GIGANTISCHE TÄUSCHUNG Lebendiger Und Schöner Als in Den USA Ist Fußball Selten Gewesen
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SPORT Fußball-Weltmeisterschaft GIGANTISCHE TÄUSCHUNG Lebendiger und schöner als in den USA ist Fußball selten gewesen. Vom Fernsehen ästhetisch veredelt, hat der einstige Proletariersport alle Gesellschaftsschichten erfaßt: Der Kick ist chic. Weil die WM in einem Fußball-Entwicklungsland über die Showbühne geht, bleibt Unbill wie Randale oder Nationalismus außen vor. Roberto Baggio Martin Dahlin Jubelnde Fußballhelden bei der Weltmeisterschaft: Suggestiver Sog für das Publikum räume sind so. Wie graziös der Held lassen. „Goooaaaal“ jault es dazu in ek- Klinsmann, Amerikas Fußball-Darling. sich emporschwingt im Wettbewerb statischem Dauerton über den nordame- Nicht nur wegen seiner fünf Tore bis Tmit dem Gegner, ihm davoneilt in rikanischen Kontinent. zum Viertelfinale am vorigen Sonntag verwegenen Sätzen. Himmelsstürmer. Fernsehen verwandelt Träume in scheint der Deutsche aus Monaco auf Kein Gezerre, kein Rempler, kein ge- Wirklichkeit. Wer auch nur einen dem Wege zum Superstar dieser WM. stelltes Bein kann ihn stoppen. Er glei- Bruchteil der inzwischen über 70 Stun- Keiner freut sich wie er, keiner spielt so tet elegant darüber hinweg. Lustvolle den Fußball von der Weltmeisterschaft lebensfroh und locker, so unangestrengt Kraft entlädt sich in explosiver Aktion. in den USA am TV-Schirm miterlebt kraftvoll unter sengender Sonne. Un- Und wie er dann jubelt. Die Arme hat, kennt diese magischen Szenen des verbissen ist er und hat doch Biß. Ver- hochgerissen in orgiastischer Verzük- Triumphes. Ihre Helden können der schwitzt wirkt er nie, sondern in kung, nach wildem Auslauf in die Knie Rumäne Gheorghe Hagi sein oder der Schweiß gebadet, als sei der Champa- sinkend – wie zur Selbstanbetung, bereit Brasilianer Bebeto, der Schwede Martin gner. Sauber. Prickelnd. So ist Fußball – aber auch, sich unter den Leibern begei- Dahlin oder der Italiener Roberto Bag- nicht nur Sport, sondern vor allem Le- stert brüllender Mitspieler begraben zu gio. Unübertroffen aber ist Jürgen bensstil. 178 DER SPIEGEL 28/1994 tribüne mit US-Präsident Bill Clinton und Boliviens Staatspräsident Gonzalo Sa´nchez de Lozada. Aus dem Hintergrund steuerte der amerikanische Ex-Außenminister Henry Kissinger historische Vertiefungen bei. Beim Absingen der Nationalhymne schmetterte Tenor Placido Domingo in- brünstig „blühe deutsches Vaterland“. So wird in Amerika wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar, was die Bundesliga schon seit Anfang der neunzi- ger Jahre wahrzunehmen glaubt. Späte- stens seit der WM teilen alle Fußball- schaffenden, ob Torwart Bodo Illgner oder Bayern Münchens Manager Uli Hoeneß, Jürgen Klinsmanns Einschät- zung: „Fußball ist ein Kulturgut.