Die Deutsche Zentrumspartei Gegenüber Dem
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1 2 3 Die Deutsche Zentrumspartei gegenüber dem 4 Nationalsozialismus und dem Reichskonkordat 1930–1933: 5 Motivationsstrukturen und Situationszwänge* 6 7 Von Winfried Becker 8 9 Die Deutsche Zentrumspartei wurde am 13. Dezember 1870 von ca. 50 Man- 10 datsträgern des preußischen Abgeordnetenhauses gegründet. Ihre Reichstagsfrak- 11 tion konstituierte sich am 21. März 1871 beim Zusammentritt des ersten deut- 12 schen Reichstags. 1886 vereinigte sie sich mit ihrem bayerischen Flügel, der 1868 13 eigenständig als Verein der bayerischen Patrioten entstanden war. Am Ende des 14 Ersten Weltkriegs, am 12. November 1918, verselbständigte sich das Bayerische 15 Zentrum zur Bayerischen Volkspartei. Das Zentrum verfiel am 5. Juli 1933 der 16 Selbstauflösung im Zuge der Beseitigung aller deutschen Parteien (außer der 17 NSDAP), ebenso am 3. Juli die Bayerische Volkspartei. Ihr war auch durch die 18 Gleichschaltung Bayerns und der Länder der Boden entzogen worden.1 19 Die Deutsche Zentrumspartei der Weimarer Republik war weder mit der 20 katholischen Kirche dieser Zeit noch mit dem Gesamtphänomen des Katho- 21 lizismus identisch. 1924 wählten nach Johannes Schauff 56 Prozent aller Ka- 22 tholiken (Männer und Frauen) und 69 Prozent der bekenntnistreuen Katholiken 23 in Deutschland, von Norden nach Süden abnehmend, das Zentrum bzw. die 24 Bayerische Volkspartei. Beide Parteien waren ziemlich beständig in einem 25 Wählerreservoir praktizierender Angehöriger der katholischen Konfession an- 26 gesiedelt, das durch das 1919 eingeführte Frauenstimmrecht zugenommen hat- 27 te, aber durch die Abwanderung vor allem der männlichen Jugend von schlei- 28 chender Auszehrung bedroht war. Politisch und parlamentarisch repräsentierte 29 die Partei eine relativ geschlossene katholische »Volksminderheit«.2 Ihre re- 30 gionalen Schwerpunkte lagen in Bayern, Südbaden, Rheinland, Westfalen, 31 32 * Erweiterte und überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Symposion »Die Christ- 33 lichsozialen in den österreichischen Ländern 1918–1933/34« in Graz am 4. März 1997. 34 1 Überblicke bei Frank WENDE (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa, 35 Stuttgart 1981, S. 133–136; Winfried BECKER, Art. »Zentrum«, in: Anselm FAUST (Hg.), Nord- 36 rhein-Westfalen. Landesgeschichte im Lexikon, Düsseldorf 1993, S. 489–493. 2 Rudolf MORSEY, Die katholische Volksminderheit und der Aufstieg des Nationalsozia- 37 lismus 1930–1933, in: Klaus GOTTO/Konrad REPGEN (Hg.), Die Katholiken und das Dritte 38 Reich, Mainz 31990, S. 9–22; Konrad REPGEN, Hitlers Machtergreifung und der deutsche Ka- 39 tholizismus. Versuch einer Bilanz, in: DERS., Historische Klopfsignale für die Gegenwart, Müns- 40 ter 1974, S. 128–152, 140 f.; Johannes SCHAUFF, Die deutschen Katholiken und die Zentrums- partei. Eine politisch-statistische Untersuchung der Reichstagswahlen seit 1871, Köln 11928 41 (2Mainz 1975), S. 137 ff. (Reichstagswahl Dez. 1924). 42 2 Winfried Becker 1 Oberschlesien und in einem Teil Ostpreußens. Die Zentrumspartei des Bis- 2 marckreiches erwuchs aus einem schon im Vormärz neu artikulierten Konfes- 3 sionsbewusstsein, einem frühzeitig grundrechtlich ausgeprägten Freiheitsstre- 4 ben vorwiegend gegenüber einem fremdkonfessionellen Staatskirchentum. 