Paracelsismus Und Chiliasmus Im Deutschsprachigen Raum Um 1600
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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Philosophische Fakultät Historisches Seminar Paracelsismus und Chiliasmus im deutschsprachigen Raum um 1600 Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg Vorgelegt von Amadeo Murase aus Tokio 2013 Erster Gutachter: Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart Zweiter Gutachter: Prof. Dr. Joachim Telle Meinen Eltern F. M. und A. M. gewidmet Inhalt 1. Einleitung 1.1. Vorbemerkungen 1 1.2. War Paracelsus ein Chiliast? 11 2. Grundvorstellungen des chiliastischen Paracelsismus 20 2.1. Geschichtsbewusstsein 22 2.1.1. Gegenwart: Zeitdiagnose und Selbstwahrnehmung 23 2.1.2. Zukunft: Naherwartungen 29 2.1.3. Jenseits: Die Eschatologie des Paracelsismus 33 2.2. Weisheitslehre 35 2.2.1. Gegenüberstellung der ‚heidnischen’ und der ‚christlichen’ Medizin 35 2.2.2. Alchemie als Gottesgeschenk 38 2.2.3. Hermetische Wissensgenealogie und geschichtsphilosophische Rechtfertigung 40 2.2.4. Empirismus 43 2.2.5. Ethik des naturkundlichen Arztes 47 2.2.6. Harmonie zwischen Glauben und Wissen 51 2.3. Paracelsismus und Chiliasmus 58 2.3.1. Paracelsus als Vorbote des ‚Goldenen Zeitalters’ 58 2.3.2. Endzeitlicher Fortgang des Wissens 62 3. Zeugnisse 67 3.1. Adam von Bodenstein (1560/71) 67 3.2. Michael Toxites (1564/77) 84 3.3. Alexander von Suchten (1561/70) 101 3.4. Pseudohohenheim: De tinctura physicorum (1570) 115 3.5. Julius Sperber (1597/ um 1600) 127 3.6. Paul Linck (1599/1602) 153 3.7. Johannes Schauberdt (1599/1602) 168 3.8. Benedictus Figulus (1607/08) 182 3.9. Oswald Croll (1609) 199 3.10. Adam Haslmayr (1612/1618) 215 3.11. Paul Nagel (1610/1621) 228 4. Zusammenfassender Ausblick 240 5. Anhang: Textprobe Paul Linck. Rechter Bericht Von den Dreyen Seculis , 1599/1602. 247 Literaturverzeichnis 261 Danksagung 300 Eidesstattliche Erklärung 301 1. Einleitung 1. 1. Vorbemerkungen „In Aureo Seculo [werden] nicht allein die rechte Erkändtnüß Christi vnd der ganzen christlichen Religion bekandt, sondern auch die natürlichen Arcana vndt Mysteria Medicinae beßer alß izo wißent sein“ (Paul Linck, 1599/1602).1 In ihrem dritten Band des Corpus Paracelsisticum (CP) haben die ausgewiesenen Paracelsus-Kenner Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle gefordert, die „Präsenz chiliastischen Denkens in der paracelsistischen Naturkunde“ genauer zu untersuchen und die „Rolle apokalyptischer Vorstellungen“ der Paracelsisten „in der sogenannten ‚Wissenschaftlichen Revolution’ zu konturieren“. 2 Um die Endzeitvorstellung der frühneuzeitlichen Anhänger des Arztes und Laientheologen Paracelsus (1493/94-1541) zu erhellen und somit die genannte Forschungsforderung anzunehmen, beschäftigt sich die folgende Arbeit mit der Frage, wie die Paracelsisten um 1600 ihre eigene Gegenwart und die Nahezukunft bzw. die Endzeit deuteten. Indem ihre Geschichtsauffassung und die darauf gegründete, wissens- und glaubensreformatorische Weisheitslehre untersucht werden, wird somit gezeigt, dass der frühneuzeitliche Paracelsismus eine chiliastisch begründete Reformbewegung war, die in den Auseinandersetzungen mit den herkömmlichen Schulwissenschaften ein alchemisch und empiristisch fundiertes Wissenskonzept und eine theosophisch und antikonfessionell geprägte Frömmigkeit forderte. Um die Begriffe ‚Paracelsismus’ und ‚Chiliasmus’ deutlich zu machen, sollen einige Vorbemerkungen folgen. Aufgrund der Tatsache, dass der Aufschwung dieser Reformbewegung durch die in den 1560 Jahren begonnene, rege Drucklegung der Schriften Hohenheims gekennzeichnet ist, ist der frühneuzeitliche Paracelsismus zunächst als eine 1 Paul Linck, Von den Dreyen Seculis (1599/1602), Wolfenbüttel HAB, Cod. 981 Helmst., Bl. 169 v (Interpunktion, Groß- und Kleinschreibung normalisiert). 2 CP, Bd. 3 (im Erscheinen), Nr. 149, Erläuterungen (zu Johann Schauberdt, 1602). Hiermit geht herzlicher Dank an den beiden Herausgeber des CP, Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann und Prof. Dr. Joachim Telle, die freundlicherweise die editierten und erläuterten Texte von Schauberdt und Figulus aus dem noch nicht erschienenen dritten Band dem Verfasser zur Verfügung gestellt haben (CP, Bd. 3 [im Erscheinen], Nr. 147-149 und 161-166). 1 „publizistische Bewegung“ zu verstehen, in der Paracelsus als „Leit- und Berufungsfigur“ einer „alternativen Wissenspraxis“ gilt. 3 In diesem weiteren Sinne des Paracelsismus sehen wir die Anhänger Hohenheims, nämlich die ‚Paracelsisten’, in den Fachpublizisten, die die Werke Hohenheims edierten, auslegten und veröffentlichten. Auch mit Blick auf die Pseudoparacelsisten, die sich unter dem Decknamen Hohenheims an der genannten Bewegung beteiligten, ist zugleich darauf hinzuweisen, dass auch diejenigen Sachschriftsteller als Paracelsisten betrachtet werden, die sich in ihren Werken, seien sie medizinischer, naturphilosophischer, religiöser oder auch pseudepigraphischer Art, auf Paracelsus und dessen Lehre und Werke beriefen, um damit ihre eigenen Lehrmeinungen zu begründen und zu rechtfertigen. Im Hinblick auf diese frühneuzeitliche „Paracelsicapublizistik“ versteht die vorliegende Arbeit den frühneuzeitlichen Paracelsismus ferner als eine Oppositions- und Reformbewegung sowohl im medizinischen und naturphilosophischen als auch im theologischen und religiösen Bereich. So sehen wir im frühen Paracelsismus eine „Publikationsoffensive“, die gegen das „Wissensgebäude der konservativen Wissenschaftler“ und zugleich gegen das „Glaubensmonopol der seit der Reformation etablierten Kirchen“ gerichtet war. 4 Einerseits gilt der Paracelsismus als Revisionsanstoß, der sich gegen den Aristotelismus und Galenismus der Schulwissenschaft richtete und im Zuge der Auseinandersetzung mit dem „akademisch-exklusiven Wissensmonopol“ eine „Revision“ der medizinischen und naturkundlichen „Methoden, Weltbilder, Wissensbegriffe“ und „Wissensziele“ forderte, um damit zugunsten der „›Erfahrungs‹-Wissenschaft“ die aristotelisch-scholastische „Buchwissenschaft“ zu überwinden. Anderseits zeigt sich der Paracelsismus auch als religiös-heterodoxe Opposition, die in Verbindung mit der genannten antischolastischen, an dem Erfahrungswissen orientierten Wissensreform die naturtheologische bzw. theosophische Weisheitslehre beansprucht, um zwecks Überwindung der Streittheologie eine Erneuerung des Glaubens und eine neue Frömmigkeit zu fordern. In Anlehnung an den Hinweis des CP, dass die Paracelsisten der frühen Neuzeit ihre 3 Im Folgenden gründet sich die Bestimmung des frühneuzeitlichen ‚Paracelsismus’ auf die Einleitung der Herausgeber des CP, Bd. 1 (2001, S. 1-39) und 2 (2004, S. 1-39), hier Bd. 2, S. 2f. Zu Paracelsus und seiner Wirkung zusammenfassend Art. ‚Paracelsus’ in KLL 2, Bd. 9 (2010), S. 83-90 (W. Kühlmann). 4 CP, Bd.1, S. 18-20; Gilly (1994c), S. 429. 2 Reformansprüche mit „hoffnungsfroher Zuversicht auf eine endzeitliche Restauration“ erhoben, 5 sehen wir schließlich im Paracelsismus eine zukunftsoptimistische Bewegung, die in den ‚chiliastischen’ Endzeitvorstellungen begründet lag. Um diese fortschrittsoptimistische Zukunftserwartung des Paracelsismus deutlich zu machen, ist eine Klärung des Begriffs ‚Chiliasmus’ nötig. Kirchengeschichtlich gesehen ist das Wort ‚Chiliasmus’ ein schillernder „Abstraktbegriff“ für allerlei ketzerische Lehrmeinungen, die auf „Hoffnungen auf ein irdisches Gottesreichs vor dem Jüngsten Tag“ beruhen. 6 Im engeren Sinne des Chiliasmus stellt die Johannes Offenbarung (Apoc, 20), die das Kommen des tausendjährigen Messiasreichs in der Endphase der irdischen Geschichte verkündet, eine grundlegende Bezugsstelle dar. 7 In der vorliegenden Arbeit versteht sich aber der Chiliasmus im weiteren Sinne als diejenige Endzeiterwartung, die nicht nur in der Apokalypse, sondern auch im Evangelium (die synoptische Apokalypse) oder in den apokryphen (etwa das 4. Buch Esra) und außerkanonischen Vorstellungen und Denkfiguren (wie ‚Engelpapst’ und ‚Friedenskaiser’) synkretistisch begründet liegt. 8 Aufgrund geschichtsphilosophischer Konstrukte – z. B. ein ‚Zeitalter des Heiligen Geistes’ oder ein ‚Goldenes Zeitalter’ – äußert 5 CP, Bd. 2, S. 3. 6 Wallmann (1982), S. 190; s. auch List (1973), S. 35-76. Die beide Arbeiten zeigen, dass der Chiliasmus um 1600 vor dem Hintergrund der Etablierung der protestantischen Orthodoxie zu verstehen ist, deren nachreformatorische Dogmatik des 17. Jahrhunderts nicht zuletzt durch Auseinandersetzungen mit den innerprotestantischen Dissidenten und deren chiliastisch geprägten Lehrmeinungen gekennzeichnet ist. Somit ist der Chiliasmus der frühen Neuzeit als heterodoxe Frömmigkeit vor allem im protestantischen Lager hervorzuheben, die trotz der ausdrücklichen Verwerfung durch die Bekenntnisschriften der Reformatoren (seit den 1530er Jahren) eine Zeit irdischer Seligkeit und eine Erneuerung der innerweltlichen Ordnungen verkündete und schließlich im Zuge des Dreißigjährigen Krieges in eine apokalyptisch fundierte, endzeitliche Sehnsucht nach der Überwindung der gegenwärtigen krisenhaften Situation gipfelte. Jedoch ist zugleich zu betonen, dass der frühneuzeitliche Chiliasmus freilich keine ausschließliche Glaubenskultur des Protestantismus ist; s. Überblick über die drei Hauptkirchen und die Dissidenten (‚Kreise außerhalb der Kirchen’) von Korn (1957), S. 119-127. Zur Verurteilung des Chiliasmus durch die frühen Reformatoren in den Bekenntnisschriften (Confessio Augustana , Art. 17, 5; Confessio Helvetica Posterior , Art. 26) ist erhellend Seifert (1986). Zum Chiliasmus zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges vgl. Haase (1933); und neuerdings Narbuntowicz (1994). 7 Zur Grundvorstellung des apokalyptischen Chiliasmus