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SWR2 Musikpassagen

Grenzbeziehungen

Das multilaterale Geflecht von Calexico

Von Luigi Lauer

Sendung: Sonntag, 24. Mai 2015 Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2015

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Joey Burns und John Convertino sind die Köpfe der Gruppe Calexico aus Tucson, Arizona, in unmittelbarer Grenznähe zu Mexiko. Hier findet sich ausreichend Inspiration, sowohl die politische Situation betreffend als auch die Musik: Mariachi trifft Country, Latin Jazz trifft . Bunt auch die Mischung bei Calexico, weshalb sie sich auch nach fast 20 Jahren nicht einordnen lassen – und das ist Programm. Mit genau dem wollen wir uns heute in den Musikpassagen auf SWR2 näher beschäftigen, und dazu begrüßt sie am Mikrophon Luigi Lauer.

--- Calexico, CD Edge of the light, Track 8, Beneath the city of dreams, 2:35 ---

Beneath the city of dreams war das aus dem neuen Edge of the light von Calexico, das Anfang April erschienen ist und damit sozusagen noch aprilfrisch. Calexico ist ein sogenanntes Kofferwort, zusammengesetzt aus Kalifornien und Mexiko. Aber Calexico gibt es auch in der realen Welt, es ist ein Dorf im südlichsten Kalifornien, unmittelbar an der mexikanischen Grenze. Auf der anderen Seite liegt, kein Scherz, Mexicali. Und auf eben diesem Grenzstreifen, jedenfalls musikalisch, ist die Band Calexico zu finden. Im gleichnamigen Ort sind sie auch einmal aufgetreten, erinnert sich Sänger und Gitarrist Joey Burns.

(O-Ton Joey Burns): „Ja, das hat Spaß gemacht, es war eine tolle Erfahrung. Wir gaben dort ein Benefiz-Konzert für die Border Angels, eine Gruppe, die versucht, Menschen zu helfen, die über die Grenze kommen, sei es mit Wasser oder mit Unterricht. Das Konzert ist aber schon lange her, 2003 oder 2004 war das.“

Das erste Album von Calexico erschien 1997, ein Jahr nach Gründung der Band. Veröffentlicht wurde es damals auf Hausmusik, eine kleine süddeutsche Plattenfirma, geleitet von Wolfgang Petters.

(O-Ton Joey Burns): „Ja, richtig. Wolfgang Petters hat einige tolle Platten veröffentlicht, er ist ein sehr netter Kerl. Ich hatte von der Firma gehört, habe sie kontaktiert und ein paar Aufnahmen hingeschickt, und er sagte, fein, das machen wir. Und daraus hat er dann ein wundervolles Paket geschnürt, hinreißend.“

Damals hießen Calexico noch Spoke. Das Debütalbum wurde später unter dem neuen Bandnamen nocheinmal veröffentlicht, Spoke wurde zum Albumtitel. Auch wenn der Bandname 1997 noch nicht gefunden war, stand für die Gründungsmitglieder John Convertino und Joey Burns schon fest, dass man musikalisch ein weites Feld beackern wollte.

(O-Ton Joey Burns): „Wenn man uns fragt nach bestimmten Stilrichtungen oder Genres, ist das schwierig zu beantworten. Bei uns sind sie immer Teil einer großen, farbenreichen Palette, wir mischen sie alle. Abwechslung ist der Schlüssel für uns, übrigens auch schon auf dem ersten Album bei Hausmusik, es hieß Spoke. Ich mag das einfach, Abwechslung war immer ein Thema bei uns, darin sind wir sehr konsequent. Wir treiben uns ständig an, verschiedene künstlerische Adern zu fluten.“

Nicht aus verschiedenen Adern, wohl aber aus verschiedenen Jahren stammen die Interviews mit Calexico, aus denen sie heute Auszüge hören. Sie fanden mal hinter der Bühne, mal im Restaurant, mal im Rundfunkstudio, mal im Aufenthaltsraum der Plattenfirma statt. Den jeweils unterschiedlichen Klang sehen sie uns bitte nach. Allerdings passt dieser Umstand auch zur Musik von Calexico. Von homogen kann nämlich kaum die Rede sein. Nach dem gehörten Lied aus ihrem aktuellen Album nun der ganz große Sprung zurück zum ersten Tonträger der Band.

