- kiert man gern einiges und setzt sich neu- en gefährlichen Erfahrungen aus. SPIEGEL: Sie suggerieren im Roman einen Zusammenhang zwischen Ahmads Weg in den Terrorismus und dem Niedergang der städtischen Umgebung. Updike: Was diese mittleren Städte angeht, die eine industrielle Vergangenheit haben und einst die Einwanderer anzogen und prosperierten, jedenfalls auf der Manager- und Angestelltenebene, so lassen sich sol- che Städte überall im Osten Amerikas fin- den. Schauen Sie sich um: Ob Bridgeport in Connecticut, Newark in New Jersey oder Redding in Pennsylvania, woher ich stamme – die Beschreibung passt überall. Die Städte gehen kaputt, aber es leben im- mer noch viele Menschen in ihnen, es wer- den Kinder geboren – doch die Frage ist, wie es weitergehen soll, wie soll jemand von dort auf sich aufmerksam machen, Be- friedigung finden? Auch wenn es möglich ist, dass Jungs, die in einem piekfeinen rei- chen Vorort aufgewachsen sind, sich eben- falls vom Islam angezogen fühlen, glaube ich, dass es in Ahmads Fall nicht viel Widerstand zu überwinden gab. SPIEGEL: Wegen seines Umfelds? Updike: Es gab für ihn kein alternatives Glaubensangebot, er hat wenig Aussicht, je ins Establishment der Stadt aufzusteigen. Insofern denke ich, dass ihm angesichts dieses uferlosen Verfalls, dieser Mattig- keit und Stagnation, der Islam wie eine vi- tale, strenge, fordernde, beredte und len- kende Alternative vorkommt. Das ist doch das Problem aller freiheitlichen Gesell-

MOHAMMED ZAATARI / AP MOHAMMED ZAATARI schaften: In bestimmten Phasen deines Romanthema Glaubenskrieger: „Alle Ungläubigen sind unsere Feinde“ Lebens erhältst du zu wenig Richtungs- hinweise, Ratschläge. Freiheit ist eine zornigen jungen Mannes, dieses Muslim, SPIEGEL: Sie denken an die bauchfreie wunderbare Idee, aber im Alltag lässt sie zu blicken? Mode? dich treiben, wohin du willst, und das führt Updike: Durchaus. Eine Menge von dem, Updike: Der Bauch ist zu einer neuen ero- zur Frustration. was er wahrnimmt und um sich herum tischen Zone geworden. Er hat die Brust SPIEGEL: Dürfen wir noch eine Passage aus sieht, ist für jeden von uns sichtbar, nicht als Fokus des Blicks abgelöst – stand die Ihrem Roman zitieren? Ahmad sagt zu ei- nur für einen Anhänger des Islam. Es ist nicht einmal im Zentrum der männlichen nem jungen Mädchen: „Mein Lehrer an offensichtlich, dass der Glaube bei uns er- Aufmerksamkeit? der Moschee sagt, alle Ungläubigen sind müdet ist, egal ob es sich um das Chris- SPIEGEL: Wenn Ahmads Lehrer in der Mo- unsere Feinde. Der Prophet hat gesagt, tentum oder den Glauben an das eigene schee dem Jungen erklärt, dass die mensch- dass letztlich alle Ungläubigen vernichtet Vorwärtskommen oder das freie Unter- liche Kopulation „geradezu der Inbegriff werden müssen.“ Wenn der Koran sagt, nehmertum handelt. des irdisch Vergänglichen, des nichtigen dass die Ungläubigen getötet werden müs- SPIEGEL: Und Sie schauen mit seinen Au- Genusses“ sei, wie klingt das in den Ohren sen, dann kann doch nicht die westliche gen auf die lockeren westlichen Kleidungs- eines Autors, der eine so sexbesessene Zivilisation der Grund für den Terror sein. sitten. Figur wie Harry Angstrom erfunden hat? Updike: Es gibt im Koran verschiedene Aus- Updike: Ja, der Junge mag diese sinnlich Updike: Ja, die Kopulation. Die Tatsache, sagen. Mohammed war in seinem Leben öf- und sexuell aufgeheizte Stimmung nicht – dass Menschen für die Liebe ihren Ruf aufs ter in der Defensive und entsprechend krie- das heißt, er mag sie natürlich schon, aber Spiel setzen und alles riskieren, zeigt doch, gerisch, daher diese Äußerungen. Gleich-

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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom zeitig hat er gesagt, die Juden und die Bestseller Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Christen seien „unsere Brüder“. Wir sind kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller alle Kinder der Bibel. Der Koran lässt sich Belletristik Sachbücher – wie die Bibel – für viele Zwecke einspan- nen. Man findet immer ein entsprechendes 1 (1) Ildikó von Kürthy 1 (1) Hape Kerkeling Zitat. Und sowohl in der Bibel als auch im Höhenrausch Ich bin dann mal weg Malik; 19,90 Euro Koran heißt es an manchen Stellen, dass Wunderlich; 17,90 Euro 2 (2) Frank Schätzing Nachrichten aus die Ungläubigen zu vernichten seien. einem unbekannten Universum SPIEGEL: Und doch dürfte der Terror seine Die Suche nach dem Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro Wurzeln eher im Islam oder im Koran ha- Mann, der bleibt: ben als im Zustand der westlichen Gesell- Mittdreißigerin macht 3 (3) Eva-Maria Zurhorst schaft. Erfahrungen im Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro Internet-Dating-Milieu Updike: Natürlich gibt es militante Züge am 4 (5) John Dickie Cosa Nostra – Islam, das hat eine lange Tradition. Aber es Die Geschichte der Mafia ist unserer Gesellschaft anzulasten, dass 2 (2) Daniel Kehlmann Die Vermessung die jungen Leute nichts Vernünftiges zu S. Fischer; 19,90 Euro der Welt Rowohlt; 19,90 Euro tun haben, dass so viele von ihnen ohne 5 (4) Jürgen Roth Arbeit sind. Sie finden hier viel Verzweif- 3 (5) Martin Walser Angstblüte Der Deutschland-Clan lung, Frustration. Rowohlt; 22,90 Euro Eichborn; 19,90 Euro SPIEGEL: Daher rekrutieren sich ja aber nicht die Attentäter. Nehmen Sie nur die 4 (3) Elizabeth George Wo kein 6 (8) Peter Hahne Schluss mit lustig Männer des 11. September: Sie waren fast Zeuge ist Blanvalet; 22,95 Euro Johannis; 9,95 Euro alle bestens ausgebildet und kamen kei- 5 (6) Tommy Jaud Resturlaub 7 (7) Thomas Leif Beraten und verkauft neswegs aus Elendsvierteln. Scherz; 12,90 Euro C. Bertelsmann; 19,95 Euro Updike: Richtig. Aber es sind doch bei ge- walttätigen Revolutionen immer Leute aus 8 (6) Matthias Matussek 6 (4) Donna Leon Blutige Steine der Mittelklasse oder sogar der gehobenen Wir Deutschen S. Fischer; 18,90 Euro Diogenes; 19,90 Euro Mittelklasse involviert gewesen, die so han- 9 (9) Senta Berger Ich habe ja gewußt, deln, weil die wirklich Unterdrückten nicht 7 (9) Martin Suter Der Teufel von daß ich fliegen kann für sich sprechen können oder einfach Mailand Diogenes; 19,90 Euro Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro zu beschäftigt damit sind, für das tägliche Brot zu sorgen. Im Übrigen ist das Pro- 10 (10) Corinne Hofmann Wiedersehen 8 (7) Iny Lorentz Das Vermächtnis blem, was im Lande geborene potentielle der Wanderhure Knaur; 16,90 Euro in Barsaloi A 1; 19,80 Euro Terroristen betrifft, hier wahrscheinlich 11 (17) Werner Tiki Küstenmacher / nicht so groß wie in Europa – dort leben in- 9 (8) François Lelord Hectors Reise Lothar J. Seiwert zwischen weitaus mehr Araber und Mus- Piper; 16,90 Euro Simplify your life Campus; 19,90 Euro lime als bei uns. SPIEGEL: Haben Sie den Koran gelesen? 10 (20) Robert Gernhardt Später Spagat 12 (15) Christoph Meyer Herbert Wehner Updike: Vor Jahren schon, auf Englisch. Er S. Fischer; 14,90 Euro dtv; 16 Euro ist nicht ganz so umfangreich wie die Bibel, 11 (10) Jakob Hein Herr Jensen steigt aus 13 (11) Albrecht Müller Machtwahn aber man hat das Gefühl, er sei sehr lang. Piper; 14,90 Euro Droemer; 19,90 Euro Im Original sind die Texte nach ihrem Um- fang angeordnet: zu Beginn die längsten, 14 (16) Frank Schirrmacher Minimum 12 (12) Leonie Swann Glennkill am Ende die kürzesten. Man kommt also Blessing; 16 Euro Goldmann; 17,90 Euro von den sehr ausführlichen Gesetzesdar- 15 (12) Dietrich Grönemeyer legungen über die Regierung oder die ge- 13 (11) Dan Brown Diabolus Der kleine Medicus Rowohlt; 22,90 Euro rechte Gesellschaft hin zu den äußerst poe- Lübbe; 19,90 Euro tischen und obskuren Mini-Texten. 16 (–) Alexander von Schönburg SPIEGEL: Sie gelten als gläubiger Christ. 14 (13) Hera Lind Die Champagner-Diät Lexikon der Wenn Sie den Koran mit der Bibel ver- Diana; 16,95 Euro überflüssigen Dinge gleichen, was fällt Ihnen auf? Rowohlt Berlin; 16,90 Euro Updike: Die Bibel ist das Werk vieler Au- 15 (14) Nicholas Sparks Das Wunder toren, ein Kulturdenkmal, dessen Entste- eines Augenblicks Heyne; 19,95 Euro hung weit in die vorchristliche Zeit zu- Alles, was der Mensch rückreicht. Was nun meine Kenntnisse 16 (–) Paulo Coelho Sei wie ein Fluss, nicht braucht – jetzt als angeht: Kürzlich hatte ich eine neue eng- der still die Nacht durchströmt Handbuch für Freunde von nutzlosem Wissen lische Übersetzung der ersten fünf Bücher Diogenes; 19,90 Euro der Bibel zu rezensieren. Natürlich kann- te ich die Schöpfungsgeschichte, den Gar- 17 (15) Cecelia Ahern Zwischen Himmel 17 (18) Senait G. Mehari Wüstenlied ten Eden, die Frucht der Erkenntnis, die Droemer; 16,90 Euro und Liebe W. Krüger; 16,90 Euro Arche Noah, eben das, was einem Kind 18 (20) Ben Schott 18 (–) Ian Rankin Der diskrete Mr. Flint Schotts Sammelsurium in der Sonntagsschule beigebracht wird. Bloomsbury Berlin; 16 Euro Worauf ich nicht gefasst war: wie wild es Manhattan; 14,95 Euro in einigen der frühen Abschnitte zugeht. 19 (–) Werner Bartens Das neue Da kommt ein kompromisslos mörderi- 19 (16) Ilija Trojanow Der Weltensammler Lexikon der Medizin-Irrtümer scher Gott zum Vorschein. Hanser; 24,90 Euro Eichborn; 19,90 Euro SPIEGEL: Heute würde allerdings kaum 20 (–) Barbara Wood Gesang der Erde 20 (–) Peter van Ham In den Bergen noch jemand daraus eine politische Waffe W. Krüger; 22,90 Euro der Kopfjäger Frederking & Thaler; 19,90 Euro machen wollen.