5 Später kamen die Abwehr kleindeutsch-nationaler Herausforderungen der 6 Reichsgründungszeit und die Auseinandersetzung mit den sozialen Umschich- 7 tungen des beginnenden Industriezeitalters hinzu. In seiner grundrechtlich- 8 freiheitlichen und föderalistischen Ausrichtung verstand sich das Zentrum, zu- 9 mal seit dem Kulturkampf, als Verfassungspartei. Da es schichtenübergreifend 10 den kirchentreuen Kern des katholischen Volksteils umfasste, war es auch 11 Volkspartei. Im Parlament des Kaiserreichs errang die Zentrumspartei nach 12 dem Kulturkampf zeitweise die parlamentarische Bedeutung eines Züngleins 13 an der Waage, wurde aber in ihrem christlich gebundenen Politikverständnis 14 über ihre eigene Anhängerschaft hinaus nur schwer akzeptiert. Nicht zuletzt 15 aufgrund seiner vorherigen »Integration« in den Nationalstaat wirkte das Zent- 16 rum während der Revolution von 1918/19 zusammen mit den Sozialdemokra- 17 ten und den liberalen Parteien maßgeblich am Neuaufbau des demokratischen 18 Staatswesens mit. Allen Extremen abhold, vertrat die Partei eine sachbetonte 19 Politik der Mitte. Da sie sich überaus koalitionsbereit zeigte, war sie häufiger 20 als die anderen Parteien an Regierungen beteiligt und wurde trotz ihrer schma- 21 len Wählerbasis zu einer Art Staatspartei der »Instabilitätsrepublik« von Wei- 22 mar. Georg Schreiber hat die sozial und politisch bewusst ausgleichende Mitt- 23 lerstellung der Zentrumspartei staatstheoretisch überhöht. Für ihn bestand das 24 Wesensmerkmal der infolge ihrer unterschiedlichen sozialen Zusammenset- 25 zung auf Ausgleich bedachten Partei in dem unverzichtbaren Streben nach 26 Harmonisierung der Interessengegensätze im Staat. Die Politik des Zentrums 27 sei darum auf die staatspolitisch notwendigen Sacherfordernisse und auf die 28 Realisierung eines überparteilichen Gemeinwohls auszurichten. 29 Viele Zeitgenossen und Historiker registrierten mit Erstaunen den »ruhm- 30 losen Ausklang« und »lautlosen Abschied« des kampferprobten Zentrums zwi- 31 schen März und Juli 1933.3 Zu deutlich schienen die Zustimmung zu Hitlers 32 Ermächtigungsgesetz und die letzten Liquidationsakte, die Bemühungen um 33 die Aufnahme möglichst vieler Zentrumsabgeordneter in den Hospitantensta- 34 tus bei der NSDAP, dem selbstbewussten Traditions- und Geschichtsverständ- 35 nis4 der Partei zu widersprechen. War das nicht »politischer Selbstmord«, wie 36 der westfälische Zentrumsabgeordnete Franz von Galen einer Verwandten 37 38 39 3 Rudolf MORSEY, Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwi- 40 schen christlichem Selbstverständnis und »Nationaler Erhebung« 1932/33, Stuttgart–Zürich 1977, S. 193, 198. 