“ Vergessen scheinen Millionen-Schie- bereien, Menschenhandel, nationalisti- sche Raserei und die um die Stadien wa- bernde Gewalt. Think positive. Jahrelang hatten die Fußballer vergeb- lich versucht, ihren Sport von unappetit- lichem Dreck und Schweiß, proletari- schem Stallgeruch und dumpfer Bierse- Jürgen Klinsmann ligkeit zu befreien. Jetzt blättern siefaszi- niert von den Sportseiten weiter zur Kul- den davon selber ge- tur und finden immer mehr Beweise für prägt“, schwärmt die eine „neue Gesellschaftsfähigkeit des Schriftstellerin Elfrie- Fußballs“ (Hoeneß). de Jelinek, deren öf- Feuilletonisten rezensieren eine Thea- fentliches Fanbekennt- tersaison im Stil eines WM-Finals; in nis nicht nur Fußball- München wird die Fußballoper „Playing freunde überrascht: away“ uraufgeführt, in Essen das Drama „Manni Ramm I“; die Filmkritiker loben „In der Ferne wir. In das Ruhrgebiets-Epos „Nordkurve“. der Nähe wir. Dazwi- Das geistige Vakuum, indem der Fußball schen auch wir.“ abschlaffte, seit Peter Handke mit seiner Klinsmanns Tore Erzählung „Die Angst des Tormanns haben die Deutschen beim Elfmeter“ Furore gemacht hatte, voll erwischt. Spielte war mit TV-Kinderserien wie „Manni, die Nationalelf in den der Libero“ nicht zu füllen. USA nicht in der glü- Nun feiern plötzlich Romane, Essays henden Mittagszeit, und geistreichelnde Analysen zuhauf das sondern erst später, Spiel um den Ball. Alles nur, weil glaubt Franz Becken- Deutschlands erste legendäre Weltmei- bauer, bräche wegen sterschaft, jene von Bern 1954, sich zum der Nachtübertragun- 40. Mal jährt? gen der Wirtschafts- Wohl nicht. Die ARD stellte am Tag standort Deutschland vor dem WM-Eröffnungsspiel eine Art zusammen. Der frühe- Intellektuellen-Elf zusammen, in der 45 re Teamchef, jetzt Minuten lang unter anderen Ludwig Ha- Fernsehmoderator mit rig, Bernhard Minetti und Otto Sander Gheorghe Hagi täglicher Live-Sen- „Jenseits vom Abseits“ den Doppelpaß dung aus Amerika, zwischen Geist und Effenberg versuch- Nett ist der Deutsche gleich in vier fürchtet: Die Nation würde am nächsten ten: „Fußball ist wie Theater, nur daß ein Sprachen. Weltoffen, bescheiden, aber Tag blaumachen. Regisseur seinen Hamlet-Darsteller kein Kostverächter. Überall in den 185 Grundsätzlich hat jeder zweite Deut- nicht auswechseln kann.“ Ländern, in denen das Fernsehen seinen sche großes Interesse am Fußball (siehe Das gehobene Niveau macht Mut zum Zuschauern diesen Fußballhelden als Grafik Seite 181). Mehr als 15 000 Fans, Bekenntnis. Heute gibt sich gleicherma- Teil ihrer Lebenswirklichkeit anbietet, die das Nationaltrikot wie eine Uniform ßen der Bankdirektor wie der Gelehrte wäre Klinsmann wohlgelitten. Seine Ta- trugen, verfolgten die DFB-Elf nach als Fan zu erkennen. In der Konzernspit- ten auf dem Platz und ihre ästhetische Chicago, Dallas und New York. Der ze von IBM Deutschland sind es inzwi- Veredelung durch die Kameras, anhim- Kanzler, mit sicherem Gespür für den schen schon vier Direktoren, die vor und melnde Interviews und kreischende Trend, eilte den Fußball-Enthusiasten nach den Sitzungen das Comeback von Fanbegeisterung machen ihn und seine hinterher. Das Eröffnungsspiel der Rudi Völler begeistert erörtern. „Und Starkollegen zu erotischen Figuren. deutschen Mannschaft gegen Bolivien in wir werden immer mehr“, lacht Ver- Ein suggestiver Sog lädt das Publikum Chicago wurde zum Politgipfel: Als säße triebschef Erwin Staudt: „Wer kann sich zur Verschmelzung ein. „Sie erhalten, er auf der Veranda von Camp David, denn der Faszination des Fußballs entzie- jeder in Gold, unser Gesicht und wer- plauderte Helmut Kohl auf der Ehren- hen?“ Selbst verpatzte Geschäftsab- DER SPIEGEL 28/1994 179 SPORT schlüsse werden im Fußball-Idiom dar- Leute zum Fußball gehen, weil sie nicht Teams stellen, sei es aus Kameradschaft gestellt: „Da steht der vorm leeren Tor wissen, wie es ausgeht. In der elektro- oder aus purem Eigennutz. „Ich muß und vergeigt den Vertrag.“ nisch durchorganisierten Arbeitswelt nicht der Superstar dieser WM wer- Im DFB-Quartier in Chicago stapel- des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist den“, sagt etwa Lothar Matthäus, der ten sich in der vergangenen Woche Fax- Fußball zunächst einmal der Triumph Kapitän der Deutschen, „aber ich Schreiben, in denen Firmenchefs um der Spontaneität über die Planung. will mit der Mannschaft Weltmeister Karten bettelten. Einer, Mercedes-Chef Mag auch Bundestrainer Berti Vogts werden.“ hinter Barrikaden, die Neugierigen die In der zersplitterten Ego-Gesell- Sicht verstellen sollen, seinen Spielern schaft, in der jeder sein Lebensdrehbuch Zwölf Millionen Mark Standardverhalten eintrimmen – auch selbst zu schreiben genötigt ist, weil ver- ist Mercedes die Nähe sie werden immer wieder überrascht von bindliche Werte nicht mehr existieren, dem, was sich konkret und unerwartet dient der Fußball ein Modell an. Das zur Nationalelf wert auf dem Platz entwickelt. Und je größer führt vor, wonach Politiker und Ge- in dieser Zeit zerbröselnder Gewißhei- werkschafter, Lehrer und Personalchefs Helmut Werner, hat seinen Platz schon ten und fehlender Utopien das Mißtrau- verzweifelt suchen: Individuelle Selbst- sicher – sein Unternehmen will den en in gesellschaftliche Planung wird, de- verwirklichung und Solidarität müssen Sponsorvertrag mit dem DFB vorzeitig sto attraktiver wird ein Spiel, in dem je- keine Gegensätze sein. bis 1998 verlängern und dafür zwölf Mil- der in jedem Augenblick neu entschei- In dem schnieken Chicagoer Vorort lionen Mark zahlen. den muß. Bestrafung oder Belohnung Westmont wurde das Gesamtkunstwerk Keine Frage, der Proletariersport erfolgen auf der Stelle. Fußball in den vergangenen Wochen für Fußball hat in einem Marsch durch die Er habe alles, was er über das Leben den deutschen Markt täglich neu kre- Instanzen die obersten Gesellschafts- wisse, beim Fußball gelernt, bekannte iert. Die TV-Sender hatten dort in einer schichten erreicht. Albert Camus, der als 17jähriger in Pa- Ausstellungshalle Studios eingerichtet, Nicht einmal mehr Hochschullehrer ris bei Racing Universitaire das Tor hü- große Verlage und Agenturen ihre geben sich erstaunt über Kicker-Kennt- tete. Tatsächlich entfesselt das Spiel Schreibtische aufgestellt. nisse. Von seinen Kol- Trainer, Spieler, Me- legen, sagt der Tübin- dienmenschen, Werbe- ger Professor Hermann strategen und – gele- Bausinger, komme ein gentlich – auch gehobe- Drittel mit dem Tennis- ne Fans beteiligten sich schläger unter dem daran, wie am Fließ- Arm in die Vorlesung, band einen Multi-Me- ein Drittel habe „rein dia-Mix aus Spielbe- zufällig“ jedes Länder- richten, Video-Clips in spiel gesehen und das Superzeitlupe, Schick- letzte Drittel längst den salsschlägen und Hap- um Fußball „erweiter- py-End zu erstellen. ten Kulturbegriff“ ak- Die ausgemergelten Fi- zeptiert. guren, die sich Stunden Schon erklären die vorher vom Platz ge- Tempel der In-Szene schleppt hatten, erhiel- die alte