146 der spiegel 32/2006 Updike: Zum Glück töten der- zeit nicht viele für die Bibel, das stimmt. Aber falls es dazu kommen würde – und es gibt vereinzelte, latent rassistische Sekten, die sich vorstellen könnten, einen Feldzug zu führen –, dann, so glaube ich, wäre biblischer Rückhalt zu finden. Sie müssen nur zurück- blicken in die Geschichte. SPIEGEL: Hat Sie der Koran bis- weilen das Fürchten gelehrt, als Sie nach Zitaten für Ihren Roman suchten? Updike: Seit der Geschichte mit Salman Rushdie, spätestens aber nach der Affäre um die dänischen Cartoons sagt man sich: Lass die Finger von dem Thema! Das ist kein Stoff, der sich für ein Kunstwerk eignet! Aber wenn man es dann et- was nüchterner betrachtet, sagt man sich, dass ein Schriftsteller, der diese Berufsbezeichnung FOCUS / AGENTUR PHOTOS / MAGNUM DENNIS STOCK mit Stolz trägt, sich nicht von Schriftsteller Updike (1962): „Der amerikanische Traum hat sich an mir noch erfüllt“ allem fernhalten kann, was Är- ger machen könnte. Wozu sind wir da, chen oder mit seinem Beratungslehrer. wem ein falsches Spiel treibt, leider die wenn nicht dazu, über das zu schreiben, Außerdem besucht er einen Gottesdienst, einzelnen Menschen und ihr Verhalten aus was von allgemeinem Interesse ist und den den Schwarze zelebrieren, er entdeckt in den Augen verlieren. wunden Punkt einer Gesellschaft berührt. der Predigt manches, was ihn anspricht. SPIEGEL: Die entscheidende Szene Ihres SPIEGEL: Freilich könnte der Leser auch SPIEGEL: Aber Ahmad bleibt bei seinem Romans spielt im Lincoln Tunnel, der nach den Eindruck gewinnen, dass Sie mit Plan, bleibt Erfüllungsgehilfe des Terrors. Manhattan führt. Stimmt es, dass Sie eine Ihrem Ahmad sympathisieren. Gegen Ende wird Ihr Roman zu einem Tunnelphobie haben? Updike: Ich habe versucht, einen Terroris- regelrechten Thriller. Hat Ihnen das beim Updike: Phobie ist zu viel gesagt. Aber ich ten von innen darzustellen. Er ist sympa- Schreiben Spaß gemacht? fahre nicht gern durch einen Tunnel. thisch und ein guter Sohn, zunächst durch- Updike: Ich wollte einfach gern die Span- SPIEGEL: Ihr Roman ist in seiner Kritik an aus gesetzestreu – ein typisches Produkt ei- nung richtig anheizen. Wenn Sie darin ei- der amerikanischen Lebensweise auffällig ner unglücklichen Verbindung zwischen radikal. Es gibt kaum zufrie- zwei romantischen jungen Menschen. Der dene Stimmen darin. Hat Vater, ein Araber, verschwand bald. Und sich Ihr Blick auf Amerika der Junge hat versucht, diese Lücke mit so sehr eingetrübt? dem Islam zu füllen, und wendet sich die- Updike: Im Ergebnis mag das sem Imam zu. Die Moschee spielt dabei Buch deprimierend wirken. die Rolle eines Außenpostens des Dschi- Mir kommen die Menschen had. Der Junge ist selbst ein Opfer. Wozu heute stupider als zur Zeit sollte ich über einen unsympathischen Ter- meiner Kindheit vor. Es fin- roristen schreiben? Das können die Zei- den sich zudem wenig ver- tungen besser. gnügliche Aspekte in unserer SPIEGEL: Dieser Imam, der den Jungen be- Gegenwart. Nehmen Sie nur einflusst und zum Terroristen macht, wirkt die ökologischen Probleme, wenig glaubensstark. Er ist ein Zweifler, die kulturellen Veränderun- lässt verschiedene Lesarten des Korans zu. gen, die nicht nur Ahmad, Updike: Stimmt. Wenn er orthodox wäre, sondern auch sein Beratungs-

würde er das nicht tun. Wahrscheinlich ALAN SCHEIN / CORBIS lehrer Jack Levy wahrnimmt. werden sich nicht allzu viele Imame in ihm Straßentunnel bei New York, Buchcover: Kleine Phobie SPIEGEL: Das Bild von Nie- wiedererkennen. Er ist ein Einzelgänger, dergang und Depression, das eine einsame Figur. Und seine Moschee ist nen Thriller sehen, so habe ich nichts da- Sie zeichnen, ist aber wohl doch eine west- nicht besonders prächtig. Außer Ahmad gegen. Im Gegenteil: Für einen Autor, des- liche Sichtweise. Wird nicht gerade von is- geht da niemand hin. sen Spezialität eigentlich die häuslichen lamischer Seite die Stärke des Kapitalis- SPIEGEL: Gibt es im Roman Ideen, wie die Dramen sind, in denen es selten zu kör- mus gegeißelt, vor allem die Übermacht Aggression von radikalen Islamisten und perlicher Gewaltanwendung kommt, kann der Globalisierung? Liefert nicht gerade das Töten beendet werden könnten? es sehr befriedigend sein, ein Buch über die geballte Kraft des Westens Argumente Updike: Der Roman versucht ja, die Ero- reale Gewalt zu schreiben, um daraus für den heiligen Krieg? sion eines mörderischen religiösen Wahns Spannung zu gewinnen. Das Problem bei Updike: Es kann sein, dass – ähnlich wie zu zeigen, es gibt auch einige menschliche vielen Thrillern ist ja nur, dass sie über der die christlichen Fundamentalisten – die Begegnungen, die Ahmad nachdenklich genauen Beschreibung, wer den Spreng- Muslime spüren, dass sie auf der Verlierer- machen, etwa die mit dem jungen Mäd- stoff von hier nach dort bringt, wer mit seite sind, dass ihrer vertrauten Welt der

