Laudatio

Wilhelm Deist zum 70. Geburtstag

Am 7. Oktober 2001 beging Professor - einer der bedeutend- sten Militärhistoriker der Bundesre- publik - seinen 70. Geburtstag. Es ist nicht zuletzt auch sein Verdienst, wenn die deutsche militärgeschichtli- che Forschung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Agonie danieder lag, heu- te wieder eine international angese- hene Position zurückgewonnen hat. Wilhelm Deist, der als Sohn eines Mi- litärarztes geboren wurde, gehört je- ner unmittelbaren Nachkriegsgenera- tion an, für die bei Kriegsende 1945 je- ne Weltsicht zusammenbrach, welche ihnen durch die nationalsozialistische Propaganda gepredigt worden war, unter Umständen, die es nicht erlaubt hatten, sich auf der Grundlage unab- hängiger Informationen ein eigenes Bild der Verhältnisse zu machen. Rolf Schörken hat exemplarisch beschrie- ben, wie es in den Köpfen der Generation ausgesehen hat, die bei Kriegsende 15 Jahre alt war: Die Erschütterung ging in die >Tiefe<; »die Menschen wurden [...] auf sich selbst zurückgeworfen«1. Ich selbst habe dies, kaum älter als Wilhelm Deist, in etwas anderer Weise auch erfahren. Es war Ende der vierziger Jähre nicht ein- fach, innerlich wieder auf festem Boden zu stehen und der Welt, nach dem großen Betrug, den man an dieser Generation begangen hatte, einen neuen Sinn abzuge- winnen. Es ist insofern kein Zufall, daß Wilhelm Deist schließlich ein Geschichtsstudi- um aufnahm, um intellektuell mit den katastrophalen Fehlentwicklungen der jüng- sten deutschen Geschichte ins reine zu kommen. Er studierte in Tübingen und Frei- burg und promovierte dort 1956 bei Gerhard Ritter mit einer Untersuchung über »Die Haltung der Westmächte gegenüber Deutschland während der Abrüstungs- konferenzen 1932/33«. Anschließend ging Wilhelm Deist in den Schuldienst und nahm eine Lehrtätigkeit in Stuttgart auf. 1961 wurde er als Wissenschaftlicher Mit- arbeiter an das nur wenige Jahre zuvor gegründete Militärgeschichtliche For- schungsamt (MGFA) in Freiburg berufen. Damals freilich mußten die »zivilisti- schen« Angehörigen des MGFA, die, wie Deist keinen Wehrdienst abgeleistet hat- ten, noch um ihre Gleichberechtigung kämpfen. Obschon er in hohem Maße auch

Rolf Schörken, Jugend 1945: Politisches Denken und Lebensgeschichte, Opladen 1990, S. 39.

Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001), S. IX-XVI © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam X MGZ 60 (2001) Wolfgang J. Mommsen