--- Calexico, CD Spoke, Track 10, Windjammer, 2:38 ---

Das Lied Windjammer aus dem Debütalbum von Calexico namens Spoke, erschienen 1997. Heute würde man eine solche Aufnahme LoFi nennen, sie klingt wie im schnell hergerichteten Wohnzimmer eingespielt, doch der Charme des ist unbestreitbar. Warum es Calexico von Beginn an auch zu Klängen anderer Kulturkreise trieb, wie sich später immer mehr herauskristallisieren sollte, weiß Joey Burns selbst nicht genau zu sagen.

(O-Ton Joey Burns): „Den meisten Musikern geht es wohl so, dass ihr Gehör sich zu bestimmten Sachen hingezogen fühlt, ohne zu wissen, warum. Die meisten Musiker arbeiten nach Gefühl. Ich habe keine Ahnung, warum mich kubanische Musik so anzieht oder portugiesischer Fado oder Musik der Band Taraf de Haidouks aus Rumänien. Schon sehr früh haben mich unterschiedliche Klänge und Texturen und Ausdrucksmöglichkeiten interessiert. Ich habe mir eine Sitar gekauft während meiner Gymnasialzeit und wollte sie unbedingt spielen. Ich habe es allerdings nicht mit einem Lehrer studiert. Ich werde nie die Platte vergessen, die ich mir damals in der Bibliothek ausgeliehen habe, sie war von Ravi Shankar. Aber es war nicht nur er auf dem Album, es hieß Festival of India, und es gab alle Instrumente der klassischen indischen Musik zu hören. Ich liebte es, die Sarod zu hören, die sprach wirklich zu mir. Es ist eine Art slide-Instrument, und man hört die Verbindung zu einigen Intrumenten, die in den USA gespielt werden, die Lap Steel-Gitarre oder Dobro-Gitarre. Man folgt einfach seinem Instinkt. Wir alle haben unterschiedliche Einflüsse in verschiedenen Lebensabschnitten, und das macht die Schönheit dessen aus, was Musik sein kann. Sie kann dich physisch irgendwohin mitnehmen oder innerlich.“

Eine Vorliebe jedoch entzieht sich der Unterteilung in Lebensabschnitte: Konsequent durch alle Alben von Calexico hindurch ist nämlich eine Zuneigung zur Surfmusik der 1960-er Jahre sowie zu mexikanischen Klängen zu hören. Ein anderes Stück aus dem Debütalbum von 1997 setzte diesbezüglich bereits Zeichen: das Lied Sanchez.

--- Calexico, CD Spoke, Track 4, Sanchez, 3:18 ---

Calexico mit dem Lied Sanchez. Es war Zufall, dass Calexico viele Jahre später auf eine Frau diesen Namens trafen, auf die spanische Sängerin Amparo Sanchez.

Dass Calexico Gäste auf ihren Alben haben, ist die Regel. Dass sie ein ganzes Album mit einer befreundeten Künstlerin aufnehmen, ist die Ausnahme. Die haben Joey Burns und John Convertino für Amparo Sanchez gemacht. Sie leitete zwölf Jahre lang die erfolgreiche Mestizo-Band Amparanoia. Amparanoia wurde 2008 aufgelöst, Amparo Sanchez nahm sich eine Auszeit, und 2010 nahm sie ihr erstes Soloalbum auf – mit Calexico. Amparanoia war damit endgültig Geschichte, während für Amparo Sanchez ein neues Kapitel anfing. Wie kam sie ausgerechnet auf diese Band aus der Wüste Arizonas?

(O-Ton Amparo Sanchez): „Weil Calexico mich eingeladen hatten, sie leben dort, und ich fand es von der Atmosphäre her gut, die Platte im selben Studio aufzunehmen wie sie. Vor sieben oder acht Jahren traf ich Calexico in Holland, und wir haben vereinzelt an Liedern zusammen gearbeitet und hatten gemeinsame Auftritte. Jetzt war einfach die Zeit reif, ihren Sound mit meinen Liedern und meiner Stimme zusammenzulegen. Schon dort draußen in der Wüste zu sein, hat meine Musik verändert. Und jetzt habe ich einen komplett anderen Sound als mit Amparanoia.“

Tucson-Havanna heißt das Album, das Amparo Sanchez 2010 mit Calexico aufnahm, hier daraus der Titel Corazon de la realidad.

