SPORT

Fußball-Weltmeisterschaft GIGANTISCHE TÄUSCHUNG Lebendiger und schöner als in den USA ist Fußball selten gewesen. Vom Fernsehen ästhetisch veredelt, hat der einstige Proletariersport alle Gesellschaftsschichten erfaßt: Der Kick ist chic. Weil die WM in einem Fußball-Entwicklungsland über die Showbühne geht, bleibt Unbill wie Randale oder Nationalismus außen vor.

Roberto Baggio Martin Dahlin Jubelnde Fußballhelden bei der Weltmeisterschaft: Suggestiver Sog für das Publikum räume sind so. Wie graziös der Held lassen. „Goooaaaal“ jault es dazu in ek- Klinsmann, Amerikas Fußball-Darling. sich emporschwingt im Wettbewerb statischem Dauerton über den nordame- Nicht nur wegen seiner fünf Tore bis Tmit dem Gegner, ihm davoneilt in rikanischen Kontinent. zum Viertelfinale am vorigen Sonntag verwegenen Sätzen. Himmelsstürmer. Fernsehen verwandelt Träume in scheint der Deutsche aus Monaco auf Kein Gezerre, kein Rempler, kein ge- Wirklichkeit. Wer auch nur einen dem Wege zum Superstar dieser WM. stelltes Bein kann ihn stoppen. Er glei- Bruchteil der inzwischen über 70 Stun- Keiner freut sich wie er, keiner spielt so tet elegant darüber hinweg. Lustvolle den Fußball von der Weltmeisterschaft lebensfroh und locker, so unangestrengt Kraft entlädt sich in explosiver Aktion. in den USA am TV-Schirm miterlebt kraftvoll unter sengender Sonne. Un- Und wie er dann jubelt. Die Arme hat, kennt diese magischen Szenen des verbissen ist er und hat doch Biß. Ver- hochgerissen in orgiastischer Verzük- Triumphes. Ihre Helden können der schwitzt wirkt er nie, sondern in kung, nach wildem Auslauf in die Knie Rumäne Gheorghe Hagi sein oder der Schweiß gebadet, als sei der Champa- sinkend – wie zur Selbstanbetung, bereit Brasilianer Bebeto, der Schwede Martin gner. Sauber. Prickelnd. So ist Fußball – aber auch, sich unter den Leibern begei- Dahlin oder der Italiener Roberto Bag- nicht nur Sport, sondern vor allem Le- stert brüllender Mitspieler begraben zu gio. Unübertroffen aber ist Jürgen bensstil.

178 DER SPIEGEL 28/1994 tribüne mit US-Präsident Bill Clinton und Boliviens Staatspräsident Gonzalo Sa´nchez de Lozada. Aus dem Hintergrund steuerte der amerikanische Ex-Außenminister Henry Kissinger historische Vertiefungen bei. Beim Absingen der Nationalhymne schmetterte Tenor Placido Domingo in- brünstig „blühe deutsches Vaterland“. So wird in Amerika wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar, was die schon seit Anfang der neunzi- ger Jahre wahrzunehmen glaubt. Späte- stens seit der WM teilen alle Fußball- schaffenden, ob Torwart Bodo Illgner oder Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß, Jürgen Klinsmanns Einschät- zung: „Fußball ist ein Kulturgut.“ Vergessen scheinen Millionen-Schie- bereien, Menschenhandel, nationalisti- sche Raserei und die um die Stadien wa- bernde Gewalt. Think positive. Jahrelang hatten die Fußballer vergeb- lich versucht, ihren Sport von unappetit- lichem Dreck und Schweiß, proletari- schem Stallgeruch und dumpfer Bierse- Jürgen Klinsmann ligkeit zu befreien. Jetzt blättern siefaszi- niert von den Sportseiten weiter zur Kul- den davon selber ge- tur und finden immer mehr Beweise für prägt“, schwärmt die eine „neue Gesellschaftsfähigkeit des Schriftstellerin Elfrie- Fußballs“ (Hoeneß). de Jelinek, deren öf- Feuilletonisten rezensieren eine Thea- fentliches Fanbekennt- tersaison im Stil eines WM-Finals; in nis nicht nur Fußball- München wird die Fußballoper „Playing freunde überrascht: away“ uraufgeführt, in Essen das Drama „Manni Ramm I“; die Filmkritiker loben „In der Ferne wir. In das Ruhrgebiets-Epos „Nordkurve“. der Nähe wir. Dazwi- Das geistige Vakuum, indem der Fußball schen auch wir.