Basel, 23. bis 31. August 2013 Programmbuch Festtage Alte Musik Basel

Wege zum Barock – Tradition und Avantgarde um 1600

www.festtage-basel.ch Titel: Pieter Lastman (1583–1633), David im Tempel, 1618, signiert und datiert, Holz, 1 79 cm x 117 cm, Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig Zum Geleit Mit der grössten Freude stelle ich der zweiten Edition der Festtage Alte Musik Basel diesen Gruss voran! Die Freude betrifft zuerst die Tatsache, dass die «Kulturstadt Basel» mit sol- chen Ereignissen eine «Fes- tivalstadt» par excellence ist, in der ein hervorragen- des Potenzial an Kreativität herrscht. Grund zur Freu- de ist auch die Bereiche- rung des grossen Gebiets Abdruck mit Quellenangabe erwünscht der Alten Musik, die seit © 2013 Paul Sachers Zeiten einen Verein zur Förderung Basler Absolventen Schwerpunkt des hiesigen auf dem Gebiet der Alten Musik Musiklebens darstellt. Aber Dornacherstrasse 161 A, CH-4053 Basel auch das Auftreten vieler Telefon +41 (0)61 361 03 54 berühmter europäischer En- CH17 0840 1016 1968 0160 3 sembles in Basel, die ohne dieses Festival hier nicht [email protected] zu hören wären, ist sehr lo- www.festtage-basel.ch benswert. Besonders erfreu- Redaktion: Jörg Fiedler, Peter Reidemeister lich ist aber das klare Profil Satz, Gestaltung: Buser, Kommunikation GmbH, Basel des Programms, das höchste Dr. Guy Morin, Regierungspräsident Druck: Druckerei Dietrich AG, Basel Qualität mit der Förderung des Kantons Basel-Stadt des Basler Nachwuchses verbindet: Wer in dieser Stadt Festtage Basel seine Ausbildung durchlaufen und diesem hohen Stan- Geschäftsleitung: Renato D. Pessi Künstlerische Leitung: Peter Reidemeister dard standgehalten hat, der hat es auch verdient, dass er hier mit Engagements zu solchen Ereignissen wei- Preis: 10 Franken terhin Unterstützung erfährt. Dank gebührt dem «Ver-

5 Inhalt ein zur Förderung Basler Absolventen auf dem Gebiet Zum Geleit 5 der Alten Musik», und das heisst auch: dem Veranstal- Dr. Guy Morin, Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt ter dieser Festtage, dass er sich dieser Aufgabe unter- Wege zum Barock – Tradition und Avantgarde um 1600 19 zieht und in der Basler Kultur damit einen besonderen Peter Reidemeister Akzent setzt. «Prima» und «Seconda Pratica» – von der zum Barock 24 Besonders interessant ist die Wahl der musi- Frieder Zaminer kalischen Epoche, die das Programm des Festivals Il Concerto sacro – Concerto Palatino 29 bestimmt, nämlich die Zeit des Übergangs von der Concerto – das musikalische Paradoxon: Mit- und Gegeneinander 41 Renaissance zum Barock. Nicht nur die Konsequenz Mateusz Kozik* ist begrüssenswert, mit der die Festtage ihre Ausrich- «Concerto delle dame» – Ensemble Il Zabaione musicale 47 tung auf Zeitwenden fortsetzen, standen doch 2011 Il Concerto delle dame Andreas Wernli 53 die Musik zwischen Mittelalter und Renaissance und Fünf Stimmen für das Ich? Wie das Individuum Eingang in den Basel als Konzilsstadt im Fokus, sondern auch aus Tonsatz fand Prof. Dr. Silke Leopold 56 einem anderen Grund ist die Zeit um 1600 für Basel Herz und Verstand um 1600 – die Monteverdi-Artusi-Kontroverse 59 so bedeutend: Es ist die Epoche der grossen Huma- Helen Gebhart* nisten an der Schwelle zur Neuzeit. Sie verdienen in Il Ballo del Granduca – il Ballarino, Musica Fiorita 62 der Geschichte dieser Stadt einen Ehrenplatz. Allen Tanz an den italienischen und französischen Höfen um 1600 72 voran Basilius Amerbach (1533–1591) und Felix Platter Bruna Gondoni (1536–1614). Die Intermedien von 1589 zu La Pellegrina Andrin Uetz* 77 Ich wünsche den Festtagen einen guten Verlauf , Missa «Doulce memoire» – Brabant-Ensemble 81 und so viel Erfolg, dass die zu erwartende Edition Stadtführung mit Mitarbeitern der Kantonalen Denkmalpflege 2015, im biennalen Rhythmus, die Musik des nächsten Basel-Stadt 89 grossen musikalischen Epochenwechsels in den Mit- Baukunst und Bildkunst in Basel um 1600 Dr. Martin Möhle 90 telpunkt stellen kann, nämlich vom Barock zur Klassik! Diminuito – italienische Musik um 1600 – Rolf Lislevand Ensemble 94 Wir freuen uns schon darauf! Ein fürstliches Bankett um 1600 Andreas Morel 98 Dr. Guy Morin, Regierungspräsident des Kantons «... sozusagen ein Instrument der Götter» – die Lyra und ihre Basel-Stadt Metamorphosen Dr. Martin Kirnbauer 106 «sulla Lira...» – Cantarini, Romain, Gasser, Behr 109 «Vergine bella» e Nobildonna – Isabella d’Este und die neue Italianità – les Flamboyants 120

6 7 Isabella d’Este – «Una divina bellezza – una meravigliosa donna – Der Verein zur Förderung von Basler Absolventen auf corteggiata da tutti.» 132 Cristina Pileggi* dem Gebiet der Alten Musik hat es sich zur Aufgabe «Follow Me» – The Earle his 136 gemacht, junge Musikerinnen und Musiker auf ihrem Weg Giovanni Coperario – geboren schlicht als 147 «vom Studium aufs Podium» zu begleiten und sie durch Antonio Roolaio Konzertengagements, Projektaufträge und andere sinnvolle Se la mia morte brami – Profeti della Quinta 151 Massnahmen zu unterstützen. Damit können sie, nach «Awake, sweet Love – Munderloh, Behr 160 Abschluss ihrer Ausbildung, ihre beruflichen Erfahrungen und ihre Chancen im Musikleben erweitern, was heute Spielte Janus Laute? 169 Anthony Rooley notwendiger ist als je zuvor. «Joyssance vous donneray» – Savall, Ensemble Il Desiderio 174 Auch bei den «Festtagen Alte Musik in Basel», die der Verein alle zwei Jahre durchführt, tragen diese Nach- «Virtuoso così raro» 182 Tatiana Durisova Eichenberger* wuchsbegabungen wesentlich zur Aktualität und zur Vespri di Maestro Willaert – Capilla Flamenca 187 Qualität des Programms bei. Oft müssen sie den Vergleich Die schönste Musikhandschrift der Welt mit den namhaften internationalen Alte-Musik-Ensembles Andreas Wernli 195 keineswegs scheuen. Orland von Lassen, Musicus in Bayeren 197 So lautet das Motto des Vereins und all seiner Aktivitäten S[amuel] Quick[elberg], 1568 «Alte Musik in jungen Händen!» «Musica reservata» – Huelgas Ensemble 200 Cinquecento: Ästhetik des Hörens in der Renaissance 209 Matteo Nanni / Melanie Wald-Fuhrmann «Tout ce qui est de plus beau» – Thélème 213 Claudin und Italien – der italienische Einfluss in Claude Le Jeunes Musik 218 Jean-Christophe Groffe , Marienvesper (1610) – Ensemble Oltremontano, Ricercar Consort 226 Claudio Monteverdi: Lebenskrise und -wende 230 Andreas Wernli ... und in Basel? 236 Verein Peter Reidemeister zur Förderung von Basler Absolventen auf dem * Studierende des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Basel Gebiet der Alten Musik

8 9 Freitag, 23. August 2013 Samstag, 24. August 2013

20.15 Uhr 12.15 Uhr Martinskirche Klingental Eröffnungskonzert Alumni 1, Mittagskonzert Il Concerto sacro «Concerto delle dame» Doppelchörigkeit alla milanese e alla veneziana Solomadrigale für einen, zwei und drei Soprane Concerto Palatino Werke von , Claudio Monteverdi, Bruce Dickey, Charles Toet u.a. Eintritt: 50/40/30 CHF, nummerierte Plätze Ensemble Il Zabaione Musicale Seite 29 Eintritt frei, Kollekte Seite 47

18 Uhr Kunstmuseum, Vortragssaal, Zugang Picasso-Platz Vortrag 1 Fünf Stimmen für das Ich? Wie das Individuum Eingang in den Tonsatz fand Prof. Dr. Silke Leopold Eintritt frei Seite 56

20.15 Uhr Martinskirche Il Ballo del Granduca Vom Renaissance- zum Barocktanz Tanz und Tanzmusik aus Italien und Frankreich von Malvezzi bis Lully Tanzduo Il Ballarino Musica Fiorita, Daniela Dolci Eintritt: 50/40/30 CHF, nummerierte Plätze Seite 62

10 11 Sonntag, 25. August 2013 Montag, 26. August 2013

10 Uhr 18 Uhr Münster zu Basel Kunstmuseum, Vortragssaal, Zugang Picasso-Platz Musik im Gottesdienst, mit Abendmahl Vortrag 2 Cipriano de Rore, Missa «Doulce memoire» «sozusagen ein Instrument der Götter» Brabant Ensemble, Oxford Die Lyra und ihre Metamorphosen Stephen Rice Dr. Martin Kirnbauer Eintritt frei, Kollekte Eintritt frei Seite 81 Seite 106

15 Uhr und 17 Uhr Besammlungsort: Innenhof des Rathauses Stadtführung mit Mitarbeitern der Kantonalen Denkmalpflege Basel-Stadt Dr. Thomas Lutz, Dr. Martin Möhle Eintritt frei Seite 89

19 Uhr Schützenhaus Diminuito – italienische Musik um 1600 Rolf Lislevand Ensemble Festessen nach historischen Rezepten 300 CHF, beschränkte Anzahl Plätze auf Bestellung [email protected] Benefizveranstaltung zugunsten des Vereins zur Förde- rung von Basler Absolventen auf dem Gebiet der Alten Musik Seite 94

12 13 Dienstag, 27. August 2013 Mittwoch, 28. August 2013

12.15 Uhr 18 Uhr Peterskirche Peterskirche Alumni 2, Mittagskonzert «Follow Me» «sulla Lira.». Avantgardismus in der englischen Consort- L’arte della recitazione und Virginalmusik Giovanni Cantarini, Gesang und Rezitation Werke von , Alfonso Ferrabosco II. u.a. Baptiste Romain, Lira da Braccio und Violine The Earle his Viols, Randall Cook Brigitte Gasser, Lira da gamba und Viola da Gamba David Blunden, Virginal Julian Behr, Laute und Theorbe Eintritt frei, Kollekte Eintritt frei, Kollekte Seite 136 Seite 109 20.15 Uhr 20.15 Uhr Martinskirche Martinskirche Se la mia morte brami «Vergine bella» e Nobildonna Die Kunst des : , Cipriano Isabella d’Este und die neue Italianità de Rore, Claudio Monteverdi, Frottole und Instrumentalmusik Profeti della Quinta, Elam Rotem des 16. Jahrhunderts Eintritt: 50/40/30 CHF, nummerierte Plätze Les Flamboyants, Michael Form Seite 151 Eintritt: 50/40/30 CHF, nummerierte Plätze Seite 120

14 15 Donnerstag, 29. August 2013 Freitag, 30. August 2013

12.15 Uhr 18 Uhr Peterskirche Kunstmuseum, Vortragssaal, Zugang Picasso-Platz Alumni 3, Mittagskonzert Vortrag 3 und Demonstration «Awake, sweet Love» Die schönste Musikhandschrift der Welt Lieder und Lautenmusik von Die Busspsalmen von Orlando di Lasso (1560–1570) David Munderloh, Tenor Dr. Andreas Wernli Julian Behr, Laute Eintritt frei Eintritt frei, Kollekte Seite 195 Seite 160 20.15 Uhr 18 Uhr Martinskirche Peterskirche «Musica reservata» «Joyssance vous donneray» Orlando di Lasso, «Busspsalmen» und und Madrigale von Arcadelt, Lasso, «Prophetiae Sibyllarum» sowie Palestrina, Sermisy u.a. über Liebe, Trauer und Motetten von Jacob Clement, Jacobus Gallus Sehnsucht und Arianna Savall Figueras, Sopran Huelgas Ensemble, Paul Van Nevel Ensemble Il Desiderio, Thomas Kügler Eintritt: 50/40/30 CHF, nummerierte Plätze Eintritt frei, Kollekte Seite 200 Seite 174 29.–31. August 2013 Internationale musikwissenschaftliche Tagung 20.15 Uhr «Cinquecento: Martinskirche Ästhetik des Hörens in der Renaissance», Vespri di Maestro Willaert veranstaltet vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Die erste doppelchörige Marienvesper Universität Basel in Zusammenarbeit mit dem Institut aus Venedig (1550) für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Capilla Flamenca, Dirk Snellings ­Humboldt-Universität zu Berlin Eintritt: 50/40/30 CHF, nummerierte Plätze www.mwi.unibas.ch Seite 187 Seite 209

16 17 Samstag, 31. August 2013 Wege zum Barock – Tradition und Avantgarde um 1600 12.15 Uhr Peter Reidemeister Klingental Alumni 4, Mittagskonzert «Tout ce qui est de plus beau» Musik aus Übergangszeiten zwischen zwei Stilen ge- Französische Batailles und Chansons hört zum Frischesten und Vielfältigsten, was in der Thélème, Jean-Christophe Groffe Musikgeschichte zu finden ist. Während in den stilis- Eintritt frei, Kollekte tisch einheitlichen Epochen die Gattungen und For- Seite 213 men oft in Tradition verfestigt sind, ist in den Phasen dazwischen bei den Komponisten eine weitaus grös­ 19 Uhr, 18.30 Uhr Einführung sere Offenheit für Experiment und Wagnis anzutref- Münster zu Basel fen. Weniger «Regeln» gibt es da zu befolgen, keine Abschlusskonzert fixierten Hör-Erwartungen des Publikums zu befrie- Claudio Monteverdi, Marienvesper digen, man sucht mit aller Phantasie und Kreativität (1610) nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, nachdem das Gesangssolisten, Ensemble Oltremontano Bisherige abgenutzt und fragwürdig geworden ist. Ricercar Consort, Philippe Pierlot War es bei den 1. Festtagen Alte Musik in Basel 2011 Eintritt frei, Kollekte der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, der Seite 226 mit Musik aus der Zeit des 15. Jahrhunderts, als Ba- sel Konzilsstadt war, fokussiert wurde, so ist es 2013 der Übergang von der Renaissance zum Barock – also die Musik vor und um 1600. Folglich kann man aus- rechnen, welches Repertoire 2015 im Zentrum stehen wird … Die Zeit um 1600 stellt einen so unglaublichen Reichtum an Musik zur Verfügung, dass es das grösste Problem für die Programmgestaltung dieses Festivals ist, eine Auswahl zu treffen und die wichtigsten Ak- zente zu setzen. Wo werden die innovativen Tenden- zen am frühesten greifbar? Welches sind die Zentren des progressiven Ausprobierens? Welche Komponisten

18 19 sind daran beteiligt? Wo ist umgekehrt das Musikle- siker mit Techniken und Methoden zu beschäftigen, ben noch am ehesten der Tradition verhaftet? Denn die über das Bisherige hinausgehen und Neuland be- nur vor dem Hintergrund des «Alten» tritt das «Neue» treten: Der Weg führt von der Polyphonie des 16. Jahr- als solches hervor. hunderts zur Monodie des 17., von der prima pratica Selten kommen bei einem Epochenwechsel so zur seconda pratica (vgl. den folgenden Text von Frieder viele «avantgardistische» Aspekte zusammen wie Zaminer), von der mehr im Zahlhaften, Strukturellen in der Musik um diese Zeit. Nach Jahrhunderten der wurzelnden zur mehr dem Sprachlichen, Expressiven Vorherrschaft französischer Musik im Mittelalter und verpflichteten, d.h. von der «Alten Musik» der Renais- niederländisch-flämischer im 15. Jahrhundert spielen sance zur «Neuen» des Barock. Im Mittelpunkt stehen sich nun die Entwicklungen in erster Linie in Italien ab; die fortschrittlichen Phänomene dieser Inkubations- von hier aus wird die Barockmusik nach ganz Europa zeit wie z.B. der stile concertato, die auf Expansivität ausstrahlen. und Dramatik ausgerichtete Mehrchörigkeit, das zum Einen besonderen Reiz erhält dieser Stilwechsel Virtuosen neigende solistische Musizieren (vokal und auch dadurch, dass zum ersten Mal in der Epochen- instrumental), die Herausbildung des basso continuo, geschichte der alte Stil mit seiner Polyphonie, seiner die Entwicklung zur harmonischen Tonalität, expressi- gemessenen Bewegung und seiner Ablehnung von Af- ve Chromatik, deklamierende Rhetorik, stile recitativo. fekt und Verzierungswesen neben dem neuen erhalten «Protobarock» könnte man diese Zeit auch nennen. bleibt und als stile antico zum Träger bestimmter Asso- Das wichtigste Experimentierfeld dieser Kom- ziationen in der Kirchenmusik und der Musiktheorie ponistengeneration war das mit seinem Be- wird – im ganzen 17. und 18. Jahrhundert erfüllt er so- streben, den Ausdruckswerten der zugrundeliegenden mit weiterhin einen wichtigen Zweck neben dem stile Poesie in der Musik nachzuspüren; in der italienischen nuovo. Frottola wird der Weg des Madrigals gebahnt, und Die Programme der Festtage beschäftigen sich in die Oper wird ihn fortsetzen. Neben den vielen un- erster Linie mit dem «Barock vor dem Barock», d.h. terschiedlichen Facetten des Madrigals geht das Pro- mit der Frage, welche Strömungen die neuen Ideen gramm aber auch den zukunftsweisenden Motetten am frühesten ankündigen und damit Anstoss geben eines Orlando di Lasso, den doppelchörigen Concerti für Umwälzungen, die sich erst um und nach 1600 von Willaert bis Gabrieli, der Messkomposition bei etablieren und stilbildend werden. Nicht erst mit dem Cipriano de Rore und den Entwicklungen in Frank- 17. Jahrhundert («Geburt der Oper», «Anfang des Ge- reich und England nach und setzt einen Schlusspunkt neralbasses») beginnt der musikalische «Barock», wie 1610 mit der Marienvesper von Claudio Monteverdi, die opinio communis lautet, sondern schon zwanzig bis dem «Schöpfer der Neuen Musik», wie er vor 50 Jah- dreissig Jahre oder noch früher beginnen sich die Mu- ren von Leo Schrade, dem damaligen Musikwissen-

20 21 schaftsordinarius in Basel, genannt wurde. In einem Alten Musik, der die Festtage veranstaltet, Erstere set- der Konzerte wird dem grossen Engländer John Dow- zen die Massstäbe, an denen sich die junge Generation land (geboren 1563) ein «Denkmal» zu seinem 450. zu messen hat – ein «edler Wettstreit», auf den sich das Geburtstag gesetzt, in einem anderen wird des grossen Publikum nur freuen kann. Madrigalisten Gesualdo gedacht, der vor 400 Jahren So wird dieses Festival eine Fundgrube der schöns- (1613) gestorben ist. ten Musik der «Frühen Neuzeit» sein – einer Zeit, die Drei Vorträge im Kunstmuseum zu ausgewählten genau zusammenfällt mit den Lebensdaten der grossen Themen bereichern den Reigen der Konzerte und re- Basler Basilius Amerbach (1533–1591), Felix Platter gen zu tieferer Erkenntnis an. Diesem Ziel dient auch (1536–1614) und Hans Bock d. Ä. (1550–1624). Zu er- die internationale Fachtagung an der Universität Basel, kunden, was an musikalischen Entwicklungen um sie die das Musikwissenschaftliche Seminar in Zusam- herum in Europa stattfand, ist das Ziel der Festtage menarbeit mit dem Institut für Musikwissenschaft Alte Musik Basel 2013. und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin durchführt und deren Besuch allen Festivalbesu- chern offensteht. Das Musikmuseum des Historischen Museums Basel ist mit seinem Direktor ebenso vertreten wie die Kantonale Denkmalpflege mit ihren Mitarbeitern. An Aufführungsorten sticht neben der Martinskirche, der Peterskirche und dem Refektorium des Museums zum Kleinen Klingental besonders das Münster zu Basel hervor, wo sowohl der Gottesdienst mit der vollstän- digen De-Rore-Messe wie auch die Monteverdi-Vesper als Schlusskonzert zu erleben sind. Wie zwei Jahre zuvor, so wird auch dieses Mal die «Last» der Aufführungen auf zwei Säulen ruhen: einer- seits den bekannten und anerkannten internationalen Spezialensembles und andererseits den jungen Nach- wuchsgruppen, die ihre Ausbildung in Basel abge- schlossen haben und auf dem Weg zu einem Platz im Musikleben sind. Letzteren gilt die Arbeit des Vereins zur Förderung Basler Absolventen auf dem Gebiet der

22 23 2b im italienischen Madrigal sich abzeichnende Entwick- lung führt bald zu einer ausdrücklichen Trennung von «Prima» und «seconda pratica» – «alter» und «neuer» Kompositionsart, von Prima und von der Renaissance zum Barock seconda pratica (Claudio Monteverdi, Vorrede zum 5. Frieder Zaminer Madrigalbuch, 1605). In den Jahrzehnten vor und nach 1600 sind es nicht minder moderne Bestrebungen, die auch sonst um sich greifen. Genannt seien einerseits Im 16. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt die Monodie der Florentiner Camerata, die Oper (L’Or- der geschichtlichen Musik für Jahrhunderte nach dem feo von Monteverdi, 1607), das Concerto-Prinzip, die Süden, nach Italien – dort vorbereitet und begünstigt Aufwertung der Tanzkomposition und andererseits durch die seit Generationen aufblühende höfische musikalische Vereinfachungstendenzen, wie sie sich und bürgerlich-städtische Kultur, deren musikalische im Aufkommen des Generalbasses, der Dur-Moll- Aktivitäten allerdings mehr in dem Bereich der Feste, Tonalität, der Taktrhythmik bekunden. Musikalisches Umzüge und Theateraufführungen lagen. Gegen Ende Tun zielt nun verstärkt auf Wirkung, in der Kompo- der franko-flämischen Ära tritt mit Giovanni Pierluigi sition wie in der Ausführung. Zu den angedeuteten da Palestrina († 1594) der erste italienische Komponist Verhältnissen in Italien gibt es in anderen Ländern ver- von europäischem Rang auf den Plan. Und eben der schiedentlich Parallelen, jedoch auch an nationale Tra- polyphone Vokalstil der Palestrina-Generation ist es, ditionen gebundene Unterschiede, etwa in Spanien, der in gewisser Weise neue Massstäbe setzt und weit Deutschland, Frankreich und England … über die eigene Zeit hinaus wirksam bleibt (stile antico, Die qualitative Verwandlung der europäischen Kontrapunktlehren). Wie andere vor ihm fasst Michael Musikkultur spiegelt sich in einer charakteristischen Praetorius eine weitverbreitete Überzeugung zusam- Verschiebung des Musikbegriffs. Im Sinne des anti- men, wenn er schreibt (Syntagma Musicum III, 1619, ken Neupythagoreismus hatte Boethius gelehrt (Insti- Widmung), die Musik sei «so hoch gestiegen, das tutio musica, I, 34), dass dem Erkennen, Wissen und fast nicht zu gleuben, dieselbe nunmehr höher werde Beurteilen der naturgegebenen Grundlagen Vorrang kommen können». zukomme vor jeder Art praktisch-musikalischer Betäti- Neben dem klassisch ausgewogenen Vokalstil ent- gung; demgemäss müsse der Theoretiker (Musicus) hö- steht um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein «moderner her eingestuft werden als der schöpferisch (Poeta) und Usus», der sich auf sinnfällige Textdeklama­tion, auf manuell tätige Praktiker. Im Mittelalter bahnte sich Wortmalerei und Affektdarstellung verlegt, in chro- dann allmählich ein Ausgleich zwischen Theorie und matisches und harmonisches Neuland vordringt und Praxis (zwischen Musicus und Cantor) an. Zu einer neu- sich von den Regeln des strengen Satzes entfernt. Die en Bewertung kommt es aber erst in der Renaissance-

24 25 zeit. Das «vollkommene Werk» in Gestalt untadeliger 3 Kompositionen erscheint nun wie ein Abglanz göttli- cher Schöpfung. Dazu passt, dass man den gebildeten Zu den Festtagen erscheint beim Basler Label Komponisten neben den Musiktheoretiker einstuft Cantando eine CD mit demselben Titel. oder diesem sogar voranstellt. Und entsprechend ver- schiebt sich die Beurteilung des Wortes Musica/Musik Wege zum Barock – von der Theorie und Lehre hin zur Praxis, zur Kompo- sition, zum erklingenden Stück. Tradition und Avantgarde um 1600 (aus: Geschichte der Musiktheorie, Band 6, «Hören, Messen Werke von de Rore, Luzzaschi, Monteverdi, Janequin, und Rechnen in der Frühen Neuzeit», hrsg. von Carl Dahl- Lejeune, Dowland und ihren Zeitgenossen haus u.a., Darmstadt 1987, S. 1–3) Ausführende: Profeti della Quinta, Elam Rotem David Munderloh, Julian Behr Il Zabaione musicale, Alice Borciani Thélème, Jean-Christophe Groffe

Die vier jungen Ensembles, die an der Schola Canto- rum Basiliensis ihre Ausbildung erfahren haben und die zu den vier «Alumni»-Konzerten der Festtage ein- geladen worden sind, präsentieren die «Rosinen» ihrer Programme mit italienischer, französischer und engli- scher Musik aus der Zeit der Epochenwende von der Renaissance zum Barock. Das vielseitige Programm dieser CD stimmt ­einerseits sehr wirkungsvoll auf das musikalische ­Repertoire der Festtage ein, andererseits ist es eine «klingende Dokumentation» dieses besonderen Ereig- nisses im August 2013 in Basel.

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Wege zum Barock Tradition und Avantgarde um 1600

de Rore, Luzzaschi, Monteverdi, Janequin, Le Jeune, Dowland Freitag 23. August 2013 und ihre Zeitgenossen 20.15 Uhr Martinskirche Eröffnungskonzert Il Concerto sacro – Doppelchörigkeit alla milanese e alla veneziana

Concerto Palatino (Ltg. Bruce Dickey, Charles Toet): Alex Potter – Cantus Chris Watson – Altus

cantando Kevin Skelton – Tenor Profeti della Quinta Gerd Türk – Tenor Thélème Il Zabaione musicale Markus Fleig – Bassus Festtage David Munderloh, Julian Behr Alte Musik Basel Bruce Dickey, Doron David Sherwin – Zink Basel, 23. bis 31. August 2013 Wege zum Barock – Tradition und Avantgarde um 1600 Simen van Mechelen, Charles Toet, Joost Swinkels –

Booklet_V14_Titel_korr.indd 1 31.5.13 11:03 Posaune Darüber hinaus setzt die CD die Bemühungen des Jörg-Andreas Bötticher – Orgel Vereins zur Förderung Basler Absolventen auf dem Gebiet der Alten Musik fort, jungen, talentierten Musi- kerinnen und Musikern und Ensembles Unterstützung auf ihrem Weg ins Konzertleben zu bieten und ihnen zu nachhaltiger Ausstrahlung zu verhelfen. Allen Besucherinnen und Besucher der Festtage sei deshalb diese­ CD zum Vorzugspreis von 20 CHF herz- lich empfohlen!

28 29 Programm (ca. 1554–1612) O Jesu mi dulcissime à 8 (Venice 1597) (ca. 1490–1562) Jubilate Deo a 10 Credidi propter à 8 Creator omnium Deus à 6 Giuseppe Guami (ca. 1540–ca. 1611) mit zwei tenores «Fuga in dyapentheremissum» Canzon 25 à 8 Lauda Ierusalem à 8 Giovanni Gabrieli Ascanio Trombetti (1544–1590) Deus qui beatum Marcum à 10 Emendemus in melius à 5 passaggiato da Bruce Dickey Zum Programm (1532–1585) Concerto – vom lateinischen concertare – heisst ir- Deus qui beatum Marcum à 8 ritierenderweise «zusammenbringen/zusammen- Deus, Deus meus ad te à 10 (Orgel solo) arbeiten», das offensichtliche Gegenteil also von Laudate Dominum à 10 «streiten/wettstreiten». Im späten 16. Jahrhundert überwog weitgehend der erstere Aspekt: ein concerto Francesco Rognoni Taeggio (?–1626) war schlicht ein vokales oder instrumentales Ensem- O Rex Gloriae, Canzon motetto a 8 ble. Um 1600, mit dem Aufkommen der modernen, «barocken» Tendenzen, gewann die zweite, streit- * barere Bedeutung die Oberhand. Im neuen Jahrhun- dert meinte der Begriff concertare mehr und mehr ein Giovanni Domenico Rognoni Verschmelzen kontrastierender Elemente zu einem (2. Hälfte 16. Jhdt. – ca. 1624) harmonischen Ganzen – eine Art grosse musikalische Zwei Canzon-Motetti: Debatte, die zu einer musikalischen Übereinstim- Tota pulchra es à 8 mung, einem Concerto, führte. Die kontrastieren- Quemadmodum desiderat a 8 den Elemente konnten bestehen aus verschiedenen Stimmengruppen (Solo, Duett, Trio etc.) oder instru- Ascanio Trombetti mentalen ritornelli, vereinigt durch den Gebrauch des Derelinquat impius à 10 basso continuo. Zwischen 1580 und 1630 jedenfalls Da pacem Domine à 5 (Instrumental) beschreibt der Begriff oftmals ein Wechselspiel zwi- schen räumlich verteilten «Chören» von Musikern, die musikalisches Material dialogisch austauschen.

30 31 Es ist viel geschrieben worden über die Beziehung gleichen Ort gruppiert waren, gewöhnlich auf der be- zwischen mehrchöriger Musik und der Architektur der rühmten achteckigen Kanzel. Das heisst: Es gab keine Basilika von San Marco in Venedig. In der landläufi- räumliche Trennung der Chöre. Wurden diese Psal- gen Vorstellung (und mit Unterstützung einiger allzu men zu anderen Gelegenheiten und an anderen Orten enthusiastischer CD-Hüllentexte) führte bereits das aufgeführt, wurden sicherlich auch Instrumente, vor schlichte Vorhandensein zweier sich gegenüberliegen- allem die Orgel, verwendet. In jedem Fall, soviel steht der Orgelemporen zu einer spektakulären Form von fest, war die Distanz zwischen den Musikern nicht doppelchöriger Musik, einer Art akustischem «Tennis- sehr gross, selbst bei grossen Feierlichkeiten, wenn match», bei dem die Musik von allen Seiten auf den mehrchörige Werke von den Choremporen und Ga- Hörer einstürmt. In der Tat ist San Marco in der frühen lerien erklang. Die einzige Person, die ein akustisches Entwicklung der Mehrchörigkeit wichtig – allerdings «Tennismatch» hätte wahrnehmen können, war der mehr durch Qualität als durch Einzigartigkeit. Es gibt vor dem Hauptaltar sitzende Doge selbst. überzeugende Belege für mehrchörige Musik um 1550 Von seiner erfolgreichen Bewerbung 1585 bis zu in Treviso, Verona, Bergamo, Padua und Bologna, und seinem Tode 1612 bekleidete Giovanni Gabrieli das die Kirchen dort wie andernorts besassen gegenüber- Amt des Hauptorganisten von San Marco als Nach- liegende Orgelemporen ähnlich denen in Venedig. Der folger seines Onkels und Lehrers Andrea. Nach dem grosse Unterschied in Venedig waren die ausseror- Tod des Onkels 1587 wurde Giovanni der haupt- dentlichen Fähigkeiten der dort tätigen Komponisten, sächliche Komponist zeremonieller Musik, ebenso angefangen bei Willaert über Andrea Gabrieli bis zu war er verantwortlich für die Anstellung zusätzlicher dessen Neffen, dem grossen Giovanni Gabrieli. Sänger und Instrumentalisten für hohe Festtage. Die Man ist sich unter Musikwissenschaftlern einig, Spieler, die zu seiner Verfügung standen – insbeson- dass es, unbeschadet der Existenz mehrchöriger Musik dere Zinkenisten und Posaunisten –, zählten zu den in vielen Zentren der Mitte des 16. Jahrhunderts, Adri- besten ihres Faches, und ihre Virtuosität spiegelt sich an Willaerts Verdienst war, dieses musikalische Genre deutlich in der Musik, die er für sie schrieb. Gabri- zu etablieren, und zwar mit der Publikation seines Bu- eli folgte seinen herausragenden Vorgängern Adrian ches mit doppelchörigen Psalmen 1550. Der in Brügge Willaert, Claudio Merulo und seinem Onkel Andrea geborene Willaert begründete in San Marco eine Ge- im Gebrauch der cori spezzati, auch wenn Giovannis wohnheit, an besonders wichtigen Festtagen Vesper- Schreibweise durchgängig farbiger und brillanter ist, psalmen in doppelchörigen Sätzen (chori spezzati) ohne mit höheren Klangfarben-Kontrasten zwischen den instrumentale Begleitung aufzuführen. Diese strenge Chören, mehr homophoner und deklamatorischer Praxis sah die Abwechslung zweier Gruppen von acht Rhythmik und stärkerem Gebrauch von Dissonan- beziehungsweise vier Sängern vor, die sämtlich am zen.