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Boden unter den Füßen weggezogen wird. Macke von mir. Sie sollten das nicht zu Da haben Sie wohl recht: Wir sollten uns der ernst nehmen. Doch was mein eigenes Le- Tatsache stellen, dass die Globalisierung un- ben betrifft, das dem Ende zugeht, so kann umkehrbar ist. Sie kommt wie die Flut, wir ich mich ja wirklich nicht beklagen. Der können sie nicht aufhalten – die können sie amerikanische Traum hat sich an mir noch aber auch nicht aufhalten, allerdings unter- erfüllt. Mein Vater war Lehrer und ver- wegs einigen Schaden anrichten. diente sehr wenig. Ich wollte unbedingt SPIEGEL: Und wir? Schriftsteller werden, und mit Glück und Updike: Wir sollten uns fragen, ob das ka- einigem Fleiß bin ich es geworden. pitalistische Paradies für uns ausreicht, ob SPIEGEL: Keine Zukunftsängste? es am Ende nicht einfach bloß bedeutet, Updike: Ich bin mir nicht sicher, aber als je- zu viel zu essen, zu viele Fernsehkanäle, mand, der die 45 Jahre des Kalten Kriegs zu viel von allem zu haben, und ob nicht erlebt hat, in denen die Möglichkeit der jenes menschliche Wesen, das nach Lie- gegenseitigen atomaren Vernichtung sehr be und Aufregung, Freiheit und Natur real war, habe ich doch ein gewisses Ver-

strebte, langsam ausstirbt – und ersetzt wird RICK FRIEDMAN trauen darin, dass die menschliche Rasse es durch Wesen, die in ihren Apartments sit- Updike (M.), SPIEGEL-Redakteure* immer wieder schafft, die größte Katastro- zen und bloß noch Unterhaltung und Nah- „Will uns Gott eine Lektion erteilen?“ phe abzuwenden. Es wird Katastrophen rung konsumieren. Nichts von dem, was in geben, aber nicht die ganz große Kata- der Geschichte der Menschheit wirklich sind. Bei Ihnen in Europa ist zwar noch strophe. Manchmal denke ich: Vielleicht von Bedeutung war, scheint von diesem kein Hochhaus zum Einsturz gebracht wor- will uns Gott eine Lektion erteilen? Prozess der Erosion verschont zu bleiben. den, aber es gab Anschläge auf Züge. Man SPIEGEL: Eine sehr christliche Sichtweise. SPIEGEL: Ihr Roman spielt mit dem Jahres- muss nur eine Handvoll Leute mit Ma- Updike: Nun ja, es ist eben meine. Es gibt tag des 11. September als Datum des ge- schinengewehren in eine Einkaufspassage nur diesen einen Weg, was immer der Ein- planten Anschlags. Nun steht uns wieder schicken. Jeder kann sich die Schlagzeilen zelne glaubt oder nicht glaubt, er muss sich ein Jahrestag bevor. Beunruhigt Sie das? vorstellen. damit abfinden, dass andere etwas anderes Updike: Ich bin mir sicher, dass irgendwo SPIEGEL: Das klingt nicht gerade heiter. glauben und dass wir nun einmal lernen Strategen des Dschihad sitzen, die Schlim- Aber Sie erzählen es frohgemut. müssen, auf dieser Erde zusammenzule- mes anstreben. Auf der anderen Seite gibt Updike: O, ich weiß. Das hat man mir schon ben. Man könnte fast sagen: Liebt euch! es bei uns Kräfte, die genau das verhin- gesagt, dass ich bei Interviews immer läch- Schon deswegen ist mein Terrorist einer, dern wollen. Wir wissen allerdings, dass le, egal worum es geht. Das ist eine kleine den man lieben kann. freiheitliche, besonders hochindustrialisier- SPIEGEL: Mr Updike, wir danken Ihnen für te Gesellschaften besonders verletzlich * Martin Doerry und Volker Hage in Boston. dieses Gespräch. AUSSTELLUNGEN Feindbild und Vorbild Er ist einer der berühmtesten deutschen Künstler seiner Generation, eine geniale Nervensäge. Hans Haacke, bald 70, wird demnächst mit großen Schauen geehrt. ew York, das Schlachterviertel, der „Meat Market District“, mitten drin Ndas Café Florent, sehr amerika- nisch, 1985 von einem ambitionierten Gra- fikdesigner eingerichtet. Die Fleischer hat das nie abgeschreckt. Inzwischen leben VG BILD-KUNST, BONN 2006; FOTO: SASCHA RHEKER / ATTENZIONE SASCHA BONN 2006; FOTO: VG BILD-KUNST, viele Künstler in der Gegend, Hans Haacke HANS HAACKE BONN 2006; COURTESY VG BILD-KUNST, ist seit 1970 da. Haacke-Werke „Star Gazing“ (2004), „Der Bevölkerung“ (2000): Drastische Pointen Er mag das Florent. Es ist fast noch Frühstückszeit, die Musik ziemlich laut, len, viele bestellten die Presse dazu. Dass thematisierte Umweltsünden, als das noch der Kaffee lauwarm, aber stark. Vorn am in dem Kübel nun auch Brennnesseln nicht in Mode war. Immobilienhaie, Waf- Tresen veranstalten ein paar Leute ein Mo- sprießen – das kann, wer will, politisch fenhändler, er forschte, spürte nach, do- deshooting, Künstler Haacke sagt, er lasse deuten. Viele finden es einfach lustig. kumentierte, ließ nichts aus. sich ungern fotografieren. „Ich will nicht Damals zur Jahrtausendwende aber gab Polit-Kunst, das hat er bewiesen, muss zum Mythos werden.“ Er ist längst einer. es diesen enormen Aufruhr: Buhrufe ka- nicht einschläfernd sein, man kann auch Am nächsten Samstag wird er 70 Jahre men aus allen politischen Lagern. Man as- die Weltpolitik auf – drastische – Poin- alt, der Aufrührer aus Deutschland. Im No- soziierte eine Blut-und-Boden-Ästhetik, ten zuspitzen. Wie auf der Fotomontage vember folgt eine Doppelausstellung in eine „Erdkultsymbolik“. Wie absurd. „View onto the Rose Garden“ von 1990. den Hamburger Deichtorhallen und in der Dieser Polit-Künstler ist für ganz Deutsch- Da sieht man die Sprossenfenster im Akademie der Künste in Berlin. land und halb Amerika die Personifikation Oval Office des amerikanischen Präsiden- Nicht jedes Museum würde das Risiko des linken Gewissens. Nicht wenige halten ten. Dahinter, im Garten, blühen aber einer Haacke-Hommage eingehen. Er weiß ihn für eine Nervensäge, doch gerade seine keine Rosen, der Blick fällt auf eine zer- das. Der Mann war Documenta- und preis- Penetranz ist bewundernswert. Er ahnt, bombte Stadt. In diesem Fall ist es Pana- gekrönter Biennale-Teilnehmer, berühmt „dass ich stur bin“. Das Kompromisslose mit ma City. 2004 ließ er aus einer US-Flagge geworden durch die Ausstellungen, die er Verbitterung zu verwechseln wäre eine Kapuze im Abu-Ghureib- gemacht hat, und durch solche, die man falsch: Der Mann, gebürtiger Köl- Stil nähen. vorab verboten hat. Eine Einzelschau in ner, strahlt Gelassenheit aus. Seine Angriffe auf die großen Deutschland: Das gab es für ihn zuletzt vor Tatsächlich aber hat er sich mit Heucheleien der Gegenwart ma- über 20 Jahren. Haacke, der Umstrittene. vielen angelegt, auch in New chen ihn zum Vorbild. Nicolaus In Amerika, wo er wohnt, ist es schon pas- York. Seit 1965 lebt er hier, er hei- Schafhausen, 41, Kurator des siert, dass morgens ein TV-Team vor der ratete eine Amerikanerin, wurde deutschen Pavillons auf der kom- Tür stand, unangemeldet, aber forsch. Professor an einer Kunsthoch- menden Venedig-Biennale, nann- Der Wahl-New-Yorker ist der letzte gro- schule. Es hätte ein ruhiges Leben te Haackes Namen, als er gefragt ße Gesellschaftskritiker der Kunstszene – werden können. Stattdessen kam wurde, welcher Beitrag für Vene-