“ abschlaffte, seit Peter Handke mit seiner Klinsmanns Tore Erzählung „Die Angst des Tormanns haben die Deutschen beim Elfmeter“ Furore gemacht hatte, voll erwischt. Spielte war mit TV-Kinderserien wie „Manni, die Nationalelf in den der Libero“ nicht zu füllen. USA nicht in der glü- Nun feiern plötzlich Romane, Essays henden Mittagszeit, und geistreichelnde Analysen zuhauf das sondern erst später, Spiel um den Ball. Alles nur, weil glaubt Franz Becken- Deutschlands erste legendäre Weltmei- bauer, bräche wegen sterschaft, jene von Bern 1954, sich zum der Nachtübertragun- 40. Mal jährt? gen der Wirtschafts- Wohl nicht. Die ARD stellte am Tag standort Deutschland vor dem WM-Eröffnungsspiel eine Art zusammen. Der frühe- Intellektuellen-Elf zusammen, in der 45 re Teamchef, jetzt Minuten lang unter anderen Ludwig Ha- Fernsehmoderator mit rig, Bernhard Minetti und Otto Sander Gheorghe Hagi täglicher Live-Sen- „Jenseits vom Abseits“ den Doppelpaß dung aus Amerika, zwischen Geist und Effenberg versuch- Nett ist der Deutsche gleich in vier fürchtet: Die Nation würde am nächsten ten: „Fußball ist wie Theater, nur daß ein Sprachen. Weltoffen, bescheiden, aber Tag blaumachen. Regisseur seinen Hamlet-Darsteller kein Kostverächter. Überall in den 185 Grundsätzlich hat jeder zweite Deut- nicht auswechseln kann.“ Ländern, in denen das Fernsehen seinen sche großes Interesse am Fußball (siehe Das gehobene Niveau macht Mut zum Zuschauern diesen Fußballhelden als Grafik Seite 181). Mehr als 15 000 Fans, Bekenntnis. Heute gibt sich gleicherma- Teil ihrer Lebenswirklichkeit anbietet, die das Nationaltrikot wie eine Uniform ßen der Bankdirektor wie der Gelehrte wäre Klinsmann wohlgelitten. Seine Ta- trugen, verfolgten die DFB-Elf nach als Fan zu erkennen. In der Konzernspit- ten auf dem Platz und ihre ästhetische Chicago, Dallas und New York. Der ze von IBM Deutschland sind es inzwi- Veredelung durch die Kameras, anhim- Kanzler, mit sicherem Gespür für den schen schon vier Direktoren, die vor und melnde Interviews und kreischende Trend, eilte den Fußball-Enthusiasten nach den Sitzungen das Comeback von Fanbegeisterung machen ihn und seine hinterher. Das Eröffnungsspiel der Rudi Völler begeistert erörtern. „Und Starkollegen zu erotischen Figuren. deutschen Mannschaft gegen Bolivien in wir werden immer mehr“, lacht Ver- Ein suggestiver Sog lädt das Publikum Chicago wurde zum Politgipfel: Als säße triebschef Erwin Staudt: „Wer kann sich zur Verschmelzung ein. „Sie erhalten, er auf der Veranda von Camp David, denn der Faszination des Fußballs entzie- jeder in Gold, unser Gesicht und wer- plauderte Helmut Kohl auf der Ehren- hen?“ Selbst verpatzte Geschäftsab-