32 33 Mailand war ein Zentrum des Orgelbaus und da- land, wo seine politischen Kontakte Respekt fanden. mit der Orgelmusik, von der ein guter Teil auch für 1592 stand er als Musiker in Diensten des gräflichen andere Instrumentationen geeignet war. Unter die- Machthabers. Beide Söhne Riccardos waren gefeierte sen zahlreichen canzoni von Mailänder Komponisten Musiker: Giovanni Domenico, Organist und Kompo- gab es eine Gruppe besonderer Werke, die die Con- nist, und Francesco, der als Streich-Instrumentalist die certo-Idee in origineller und typisch Mailänder Ma- Familientradition fortführte. Als junger Mann war er in nier erprobten. Diese canzon-motetti stellen vier oder Polen im Dienst König Sigismunds III. Der Grossvater fünf Sänger vier Instrumenten gegenüber, die mit ih- des Königs, Sigismund I., hatte Bona Sforza geheira- nen in doppelchöriger Weise dialogisieren – abgese- tet und so italienische Kultur nach Warschau gebracht hen davon, dass die Sänger eine Motette aufführen, und enge Kontakte zwischen dem katholischen polni- während die Instrumentalisten eine Canzona spielen. schen Hof und Mailand hergestellt. Beide, Francesco Die Motette bedient sich relativ grosser Notenwerte, wie Giovanni Domenico, waren besonders der Form schlichter Polyphonie und textbedingter Rhythmen, des canzon-motetto verbunden und hinterliessen beide die Canzona hingegen bewegt sich rascher und bietet bezaubernde Beispiele. lebhaftere, instrumentalere Rhythmen (einschliesslich Unser Programm schliesst mit einer doppelchö- des obligatorischen Anfangsmotives mit repetierten rigen Canzona von Gabrielis venezianischem Zeit- Noten, die das Aushängeschild einer Canzona sind). genossen Giuseppe Guami und drei Motetten von Zunächst scheinen beide Chöre gleichzeitig zwei je ei- Ascanio Trombetti (besser bekannt unter dem Namen gene Stücke zu spielen, aber je mehr sich der antipho- «Ascanio del cornetto»). Trombetti galt als einer der nale Austausch intensiviert, desto mehr übernehmen berühmtesten Zinkenisten Italiens und war Mitglied und verarbeiten die Chöre das gegenseitige Material. des ursprünglichen Concerto Palatino von Bologna. Diese spezielle Mischform fand sich offenbar nur in Seine hervorragend schönen Motetten tragen die An- der Lombardei, und tatsächlich stellt sie einen einzig- gabe «accomodati per cantare & far concerti» (geeignet artigen in modo di concertare alla Milanese dar. zum Singen und Concertieren), ein offensichtlicher Die Familie Rognoni von Bergamo bildete am und bemerkenswert früher Gebrauch dieses Begriffes Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts eine im Hinblick auf das Miteinander von Stimmen und lombardische Musikerdynastie. Zeitgenössische Instrumenten. Leider fand Ascanio ein unrühmliches Chroniken geben Hinweise, dass sie eine kaisertreue Ende: In flagranti mit der Frau eines Bologneser Buch- Ghibellinen-Familie war in einer Zeit blutiger Aus- händlers ertappt, wurde er ermordet und seine Leiche einandersetzungen zwischen diesen Parteigängern die Treppe hinuntergeworfen. der Visconti und den papsttreuen Guelfen. Riccardo Bruce Dickey Rognoni zog mit seiner Familie folglich nach Mai-

34 35 schätzten Platz im Konzertleben zu verhelfen und die Liebe zu ihrer Musik unter Hörern wie Spielern zu kul- tivieren. Der Kern der Gruppe besteht aus zwei Zinken und drei Posaunen, doch wird diese Formation des Öfteren erweitert durch jeweils notwendige zusätzliche Blech- bläser, Streicher oder Sänger. Naturgemäss besteht der grösste Teil des Repertoires aus Sakralmusik, da diese Instrumente in der Musik des katholischen Südens wie des protestantischen Nordens feste Bestandteile wa- ren, und zwar von der Zeit der ersten Hochblüte der flämischen Polyphonie im frühen 16. Jahrhundert bis hin zu Johann Sebastian Bach – dem letzten Kompo- nisten, der ihnen ernsthafte Rollen zuwies. «Concerto Palatino» arbeitet häufig zusammen mit Concerto Palatino anderen führenden Ensembles, insbesondere Cantus Die Namen Bruce Dickey und Charles Toet sind prak- Cölln (Konrad Junghänel), Collegium Vocale Ghent tisch Synonyme für die moderne Wiederbelebung des (Philippe Herreweghe), Tragicomedia (Steven Stubbs Zinks und der Barockposaune. Beide sind zu einem und Erin Headley), dem Amsterdam Baroque Orches- guten Teil verantwortlich für die enormen Fortschritte tra (Ton Koopman), sowie dem Bach Collegium Japan der Standards auf diesen Instrumenten in den letzten (Masaki Suzuki). 20 Jahren. In einer mittlerweile über 25 Jahre andau- «Concerto Palatino» räumt der Ausgrabung ver- ernden Zusammenarbeit haben sie eine ganze Genera- schollener Schätze der Musikgeschichte hohe Priorität tion von Zinkenisten und Posaunisten ausgebildet, von ein, die Gruppe will ihnen ihren Platz in den Konzert- denen viele regelmässige Mitglieder des «Concerto Pa- programmen und CD-Katalogen verschaffen, neben latino» wurden. den Werken der etablierten Meister. So legte das En- Die Gruppe leitet ihren Namen ab von einem his- semble, neben begeistert aufgenommenen Aufnahmen torischen Ensemble von Zinkenisten und Posaunisten, mit Werken von Schütz, Gabrieli und Monteverdi, das in der Stadt Bologna existierte unter dem Namen eine Reihe von Ersteinspielungen vor mit den Marien- Il concerto palatino della Signoria di Bologna. Den Spuren Vespern von Francesco Cavalli, der Missa Maria Con- dieser historischen Virtuosen folgend, streben sie an, certata von Christoph Strauss, sowie Palestrinas Missa diesen Instrumenten wieder zu einem aktiven und ge- sine nomine, die sich in einem Manuskript J. S. Bachs

36 37 erhalten hat. Ihre zahlreichen Aufnahmen für die La- Im Verlauf seiner langen Karriere auf der Bühne bels EMI Reflexe, Accent und harmonia mundi France wie im Tonstudio arbeitete er mit den meisten führen- erregten grosse Aufmerksamkeit. Vor allem gewann den Köpfen auf dem Gebiet der Alten Musik zusam- eine umfangreiche Serie von Aufnahmen in Zusam- men. Über zehn Jahre war er Mitglied von Jordi Savalls menarbeit mit Cantus Cölln (Vespern von Monteverdi Hespèrion XX, er arbeitete häufig zusammen mit An- und Rosenmüller, Schütz’ Psalmen Davids und Sympho- drew Parrott, Ton Koopman, Monica Huggett, Philippe niæ sacræ, die Selva morale e spirituale von Monteverdi) Herreweghe, Konrad Junghänel und vielen anderen. zahlreiche renommierte Preise. Ihre neueste Aufnah- Bruce Dickey ist auf zahllosen Aufnahmen zu me (Label Hyperion) zusammen mit den Formationen hören. Seine Solo-CD Quel lascivissimo cornetto... «His Majesty’s Sagbutts and » und «Ex Cathe- ­(Accent) mit dem Ensemble «Tragicomedia» gewann dra» feiert den 400. Jahrestag von Giovanni Gabrielis den «Diapason d’or». Seine zweite Solo-CD («La Bella Tod. Minuta») ist soeben beim Label Passacaille erschienen. Er ist ebenfalls aktiv auf dem Gebiet der Erfor- Bruce Dickey zählt zu der weltweit kleinen Gruppe schung der historischen Aufführungspraxis. Zusam- von Musikern, die sich dem Zink widmen – einst das men mit Michael Collver erarbeitete er einen Katalog Instrument grosser Virtuosen, das leider während des erhaltenen Zink-Repertoires, und zusammen mit des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geriet. Die dem Trompeter Edward Tarr legte er ein Buch über Wiederbelebung begann bereits in den 50er-Jahren historische Bläser-Artikulation vor. 1981 verlegte er des 20. Jahrhunderts, aber es war vor allem Bruce seinen Wohnsitz nach Italien, zum Teil, um den Ur- Dickey, der von den späten 1970er-Jahren an eine sprüngen und Quellen seines Instrumentes näher zu neue Renaissance des Instrumentes auslöste, indem sein. er Beweglichkeit und expressive Kraft des Zinks wie- der hörbar werden liess. Nach über drei Jahrzehnten Charles Toet wurde 1951 in Den Haag geboren. Er er- des Unterrichtens an der Schola Cantorum Basilien- hielt seine musikalische Ausbildung am königlichen sis helfen seine zahlreichen Studenten mit, den Sta- Konservatorium in Den Haag, wo er moderne Posaune tus des einst vergessenen Instrumentes zu sichern bei Anne Bijlsma sen. studierte und bald schon begann, und weiterzuentwickeln. Im Jahr 2000 verlieh ihm sich auf Alte Musik und Barockposaune zu spezialisie- die Historic Brass Society den renommierten Chris- ren. In diesen Fächern unterrichtet er heute an diesem topher Monk Award für «seine bewundernswerte Institut sowie der Schola Cantorum Basiliensis (Basel) Arbeit in der musikalischen und historischen Auf- und der Musikhochschule Trossingen (Deutschland). führungspraxis sowie der musikwissenschaftlichen Gegenwärtig teilt er seine Kräfte auf zwischen dem Forschung». Repertoire des 17. Jahrhunderts (vor allem mit Con-

38 39 certo Palatino, dessen Mitbegründer er ist) und dem 4 klassischen und frühromantischen Repertoire auf Ori- ginalinstrumenten, zusammen mit Orchestern wie La Concerto – das musikalische Petite Bande (Sigiswald Kuijken), The Amsterdam Ba- Paradoxon: Mit- und Gegeneinander roque Orchestra (Ton Koopman) und dem Orchestre Mateusz Kozik* des Champs-Elysées (Philippe Herreweghe). Er wirkte mit bei zahlreichen Konzerten und Auf- nahmen mit Bruce Dickey und dem Concerto Palatino Bezeichnete ein Komponist des späten 16. oder 17. sowie mit zahlreichen anderen historisch ausgerich- Jahrhunderts in Italien eines seiner Werke als Concerto, teten Ensembles wie z.B. Syntagma Musicum (Ams- handelte es sich um eine vokale oder gemischt vokal- terdam), The Taverner Players (London), The Hilliard instrumentale Komposition. Es konnte sich sowohl um Ensemble, Hespèrion XX und dem Vokalensemble geistliche als auch weltliche Musik handeln. Dies war Currende. schon bei den 1587 in Venedig gedruckten Concerti di Andrea, et di Gio. Gabrieli der Fall – dem ersten im Titel mit Concerto bezeichneten Werk. Auf dem Titelblatt le- sen wir, dass die Concerti «[…] per voci, & strumenti musicali» bestimmt waren. [Abb. 1] Wichtiger als die Beschaffenheit der Klangquelle war für die Komponisten der Concerti jedoch das Vorhandensein von kontrastierenden Klanggruppen, die zusammen «concer- tieren». Damit ist ge- meint, dass sie zum Beispiel hohe gegen Abbildung 1

40 41 tiefe Chöre, vokale gegen instrumentale Chöre oder vereinigt einfach die vielseitigen Facetten, die beim ein Solo gegen ein Tutti musizieren liessen. Selbst- Zusammenwirken unterschiedlicher Partner im En- verständlich gehörte aber auch das Zusammentreten semble zutage treten können.2 dieser einzelnen Klanggruppen zu einem gemeinsamen Etwa zur gleichen Zeit, spätestens aber zu Be- Ensemble an gewissen Stellen dazu. ginn des 17. Jahrhunderts, entsteht in Italien eine neue Bei Andrea Gabrieli und seinem Neffen und Kompositionstechnik, die Generalbasskomposition. Schüler Giovanni, die beide an der Basilica di San Revolutionär war, dass es sich bei diesem basso continuo Marco in Venedig tätig waren, war diese vielfältige – anders als beim früheren basso seguente, der jeweils Besetzungspraxis bereits vollständig ausgeprägt. Ihre der tiefsten Stimme folgte – um eine eigens kompo- Kompositionen galten als Vorbild. Dieses Kompositi- nierte, instrumentale Unterstimme handelte, die sich onverfahren – das bereits von ihrem Vorgänger an San von den Oberstimmen deutlich unterschied und die Marco, dem Frankoflamen Adrian Willaert, praktiziert Harmonie trug. Zum ersten Mal wird diese Bezeich- wurde – nennen wir heute Venezianische Mehrchörig- nung von Lodovico Viadana auf dem Titelblatt seiner keit.1 Die Gegenüberstellung von kontrastierenden 1602 in Venedig gedruckten Cento concerti ecclesiastici3 Chören bedeutete aber keinesfalls nur ein Gegenein- benutzt. Es sind Motetten für eine bis vier Solostim- ander und den Disput, vielmehr ging es auch um das men mit einem selbstständig geführten Generalbass. gleichberechtigte Neben-, und sogar Miteinander und Ob Viadana tatsächlich der «Erfinder» des Generalbas- den partnerschaftlichen Dialog. ses war, ist allerdings umstritten. [Abb. 2] Kennt man die Etymologie des Terminus Concerto, wird man zugeben müssen, dass es äusserst schwer- 2 In diesem Zusammenhang kann auch der englische Begriff «Consort» fallen würde, für diese musikalische Gattung mit kon- genannt werden, mit dem ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hauptsächlich Instrumentalensembles bezeichnet wurden und, ab 1900, nicht trastierendem Charakter eine bessere Bezeichnung zu mehr nur in England Ensembles, die sich auf Musik jener Zeit spezialisieren, finden. Sowohl der Aspekt der Auseinandersetzung wieder bezeichnet werden. Abgeleitet ist er vom lateinischen «conserere», was und des Gegeneinanders (das lateinische Wort «con- soviel bedeutet wie «übereinstimmen, zusammenwirken». Mit «Consort» kann certare» bedeutet in erster Linie «wetteifern, kämpfen, aber auch ein Werk gemeint sein, das für ein solches Ensemble komponiert wurde. streiten, disputieren») als auch der des gemeinschaft- 3 Der Terminus «Concerto ecclesiastico» lässt sich am besten mit lichen Miteinanders (auf italienisch bedeutete «con- «geistliches Konzert» oder «Kirchenkonzert» übersetzen. Erst in der certare» zu dieser Zeit «aufeinander abstimmen, Verbindung mit dem Adjektiv «ecclesiastico» wurde der Begriff «Concerto» miteinander vereinigen») sind vorhanden. Dieser Ge- vermehrt gebraucht. Kurz nach 1600 begannen unzählige Komponisten ihre gensatz schliesst sich nicht aus, der Begriff Concerto Werke als «Concerti ecclesiastici» zu benennen. Zwei Sammlungen mit diesem Titel wurden bereits vor Viadanas Sammlung gedruckt, die eine enthält 1 Der Praxis, zwei Chorhälften abwechselnd einen Vers vortragen zu Stücke von Andrea Gabrieli und weiteren Komponisten (? 1590), die andere lassen, bediente man sich aber bereits im gregorianischen Choral. ist von Adriano Banchieri (Venedig 1595).

42 43 Anders als bei certo bezeichnet werden konnten.4 Schon bald wurden den Gabrielis und die innovativen italienischen Werke auch in Deutsch- der Veneziani- land gedruckt, verbreitet und nachgeahmt und bildeten schen Mehrchö- zum Beispiel die Basis für die Entwicklung des general- rigkeit, haben wir bassbegleiteten, mit wenigen Solostimmen besetzten es im General- «geistlichen Konzerts».5 Zwei der bekanntesten Nach- bass-Satz oft mit ahmer waren und Heinrich Schütz. einer sehr kleinen Schütz’ Kleine geistliche Concerte, die in zwei Bänden Besetzung zu tun. 1636 (Leipzig) und 1639 (Dresden) veröffentlicht wur- Für Viadana, aber den, galten bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wie- auch für ande- derum als richtungsweisend für die protestantische re Komponisten Kirchenmusik und wurden zum Vorbild für zahlreiche wie Monteverdi, Komponisten. konnte schon nur Wie schon zu Beginn erwähnt, galt die Bezeich- ein zweistimmi- nung Concerto um 1600 also vorwiegend für vokal- ges Stück – für instrumentale Werke. Das rein instrumentale Konzert eine Singstimme Abbildung 2 mit einem Solisten gab es in der ersten Hälfte des 17. und basso continuo Jahrhunderts noch nicht. Mit der Zeit wurde das Prin- – ein Concerto sein. Der Begriff Concerto liess sich also zip der Mehrchörigkeit auf die verschiedenen Klang- auch auf die Gegenüberstellung von Vokal- und Inst- gruppen eines instrumentalen Ensembles übertragen. rumentalstimmen in den Generalbasskompositionen Nun stand ein grösserer Teil eines Orchesters, genannt übertragen. Concerto grosso, einem kleineren Teil, dem Concertino6, Um 1600 haben wir also zwei wesentliche Ent- 4 Beispielsweise gab Monteverdi seinem 1619 in Venedig gedruckten, wicklungen in Italien: die Mehrchörigkeit und die Ge- siebten Madrigalbuch den Übertitel «Concerto». neralbasskompositionen. Es waren sowohl geistliche, 5 Mit den Werken kam auch das Wort «Concerto» nach Deutschland. als auch weltliche Werke für unterschiedlichste Beset- Michael Praetorius – heute hauptsächlich für sein musiktheoretisches, zungen – von der geringsten zweistimmigen bis zur dreibändiges Werk «Syntagma musicum» (1615–1619) bekannt, das als eine der wichtigsten Quellen für die Musik jener Zeit gilt – kannte wohl nur die grösstmöglichen für mehrere Chöre. All diese Kompo- lateinische Bedeutung des Begriffs und übersetzte folglich im dritten Band sitionsformen wurden jedoch Concerti genannt. Die wei- «concertare» als «mit einander scharmützeln». Seine Definition verbreitete te Verwendung des Begriffs zeigt auch der Umstand, sich im deutschsprachigen Raum und beeinflusste somit auch zahlreiche dass sowohl Motetten, als auch Madrigale (jeweils mit Komponisten. [Abb 3] 6 Das «Concertino» bestand aus mehreren Solisten, die auch untereinander Instrumentalbegleitung)­ von den Komponisten als Con- konzertieren konnten.

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Samstag, 24. August 2013 12.15 Uhr Klingental Alumni 1, Mittagskonzert «Concerto delle dame» Abbildung 3 Solomadrigale für einen, zwei und drei Soprane gegenüber. Davon abgeleitet bekam diese Art des Werke von Luzzasco Luzzaschi, Claudio Monteverdi, Konzertierens gegen Ende des 17. Jahrhunderts den Girolamo Frescobaldi u.a. ­Namen Concerto grosso. Wagen wir einen kleinen Blick über das 17. Jahr- Ensemble Il Zabaione Musicale: hundert hinaus: Aus diesen Concerti grossi entwickelte Alice Borciani, Alicia Amo – Sopran sich im 18. Jahrhundert unter anderem die wohl be- Lisa Weiss – Mezzosopran kannteste Form des Konzerts: das Solokonzert – in Claire Piganiol – Harfe dem ein Soloinstrument (das frühere Concertino, be- Ryosuke Sakamoto – Viola da gamba und Theorbe schränkt auf ein Instrument) von einem ganzen Or- Ori Harmelin – Theorbe und Arciliuto chester (Tutti; dem früheren Concerto grosso) begleitet Elam Rotem – Cembalo wird. Während um 1600 die einzelnen Chöre noch gleichberechtigt waren, bekam jetzt der Solist die übergeordnete Rolle. Die ursprüngliche lateinische und italienische Bedeutung des Begriffes «concertare», also der Gedanke des Wettstreits, aber auch des Miteinan- derwirkens, blieb aber bis heute erhalten und spiegelt sich zum Beispiel in dem Zusammen, bzw. Gegenein- ander-Spiel zwischen Soli und Tutti wieder.

46 47 Programm: Santino Garsi da Parma (1542–1604) Gagliarda (MS. 4402 Preuss. Staatsbibliothek) «O dolcezze amarissime d’amore« Ruggieri (Lauten-Cavalcanti)

Giaches de Wert (1535–1596) Luzzasco Luzzaschi Si come ai freschi O dolcezze amarissime d’amore T’amo mia vita Luzzasco Luzzaschi (1545–1607) Stral pungente d’amore Zum Programm Girolamo Frescobaldi (1583–1643) «Concerto delle dame principalissime» ist die von ­Luzzasco Era l’anima mia Luzzaschi gewählte Beschreibung im Vorwort seines Buches Madrigali per cantare et sonare a uno, e doi, e tre Luzzasco Luzzaschi Soprani, einer Sammlung von Kompositionen für das Aura soave Gesangsensemble am Hof der Fami- Giovanni Francesco Anerio (1567–1630) lie d’Este in Gagliarda VII in der Mitte des Gagliarda X 16. Jahrhunderts. Gagliarda V Die Besonderheit dieses Ensembles Giulio Caccini (1550–1618) lag darin, dass es Vedrò il mio sol ausschliesslich aus Frauen bestand, be- Luzzasco Luzzaschi gleitet von einem Cor mio deh non languire Generalbass, der zu Non sa che sia dolore jener Zeit auch von eben diesen Frauen Claudio Monteverdi (1567–1643) ausgeführt wurde. Lumi miei cari lumi Das «Concerto delle dame» war in ganz Italien renommiert

48 49 und wurde an anderen italienischen Höfen nachge- ahmt. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Frauen in der professionellen Musikausübung zu jener Zeit prak- tisch nicht präsent waren. In unserem Programm finden sich sechs Stücke von Luzzaschi, Beispiele seiner Kompositionskunst für eine, zwei und drei Stimmen und Dokumente der technischen und virtuosen Möglichkeiten der höfi- schen Sängerinnen. Die Stücke von Claudio Monte- verdi und hingegen sind Madrigale zu fünf Stimmen – drei Sopran- und zwei männliche Stimmen (Tenor und Bass): Bei den Sängerinnen des Hofes von Ferrara war es eine übliche Praxis, für die Aufführung von Stücken, die nicht explizit für sie komponiert waren, zwei männliche Sänger hinzu- zuziehen. In unserer Aufführung werden die zwei «fehlenden Stimmen» instrumental von der General- bassgruppe übernommen. Das Stück von de Wert wurde zudem ausgewählt, weil der Komponist auch privat mit einer der Sängerin- Das Duett von Girolamo Frescobaldi schliesslich ist nen – Tarquinia Molza – verbunden war. Er kümmerte eines der qualitätvollsten und gleichzeitig eines der un- sich nicht nur um die Erziehung der Söhne des Herzogs bekanntesten Stücke aus der Feder des römischen Kom- Guglielmo Gonzaga, sondern auch um die der Musike- ponisten, der Schüler von Luzzasco Luzzaschi war. rinnen des Hofes von Ferrara. Die Instrumentalmusik, die für dieses Programm Giulio Caccini wurde erstmals 1583 an den Hof der ausgewählt wurde, schliesst Stücke von Komponisten Familie d’Este eingeladen, wo er die Möglichkeit hatte, am Hof von Ferrara und aus Norditalien ein, so bei- ein Konzert der drei mittlerweile auch in seiner Hei- spielsweise Giovanni Francesco Anerio und Santino matstadt Florenz berühmten Sängerinnen zu besuchen. Garsi aus Parma. «Vedrò il mio sol», eines der berühmtesten Stücke des Flo- Alice Borciani rentiner Komponisten, wurde in dieses Programm als Beispiel für die Monodie jener Zeit und als Gegensatz zu Luzzaschis Monodie «Aura soave» aufgenommen.

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Il Concerto delle dame Andreas Wernli

Am 26. Juni 1581 meldete der Florentiner Gesandte von Ferrara nach Hause: «Der zu Besuch weilende Kardinal wurde mit dem gewohnten Konzert der Damen unter- halten, das man täglich gibt, ohne es auch nur einmal auszulassen, und der Herr Herzog ist dieser Sache so zugetan, dass es aussieht, als hänge nicht nur sein gan- zes Vergnügen daran, sondern überhaupt jeder seiner Gedanken.» Und vier Jahre später war Orlando di Lasso da, und sein Dienstherr, Albrecht V. von Bayern, schrieb Ensemble Il Zabaione musicale dem Herzog aus München: «Besagter Orlando konn- Das Ensemble «Il Zabaione musicale» ist nach der te sich nicht genug tun, mir von der köstlichen Musik, gleichnamigen Sammlung fünfstimmiger Madrigale die er an Eurem Hof gehört hat, zu erzählen und sie zu von Adriano Banchieri benannt, die im Jahr 1604 in preisen – er meint, man müsse sie zu Recht als etwas Mailand veröffentlicht wurde. Entstanden aus der Be- ganz Ausserordentliches einschätzen.» gegnung zwischen der Sopranistin Alice Borciani, dem Der genannte «Herr Herzog» ist Alfonso II. d’Este, Theorbisten Ryosuke Sakamoto und dem Cembalisten der von 1559–1597 regierte und den Ruf, den Ferrara Elam Rotem, konzentriert sich die Formation auf das als Kulturstadt bereits in ganz Europa besass, noch ver- italienische Repertoire des primo barocco. In dieser Be- mehrte. Dabei spielte das «Konzert der Damen» eine setzung hat das Ensemble 2011 und 2012 Konzerte in besondere Rolle. Darin wirkten drei oder mehr Frauen- Italien und der Schweiz gegeben. Die Besetzung der stimmen mit, sei es im Verband mit Männerstimmen, Gruppe ist variabel und erlaubt – je nach Programm – oder aber als Solo, Duett oder Terzett zur Begleitung des das Hinzuziehen weiterer Musiker und Sänger, um Cembalos. Diese Ferrareser Damen müssen ausserge- komplexere Repertoires erschliessen und die Ausfüh- wöhnliche Fähigkeiten besessen haben, denn alle Schil- rung mit den passenden Farben und Nuancen berei- derungen sind voll des höchsten Lobs. So sind uns denn chern zu können. auch die Namen allesamt bekannt; sie waren nicht als Sängerinnen angestellt, sondern gehörten zu den Hofda- men der Herzogin. Neben ihrer Schönheit wurde ihr Ge-

52 53 sang gepriesen, ihr instrumentales Können, ihre Bildung man auch die letzte Silbe eines jeden Wortes vernehmen und tänzerische Grazie. Nicht nur, dass «seine Hoheit konnte, ohne dass sie von Läufen oder Verzierungen un- verlangte, dass sie täglich zusammen üben sollten», nein, terbrochen wurde.» sie sangen auch alles auswendig, wobei sämtliche Ver- Diese Singweise bildet einen Teil jener grossen Um- zierungen auf Geheiss des Herzogs ausgeschrieben wur- wälzung, die sich in der Musik und Musikauffassung den, damit diese besondere Kunst der Nachwelt erhalten um 1600 ereignet und sich unter anderem in der Unter- bleibe. Wir besitzen diese Musik, denn sie wurde vom ordnung des musikalischen Ausdrucks unter den Text Leiter des Ensembles und maestro di cappella Luzzasco äussert. Während dies etwa bei Monteverdi zu neuen Luzzaschi 1601 in einem Buch Madrigale veröffentlicht. Satztechniken führt und in Florenz zur Gattung Oper, Das Ungewöhnliche dieser Sammlung besteht darin, bleiben die Ferrareser vergleichsweise konservativ. Doch dass nicht nur die Verzierungen, sondern auch die Cem- ihre Klangwelt strahlte weitherum aus, und ein Blick auf balobegleitung notiert ist; zudem lässt sich der hohe die Madrigale jener Zeit lässt sofort erkennen, welche Stand der gesanglichen Virtuosität sehen. Die Berichte Komponisten davon beeinflusst waren: Immer mehr äussern sich ebenfalls über die vokal-instrumentale Be- Werke weichen von der Standardbesetzung Sopran, setzung: «Herr Luzzasco mit dem Cembalo, Herr Fiorino Alt, zwei Tenöre und Bass ab und sind für zwei Sopra- mit der Basslaute, Frau Livia mit der Viola, Frau Guarina ne und Alt oder gar drei Soprane sowie Tenor und Bass [die Frau des Hofdichters Giovanni Battista Guarini] mit gesetzt. So etwa in Monteverdis viertem Madrigalbuch der Laute und Frau Laura mit der Harfe.» oder bei Carlo Gesualdo. Schon 1584 war der Kompo- In den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts kam nist Allessandro Striggio als eigentlicher musikalischer eine neue Art des Singens auf, und dabei waren die Fer- Spion des Grossherzogs von Florenz nach Ferrara ge- rareser Verhältnisse von Bedeutung. Die Stimme wurde schickt worden; er meldete am 20. Juli, dass er nun in zunehmend Trägerin des Ausdrucks, mit vokalen Tech- der Lage sei, «für das Konzert Eurer Hoheit einige Stücke niken, wie sie bei den Damen von Ferrara geschildert zu komponieren, in der Art von diesen hier in Ferrara.» wurden: «Sie wetteiferten nicht nur, was Timbre und Kurz darauf entstand auch in Florenz ein Konzert der die Schönheit der Stimmen anbetrifft, sondern auch in Damen. Die Musik dazu ist erhalten in den Intermedi- Bezug auf […] Crescendo und Diminuendo, schlanker en zur Hochzeit des Grossherzogs Ferdinand mit Chris- und voller Stimmgebung; je nach Bedürfnis bald mit tina von Lothringen 1589; eine Musik, die ihrerseits als schleppender Stimme, bald unterbrochen von einem wichtige Vorstufe zu Monodie, Oper und Generalbass sanften Seufzer; bald wieder langgezogene, klar artiku- gilt. So zeigt sich, wie die lokale Tradition Ferraras, von lierte Passagen mit Trillern, Sprüngen, leisen und ver- heute aus gesehen eher ein abseitiges Kuriosum, sich bei haltenen Läufen, denen plötzlich ein Echo antwortete. genauerem Hinsehen nahtlos einfügt in die Strömungen Auch wurden die Worte deutlich ausgesprochen, so dass ihrer Zeit.

54 55 07 Was bedeutet es für die Musik dieser Zeit, dass sich die Instrumente vom Gesang lösen und eigene Wertig- keiten beisteuern? Ist das eigentlich Neue um 1600 das Samstag, 24. August 2013 berühmte recitar cantando, oder aber die Praxis, diese 18 Uhr im Theater längst verbreitete Deklamation mit Instru- Kunstmuseum, Vortragssaal, Eingang Picassoplatz mentalakkorden zu kombinieren und auf diese Weise Vortrag 1 eine weitere Interpretationsebene für den Text und die dramatische Situation einzuziehen? Wie sich die Ideen Fünf Stimmen für das Ich? von einer affektgeleiteten Musik, die der Befindlichkeit Wie das Individuum Eingang in den eines Individuums immer grössere Aufmerksamkeit schenkte, allmählich in den Tonsatz schlich, sodass die Tonsatz fand grosse Epochenzäsur eher als logische Folge dieser Ent- Prof. Dr. Silke Leopold wicklungen denn als Aufbruch in die Zukunft verstan- den werden muss, soll Thema des Vortrags sein. Keine andere historische Disziplin – weder die diver- sen Geschichtswissenschaften noch die Kunstwis- Silke Leopold, 1948 in Ham- senschaften – kennt das Jahr 1600 als Epochenzäsur. burg geboren, studierte Lediglich in der Musikwissenschaft gilt es als das Wen- Musikwissenschaft, Theater- dejahr schlechthin – von der Renaissance zum Barock, wissenschaft, Romanistik und von der Polyphonie zur Monodie, vom Madrigal zur Literaturwissenschaft in Ham- Oper: Als wäre über Nacht ein neues Zeitalter ausge- burg und Rom, wo sie nach brochen, habe sich mit der Erfindung der Oper, des der Promotion drei Jahre als Oratoriums und des akkordbegleiteten Sologesangs Forschungsstipendiatin des mit einem Schlag alles fundamental geändert. Blickt Deutschen Historischen Insti- man freilich etwas genauer auf die Musik vor 1600, tuts verbrachte. Als Assistentin so stellt man fest, dass viele der Merkmale einer ver- von Carl Dahlhaus lehrte sie meintlich «barocken» Musik schon mindestens eine ab 1980 an der TU Berlin, ausserdem 1985/1986 an der Generation zuvor eine zunehmend wichtige Rolle in Harvard University und im Sommersemester 1988 an der musikalischen Praxis spielten. Dazu gehört ein der Universität Regensburg. 1987 habilitierte sie sich neues Verhältnis zwischen Vokal- und Instrumental- an der TU Berlin. 1991–1996 war sie Ordinaria für musik ebenso wie die Vorstellung, Musik könne die Musikwissenschaft an der Universität/Gesamthoch- individuellen Gefühle eines Menschen hörbar machen. schule Paderborn und der Musikhochschule Detmold,

56 57 seit 1996 ist sie Ordinaria und Direktorin des Musik- 8 wissenschaftlichen Seminars in Heidelberg. Silke Leopold, Dent-Medal-Preisträgerin 1986, war Herz und Verstand um 1600 – 2001–2007 Prorektorin der Universität Heidelberg. Sie die Monteverdi-Artusi-Kontroverse ist Corresponding Member der American Musicologi- Helen Gebhart* cal Society, Mitglied im Beirat des Deutschen Histo- rischen Instituts in Rom, Mitglied der Akademie für Mozartforschung der Stiftung Mozarteum Salzburg, Der Publikationsstreit zwischen dem älteren Musikthe- Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie oretiker Artusi und dem ca. 25 Jahre jüngeren Kompo- der Wissenschaften sowie Sprecherin der Kommissi- nisten Monteverdi wird allgemein als Spiegelbild des on Musikwissenschaftliche Editionen der Union der Übergangs zur Kompositionshaltung des Barock ange- Deutschen Akademien der Wissenschaften. sehen. Der Beginn der Kontroverse, die ebenso als Aus- Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Oper, einandersetzung zwischen dem Schulmeister und dem Italienische Musik des 16.–18. Jahrhunderts, Claudio schöpferischen Musiker wie auch als Generationenstreit Monteverdi, Georg Friedrich Händel, Wolfgang Ama- gesehen werden kann, lässt sich auf das Jahr 1600 da- deus Mozart, Historische Aufführungspraxis, Proble- tieren. Damals war Claudio Monteverdi am Hof von me der Musikgeschichtsschreibung. Mantua als Geiger und Sänger angestellt. Eines seiner Madrigale wurde nun zum Anlass dieses Disputs zwi- schen Theoretiker und Künstler. Der aus Bologna stammende Musiktheoretiker Giovanni Maria Artusi kritisierte in einer Schrift Über die Imperfektionen der modernen Musik die Dissonanzbe- handlung in Monteverdis Madrigal Cruda Amarilli. Er wirft Monteverdi vor, gegen die althergebrachte, sak- rosankte Kontrapunktlehre zu verstossen. Monteverdi benutzt in seiner Stimmführung einen Sprung in die Dissonanz, was Artusi ein Dorn im Auge ist, denn ge- mäss Kontrapunktregeln musste eine Dissonanz immer schrittweise vorbereitet werden. Monteverdi braucht diesen Sprung aber, um den Text besser zum Ausdruck zu bringen. Artusi sieht in dieser Methode kein neues Stilmittel, sondern nur den Fehler im Kontrapunkt. Für

58 59 ihn ist der Tonsatz das wichtigste in der Musik, da die Kontroverse ein. Wieder in einem Vorwort, diesmal zu Komposition ein Handwerk ist, das auf Regeln basiert, den Scherzi musicali, welche 1607 erscheinen, erläutert die eingehalten werden müssen. Cesare das Vorwort des 5. Madrigalbuchs. Er vergleicht Monteverdis Antwort auf den Traktat Artusis folgt Artusi mit einem Schulmeister, der auf jeden Fehler 1605. Er verfasst ein kurzes Vorwort zu seinem neu er- zeigt, aber die Musik nicht wirklich versteht, weil er scheinenden 5. Madrigalbuch. Monteverdi verteidigt in seiner Kritik den Text nicht berücksichtigt. Hier er- seine Kompositionen mit dem Argument, dass für die scheint ein weiterer Streitpunkt der Kontroverse: die notwendige Wiedergabe der Emotionen in der Musik Wichtigkeit des Textes gegenüber dem Tonsatz. Für Regelverstösse unvermeidbar seien, und dass er auch Artusi war eindeutig der Tonsatz der «Beherrscher» des keine neue Theorie, sondern nur eine weitere Praxis Textes, während es für Monteverdi genau umgekehrt begründen wolle. Dieser neuen Kompositionsart gibt war: Der Tonsatz wurde vom Text beherrscht und er den Namen seconda pratica, im Gegensatz zur alten musste ihm unweigerlich folgen. Auch der Zweck der Praxis der prima pratica. Diese Antwort gerade im 5. Musik wird in Cesares Schrift erläutert. Monteverdi will Madrigalbuch zu drucken, war wohl mit Bedacht ge- mit seiner Musik das Herz ansprechen und bewegen, wählt, denn diese Sammlung kann als Meilenstein für Artusi sieht Sinn und Zweck der Musik aber darin, den den Umbruch in der Kompositionspraxis angesehen Verstand und das Denken anzuregen. werden. Das Madrigalbuch ist in zwei Teile aufgeteilt, Auf diese Schrift hin gab es noch eine Antwort von denen der erste im konservativeren polyphonen Stil von Artusi, diesmal aber unter einem Pseudonym. Mit (prima pratica) und der zweite im modernen Stil, der den dieser Antwort war die Auseinandersetzung beendet. Text stärker berücksichtigt (seconda pratica), gehalten ist. Artusi starb 1609. Aus einem Brief von Monteverdi aus Auch verwendet Monteverdi im zweiten Teil erstmals dem Jahr 1633 wird ersichtlich, dass Artusi am Ende den Generalbass. Auch das von Artusi kritisierte Madri- doch noch seine Position aufgab und ein Bewunderer gal «Cruda Amarilli» ist darin enthalten. von Monteverdis Musik wurde. Dies lässt Monteverdi Dieses Vorwort ist und bleibt jedoch das einzige, als Sieger einer Kontroverse erscheinen, die von Theore- was Monteverdi selber zur schriftlichen Kontrover- tikern und Praktikern mit unterschiedlichem Musikver- se beigetragen hat. Er war mehr an der künstlerischen ständnis geführt wurde. Seite als am theoretischen Schreiben über Musik inte- Man kann diese berühmte Auseinandersetzung da- ressiert. Monteverdi war schon 1601 zum maestro della hingehend zusammenfassen, dass Monteverdis Musik musica befördert worden und hatte deswegen auch, wie also ihren Zweck erfüllt und mit ihrer neuen Ausrich- er selbst im Vorwort erwähnt, gar keine Zeit für theo- tung auf Expressivität durch die musikalische Umset- retische Abhandlungen. An der Stelle Claudio Monte- zung des Textes sogar den älteren Theoretiker Artusi verdis greift nun sein Bruder Cesare Monteverdi in die bewegt hat.

60 61 9 Programm

Samstag, 24. August 2013, Italien 20.15 Uhr Martinskirche Cristofano Malvezzi (1543 oder 1547–1599?) Sinfonia zum 1. Intermedium «L’Armonia delle Il Ballo del Granduca Sfere» aus «La Pellegrina» (1589) Vom Renaissance- zum Barocktanz Tanz und Tanzmusik aus Italien und Frankreich von Fabritio Caroso (1525/35–1605/20) Malvezzi bis Lully «Celeste Giglio» aus «Il Ballarino» (1581)

Il Ballarino: Cristofano Malvezzi Bruna Gondoni, Marco Bendoni – Renaissance- und Sinfonia zum 4. Intermedium «La Regione de’ Barocktanz Demoni» aus «La Pellegrina» Historische Choreographie: Fabrizio Caroso (1581) Giovanni Gabrieli (1557–1612) Musica Fiorita: Canzon Primi Toni a 10 (1597) Katharina Heutjer – Violine Priska Comploi – Blockflöte, Schalmei, Oboe Giovanni B. Buonamente (1595–1642) Katharina Andres – Blockflöte, Schalmei, Oboe Ballo del Granduca aus «Quarto libro delle varie Hiram Santos – Blockflöte, Fagott, Percussion sonate» (1626) Jonathan Pesek – Violoncello Lorenzo Allegri (um 1573–1648) Rafael Bonavita – Barockgitarre, Erzlaute Primo ballo aus «Notte d’Amore» (1618) Daniela Dolci – Cembalo und Leitung Salomone Rossi (ca. 1530–ca. 1630) Sinfonia grave à 5 (1607)

Tarquinio Merula (1595–1665) Ciaccona

62 63 Biagio Marini (1594–1663) Zum Programm Passacaglia Dieses Programm führt durch die Entwicklung des hö- Andrea Falconiero (1585–1656) fischen Tanzes von seinen Anfängen in Italien bis zu «Battaglia de Barabasso y Yerno» (1650) seiner Blüte im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Das Hauptwerk des Meisters Fabritio Caroso, Il Ballarino (1581), bringt eine Zusammenstellung von Frankreich Renaissancetänzen, in der die unterschiedlichen Cha- raktere des höfischen Tanzes – von der feierlichen Pa- Thoinot Arbeau (1519–1595) vana bis zur leichten Gagliarda, vom Saltarello bis zum «Belle qui tiens ma vie» lebhaften Canario – gezeigt und beschrieben werden. Gaillarde «L’ennuy qui me tourmente» Der Tanz «Celeste Giglio» daraus zeigt die edelste Form der frühen Tanzkunst und verzaubert durch seine sü- Pierre Attaignant (1494–1552) sse, melancholische Melodie. Tourdion 1589, acht Jahre später, wurden am Medici-Hof Louis Constantin (ca. 1585–1657) in Florenz die berühmte Hochzeit von Grossherzog «La pacifique» (1637) Ferdinando I. de’ Medici mit Prinzessin Christine von Lothringen gefeiert und innerhalb der Komödie La Jean-Baptiste Lully (1632–1687) Pellegrina von Girolamo Bargagli die ebenso berühm- Ouverture aus «Ballet de la Nuit« ten sechs Intermedii aufgeführt. Die bedeutendsten Passacaille aus «Armide» (1686) Musiker der Zeit wie Cavalieri, Malvezzi, Marenzio, «Le Bourgeois Gentilhomme» (1670): Caccini, Peri und Archilei waren an der Komposition Ouverture beteiligt. Drei Stücke aus diesem grossen musikali- Premier Air des Garçons Tailleurs schen Füllhorn des Frühbarock (siehe den Beitrag von Deuxième Entrée des Garçons Tailleurs (Gavotte) Andrin Uetz) sind in unserem Programm zu hören, Canarie zwei instrumentale Einleitungen (Sinfonie) sowie der Marche pour la Cérémonie des Turcs bekannte Ballo del Granduca von Emilio de’ Cavalie- Premier Air des Espagnols ri, dem Autor der bekannten Rappresentazione di Ani- Deuxième Air des Espag nols ma e di Corpo (Rom 1600). Dieses Stück war damals Entrée des Italiens ein solcher «Hit», dass es nicht nur im Werk von J.P. Entrée des Scaramouches, Trivelins et Arlequin Sweelinck (gestorben 1621) als Orgelstück mit Varia- Chaconne des Scaramouches, Trivelins et Arlequin tionen auftaucht, sondern dass Giovanni Buonamente es noch eine Generation nach seiner Uraufführung in

64 65 seinem Quarto libro de- Musik des 17. Jahrhunderts: Ein Gemenge von Klän- lle varie Sonate (1626) gen, Trommelschläge und Trompetenfanfaren, die instrumentierte. Auch zum Kampf aufrufen, lebhafte Rhythmen, Geklirr von in einer anderen Form, Schwertern, schnelle und wiederholte Noten und Me- nämlich in einer engli- lodien – ein optisches und akustisches Feuerwerk! schen Bearbeitung von Wir treten danach ein in den französischen Hof Peter Philips für Gam- des 16. Jahrhunderts und sehen , Galliardes, ben-Consort, begegnet Tourdions und Branles, die uns in der Orchésographie es im Rahmen dieser von Thoinot Arbeau (1588) überliefert worden sind, «Festtage» (Mittwoch, der vollständigsten Sammlung der in Frankreich im 16. 28.8., 18.00 Uhr). Jahrhundert praktizierten Tänze. Il Primo Libro delle Neben der Brillanz der Tanzschritte berührt Lullys Musiche (Venedig 1618) Musik den Höhepunkt der Eleganz und der Intimität von Lorenzo Allegri mit der Chaconne de Scaramouches und den berühren- wurde im Jahr 1608 für den Arien des Ballet des Nations. den Grossherzog von Toskana aus acht Balletti Il Ballarino zusammengestellt. Im Die Mitglieder der Gruppe «Il Ballarino», Bruna Gon- ersten Ballo della Notte doni, Marco Bendoni, Romina Pidone und Paolo Pagni, d’Amore finden wir die sind professionelle Tänzer, die sich auf Werke aus der folgenden Sätze: Sin- Zeit von der Renaissance bis zum Barock spezialisiert fonia-Balletto, Alemana, haben. «Il Ballarino» wurde 1983 von Andrea Fran- Gagliarda und Corrente, calanci gegründet und widmet sich seither der Erfor- dann die entfesselte und schung alter Choreographien und der Aufführung von leidenschaftliche Ciac- Theaterstücken in ihrer ursprünglichen Form. Das Pro- cona von Merula und gramm in Basel beschränkt sich auf ein Tanzpaar. schliesslich die Battag- «Il Ballarino» tritt bei wichtigen Festivals auf, so in lia von Falconiero. Die Utrecht, Sablé, Ambronay, Glasgow, Maggio Musica- Battaglia demonstriert le Fiorentino und Chigiana. Auch in Siena, Cremona, die ganze Bandbreite an Paris, Brüssel, Tunis, Buenos Aires, Tokio etc. war das Ausdrucksmöglichkei- Ensemble zu sehen. Es hat mit bekannten Dirigenten ten im Tanz und in der wie Alan Curtis, René Clemencic, Anthony Rooley,

66 67 Andrew Parrot, Warwick Edwards, Jordi Savall, Ga- und Orgel) sowie die stilgerechte, reich verzierte Art briel Garrido, Chiara Banchini, Roberto Gini, Jean des Gesangs charakterisieren das Klangbild des Ensem- Tubéry, Christina Pluhar und Denis Rasin-Dadre zu- bles «Musica Fiorita» (der altitalienische Ausdruck für sammengearbeitet. Verzierung war fioritura!). Mit instrumentaler und vo- kaler Virtuosität und einer improvisatorisch wirkenden Musica Fiorita Interpretation kommt «Musica Fiorita» einer Spielwei- Seit über 20 Jahren bringt das Ensemble «Musica se nahe, die man «erfrischend authentisch» nennen ­Fiorita» unter der Leitung von Daniela Dolci Werke der könnte. In ihren historischen Kontext eingebettet, Spätrenaissance und des Barock auf die Bühne. Das entwickeln sich auch jahrhundertelang vergessene Par- Ensemble reflektiert den neuesten Stand historische tituren zu fühlbarer Lebensnähe. Darüber hinaus er- Aufführungspraxis und ist einerseits der Werktreue, möglicht «Musica Fiorita» den Nachvollzug des ganzen andererseits der Lebendigkeit verpflichtet. Spektrums leidenschaftlicher Affekte – dies ganz im Repertoire, Instrumentarium und Generalbasspra- Sinne des Barockzeitalters – und ist damit heute aktu- xis von «Musica Fiorita» berücksichtigt die aktuellsten eller denn je. Strömungen in der Alten Musik. Die Klangfarben des Die Besonderheit dieses Ensembles besteht darin, in jener Zeit beliebtesten Instruments, des Cornet- dass seine Mitglieder zwar aus vielen Teilen der Welt to (Zink), eine vielfältig besetzte Generalbassgruppe stammen, dass sie jedoch alle dasselbe Klangbild an- (Laute, Theorbe, Viola da Gamba, Psalterio, Cembalo streben und dieselbe «musikalische Sprache» sprechen

68 69 dank ihres Studiums an der Schola Cantorum Basili- studiums mit Gustav Leonhardt in Amsterdam. ensis, dem Lehr- und Forschungsinstitut für Alte Mu- Schwerpunkt ihres Interesses ist, inspiriert durch die sik an der Musik-Akademie der Stadt Basel, das nicht Arbeit mit Jesper B. Christensen, die originale General- nur die künstlerische Kompetenz seiner Absolventen basspraxis nach Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. geprägt hat, sondern auch ihre Lust am Forschen, Su- Im Jahre 2008 erhielt sie von der Italienischen chen, Neues Entdecken, an Horizonterweiterung und Republik die Ehrung des Cavaliere dell’Ordine della Weiterentwicklung. Stella della Solidarietà Italiana zur Anerkennung ihrer Sowohl hinsichtlich der Konsensfindung – bei aller Bemühungen um die italienische Kultur im Ausland. Vielfalt –, als auch bezüglich Repertoire, Instrumenta- 2010 erhielt sie den Hans-Roth-Preis aus Bolivien. rium und historischer Musizierpraxis ist das Ensemble «Musica Fiorita» darauf ausgerichtet, Brücken zu schla- gen und die Alte Musik in aktuelle Zusammenhänge zu stellen. Auf CD sind bisher erschienen: Musik und Poesie aus der Zeit des 30-jährigen Krieges (Ars Musici) so- wie CDs mit Werken von Barbara Strozzi (Harmonia Mundi France), Elisabeth Jacquet de la Guerre (Pan Classics), Johann Melchior Gletle (Pan Classics), Ca- milla de Rossi (Pan Classics), Tarquinio Merula (Tac- tus), Dario Castello (Tactus), Johann Melchior Gletle (ORF), die Oper Céphale et Procris von Elisabeth Jacquet de la Guerre (ORF) und eine weitere CD mit Werken von Camilla de Rossi, das Oratorio Santa Beatrice d’Este (ORF). Eine CD mit Werken von Georg Philipp Tele- mann wird im Herbst 2013 bei Pan Classics erschei- nen.

Die Cembalistin und Leiterin des Ensembles «Musica Fiorita», Daniela Dolci (geboren in Sizilien), studierte Alte Musik mit Hauptfach Historische Tasteninstru- mente an der Schola Cantorum Basiliensis in Basel. In der Folge arbeitete sie im Sinne eines Fortbildungs-

70 71 10 nigen, Konsuln und Adligen weit verbreitet. Der Zeit- raum zwischen Ende des 16. und erster Hälfte des 17. Tanz an den italienischen und Jahrhunderts ist für den Tanz in Italien und ganz Euro- französischen Höfen um 1600 pa sehr glücklich, und es entstehen viele bedeutende Bruna Gondoni Choreographietexte, die die Kunst der Terpsichore auf das Niveau einer noblen und virtuosen Praxis anheben. Mit Vorliebe nimmt dann Frankreich – wegen der Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert ereignet sich in «französischen» Königin Caterina de’ Medici – eine Europa die grösste Explosion an Tänzen aller Zeiten. grosse Anzahl italienischer Tanzmeister auf: Pompeo Der Tanz wird eine der beliebtesten Künste bei den Diobono, der erste italienische Tanzmeister in Frank- Adligen, und der gute Ausdruck beim Tanzen wird reich, war Maître à danser am Hof von Karl IX. Virgilio zum persönlichen Profilierungsinstrument. Tanzen ist Bracesco unterrichtete Heinrich II. und Franz II., Ludo- nicht nur eine Technik bei der Brautschau, es ist nicht vico Paluello folgte unter Heinrich III., und die Reihe nur Vergnügen, sondern auch eine raffinierte, elegante geht bis zum Gymnasten und Akrobaten Arcangelo Kunst, die in exakten Formen fixiert und kodifiziert ist. Tuccaro. Die Aktivität dieser Meister bewirkte eine Zwischen den grossen Meistern des 16. Jahrhun- Wiederbelebung der italienischen Praxis und ermög- derts in Italien zeichnen sich besonders Fabrizio Caro- lichte in Frankreich die Geburt des Balletts, das den so aus Sermoneta und der Mailänder Cesare Negri aus. Namen Ballet de cour erhielt. Durch ihre Werke Il Ballarino, Nobiltà di Dame und Le Der italienische Salto tondo (Drehung in der Luft) Grazie d’Amore hatten sie massgeblichen Einfluss auf wird an den französischen Höfen zum Tour en l’air, der die Entwicklung dieser prestigiösen «höchsten Kunst», Pirlotto zur Pirouette, der Seguito finto zum Emboité, die indem sie das Tanzrepertoire schriftlich zusammen- Capriola intrecciata zur Cabriole battue, der Seguito zum fassten und somit der Nachwelt zugänglich machten. Pas de bourée und so weiter. Ihre Traktate hatten grossen Erfolg, und man be- Frankreich bemächtigte sich der italienischen cho- achte, dass beispielsweise Il Ballarino von Fabrizio reographischen Lehrbücher, und für die französische Caroso nach der Erstausgabe von 1581 mehrmals Musik übernahm der Tanz eine immer wichtigere Rol- nachgedruckt wurde – in den Jahren 1600 und 1605 le. Es war die Zeit von Lully, Molière und Beauchamp, unter dem Titel Nobiltà di Dame und 1630 unter dem dank deren Kunst sich Musik, Theater und Choreo- Titel Raccolta di vari balli. graphie zu einer Art «Gesamtkunstwerk» vereinten. Die italienische Choreographiepraxis hat dann die Das Comédie-ballet entthronte das Ballet de cour mit Alpen überschritten und sich anschliessend dank der seiner höfischen Stimmung, indem es die Satire und Reisen der Tanzmeister und dank der Besuche von Kö- die Gesellschaftskritik integrierte. Das Ende des Ballet

72 73 de cour bezeichnet den Beginn der Professionalität und den Eingang des Tanzes in die Theatersäle, womit die Plattform für wahrlich kompetente Künstler geschaf- fen wurde. Ludwig XIV. gründete im Jahr 1661 die Académie Royal de Danse, um Tanzmeister ausbilden zu lassen. Die Auswirkungen dieser Expansion auf die Berufs- ebene führten zu einem intensiveren Studium der Tanzsprache, aber auch zu einem grundlegenden Überdenken ihres Vokabulars. Die Beziehung zwischen Zuschauer und Spek- takel ist wechselseitig. Das Ballett verlässt den reich geschmückten Salon mit den auf drei Seiten sitzenden Hochzeit der Christine von Lothringen, Zuschauern, betritt die Bühne, diesen vom Publikum Bleistiftzeichnung von Jacques Callot (1592–1635) getrennten Ort, und wird so zu einem lebendigen Bild. Pierre Beauchamp, einer der grössten Choreogra­ Lully entstand und am 14. Oktober 1670 am Hof Lud- phen dieser Zeit, begreift, dass die Tänzer/-innen sich wigs XIV. im Schloss von Chambord aufgeführt wur- nun in diesem neuen Umfeld mit ihrem Körper umso de. Dieses Werk ist die perfekte Verschmelzung von «sprechender» ausdrücken müssen, wofür er die fünf Tanz, Theater und der kunstvollen Musik Lullys. Es Grundpositionen der Füsse mit der Öffnung nach aus­ stellt das gelungenste Beispiel der Zusammenarbeit sen (en dehors) entwickelt, um die Schritte nach der Re- des grössten Komödiographen und des grössten Kom- gel beginnen und enden zu können. Diese Positionen, ponisten der damaligen Zeit dar. im Ansatz bereits 50 Jahre früher von Cesare Negri in Nicht stark genug kann die fundamentale Bedeu- Italien beschrieben, erlauben es dem Tänzer, sich auf tung betont werden, die der Tanz in seiner Körper- der Bühne zu bewegen und trotzdem dem Publikum lichkeit und seiner Bewegung, mit seinen perfekten gegenüber offen zu bleiben. Auch die Arme gewannen Geometrien und seiner sozialen Komponente generell ihre ganze expressive Kraft aus diesen Traktaten, die auf den menschlichen Geist, die menschliche Seele die Basis für den Port de bras des avancierten Tanzes ausgeübt hat und ausübt. Der Tanz ist die Summe der legten. magischen Eigenschaften, der Talisman, der jedes gro- Beauchamp war der Choreograph des berühm- sse Bühnenwerk beschliesst. Er widerspiegelt den Lauf ten Comédie-ballet «Le Bourgeois Gentilhomme», das in der Gestirne und die harmonischen Proportionen und Zusammenarbeit zwischen Molière und Jean-Baptiste zieht die wohltätigen astronomischen Einflüsse an. Er

74 75 stimuliert die Symbolwelt in uns und ist, wie Emanu- 11 ele Tesauro in seinem Cannocchiale Aristotelico (1654) schreibt, «eine bedeutende Metapher der Geste und Die Intermedien von 1589 der Bewegung, der inneren Affekte und der äusseren zu La Pellegrina Aktionen der Menschen, der höchste Gipfel einfallsrei- Andrin Uetz* cher Figuren, die geeignet sind, um die unausdrückba- ren Ideen auszudrücken, uns die unsichtbaren Dinge sichtbar und die unhörbaren hörbar zu machen …». Die Florentiner Intermedien von 1589 waren Teil einer der grössten Veranstaltungen des 16. Jahrhunderts. Das Ausmass und der logistische Aufwand für die Hochzeit von Ferdinando I. de’ Medici (1549–1609) mit Prinzessin Christine von Lothringen (1565–1637) waren gewaltig. Die Medici-Dynastie herrschte bereits rund 200 Jahre über Florenz, und unter ihrem Patronat läuteten Künstler wie Botticelli, Leonardo oder Michelangelo die Renais- sance ein. Mit Ferdinandos Vater Cosimo I. stellte die Familie nun den ersten Grossherzog der Toskana und verfeinerte mit den Uffizien (einem prächtigen Amts- gebäude) die Vermischung von Politik und Kunst zur ausgeklügelten Propaganda. Das Motto der Intermedi- en «Macht und Einfluss der Musik auf die Menschheit» spricht für sich. Die Gattung der Intermedien gab es seit 1539. Sie waren eigentlich zur Erheiterung des Publikums zwi- schen den Akten von Theaterstücken gedacht. Im Laufe des Jahrhunderts wurden sie immer ausgereifter und län- ger. Bei den Intermedien von 1589 wurde das Theater- stück La Pellegrina von Giorolamo Bargagli (1537–1586) gänzlich in den Schatten gestellt, was alleine dadurch deutlich wird, dass die Intermedien auch Anfang und Schluss des Abendprogramms darstellten. An diesem Kollektivwerk schrieben sechs Komponisten, nament-

76 77 lich Emilio de Cavalieri (ca.1550–1602), Cristofano Malvezzi (1547–1599), Luca Marenzio (1553/54–1599), Giulio Caccini (ca.1545–1599), (1561–1633) und Antonio Archilei (1550–1612). Die Texte stammen von Ottavio Rinuccini (1562–1621), Giovanni de’ Bardi (1534–1612), Giovanbattista Strozzi (1504–1571) und Laura Lucchesini (?). Das in zahlreichen Skizzen überlieferte Bühnen- bild und die fantastischen Kostüme entwarf Bernardo Buontalenti (1531–1608). Überhaupt ist die Quellenlage sehr gut: Neben der fast vollständigen Partitur sind auch Kommentare und Augenzeugenberichte in gedruckter oder handschriftlicher Version erhalten. Die renaissance-typische Wiederaufnahme von To- poi aus der griechischen und römischen Antike lässt sich allein aufgrund der Betitelung der sechs Intermedien er- ahnen: Das Primo Intermedio, aus Lobliedern des Himmels Bernardo Buontalenti, Figurinen aus den Intermedien zu «La Pellegrina» (1589) auf das herzögliche Paar bestehend, ist L’armonia delle sfe- rechts: Jacopo Peri als Arion im 5. Intermedium re (Harmonie der Sphären) betitelt und bezieht sich auf Platons Politeia. Das Secondo Intermedio stellt als La gara zweite Aufführung am 15. Mai 1589 im eigens dafür fra Muse e Piridi einen Wettgesang der Musen und Pie- umgebauten Uffizientheater statt. Die höchstmögli- riden dar. Das Terzo Intermedio handelt als Il combattimen- che Grossartigkeit, die erstaunliche Stilvielfalt und die to pitico d’Apollo vom Kampf Apollos mit dem Drachen erfolgreiche Verbindung verschiedener musikalischer Python. Dantes Inferno wird im Quarto Intermedio als La Perspektiven­ in einem locker zusammenhängenden regione de’ demoni (Das Reich der Dämonen) gewürdigt. Rahmen (allerdings ohne durchgehende Handlung) un- Plutarchs Moralia soll im Quinto Intermedio zum Canto ter der musikalischen Leitung von Emilio de’ Cavalieri d’Arione (Der Gesang des Arion) inspiriert haben, und machen die Intermedii noch heute zu einem ausserge- Platons Nomoi (Gesetze) zu La discesa d’Apollo e Bacco col wöhnlichen Musikgenuss. Erstaunlich ist, wie viele Ritmo e l’Armonia (Abstieg von Apollo und Bacchus mit musikalische Stile, traditionelle und moderne, hier auf Rhythmus und Harmonie) im Sesto Intermedio. engstem Raum vereint sind: das Madrigal, Tänze, inst- Die Uraufführung fand im Rahmen der mehrwöchi- rumentale Einleitungen, Doppel- und Drei-, ja bis zur gen Hochzeitsfeierlichkeiten am 2. Mai 1589 und eine Siebenchörigkeit («O fortunato giorno» von Malvezzi),

78 79 virtuoser solistischer Gesang u.a.m. Zu einer adäquaten 12 Aufführung würden heute über 50 Mitwirkende benö- tigt, etwa doppelt so viele wie zur Aufführung der Mari- envesper von Claudio Monteverdi. Sonntag, 25. August 2013 Die Intermedien von 1589 können durchaus als Vor- 10 Uhr gänger der Oper angesehen werden, zumal es einer der Münster zu Basel beteiligten Komponisten war, Jacopo Peri, der 1598 mit Musik im Gottesdienst, mit Abendmahl seiner Dafne die erste Oper auf die Bühne brachte. Cipriano de Rore, Missa «Doulce memoire» Brabant Ensemble, Oxford, Leitung: Stephen Rice

80 81 Programm Zum Programm (bitte beachten Sie hierzu das separate Programmblatt!) Divino Cipriano meets divino Orlando di Lasso (1530/2–1594) Introitus: Deficiat in dolore vita mea Orlando Sowohl Cipriano de Rore als auch Orlando di Lasso Cipriano de Rore (1515/16–1565) wurden bereits zu Lebzeiten mit dem Epitheton «gött- Missa super Doulce mémoire lich» geehrt – und dies nicht allein von kommerziell ge- sinnten Verlegern, sondern durchaus von objektiveren Orlando di Lasso Persönlichkeiten wie etwa Musiktheoretikern. Obwohl Graduale: Tristis est anima mea von ihren Zeitgenossen offenkundig zur Spitze ihrer Offertorium: Iustorum animae Epoche gerechnet, sind sie heutzutage selbst Kennern der Materie keineswegs gleichermassen vertraut. Lasso Cipriano de Rore wird, zusammen mit Josquin Desprez, Giovanni Pier- Communio: Fratres: Scitote luigi da Palestrina und , zur Handvoll der grössten Komponisten seiner Zeit gerechnet, während Orlando di Lasso Rore zwar dem Historiker im Zusammenhang mit der Antiphon: Ave regina caelorum à 6 Entwicklung des italienischen Madrigals und der seconda pratica geläufig, hingegen kaum je zu hören ist. Dessen ungeachtet eröffnet eine Gegenüberstellung der beiden Komponisten bemerkenswerte Ähnlichkeiten. Beide leisteten einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Stilentwicklung im Hinblick auf das Wort-Ton-Verhält- nis und verweisen so auf eine neue Perspektive, die dann mit dem Ende des 16. Jahrhunderts die Oberhand gewinnen soll. Die Ehre, Wegbereiter der Musik Mon- teverdis zu sein, gebührt den «Nordlichtern» Rore und Lasso mit grösserem Recht als dem Italiener Palestrina. Cipriano de Rore wurde 1515 oder 1516 in Ronse im heutigen Flandern geboren, damals Teil des römi- schen Reiches. Sein Name ist offenbar keine der üb- lichen Latinisierung eines flämischen Namens, sein

82 83 Vorname geht möglicherweise zurück auf den lokal sollen. Vielleicht wegen seiner theologisch zentralen sehr verehrten heiligen Cyprian von Karthago. Eine Stellung wurde der Text von anderen Komponisten Italienreise in jungen Jahren ist nicht sicher zu bele- umgangen – es existiert keine andere Vertonung des gen, 1546 jedoch finden wir ihn als maestro di cappella Textes aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Den mögli- des Grafen Ercole II. von Ferrara, eine Stellung, die er chen Vorwurf mangelnder Sensibilität für religiöse bis 1558 innehatte. Nach der Rückkehr von einer Reise Bezüge entkräftet die Komposition selber: die zentra- in seine Heimat in diesem Jahr fand er in Ercoles Sohn len Einsetzungsworte sind mit äusserster Delikatesse Alfons II. einen weitaus weniger gewogenen Brotherrn gesetzt, in dezenter Homophonie, unter Verwendung vor. So wechselte er in den Dienst der Familie Farnese sowohl von Triolisierungen als auch hemiolischer in Parma, obwohl dies eine deutlich weniger attrakti- Rhythmik, sodass sie vollständig unabhängig vom nor- ve Position war. Versuche eines neuerlichen Wechsels malen tactus erscheinen – ohne dass dieser tatsächlich waren offenbar fruchtlos, und so blieb er bis zu seinem aufgehoben wäre. Tod 1565 mit etwa 49 Jahren in Parma. Anscheinend Die Missa super Doulce mémoire stellt im Hinblick liess seine Produktivität während der letzten Lebensjah- auf die Textbehandlung ein ähnlich anspruchsvolles re nach im Vergleich zu den 1540er- und 1550er-Jahren. Stück dar. Der Satz ist kompakt: Prägnante Kürze ist Rores musikalisches Erbe ist beträchtlich, wenn ein Stilmerkmal Rores wie Lassos. Beide sind massge- auch nicht annähernd so umfangreich wie das Lassos. bend für den Trend des 16. Jahrhunderts hin zu kür- Das Madrigal, für das er vor allem bekannt wurde, ist zeren Messvertonungen: 20 Minuten (wie die Sätze dabei mit über 100 Kompositionen vertreten, die Sa- Lassos) anstatt der z.B. bei Obrecht um 1500 noch üb- kralmusik umfasst lediglich 5 Messvertonungen und lichen 50 Minuten. etwa 50 Motetten. Im Vergleich mit seinen Zeitgenos- Rore kombiniert in der Missa super Doulce memoire sen Clemens non Papa und Thomas Crecquillon, bei- grosse Teile der melancholischen chansons Sandrins mit de produktive Motettenkomponisten, erscheint Rores eigener Musik. Dabei steht, anders als bei seinen Zeit- Textauswahl höchst ungewöhnlich. Die Mehrzahl genossen Clemens und Crecquillon, stets die Textver- seiner Motetten bedient sich sowohl zeitgenössischer ständlichkeit im Zentrum des Bemühens. lateinischer Poesie im neoklassischen Stil als auch gele- Der um etwa 15 Jahre jüngere Orlando di Las- gentlich der Werke alter Dichter wie Horaz. Selbst im so stammt aus dem heute wallonischen Mons. Den Falle von Vertonungen von Bibelworten wählt er das grössten Teil seines beruflichen Lebens verbrachte er Ungewöhnliche: «Fratres: scitote» ist ein Musterbeispiel am bayerischen Hof, doch die wohl bestimmende Pe- dafür. In der Passage aus dem ersten Paulusbrief an die riode seiner musikalischen Entwicklung waren seine Korinther, die auch Teil des Messkanons wurde, be- Jahre als Chorknabe in Süditalien, vor allem Neapel. schreibt Jesus seinen Jüngern, wie sie seiner gedenken Hier wuchs er hinein in die seit den 1530er-Jahren lau-

84 85 fenden Entwicklungen des Madrigals, um sie schliess- kannten Salve-Motiv) bis hin zu einem virtuosen Duett lich in den Tonfall seiner Sakralmusik zu integrieren. der Soprane über das Wort gaude (erfreue dich). Lassos musikalische Produktion in allen Genres ist Stephen Rice schwindelerregend: über 1000 Werke haben sich erhal- ten, mehr, als bei jedem anderen seiner Zeitgenossen. Damit verbunden war naturgemäss einiger wirtschaft- Das Brabant-Ensemble licher Erfolg. Die Qualität ist dabei durchwegs äusserst Der Name «Brabant-Ensemble» leitet sich ab von der hoch. Grafschaft Brabant, einer Gegend, die heute zum Teil In unserem Programm kombinieren wir drei Mo- zu Nordbelgien, zum Teil zu Südholland gehört, und tetten mit einer Antiphon. Die Motetten verbinden welcher der grösste Teil des Repertoires entstammt. Es Texte, die in unterschiedlicher Weise den Tod zum wurde 1998 von Stephen Rice ins Leben gerufen, um Gegenstand haben. Die Antiphon hingegen schaut die seinerzeit unterrepräsentierte Sakralmusik aus der voraus auf das himmlische Leben. Trotz dieser etwas Mitte des 16. Jahrhunderts aufzuführen. Im letzten Jahr- düsteren Thematik stellt lediglich «Deficiat in dolore» zehnt nahm das Ensemble eine führende Rolle ein bei ein tatsächlich depressives Stück dar, mit langsamen der Wiederentdeckung von Komponisten wie Nicolas absteigenden Phrasen und durchgehender Moll-Tim­ Gombert, Thomas Crecquillon und Pierre de Manchi- brierung. court, von denen es Aufnahmen auf dem Label «Hyper- «Tristis est anima mea» malt Jesus im Garten von ion» vorlegte. Gethsemane inmitten seiner Jünger, denen er aufgibt, Das «Brabant-Ensemble» ist gefragter Gast auf den mit ihm zu wachen, bevor er gekreuzigt würde. Es ist internationalen Konzertpodien, Konzertreisen führten eine Motette von abgeklärter Heiterkeit, selbst ange- sichts der auf die Kreuzigung hinführenden Begeben- heiten. «Iustorum animæ» ist ein Text für Allerheiligen, der in grosser Einfachheit und Schönheit die Seligkeit der Seelen der Gerechten beschreibt. Zum Schluss bedient sich die sechsstimmige Ver- tonung des «Ave regina cælorum» eines erweiterten Um- fanges von drei Oktaven, um das Gebet an die heilige Jungfrau in quasimadrigalischer Weise zu illustrieren: jeder Textabschnitt ist eigenständig charakterisiert, von gregorianischer Fundamentierung (mit dem wohlbe-

86 87 es in die Niederlande und in die Schweiz, nach Frank- 13 reich, Belgien, Spanien und Portugal. In Planung sind für 2013 Wiederholungen der Besuche in den Niederlanden und der Schweiz sowie eine erste Nordamerikatournee Sonntag, 25. August 2013 2014. 15 Uhr und 17 Uhr Besammlungsort: Innenhof des Rathauses Stephen Rice ist Musiker und Musikwissenschaftler in Personalunion, er unterrichtet an der University Stadtführung mit Mitarbeitern der of Southampton. 2004 promovierte er an der Oxford Kantonalen Denkmalpflege Basel- University mit einer Dissertation über die Motetten von . Er erhielt eine Junior Research Stadt Fellowship am Wolfson College, Oxford (2004–2008). Dr. Thomas Lutz, Dr. Martin Möhle 14 Neben der Arbeit mit dem Brabant Ensemble dirigierte er häufig im Bereich der Chormusik, des Oratoriums und der Oper, sowohl frei- schaffend wie auch als Leiter des New Chamber Opera Studio (1999–2004) und als Kirchenmusikdirektor der Kirche St. Mary Magdalen (Oxford, 2003–2011). Als Musikwissenschaftler schrieb er über die Musik von Gom- bert, Morales, Thomas Tallis, Clemens non Papa, Josquin Desprez und Victoria, sowie über Musiktheorie der Renaissance. 2008 erhielt er ein dreijähriges For- schungsstipendium im Bereich der bildenden und dar- stellenden Künste vom Arts and Humanities Research Council, lokalisiert an der University of Southampton, Das vom burgundischen «Tischmacher» Franz Pergo 1595 geschaffene Prunk­ wo er seitdem als Musikdozent tätig ist. portal im Regierungsratssaal stellt einen Höhepunkt der Schreinerkunst in jener Zeit dar. Foto: Kantonale Denkmalpflege, Bruno Thüring

88 89 Baukunst und Bildkunst in Basel um 1600 Dr. Martin Möhle

Die Zeit um 1600 war für Basel keine glänzende. Nach der durch die Reformation ausgelösten Aufbruchstim- mung setzte eine Ernüchterung ein, mehrere Pestepi- demien dezimierten die Bevölkerung und schwächten die Wirtschaft. 1585–1590 entstand die Fassade des Spiesshofs, eines der bedeutendsten Renaissancebau- werke der Schweiz. Doch blieben solche ostentativen Neuerungen in der Architektur die Ausnahme. Auch im 17. Jahrhundert baute man die Häuser in traditio- neller Weise mit Staffelfenstern und Sandsteinprofi- len, die schon seit der Spätgotik bekannt waren. Der Hans Bock d. Ä.: Der Venustanz – im Basler Münster! Schwerpunkt der künstlerischen Tätigkeit lag auf der Gemälde, ca. 1592, Frankfurt, Städel Museum bildlichen und ornamentalen Ausschmückung der Häuser. dung, ob als Grisaille oder in lebhaften Rot-, Gelb- und In aufwendig vertäfterten Zimmern entsprach Blautönen, oft bereichert durch versteckte Tierdarstel- die Wandgliederung mit Säulen und Gesimsen nun lungen. den klassischen Ordnungen, zusätzlich wurden sie Eine überragende Künstlerpersönlichkeit jener mit einer überbordenden Fülle von geschnitztem und Zeit war Hans Bock d. Ä., der durch seinen Umgang intarsiertem Beiwerk in den edelsten Holzsorten aus- mit Gelehrten wie Theodor Zwinger oder Felix Platter gestattet. Um die vergleichweise kleinen und recht in der Lage war, auch anspruchsvolle Bildthemen zu dunklen Täferstuben gruppierten sich weitere Räum- meistern. Er verstand es zudem, Anregungen aus dem lichkeiten, an deren Ausgestaltung eine Farbenfreude durch Reproduktionsgrafiken belebten internationalen und ein malerischer Formenreichtum abzulesen sind. Kunstmarkt produktiv umzusetzen, wie seine mo- Die «Sommerhäuser» (mit Steinfussboden versehene, numentalen Gemälde am Rathaus belegen. Dass den hallenartige Flurbereiche), aber auch Nebenstuben und neuen Ideen oftmals eine Gegenströmung, ein Drang Kammern wurden fantasievoll ausgemalt. An den Bal- nach Kontrolle entgegenstand, beleuchtet eine Episode kendecken fanden zumeist Rankenmalereien Anwen- am Münster:

90 91 Das nach der Reformation mehr schlecht als recht Kantonale Denkmalpflege unterhaltene Münster sollte am Ende des 16. Jahrhun- Basel-Stadt derts eine Verschönerung erfahren. Der Rat beauf- tragte Hans Bock mit der Bemalung der Fassade und Zum Alltag der Kantonalen Denkmalpflege gehört die insbesondere der Ausschmückung der beiden Uhren. Beschäftigung mit Städtebau und Architektur, Kultur- Hierzu wählte Bock mythologische Figuren, weibli- und Kunstgeschichte, Politik und Kommunikation. Die che Allegorien und anderes, was beim Münsterpfarrer im Denkmalverzeichnis eingetragenen Denkmäler und Grynäus Anstoss erregte. Die «bloss und unversch- baulichen Ensembles geniessen gesetzlichen Schutz. amt» gemalten «Weibsbilder» und die farbig gefassten Die Denkmalpflege engagiert sich für die Erhaltung Fassadenskulpturen von «päbstlichen» Heiligen bzw. wichtiger Bauten, die das Stadtbild prägen. Sie erforscht «Götzen» würden der reformierten Kirche nicht gut und dokumentiert die Entstehung und Veränderung anstehen. Gut denkbar, dass Bock auf die Anwürfe der Bauwerke und trägt so zu ihrem Verständnis bei. mit dem Bild auf Seite 91 reagierte, das sich heute im Sie berät Bauherren und Architekten, um die Zukunft Frankfurter Städel Museum befindet: wertvoller Bauten zu sichern. Sie vermittelt ihr Wissen Es zeigt die «Götzen»-Figur der Venus auf einer über Basels Baudenkmäler, erklärt deren Bedeutung Säule, um die nach einer imaginären Musik nackte und fördert das Werteverständnis. Frauen aller Altersstufen tanzen. Die Kulisse ist für den http://www.denkmalpflege.bs.ch Ortskundigen anhand der Arkaden und der Empore mit Rundfenstern unschwer als der Chor des Basler Münsters wiederzuerkennen! Zwei Führungen der Kantonalen Denkmalpflege werden Zugang zu verschiedenen Baudenkmälern aus jener facettenreichen Epoche gewähren.

92 93 15 Programm

Zur Aufführung gelangen Werke von Sonntag, 25. August 2013 19 Uhr Giovanni Girolamo Kapsberger (ca. 1580–1651) Schützenhaus Girolamo Frescobaldi (1583–1643) Diminuito – italienische Musik um 1600 Alessandro Piccinini ( 1566–1639) Rolf Lislevand Ensemble Gian Paolo Foscarini ( 1600–1647)

Rolf Lislevand – Theorbe, Laute, Barockgitarre und u.a.m. Leitung Marco Ambrosini – Nyckelharpa Thor-Harald Johnsen – Barockgitarre, Chitarra battente David Mayoral – Perkussion André Lislevand – Gambe Bjørn Kjellemyr – Colascione

Giovanna Pessi – Barockharfe

94 95 Der norwegische waren. Seit 1993 ist er Professor der Staatlichen Hoch- Lautenist Rolf Lis- schule für Musik in Trossingen (Deutschland). levand studierte Rolf Lislevands Soloaufnahmen erschienen beim von 1980 bis 1984 französischen Label Auvidis/Astrée. Seine erste CD klassische Gitarre mit Musik von Hieronymus Kapsberger erhielt über- an der Staatlichen schwängliche Besprechungen und den «Diapason d’Or Norwegischen de l’année 1994». Musikakademie. Im gleichen Jahr wurde die Kapsberger-CD als «bes- 1984 wechsel- te Aufnahme von Musik vor 1650» an der Musikindus- te er zur Schola trie-Messe MIDEM in Cannes ausgewählt, 1995 wurde Cantorum Basiliensis, die zu dieser Zeit das aktivs- sie «Critic’s choice» bei Gramophone. Im Jahr 2000 te Zentrum für Alte Musik in Europa darstellte. Dort wurde seine Santiago-de-Murcia-CD «beste Aufnahme studierte er bis 1987 bei Hopkinson Smith und Eugen von Musik des 17.–18. Jahrhunderts» an der MIDEM Müller-Domois. Jordi Savall lud ihn ein zur Mitarbeit und erhielt den «Diapason d’Or de l’année 2000». in Gruppen wie «Hespèrion XX», «La Capella Reial de Catalunya» und «Concert des Nations». Durch Savall kam er in Kontakt mit französischer Viola-da-Gam- ba-Musik des 17. Jahrhunderts, während Montserrat Figueras ihn in die spanische Vokalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts einführte. Seit 1987 lebt Lislevand in Verona (Italien). Viel- leicht war es der enge Kontakt mit einer alten Kultur, die Altem wie Neuem gegenüber stets gleichermassen aufgeschlossen war, der ihm den Weg wies, in der Ver- einigung von Intuition und Forschung ein ganzheitliches Konzept von Stil und Ästhetik in der Barockmusik zu suchen. In den letzten Jahren weitete sich sein Arbeitgebiet aus auf die Tätigkeit als Solist und Lehrer. Am Conser- vatoire National de Toulouse (Frankreich) konnte er eine Lehrmethode für die Lauteninstrumente entwickeln, die ja seit Jahrhunderten von ihrer Tradition abgeschnitten

96 97 Pieter Claesz, Stillleben mit Musikinstrumenten, 1623, Louvre, Paris

Ein fürstliches Bankett um 1600

Andreas Morel

Nach gehaltnem Tanz haben sich der fürstliche Bräutigam flüssen und anderen Bäch und Revier zusammengekünstelt, mit seiner geliebten Braut nach der Hofstuben begeben, wo dabei Schlösser, Burgen, Häuser, Türme, Festungen, von ein köstliches Bankett von Zuckerwerk zugerichtet war, mit Mauern umzogene Siedlungen. Im Gewässer, Gehöltz und höchster Kunst ausgearbeitet ein wohlgerüster Garten mit den anderen Revieren tummelten sich Fische, auch Löwen, allem, was dazugehört: mit Goldflitter und Früchten behan- Elephanten und Kamele neben einheimischem Gewild, Hir- gene Lorbeer- und andere Bäume, diese wie auch allerlei schen, Bären, Wölfen und Hasen. Gar wunderbar und kaum seltsame Hecken von verschiedenerlei Vögeln belebt. Nach glaublich anzusehen ein Doppeladler auf zwei Löwen ste- perspektivischer Art waren Berge, hohe Felsen mit Wasser- hend und mit der kaiserlichen Krone geziert als Träger für

98 99 das österreichische Wappen und ein herrlicher gar schöner würzbehälter (Automaten) und Feuerwerkskörper auf Pelikan, der seine Brust mit dem Schnabel geöffnet, um seine dem Tisch, durch Zwerge vorgetragene Huldigungsge- Jungen mit dem eignen Blut zu nähren. Auf den Flügeln aber dichte, von Böllerschüssen bekräftigte Gesundheiten trug der Pelikan Schild und Wappen des fürstlichen Bräuti- und selbstverständlich aller Arten Tafelmusik. gams und seiner geliebten Braut: alles ganz herrlich und an- Der Esstisch selbst war insofern in das Konzept sehnlich aus Zucker künstiglich gegossen ausgearbeitet. einbezogen, als er zur Bühne bestimmt war für einen Dies der Bericht eines Augenzeugen von der Des- von Paradiesvorstellungen geprägten Mikrokosmos, ei- serttafel anlässlich der Hochzeit des Herzogs Johann nen in Szene gesetzten (und essbaren!) Glückwunsch Wilhelm I. von Jülich-Kleve-Berg mit der Markgräfin an das Hochzeitspaar. Der Tischgesellschaft wird als Jacobe von Baden am 16. Juni 1585 in Düsseldorf. Wo- Nachtisch ein Conversation Piece vorgesetzt, ein viel- rüber wir uns heute wundern, ist die Feststellung, dass teiliges aus Schaugerichten, Schauessen und Speisen zwar die künstlerische Gestaltung der süssen Pracht arrangiertes Bilderrätsel, das zunächst einmal Staunen und ihre formalen Bezüge zum Anlass des Festes aus- auslöst, zum Nachsinnen ermuntert, die Konversation führlich gewürdigt werden, andererseits mit keinem anregt und nicht zuletzt auch vom bereits vollen Ma- Wort auch nur erwähnt wird, über welche kulinari- gen ablenken soll. Ziel der Inszenierung ist es nicht, schen Qualitäten das vielteilige Dessertangebot ver- den Speisen einen effektvollen Auftritt zu verschaffen, fügte. sondern diese vielmehr unauffällig in das Gesamtbild Das höfische Fest um 1600 – es versetzte eine zu integrieren. Das Primat der Inszenierung bleibt bis ganze Region in einen eigentlichen Ausnahmezu- ins 19. Jahrhundert ein Charakteristikum höfischer stand – hatte den Charakter eines gigantischen Fest- Bankettkultur. spiels. Traditionelle Programmpunkte waren ritterliche Eine Eigenschaft vieler Reisebeschreibungen be- Übungen, Ringrennen, Turniere zu Pferd und zu Fuss, steht darin, dass das Unvertraute, Andersartige im Vor- Kämpfe mit Ungeheuern, kurz: alles, was mit den rit- dergrund des Interesses steht. Berichtet wird über das, terlichen Tugenden in Zusammenhang steht. Nicht was auffällt, weil es sich vom gewohnten Umfeld des weniger abwechslungsreich gestaltete sich das Abend- Autors abhebt. Wir können also davon ausgehen, dass programm mit Mummenschanz, Feuerwerk und Tanz. der Bericht eines Italieners über ein Bankett in Mün- Einen von mehreren Höhepunkten bildete das chen uns neue Erkenntnisse zur Bankettkultur vermit- Festbankett. Seine Ausrichtung war dem Gesamt- teln wird. konzept des Festes unterstellt. So hatte die Regie al- Die Festivitäten in Düsseldorf und München fin- les Erdenkliche darauf angelegt, sämtliche Sinne der den fast zeitgleich statt, in beiden Fällen handelt es Tischgesellschaft anzusprechen. Zu den wichtigsten sich um eine Fürstenhochzeit und beide Male richtet Kunstmitteln zählten Duftfontänen, mechanische Ge- sich unsere Aufmerksamkeit auf die letzte Tracht, die

100 101 Desserttafel. Massimo Troiano, unser Gewährsmann Gurken, Muskatbirnen, Pflaumen, Sauer- und Kornell- in München, ist zum einen ein ausländischer Gast an kirschen, Krokant, Nougat und Zimt aus Bergamo, fer- einem Fest fern der Heimat, darüber hinaus aufgrund ner – zur Kategorie der heiss begehrten Apothekerwaren seiner Herkunft speziell an dem interessiert, was die gehörig – überzuckerte Melonenkerne, Anissamen, Tafel an leiblichen Genüssen anzubieten versprach. Mandeln, Korianderkörner (zum Teil mit Moschus Dieses Interesse offenbart sich darin, dass er neben parfümiert), kandierte Orangen- und Pomeranzen- «Programm» und Ikonographie ausführlich von der schnitze. Das ganze Sortiment süsser Schleckereien Vielfalt und den Eigenschaften der Speisen berichtet. war, gesondert und auf Dutzende von Behältnissen Zunächst beschreibt er die Verblüffung der Gäste­ unterschiedlicher Materialien, Grösse und Form zu- schar bei der Feststellung, dass die Desserttafel zu sammen mit der Zuckerplastik zwischen die eigentli- einem grossen Teil aus Speisen bestand, die von frühe- chen Gerichte verteilt. ren Trachten her schon bekannt waren. Der Déja-vu- Es bedarf keiner vertieften Analyse, um festzustel- Effekt erwies sich schliesslich als raffinierter Einfall der len, dass die 9. Tracht der Münchner Fürstenhochzeit Regie: besonders und in hohem Masse über eine Qualität ver- Pfauen, Fasanen, Rebhühner, Haselhühner, Kapaunen, fügte: Süsse. Diese Dominanz des Süssen bietet Gele- Pasteten, Sülzen, Lämmchen, Spanferkel, Schweinsköpfe, genheit, darüber nachzusinnen, wie im ausgehenden Hirschviertel, Kaninchen, Enten, alles aus Zucker geformt. 16. Jahrhundert die kulinarischen Bedürfnisse definiert Und zum Schluss waren ebensoviel Nachbildungen aus Zu- sein mochten. Dabei soll nicht vergessen werden, dass cker hereingetragen worden als echte Fleisch- und Fischspeisen den Speisen – wenngleich der eigentliche Anlass für auf dem Tisch gestanden hatten. Und wie ein Wunder war das Zusammenkommen bei Tisch – im Kontext der diese ungeheure Pracht und Vielfalt aus Zucker zu sehen. Inszenierung eine untergeordnete Rolle zukommt. Zur Beruhigung heutiger Gastronomen bleibe Wie das Fest zum Alltag steht das Festmahl zur kaum nicht unerwähnt, dass neben den (wohl kaum zum einmal Abwechslung bietenden täglichen Kost, was Konsum berstimmten) Schaugerichten auf biblischer heisst: Getränke und Speisen wurden nach den Qua- Grundlage und polychromen Schauessen aus Zucker litäten aussergewöhnlich und nicht alltäglich ausgewählt. auch Schlichteres angeboten wurde, nämlich: süsse An erster Stelle steht das Streben nach Opulenz, Pasteten (mit lebenden Vögeln darin), Körbchen mit die in Vielfalt und verschwenderischer Fülle zum Aus- geviertelten Quitten, gezuckerte Sauerkirschen mit druck kommt. Blättern (die wie frisch aussahen), allerlei Gebäck Ein zweites Kriterium bezieht sich auf die Aus- (dabei auch Mönchsbrezel), Konfekt von Pinien und wahl der für die Gerichte benötigten Ausgangspro- Pistazien, mehrerlei Fruchtgelées (auch Genueser Quit- dukte. Aussergewöhnlich definiert sich hier als fürstlich, tenpaste), in Sirup eingemachte Früchte wie Kürbis, kostbar, rar, fremdländisch. Das Verbindende ist, dass

102 103 sie in der Alltagskost nicht vorkommen (wie eben Zu- Anno 2013 vor die Aufgabe gestellt, in Basel ein festli- cker!). Dies gilt zum Beispiel bei den Getränken für ches Bankett nach Vorgaben des 16. Jahrhunderts zu gewürzte Weine wie Hypokras oder Bischof. Bei den konzipieren, wird dem Historiker schnell bewusst, Küchenprodukten sind mit dabei Austern, Krebse, dass sich fast alle Voraussetzungen grundsätzlich ver- Kaviar und (als König der Fische schlechthin) Lachs, ändert haben. Dies betrifft sowohl die Ansprüche und Wildbret, Haselhühner und Kapaune; Blätterteig und Erwartungen der Gesellschaft bei Tisch wie vorgän- Parmesan; Oliven, Kapern und exotische Gewürze; gig die Intentionen der Küchenbrigade. Da heutzutage Mandeln, Pistazien, Pinienkerne, Datteln und Rosinen; ein Bankett praktisch kompromisslos auf Verpflegung ferner Südfrüchte, darunter die von einer Aura des Ge- ausgerichtet ist, war für uns unbestritten, dass alle Be- heimnisvollen umgebene Pomeranze. mühungen vorrangig den geschmacklichen Qualitäten Eine dritte Gruppe bilden die Gerichte, denen das der angebotenen Gerichte gelten sollten und nur ver- Prädikat herrschaftlich zusteht, weil ihre Herstellung be- halten ihrer Ästhetik und ihrer Rolle im Kontext der sonderen Aufwand erfordert, Dazu gehören die Paste- Inszenierung. Auf den verschwenderischen Umgang ten, Blanc-mangers, Gelées, Kompositionen aus oder mit Gewürzen wurde ebenso verzichtet wie auf ge- mit Zucker wie Marzipan, Kandiertes von Früchten wöhnungsbedürftige Gewürzkombinationen, beides und Gemüse, Dragées und Morsellen, sowie – womit Charakteristika der Festtagsküche um 1600. Alle ver- sich der Kreis zum Ess-Theater schliesst – alle Schau- wendeten Produkte standen schon im 16. Jahrhundert essen, in denen Essbares mit Ungeniessbarem kombi- zur Verfügung. Ebenfalls historisch und damit erklä- niert vorkommt. rungsbedürftig ist die Bedienung bei Tisch, die nach den Regeln des Service à la française abgewickelt wird. Jeweils Literatur: 6 Gerichte (oder mehr) werden gleichzeitig aufgetragen Massimo Troiano: Die Münchner Fürstenhochzeit von 1568, Hrsg.: Horst Leuchtmann, Studien zur Landes- und Sozialgeschichte der Musik, 4, und auf dem Tisch platziert (1. Tracht). Die Tischgänger München/Salzburg 1980 bedienen sich selbst und dienen sich gegenseitig zu. Bartolomeo Scappi: Opera. Roma [1570] Nach 40 Minuten werden die Schüsseln abgetragen und Theodor Graminaeus: Fürstliche Hochzeit so... Wilhelm Hertzog zu Gulich durch eine zweite Serie gleicher Zahl aber mit anderen Cleve und Berg.. und Jacobae zu Baden.. gehalltten.. Köln 1587 (2. Tracht). Andreas Morel: Zu Tisch, Menziken 2013 Speisen ersetzt Nach weiteren 40 Minuten erfolgt der zweite Austausch zur 3., der süssen Tracht. Den Kellnern kommt die Aufgabe zu, die Gerichte auf- und abzutragen und die Teller zwischen den Trachten auszuwechseln. In der Zwischenzeit versorgen sie die Gäste mit Brot und Getränken.

104 105 17 bekannten Namen λύρα geschuldet, der im Zuge des Humanismus und der Wiederentdeckung der Antike auf zeitgenössische Musikinstrumente übertragen wurde. Montag, 26. August 2013 Aber nicht nur der Name, sondern auch die musikalische 18 Uhr Verwendung wurde vererbt, galt die λύρα in der Anti- Kunstmuseum, Vortragssaal ke doch als das eigentliche Instrument der Dichter und Vortrag 2 Sänger, dem Mythos nach von Hermes erfunden und dann an seinen Bruder Apollon weitergegeben. So lässt «... sozusagen ein Instrument sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien der Götter» – die Lyra und ihre ein Streichinstrument in da braccia-Haltung, also waage- recht mit den Armen vor dem Körper gehalten, belegen, Metamorphosen das mittels akkordischen Spiels den Vortrag des Sängers Dr. Martin Kirnbauer oder Rezitators begleitete. Dieser humanistische Gestus charakterisierte zugleich den sich selbst auf einer Lira Müsste man ein sehr da braccio begleitenden Sänger als Verkörperung des Or- charakteristisches Mu- pheus, als dessen Instrument die Lyra auch in die Ikono- sikinstrument für das graphie/Bildwelt/Bildersprache einging, wahlweise auch 16. Jahrhundert benen- übertragen auf einen Apollon, Homer oder König David. nen, so fiele die Wahl Kurz nach 1500 vermehrte ein Schüler von Leo- wohl mit gutem Grund nardo da Vinci, Atalante Migliorotti (ca. 1466–1535), auf die Lira da braccio. die Anzahl der Saiten auf zunächst zwölf, so dass das Merkwürdigerweise han- Instrument nun in da gamba-Position vertikal/aufrecht delt es sich dabei aber zwischen den Beinen gehalten gespielt wurde. Die mu- gerade um dasjenige In- sikalischen Möglichkeiten vermehrten sich damit ra- strument, von dem man sant, so dass Virtuosen wie beispielsweise Alessandro am wenigsten weiss, we- Holzschnitt aus den «Epithome Striggio (1537/8–1592) allein mehrstimmige Madriga- der seine Herkunft noch Plutarchi», Ferrara, 1501, Dichter le vortragen konnte, wobei er eine der Stimmen sang. seine genaue musikalische mit Lira da braccio Während die Lira da braccio bald nur noch als Attribut Verwendung kennt. Sogar welches Musikinstrument von Göttern und antiken Helden auf Gemälden zu fin- jeweils genau gemeint ist, wenn Quellen der Zeit von den ist, entwickelte sich die Lira da gamba (auch Liro­ ne­ einer «lira» sprechen, bleibt oft unklar. Diese kuriose genannt) zu einem wichtigen Instrument der Basso con- Situation ist unter anderem dem bereits in der Antike tinuo-Gruppe noch bis in die zweite Hälfte des 17. Jahr-

106 107 hunderts, wobei insbesondere ihre ­«allerlieblichste 18 Harmony für die Ohren» gerühmt wurde, die «die affectus, dolores, planctus» anregten. Während der Vortrag den verschiedenen Lire und Dienstag, 27. August 2013 ihrre Funktion in Bildern und Quellen nachspürt, wer- 12.15 Uhr den die Instrumente selbst im Mittagskonzert «sulla Peterskirche lira…» – L’arte della recitazione am folgenden Tag zu er- Alumni 2, Mittagskonzert leben sein. «sulla Lira...» Martin Kirnbauer (geboren 1963 in Köln) war nach L’arte della recitazione ­einer Ausbildung zum Holzblasinstrumentenmacher und Musikstudien zunächst Restaurator für histori- Giovanni Cantarini – Gesang und Rezitation sche Musikinstrumente im Baptiste Romain – Lira da Braccio und Violine ­Germanischen Nationalmu- Brigitte Gasser – Lira da Gamba und Gambe seum in Nürnberg. Studi- Julian Behr – Laute und Theorbe um der Musikwissenschaft, Ger­­manistik und Mittelal- terlichen Geschichte an den Universitäten Erlangen und Basel (Promotion 1998). Zwischen 1994 und 2004 war er wissenschaftlicher Assistent am Musikwissen- schaftlichen Institut der Universität Basel, betraut u.a. mit der Leitung des umfangreichen Mikrofilmarchives, und Lehrbeauftragter für Ältere Musikgeschichte. Nach der Habilitation 2007 bis Ende 2010 Vertretung des Lehrstuhls für Ältere Musikgeschichte. Seit Mai 2004 ist er Leiter des Musikmuseums in Basel und Kurator für die Sammlung alter Musikinstru- mente des Historischen Museums Basel, sowie Privat- dozent für Musikwissenschaft an der Universität Basel.

108 109 Programm Francesco Corteccia (1502–1571) O begli anni de l’oro Angelo Poliziano (1454–1494) aus Fabula di Orfeo: Alessandro Striggio (1536–1592) Udite, selve mie dolce parol Madonna il vostro petto (Il primo libro de madri- Dunque piangiamo, o sconsolata lira gali, Venezia 1560)

Bartolomeo Tromboncino (ca.1470–1535) Anonymus Cresce la pena mia (Petrucci Frottole Libro Septi- Per che m’hai abandonato (Petrucci Frottole Libro mo, Venezia 1507) Septimo, Venezia 1507)

Marco Cara (ca.1465–ca.1525) Giulio Caccini (1551–1618) Aer de capitoli (Petrucci Frottole Libro Nono, Lamento d’Orfeo (aus Euridice, 1600) Venezia 1508) Text: Pietro Bembo (1470–1547) Sigismondo d’India (ca.1582–ca.1629) Piangono al pianger mio (Milano 1609) Anonymus Text: Ottavio Rinuccini (1562–1621) Romanesca, Passamezzo (Ms.1144 Pesaro, Bibl. Oliveriana, ca.1545)

Anonymus Piangeti christiani (MS Capetown Grey 3.b.12, ca.1500) Text: Leonardo Giustiniani (ca.1383–1446)

Innocentius Dammonis Pianzeti, christiani (Petrucci Laude Libro Primo, Venezia 1508)

Alfonso della Viola (ca. 1508–ca. 1573) Tu ch’ai le corna riguardanti al cielo (Fragment aus Agostino Beccaris Il sacrificio, 1554)

110 111 Zum Programm melodische Modelle überlassen, die elementar genug waren, um dem Sänger die Möglichkeit zu geben, Unter den Praktiken der verschiedenen Renaissancen, lange Texte auswendig zu lernen bzw. sie aus dem die sich in der italienischen Kulturszene des 15. und Stegreif vorzutragen. Die Protagonisten dieser Pra- 16. Jahrhunderts abwechselten, ist das Singen zur Lira xis waren Personen unterschiedlicher Bildung und sicherlich eine der symbolgeladensten. Diese Art des sozialer Herkunft: von professionellen Musikern bis Musizierens, die – wie die Ikonographie reichlich be- zu adligen Amateuren, von berühmten Gelehrten zeugt – mit dem Orpheus-Mythos und der göttlichen bis zu Jahrmarktssängern. Sie traten am Hof wäh- Figur des Apollon verbunden ist, wurde vor allem an rend Banketten oder bei Festen auf, wenn es darum den humanistischen Akademien und an besonders kul- ging, eine adlige Familie zu feiern, und sangen oft tivierten Höfen der italienischen Halbinsel gepflegt. Sie in Theateraufführungen von Komödien oder Hir- bestand in der Rezitation von langen literarischen Tex- tengeschichten, oder auch während Sitzungen der ten, die von einfachen Akkorden auf der Lira da braccio Akademien – es sei an eine der bedeutendsten erin- oder – im 16. Jahrhundert – auch auf dem Lirone beglei- nert, die neapolitanische von Marsilio Ficino bei den tet wurde. Medici in Florenz, wo der Dichter Angelo Poliziano Traditionell mit Orpheus oder Apollon assozi- selbst sang und spielte –, oder in den Literatursalons iert, ist das Instrument die moderne Reinkarnation der Adligen, um die Gedichte Petrarcas oder auch der «lyra» (auch Kithara oder Phorminx genannt), die neuer Dichter zu verbreiten, wie es im Venedig des ­ im alten Griechenland symbolisch für die «lyrische» 16. Jahrhunderts bei Pietro Bembo der Fall war. Auch Dichtung stand. Das an sie gebundene Repertoire wurden nicht selten spirituelle Texte wie die Lau- konnte nicht geringer als das des göttlichen Sängers de auf diese Weise dargeboten, wofür der berühm- sein: die Erzählung von kosmogonischen Mythen und te Laudario giustinianeo ein Beispiel ist (vgl. «Piangeti von episch-amourösen Unterfangen, wenn nicht sogar christiani» über einen Text des adligen Venezianers vom Orpheus-Mythos selbst. Die Nachahmung des Leonardo Giustiniani). Orpheus und der dulcedo seines Gesanges erforderte – Der Florentiner Baccio Ugolini, einer der be- neben der Beherrschung des Instruments – ein hohes rühmtesten Künstler seiner Zeit, sang ad lyram in Mass an rhetorischer Fertigkeit, und die expressive der Rolle des Orpheus in der Fabula di Orfeo von An- Kraft jener, die beides beherrschten, ist in zahlreichen gelo Poliziano, aufgeführt in Mantua während der Zeugnissen überliefert, wenn auch leider keine einzige Karnevalsfeierlichkeiten des Jahres 1480. Der klare ihrer Melodien. und reine Stil des toskanischen Dichters vermag es, Traditionellerweise war dieser Stil zwischen Ge- den ländlichen und impulsiven Charakter des Hir- sang und Rezitation tatsächlich der Improvisation über ten Aristeo im Tanzlied «Udite, selve, mie dolci parole»

112 113 ebenso passend auszudrücken wie die noble Kla- des Frottolisten Marco Cara kann man tatsächlich das ge von Orpheus in den Versen «Dunque piangiamo, o Capitolo «Dolce mal, dolce guerra, e dolce inganno» von sconsolata lira». Pietro Bembo (1553) ausführen, ein Beispiel dafür, wie Ebenfalls im Zusammenhang mit den höfischen der venezianische Petrarkismus seine Verbreitung der Festen und den Theaterspektakeln ist bekannt, dass Begleitpraxis mit der Lira anvertraute. der Hofmusiker der Familie d’Este, Alfonso dalla Vi- Der Triumph der Monodie des recitar cantando, mit ola, die Musik für die Hirtenkomödie Il Sacrificiovon anfänglich einfachen Akkorden auf der Lira und spä- Agostino Beccarsi (1554) geschrieben hat. Er vertraute ter einem von mehreren Instrumenten ausgeführten seinem Bruder die Rolle des Priesters an, der das Gebet Generalbass, beginnt seinen Lauf noch unter dem Zei- «Tu ch’ai le corna riguardanti al cielo» an den Mond rich- chen des Orpheus und der Hirtenfabel. tete und sich dabei selbst mit der Lira begleitete. In Euridice von Ottavio Rinuccini mit Musik von Für die Florentiner Intermedien schrieb Francesco Giulio Caccini («composta in musica in stile rappresentati- Corteccia das Madrigal «O begli anni dell’oro» auf das vo»), aufgeführt bei der Hochzeit von Heinrich IV. von Drama Commodo von Antonio Landi (1539), wo die Frankreich mit Maria de Medici (1600), manifestiert Figur des Silen – wie Giambullari in der Chronik der sich zu Beginn des Barock die höfische Tradition der Feier schreibt – den Violone spielte. Dieselbe Praxis mythologischen Erzählung, während mit Sigismondo des Intavolierens von polyphonen Madrigalen für eine d’Indias «Piangono al pianger mio» aus Lungi da chi ’l mio Bass-Lira (lira bassa), oder auch für Lirone, findet sich cor von Rinuccini die Rezitation des Liebesgedichtes in beim Komponisten Alessandro Striggio, von dem wir die Ära des virtuosen Gesangs übernommen wird. wissen, dass er ein Virtuose auf diesem Instrument Giovanni Cantarini war: «Madonna, il vostro petto», ein ursprünglich fünf- stimmiges Madrigal, das in seiner Homorhythmik gut mit einem Lirone begleitet werden kann, ist ein deutli- Die Ausführenden ches Beispiel dafür, dass sich Monodie und Polyphonie nie gegenseitig ausgeschlossen haben. Die Gambistin Brigitte Gasser studierte an der Schola Nicht die ganze Tradition des Singens zur Lira Cantorum Basiliensis bei Jordi Savall und erhielt ihr ist verloren gegangen: Die Frottole-Bücher von Ot- Diplom 1990. Seitdem arbeitet sie als freiberufliche taviano Petrucci, in Venedig gedruckt, überliefern die Musikerin und konzertiert mit verschiedenen Solis- sogenannten «aeri per cantar sonetti/ottave/capitoli», oder ten und Ensembles in ganz Europa. Ihr stilistisches auch polyphone Arrangements von Melodien im Stil Repertoire reicht vom 15. Jahrhundert bis hin zu zeit- der Frottola, die für die Rezitation von jeglichen, met- genössischen Kompositionen. Sie gibt regelmässig risch ähnlichen Texten geeignet sind. Zu einer Melodie Kurse für Kinder und Erwachsene und ist Autorin einer

114 115 Gambenschule für Anfänger. Sie sicale Malatestiana, Musique des unterrichtet an der Musikschule ­Lumières, Organum Novum Bru- Konservatorium Bern. xelles, Festival Bach de Combrail- Sie wirkte bei zahlreichen les) setzt er sich intensiv mit der Aufnahmen mit, etwa mit dem mittelalterlichen Monodie, dem von ihr mitgegündeten «Concer- Renaissance-Madrigal und der to di Viole» und dem Ensemble frühbarocken Monodie der Kam- «Daedalus», und war an diversen merkantate auseinander. Er grün- Opernprojekten beteiligt. dete das Ensemble «La Déesse Neben ihrer Arbeit mit stilis- Venus» mit dem er das Repertoire tisch getreuen Kopien von Gam- der prima pratica-Madrigale erkun- beninstrumenten des 16. bis 18. det. Jahrhunderts ist sie fasziniert vom Eine vielfältige Zusammenar- Klang und von den harmonischen beit verbindet ihn mit folgenden Möglichkeiten der Lira da gamba Formationen und Dirigenten: «En- als Continuo-Instrument. semble » (Vellard), «Huelgas Ensemble» (Van Nevel), Nach Studien der Philoso- «La Morra» (Marti-Gondko), «En- phie an der Pontificia Universitas semble Perlaro» (Donadini), «La Gregoriana in Rom und seinem Venexiana» (Cavina), «Leones» Diplom in Altphilologie in Bolo- Von oben links im Uhrzeigersinn: Brigitte Gasser, Giovanni, Cantarini, (M. Lewon) «Ensemble Melpo- gna vertiefte Giovanni Cantarini Julian Behr, Baptiste Romain men» (Steinmann), «per-sonat» seine Kenntnisse der historischen (Lutzenberger), «Ensemble Voca- Gesangskunst an der Schola Cantorum Basiliensis bei le Orlando» (Gentre), «Cappella Obliqua» (Agudin), Gerd Türk und Dominique Vellard und studiert jetzt «Cappella Augustana» (Messori). bei Graziano Monachesi in Cesena klassische Oper Als Mitarbeiter von Montserrat Figueras am Insti- und Konzertrepertoire. tuto Superior de Musica in Barcelona und an der Scho- Neben einer regen Aktivität als Solist und En- la Cantorum Basiliensis gab er Kurse als Experte für semblesänger auf bedeutenden Festivals für Alte Mu- Poesie und italienische Metrik. sik (Festival d’Ambronay, Mysteria Paschalia, Festival de Flandres, Brighton Festival, Freunde Nach anfänglichen Studien der Violine und der Kom- ­Alter Musik Basel, Segni Barocchi Foligno, Sagra Mu- position am Conservatoire National de Région in

116 117 Rueil-Malmaison spezialisierte sich Baptiste Romain demusique.com) (mittelalterliche Fidel, Renaissance-Violine, Dudelsack) auf die Musik des Mittelalters und der Renaissance Julian Behr absolvierte zunächst ein Studium in klassi- und studierte mittelalterliche Fidel, alte Dudelsack- scher Gitarre und Laute bei Prof. Dr. Mario Sicca und formen und Gesang. Er begann mit Studien bei Marco Robert Barto an der Hochschule für Musik und darstel- Horvat am Centre de musique médiévale in Paris, lende Kunst in Stuttgart. wechselte dann in die Schweiz, um an der Schola Can- Nach einem Aufbaustudium im Fach Laute bei Jo- torum Basiliensis bei Randall Cook, Dominique Vel- achim Held am Hamburger Konservatorium studierte lard und Crawford Young zu studieren. Gleichzeitig Julian Behr Alte Musik und Lauteninstrumente an der erhielt er Kammermusikunterricht am Conservatoire Schola Cantorum Basiliensis in Basel bei Hopkinson national supérieur in Lyon bei Pierre Hamon. Smith. Bis 2011 war er Dozent an der Musikhochschu- Während seiner Zeit an der Schola Cantorum er- le Nürnberg. kundete er die Spieltechniken und das Repertoire der Es erfolgten Auftritte bei Festivals in den meisten Renaissance-Violine, im März 2008 schloss er mit dem Ländern Europas und in Südamerika mit u.a. dem bel- Solistendiplom ab. gischen Ensemble «Ausonia», mit der «Akademie für Seine Einflüsse sind unter anderem der Jazz und Alte Musik Berlin», mit «Al Ayre Espagnol», Peter Kooj traditionelle Musik, er ist unablässig auf der Suche und «sette voci» sowie mit den Altisten Franz Vitz­ nach neuen Ideen auf dem Feld der historisch infor- thum und . Zusammen mit dem Tenor mierten Musikpraxis, aber ebenso leidenschaftlich be- David Munderloh widmet Julian Behr sich dem engli- schäftigt er sich mit Improvisation, Gesangsbegleitung schen Lautenlied im 17. Jahrhundert. und dem Repertoire seiner Instrumente. Neben solistischen und kammermusikalischen Baptiste Romain arbeitet in vielen Ensembles mit, Projekten ist die Mitwirkung an Barockopernprodukti- darunter «Leones» (Marc Lewon), «Gilles Binchois» onen ein Bestandteil seiner Arbeit, u.a. an den Opern- (Dominique Vellard), «per-sonat» (Sabine Lutzenber- häusern in Hamburg, Berlin, Amsterdam und Brüssel. ger), «Vox Suavis» (Ana Arnaz), «Tetraktys» (Kees Boeke), «Les Jardins de Courtoisie» (Anne Delafosse- Quentin), «Peregrina» (Agnieszka Budzinska-Bennett) u.a. Daneben unterrichtet er mittelalterliche Musik an der Universität von Besançon und gab zahlreiche Meisterkurse. Die erste CD seines eigenen Ensembles «Le Miroir de Musique» erschien 2012 (www.miroir-

118 119 19 Programm I. Guillaume Dufay (1397–1474) Montag, 26. August 2013 Vergene bella, che di sol vestita 20.15 Uhr (Canzona von Francesco Petrarca) Martinskirche Oxford, Bodeleian Library MS canon. misc. 213 fol. 133’–134 «Vergine bella» e Nobildonna – Isabella d’Este und die neue B.T. [Bartolomeo Tromboncino] (ca. 1470–nach 1535) Italianità Virgine bella Frottole und Instrumentalmusik des 16. Jahrhunderts Canzoni nove con alcune scelte…per Andrea Antico (Rom 1510) Els Janssens-Vanmuster, Raitis Grigalis – Gesang Andrea Antico: Frottole Intabulate da sonar organi (Rom 1515) Les Flamboyants: Leitung und Flöte: Michael Form II. Programmkonzeption: Silvia Tecardi, Michael Form Adespoto Baptiste Romain – Renaissance-Violine Ch’ui dicese «E non l’amare» Silvia Tecardi – Viola d’arco O. Petrucci: Frottole Libro VI (Venedig 1506) Jane Achtman – Viola da Gamba Marc Lewon – Laute B.T. Marc Meisel – Spinettino, Orgelpositiv Questo mondo è mal partito O. Petrucci: Frottole Libro IX (Venedig 1509)

B.T. Ite, caldi o miei suspiri O. Petrucci: Frottole Libro IX

120 121 M.C. [Marchetto Cara] (1470 – nach 1525) Jean Japart (ca. 1450 – nach 1480) Per dolor mi bagno il viso Fortuna dun gran tempo O. Petrucci: Frottole Libro XI (Fossombrone 1514) O. Petrucci: Canti C Diminutionen nach Silvestro Ganassi: Opera intitu- lata La Fontegara (Venedig 1535) (ca. 1440 – 1497/98) Fortuna d’un gran tempo à 4 B.T. Florenz, Bibl. Nazionale Centrale, Ms. Banco Rari Aqua aqua aiut’al foco 229 Franciscus Bossinensis: Tenori e contrabassi inta- bulati col soprano in canto figurato Libro Primo (O. Antoine de Vigne Petrucci, Venedig 1509) Franc cœur qu’as tu/Fortuna dun gran tempo O. Petrucci: Canti B. No Cinquanta (Venedig 1502) III. Juan Urrede [Johann Wrede] (ca. 1430 – nach 1482) Josquin Desprez [d’Ascanio] Nunca fue pena mayor (Villancico) In te domine speravi O. Petrucci: Harmonice Musices Odhecaton A O. Petrucci: Frottole Libro I (Venedig 1504) (Venedig 1501) M.C. Adespoto Pietà cara signora Nunca fue pena maior O. Petrucci: Frottole Libro I O. Petrucci: Canti C. No Cento Cinquanta (Venedig 1504) B.T. La pietà chiuso ha le porte B.T. O. Petrucci: Frottole Libro II Nunqua fu pena magiore (Bazelletta) O. Petrucci: Frottole Libro III (Venedig 1505) Rasmo [Erasmus Lapicida] (1440/45 – 1547) Pietà cara signora / La pietà chiuso ha le porte Josquin Desprez (?) (ca. 1450 – 1521) (Barzelletta) Fortuna dun gran tempo O. Petrucci: Frottole Libro IX O. Petrucci: Odhecaton A

122 123 IV. Zum Programm B.T. Or che’l ciel et la terra (Petrarca) Die Frottola mit all ihren verwandten Spielformen der Andrea Antico: Frottole de misser Boltolomio Barzeletta, Ode, Strambotto und Canzonetta gilt als die Tromboncino & de misser Marchetto Carra…per erste genuin italienische Gattung nach einem Jahrhun- cantar & sonar col lauto, Libro II (Venedig 1520) dert franko-flämischer Vorherrschaft in Oberitalien. Freilich hatte sie ihre nordischen Wegbereiter, die die B.T. Entstehung einer regionalen Musik beförderten und Ben che’l Ciel me t’habbi tolto sich für die Verwendung italienischer Texte und einer O. Petrucci: Frottole Libro IX unmittelbaren musikalischen Expressivität einsetzten. Die Frottolisten bevorzugten die Laute als Begleitins- B.T. trument einer einzelnen, stark textbezogenen Sing- Sì è debile il filo a cui s’attene (Canzona von stimme. Zudem schafften sie die Voraussetzungen Petrarca) für den frühbarocken stile rappresentativo, der in der O. Petrucci: Frottole Libro VII (Venedig 1507) «Erfindung» des Dramma per Musica gipfeln sollte. In Andrea Antico: Frottole intabulate da sonar organi, Isabella d’Este hatte die Frottola ihre mächtigste Pro- Libro IV (Rom, 1517) tagonistin und in Ottaviano dei Petrucci und Andrea Antico potente Verleger, die der neuen Gattung zwei Michele Pesenti (?) (ca. 1470–nach 1524) Dutzend umfangreiche Musikdrucke widmeten und Che faralla, che diralla so für deren Verbreitung und Überlieferung Sorge tru- O. Petrucci: Frottole Libro XI gen. Während diese Drucke die Stücke – vor allem aus absatzbedingten Gründen – vierstimmig setzten und Don Timoteo bisweilen alle Stimme textierten, findet man den Ur- Uscirallo, resterallo sprung der Frottola im improvisierten, nicht schriftlich O. Petrucci: Frottole Libro XI fixierten canto accompagnato zum Beispiel eines Pietro- bono dal Chitarrino, der 1440 bis 1497 am Hof von B.T. Ferrara tätig war und dessen Ruf sich weit über die Gli è pur cocente ’l fier desir ch’ò in core Grenzen der Stadt verbreitete. Pietrobono orientierte O. Petrucci: Libro VII sich am Stil der giustiniana, des Gesangs zur Beglei- A. Antico: Frottole Libro IV tung der Laute, der Lira da braccio oder der Viola. Einige wenige giustiniane gelangten in die später niederge- schriebene Musik und damit in die veröffentlichten

124 125 Frottole-Bücher. «Ch’ui dicese ‹E non l’amare›» ist ein be- um seine geliebte Euridice wieder ins Leben zurückzu- sonders repräsentatives Werk dieses Stils. holen. Der Mythos von Orpheus war freilich schon bei Unser Programm beginnt mit einer reizvollen Ge- den Frottolisten beliebt: der Dichter Angelo Poliziano genüberstellung zweier berühmter Vertonungen von schrieb für Kardinal Francesco Gonzaga eine Favola Francesco Petrarcas Vergene bella: Bei Dufay herrscht d’Orfeo, die 1480 in Mantua aufgeführt wurde, deren noch ganz die der flamboyanten Spätgotik verpflich- Musik aber leider verschollen ist. tete Musiksprache des Nordens vor. Eine mit Propor- Wie stark das Interesse an Petrarcas Texten glei- tionswechseln und vielen Melismen ausgeschmückte chermassen schon bei den Frottolisten und schliess- Kantilene erhebt sich über einem dicht gewebten lich bei Claudio Monteverdi war, wird an Stücken wie Kontrapunkt aus Tenor und Contra, die vor allem ih- «Hor che’l ciel et la terra» deutlich: 1520 veröffentlicht rer horizontal geschichteten kontrapunktischen Logik Antico Tromboncinos Vertonung. Monteverdi sollte folgen. Bei Tromboncino offenbart sich vom ersten sich über 100 Jahre später derselben Textvorlage für Takt an der frische und unmittelbare Tonfall der itali- sein 8. Madrigalbuch von 1638 bedienen. enischen Renaissance, der sich in einer quasi körper- Obwohl die Frottola ein italienisches Phänomen haft geführten syllabischen Deklamation manifestiert. ist, wurde sie gleichwohl in ganz Europa rezipiert und Welches Potenzial dieser neue Stil für den frühbaro- sogar von nichtitalienischen Komponisten imitiert; cken stile rappresentativo haben sollte, zeichnet sich vor Josquin Desprez’ «In te domine speravi» ist ein wunder- allem in Werken wie «Sì è debile il filo a cui s’attene» ab. bares Beispiel für diesen Assimilationsprozess. Einen Allein schon Petrarcas Canzona mit ihrer freien Folge interessanten Fall stellt «Nunca fue pena mayor» des von Sieben- und Elfsilbern verweist auf die Versstruk- Flamen Johann Wrede, der sich in Spanien Juan Urre- tur des hochbarocken Rezitativs. Bartolomeo Trom- de nannte, dar. Dieser berühmte Villancico auf einen boncino kommt für die Vertonung der 16 Verszeilen Text des Primer Duque de Alba wurde um 1500 in ita- mit lediglich neun musikalischen Phrasen aus, die so lienische Handschriften kopiert, um schliesslich von gestaltet sind, dass sie mit ihrer konsequent syllabi- Tromboncino in eine Barzelletta verwandelt zu wer- schen Anlage und vielen Tonwiederholungen ganz den. Eine ähnliche Metamorphose wurde «Fortuna d’un dem Textinhalt verpflichtet sind. gran ­tempo» zuteil, wenngleich das Werk nicht so weit Vollkommen anders erscheint das Verhältnis von reiste wie Nunca. Josquin ist wahrscheinlich der Autor Text und Musik in «Ben che’l ciel me t’habbi tolto». Fast eines Kabinettstücks, in der die Originalmelodie in drei vermeint man die Klage des Hauptprotagonisten aus verschiedenen Tonarten erklingt, De Vigne benutz- Monteverdis L’Orfeo zu vernehmen, der sich mit all te dieselbe Melodie für ein fünfstimmiges Quodlibet seiner Sangeskunst, zu der auch das cantar passeggiato zusammen mit einer französischen Chansonmelodie, oder alla lombarda gehört, durch die Unterwelt schlägt, Japart konstruierte daraus einen vertrackten vierstim-

126 127 migen Kanon, und schliesslich tritt uns die Fortuna- gen von Antico und Bossinensis aufzeigen. Sie stellen Melodie bei Johannes Martini als Frottola entgegen. den ersten Schritt hin zur selbstständigen barocken Das Bearbeiten und Umwandeln bereits existie- Instrumentalmusik dar. Das frühe 16. Jahrhundert ist render Musik war vor allem ein beliebtes Verfahren aber auch die Zeit der ersten ausführlichen Diminu- der franko-flämischen Meister, um sich auf eloquen- tionstraktate von Ganassi und Ortiz. Die Frottola ist te Weise gegenseitig Referenz zu erweisen. Es lebt mit ihrer einfachen, homophonen Satzstruktur nicht bei den Frottolisten fort und macht, wie im Falle von nur der Nährboden für die monodische Begleitung der «Fortuna d’un gran tempo», nicht einmal vor Gattungs- «Nuove Musiche» eines Caccini, sondern bietet sich grenzen halt. Ein besonders schönes Beispiel stellt auch als ideale Matrix einer zunehmend virtuosen in- Erasmus Lapicidas Quodlibet über zwei Frottole von strumentalen Verzierungskunst an, die alle bis dahin Cara und Tromboncino dar, deren Bindeglied das bekannten Grenzen sprengt. Schlüsselwort pietà darstellt. Die beiden originalen Michael Form und Silvia Tecardi textierten Cantus-Stimmen wurden miteinander zu einem kunstvollen Kontrapunkt verquickt und jeweils mit einer neuen Begleitstimme zu einem polyphonen vierstimmigen Satz ergänzt. Wir haben einige Dialoge in unser Programm auf- Ensemble «Les Flamboyants» genommen, die in protobarocker Manier – in Ansät- zen bereits mit den Stilmitteln des Dramma per musica Das Ensemble «Les Flamboyants» wurde 1997 von und der Commedia dell’arte – auf theatralische Effekte Michael Form gegründet. In Mainz geboren, absolvier- abzielen, die in den Bühnenwerken um 1600 ihre vol- te er seine Ausbildung an der Hochschule für Musik le Entfaltung erleben. Es handelt sich um Stücke wie und Tanz Köln und an der Schola Cantorum Basilien- Tromboncinos «Aqua aqua aiuto al foco» oder «Gli é pur sis (Basel), wo er sich neben seinem Engagement für cocente´l fier desir ch´ò in core», bei denen der Text phra- die Musik des 18. Jahrhunderts auf die Musik der Re- senweise auf zwei Figuren verteilt ist. Michele Pesentis naissance spezialisierte. Die Mitglieder des Ensembles «Che faralla, che diralla» und das als Antwort konzi- stammen aus Deutschland, Belgien, der Schweiz, Ös- pierte «Uscirallo, resterallo» von Don Timoteo wurden terreich, Italien und Brasilien und haben sich während wahrscheinlich als Zwischenaktmusiken der Commedia ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Schola Canto- dell’arte verwendet – gewissermassen als Vorläufer der rum zusammengefunden. späteren Intermezzi. Mit ihrer Namensgebung beziehen sich «Les In welchem Ausmass sich die instrumentale Dimi- Flamboyants» auf den verfeinerten spätgotischen Ar- nution Bahn bricht, lässt sich anhand der Intabulierun- chitekturstil des «flammenden» Masswerks, der im

128 129 tus Moraviae. Anfang 2002 folgten die Musiker einer Einladung der University of Christchurch zum Winds of Waitaha Early Music Festival als Ensemble in Resi- dence nach Neuseeland. 2001 wurden «Les Flamboyants» für ihre Einspie- lung der Harmonice Musices Odhecaton, des ersten Notendrucks der Musikgeschichte, mit dem «Choc du Monde de la Musique» ausgezeichnet. Im Sommer 2010 hat das Ensemble zwei neue CDs in Koproduk- tion mit dem Schweizer Radio DRS eingespielt, die in Kürze bei Christophorus erscheinen werden.

15. Jahrhundert von Frankreich ausging. Das Ensem- ble widmet sich besonders der ersten Blütezeit der Instrumentalmusik um 1500. Seit ihrem Debüt bei den Moselfestspielen traten «Les Flamboyants» bei einer Reihe von renommierten Festivals und Konzertreihen in ganz Europa auf, wie z.B. beim Festival van Vlaanderen (Laus Polyphoniæ, Antwerpen), bei den Rencontres de musique médiéva- le du Thoronet, den Freunden Alter Musik in Basel, der Brixner Initiative Musik und Kirche, beim Winter in Schwetzingen, beim Bucerius Kunstforum (Hamburg), bei den Internationalen Tagen der Mittelalterlichen Musik Montalbâne, beim Festival Mutua Madrileña (Madrid) sowie beim südböhmischen Festival Concen-

130 131 20 Die Vermählung der noch nicht 16-jährigen Isabella d’Este – «Una divina Isabella mit Gianfrancesco bellezza – una meravigliosa donna – II. Gonzaga, Markgraf von Mantua, fand am 16. corteggiata da tutti.» Februar 1490 statt. Isabel- Cristina Pileggi* la begann alsbald am neu- en Hof ihrer Leidenschaft Der Name Isabella d’Este Gonzaga steht für Kunst, nachzugehen. Sie kaufte Kultur und Mode der Hochrenaissance in Italien. Isa- rare Bücher und wertvol- bella, älteste Tochter des Herzogs Ercole I. d’Este von le Editionen für ihre neue Ferrara und Eleonoras von Aragón, besass eine uner- Bibliothek. Zahlreiche müdliche Energie, Beziehungen zu pflegen und neue Künstler, Musiker und Po- Kontakte zu knüpfen; sie war immer und überall prä- eten wurden an den Hof sent, um das Neueste kennenzulernen und kulturpoli- von Mantua eingeladen tisch aktuell zu sein. Alles weckte ihre Neugier, jedoch und viele Werke exklusiv unter einer Bedingung: Es musste ihrer eigenen inneren für Isabella in Auftrag ge- Ordnung entsprechen, es musste mit ihrem Lebensstil geben. Mit dem Hofmaler übereinstimmen. Andrea Mantegna hatte Am 18. Mai 1474 wurde Isabella in Ferrara ge- Isabella eine konfliktrei- boren. Ihre Ausbildung begann sehr früh. Battista che und zugleich kreati- Guarino führte sie in die lateinische Sprache ein, und ve Beziehung, denn ihre Giovanni Martino brachte ihr das Singen und das Spie- Bedingungen entsprachen len verschiedener Instrumente wie der Laute, der Viola nicht immer seinen künst- und der Orgel bei. Zahlreiche Künstler und Musiker lerischen Vorstellungen. frequentierten den Hof. Die Universität, die auserle- Weitere Künstler, die für sene Bibliothek, die vielen Kunstwerke, die «Capella Isabella arbeiteten, wa- ducale» mit den besten Musikern und Sängern Italiens: ren Leonardo da Vinci, Ferrara war dank Ercole I. d’Este, der selbst lateinische Lorenzo Costa, Giovanni Werke las und ein Kenner von Kunst und Musik war, Bellini, Pietro Perugino Tizian, Isabella d’Este (ca. 1536), eine moderne italienische Kulturstadt des 15. Jahrhun- und Antonio Allegri da Ausschnitt, Kunsthistorisches ­Museum derts. Correggio. Aber auch die- Wien

132 133 se hatten es mit Isabellas Ansprüchen nicht leicht: Textes in allen Stimmen. Dieser Satztypus hat zu einer Die Künstler mussten die Vorgaben der Marquise be- häufigen Ausführung mit gesungener Oberstimme und folgen. Diese Exklusivität verfolgte Isabella nicht nur instrumentaler Begleitung geführt, also zu ersten An- in der bildenden Kunst, sondern auch in der Musik. zeichen von solistischem Musizieren, einer Praxis, die In Venedig gab Isabella zum Beispiel dem berühmten erst später, um 1600, zur Blüte gelangt. Nicht nur das Instrumentenbauer Lorenzo da Pavia den Auftrag, ein «Akkordische» und das «Solistische» sind aber neu an für sie zu schaffen, das «facile da suonare» der Frottola am Hof zu Mantua, sondern auch das «Ita- sein sollte, weil Isabella nicht allzu geübte Hände be- lienische» im Text und in der musikalischen Sprache, sass. Poeten und Humanisten wie Pietro Bembo und das sich hier nach generationenlanger Vorherrschaft Nicolò da Correggio übergaben ihr ihre Verse, damit der französischen Musik zum ersten Mal Bahn bricht sie sie vor gebildetem Publikum rezitieren und singen und den Siegeszug der italienischen Musik im Barock konnte. Isabella förderte jede Kunstgattung und jeden vorbereitet. von ihr geschätzten Künstler. Umgekehrt waren ihr Isabella d’Este Gonzaga war eine selbstbewuss- diese Künstler dadurch auch im kulturpolitischen Sinn te, hochgebildete, weltoffene und auch politisch ge- und für ihr Prestige von Nutzen. wandte Frau mit einer offensichtlich charismatischen Ähnlich verlief es mit der musikalischen Gattung Ausstrahlung. Dank ihrem Gespür für das Schöne der Frottola. Die bekanntesten Frottolisten versam- förderte sie Kunst, Dichtung, Musik und Mode des melte Isabella am Hof: Bartolomeo Tromboncino, der 15./16. Jahrhunderts in Italien. Sie war ein Symbol für zwischen 1490 und 1506 ihr persönlicher Lehrer und die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit, für das Hofmusiker war, und Marchetto Cara. Die Frottola – humanistische Bildungsideal und legte damit auch den ein italienisches Strophenlied in verschiedenen Vers- Boden für die Bildung der Frauen. Die Kultur der Re- massen zu drei bis vier Stimmen – eignete sich gut naissance in Italien hat ihr vieles zu verdanken. 1539 für die musikalische Betätigung der Damen am Hof. starb sie in Ferrara. Notiert ist die Frottola zwar in Stimmbüchern, die den Eindruck von selbstständigen Stimmen nahelegen. Dominant ist aber die Oberstimme, während die Un- terstimme sowie die Mittelstimmen, die die Harmo- nie ausfüllen, wie eine Begleitung wirken. Somit kann nicht von einer «polyphonen» Gattung im eigentlichen Sinn gesprochen werden, vielmehr handelt es sich bei der Frottola um die Frühform eines kompakten «ak- kordischen Satzes» mit gleichzeitiger Deklamation des

134 135 21 Programm

William Byrd (ca.1540–1623) Mittwoch, 28.August 2013 Fantasia in C 18 Uhr The Carman’s Whistle Peterskirche Christopher Tye (ca.1505–ca.1573) «Follow Me» 3 In Nomines: Avantgardismus in der englischen Consort- und Seldom seen – Re la re – Trust Virginalmusik Picforth (fl.1580) The Earle his Viols: In Nomine Randall Cook (Ltg.) Brigitte Gasser Elisabeth Rumsey The Bells Christoph Prendl Tore Eketorp Peter Philips (1561–1628) David Blunden, Virginal Aria del Gran Duca Ferdinando di Toscana

Anthony Holborne (1545–1602) In Peascod Time

Thomas Tomkins (1572–1656) A Sad Pavan for these distracted times (14. Februar 1649)

Alfonso Ferrabosco II. (* ca. 1575–1628) Four-note Pavan

John Bull 1562–1628 Fantasia Ut re mi fa sol la

136 137 John Jenkins 1592–1678 Fantasia

Henry Purcell 1659–1695 A Voluntary in G Fantasia upon One Note

Anonym, englisch: Ein Gamben-Consort auf dem Portrait von Sir Henry Unton (ca. 1596), National Portrait Gallery, London

Zum Programm

«Die Welt als Traum, die Welt als Mysterium, die Welt als Chaos: dies ist eine Apperzeptionsform, die der Renaissance völlig entgegengesetzt ist.» (Egon Friedell)

Das elisabethanische Zeitalter als Höhepunkt der eng- lischen Renaissance gilt gemeinhin als die Wiege des neuzeitlichen Theaters, der modernen empirischen Naturwissenschaft und – weniger prominent – der Viola da Gamba in ihrer heutigen Form. Vermutlich durch italienische Musiker, die unter der Herrschaft Henry VII. nach England kamen, trat das Instrument

138 139 seinen Siegeszug auf der Insel an: «Beere and viols da Die Klangsprache des Werkes hebt sich dadurch gamba came into England both in one yeare in Hen- deutlich von anderen, durch das Prinzip der Varietas ge- ry the Sevenths time.» schreibt Henry Peacham the prägten Werken des 16. Jahrhunderts ab und erinnert an Younger 1636. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts führten den musikalischen Minimalismus des 20. Jahrhunderts. die englischen Instrumentenbauer eine wichtige bau- Einen ähnlichen Effekt hat auch «The Bells» von William technische Neuerung in der Konstruktion der Instru- Byrd, das den repetierenden und doch sich ständig ver- mente ein: Die gewölbte Decke wurde nicht mehr aus ändernden Charakter eines Glockengeläuts unüber- zwei dicken Holzplatten herausgestemmt, sondern aus troffen in Musik setzt. Auch Christopher Tye setzt vor fünf bis sieben dünn gehobelten Latten zusammenge- seine Fantasien programmatische Titel, die den kontra- leimt, die unter Hitze gebogen wurden. Dies führte punktischen Vorgang treffend beschreiben. So entwi- nicht nur zu einer erheblichen Materialersparnis, son- ckelt sich «Seldom seen» am Ende durch die Verschiebung dern auch zu einem deutlich geringeren Zeitaufwand rhythmischer Werte von einer ruhigen, einfachen Tex- bei der Produktion, was letztlich auch als einer der tur zu einem wahren Labyrinth, in dem selbst der in Gründe anzusehen ist, dass in England viele Privat- gleichmässigen Breven fortschreitende C.f. als rhyth- haushalte mit einem sogenannten Chest of Viols, einem misches Zentrum infrage gestellt wird. «Re la re» hinge- Set von je zwei Diskant-, Tenor- und Bass-Violen da gen bezeichnet das Thema der Vorimitation und ist als Gamba, ausgestatten waren. eine Parodie auf den C.f. zu sehen, der mit den Solmi- Die englische Musik, die auf diesen Instrumenten sationssilben «Re fa re» beginnt und in den meisten «In gespielt wurde, weicht zur beginnenden Barockzeit in Nomine»- Kompositionen auch so in den anderen Stim- vielerlei Hinsicht von der kontinentaleuropäischen ab. men imitiert wird. In «Trust» dauert jede Note des C.f. Werke im Stil der seconda prattica findet man in England genau fünf Minimen, was in einer sehr ungewöhnlichen selten, dafür experimentierten die Komponisten mit Relation der harmonischen Fortschreitungen resultiert. gewagten kontrapunktischen Ideen, die auf sehr un- Auch dies ist ein Spiel, das sich in vielen «In Nomines» terschiedliche Weise die Spannung zwischen Ordnung wiederfindet: Da der C.f. aus genau 55 Tönen besteht, und Chaos ausloten. Spielraum dafür boten vor allem ist eine Formstruktur, die sich auf gerade Zahlen stützt, die Cantus-firmus-Fantasien: einerseits die In-Nomine- mit diesem nicht ohne Weiteres vereinbar. Wie sehr die Fantasien über einen C.f. aus dem Benedictus der Missa englische Musik durch diese Tradition geprägt wurde, «Gloria tibi trinitas» von , andererseits die zeigt sich auch am Beispiel Henry Purcells, der in den Hexachordfantasien, bei denen der C.f. aus einem auf- 1680er Jahren noch zwei «In Nomine»- Fantasien kompo- und absteigenden Hexachord besteht. So bestehen die niert. Mit seiner «Fantasia upon one note» führt er die Gat- einzelnen Stimmen in Picforths «In Nomine» aus nur je- tung der C.f.- Fantasie zum Abschluss und Höhepunkt weils einem einzigen Notenwert. zugleich.

140 141 Der Einfluss Italiens war über mehrere Jahrhun- einer Kanonenkugel getroffen – und seiner Wirkungs- derte bis zum englischen Bürgerkrieg 1642 einer der stätte, der Orgel in der Kathedrale ebenda, erleben wichtigsten Faktoren in der kulturellen Entwicklung musste. Tomkins erzeugt in diesem Stück durch die Englands. Zeugnis dafür bietet aus musikalischer Sicht vielen Imitationen einen für Pavanen ungewöhnlich vor allem die 1588 gedruckte Musica Transalpina von sprechenden Effekt. Wenn man sich vergegenwärtigt, Nicholas Yonge, eine Sammlung italienischer Mad- dass Tomkins in seinen letzten Lebensjahren fast aus- rigale mit neu unterlegtem englischem Text, und das schliesslich Instrumentalmusik komponierte, könnte sogenannte MS Egerton 3665 englischer Provenienz, man dabei fast den Eindruck gewinnen, als ob er sich das eine überaus grosse Anzahl italienischer Werke, des «sprachlosen» Kontrapunkts als Sprachrohr der u.a. von Claudio Monteverdi und Carlo Gesualdo, verstummten menschlichen Stimmen bediente. enthält. Ausserdem wurden immer wieder Italiener In Ferraboscos «Four-note Pavan» besteht die als Musiker und Diplomaten in Personalunion an den Oberstimme dagegen aus einem lediglich vier ver- englischen Hof geholt, so auch Alfonso Ferrabosco der schiedene Töne umfassenden Motiv, das auf ver- Ältere, Vater von Alfonso Ferrabosco II. und selbst ein schiedenen Tonstufen und mit unterschiedlichen begnadeter Komponist. Peter Philips, der nach seiner Tondauern wiederholt wird. Genau diese Tonfolge Studienzeit in Rom auch mit J. P. Sweelinck in Ams- wird später zu einem der wichtigsten Fugenthemen terdam in Kontakt trat, bearbeitete viele Werke itali- des Barock, noch W. A. Mozart verwendet es im enischer Komponisten für Tasteninstrument und war Schlusssatz seiner Jupitersymphonie. John Bull greift vermutlich auch an der Kompilation des Fitzwilliam in seiner Hexachordfantasie hingegen auf ein Prinzip Virginal Book, der wichtigsten Sammlung englischer zurück, das Vincenzo Lusitano bereits 1553 andeutet. Virginalmusik, beteiligt. Seine «Aria del Gran Duca Fer- Der Hexachord wird stufenweise chromatisch ver- dinando di Toscana» hat er vermutlich für die Intermedi- setzt, so umrundet das Stück durch enharmonische en der 1589 stattgefundenen Hochzeitsfeierlichkeiten Umdeutung den Quintenzirkel. Die Stimmen folgen von Ferdinando I. de’ Medici mit Christine de Lorraine dabei jedoch den Regeln des strengen Satzes, ohne komponiert. die zusätzlichen Töne für die neuartige Dissonanz- Thomas Tomkins, der Nachfolger Alfonso Fer- behandlung zu verwenden, die in Italien zur gleichen raboscos II. am Hof von King Charles I., komponier- Zeit zur Mode wird. Bulls Hexachordfantasie war te 77-jährig zwei Wochen nach der Enthauptung des im späteren 17. Jahrhundert auf dem Kontinent un- Königs seine «Sad Pavan», nachdem er in den vorher- ter dem Namen Alessandro Pogliettis verbreitet. Der gehenden Jahren einige seiner engsten Freunde als Op- Hoforganist Kaiser Leopolds I. verwendete das Werk fer der Wirren des Krieges zu beklagen hatte und die unter anderem zum Unterricht seiner Schüler. Auch Zerstörung seines Hauses in Worcester – es wurde von sein Zeitgenosse John Jenkins bedient sich der en-

142 143 harmonischen Modulation in einigen Fantasien, ohne Beschäftigung mit der Täuschbarkeit des Bewusstseins ­allerdings auf einem C.f. aufzubauen. und der Täuschungsfähigkeit der aus dem Bewusstsein Anthony Holbornes «In Peascod Time» ist ein ein- entspringenden Phantasie. zigartiges Beispiel eines Variationswerkes über einen Christoph Prendl ostinaten Bass – in England Ground genannt – das spezifisch für Instrumentalconsort komponiert wur- Das Gambenconsort «The Earle his Viols» spielt seit de. «The Carman’s Whistle», zu deutsch «Des Kutschers 1999 regelmässig in variablen Besetzungen, gruppiert Pfiff», war ein beliebter Gassenhauer der Tudorzeit. um Randall Cook. Alle Spieler haben zu unterschied- Anders als in vielen Variationswerken Byrds bleibt das lichen Zeiten an der Schola Cantorum Basiliensis Thema hier bis zum Schluss in seiner Urgestalt erhal- studiert und bringen langjährige musikalische Erfah- ten. Diese Gattung der Liedvariationen sowie die des rungen mit unterschiedlichen anderen Ensembles mit. Voluntary, einer freieren, präludienartigen Form, wurde Der Name des Ensembles ist eine Referenz an den von den englischen Virginalisten nachhaltig geprägt. Basler Instrumentenbauer Richard Earle, der die vom Besonders Erstere hatten einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Tastenmusik, nicht zuletzt durch die Kontakte von englischen Virginalisten wie Peter Philips und John Bull zu Jan Pieterszoon Sweelinck, der durch seine intensive Unterrichtstätigkeit wiede- rum als Vater der norddeutschen Orgelschule gilt. So zeigt sich, dass die englische Musikkultur um 1600 einen etwas anderen Weg in den Barock gegangen ist als der Rest Europas: Trotz der guten Kontakte zur italienischen Musikwelt und der Kenntnis deren neu- ester Werke haben die englischen Komponisten lange an der Satzweise der prima prattica festgehalten. Durch ihre Experimentierfreudigkeit gerade in der Instrumen- talmusik haben sie aber mehr als nur den Weg für die Unabhängigkeit derselben von der Vokalmusik geeb- net: Wie die Werke William Shakespeares und Francis Bacons sind ihre Kompositionen Früchte einer kul- turellen Hochblüte, deren geistiger Beitrag zum Ende der Renaissance vor allem eines war: die beginnende

144 145 Ensemble gespielten Gamben nach einem Gemälde 22 von Tintoretto baute. Für dieses Programm werden jedoch Instrumente von anderen Gambenbauern nach Giovanni Coperario – geboren verschiedenen englischen Modellen gespielt. Die erste schlicht als John Cooper CD «Canzon del Principe» (Divox 2001) mit neapoli- tanischer Musik aus dem Manuskript von Luigi Rossi Der italienische Einfluss auf die englische Musik vor um 1600 erhielt die Auszeichnung Choc der Zeitschrift und um 1600, italienische Komponisten und ihre «Monde de la Musique». Die zweite CD «La Tavola Bedeutung – progressive Elemente versus Tradition – ein Cromatica» (Raumklang 2004) mit chromatischer und allgemeiner Überblick. enharmonischer Musik aus dem Umkreis von Kardinal Antonio Roolaio Francesco Barberini, Rom um 1635, wurde mit 5 «Dia- pasons» ausgezeichnet. Ich wählte den angenommenen Namen Giovanni Coperario des gebürtigen Engländers John Cooper als Titel dieses Textes, weil er die Liebe und Verehrung gegenüber der italienischen Musik und den italieni- schen Komponisten – und es waren deren viele, die kürzer oder länger in England lebten – auf den Punkt bringt. Coperario erhielt diesen Übernamen von sei- nen italienischen Freunden als Geste wechselseitiger Wertschätzung – eine «Gesellschaft der gegenseitigen Bewunderung»! Obgleich John Cooper Italien nie be- sucht hat, steht seine Musik offenkundig unter dem starken Einfluss der beiden Generationen von Italienern, die die Entwicklung der englischen Komposition we- sentlich mitbestimmt haben. Und doch verleugnet sie ihre englischen Wurzeln keineswegs … Um zu verstehen, wo der italienische Einfluss in England seinen Ursprung hat, ist es von Vorteil, sich in Erinnerung zu rufen, wie viel Kontakt es zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab, insbesondere während der Re- gentschaft Heinrichs VIII.: vor seiner Thronbesteigung ein junger Prinz, der fasziniert war von allem Exoti-

146 147 schen, vor allem von der italienischen Kultur, der Petrar- chendem Einfluss. Hier finden sich die wichtigsten ita- ca liebte, begeistert Laute spielte (vorzugsweise Musik lienischen Madrigal-Komponisten, angefangen bei Luca von Vincenzo Capirola) und italienische Tänze bevor- Marenzio. Mit Alfonso Ferrabosco, der in den 1560er - zugte. Und ohne Zweifel eröffnete ihm seine Liebe zu und -70er Jahren in Diensten Königin Elisabeths stand, gutem Essen und Trinken auch andere Genüsse! Einige erscheint eine noch direktere Verbindung. Man kann Italiener besuchten den Hof, wenn auch kurz, in den den Einfluss dieses Bandes auf die englischen Kompo- 1520er- und 30-er Jahren, doch mehr und mehr bewirk- nisten kaum überschätzen – William Byrd allen voran. ten die politische Szenerie, königliche Zwangslagen und Während der nächsten 40 Jahre adoptierten, adaptierten machtpolitische Ranküne eine Verminderung von Aus- und entwickelten zahlreiche Komponisten den weltli- landskontakten gegen die Jahrhundertmitte. chen, polyphonen italienischen Stil. Ab jetzt kann die Eine Verbindung, die erhalten blieb, bestand in der «englische Madrigal-Schule» als historisches Faktum gel- Person des jungen Adligen Sir Thomas Wyatt. Obwohl ten – sie wäre schlicht unvorstellbar ohne den Einfluss er bereits 1542 starb, wurden seine Dichtungen erst dreier italienischer Komponistengenerationen. 1557 veröffentlicht. Sein ganzes Schaffen ist tief beein- Alfonso Ferrabosco erhielt den Beinamen «der Älte- flusst von mehreren Reisen nach Italien, insbesondere re», da sein in England geborener Sohn als tatsächlicher nach Rom. Seine zahlreichen Petrarca-Übersetzungen, englischer «Secondo» als «der Jüngere» bekannt war. aber ebenso seine eigenen Dichtungen erkunden die So- Die Musik des Sohnes, der eng mit John Cooper/Gio- nettform, genuin italienische Ideen und Konzepte. Die vanni Coperario befreundet war, bietet eine raffinierte Tatsache, dass sein Werk erst lange nach seinem Tod Verbindung italienischer und englischer Elemente. Beide zum Druck kam, ist vielschichtigen politischen Kräften gehörten gemeinsam zu der Gruppe talentierter Kom- geschuldet, königlichen Machtansprüchen, religiösen ponisten, die bei Hofe in Diensten des jungen Prinzen Streitereien und verbotenen Liebeshändeln. Als jedoch Henry standen. Nicht zu vergessen ist hier Angelo No- schliesslich Königin Elisabeth den Thron bestieg, war tari, der, bereits 49-jährig, aus Italien kam, um in den alles vorbereitet, um Wyatt zu einem zentralen Bezugs- Dienst des Prinzen zu treten. Er gab 1613 eine hervorra- punkt werden zu lassen. Innerhalb zweier Jahrzehnte gende Sammlung zukunftsweisender Lieder unter dem nach dem Druck der ersten Gedichte wurden vielfälti- Titel Prime Musiche Nuove heraus, im hochaktuellen stile ge weitere Verbindungen zu italienischer Musik und recitativo. Traurig genug: Als der Band herauskam, starb Dichtung erschlossen. 1588 erschien schliesslich die Prinz Henry, kaum 18-jährig, und liess eine grosse Zahl berühmte Musica Transalpina, eine von Nicholas Yon- Künstler ohne ihren höchsten Gönner zurück! Trotz- ge herausgegebene und gedruckte Sammlung von ita- dem blieb Notari bis zu seinem Tod im biblischen Al- lienischen Madrigalen («english’d», d.h. in englischer ter von 97 Jahren in England, als Bediensteter Charles’ Übersetzung) – ein durchschlagender Erfolg mit weitrei- I., als Überlebender des englischen Bürgerkrieges, und

148 149 schliesslich nach der Restauration in Diensten Charles’ 23 II. Seine kompositorische Ausdrucksweise transformier- te sich unterdessen von einer originär italienischen zu einer musikalischen Sprache, wie sie englischer kaum Mittwoch, 28. August 2013 sein könnte. 20.15 Uhr Aber auch andere italienische Familien leisteten Martinskirche nennenswerte Beiträge, allen voran die jüdische Familie Bassano, die 1540 nach London kam und während drei- Se la mia morte brami er Generationen Hofmusiker stellte. Eine der Töchter, Die Kunst des Madrigals: Luca Marenzio, Cipriano de Lucreece, heiratete Nicholas Lanier, den Grossvater des Rore, Claudio Monteverdi, Carlo Gesualdo Malers, Komponisten und Sängers Nicholas Lanier, der unter Charles’ I. diente. Lanier verkörperte alles, was Profeti della Quinta, Leitung: Elam Rotem im kompositorischen Stil zukunftsweisend war. Sein Doron Schleifer, David Feldman – Cantus monodisches Lamento «Hero und Leander» ist ein Meis- Dino Lüthy, Jakob Pilgram, Dan Dunkelblum – Tenor terwerk dieses Stils und kann in einem Atemzug mit Elam Rotem – Bassus Monteverdis berühmtem «Lamento d’Arianna» genannt Orí Harmelin – & Archlute werden. Auch wenn der Hof Charles’ II. natürlicherweise eher dem französischen Geschmack verpflichtet war (Charles wurde in Frankreich erzogen und lebte dort während des Interregnums), so zog England doch im- mer wieder auch Italiener an. Pietro Reggio (1632–1685) kam nach London und publizierte mehrere Bände Ver- tonungen zeitgenössischer englischer Dichter wie etwa Abraham Cowley – und diese Sätze waren von be- trächtlichem Einfluss auf den jungen Henry Purcell. Summa summarum kann man vielleicht feststellen, dass der italienische Sinn für sprezzatura, das Vergnügen am «Bewusstsein der Gegenwärtigkeit», den Engländern eine handgreifliche Liebe zu Farben, zum Licht und zur Kühnheit brachte, die englische Komponisten für viele Generationen emanzipierte.

150 151 Programm Luca Marenzio Cipriano de Rore (ca. 1515–1565) Ov’è condotto il mio amoroso stile? Ancor che col partire (Primo libro di madrigali à 4, (Bearbeitung: Orí Harmelin) 1550) Carlo Gesualdo (1566–1613) Schiet’arbuscel, di cui ramo ne foglia (Secondo Occhi, del mio cor vita libro di madrigali à 4, 1557) (Madrigali libro quinto, 1611)

Mia benigna fortuna (Secondo libro di madrigali à Se la mia morte brami (Madrigali libro sesto, 1611) 4, 1557) Scipione Lacorcia (1585?–1620) Francesco da Milano (1497–1543) Ahi, tu piangi (Il secondo libro de madrigali, 1616) Fantasia XXXIII (Intabolatura di liuto, libro terzo, 1547) Alessandro Piccinini (1566–ca. 1638) Ricercar secondo (Intavolatura di liuto, 1639) Cipriano de Rore Ancor che col partire (Bearbeitung: Orí Harmelin) Toccata cromatica XII (Intavolatura di liuto, et di chitarrone, 1623) Luca Marenzio (1553?–1599) Ov’è condotto il mio amoroso stile? (Madrigali à 4 Claudio Monteverdi (1567–1643) … libro primo, 1585) Filli cara e amata (Madrigali, libro primo, 1587)

Vivo in guerra mendico e son dolente (Il nono libro Rimanti in pace (Il terzo libro de madrigali, 1592) de madrigali, 1599) Ohime se tanto amato Nel dolce seno della bella Clori (Il quinto libro de (Il quarto libro de madrigali, 1603) madrigali, 1585) Zefiro torna e’l bel tempo rimena Giovanni Antonio Terzi (fl. ca. 1580–1600) (Il sesto libro de madrigali, 1614) Fantasia in modo di canzon francese del Guami (Il secondo libro de intavolatura di liuto, 1599) E così a poco a poco (Il quinto libro de madrigali, 1605)

152 153 Zum Programm Arrangements in den Diminutionstraktaten des 17. Jahrhunderts zeigen. Dieser Tradition folgend zeigen Während der Spätrenaissance in Italien durchlief das wir eine Neufassung für Laute in unserem Programm. Genre des Madrigals spannende Umgestaltungen Die Madrigale aus Rores zweitem Buch (1557) durch die hervorragenden Komponisten, die einen gu- zeigen ein gänzlich anderes Bild: In diesen Madrigalen ten Teil ihres Schaffens diesem Typus widmeten. Um ordnet sich offenbar der vorher so essentielle musika- die Mitte des 16. Jahrhunderts löste Cipriano de Rore lische Fluss völlig dem unmittelbaren Wortsinn unter. mit seinen revolutionären Madrigalen diese Entwick- Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Kadenz lung aus. Diese Neuerungen verschoben den Fokus des ersten Teiles von «Mia benigna fortuna» auf dem von der hergebrachten, klangverliebten Polyphonie hin Text «odiar vita mi fanno e bramar morte»: nicht allein, zu einem Klangkonzept, bei dem die expressive Text- dass die Musik unvermittelt vom hexachordum durum ausdeutung das vorrangige Ziel bildet – und sei es auch zum hexachordum molle springt, auch der «verbotene» auf Kosten des vordergründigen Wohlklanges. Dieses Melodieschritt einer grossen Sexte erscheint in allen Ideal hatte Claudio Monteverdi zu Beginn des 17. Jahr- Stimmen. Zudem endet die Kadenz explizit in einer hunderts mit dem Begriff seconda prattica belegt. Mollharmonie. (Dieser besondere Vers übrigens war Cipriano de Rore (ca. 1515–1565) war eine der es, den Vincenzo Galilei in seinen Schriften aus den Schlüsselfiguren der franko-flämischen Komponis- späten 1580er-Jahren als Musterbeispiel für den neuen, tengeneration in der Nachfolge von . expressiven Kontrapunkt auswählte.) Gleich seinen Zeitgenossen Orlando di Lasso und Luca Marenzio (ca. 1553–1599) zählt mit etwa Adrian Willaert verbrachte er den grössten Teil seines 500 Kompositionen zu den fruchtbarsten Madrigal- Lebens als Musiker an italienischen Höfen. Madriga- komponisten der ersten Generation in Italien. Seine le machen einen grossen Teil seines Werkes aus: fünf zahlreichen Madrigalbücher zeigen die ganze stilis- Bücher mit fünfstimmigen Madrigalen erschienen tische Bandbreite der Zeit, angefangen von der eher zwischen 1542 und 1566. Der Vergleich zwischen den anspruchslosen Villanelle über konservative Madrigal- beiden vierstimmigen Madrigaldrucken kann als Mo- sätze bis hin zu expressiven, geradezu experimentellen dellfall für die stilistische Umgestaltung des Genres Stücken. Sein elegantes «Ov’ è condotto il mio amoroso dienen: stile?» ist mit seinen sanften Harmonien ein gutes Bei- «Anchor che col partire» (aus dem ersten Buch von spiel für ein Stück aus der Hochblüte der Spätrenais- 1550) ist ein wunderbares Beispiel für die «klassische» sance. Marenzio war, Alessandro Guarini zufolge, ein Madrigaltradition mit ihrem weich-fliessenden Duk- Musiker, «der seine Aufgabe vor allem darin sah, das tus und ihrer sanften Harmonik. Schon zu seiner Ent- Ohr nicht zu beleidigen, sondern es mit höchster Süsse stehungszeit wurde das Stück weithin berühmt, wie zu entzücken». Ganz anders in seinen späten Madriga-

154 155 len: hier bedient er sich einer ziemlich experimentellen Es ist Claudio Monteverdi (1567–1643) zu verdan- Chromatik. Dies zeigt besonders deutlich sein neuntes ken, wenn das Madrigal bis heute bekannt und beliebt Buch fünfstimmiger Madrigale (1599). Interessanter- ist. Obwohl zur letzten Hochblüte der Madrigalkom- weise wurde diese Sammlung begeistert aufgenom- ponisten gehörend, gelang es Monteverdi, das Prinzip men, wie Nachdrucke und Kopien zeigen. ins Extrem gesteigerten Ausdrucks in einen Rahmen Gegen Ende des 16. Jahrhunderts ging die Um- zu integrieren, der es dem Genre erlaubte, Eingang in wandlung des Madrigals in die «Zielgerade». Kompo- die Musik des 17. Jahrhunderts zu finden. nisten wie Carlo Gesualdo und Claudio Monteverdi Unsere hier vorgestellte Auswahl von Madrigalen gingen mit dem Genre einen Schritt weiter auf dem erlaubt einen Blick auf die Umgestaltung durch Mon- Weg, den Rore gebahnt hatte, und schufen, was sie als teverdi wie auch auf verschiedene Aufführungsprakti- eine neue pratica bezeichneten. Carlo Gesualdo (1561– ken. Das letzte Madrigal des Programms, «E così a poco 1613), adliger Autodidakt, war, wie Emilio de’ Cavalie- a poco», zeigt das Miteinander des polyphonen Satzes ri schreibt, «krankhaft von Musik besessen». Und eine mit der neuen monodischen Schreibart für general- gewisse Verrücktheit – vor allem vor dem Hintergrund bassbegleitete Solostimmen. seiner Zeit – ist in der Tat ein Charakteristikum von Zur Verteidigung der Madrigale Claudio Mon- Gesualdos Musik. In jungen Jahren bereiste Gesual- teverdis führte sein Bruder Cesare an, im Stile der se- do die musikalischen Zentren Italiens und traf auf die conda pratica zu schreiben heisse nicht mehr und nicht führenden Komponisten seiner Zeit. Unter ihnen war weniger, als dem von Cipriano de Rore, «il divino», der Erfinder des Archiliuto, der Gesualdo zwei seiner vorgezeichneten Weg zu folgen. Kein Wunder, dass Instrumente verehrte. Die Stücke Piccininis, die wir sich im Werk des Rore-Verehrers Monteverdi star- in unser Programm aufnahmen, wurden zwar einige ke Anklänge an dessen Experimente wiederfinden. Jahrzehnte später veröffentlicht, doch tatsächlich ge- In der oben angeführten Kadenz in Rores «Mia beni- hörte er Gesualdos musikalischer Generation an. gna ­fortuna» etwa benutzt Rore den ungewöhnlichen Die Kompositionen Gesualdos inspirierten den Ton as auf dem Wort «morte». Im zweiten Teil seines Neapolitaner Scipione Lacorcia (ca. 1585–1620), des- ­«Rimanti in pace» vertont Monteverdi das exakt gleiche sen Madrigale in ihrer musikalischen Sprache sogar Wort mit exakt der gleichen Note – wohl mehr als ein noch über Gesualdo hinausgehen. Sie stellen einen de- zufälliges Zusammentreffen … Dieser musikalische kadenten Schlusspunkt in diesem Zweig der Entwick- Snapshot ist nur eine von vielen Verbindungen zwi- lung des Genres dar. schen zwei Generationen von Madrigalkomponisten, die das gleiche Ideal verfolgten: Poesie auf möglichst bewegende Weise in Musik zu setzen. Elam Rotem und Dan Dunkelblum

156 157 Profeti della Quinta

Mit Schwerpunkt auf der Musik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hat sich das Ensemble «Profeti della Quinta» zur Aufgabe gemacht, für ein heutiges Pub- likum lebendige und ausdrucksstarke Aufführungen zu gestalten. Dieses Ziel verfolgen die Sänger auf der Grundlage der historischen Aufführungspraxis, ins- besondere in Fragen der musikalischen Stimmungen, der Verwendung von Faksimileausgaben, überlieferter Improvisations- und Diminutionsweisen sowie Verzie- rungen. Im Kern besteht das A-cappella-Ensemble aus fünf männlichen Sängern, die aber – wenn erforderlich – auch mit Instrumentalisten und weiteren Sängern zusammenarbeiten. Das Ensemble wurde in der Region Galiläa () durch den Basssänger und Cembalisten Elam Rotem 2011 gewann das Ensemble die «York Young Artists gegründet. Zurzeit ist es in der Schweiz ansässig, wo Early Music Competition» und verbrachte eine Woche seine Mitglieder weiterführende Studien an der Basler in Mantua, wo es für den Dreh eines Dokumentarfilms Schola Cantorum absolvieren. Sie alle leben und wir- über Salomone Rossi engagiert war («Hebreo: The ken weiterhin in Basel. Search for Salomone Rossi», 2012). Die «Profeti della Quinta» widmen sich in For- www.quintaprofeti.com schung und Aufführung einem bisher vernachlässig- ten Repertoire, wie Emilio de Cavalieris Lamentationes (1600) (Live-Übertragung auf DRS2 im April 2011) und Salomone Rossis Hashirim asher li’Shlomo (1623), der ersten mehrstimmigen Veröffentlichung in Hebräisch, die sie für Pan Classics unter grossem Beifall der Kritik auf CD eingespielt haben. Das Ensemble war anver- schiedenen Festivals (Oude Muzieks Utrecht, Festival von Vlaanderen, Biennale Alter Musik Berlin u.a) und Spielorten in Europa und Israel zu Gast. Im Sommer

158 159 24 Programm

I Donnerstag, 29. August 2013 All ye whom love or fortune (Book I, 1597) 12.15 Uhr Fantasie Nr. 73 Peterskirche Who ever thinks or hopes (Book I, 1597) Alumni 3, Mittagskonzert Can she excuse (Book I, 1597)

«Awake, sweet Love» II Lieder und Lautenmusik von John Dowland Sir John Smith, his Almain David Munderloh, Tenor Think’st thou then by feigning (Book I, 1597) Julian Behr, Laute Awake sweet love, thou art returned (Book I, 1597) Solus cum sola I saw my lady weep (Book II, 1600)

III A shepherd in a shade (Book II, 1600) Shall I strive with words to move (A Pilgrim’s Solace, 1612) A piece without title Sorrow, stay (Book II, 1600)

IV Mourn, day is with darkness fled (Book II, 1600) In darkness let me dwell (A Musical Banquett, 1610) Lachrimae Come, heavy sleep (Book I, 1597)

160 161 Zum Programm Kontrapunkt und Harmonik, wie es so noch nicht zu hören gewesen war. Was für eine seltene und wunderbare Gelegenheit, die Mit John Dowlands zweitem Buch (1600) zeigt Musik des wohl einflussreichsten englischen Kompo- sich etwas Bemerkenswertes. Hier beginnt, wie An- nisten von Airs miteinander zu teilen! thony Rooley treffend formuliert, Dowlands «janus- John Dowland war sich seiner Position sehr be- köpfiges Wesen» sichtbar zu werden. Während eines wusst als jemand, der einerseits in einer langen Tradi- längeren Italienaufenthaltes mit dem Ziel, Marenzio tion von Lied-Veröffentlichungen auf dem Kontinent kennenzulernen, hörte Dowland die neue italienische stand, der andererseits zu Hause in England die Spitze Musik Caccinis und anderer Florentiner Zeitgenos- neuer Entwicklungen markierte. Kurz, ein Komponist, sen. Auch wenn Dowland selbst nie die Grenzen des der Bewahrer wie stilistischer Neuerer in einer Person streng auskomponierten Lautensatzes zugunsten des war und der die Gattung zur Blüte bringen sollte, die basso continuo sprengt, so verwendet er doch die Eigen- wir heute als Lute song kennen. heiten des neuen monodischen Stiles mit grosser Raffi- Zwar gab es in England bereits früher Veröffentli- nesse und grossem Erfolg. chungen von mehrstimmigen Madrigalen und anderen In dem meisterhaften Lied «Sorrow, stay» hören Gattungen – von Byrd, Morely und anderen. Bis zum wir beispielsweise nicht nur Ausrufe des Sängers («do Erscheinen von Dowlands First Booke of Songes and Ay- not, oh do not my heart affright»), sondern auch intro- res 1597 jedoch waren Drucke für nur einen einzigen vertierte Tonwiederholungen auf dem Wort «pity». Solosänger unbekannt. Die nächsten 25 Jahre brachten Die beiden Schlusszeilen zählen wohl zu Dowlands dann nicht allein weitere vier Bookes von Dowland, genialsten Eingebungen: einerseits höchst «englisch» sondern mehr als 20 ähnliche Arbeiten anderer Kom- in der Behandlung des Textes «But down, down, down, ponisten. down I fall, And arise I never shall», andererseits auf Während seines Pariser Aufenthaltes 1580–1584 völlig Caccini’sche Art und Weise gefangen in aus- in Diensten des englischen Botschafters, Sir Henry weg- und hoffnungslosem Leiden des poetischen Cobham, lernte Dowland unzweifelhaft die Airs de Subjekts. Cour kennen. «Awake, sweet love» oder die Galliarde In «I saw my lady weep», dem ersten Stück des «Can she excuse my wrongs?» zeigen deutlich dieses Bandes, beginnt die Laute in der Einleitung mit Dow- französische Vorbild mit dem Einbezug von Tanz- lands späterhin berühmt gewordenen Lachrymæ-Mo- rhythmen und starker Verwurzelung in der strophi- tiv. Der Vokalpart variiert diese fallende Linie sofort, schen Form. Allerdings: War der Lautenpart im Air de gefolgt von zwei steigenden Quarten auf den Worten Cour schlicht und unaufwendig, so zeigte Dowlands «And sorrow proud to be advanced so» – ein typisches neuer englischer Stil ungleich reicheres Handwerk in Lamento-Symbol des 17. Jahrhunderts.

162 163 Dowlands monodischstes Lied ist wohl auch ei- Zu den Solostücken nes seiner berühmtesten: «In darkness let me dwell». Es vereinigt alle Künste Dowlands, sowohl als englischer Fantasia No. 73: Diese virtuose Fantasie ist nicht mit Lautenist und Komponist von Airs, als auch als voll- Sicherheit John Dowland zuzuschreiben, jedoch spre- endeter Komponist im neuen italienischen Stil. Wenn chen viele deutlich «dowlandsche» Phrasen und Melo- Dowland den Text «thus wedded to my woes» mit einer diebildungen für den grossen englischen Komponisten. steigenden Quart vertont, um daraufhin die Melodie Das Manuskript ist stellenweise unklar, es ergeben «bedded to my tomb» innerhalb eines Halbtones zu hal- sich deshalb je nach Interpretation unterschiedliche ten, so sind auch wir als Hörer unmittelbar ins Grab Varianten. gebannt, unfähig, uns zu erheben. Vom Beginn des Sir John Smith, his almain: Ein Stück, dessen Tei- Vokalparts und dem Ende mit seinem abschliessenden le bzw. variierte Teile nicht dem gewohnten Schema Stossseufzer (der wiederum das Lachrymæ-Motiv auf- für diesen Tanzsatz entsprechen. Welchem «Sir John scheinen lässt) bis zu der rhythmischen Wortmalerei Smith» das Stück gewidmet ist, wissen wir nicht si- auf die Worte «hellish, jarring sounds» ist es nicht über- cher, der Name «John Smith» war in England äusserst trieben, dieses Stück für eines der besten zu halten, die häufig. Zu Dowlands Zeiten kam z.B. Sir John Smith jemals in englischer Sprache geschrieben wurden. of Essex in Frage, vielleicht aber auch der Abenteurer- Unser Programm umreisst die gesamte Breite von kapitän Sir John Smith. Dowlands Werk, von seinem Anknüpfen an die Tra- Solus cum sola: Die Pavane, deren Titel man mit dition des Air de Cour bis hin zu seinen letzten musi- «ein Einsamer mit einer Einsamen» übersetzen könn- kalischen Formulierungen, die den Weg aufzeigen zu te, ist uns in vier Quellen überliefert. Wie Dowland einem völlig italianisierten Stil. zu diesem poetischen Titel kommt, welchen Bezug er Vielleicht ist es für uns alle eine wertvolle Erfah- herstellen möchte, wissen wir nicht. rung, ein wenig janusköpfig zu werden beim Interpre- A piece without title: Dieses Kleinod findet sich in tieren und Anhören der Musik des heutigen Abends … einem Manuskript ohne nähere Bezeichnung. Es steht David Munderloh, Julian Behr zwischen einigen grossen Werken Dowlands und könnte gut von ihm stammen. Lachrimae: Die bekannteste und sicherlich verbrei- tetste Komposition Dowlands, in ganz Europa für un- terschiedlichste Instrumente und Instrumentierungen zu finden. Das Incipit haben Komponisten auch für eigene Werke übernommen. Julian Behr

164 165 Zu den Ausführenden

Der Tenor David Munderloh, aus San Francisco stam- mend, lebt heute in Basel. Sein Repertoire umfasst Werke aus den unterschiedlichsten Epochen, von englischen Lautenliedern der Renaissance bis hin zu Liedern des 19. Jahrhunderts. Auch in der zeitgenös- sischen Musik ist er zu Hause; dies belegt u.a. die Grammy-Auszeichnung seiner CD mit «Chanticleer» im Jahre 2000. Ein Fulbright-Stipendium ermöglichte ihm eine 3-jährige Weiterbildung und ein Masterstudium zur Vertiefung der Kenntnisse in historischer Aufführungs- praxis an der Schola Cantorum Basiliensis. Er studierte bei Gerd Türk und bei Hans-Joachim Beyer (Leipzig). Wertvolle Anregungen zur Gestaltung des englischen Julian Behr absolvierte zunächst ein Studium in klassi- Lautenlieds gab vor allem Anthony Rooley. scher Gitarre und Laute bei Prof. Dr. Mario Sicca und Auf der Opernbühne erhielt er u.a. Beifall als «The Robert Barto an der Hochschule für Musik und darstel- Madwoman» in Benjamin Brittens Kammeroper Cur- lende Kunst in Stuttgart. lew River, sowie als Acis und als Damon in Händels Nach einem Aufbaustudium in Laute bei Joachim Acis und Galatea, als Don Ottavio in Mozarts Don Gio- Held am Hamburger Konservatorium studierte Julian vanni und als Pilade in Händels Pasticcio Orest. Behr Alte Musik und Lauteninstrumente an der Scho- David Munderloh hat regelmässig Konzertver- la Cantorum Basiliensis in Basel bei Hopkinson Smith. pflichtungen als Solist bei «The Consort» mit Bis 2011 war er Dozent an der Musikhochschule Andrew Lawrence-King, «La Grande Chapelle» (Mad- Nürnberg. rid), «Collegium Vocale Gent» (Philippe Herreweghe), Es erfolgten Auftritte bei Festivals in den meis- und «Hespèrion XXI» (Jordi Savall) sowie mit vielen ten Ländern Europas und in Südamerika mit u.a. dem ­Barockorchestern Europas. belgischen Ensemble «Ausonia», mit der «Akademie David Munderloh ist auf zahlreichen Aufnahmen für Alte Musik Berlin», mit «Al Ayre Espagnol», Peter zu hören. Es erfolgten Radio- und Fernsehübertragun- Kooj und «sette voci» sowie mit den Altisten Franz gen; Konzertreisen führten den Tenor in die USA, in Vitz­thum und Andreas Scholl. Zusammen mit dem die meisten europäischen Länder und oft nach Fernost. Tenor David Munderloh widmet Julian Behr sich dem

166 167 englischen Lautenlied im 17. Jahrhundert. Neben solis- 25 tischen- und kammermusikalischen Projekten ist die Mitwirkung an Barockopernproduktionen ein Bestand- Spielte Janus Laute? teil seiner Arbeit, u.a. an den Opernhäusern in Ham- John Dowland als Europäer, sein Leben (und Lifestyle)– burg, Berlin, Amsterdam und Brüssel. ein Jubiläum im Jahr 2013! Anthony Rooley

Auf den doppelgesichtigen Gott Janus beziehe ich mich im Titel, weil es sehr offensichtlich ist, dass John Dowland in seinem Wesen wie in seiner Lebensfüh- rung gewisse janushafte Züge trägt. Da dieser Ver- gleich so noch nicht gezogen wurde, muss ich seine Hintergründe erklären. Es ist ausdrückliches Ziel dieses Textes, die Um- stände zu umreissen, die zu dieser Perspektive führen, und unterdessen werden wir interessante Details der Geschichte, der Einflüsse, Persönlichkeit, Psychologie kennenlernen – sowie das Faktum einer «künstlichen künstlerischen Persönlichkeit» zu kreativen wie sym- bolischen Zwecken. Wir begehen gegenwärtig den 450. Geburtstag des im Jahr 1563 geborenen John Dowland. Es war eine schwierige Phase der englischen Geschichte: Eu- ropa war geteilt in die Einflussbereiche der Römischen Kirche und der protestantischen Bewegung. Nur fünf Jahre zuvor, 1558, hatte Königin Elisabeth I. den Thron bestiegen, und die englischen Bestrebungen, eine pro- testantische Führung zu erhalten, waren mit Macht aktiv. John Dowlands Jugendjahre sind ohne diese Umstände nicht vorstellbar. Er begleitete als 17-Jäh- riger Sir Henry Cobham nach Paris, als Repräsentant der Königin und des protestantischen Glaubens in ei-

168 169 ner geteilten Stadt. Nach dem Massaker der Bartholo­ 1590er-Jahren unternahm Dowland, auf einem Eselsrü- mäusnacht 1572 brachen unsichere Zeiten an, bis der cken sitzend, eine solche Italienreise. Gemächlich ging Hugenotte Henry IV. im Jahr 1589 gekrönt wurde und es durch Norddeutschland, mit Besuchen beim Herzog ein gewisses Mass an Ordnung und Ruhe einkehrte. von Braunschweig, später Moritz Landgraf von Hes- Was die Musik betraf, so muss für den im Auf- sen, dann südwärts durch Bayern und zweifellos durch bruch befindlichen Dowland der fruchtbare Ausstoss die Universitätsstadt Basel – die Ziele aber waren Ve- der Pariser Druckindustrie der 1570er-Jahre faszinie- nedig und Florenz! Fast zwei Jahre war er unterwegs rend gewesen sein – das war etwas anderes als die – auf wessen Kosten? Es ist durchaus nicht undenkbar, träge Musikproduktion zu Hause in London! Ich höre dass die Reise offizielle Unterstützung genoss als ein einen weitreichenden Einfluss dieses französischen subtiles Mittel, zu erkunden, welche Staaten, Städte Stils in Dowlands First Booke of Songes 1597 – ein me- und Regierende dem protestantischen England nütz- lodischer Einfluss sicherlich, aber noch klarer ein Stil lich sein konnten. Immerhin: Dowlands Fähigkeiten des vierstimmigen Satzes, in dem die Franzosen feder- als Musiker öffneten ihm allerorten die Türen, wäh- führend waren. Und doch sehen wir Dowlands Ayres rend er «undercover» wertvolle Informationen an seine heute als genuin englische Kompositionen. Seine An- Verbindungsleute in London weitergab … Wir wissen eignung der französischen Vorlage war ebenso meis- zuverlässig, dass sich ein grobes Schema herausbilde- terhaft, wie sie den grundlegenden Bedürfnissen der te, nach dem der protestantische Norden eine Verei- englischen Sprache entsprang. nigung anstrebte, um Europa für alle Zukunft von der Doch ebenso assimilierte Dowland italienische Macht Roms und der Inquisition zu befreien. Ein wei- Elemente. Seine Bewunderung für Luca Marenzio be- terer Fall eines janusköpfigen Dowland? wog ihn 1594 zu einer Italienreise mit dem Ziel, den In Deutschland kaufte Dowland ein in Augsburg Meister zu treffen. Im First Booke zitiert Dowland «Ahi 1517 gedrucktes Lehrwerk: den Micrologus des Andre- dispietate morte» als klare musikalische Referenz in sei- as Ornithoparcus. Darin findet sich eine grundlegende nem Lied «Would my conceits». So schaut Dowland ei- musikalische Unterweisung für Sänger aufgrund eines nerseits zurück auf den Stil eines Claudin de Sermisy Regelwerkes, wie es dem Verständnis zum Beginn des in Paris, wie er vor 1570 gedruckt wurde, andererseits 16. Jahrhunderts entsprach. Kurioserweise übersetz- schaut er voraus auf die aktuellen Entwicklungen im te Dowland dieses Werk fast hundert Jahre später in Italien der späten 1580er-Jahre: eine Janus-Gestalt, die aktuelles Englisch und gab es 1609 heraus! Dowland Alt und Neu mit gleicher Leidenschaft umarmt. kannte sehr wohl Giulio Caccinis Nuove Musiche und Es sollten noch zwei Jahrhunderte ins Land ge- die darin enthaltenen fortschrittlichen Ideen, ent- hen, bevor Englands junge Adlige die berühmte «Grand schloss sich aber, ein konservatives Buch diesen Alters Tour» geniessen würden, doch bereits in den frühen zu übersetzen... Einmal mehr: Janus?

170 171 1612 veröffentlichte John Dowland sein viertes – man denke an «Come away», «Come sweet love» oder Booke of Ayres unter dem eloquenten Titel «A Pilgrims «The golden morning breaks» als exquisite Darstellung Solace» (Ein Pilgertrost). Dowland ist nun, wie er im unvermischter Freude! Und tiefsinnige Lieder wie «In Vorwort der Sammlung schreibt, 50 Jahre, weisshaa- darkness let me dwell» zielen auf einen Kreis von Dich- rig, und beginnt sein Alter zu spüren. Er beklagt sich tern, Künstlern und Adligen, die ein Hang zur Geheim- über die «jungen Lauten-Professoren», die ihn als «old- philosopie verband, wie sie in den Schriften Giordano fashioned» bekritteln und schreibt zu seiner Verteidi- Brunos ihren Höhepunkt fand. Diese Schriften wiede- gung, es gebe «blinde Sänger», die die grundlegenden rum hatten tiefen Einfluss auf die Entwicklung einer Gesetzmässigkeiten des Hexachords nicht kennen, die «esoterischen protestantischen Philosophie», wie sie doch für alle gut ausgebildeten Musiker der Christen- sich in vielerlei Verkörperungen über ganz Nordeuropa heit der letzten 800 Jahre verpflichtend sind! Dieser so verstreut manifestierte. Man nannte diese Bewegung unverhohlen vorgetragene Konservatismus wird vom «rosenkreuzerische Aufklärung», sie wurde in Verbin- Inhalt des Pilgrims Solace gleichermassen belegt wie dung gebracht mit dem Florentiner Philosophen Marsi- konterkariert, versteht Dowland es doch meisterlich, lio Ficino, und sie wurde als «hermetische Philosophie» alte Regeln und neuen Stil in Einklang zu bringen. Da apostrophiert. Dowlands adlige Mäzene – der Earl of gibt es klaren, von Caccini inspirierten monodischen Essex, Sir Henry Lee und eine Reihe anderer –waren Stil – verbunden mit komplexem polyphonem Satz. allesamt daran höchst interessiert. Wollte man etwas ersinnen, das die Eigenschaften «ra- Janus hätte seine helle Freude gehabt an diesem dikal» und «konservativ» gleichermassen illustriert, so Stand der Dinge! wäre dieser Band ein Musterbeispiel. Er schaut nach hinten wie nach vorn, und legt nahe, dass Janus in der Tat die Laute spielte – und zwar ausserordentlich gut! Zeitgenössische Autoren beschreiben Dowland als «lobenswerten Mann, der sein Leben in rechtschaffe- nem Behagen zubringt», und doch verbinden wir mit seinem Namen vor allem Lieder tiefster Melancholie. Dieser offenkundige Widerspruch klärt sich aufs Zu- friedenstellendste, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die Einrichtung einer «artistic persona» einen all- täglichen Bestandteil kreativer Arbeit des 16. Jahrhun- derts darstellte. Und tatsächlich sind ja keineswegs alle 87 Lieder Dowlands melancholisch gestimmt

172 173 26 Programm

«Ich werde Euch Lust bereiten, mein Liebster, und Donnerstag, 29. August 2013 Euch dahin bringen, wohin Eure Hoffnung strebt» 18 Uhr Peterskirche Claude Gervaise (ca. 1510–nach 1558) Pavane – Gaillarde (instr.) «Joyssance vous donneray» Chansons und Madrigale von Arcadelt, Lasso, Palestri- Claudin de Sermisy (1490–1562) na, Sermisy u.a. über Liebe, Trauer und Sehnsucht Au joly bois

Arianna Savall Figueras, Sopran Pierre Sandrin (ca. 1490–1566) Doulce mémoire Ensemble Il Desiderio, Leitung: Thomas Kügler Thomas Kügler, Ildikó Kertész, Sarah van Cornewal – Tilman Susato (ca. 1500–nach 1570) Renaissancetraverso Doulce mémoire, à trois (instr.) André Henrich, Holger Faust-Peters – Viola da Fini le bien (Response, instr.) Gamba Pierre Certon (1512–1572) Fini le bien

Thoinot Arbeau (1520–1595) Joissance vous donneray (Basse danse)

Claudin de Sermisy Joyssance vous donneray

Pierre Cadéac (16. Jh.) Je suis déshéritée

174 175 Jacotin (16. Jh.) Zum Programm Je suis déshéritée (instr.) Joyssance vous donneray erzählt von der intimen Welt Roland de Lassus (ca.1558–1617) französischer Chansons und italienischer Madrigale des Susanne ung jour 16. Jahrhunderts. Die Sopranistin Arianna Savall und (Giovanni Bassano, 1591) das Instrumentalensemble «Il Desiderio» unternehmen eine Reise in eine musikgeschichtliche Epoche des Um- Claudin de Sermisy bruchs, in der das gesungene Lied als Vorlage für inno- Tant que vivray vative und experimentelle Instrumentalbearbeitungen diente. Das Programm Joyssance vous donneray bietet bei- Giorgio Mainiero (ca. 1535–1582) des: Die Stimme Arianna Savalls und deren Widerhall Pass’e mezzo antico – Saltarello (instr.) durch das Ensembles Il Desiderio, das die Dynamik der Chansons und die Innigkeit der Madrigale farbenreich Cipriano de Rore (1516–1565) erklingen lässt. Anchor che col partire Während sich in Italien um 1600 bereits das mo- (Riccardo Rogniono: Passaggi per potersi, 1592) nodische Zeitalter (seconda pratica) durchzusetzen be- gann, liessen sich Musiker in ganz Europa bis ins frühe Vincenzo Ruffo (ca. 1508–1587) 17. Jahrhundert von den mehrstimmigen Liedern des La gamba in basso e soprano (instr.) 16. Jahrhunderts (prima pratica) zu experimentierfreu- El Travagliato (instr.) digen Vokal- oder Instrumentalbearbeitungen inspi- O felici occhi miei (instr.) rieren. Zahlreiche Diminutionen/Passeggiati, Glosas oder Fantasien zeugen von der Variationskunst dieser (ca. 1507–1568) wichtigen Epoche. Sie ebneten den Weg zu einer ganz O felici occhi miei eigenständigen, emanzipierten und schliesslich von der Vokalmusik losgelösten Instrumentalmusik, in der die Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525/26–1594) musikalischen Fähigkeiten des Einzelnen in den Vor- Vestiva i colli dergrund gerückt wurden. In der Renaissance, wie auch im Barock, versuchte man die menschliche Stimme mit den jeweiligen Instrumenten so authentisch wie mög- lich nachzuahmen. Es galt also, mit den Möglichkeiten des Instruments und den Fähigkeiten des Spielers eine eigenständige musikalische Sprache zu entwickeln.

176 177 Die Ausführenden Ihre Leidenschaft für alte Musik und Improvisati- on führt Arianna Savall Figueras zum anderen Extrem: Arianna Savall Figueras der zeitgenössischen Musik – einem Gebiet, auf dem Geboren in einer katalanischen sie intensiv mit dem Schweizer Komponisten Conrad Musikerfamilie in Basel, be- Steinmann und den estnischen Komponisten Helena gann sie ihr Studium der klas- Tulve und Arvo Pärt zusammenarbeitet. sischen Harfe bei M. Barrera, Ihre Werdegänge als Sängerin und Harfenistin ver- und das Gesangsstudium bei einen sich sowohl in ihren Soloplatten «Bella Terra» M. D. Aldea am Konserva- und «Peiwoh» (Alia vox), auf der sie eigene Kompositi- torium von Terrassa. Sie hat onen interpretiert, als auch in ihren Auftritten mit ihrer sich auf das Spiel historischer Gruppe auf zahlreichen Festivals. Harfen und den Gesang in der Singen und sich dabei auf der Harfe begleiten ist alten Musik an der Schola Can- eine uralte Tradition, die Arianna Savall Figueras mit torum Basiliensis spezialisiert. Hilfe der alten Musik und neuer musikalischer Kreatio- Als Solistin musiziert sie mit verschiedenen Ensemb- nen wieder aufleben lassen will. les, wie Hespèrion XXI, Rolf Lislevand Ensemble, La 2009 gründete sie mit ihrem Partner, Petter Udland Fenice, Melpomen Ensemble, Ricercar Consort, Mala Johansen, das Ensemble «Hirundo Maris», das auf alte Punica, Vox Clamantis, Il Desiderio, Ensemble Cello Musik und eigene musikalische Kreationen speziali- Octet Amsterdam, Capella Antiqua Bambergensis, Le siert ist. Mit «Chants du Sud et du Nord», ihrer neuen Baroque Nomade, Main-Barockorchester Frankfurt … Aufnahme bei ECM, kombiniert sie neue Musik mit und arbeitet mit Dirigenten wie ihren Eltern, Jean Tu- historischen Instrumenten, eine musikalische Reise, bery, Olari Elts, Jaan-Eik Tulve, Tonu Kaljuste, Manel bei der sich das Alte und das Neue die Hand geben. Valdivieso, Pascal Crittin und Andrew Lawrence-King www.ariannasavall.com und andern zusammen. Arianna Savall Figueras kann bereits Auftritte in «Il Desiderio» vereint junge Spezialisten für Alte Mu- Europa, Skandinavien, den USA, Südamerika, Austra- sik und wurde vom Flötisten Thomas Kügler 1998 lien, Japan, China, Neuseeland und Israel verzeichnen. ins Leben gerufen. Seither trat das Ensemble auf ver- Zahlreiche Aufnahmen von Konzerten und Opernpro- schiedenen Konzertpodien auf, u.a. Tage Alter Musik duktionen spielte sie v.a. bei Alia Vox, ECM, Naïve, Sopron, Mommenta Münsterland, Kultursommer Han- Harmonia Mundi, Aeolus und CAB ein, viele davon nover, Musikplus Hall, Muziekbiennale Niederrhein, mit Preisen dotiert. Die internationale Presse nennt sie Festspiele Europäische Wochen Passau. Die Debüt-CD «Die Fee der Harfe». des Ensembles mit französischen Chansons des 16.

178 179 Thomas Kügler (Block- und Tra- versflöte) wurde in Esslingen geboren, wo er seinen ersten Unterricht auf Block- und Tra- versflöte erhielt. Er absolvierte sein Block- und Traversflöten- studium bei Konrad Hünteler und Jerôme Minis in Münster jeweils mit der Reifeprüfung. Weitere Studien führten ihn zu Pedro Memelsdorff nach Mai- land sowie zu Jed Wentz ans Conservatorium van Amsterdam, wo er sein Solisten- diplom erhielt. Als Solist und auch als Mitglied verschiedener En- sembles und Orchester für Alte Musik spielte er zahl- reiche Konzerte, bei Rundfunkaufnahmen und auf CDs innerhalb Europas, in Japan und in Taiwan. 1998 Jahrhunderts erschien 2003 und wurde inzwischen gründete er das Ensemble «Il Desiderio», das sich be- mehrfach ausgezeichnet («Diapason», «Le monde la sonders der Vokal- und Instrumentalmusik des 16. und musique»). In Koproduktion mit dem Deutschland- 17. Jahrhunderts widmet. funk folgte 2008 eine CD-Einspielung italienischer Neben seiner Tätigkeit als Flötist widmet sich Madrigale des 16./17. Jahrhunderts. Il Desiderio Overo, Thomas Kügler auch der Herausgabe von Flötenmu- De Concerti di varij Strumenti Musicali ist der Titel von sik (Amadeus) und seiner Lehrtätigkeit. Er gibt Kurse Ercole Bottrigaris 1594 in Venedig erschienenem als Gastdozent in Taiwan und unterrichtet Block- und Traktats über theoretische und praktische Fragen der Traversflöte am Conservatoire de Musique de Luxem- damaligen Instrumentalmusik. Heute steht «Il Desi- bourg und an der Hochschule für Musik Saar. derio» für den Wunsch eines international beachteten jungen Ensembles, seinen Beitrag zur historischen Aufführungspraxis zu leisten und unter Einbeziehung eines farbenreichen instrumentalen Klangkörpers Alte ­Musik dem heutigen Publikum nahezubringen.

180 181 27 Trägerschicht waren es im wesentlichen bürgerli- che Tugenden wie Leistungsbewusstsein und Ar- «Virtuoso così raro» – beitsamkeit, die, auch noch unter absolutistischen die Diminutionspraxis als Weg zur Virtuosität im Vorzeichen, Begriff wie Entwicklung der Virtuosen 16. Jahrhundert prägten», stellt Hans Werner Heister fest.8 Tatiana Durisova Eichenberger* Die Bezeichnung «Virtuose» ist nicht nur im Zu- sammenhang mit der Musik, sondern allgemein mit «Virtuoso così raro» – so beschreibt 1568 Pierluigi di dem Handwerk, d.h. mit der materiellen Produktion Palestrina in seinem Brief an den Herzog von Man- entstanden. Daher bezieht sich dieser Terminus im tua den Hofkapellmeister Giaches de Wert.7 Palestri- Hinblick auf Musik nicht nur auf die Reproduktion, na bewegte sich mit dieser Wortwahl an vorderster resp. Interpretation, sondern auch gleichzeitig auf Front der Entwicklung seiner Zeit. Der Begriff virtuoso die Produktion einer musikalischen Komposition. begann sich nämlich gerade in der zweiten Hälfte des Als musikalischer «Virtuose» wurde in der Zeit, als 16. Jahrhunderts in Italien durchzusetzen. Abgeleitet der Begriff in Gebrauch kam, eine Doppelbegabung wird der italienische Begriff virtù vom lateinischen von Interpret und Komponist bezeichnet. Vorausset- virtus, was so viel wie Tugend, Tapferkeit, Tüchtig- zung einer solchen personellen Verbindung ist eine keit, Leistung oder Mannhaftigkeit bedeutet. Als Vir- Auffassung, die Komponieren, Ausführen und Impro- tuoso wurde daher ein an virtù Reicher, d.h. ein sich visieren nicht als Gegensätze betrachtet, sondern als durch ungewöhnliche intellektuelle, künstlerische, verschiedene Aspekte derselben Sache. physische oder ethische Fähigkeiten Auszeichnender Am deutlichsten kommen diese Aspekte in der oder ein aus dem Durchschnitt Herausragender be- sogenannten Diminutionspraxis zusammen, einer zeichnet. Aufführungsweise, die zwischen der schriftlich fi- Das Erscheinen dieses Begriffs wird sehr eng xierten Form eines musikalischen Werks und einem mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft in musikalischen Vortrag oszilliert, der sich nicht in der Verbindung gebracht. «Es ist sicher kein Zufall, dass Wiedergabe eines vorgegebenen Textes erschöpft, der Terminus Virtuose in einer Epoche entstand, in sondern die Musik verziert und sich dabei auf Kon- der allmählich die sich herausbildende bürgerliche ventionen, Erinnerungen und Entscheidungen des Gesellschaft gegenüber der feudalen zur Hegemonie Vortragenden im Augenblick der Ausführung verlässt. gelangte; ungeachtet der oft aristokratisch-höfischen Es ist eine «Praxis der nicht schriftlich fixierten Aus-

7 Vgl. Reimert, Erich: Artikel «Virtuose», in: Eggebrecht, Hans Heinrich 8 Heister, Hans Werner: Artikel «Virtuosen», in: Finscher, Ludwig: Die (Hg.): Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Wiesbaden 1972, Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, S.1. Bd. 9, Kassel: Bärenreiter, 1998, Sp. 1725.

182 183 und Umgestaltung einer vorgegebenen Melodie», wie Formeln zu erwerben. Die Grundregel lautete, die Veronika Gutmann konstatiert.9 passaggi mit der Hauptnote der originalen Melodie an- Die ersten Zeugnisse in Form von Begriffen (wie zufangen und aufzuhören, damit die Melodie und vor z.B. florificatio vocis, longa florataoder infloratura)oder allem der Kontrapunkt erhalten bleiben. von schriftlichen Berichten (einerseits über den sehr Natürlich führten Übertreibungen beim Diminu- freien Umgang der Cantores mit den musikalischen ieren öfter auch zu einer Art von Barbarismus, wozu Vorlagen, andererseits Klagen über unmässiges Ver- sich in verschiedenen Zeiten zahlreiche zeitgenössi- zieren) lassen sich bereits ins 12. bis 13. Jahrhundert sche Kritiken finden lassen. Angeblich verkraftete es verfolgen.10 Die frühesten musikalischen Belege ei- zum Beispiel Josquin Desprez (nach einem Bericht von ner Verzierungspraxis tauchen in den Fragmenten der Johannes Manlius 1562) nicht, dass ein Sänger seine englischen Orgeltabulaturen des Robertsbridge Codex Kompositionen verzierte: «Als […] jemand bei einem (ca. 1360) und in weiteren Quellen aus dem 14. und seiner Gesänge Verzierungen anbringen wollte, die er 15. Jahrhundert wie z.B. im Codex Faenza, im Codex nicht gesetzt hatte, ging er auf den Chor zu und fuhr Reina und in den Groningen-Fragmenten auf. Die vir- jenen heftig vor allen Zuhörenden an: ‹Du Esel, warum tuose Diminutionspraxis berührte folglich alle mögli- fügst du eine Verzierung hinzu? Wenn ich es gewollt chen Gattungen von Motetten bis hin zu Frottolen und hätte, würde ich sie selbst angebracht haben. Wenn du Madrigalen. Verziert wurden meist bekannte populäre eine fertige Komposition verbessern willst, dann mach Lieder älterer, jedoch auch zeitgenössischer Meister. dir selbst eine, lass aber meine unverbessert!›»12 Die Diminutionspraxis wird seit dem zweiten Nicht nur also die Virtuosität im technischen Sinn, Drittel des 16. Jahrhunderts in Lehrwerken dokumen- sondern auch im guten Geschmack machten in der tiert.11 Das Prinzip des Diminuierens lag im Auflösen Zeit des 16. Jahrhunderts einen «Virtuoso così raro» aus. der langen Notenwerte und in deren Ersatz durch feste melodische Formeln aus vielen kleinen Noten. Diese Diminutionsfiguren sollten auswendig in Sequenzen über den ganzen Umfang aufwärts und abwärts ge- übt werden, um so einen Vorrat an stereotypisierten 9 Vgl. Gutmann, Veronika: «Einführung: Zwischen ‹Improvisation› und ‹Komposition›», in: Erig, Richard (Hg.): Italienische Diminutionen. Die zwischen 1553 und 1638 mehrmals bearbeiteten Sätze, Zürich 1979, S. 9. 10 Vgl. Schering, Arnold: Aufführungspraxis alter Musik, Leipzig: Quelle und Meyer 1931, S. 15f., 121. 11 Siehe die Auflistung der wichtigsten Abhandlungen am Ende dieses Textes. 12 Osthoff, Helmuth: Josquin Desprez, Tutzing 1962, 2/1965, S. 82.

184 185 Die wichtigsten Diminutionstraktate: 28 –– Sylvestro Ganassi: Opera intitulata Fontegara (Ve- nedig 1535) –– ders.: Regola Rubertina (Venedig 1542/43) Donnerstag, 29. August 2013 –– Diego Ortiz: Tratado de glossas sobre clausulas... 20.15 Uhr (Rom 1553) Martinskirche –– Girolamo dalla Casa: Il vero modo di diminuir (Ve- nedig 1584) Vespri di Maestro Willaert –– Giovanni Bassano: Ricercare, Passaggi et Cadentie Die erste doppelchörige Marienvesper aus Venedig (Venedig 1585) (1550) –– ders.: Motetti, madrigali et canzoni francese... dimi- nuiti (Venedig 1591) Capilla Flamenca, Leitung: Dirk Snellings –– Richardo Rogniono: Passaggi per potersi essercitare Marnix De Cat, Rob Cuppens – Kontratenor nel diminuire (Venedig 1592) Tore Denys, Jan Caals, Laurens Wyns, Govaart –– Giovanni Battista Bovicelli: Regole, passaggi di mu- Haché – Tenor sica, madrigali e motetti passeggiati (Venedig 1594) Lieven Termont – Bariton Dirk Snellings – Bass Bart Jacobs – Orgel

Konzept und Programm: Dirk Snellings

186 187 Programm J. de Mantua – Adrian Willaert Psalm 126 Nisi Dominus

Vesperae Beata Maria Vergine – Adriaen Willaert Adriaen Willaert (ca. 1490–1562) Recercar VII à 3 Adriaen Willaert Introitus: Deus in adiutorium/ Psalm 147 Lauda Jerusalem Domine ad adiuvandum me festina gregorianisch

Annibale Padovano (1527–1575) Adriaen Willaert Toccata del 8 tono Hymnus: Ave maris stella

Adriaen Willaert (ca. 1490–1562) Adrian Willaert Benedicta es Per illud ave à 7 Ricercar X à 4

Adrian Willaert Giovanni Gabrieli (1554–1612) Ricercar I à 4 Magnificat à 8

J. de Mantua – Adriaen Willaert Annibale Padovano Psalm 109 Dixit Dominus Toccata del 3 e 4 tono

Adriaen Willaert Psalm 112 Laudate pueri

Adriaen Willaert Recercar I à 3

J. de Mantua – Adrian Willaert Psalm 121 Laetatus sum

188 189 Zum Programm

Zweifellos übertrifft die meisterhafte Vesper von Claudio Monteverdi alle vorhergehenden, sei es allein schon wegen der wundersamen Symbiose, die der alte und neue Stil (prima e seconda pratica) erstmals in unse- rer westlichen Kirchenmusik eingegangen sind, in der sich sowohl die intimste wie auch die überwältigends- te Musik miteinander in perfektem Gleichgewicht be- finden. Dass der Ansatz zu dieser mehrchörigen Poly- aus mit einer treffenden Vertonung des Inhaltes kom- phonie ungefähr um 1555 seinen Ursprung bei dem biniert. Flamen Adriaen Willaert hatte, scheint heute nahezu Im Kontrast zur Vesper von Monteverdi benutz- völlig vergessen zu sein. Als er 1527 als Kapellmeister te man in der Basilika von San Marco vor 1566 keine bei San Marco angenommen wird, hätte niemand es Instrumente. Dem reichen Klang von Posaunen und zu vermuten gewagt, dass diese Basilika und auch ihre Hörnern war der Zugang zu dieser Kirchenmusik un- Stadt Venedig auf musikalischem Gebiet in den kom- tersagt. Lediglich Knaben, erwachsene Sänger und die menden 35 Jahren in ganz Europa zu hohem Ansehen Orgel füllten diesen beeindruckenden Raum mit Mu- gelangen sollte. sik. Und im Gegensatz zu der allgemeinen Auffassung, Nach einer soliden musikalischen Ausbildung in dass diese salmi spezzadi oder mehrchörigen Psalme Flandern reist Willaert schon früh durch ganz Europa von den einander gegenüberliegenden Orgelemporen und kommt in Kontakt sowohl mit französischer wie im Chor von San Marco aufgeführt wurden, hat die auch mit italienischer Musik. Wie kein anderer kann neuere Forschung bewiesen, dass die Sänger an mehre- er diese Stile einander angleichen und in die Genres ren Stellen positioniert konnten, während sie die Ves- seiner Zeit integrieren. Diese vielseitige Fähigkeit in per sangen. Dies konnte sowohl medio ecclesiae (mitten der Polyphonie und seine Sensibilität, Emotion und in der Kirche) sein, wie auch am Altar, an der Südsei- Inhalt treffend in Musik umzusetzen, machen ihn be- te des Chores am pulpitum magnum cantorum oder an rühmt bei allen Musikliebhabern seiner Zeit. In den der Nordseite, am pulpitum novum lectionum. Der Chor, üppigen, doppelchörigen Psalmvertonungen von 1550 zusammengestellt aus ungefähr acht Chorknaben hört man sein einzigartiges Talent, das der jahrhun- und fünfzehn erwachsenen Sängern, war niemals ge- dertealten Einstimmigkeit der Vespergesänge eine bis meinsam zu hören. Willaert kümmerte sich sehr um dahin ungekannte Pracht verlieh und sie darüber hin- ihre vokalen Möglichkeiten und achtete auch auf ihre

190 191 Kenntnis in Kontrapunkt. Davon ausgehend teilte er Nicht nur für das hohe Niveau künstlerischer In- sie in Gruppen auf, was für ziemlich viel Irritation und terpretationen hat die «Capilla Flamenca» bereits meh- Rivalität sorgte. So weiss man aus zeitgenössischen rere Preise erhalten, sondern auch für die Leistungen Dokumenten, dass in San Marco vor allem responso- ihrer kulturellen und wissenschaftlichen Forschungen: rial gesungen wurde: die Polyphonie von Solisten und den «Premio II Filarmonico», den «Kulturpreis für Mu- dem Rest des Chores jeweils im Wechsel … sik» der flämischen Regierung 2005. Des weiteren er- hielt die Capilla Flamenca mehrere Auszeichnungen Das Vokal-Instrumental-Ensemble «Capilla Flamenca» für ihre CD-Einspielungen, darunter wiederholt den leitet seinen Namen vom Chor der Hofkapelle Kaiser «Choc du Monde de la Musique», «Diapason d’Or», Karls V. ab: Als dieser 1517 die Niederlande verliess, «Répertoire 10», zwei «Caecilia»-Preise der belgischen nahm er seine besten Musiker mit, damit sie ihn als Musikpresse sowie den «Klara Music Prize 2004». «lebendige Polyphonie» begleiten konnten. Heute setzt sich diese genau so genannte «Capilla Flamenca» aus spezialisierten Musikern, grösstenteils aus Flandern, zusammen und formt ein Ensemble, das die wunderbare Musik des 15. und 16. Jahrhun- derts in ihrer vollen Authentizität wieder zum Leben erwecken will. Der Vokalteil des Ensembles – heute 4 Männerstimmen (Kontratenor – Tenor – Bariton –Bass) – wird, je nach den Anforderungen des Programms, mit zusätzlichen Sängern, einer alta cappella (Blasinst- rumente), bassa cappella (Streichinstrumente) oder/und einer Orgel erweitert. Das transparente, mehrstimmige Klangbild der «Capilla Flamenca» verdankt sich der kreativen Zu- sammenarbeit zwischen Musikern, die den histori- schen, poetischen und vokaltechnischen Aspekten polyphoner Musik höchste Aufmerksamkeit entge- genbringen. Gemeinsam mit angesehenen Musikwis- senschaftlern widmet sich Dirk Snellings dem riesigen polyphonen Repertoire und gestaltet einzigartige und kunstspartenübergreifende Projekte.

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Freitag, 30. August 2013 18 Uhr Kunstmuseum,Vortragssaal, Eingang Picasso-Platz Vortrag 3 und Demonstration Die schönste Musikhandschrift der Welt Die Busspsalmen von Orlando di Lasso (1560–1570). Ein Weltwunder des 16. Jahrhunderts Dr. Andreas Wernli

«Die schönste Musikhandschrift der Welt» – angesichts der Prachthandschrift von Orlando di Lassos Busspsal- men kommt einem keine treffendere Umschreibung in den Sinn. Denn das im Auftrag des bayerischen Her- zogs Albrecht V. zwischen 1560 und 1570 hergestellte 400-seitige Chorbuch wurde vom Hofmaler Hans Mie- lich über- und überreich mit Miniaturen ausgestattet – ein einziger Bilderrausch mit hunderten von Szenen, die einen umfassenden, wirklichkeitsnahen Blick auf die Welt in der Mitte des 16. Jahrhunderts gewähren. Dieser Komplex aus Musik, Malerei, Theolo- gie und Alltagswelten fügt sich zu einem der grossen europäischen Kunstwerke zusammen. Die Autoren wussten das und sahen sich als «Erfinder eines neuen Weltwunders», das «vortrefflicher ist als die Pyramiden von Memphis … oder das Grabmal des Mausolus.» Sie richten sich an uns, «die nach vielen Jahrhunderten zu

194 195 all diesem immer wieder mit grossem geistigen Ver- 30 langen hingezogen sein und es betrachten werden.» Es ist, als ob sie uns eine Zeitmaschine bereitgestellt hät- Orland von Lassen, Musicus in ten, nicht ahnend, dass wir heute einen digitalen Mo- Bayeren tor einbauen können. Denn nicht nur lassen sich die S[amuel] Quick[elberg], 1568 Miniaturen mit einem Beamer in all ihrer Pracht zum (leicht modernisiert und gekürzt von Andreas Wernli) Leuchten bringen, nein, es ist auch möglich, die Seiten in einem Mass zu vergrössern, wie es die Damaligen nie gesehen haben.Willkommen zu einer faszinieren- Orlandus ist zu Bergen im den Zeitreise! Hennegau dess 1532 jar ge- boren. Wie er siben jar alt Andreas Wernli, Dr. phil., studier- worden, tathe man ihn zu te Musiktheorie und Musikwis- der schul, damit er in der senschaft in Zürich. Dort war er schrifft unterwisen wurde: in den Siebzigerjahren Dozent als er diese ergriffen, hat an Konservatorium und Musik­ er sich im 1539 jar mit al- hochschule sowie an der Uni- lem ernst auff die Musica versität und an verschiedenen und das gesang begeben, Volkshoch­schulen und Tagun- und ist durch sein hälle gen. Nach einem Intermezzo liebliche stimm männiglich als Export Marketing Manager angenehm gewesen. Wie einer Musikinstrumenten­firma leitete er in den Acht- er diese kunst erlernet und under den knaben gern ge- zigerjahren die Abteilung Musik beim Schweizer Ra- sungen, hat man ihn zu dreyen malen heimlich auss dio DRS. Seit den Neunzigerjahren ist Andreas Wernli der schul gestohlen. Er ist durch der elteren fleiss zu freischaffend in Musikvermittlung und -management zweyen malen wider heim gebracht worden. Zu dem tätig. dritten mal kam er nit wider, sondern verharret bey Ferdinando Gonzaga, dem Königlichen statthalter in Sicilia, welcher damalen vor S. Didier über die Kai- serlichen hauffen Oberster gewesen. Wie der Frant- zösische krieg ein end genommen, zog er mit ihm hinweg, und wohnet zum theil in Sicilia, zum theil in Mayland gern bei ihm, biss er nach sechs jaren ange-

196 197 fangen sein stimm zu mutieren. Also ward er mit 18 langet, das er fast allen Königen und Fürsten bekandt jar gen Neapel gefüret, da er dann bey Markgraff de worden, also das man in allen geistlichen und weltli- Laterza drey jar verharret. Nach diesem kame er gen cher Fürsten kirchen und höffen seine Compositiones Rom, und war dess Erzbischoff zu Florenz gast sechs und neuwe lieder gebrauchet. Es seind viel seiner mo- monat lang, biss er in der nammhafften Lateranischen tetten in vier, fünf, sechs, acht und noch mehr stim- kirch S. Johannis über die ganz Musicam ein Oberster men zusamen gesetzet, welche zu München, Venedig, geordnet. Wie er zwey jar da verharret und durch sei- Florenz, Neapel, Antwerpen, Lyon und Paris im druck ne krancke elteren wider heim berueffet, hat er sich aussgangen. Ich hab diesen Orlandum in der Fürstli- auff die reiss begeben, und seind diese gestorben, ehe chen Kapel zu München mit sampt anderen lieblich dann er heim kommen. Damalen ist er mit herr Julio hören singen, und mich darab verwunderet. Cesare Brancaccio, einem fürnehmen Musico, erstlich in Engelland, demnach in Franckreich gefaren, damit er die land besichtiget. Danach kame er wider gen Ant- werpen und lernet etliche edle fürnehme leut die Mu- sic kunst, von welchen er auch geliebet und reichlich geehret worden. Wie er dergestalt weit bekandt, warde er im 1557 jar von Albrecht, dem Fürsten in Bayeren und beson- deren liebhaber der Music, gen München berueffet: daselben ist er durch seine lieblichen Compositiones, freundliche geberden, gute possen und vieler spraa- chen erfahrung dem Fürsten sehr lieb gewesen. In volgendem jar warde ihm ein tochter auss dem Bay- erischen Frauwenzimmer [= eine Hofdame der Herzo- gin] verheiratet, von welcher er schöne kinder geboren bekam. Im 1562 jar warde er Oberster in der Music Kapell geordnet, da dann die fürnehmsten Musici auss mancherley Nationen zusamen kommen: er zoge oft gen Antwerpen und an andere ort, damit er dem Fürs- ten die besten sänger herzu brächte. Er hat wol in der jugent angefangen zu Componieren und an dem Bay- erischen hoff dermassen in dieser kunst erfahrung er-

198 199 31 Programm

1. Orlandus Lassus (1532–1594) Freitag, 30. August 2013 Psalmus poenitentialis VI: 20.15 Uhr a. De profundis clamavi à 5 Martinskirche b. Fiant aures tuae à 5 c. Si iniquitates à 5 «Musica reservata» d. Quia apud te à 3 Orlando di Lasso, «Busspsalmen» und «Prophetiae e. Sustinuit anima mea à 5 Sibyllarum» sowie Motetten von Jacob Clement, Jacobus f. A custodia matutina à 5 Gallus und Claude Le Jeune g. Quia apud Dominum à 3 h. Et ipse redimet à 4 Huelgas Ensemble, Leitung: Paul Van Nevel) i. Gloria Patri à 5 Superius – Poline Renou, Michaela Riener, Els Van j. Sicut erat à 6 Laethem Altus – Sabine Lutzenberger, Kaspar Kröner 2. Jacob Clement (1510/1515–1556) Tenor – Timothy Leigh Evans, Stefan Berghammer, a. Qui consolabatur me à 5 Tom Phillips, Matthew Vine b. Fremuit spiritu Jesus à 6 Baritonans – Frederik Sjollema Bassus – Carsten Krüger, Guillaume Olry 3. Orlandus Lassus a. Sibylla Delphica «Non tarde veniet» à 4 b. Anna mihi dilecta à 4

4. Jacobus Gallus (1550–1591) a. Homo quidam fecit coenam magnam à 4 und à 6 b. Mirabile mysterium à 5

5. Claude Le Jeune (1528/1530–1600) a. Veni sancte Spiritus à 6 b. Povre coeur entourné de tant de passions à 5 Finis

200 201 Zum Programm Musica reservata am profundesten auseinandergesetzt hat. Lasso wurde wahrscheinlich 1532 in Mons (Henn- Was man sich unter Musica reservata, diesem Begriff, gau) geboren. Seinen ersten Unterricht bekam er mit der in der Literatur des 16. Jahrhunderts ca. zehnmal 12 Jahren, im Dienst des Ferrante de Gonzaga. Wäh- Erwähnung findet, genau vorzustellen hat, ist bis heu- rend seiner Anstellung reiste er nach Frankreich und te nicht ganz geklärt. Am nächstliegenden ist die Deu- Italien. Ab 1556 lebte Lasso in München, wo er bei tung im eher «sozialen» Sinn, nämlich dass es sich um Herzog Albrecht V. angestellt war. In seinen ersten Jah- eine Musik handelt, die für bestimmte Menschen «re- ren war er nicht sehr glücklich. Er bekam zwar grosse serviert», d.h. also den Kennern vorbehalten ist und die Kompositionsaufträge, der Herzog verbot ihm jedoch, deshalb in Bezug auf ihre Faktur hohe Ansprüche an sie zu drucken, und betrachtete sie als Eigentum des das Verständnis stellt. bayerischen Hofs. Davon betroffen sind auch die zwei Die Quellen, die zur Interpretation des Terminus Zyklen Prophetiae Sibyllarum und die Septem Psalmi po- beitragen könnten, legen vier Bereiche nahe: enitentiales. Auch wenn wegen seiner guten Kontakte –– musikalische Textausdeutung, zu anderen Höfen befürchtet wurde, er könne Mün- –– Rhythmus, chen verlassen, blieb er bis zu seinem Tod am 14. Juni –– Chromatik und 1594 dort angestellt. –– Aufführungspraxis. Bei seinen Septem Psalmi Davidis poenitentiales han- Die bekannteste Beschreibung stammt von dem delt es sich um einen Zyklus von sieben Motetten, niederländischen Humanisten Samuel Quickelberg, deren Texten die Psalmen 6, 31, 37, 50, 101, 129 und der zu Lassos Busspsalmen schrieb: «Lasso, der – wo 142 zugrunde liegen. Das Werk entstand um 1560. Die erforderlich – den Gedanken und Worten klagende Kompositionen weisen einige Besonderheiten auf. Sie und traurige Töne unterlegte, die Stärke der einzelnen sind in verschiedene kürzere Einheiten geteilt und ent- Affekte unterstrich und den Gegenstand fast lebendig sprechen der Anordnung der Modi und einer aufstei- vor unseren Augen erstehen liess, drückte den Inhalt gend tonalen Abfolge, was dem ganzen Zyklus seinen dieser Psalmen so vollendet aus, dass man kaum sagen inneren musikalischen Zusammenhang verleiht. Tenor kann, ob die Süsse der Affekte die Klagetöne, oder die und Discantus zeigen den gemeinten Modus an. Bis ins Klagetöne die Süsse der Affekte noch reicher schmück- Jahr 1570 arbeitete der Münchner Maler Hans Mielich ten. Diese Art von Musik wird musica reservata ge- an der Prachthandschrift, die diese Stücke überliefern. nannt […]» Auf jeder Seite finden sich Miniaturen, Bibelszenen, Sehr häufig wird Orlando di Lasso in diesem Zu- die sich als Illustration zu Lassos Komposition deuten sammenhang genannt als derjenige Komponist jener lassen. Der Mielich-Kodex zählt zu den bedeutendsten Zeit, der sich mit den Prinzipien und Innovationen der Buchmalereien des 16. Jahrhunderts. Die Wiederentde-

202 203 ckung des Kodex im Die Produktivität 18. Jahrhundert führte des Franko-Flamen zu einer erneuten Be- Jacob Clement alias fassung mit Lasso und Clemens non Papa seiner Musik (vgl. den (1512–1555/56) wird Vortrag von An­dreas bis heute in Bezug auf Wernli über diese seine Qualität, aber Handschrift). auch seine Quantität Die ­Prophetiae völlig unterschätzt. Sibyllarum­ sind ein Das «Huelgas Ensem- Zyklus, der aus ble» konnte aus ei- zwölf sechszeiligen nem unermesslichen lateinischen Gedich- Fundus schöpfen: 15 ten und einem dreizeiligen Prolog besteht. Jedes der Messen, 233 Motetten, 2 Magnificat-Zyklen, 89 Chan- zwölf Gedichte hat die Prophezeiung einer Sibylle sons, 159 Souterliedekens, 8 niederländische Lieder zum Thema. Die Textausdeutung, auf die besonde- und 8 textlose Stücke konnten wieder aufgefunden ren Wert gelegt wurde, war wegen des Versmasses werden. Die schönsten davon nimmt das Ensemble öf- nicht gerade einfach. Lasso jedoch sah es als Her- ter in seine Programme auf. ausforderung an und meisterte diese mithilfe von 1585 erschien aus der Presse des Druckers Chris- Chromatik. Diese eignete sich besonders zur Affekt- toph Plantin in Antwerpen ein monumentaler Musik- ausdeutung und unterstreicht den mystischen Cha- druck, der die hohe Kompositionskunst von Claude rakter der Prophezeiungen zum Leben und Schaffen Le Jeune (ca.1530–1600), Frankreichs enfant terrible, Christi. Es ist fraglich, ob am bayerischen Hof, im bezeugt. Die Sammlung umfasst nicht weniger als 69 Rahmen des Laienoffiziums, tatsächlich der gesam- Werke, die zuweilen aus zwei bis zu sechs Teilen be- te Zyklus aufgeführt worden ist. Betrachtet man die stehen: französische Chansons (sowohl melancholisch Tonarten der einzelnen Stücke, liegt die Annahme als auch erotisch), Motetten (weltlich und liturgisch), nahe, dass sie paarweise aufgeführt worden sind. italienische Canzonetten und Madrigale in vier- bis Satz I und II sind mit dem Prolog verbunden und ste- sechsstimmigen Sätzen. Der Erfolg dieser Ausgabe war hen im G-Modus. Der II. und IV. Satz sind durch den dermassen gross (einige Exemplare wurden bis nach D-Klang zu Beginn aufeinander bezogen. Die restli- Lissabon verkauft), dass Plantin schon ein Jahr später chen Sätze sind wie Motetten durch prima und secon- eine zweite Auflage auf den Markt brachte. DieTexte ­ da pars verknüpft. stammen von grossen Dichtern, u.a. François Villon

204 205 und Francesco Petrarca. Das in diesem Programm zur Aufführung kommende Stück zeigt die überschäu- mende Fantasie von Frankreichs grösstem Komponis- ten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Daniela Supan*/Huelgas Ensemble

Die Ausführenden

Das «Huelgas Ensemble» wurde 1970 von Paul Van Nevel an der Schola Cantorum Basiliensis in Basel ge- gründet. Der Name bezieht sich auf eine Zisterzien- ser-Abtei nahe Burgos. Zunächst spezialisierte es sich auf zeitgenössische Musik, um jedoch bald schon die Musik des Mittelalters und der Renaissance zu seinem Anliegen zu machen. Durch die intensive Arbeit mit originalen Quellen und die daraus resultierenden Ver- öffentlichungen leistete es einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung früher Musik. Das Ensemble präsen- cal Award» und der Ehrenpreis der Académie Charles tiert ein eindrucksvolles Programm mit weithin unbe- Cros, der deutsche «Echo Klassik Award» sowie der kannten Komponisten wie Nicolas Gombert, Claude «Diapason d’or» Le Jeune, Johannes Ciconia, Das «Huelgas Ensemble» wird unterstützt von u.a. der flämischen Regierung und der Stadt Louvain. Die Aufführungen des Ensembles basieren auf Paul Van Nevel gründete das «Huelgas Ensemble» einer profunden Kenntnis der Vokaltechniken und zu Beginn der 1970er-Jahre an der Schola Cantorum -praktiken des Mittelalters und der Renaissance. Basiliensis. Ursprünglich vor allem mit zeitgenös- Mehr als 50 Aufnahmen entstanden vor allem für sischer Musik befasst, wendete er sich zunehmend Sony und Harmonia Mundi, unter den zahlreichen dem Repertoire des Mittelalters und der Renaissance Preisen finden sich so renommierte Auszeichnungen zu. Mit unermüdlicher Quellenforschung verbringt wie der der «Caecilia»-Preis der belgischen Musik- er die Hälfte seiner Zeit in Bibliotheken: seine Ver- presse, der «Choc del’Année» von «Le Monde de la öffentlichungen und Einspielungen spielen seit über Musique», der «Edison Award≤», der «Cannes Classi- 20 Jahren für die Entdeckung dieses unerschöpflichen

206 207 Repertoires eine wesentliche Rolle. Mit Leidenschaft 32 widmet er sich der franko-flämischen Vokalpolypho- nie, wofür er einhelliges Lob von Publikum und Fach- Internationale Musikwissenschaftliche Tagung kollegen erhält. Neben seiner Tätigkeit als Forscher und Workshop am Musikwissenschaftlichen und Dirigent ist Paul Van Nevel Gastprofessor am Seminar der Universität Basel Sweelinck-Konservatorium Amsterdam. Regelmässig bildet er darüber hinaus das Collegium Vocale Gent, Vom 29. bis zum 31. August 2013 den Nederlands Kamerkoor, den Chor der Nederland- se Bachvereniging und andere aus. Zahllose begeis- Cinquecento: Ästhetik des Hörens in terte Rezensionen und hochkarätige Auszeichnungen der Renaissance zeugen von seiner aussergewöhnlichen Arbeit, so er- hielt er unter anderem den Ehrenpreis der Académie Im Zentrum dieser Tagung und des Workshops, die Charles Cros (1994), den «Diapason d’Or» 1996, den vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Uni- deutschen Schallplattenpreis «Echo Klassik» 1997, den versität Basel in Zusammenarbeit mit dem Institut «Cannes Classical Award» 1998 und den «Choc de für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft l’année» 2000 von «Le Monde de la Musique». Die In- der Humboldt-Universität zu Berlin organisiert und terpretationen des «Huelgas Ensembles» schöpfen aus durchgeführt werden, steht die Frage nach Ästhetik einer gründlichen Kenntnis der Gesangstechniken, No- und Praxis des Hörens in der Renaissance. Einerseits tationen und Interpretationspraktiken des Mittelalters gilt es, im intensiven Dialog zwischen musikanaly- und der Renaissance, wovon über 30 Einspielungen tischen und musikhistorischen Untersuchungen die Zeugnis ablegen. Das «Huelgas Ensemble» ist Kultur- verschiedenen Ausprägungen ästhetischer Haltun- botschafter Flanderns. gen gegenüber den mannigfaltigen kompositorisch- stilistischen Entwicklungen zu eruieren. Andererseits sollen die Quellen aus dem musikalischen Bereich um Zeugnisse anderer relevanter Diskurse, von der Medizin über die Naturgeschichte bis zur Magie, Theologie und Poetik, ergänzt werden, um zu einer differenzierten Einschätzung des Status des Hörens zu gelangen. Was leistet das Ohr? Welche affektiven und kognitiven Eindrücke kann es empfangen? Ist die Wirkung jeweils unwillkürlich, oder werden auch Techniken des bewussten, konzentrierten Zuhörens