in andere Aktivitäten des Forschungsamtes eingebunden war, fand er gleichwohl die Möglichkeit zu kreativer wissenschaftlicher Arbeit. Wilhelm Deist hat - als Arbeitsgruppen- und Projektleiter enger Mitarbeiter Manfred Messerschmidts - und dann ab 1989 als Direktor und Professor in der Funktion des Leitenden Historikers das wissenschaftliche Profil des Militärge- schichtlichen Forschungsamts in wesentlichem Umfang mitgeprägt. Für zwei Jahr- zehnte war er unter verschiedenen Herausgebern - zunächst der damalige Amts- chef allein, später in Verbindung mit dem jeweiligen Leitenden Historiker - einer der Redakteure der Militärgeschichtlichen Mitteilungen (MGM). In großer Be- scheidenheit verrichtete er die Kärrnerarbeit in der Redaktion. Er war ein kompe- tenter Ansprechpartner für die Autoren, und er in erster Linie gab den Anstoß da- zu, ein weitgespanntes wissenschaftliches Netzwerk zu knüpfen, das zunehmend auch die ausländische, vor allem die angelsächsische Forschung einschloß. Auf diese Weise gelang es, die Aktivitäten des Forschungsamtes aus der relativen Iso- lation einer Spezialdisziplin, die anfänglich am Rande der Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit stand, herauszuführen und zunehmend enger mit der universitären Wissenschaft in Verbindung zu bringen. Dies erschließt sich eindrucksvoll, wenn man die Fülle der in den MGM erschienenen Beiträge und zahlreichen wissenschaftlichen Rezensionen Revue passieren läßt. Außerdem war er von 1975 bis 1988 Mitherausgeber des War and Society Newsletter. Wilhelm Deist hatte einen wachen Blick für all das, was sich in der jüngeren deutschen, aber auch der außerdeutschen Geschichtsschreibung tat, und ließ zudem die verschie- densten Positionen der Forschung in den MGM zu Worte kommen. Dabei war es hilfreich, daß seine eigenen Arbeiten zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik, die sich durchweg an der Nahtstelle zwischen Militärgeschichte und allgemeiner politischer Geschichte bewegten, zunehmend in der deutschen Geschichtswissen- schaft beachtet wurden, zumal diese sich damals selbst in einer Phase des Um- bruchs befand. 1989, als Deist zum Nachfolger Messerschmidts als Leitender Historiker des MGFA berufen worden war, wurde er nun auch formell Herausge- ber der Militärgeschichtlichen Mitteilungen neben dem damaligen Amtschef. In mancher Hinsicht stand Wilhelm Deist in der Tradition seines akademischen Lehrers Gerhard Ritter. Dessen eigenes historiographisches Werk ging noch bis in das späte Kaiserreich zurück. Ritter war einer der wenigen deutschen Historiker, die in den dreißiger Jahren keine nennenswerten Konzessionen an das national- sozialistische Regime gemacht hatten. Deshalb fiel ihm nach 1945 eine Schlüssel- stellung in der westdeutschen Geschichtswissenschaft zu. Gerhard Ritter bestritt prinzipiell nicht, daß eine grundlegende Revision herkömmlicher historiographi- scher Auffassungen anstand. Aber gleichwohl suchte er von der Hinterlassenschaft der deutschen Historiographie nach 1945 zu retten, was noch zu retten war. Dies galt nicht zuletzt auch hinsichtlich der Einschätzung der Rolle des Militärs in der deutschen Geschichte. In seiner großen vierbändigen Darstellung über »Staats- kunst und Kriegshandwerk« hatte er das Ziel verfolgt, nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Traditionen des deutschen Militärs seit Friedrich dem Großen kritisch zu würdigen. Fritz Fischers Thesen über den von einem hyper- trophen Militarismus angetriebenen »Griff nach der Weltmacht« suchte Ritter in seiner Darstellung des Ersten Weltkrieges zu entkräften, freilich unter Preisgabe des militaristischen Gewaltmenschen Ludendorff, dem er die wesentliche Verant- wortung dafür zurechnete, daß die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg in die Bah- nen eines ungebremsten Militarismus geriet. Wilhelm Deist zum 70. Geburtstag XI

Solcherart wurde Wilhelm Deist von Anbeginn mitten in heftige Forschungs- kontroversen über die deutsche Militärpolitik in der Ära des Wilhelminismus und des Ersten Weltkrieges hineingeworfen. Er schlug jedoch von vornherein einen ei- genen, unabhängigen Weg ein, nämlich den einer kritischen Aufarbeitung der jün- geren deutschen Militärgeschichte, die sich zugleich vorurteilslos den Forschungs- ansätzen der neueren Sozialgeschichte öffnete. Seine eigene Konzeption von Mi- litärgeschichte war von Anfang an himmelweit von jener älteren Form der Kriegs- geschichtsschreibung entfernt, welche die militärischen Ereignisse vor allem danach befragte, was künftige Generationen von ihnen für Strategie und Kriegführung lernen könnten, um es womöglich im nächsten Krieg besser zu machen. Er hielt es mit Clausewitz, dem zufolge der Krieg die Fortführung der Politik mit anderen Mit- teln sei und demnach Kriegsgeschichte stets die politischen Bedingungen berück- sichtigen müsse, unter denen die militärische Macht stehe und operiere. Nicht zu- fällig nahm er in seinen späteren Arbeiten vorzugsweise die Nahtstellen zwischen Politik und militärischer Strategie bzw. Kriegführung unter die Lupe. Seit Ende der fünfziger Jahre hat sich Wilhelm Deist dann in einem immer brei- ter fließenden Strom von Aufsätzen, Abhandlungen und Quellenpublikationen dem weiten Feld der Militärpolitik des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zu- gewandt. Im Vordergrund stand dabei die Frage nach den Ursachen des deutschen Sonderwegs, der schließlich in die Katastrophen der beiden Weltkriege und der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus einmünden sollte. Viele seiner Beiträge hatten eine unmittelbare Wirkung auf den Gang der wissenschaftlichen Diskussi- on. Sein 1966 erschienener Aufsatz über »Die Politik der Seekriegsleitung und die Rebellion der Flotte Ende Oktober 1918«2 fand damals große Beachtung. Er zeigte aufgrund neu erschlossener Quellen erstmals, daß die Seekriegsleitung vor dem Aufstand tatsächlich einen Vorstoß der Flotte gegen England ins Auge gefaßt hat- te, mit dem Ziel, wenn man denn schon die Zerstörung der Seekriegsflotte nicht mehr abwenden könne, so doch deren Ehre durch einen letzten Waffengang zu ret- ten, um ein künftiges Wiedererstehen nicht von vornherein zu belasten. Plötzlich erschien der »Hochverrat« der Matrosen in Kiel, der die Novemberrevolution aus- gelöst hatte, in einem neuen, positiven Licht. Streckenweise in Zusammenarbeit mit Herbert Schottelius und Volker Berg- hahn hat Wilhelm Deist in der Folge bahnbrechende Untersuchungen und Doku- mentationen über die Rolle der Marine im Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg vorgelegt. Dabei ging es ihm vor allem darum, die Scharniere zwischen Politik und militärischen Planungen bzw. der Aufrüstung aufzudecken. Seine Untersuchung »Flottenpolitik und Flottenpropaganda. Das Nachrichtenbureau des Reichsmari- neamtes 1897 bis 1914« aus dem Jahre 1976 beschäftigte sich mit einer Thematik, in der militärische und politische Faktoren unauflöslich miteinander verklammert waren: der von Alfred von Tirpitz meisterhaft orchestrierten Flottenpropaganda des Reichsmarineamts. Diesem gelang es bekanntlich, in der deutschen Öffent- lichkeit eine starke Bewegung zugunsten eines deutschen Schlachtflottenbaus zu wecken, diese aber gleichzeitig so zu lenken, daß eine außenpolitische Gefährdung des Flottenbaus durch eine allzu lautstarke Propaganda, welche englische Gegen- maßnahmen hätte auf den Plan rufen können, vermieden wurde. Es war dies ein Thema nach Deists Geschmack, das ihm erlaubte, die Verflechtungen der inneren und der äußeren Politik mit den militärpolitischen Entwicklungen eindrucksvoll

2 In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 14 (1966), S. 341-368. XII MGZ 60 (2001) Wolfgang J. Mommsen

zu schildern; einmal mehr zeigte er sich zugleich als Meister in der Analyse der komplexen bürokratischen Herrschaftsstrukturen und des gebremsten Parlamen- tarismus im Kaiserreich. • Seitdem hat Wilhelm Deist in zahlreichen Aufsätzen die Interdependenzen von Militär, Staat und Gesellschaft behandelt3. Dabei stand zweierlei im Vordergrund, zum einen die soziale Struktur der Armee und des Offizierkorps, zum anderen die Mentalität der militärischen Führungseliten und deren Abhängigkeit von den je- weiligen Spitzen des Staates, im Kaiserreich von Wilhelm II. und späterhin von Adolf Hitler. Sein besonderes Augenmerk galt dem Verhältnis von Armee und Ar- beiterschaft, nicht zuletzt im Hinblick auf die Tatsache, daß dem wilhelminischen Offizierkorps die rigorose Bekämpfung der Sozialdemokratie, falls notwendig auch mit der Waffe, zur Pflicht gemacht worden war. Die Paradoxie war, daß die von den Sozialdemokraten vertretene Arbeiterschaft im Ernstfall an Wehrwilligkeit hinter anderen Sozialschichten keinesfalls zurückstand, sondern im Gegenteil, so- lange die militärische Führung mit Augenmaß operierte, ihre militärischen Pflich- ten mehr noch als andere soziale Gruppen uneingeschränkt erfüllte. Die Blindheit des Offizierkorps in sozialer Hinsicht darf als einer der langfristig maßgeblichen Faktoren für die Niederlage von 1918 gelten. Mit solchen Fragestellungen, die sich den neueren Entwicklungen auf dem Ge- biete der Sozialgeschichte und neuerdings der Mentalitätengeschichte öffneten, bahnte Wilhelm Deist neue Wege für eine zeitgemäße Militärgeschichte, die den Bannkreis der traditionalistischen »Kriegsgeschichtsschreibung« hinter sich ließ. Militärgeschichte war nun nicht länger eine Spezialdisziplin, die der allgemein ar- beitende Historiker getrost links liegen lassen konnte. Der Schwerpunkt von Deists Arbeiten lag für lange Zeit auf der Erforschung des Ersten Weltkrieges, in der Erkenntnis, daß hier viele der Weichenstellungen erfolgt sind, die dann auch die folgende Entwicklung maßgeblich bestimmen sollten. Sei- ne große zweibändige Quellenedition »Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 bis 1918«4 war in vieler Hinsicht bahnbrechend. Die sorgfältige Erschließung der gerade für diesen Zeitraum teilweise spärlich fließenden Quellen schuf neue Grund- lagen für die Geschichte des Ersten Weltkrieges. In nüchterner Distanzierung von älteren nationalgeschichtlichen Interpretationen, welche von der wesentlichen Ein- heit des nationalen Wollens der Deutschen im Kriege ausgingen, zeigte er ein- drucksvoll die Komplexität der politischen und militärischen Führungsstrukturen im Deutschen Reich. Diese trug dazu bei, daß die verantwortlichen Staatsmänner und Militärs, von den Politikern und Gewerkschaftlern auf den unteren Ebenen des politischen Systems ganz zu schweigen, niemals ein klares Bild, sei es über die tatsächlichen Verhältnisse im Innern, sei es über die militärische Lage gewinnen konnten. Im Gegensatz zu der Ideologie der »deutschen Freiheit«, die das deut- sche Verfassungssystem als eine glückliche Kombination von autoritären und frei- heitlichen Formen der Machtausübung pries, welche den westlichen parlamenta- rischen Systemen haushoch überlegen sei, zeigten sich im Laufe des Krieges die Schwächen des bestehenden halbautoritären Systems mit starkem bürokratischen Einschlag immer deutlicher. Während des Krieges kam es zu einer fortschreiten-

3 Siehe dazu den vom MGFA herausgegebenen Sammelband Wilhelm Deist, Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991. 4 Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Zweite Rei- he: Militär und Politik, 2 Bde, Düsseldorf 1970. Wilhelm Deist zum 70. Geburtstag XIII den Zersplitterung des Herrschaftsapparates in unterschiedliche Machtzentren, angefangen von den Stellvertretenden Generalkommandos, den bundesstaatlichen Behörden, den zahlreichen Sonderbevollmächtigten, bis hin zum Reichskanzler einerseits, dem Generalstab andererseits, mit einem geltungsbedürftigen, aber sei- nen Aufgaben keinesfalls gewachsenen und im Grunde verantwortungsscheuen Monarchen an der Spitze. In der Polykratie des deutschen Regierungssystems sah Wilhelm Deist eine der schädlichsten Folgen des autoritären Nationalstaats deutscher Prägung. Dies hat- te besonders bedenkliche Auswirkungen auf die deutsche Politik während des Er- sten Weltkrieges. Durch eine vielfach willkürlich gesteuerte Pressepolitik, die Deist erstmals eindringlich vorgestellt hat, und die Servilität einer nationalen Presse, die sich zumeist kritiklos den Vorgaben der Behörden beugte, wurden die wirklichen Probleme vernebelt und die breitere Öffentlichkeit in einen Taumel maßloser Sie- geserwartungen versetzt, aus dem schließlich kein Weg mehr heraus führte. Selbst die dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff traute sich an- gesichts der zerfahrenen Strukturen am Ende nicht mehr, die Macht im Reiche auf- zugreifen und persönlich die politische Verantwortung zu übernehmen. Sie be- schränkte sich weiterhin auf unverantwortliches Hineinregieren in die Politik der Reichsleitung und beeinträchtigte das Vertrauen der Massen in die politische und militärische Führung immer stärker. Wie Deist in einer eindrucksvollen Abhand- lung über die Voraussetzungen innenpolitischen Handelns des Militärs im Ersten Weltkrieg gezeigt hat, hatte die Oberste Heeresleitung angesichts ihres kompro- mißlosen, engstirnigen Widerstands gegen die sogenannte Neuorientierung die Chance verspielt, einen Modus vivendi mit dem Reichstag zu finden, dem bei Lage der Dinge immer mehr Macht zugewachsen war; wäre dies anders gewesen, so wäre eine populistische Diktatur der Obersten Heeresleitung möglicherweise ein Ausweg gewesen5. Mit Zwang und mittels einer Intensivierung der nationalisti- schen Propaganda, nicht zuletzt mit dem Instrument des »vaterländischen Unter- richts«, konnte der fortschreitende Vertrauensverlust in die politische und mi- litärische Führung im Innern wie in der Armee zwar lange verzögert, aber am Ende nicht mehr abgewendet werden. Im Gegenteil, der Stimmungseinbruch war, als Ende September 1918 die Wahrheit über die verzweifelte Lage des Reiches allge- mein bekannt wurde, dann um so massiver. I Der Kult des »Willens«, der im deutschen Offizierkorps verbreitet war und den Deist eindrucksvoll schildert, führte am Ende zu einer fortschreitenden Uber- spannung der Kräfte der deutschen Armeen. Ludendorff aber weigerte sich, über diesen Tatbestand Rechenschaft zu geben. Die Märzoffensive 1918 brachte be- kanntlich noch einmal eine Steigerung der Kampfmoral der Truppen an der West- front, verbunden mit der Erwartung, daß diese Offensive endlich zu einem Ende des fürchterlichen Grabenkrieges und zum Frieden führen werde. Mit dem Schei- tern der Märzoffensive aber kam es zu einem schweren Stimmungseinbruch und streckenweise zu einem Zusammenbruch der Kampfmoral, ein Sachverhalt, der sich in einer sprunghaft steigenden Zahl von Kriegsgefangenen sowie, bedeutsa- mer noch, in zahlreichen Versuchen zeigte, sich dem Einsatz an der Front auf un- terschiedlichste Weise zu entziehen.

5 Vgl. Wilhelm Deist, Zur Institution des Militärbefehlshabers und Obermilitärbefehlsha- bers im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd 13/14,1965, S. 222-240. XIV MGZ 60 (2001) Wolfgang J. Mommsen

Wilhelm Deist hat sich diesen mit erheblicher politischer Brisanz verbundenen Fragen mit der ihm auch sonst eigenen, nüchternen Methode zugewandt und sich dabei von den festgefahrenen Fronten in der Forschung nicht beirren lassen6. Auf der Grundlage der amtlichen Sanitätsberichte hat er das Ausmaß der Erschöpfung der Armeen an der Westfront ausgelotet und den Umfang dieser Verweigerungs- haltung genauer bestimmt. Er spricht von einem »verdeckten Militärstreik«, der sich seit April 1.918 an der Westfront immer weiter ausgebreitet und zu einer fort- schreitenden Schwächung der Kampfkraft der dort eingesetzten Verbände geführt habe. Es handelte sich dabei wohlgemerkt nicht eigentlich um Desertion, sondern um eine breite Protestbewegung, die sich primär gegen erneute, verlustreiche und offensichtlich aussichtslose Offensiven, letztlich jedoch gegen die militärische Führung als solche richtete, mit dem Ziel, ein baldiges Ende des Krieges zu er- zwingen. Die Rebellion der Matrosen in Kiel hat also, so Wilhelm Deist, in der Ver- weigerungshaltung der Soldaten an der Westfront durchaus eine Entsprechung ge- habt. Erst vor diesem Hintergrund, so lautet seine These, habe sich die Dolch- stoßlegende entwickelt, als eine Strategie zur Abwälzung der Verantwortung der militärischen Führung für ihre rücksichtslose, die Leistungsfähigkeit der militä- rischen Verbände immer stärker überfordernde Kriegführung. Mit diesen, den For- schungsstand revolutionierenden Thesen hat Wilhelm Deist große Beachtung ge- funden; die Konsequenzen für die Interpretation des Ersten Weltkrieges und für die Deutung der sogenannten Dolchstoßlegende sind bislang noch nicht vollständig ausgelotet. Das Schwergewicht der Forschungen von Wilhelm Deist liegt auf diesen - nach wie vor brisanten - Themen. Jedoch hat er sich im Zuge seiner Tätigkeit am Mi- litärgeschichtlichen Forschungsamt auch der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrie- ges zugewandt. Neben mehreren Studien zur Militärpolitik der zwanziger Jahre hat er eine sehr interessante Abhandlung über die Wandlungen des Kriegsbilds der militärischen Eliten vorgelegt; jenes sei zwar keineswegs einheitlich gewesen, doch finden sich schon Anfang der zwanziger Jahre die Hoffnung auf den Auf- stieg einer großen militärischen Führergestalt, welche kraft ihrer charismatischen Fähigkeiten die Geschlossenheit des Kriegswillens der ganzen Nation gewährlei- sten werde, und ebenso die Vision des alle Schichten der Gesellschaft einbezie- henden Volkskriegs als Reaktionen auf die - gemessen an den Maßstäben der Groß- machtpolitik der Wilhelminischen Epoche - militärpolitisch ziemlich aussichtslose Lage der Weimarer Republik7. Solche mentalen Antizipationen haben natürlich später Hitler die Wege geebnet. Darüber hinaus hat Wilhelm Deist das Projekt einer großen Gesamtdarstellung »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« seitens des Militärgeschichtlichen Forschungsamts mit auf den Weg gebracht. Der erste Band mit dem Titel »Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik«8 enthält unter anderem eine

6 Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreiches. Zur Realität der »Dolchstoßlegen- de«, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus. Hrsg. von Ursula Büttner. Bd 1: Ideologie, Herrschaftssystem, Wirkung in Europa, Ham- burg 1986, S. 101-129; ders., Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Hrsg. von , München 1992, S. 146-167. 7 Vgl. Wilhelm Deist, Die Reichswehr und der Krieg der Zukunft, in: MGM, 45 (1989), S. 81-92. 8 Stuttgart 1979. Insgesamt sind von diesem großen Projekt inzwischen 7 Bände erschie- nen. Wilhelm Deist zum 70. Geburtstag XV erschöpfende Darstellung der »Aufrüstung der Wehrmacht« aus seiner Feder, die an Materialreichtum und Präzision der Analyse der wechselvollen Abläufe kei- nerlei Wünsche offenläßt. Wilhelm Deist zeichnet aufgrund eines ungewöhnlich reichhaltigen, durchweg aus den Quellen neu erschlossenen Materials die ver- schiedenen Stadien der Aufrüstung der Teilstreitkräfte bis ins einzelne nach. Da- bei ergibt sich, daß die Ausweitung des Sollbestands des Heeres im ganzen Zeit- raum als wichtigste Vorgabe betrachtet wurde, gemäß der von Hitler vorgegebe- nen Marschroute, daß die »Wiederwehrhaftmachung des deutschen Volkes« das vordringlichste Ziel sein müsse. Sachliche Gesichtspunkte, die für ein langsameres, schrittweises Vorgehen sprachen, so beispielsweise das Fehlen einer ausreichen- den Zahl von gut ausgebildeten Offizieren, aber auch die zahlreichen Versor- gungsengpässe, die sich insbesondere ab 1936 im Zuge der forcierten Rüstungs- anstrengungen des Reiches einstellten, wurden wider besseres Wissen vernach- lässigt, von den außenpolitischen Aspekten ganz abgesehen. Das politische Ziel, nämlich eine möglichst rasche Wiederherstellung des »Wehrwillens« des deutschen Volkes, erhielt Vorrang vor einer planmäßigen Aufrüstung unter angemessener Berücksichtigung der personellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. In diesem Zusammenhang spart Wilhelm Deist nicht mit Kritik an der mili- tärischen Führungselite. Mit der Inkraftsetzung des umfassenden Rüstungsplans vom 6. Dezember 1936 war endgültig die Entscheidung zugunsten des Aufbaus eines zur offensiven Kriegführung fähigen Heeres gefallen und damit die Identi- fikation des Offizierkorps mit Hitlers weitgreifenden Kriegsplänen auch materiell verankert. Von der Stellung der Reichswehr als eigenständiger Faktor im politi- schen Kräftespiel, auf deren Behauptung die Führungselite der Reichswehr so lange größten Wert gelegt hatte, konnte hinfort nicht mehr die Rede sein. Im übrigen wirkt der Nachweis gespenstisch, daß sich die Bestellungen von Rüstungsmate- rial nunmehr gezielt über den Planungszeitraum von 1939 hinaus erstreckten, um den Aufbau und die Unterhaltung entsprechender Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie auch nach diesem Zeitpunkt zu gewährleisten, obschon dann kein weiterer Bedarf bestand. Der Chef des Allgemeinen Heeresamtes hielt dann auch dafür, daß dies nur vertretbar sei, wenn es auch zum Einsatz der Reichswehr - d.h. zum Kriege - kommen werde. Auf Wilhelm Deists sorgfältige Analyse der Rüstungsanstrengungen insbe- sondere der Marine und der Luftwaffe sei hier nicht weiter eingegangen. Von Deist, der die Interdependenz dieser Entwicklungen stets im Auge behalten hat, wird ei- nes klar herausgearbeitet, nämlich, daß es weder zu einer Koordinierung der Be- schaffungspolitik noch zu gemeinsamen strategischen Planungen der einzelnen Teilstreitkräfte gekommen ist, in Wiederholung der entsprechenden Fehler der deutschen Rüstungspolitik unter Wilhelm II. Wildes Wachstum, noch dazu unter Bedingungen sich stetig verschärfender Konkurrenzkämpfe der Teilstreitkräfte um Ressourcen und - konsequenterweise - um die Gunst Adolf Hitlers, bestimmte die Planungen, nicht rationales Kalkül. Deist bezweifelt zwar nicht, daß die hektische und rein technisch gesehen überaus erfolgreich durchgeführte Aufrüstung der deutschen Wehrmächt im Zeitraum von 1932 bis 1939 wesentlich auf das politi- sche Wollen Adolf Hitlers zurückging, aber er stellt dem Machtwillen des Dikta- tors die »Eigendynamik der teilstreitkraftbezogenen Aufrüstung« als einen eigen- ständigen Faktor zur Seite, der zur Destabilisierung der Mächteverhältnisse in Europa und schließlich zum Zweiten Weltkriege womöglich beigetragen habe. Am Ende sei auch Hitler durch die Selbstläufigkeit des Prozesses der Aufrüstung un- XVI MGZ 60 (2001) Wolfgang J. Mommsen

ter Zugzwang gesetzt worden. Deist gelangt, in einer in der Beilage zu »Das Par- lament« veröffentlichten Zusammenfassung der Ergebnisse dieses ersten Bandes des insgesamt auf 10 Bände angelegten Werkes9, zu dem Schluß, daß die bewußte Ablehnung aller internationalen Bindungen für die eigene Rüstung sowie die sich daraus ergebende Beurteilung der Lage dem Aufrüstungsprozeß eine Eigendyna- mik verliehen haben, deren generelle politische und wirtschaftliche Auswirkun- gen für die Phase von 1933 bis 1939 kaum zu überschätzen sind10. Wilhelm Deist kann mit Zufriedenheit auf ein breites, zugleich aber wissen- schaftlich gewichtiges CEuvre zurückblicken. Die Anerkennung seitens der wis- senschaftlichen Forschergemeinschaft ist denn auch nicht ausgeblieben. Schon 1978 wurde ihm ein Leverholme Fellowship des St. Anthony's College in Oxford zuer- kannt, und seit einigen Jahren ist er auch Mitglied des Wissenschaftlichen Komi- tees des »Historial de la Grande Guerre« in Peronne (Somme). 1991 veröffentlich- te das MGFA ihm zu Ehren einen Sammelband seiner Aufsätze zur Militärge- schichte unter dem Titel »Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch- deutschen Militärgeschichte«, mit einer ausführlichen Würdigung seiner langjährigen Tätigkeit für diese Forschungseinrichtung aus der Feder von Hans- Erich Volkmann11. 1993 wurde ihm darüber hinaus in Anerkennung seiner Ver- dienste als Militärhistoriker eine Honörarprofessur an der Universität Freiburg verliehen. Außerdem wurde er zum Vorsitzenden des Arbeitskreises Militärge- schichte gewählt. Wir wünschen ihm für seinen zukünftigen Weg alles Gute und hoffen, daß seine Gesundheit ihm auch in Zukunft erlauben möge, als ein unge- wöhnlich kenntnisreicher und hochgeachteter Gast an zahlreichen wissenschaft- lichen Konferenzen zur Militärgeschichte teilzunehmen.

Wolfgang J. Mommsen .

9 Wilhelm Deist, Manfred Messerschmidt, Hans-Erich Volkmann, Wolfram Wette, Der Weg in den Krieg. Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, in: Aus Poli- tik und Zeitgeschichte, Β 34/35 (1979). 10 Ebd., S. 9. 11 Siehe Anm. 3.