DER SPIEGEL 28/1994 179 SPORT schlüsse werden im Fußball-Idiom dar- Leute zum Fußball gehen, weil sie nicht Teams stellen, sei es aus Kameradschaft gestellt: „Da steht der vorm leeren Tor wissen, wie es ausgeht. In der elektro- oder aus purem Eigennutz. „Ich muß und vergeigt den Vertrag.“ nisch durchorganisierten Arbeitswelt nicht der Superstar dieser WM wer- Im DFB-Quartier in Chicago stapel- des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist den“, sagt etwa Lothar Matthäus, der ten sich in der vergangenen Woche Fax- Fußball zunächst einmal der Triumph Kapitän der Deutschen, „aber ich Schreiben, in denen Firmenchefs um der Spontaneität über die Planung. will mit der Mannschaft Weltmeister Karten bettelten. Einer, Mercedes-Chef Mag auch Bundestrainer werden.“ hinter Barrikaden, die Neugierigen die In der zersplitterten Ego-Gesell- Sicht verstellen sollen, seinen Spielern schaft, in der jeder sein Lebensdrehbuch Zwölf Millionen Mark Standardverhalten eintrimmen – auch selbst zu schreiben genötigt ist, weil ver- ist Mercedes die Nähe sie werden immer wieder überrascht von bindliche Werte nicht mehr existieren, dem, was sich konkret und unerwartet dient der Fußball ein Modell an. Das zur Nationalelf wert auf dem Platz entwickelt. Und je größer führt vor, wonach Politiker und Ge- in dieser Zeit zerbröselnder Gewißhei- werkschafter, Lehrer und Personalchefs Helmut Werner, hat seinen Platz schon ten und fehlender Utopien das Mißtrau- verzweifelt suchen: Individuelle Selbst- sicher – sein Unternehmen will den en in gesellschaftliche Planung wird, de- verwirklichung und Solidarität müssen Sponsorvertrag mit dem DFB vorzeitig sto attraktiver wird ein Spiel, in dem je- keine Gegensätze sein. bis 1998 verlängern und dafür zwölf Mil- der in jedem Augenblick neu entschei- In dem schnieken Chicagoer Vorort lionen Mark zahlen. den muß. Bestrafung oder Belohnung Westmont wurde das Gesamtkunstwerk Keine Frage, der Proletariersport erfolgen auf der Stelle. Fußball in den vergangenen Wochen für Fußball hat in einem Marsch durch die Er habe alles, was er über das Leben den deutschen Markt täglich neu kre- Instanzen die obersten Gesellschafts- wisse, beim Fußball gelernt, bekannte iert. Die TV-Sender hatten dort in einer schichten erreicht. Albert Camus, der als 17jähriger in Pa- Ausstellungshalle Studios eingerichtet, Nicht einmal mehr Hochschullehrer ris bei Racing Universitaire das Tor hü- große Verlage und Agenturen ihre geben sich erstaunt über Kicker-Kennt- tete. Tatsächlich entfesselt das Spiel Schreibtische aufgestellt. nisse. Von seinen Kol- Trainer, Spieler, Me- legen, sagt der Tübin- dienmenschen, Werbe- ger Professor Hermann strategen und – gele- Bausinger, komme ein gentlich – auch gehobe- Drittel mit dem Tennis- ne Fans beteiligten sich schläger unter dem daran, wie am Fließ- Arm in die Vorlesung, band einen Multi-Me- ein Drittel habe „rein dia-Mix aus Spielbe- zufällig“ jedes Länder- richten, Video-Clips in spiel gesehen und das Superzeitlupe, Schick- letzte Drittel längst den salsschlägen und Hap- um Fußball „erweiter- py-End zu erstellen. ten Kulturbegriff“ ak- Die ausgemergelten Fi- zeptiert. guren, die sich Stunden Schon erklären die vorher vom Platz ge- Tempel der In-Szene schleppt hatten, erhiel- die alte Fußball-Tüme- ten in den Medien wie- lei zum Lebensstil. Wie der ihren kultischen in der Hälfte der 6000 Glanz – Leben wie bei Berliner Lokale, so Königs. treffen sich die Gäste Beinahe täglich refe- auch im Münchner rierte Bundestrainer Park-Cafe´ oder in der Fußball-Theaterstück in Essen: „Neue Gesellschaftsfähigkeit“ Berti Vogts auf einem Großen Freiheit 36 in Podium vor einem per- Hamburg zum gemeinsamen Fußball- menschliches Drama und Leidenschaf- fekt ausgeleuchteten Bühnenbild über Fernsehen. WM-Übertragungen wer- ten in allen Spielarten. Heute starren „Keilstürmer“ und die Staffelung seiner den, wie in der Essener City, als Open- die