208 209 und der rationalen Steuerung der Wahrnehmung dis- matik und religiösem Wortverständnis. Freilich darf kutiert? man nicht bei diesen Dichotomiebildungen bleiben, Die Gegenüberstellung von rhetorischem und lo- vielmehr soll ein Kontinuum zwischen unterschiedli- gischem Denken, die in der Philosophiegeschichte als chen Hörhaltungen analysiert und reflektiert werden. Paradigma für die zwei Wissenskulturen zwischen Neben der musikanalytischen Untersuchung und dem 16. und 17. Jahrhundert gilt, kann produktiv auch der Auswertung musiktheoretischer Schriften sollen auf das musikalische Hören bezogen werden. Steht auch folgende thematische Schwerpunkte verfolgt einer Kultur der Rhetorik, die auf das Überreden und werden: auf die Berührung der Affekte zielt, eine Kultur des 1. eine sozialgeschichtliche Perspektive, die, aus- Logischen gegenüber, die auf das Überzeugen und Be- gehend von der Untersuchung historischer weisen hinaus will, so steht dementsprechend einem Quellen, der Frage nach den Hörweisen, die rhetorischen Hören ein logisches Hören gegenüber. nach Situation, sozialem Stand und Genre Können auch diese zwei Hörtypologien nicht als his- unterscheiden werden können, nachgeht und torische Kategorien angenommen werden, so sind sie nach möglichen Verhaltenskodifizierungen dennoch in der Lage, als Modalitäten der Wahrneh- fragt; mung in systematischer Hinsicht zu dienen und an die 2. eine literarische Perspektive, die, ausgehend historische Umbruchszeit zwischen Renaissance und von Quellen aus der Literaturgeschichte (Ge- Barock herangetragen zu werden. Bedeutet in diesem dichte, Prosa, Dramen, Epen), nach der Art Kontext der Ausdruck rhetorisches Hören einen äs- und Weise sucht, wie über das Hören gespro- thetischen Habitus des narrativen und affektiven Hö- chen wird und danach, in welchem Verhältnis rens, so bezeichnet das logische Hören die Fähigkeit, das Hören zum Sehen steht; komplexe Strukturen und syntaktische Gefüge zu er- 3. eine kunstgeschichtliche Perspektive, die, kennen. Dementsprechend liessen sich weitere begriff- ausgehend von Bildern, zwischen historisch- liche Gegensatzpaare aufstellen, die diese Modalitäten dokumentarischen Quellen und Kunstwerken des Hörens weiter zu präzisieren verhelfen: Ergriffen- unterscheiden sollte; heit und Staunen gegenüber erwartungsgemässem­ 4. eine naturphilosophische Perspektive, die, Vollzug, Emotionalität und Überraschung gegenüber ausgehend von Quellen aus der naturwissen- Verstehen und rationalem Formgefühl, meditative schaftlichen, medizinischen und magischen Hörhaltung gegenüber aktivem Hören und schliesslich Literatur, nach der physiologischen Funktion die Wahrnehmung überschwänglicher Klanglichkeit des Hörens, nach dem Stellenwert der Seelen- gegenüber dem Erkennen strukturierter Gestalten oder tätigkeiten und nach der Einwirkung auf die auch die Gegenüberstellung von wortgebundener Dra- seelische Disposition des Menschen fragt;

210 211 5. aus einer religionswissenschaftlichen Sicht 33 ist schliesslich auch die Art und Weise zu fo- kussieren, wie Menschen – etwa in religiösen Praktiken – durch das Hören trainiert oder – Samstag, 31. August 2013 etwa in der Magie – manipuliert werden. 12.15 Uhr Am ersten Tag werden in Form von Vorträgen Klingental die grundlegenden Aspekte vorgestellt. Im Rahmen Alumni 4, Mittagskonzert eines Workshops werden dann musiktheoretische, philosophische, theologische, literarische und natur- «Tout ce qui est de plus beau» wissenschaftliche Quellen zur Diskussion gestellt, um Französische Batailles und Chansons ideen- und mentalitätsgeschichtliche Resultate in Be- nach Ronsard und Baïf zug auf die kompositionsgeschichtlichen und musik­ ästhetischen Fragestellungen neu zu reflektieren und Thélème, Leitung: Jean-Christophe Groffe sie im Hinblick auf kulturhistorische Perspektiven zu Annie Dufresne – Sopran überdenken. Breno Quinderé – Haut Contre Matteo Nanni / Melanie Wald-Fuhrmann Lior Lavid Leibovici – Tenor Ivo Haun – Tenor Jean-Christophe Groffe – Bass Die Tagung und der Workshop finden statt im Vortragssaal Ziv Braha – Laute des Musikwissenschaftlichen Seminars, Petersgraben 27, 4051 Basel . mwi.unibas.ch

212 213 Zum Programm

Besondere Beziehungen verbinden die beiden Kompo- nisten unseres Programms, die beide treibende Kräfte für das musikalische und künstlerische Schaffen der Renaissance waren. Clément Janequins Werke prä- gen die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, und seine Titel-Vignette aus Pierre Phalèse, «Des Chansons…, reduits en tabulature de Programm-Chansons (La Bataille, Les Cris de Paris, Le Luth», Löwen 1547 Chant des Oyseaulx) wurden in ganz Europa ediert und verbreitet. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts ist in Frankreich von Claude Le Jeune dominiert. Aktives Programm Mitglied der berühmten «Académie de Poésie et de Musique», einer Gründung von Antoine de Baïf, be- Clément Janequin (ca. 1485–1558) gnügt sich dieser Komponist nicht damit, die Musik La Bataille durch Rückkehr zu den Prinzipien der Antike zu er- Vivons folastres neuern, sondern er beschäftigt sich auch – wie einige Bel Aubépin seiner Zeitgenossen, z.B. Guillaume Costeley oder An- thoine de Bertrand – mit theoretischen Forschungen, Claude Le Jeune (um 1530–1600) die in Italien u.a. von Nicola Vicentino getätigt wur- Tout ce qui est de plus beau dans les cieux den, und wendet in einigen seiner Werke eine extrava- Pôvre cœur entourné gante Chromatik an, etwa in «Qu’est devenu ce bel œil». Qu’est devenu ce bel œil Er fügt sich ganz in eine französische Tradition ein, La Guerre wenn er sich auch als feinfühliger Kenner seines Vor- läufers Clément Janequin erweist. So fügt er zu zwei Clément Janequin et Claude Le Jeune von dessen Chansons eine fünfte Stimme hinzu («Le Le Chant de l’alouette Chant de l’alouette und Le Chant de rossignol») und kom- Le Chant du rossignol poniert sogar eine Fortsetzung dieser Vogel-Chansons. In Anlehnung an Janequin’s Bataille schreibt er ein Stück namens La Guerre, vergleichbar den Kriegs- und Liebes-Madrigalen Monteverdis einige Jahre später (Madrigali guerrieri et amorosi, 8. Madrigalbuch, 1638) mit ihrer Gegenüberstellung von Mars und Venus.

214 215 Weshalb sollte man sich um die Zeit scheren, wenn man nicht von der Zeit abhängig ist, wenn man selbst entscheidet, wann man aufstehen, essen, arbeiten oder sich der Freude der Konversation widmen möchte? Der Name selbst ist Programm: «thelo» kommt aus dem Griechischen und bedeutet «ich will», so kann man Thélème mit «freier Wille» übersetzen Das Ensemble «Thélème» stellt die Stimme ins Zentrum seiner Arbeit und hinterfragt im szenischen Dialog die Beziehung zwischen Sänger und Publikum. «Thélème» verwendet Alte Musik als Rohmaterial zur Reflexion über die Rolle der Musiker in der Gesell- schaft. «Thélème» möchte mit anderen Sängern, Instru- mentalisten, Komponisten, Autoren, Tänzern, Cho- Mit ihren Verbindungen zu verschiedenen Akademi- reographen, Schauspielern, Regisseuren, Forschern und en (La Pléiade/Pierre de Ronsard, Académie de Poésie Kreativen in jeglichen Bereichen zusammenwirken, et de Musique/Jean Antoine de Baïf und Thibault de ganz dem Leitsatz von Rabelais getreu: «Tu, was du Courville), gleichzeitig vertraut mit den Bewegungen willst». der religiösen und humanistischen Reformatoren, sind Clément Janequin und Claude Le Jeune zwei Haupt- vertreter der musikalischen Renaissance in Frankreich.

Die Ausführenden «Thélème» ist ein professionelles Ensemble, das sich auf die Interpretation Alter Musik spezialisiert hat. Die Abtei Thélème ist eine von François Rabelais am Ende seines Romans Gargantua beschriebene Uto- pie. Thélème ist ein hexagonales Renaissanceschloss mit fünf Etagen, mit wertvollen Materialien gebaut. Thélème hat keine Umfassungsmauer, keine Uhren.

216 217 35 seit der Regierungszeit Franz’ I. bzw. seit Beginn des 16. Jahrhunderts prägen das künstlerische Schaffen der Claudin und Italien – beiden Länder stark. Diese Beziehungen wurden durch Der italienische Einfluss in die Heirat der Florentinerin Katharina de’ Médici mit dem künftigen Henri II. im Jahr 1533 noch verstärkt. Claude Le Jeunes Musik Der Austausch zwischen dem französischen Hof und Jean-Christophe Groffe Italien war vielfältig, und Frankreich zeigte sich sehr offen für italienische Künstler: Goldschmiede, Maler, Im Jahr 1570 wurde in Paris auf Initiative des Dich- Bildhauer … und Musiker. ters Jean-Antoine de Baïf und des Musikers Thibault Eine Reise nach Italien ist in der Renaissance fast de Courville die «Académie de Poésie et de Musique» ein Obligatorium für jeden europäischen Musiker ge- gegründet. Wie bei den neoplatonischen Akademien wesen. Zwar gibt es kein biografisches Zeugnis, das ei- in Florenz, lag die Zielsetzung dieses Unternehmens nen solchen Aufenthalt für Claude Le Jeune bestätigen in dem Versuch, die «Wirkungen» der Musik und der würde, aber sein ganzes kompositorisches Werk ist Dichtung wiederzuentdecken, die man seit der Antike von italienischem Geist geprägt. 14 der Musik zuschrieb. Dazu setzte man «(…) en usage la Das Milieu, in dem er sich entfaltet, ist ein Spie- Musique selon sa perfection, qui est de représenter la parole gelbild des Hofes, und seine Gönner halten sich sogar en chant accomply de son harmonie et melodie, qui consis- alle länger in Italien auf. François und Odet de la Noue tent au choix, regle des voix, sons et accords bien accomodez und Charles de Téligny aus dem Umkreis von Le Jeune pour faire l’effet selon que le sens de la lettre le requiert, (…) absolvieren dort ihren Militärdienst, sprechen die Spra- renouvellant aussi l’ancienne façon de composer (…).»13 Un- che und betätigen sich gelegentlich sogar als Autoren ter den Musikern, die an der Arbeit dieser Akademie poetischer Werke auf italienisch. Jean-Antoine de Baïf, beteiligt waren, war und blieb bis heute Claude Le Jeu- der Gründer der «Académie de Poésie et de Musique», ne, neben Jacques Mauduit oder Eustache du Caurroy, an der Le Jeune teilnahm, ist in Venedig geboren, wo zweifellos der bekannteste. Er ist um 1530 in Valenci- sein Vater Lazare Botschafter des französischen Königs ennes geboren, das damals zu den spanischen Nieder- war. Schlussendlich verfügte der Hof über zahlreiche landen gehörte. Nach einer brillanten Karriere, die er italienische Musiker, z.B. Alberto da Ripa, den Lauten- als Compositeur de la chambre Heinrichs IV. beschloss, virtuosen. Die ganze Umgebung Le Jeunes, Gönner, starb er im Jahr 1600. Kollegen, Freunde sind weitgehend bikulturell. Die engen Beziehungen Frankreichs und Italiens 14 Dieser Artikel übernimmt und konzentriert zahlreiche Aspekte aus 13 Auszüge aus den Statuten der «Lettres patentes de l’Académie de Poésie Isabelle His (Claude Le Jeune, un compositeur entre Renaissance et baroque, et de Musique», 1570. Actes Sud, 2000).

218 219 Claude Le Jeune ist ein grosser Kenner des italie- nischen Repertoires, und man findet in seinem Œuvre Trinke trink trink pon pokras mehr als vierzig canzonette15. Für diese Stücke verwen- Moy ne trinker haûtre fin det Claudin einfache dreistimmige Stücke, villanelle L’haûtre nut gout par mon foy alla napolitana oder villotte16, die er bearbeitet und zur Il m’a gorché l’estomal. Vier-, Fünf- oder Sechsstimmigkeit erweitert. Das «Entleihen» ist eine häufig verwendete Methode bei (Je bois, bois, bois du bon hypocras diesem Komponisten. Man findet sie auch bei den Je ne bois pas d’autre vin Chansons von Clément Janequin (L’alouette und Le ros- L’autre pas bon par ma foi signol), bei deren Bearbeitung Le Jeune gleichermassen Il m’engorge l’estomac.)17 vorgeht, indem er zusätzliche Stimmen und neue Teile hinzufügt. Der Humor dieser tudesque (publiziert 1608) wi- Zwei andere Beispiele für diese Methode bestäti- derspricht dem gelegentlich etwas steifen Bild, das gen den italienischen Geschmack Claudins: man von diesem gebildeten Hugenottischen Kompo- Der Komponist übernimmt ein weiteres Mal zwei nisten hat, und gibt einem extrem abwechslungsrei- Villotte aus ein und derselben anonymen Sammlung: Il chen Œuvre einen mediterranen Hauch. quinto libro de villotte alla napolitana (Venedig: Gardane, Obwohl das Madrigal vor allem eine italienische 1566). Die erste, «All’ arma all’ arma o fidi miei pensieri», Gattung ist, findet man doch auch in der französischen bietet das Ausgangsmaterial für den langen Zyklus La Musik madrigaleske Wirkungen. Sind die Programm- Guerre (1608), den Le Jeune aller Wahrscheinlichkeit Chansons von Janequin durch ihren Gebrauch von nach anlässlich der Hochzeit des Duc De Joyeuse 1581 Lautmalerei und Naturnachahmungsklängen nicht eine komponiert. Art Vorstufe der späteren «Madrigalismen»? In einigen Das zweite Beispiel ist noch köstlicher. Es han- seiner Chansons legt auch Le Jeune viel Wert darauf, delt sich um die Übersetzung einer Tedesca, eines den Text musikalisch genau nachzuzeichnen. Das ist Karnevalsliedes, das man gewöhnlich den Deutschen z.B. der Fall bei «Le chant du rossignol» (1603), einer unterschob wegen deren Hang zum Trinken. Die Wiederaufnahme eines Janequin-Chansons, und zwar «französische» Übersetzung, die Le Jeune verwendet, im 6. Teil.18 Die Worte «la tremblante » werden ist besonders spassig, wie der folgende kurze Auszug hier durch das «Zittern» der Achtelnoten im Halbton- zeigt: 17 Übersetzung ins moderne Französisch von Isabelle His, a.a.O., S. 233. 15 Publiziert hauptsächlich in der Sammlung Meslanges von 1585 18 Dieser 6. Teil ist ganz von der Hand Le Jeunes auf einen Text von (Antwerpen, Plantin). Guillaume de Salluste du Bartas. 16 Publiziert vor allem in Venedig zwischen 1555 und 1582.

220 221 abstand ausgedrückt (Beispiel 1). Zahlreiche ähnliche nera (diatonisch, chromatisch und enharmonisch) in Effekte (grosse Intervalle auf Textworte, die extreme den Werken von Guillaume Costeley oder Anthoine Affekte wachrufen, rhythmische Aktivität für die Be- de Bertrand. Auch wenn Le Jeune das Enharmonische schreibung physischer Bewegung u.a.m.) finden sich nicht in der Praxis verwendet, weil dessen Realisation häufig in der Musik Le Jeunes, die damit eine italieni- wegen der Vierteltöne schwierig bleibt, komponiert sche Strömung aufgreift, wie sie in ganz Europa ver- er doch einige chromatische Stücke. So benutzt die breitet ist. Chanson «Qu’est devenu ce bel œil» (1608), im Sinne der Beschreibung chromatischer Musik durch Vicentino21, Beispiel 1 die charakteristischen Intervalle des griechischen Tet- rachords (Beispiel 2). Beispiel 2

Ein anderes Stück Le Jeunes setzt diese Theorie in die Praxis um, und zwar die Chanson spirituelle «Povre Auch von der italienischen Musiktheorie ist Clau- cœur entourné de passions» (1585). Ihr Text besteht aus din sehr stark beeinflusst. Obwohl er selber keinen ei- einem Zehnzeiler mit Alexandriner-Versen. Komi- genen Traktat hinterlassen hat, kann man einige seiner scherweise könnte diese Verbindung fast widersprüch- Werke als veritable Umsetzungen von italienischen lich erscheinen. Denn der Zehnzeiler ist die im 15. und Theorien in die Praxis ansehen. So nimmt sein Dodéca- beginnenden 16. Jahrhundert vorherrschende poeti- corde von 1598 die modalen Theorien Giozeffo Zarli- sche Form, wogegen der Alexandriner im 17. Jahrhun- nos19 auf. Ebenso findet man den Einfluss der Arbeiten dert der Vers par excellence für die Tragödie wird. Auf von Nicola Vicentino20 auf die drei musikalischen Ge- 21 Quarte, Quinte und Oktave sind die allen drei Genera gemeinsamen 19 Istitutioni harmoniche, 1573 (1. Ausgabe 1558, bald danach ins Intervalle, während das chromatische Tetrachord von der kleinen Terz und Französische und ins Deutsche übersetzt). dem Halbton charakterisiert ist und das enharmonische durch die grosse Terz 20 L’antica musica ridotta alla moderna prattica, 1555. und den Viertelton.

222 223 diese Weise wird schon der Text zum Scharnier zwi- Beispiel 4 schen Renaissance und Barock. In der musikalischen Ausführung folgt Le Jeune sehr deutlich dieser Antino- mie. Das rhythmische Profil der Imitation(Beispiel 3)

Beispiel 3

Quasi ein autobiographisches Zeugnis, widerspie- gelt diese Chanson spirituelle das Wesen ihres Kompo- nisten zur Zeit des Übergangs von der Renaissance zum Barock, zwischen Flandern und Italien, inspiriert von der Vergangenheit und gleichzeitig entschieden erinnert an eine franko-flämische Motette des 15. Jahr- modern. hunderts, aber die extravaganten melodischen Linien mit ihrer Chromatik und deren harmonischen Konse- quenzen sind definitiv modern. Le Jeune steigert dieses Spiel mit Anachronismen bis ins Extrem und verwen- det einmal sogar eine archaisierende «Unterterz»-Klau- sel im Tenor (Beispiel 4).

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Samstag, 31. August 2013 19 Uhr, 18.30 Uhr Einführung Münster zu Basel Abschlusskonzert Claudio Monteverdi, Marienvesper (1610) Leitung: Philippe Pierlot

Céline Scheen, Adriana Fernández – Sopran Pascal Bertin, Jan Börner – Altus Julian Podger, Hans Jörg Mammel, Valerio Contaldo, Canaletto, San Marco, 1723/24 Reinoud van Mechelen – Tenor Stéphan Mac Leod, Salvo Vitale – Bass Programm

Ensemble Oltremontano, Leitung: Wim Becu Claudio MONTEVERDI: Adrien Mabire, Judith Pacquier, Serge Delmas – «Vespro della Beata Vergine Cornetto da concerto composta sopra canti fermi« Adam Woolf, Adam Bregman – Posaune Wim Becu – Bassposaune 1. Domine ad adiuvandum sex vocibus & sex instru- mentis Ricercar Consort, Leitung: Philippe Pierlot Assumpta est Maria in coelum: gaudent angeli Sophie Gent, Tuomo Suni – Violine laudantes benedicunt Dominum Giovanna Pessi – Harfe 2. Dixit Dominus sex vocibus & sex instrumentis Eduardo Egüez – Theorbe 3. Nigra sum Motetto ad una voce Maude Gratton – Orgel Maria virgo assumpta est ad aethereum thalamum, Philippe Pierlot – Viola da Gamba in quo rex regum stallato det solio 4. Laudate Pueri Dominum à 8 voci sole nel Organo

226 227 5. Pulchra es Duabus vocibus Ricercar Consort – Philippe Pierlot In odorem unguentorum tuorum currimus: ­adolescentulae dilixerunt te nimis 1985 machte das «Ricercar Con- 6. Laetatus sum sort» seine erste Tournee mit J. S. 7. Duo Seraphim à 3 voci Bachs Musikalischem Opfer – und Benedicta filia tu a Domino: quia per te fructum wurde schnell international be- vitae communicavimus kannt für seine Interpretationen von Kantaten und Instrumen- * talmusik des deutschen Barock. Viele Konzerte folgten mit be- 8. Nisi Dominus à 10 rühmten Künstlern wie Henri 9. Audi coelum Ledroit, Max van Egmond und Pulchra es et decora, filia Jerusalem: terribilis ut James Bowman. castrorum acies ordinata Während der letzten Jahre 10. Lauda Jerusalem leitete Philippe Pierlot das Ensem- 11. Sonata sopra «Sancta Maria« ble. Es entstanden sowohl Kammermusik- als auch Exaltata est sancta Dei genitrix super choros Orchesterproduktionen, in denen auch die Viola da ­Angelorum ad coelestia regina Gamba eine wichtige Rolle spielt. 12. Hymnus: Ave maris stella Die Aufnahmen stiessen beim Publikum wie bei Capitulum: In omnibus requiem quesivi, et haere- der internationalen Presse auf enthusiastische Reso- ditate Domino morabor. Tunc praecepit, et dixit nanz: «De Aeternitate», zusammen mit dem Contra- mihi Creator omnium: et qui creavit me, requievit tenor Carlos Mena, erhielt den «Diapason of the Year in tabernaculo meo. 2002» und begründete eine fruchtbare Kooperation Hodie Maria virgo coelos ascendit: gaudete, quia zwischen dem «Ricercar Consort» und dem französi- cum Christo regnat in aeternum. schen Label Mirare unter René Martin. Gamben-Fanta- 13. Magnificat septem vocibus & sex instrumenti sien, Vivaldis und Pergolesis «Stabat mater», oder aber Hodie Maria virgo coelos ascendit: gaudete, quia «Valoroso» –- italienische Kammermusik von Bertali, cum Christo regnat in aeternum. Aufnahmen von Bach-Kantaten, sowie vor kurzem Bachs «Magnificat»: das Ensemble vermittelt dem Pub- likum der weltweit bedeutendsten Festivals Alter Mu- sik diese Werke mit unverminderter Leidenschaft und höchster Professionalität.

228 229 37 für diesen prestige- trächtigen Posten, Claudio Monteverdi: und es kommt zur Lebenskrise und -wende Probeaufführung sei- Andreas Wernli ner Musik. Wir ken- nen das Programm nicht, wohl aber die Mit vierzig ist Claudio Monteverdi ganz oben: Sein Zahlungslisten für L’Orfeo bildet 1607 einen Meilenstein der Opernge- die Proben und das schichte, ein Jahr darauf feiert L’Arianna ihren Erfolg. Konzert, und die le- Mit vierzig ist Claudio Monteverdi ganz unten: Seine gen nahe, dass die Frau Claudia stirbt – er wird nicht wieder heiraten. Marienvesper oder Ein Jahr darauf stirbt auch seine Ziehtochter Caterina einzelne Sätze da- Martinelli, kurz bevor sie die Arianna hätte singen sol- raus in einem Got- len. Überall berühmt, gilt der Musiker an seinem Hof tesdienst erklungen wenig – die Gonzaga von Mantua halten ihn kurz. sind. Monteverdi be- Also sieht er sich nach einem neuen Dienstherrn um, kommt die Stelle und einem Kirchenmann womöglich. Deshalb schreibt er damit beginnt für ihn sein erstes grosses Meisterwerk geistlicher Musik, eine das Leben, das er Claudio Monteverdi (1567–1643) im Alter Marienvesper. Er hat sie ohne Auftrag teils neu kom- sich gewünscht hat: von 30 Jahren, um 1597, anonym poniert, teils wohl aus bestehenden Sätzen zusam- angesehener Kapell- mengestellt und im Druck herausgegeben, als Summe meister in einer von Musik überschäumenden Met- seines ganzen Könnens in allen damals üblichen Stilen. ropole. Dreissig Jahre lang, bis zu seinem Tod, wird Sie erscheint 1610 und ist keinem Geringeren als Papst er das traditionsreiche Amt ehrenvoll und meisterlich Paul V. gewidmet. verwalten. Im Herbst 1610 geht er damit nach Rom, dringt je- doch nicht bis zum Papst vor und muss unverrichteter Die Marienvesper – Dinge wieder abziehen. Aber dann überstürzen sich eine neue Art von Kirchenmusik die Ereignisse. Im Februar 1612 wird Monteverdi in Die grossen Höhepunkte geistlicher Musik sind in Mantua entlassen und ist arbeitslos. Da geschieht das erster Linie Messen – etwa Bachs h-Moll-Messe, Beet- Unerwartete: Im Jahr darauf stirbt der Kapellmeister hovens Missa solemnis, Mozarts und Verdis Requi- am Markusdom, sofort ist Monteverdi im Gespräch em – oder dann die Oratorien und Passionen von Bach

230 231 und Händel. Monteverdis Vesper bildet da eine Aus- nahme, denn zu seiner Zeit war die Vesper gegenüber der traditionsbehafteten Messe vom Musikalischen her interessanter, weil ihr Ablauf praktisch ausschliess- lich aus vertonbaren Teilen bestand: das den Psalmen entnommene Eingangsstück, fünf Psalmen, eine Li- tanei, ein Magnificat und ein Hymnus; dazwischen geistliche Konzerte. Der Name bezieht sich auf das la- teinische Wort vesper, Abendstern – also ein Abendgot- tesdienst, der sich beinahe beliebig in die Länge ziehen liess. Ein Engländer, der 1608 in Venedig weilte, war ganz begeistert von dem, was er da vernahm: «… die beste Musik, die ich je in meinem Leben gehört hatte, so gut, dass ich jederzeit gerne hundert Meilen zu Fuss gehen würde, um wieder etwas Derartiges zu hören. Dieser Festgottesdienst bestand beinahe ausschliess- lich aus Musik, vokal und instrumental, so gut, so köstlich, so aussergewöhnlich, so bewundernswert, so superausgezeichnet, dass es selbst jene Fremden hin- riss, die noch nie dergleichen gehört hatten. Er begann um fünf Uhr abends und hörte nicht vor acht Uhr auf.» Und was ist das Besondere an Monteverdis Ma- rienvesper? Gleich der Beginn zeigt es: Die Fanfare aus dem «Orfeo», der Oper, die ihn drei Jahre zuvor berühmt gemacht hatte, ist ein Fürstenstück – viel- waren. Die Vesper also als ein konzertanter höfischer leicht sogar die Hoffanfare Mantuas; im Untertitel Festgottesdienst, in dem sich ein Fürst wie der Herzog verweist der Komponist darauf, dass das Werk nicht von Mantua, aber auch der Papst oder die Signorie von bloss «für Kirchenchöre», sondern auch «für Kapellen Venedig spiegeln konnte. oder fürstliche Kammern» gedacht sei. Damit wird es Es gibt verschiedene Psalmfolgen für die Ves- zur repräsentativen höfischen Festmusik – ein geistli- per – etwa für Sonntage, Weihnachten oder Feiertage ches Gegenstück zum «Orfeo» und den anderen Opern männlicher Heiliger; Monteverdi wählte diejenige für dieser Jahre, die ja auch noch dem Hof vorbehalten Marienfeste aus; sie gilt für alle weiblichen Heiligen.

232 233 Die Psalmen – ihre Sprache ist oft drastisch kriege- gregorianische Melodien wären, sondern weil sie in der risch, jubelnd auch, und bedient sich zum Teil uns Tradition der Rezitation von Psalmen stehen, wo es da- nicht mehr direkt zugänglicher Bilder – sind gleichsam rum geht, den Text möglichst direkt, verständlich und die alttestamentliche, männliche und fürstliche Seite schnörkellos auszusprechen. Monteverdi braucht sie in der Marienvesper. Deren Held ist Gottvater, und damit voller Absicht. Mit dieser in Formstrenge gefasste Frei- konnte sich ein Fürst jener Zeit fraglos identifizieren. heit, diesem Ineinander von Inbrunst, Askese und Sinn- Auch wenn für die damalige Interpretation der Bezug lichkeit macht er aus der Marienvesper eine Musik voll auf Christus und die Kirche von grosser Bedeutung ist, explosiver Energie, voll Zartheit auch und voller Leucht- wird der Gottessohn in der Vesper nur am Rande oder kraft, die durch vier Jahrhunderte strahlt und ihm den indirekt genannt. Ehrentitel «Oracolo della Musica» eingetragen hat. Die zweite Hauptfigur ist die Muttergottes: drei der vier geistlichen Konzerte sowie die drei letzten Stücke (Litanei, Magnificat und Hymnus) bilden den marianischen Teil der Vesper mit Zitaten aus der Lie- besdichtung des Hohen Liedes. Die Kombination dieser Texte kommt so nur bei Monteverdi vor; er hat einzel- ne Stellen sogar leicht abgeändert. Der künftige Priester scheint also sehr bewusst ein auch theologisch stimmi- ges Ganzes zusammengestellt zu haben: Monteverdis ganze Schaffenskraft und sein gan- zes Können liegen in der aufwendig angelegten Ves- per – sie bildet die Summe all dessen, was damals die Musikwelt begeisterte: Mächtige, vielstimmige Chöre stehen ausdrucksstarken Solostücken gegenüber, und die eben erwachende Instrumentalmusik zeigt sich in vollem Glanz. Überbordende Fantasie in prächtigem Klanggewand auf der einen Seite, auf der anderen da- gegen scharfe, selbstauferlegte Disziplin: Drei Viertel des Werks sind an gregorianische Weisen gekettet – ja, gekettet, denn es sind eintönige, musikalisch un- interessante, ewig gleiche Psalmmelodien mit vielen Tonwiederholungen. Nicht weil sie etwa schlechte

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... und in Basel? Peter Reidemeister

Wie und was wurde in Basel musiziert in der Zeit un- seres Festtage-Repertoires vor und um 1600? Verfolg- te man hier die neuen Strömungen, die sich in erster Linie südlich der Alpen abspielten, oder neigte man eher zu Bekanntem und Hergebrachtem? Wissen wir überhaupt etwas über das Musikleben in dieser Stadt während der musikalischen Umbruchszeit zwischen Renaissance und Barock? Ein Beispiel sei herausgegriffen, um der Antwort näherzukommen. Der Themenzeitraum dieses Festivals stimmt überein mit den Lebensdaten von Felix Platter (1536–1614), dem grossen Mediziner und Naturwissen- schaftler, Stadtarzt, Hochschullehrer und Humanisten in Basel, Freund des Juristen Basilius Amerbach (1533– 1591) und des Goldschmieds Jacob Hagenbach (1532?– 1665). Hans Bock d.Ä. malte ihn 1584 im spanischen Outfit à la mode (siehe Abbildung). In diesen humanis- tischen Kreisen wurde eifrig musiziert, nachdem Platter schon in Montpellier während seines Medizinstudiums Aufsehen durch seine musikalischen Künste erregt hatte und bei seinen Mitstudenten als «l’Alemandt du Lut» galt; mit Thiebolt Schönauwer kennen wir sogar den Namen seines Lautenlehrers; auch Harfe, Viola da Gamba und Tasteninstrumente soll er gespielt haben; seinem Halb- bruder Thomas II. hinterliess er nach seinem Tod eine grosse Menge «Instrument und Bücher zu der Musik Hans Bock d. Ä: Felix Platter mit exotischen Pflanzen und antiken Ruinen, 1584 gehörig». Regenzzimmer des Kollegienhauses der Universität Basel

236 237 Durch die Studien des amerikanischen Musik- eller) deutscher Übersetzung! Eine Praxis, die in der wissenschaftlers John Kmetz22 haben wir Einblick in damaligen Zeit keine Ausnahme darstellte, war man das Musizieren dieses Freundeskreises, sind doch in doch damals der fremden Sprachen nicht allenthalben der Universitätsbibliothek Basel wichtige Handschrif- mächtig, und trotzdem wollte man verstehen, was ten aus jener Zeit erhalten, und zwar in erster Linie man sang. solche, die nur die Noten, nicht den Text der Stücke Die Schola Cantorum Basiliensis hat bereits vor 25 wiedergeben. Hagenbach, der musikbegeisterte Gold- Jahren diese Zusammenhänge in der Praxis erkundet schmied, hat sie zusammengetragen und kopiert, und in Zusammenarbeit mit Dr. Rudolf Suter für die Lieder des gängigen Renaissance-Repertoires: franzö- Aussprache der deutschen Texte, mit Radio DRS und sische Chansons und italienische Madrigale des 16. dem Label «Musikszene Schweiz» (heute «Musiques Jahrhunderts, meistens die international bekannten, Suisses») eine CD herausgebracht, die diese in Platters die «Evergreens» sozusagen. Lange rätselte man daran Übersetzung aufgeführten Lieder mit Instrumentalmu- herum, auf welche Weise wohl diese Musik aufgeführt sik verband, die damals in Basel bekannt war. wurde und heute aufzuführen sei? Rein instrumental? Auf Grund dieser Beschäftigung unter wissen- Bis John Kmetz herausfand, dass der Grossteil dieser schaftlichem und musikpraktischem Aspekt können Musik übereinstimmt mit deutschen Übersetzungen, wir mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, Um- und Neutextierungen der original französischen dass es – zumindest in Laienkreisen – das traditionel- oder italienischen Texte aus der Feder von Felix Platter! le französische und italienische Repertoire aus ihrer Auch dessen entsprechender Gedichtband, unter dem Jugendzeit war, das die musikbegeisterten Freunde in Titel «Sammlung allerhand meist lächerlicher (d.h. ihren Mussestunden musizierten. Hagenbach hatte die fröhlicher) Gedichte» wird in der Basler Bibliothek auf- Musik aus verfügbaren Handschriften abgeschrieben, bewahrt. Darin ist jeweils mit dem Zusatz, der Text und Platter dürfte sie in jüngeren Jahren, während sei- sei zu singen «In der Weis(e)» dieses oder jenes be- nes Studiums in Südfrankreich, bereits kennengelernt rühmten Originals, angegeben, nach welcher (bekann- haben. Die zukunftsweisenden Neuerungen ihrer Zeit ten) Musik das Gedicht zu singen ist. auf kompositorischem Gebiet waren damals noch Diese Entdeckung führte zu einer ziemlich ge- nicht so verbreitet, als dass sie für den musikalischen nauen Vorstellung davon, wie die Basler Freunde die Alltag am Rheinknie eine Rolle hätten spielen können. musikalischen «Hits» ihrer Zeit zur Aufführung brach- ten: Zur Musik erklang der Text in (neuer, individu-

22 John Kmetz, The Sixteenth-Century Basel Songbooks, Bern 1995, in: Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft, Serie II, Bd. 35 (hrsg. v. Josef Willimann)

238 239 Vogelschaubild der Stadt Basel von Nordosten von Matthäus­ Merian, Basel, 1615, Federzeichnung auf Papier, später auf Leinwand aufgezogen, Historisches Museum Basel, Foto: HMB P. Portner

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