--- Amparo Sanchez, CD Tucson-Havanna, Track 3, Corazon de la realidad, 3:22 ---

Amparo Sanchez zusammen mit Calexico auf dem Album Tucson-Havanna, das in eben diesen beiden Städten aufgenommen wurde und sowohl die Hitzeglocke Arizonas wiederspiegelt als auch die kubanische Leichtfüßigkeit in sich trägt. Auf dem Album ist auch die Sängerin des Buena Vista Social Club, Omara Portuondo, in einem Lied zu hören.

Dass Amparo Sanchez auch auf Calexicos aktuellem Album dabei ist, war ein weiterer, aber gerne hingenommener Zufall.

(O-Ton Joey Burns): „Ja, sie ist großartig. Wir sind uns tatsächlich auf der Straße begegnet, sie war auf Tournee, wir machten Aufnahmen, da haben wir sie kurzerhand für eine Nacht ins Studio eingeladen. Inzwischen ist sie eine richtig gute Freundin.“

Während das Album Tucson-Havanna die beschauliche Seite von Amparo Sanchez in den Vordergrund rücken sollte, ist ihr Beitrag zum neuen Calexico-Album ein richtiger Feger geworden – ganz so, wie man die Dame aus den Mestizo-Zeiten von Amparanoia kennt. Für Joey Burns ist es eines der besten Lieder des Albums geworden.

(O-Ton Joey Burns): „Es heißt Cumbia de Donde und wurde gleich am ersten Tag, nachdem wir aus Mexico City zurückkamen, im Studio in Tucson, Arizona, geschrieben. Amparo Sanchez wird darin gefeatured, es ist in Spanisch und Englisch. Es ist die perfekte Verkörperung unserer Live-Shows, besonders gegen Ende eines Konzertes. Es groovt unglaublich gut, Cumbia ist überhaupt ein unwiderstehlicher Rhythmus. Im Song wird gefragt, wo kommst du her, wo gehst du hin? Menschen gehen vom Norden nach Süden, andere vom Süden nach Norden, es ist eine ganz natürliche Sache. Der Nord- und der Südpol halten die Erde am Kreisen. Gegensätze ziehen sich an.“

Nachdem wir Amparo Sanchez mit Calexico gehört haben, nun die umgekehrte Aufstellung: Calexico mit Amparo Sanchez.

--- Calexico, CD Edge of the sun, Track 5, Cumbia de donde, 3:09 ---

(O-Ton Joey Burns): „Wir versuchen nicht, etwas darzustellen, das nicht unserer Natur entspricht. Wir behaupten nicht, eine Mariachi Band zu sein. Es gibt viele Journalisten, und manchmal auch Fans, die sich da einfach etwas zusammenreimen. Wir haben lediglich eine traditionelle Mariachi Band unterstützt. Aber Calexico ist im Kern einfach nur ein Haufen von Indie-Rockern, die aus verschiedenen Kulturen stammen, verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene musikalische Wege hinter sich haben. Wir schreiben unsere eigene Musik, die manchmal inspiriert ist von anderen Musikrichtungen, auch aus anderen Jahrzehnten. Mehr ist es nicht. Es ist nicht so, dass wir irgendeine Tradition verächtlich behandeln würden.“

Joey Burns über den Umgang Calexicos mit der Musik anderer Kulturen. Vorwürfe dieser Art hat es, besonders in der Anfangszeit von Calexico, tatsächlich gegeben. Fragt man allerdings solche Kritiker, was denn die Alternative dazu sei, das musikalische Vermächtnis der Welt zu nutzen, wird es rasch sehr still. Denn wer einem Nordamerikaner vorschreiben will, ausschließlich nordamerikanischer Tradition zu folgen, der muss konsequenterweise einem, sagen wir, Westafrikaner auch vorschreiben, sich mit Trommeln und Daumenklavier zu begnügen und dabei womöglich noch die Tracht zu tragen, die wir aus ethnologischen Fotografien zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennen. Eine absurde, um nicht zu sagen, gefährliche Haltung. Calexico haben regelmäßig mit der mexikanischen Mariachi-Band Luz de Luna zusammengearbeitet und sich stets verneigt vor den Musikstilen, die sie in ihren Sound importiert haben. Dafür haben sie sogar den Ort gewechselt, wie Schlagzeuger John Convertino betont.