41 4 Zeugnis dafür etwa das monumentale Geschichtswerk von Karl BACHEM, Vorgeschich- 42 te, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Bd. 1–9, Köln 1927–1932. Die Deutsche Zentrumspartei gegenüber dem Nationalsozialismus 3 schrieb,5 vergleichbar dem des Reichstags im ganzen (Wilhelm Hoegner)?6 1 Das Bedürfnis nach historischer Erklärung lag auf der Hand. 2 In der bisherigen Geschichtsschreibung lassen sich mehrere, teils kontroverse 3 Deutungen unterscheiden. Für Rudolf Morsey steht die »Selbstpreisgabe« des 4 Zentrums am Ende eines »erzwungenen Auflösungsprozesses«7: Die politischen 5 Rahmenbedingungen der ausgehenden Weimarer Republik und die gravierenden 6 Führungsprobleme der Partei bereiteten dem Zentrum, nachdem schwere Gefähr- 7 dungen schon lange vorher sichtbar geworden waren, wie den anderen demokra- 8 tischen Parteien definitiv seit den Märzwahlen und dem Ermächtigungsgesetz den 9 Untergang; allerdings hinterließ der politische Katholizismus das Vermächtnis der 10 interkonfessionellen christlichen Parteibildung nach 1945. Auch Josef Becker 11 macht die innere Situation Deutschlands, die labile Verfassung und die sozialen 12 Antagonismen für das unheroische Verschwinden des Zentrums von der politi- 13 schen Bühne verantwortlich. Er sieht darüber hinaus das Ende allerdings fast 14 schon dadurch vorherbestimmt, dass die katholische Partei als »konfessionell- 15 kirchliche Interessenvertretung« an der Inkommensurabilität »von Kirche und 16 Partei, Religion und Politik« litt und deswegen einen »immer latenten, unlösbaren 17 Konflikt in sich trug«8. Georg May fasst in seiner informativen dreibändigen Bio- 18 graphie über den zweitletzten Zentrumsvorsitzenden, den Trierer Prälaten Ludwig 19 Kaas, systematisierend die vorwiegend politischen Gründe für die Annahme des 20 Ermächtigungsgesetzes durch das Zentrum zusammen; die »Einschüchterung der 21 demokratischen Kräfte«, die Ratlosigkeit, die Hoffnungen auf eine Mäßigung oder 22 ein Scheitern Hitlers und auf die noch gegebenen Einschränkungen seiner Macht 23 durch die Reichswehr, den Reichspräsidenten und die bürgerlich-konservativen 24 Kräfte, schließlich die Angst vor einem neuen Kulturkampf.9 Nach May hat Kaas 25 mit »großem Einsatz« in »guter Absicht« gehandelt, wurde aber von Hitler, ohne 26 27 28 5 25. Mai 1933. R. MORSEY, Untergang (wie Anm. 3), S. 265 Anm. 18. 29 6 In seinen 1959 erschienenen Memoiren, Der schwierige Außenseiter. Zit. nach: Das »Ermächtigungsgesetz« vom 24. März 1933. Quellen zur Geschichte und Interpretation des 30 »Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich«, hg. von Rudolf MORSEY, Düsseldorf 31 1992, S. 170. 32 7R. MORSEY, Untergang (wie Anm. 3), S. 221; DERS., Die Deutsche Zentrumspartei, in: Erich 33 MATTHIAS/Rudolf MORSEY (Hg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, S. 279–453. 8 Josef BECKER, Das Ende der Zentrumspartei und die Problematik des politischen Ka- 34 tholizismus in Deutschland, in: Gotthard JASPER (Hg.), Von Weimar zu Hitler 1930–1933, 35 Köln–Berlin 1968, S. 344–376, 360 f. 36 9 Georg MAY, Ludwig Kaas. Der Priester, der Politiker und der Gelehrte aus der Schule von Ulrich Stutz, Bd. 1–3, Amsterdam 1981–1982, hier Bd. 3, S. 353–358; vgl. die Rezension 37 dieses Werks von Rudolf MORSEY, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 38 Kanonistische Abteilung 76 (1990), S. 390–394. Von älteren Arbeiten: Arthur WYNEN, Ludwig 39 Kaas. Aus seinem Leben und Wirken, Trier 1953, Karin SCHAUFF, Erinnerung an Ludwig Kaas 40 zum 20. Todestag am 25. April 1972, Pfullingen 1972; Rudolf MORSEY, Ludwig Kaas (1881– 1952), in: DERS., Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem