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SWR2 Musikstunde

Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper Im Zauberreich der Klänge – Glucks (5)

Von Karl Böhmer

Sendung: Freitag, 04.07.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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Musikstunde 04.07.2014 Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper (5) Im Zauberreich der Klänge – Glucks Armide Mit Karl Böhmer

Signet Musikstunde

Ansage: …mit Karl Böhmer. „Antiker Schmerz, griechische Thränen“ – Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper. Teil 5: „Im Zauberreich der Klänge“

Musikstunden-Indikativ Giuliani-Gitarrenmusik, ca. 0‘20

Paris im September 1777. Die königliche Oper erstrahlt im Schein der Kerzen. Hundertfach bricht sich ihr Licht – in kostbaren Kleidern, in vergoldeten Lüstern, im Kostüm der Zauberin Armide. Sie steht in der Mitte der Bühne, den Dolch in der Hand, zu allem entschlossen. Ihr Erzfeind Renauld liegt zu ihren Füßen, schlafend, wehrlos. Es ist , der unbezwingbare Held aus dem Epos Gerusalemme liberata von . In Frankreich heißt er „“. Er möchte erobern, mit dem Heer der Kreuzritter, und nur sie kann es verhindern: alias Armide, die Zauberin, die auf Seiten der Heiden gegen die Christen kämpft. Es ist ihr gelungen, Renaud von seinen Kumpanen zu trennen. „Enfin il est en ma puissance“ – „Endlich ist er in meiner Gewalt“, spricht sie, zückt den Dolch – und ... Alle halten den Atem an, obwohl sie längst wissen, wie die Geschichte ausgehen wird.

Enfin il est en ma puissance (aus: Armide), CD I, Track 27 (2‘23) Mireille Delunsch, , Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Les musiciens du Louvre unter Marc Minkowski begleiteten die Sopranistin Mireille Delunsch in der Rolle der Armide. Wir haben uns ausgeblendet, kurz bevor die rachsüchtige Zauberin von der Liebe überwältigt wird. Sie erblickt den schönen Ritter Renaud, zögert und lässt die Waffe sinken. Statt ihren Erzfeind zu ermorden, entführt sie ihn – als Geliebten in ihr Zauberreich. Paris kennt diese Geschichte seit bald 100 Jahren, seit sie Jean-Baptiste Lully zum ersten Mal auf die Pariser Opernbühne gebracht hatte. Seitdem gilt seine Armide als Inbegriff der „Tragédie lyrique“, der französischen Musiktragödie. „Ein geheiligtes Stück“, so nennt es der Philosoph Rousseau, ein Nationaldenkmal. Doch an jenem Septemberabend wird das Denkmal gestürzt, 3 das Heiligtum entweiht – ausgerechnet von einem Deutschen, vom „Chevalier Gluck“. „Der teutonische Neuerer verdunkelte den Ruhm des Götzen Lully“, so hat es ein deutscher Zeitgenosse formuliert. Bei Gluck singt Armide ihren Monolog nicht mehr über trockenen Continuo- Akkorden wie einst bei Lully, sondern in ein erregtes Orchester hinein. Erst ist sie wild entschlossen, dann wird sie von einer unbegreiflichen Macht zurückgehalten. Es ist die Liebe. Der Hass der Zauberin verwandelt sich in Zuneigung, gleichzeitig wandelt sich der Klang des Orchesters. Eben noch erregt, spricht es nun zärtlich zu ihr. „Venez, secondez mes désirs“, ruft Armide. „Kommt, helft mir, ihr Dämonen, verwandelt euch in Zephirwinde.“ Es sind die Instrumente, die sich verwandeln. Sie tragen Armide und ihren Geliebten davon, leicht wie der sanfte Westwind. Eine weiche Oboe erhebt ihre Stimme über lispelnden Geigen und Flöten. Wieder spielen und singen Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski und Mireille Delunsch:

Gluck: Venez, sécondez mes désirs, CD I, Track 29 (2’09) Mireille Delunsch, Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Wenn die Sänger in Glucks Armide auf die Bühne treten, schallt ihnen aus dem Orchestergraben der ganze Zauber der Natur entgegen. Gluck überlässt es nicht den Theatermaschinen, die Wundermacht seiner Heldin zu beweisen. Sein Orchester selbst wird zum Glitterwerk der Magie. Zum ersten Mal entfaltet es seinen ganzen Zauber, als es gilt, Renaud in den Schlaf zu wiegen. Der Held ist an einer Quelle angekommen, er rastet. Armide nutzt die Gunst der Stunde, um ihren Feind durch die sanfte Gewalt der Klänge zu entwaffnen. Sanft säuselt der Wind, zart plätschern die Wellen und wiegen Renaud in den Schlaf. Dazu hat Gluck eine Melodie für die Traversflöte geschrieben, hoch und zart, über leisen Geigen, die jede Anspannung löst. Marc Minkowsi lässt die Flöte in seiner Aufnahme eine Oktav höher spielen, damit sie klingt wie eine Flötenuhr oder wie eine Nachtigall. Charles Workman singt dazu die berühmte Arie „Plus j’observe“: „Je mehr ich die Gestade betrachte, desto mehr bewundere ich sie. Langsam fließt der Fluss, und liebliche Blumen parfümieren die Luft.“

Gluck: Plus j’observe ces lieux, CD I, Track 20 (bei 3’20 ausblenden) Charles Workman Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

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Wie anders tönte dies noch bei Lully ein Jahrhundert zuvor: Seufzerfiguren im Ebenmaß des Barock, ein Einfall, den sich Bach für seine Matthäuspassion gut einprägte, für den Chor „So schlafen unsere Sünden ein“. Musica Antiqua Köln spielt unter der Leitung von Reinhard Goebel, der Gesang ist hier durch eine Solovioline ersetzt:

Jean-Baptiste Lully: Plus j’observe, Track 25 (3’19) Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel Archiv Produktion 463 446-2, LC 0173

Dem barocken Wellengang des Lully stellt Gluck die freie, zärtliche Kantilene der Aufklärung gegenüber. Doch die Friedlichkeit der Szene täuscht. Hinter den Kulissen dieser Premiere tobt ein Theaterkrieg. An eine Wiener Bankiersgattin schreibt Gluck: „Nie zuvor ist eine grauenvollere Schlacht geschlagen worden als die, welche ich mit meiner Armide entfacht habe. Im Vergleich dazu waren die Kabalen gegen Iphigénie, Orphée und nichts als Scharmützel.“ Seit drei Jahren thront Gluck nun schon unangefochten als König über das Pariser Opernleben, da führen seine Gegner durch eine Intrige bei der Königin einen Rivalen ins Feld: Es ist Niccolò Piccinni, einer der berühmtesten Vertreter der neapolitanischen Schule. Eigentlich ist er ein Spezialist für die buffa, mit dem französischen Musiktheater hat er keinerlei Erfahrung. Dennoch halten ihn Glucks Feinde für den Richtigen, um dem verhassten Deutschen Paroli zu bieten. Die Schönheit der italienischen Melodie soll die rohe Gewalt der Gluckschen Harmonie zum Schweigen bringen. Piccinni lernt Französisch und vor allem, auf Französisch zu komponieren. Und auch er soll eine berühmte Oper von Lully neu vertonen: den . Noch bevor es zu dieser Premiere kommt, erreicht die „Querelle“ zwischen den Gluckisten und Piccinnisten ihren Höhepunkt. Selbst deutsche Gazetten berichten davon: „Jetzt wird der musikalische Krieg zwischen den Freunden des Ritters Gluck und des Herrn Piccinni von Tag zu Tag lebhafter.“ Eine Schlammschlacht ergießt sich über die unfreiwilligen Rivalen. Glucks Feinde nennen ihn den „Grand Hurleur“, den „großen Schreihals“. Sie brandmarken seinen „bruit d’orchestre“, seinen Orchesterlärm, und die „modulations tudesques“, die „teutonischen Modulationen“. Piccinni dagegen wird als Meister der „petits chants“, der „kleinen Liedchen“, verspottet. Bei einem Abendessen treffen die beiden Rivalen aufeinander und verstehen sich blendend. Gluck lästert über die Franzosen: „Sie sind gute Leute, die Franzosen, aber sie bringen mich zum Lachen: Sie wollen, dass man ihnen einen Gesang erfindet, aber sie können nicht singen.“ Ganz ernst gemeint war diese Sottise nicht, denn seiner Armide, der Sopranistin Rosalie Levasseur, hat Gluck einige seiner schönsten Arien in den Mund gelegt. Partout wollte er den Franzosen 5 beweisen, dass er sehr wohl Melodien schreiben konnte, Melodien von einer üppigen Sinnlichkeit, einer „voluptueuse sensation“. In unserem Fall ist es Annette Dasch, die diese Sinnlichkeit ausstrahlt. Die Bayerische Kammerphilharmonie begleitet sie unter der Leitung von David Syrus in der Arie „Ah, si la liberté me doit être ravie.“ „Ach, wenn die Freiheit mir schon geraubt werden muss, wirst du mein Bezwinger sein?“