(O-Ton John Convertino): „Wir sind nach Tucson gezogen, wo es eine Menge Mariachi gibt und Salsa. Mir als Schlagzeuger macht es einfach Spaß, Latin-Rhythmen wie Cumbia zu spielen. Nach so vielen Jahren, in denen ich gerade 4/4-Rockmusik gespielt habe, mit einer Snaredrum, die ein Brot in immer gleich dicke Scheiben zerschneidet, war ich doch ziemlich gelangweilt. Es hat auch etwas Schönes, aber ein weitergefasstes Rhythmusspektrum macht einfach mehr Vergnügen, und es ist auch toll, die Menschen zu unserer Musik tanzen zu sehen statt dass sie nur herumstehen.“

Allzu weit mussten Joey Burns und John Convertino nicht reisen zu ihrer neuen Heimat. Die beiden haben sich an der University of California in Irvine kennengelernt, rund 200 Kilometer von Tucson entfernt. Bevor sie Calexico gründeten, waren sie bei Giant Sand aktiv, mehr Musikerkollektiv als Band um den ebenfalls in Tucson lebenden . Giant Sand waren der eigentliche Karrierestart für John Convertino und Joey Burns. Mit Tucson in Arizona haben Calexico überhaupt eine gute Wahl getroffen: Die Stadt ist, nicht nur musikalisch, vielfältig und liberal. Für ihr aktuelles Album Edge of the sun sind Calexico dann aber noch einmal rund 2000 Kilometer weiter südlich gereist, nach Mexico City, in den Stadtteil Coyoacan.

(O-Ton Joey Burns): „Wir haben ein wundervolles Instrumental-Stück, das die mehr folkloristische Seite der Gegend um Coyoacan reflektiert. Es ist eine Art Herzstück des Albums, der Buchrücken, der alle Seiten zusammenhält. Es ist in der Mitte des Albums und gibt dem Hörer eine Pause, gibt ihm Raum, seine eigenen Bilder zum Klang zu entwerfen.“

--- Calexico, CD Edge of the light, Track 7, Coyoacan, 3:03 ---

Das Lied Coyoacan, übersetzt aus der indigenen Nahuatl-Sprache: Ort der Koyoten. Coyoacan ist ein wohlhabender Vorort von Mexico-City, einer mit Geschichte, auch einer jüngeren Geschichte. Leo Trotzki wurde hier ermordet, im Heimatbezirk seiner Freundin Frida Kahlo. Die hat hier in ihrem Blauen Haus, der Casa Azul gelebt, gemalt, geliebt, gelitten. Das Haus ist heute ein Museum. Das Coyoacan gewidmete Stück hätte Frida Kahlo, die sich gerne in der Tracht, der Haartracht und dem Schmuck der indigenen Frauen aus Oaxaca kleidete, sicher auch gefallen.

(O-Ton Joey Burns): „Coyoacán ist eine der Gegenden, in der sehr viele Künstler und Musiker leben. Es war toll für uns, das alles mitzubekommen und die Atmosphäre aufzusaugen. Einige Passagen auf dem neuen Album sind definitiv davon beeinflusst. Wir sind im April 2014 nach Coyoacán gegangen sind, um dort an Songs zu schreiben und Demos aufzunehmen. Wir waren also nicht dort, um die Platte zu produzieren, sondern wollten vor allem viele Eindrücke sammeln und die Stimmung dort erfahren.“

Sie hören die Musikpassagen auf SWR2, heute mit einem Portrait der US-amerikanischen Band Calexico.

Zurück zu deren Wohnsitz, nach Tucson, Arizona. Viele Texte von Calexico handeln vom Leid der Flüchtlinge, die aus Mexiko kommend versuchen, die gnadenlose Barriere nach Nordamerika zu überwinden auf der Suche nach einem Leben, das das Wort Leben verdient. Wie fühlt sich das an, dort zu wohnen? Und wie muss man sich diese Grenze vorstellen?

(O-Ton Joey Burns, 1:22): „Denken sie doch nur daran, wie die Berliner Mauer war. Es ist eine militarisierte Grenze, und das wird sie immer mehr. Es ist schon hart, hier zu leben. Überhaupt ist es hart in einem Land zu leben, das Grenzen mit Technologie, Stacheldraht und hohen Metallzäunen ausstattet. Und doch stehen die diplomatischen Kontakte ganz oben auf der Liste der Prioritäten. Es ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Immer wird es Menschen geben, in Europa ebenso wie in Nordamerika, die ihrer Familie ein besseres Leben bieten wollen, und sie sind gewillt und gezwungen, ihr Leben und ihre Sicherheit dafür zu riskieren. Mich interessiert die Geschichte dieser Menschen. Und jetzt, wo ich selber Vater bin, kann ich nachvollziehen was es heißt, wenn Eltern soviel riskieren. Natürlich sind nicht alle Lieder über Immigration, aber einige schon. Es gibt auch im weiteren Umfeld eine Menge Dinge, über die zu schreiben sich lohnt, und genau diese Geschichten will ich einfangen. Das gibt diesen Menschen ein Gesicht, vielleicht sogar Zuversicht. Und schließlich zeigen wir mit unserer Musik auch unsere Wertschätzung gegenüber anderen Kulturen. Es geht darum, offen zu sein, zu lernen und anzunehmen, was oberflächlich so anders erscheint, in Wirklichkeit aber überwiegen die Gemeinsamkeiten.“

Das Lied Across the wire aus dem Album von 2003 handelt davon.

--- Calexico, CD Feast of wire, Track 11, Across the wire, 3:25 ---

Gift im Strom, der zum Meer hin fließt, du bist draußen in der Brandung, die sich ergießt eine handbreit vor denen, die alles haben, die nichts fürchten müssen noch sich plagen, du denkst, es wäre doch verrückt, so nah und doch so weit zu sein.

So lautet, frei übersetzt, eine Passage aus dem Lied Across the wire, Über den Draht.

2012 endete für Calexico eine 4-jährige kreative Auszeit. Für das Album Algiers begaben sich John Convertino und Joey Burns in den gleichnamigen Stadtteil von New Orleans. Der Ortswechsel habe der Band und auch der Musik von Calexico gut getan, sagt Burns.

(O-Ton Joey Burns): „In dieser Stadt findet man spanische, französische und afrikanische Einflüsse, und sie treffen sich auch. Es ist eine faszinierende Stadt mit einer unglaublichen, oft auch tragischen Geschichte. Die Stadt hat mich an Kuba erinnert, wo man mit dem klarkommen muss, was man vorfindet. Wichtiger aber war, dass wir aus Tucson rauskamen. Wir begannen in Tucson mit den Aufnahmen und es war großartig, rauszugehen und sich die Zeit zu nehmen, sich auf die Platte zu konzentrieren, ohne die ganzen Ablenkungen, die man in seiner Heimatstadt hat. Man hat auch einen besseren Blick auf seine Stadt, wenn man sich außerhalb von ihr befindet, an einem Ort, der ganz anders ist, anderes Wetter, andere Umgebung. Das ist sehr inspirierend.“

Die Inspiration hört man dem Album Algiers an. Auch die Aufnahmesituation, die so ganz anders war als im heimatlichen Studio in Tucson, habe dazu beigetragen.

(O-Ton Joey Burns): „Es war ein enormer Unterschied, in dieser Baptistenkirche aus Holz aufzunehmen, die auf Holzpfählen steht. Besonders der Klang von Johns Schlagzeug war ein völlig anderer, ganz weit und sehr rund. Es war fast wie auf einer Bühne in einem Theater oder Club irgendwo auf der Welt, wo man sich einfach im Raum wohlfühlt.“

Das Album Algiers wurde, passend dazu, auf analogen Bandmaschinen aufgenommen. Dann noch alle in einem Raum – das klingt nach einem Hippie-sit-in.

(O-Ton Joey Burns): „Das machen wir ja immer.“

--- Calexico, CD Algiers, Track 4, Fortune teller, 3:57 ---

Das Lied Fortune Teller aus dem Album Algiers von 2012. Auch nach Algiers legten Calexico eine kreative Pause ein, die bis zur Veröffentlichung der CD Edge of the sun im April dieses Jahres andauerte. Joey Burns hebt die Bedeutung von kreativen Pausen hervor.

(O-Ton Joey Burns): „Nachdem man ein Album und die anschließenden Tourneen abgeschlossen hat, gibt es immer eine Zäsur. Und diese Pause ist sehr wichtig für uns, speziell jetzt, wo viele von uns eine eigene Familie haben. Man braucht zwischendurch Zeit, damit das Familienleben nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Ein integraler Bestandteil des Sounds und des Styles von Calexico ist unsere Ausrichtung gen Süden. Das ist unsere Blickrichtung. Zum einen leben wir im Südwesten der USA, aber darüber hinaus haben wir uns schon immer ganz generell angezogen gefühlt von dieser südlichen Lebens- und Denkweise auch in Europa und dem Rest der Welt. Wir integrieren Einflüsse aus Osteuropa, Griechenland, Italien, Nordafrika und Spanien in unsere Musik. Diese Elemente tauchten von Beginn an immer wieder bei uns auf, sogar schon auf unserem ersten Album. Der Grundstein für die neue Platte wurde zwar zunächst von John und mir in unserem Studio in Tuscon gelegt. Dann hatte aber unser Keyboarder die Idee, nach Mexico City zu gehen, und zwar in die Gegend von Coyoacán, wo ein Kumpel von ihm ein kleines Heimstudio hat, das er uns zur Verfügung stellte. Das war für uns ein sehr guter Ausgangspunkt, um wirklich zum Kern des neuen Albums „Edge Of The Sun“ vorzudringen.“

Ein wenig aus diesem Kern herausfallen dürfte das Lied Moon never rises. Aber hören sie selbst.

--- Calexico, CD Edge of the sun, Track 10, Moon never rises, 3:28 ---

Moon never rises war das, ein Lied, für das Calexico die mexikanische Sängerin Carla Morrison eingeladen hatten. Sie stammt aus Tecate, passenderweise, denn Tecate ist eine kleine Stadt direkt an der Grenze zwischen Mexiko und Kalifornien. Und in genau einer solchen Umgebung leben die Musiker von Calexico – allerdings auf der kalifornischen Seite.

Bei all den kritischen Stellungnahmen, die sich in den Texten von Calexico finden, ist es John Convertino und Joey Burns doch wichtig, nach vorne zu blicken und nicht in Düsternis zu verfallen. Burns charakterisiert das Album Edge of the sun so:

(O-Ton Joey Burns): „Das Artwork des Albums zeigt die Sonne, oder den Mond, leuchtend, in einer dunklen Landschaft; und man sieht jemanden, der in dieser sehr minimalistischen Landschaft kniet und von innen heraus strahlt. Zusammen mit dem Albumtitel fasst dieses Bild einige der zentralen Themen der Platte zusammen. Es geht um Anstrengungen, Spannungen, Nöte und Herausforderungen, denen die Charaktere der Songs ausgesetzt sind, während doch immer eine Art Licht und Hoffnung präsent ist. Ich selbst kann mich mit Blick auf das Leben sehr gut darin wiederfinden. Es gibt immer Phasen, die nicht leicht sind, ob nun emotional, körperlich oder hinsichtlich der Dinge, die in der Welt um uns herum passieren. Ich bin mittlerweile selbst Vater und sehe mich mit einer Reihe von neuen Herausforderungen konfrontiert, die einen neuen Lebensabschnitt für mich markieren. Da ich einer der Hauptsongschreiber bin, hat sich diese Situation natürlich auch auf die Stücke des Albums ausgewirkt. Aber es gibt eben immer auch Hoffnung. Ich kann sie sehen in den Augen meiner Kinder und meiner Frau. Diese Hoffnung treibt mich an, weiterzumachen. Deshalb spürt man auf diesem Album permanent diesen Hoffnungsschimmer, ob nun in der Musik selbst oder in den Arrangements.“

Im nächsten Jahr feiern Calexico ihr 20-jähriges Band-Jubiläum. Mal schauen, welche Überraschung Calexico dafür vorgesehen haben. Das letzte Lied des Albums Edge of the sun soll zugleich das letzte der heutigen Sendung über die Band Calexico sein. Follow the river heißt das Stück, mit dem auch ich mich von ihnen verabschiede. Mein Name ist Luigi Lauer, haben sie noch eine gute Nacht.

--- Calexico, CD Edge of the sun, Track 12, Follow the river, 3:50 ---