TV-Kameras den Akteuren bei je- Spieler im Raum. In der „Birkel-Ecke“ Air-Festival begangen – der Kick ist chic. dem Ausbruch von Wut, Enttäuschung, jubelte Manndecker Jürgen Kohler sei- Fußball, sagt der Philosoph Peter Slo- Schadenfreude, Entsetzen oder Glück ne rabiaten Einsätze zum aussterbenden terdijk, habe seinen volkskulturellen Ha- ohne Scham ins Gesicht und liefern die Kunsthandwerk hoch. Vor dem McDo- bitus als ausschließlicher Arbeitersport Großaufnahmen in alle Welt. nald’s-Logo pries Thomas Häßler den verloren, „die Popularkultur hat ge- Und mag auch manche Geste theatra- Familiensinn des deutschen Profis. Und siegt“. Der neue, für das Fernsehen auf- lisch wirken, mancher Ausdruck gekün- nebenan, bei Bitburger Pils, beklagte gehübschte Fußball istein globales Ereig- stelt und auf Wirkung ausgerichtet sein: fehlende Stadionstim- nis geworden. Drei Milliarden Menschen Blut, Schweiß und Tränen sind immer mung bei Sonnenschein: „Fußball sollen am kommenden Sonntag auch im echt. Und echt sind auch die emotiona- braucht Flutlicht.“ Der Star bevorzugt letzten Winkel der Erde zeitgleich beim len Reaktionen der Fans darauf. „Soc- Zirkusaura. Finale dabeisein – neben den Olympi- cer is life“, steht in Amerika auf zahllo- Der daheim gebliebene Fußballkon- schen Spielen, so Sloterdijk, „die einzige sen T-Shirts. sument vermißt die Scheinwerfer nicht. Vollversammlung der Menschheit“. Genau das aber erklärt die neue Fas- Jede noch so triste Stadion-Show wird Was macht die alte und neue Faszinati- zination des Fußballs. Den Millionen von den TV-Regisseuren schöpferisch on dieses Sportes aus? Ist Fußball Ersatz- zuschauender Individualisten bietet das aufgepeppt. krieg? Religiöses Ritual? Totaltheater? Spiel News jenseits von Ergebnis und Aus Romarios Oberschenkelmuskeln Überzeugender denn je klingt Sepp Tagesform: Sie erleben, wie die Stars ih- machen Nahaufnahmen Gemälde. Kei- Herbergers schlichte Antwort, daß die re Fertigkeiten in den Dienst ihrer ner wird die weit aufgerissenen Augen

180 DER SPIEGEL 28/1994 Fußball, in der Hoff- Batterie-Herstellers Energizer und das König Fußball nung, ein Vielfaches Kraftpaket Matthäus. Und demnächst Wie groß ist Ihr Interesse für folgende Sportarten? daran zu verdienen. auch der schwäbische Weltbürger Klins- Mit den Augen des mann und der expansionslustige Sport- Sponsors, sagt ein artikelproduzent Reebok. „Jürgens eher gering sehr gering Angaben sehr groß eher groß Sprecher des Brause- Image“, erklärt Reebok-Sprecher John in Prozent herstellers, schaue man Boulder, „paßt ideal zu unserem Ein- auf die WM: „Und die- stieg ins Fußballgeschäft.“ se Augen sind gerade Mit jedem Vertragsabschluß mutieren Fußball 27 23 27 23 jetzt ganz weit offen.“ Kicker deutlicher zu Jungunterneh- Schwimmen 20 37 26 17 Die WM ist der Gip- mern, die sich selbst wie eine Ware ver- Leichtathletik 14 33 33 20 fel. Wer hier als offi- kaufen. Zu ihren Werten gehört Ballge- zieller Sponsor mit- fühl ebenso wie telegenes Auftreten und Skisport 15 27 33 25 spielt, darf sich rund die rechte Fröhlichkeit. Getreu dem Tennis 14 27 31 28 um den Globus als Matthäus-Evangelium „Wer gut berich- Turnen 13 31 29 26 Marktführer wähnen: tet, wird bedient“ wandern die Profis Motorsport 15 20 26 39 Er führt Fußball alsglit- nach dem Spiel in der Interviewzone Reiten 14 21 32 33 zerndes, aufregendes von Kamera zu Kamera, von Mikrofon Ereignis im Angebot. zu Notizblock. Bis es auch der letzte Eishockey 11 21 28 40 Und Stars sind dabei verstanden hat, erklärt Illgner seinen Basketball 10 17 31 42 die Hauptsache. Patzer im Spiel gegen Spanien. Immer Fernseh-Helden wieder ganz von vorn, immer geduldig: werden durch schiere „Habt ihr noch Fragen?