Gluck: Ah si la liberté, Armida-CD Track 1 (3’40) Annette Dasch, Bayerische Kammerphilharmonie, David Syrus Sony 88697100592, LC 06868

Wie seine Heldin bleibt Gluck äußerlich gelassen, innerlich aber kocht er, besonders über die Angriffe seines Erzfeindes Marmontel: „Man hat mich wegen meiner Musik so sehr geplagt, dass es mich anwidert. Im Augenblick würde ich nicht eine einzige Note für einen Louisdor schreiben ... Da haben Sie also die Revolution der Musik in Frankreich in vollster Pracht! Die Enthusiasten sagen mir: ‚Seien Sie glücklich, Monsieur, wenn Sie die Ehre der Verfolgung genießen, die alle großen Genies ertragen müssen’. Ich für meinen Teil würde sie und ihre schönen Reden gerne zum Teufel schicken.“ Seine dämonische Natur hat der „große Schreihals“ Gluck auch in der zärtlichen Armide nicht verleugnet. Gleich nach der sanften Arie von eben ruft Armide den Hass auf den Plan. Er soll wieder von ihrem Herzen Besitz ergreifen, denn sie fürchtet die Folgen der Liebe. Schon tritt er auf mit seinem widerlichen Gefolge – eine Beschwörungsszene nach allen Regeln der französischen Oper. Die Liebe soll aus dem Herzen der Armide für immer weichen. „Sors, sors du sein d’Armide“.

Gluck: Sort du sein d’Armide, CD I, Track 39 (1’26) Ewa Podles, Mireille Delunsch, Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Ewa Podles war dies in der Rolle des Hasses. Mit ihr im Duett sang Mireille Delunsch, gefolgt vom Chor der Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski. Am Ende hält Armide die Geister auf, die sie gerufen hat. Sie will die Liebe nicht verraten. Der Hass verflucht sie dafür und flieht mit seinen Dämonen. Sie bleibt alleine zurück, zögernd, zweifelnd. Eine bohrende Figur der Bratschen sticht ihr ins Herz. Es ist der Zweifel, ob ihre Liebe Bestand haben werde. Die Melodie der Geigen aber öffnet sich für grenzenlose Zärtlichkeit. Diese junge Frau legt ihr Schicksal ganz in die Hände Amors, und fürchtet doch, verraten zu werden. Jahrzehnte nach Glucks Tod wird diese Szene einen glühenden Bewunderer in Héctor Berlioz finden. Der große Romantiker schreibt: „Die Schönheit dieser 6

Musik liegt im Ausdruck unbestimmter Unruhe und zärtlicher Sehnsucht – also im Allerschönsten, was dramatische Einbildungskraft ersinnen kann. Gewaltig ist das Genie, das eine solche Szene geschaffen hat.“

Gluck: Suis l’amour – O ciel, quel horrible, CD I, Track 40 (1’43) und 41 (1’51) Mireille Delunsch, Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Das Ende des dritten Aktes aus Glucks Armide, gesungen von Mireille Delunsch. Nicht nur der Hass und seine Dämonen bringen düstere Farben ins Zauberreich der Töne. Glucks Armide kennt auch das „Merveilleux naturel“, den Aufruhr der Natur in stürmischen Entladungen, und die Ungeheuer, die „Monstres terribles“. Zwei Kreuzritter wollen ihren Freund Renaud aus den Fängen der Zauberin befreien, doch ihrem Aufstieg stellen sich raue Winde und furchterregende Ungeheuer entgegen. Der Kampf scheint aussichtlos, bis einer der Beiden ein goldenes Szepter zückt. Damit zähmt er die Ungeheuer und erzwingt einen „libre passage“, einen freien Durchgang. Die Monster ziehen sich kleinlaut zurück, die wüste Gegend verwandelt sich unversehens in eine liebliche Landschaft. Wieder wandelt sich mit dem Bühnenbild auch der Klang des Orchesters. Die heulenden Bläser und wüsten Tremoli machen einer lieblichen Musik Platz:

Gluck: Nous ne trouvons partout, CD II, Track 1 (3’02) Yann Beuron, Brett Polegato Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Das waren die beiden Kreuzritter im Kampf mit den Drachen, gesungen vom Yann Beuron und vom Bariton Brett Polegato. Kaum sind die Drachen besiegt, schon droht den Rittern neues Ungemach: erotische Verführung. Armide schickt zwei ihrer Helferinnen ins Feld und verwandelt sie in die Geliebten der beiden Ritter. Keiner der Beiden kann der Lockung widerstehen: Erst geht der eine der Verführung ins Netz und wird in letzter Sekunde von seinem Freund gerettet, dann umgekehrt. Laszivere Töne hat Gluck nie geschrieben, eine Musik, die vor sinnlicher Verzückung geradezu bebt. Wieder ist es Héctor Berlioz, der dafür die passenden Worte findet: „Vom Ausdruck gefiel mir die Szene im Liebesgarten am besten. Mir war, als hätte mich eine wollüstige Sehnsucht in diesen erträumten Liebespalast getragen. Ich schloss die Augen, und während ich diesem himmlischen Tanz mit seiner einschmeichelnden Melodie lauschte und dem Chor der Glückseligkeit, sah ich um mich her reizende Arme sich umschlingen, entzückende Füße sich 7 kreuzen, duftendes Haar sich lösen, Augen wie Diamanten funkeln und berauschendes Lächeln tausendfach erstrahlen.“

Gluck: Voici la charmante retraite, CD II, Track 3 (2’18) Nicole Heaston Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Die Sopranistin Nicole Heaston und der Chor der Musiciens du Louvre sangen diesen getanzten Chor aus dem Liebesgarten der Armide. Am Ende kommt es, wie es kommen muss: Die Ritter überwinden alle Hindernisse. Sie finden Renaud alleine, für einen kurzen Moment von Armide verlassen. Ein einziger Ruf zu den Waffen genügt, um den Soldaten in ihm wach zu rütteln: „Notre Géneral vous rappelle!“ „Unser General ruft dich, der Sieg wird dir unsterblichen Ruhm bescheren.“ Sofort gehorcht Renaud dem Befehl:

Gluck: Notre Général vous appelle, CD II, Track 22 (1’11) Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Gluck hat hier den Franzosen tief in ihre kriegerische Seele geblickt. Wie viele junge Pariser sind so dem Appell ihrer Generäle gefolgt, um auf dem Schlachtfeld einen blutigen Heldentod zu sterben? Wie viele junge Frauen mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Geliebten sich einem zweifelhaften Ruhm in die Arme warfen, statt ihrer Liebe treu zu bleiben. Auch Armide versucht vergeblich, den Helden aufzuhalten. All ihr Flehen, ihre Beteuerungen, die offenen Wunden ihrer Liebe helfen ihr nicht. Mehr als ein achselzuckendes „Oh, malheureuse Armide“ bringt ihr Freund nicht hervor. Am Ende sind es die beiden Kreuzritter, die ihn von der Geliebten losreißen. Hier die große Abschiedsszene gegen Ende des fünften Aktes. Mireille Delunsch ist wieder Armide, Charles Workman singt den Renaud. Die beiden Ritter werden von Yann Beuron und Brett Polegato gesungen:

Gluck, Abschiedsszene, CD II, Track 23 (5’19) und 24 (0’49) Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Allein gelassen verzweifelt Armide. Ihre Zauberkräfte sind ihr geraubt. Mit der Kraft der Verzweiflung zerstört sie am Ende ihr ganzes Zauberreich. Voller Bewunderung werden Musiker späterer Generationen diese Szene beschreiben, wie etwa E. T. A. Hoffmann: „Alles, was Hass, Liebe, Verzweiflung, 8