das bringt ihm die Bewunderung gerade es bald zu einem ersten Skandal. PRESS / ACTION GRABKA THOMAS dig ihn in der Vergangenheit be- einer jungen Künstlerschaft ein, einer, die Im Rahmen einer Gruppen- Künstler Haacke eindruckt habe. Robert Fleck, sich nicht beliebig und gefällig, sondern ausstellung im Museum of Mo- Fröhlich stur Leiter der Deichtorhallen in Ham- konzeptuell und politisch geben will. dern Art organisierte er 1970 burg, sieht ständig Werke, „die Das deutsche Publikum dürfte auf die eine Besucherbefragung über Gouverneur von Haacke sein könnten, die aber von jun- Doppelschau gespannt sein. Es ist erst ein Nelson Rockefeller und dessen befürwor- gen Leuten stammen“. Der Nachwuchs paar Jahre her, da stritt man sich sogar im tende Haltung zur Indochina-Politik. Doch übernehme die Methoden des Deutschen, Bundestag über ein Objekt dieses Künst- war Rockefellers Mutter die Mitbegründe- das Investigative, Reportagehafte, die Ver- lers, über eine Art Mega-Blumenkübel. rin des Museums. Die Familie war (und ist) fremdungen. Er war gebeten worden, sich an der ein spendabler Geldgeber; die Kunstkritik Es hadern eher die nicht ganz so jungen künstlerischen Gestaltung des frisch sa- hielt Haacke für einen Nestbeschmutzer. Zeitgenossen. Haacke wurde beauftragt, nierten Reichstags zu beteiligen, er plante, Das Guggenheim in New York, das Wall- in Berlin ein Rosa-Luxemburg-Denkmal einen Holztrog aufzustellen und darin den raf-Richartz-Museum in Köln luden ihn ein zu entwerfen, er entschied sich für Zitate Neonschriftzug „Der Bevölkerung“ leuch- und wieder aus. Manches einst ungezeigte aus Messingbuchstaben, die jetzt in den ten zu lassen. Ein Clou war die Auffor- Objekt darf man im Herbst in Berlin und Boden des Rosa-Luxemburg-Platzes vor derung an alle Abgeordneten, den Kasten Hamburg betrachten, auch solche, für die der Volksbühne eingelassen werden. Frank mit Erde aus ihren Wahlkreisen zu füllen. ihn der damalige New Yorker Bürgermeis- Castorf, 55, Chef des Theaters, zeterte be- Es hat, letztlich, funktioniert. Manche ter Rudolph Giuliani öffentlich abkanzelte. reits, er wolle sich nicht zutexten lassen. schleppten die Heimaterde in Jutesäcken Haacke betont, er wolle nicht provozie- Alles ist beim Alten: Haackes Kunst lebt heran, andere kamen mit Goldfischscha- ren. Aber er deckt Provokantes auf. Er auch von ihren Gegnern. Ulrike Knöfel

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Ein Kino voller Helden Nahaufnahme: Bei der New Yorker Premiere von Oliver Stones Regisseur Stone mit Familie* Film „World Trade Center“ fließen Schweiß und Tränen.

lle Blicke richten sich angstvoll zum Amerikas verlorener Sohn in den Schoß Satelliten aus auf New York und lässt die Himmel an diesem stickigen Hoch- der Familie zurück und leistet Abbitte. Premierengäste mit Gottes Augen auf ihre Asommerabend in Manhattan, aber Bescheiden bittet Stone zwei Männer im Stadt blicken. In einer Einstellung verbin- es sind nur düstere Wolken, die sich dort zu- Publikum, sich von ihren Plätzen zu er- det Stone das kleine Drama der zwei Män- sammenziehen und erste Tropfen regnen heben: John McLoughlin und William J. ner unter der Erde mit dem großen Drama, lassen. Schlimmeres als einen kräftigen Jimeno waren am 11. September 2001 als das den gesamten Erdball umspannt. Schauer hat die Menge also nicht zu be- Polizisten im Einsatz, sie wurden unter den Doch statt den Blick zum Panorama der fürchten, die sich vor dem Ziegfeld Theatre Trümmern der eingestürzten Zwillingstür- Ereignisse jenes Tages zu weiten und den drängt, die Katastrophe wartet drinnen im me begraben und viele Stunden später in Überlebenskampf der beiden Polizisten Kinosaal, Oliver Stone zeigt hier heute sei- einer dramatischen Rettungsaktion gebor- darin einzubetten, vergräbt sich Stone wie- nen neuen Film „World Trade Center“ über gen; zwei von den wenigen Überlebenden, der unter den Trümmern. In Nahaufnah- die Anschläge vom 11. September. die in den Geröllbergen gefunden wurden. men verweilt er so lange auf den Gesich- Aufgeregt sind vorerst nur die Fernseh- Über 1300 Premierengäste springen auf, tern der Männer, bis der Zuschauer das teams und Fotografen, sie müssen Spike es gibt minutenlang stehende Ovationen, Gefühl für Raum und Zeit verliert. Lee auf dem roten Teppich zum Lächeln Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungs- McLoughlin und Jimeno reden über bringen und Sofia Coppola oder den Gou- kräfte sind seit den Anschlägen die unum- ihre Familien und über Gott, über jene verneur von New York, sollen in Sekunden- strittenen Helden der Stadt. Spätestens in Dinge also, über die Männer wahrschein- schnelle kapieren, wer berühmt ist, werden diesem Moment ist klar, dass Stones Ver- lich reden, wenn sie lebendig begraben will oder niemals werden wird. sind und ihr Ende nahen sehen. Der Herr im Nadelstreifenanzug Die Menschen im Saal sind tief mit weitgeöffnetem Hemd und ra- bewegt, denn es ist ihr Schicksal, siertem Schädel etwa ist kein neu- das der Film beschreibt. Im Rest er Hollywood-Bösewicht, sondern der Welt allerdings wirken diese nur der Immobilienmakler von Szenen weniger elementar als Nicolas Cage, dem Star des Films. vielmehr banal und beliebig. Sie Dann betritt Oliver Stone den ließen sich auch problemlos in ei- roten Teppich, 50 Minuten braucht nen Film über ein Grubenunglück er für die nächsten 100 Meter, für schneiden. Blitzlichtgewitter und Fernseh- Stone zeigt ausgiebig die An- moderatorinnen. Alle 30 Sekun- gehörigen, die um McLoughlin den gibt es eine Art Boxenstopp, und Jimeno bangen, „I love you“ denn der stark schwitzende Os- wird gerufen, geflüstert und ge- car-Preisträger wird immer wie- haucht, aber hier, wo die Men- der abgetupft und muss sich die schen die Anschläge als Angriff

Nase putzen. „Lass das bloß nicht UIP (U.) (O.); / DPA GOMBERT auf ihre Familien empfunden ha- die Fotografen sehen“, zischt eine Dreharbeiten zu „World Trade Center“: Gefeiertes Heldentum ben, kann das Publikum diesen Assistentin. Satz gar nicht oft genug hören. Während vor dem Kino Filmpremieren- filmung von McLoughlins und Jimenos Ge- Ungebrochen feiert Stone das Helden- Routine herrscht, ist drinnen alles anders: schichte schon vor der ersten Minute ge- tum seiner Figuren, zeigt bildfüllend Kreu- Trauermusik läuft vom Band, Paramount- wonnen hat, zumindest in diesem Saal und ze und lässt in einer Halluzinations-Se- Boss Brad Grey spricht feierliche Worte wahrscheinlich auch in dieser Stadt. quenz sogar Jesus erscheinen. Er reizt das und ruft den Regisseur auf die Bühne, der Stone beginnt seine Heldenerzählung im Pathos bis zur Schmerzgrenze aus, bis die „Platoon“ (1986) gedreht hat, „Geboren Morgengrauen des 11. September. Er zeigt Tränen fließen: Beim Abspann im Saal ist am 4. Juli“ (1989) und „JFK – Tatort Dal- Menschen auf dem Weg zur Arbeit, weit vielfaches Schluchzen und Schniefen zu las“(1991). Stone ist Hollywoods Experte weg im Hintergrund sind mehrfach die hören, das lauter wird, als die Namen der für amerikanische Traumata. Zwillingstürme zu sehen, nicht mehr als verunglückten Helfer über die Leinwand Seine Gesten sind behutsam, fast devot zwei filigrane Striche im Stadtpanorama. ziehen. Dann brandet Applaus auf. klingt seine Stimme, wenn er von der „bes- Ein melancholischer, ein beiläufiger Ein- Die Premiere ist wie eine große Fami- ten Erfahrung in meiner Filmkarriere“ stieg. Dann schlagen die beiden Flugzeuge lienfeier, viele Angehörige sind da. Sie um- spricht. Für Stone ist das heute der viel- in die Twin Towers ein, die Polizisten armen und küssen John McLoughlin, den leicht schwierigste Auftritt seiner Lauf- McLoughlin (Cage) und Jimeno (Michael wahren Helden, sobald das Licht angeht. bahn. Nach dem 11. September hatte der Pena) werden verschüttet, und der Film Er wurde nach dem 11. September über Polit-Berserker Verständnis für die Terro- beschreibt eindringlich ihre Schmerzen, 20-mal operiert, seine Beine waren fast ab- risten geäußert und galt seitdem als Vater- ihren Durst und ihre Angst. gestorben. Heute Abend jedoch, im Zieg- landsverräter. An diesem Abend kehrt Nach einer Weile bahnt sich die Kame- feld Theatre, ist ein Lächeln auf seinem ra aus dem Grab der Männer durch Schutt Gesicht, und sein humpelnder Gang wirkt Lars-Olav Beier, * Am 3. August bei der New Yorker Premiere seines Films und Stahl einen Weg ans Tageslicht, er- seltsam beschwingt. Frank Hornig „World Trade Center“. hebt sich in die Luft, schaut von einem

150 der spiegel 32/2006 SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln / Recherche E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 Nachdruckgenehmigungen CHEFREDAKTEUR Stefan Aust (V. i. S. d. P.) für Texte und Grafiken: MÜNCHEN Dinah Deckstein, Heiko Martens, Bettina Musall, Conny Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Neumann, Lerchenfeldstraße 11, 80538 München, Tel. (089) 4545950, Fax 45459525 schriftlicher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch DEUTSCHE POLITIK Leitung: Dietmar Pieper, Hans-Ulrich Stoldt für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und (stellv.). Redaktion: Georg Bönisch, Annette Bruhns, Per Hinrichs, STUTTGART Felix Kurz, Eberhard Straße 73, 70173 Stuttgart, Tel. Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. Carsten Holm (Hausmitteilung), Dr. Hans Michael Kloth, Bernd Kühnl, (0711) 664749-20, Fax 664749-22 Merlind Theile. Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Dr. Thomas Deutschland, Österreich, Schweiz: REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Darnstädt, Hartmut Palmer, Dr. Klaus Wiegrefe Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 AMSTERDAM Gerald Traufetter, Keizersgracht 431s, 1017 DJ Amster- E-Mail: [email protected] HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Gabor Steingart, Jan Fleischhauer (stellv.), Konstantin von Hammerstein (stellv.). Redaktion Politik: dam, Tel. 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Redaktion: Dominik ISTANBUL Annette Großbongardt, PK 12 Arnavutköy (Bogazici), DER SPIEGEL auf CD-Rom und DVD Cziesche, Ulrike Demmer, Michael Fröhlingsdorf, Ulrich Jaeger, 34345 Istanbul, Tel. (0090212) 2877456, Fax 2873047 Telefon: (040) 3007-3016 Fax: (040) 3007-3180 Sebastian Knauer, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Cordula Meyer, An- E-Mail: [email protected] dreas Ulrich, Dr. Markus Verbeet. Autoren, Reporter: Jochen Bölsche, JERUSALEM Christoph Schult, P.O. Box 9369, Jerusalem 91093, Tel. www.spiegel.de/shop Jürgen Dahlkamp, Gisela Friedrichsen, Bruno Schrep (00972) 26447494, Fax 26447501 BERLINER BÜRO Leitung: Heiner Schimmöller, Stefan Berg (stellv.). KAIRO Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand, 18, Shari’ Al Fawakih, Bestellung von Einzelheften / älteren Ausgaben Redaktion: Markus Deggerich, Irina Repke, Sven Röbel, Caroline Muhandisin, Kairo, Tel. 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Reporter: Klaus Brinkbäumer, Uwe SHANGHAI Dr. Wieland Wagner, Grosvenor House 8 E/F, Jinjiang Frankfurt am Main Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Gutsch, Barbara Supp Hotel, 59 Maoming Rd. (S), Shanghai 200020, Tel. (008621) 54652020, Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, Fax 54653311 E-Mail: [email protected] Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger SINGAPUR Jürgen Kremb, Bureau Southeast Asia / Pacific, 59 A, Abonnementspreise SONDERTHEMEN Leitung: Stephan Burgdorff, Norbert F. Pötzl Merryn Road, 298530 Singapur, Tel. (0065) 62542871, Fax 62546971 Inland: zwölf Monate ¤ 166,40 (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Horst Beckmann, Wolfram WARSCHAU P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 494,00 Bickerich, Joachim Mohr, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 114,40 inkl. Dr. Rainer Traub, Kirsten Wiedner WASHINGTON Georg Mascolo, 1202 National Press Building, Wa- 6-mal UniSPIEGEL PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Stegel- shington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 mann Schweiz: zwölf Monate sfr 291,20 WIEN Marion Kraske, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Europa: zwölf Monate ¤ 221,00 CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), 5331732, Fax 5331732-10 Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 299,00 Katharina Lüken (stellv.), Holger Wolters (stellv.) SCHLUSSREDAKTION Gesine Block, Regine Brandt, Reinhold Buss- DER SPIEGEL als E-Paper: zwölf Monate ¤ 166,40 DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle mann, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Bianca Hunekuhl, Anke Jen- Halbjahresaufträge und befristete Abonnements (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, sen, Maika Kunze, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, werden anteilig berechnet. Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ulrike Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia ✂ Wallenfels Abonnementsbestellung Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Catrin Hammy, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, gestaltung), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt, Anke Well- Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim nitz; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Heidrun Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate 20637 Hamburg – oder per Fax: (040) 3007-3070. Günther, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Kemper-Gussek, Jan Kerbusk, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Ich bestelle den SPIEGEL Dilia Regnier, Sabine Sauer, Karin Weinberg. E-Mail: bildred@ Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Dr. Walter ❏ für ¤ 3,20 pro Ausgabe (Normallieferung) spiegel.de Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, SPIEGEL Foto USA: Matthias Krug, Tel. (001310) 2341916 Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias ❏ für ¤ 9,50 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Renata Biendarra, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Tiina Hurme, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Thomas Riedel, Andrea Sauer- Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte bier, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlüter- Hefte bekomme ich zurück. Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe, Reinhilde Wurst; Micha- Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegentha- Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, ler, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Dr. Claudia Stodte, Stefan das monatliche Programm-Magazin. el Abke, Christel Basilon, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Petra Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Martina Treu- Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen Vogt, Carsten mann, Doris Wilhelm Voigt, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller Sonderhefte: Rainer Sennewald PRODUKTION Christiane Stauder, Petra Thormann LESER-SERVICE Catherine Stockinger Name, Vorname des neuen Abonnenten TITELBILD Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / Arne Vogt Washington Post, New York Times, Reuters, sid REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. 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152 der spiegel 32/2006 Chronik 29. Juli bis 4. August SPIEGEL TV

Tausende Badegäste drängen sich am Strand MONTAG, 7. 8. von Qingdao. Die chinesische Tourismuswirt- 22.45 – 23.15 UHR SAT.1 schaft soll 2006 um acht Prozent wachsen. SPIEGEL TV REPORTAGE Secondhand für Kamerun – Wie aus Spenden Waren werden Was hier als Altkleiderspende in den Con- tainer kommt, wird an professionelle Händler verkauft, dann zum Sortieren in Billiglohnländer exportiert und anschlie- ßend an Zwischenhändler in Afrika ver- sandt, bis hin zum Endverbraucher. Und jedes Mal wird das einst Wertlose teurer.

DONNERSTAG, 10. 8. 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Billig will ich – Das Geschäft mit der Geizkultur

AFP Nicht erst seit dem Schlachtruf „Geiz ist geil!“ sind die Deutschen ein Volk von SAMSTAG, 29. 7. Yukos an. Zur Begründung heißt es, das Schnäppchenjägern und Sonderangebots- Unternehmen sei überschuldet. NAHOST-KONFLIKT I US-Außenministerin sammlern. Tatsächlich sind manche Prei- Condoleezza Rice trifft zu ihrem zweiten se so niedrig, dass die Händler scheinbar Besuch innerhalb weniger Tage in Jeru- MITTWOCH, 2. 8. keinen Gewinn mehr erwirtschaften salem ein. Dort legt sie die Vorschläge der können. Trotzdem machen immer mehr US-Regierung für eine Stabilisierungs- SPIONAGE Die Stasi-Unterlagen-Behörde Sonderpostenmärkte den etablierten Ge- truppe vor. gibt den Zugang zu Akten von ehema- schäften Konkurrenz. SPIEGEL TV Extra ligen Bundestagsabgeordneten frei. Es über die boomende Branche der purzeln- SONNTAG, 30. 7. geht dabei um 16 Fälle aus dem Zeitraum den Preise. 1969 bis 1972. KONGO In der Demokratischen Republik FREITAG, 11. 8. Kongo finden die ersten demokratischen 21.55 – 23.55 UHR VOX Parlaments- und Präsidentschaftswahlen EUROTUNNEL Die Zahlungsunfähigkeit der Betreiber des Eurotunnels ist seit mehr als 40 Jahren statt. Insgesamt SPIEGEL TV THEMA verlaufen die Wahlen ruhig. vorerst abgewendet. Ein Handels- gericht in Paris gewährt dem britisch- Urlaub auf vier Rädern – LEICHTATHLETIK Der US-Sprinter Justin französischen Unternehmen Gläubiger- Das Glück der Camper Gatlin wird des Testosteron-Dopings schutz. Ob Wochenendtrip oder ausgedehnte Fe- überführt. Der 24-Jährige ist Olympia- rienreise – mobile Urlauber haben ihren Hausstand immer dabei. Was einige als sieger und hält den Weltrekord über DONNERSTAG, 3. 8. 100 Meter. billiges Spießervergnügen belächeln, ist für Outdoorfans ein unverzichtbares Er- NAHOST-KONFLIKT II Die Terrororganisa- MONTAG, 31. 7. lebnis: Leben auf dem Campingplatz. tion Hisbollah schießt etwa 200 Raketen SPIEGEL TV Thema beobachtet den All- IRAK Im Zentrum von Bagdad verschlep- auf Nordisrael und tötet dabei elf tag auf einem Kärntner Campingplatz. pen Unbekannte mindestens 25 Men- Menschen. Die israelische Luftwaffe schen aus ihren Büros. Die Täter, die fliegt nach zweitägiger Unterbrechung SONNTAG, 13. 8. Polizeiuniformen trugen, stürmen dabei wieder Angriffe auf etwa 120 Ziele im 22.40 – 23.35 UHR RTL zwei Gebäude in einem Einkaufsviertel. Libanon. SPIEGEL TV STROMVERSORGER Die Energiekonzerne MAGAZIN STÖRFALL Die Behörden in Schweden RWE, EnBW und Thüringer Energienetze Die zwei Gesichter Beiruts – Krieg und nehmen im Atomkraftwerk Oskars- dürfen ihre Gebühren für die Strom- Frieden in einer Großstadt; Denkmalmittel hamn wegen möglicher Sicherheits- durchleitung nicht wie geplant geltend für Großbordell – wie eine historische Müh- risiken zwei Reaktoren vom Netz, machen. Die Bundesnetzagentur kürzt le ausstaffiert wird; Barfuß am Berg – die nachdem es zuvor in einem anderem die beantragten Entgelte um bis zu Lebensretter vom Vorarlberg AKW zu einem schweren Störfall ge- 14 Prozent. kommen war. DIENSTAG, 1. 8. FREITAG, 4. 8. KUBA Staatschef Fidel Castro gibt die Amtsgeschäfte vorläufig ab. Der 79-Jäh- rige muss sich in Havanna einer Darm- MORD Sechs palästinensische Häftlinge operation unterziehen. Verteidigungs- werden in einem Gefängnis in Jericho minister Raúl Castro, sein jüngerer Bru- von Landsleuten erschossen. Fünf der der, soll ihn vertreten. sechs Opfer sollen im vergangenen Jahr

in Nablus zwei Funktionäre von Präsi- / AFP IBRAHIM HASSAN RUSSLAND Ein Handelsgericht ordnet die dent Mahmud Abbas’ Fatah-Bewegung Zivilisten im bombardierten Beirut Auflösung des einstigen Energieriesen umgebracht haben.

der spiegel 32/2006 153 Register

gestorben den verschleißen zu müssen; selbst Pucci- Witz, Erotik und Tiefgang, in Wahrheit nis Madame Butterfly verkörperte sie nur über Monate und Jahre bis zur letzten Elisabeth Schwarzkopf, 90. Schmeicheln, gegen den Willen ihres Mannes. Dafür ließ Nuance ausgefeilt. Solche Artistik, manch- girren, drohen oder nachdenklich erzählen Legge sie gern in klassischen Operetten mal über die Grenze der Künstlichkeit hin- konnte ihr Sopran wie kein anderer: Vor wie der „Fledermaus“ jubilieren oder aus, wurde ihr Markenzeichen; parallel mit allem Vokale dehnte und hauchte die Sän- dem zehn Jahre jüngeren Bariton Dietrich gerin, bis die Sprache, bei aller Verständ- Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von lichkeit, restlos im Klang aufzugehen Meistern ihres Fachs wie dem großen Ge- schien. In die Wiege gelegt bekommen hat- rald Moore, aber auch Wilhelm Furtwäng- te die Lehrertochter aus Jarotschin bei Po- ler persönlich, hat sie mehrere Generatio- sen dafür nur das große Talent. An der nen von Liedsängerinnen geprägt. Zwei Berliner Musikhochschule begann sie sogar Jahrzehnte war Elisabeth Schwarzkopf in im Fach Alt. Erst 1940, als aufstrebende ihrem Paradepart, der Marschallin in Rich- Soubrette an der Deutschen Oper Berlin, ard Strauss’ „Rosenkavalier“, und immer fand sie in der unvergleichlichen Kolora- wieder als Mozart-Heldin weltweit aktiv, in turvirtuosin Maria Ivogün eine Lehrerin, strengem Rollenkontrast zur Marktrivalin die ihr eiserne Kehlendisziplin für Haupt- Maria Callas. Schon bei Igor Strawinski rollen einpaukte. Und erst 1946 begegnete und Carl Orff zog sie ihre geschmackliche die ehrgeizige Jungdiva, die als NSDAP- Grenze zur Gegenwart; über das moderne Mitglied und dank ihres kapriziösen Musiktheater hat die Traditionalistin fast Charmes auf Joseph Goebbels’ Protektion durchweg grimmig gelästert. 1971 verab- zählen konnte, zudem schon vor Film- schiedete sie sich von der Bühne, und noch kameras gestanden hatte, ihrem Mentor 1979 gelang ihr eine Aufnahme mit gera- fürs Leben: Walter Legge. Der britische dezu überreif ausziselierten Liedern. Seit- Plattenproduzent legte ihr den Fachwech- her gab die längst zum Monument avan- sel zum lyrischen Sopran nahe und schliff cierte „Dame of the British Empire“ gele-

fortan ihre Stimmbänder wie ihren Kunst- INTERFOTO gentlich Meisterklassen, in denen sie – wie verstand unerbittlich zu Höchstleistungen. seinerzeit ihr Ehemann – Anfänger scho- Der Erfolg gab ihm recht: Von 1953 an auch gönnte ihr bisweilen Ausflüge zu Beetho- nungslos zu dem zwang, was ihr das einzig Ehefrau ihres ruppig-visionären Trainers ven, Weber, Verdi und Wagner. Höhe- Wahre und Richtige schien: Bändigung der und Managers, setzte sie als Bühnenstar punkte der Solokunst von „Her Master’s Natur durch virtuose Kehlentechnik und und auf Schallplatten Maßstäbe in Rollen Voice“, wie Kollegen sie bald in spöttischer unermüdliche künstlerische Sinnsuche. von Mozart bis Strauss, ohne sich auf Bewunderung nannten, waren die Lieder Elisabeth Schwarzkopf starb am 3. August Dauertourneen oder bei vokalen Eskapa- von Hugo Wolf – scheinbar spontan in im österreichischen Schruns.

Holger Börner, 75. Die Geschichte mit der als Arbeitsplätze“, waren ihm suspekt. Dass Rut Brandt, 86. Sie Dachlatte wurde er nie mehr los: Was im- er sich dennoch auf die Integration der strebte nie nach Macht mer den bodenständigen SPD-Mann aus ökologischen Sponti-Generation ins politi- und Einfluss, aber Nordhessen bewogen haben mag, Anfang sche Establishment einließ, rechneten ihm ohne sie hätte Willy der achtziger Jahre während der Ausein- die damaligen Partner auch nachträglich Brandt vielleicht nie andersetzungen um die Startbahn West am hoch an. Er habe Börner „vielleicht etwas Macht und Einfluss be- Frankfurter Flughafen über den Einsatz zu viel zugemutet“, räumte Fischer, der zur kommen. Sie war es, von Bauholz gegen Demonstranten zu sin- Minister-Vereidigung im Wiesbadener die dem melancholi- nieren – am Ende hatte er die damals auf- Landtag zum Schrecken Börners in Jeans schen Zauderer immer

keimende Umweltbewegung und Turnschuhen erschienen / DPA METTELSIEFEN MARCEL wieder aufmunternd nicht zerschlagen, sondern sogar war, unlängst ein. Andere Grüne den Rücken stärkte. mit Regierungsmacht ausgestat- erkannten an, dass sich Börner Ihr Charme, ihre Klugheit, ihre Herzlich- tet. Der ehemalige Betonfach- „bis zur Erschöpfung“ für das keit und ihr Witz beförderten den Aufstieg arbeiter und Hilfspolier Börner erste große rot-grüne Experi- des einst vor den Nazis in ihre Heimat war der erste Ministerpräsident, ment verausgabt habe. Denn geflohenen Emigranten. Wie er hatte die der Ende 1985 mit Joschka Fi- trotz starker Sprüche („Ich wie- junge Norwegerin im Widerstand gegen scher einen Grünen-Politiker ge zwei Zentner – und wenn ich die deutschen Besatzer gekämpft. 1948 zum Minister ernannte – aber wütend bin, das Doppelte“) galt wurde sie seine Frau. An ihrer Seite wur- auch der erste, der 14 Monate Börner in Wiesbaden als dünn- de er Regierender Bürgermeister in Berlin,

später einen Grünen-Minister DER SPIEGEL häutig und empfindsam. Als es Außenminister und Kanzler in Bonn. Viel- wieder feuerte, nachdem er sich dann vorbei war mit der ersten leicht wäre er im Mai 1974 nach der Ver- mit Fischer nicht über die Zukunft der rot-grünen Koalition, zog er sich sofort aus haftung des Spions Günter Guillaume im Hanauer Nuklearbetriebe einigen konnte. der aktiven Tagespolitik zurück: „Wenn wir Amt geblieben, wenn sie ihm dazu geraten Eine Herzensangelegenheit war dem hessi- untergehen, dann mit wehender Kriegs- hätte. Sie aber sagte zu seiner Enttäu- schen SPD-Chef die rot-grüne Zusammen- flagge und nicht mit eingerollten Ohren.“ schung: „Einer muss die Verantwortung arbeit nie, eher eine unangenehme Pflicht, Kurz darauf übernahm er, auf Wunsch von auf sich nehmen.“ Dass er sie 1979 wegen in die er sich als Parteisoldat fügte. Für den Willy Brandt, die Leitung der Friedrich- einer anderen verließ und danach nicht Mann aus sozialdemokratischem Eltern- Ebert-Stiftung. Vor drei Jahren zog er sich mehr mit ihr sprach, hat sie verletzt. Doch haus war Politik gut, wenn sie Jobs schaff- aus diesem Amt zurück. Holger Börner nie redete sie schlecht über ihn. Rut Brandt te, und Leute, denen „Frösche lieber sind starb am 2. August in Kassel an Krebs. starb am 28. Juli in Berlin.

154 der spiegel 32/2006 Personalien

Gerhard Schröder, 62, Ex-Bundeskanz- aber vor allem über die ler und Verwaltungsratspräsident der praktischen Gratis-Bade- Nordeuropäischen Gas-Pipeline AG, eines schlappen, die bei jedem Ablegers des russischen Energiekonzerns Schritt die Parteiinitialen Gasprom, bekam von einem amerikani- UMP im Sand hinterlas- schen Konservativen noch mal sein Fett sen. Sarkozy will im nächs- weg. In einem Interview mit der Wochen- ten Jahr Präsident Frank- zeitung „Das Parlament“ lästerte Richard reichs werden. Perle, Berater von US-Präsident George W. Bush, vorvergangene Woche über den Heiko Maas, 39, SPD- Versuch des damaligen Kanzlers Schröder, Landeschef im Saarland, das von der EU 1989 gegen die Volksrepu- begab sich mutig in ver- blik China verhängte Waffenembargo auf- mintes Gelände. Unter zuheben. Schröder habe diese „vernünfti- dem Motto „Besser gut ge- ge Politik“ nicht ändern können, „trotz logen, als schlecht die

seines Wunsches, der Volksrepublik China OSSENBRINK FRANK Wahrheit gesagt“, hatten einen Gefallen zu tun“. Wäre ihm das ge- Ehepaar Althaus ihm die Gastwirte von lungen, so Perle, hätte Schröder, „wer Saarlouis den „Erzlügner- weiß“, nach dem Ende seiner Amtszeit „ei- „Katharina mit ihren kleinen Füßen Tonton-Preis“ verliehen, eine Art saarlän- nen Posten in irgendeiner chinesischen Ge- manchmal länger braucht“). Da brach un- dische Variante des Ordens wider den tie- sellschaft übernommen“. ter der Ehefrau die Schneedecke ein, und rischen Ernst. Der Preis, den vor Maas es brauchte nach Auskunft eines Bergfüh- auch schon Peter Müller, derzeitiger, und Andreas Bluhm, 46, Vizepräsident des rers angeblich „Sekunden bis zum Aufprall Oskar Lafontaine, ehemaliger Minister- Landtags in Mecklenburg-Vorpommern im Gletscherwasser“. Beim Abstieg half präsident, erhielten, erinnert an Michel und Mitglied der Linkspartei, hat sich als Althaus seiner Frau dann reumütig über Tonton, der der Legende nach zur Zeit Na- jedes kleine Gletscherbächlein hinweg, poleons als gewitztes Original bei der Be- worüber die sich zu wundern begann. Der völkerung viel Sympathie genoss. Maas erklärte scheinbar männlich galant seine dankte für die humoristische Auszeichnung neuerwachte Fürsorglichkeit: Wenn „man mit einer feinziselierten Rede über Wahr- so einen Gipfel erreicht hat“, tremolierte heit und Lüge. Es sei für einen Politiker, so Althaus, werde einem „bewusst, wie klein der Sozialdemokrat vor dem Erzlügner- der Mensch ist im Vergleich zu den gewal- tigen Dingen umher“.

Nicolas Sarkozy, 51, französischer In- nenminister und Vorsitzender der konser- vativen Regierungspartei UMP, sorgt für Papst Benedikt XVI., Bluhm Eigenwerbung an Urlaubsstränden: Mit ei- nem Bestseller, Badeschlappen und Präser- Atheist in einer Begegnung mit Papst Be- vativen. Sein neues Buch „Témoignage“ – nedikt XVI., 79, Anregungen für den mit vier Seiten über seine in Turbulenzen Landtags-Wahlkampf im September ge- geratenen Ehe –, das Mitte Juli rechtzeitig holt. „Als linker Atheist und gelernter zur Feriensaison in die Buchhandlungen DDR-Bürger fährt man ja mit einer gewis- kam, ist mit einer Auflage von rund sen Distanz zum Papst“, sagt Bluhm. Doch 300 000 Exemplaren zum Bestseller auf- „die besondere Ausstrahlung und Herz- gestiegen An französischen Stränden ver- lichkeit“ in der persönlichen Begegnung teilen junge UMP-Mitglieder bis Ende Au- Maas (r.) habe ihn dann doch „tief beeindruckt“. Er gust das Buch und gratis Kinderspielzeug, habe Übereinstimmungen gefunden zwi- Kreuzworträtsel und sogar Präservative, Komitee und vielen Festbesuchern, immer schen Christen und Sozialisten: „Die The- die reges Interesse finden – natürlich alles gefährlich, die Wahrheit zu sagen; die Leu- men Frieden, Gerechtigkeit und das hu- schön verpackt und mit aufgedrucktem te könnten sich am Ende gar daran ge- manistische Menschenbild verbinden uns.“ Parteilogo. Die Strandbesucher freuen sich wöhnen, die Wahrheit hören zu wollen. Obwohl er nun überzeugt sei, „dass Jesus Andererseits: Wer wolle schon wirklich die guter Sozialist war“, rechne er aber im volle Wahrheit hören? Die schlimmste Wahlkampf dennoch „nicht mit Beistand Form der Wahrheit, erkannte der Preis- aus Rom“. redner verschmitzt, sei die halbe Wahr- heit, aber in „schlechten Zeiten wie die- Dieter Althaus, 48, sportlich überaus ak- sen“ müsse man auch mal „mit der Hälfte tiver CDU-Ministerpräsident von Thürin- zufrieden“ sein; besser als eine volle Lüge gen (Ski, Mountainbike, Tauchen, Motor- sei eine Halbwahrheit allemal, „zumal sie radfahren), ließ sich auch im Hochgebirge sich auch besser dementieren“ lasse. Die nicht unterkriegen. Der Politiker hatte mit Lüge sei aber auch heute unerlässlich: seiner Ehefrau Katharina, 46, im Öster- Wie sonst, so Maas unter Gelächter der reich-Urlaub den 2859 Meter hohen Roß- Festbesucher, lasse sich die Wahrheit er- lahnerkopf bestiegen und kletterte auch kennen, „wenn man nicht mal mehr die

auf dem dortigen Habachkees-Gletscher / AFP DANIAU MYCHELE Lüge als Unterscheidungsmerkmal“ hätte? herum. Althaus war vorausgelaufen (weil Sarkozy-Werbematerial Tusch. Anschließend gab es reichlich Bier.

156 der spiegel 32/2006 Diana Krall, 41, derzeit gefragte Jazz- sängerin und -pianistin aus Kanada, will nicht länger mehr mit ihrem Äuße- ren für ihre Musik werben. Die Men- schen hätten „Vorurteile“ gegen sie we- gen ihrer Fotos auf den Albumhüllen, die sie zu einer Art Poster-Girl des Jazz machten: Diana lasziv im grünen Sei- denkleid in einem Korbstuhl dahinge- gossen; Diana bei Mondlicht ekstatisch himmelwärts blickend, eingehüllt in Tüll; Diana blond und sexy, Zucker- schnute, im kleinen Schwarzen, das die langen Beine wirkungsvoll betont. Sie will ernst genommen werden als Jazz- musikerin, sagt sie. Die Alben verkau- fen sich sehr gut, ihre Konzerte sind stets ausverkauft. Das zähle. Sie sage nicht, dass die Fotos nicht auch zu ihrem Erfolg beigetragen hätten. „Aber ein nettes Mädchen in einem netten Kleid, das allein begeistert Menschen doch noch nicht für deine Musik.“ Jetzt soll Schluss sein mit solchen Pin-up- Plattencovern. Diana Krall: „Ich will das nicht mehr. Kommt drüber hinweg,

SAM TAYLOR WOOD TAYLOR SAM Leute. Das ist unbedeutender Kram.“

Krall, Krall-CD-Cover

Richard Chartres, 59, Bischof von Lon- „die Welt eine gänzlich andere“ wäre, ben“ gesagt haben. Er habe damit den don, hat das Sündenregister um ein wei- wenn sie von Frauen geführt werden wür- DDR-Oberen den Ernst der Lage klarma- teres schuldhaftes Vergehen bereichert. In de. „Wer so denkt, hat wohl vergessen, was chen wollen, schreibt der damals als „Gor- einem kleinen Büchlein mit dem Titel an den High Schools los war.“ bi“ gefeierte Sowjetreformer in seinen Er- „Treasures on Earth“ hat der Umwelt- innerungen. Nach Ettingers Darstellung beauftragte der anglikanischen Kirche un- Helmut Ettinger, 65, früherer Chefdolmet- habe aber er den Satz bei einem vertrauli- missverständlich erklärt, es sei Sünde, in scher von Erich Honecker, meldet mit 17 chen Treffen zwischen Gorbatschow und den Urlaub zu fliegen, benzinsaufende Au- Jahren Verspätung die Urheberschaft für dem SED-Politbüro am 7. Oktober 1989 for- tos zu kaufen oder im häuslichen Bereich ein Zitat an, das im Herbst 1989 um die Welt muliert, nachdem der russische Übersetzer auf Energiesparmaßnahmen zu verzich- ging. Bei seiner Visite zu den Feierlichkeiten einen Gorbatschow-Satz sehr umständlich ten. All dies befördere den Klimawandel. zum 40. Jahrestag der DDR will der dama- und stockend mit „Wenn wir zurückblei- Der Bischof will seine Pfarrer ermutigen, lige Sowjetführer Michail Gorbatschow nach ben, bestraft uns das Leben sofort“ über- grüne Predigten zu halten, und die Ge- eigener Darstellung den legendären Satz setzt hatte, eine Wendung, die sich so auch meinden daran erinnern, dass es jetzt mo- „Wer zu spät kommt, den bestraft das Le- noch im 1993 veröffentlichten Sitzungs- ralische Verpflichtung eines jeden Chris- protokoll findet. Der tenmenschen ist, einen umweltfreund- Honecker-Übersetzer, lichen Lebensstil zu pflegen. Chartres’ bis heute Mitarbeiter Büchlein gibt praktische Ratschläge, wie in der Linkspartei- Christen ihre Kohlendioxid-Emissionen Zentrale, will erst verringern können, indem sie etwa zu Fuß „sehr spät kapiert“ oder per Fahrrad zur Kommunion eilen haben, welche Bedeu- oder auch einen Baum pflanzen. Den tung seine Formulie- Pfarrern stehen beispielhafte Öko-Predig- rung bekommen ha- ten als Anregung im Internet zur Verfü- be. Der Slogan, der gung. „Sünde“, erklärt Bischof Chartres, während des Treffens „ist nicht eine begrenzte Liste moralischer der Parteiführer keine Verfehlungen.“ Sünde sei vielmehr „eine Reaktionen auslöste, selbstbezogene Lebensführung, in der wurde vermutlich von Menschen die Konsequenzen ihrer Hand- Gorbatschow-Getreu- lungsweise ignorieren“. en an die Öffentlich- keit lanciert. Noch am Madeleine Albright, 69, frühere US- selben Abend verbrei- Außenministerin, ist skeptisch, was Frauen teten die Agenturen

in Führungspositionen angeht. Sie gehöre / GETTY IMAGES PICTURES CHRIS NIEDENTHAL / TIME LIFE das Gorbatschow zu- nicht zu jenen, sagt sie, die glauben, dass Gorbatschow, Ettinger, Honecker (1989) geschriebene Zitat.

der spiegel 32/2006 157 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Welt“: „,Unser Land hat sich als Zitate Gastgeber für weitere internationale Sport- veranstaltungen nachdrücklich empfohlen. Die „Süddeutsche Zeitung“ erinnert Deutschland sollte für 2016 auf jeden Fall anlässlich der auch von Bundeswehr- seinen Hund in den Ring werfen‘, sagte soldaten abgesicherten Wahlen in Niedersachsens Ministerpräsident Chris- Kinshasa an das Auftreten deutscher tian Wulff (CDU).“ Söldner im Kongo in den sechziger Jahren und an ein im SPIEGEL abge- drucktes Foto zum SPIEGEL-Bericht über einen Film, in dem „Kongo- Müller“ seine blutigen Streifzüge im Busch zu Protokoll gibt „Behörden – Lachender Mann“ (Nr. 24/1967): Aus der „Stuttgarter Zeitung“ Der Mann im Kampfanzug hat sich für das Foto neben dem Jeep postiert, er streicht Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Auch seinem Gegenüber sanft über den kahlen viele Privathaushalte setzen immer mehr Kopf. Das Gesicht des Soldaten ist im auf ausbruchssichere Fenster und Türen. Schatten des Stahlhelms kaum zu erken- Peter Fasold vom Landeskriminalamt führt nen, aber den Kopf, den er tätschelt, kann dies auf die Aufklärungsarbeit der Polizei man auf dem Bild gut sehen. Es ist der zurück.“ Schädel eines getöteten Menschen, wie eine Galionsfigur auf die Motorhaube montiert. Darunter hängen zwei gekreuz- Aus einer Presse-Information des Life- te Knochen am Kühlergrill. Trophäenschau Style-Magazins „Park Avenue“: „Die Le- im Kongo, Mitte der sechziger Jahre. Der sung des Schauspielers zeigt den Autor als Tod fuhr immer mit, wenn sich die weißen kritischen Journalisten, der sich, wie auch Männer mit ihren Geländewagen durch das Magazin ,Park Avenue‘, schon vor den Busch pirschten. Kämpfen, töten, sie- mehr als 100 Jahren mit gesellschaftlichen gen. Das war ihr Geschäft. Das Foto ist im Phänomenen auseinandergesetzt hat.“ SPIEGEL vom 5. Juni 1967 zu finden, mit der Unterschrift: „Söldner-Major Müller, Müller-Jeep: Kopf aus dem Kongo.“ Unter Söldnern ist Siegfried Müller, den sie den „Kongo-Müller“ nannten, eine Legende. Für die Soldaten der Bundeswehr, die nun die Wahlen in Kinshasa mit absichern Anzeige aus der „Neuen Osnabrücker sollen, dürfte der frühere Soldat der Zeitung“ Wehrmacht kaum als Beispiel dienen. Schließlich wollen die Deutschen heute als unparteiische Friedenshüter und gute Aus dem „Rheingau Echo“: „Gegen Bür- Europäer in Afrika glänzen. germeister Paul Weimann wurde eine anonyme Strafanzeige wegen des Ver- Die „taz“ zur SPIEGEL-Meldung dachts der Amtstreue gestellt.“ „Panorama – Schwulenviertel meiden“, wonach es für Soldaten nicht zumutbar sei, in von der Bundeswehr Aus der „Hessischen Allgemeinen“: „Un- gebuchten Hotels zu übernachten, die ter anderem soll die Körperschaftssteuer, sich in einem Viertel befänden, das die Aktiengesellschaften und GmbHs zah- der homosexuellen Szene zuzuordnen len, von 15 auf 12,5 % halbiert werden.“ sei (Nr. 30/2006):

Die Bundeswehr spielt ein doppeltes Spiel. Während der rot-grünen Ära auf der Hardthöhe konnte ein Erlass durchgesetzt werden, demzufolge homosexuelle Sol- Aus „Sonntag Aktuell“ datInnen nicht diskriminiert werden dür- fen. Der Wehrbeauftragte gab sogar Or- der, solche Fälle sorgfältig zu prüfen – und Bildunterschrift aus der „Südwest Presse“: nötigenfalls höheren Orts zur Ahndung „Herzog Albrecht hängt seit der Schlie- vorzulegen: Homophobie ist in den Streit- ßung der Münsinger Kaserne in der Stauf- kräften verboten. Besonders obskur, dass fenberg-Kaserne in Sigmaringen.“ zeitgleich zum SPIEGEL-Artikel, mit dem die delikate Angelegenheit ruchbar wur- de, auf dem Berliner Christopher Street Aus der „Allgäuer Zeitung“: „Nachdem Day in der Parade ein Wagen von An- die Augen des Gesetzes genug gehört hat- gehörigen der Bundeswehr mitrollte – ten, gaben sie sich den völlig Überraschten Werbematerial für diese Institution ver- als solche zu erkennen.“ teilend.

158 der spiegel 32/2006