“ Präsenz zu Werbeträ- Ihr Privatleben verstehen die Profis gern. Über Jahre hin- längst als Teil des Jobs. Bereitwillig ge- weg glaubten die PR- währen sie ihren Fans den Blick durchs Quelle:Emnid Manager, die jugendli- Schlüsselloch. Ehefrau und Kinder wer- chen Tennis-Heroen den Co-Stars, jeder Schritt ein Auftritt. Diego Maradonas vergessen, die nach Boris Becker und Steffi Graf seien an At- Autos und Haargel verwandeln sich in seinem Tor gegen Griechenland gleich- traktivität nicht zu überbieten. Inzwi- Kultgegenstände und damit sogleich in sam durch die Kamera in jedes Wohn- schen hat der Fußball das Terrain zurück- Werbeprodukte. Üppig wie in einem zimmer sprangen. Und erst in Zeitlupe erobert. In der Geldrangliste hat, ange- Musical über die Windsors zelebrierten steigerte sich der Ellbogencheck des führt von Lothar Matthäus, fast ein Drit- Matthäus und Maradona ihre Hochzei- Brasilianers Leonardo von einer Tät- tel der deutschen WM-Equipe die Ten- ten. Schon als Säugling lag Sohn Loris lichkeit zu einem Verbrechen. nis-Dimension von über drei Millionen Matthäus im Fernsehen aus. So schaffen elektronische Riefen- Mark Jahreseinkommen erreicht. Nicht jeder hat die kühl kalkulierte stahls je nach Bedarf ästhetische Wun- Weil die Werbung Stil und Inhalt der Offenheit drauf, viele müssen sie sich so der oder Horror-Clips. Ohne technische Fußballschau prägt, beschließen die TV- Kicks, glaubt der Medienkritiker Diet- Stationen ihre Übertragungen mit „Bil- rich Leder, sei der Rohling Fußball dern des Tages“, die wie Reklame-Spots Ballgefühl Umfrage über das Verhältnis der „heute bedeutungslos und deshalb inexi- anmuten. So werden die Botschaften der Deutschen zum Fußball stent“. Wie im Kino wird der Blick des Profis, des Fußballspiels und des Pro- Angaben in Prozent Zuschauers auf Situationen gelenkt, die dukts ineinandergeblendet. Alle sind der Fan im Stadion gar nicht mitkriegt, frohgemut, sauber, energiegeladen, er- an 100 fehlende Prozent: keine Angabe oft nicht einmal der Spieler. folgreich, kraftvoll – wie der amerikani- über 100 Prozent: Mehrfachnennungen möglich Kein Wunder, daß den Originalen ihr sche Profi Tab Ramos, seine Sololäufe Abbild mitunter unheimlich wird. „Wie und der Schokoriegel „Snickers“. Was ist Fußball für Sie? Staatsgäste mit übersteigerter Bedeu- Die Besten gehören zusammen: Mer- Sport 42 tung“ glaubt Torwart Illgner sich und cedes und der Champion, die Power des seine Kollegen behandelt: „Wir werden Unterhaltung 40 glorifiziert oder verteufelt, auf jeden Spannung 26 Was treibt Fußball- Sind Fußballer Fall verfälscht.“ profis vor allem an? ein Ventil, Aggressionen- Weder für Fernseh- noch für Fußball- Vorbilder für die abzulassen 8 Gesellschaft? kritiker mit Hang zur Nörgelei ist Platz Geld 82 ästhetischer Genuß 3 vorgesehen in dieser Inszenierung. Freude 18 ja 40 Meist sorgen offizielle Interviewer der Kampfeswillen 17 nein Fifa in den Pressekonferenzen nach den 53 Spielen für einen Schmusekurs. Argen- Spielwitz 5 tiniens Trainer Alfio Basile erklärte, nur Kraft 3 Wie oft waren Sie im letzten Jahr zwei Fragen beantworten zu wol- bei einem Fußballspiel len – und stellte sich diese gleich Verdienen deutsche (inkl. Jugend- oder Amateurspiele)? selbst. Wie oft sehen Sie Fuß- Fußballprofis... gar nicht 71 Es ist einfach zuviel Geld im ball im Fernsehen? Spiel. Fernsehen, Werbung und ...mehr als ihnen ein- bis zweimal 8 zustehen sollte 66 Wirtschaft haben das Weltunter- regelmäßig 32 alle drei Monate 6 nehmen Fußball schätzengelernt. gelegentlich 32 ...ihrer Leistung 25 monatlich 7 entsprechend Sie pumpen Milliardenbeträge – selten 20 wöchentlich 6 ...zu wenig 1 Sponsoren wieCoca-Cola und Ma- gar nicht 16 stercard zahlen allein für diese mehrmals wöchentlich 2 WM je 20Millionen Dollar –inden Quelle: Emnid

DER SPIEGEL 28/1994 181 SPORT mühsam antrainieren wie Eckstöße. Jungstar An- dreas Möller lernte State- ments auswendig, die sein Manager vorgestanzt hat- te. Der FC Bayern Mün- chen bittet alle seine un- beholfenen Fachkräfte zur Rhetorik-Nachhilfe. Spielerberater Norbert Pflippen schickt seine Schützlinge regelmäßig zu den Hauptversamm- lungen ihrer Werbepart- ner. Jene 82 Prozent Deut- sche, die glauben, daß vorrangig das Geld die Fußballer motiviere, lie- gen so falsch nicht. Damit es „kohlemäßig“ stimmt, treten sie in Amerika bei 50 Grad Gluthitze an, denn die Anstoßzeiten müssen in die Prime Time des europäischen Fernse- hens fallen. Die wenigen Spieler, die sich be- schwerten, beschied der Medien-Objekt Matthäus: Das Gesamtkunstwerk täglich neu kreiert Sprecher des Weltverban- des, Guido Tognoni, zynisch: „Straßen- Fortschritt? Kinkerlitzchen? Die Zu- nale. Inszeniert? Das schönste Tor der bauarbeiter müssen um diese Zeit auch schauer kümmern solche Feinheiten bisherigen WM schoß Saı¨d el-Owairan arbeiten.“ nicht, Hauptsache Action. Längst haben vom Außenseiter Saudi-Arabien mit ei- Fußballfunktionäre, einst knöcherne sie sich einen eigenständigen Platz im nem Solo über das halbe Feld. Und aus- Hüter der alten, reinen Lehre, beflügelt Gesamtkunstwerk Fußball erobert, sind gerechnet am scheinbar altersschwachen das Fernsehgeld zu ungeahnter Frivoli- von passiven Konsumenten zu aktiv Be- Rudi Völler richteten sich die in der Hei- tät. Sie entsprachen den Wünschen der teiligten aufgestiegen. Wenn das Spiel mat mitHäme überschütteten Deutschen Vermarkter, das Spiel durch Regelände- stockt, wissen sie sich auch selbst zu fei- im Spiel gegen Belgien wieder auf. rungen schneller und für das Fernsehen ern. Erfurt und Celle grüßen auf Ver- Knapp 30 Prozent mehr Tore als 1990 attraktiver zu machen – Rückpässe in eins- und Nationalfahnen die deutsche in Italien, mehr Zuschauer (im Durch- die Hand des Torwarts sind seither Elf. Die Einheitsfront von Provinz und schnitt 67 000 statt 50 000) und mehr ebenso verboten wie die Behandlung großer Fußballwelt, von Rasen und Spannung: Das Achtelfinale zwischen von Verletzten auf dem Platz. Rängen steht. Rumänien und Argentinien dürfte als ei- Selbst der Ball, der den ganzen Laden So verläßlich die Fans dabei sind, so nes der besten Spiele in die WM-Historie tanzen läßt, war den TV-Antreibern zu erbarmungslos melden sie Ansprüche eingehen. an. Was immer sie auch akzeptieren mö- Das Selbstverständnis von Spielern gen – Langeweile nie. Fußball ist zur und Trainern, für den Erfolg eines globa- Fußball ist zur Soap-opera geworden, weil die Fans ihn len Unterhaltungskonzerns mitverant- Soap-opera geworden, so wollen; für 40 Prozent aller Deut- wortlich zu sein, sorgt für Angriffsfuß- schen ist er reine Unterhaltungsware ball. Tommy Svensson, Trainer der weil es der Fan so will (siehe Umfrage Seite 181). Sie wollen Schweden, hat die erste große Koalition die große Tat, das große Gefühl, selbst aller Konkurrenten ausgemacht: „Jeder langsam. Für mehr Tore wurde der die große Enttäuschung. Sie gieren nach hat gesehen, daß der Fußball in Gefahr Nachfolger von Adi Dasslers altem Le- Helden und Schurken, Risiko und Lei- war, jetzt spielt jeder offensiv.“ derball auf dem Prüfstand gequält wie denschaft. Fußball soll Seele haben wie Wer den Trend verpaßte, wurde abge- ein Ikea-Sofa. immer schon – aber am liebsten nur straft. Bei der WM pfiffen die Zuschauer Die 400 Gramm leichte Kugel aus noch überlebensgroß auf Breitwand. bei jeder offensichtlichen Zeitverzöge- fünf Lagen Polyurethan, geschäumten Mögen Experten wie der ehemalige rung. Kunststoffbahnen und einer gewebten Mittelfeldstratege Günter Netzer („Das „Wir schreiben Fußball-Geschichte“, Faserschicht überstand einen Test im ist mir alles zu glatt“) im Fußball made jubelten die amerikanischen Veranstal- Windkanal, bevor sie 8000mal unter in America das Ende sportlicher Ernst- ter auf Transparenten in allen Stadien. Wasser um die eigene Achse gedreht haftigkeit sehen, so ist andererseits Wahr ist: Die erste WM in den USA ist und aus einer Maschine 5000mal gegen schon in der Woche vor dem Finale der ein Meisterstück gesellschaftlicher Wet- eine Eisenwand geschossen wurde. WM klar: Lebendiger, schöner, aufre- termacher. Die Spiele, der Jubel, die Ergebnis eins: Das neue Exemplar gender ist Fußball selten gewesen. Fans – der ganze bildschirmfüllende fliegt um fünf Prozent schneller als die Glatt? Grandios wehrten sich die Rummel zwischen Orlando in Florida „Kirsche“ von gestern. Ergebnis zwei: Amerikaner am Unabhängigkeitstag ge- und Palo Alto in Kalifornien schwebte So viele Torwartfehler wie in den USA gen den dreimaligen Weltmeister Brasi- über dem weiten Land wie eine rosarote gab es noch nie bei einer WM und damit lien; kläglich versagten gleich drei mexi- Kunstwolke; ein Ereignis, das keine Spu- auch nicht soviel Erregung. kanische Elfmeterschützen im Achtelfi- ren hinterläßt.

184 DER SPIEGEL 28/1994 Ganz so, wie sich die WM auch als Zum Beispiel die Einmischung politi- In Kolumbien, sagt der Literatur-No- schöner Schein über den Alltag der tra- scher Machthaber. belpreisträger Gabriel Garcı´a Ma´rquez, ditionellen Fußball-Welt erhob: Mag Argentiniens Staatspräsident Carlos der auf den WM-Sieg seiner Landsleute die Gleichschaltung der Welt der Sieg Menem wollte schon vor der WM die eine deutsche Nobelkarosse gewettet einer globalen Popularkultur sein, wie Aufstellung der Nationalelf selber be- hatte, seien Fußball-Siege „der große Peter Sloterdijk vermutet. Sie ist auch stimmen. Nach dem Ausscheiden droht Einigungsfaktor des Landes“ und „wich- eine gigantische Täuschung. Denn so er prompt damit, den Verband unter tiger als Wahlen“. gleich, wie die Rituale der WM und staatliche Kuratel zu stellen. Und Ka- Doch Niederlagen können tödlich des Spiels suggerierten, geht es ja nun meruns Staatspräsident Paul Biya be- sein. Den Verteidiger Andre´s Escobar, gewiß nicht zu in der Welt, nicht ein- trieb die Suspendierung des auf Prä- dessen Eigentor für das vorzeitige Schei- mal im Fußball. Der kulturelle Stellen- mienzahlungen pochenden Torhüters tern seines Teams mitverantwortlich wert des Spiels, seine politische, wirt- Joseph-Antoine Bell. war, trafen zwölf Kugeln. In Kamerun schaftliche, ja religiöse Bedeutung Wo fangen Eingriffe an, wo hören zündeten regierungstreue Fans das Haus trennen die Brasilianer und die Hollän- Ratschläge auf? König Fahd von Saudi- von Torwart Bell an. der tiefer, als sich von ihrem Viertelfi- Arabien telefonierte mit Nationaltrainer Und die europäischen Hooligans? nalspiel am vergangenen Wochenende Jorge Solari. Der Medienmogul Silvio Die durch Terrormeldungen über ablesen ließ. Berlusconi ist nun praktischerweise Fußball-Unholde alarmierten Cops Mag es amerikanischen Zuschauern gleich Doppelpräsident – von Italien wirkten in den ersten Tagen, als er- um Unterhaltung gehen und um nichts und von Landesmeister AC Mailand. warteten sie weiße Rassenunruhen. anderes; für viele Europäer hört der Zufällig ist daran gar nichts. Doch in und vor den amerikanischen Spaß beim Mißerfolg auf. Anhänger Zum Beispiel mörderischer Chauvi- WM-Stadien blieb es friedlich wie in aus Südamerika feiern im Stadion so- nismus. Disneyland. gar eine Art Gottesdienst Die Krawallos aus Leip- und verehren Schweißbän- zig und Liverpool, aus der wie Reliquien. Rom und Amsterdam wa- Die Inszenierung ver- ren nicht da. Aber sind sie deckt nicht nur diese deshalb weg? Nach dem manchmal mörderischen Sieg der Niederländer ge- Abgründe, die hinter der gen Irland zogen 1500 Fuß- Fußball-Faszination klaf- ballrowdys marodierend fen. Die WM in Amerika durch die Straßen Den findet wie auf einem fernen Haags. Planeten statt – Spielver- Dennoch debattierten derber haben keinen Ein- die Funktionäre der Fifa, tritt. Deren bedrohliche losgelöst von aller Reali- Botschaften sind dennoch tät, schon vor dem End- klar zu vernehmen. spiel, wie das unbeschwer- Zum Beispiel schmutzige te Happening von Ameri- Geschäfte. ka noch zu vervollkomm- „Was AS Rom mit Häß- nen und auf den Mutter- ler macht“, klagt Bundes- kontinent des Fußballs, trainer Vogts, „ist Sklave- Europa, zu übertragen sei. rei.“Die Römer wollen den Sie träumen vom Fußball kleinen Dribbler nicht als einem weltumspannen- mehr, verlangen für ihn den Fun-Spektakel. aber neun Millionen Mark Das ist es nicht mal in Ablöse – und diese Summe den USA. Daß Fußball mag kein anderer Verein „doch nur ein Spiel“ sei, zahlen. Auch Klinsmann, wie Fifa-Generalsekretär in Monaco unglücklich, Joseph Blatter immer dann und Völler, den Marseille beteuert, wenn das Gegen- mit in die zweite französi- teil sichtbar wird, oder daß sche Liga zwingen will, das Spiel auch heute noch suchten bisher vergeblich „die schönste Nebensache neue Arbeitgeber. der Welt“ sei, wie Berti Fußball-Szenen am Ran- Vogts sich und anderen de der Kriminalität. Zahl- einzureden versucht, ist reiche Präsidenten der ita- Augenwischerei. lienischen Erstligaklubs Tatsächlich ist mit der mußten die Geschicke ihrer Schöpfung des Marktpro- Klubs vorübergehend aus dukts Fußball die „Unter- Gefängniszellen lenken. In haltung zum Ernstfall“ ge- Frankreich wurde Völlers worden, wie Peter Sloter- früherer Chef Bernard Ta- dijk es ausdrückt. Und für pie, der ehemalige Klub- den Ernstfall haben die präsident von Olympique Amerikaner eine simple Marseille, wegen seiner Fi- Formel: Money, money, nanztricks und Beste- money. chungsversuche mehrfach Oder wie sie neuerdings verhört. Großbildleinwand für WM-Fans (in Essen): Hauptsache Action sagen: „Soccer is life.“ Y

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