Raserei in den stärksten Zügen ausdrücken kann, fasste er gewaltig in Töne zusammen.“ Die Zeitgenossen dagegen sind nicht restlos überzeugt – wie so oft bei Opernschlüssen von Gluck, obwohl der Meister hier ausnahmsweise kein „lieto fine“, kein versöhnliches Ende komponiert hat. Wilhelm Heinse, Hofbibliothekar in Mainz und ein bedeutender Dichter der Goethe-Ära, widmet der Armide mehrere Seiten in seinem Musikerroman Hildegard von Hohenthal. Er vergleicht Glucks Oper mit einer anderen Version des Stoffes: mit der Armida abbandonata von Niccolò Jommelli. Der große Italiener hat diese Oper 1770 für Neapel geschrieben, der kleine Mozart ist Zeuge der Uraufführung. Er findet Jommellis Armida zwar schön, aber „viel zu gescheid, und zu altvätterisch fürs theatro.“ Heinse dagegen sieht in Jommellis Oper sein höchstes Ideal verwirklicht. „Glucks Armida muss mit all ihrem Pomp doch der von Jommelli weichen“ Zum Schluss dieser Sendung und der ganzen Musikstundenstundenwoche über Gluck, deshalb hier ein Vergleich: die Verzweiflung der Armida, zunächst in der Version von Jommelli, anschließend in der von Gluck. Beide Komponisten sind 1714 geboren worden, beide gelten schon den Zeitgenossen als Genies, der eine als Inbegriff der Opera seria, der andere als Reformator der italienischen Oper und Vollender der französischen. Entscheiden Sie selbst, welchem Sie den Vorzug geben. Hier zunächst die verzweifelte Armida bei Jommelli. Heinse schreibt dazu: „Der Triumph der italienischen Musik über alles andere. Man kann nicht mit mehr wahrer Leidenschaft, mit reinerer Keuschheit, mit mehr Adel im Ausdruck solche Worte und Situation in Töne bringen.“ Armidas Verzweiflung im Rezitativ steigert sich in der Arie zur puren Raserei:

Niccolò Jommelli: Odio, furor, dispetto (aus Armida abbandonata), CD III, Tracks 5,6 Rezitativ (1,07’) und Arie (ausblenden bei 0:57) Ewa Malas-Godlewska , FNAC Music 592326 WM 382, LC ?

Das Delirium der Armida bei Jommelli, gesungen von Ewa Malas-Godlewska, begleitet von Les Talens lyriques unter Christophe Rousset. Und nun die verzweifelte Armide am Ende von Glucks Oper. Bei Wilhelm Heinse heißt es dazu folgendermaßen: „Der Schluss ist bei Gluck voll Feuer, kommt aber dem im zweyten Akt von Jommelli an Schönheit, Pittoreskem und Leidenschaft nicht gleich.“ Es singt noch einmal Mireille Delunsch, begleitet von den Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski:

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Gluck: Quand le barbare était en ma puissance (aus: Armide), CD II, Track 26 (3‘15) Mireille Delunsch, Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 459 616-2, LC 0113

Noch einmal sei Wilhelm Heinse zitiert. Er fasst die Größe von Glucks Armide in folgenden Sätzen zusammen: „Was Gluck von allen unterscheidet, ist die Einheit der Instrumentalmusik durch das Ganze; und die immerwährend eigne Deklamation der Stimmen voll Rhythmus. Es ist Gluckischer Accent, Gluckische Originalität. Der vortreffliche Ausdruck des Heftigen, Gewaltigen und Leidenden setzt ihn unter die ersten tragischen Meister.“ Ein besseres Schlusswort könnte man sich für diese Musikstundenwoche zum 300. Geburtstag von Christoph Willibald Gluck nicht wünschen. Die Manuskripte zu den Sendungen finden sie wie immer im Internet unter www.swr2.de/musikstunde. Morgen stellt Ihnen Günther Huesmann in der SWR2 Musikstunde wieder „Jazz across the border“ vor. Und hier und heute verabschiedet sich am Mikrophon Karl Böhmer.