Plenarprotokoll 16/54

Deutscher

Stenografischer Bericht

54. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Tagesordnungspunkt 4: neten Dr. Dieter Wiefelspütz ...... 5147 A Abgabe einer Erklärung durch die Bundes- Wahl der Abgeordneten Johann-Henrich regierung: Deutsche Islamkonferenz – Per- Krummacher und Siegmund Ehrmann als spektiven für eine gemeinsame Zukunft . . 5148 D ordentliches Mitglied in den Verwaltungsrat Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Deutschen Nationalbibliothek ...... 5147 B BMI ...... 5148 D Wahl der Abgeordneten und Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 5151 D Christoph Pries als stellvertretendes Mit- glied in den Verwaltungsrat der Deutschen Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 5153 A Nationalbibliothek ...... 5147 B Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) ...... 5155 A Wahl der Abgeordneten Wolfgang Börnsen Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . 5156 A und Fritz Rudolf Körper als ordentliches Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Mitglied in den Rundfunkrat der Deutschen DIE GRÜNEN) ...... 5157 B Welle ...... 5147 B Fritz Rudolf Körper (SPD) ...... 5159 A Wahl der Abgeordneten Dorothee Bär und Hans-Joachim Hacker als stellvertretendes (FDP) ...... 5160 B Mitglied in den Rundfunkrat der Deutschen Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 5161 C Welle ...... 5147 B Sevim Dagdelen (DIE LINKE) ...... 5163 B Wahl des Abgeordneten (BÜNDNIS 90/ als ordentliches Mitglied und der Abgeordne- DIE GRÜNEN) ...... 5164 B ten als stellvertretendes Mitglied in den Verwaltungsrat der Deutschen Dr. Lale Akgün (SPD) ...... 5165 C Welle ...... 5147 B Ralf Göbel (CDU/CSU) ...... 5167 A Wahl des Abgeordneten in das Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ...... 5147 C Tagesordnungspunkt 5: Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- a) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. nung ...... 5147 D Kolb, , , wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der Absetzung der Tagesordnungspunkte 9, 10 FDP: Modernes Kündigungsschutzrecht und 18 ...... 5148 C und flexible Befristungsregelungen im Interesse der Arbeitsuchenden Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 5148 C (Drucksache 16/1443) ...... 5168 C Begrüßung von Parlamentariern aus Tansania b) Antrag der Abgeordneten Werner Dreibus, und Rumänien ...... 5148 D Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, weiterer II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. , Donnerstag, den 28. September 2006

Abgeordneter und der Fraktion der LIN- rung und zur Verhinderung der Steuer- KEN: Ausweitung und Stärkung des verkürzung auf dem Gebiet der Steuern Kündigungsschutzes vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 16/2080) ...... 5168 C und einiger anderer Steuern (Drucksache 16/2708) ...... 5190 A Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 5168 D Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 5170 C e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 5172 C zes zu dem Abkommen vom 30. September 2005 zwischen der Bun- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 5173 A desrepublik Deutschland und der Repu- (SPD) ...... 5175 A blik Belarus zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung auf dem Gebiet der Dirk Niebel (FDP) ...... 5176 A Steuern vom Einkommen und vom Ver- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ mögen DIE GRÜNEN) ...... 5177 C (Drucksache 16/2705) ...... 5190 A (CDU/CSU) ...... 5179 C f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Jörg Rohde (FDP) ...... 5181 B zes zu dem Abkommen vom Anton Schaaf (SPD) ...... 5182 B 1. Dezember 2005 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Kirgi- Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 5183 A sischen Republik zur Vermeidung der Jörg Rohde (FDP) ...... 5183 A Doppelbesteuerung und zur Verhinde- rung von Steuerhinterziehungen auf (SPD) ...... 5183 B dem Gebiet der Steuern vom Einkom- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 5185 A men und vom Vermögen (Drucksache 16/2706) ...... 5190 A (SPD) ...... 5186 D g) Erste Beratung des von der Bundesregie- (SPD) ...... 5187 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Andreas Steppuhn (SPD) ...... 5188 C zes zu dem Abkommen vom 3. Mai 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 5189 A land und der Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Tagesordnungspunkt 35: kommen und vom Vermögen (Drucksache 16/2707) ...... 5190 B a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur h) Erste Beratung des von der Bundesregie- Stärkung der Selbstverwaltung der rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Rechtsanwaltschaft ten Gesetzes zur Änderung des Aufbau- (Drucksache 16/513) ...... 5189 D hilfefondsgesetzes (Drucksache 16/2704) ...... 5190 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- i) Antrag der Abgeordneten , ten Gesetzes zur Änderung eisenbahn- Sevim Dagdelen, Kersten Naumann, Petra rechtlicher Vorschriften Pau und der Fraktion der LINKEN: Für (Drucksache 16/2703) ...... 5189 D die unbeschränkte Geltung der Men- schenrechte in Deutschland c) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/1202) ...... 5190 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung kraftfahrzeugsteuer- j) Antrag der Abgeordneten Angelika licher und autobahnmautrechtlicher Brunkhorst, , Horst Vorschriften Meierhofer, weiterer Abgeordneter und (Drucksache 16/2718) ...... 5189 D der Fraktion der FDP: Europäische Bo- denschutzstrategie durch eine sachge- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rechte Klärschlammverwertung unter- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- stützen zes zu dem Protokoll vom 1. Juni 2006 (Drucksache 16/1679) ...... 5190 C zur Änderung des am 29. August 1989 unterzeichneten Abkommens zwischen k) Antrag der Abgeordneten Dr. Christel der Bundesrepublik Deutschland und Happach-Kasan, Michael Kauch, den Vereinigten Staaten von Amerika , weiterer Abgeord- zur Vermeidung der Doppelbesteue- neter und der Fraktion der FDP: Biologi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 III

sche Kohlenstoffsenken für den Klima- der Doppelbesteuerung und zur Verhin- schutz nutzen derung der Steuerverkürzung auf dem (Drucksache 16/2088) ...... 5190 C Gebiet der Steuern vom Einkommen, vom Vermögen und vom Veräußerungs- l) Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, gewinn (Bayreuth), Hans-Michael (Drucksachen 16/2254, 16/2759) ...... 5191 C Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Schienenanbindung c) Zweite und dritte Beratung des von der des Jade-Weser-Port sicherstellen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 16/2091) ...... 5190 D eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Euro- m) Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, päischen Union, der Europäischen Ge- Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael meinschaft und der Schweizerischen Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Eidgenossenschaft über die Assoziie- Fraktion der FDP: Modellversuch für rung dieses Staates bei der Umsetzung, Wassertaxen in Berlin starten Anwendung und Entwicklung des (Drucksache 16/2519) ...... 5190 D Schengen-Besitzstands (Drucksachen 16/2255, 16/2775) ...... 5191 D n) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, (Köln), Silke Stokar d) Beschlussempfehlung und Bericht des von Neuforn, weiterer Abgeordneter und Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE gie zu der GRÜNEN: Bessere Evaluierung der Anti-Terror-Gesetze – Verordnung der Bundesregierung: (Drucksache 16/2072) ...... 5191 A Fünfundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsver- o) Antrag der Abgeordneten Dr. , ordnung Gisela Piltz, , weiterer – Verordnung der Bundesregierung: Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Einhundertfünfte Verordnung zur Evaluierung des Terrorismusbekämp- Änderung der Ausfuhrliste fungsgesetzes präziser gestalten – Anlage AL zur Außenwirtschafts- (Drucksache 16/2671) ...... 5191 A verordnung – (Drucksachen 16/1788, 16/1941 Nr. 2.1, Zusatztagesordnungspunkt 2: 16/2459, 16/2548 Nr. 2.3, 16/2737) . . . . . 5192 A Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß, e) Beschlussempfehlung und Bericht des Gisela Piltz, Sabine Leutheusser- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der der Fraktion der FDP: Konkretes und trag- Bundesregierung: Verordnung über fähiges Konzept zur Bekämpfung von Stoffe, die die Ozonschicht schädigen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und (Chemikalien-Ozonschichtverordnung – Antisemitismus vorlegen und zeitnah um- ChemOzonSchichtV) setzen (Drucksachen 16/2209, 16/2548 Nr. 2.1, (Drucksache 16/2779) ...... 5191 A 16/2654) ...... 5192 C f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Tagesordnungspunkt 36: Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Erste Verordnung zur a) Zweite und dritte Beratung des von der Änderung der Zweiundzwanzigsten Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Verordnung zur Durchführung des eines Zweiten Gesetzes zur Änderung Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Ver- des Gesetzes zur Verbesserung der per- ordnung über Immissionswerte für sonellen Struktur beim Bundeseisen- Schadstoffe in der Luft) bahnvermögen und in den Unterneh- (Drucksachen 16/2212, 16/2548 Nr. 2.2, men der Deutschen Bundespost 16/2655) ...... 5192 C (Drucksachen 16/1938, 16/2476, 16/2789) 5191 B g) Beschlussempfehlung und Bericht des b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und des von der Bundesregierung eingebrach- Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- geordneten , Hans-Josef kommen vom 12. August 2004 zwischen Fell, , weiterer Abge- der Bundesrepublik Deutschland und ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- der Republik Ghana zur Vermeidung SES 90/DIE GRÜNEN: Verbrennung IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

von Halmgut als Biobrennstoff in Klein- (CDU/CSU) ...... 5195 D feuerungsanlagen neu regeln (Drucksachen 16/1149, 16/2564) ...... 5192 D Dr. (FDP) ...... 5196 C h) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Barbara Hendricks, Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- Parl. Staatssekretärin BMF ...... 5198 A gie zu der Unterrichtung durch die Bun- Dr. (DIE LINKE) ...... 5200 D desregierung: Vorschlag für eine Verord- nung des Europäischen Parlaments und (CDU/CSU) ...... 5201 C des Rates über die strukturelle Unter- Dr. (BÜNDNIS 90/ nehmensstatistik DIE GRÜNEN) ...... 5202 D KOM (2006) 66 endg.; Ratsdok. 6715/06 (Drucksachen 16/1101 Nr. 2.5, 16/2575) 5193 A Nina Hauer (SPD) ...... 5204 A i) Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 5205 A Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 5206 A für eine Verordnung des Rates zur Än- (SPD) ...... 5206 C derung der Verordnung (EG) Nr. 2201/ 2003 im Hinblick auf die Zuständigkeit in Ehesachen und zur Einführung von Vorschriften betreffend das anwend- Tagesordnungspunkt 6: bare Recht in diesem Bereich (einschl. 11818/06 ADD 1 und ADD2) a) Beschlussempfehlung und Bericht des KOM (2006) 399 endg.; Ratsdok. 11818/06 Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag (Drucksachen 16/2555 Nr. 2.115, 16/2784) 5193 B der Bundesregierung: Fortsetzung der Be- teiligung bewaffneter deutscher Streit- j) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- kräfte an dem Einsatz der Internationa- schusses: Übersicht 4 über die dem len Sicherheitsunterstützungstruppe in Deutschen Bundestag zugeleiteten unter Führung der NATO Streitsachen vor dem Bundesverfas- auf Grundlage der Resolutionen 1386 sungsgericht (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (Drucksache 16/2761) ...... 5193 C (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) k) – t) vom 27. November 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- 17. September 2004, 1623 (2005) vom schusses: Sammelübersichten 87, 88, 89, 13. September 2005 und 1707 (2006) 90, 91, 93, 94, 95, 96 und 97 zu Petitio- vom 12. September 2006 des Sicher- nen heitsrates der Vereinten Nationen (Drucksachen 16/2639, 16/2640, 16/2641, (Drucksachen 16/2573, 16/2774) ...... 5207 B 16/2642, 16/2643, 16/2644, 16/2645, 16/2646, 16/2647, 16/2648) ...... 5193 D b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/2787) ...... 5207 C Zusatztagesordnungspunkt 3: c) Beschlussempfehlung und Bericht des Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der Auswärtigen Ausschusses zu dem Ent- SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ schließungsantrag der Abgeordneten Dr. DIE GRÜNEN: Das Jahr 2008 zum „Inter- , Monika Knoche, Paul nationalen Jahr der sanitären Grundver- Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter sorgung“ der Vereinten Nationen ausrufen und der Fraktion der LINKEN zu der ers- (Drucksache 16/2758) ...... 5194 D ten Beratung des Antrags der Bundesre- gierung: Fortsetzung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an dem Zusatztagesordnungspunkt 4: Einsatz der Internationalen Sicherheits- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion unterstützungstruppe in Afghanistan des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kor- unter Führung der NATO auf Grund- ruptionsverdacht bei der Bundesanstalt für lage der Resolutionen 1386 (2001) vom Finanzdienstleistungsaufsicht und die 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom Rolle der Bundesregierung in diesem Zu- 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. Novem- ber 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober sammenhang ...... 5194 D 2003, 1563 (2004) vom 17. September Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ 2004, 1623 (2005) vom 13. September DIE GRÜNEN) ...... 5194 D 2005 und 1707 (2006) vom 12. Septem- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 V

ber 2006 des Sicherheitsrates der Ver- Ergebnis ...... 5237 D einten Nationen (Drucksachen 16/2573, 16/2623, 16/2776) 5207 C Tagesordnungspunkt 8: Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA ...... 5207 D a) Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Dr. (FDP) ...... 5209 B Abgeordneter und der Fraktion der LIN- (CDU/CSU) ...... 5210 B KEN: Für eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter Be- Dr. Norman Paech (DIE LINKE) ...... 5213 B schäftigung Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/2504) ...... 5236 B DIE GRÜNEN) ...... 5214 B b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Hans-Ulrich Klose (SPD) ...... 5216 A Markus Kurth, Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Birgit Homburger (FDP) ...... 5217 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Arbeit Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 5219 A statt Arbeitslosigkeit finanzieren (Drucksache 16/2652) ...... 5236 B Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 5220 D Kornelia Möller (DIE LINKE) ...... 5236 C Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . 5221 D Peter Rauen (CDU/CSU) ...... 5240 A Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 5222 D DIE GRÜNEN) ...... 5242 A (SPD) ...... 5223 D Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 5243 A Dirk Niebel (FDP) ...... 5244 A Namentliche Abstimmung ...... 5225 A Rolf Stöckel (SPD) ...... 5245 B Ergebnis ...... 5226 D Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Tagesordnungspunkt 7: desregierung eingebrachten Entwurfs eines a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ersten Gesetzes zur Änderung des Erneu- Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag erbare-Energien-Gesetzes der Bundesregierung: Fortsetzung der (Drucksachen 16/2455, 16/2760) ...... 5246 B Beteiligung deutscher Streitkräfte an , Bundesminister BMU . . . . . 5246 C der Friedensmission der Vereinten Na- tionen im Sudan (UNMIS) auf Grund- Michael Kauch (FDP) ...... 5247 C lage der Resolution 1709 (2006) des Si- Dr. (CDU/CSU) ...... 5248 B cherheitsrates der Vereinten Nationen vom 22. September 2006 Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 5250 A (Drucksachen 16/2700, 16/2777) ...... 5225 C Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß DIE GRÜNEN) ...... 5250 D § 96 der Geschäftsordnung Marco Bülow (SPD) ...... 5251 D (Drucksache 16/2786) ...... 5225 D Brunhilde Irber (SPD) ...... 5225 D Tagesordnungspunkt 16: (FDP) ...... 5229 B Antrag der Abgeordneten , Dr. , Bundesminister , , weite- BMVg ...... 5230 C rer Abgeordneter und der Fraktion des Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 5231 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apotheken auf- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ heben DIE GRÜNEN) ...... 5232 C (Drucksache 16/2506) ...... 5253 A Christoph Strässer (SPD) ...... 5233 D Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5253 B (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 5235 B Dr. (CDU/CSU) ...... 5254 B Namentliche Abstimmung ...... 5236 A (Münster) (FDP) ...... 5256 B VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 5257 C terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Das Nationale Reformprogramm Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 5258 C Deutschland und die Lissabon-Strategie Dr. Margrit Spielmann (SPD) ...... 5259 B weiterführen – Wirtschaftswachstum und Beschäftigungspolitik zum Erfolg führen Tagesordnungspunkt 13: – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Dückert, Matthias Berninger, Brigitte desregierung eingebrachten Entwurfs eines Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Gesetzes über elektronische Handelsregis- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE ter und Genossenschaftsregister sowie das GRÜNEN: Mehr Ehrgeiz bei der Errei- Unternehmensregister (EHUG) chung der Lissabon-Ziele (Drucksachen 16/960, 16/2781) ...... 5260 A (Drucksachen 16/2629, 16/2622, 16/2782) . . . 5271 C Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 5260 B Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 5261 A Tagesordnungspunkt 14: Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) ...... 5262 A Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- (BÜNDNIS 90/ haltsausschusses zu dem Antrag der Abgeord- DIE GRÜNEN) ...... 5264 A neten Dr. , , Wer- ner Dreibus, und der Fraktion der Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) ...... 5265 A LINKEN: Gegen die Schließung von 45 Stand- orten bei der Deutschen Telekom AG (Drucksachen 16/845, 16/1797) ...... 5272 A Tagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Friedrich (Bayreuth), Patrick Döring, Tagesordnungspunkt 17: weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Lärmschutz im Schienenver- der SPD: Gefährliche Streumunition kehr verbessern – Marktwirtschaftliche verbieten – Das humanitäre Völker- Anreize nutzen, Schienenbonus über- recht weiterentwickeln prüfen (Drucksache 16/1995) ...... 5272 B (Drucksache 16/675) ...... 5265 D b) Antrag der Abgeordneten Winfried b) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Nachtwei, , Volker Beck Bonde, weiterer Abgeordneter und der (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aktionsprogramm gegen GRÜNEN: Zivilbevölkerung wirksa- Schienenlärm auf den Weg bringen mer schützen – Streumunition ächten (Drucksache 16/2749) ...... (Drucksache 16/2074) ...... 5265 D 5272 C Michael Kauch (FDP) ...... 5266 A in Verbindung mit (CDU/CSU) ...... 5267 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 5268 C Heinz Paula (SPD) ...... 5269 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten , DIE GRÜNEN) ...... 5270 D Harald Leibrecht, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die Ächtung von Landminen und Tagesordnungspunkt 15: Streumunition (Drucksache 16/2780) ...... 5272 C Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie Tagesordnungspunkt 22: – zu dem Antrag der Abgeordneten (Hamm), Thomas Bareiß, Veronika a) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Abgeordneter und der Fraktion des ordneten , Dr. Rainer BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ver- Wend, Dr. Angelica Schwall-Düren, wei- braucherinformationsgesetz nachbes- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 VII

sern und das Lebensmittel-Kontrollsys- – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike tem neu ordnen Hänsel, Hans-Kurt Hill, Monika Knoche, (Drucksache 16/2656) ...... 5273 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Keine Weltbankkredite b) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten für Atomtechnologie Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. , weiterer Abgeordneter – zu dem Antrag der Abgeordneten Ute und der Fraktion der LINKEN: Bund- Koczy, Thilo Hoppe, Dr. Uschi Eid, weite- Länder-Staatsvertrag – Qualitätsma- rer Abgeordneter und der Fraktion des nagement Lebensmittelqualität BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Eine (Drucksache 16/2744) ...... 5273 A Weltbank-Energiepolitik der Zukunft – Ja zu mehr Effizienz und erneuerbaren Energien, Nein zur Atomkraft Tagesordnungspunkt 19: (Drucksachen 16/1961, 16/1978, 16/2762) . . 5274 A a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen auf dem Gebiet der Un- Tagesordnungspunkt 23: fallverhütung im Straßenverkehr 2004 Erste Beratung des von der Bundesregierung und 2005 (Unfallverhütungsbericht eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Straßenverkehr 2004/2005) steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einfüh- (Drucksache 16/2100) ...... 5273 B rung der Europäischen Gesellschaft und b) Beschlussempfehlung und Bericht des zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- Vorschriften (SEStEG) entwicklung zu der Unterrichtung durch (Drucksache 16/2710) ...... 5274 C die Bundesregierung: Aktionsprogramm für Straßenverkehrssicherheit: Halbie- rung der Zahl der Unfallopfer bis 2010 Tagesordnungspunkt 26: Entschließung des Europäischen Parla- Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von ments zu dem Europäischen Aktions- Neuforn und der Fraktion des BÜNDNIS- programm für die Straßenverkehrssi- SES 90/DIE GRÜNEN: Informationspflicht cherheit: Halbierung der Zahl der für Unternehmen bei Datenschutzpannen Unfallopfer im Straßenverkehr in der einführen Europäischen Union bis 2010: eine ge- (Drucksache 16/1887) ...... 5274 D meinsame Aufgabe (2004/2162[INI]) (EuB-EP 1263) (Drucksachen 16/150 Nr. 1.69, 16/578) . . 5273 C Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 20: Einführung einer Biokraftstoffquote durch Antrag der Abgeordneten Kersten Naumann, Änderung des Bundes-Immissionsschutz- Dr. , Dr. Gesine Lötzsch, wei- gesetzes und zur Änderung energie- und terer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- stromsteuerrechtlicher Vorschriften (Bio- KEN: Aufbewahrungsfrist der Lohnunter- kraftstoffquotengesetz – BioKraftQuG) lagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember (Drucksache 16/2709) ...... 5275 A 2012 verlängern (Drucksache 16/2746) ...... 5273 D Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung Tagesordnungspunkt 21: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erste Beratung des von der Bundesregierung Änderung des Zwölften Buches Sozialge- eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuer- setzbuch und anderer Gesetze gesetzes 2007 (JSTG 2007) (Drucksachen 16/2711, 16/2753) ...... 5275 B (Drucksache 16/2712) ...... 5274 A in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 24: Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, und Entwicklung Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des bach), Clemens Bollen, Renate Gradistanac, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Ein- weiterer Abgeordneter und der Fraktion gliederungshilfe für Menschen mit Behin- der SPD: Öffentliche Verantwortung derungen weiterentwickeln – Das Brutto- wahrnehmen – Mit fairen Chancen prinzip in der Sozialhilfe beibehalten und Kinder stark machen Leistungen aus einer Hand für Menschen (Drucksache 16/2754) ...... 5284 B mit Behinderungen ermöglichen (Drucksache 16/2751) ...... 5275 B b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Dr. Barbara Höll, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- in Verbindung mit KEN: Kinderzuschlag sozial gerecht ge- stalten – Kinderarmut wirksam be- kämpfen Zusatztagesordnungspunkt 7: (Drucksache 16/2077) ...... 5284 C Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck Nächste Sitzung ...... 5284 D (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Das Existenzminimum sichern – Sozialhil- feregelsätze neu berechnen und Sofortmaß- Anlage 1 nahmen für Kinder und Jugendliche einlei- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5285 A ten (Drucksache 16/2750) ...... 5275 C in Verbindung mit Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Fortsetzung Zusatztagesordnungspunkt 8: der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- Antrag der Abgeordneten , Katja kräfte an dem Einsatz der Internationalen Si- Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan und der Fraktion der LINKEN: Für ein men- unter Führung der NATO auf Grundlage der schenwürdiges Existenzminimum Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember (Drucksache 16/2743) ...... 5275 C 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510 (2003) Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom BMAS ...... 5275 D 17. September 2004, 1623 (2005) vom 13. September 2005 und 1707 (2006) vom Jörg Rohde (FDP) ...... 5276 C 12. September 2006 des Sicherheitsrates der Peter Weiß () (CDU/CSU) 5277 D Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) (DIE LINKE) ...... 5278 C Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 5285 C (CDU/CSU) ...... 5279 A Jürgen Koppelin (FDP) ...... 5285 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 5285 D DIE GRÜNEN) ...... 5279 C Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 5280 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Anlage 3 DIE GRÜNEN) ...... 5281 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 5282 D Bärbel Höhn und Ute Koczy (beide BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab- Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 5283 D stimmung über den Antrag: Fortsetzung der Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 5284 A Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher- heitsunterstützungstruppe in Afghanistan un- ter Führung der NATO auf Grundlage der Re- Tagesordnungspunkt 28: solutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember a) Antrag der Abgeordneten Thomas 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 Dörflinger, Thomas Bareiß, Antje (2002) vom 27. November 2002, 1510 (2003) Blumenthal, weiterer Abgeordneter und vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- 17. September 2004, 1623 (2005) vom geordneten Marlene Rupprecht (Tuchen- 13. September 2005 und 1707 (2006) vom Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 IX

12. September 2006 des Sicherheitsrates der – Das Nationale Reformprogramm Deutsch- Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) 5286 B land und die Lissabon-Strategie weiterfüh- ren – Wirtschaftswachstum und Beschäfti- gungspolitik zum Erfolg führen Anlage 4 – Mehr Ehrgeiz bei der Erreichung der Lis- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten sabon-Ziele und Gisela Piltz (beide FDP) zur (Tagesordnungspunkt 15) namentlichen Abstimmung über den Antrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- (CDU/CSU) ...... 5288 D scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Doris Barnett (SPD) ...... 5290 C Afghanistan unter Führung der NATO auf (FDP) ...... 5292 A Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom (DIE LINKE) ...... 5293 B 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. Novem- ber 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ 1563 (2004) vom 17. September 2004, 1623 DIE GRÜNEN) ...... 5294 B (2005) vom 13. September 2005 und 1707 (2006) vom 12. September 2006 des Sicher- heitsrates der Vereinten Nationen (Tagesord- Anlage 8 nungspunkt 6 a) ...... 5286 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Gegen die Schließung von 45 Standorten bei Anlage 5 der Deutschen Telekom AG (Tagesordnungs- punkt 14) Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Christian Ströbele, Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) ...... 5294 D Sylvia Kotting-Uhl, Dr. , Dr. Harald Terpe, Peter Hettlich und Monika Waltraud Lehn (SPD) ...... 5295 C Lazar (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Martin Zeil (FDP) ...... namentlichen Abstimmung über den Antrag: 5296 B Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 5297 B scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Margareta Wolf () (BÜNDNIS 90/ Afghanistan unter Führung der NATO auf DIE GRÜNEN) ...... 5297 D Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. Novem- Anlage 9 ber 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom 17. September 2004, 1623 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (2005) vom 13. September 2005 und 1707 der Anträge: (2006) vom 12. September 2006 des Sicher- – Gefährliche Streumunition verbieten – heitsrates der Vereinten Nationen (Tagesord- Das humanitäre Völkerrecht weiterentwi- nungspunkt 6 a) ...... 5287 A ckeln – Zivilbevölkerung wirksamer schützen – Anlage 6 Streumunition ächten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des – Für die Ächtung von Landminen und Entwurfs eines Gesetzes über elektronische Streumunition Handelsregister und Genossenschaftsregister (Tagesordnungspunkt 17 a und b und Zusatz- sowie das Unternehmensregister (EHUG) tagesordnungspunkt 5) (Tagesordnungspunkt 13) Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 5298 C Sevim Dagdelen (DIE LINKE) ...... 5287 C Andreas Weigel (SPD) ...... 5300 D Florian Toncar (FDP) ...... 5301 C Anlage 7 Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 5302 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu (BÜNDNIS 90/ den Anträgen: DIE GRÜNEN) ...... 5303 C X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Anlage 10 Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 5318 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Kersten Naumann (DIE LINKE) ...... 5319 A der Anträge: Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ – Verbraucherinformationsgesetz nachbes- DIE GRÜNEN) ...... 5320 B sern und das Lebensmittel-Kontrollsystem neu ordnen Anlage 13 – Bund-Länder-Staatsvertrag – Qualitätsma- nagement Lebensmittelqualität Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Jahressteuergesetzes 2007 (Tagesordnungspunkt 22 a und b) (JSTG 2007) (Tagesordnungspunkt 21) Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 5304 D Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 5320 C Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 5306 D Gabriele Frechen (SPD) ...... 5321 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 5307 D Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 5322 B Dr. (DIE LINKE) ...... 5309 C Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 5323 B Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5310 B DIE GRÜNEN) ...... 5324 A Dr. Barbara Hendricks, Anlage 11 Parl. Staatssekretärin BMF ...... 5324 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- Anlage 14 rung über die Maßnahmen auf dem Gebiet Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unfallverhütung im Straßenverkehr der Beschlussempfehlung und des Berichts zu 2004 und 2005 (Unfallverhütungsbericht den Anträgen: Straßenverkehr 2004/2005) – Keine Weltbankkredite für Atomtechnolo- – Beschlussempfehlung und Bericht Ak- gie tionsprogramm für Straßenverkehrssicher- heit: Halbierung der Zahl der Unfallopfer – Eine Weltbank-Energiepolitik der Zu- bis 2010 kunft – Ja zu mehr Effizienz und erneuer- baren Energien, Nein zur Atomkraft Entschließung des Europäischen Parla- ments zu dem Europäischen Aktionspro- (Tagesordnungspunkt 24) gramm für die Straßenverkehrssicherheit: Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 5325 D Halbierung der Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr in der Europäischen Union Gabriele Groneberg (SPD) ...... 5326 D bis 2010: eine gemeinsame Aufgabe (2004/2162(INI)) (EuB-EP 1263) Dr. (FDP) ...... 5327 D (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 5328 C Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . (CDU/CSU) ...... 5311 B 5329 C Heidi Wright (SPD) ...... 5312 D Anlage 15 Patrick Döring (FDP) ...... 5314 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 5315 B des Entwurfs eines Gesetzes über steuerliche Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ Begleitmaßnahmen zur Einführung der Euro- DIE GRÜNEN) ...... 5315 D päischen Gesellschaft und zur Änderung wei- terer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) (Tagesordnungspunkt 23) Anlage 12 Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 5330 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung () (SPD) ...... 5332 A des Antrags: Aufbewahrungsfrist der Lohnun- terlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezem- Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 5334 A ber 2012 verlängern (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 5334 C (CDU/CSU) ...... 5317 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 5317 D DIE GRÜNEN) ...... 5335 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 XI

Anlage 16 Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 5343 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. (FDP) ...... 5345 A des Antrags: Informationspflicht für Unter- nehmen bei Datenschutzpannen einführen Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 5345 C (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 5336 B DIE GRÜNEN) ...... 5346 A Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 5337 B Gisela Piltz (FDP) ...... 5338 A Anlage 18 (DIE LINKE) ...... 5338 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (BÜNDNIS 90/ der Anträge: DIE GRÜNEN) ...... 5340 A – Öffentliche Verantwortung wahrnehmen – Mit fairen Chancen Kinder stark machen

Anlage 17 – Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten – Kinderarmut wirksam bekämpfen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung (Tagesordnungspunkt 28 a und b) einer Biokraftstoffquote durch Änderung des Thomas Dörflinger (CDU/CSU) ...... Bundes-Immissionsschutzgesetzes und zur 5346 D Änderung energie- und stromsteuerrechtlicher Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 5348 B Vorschriften (Biokraftstoffquotengesetz – BioKraftQuG) (Tagesordnungspunkt 25) Ina Lenke (FDP) ...... 5349 C Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 5341 A Diana Golze (DIE LINKE) ...... 5350 A Marko Mühlstein (SPD) ...... 5342 D Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 5351 B

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(A) (C) Redetext

54. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und Kollegen in den Rundfunkrat und in den Verwal- Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kolle- tungsrat der Deutschen Welle gewählt. gen! Die Sitzung ist eröffnet. Schließlich hat die Fraktion der CDU/CSU mitgeteilt, Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gibt es ei- dass der Kollege aus dem Kurato- nige Mitteilungen zu machen. Die erste freut mich ganz rium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und besonders: Der Kollege Dr. Wiefelspütz feierte am Zukunft“ ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege 22. September seinen 60. Geburtstag. Wir gratulieren Ingo Wellenreuther vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- herzlich im Namen des Hauses und in Abwesenheit. verstanden? – Auch das scheint der Fall zu sein. Dann ist der Kollege Ingo Wellenreuther in das Kuratorium der (Beifall) Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ge- wählt. Es stehen einige Wahlen zu Gremien an: Nach dem (B) Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek vom Interfraktionell ist verabredet worden, die verbundene (D) 22. Juni 2006 benennt der Deutsche Bundestag zwei Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ- Vertreter für den dortigen Verwaltungsrat. Die Fraktion ten Punkte zu erweitern: der CDU/CSU schlägt den Kollegen Johann-Henrich ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Bishe- Krummacher als ordentliches Mitglied und die Kollegin rige Ergebnisse der Koalition zu einer Reform für ein leis- Renate Blank als Stellvertreterin vor. Für die Fraktion tungsfähiges Gesundheitswesen der SPD sollen der Kollege Siegmund Ehrmann als or- (siehe 53. Sitzung) dentliches Mitglied und der Kollege Christoph Pries als ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Stellvertreter in den Verwaltungsrat. Sind Sie damit ein- (Ergänzung zu TOP 35) verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die genannten Kollegen und Kolleginnen hiermit in den Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeord- Verwaltungsrat der Deutschen Nationalbibliothek ge- neter und der Fraktion der FDP wählt. Konkretes und tragfähiges Konzept zur Bekämpfung von Als neues ordentliches Mitglied im Rundfunkrat der Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus vorlegen und zeitnah umsetzen Deutschen Welle hat die Fraktion der CDU/CSU für den ehemaligen Abgeordneten Günter Nooke den Kollegen – Drucksache 16/2779 – Wolfgang Börnsen vorgesehen. Stellvertretendes Mit- Überweisungsvorschlag: glied soll die Kollegin Dorothee Bär werden. Die Frak- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) tion der SPD schlägt für den Rundfunkrat den Kollegen Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Fritz Rudolf Körper als ordentliches Mitglied vor. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Kollege Hans-Joachim Hacker, der bisher ordentliches Technikfolgenabschätzung Mitglied war, soll nunmehr Stellvertreter werden. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Im Verwaltungsrat der Deutschen Welle soll der ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Kollege Reinhard Grindel von der Fraktion der CDU/ (Ergänzung zu TOP 36) CSU die Kollegin Monika Griefahn als ordentliches Mit- glied ablösen. Frau Griefahn wird dem Verwaltungsrat Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, fortan als stellvertretendes Mitglied angehören. der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr der sanitären Sind Sie auch mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Grundversorgung“ der Vereinten Nationen ausrufen Das ist der Fall. Dann sind die genannten Kolleginnen – Drucksache 16/2758 – 5148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Troost, (C) SES 90/DIE GRÜNEN: Korruptionsverdacht bei der Bun- Dr. Barbara Höll, , weiterer Abgeordneter und desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und die Rolle der Fraktion der LINKEN der Bundesregierung in diesem Zusammenhang Sparkassen-Namensschutz sichern – EU-Recht wahren – ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Parlamentarische Einflussnahme sicherstellen Harald Leibrecht, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abge- – Drucksache 16/2745 – ordneter und der Fraktion der FDP Für die Ächtung von Landminen und Streumunition Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. – Drucksache 16/2780 – Überweisungsvorschlag: Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunk- Auswärtiger Ausschuss (f) te 9, 10 und 18 abzusetzen, wodurch sich einige Ände- Rechtsausschuss rungen in der Reihenfolge ergeben. Der Tagesord- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nungspunkt 16 wird nach dem Tagesordnungspunkt 11 Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe aufgerufen. Die Tagesordnungspunkte 12 und 13 sowie 14 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und 15 werden jeweils getauscht. Der Tagesordnungs- Entwicklung punkt 22 wird nach dem Tagesordnungspunkt 17 aufge- Haushaltsausschuss rufen. Die Tagesordnungspunkte 23 und 24 sowie 25 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, und 26 werden wiederum jeweils getauscht. Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Schließlich mache ich auf eine geänderte Ausschuss- GRÜNEN überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk- Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen sam: weiterentwickeln – Das Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und Leistungen aus einer Hand für Menschen Gesetzentwurf der Fraktion der LINKEN zur mit Behinderungen ermöglichen Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen – Drucksache 16/2751 – – Drucksache 16/731 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss (f) Finanzausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Ausschuss für Arbeit und Soziales Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Der in der 22. Sitzung des Deutschen Bundestages über- GRÜNEN wiesene Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsaus- (B) Das Existenzminimum sichern – Sozialhilferegelsätze neu schuss zur Mitberatung überwiesen werden. (D) berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Jugendliche einleiten Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- – Drucksache 16/2750 – sen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, Finanzausschuss möchte ich noch herzlich Kolleginnen und Kollegen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Parlamentarier aus Tansania und Rumänien begrü- Ausschuss für Gesundheit ßen. Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag! ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall) tion der LINKEN Wir wünschen Ihnen interessante Gespräche und eine Für ein menschenwürdiges Existenzminimum gute Zeit in Berlin. – Drucksache 16/2743 – Überweisungsvorschlag: Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rung Ausschuss für Gesundheit Deutsche Islamkonferenz – Perspektiven für ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. , eine gemeinsame Zukunft Otto Bernhardt, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reinhard Ich erteile zur Regierungserklärung dem Bundes- Schultz (Everswinkel), Bernd Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, minister des Innern, Wolfgang Schäuble, das Wort. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten neten der SPD) – Drucksache 16/2748 – ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter Innern: und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Deutscher Finanzdienstleistungsmarkt im Wandel – Deutschland leben heute zwischen 3,2 und 3,5 Millionen Bezeichnungsschutz für Sparkassen erhalten Muslime. Die meisten von ihnen sind vor Jahrzehnten – Drucksache 16/2752 – mit ihren Traditionen und Gewohnheiten, mit ihrer Reli- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5149

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) gion und mit ihrer Kultur in dieses Land gekommen. Im Übrigen unterhält unser Staat geregelte Beziehun- (C) Viele von ihnen haben, wie der Regisseur Fatih Akin es gen zu den Kirchen. Viele Muslime erwarten zu Recht, beschrieben hat, „vergessen, zurückzukehren“. Der Is- dass so ähnlich, wie der Staat Beziehungen zu den lam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil christlichen Kirchen und zur jüdischen Gemeinschaft unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft. Mus- unterhält, er auch Beziehungen zu den Muslimen entwi- lime sind in Deutschland willkommen. Sie sollen ihre ckelt – was insofern komplizierter ist, als die Muslime Talente entfalten und sie sollen unser Land mit weiter nicht so verfasst sind wie die christlichen Kirchen. Einen voranbringen. Anstoß zu geben, miteinander zu diskutieren, ist einer Um Perspektiven für die gemeinsame Zukunft zu der wesentlichen Beweggründe für die Islamkonferenz schaffen, müssen wir versuchen, die Probleme zu lösen, und einer der Gründe, warum wir uns entschlossen ha- die das Zusammenleben mit Muslimen in unserem Land ben, dafür einen eigenen Prozess ins Leben zu rufen. Die belasten: Religionsunterricht in Koranschulen und an Deutsche Islamkonferenz ist keine Veranstaltung, die staatlichen Schulen, Kopftuch, Imamausbildung, die nur gestern drei Stunden lang stattgefunden hat, sondern Rolle der Frauen und Mädchen, das Schächten – um nur gestern war der Auftakt für einen ständigen Dialog, den ein paar Stichworte zu nennen. Nicht nur der Bundesre- wir zunächst einmal auf einen Zeitraum von etwa zwei gierung bereitet die hohe Arbeitslosigkeit insbesondere Jahren angelegt haben. der Muslime der zweiten und dritten Generation, häufig Uns geht es, wie es im Koalitionsvertrag steht, um ei- als Folge eines zu niedrigen Qualifikationsniveaus, nen Dialog sui generis mit den Muslimen in Deutsch- Sorge. Neben solchen Alltagsproblemen führt der isla- land, die nicht mehr länger eine ausländische Bevölke- mistische Terror zu Ängsten und Argwohn in der Bevöl- rungsgruppe darstellen, sondern Bestandteil unserer kerung. Viele Muslime finden sich zu Unrecht unter ei- Gesellschaft geworden sind. nen Generalverdacht gestellt, ausgegrenzt und nicht voll in die deutsche Gesellschaft aufgenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Das muss den Muslimen und auch dem nicht muslimi- schen Teil unserer Gesellschaft vermittelt werden. All diese Sorgen müssen wir ernst nehmen und neh- men wir ernst. Die die Bundesregierung tragenden Par- Natürlich haben viele gefragt, warum das erst jetzt ge- teien und Fraktionen, CDU/CSU und SPD, haben sich schieht. Diese Diskussion führt aber nicht weiter. Besser deshalb im Koalitionsvertrag ausdrücklich zum Dialog jetzt als später oder gar nicht. Vielleicht liegt das auch mit den Muslimen bekannt. Deshalb habe ich gestern mit daran, dass wir zu lange gedacht haben – übrigens nicht nur die Deutschen, sondern auch die meisten Zuwande- (B) der Deutschen Islamkonferenz in der Orangerie im (D) Schloss Charlottenburg den ersten institutionalisierten rer, die einstmals als Gastarbeiter zu uns kamen –, dass Dialog zwischen dem deutschen Staat und den in sie wieder in ihre Heimat zurückgehen. Irgendwann hat Deutschland lebenden Muslimen eröffnet. Das Schloss sich das geändert. Wir wissen, dass die meisten von ih- Charlottenburg – auch das darf man sagen –, Ende des nen in Deutschland geblieben sind. Ihre Kinder und En- 17. Jahrhunderts erbaut, erinnert an die große Toleranz kel fühlen sich längst als Deutsche türkischer oder arabi- der preußischen Dynastie scher Herkunft. Auch deswegen war es an der Zeit, mit dieser Deutschen Islamkonferenz ein Zeichen des Auf- ( [Cottbus] [SPD]: Und der bruchs zu einem neuen Miteinander zu setzen. Bürger!) Die Vertreter des Staates – Bund, Länder und kommu- – ja, der Bürger, aber auch der Dynastie – und war ein nale Spitzenverbände –, die in der Deutschen Islamkon- guter Ort, um diesen Dialog zu eröffnen. ferenz vertreten sind, haben sehr deutlich gemacht, dass wir in diesem Dialog auch Erwartungen an die Muslime (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und haben. Nach der deutschen Rechts- und Werteordnung der SPD) verstehen wir den Weg zu einem gedeihlichen Zusam- Aufgabe dieser Deutschen Islamkonferenz soll es menleben als einen Prozess, in dem kulturelle und reli- sein, eine Lösung der Probleme des Zusammenlebens giöse Unterschiede anerkannt werden, in dem aber auch gemeinsam und im Dialog mit den in Deutschland leben- die vollständige Akzeptanz der freiheitlich-demokrati- den Muslimen zu suchen. Es ist viel darüber diskutiert schen Grundordnung verlangt und vorausgesetzt wird. worden, was der Unterschied zwischen der Deutschen Die mit dieser freiheitlich-demokratischen Grundord- Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel sei und ob nung geschützten Grundregeln des Zusammenlebens man sie nicht verbinden könne. Natürlich gibt es eine sind für jeden verbindlich, der in Deutschland lebt. Das enge Verbindung zwischen der Integration der Muslime Grundgesetz ist nicht verhandelbar. und dem Dialog mit den Muslimen; beides hat viel mit- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP einander zu tun. Trotzdem stehen beim Integrationsgip- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fel und dem entsprechenden Prozess die Fragen aller in Deutschland lebenden Menschen, die aus vielerlei Grün- Durch das Grundgesetz wird im Übrigen mehr als durch den nach Deutschland gekommen sind, im Vordergrund, viele andere Ordnungen – das war auch gar nicht streitig – während wir uns in der Deutschen Islamkonferenz aus- Raum für ein friedliches, vielfältiges, kulturelles und tole- schließlich mit dem Islam und mit den Muslimen be- rantes Zusammenleben geboten. Deswegen ist es im Inte- schäftigen. resse aller, dass das Grundgesetz nicht verhandelbar ist. 5150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) In dieser Ordnung, die von christlicher Ethik geprägt Ich finde es bezeichnend und gut, dass es gelungen (C) ist – auch das muss gesagt werden, was ich gestern auch ist, ein entsprechendes Klima zu schaffen. Damit sind getan habe –, muss der Islam seinen Platz finden. Hier natürlich nicht alle Probleme gelöst. Ich bin überhaupt lebende Muslime können sich Zukunftsperspektiven er- gegen jede Form von Verharmlosung. Das wird ein öffnen, wenn sie verstärkt Bereitschaft zeigen, unsere schwieriger Weg sein und – das haben alle gesagt – es Sprache zu erlernen, Bildungsabschlüsse zu erwerben liegt viel Arbeit vor uns. Aber wir haben eine gute und sich an der Entwicklung der Gesellschaft zu beteili- Grundlage, diese Arbeit zu bewältigen; das ist eine gen. wichtige Voraussetzung. Damit wir die Deutsche Islamkonferenz als Chance Wir haben uns vorgenommen, Vereinbarungen zu für ein neues Miteinander nutzen können, sind die Mus- wichtigen Fragen des Zusammenlebens zu erarbeiten. lime aufgefordert, sich zu den Grundlagen eines har- Das werden keine Vereinbarungen mit einer Verbindlich- monischen Miteinanders zu bekennen: der deutschen keit in juristischem Sinne sein können. Aber als ergebnis- Rechts- und Werteordnung, der deutschen Sprache, den offener und zielgerichteter Prozess soll die Konferenz in Deutschland gültigen sozialen Konventionen. Dieser darauf hinarbeiten, einen gemeinsamen Willen herzu- Weg in unsere Gesellschaft wird durch das Motto dieser stellen, der es Bund, Ländern und Kommunen ermög- Deutschen Islamkonferenz umschrieben: „Muslime in licht, gemeinsam mit Muslimen zu handeln. Deutschland – Deutsche Muslime“. Wir werden auf zwei Ebenen tagen: zum einen in der Ich glaube, dass die meisten, die das gestern verfolgt Form des Plenums, das wir gestern eröffnet haben; zum haben, in dem Urteil mit mir übereinstimmen werden, anderen in drei Arbeitsgruppen und einem Gesprächs- dass der Start gut gelungen ist. kreis, in dem Vertreter von Bund, Ländern und Kommu- nen mit Vertretern der organisierten wie auch der nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) organisierten Muslime zur Sacharbeit zusammenkom- men werden. Dies beginnt am 8. und 9. November in Es war eine offene Debatte. Wir hatten gar nicht vor, Nürnberg. Wir haben mit der Geschäftsführung dieses eine harmonische und nur auf Konsens ausgerichtete Dialogs das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Veranstaltung durchzuführen, sondern wir wollen, dass beauftragt. Diese Entscheidung hat allseits große Zu- innerhalb der Gemeinschaft der Muslime unterschiedli- stimmung gefunden. Ich bin sehr froh, dass sich das che Auffassungen ausgesprochen werden. Wenn Sie sich Bundesamt zu Recht einer so großen Anerkennung er- die Teilnehmer anschauen, dann wissen Sie, dass es im freut, weil es gute Arbeit leistet. Vorhinein sehr spannend war, wie das überhaupt gehen sollte. Es ist gut gelungen. Alle haben einander gut zuge- Ergebnisse sollen aus sorgfältiger Analyse abgeleitete (B) hört und am Schluss haben auf meine Frage alle gesagt, konkrete Handlungsempfehlungen sein. Im Plenum der (D) dass wir uns genau in dieser Zusammensetzung und auf Konferenz wollen wir etwa jedes halbe Jahr die Ergeb- dieser Grundlage jetzt auf den Weg machen und so wei- nisse der Arbeitsgruppen zu einem breit angelegten Kon- termachen sollten. Deswegen ist der Start gut gelungen. sens zusammenführen. Ich habe im Übrigen die Teilnehmer für das Plenum Es war eine offene und in Teilen durchaus kontro- wie für die Arbeitsgruppen nach vielen intensiven Ge- verse Debatte. Es wäre unehrlich, etwas anderes zu sa- sprächen und nach reiflicher Überlegung ausgewählt. Es gen. Niemand hat auch nur den geringsten Vorbehalt hat natürlich viele Debatten gegeben; das war unver- gegenüber der Gültigkeit unserer Verfassungs- und meidlich. Aber es war gewollt, dass es darüber schon im Rechtsordnung geäußert. Das war so selbstverständlich Vorfeld Debatten gegeben hat. Ich habe Vertreter der wie nichts anderes. Auch das muss klar gesagt werden. mitgliederstärksten muslimischen Dachverbände mit (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann religiöser Prägung eingeladen. Sie repräsentieren, wenn [FDP]) man die Mitgliederzahl großzügig schätzt, 15 bis 20 Pro- zent der bei uns lebenden Muslime. Wenn man in diese Es mag zwar nur ein Randthema gewesen sein, obwohl Schätzung die Zahl der regelmäßigen Moscheebesucher es ein wichtiger Punkt ist: Die Tatsache, dass alle 30, die einbezieht, dann kann man hinsichtlich der Repräsentanz um diesen Tisch versammelt waren, gesagt haben, dass der Verbände sogar mit Wohlwollen auf ein Drittel kom- es schön wäre, wenn eine bestimmte Operninszenie- men. rung bald wieder aufgeführt werden könnte, und dass Daraus ergibt sich aber auch, dass die breite Mehrheit wir dann alle miteinander dort hingehen, zeigt etwas von von religiösen und nicht religiösen Muslimen durch die dem Klima, das es in dieser Konferenz gibt. Verbände nicht hinreichend repräsentiert ist und dass (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP niemand den Anspruch erheben kann, nur er allein reprä- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sentiere die Muslime. Deswegen habe ich zur Konferenz [SPD]: Wir sollten uns bewusst ebenfalls Vertreter der nicht organisierten Mus- dem anschließen!) lime eingeladen, die die verschiedensten Facetten der muslimischen Lebenswirklichkeit in unserem Lande re- – Ja, Herr Kollege, aber es ist nicht meine Sache als In- präsentieren. Auch das ist in der Konferenz sehr deutlich nenminister, dem Parlament so einen Vorschlag zu unter- geworden und es ist am Ende der Konferenz von allen breiten. Ich halte das allerdings für einen wichtigen akzeptiert worden. Das ist innerhalb des Dialogs und in- Schritt. nerhalb der Gemeinschaft der Muslime in Deutschland Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5151

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) ein wichtiger Schritt. Natürlich ist das vorher kritisiert menarbeit bei der Bekämpfung des gewalttätigen wie (C) worden, aber auch von vielen positiv erwähnt worden. auch des legalistisch vorgehenden Islamismus gelangen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Extremisten die Reli- Ich glaube, alle, die als Vertreter von Bund, Ländern gion des Islams für ihre Taten in Anspruch nehmen kön- und Gemeinden am Tisch gesessen haben, haben in die- nen, gerade weil auch die große Mehrzahl der friedlie- ser beeindruckenden Gruppe von 15 Repräsentanten benden Muslime Angst vor gewalttätigen Extremisten muslimischen Lebens in Deutschland gespürt, dass dies hat. auch in ihrer Vielfalt eine eindrucksvolle Gruppe war. Es ist eben wichtig, dass uns allen – unserer Gesellschaft (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der und damit auch der Öffentlichkeit – die Vielfalt islami- FDP) schen Lebens in unserem Lande insgesamt bewusst wird. Es wird, wie ich gesagt habe, ein steiniger Weg Ich verbinde mit der Eröffnung des Dialogs mit den sein – für die Muslime und für den Staat. Aber nur in ei- Muslimen die Hoffnung, dass alle verstehen, dass Mus- ner pluralen Auseinandersetzung haben wir eine Chance, lime in Deutschland willkommen sind. Damit sie ihre Lösungen zu finden, wie sich der Islam in unserer offe- Potenziale voll entfalten können, müssen wir die Pro- nen, freiheitlichen und pluralistischen Demokratie ent- bleme unseres Zusammenlebens und deren Ursachen er- wickeln kann. kennen und daraus Konsequenzen ziehen. Nur so schaf- fen wir Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft. Das Spektrum der konkreten Fragen, die wir in der Konferenz erörtern werden, ist so breit, wie der Islam in Ich hoffe, dass es mit der Deutschen Islamkonferenz Deutschland vielfältig ist. Es umfasst als ersten Schwer- gelingt, nicht nur praktische Lösungen zu finden, son- punkt die Vereinbarkeit verschiedener islamischer dern auch mehr Verständnis, Sympathie, Friedlichkeit, Strömungen mit der deutschen Gesellschaftsord- Toleranz und vor allen Dingen mehr Kommunikation nung. Ausgehend von den Wesensmerkmalen unserer und Vielfalt zu schaffen und damit zur Bereicherung in pluralistischen Gesellschaft werden wir in der ersten Ar- unserem Land beizutragen. beitsgruppe, die den Namen „Deutsche Gesellschafts- Ich möchte mit folgenden Worten des in Frankreich ordnung und Wertekonsens“ trägt, über zentrale Werte lebenden libanesischen Schriftstellers Amin Maalouf sprechen. Dabei geht es nicht allein um die Frage der schließen, die mir sehr gut zu dem zu passen scheinen, Gültigkeit der Grundrechte, sondern wir wollen, dass was uns bei der Islamkonferenz bewegt: sich Muslime in Deutschland entfalten können. Wenn ich mich zu meinem Gastland bekenne, wenn Den zweiten wichtigen Schwerpunkt bildet die Frage, ich es als das meine betrachte, wenn ich der Ansicht wie sich der Islam als Religion mit den Strukturen und bin, dass es fortan ein Teil von mir ist wie ich ein (B) Elementen des deutschen Religionsverfassungsrechts Teil von ihm, und wenn ich mich entsprechend ver- (D) vereinbaren lässt. Wir interpretieren unser Religionsver- halte, dann habe ich das Recht, jeden seiner As- fassungsrecht nach Art. 4 des Grundgesetzes sehr im pekte zu kritisieren; umgekehrt, wenn dieses Land Lichte unserer staatskirchenrechtlichen Erfahrungen mit mich respektiert, wenn es meinen Beitrag aner- den christlichen Kirchen, was zu Problemen mit der Ver- kennt, wenn es mich in meiner Eigenart fortan als fasstheit des Islam führt. Deswegen brauchen wir – bei- Teil von sich betrachtet, dann hat es das Recht, be- spielsweise wenn wir an staatlichen Schulen Islamunter- stimmte Aspekte meiner Kultur abzulehnen, die mit richt einführen wollen – einen Partner, weil es nicht gut seiner Lebensweise oder dem Geist seiner Institu- wäre, wenn der Staat dabei allein handeln würde. Dass tionen unvereinbar sein könnten. uns ein solcher Partner zur Verfügung gestellt wird, ist eine weitere Erwartung, die wir an die Arbeit der Islam- Wenn wir das gemeinsam zur Grundlage machen, konferenz haben. dann können wir in unserem Lande vieles noch besser zustande bringen, als es bisher der Fall war. Den dritten Schwerpunkt bildet der Bereich Wirt- schaft und Medien. Dabei geht es etwa darum, wie wir Herzlichen Dank. die Defizite in der ökonomischen und sozialen Lage vie- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der ler Muslime beheben können, wie wir erreichen können, FDP) dass die Medien stärker als bisher dazu beitragen, dass Sprachkenntnisse und damit Kommunikation und Inte- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gration gefördert werden, und um vieles mehr. Es geht aber auch um die Erwartungen von Muslimen an Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff, FDP-Frak- deutschsprachige Printmedien und elektronische Me- tion. dien. Auch darüber ist gestern schon gesprochen wor- den. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Is- Wir werden auch über die Bedrohung unserer lamkonferenz war längst überfällig. Allerdings hat Bun- freiheitlichen Demokratie durch islamistische Bestre- desinnenminister Schäuble mit seiner Geheimniskräme- bungen miteinander reden. Es gibt bereits einen Ge- rei um Zielsetzung, Teilnehmer und Programm der sprächskreis, in dem schon viele Verbände mit den Islamkonferenz keinen guten Dienst erwiesen. Sicherheitsbehörden zusammenwirken. In dem Ge- sprächskreis „Sicherheit und Islamismus“ der Deutschen (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist, glaube Islamkonferenz wollen wir zu einer besseren Zusam- ich, nicht der angemessene Einstieg!) 5152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Der Dialog muss vor allem in der Bevölkerung und unter zensur drastisch erhöht? Schon damals wurde weltweit (C) unmittelbarer Beteiligung der Volksvertretung, des Par- gegen die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen laments, fortgesetzt werden. Dabei könnte eine allge- Grundordnung agitiert. mein akzeptierte Organisation der deutschen Muslime helfen, die Integration der Muslime in Staat und Gesell- Die schnelle Kritik muslimischer Verbände am Vor- schaft zu verbessern. trag Papst Benedikts XVI. in Regensburg hat mich be- sonders betroffen gemacht. Wer seinen Text unvoreinge- Schon im Vorfeld haben bestimmte Islamorganisatio- nommen liest, muss zugeben, dass es dem Papst um das nen Ansprüche auf rechtliche Gleichstellung mit den Verhältnis der Vernunft zur Religion und das aus der Kirchen angemeldet. Für mich wäre eine rechtliche Vernunft abzuleitende Postulat ging, dass Religion ge- Gleichstellung des Islam unter klaren Bedingungen waltfrei sein müsse. Klarstellungen oder Entschuldigun- grundsätzlich denkbar. Dazu gehört, dass der Islam die gen, wie sie etwa vom Zentralrat der Muslime in Grundwerte unserer Gesellschaft ohne Vorbehalt akzep- Deutschland gefordert wurden, waren aus meiner Sicht tiert und mitträgt. Unbedingte Gewaltfreiheit und die eigentlich nicht erforderlich. Anerkennung der Trennung von Religion und Staat sind eine wesentliche Voraussetzung dafür. Eine Religionsge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten meinschaft, die das Grundgesetz durch die Scharia erset- der CDU/CSU und des Abg. Steffen Reiche zen will, kann nicht anerkannt und nicht toleriert wer- [Cottbus] [SPD]) den. Es ist zwar erfreulich, dass nach dem Bedauern des (Beifall bei der FDP) Vatikans eine Beruhigung aufseiten der muslimischen Verbände eingetreten ist. Aber die zuvor inszenierte Eine rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen erfor- Aufregung war unnötig. Hier ist die Frage an bestimmte dert ohne Wenn und Aber den vornehmlichen Gebrauch Muslime in Deutschland zu richten, wie sie es denn mit der deutschen Sprache, wie dies die anderen öffentlich- dem vorurteilsfreien Dialog und der Meinungsfreiheit rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften praktizie- halten. In Deutschland muss jederzeit auch ein offener ren; denn das Beherrschen der deutschen Sprache eröff- Diskurs über religiöse Meinungen möglich sein. net beiden Seiten die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs. Die deutsche Öffentlichkeit hat ein Recht da- Die Absetzung der Mozart-Oper „Idomeneo“ vom rauf, jederzeit zu verstehen, was von einer öffentlich- Spielplan der Deutschen Oper in Berlin wirkt vor die- rechtlich verfassten Religionsgemeinschaft gelehrt wird. sem Hintergrund skandalös. Die Deutsche Oper stellt Die Angehörigen dieser Gemeinschaft haben ein Recht mit ihrer Begründung den Islam in Deutschland unter darauf, über ihre Religion in vollem Umfang mit der Ge- Generalverdacht, und zwar aufgrund von Hinweisen des (B) samtgesellschaft zu kommunizieren. Gerade vor dem Berliner Innensenators Körting. Seine Rolle sollte man (D) Hintergrund wachsender Ängste ist dies unverzichtbar. sich noch einmal genauer betrachten. Selbst wenn eine Die Demokratie lebt von solcher Teilhabe und damit von Bedrohung vorläge, muss man fragen, ob eine solche dem Beherrschen der Landessprache. Wer am hiesigen Angst vor dem Islamismus nicht den Islamisten in die gesellschaftlichen Diskurs nicht teilnehmen kann, viel- Hände spielt. Es ist bezeichnend, dass der Islamrat als leicht sogar bewusst die Diskursfähigkeit verhindert und Dachorganisation vor allem für Milli Görüş diese Selbst- sich oder seine Angehörigen abschottet, der grenzt sich zensur, diese Kapitulation der Kunstfreiheit ausdrücklich von der Demokratie ab und aus. begrüßt hat. Das Klima der Angst schadet unserer Ge- sellschaft und schadet allen positiven Bemühungen um (Beifall bei der FDP) Integration. Deshalb brauchen wir auch in den Moscheen eine grö- (Beifall des Abg. Dr. ßere Offenheit. Die deutsche Sprache muss umfassend [FDP]) Einzug halten. Insofern begrüße ich dieses symbolische Signal, Herr Die angestrebte Gleichberechtigung wirft aber noch Innenminister, dass die Teilnehmer der Konferenz zu der andere Fragen auf. Würden muslimische Organisationen nächsten Opernaufführung gehen wollen. in Deutschland nicht glaubwürdiger, wenn sie ihre For- derungen nach Gleichstellung von Christen und Anders- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gläubigen auch in islamischen Ländern deutlich erheben der CDU/CSU) würden? Vertreter des Islam haben sich in den letzten Wochen Von den skizzierten Voraussetzungen scheint mir der und Monaten manchmal in einer Weise zu Wort gemel- gegenwärtige Islam in Deutschland – jedenfalls zum Teil – det, die ich für sehr unglücklich halte. Doch die weit noch fern zu sein. Nicht die Beteuerungen einzelner überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland ist Funktionäre sind dabei entscheidend. Entscheidend ist nicht fundamentalistisch. Es hat immer wieder Stellung- vielmehr, was jeden Tag in den Moscheen und Islamver- nahmen gegeben, die hoffnungsvoll stimmen, die die In- einen gelehrt und gepredigt wird. Angesichts befürchte- tegration eines aufgeklärten Islam in unsere westlich- ter Übergriffe von Islamisten wächst in Deutschland lei- demokratische Gesellschaft möglich erscheinen lassen. der ein Klima der Angst und Unsicherheit. Die Freiheit So hat sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, der Kunst und der Presse sowie die Meinungsfreiheit Kenan Kolat, für die Kunstfreiheit und gegen die Berli- sind davon bedroht. Hat nicht schon der Karikaturen- ner Opernabsetzung ausgesprochen. Frau Seyran Ateş streit die Neigung des aufgeklärten Europas zur Selbst- hat sich in vorbildlicher Weise gegen reaktionär-un- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5153

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) menschliche Praktiken wie die so genannten Ehren- sprechen, so der Innenminister. Über die eingeladenen (C) morde und gegen Zwangsheirat engagiert. Der deutsche Islamvertreter will ich nicht urteilen, sondern nur darauf Moslem Peter Schütt hat sich überzeugend für ein sinn- hinweisen, dass lediglich 10 Prozent der Muslime in und zeitgemäßes Verstehen des Koran ausgesprochen. Deutschland überhaupt durch Organisationen vertreten sind. Insofern wird es jeder Gastgeber schwer haben, Viele, sehr viele sind für einen offenen Dialog. Sol- 15 repräsentative Vertreter des Islam in Deutschland zu che Ansätze machen Mut, Muslime in Deutschland will- finden. Auf der Seite des Staates sind Vertreter von Mi- kommen zu heißen. Sie zeigen uns, dass der Islam in nisterien, von Ländern und von Kommunen eingeladen, Deutschland differenzierter wahrgenommen werden etwas zugespitzt gesagt, die „üblichen Verdächtigen“ der muss, als manch aufgeregte Diskussion es suggeriert. Administration. Abgeordnete sind nicht dabei. Es geht (Beifall bei der FDP) also, um es deutlich zu sagen, nicht um ein Gespräch zwischen und mit Bürgerinnen und Bürgern, sondern es Ein so verstandener Islam, der sich unserer Gesellschaft, sprechen hochrangige Regierungsvertreter mit einigen ihren Werten und ihrer Sprache öffnet, kann unser Zu- wenigen Vertretern des Islam. Gleichzeitig soll das Ziel sammenleben sehr bereichern. Eine reaktionäre Gesin- eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische nung, die die Aufklärung bekämpft und ein Klima der Integration der muslimischen Bevölkerung sein. Angst verbreiten möchte, hat dagegen keinen Platz in unserer Mitte. Aus meiner Sicht gilt Folgendes: Ein sinnvoller Dia- log, der langfristig zu einer besseren Integration führen (Beifall bei der FDP) soll, kann nicht zwischen Staat und Islam geführt wer- den, er muss vielmehr maßgeblich zwischen Bürgerin- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen und Bürgern stattfinden. Das Wort hat der Kollege Michael Bürsch, SPD-Frak- tion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP) (Beifall bei der SPD) Integration ist nämlich eine Aufgabe der Bürgergesell- schaft. Der Staat kann aus meiner Sicht Moderator sein. Dr. Michael Bürsch (SPD): Er kann die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Integration schaffen, beispielsweise ein ausreichendes gen! Meine Damen und Herren! In der Politik wird die- Angebot an Sprachkursen. ser Tage sehr viel kritisiert und viel zu wenig gelobt. Deshalb fange ich mit einem deutlichen Lob an. Die Ein- Zweite Frage: Worüber soll gesprochen werden? Die (B) berufung einer Deutschen Islamkonferenz ist eine sehr Arbeitsbereiche der Konferenz sind – der Innenminister (D) gute Idee. Sie ist ein wichtiges Signal für die Verständi- hat sie vorgestellt –: deutsche Gesellschaftsordnung und gung mit den in Deutschland lebenden Muslimen und Wertekonsens; Religionsfragen im deutschen Verfas- damit auch ein Zeichen dafür, dass der Integrationsge- sungsverständnis; Wirtschaft und Medien als Brücke; Si- danke mittlerweile von allen politischen Parteien ernst cherheit und Islamismus. Ehrlich gesagt, das klingt mir genommen wird. etwas unvollständig, womöglich etwas einseitig. Diese Themenwahl ist doch vor allem auf die Frage ausgerich- Es ist gut und wichtig, dass wir nicht mehr übereinan- tet, wie sich Muslime nahtlos in die bundesrepublikani- der, sondern miteinander reden. Es ist wichtig, dass die sche Gesellschaft einpassen können. Sie berücksichtigt Islamkonferenz keine einmalige Veranstaltung ist, son- aus meiner Sicht nicht hinreichend, dass die Integration dern als ein langfristiger Prozess angelegt wird. von Zuwanderern auch von der Aufnahmegesellschaft (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) etwas erfordert, nämlich auf diejenigen, die kommen, zuzugehen. Integration ist, richtig verstanden, ein Nur durch das dauerhafte und fortgesetzte Gespräch wechselseitiger Prozess zwischen muslimischen Zu- kann man zu ernsthaften Verabredungen und damit zu wanderern einerseits und der Aufnahmegesellschaft an- der Chance kommen, mehr Verständnis füreinander zu dererseits. Sie lässt sich auch nicht per Richtlinienkom- entwickeln und Missverständnisse zu beseitigen. Zu ei- petenz verordnen. Integration funktioniert ohnehin nicht nem solchen Dialog hat der Bundesinnenminister in sei- – das wissen wir – per Assimilation. ner Einladung an die Teilnehmer der Konferenz aufgeru- fen. Allein darin liegt schon ein wichtiger Schritt in eine Unbestritten ist: Die Muslime, die dauerhaft in moderne, offene und durch Pluralismus gekennzeich- Deutschland leben wollen, müssen zur Integration bereit nete Gesellschaft. sein, wenn das gesellschaftliche Zusammenleben gelin- gen soll. Deshalb dürfen wir auch legitime Forderun- Nun komme ich zu der Frage, was die sozialdemokra- gen stellen: Die Anerkennung der freiheitlich-demokra- tische Fraktion in diesem Diskurs, in diesem langfristig tischen Grundordnung, unserer Rechtsordnung, die angelegten Experiment sieht. Koalitionen leben von Beherschung der deutschen Sprache, die Bereitschaft zur zweierlei, von Einheit und Unterschied. Ich stelle drei aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Fragen an die Konferenz und an die Konzeption. Ich ver- Bereitschaft zur Toleranz, auch und gerade in Bezug auf binde sie mit einigen Aspekten sozialdemokratischer religiöse Fragen und ihre Darstellung in der Kultur. Des- Integrationspolitik. halb ist es wichtig, über die deutsche Gesellschaftsord- Erstens. Wer redet hier eigentlich mit wem? Bei der nung zu sprechen und über Religionsfragen im deut- Deutschen Islamkonferenz will der Staat mit dem Islam schen Verfassungsverständnis, wie es vorgesehen ist. 5154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Michael Bürsch (A) Aber Integration verlangt auch der Aufnahmegesell- mismus und Extremismus, zum anderen wird der (C) schaft einiges ab, unter anderem die Bereitschaft zur Be- Segmentation von Muslimen in Deutschland entgegen- kämpfung von Vorurteilen und die Bereitschaft zur To- gewirkt. leranz. Toleranz heißt nicht, dass wir Zwangsehen, Ich fürchte, dass diese Zielsetzung jedenfalls von Selbstjustiz oder die Unterdrückung von Frauen akzep- manchen missverstanden werden kann. Wir müssen ei- tieren. nen interkulturellen, interreligiösen Dialog mit dem Is- (Beifall der Abg. Sibylle Laurischk [FDP]) lam in erster Linie deshalb führen, weil ein relevanter Teil unserer Bevölkerung muslimisch ist. Wir wollen die Sie setzt aber auf jeden Fall voraus, dass man sich mit religions- und gesellschaftspolitische Integration der der kulturellen und religiösen Identität des anderen be- muslimischen Bevölkerung in Deutschland in erster Li- schäftigt und Vorurteile abbaut. nie deshalb fördern, weil wir endlich der Tatsache Rech- Um Vorurteile abbauen und Toleranz üben zu können, nung tragen müssen, dass Deutschland – das ist auch muss man zunächst Aufklärung betreiben. Daher ver- Teil des Zuwanderungskompromisses 2005 gewesen – misse ich einen Arbeitsbereich, Herr Innenminister, in ein Einwanderungsland geworden ist, und weil deshalb dem über die – vermutlich nicht unbedingt einheitliche – ein zentrales Element unserer Gesellschaftspolitik die muslimische Sicht der Dinge diskutiert wird und der gerechte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft über den Islam aufklärt, beispielsweise über das Verhält- sein muss. nis des Islam zur Gleichberechtigung von Mann und Niemand will die Gefahren, die von Islamismus und Frau, zu Familie, zu Erziehung und zum Recht muslimi- Extremismus ausgehen, ausblenden, aber diese Gefah- scher Kinder und Jugendlicher auf ein Leben in freier ren sollten richtig gewichtet werden. Das Bundesamt für Entfaltung. Es fehlt ein Arbeitsbereich, in dem die Ver- Verfassungsschutz hat uns darüber aufgeklärt, dass von treter des Islam über den Inhalt der Scharia aufklären den 3,2 bis 3,5 Millionen Muslimen hochgerechnet könnten und über das Verhältnis der Scharia zur demo- 1 Prozent Islamisten sind, also solche, die ihren Glauben kratischen Rechtsordnung. Vielleicht bietet die Islam- mit einer politischen Überzeugung verbinden. Da kann konferenz künftig Raum für diese – aus meiner Sicht – auch Gefahr, kann auch Gewalt, kann auch Terrorismus notwendigen Betrachtungen. drohen, aber es sind 1 Prozent, über die wir reden. Ich Ich habe ein weiteres Anliegen – ich habe es schon habe den Eindruck, dass in der öffentlichen Debatte Is- angedeutet –: Wir brauchen für die Integration konkrete lam und Islamismus jedenfalls von manchen verwechselt Schritte in Richtung Bürgergesellschaft und nicht nur werden oder diese 1 Prozent – das wären 32 000 bis Wunschkataloge auf Papier. Entscheidend ist aus meiner 35 000 – von manchen vielleicht sogar für das Ganze ge- Sicht deshalb, über folgende Fragen zu reden: Was findet nommen werden. (B) (D) vor Ort, in der Gemeinde, im Bezirk, in der Nachbar- Ich betone nochmals: Die Deutsche Islamkonferenz schaft statt? Aus welchen guten Projekten können wir ist ein ganz wichtiger erster Schritt und als Beginn des lernen? lange fälligen Dialogs mit dem Islam eindeutig zu begrü- Nehmen wir als Beispiel Badr Mohammed, der bei ßen. Der interkulturelle und interreligiöse Dialog ist für der Auftaktveranstaltung gestern dabei war. Badr mich eine Grundvoraussetzung für gegenseitiges Ver- Mohammed aus Berlin betont sehr entschieden die Be- ständnis, Toleranz und den Abbau von Vorurteilen. Des- deutung der muslimischen Familie und ihrer Struktur halb sollten wir diesen Dialog ausweiten. für den Prozess der Integration. Seine Überzeugung Was spricht dagegen, nicht nur einen Dialog mit dem – die er auch lebt – ist: Integration ist ein Familienpro- Islam zu führen, und zwar nicht nur zwischen Staat und jekt, weil die Familie bei den meisten Muslimen eine un- Islam, sondern in Deutschland auch einen Dialog aller gleich stärkere Bedeutung hat als bei uns weitgehend Weltreligionen – zwischen Christen, Juden und Mos- säkularisierten Westeuropäern. Vor Ort, in der Nachbar- lems – zu organisieren? Was spricht dagegen, in der schaft, in der Kommune braucht man deshalb Personen Frage, wie wir die Werteordnung unseres Grundgesetzes mit interkultureller Kompetenz, die als Lotsen der In- verstehen und wie wir das Zusammenleben regeln wol- tegration Brücken zwischen Muslimen und Nichtmusli- len, auch die Atheisten mit einzubeziehen? men bauen können, die die Bildungs-, Ausbildungs- und Teilhabechancen von Angehörigen muslimischer Fami- Herr Innenminister, Sie haben mit einem Zitat eines lien durch Aufklärung, Information und Überzeugungs- Libanesen geschlossen. Es liegt nahe, dass man bei der arbeit erhöhen. Diese Form von Integration ist ein Pro- Suche nach Zitaten zu dieser Debatte zu ähnlichen Er- jekt der Bürgergesellschaft, bei dem der Staat zwar eine gebnissen kommt. Ich möchte mit einem Satz der ägyp- wichtige, aber nicht die zentrale Rolle spielt. tisch-libanesischen Autorin Andrée Chedid schließen, das für mich Leitlinie für den Diskurs sein kann, den wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der in den nächsten Jahren führen wollen. Andrée Chedid FDP sowie der Abg. [CDU/ hat in sehr kurzer, aber prägnanter Form gesagt: CSU]) Wer auch immer du bist: Ich bin dir viel näher als Dritte Frage: Was ist das Ziel der Islamkonferenz? fremd! Herr Minister, Sie haben erläutert: Ziel der Konferenz ist eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutsch- der CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle land; dies dient zum einen der Verhinderung von Isla- [FDP]: Ein schönes Motto für die Koalition! – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5155

Dr. Michael Bürsch (A) Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜND- den eingeführt werden. Kenntnis der Kulturen ist die Vo- (C) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist es aber umge- raussetzung für das Einanderverstehen. kehrt!) (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Linke gehört die rechtliche, politische und – das ist ganz zentral, meine Damen und Herren – so- Für die Linke hat das Wort der Kollege Dr. Hakki ziale Gleichstellung der kulturellen Minderheiten zu Keskin. den Grundvoraussetzungen einer Integrationspolitik. (Beifall bei der LINKEN) Dies ist allerdings nur möglich, wenn die deutsche Staatsbürgerschaft ohne weiteres erworben werden kann, also die Schwierigkeiten, die es hierbei gibt, behoben Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): werden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute im Bundestag über die (Beifall bei der LINKEN) Grundlagen eines gleichberechtigten Zusammenle- Für alle politisch Verantwortlichen steht die Einbürge- bens der unterschiedlichen Kulturen und Religionen rung jedoch erst am Ende – das höre ich sehr oft auch in Deutschland. Nach meiner Wahrnehmung besteht un- von Unionspolitikern – des Integrationsprozesses. Was ter den im Bundestag vertretenen Fraktionen ein Kon- für ein Irrtum! Weite Teile der Union sind noch immer sens über folgende Positionen: der Ansicht, dass die Migranten eine Bringschuld haben. Sie sollen sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft un- Als Demokraten lehnen wir jegliche Art von Gewalt- terordnen. Oftmals wird über Integration geredet, leider anwendung kategorisch ab. Wir bekennen uns zu den jedoch Assimilation gemeint. universalen Menschenrechten und zu den Grundrechten unserer Verfassung. Hierzu gehören selbstverständlich Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe leider den auch die Religionsfreiheit sowie die Gleichberechtigung Eindruck gewonnen, dass die gestrige Islamkonferenz von Mann und Frau. Wir sind auch der Meinung, Herr vor allem aufgrund sicherheitspolitischer Überlegungen Bundesinnenminister, dass keine Religion für politische, stattfand. Die tatsächlichen Motive dieser Konferenz ökonomische oder auch ideologische Zwecke instrumen- hätten eigentlich integrationspolitischer Natur sein müs- talisiert werden darf. Der säkulare Staat ist nicht verhan- sen. Dennoch begrüße ich die Islamkonferenz auch delbar. heute als Initiative zu einem interkulturellen Dialog. Ein wirklicher Dialog muss jedoch auf gleicher Augen- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- höhe und in wechselseitigem Respekt geführt werden. (B) neten der SPD und der FDP) (D) Die Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung Wir stimmen darin überein, dass die Beherrschung der auf, die bei uns lebenden kulturellen Minderheiten als deutschen Sprache von wesentlicher Bedeutung ist. gleichberechtigte Bürger endlich in die deutsche Gesell- schaft aufzunehmen und sie als ihren festen Bestandteil Das sind die Punkte, die wir alle, glaube ich, inter- anzuerkennen. Dies erfordert, wenn ich resümieren darf, fraktionell teilen, über die also Konsens herrscht. die Anerkennung der kulturellen Identität von Muslimen Leider bestehen in einer Reihe wichtiger Fragen aber und anderen Minderheiten, die rechtliche, politische und erhebliche Differenzen. soziale Gleichstellung durch den erleichterten Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, Bundesinnenminister Schäube hat in der „FAZ“ vom 27. September – Herr Bundesinnenminister, ich werde (Beifall bei der LINKEN) Sie jetzt zitieren – Folgendes gesagt: tatsächliche Chancengleichheit in den Bereichen Bil- Trennendes erkennen und Verbindendes stärken dung und Ausbildung durch sozial gerechte Reformen kann aber nur der, der sich seiner eigenen Wurzeln im Bildungswesen sowie die berufliche Integration bewußt ist. durch besseren Zugang zu Beschäftigung in Deutschland mit menschenwürdigen Einkommen. Herr Schäuble, Sie haben Recht. Bedauerlicherweise Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, aber haben insbesondere viele Ihrer Unionskolleginnen wenn wir die Integration und die gestrige Islamkonfe- und -kollegen diesen richtigen Grundsatz in Bezug auf renz wirklich ernst meinen, müssen diese berechtigten die Migranten und Muslime bis heute ignoriert. Forderungen ohne weiteren Zeitverlust umgesetzt und Die Fraktion Die Linke befürwortet die Erhaltung und realisiert werden. Weiterentwicklung der kulturellen Identität der Ich danke Ihnen. Migrantinnen und Migranten. Hierzu gehören das Er- lernen der eigenen Muttersprache in den Schulen sowie (Beifall bei der LINKEN) die Anerkennung des Islam – ich begrüße es, wenn Sie, Herr Bundesinnenminister, das wirklich ernst meinen – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: als eine gleichberechtigte Religionsgemeinschaft. Neben Das Wort hat Kristina Köhler, CDU/CSU-Fraktion. dem christlichen Religionsunterricht sollte ein Wahlfach „Islamkunde“ unter der Aufsicht deutscher Schulbehör- (Beifall bei der CDU/CSU) 5156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): hier lebt, hat den Gesellschaftsvertrag schon unter- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zeichnet und sich damit zu den Grundwerten unserer Lassen Sie mich zunächst Ihnen, Herr Innenminister, so- Verfassung und den hier geltenden Regeln und Normen wie Herrn Staatssekretär Altmaier und Herrn Dr. Kerber bekannt. Dies muss ein Bekenntnis ohne Vorbehalt sein. herzlich für die umsichtige Art und Weise danken, auf Leider wird dies immer noch von so manchem Verband die Sie den Auftakt der Deutschen Islamkonferenz ge- anders gesehen. In Publikationen finden Sie beispiels- plant und vorbereitet haben. weise Sätze wie: „Das deutsche Recht gilt für Muslime so lange, solange es dem islamischen Recht nicht wider- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. spricht.“ Dr. Michael Bürsch [SPD]) Diese Diskussion jedoch, meine Damen und Herren, Diese Konferenz kann für Deutschland eine Zäsur im zielt ins Herz der Islamkonferenz. Sie ist keinesfalls nur Verhältnis von Staat und Muslimen bedeuten, aber nur, theoretisch, sondern bildet die Grundlage dafür, dass In- wenn sie keine dieser gängigen Dialogveranstaltungen tegration überhaupt möglich ist. Denn lassen Sie es uns wird, bei denen kritische Fragen einfach ausgeklammert, doch ehrlich formulieren: Die Integration bestimmter werden, und wenn sie nicht von inszenierter Betroffen- muslimischer Gruppen in Deutschland ist nur dann mög- heit und Gekränktheit getragen ist. Denn es ist richtig: lich, wenn sich diese vom absoluten Geltungsanspruch Wer hinter jedem Muslim einen potenziellen Terroristen der islamischen Pflichtenlehre, sprich: der Scharia, ver- vermutet, trägt zum kritischen Dialog nichts bei. Ge- abschieden. nauso wenig aber trägt derjenige etwas bei, der sich stän- dig als Muslim diskriminiert fühlt, wenn islamistische Es war daher kein besonders gelungener Beitrag, als Auswüchse bekämpft werden. der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime Anfang dieser Woche den Bundesinnenminister davor warnte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – ich zitiere sinngemäß –, auf der Konferenz eine offene Deshalb bin ich froh und dankbar über die Auswahl Wertediskussion anzuzetteln. Die Begründung des Gene- der Gesprächsteilnehmer. Das Innenministerium hat hier ralsekretärs war, kein Staat könne die traditionellen besondere Sorgfalt und Umsicht walten lassen. Neben Werte der Scharia in Einklang mit dem Grundgesetz und den Vertretern islamischer Verbände waren auch ein- den Menschenrechten bringen; der Staat sei vielmehr zur zelne muslimische Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wertfreiheit verpflichtet und müsse sich „da raus hal- Kultur und Wirtschaft geladen, darunter etwa Frau ten“. Seyran Ateş oder Frau Dr. Necla Kelek. Anders als bei vielen Diskussionsveranstaltungen zuvor spiegelt sich Hier liegt ganz offensichtlich ein großes Missver- ständnis vor. Dieser Staat ist nicht wertfrei. Ganz im Ge- (B) hier endlich die gesellschaftliche Realität wider. Reali- (D) tät ist nämlich, dass der Islam in Deutschland eben nicht genteil: Wie jede andere Gesellschaft auch haben wir ei- zum Großteil aus Mitgliedern konservativ-orthodoxer nen Kern an gemeinsamen Werten, Normen und oder gar islamistischer Verbände besteht, sondern vor al- Symbolen, durch die Gemeinschaft erst begründet, er- lem aus säkular orientierten Muslimen, die gerne hier in halten und weiterentwickelt wird. Deutschland und unter dem geltenden Grundgesetz le- (Beifall bei der CDU/CSU) ben. Zu diesem Kern gehört das aus unserem europäischen Deshalb geht die Kritik an der Auswahl der Teilneh- Erbe geformte und im Grundgesetz verankerte Verständ- mer völlig ins Leere. Auch die Vertreter islamischer Ver- nis von Demokratie und Menschenwürde, Freiheit, Soli- bände müssen sich darüber klar werden, dass die Mus- darität, der Trennung von Staat und Kirche sowie der lime in Deutschland eben kein monolithischer Block Gleichberechtigung der Geschlechter. sind. Wer höchstens 30 Prozent der Muslime in Deutsch- land vertritt, kann nicht für 100 Prozent sprechen. Wer in Deutschland lebt, muss diese zentralen Werte und Normen annehmen. Die Konferenz gestern war ein Auftakt für einen Pro- zess. Was genau am Ende dieses Prozesses stehen wird, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- können wir heute noch nicht beantworten. Das Ziel muss neten der SPD und der FDP) es aber sein, Voraussetzungen für eine Übereinkunft zu schaffen, die es allen verfassungstreuen muslimischen Er muss diese Werte nicht nur begrüßen und anerkennen, Strömungen ermöglicht, ihre Religion hier in Deutsch- sondern er muss sie annehmen. Hier sehen wir – Herr land frei von Ressentiments und frei von extremistischer Professor Keskin, Sie haben diesen Punkt eben ange- Beeinflussung zu leben. sprochen – in der Tat eine Bringschuld aller Menschen, die in Deutschland leben wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE Diese Übereinkunft ist im Übrigen kein Gesell- LINKE]) schaftsvertrag, wie es immer wieder anklang, und zwar weder einer im Sinne der politischen Philosophie noch Das heißt nicht, dass diese Menschen ihre Herkunft ver- einer im Sinne traditionalistischer islamischer Auffas- leugnen oder ihre Wurzeln aufgeben sollen. Wo aber sung. Denn eines muss doch klar sein: Die Muslime in Menschenrechte und Demokratie infrage gestellt wer- Deutschland sind bereits Teil dieser Gesellschaft. Wer den, da gibt es kein Recht auf kulturelle Differenz. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5157

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) Hier gibt es viele offene Fragen, die die Islamkonfe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) renz beantworten muss. Wir haben gehört, dass es ges- bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- tern große Einigkeit gab. Wir haben aber auch gehört, geordneten der FDP) dass es an einigen Stellen – so sagte es der Innenminis- Da ich schon Gepflogenheiten aufgebe, will ich ohne ter – „knirscht“. Vor allen Dingen hinsichtlich der Rolle falsche Rücksichtnahme zugestehen: Das hätten wir uns der Frauen und Mädchen gibt es noch Klärungsbedarf. schon von Ihrem Vorgänger gewünscht. Es ist wichtig, sich eines zu vergegenwärtigen: Alle in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesem Problemkreis diskutierten Phänomene – das sind sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und sehr unterschiedliche Phänomene wie Ehrenmorde und der FDP und des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE Zwangsheiraten bis hin zur Abmeldung vom Sportunter- LINKE]) richt und zu Zwangsverschleierungen – basieren auf ei- nem bestimmten Ehrbegriff, der unserer westlichen – Ich habe geahnt, dass Sie da klatschen. – Ich will nicht Welt sehr fremd ist, auf einem Ehrbegriff, der sich wohl die Gründe dafür erörtern, warum dieser das wiederum nicht von alleine in unsere freiheitlich-demokratische nicht wollte, obwohl es auch zu seiner Amtszeit schon Gesellschaft integrieren wird. überfällig war. Die Islamkonferenz wird daher auch über Folgendes (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das Redner- zu reden haben: Was kann der Islam in Deutschland dazu pult als Couch!) beitragen, dass der Aufruf der Autorin Serap Cileli end- Herr Schäuble, ich beglückwünsche Sie dafür, dass lich umfassend gehört wird: „Wir sind eure Töchter, Sie gesagt haben: Muslime sind in unserer Gesellschaft nicht eure Ehre.“? ein Stück unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unserer Zukunft. Wenn ein CDU-Bundesinnenminister neten der FDP) am Rednerpult sagt, dass Muslime Teil unserer Gesell- schaft sind und die Zeit der Einschätzung, es handele Wir als CDU/CSU maßen uns nicht an, uns in theolo- sich bei ihnen um Gastarbeiter, zu Ende ist, dann sind gische Diskussionen über die Auslegung der Scharia wir in der Gesellschaft einen Schritt weitergekommen; einzumischen. Das wäre absolut nicht unsere Aufgabe. denn der Gastarbeitermythos gehörte längst abge- Aber wird sind als Volksvertreter verpflichtet, unzwei- schafft. deutig klarzustellen: In Deutschland gilt im Konfliktfall (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das Grundgesetz, nicht die Scharia. Dies muss Konsens bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- der Konferenzteilnehmer sein. geordneten der FDP und der LINKEN) (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir wissen längst, dass es in dieser Republik zum Bei- neten der SPD und der FDP) spiel in der Altenpflegeausbildung Menschen gibt, die Auf solch einer Basis ist es dann möglich, die Integra- Türkisch lernen müssen. Warum? Weil die erste und tion des Islams deutlich voranzubringen, sei es in Fragen zweite Generation der Gastarbeiter hier geblieben ist. des Islamunterrichts oder bei der Ausbildung von Ima- Hier ist vielleicht ihre zweite Heimat; aber hier ist die men. erste Heimat ihrer Kinder und Enkelkinder. Also weg mit dem Gastarbeitermythos! Sie leben hier so wie viele Bei aller Diskussion darüber sollten wir jedoch eines andere Migrantinnen und Migranten; sie leben so wie nicht vergessen, nämlich dass große Teile der muslimi- viele andere Bürgerinnen und Bürger. schen Bevölkerung in Deutschland bereits gut integriert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind. Diese Menschen wollen gar keinen kulturellen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sonderstatus. Sie wollen sich überhaupt nicht vom Rest der Gesellschaft absondern, sondern sie wollen schlicht- An dieser Stelle will ich auf eines hinweisen, Herr weg nur, dass sie und ihre Kinder in Deutschland eine Schäuble: Sie sagen, Muslima und Muslime seien Teil faire Chance bekommen. unserer Gesellschaft und das wolle man gemeinsam wei- terentwickeln. Diesen Satz will ich denklogisch zu Ende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bringen. Das heißt dann auch: Es ist nicht falsch, dass neten der SPD) wir mit der Türkei Verhandlungen im Hinblick auf ei- nen EU-Beitritt führen. Denn auch sie gehört dann zu Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Europa, zu unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart Das Wort hat Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. und unserer Zukunft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN – Widerspruch bei der FDP) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich als Erstes von einer regelmäßig geübten parla- Vielleicht sollten wir den Integrationsgipfel und die Is- mentarischen Gepflogenheit abweichen: Auch ich lamkonferenz dazu nutzen, zu sagen: Wir haben hier möchte im Namen meiner Fraktion ganz ausdrücklich Bürgerinnen und Bürger, die die unterschiedlichen Reli- begrüßen, was Ihnen, Herr Schäuble, beim Aufbauen gionen und Kulturen kennen und die mehrere Sprachen und Zustandekommen der Islamkonferenz gelungen ist. – zumindest zwei – können. Herr Schäuble, man könnte 5158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Renate Künast (A) vielleicht ein wirtschaftliches Plus zustande bringen, Vielleicht finden wir uns alle am Ende bei einer Opern- (C) wenn Sie auch das angehen würden. aufführung wieder. Wir als Bündnisgrüne fordern schon lange die Ein- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wird jetzt bürgerung des Islam. „Einbürgerung des Islam“ soll aber nicht zur Pflicht!) heißen: Das ist eine Religion, an die Menschen hier glauben, die Menschen hier praktizieren, zu der sich Herr Schäuble, ich sage Ihnen auch: Zum Thema Inte- Menschen hier bekennen. Deshalb ist ein Dialog darüber gration, zur Einbürgerung des Islam, gehört nicht, dass längst überfällig. Man hätte ihn eigentlich beginnen sol- wir ausschließlich von den Muslimen fordern, sich zu len, bewegen. Es ist vielmehr auch Aufgabe der aufnehmen- den Gesellschaft, endlich zu zeigen, dass diese Gesell- (Ina Lenke [FDP]: Was ist mit den Grünen? – schaft jahrzehntelang nicht jeden Morgen gesagt hat: Die Weitere Zurufe von der FDP) muslimische Religion ist hier willkommen. Sie hat auch als Zehntausende Gastarbeiter mit ihrer eigenen Religion nicht jeden Tag geholfen, Integrationsmaßnahmen und Kultur nach Deutschland kamen. – Jetzt ruft natür- durchzuführen oder ihnen, zum Beispiel durch die Ver- lich von der FDP wieder jemand – das sind immer die mittlung der deutschen Sprache oder durch Unterstüt- Gleichen – nach den Grünen. Ich danke dafür, dass Sie zung bei der Ausbildung, weiterzuhelfen. darauf verweisen. Das gibt mir die Möglichkeit, zu sa- Die Vorstellung der Grünen ist es, zu sagen: Wir müs- gen, wie oft wir einen solchen Dialog eingefordert ha- sen es als einen Vertrag im rousseauschen Sinne verste- ben, hen. Die aufnehmende Gesellschaft und die Migranten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was haben müssen in dieser Beziehung aktiv werden. Beide Seiten Sie eingefordert? – Jörg van [FDP]: Ich sind gefordert und nicht, Frau Köhler, nur eine Seite. dachte, Sie waren in der Regierung! Wie lange (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN waren Sie denn in der Regierung?) sowie bei Abgeordneten der SPD) und darauf hinzuweisen, dass wir im Frühjahr dieses Jahres im Rahmen eines Integrationsvertragskonzeptes, Wir haben Erwartungen an diese Konferenz. Wir wol- das verschiedene Standbeine enthält, gesagt haben: Die len, dass die besonderen Hindernisse, die der Verleihung Einbürgerung des Islam gehört dazu. des Körperschaftsstatus für die islamischen Religionsge- meinschaften im Wege stehen, beseitigt werden. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen die Muslime zum Gutteil selbst tun. Wir wollen die Einführung des Islamunterrichts auf Deutsch in den (B) Herr van Essen, dass wir an der Regierung waren, deutschen Schulen; wir wollen Imame in Deutschland (D) weiß ich. Ich habe auf der Regierungsbank gesessen und auf Deutsch ausbilden und wir wollen mehr als diese immer Ihre traurigen Gesichter gesehen. zwei Lehrstühle für islamische Religion, weil sich am (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ende nur so ein europäischer Islam entwickeln kann, ein Islam, der eines gelernt hat, nämlich hier auf der Basis Ich sehe: Ihr Gesicht ist noch immer traurig. Das wird der Grundrechte aktiv zu werden. vielleicht längere Zeit so bleiben. Unsere Vorstellung ist es auch, weit über diese Islam- ( [SPD]: Da hat sie aber konferenz hinauszugehen – das ist mein letzter Satz an Recht!) Sie, Herr Schäuble –: Ich wünsche mir, dass Sie an einer Stelle nicht mehr blockieren. Sie müssen mit den Mi- Diese Islamkonferenz benötigt als Basis Grundrechte grantinnen und Migranten und den Muslimen auch über für das Zusammenleben. Dazu gehören die Gleichbe- eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, des Aus- rechtigung von Frau und Mann, die Glaubens- und Mei- länderrechts reden. Sie müssen die muslimische Familie, nungsfreiheit und die Freiheit der Kunst. die Familie von Ausländern genauso schätzen wie die Eines möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: deutsche Familie. Deshalb sage ich Ihnen: Zur Integra- Ich habe mich gefreut, zu sehen, wie muslimische Ver- tion gehört auch, dass wir das Alter für den Familien- bände und Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich in nachzug bei Frauen und Kindern nicht erhöhen, weil das den letzten Monaten im gesellschaftlichen Diskurs ver- im Rahmen all Ihrer Bemühungen das falsche Zeichen halten haben. Die Reaktion der muslimischen Verbände wäre. in Deutschland darauf, dass der Papst gesagt hat, bei den Reaktionen auf sein Zitat handele es sich um ein Miss- Lassen Sie uns also eines vermitteln: Beide Seiten be- verständnis, hat mich sehr gefreut; denn sie haben seine wegen sich. Dann wird etwas daraus. Erklärung sofort angenommen. Das gilt auch für ihr Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halten beim Karikaturenstreit und im Hinblick auf die umstrittene Operninszenierung. Ich glaube, daraus kann sich etwas entwickeln. In der Erschrockenheit über Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Absage der Operninszenierung und dem Innehalten Der Kollege Fritz Rudolf Körper, SPD-Fraktion, hat und dem Nachdenken darüber, wie weit eigentlich die das Wort. Entwicklung gediehen sei, dass nicht mehr jede Form von Kunst dargestellt werden könne, liegt eine Chance. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5159

(A) Fritz Rudolf Körper (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND- eine persönliche Vorbemerkung an Herrn Schäuble rich- NISSES 90/DIE GRÜNEN) ten. Lieber Herr Bundesinnenminister Schäuble, ich will Man muss allerdings feststellen, dass das Misstrauen deutlich unterstreichen: Die Art und Weise, wie Sie mit der nicht muslimischen Bevölkerung in Deutschland ge- diesem Thema umgegangen sind und umgehen, finde ich genüber dem Islam in den letzten Jahren, insbesondere richtig, weil sie sachlich, sachbezogen und unaufgeregt in den letzten Monaten, eher gewachsen als geringer ge- ist. Ich denke, das wird diesem Thema gerecht. worden ist. Viele Ängste und Besorgnisse erwachsen aus (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mangelnder Kenntnis und Information über den Islam. Deswegen sind Information und Aufklärung geboten. Ich weiß aus meiner Tätigkeit als Parlamentarischer Nur so können wir das Verhältnis und das Verständnis Staatssekretär um die Schwierigkeiten, die damit ver- füreinander fördern. Es geht hierbei auch darum, das bunden sind. Ich weiß beispielsweise um die Schwierig- Verständnis für die in Deutschland lebenden Muslime zu keit, die sich mit der Frage der Zusammensetzung und fördern. der Aufstellung der Teilnehmerliste verbindet. Ich weiß auch, dass es darüber Debatten gegeben hat. Man kann Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es natürlich darüber streiten: Deckt die Zusammensetzung unter den Muslimen auch Anhänger islamistischer Strö- der Konferenz 10 Prozent der deutschen Muslime ab, mungen gibt, die uns Anlass zur Sorge geben. Es ist aber deckt sie 15 Prozent ab, oder wie viel deckt sie ab? wichtig, sich das Mengengerüst deutlich zu machen: Ihr Nichtsdestotrotz glaube ich, dass es richtig war, dieses Anteil liegt bei unter 1 Prozent der muslimischen Bevöl- Risiko auf sich zu nehmen und die Zusammensetzung so kerung in Deutschland. – Es ist gut und richtig, dass wir vorzusehen, wie Sie es getan haben. Denn es wäre den Dialog mit dem Islam in Deutschland in Gang set- schlecht gewesen, wenn eine solche Debatte diese Islam- zen. Ich hoffe, dass es möglich ist, auf diesem Weg diffe- konferenz verhindert hätte. Deswegen muss man an die- renziert vorzugehen. ser Stelle ein Stück Mut zur Lücke haben. Wenn man Wichtig für jede Diskussion über religiöse Fragen ist dann im Prozess erkennt, dass das eine oder andere noch für uns der seit der Weimarer Reichsverfassung in zu verbessern ist, sollte man das einfach unaufgeregt tun. Deutschland endgültig anerkannte Grundsatz der Tren- Ich finde es wichtig, sich auch einmal damit zu be- nung von Staat und Kirche. Der Staat darf und soll sich schäftigen, wie sich die Zahl der Muslime – in Deutsch- aus gutem Grund nicht in religiöse Fragen einmischen. land leben rund 3,5 Millionen Muslime – zusammen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der setzt. Etwa drei Viertel von ihnen sind türkische CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hakki Keskin (B) (D) Staatsbürger oder Deutsche türkischer Herkunft. Es fol- [DIE LINKE]) gen Bosniaken, Iraner, Marokkaner und Afghanen. Sie sind also nicht nur türkischer Herkunft. In diesem Zu- Umgekehrt dürfen Kirchen und Religionsgemeinschaf- sammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass gut ten nicht für sich in Anspruch nehmen, staatliches Han- die Hälfte aller Muslime in Deutschland länger als deln bestimmen zu dürfen. 20 Jahre bei uns sind und sie klar ihre Entscheidung ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ troffen haben, dass Deutschland ein Stück weit ihre Hei- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- mat ist. Das sollten wir auch unterstützen. NEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Auf dieser Grundlage hat sich in Deutschland ein von CDU/CSU) gegenseitigem Respekt getragenes Verhältnis partner- Frau Künast, ich finde es richtig, deutlich zu machen, schaftlicher Kooperation zwischen dem Staat auf der ei- dass die meisten Muslime als Arbeitsmigranten zu uns nen Seite und den christlichen Kirchen auf der anderen gekommen sind. Das ist vor dem folgenden Hintergrund Seite entwickelt. Wir in Deutschland dürfen von den hier wichtig: Wir müssen uns zwar leider mit einem islamis- lebenden Muslimen und ihren Gemeinschaften erwarten, tisch orientierten Terrorismus auseinander setzen; es gibt dass sie die Trennung von staatlichen und religiösen Fra- aber absolut keine Anhaltspunkte für Berührungspunkte gen beachten, da dies für ein friedliches Miteinander in oder Beziehungen zwischen denjenigen, die islamisti- Deutschland von entscheidender Bedeutung ist. schen Terrorismus betreiben bzw. in diesem Feld agie- Wir achten die Ernsthaftigkeit, mit der viele Muslime ren, und den Menschen, die aus dem Bereich der Ar- ihren religiösen Pflichten und Bräuchen im Alltagsleben beitsmigration kommen. Diese Erkenntnis ist – lieber nachkommen. Wir werden jedoch nicht zulassen kön- Sebastian, du unterstützt das – für die Debatte in nen, dass religiöser Eifer und religiöses Eiferertum staat- Deutschland wichtig. liches Handeln beeinflussen. Es ist richtig, dass der Islam als Religion bisher in un- Unser Grundgesetz gewährt in Art. 4 die Glaubens- serem Land relativ wenig Beachtung fand. Er ist erst im und Gewissensfreiheit. Sie umfasst auch das Recht auf Zusammenhang mit der Diskussion über den islamisti- ungestörte Religionsausübung, sei es als Individuum schen Terrorismus in den Mittelpunkt des öffentlichen oder in Gemeinschaft. Zur Religionsausübung gehört Interesses gerückt. Um es aber ganz klar festzuhalten: auch die religiöse Vereinigungsfreiheit. Religionsge- Niemand, der sich mit diesem Thema ernsthaft beschäf- meinschaften können daher die Rechtsfähigkeit nach den tigt, darf Islam und Islamismus gleichsetzen. allgemeinen Formen des bürgerlichen Rechtes, vor allem 5160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Fritz Rudolf Körper (A) in der Form des eingetragenen Vereins erwerben. Diese innenminister in der vorherigen Regierung darauf hinzu- (C) Rechte gelten für alle Menschen in Deutschland, also weisen. auch für muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger, und zwar unabhängig davon, ob ihre Herkunftsstaaten (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ebenso verfahren. NEN]: Wenn ich gewusst hätte, dass es Sie gibt, hätte ich Sie gefragt, was ich machen Neben dem Grundrecht auf freie Religionsausübung soll!) gelten die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Wir haben im Bereich der Integration viele Pro- Weimarer Reichsverfassung fort, wonach Religionsge- bleme, die wir lösen müssen. Das liegt an Versäumnis- meinschaften unter bestimmten Voraussetzungen den be- sen. Wir haben unsere Vorstellungen und Forderungen sonderen Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentli- gegenüber den zu uns kommenden Menschen in der Ver- chen Rechts erhalten können. Dieser den islamischen gangenheit nicht hinreichend klar gemacht. Wir haben Vereinigungen bisher nicht verliehene besondere Status sie auch nicht hinreichend unterstützt, in ihrer neuen vermittelt einer Religionsgemeinschaft ohne Zweifel zu- Heimat Wurzeln zu schlagen. sätzliche Vorrechte. Voraussetzung hierfür wäre, dass sich die Muslime eine Organisationsform in Deutschland Herr Innenminister, Sie haben etwas anderes sehr klar geben, die sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar macht, ausgesprochen, das für uns alle selbstverständlich ist: so wie dies die christlichen Kirchen oder beispielsweise „Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar.“ Insofern ist die jüdischen Gemeinden tun. auch das Selbstverständnis, das unsere Gesellschaft prägt, die Gleichstellung von Mann und Frau, nicht Die initiierte Islamkonferenz und der von ihr ausge- verhandelbar. hende Arbeitsprozess haben richtigerweise unter ande- rem den Schwerpunkt, das Thema „Religionsfragen im (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker deutschen Verfassungsverständnis“ zu erörtern. Wenn Kauder [CDU/CSU]) wir die anstehenden Probleme lösen können, können wir Das Grundgesetz geht sogar darüber hinaus. In Art. 3 eine ganze Menge der sich daraus ergebenden Fragen, Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes heißt es: wie beispielsweise die des Religionsunterrichts, besser regeln als in der Vergangenheit. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und Der mit der gestrigen Veranstaltung eingeleitete Pro- wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile zess eröffnet uns große Chancen. Wir sollten diese hin. Chancen für ein friedliches, freiheitliches Miteinander in Deutschland nutzen. Hier fehlt mir vonseiten der Bundesregierung in der heu- (B) tigen Debatte ein klares Zeichen. Wo ist die Integrations- (D) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. beauftragte der Bundesregierung? Wo ist die Bildungs- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ministerin der Bundesregierung? (Jörg van Essen [FDP]: Genau! Eine sehr be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rechtigte Frage! – Josef Philip Winkler Ich erteile das Wort der Kollegin Sibylle Laurischk, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist eigent- FDP-Fraktion. lich Herr Goldmann?) (Beifall bei der FDP) Wo ist die Frauenministerin der Bundesregierung? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sibylle Laurischk (FDP): der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜND- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum spricht ei- Herren! Herr Innenminister, Sie haben eine ganz zentrale gentlich nicht der Integrationsbeauftragte der Aussage gemacht, die ich für richtig halte. Sie haben ge- FDP? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE sagt: „Muslime sind in Deutschland willkommen.“ Das GRÜNEN]: Wo ist Oskar? Wo ist Gregor?) muss gesagt werden; denn das muss bei dieser Diskus- Sie nehmen an dieser Debatte nicht teil, obwohl es um sion klar sein. Nichts Unterschwelliges darf hier eine die Zielsetzung des Grundgesetzes geht, Benachteiligun- Rolle spielen. gen im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung zu Mir scheint es allerdings so zu sein, dass das Setzen beseitigen. von Highlights in Form verschiedener Integrationsgipfel Benachteiligungen sind Bildungsnachteile – eine über die sonstigen Schwächen der Koalition hinwegtäu- Problemlage, von der insbesondere Frauen und im Zuge schen soll. ihrer Aufgabe als Mütter auch ihre Kinder betroffen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) sind. Wir stehen vor großen Bildungsproblemen, die wir zu lösen haben. Auch diese Themen müssen im Rahmen Tatsächlich ist es so, dass in § 45 des Aufenthaltsgeset- von Integrationsgipfel und Islamkonferenz behandelt zes die Verpflichtung des Innenministers enthalten ist, werden. Die Mutter-Kind-Sprachkurse beispielsweise ein bundesweites Integrationsprogramm unter Beteili- sind immer noch nicht so ausgestaltet, dass den Müttern gung der Religionsgemeinschaften zu erarbeiten. Frau ermöglicht wird, in ausreichendem Maße die deutsche Künast, es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, den Bundes- Sprache zu erlernen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5161

Sibylle Laurischk (A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Das Grundgesetz lässt auch im Hinblick auf Gewalt in der Familie kein Pardon zu. Die Familienehre ist in Deutschland kein Rechtfertigungsgrund für Gewalttaten Sibylle Laurischk (FDP): oder Tötungsdelikte. Ich komme zum Schluss. – Wir wollen, dass eine En- quete-Kommission zu Integration und Migration diese (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei wichtigen Themen anstößt und vertieft. Ich lade alle Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Fraktionen ein, zusammen mit der FDP die Möglichkei- Problematisch erscheint mir allerdings die Vorstel- ten zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Integra- lung, von oben bestimmen zu wollen, in welcher Spra- tion und Migration“ auszuloten. che in der Moschee gepredigt wird. Ziel dieser Überle- (Beifall bei der FDP und der LINKEN) gung ist ja nicht, dass man zum Erlernen bzw. besseren Verständnis der deutschen Sprache durch die Muslime beitragen möchte. Vielmehr möchte man das Aufspüren Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: so genannter Hassprediger erleichtern. Wir dürfen den Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege gläubigen Muslim aber nicht unter Generalverdacht stel- Dr. Hans-Peter Uhl. len. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Auch in Deutschland war der Gebrauch der deutschen Sprache in der Kirche lange Zeit nicht selbstverständ- Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und lich. Wir wissen, dass die Bibelübersetzung durch Kollegen! Ganz offensichtlich besteht eine überwälti- Martin Luther eine revolutionäre Tat war. gende Einigkeit darüber, dass die gestrige Auftaktveran- staltung der Islamkonferenz ein voller Erfolg war. Des- Die grundgesetzlich geschützte Glaubensfreiheit be- wegen möchte auch ich mich von dieser Stelle aus bei all inhaltet selbstverständlich auch die Freiheit der Wahl der denen bedanken, die diese Konferenz vorbereitet und an Sprache. Allerdings würde ich mich sehr freuen, wenn ihr teilgenommen haben, vor allem aber bei demjenigen, die muslimischen Gemeinden eine klare Entscheidung der diese Konferenz ins Leben gerufen hat, Herrn Bun- für die deutsche Sprache treffen würden. Das wäre, ganz desinnenminister Wolfgang Schäuble. Danke schön! pragmatisch gesehen, auch ein Beitrag zur Sprachförde- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rung. Die Hoover-Schule, die eine ähnliche Zielsetzung der SPD) (B) verfolgt und solche Impulse gesetzt hat, hat dafür den (D) Nationalpreis bekommen. In Art. 4 unseres Grundgesetzes heißt es: (Jörg van Essen [FDP]: Zu Recht!) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Be- Ein Integrations- und ein Islamgipfel der Bundesre- kenntnisses sind unverletzlich. gierung reichen nicht aus, um die Probleme der Integra- tion in den Griff zu bekommen. Es ist an der Zeit, im Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleis- Bundestag gemeinsam und überparteilich Wege aus den tet. Fehlern der Vergangenheit zu suchen. Hierzu eignet sich eine Enquete-Kommission in hervorragender Weise. So weit unser Grundgesetz. Diese Religionsfreiheit wird bekanntlich nicht nur den christlichen Kirchen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sondern allen Religionsgemeinschaften gewährt. Doch der LINKEN) auch dieses Freiheitsrecht gilt, wie wir wissen, nicht grenzenlos. Es findet seine Grenze in den unveräußerli- Die Thematik ist zu wichtig, um die Debatte über Inte- chen Menschenrechten. Niemand hat also das Recht, un- grationsprobleme und Integrationslösungen auf tagespo- ter Berufung auf seinen Glauben die vom Grundgesetz litische Schlagzeilen zu verkürzen. Dieser Dialog gehört garantierten Rechte anderer zu verletzen. ins Parlament. Er muss in den Diskussionsprozess einge- bunden werden. Für die FDP ist es nicht hinnehmbar, Das Grundgesetz fordert jedoch nicht, dass die politi- dass der notwendige Dialog über Integration und Islam sche Öffentlichkeit eine strikte Äquidistanz zu allen Re- ausschließlich zwischen Regierung und Verbänden, aber ligionen einnimmt. Es ist sehr wohl erlaubt, der Tatsache ohne den Deutschen Bundestag geführt wird. ins Auge zu sehen, dass es substanzielle Unterschiede zwischen den Religionen gibt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Alle Christen sind sich heute einig, dass Gewalt, Kriege und die Verfolgung von Minderheiten mit dem Integrationspolitik darf nicht als mediale Veranstaltung Evangelium völlig unvereinbar sind. einiger Minister missbraucht werden. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GRÜNEN]: Außer in Nordirland!) der LINKEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Frau Pieper war doch beim Integrationsgipfel Zum Selbstverständnis des Christentums gehört es dabei!) heute, die Verbrechen, die im Namen der eigenen 5162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Religion in früheren Zeiten begangen wurden, einzuge- Dies war eine ganz spontane Äußerung eines evangeli- (C) stehen und entschieden abzulehnen. schen Bischofs. Ich finde, es ist wert, darüber nachzu- denken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Insofern hat das Christentum hier einen Weg der religiö- NEN]: Warum ist es jetzt eigentlich überle- sen Toleranz beschritten. Das friedliche Nebeneinander gen?) der Konfessionen in Deutschland hat dazu geführt, dass konfessionell geprägte Kulturräume entstanden sind: das Anerkennung und Achtung der Lebensweise, der Ge- eher katholisch geprägte Süddeutschland und das eher setze und der Traditionen des Landes, in dem man lebt, protestantisch geprägte Norddeutschland. Wir empfin- gehören eben dazu. Jede Seite sollte gegenüber der ande- den dies heute als Bereicherung und nicht als Grund, ren Wertschätzung empfinden. Konflikte auszutragen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Blickt man heute in die Welt, so sieht man, dass Reli- NEN]: Dazu ist man eh verpflichtet!) gionsfriede und Religionsfreiheit auch im 21. Jahrhun- Wer sich aber bewusst selbst abschottet, wie das viele dert nichts Selbstverständliches sind. Der Dialog mit den Muslime derzeit leider tun, und wer Andersgläubige als Gläubigen anderer Religionen, die heute in unserer plu- Ungläubige ansieht und damit abwertet, wie das manche ralen Gesellschaft leben, insbesondere der Dialog mit Muslime leider auch tun, der kann nur schwer integriert unseren islamischen Mitbürgern, erfordert zweierlei: das werden. Vielleicht will er sich dann auch nicht integrie- Wissen um die eigenen Glaubensinhalte, aber auch zu- ren lassen. Wir fordern also den Respekt unserer Wer- mindest ein Basiswissen über die anderen Religionen. teordnung und die Achtung unseres Grundgesetzes. Deswegen ist es wichtig und notwendig, sich mit den Wer dazu nicht bereit ist, der muss sich fragen lassen, Fragen nach der kulturellen und der religiösen Identität warum er dann ausgerechnet in unserem Lande leben auseinander zu setzen. Die Religionsfreiheit des Grund- will. gesetzes fordert etwas anderes als Äquidistanz; das Grundgesetz fordert gegenseitige Achtung. Eines muss ganz klar sein – lassen Sie mich das auch noch sagen –: Es kann nur null Toleranz gegenüber jenen Papst Benedikt hat dies in seiner Predigt in München geben, die gewaltbereit sind, die Hass predigen und die sehr zutreffend zum Ausdruck gebracht. Er sagte: gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung … Zynismus, der die Verspottung des Heiligen als eingestellt sind. Eine abwehrbereite Demokratie muss Freiheitsrecht ansieht …, ist nicht die Art von Tole- diesen Versuchen, unsere Grundordnung zu zerstören, ranz und von kultureller Offenheit, auf die die Völ- entgegenstehen. Der gewaltbereite Muslim muss aber (B) ker warten … Die Toleranz, die wir dringend brau- auch auf Ablehnung bei den gemäßigten Muslimen sto- (D) chen, schließt die Ehrfurcht vor Gott ein – die ßen. Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Das ist der Gedanke, der ihm so wichtig ist und auf den GRÜNEN]: Das tut er auch!) wir uns besinnen müssen: Wenn wir kein Gespür mehr Hier wäre an manchen Stellen vielleicht ein klareres und haben für das, was uns heilig sein muss, wie können wir tatkräftigeres Bekenntnis gegen Gewalt und Hass wün- dann sensibel sein im Umgang mit dem, was anderen schenswert. heilig ist? Das ist die Grundlage echter Toleranz. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: An welchen Stellen denn kon- Das heißt, das Ausklammern der Frage, welche prägende kret?) Tradition eine Gesellschaft hat, macht diese Gesellschaft Die gestrige Islamkonferenz war der Auftakt zu ei- nicht eo ipso offener und toleranter. Im Gegenteil, kultu- nem notwendigen und längst überfälligen interkulturel- relle und religiöse Verwurzelungen ermöglichen erst eine len Dialog. Es war interessant, dass Frau Künast dies selbstbewusste Offenheit, ermöglichen erst eine Dialog- auch so empfindet und eine solche Konferenz von dem fähigkeit. Vorgänger von Herrn Minister Schäuble in ihrer sieben- jährigen Regierungszeit eingefordert hat. Diese sieben Vor einiger Zeit stellte bei einem Kamingespräch mit Jahre sind auf dem Gebiet aber vertan worden. Bischof Huber ein Kollege von uns eine Frage, die mir am Anfang peinlich war: Sagen Sie, Herr Bischof, sind (Sebastian Edathy [SPD]: Wir haben schon et- Sie der Meinung, dass das Christentum dem Islam über- was gemacht, Herr Kollege! – Renate Künast legen ist? – Mir war diese Frage peinlich, weil ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es dachte: Was soll der arme Bischof dazu sagen? Ohne nicht unterstützt! – Gegenruf des Abg. Hans- nachzudenken aber antwortete er: Selbstverständlich ist Michael Goldmann [FDP]: Bis jetzt war es das Christentum dem Islam überlegen, aber ich werde doch gut, Frau Künast!) niemals aufhören, jeden gläubigen Muslim als Person zu achten und zu respektieren. – Frau Kollegin Künast, ich will Sie auch nicht über Ge- bühr loben. Ihr Gedanke und die Logik, von einem Is- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE lamdialog zu einem Automatismus bezüglich der Auf- GRÜNEN]: In welcher Form denn überlegen, nahme der Türkei in die EU zu kommen, verschließen Herr Kollege?) sich mir in der Tat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5163

Dr. Hans-Peter Uhl (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wann immer die Themen „Integration“ und „Islam“ in (C) die öffentliche Debatte gebracht werden, wird suggeriert, Der Dialog, der gestern begonnen hat, wird sich si- dass Migranten nicht die notwendige demokratische Ge- cher über zwei, drei Jahre fortsetzen und darf nicht ein- sinnung besitzen. Deshalb wird von den Migranten ein seitig sein. Die Muslime müssen auf uns zugehen und faktisches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen auch wir müssen uns bewusst machen, dass die Verwei- Leitkultur verlangt. Dies ist ein eindeutiger Versuch, die gerung des Dialogs angesichts von 3 Millionen Musli- Verfassung zu kulturalisieren, und steht im Gegensatz men deren Isolation und die Spaltung unserer Gesell- zum kulturellen Individualismus und Pluralismus des schaft bewirken würde. Wer will dies verantworten? aufgeklärten Verfassungsstaats. Dieser Dialog muss von einem festen und eigenen Wer- tefundament aus geführt werden. Alles andere würde Für Die Linke ist Religion Privatsache! Die Unter- nicht Toleranz, nicht Integration, sondern Aufgabe unse- scheidung von Öffentlich und Privat halten wir für eine rer kulturellen Wurzeln bedeuten. Wir sollten den Dialog Grundvoraussetzung einer jeden aufgeklärten und eman- mit den Muslimen zum Anlass nehmen, veraltete und re- zipatorischen Gesellschaft. ligionsfeindliche Affekte endlich hinter uns zu lassen. (Beifall bei der LINKEN – Lachen der Abg. (Sebastian Edathy [SPD]: Genau!) Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Die gestrige Islamkonferenz war ein hoffnungsvoller Anfang. Dieser offene Prozess muss zu einem besseren – Da lachen Sie, Frau Künast. – Die Zugehörigkeit der Verständnis und zu einem Regelwerk über das Zusam- Religion zum Bereich des Privaten ist eine gesellschaft- menleben der aufgeklärten deutschen Muslime mit uns liche Errungenschaft, die man nicht aufgeben kann. Des- führen. Wenn dieser Dialog dazu führt, dass auch wir halb sollte es auch nicht zu dem Aufgabengebiet des uns wieder bewusster darüber werden, was die christ- Bundesinnenministers gehören, einen Euro-Islam oder lich-abendländische Kultur im Innersten zusammenhält, gar einen Germano-Islam zu konstruieren oder zu insti- dann wird dieser Dialog von allen Beteiligten mit Si- tutionalisieren. cherheit als große Bereicherung empfunden werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Danke schön. Das schließt eines jedoch nicht aus: eine gesellschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- che Auseinandersetzung mit allen Religionen, wenn neten der SPD) es darum geht, dass Grundwerte der Aufklärung be- schnitten werden. Ich muss aber auch sagen, dass die Debatte in das Ge- (B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) Für Die Linke hat die Kollegin Sevim Dagdelen das samtbild passt, das wir seit dem 11. September 2001, der Wort. Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh 2004 und dem Karikaturenstreit 2006 haben. Bei jeder mit Glau- (Beifall bei der LINKEN) bensfragen im Zusammenhang stehenden Krise ist man schnell mit der Behauptung bei der Hand, der Kampf Sevim Dagdelen (DIE LINKE): der Kulturen sei ausgebrochen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen In den letzten Jahren spielt die Frage der Religion in und Kollegen! Sehr geehrter Herr Uhl, Sie haben Bi- der Öffentlichkeit eine immer stärkere Rolle. Klassische schof Huber zitiert. Dazu muss ich sagen: Die christliche Vorstellungen von Säkularisierung verlieren an Rele- Arroganz, die in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, be- vanz. Länder werden nach der Religionszugehörigkeit weist wieder einmal, dass es so wirklich nie zu einem ihrer Bevölkerungsmehrheit definiert und zu so genann- fairen und gleichberechtigten Miteinander zwischen den ten Problemländern erklärt. Herr Kollege Bosbach von Religionen kommen kann. Das wollte ich vorweg sagen. der Union fordert, die Reisefreiheit von Menschen aus (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ebendiesen Problemländern einzuschränken. Ich frage des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mich, was er sagen würde, wenn Deutschland wegen der Neonazis, die es bis in die Länderparlamente geschafft Grundsätzlich begrüßt die Fraktion Die Linke jede haben, ebenfalls zu einem Problemland erklärt würde. Form der Konfliktvorbeugung, -vermeidung und -bewäl- (Beifall bei der LINKEN) tigung im Rahmen der gegenseitigen Achtung und eines offenen, transparenten und regelmäßigen Dialogs. Die Die Bedeutung der Religion an sich hat auch in unse- Bundesregierung hat jedoch die gestrige Islamkonferenz rem Land zugenommen. In einem nicht unwesentlich für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Migranten von Vorurteilen und Angst durchsetzten Klima wird all- muslimischen Glaubens werden wegen ihrer Religion seits zum Dialog aufgerufen. Inzwischen hat sich der in- per se zu Integrationsunwilligen und -unfähigen erklärt. terreligiöse Dialog respektive christlich-islamische Dia- Viel schlimmer noch: Sie werden zu potenziellen Unter- log zu einem Knotenpunkt in den interkulturellen stützern von Terror und somit zu einer Gefahr für die Angelegenheiten entwickelt. Im Rahmen des Diskurses freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesre- vom Kampf der Kulturen werden Integrationsfragen publik erklärt. Mit dieser Begründung werden unter an- mehr und mehr in Kulturfragen übersetzt und ihre Lö- derem Daten für die Antiterrordatei mit der Angabe der sung von einer interreligiösen Verständigung abhängig Religionszugehörigkeit gesammelt. gemacht. Der interreligiöse Dialog wird öffentlich mit 5164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Sevim Dagdelen (A) der Aufgabe betraut, bei der Integration von muslimi- Herr Minister. Ich heiße Sie herzlich willkommen auf (C) schen Einwanderern zu helfen. So hat sich aus dem mus- der Seite der Realisten in diesem Land. limischen Einwanderer der eingewanderte Muslim ent- wickelt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die politische und gesellschaftliche Anerkennung des Islam als gleichberechtigte Religion neben allen anderen Der mit der Islamkonferenz begonnene Dialog bietet Religionen ist auch eine Forderung, welche Die Linke Chancen. Er kann und muss die längst überfällige unterstützt. Die Integration kann jedoch nicht erfolgen, Gleichstellung des Islam mit den anderen Religionen in wenn man sie von sozialen, politischen und wirtschaftli- Deutschland entscheidend voranbringen und schließlich chen Zusammenhängen isoliert und auf die Fragen der verwirklichen. Ich wünsche mir sehr, dass am Ende die- Religion reduziert. ses Dialoges ein Staatsvertrag steht, der ganz konkrete und praktische Fragen wie die Ausbildung von Vorbe- tern und Imamen – ich hoffe eines Tages auch von Vor- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: beterinnen und Imaminnen – an deutschen Universitä- Sie müssen bitte zum Ende kommen, Frau Kollegin. ten, den Islamunterricht an Schulen, die Teilnahme von Mädchen an Klassenfahrten oder offene Fragen beim Sevim Dagdelen (DIE LINKE): Bau von Moscheen regelt. Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Sofern es ein in- Betreffend die rechtliche Verfasstheit des Islam muss tegrationspolitischer Dialog sein soll, wie es auch auf ich feststellen, Herr Minister, dass Ihre Rede leider we- dem Integrationsgipfel angekündigt worden ist, muss nig konkret und ambitioniert war. Hierbei hoffen wir auf dieser übergreifend und nicht nur auf Muslime bezogen mehr. geführt werden. Andernfalls wird in der Debatte eben doch wieder eine einseitige Problemlastigkeit im Islam Aber auch die innerislamische Debatte kann dadurch suggeriert. forciert werden. Diese Debatte ist ein Wert an sich und ein fundamentaler Bestandteil der Einbindung des Islam Danke schön. in die Moderne. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dieser Dialog braucht eine sensible Moderation, die wir Ihnen zutrauen, Herr Minister. Trotzdem hat es mich irri- Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour, tiert, im Vorfeld lesen zu müssen, dass Sie bisher immer Bündnis 90/Die Grünen. (B) nur über den Koran, aber nicht den Koran selbst gelesen (D) haben. Deshalb will ich Ihnen als Vorsitzender der Deut- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schen Islamkonferenz heute ein Geschenk machen. Ich Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlau- hoffe, dass Ihnen diese Koranausgabe bei den weiteren ben Sie mir – gerade weil es meine erste Rede vor die- Beratungen der Konferenz behilflich sein wird. sem Hohen Hause ist – eine persönliche Vorbemerkung. Ich muss feststellen, dass ich dem Deutschen Bundestag, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dem Haus der Freiheit, nur deshalb angehören kann, weil Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben Sie dieses Haus unter Rot-Grün 1999 das Staatsangehörig- ein Neues Testament zu Hause?) keitsrecht geändert hat. Für die Chance, dieses Land – Ich habe selbstverständlich ein Neues Testament zu nicht nur als Heimat zu empfinden, sondern ihm auch Hause und habe es schon häufiger gelesen. auf diese Weise dienen zu können, bin ich zutiefst dank- bar. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist sogar in Deutsch! Ich habe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es gesehen!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Sie bekommen das Geschenk als Hilfe für Ihre Arbeit. Geburtstag hat heute jemand anders, nämlich der baye- Nun komme ich zur Sache. Meine Fraktion und ich rische Ministerpräsident. Meine herzlichen Glückwün- begrüßen bei aller Kritik an Details die Einrichtung der sche von dieser Stelle aus! Deutschen Islamkonferenz. Sie hat das Potenzial, meh- rere richtige, aber auch wichtige Signale zu setzen: an Damit komme ich aber auch zu der unangenehmen die Muslime in Deutschland, aber auch an die so ge- Begleitmusik im Vorfeld der Konferenz. Der bayerische nannte Mehrheitsgesellschaft. Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende hat der „Bild“- Zeitung am 7. September ein Interview gegeben, das Angesichts der lobenswerten medialen Vorarbeit des meiner Ansicht nach immens schädlich war. Ich zitiere: Bundesinnenministers kann man sich nur freuen, dass er sehr viele dieser Signale gegeben hat. Ich hatte den Ein- Das Christentum unterscheidet sich etwa vom Islam druck, dass er gerade im konservativen Milieu dafür sor- dadurch, dass wir Intoleranz ablehnen, Religions- gen wollte, dass der Islam in diesem Land als gesell- freiheit gewähren, die Gleichberechtigung von schaftliche Realität anerkannt wird. Das ist ein sehr Mann und Frau vertreten, Zwangsheiraten ganz ent- gutes Ziel, für das wir Grüne seit Jahrzehnten kämpfen, schieden nicht billigen. Für uns ist jeder Mensch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5165

Omid Nouripour (A) einzigartig, jeder Mensch hat Würde, Freiheits- Das Wort hat die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPD- (C) rechte und ist gleichberechtigt. Fraktion. So geht es nicht, Dr. Lale Akgün (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten nicht nur deshalb, weil Herr Stoiber den großen Theolo- Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Schäuble, von gen heraushängen lässt, sondern auch, weil er sich – ich den Komplimenten, die Sie heute bekommen haben, hoffe sehr, unbewusst – eine fundamentalistische Inter- können Sie in den nächsten Wochen zehren. Ich möchte pretation des Islam aneignet. Er verkennt in Muftimanier mich dem Lob anschließen. Es ist ein schönes Symbol, die Tatsache, dass die Pluralität bzw. die Vielfalt der In- dass Sie sich mit den Muslimen getroffen haben. Ich terpretation im Islam und der Rechtsschulen und vor al- möchte Sie zu diesem mutigen Schritt beglückwün- lem im Rahmen des Grundgesetzes der Schlüssel zur schen. Sie haben ein heißes Eisen angepackt. Ich freue Moderne ist. mich außerdem zu hören, dass sich die Teilnehmer der Islamkonferenz entschlossen haben, sich gemeinsam (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Diese Viel- „Idomeneo“ in der Deutschen Oper anzusehen. Auch falt kann auch emanzipatorisch sein! Das ist das ist ein schönes Symbol. Wir, die Abgeordneten, doch nicht Ihr Ernst!) kommen gerne mit, wenn Sie uns einladen. Diese unqualifizierte einseitige Abgrenzung zwischen Wer sollte gegen einen Dialog mit den Muslimen dem guten, toleranten Christen auf der einen Seite und sein? Der Dialog muss aber zielgerichtet sein. Ich halte dem intoleranten, zurückgebliebenen Muslim auf der an- die Prämisse, dass die meisten Muslime in diesem Land deren Seite ist falsch. Wir müssen feststellen, dass der nicht integriert sind, schlicht für falsch. Für ganz ty- Graben nicht zwischen Muslimen und Musliminnen auf pisch, aber für genauso falsch halte ich die Vermischung der einen und Christen und Christinnen auf der anderen der Themen Integration und Islam. Seite, sondern zwischen demokratischen, freiheitslieben- den Menschen und den Kräften verläuft, die Demokratie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) und Freiheit in diesem Land bekämpfen. So muss man Zum ersten Punkt: Welche Assoziationen hat man denn den Graben ziehen. Sonst hat man keine Chance, an die heute bei dem Wort „Moslem“? Ich sage es Ihnen: Der Herzen und Köpfe der jungen Menschen heranzukom- Moslem sitzt den ganzen Tag in der Moschee und betet. men, die noch nach Orientierung suchen und die wir ge- Er unterdrückt seine Frau und seine Kinder. Ansonsten winnen müssen. Das ist der zentrale Punkt, für den wir ist er arbeitslos, lebt vom Staat und versucht ganz neben- eintreten müssen. bei, unser Rechtssystem zu unterwandern. Kurz: Er lebt (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in einer unerforschten Parallelgesellschaft. Der Moslem sowie bei Abgeordneten der SPD) ist heute die Folie für den unintegrierten Ausländer. Da- bei ist es ganz anders. Die überwiegende Mehrheit der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Muslime in Deutschland ist gut integriert und steht ganz Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. selbstverständlich zu den Werten des Grundgesetzes. Nach der neuesten Studie des Bonner Instituts zur Zu- kunft der Arbeit, IZA, bringen die rund 7 Millionen Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausländer in Deutschland den Sozialkassen zusätzliche Ich komme zum Schluss. Wir hoffen, dass die Bun- Einnahmen in Höhe von sage und schreibe 12,8 Milliar- desregierung und die Koalitionsfraktionen all das, was den Euro. Der Wissenschaftler Bonin vom IZA sagt im Vorfeld gesagt wurde, ernst meinen und sich dafür wörtlich: Das Stammtischgerede, dass Ausländer die So- einsetzen, dass der Dialog kritisch geführt wird. Wir un- zialsysteme ausplündern, ist blanker Unsinn. terstützen sie dabei tatkräftig, aber selbstverständlich mit der Wachsamkeit einer kritischen Opposition. Wir wer- Dieses kleine Beispiel soll belegen, wie wenig die Re- den alles daran setzen, dass dieser Dialog fruchtbar wird alitäten der Zugewanderten wahrgenommen werden. und dass letztendlich der Islam als gleichberechtigte Re- Auch wenn die Debatte manchmal diesen Anschein er- ligion in diesem Land anerkannt wird. wecken mag, sprechen wir nicht von irgendwelchen Au- ßerirdischen. Wir reden vielmehr von Menschen, die Herzlichen Dank. schon seit über 40 Jahren hier leben und zum Teil die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Wir sprechen von sowie bei Abgeordneten der SPD – Abg. Omid Familien, die in zweiter oder dritter Generation ihren Le- Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] über- bensmittelpunkt in Deutschland haben, von Menschen, reicht Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble die ihrer Arbeit nachgehen, Unternehmen gründen, Steu- ein Exemplar des Korans) ern zahlen, deren Kinder die deutschen Schulen besu- chen usw. usf. Diese Menschen mit muslimischem Hin- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tergrund sind ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft und stehen selbstverständlich zu den Wer- Herr Kollege, das war Ihre erste Rede. Wir alle gratu- ten des deutschen Grundgesetzes. Die deutschen Mus- lieren Ihnen sehr herzlich und wünschen Ihnen viel Er- lime, die ständig gefordert werden, gibt es längst. Diese folg bei der Arbeit. Bürgerinnen und Bürger sind in allen gesellschaftlichen (Beifall) Schichten, allen sozialen Milieus – traditionellen und 5166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. 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Dr. Lale Akgün (A) modernen – vertreten. Manche sind sehr fromm, andere Ich wünsche mir dieses Selbstverständnis für alle. (C) säkular, wiederum andere bezeichnen sich als Kultur- muslime. Sie haben genauso unterschiedliche Lebens- Aufgrund des historisch gewachsenen Verhältnisses formen wie Deutsche auch. Auch von den Muslimen von Staat und Kirche, auf das in diesen Tagen immer sind 10 Prozent homosexuell, auch bei den Muslimen wieder hingewiesen wird, ist in Deutschland die Tren- gibt es Scheidungen, Gewalt, Patriarchat, aber auch nung von Staat und Kirche vorgesehen. Das heißt, dass nicht mehr familiären Zusammenhalt als bei deutschen Staat und Kirche eben nicht gegenseitig in die Aufgaben Familien. Die muslimische Familie, was auch immer sie des jeweils anderen hineinreden. Das hat Fritz Rudolf sein mag, ist nicht anders als die anderen Familien auch. Körper als Pastor eben sehr gut erklärt. Ich kann es nicht Deswegen kann auch der Islam den Deutschen nicht die besser. Aber genauso wie der Staat erwartet, dass sich Bedeutung von Familie näher bringen. Auch positive die muslimischen Gemeinden nicht in die Angelegenhei- Klischees sind Klischees. ten des Staates einmischen, darf sich auch der Staat nicht in religiöse Fragen, zum Beispiel die nach der Liturgie, Aber von Klischees haben Muslime eigentlich schon einmischen. Dort aber, wo Gewalt verübt oder dazu auf- genug. Was sie stattdessen brauchen, genauso wie jeder gerufen wird, muss er einschreiten. An diesem Punkt andere Mensch, der in Deutschland lebt, ist Chancen- sollten die muslimischen Gemeinden nicht anders be- gleichheit, die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teil- handelt werden als die christlichen und die jüdischen. habe am gesellschaftlichen Leben. Das Grundgesetz ist selbstverständliche Grundlage (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hakki unseres Zusammenlebens und die rechtliche Gleichstel- Keskin [DIE LINKE]) lung der Muslima das Megathema, über das eine Islam- konferenz diskutieren muss. Damit aber eine rechtliche Das ist für mich Integration. Die soziale Frage müssen Gleichstellung möglich wird, muss mit dem Kriterium wir ganz klar von Fragen nach dem Islam in Deutschland der Verfassungstreue ernst gemacht werden. Wir müssen trennen. schon sehr genau fragen, mit wem wir reden und wen wir als Ansprechpartner akzeptieren. Wir alle wissen, (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann dass der Islamrat, der mit am Konferenztisch saß, an die- (FDP) ser Stelle ein Problem hat, und zwar insofern, als eines Nicht die Religion ist daran schuld, wenn Migranten- seiner Mitglieder, nämlich Milli Görüş, vom Verfas- jugendliche geringere Bildungschancen haben oder kei- sungsschutz beobachtet wird. Wie gehen wir damit um? nen Ausbildungsplatz bekommen. Schwören wir sie auf die Demokratie ein und sanktionie- ren sie ernsthaft bei Wortbruch oder schließen wir sie (B) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) aus, weil sie vom Verfassungsschutz beobachtet werden? (D) Wir müssen uns entscheiden. Ein Sowohl-als-auch geht Hat die doppelt so hohe Arbeitslosenrate unter Migran- nicht. ten etwas damit zu tun, dass manche von ihnen an Allah glauben und andere an den dreieinigen Gott? Wohl eher Es soll auf der Islamkonferenz nicht nur um die gro- nicht. Da werden Sie mir zustimmen. Es entspricht der ßen Wertefragen, sondern auch um das Kopftuch, den Is- Tatsache, dass viele muslimische Migranten aus bil- lamunterricht und das Schächten gehen. Das alles sind dungsfernen und sozial benachteiligten Familien stam- sehr wichtige Fragen, die einer Regelung bedürfen. Hier men und in den letzten 30 Jahren den Anschluss nicht möchte ich an die Föderalismusreform erinnern, die die geschafft haben. Wir haben eine ethnisch-religiöse Un- große Koalition nach langem Ringen verabschiedet hat. terschichtung der Gesellschaft. All das sind Fragen von Diese Fragen sind nämlich Ländersache. In der Kopf- Integration, also von Chancengleichheit. Sie erfordern tuchfrage zum Beispiel hat das Bundesverfassungs- knallharte und greifbare Antworten aus dem Bereich der gericht eindeutig entschieden, dass die Bundesländer Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, aber keine Regelungen treffen sollen. Auch der Islamunterricht un- religiösen Erörterungen. terliegt der Kultushoheit der Länder. Einige erfolgreiche Modellprojekte haben wir schon in diesem Bereich. Das Meine Forderung ist daher: Die Islamkonferenz soll haben die Konferenzteilnehmer gestern selbst erwähnt. sich mit dem Islam und der Frage nach den Perspektiven des Islam in Deutschland beschäftigen und mit nichts an- Diese Beispiele zeigen: Der Islam ist längst Teil der derem. Die Konferenz muss das Ziel haben, das Selbst- deutschen Realität. Allerdings hat er seinen Platz in der verständnis der Muslime zu installieren. Aber die Tat- Gesellschaft und in der Rechtsordnung noch nicht gefun- sache, dass sich die muslimischen Organisationen den. Genau diesen Platz müssen wir ihm aber analog zu gestern beeilt haben, erst einmal zu sagen, dass sie auf den christlichen und jüdischen Religionen auch einräu- dem Boden des Grundgesetzes stehen, zeigt, dass es mit men wollen. Da bin ich dabei. Der deutsche Islam dem Selbstverständnis noch nicht so weit ist. Wären die braucht keine Sonderbehandlung. Der deutsche Islam katholischen Bischöfe eingeladen gewesen, sie wären braucht eine Perspektive, Anerkennung und Gleichbe- nicht auf die Idee gekommen, sich erst einmal zu den handlung, und zwar ganz selbstverständlich und ohne Werten des Grundgesetzes zu bekennen, weil das selbst- Rabatt. verständlich ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit des Abg. Hans-Michael Goldmann der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des [FDP] – Sebastian Edathy [SPD]: Na ja!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5167

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (C) Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel, CDU/CSU- GRÜNEN]: In welcher Sprache gepredigt Fraktion. wird, müssen die schon selbst wissen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Probleme sind auch Geistliche, die große Menschen- massen aufgrund bewusst missverstandener Aussagen von Politikern oder geistlichen Führern zu Gewalttaten Ralf Göbel (CDU/CSU): aufstacheln, wie wir es vor kurzem im Zusammenhang Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit der Äußerung des Papstes erlebt haben. Im Nahen In Deutschland leben 3,3 Millionen Muslime. Sie sind und im Mittleren Osten, gab es, bereits kurze Zeit nach- unsere Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen. Nie- dem das umstrittene Papstzitat bekannt geworden war, mand hat das Recht, sie unter einen Generalverdacht zu Demonstrationen mit brennenden Papstpuppen und stellen, nur weil sie einer anderen Religion angehören. brennenden Deutschlandfahnen. Der Islamismus ver- fügt offensichtlich über ein sehr großes Potenzial, das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der schnell aktiviert werden kann. Deshalb war und ist es ein SPD und der FDP) gutes Zeichen, dass die religiösen Verbände der Muslime Die Unkenntnis des Islam und auch der Muslime in Deutschland die infolge der Mohammed-Karikaturen – Frau Kollegin Akgün hat eben einige Klischees ge- und des Papstzitates entstandenen Gewalttätigkeiten nannt –, vor allen Dingen aber die Instrumentalisierung deutlich verurteilt haben. des Islam zur Rechtfertigung schwerer Gewalttaten be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) unruhigt und verunsichert viele Menschen. Es ist daher höchste Zeit, dass eine Debatte über das Zusammenle- Ein Schlagwort, das immer wieder in die Diskussion ben von Muslimen, Christen und Menschen, die ein an- eingebracht wird, lautet: Toleranz. Wer wollte für sich deres oder gar kein Bekenntnis haben, geführt wird; gelten lassen, dass er nicht tolerant ist? Toleranz setzt denn nur in einer streitigen Auseinandersetzung können aber voraus, dass man sich selber über die eigenen Wert- die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten deutlich vorstellungen im Klaren ist. Jede Toleranz hat Grenzen; werden und kann der Weg für eine gemeinsame Zukunft sonst wird sie zur Beliebigkeit. gezeichnet werden. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr (Beifall der Abg. Kristina Köhler [Wiesbaden] richtig!) [CDU/CSU]) Diese Grenze ist für mich die Wertordnung, wie sie in unserem Grundgesetz zum Ausdruck kommt. (B) Ich danke dem Innenminister sehr dafür, dass er mit der (D) Islamkonferenz, die gestern begonnen hat, den ersten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Schritt dazu getan hat, diese Debatte zu führen und die- SPD und der FDP) sen Weg zu beschreiten. Im Verhältnis zwischen dem Staat und allen Religio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nen muss eines gelten: Keine Religion darf die staatliche der SPD) Ordnung und die Wertentscheidung des Grundgesetzes infrage stellen. Diese beiden Punkte sind, wie Innenmi- Zu Beginn einer umfassenden Bestandsaufnahme nister Dr. Schäuble zu Recht und unmissverständlich des derzeitigen Zustandes gehört auch, anzusprechen, festgestellt hat, nicht verhandelbar. Die Wertordnung was die Ursache für besondere Besorgnisse und Vorur- ist für alle gültig. Im Dialog mit dem Islam müssen wir teile ist. Ein ehrlicher Dialog verkommt ohne diese Of- betonen, dass auch die Gleichberechtigung von Frau und fenheit schnell zu einem seichten Gerede. Mann zu dieser Wertordnung gehört. Zu diesen Tatsachen gehört – das ist heute schon er- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang wähnt worden –, dass eine verschwindend geringe, aber Thierse) dennoch gefährliche Minderheit der Muslime in Deutschland den Islam für ihre politischen Zwecke und Die Diskussion um die Absetzung der Mozart-Oper für Gewaltanwendung instrumentalisiert. Gegen diese „Idomeneo“ ist ein Beispiel dafür, wie wichtig das Be- müssen wir uns gemeinsam wenden, Muslime und wusstsein für unsere Wertordnung ist. Zu unserer Wert- Nichtmuslime in Deutschland. ordnung gehört die Freiheit der Kunst. Ich will nicht be- streiten, dass die abgeschlagenen Häupter von Jesus oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des Propheten Mohammed religiöse Gefühle von Chris- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- ten und Muslimen verletzen können. Niemand muss SES 90/DIE GRÜNEN) diese Inszenierung gut finden. Nach unserem Verständ- nis muss man aber Kritik sowie die Infragestellung der Große Sorge bereiten uns die so genannten Hasspredi- eigenen Position und damit auch seiner Religion ein ger; auch sie sind angesprochen worden. Dieses Phäno- Stück weit ertragen können. men zeigt auch, wie wichtig die Diskussion um die Aus- bildung von Imamen in Deutschland ist. Es zeigt ferner, Wer sich verletzt fühlt, kann seine Kritik offen äußern wie wichtig es ist, dass wir einen Dialog darüber führen, und so einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs leisten. wie die deutsche Sprache in islamische Gottesdienste Ich bin auch sicher, dass Muslime mit ihren Werten und einzuführen ist. Überzeugungen eine Menge zu diesem öffentlichen 5168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Ralf Göbel (A) Diskurs in unserem Land beitragen können und ihn be- Ich glaube, das gilt auch in Deutschland. Ich wünsche (C) reichern werden. Was jedoch nicht hingenommen wer- uns allen einen fruchtbaren Dialog. Er hat gestern be- den kann, sind Gewalt und die Androhung von Gewalt. gonnen. Ich wünsche uns auch, dass er viele Jahre dau- Ich hoffe, dass die Islamkonferenz das Verhältnis von Is- ern möge und dass er uns alle zu guten Ergebnissen lam und Gewalt, das von vielen als kritischer Punkt an- bringt. gesehen wird, abschließend und endgültig klärt. Vielen Dank. Die Absetzung der Mozart-Oper verdeutlicht auch, wie gefährlich Islamismus wirken kann. Der Streit um (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie die Mohammed-Karikaturen und das Papstzitat darf bei Abgeordneten der FDP) nicht zu einer Selbstzensur führen. Die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit sind für unsere Demokratie Vizepräsident Dr. h. c. : konstituierend. Wenn wir uns im vorauseilenden Gehor- Ich schließe die Aussprache. sam eine Selbstzensur auferlegen, haben wir viel zu ver- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: lieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit religiösem Fanatismus ist dann nämlich nicht mehr möglich. Wir a) Beratung des Antrags der Abgeordneten müssen den Respekt vor unserer Werteordnung dadurch Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Jens fördern, denke ich, dass wir selbst zu unseren Werten Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak- stehen und diese auch verteidigen. tion der FDP (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Modernes Kündigungsschutzrecht und fle- neten der SPD und der FDP) xible Befristungsregelungen im Interesse der Im Vorfeld der Islamkonferenz kam vielfach die Arbeitsuchenden Frage auf, welche Organisation denn den Islam in – Drucksache 16/1443 – Deutschland vertritt. Die Diskussion darüber – das ist Überweisungsvorschlag: mehrfach angesprochen worden –, ist bekannt. Es ist klar Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) geworden, dass es eben keine allgemeine Vertretung Rechtsausschuss der Muslime in Deutschland gibt. Es ist nach meiner Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auffassung aber nicht die Aufgabe des Staates, hier eine b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner gemeinsame Basis herzustellen, die eine Vertretung der Dreibus, Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, wei- Muslime gewährleistet. Dies ist Aufgabe der Religions- terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN gemeinschaften selbst. Deshalb wehre ich mich auch da- (B) gegen, den Muslimen in Deutschland vorzuschreiben, Ausweitung und Stärkung des Kündigungs- (D) wie sie sich zu organisieren haben. schutzes (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) – Drucksache 16/2080 – Überweisungsvorschlag: Die Frage, ob der Körperschaftsstatus verliehen wer- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) den sollte, kann daher nicht am Beginn des zu beschrei- Rechtsausschuss tenden Weges stehen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für [FDP]) die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Es gibt rechtliche Voraussetzungen, die zu erfüllen sind, um diesen Status zu erlangen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Tun die auch!) (Beifall bei der FDP – Dr. [CDU/CSU]: Jetzt kommt das Angebot für die Nach meiner Auffassung liegt es also bei den Religions- Ampel!) gemeinschaften selbst, sich diese Voraussetzungen zu er- arbeiten. Auch wenn eine einheitliche Vertretung der Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Muslime in Deutschland für uns wünschenswert ist, so Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt der Schlüssel hierfür doch bei den Muslimen selbst. ist in der letzten Zeit in Deutschland und namentlich in Wir können diesen Prozess unterstützen, wir können ihn der Union, Herr Kollege Brauksiepe, viel über Lebenslü- aber nicht staatlich verordnen. gen gesprochen worden, von denen man sich befreien (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müsse. Ich will hier ganz klar sagen: Für mich ist eine neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- der größten und auch meistverbreiteten Lebenslügen in SES 90/DIE GRÜNEN) der Politik, der Kündigungsschutz habe nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob in Deutschland Arbeits- Ich schließe mit einem Zitat von Benedikt XVI., der plätze entstehen oder nicht. in den letzten Wochen vor allem wegen einer – missver- standenen – Äußerung Gegenstand vieler Debatten war. Dabei ist aus unserer Sicht die Diagnose bzw. der Be- Benedikt XVI. sagt: Vom Dialog zwischen Christen und fund sehr eindeutig: Wir freuen uns über die heute be- Muslimen hängt zum großen Teil unsere Zukunft ab. – kannt gegebene Fortsetzung der positiven Entwicklung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5169

Dr. Heinrich L. Kolb (A) am Arbeitsmarkt in Form von weniger Arbeitslosen und Auch in der Union wird durchaus Handlungsbedarf ge- (C) mehr Erwerbstätigen und einem leichten Anstieg der sehen. So hat der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Kurt Lauk, im März dieses Jahres gesagt, wenn der Kün- Aber die Tatsache, dass auch in Zeiten eines beginnen- digungsschutz ein Einstellungshindernis sei, dann müsse den Aufschwungs die wirtschaftliche Dynamik den Ar- er verändert werden. Wörtlich sagte er: beitsmarkt nur sehr, sehr gebremst erreicht, offenbart jedem, der sehen will, die strukturellen Markteintritts- Wir können ja nicht die Arbeit dadurch verhindern, schwellen, die für Arbeitsplatzsuchende durch den be- dass wir gesetzliche Hürden aufbauen. stehenden Kündigungsschutz aufgebaut sind. Recht hat der Mann. Das muss man hier einmal klipp und klar sagen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Umgekehrt zeigt ein Blick über die Grenzen hinaus, etwa in die Schweiz oder nach Dänemark, dass dort, wo Doch wie findet das seinen Niederschlag in der Poli- ein mit dem deutschen vergleichbarer Kündigungsschutz tik der großen Koalition? Anstatt endlich die notwendi- nicht existiert, annähernd Vollbeschäftigung herrscht. gen Reformen des Arbeitsmarktes in Angriff zu nehmen, Von Vollbeschäftigung sind wir in Deutschland aller- herrscht in der großen Koalition nur großes Chaos. Ein dings noch weit entfernt. Umstand, den die „Berliner Morgenpost“ vor wenigen Tagen in der Überschrift zusammenfasste: „Chronik des Besonders paradox ist, dass es, obwohl das Kündi- Scheiterns: Der Kündigungsschutz bleibt“. – Ich stelle gungsschutzrecht in Deutschland auf den Bestand des hier unmissverständlich fest: Es ist vor allem die Chro- Arbeitsverhältnisses ausgerichtet ist, nach einer Kündi- nik des Scheiterns der CDU und ihres Generalsekretärs, gungsschutzklage in der Praxis nur in wenigen Fällen . Es offenbart, wie wenig Ahnung ein füh- tatsächlich zu einer Weiterbeschäftigung kommt. Tat- render Vertreter der Union davon hat, was den Mittel- sächlich ist die arbeitsgerichtliche Realität von einem stand in Deutschland davon abhält, neue Arbeitsplätze Feilschen um Abfindungszahlungen und fragwürdigen zu schaffen. Vergleichen gekennzeichnet. Die Arbeitsgerichte werden durch diese Prozesspraxis – ich sage: unnötigerweise – (Beifall bei der FDP) bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit belastet. Dass die SPD mit dem Mittelstand nichts am Hut hat, (Beifall bei der FDP) war seit langem bekannt. Kleine Unternehmen ohne eigene Personalabteilung (Anton Schaaf [SPD]: Quatsch!) haben nach wie vor große Schwierigkeiten bei der Dass die CDU zwar viel über die Nöte des Mittelstandes (B) Anwendung des sehr komplizierten und sehr vielschich- (D) redet, aber in der Praxis, von wenigen Ausnahmen tigen Kündigungsrechts. Es ist für viele Betriebsinhaber – Ernst Hinsken, Peter Rauen und Kollegen Dr. Fuchs – immer noch schwer, wenn nicht unmöglich, ohne rechts- abgesehen, kundigen Rat eine auch nach dem Kündigungsschutzge- setz wirksame Kündigung auszusprechen. Genau dies, (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wem wol- liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dazu geführt, dass len Sie noch alles schaden?) gerade kleine Unternehmen bei einem beginnenden Auf- schwung oder bei Nachfragespitzen weiterhin versuchen, nichts wirklich dafür tut, diese Nöte zu lindern, wurde mit der vorhandenen Belegschaft mittels Überstunden offenbar, als die Regelungen des Koalitionsvertrages auszukommen, anstatt neue Mitarbeiter einzustellen. Das zum Kündigungsschutz bekannt wurden. Man muss Kündigungsschutzrecht hat sich damit von seiner Funk- schon sehr wenig Ahnung haben – und davon viel –, tion als soziales Schutzrecht hin zu einer Einstellungs- wenn man wie Ronald Pofalla die einschlägigen Passa- hürde für diejenigen verkehrt, die arbeitslos sind und eine gen des Koalitionsvertrages als größte Reform in den neue Stelle suchen. letzten Jahrzehnten glaubte etikettieren zu müssen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jens Tatsache ist: Jeder, der in seinem Leben schon einmal Koeppen [CDU/CSU]) in der Situation war, einen Arbeitnehmer einzustellen – als mittelständischer Unternehmer weiß ich hier sehr Die FDP-Fraktion will mit ihrem Antrag daher Flexi- genau, wovon ich rede –, hat sofort erkannt, dass es eine bilität dort schaffen, wo heute verkrustete Strukturen und Verschlimmbesserung war, was dort ausgehandelt ideologische Denkmuster vorherrschen. Dabei sind wir wurde. Der Verhandlungsführer der Union, eben Ronald mit unserer Analyse nicht allein. Wir sehen uns vielmehr Pofalla, hatte sich ganz offensichtlich über den Tisch durch das Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständi- ziehen lassen. Deswegen war es nur konsequent, dass die genrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen deutschen Unternehmen und die sie vertretenden Ver- Entwicklung eindrucksvoll bestätigt. Selbst in einem bände in der Folge das vergiftete Geschenk dankend ab- „IAB Kurzbericht“ heißt es: lehnten. Will man aber mehr Bewegung ins Beschäftigungs- Nun herrscht große Ratlosigkeit in der Union. Ich system bringen, bedarf es beim Kündigungsschutz frage Sie: Soll es das jetzt wirklich gewesen sein? Die eines Paradigmenwechsels. Es geht um den Über- FDP-Bundestagsfraktion ist jedenfalls entschieden der gang vom Bestandsschutzprinzip zum Abfindungs- Meinung, dass die Reform des Kündigungsschutzes prinzip. nicht einfach ersatzlos ausfallen darf. 5170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Heinrich L. Kolb (A) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) (C) Deswegen legen wir heute einen Antrag vor, der den Kündigungsschutz reformiert und gleichzeitig das In- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: strument der befristeten Beschäftigung weiterentwi- Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Meckelburg, ckelt. Denn das war doch der faule Kompromiss, den am CDU/CSU-Fraktion. Schluss keiner haben wollte, dass nämlich für eine, noch dazu bürokratisch ausgestaltete, Änderung der Wartezeit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) im Kündigungsschutzgesetz die sachgrundlose Befris- tung ersatzlos abgeschafft werden sollte. Wir brauchen Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): aber nicht das eine oder das andere, wir brauchen beides: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heu- Änderung im Kündigungsschutzgesetz und Erhalt der tige Debatte zum Kündigungsschutz und die Anträge sachgrundlosen Befristung. von der Linken und der FDP zeigen, dass die Bandbreite, in der dieses Thema in der Gesellschaft diskutiert wird, Weil gerade kleine Unternehmen mit der sachgrund- auch hier im Parlament vorhanden ist. losen Befristung ein unbürokratisches Mittel haben, Auftragsspitzen mit Neueinstellungen zu bewältigen, (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist auch gut schlagen wir vor, die Dauer der sachgrundlosen Befris- so!) tung auf vier Jahre zu verlängern, wie sie heute bei Neu- einstellungen schon gilt. Wir schlagen vor, dass das Ver- – Das ist auch gut so. Dennoch muss man im Parlament bot, einen Arbeitnehmer sachgrundlos befristet zu immer darauf schauen, wie man zu Mehrheiten kommt. beschäftigen, wenn er bei dem gleichen Arbeitgeber Das Thema ist aus meiner Sicht ein Symbolthema. schon einmal beschäftigt war, aufgehoben wird. Wir Die einen sagen, besonders sozial sei es, die Grenzen zu wollen eine Verlängerung der Wartezeit auf zwei Jahre, erweitern; die anderen sagen, sie seien Modernisierer, und zwar nicht per Vertrag, sondern per Gesetz. Wir wenn sie möglichst viele Hürden einreißen. Die Wirk- wollen, dass der Geltungsbereich des Kündigungs- lichkeit bewegt sich möglicherweise in der Mitte. Jeder- schutzgesetzes auf Betriebe mit mehr als 20 Beschäftig- mann weiß, dass es bei jeder Koalition bestimmte Band- ten begrenzt wird; denn ein Mittelständler stellt in der breiten und unterschiedliche Schnittmengen gibt. Ich Regel nicht ein, um zu entlassen, aber er muss dann, persönlich glaube nicht, dass der Kündigungsschutz zur- wenn eine konjunkturelle Notlage entsteht, die Chance zeit das entscheidende Rädchen ist, um den Arbeits- haben, auf einen Auftragsrückgang zu reagieren. markt voranzubringen. (Beifall bei der FDP – Jörg Rohde [FDP]: Das Wir wissen aus der Diskussion der vergangenen (B) wollte die Union doch auch!) (D) Jahre, dass der Kündigungsschutz immer ein Thema war. Wir glauben, dass das Lebensalter als Kriterium für Es gibt verschiedene Stellschrauben: die Höhe des die Sozialauswahl – das ist nämlich das entscheidende Schwellenwertes, befristete und unbefristete Arbeitsver- Handicap eines älteren Arbeitnehmers am Arbeitsmarkt – hältnisse, längere Einstiegsfristen für Neueinstellungen, gestrichen werden muss. Außerdem wollen wir, wie Alternativen zu Kündigungsschutzregelungen, zum Bei- auch der Sachverständigenrat, das Vertragsoptionsmo- spiel in der Form von vereinbarten oder angebotenen dell in das Kündigungsschutzgesetz einarbeiten. Abfindungsregelungen. Wir haben uns in den letzten Jahren durchaus in die Richtung der Modernisierung be- Das sind Vorschläge, die sicherlich nicht alle populär wegt. Schon heute ist es möglich, bis zu viermal befristet sind. Aber am Ende wird es ohne einen Paradigmen- einzustellen. wechsel nicht gehen. Denn das, was Albert Einstein ge- sagt hat, gilt auch heute noch: „Probleme kann man nie- Als Folge der Arbeit des Vermittlungsausschusses im mals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie Jahre 2003 – es gab schon damals eine Art großer Koali- entstanden sind.“ tion – gab es ab 1. Januar 2004 Verbesserungen in die- sem Bereich. Allerdings konnten wir nicht alles umset- (Beifall bei der FDP) zen. Wir haben aber den Schwellenwert von fünf auf Ausschlaggebend ist nicht die Sichtweise eines SPD- zehn hochgesetzt. Man kann sich natürlich darüber strei- Parteitages oder eines CDU-Generalsekretärs, sondern ten, ob das genug ist oder ob er nicht auf 20 oder sogar allein die Sicht desjenigen, der darüber entscheidet, ob auf 50, wie Herr Brüderle vor zwei Jahren gefordert hat, ein Mitarbeiter neu eingestellt wird oder nicht. Wie sich hochgesetzt werden sollte. die Politik dabei fühlt, ist nachrangig. Der Köder muss Wir haben Änderungen zur flexibleren Gestaltung der dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Sozialauswahl eingeführt. Damit kann man zufrieden Deswegen laden wir Sie mit dem vorliegenden An- sein oder man kann sagen, man könnte noch ein Stück trag heute ein, das Notwendige zu tun. Es geht um Mil- weitergehen. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, dem lionen von Menschen in unserem Lande, vor allen Din- Arbeitnehmer eine Abfindung anzubieten, der dafür auf gen solche mit geringer Qualifikation, die eine Chance sein Recht verzichtet, gegen seine Kündigung zu klagen. auf die Rückkehr in das Erwerbs- und Arbeitsleben be- Man kann sich vorstellen, dass dieser Punkt vor der Ein- kommen müssen. stellung geregelt wird. Außerdem wird es bei Existenz- gründungen erleichtert, befristet einzustellen. Die Frist Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. beträgt inzwischen vier Jahre. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5171

Wolfgang Meckelburg (A) Da ich weiß, was die heute vorliegenden Anträge be- wertes. Ganz so einfach darf man es sich also nicht ma- (C) deuten, sage ich: Die Union als Volkspartei ist gut bera- chen, wenn man seine Begründung auf diesen IAB-Be- ten, das Thema Kündigungsschutz von allen Seiten und richt stützen will. Es gibt sogar Beispiele aus dem differenziert zu betrachten. Ausland, wo es gegenteilige Entwicklungen gab. In Ir- land war der Kündigungsschutz Ende der 90er-Jahre ex- (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel trem gering. Trotzdem ist dort die Arbeitslosenquote auf [FDP]: Da hast du aber schon mal ganz anders 12 Prozent gestiegen. In Norwegen war die Entwicklung gesprochen!) allerdings umgekehrt. Ich will damit nicht sagen, dass Einerseits gilt, dass vor allem in Großbetrieben der Kün- diese Maßnahme keine Wirkung hat. Aber sie hat nicht digungsschutz wichtig für die Sicherheit der Arbeitneh- die Wirkung, von der Sie in Ihrem Antrag sprechen. mer und deren Motivation ist. Andererseits gilt, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Kündigungsschutzregelungen den Einstieg von Arbeit- Klaus Brandner [SPD] – Dirk Niebel [FDP]: suchenden in den Arbeitsmarkt nicht behindern dürfen. Soll ich mal deine Rede aus der letzten Legis- Das trifft vor allem auf kleinere und mittlere Betriebe zu. laturperiode zu diesem Thema heraussuchen?) (Jörg Rohde [FDP]: Genau!) Ich will nun etwas zum Antrag der Linken sagen. Im Innerhalb der großen Koalition ist die Union im Ver- Antrag der Linken wird gefordert, die Möglichkeit, Ar- gleich zur SPD sicherlich derjenige Partner, der die Not- beitsverhältnisse ohne das Vorliegen sachlicher Gründe wendigkeit zur Flexibilisierung stärker sieht. Dennoch befristen zu können, abzuschaffen. Sie wollen die Warte- sage ich: Die beiden vorliegenden Anträge, also auch der zeit auf drei Monate verkürzen und den Schwellenwert FDP-Antrag, sind letztlich Schauanträge. wieder heruntersetzen. Mit Ihrem Antrag wollen Sie den Eindruck erwecken, als ließe sich alles, was es bereits (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – gibt, zurückdrehen. Außerdem wollen Sie den Eindruck Widerspruch bei der FDP) erwecken, als seien Sie die sozialsten Leute in diesem Es wird in diesem Parlament keine Mehrheit für den An- Haus. Das Gegenteil ist der Fall. trag der FDP und für den Antrag der Linksfraktion ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben. neten der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er könnte aber Ihre Position ist rückwärts gewandt. Sie wollen um mit Mehrheit beschlossen werden!) diejenigen, die Arbeit haben, einen Schutzzaun errich- Mit diesen Schauanträgen wollen Sie sich besonders gut ten. Das ist – ich sage es deutlich – sehr unsozial und un- (B) darstellen, obwohl Sie aufgrund der Mehrheitsverhält- solidarisch; denn Sie errichten eine Mauer um die Be- (D) nisse und der Koalitionsmöglichkeiten in diesem Haus triebe. wissen, dass Sie keine Chance haben, Ihre Anträge zu (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das sehen die realisieren. Betroffenen aber anders!) (Jörg Rohde [FDP]: Wir setzen auf unsere Das ist eine Closed-Shop-Politik; denn diejenigen, die Argumente!) Arbeit suchen, bekommen keine Arbeit. In Ihrem Antrag verweist die FDP auf den Sachver- ständigenrat und auf eine IAB-Untersuchung. Sie erwe- Auch Ihnen sage ich: Für diese Vorstellung finden Sie cken damit den Eindruck, Ihre Forderungen seien daraus keinen Partner im Parlament. abgeleitet. Wenn ich mir aber anschaue, was der Sach- (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Schade!) verständigenrat in seinem Jahresgutachten sagt, dann kann ich zunächst feststellen, dass er fünf Handlungsfelder Sie haben keine Chance auf Realisierung und finden in skizziert hat. Das zentrale Handlungsfeld ist Lohnersatz- der gesamten Bevölkerung keinen Zuspruch; auch das leistungen; das zweite Handlungsfeld ist Arbeitsmarktpoli- müssen Sie wissen. tik; das dritte Handlungsfeld ist Tarifvertragsrecht und (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Das sieht aber das vierte Handlungsfeld ist Kündigungsschutz. Der anders aus!) Kündigungsschutz steht also nicht herausgehoben an erster Stelle. Der Sachverständigenrat fordert auch sehr – Ich habe gesagt: in der gesamten Bevölkerung. Denn deutlich ein Gesamtkonzept. Man muss also die Forde- jeder, der zumindest mit anderthalb Beinen im Leben rungen im Zusammenhang sehen und man darf sie nicht steht, weiß, dass das, was Sie vorschlagen, völlig lebens- auf den Kündigungsschutz reduzieren. fremd ist, an der Realität vorbeigeht und so sicherlich nicht mehr kommt. Ich erwähne auch das fünfte Handlungsfeld, das wir häufig vergessen, nämlich den unverzichtbaren Beitrag (Beifall bei der CDU/CSU – Werner Dreibus [DIE der Tarifvertragsparteien zur Schaffung neuer Arbeits- LINKE]: Das sehen Millionen anders!) plätze. – Das mag so sein. Denjenigen, die das anders sehen, Der IAB-Bericht von 2004 beschäftigte sich unter sage ich: Schaut genau hin. Die schließen die Betriebe der Überschrift „Arbeitsmarkt-Reformen – Betriebe re- für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, ab, sodass agieren kaum auf Änderung beim Kündigungsschutz“ diejenigen, die außerhalb der Betriebe sind, nicht hinein- mit dem Effekt aufgrund der Änderung des Schwellen- kommen. Das ist die Wirkung Ihrer Regelung. 5172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Wolfgang Meckelburg (A) Noch einmal zum FDP-Antrag. Auch Ihr Antrag ist (Anette Kramme [SPD]: Das können Sie (C) – das habe ich bereits gesagt – ein Schauantrag. Über abhaken!) einzelne Punkte könnten wir sicherlich miteinander re- Das müssen wir in der großen Koalition ausloten. Denn den. Das wissen wir; das haben wir in der Vergangenheit wir müssen im Rahmen der Schnittmengen, die bei uns auch getan. Aber schauen Sie sich die Mehrheitsverhält- bestehen, so viel wie möglich an Flexibilisierung durch- nisse an: Es gibt keine Chance, in die Richtung etwas zu setzen. Jedenfalls ist das der Wille der Union in der gro- verändern, wie Sie das wollen. ßen Koalition. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Man kann aber (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner trotzdem sagen, was man für richtig hält!) [SPD]: Die SPD bleibt beim Kündigungs- Herr Kolb, ich weiß nicht, ob Kollege Brüderle und schutz!) andere, die neuerdings mit den Roten flirten – das liest man ja in den Medien –, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Werner Dreibus, Frak- (Dirk Niebel [FDP]: Sie haben doch gerade tion Die Linke. zugegeben, dass Sie auch mit uns geredet ha- ben!) (Beifall bei der LINKEN) diesen Antrag schon vorab mit der SPD besprochen ha- ben. Ich glaube, die Chancen auf Realisierung wären Werner Dreibus (DIE LINKE): noch geringer. Es geht nicht, einerseits mit den Roten zu Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will flirten und andererseits einen Antrag einzubringen, bei anders als meine beiden Vorredner versuchen, in diese dem überhaupt keine Chance besteht, ihn mit der SPD Debatte auch ein Stück weit die gesellschaftliche Reali- durchzusetzen. tät einzubringen. (Beifall bei der CDU/CSU – Iris Gleicke (Beifall bei der LINKEN) [SPD]: Mit uns kann man hervorragend flir- Die gesellschaftliche Realität sieht leider so aus: Es ver- ten! Die Frage ist nur, ob man erhört wird! – geht kaum eine Woche ohne Nachrichten über Massen- Zuruf von der FDP: Woher wollen Sie das entlassungen. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass denn wissen?) angekündigt und auch vollzogen wird, dass Tausende Menschen ohne ihr Verschulden ihren Arbeitsplatz ver- Sie von der FDP haben alle, aber auch wirklich alle lieren. Ihnen wird gekündigt. Sie dürfen sich in das Heer Vorschläge, die es zur Lockerung des Kündigungsschut- der Millionen Arbeitslosen einreihen. (B) zes gibt oder gegeben hat, in ein Papier geschrieben. (D) (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) (Zuruf von der FDP: Damit Sie sich mal informieren!) Nur um eine Größenordnung aus verschiedenen For- schungsergebnissen zu nennen, Herr Dr. Kolb: Jedes Ein modernes und in sich stimmiges Modell haben Sie Jahr erhalten über 2 Millionen Beschäftigte eine so ge- damit nicht vorgelegt. Denn es fehlt der Gesamtzusam- nannte arbeitgeberseitige Kündigung. menhang, der Bezug zu anderen Bereichen. Der Kündi- gungsschutz spielt zwar eine Rolle, aber nicht die zen- In dieser Situation – das ist die Realität – meint nun trale Rolle. Ich glaube, noch andere Dinge sind da die FDP, dass es am Besten für die Beschäftigten sei, wichtig. Deswegen werden Sie hierzu nicht die Zustim- wenn der Kündigungsschutz weiter abgebaut wird. Was mung der CDU/CSU finden. Wenn Sie über Wartezeiten soll eigentlich der Ingenieur bei Siemens, die Sachbear- nachdenken, besteht zum Beispiel die Frage: Warum se- beiterin bei der Allianz, der Elektrotechniker bei der hen Sie vier Jahre und nicht drei oder fünf Jahre vor? AEG, die Telefonistin im Callcenter der Telekom, was Warum wollen Sie beim Schwellenwert von zehn auf sollen diese Menschen von einer solchen Politik halten? 20 und nicht auf 50 Arbeitnehmer gehen? Diese Menschen haben Angst, Angst davor, morgen auf der Straße zu stehen, und die FDP sagt ihnen: Wir möch- (Dirk Niebel [FDP]: Wir wollten es Ihnen nur ten den Unternehmen Entlassungen noch leichter ma- leichter machen! – Weitere Zurufe von der chen. Sie behauptet dann auch noch, dadurch würden FDP) mehr Menschen eingestellt. Das alles sind Fragen, über die man einmal reden muss. (Sevim Dagdelen [DIE LINKE]: Pfui!) So wie Sie diese Dinge vorsehen, sind sie nicht stimmig. Das ist schlicht und ergreifend grotesk. Lassen Sie mich zum Ende festhalten, dass wir in der (Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben, bei Neuein- Man kann nur entlassen, wenn man vorher je- stellungen eine Wartezeit von bis zu zwei Jahren bis zur manden beschäftigt hat!) Begründung des Arbeitsverhältnisses festzulegen. Wir wissen, dass in der Wirtschaft eher das Interesse vorhan- Das ist blanker Zynismus. Dann wundern wir uns an den ist, bei befristeten Arbeitsverhältnissen zu bleiben. Wahlsonntagabenden gemeinsam, warum immer weni- Darüber muss geredet werden. Möglicherweise kommt ger Menschen zur Wahl gehen. Wer die Sorgen der Men- man, wenn man sich dazu entscheidet, zu der einen oder schen so missachtet, wie es die FDP mit diesem Antrag anderen kleinen Regelung. tut, der das Ziel hat, das „Hire and Fire“ zu erleichtern, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5173

Werner Dreibus (A) der leistet der Abkehr der Menschen von der Demokratie genannten Reformen des Kündigungsschutzes haben (C) und den demokratischen Parteien wissentlich oder un- nicht zu einem zusätzlichen Arbeitsplatz geführt. Die wissentlich Vorschub. Hürde ist – entgegen dem, was Sie behauptet haben – nicht niedriger geworden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das verwundert auch nicht – ich schätze Ihre prakti- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sche Erfahrung; deswegen wundert es mich, dass Ihr Kollegen Kolb? Blick in Ihren Reden ideologisch verstellt ist; in der Pra- xis verhalten Sie sich wahrscheinlich ganz anders –, weil Werner Dreibus (DIE LINKE): jeder Unternehmer bestätigen kann: Unternehmer schaf- Aber gern. fen neue Arbeitsplätze, wenn sie Aussicht auf höheren Absatz und auf höhere Gewinne haben, und nicht, wenn Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): sie Beschäftigte leichter rauswerfen können. Herr Kollege Dreibus, damit keine Missverständnisse (Jörg Rohde [FDP]: Unternehmer wollen dau- aufkommen: Auch wir bedauern natürlich, wenn Men- erhaft Gewinne machen!) schen in unserem Lande ihren Arbeitsplatz verlieren, sei es durch Kündigung, sei es durch Konkurs des Unter- Zwischen beiden Sachverhalten besteht doch keine Be- nehmens. Die entscheidende Frage ist doch, ob es für ziehung. diese Menschen eine Chance gibt, erneut in den Arbeits- Die OECD hat mehrfach, in X Studien, herausgestellt, markt zurückzukehren. dass auch ein umfassender Kündigungsschutz kein Be- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Die gibt es!) schäftigungshemmnis ist. Es ist vorhin durchaus schon zu Recht gesagt worden: Der von Ihnen und von der Man muss doch feststellen, dass für bestimmte Perso- Mehrheit des Sachverständigenrates – es ist ja nur die nenkreise, beispielsweise ältere Arbeitnehmer, Men- Mehrheit – aus ideologischen Gründen hergestellte Zu- schen mit einer geringeren Qualifikation, durch das sammenhang zwischen Beschäftigung und Kündigungs- Kündigungsschutzgesetz Eintrittsschwellen errichtet schutz ist wissenschaftlich nicht herleitbar, nicht in worden sind, die zu überwinden einer großen Zahl von Deutschland und auch nicht in Europa. Menschen schwer fällt. Das hat dazu geführt, dass in den letzten Jahrzehnten mit jedem Abflachen der Konjunktur (Beifall bei der LINKEN) der Sockel an Arbeitslosigkeit in Deutschland erneut zu- Lesen Sie die Studien der OECD! (B) genommen hat. Diese Analyse muss man ehrlicherweise (D) vornehmen. Stimmen Sie dieser Auffassung zu? (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist die wissenschaftliche Weltanschauung!) Werner Dreibus (DIE LINKE): – Es gibt auch andere Wissenschaftler. Nein. Auch ein Blick in die Wirklichkeit der Unternehmen (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) ist hilfreich. Herr Dr. Kolb, klar und deutlich: Reden ist das eine; (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Waren Sie Schreiben und Handeln ist das andere. Wenn zum Bei- schon mal da drin?) spiel das, was Sie in Ihrem Einleitungssatz als Bedauern Welche Anforderungen stellen denn Unternehmen an formuliert haben, in die Situationsanalyse Ihres Antrags ihre Beschäftigten? Sie wünschen sich motivierte, krea- eingegangen wäre, dann könnten wir wenigstens über tive und flexible Beschäftigte. Wer Angst um seinen Ar- die Realität reden. Die blenden Sie jedoch in Ihrem An- beitsplatz hat, weil er von heute auf morgen vor die Tür trag völlig aus. gesetzt werden kann, der wird doch nicht motiviert, (Beifall bei der LINKEN) kreativ und flexibel sein. Vielmehr wird er in seiner Leistungsfähigkeit und seiner Motivation massiv einge- Wer tatsächlich Demokratie will – das ist unsere schränkt sein. Das kann nicht im Interesse der Unterneh- feste Überzeugung –, muss dafür sorgen, dass die Demo- men sein. kratie eben nicht am Betriebstor endet. Das erfordert be- triebliche Mitbestimmung und das erfordert ebenso (Beifall bei der LINKEN) Schutz vor Kündigungen. Und es erfordert einen Blick Die Durchsetzung der Rechte von Beschäftigten – die auf den Arbeitsmarkt, der eben nicht von solchen ideolo- Einhaltung von Tarifverträgen, die Einhaltung der Ge- gischen Vorurteilen – wie das eben auch in Ihrer Frage setze über Arbeitszeit usw. – basiert auf einem Kündi- zum Ausdruck kam – verstellt ist. gungsschutz, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient. Was hat denn die Aufweichung des Kündigungsschut- Ohne diesen wären und sind Beschäftigte erpressbar. zes in den letzten Jahren gebracht? Was etwa hat die He- Genau auf einen solchen Zustand laufen Ihre Vorschläge raufsetzung des Schwellenwertes auf zehn Beschäftigte hinaus. Ihr so genanntes Vertragsoptionsmodell sugge- und die Einschränkung der Sozialauswahl, was hat die riert, dass die Beschäftigen bei Vertragsabschluss zwi- Möglichkeit für Existenzgründer zur grundlosen Befris- schen gesetzlichem Kündigungsschutz, Abfindungszah- tung von Arbeitsverträgen tatsächlich bewirkt? Die so lungen und Weiterbildungsangeboten wählen könnten. 5174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Werner Dreibus (A) Zu einer Wahl aber gehören tatsächlich gleichwertige nen Sie – ich spreche die FDP und die Koalition glei- (C) Optionen und das Agieren auf Augenhöhe. Ein betriebli- chermaßen an –, auf besondere Schutzvorschriften für ches Weiterbildungsangebot beispielsweise kann nie- Kranke und Ältere auf dem Arbeitsmarkt verzichten zu mals auch nur eine ähnliche Sicherheit bieten wie der können. Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen. Die Be- hauptung, Arbeitnehmer und Arbeitgeber seien gleich- Dieser Zustand der Rechtsfreiheit von Millionen Be- berechtigte Vertragspartner, ist bei 7 Millionen fehlen- schäftigten muss aus unserer Sicht beendet werden. Des- den Arbeitsplätzen pure Ideologie. halb fordern wir unter anderem die Aufhebung des Schwellenwerts, die Verbesserung des Kündigungs- (Beifall bei der LINKEN) schutzes für Ältere und Kranke und die Reduzierung Die Begründung Ihres Antrages ist irreführend. Die der Wartezeit auf drei Monate; das ist ein Zeitraum, der Beschäftigten gewinnen eben nicht an Selbstbestim- nach aller betrieblichen Erfahrung für die Erprobung ei- mung hinzu, wenn der Kündigungsschutz geschliffen nes Arbeitsverhältnisses vollkommen ausreichend ist. wird. Stattdessen würden sie mit den gesetzlich garan- Selbstverständlich sind weitere Maßnahmen notwendig, tierten Rechten den Rückhalt für selbstbestimmtes Han- um die Unsicherheit, die am Arbeitsmarkt herrscht, zu- deln verlieren. Allein die gesetzliche Einschränkung der rückzudrängen. unternehmerischen Freiheit ermöglicht die Freiheit der Die Regierung Kohl und die Regierung Schröder ha- Beschäftigten. Der Antrag der FDP konterkariert diesen ben viel dafür getan, das Leben vieler Millionen Arbeit- Zusammenhang: Wer den Kündigungsschutz ein- nehmerinnen und Arbeitnehmer unsicherer zu machen. schränkt, schränkt die Möglichkeiten von Arbeitneh- Die so genannten Arbeitsmarktreformen haben die Ar- merinnen und Arbeitnehmern ein, ihre Interessen wahr- beitslosigkeit nicht reduziert. Sie bedrohen aber die Zu- zunehmen. Das ist nicht mehr, sondern weniger kunftsperspektive von immer mehr Beschäftigten. Wer Demokratie. zu Hungerlöhnen arbeitet, wer vom Mini- in den 1-Euro- Die Linke will mehr Demokratie. Das bedeutet an Job und wieder zurückwechselt, wer aus einem unbefris- dieser Stelle konkret: Wir brauchen tendenziell eher eine teten Beschäftigungsverhältnis entlassen wird, um als Ausweitung des Kündigungsschutzes. Das betrifft vor Leiharbeitskraft am selben Arbeitsplatz mit weniger allem den Geltungsbereich. Die Dauer des Beschäfti- Lohn und ungewisser Beschäftigungsdauer wieder ein- gungsverhältnisses und die Zahl der in einem Betrieb gestellt zu werden – all das ist Realität; all das haben wir notwendigerweise beschäftigten Menschen, ab der der mittlerweile –, der verliert die Grundlage für eine Le- Kündigungsschutz greift, diskriminieren bereits heute bensplanung, die über den Tag hinausgeht. über 6 Millionen Beschäftigte. Über 6 Millionen Be- (Beifall bei der LINKEN) (B) schäftigte haben keinen gesetzlichen Kündigungsschutz. (D) Die Regierung Merkel führt diese – so sieht es jeden- Das ist in etwa so, als würde man Führerscheinanfän- falls aus – aus unserer Sicht völlig falsche Politik ihrer ger aus dem Geltungsbereich der Straßenverkehrsord- Vorgänger nahtlos fort. Gleichzeitig beklagen die alten nung ausschließen – Drängeln, Schneiden und Vorfahrt- neuen Reformer sonntagabends die Verrohung der Ge- nehmen wären bei Anfängern erlaubt –; die Begründung sellschaft, die geringe Geburtenrate, die Finanzmisere dafür würde lauten: So finden die Fahranfänger leichter der Sozialversicherungen usw. in den Straßenverkehr hinein und die übrigen Verkehrs- teilnehmer können sich flexibler bewegen. Das ist doch Der Arbeitsmarkt ist – darin stimme ich meinem Vor- pure Ideologie! redner durchaus zu – nicht der Generalschlüssel zur Lö- sung dieser Probleme. Sicher aber ist, dass diese Pro- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf bleme nicht so gravierend wären, wenn das Credo der so Brauksiepe [CDU/CSU]: An dem Witz haben genannten Arbeitsmarktreformen nicht im Abbau unbe- Sie aber lange gebastelt!) fristeter, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungs- – Nein, überhaupt nicht. Den habe ich in einem Betrieb verhältnisse liegen würde; denn nichts anderes bedeuten gehört. Da bin ich öfter als Sie. Mini- und Midijobs, Leiharbeit, 1-Euro-Jobs und Co. Dass diese Instrumente zum Abbau der Arbeitslosigkeit Wenn Sie meinen, eine solche Begründung wäre ab- untauglich sind, hat ein unideologischer Blick auf die surd, dann bitte ich Sie, einen Blick in das bestehende Praxis längst erwiesen. Kündigungsschutzgesetz zu werfen. Was verschleiernd als Wartezeit oder Schwellenwert bezeichnet wird, ist Wer heute das Problem der Arbeitslosigkeit ernsthaft nichts anderes als der Ausschluss von Millionen Men- angehen will, muss auch die bereits existierende Be- schen von Schutzregeln mit der Begründung, sie würden schäftigung sicherer machen. Meine Fraktion wird des- dann leichter in den Arbeitsmarkt hineinfinden. halb in den kommenden Monaten weitere Vorschläge zur Zurückdrängung prekärer Beschäftigung – also Be- ( [CDU/CSU]: Deswegen ha- schäftigung, die keine Arbeitsplätze schafft, aber den ben wir auch so eine niedrige Arbeitslosig- Menschen Einkommen und Zukunftsperspektiven keit!) nimmt – vorlegen. Wir werden dabei unter anderem die Ähnliches gilt – auch das ist ein wichtiges Thema – Vorschläge der DGB-Gewerkschaften ernsthaft prüfen, für ältere und kranke Beschäftigte. Während wir diesen die beispielsweise die Verlagerung von Standorten und Menschen im Straßenverkehr – um bei diesem Beispiel Kündigungen trotz gut laufender Geschäfte und Profite zu bleiben – mit besonderer Rücksicht begegnen, mei- einschränken wollen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5175

Werner Dreibus (A) (Beifall bei der LINKEN) nicht, wie viele solche unsinnige Anträge Sie in diesem (C) Haus schon gestellt haben. Bevor jetzt all die Marktradikalen wieder aufschreien, möchte ich einen der erfolgreichsten deutschen Unter- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das machen wir nehmer zitieren, den Porschechef Wiedeking. Er sagte so lange, bis das Problem gelöst ist!) vergangene Woche: Eines ist allen Ihren Anträgen gemeinsam: Die Empirie Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn Konzerne Re- bleibt außen vor. kordgewinne melden und zugleich ankündigen, dass sie Tausende von Arbeitsplätzen streichen … (Heiterkeit bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Alle Untersuchungen der OECD oder wissenschaftlicher Kolb [FDP]: Dann müsst ihr jetzt alle Porsche Institute im In- und Ausland belegen hinlänglich, dass fahren!) ein Abbau der Schutzrechte von Arbeitnehmern die Be- schäftigungslage nicht verbessert. Ich sehe in dieser Entwicklung ein Warnzeichen für die Gesellschaft. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Woher wissen Sie, wie das funktioniert?) Ich schließe mich diesen Worten eines großen, bedeu- tenden und sehr erfolgreichen Unternehmers ausdrück- Wir haben registriert – Herr Kolb, Sie sollten mir zu- lich an. hören –, Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie viele Men- schen haben Sie schon eingestellt?) (Beifall bei der LINKEN) dass Ihre Forderungen bei Ihren Gedankenspielen im Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Hinblick auf eine sozial-liberale Koalition moderater ge- worden sind. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Sie Das Wort hat nun Kollegin Anette Kramme, SPD- von einer vierjährigen Wartezeit und einem Schwellen- Fraktion. wert von 50 Arbeitnehmern sprachen. (Beifall bei der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es geht mir im Moment ein bisschen so, dass ich Probleme Anette Kramme (SPD): habe, wenn ich Ihnen zuhöre!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Aktuell wollen Sie den Schwellenwert von heute zehn (B) Kollegen! Herzlich willkommen zur Märchenstunde von (D) Linken und FDP – auf nur 20 Arbeitnehmer erhöhen. Wenn Sie, meine Da- men und Herren von der FDP, tatsächlich irgendwann (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mit der SPD koalieren wollen, oder sollte ich sagen: vom Möchtegern-Robin-Hood und (Jörg Rohde [FDP]: Ja?) dem Sheriff von Nottingham? müssen Sie sich viel weiter bewegen. Das gilt insbeson- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ dere für Sie, Herr Kolb. CSU – Jörg Rohde [FDP]: Wer ist wer?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Beim Märchen handelt es sich um eine relativ kurze Er- Rohde [FDP]: Aber Sie schließen es nicht zählung mit ausgeprägten surrealen Elementen. Das trifft aus?) ohne Wenn und Aber auf die hier vorliegenden Anträge zu. Es war einmal die FDP, diese erzählte allen Men- Bei einer Umsetzung Ihres Vorschlags würden schen, dass sie mit einer Abschaffung des Kündigungs- 90 Prozent der Betriebe nicht mehr dem Kündigungs- schutzes nur dem Wohl der Arbeitnehmer dienen wolle. schutz unterliegen. 28 Prozent bzw. 9 Millionen Be- Tatsächlich war und ist sie – wie schon immer – der schäftigte stünden im Falle einer ungerechtfertigten Wolf im Schafspelz. Kündigung ohne Schutz da. Die Erhöhung des Schwel- lenwertes hat im Übrigen keinerlei Bedeutung für den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeitsmarkt. Ich erinnere an die großen Erwartungen, der CDU/CSU) die damals entstanden, als die Regierung Kohl den Meine Damen und Herren, Sie sind wie eine leiernde Schwellenwert auf zehn heraufgesetzt hat. Schallplatte oder, um es moderner auszudrücken, (Dirk Niebel [FDP]: Sehr kurze Einwirkzeit!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: DVD-Player!) In der Bundestagsdrucksache 13/4612 vom 10. Mai Sie sind wie Spammails. Sie wiederholen sich unendlich 1996 heißt es: und nerven. Es kann davon ausgegangen werden, daß ein Teil (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Betriebe … bei Anhebung des Schwellenwertes neue Einstellungen vornehmen wird. Ihre Sprücheklopferei kann man nicht mehr hören. Es sei der rigide Kündigungsschutz, der Arbeitgeber davon ab- (Dirk Niebel [FDP]: Habt ihr das denn nun halte, Neueinstellungen vorzunehmen. Ich weiß gar wieder eingeführt?) 5176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Anette Kramme (A) Wenn jeder der Betriebe, die gegenwärtig zwischen – Das sehe ich anders. (C) fünf und neun Arbeitnehmer beschäftigen, zusätz- lich nur einen Arbeitnehmer einstellt, ergibt das (Dirk Niebel [FDP]: Das ist Ihr gutes Recht!) eine halbe Million möglicher Neueinstellungen. Politik bedeutet, Vergleiche einzugehen. Vergleiche ein- zugehen, heißt immer gegenseitiges Nachgeben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Politik be- Kollegin Kramme, gestatten Sie eine Zwischenfrage deutet, Lösungen für die Probleme zu finden, des Kollegen Niebel? die die Menschen bewegen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr gut! Jetzt Ich komme auf die heute vorliegenden Anträge und können Sie etwas lernen, Frau Kollegin!) auf die Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 1996 zu- rück, die ich bereits angesprochen habe. Die Rechnung Anette Kramme (SPD): von damals ist nicht aufgegangen. Selbst der Zentralver- Aber selbstverständlich. Herr Niebel erfreut mich im- band des Deutschen Handwerks räumte ein, dass die ent- mer. scheidenden Motive im Hinblick auf das Einstellungs- verhalten – wie könnte es auch anders sein? – die (Zurufe von der FDP: Niebel, jetzt bloß nicht konjunkturelle Lage nervös werden! – Oh, oh!) (Zuruf von der SPD: Ganz genau! So ist das!) Dirk Niebel (FDP): und die Beschäftigungserwartungen sind. Ich glaube, Kollegin Kramme, Sie machen Ihren Koa- (Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD]) litionspartner durch solche Äußerungen außerordentlich nervös. Eine aktuelle Studie der Universität – sie wurde erst gestern veröffentlicht – belegt ebenfalls, dass (Heiterkeit) der Kündigungsschutz bei Neueinstellungen keine große Rolle spielt. Nur drei von 41 Personalverantwort- Anette Kramme (SPD): lichen waren der Meinung, der Kündigungsschutz spiele Das macht nichts. bei Neueinstellungen eine erhebliche Rolle. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Tja! Die haben Dirk Niebel (FDP): wahrscheinlich bei DAX-Unternehmen nach- Sie haben gerade die Anhebung des Schwellenwertes gefragt!) (B) beim Kündigungsschutz auf zehn Arbeitnehmer durch (D) die Bundesregierung Kohl kritisiert, die Sie durch Ihre Trotzdem haben wir den Schwellenwert in der ver- Korrekturgesetze unmittelbar nach dem Regierungsan- gangenen Legislaturperiode – ich sage an dieser Stelle tritt von Rot-Grün im Jahre 1998 rückgängig gemacht ganz klar: aufgrund der Forderung unseres jetzigen Koa- haben. Würden Sie mir zustimmen, dass Sie den glei- litionspartners – auf zehn Arbeitnehmer erhöht. Aller- chen Text fünf Jahre später mit Ihrer rot-grünen Mehr- dings erwarten wir nicht, dass sich daraus erkennbar po- heit exakt wortgleich – Punkt für Punkt und Komma für sitive Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt ergeben. Die Komma – wieder haben Gesetz werden lassen? Evaluierung wird kein anderes Ergebnis bringen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bingo!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach! Das wissen Sie also jetzt schon?) Anette Kramme (SPD): Wir dürfen die Unsicherheiten unserer Zeit nicht ver- Das stimmt, größern. Wer kauft sich ein Haus oder ein Auto, wenn er ständig Angst haben muss, seinen Job zu verlieren? Wie (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: soll sich ein Arbeitnehmer mit seinem Unternehmen Danke!) identifizieren, wenn er nicht weiß, wie lange er dort noch wie Sie wissen, nur zum Teil. Ihnen ist sehr wohl be- arbeitet? kannt, dass die Anhebung des Schwellenwertes von fünf (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Man kann auch auf zehn Arbeitnehmer auf unseren jetzigen Koalitions- durch Pleiten seinen Arbeitsplatz verlieren, partner zurückgeht. Frau Kollegin! Mit Pleiten kennen Sie sich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wurde doch noch doch sonst so gut aus!) unter Rot-Grün gemacht, Frau Kramme!) Zu den Abfindungsoptionen. Auch Ihnen, meine Da- Dem haben wir angesichts des Gesamtpakets, um das es men und Herren von der FDP, dürfte bekannt sein, dass ging, zustimmen müssen. Aber wir wissen – das ist die es keine Vertragsparität zwischen Arbeitgebern und Ar- Position der SPD –, dass das Ganze nichts bringen wird. beitnehmern gibt. Vertragsfreiheit genießt in der Realität nur eine Seite: die Arbeitgeberseite. Für den Arbeitneh- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war aber mer hätte ein Wechsel vom Bestandsschutz zum Abfin- nicht sehr überzeugend! – Dirk Niebel [FDP]: dungsschutz nur eine Folge: den Verlust des Arbeitsplat- Wie bitte? Das geschah doch noch unter Rot- zes, selbst wenn die Kündigung des Arbeitgebers nicht Grün!) sozial gerechtfertigt wäre. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5177

Anette Kramme (A) Auch für den Arbeitgeber wäre die vorgeschlagene Trotz einer Störung des Vertrauensverhältnisses dürfte (C) Regelung von Nachteil, weil eine Abfindung auch dann ein Arbeitgeber seinem einzigen Arbeitnehmer, ginge es gezahlt werden müsste, wenn die Kündigung sozial ge- nach dem Vorschlag der PDS, verhaltensbedingt nur rechtfertigt wäre und der Arbeitnehmer nach geltendem noch dann kündigen, wenn dieser tatsächlich und wahr- Recht gar keinen Abfindungsanspruch hätte. Deshalb haftig den goldenen Löffel klaut. – jetzt sollten Sie aufmerksam sein – beurteilen BDH und ZDH eine solche Regelung sehr kritisch. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, den Arbeitge- bern die Möglichkeit einzuräumen, die gesetzliche Re- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das weiß ich!) gelwartezeit von 6 auf bis zu 24 Monate auszudehnen. Dafür wollen wir die Möglichkeit streichen, Arbeitsver- Eines der Argumente, die in der Diskussion über den träge in den ersten 24 Monaten sachgrundlos zu befris- Kündigungsschutz angeführt werden, ist, dass die Be- ten. Ein letzter Satz: Diese Pläne wurden von den fünf triebe diese Änderung beim Kündigungsschutz dringend Wirtschaftsverbänden BDA, BDI, DIHK, HDE und benötigten, weil sie sich von ihren Arbeitnehmerinnen ZDH gemeinschaftlich abgelehnt. Ich sage ganz klar: und Arbeitnehmern nur mühselig trennen könnten. Von Weiter gehende Änderungen gibt es nicht. Wenn die denjenigen Menschen, die in diesem Lande gekündigt Wirtschaft mit diesen Vorschlägen nicht einverstanden werden, gehen nur etwa 16 Prozent zum Arbeitsgericht. ist, belassen wir es einfach beim Alten. Die SPD braucht Das sind zwar doppelt so viele wie noch 1979. Im glei- keine Änderung des Kündigungsschutzgesetzes. chen Zeitraum stieg allerdings auch die Arbeitslosigkeit rapide an. Von allen Gekündigten bekommen lediglich (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb 15 Prozent eine Abfindung. Unkalkulierbare Risiken [FDP]: Dass ihr damit zufrieden seid, ist mir birgt das Kündigungsschutzgesetz für den Arbeitgeber klar!) also wahrlich nicht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die große Mehrheit der Deutschen steht zum Kündi- Ich erteile das Wort Kollegin Brigitte Pothmer, Frak- gungsschutz: Laut einer repräsentativen Studie der Uni- tion Bündnis 90/Die Grünen. versitäten Jena und Hannover möchten 48 Prozent die bestehenden Regelungen beibehalten. 19 Prozent plädie- ren sogar für eine Ausweitung. Interessant ist dabei, dass Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vor allen Dingen Arbeitslose einen starken Kündigungs- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De- schutz bevorzugen. Die These „Lieber Arbeit ohne Kün- batte über den Kündigungsschutz in Deutschland ist eine digungsschutz als arbeitslos mit Kündigungsschutz!“ hoch ideologisierte Debatte; das zeigen die beiden An- stimmt also nicht. träge, die uns heute vorliegen. Herr Dreibus und Herr (B) Kolb sind Protagonisten dieser Debatte. Sie führen diese (D) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus ideologisierte Debatte, obwohl wir inzwischen wissen Ernst [DIE LINKE]) – Sie selbst, Herr Dreibus, haben in Ihrer Rede darauf hingewiesen und auch im Vorspann Ihres Antrages steht Kommen wir zum anderen Extrem, lassen Sie mich es sehr deutlich –: Der Kündigungsschutz hat keinen ent- noch ein Wort zu den Linken verlieren: Der Unterhal- scheidenden Einfluss darauf, wie viele Leute eingestellt tungswert Ihrer Forderungen mag groß sein, mehr als werden und wie viele Leute entlassen werden. Da fragt blanker Populismus ist das jedoch nicht gewesen. sich doch die geneigte Leserin: Warum trägt diese rich- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der tungweisende Erkenntnis nicht den Forderungsteil Ihres CDU/CSU) Antrages, warum sprechen Sie dort eine andere Sprache? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Den Schwellenwert für den Kündigungsschutz abzu- schaffen, bedeutet, den Grundsatz der Verhältnismäßig- Herr Kolb, noch einmal zu Ihnen: Ich finde es phäno- keit aus den Augen zu verlieren. Ihre Forderung verstößt menal, wie stark eine interessengeleitete Einsichtsbar- gegen das Grundgesetz. Denn durch Art. 12 Grundge- riere wirken kann: Sie sind in der Lage, Studien zu zitie- setz werden nicht nur die Interessen des Arbeitnehmers ren, die haargenau das Gegenteil von dem beschreiben, geschützt, sondern ebenso das Interesse des Kleinunter- was Sie hier behaupten. nehmers, in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu be- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen. Ich SES 90/DIE GRÜNEN) darf an dieser Stelle aus einem Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts von 1998 zitieren: Sie sagen, die Menschen sind blind und erkennen nichts – dabei machen Sie beide Augen zu und auch Auf der anderen Seite ist auch das Kündigungsrecht noch die Hühneraugen! des Kleinunternehmers in hohem Maße schutzwür- dig. In einem Betrieb mit wenigen Arbeitskräften (Zuruf von der CDU/CSU: Woher wollen Sie hängt der Geschäftserfolg mehr als bei Großbetrie- wissen, ob der Kollege Kolb Hühneraugen ben von jedem einzelnen Arbeitnehmer ab. Auf hat?) seine Leistungsfähigkeit kommt es ebenso an wie Das hilft uns in dieser Debatte nicht weiter. auf Persönlichkeitsmerkmale, die für die Zusam- menarbeit, die Außenwirkung und das Betriebs- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- klima von Bedeutung sind. SES 90/DIE GRÜNEN) 5178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Brigitte Pothmer (A) Auch wenn der Kündigungsschutz nicht darüber ent- (Beifall bei der FDP) (C) scheidet, in welchem Umfang eingestellt oder entlassen Das kann gerade nicht im Interesse der Schwächeren am wird, muss man zur Kenntnis nehmen, dass es nicht egal Arbeitsmarkt sein. Deswegen kommt es auf das richtige ist, wie der Kündigungsschutz im Einzelnen ausgestaltet Verhältnis und die richtige Ausgestaltung an. ist. Herr Dreibus, wenn Ihre Forderungen gesellschaftli- che Realität werden, dann führt die Regulierungsdichte Herr Kolb, mit Ihrem Antrag zeigen Sie, dass Sie da- tatsächlich zu einem bürokratischen Quantensprung. Das von noch nie etwas gehört und gesehen haben. Ich will wird allerdings negative Auswirkungen auf Einstellung Ihnen einmal etwas sagen: Auch eine falsche Lockerung und Beschäftigung haben. des Kündigungsschutzes kann genau gegenteilige Wir- kungen haben. Sie stellen dar, dass Sie zur dreimonatigen Probezeit zurück wollen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und Sie wissen, was richtig ist!) (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Wieso „zurück“?) Wenn der Kündigungsschutz in einer Situation hoher Ar- beitslosigkeit, in der wir uns jetzt ja bekanntermaßen be- – Sie wollen die dreimonatige Probezeit. – Das mag für finden, so weit gelockert wird, dass die Beschäftigten, einen Industriearbeitsplatz angemessen sein. Dort kann die daran interessiert sind, ihr Arbeitsverhältnis zu ver- man in drei Monaten vielleicht erkennen, ob Arbeitgeber ändern und zu einer anderen Firma zu gehen, damit rech- und Arbeitnehmer sowie Arbeitsanforderungen und Poten- nen müssen, dass sie eine zweijährige Probezeit haben zial des Arbeitnehmers zusammenpassen. Bei Arbeits- und dass ihr Arbeitsvertrag einer vierjährigen sach- verhältnissen, die ein vielschichtiges Anforderungsprofil grundlosen Befristung unterliegt, dann überlegen sie haben, ist das aber ganz anders. sich das sehr gut. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Richtig!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das überlegen Ich bin der Auffassung, dass dort eine sechsmonatige sie sich auch heute schon!) Probezeit völlig richtig und notwendig wäre. Das heißt, die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt wird geringer. Damit zementieren Sie die Strukturen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre noch zu knapp!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch heute schon so!) Ich frage Sie: Wem dient es, wenn an einem Arbeitsplatz das Potenzial, das eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeit- Das ist zumindest in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, in jeder Hinsicht kontraproduktiv. (B) nehmer mitbringt, und das Anforderungsprofil nicht zu- (D) sammenpassen? Dann kommt es nämlich zu erheblichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schwierigkeiten für beide Seiten. Was spricht also gegen diese Probezeit von sechs Monaten? Wenn Sie sich mit Ihrer Vorstellung durchsetzen, dann sind ungefähr 6 Millionen Menschen auf dem Ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beitsmarkt davon betroffen. Das heißt, diese Menschen Sie wollen weiter, dass über eine Umlagefinanzierung werden sich entsprechend vorsichtig verhalten. Das gilt Abfindungen reguliert werden. Ich kann nicht glauben, übrigens auch beim Konsum. Sie produzieren 6 Millio- dass das Ihr persönlicher Ernst ist, Herr Dreibus. Dafür nen Angstsparer, Herr Kolb. halte ich Sie für viel zu vernünftig und zu gescheit. Wie (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Sparquote soll das denn funktionieren? Ein fehlerhaftes Verhalten ist unter Rot-Grün dramatisch gestiegen, Frau einzelner Arbeitgeber sollen andere Arbeitgeber ausba- Pothmer! Das Geld ist längst gehortet!) den. Wie soll diese Umlage denn gestaltet werden? Wer soll für wen wie viel einzahlen? Ich kann Ihnen sagen: Ich kann Ihnen sagen: Das hat auch Auswirkungen auf „Umlageverfahren“ klingt immer schön einfach und die Konjunktur in diesem Land. Herr Kolb, solche Rege- nach Solidarität. Die Umsetzung bedeutet aber einen lungen haben auch in anderer Weise Wirkungen auf die hochgradig bürokratischen Akt, der sehr viele Ungerech- Entscheidungen der Menschen. tigkeiten in sich birgt. Deswegen ist das falsch. Wir führen hier endlose und wortreiche Debatten über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – die Frage, wie wir junge Paare davon überzeugen kön- Jörg Rohde [FDP]: Sehr berechtigter Ein- nen, Kinder in die Welt zu setzen, also Kinder in ihre Zu- wand!) kunftsplanung mit einzubeziehen. Kinder brauchen Ver- lässlichkeit. Kinder brauchen ein Stück Sicherheit. Wenn Die Ausgestaltung des Kündigungsschutzes hat Aus- aber der Kündigungsschutz so ausgestaltet wird, wie Sie wirkungen auf die Struktur der Beschäftigten. das wollen, dann wird das auch Rückflüsse auf solche (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auch wahr!) gesellschaftlichen Fragen haben. Jedenfalls wird mit dem, was Sie vorschlagen, die Dynamik auf dem Ar- Wenn der Kündigungsschutz zu weitgehend ist und Ar- beitsmarkt nicht zu-, sondern eher abnehmen. beitsverhältnisse gewissermaßen zubetoniert werden, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dann hat das tatsächlich die Wirkung, dass die Arbeitge- ber auf noch mehr Zeitarbeitsverträge und auf Leiharbeit Ihre Einäugigkeit, Herr Kolb, bei Vergleichen mit an- ausweichen. deren Ländern ist uns inzwischen vertraut. Sie bringen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5179

Brigitte Pothmer (A) als Beispiel Dänemark und erklären, dass dort alles bes- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) ser ist, weil es dort so gut wie keinen Kündigungsschutz Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/ gibt. Sie sehen aber nicht die andere Seite der Medaille, CSU-Fraktion. Herr Kolb: In Dänemark ist nämlich die Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit extrem hoch. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das weiß ich Paul Lehrieder (CDU/CSU): doch!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Schluss mit dem Flirten! Die FDP hat sich in den Wo ist denn der Antrag, Herr Kolb, in dem auch das ein- letzten Wochen unserem in fester Partnerschaft lebenden mal eingefordert wird? In den Niederlanden gibt es ei- Koalitionspartner angenähert. Diese Flirtversuche sind nen sehr viel höheren Kündigungsschutz. Das führt dann zwischenzeitlich offensichtlich gescheitert. aber auch dazu, Herr Dreibus, dass dort die Zahl von Zeitarbeitsverhältnissen sehr hoch ist. Zusammenge- (Dirk Niebel [FDP]: Sind Sie eifersüchtig?) nommen zeigt dies, dass es vernünftig ist – ich finde, das Mit Blick auf die Linkspartei muss ich sagen: Mit den ist in Deutschland inzwischen der Fall –, den Kündi- beiden heutigen Anträgen hat sie gezeigt, dass sie als gungsschutz und die Bedingungen für Leiharbeit zwi- Partnerin für Sie denkbar ungeeignet ist. Auch da wird schen Flexibilität und Sicherheit ausgewogen zu gestal- nichts passieren. ten. Wenn ich den linken und den rechten Rand des Ple- Wissen Sie, was ich glaube? Wirklicher Handlungs- nums so vor mir sehe bedarf besteht nicht so sehr im Kündigungsschutz, son- dern wirklicher Handlungsbedarf besteht beim Arbeits- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ recht. DIE GRÜNEN]: Der rechte Rand?) – der rechte Rand ist für mich jetzt die FDP –, dann bin (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Kündi- ich froh, dass wir mit dem, was dort ausgebrütet worden gungsschutz ist Teil des Arbeitsrechts!) ist, nicht werden leben müssen. Das Arbeitsrecht in Deutschland ist so schlank, dass es (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorsicht! Das in der Auslegung zum Richterrecht wird. Das verursacht kann man missdeuten!) Probleme. Es lohnt, sich damit auseinander zu setzen. Ich verspreche Ihnen hier schon einmal, dass wir das tun Davor bewahrt uns Gott sei Dank ein gesunder Mittel- werden. weg, den wir als große Koalition mit Augenmaß be- (B) schreiten wollen. Vielleicht hat der breite Block in der (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mitte des Plenums nicht nur einen optischen, sondern tatsächlich auch einen ganz praktischen Effekt. Frau Noch ein paar Worte zur großen Koalition. Es ist Pothmer, ich möchte Sie ausdrücklich einbeziehen, falsch, sich in der Arbeitsmarktpolitik auf die Debatte um wenngleich mir die letzten Ausführungen Ihrer Rede den Kündigungsschutz zu konzentrieren. Andere Themen nicht sonderlich gefallen haben. sind viel wichtiger, zum Beispiel die hohe Belastung von kleinen Einkommen, mangelnde Investitionen in Weiter- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bildung und lebenslanges Lernen, Lohndumping, Unter- NEN]: Das liegt nicht an mir! Das liegt an bietungskonkurrenz zulasten von Beschäftigten und die Herrn Pofalla!) bessere Förderung von Langzeitarbeitslosen. Genau Aber in vielen Bereichen sind Sie arbeitsmarktpolitisch diese Projekte stehen jetzt an. Damit könnte man wirk- nicht auf dem Holzweg. lich für mehr Beschäftigung sorgen. Wenn sich die Kollegen von der Linkspartei und der Stattdessen gab es bei der großen Koalition unter FDP die Mühe gemacht hätten, ihre Anträge einmal vom Führung des CDU-Generalsekretärs, den ich jetzt gerade jeweils anderen gegenlesen zu lassen, dann wären hier nicht sehe – ist er fahnenflüchtig? –, Tumulte zu befürchten. Spätestens jetzt wird jeder mer- ken, was für ein unverträgliches Gemisch die beiden An- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Er träge zum Tagesordnungspunkt Kündigungsschutz dar- ist bei seiner Arbeit!) stellen. Insofern wundert es mich nicht mehr, dass die FDP aus der Opposition raus will. Die Gemeinsamkeiten ein Jahr lang ein einziges Hin und Her in Sachen Kündi- der Oppositionsparteien beschränken sich darauf, dass gungsschutz. Ein solcher Murkskurs sucht wirklich sei- keiner von beiden regiert. nesgleichen. Auch Sie in der CDU/CSU-Fraktion sehen dieses arbeitsmarktpolitische Fiasko und feixen darüber. So gut wie nichts ist in beiden Anträgen deckungs- Gut ist, dass sich der Generalsekretär nicht durchsetzen gleich: Während die Linkspartei keinen belegbaren Zu- konnte. Gut ist das vor allem für die Beschäftigten in un- sammenhang zwischen Kündigungsschutz und Beschäf- serem Lande. tigungsentwicklung sieht, ist er laut FDP für die hohe Arbeitslosigkeit mit verantwortlich. Ich danke Ihnen. Die Linken wollen die Schwelle, ab der das Kündi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gungsschutzgesetz gilt, von jetzt sechs auf drei Monate 5180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Paul Lehrieder (A) senken. Auf Wunsch der FDP soll es erst nach zweijähri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) ger Betriebszugehörigkeit anwendbar sein, als ob nicht der SPD) schon heute eine entsprechende Befristung möglich wäre. Was die Bundesregierung sicherlich nicht umsetzen wird, ist das, was die Linkspartei unter den Punkten 5 Ähnlich radikal gehen die Meinungen bei den sach- und 6 auf ihrem Wunschzettel fordert: Wir werden die grundlosen Befristungen auseinander. Die FDP will sie Sozialauswahl nicht um Kriterien wie Arbeitsmarktchan- bis zu vier Jahren ermöglichen, die Linkspartei sie ganz cen oder Mobilitätseinschränkungen erweitern. Welches abschaffen. Unternehmen soll das wasserdicht überprüfen? Unter solchen Bedingungen würden betriebsbedingte Kündi- Dasselbe Bild bietet sich beim Kündigungsschutz: gungen nachhaltig erschwert. Eine weitere Zunahme der Die FDP will die Zahl der Beschäftigten in einem Klagen vor den Arbeitsgerichten wäre zwangsläufig die Betrieb, ab der der Kündigungsschutz eintritt, von zehn Folge. auf 20 erhöhen; Gänzlich widersinnig ist ein anderer linker Wunsch: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich finde es gut, Die Linkspartei fordert, die Möglichkeit, Betriebsverein- dass Sie das noch einmal so erklären, Herr barungen zur Sozialauswahl und Namenslisten zu den zu Lehrieder!) Kündigenden abzuschließen, zu streichen. Der individu- die Linken wünschen dem Schwellenwert eine Beerdi- elle Rechtsschutz würde dadurch unzulässig einge- gung erster Klasse. Aus unserer Sicht macht die Grenze schränkt. von zehn Beschäftigten schon deshalb Sinn, weil wir Liebe Kollegen, Ihre Möchtegern-Bündnispartner von kleinen und mittleren Betrieben entgegenkommen müs- den Gewerkschaften werden sich für diesen Tritt vor das sen. Schienbein bedanken und es sicherlich nicht gerne se- Wenn es nach den Linken ginge, würden ordentliche hen, wenn die Rechte der Betriebsräte auf diese Art be- Kündigungen für Arbeitnehmer ab 55 Jahren und einer schnitten werden. Das müssten Sie aufgrund Ihres beruf- Betriebszugehörigkeit von mehr als zehn Jahren völlig lichen Hintergrundes sehr wohl wissen, Herr Dreibus. ausgeschlossen. Ihr Oppositionspartner sieht das etwas Sie können zwar gerne sozusagen als Trotzpflaster ein anders: Die Liberalen wollen das Lebensalter als Krite- Verbandsklagerecht fordern; im AGG haben wir das aber rium für die Sozialauswahl streichen, wenn es um glücklicherweise gerade noch abwenden können. betriebsbedingte Kündigungen geht, weil es die Einstel- Beim Kündigungsschutz kann die Opposition keine lungschancen älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeits- tragfähige Alternative bieten. Die Liberalen würden den markt erschwere. (B) Kündigungsschutz wohl am liebsten ganz abschaffen (D) Wie die Einstellungschancen verbessert werden sol- und den Arbeitsmarkt mit seinen schwächsten Gliedern len und was sie als Alternative zu bieten haben, sagen dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Das Ergebnis die Liberalen allerdings nicht. Was aber ein Liberaler wäre ein Marktfundamentalismus ohne soziale Rahmen- – Sie, Herr Niebel – in der vergangenen Wahlperiode ge- bedingungen. sagt hat, als es schon einmal um einen FDP-Antrag zum Kündigungsschutz ging, gibt allerdings zu denken. In (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ der Debatte am 3. April 2003 wurde gesagt: DIE GRÜNEN]: So sind sie!) Denn wir sind durchaus der Überzeugung, dass Ar- Die Linkspartei lädt den Kündigungsschutz ideolo- beitgeber eine soziale Verpflichtung gegenüber ih- gisch auf und stellt ihn auf einen Sockel aus falschen Si- ren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben. Wir cherheiten. wollen nur die jetzige Situation beenden, in der oft- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und ihr macht mals die Luschen bleiben können und die Leis- nichts!) tungsträger gehen müssen. Sie will den Status quo einmauern und Stellschrauben, (Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt!) die helfen würden, auf Veränderungen am Arbeitsmarkt Damals hat Herr Niebel noch für das Lebensalter als flexibel zu reagieren, gleich mit einbetonieren. Kriterium der Sozialauswahl plädiert, das in dem aktuel- Ihr Kündigungsschutz, liebe Kollegen von der Links- len Antrag bezeichnenderweise gestrichen werden soll. fraktion, ist nicht mehr als Besitzstandswahrung für Ar- Ein Schelm ist, wer Schlechtes denkt und als Luschen äl- beitsplatzbesitzer. Sie wird den Arbeitslosen dieser Re- tere Mitarbeiter gemeint sieht. publik nichts bringen. (Dirk Niebel [FDP]: Das ist eine bösartige Un- Für so viele überzogene Forderungen entschädigt der terstellung! Die nehmen Sie zurück!) Blick auf die große Koalition. Die Initiative „50 plus“, die Bundesarbeitsminister (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen beim Müntefering kürzlich vorgestellt hat, geht schon sehr BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich viel weiter als der FDP-Antrag. Darin sind übrigens auch L. Kolb [FDP]: So viel Stillstand war nie!) Befristungsregelungen ab dem 52. Lebensjahr vorgese- hen. Die Regierung hat längst etwas getan, was die libe- Anders als unsere Opposition wollen wir die Sozialsys- ralen Kollegen unter Punkt 1 ihres Antrages fordern. teme nicht zerstören Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5181

Paul Lehrieder (A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gesetzlichen Barrieren, die einen Arbeitgeber heute noch (C) NEN]: Sie haben doch ständig die Grünen im davon abhalten, neue Jobs zu schaffen, müssen abge- Blick!) schafft oder minimiert werden. Das ist unsere Aufgabe im Deutschen Bundestag. – ja, die Grünen sitzen in der Mitte; ich habe Sie deshalb eben zum Teil mit angesprochen, Frau Pothmer –, son- (Beifall bei der FDP) dern sie den Realitäten anpassen. Das Kündigungsschutzrecht ist nur eines von vielen Es gilt, einen verfassungsgemäßen Interessenaus- Beispielen, die zeigen, wie sich Gesetze gegen die Inte- gleich zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmer- ressen der Beschäftigten – genauer gesagt: der Nichtbe- seite zu gewährleisten. Wir sollten nicht darüber streiten, schäftigten – gewendet haben. Durch den Kündigungs- ob, sondern wie wir Kündigungsschutz wollen, schutz werden Arbeitgeber, die Zweifel haben, ob poten- zielle Stellen dauerhaft geschaffen werden können, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja sicher!) davon abgehalten, neue Jobs zu schaffen. Mit dem damit zum einen die Menschen geschützt werden und besonderen Kündigungsschutz für Behinderte werden zum anderen das nötige Maß an Flexibilität gewährt ebenfalls Barrieren für die Betroffenen auf dem ersten wird. Arbeitsmarkt erzeugt. Mit dem Allgemeinen Gleichbe- handlungsgesetz sind vor einigen Wochen die Chancen Zusammen mit der SPD behalten wir das Machbare für Behinderte, den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt im Auge. Gemeinsam werden wir in Ruhe ausloten, wel- zu schaffen, deutlich gesunken. Wenn nun zur ersten che Änderungen wann und wie möglich sind. Barriere eine zweite Barriere hinzukommt, dann dürfen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit anderen wir uns in Deutschland nicht wundern, wenn sich die Ar- Worten, es passiert nichts!) beitslosigkeit bei den Schwerbehinderten weiter negativ entwickelt. Hier müssen wir umsteuern. Nur so können wir größtmögliche Rechtssicherheit schaffen und Transparenz gewährleisten. Es wird nicht (Beifall bei der FDP) einfach, aber der Schlüssel liegt bei uns Politikern. Wir Ich habe als behindertenpolitischer Sprecher der müssen den Menschen erklären, warum und welche Än- FDP-Fraktion diese Forderung auch bei Behindertenver- derungen beim Kündigungsschutz und welche Arbeits- bänden offen angesprochen. Dort ist man zwar reser- marktreformen notwendig sind und wie man die Solida- viert, aber auch bereit, über dieses heiße Thema offen zu rität zusammen mit der Flexibilität erhalten kann. diskutieren; denn wenn die Wirtschaft auf einen nach- Ich habe zwar noch fast zwei Minuten Redezeit. haltigen Pakt zugunsten der Integration von Menschen (B) Diese Zeit schenke ich aber dem Plenum. Ich habe auf mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt einginge, (D) eine Zwischenfrage der FDP gewartet. Leider ist sie dann könnte man im Gegenzug den Kündigungsschutz nicht gekommen. für Schwerbehinderte lockern. Das ist ein schönes Betä- tigungsfeld für die Beauftragte der Bundesregierung für Ich bedanke mich und wünsche Ihnen noch eine gute die Belange behinderter Menschen; das könnte man Diskussion. doch einmal ausloten. Wir müssen gemeinsam die Bar- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und rieren für mehr Beschäftigung in Deutschland abbauen. der SPD) Mit dem uns heute vorliegenden Antrag der Links- fraktion auf Ausweitung des Kündigungsschutzes sollen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: aber viele neue Beschäftigungsbarrieren errichtet wer- Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Rohde, FDP-Frak- den. Dieser Antrag geht in die völlig falsche Richtung. tion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Bevor ich aber auf einzelne Punkte dieses Antrags ein- gehe, möchte ich festhalten, dass wir zumindest beim Jörg Rohde (FDP): ersten Satz des Antrages der Linksfraktion übereinstim- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! men: Herr Lehrieder, es hätte mich eher verwundert, wenn Sie Gemeinsamkeiten zwischen dem Antrag der FDP und Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit ist das drän- dem der Linken gefunden hätten. Ich denke, der Links- gendste innenpolitische Problem in Deutschland. fraktion geht es genauso wie mir. Ich denke, dass wir (Beifall bei der FDP) alle über die Fraktionsgrenzen hinweg das Ziel im Auge haben, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen sowie Aus Sicht der FDP ist dies aber auch der einzige Satz in Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu för- dem Antrag der Linksfraktion, mit welchem wir überein- dern. stimmen. Sie haben mit Ihren Forderungen ausschließ- lich die Arbeitsplatzbesitzer im Blick. Die Arbeitslosen (Beifall bei der FDP) bleiben bei Ihnen durch die Erhöhung der Barrieren für Wenn wir die Beschäftigung in Deutschland fördern und die Schaffung von Jobs auf der Strecke. Hier schließe ich Arbeitslosen zu einem Arbeitsplatz verhelfen wollen, mich Herrn Meckelburg und Herrn Lehrieder an. Libe- dann müssen wir für Arbeitgeber und Unternehmer fle- rale Politik dagegen berücksichtigt beide Gruppen: Be- xible und moderne Rahmenbedingungen schaffen. Alle schäftigte und Jobsuchende. 5182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Jörg Rohde (A) (Beifall bei der FDP) Jobs. Ich habe mehrere Beispiele aus verschiedenen (C) Branchen. Sie haben es überspitzt dargestellt. Wir wol- Herr Dreibus und Frau Pothmer, Sie müssen Ihren len nicht gar keinen Kündigungsschutz, sondern wir Blickwinkel einmal um 180 Grad drehen. Wenn wir ei- brauchen flexiblere Regelungen, wie sie zum Beispiel nen echten flexiblen Arbeitsmarkt hätten, dann müssten im Antrag der FDP gefordert werden. sich Beschäftigte keine Sorgen um eine Kündigung ma- chen, weil sie wüssten, dass sie wieder eine Chance auf (Beifall bei der FDP) einen neuen Job haben. So wird ein Schuh daraus. Gerade als ehemaliger Betriebsrat setze ich mich für (Beifall bei der FDP – Brigitte Pothmer einen flexiblen Arbeitsmarkt ein. Die FDP ist eben die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei fünf Mil- echte Arbeitnehmerpartei. lionen Arbeitslosen!) (Beifall bei der FDP – Lachen bei der CDU/ Während meiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Betriebsrat CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE habe ich fast zwölf Jahre mit vielen Arbeitnehmern und GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Dass Chefs gesprochen. Auch als ehrenamtlicher Politiker Sie da nicht rot werden, Herr Rohde!) und nun als Abgeordneter habe ich mich in dieser Zeit mit Entscheidern und Betriebsräten beraten. Herr Wir wissen alle, dass wir in Deutschland ein Problem bei Dreibus, auch liberale Politiker haben das Ohr in den der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer haben. Das Le- Betrieben. Wir reden mit allen Beteiligten. bensalter hat Einfluss auf die Gestaltung der Sozialpläne (Beifall bei der FDP) und daher finden ältere Arbeitslose kaum einen neuen Job. Die Initiative „50 plus“ von Herrn Müntefering be- kämpft hier übrigens nur die Symptome, aber nicht die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ursachen. Würden wir als Bundestag dem Antrag der Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Linken zum Beispiel bei der Ausweitung des Kündi- gen Schaaf? gungsschutzes für ältere Arbeitnehmer in Punkt 3 fol- gen, so hätten schon 45-Jährige ein Problem, einen Jörg Rohde (FDP): neuen Job zu finden. Bei der Forderung in Ihrem Ja, bitte. Punkt 8, ein Umlagesystem für Abfindungsansprüche in kleinen und mittleren Unternehmen einzurichten, sträu- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ben sich mir sogar die Nackenhaare. Sie erfinden ein neues bürokratisches Monster, welches kleine und mitt- Bitte schön, Herr Schaaf. lere Unternehmen finanziell belastet, und viele schwa- (B) che Firmen werden zur sofortigen Aufgabe ermuntert. (D) Anton Schaaf (SPD): Eine Rückfrage, liebe Linke: Wie lange müsste ich denn Herr Kollege Rohde, stimmen Sie mit mir überein, als Unternehmer in welcher Höhe in das Umlagesystem dass dann, wenn Ihre Theorie, dass weniger Kündi- einzahlen, damit ich das Recht habe, einem langjährigen gungsschutz und weniger Schutzrechte für Arbeitnehme- Mitarbeiter zu kündigen und diesem zu einer Abfindung rinnen und Arbeitnehmer mehr Arbeitsplätze schafften, zu verhelfen? Ihr Vorschlag ist weder praktikabel noch stimmte, gar kein Kündigungsschutz unter Umständen finanzierbar. Wer befristete Arbeitsverhältnisse nicht er- zu Vollbeschäftigung führen müsste? Das heißt, wie viel lauben will, der hat auch keine Chance, dass wenigstens weniger Rechte brauchen die Menschen, damit tatsäch- solche Jobs entstehen. lich mehr Arbeitsplätze geschaffen werden? Wenn Sie diese Theorie tatsächlich aufrechterhalten wollen: Auf Es wird Sie ebenfalls nicht überraschen, dass die Li- welche Daten berufen Sie sich bei dieser Theorie? Mir beralen das Verbandsklagerecht für Gewerkschaften wird überhaupt nicht klar, woher Sie Ihre Erkenntnisse ablehnen. Wenn die Sozialauswahl um die von Ihnen ge- nehmen; denn alle unsere Erkenntnisse, auch die aus forderten Kriterien erweitert wird, dann wird es etliche dem europäischen Ausland, besagen, dass weniger Unternehmensteile geben, die nicht mehr saniert, son- Schutzrechte nicht mehr Arbeit schaffen. Sagen Sie uns dern sofort aufgelöst werden. Wenn die Leistungsträger in diesem Hohen Hause bitte, woher Sie Ihre Erkennt- der Firma auf die Straße gesetzt werden, dann kann der nisse beziehen. Chef den Laden auch gleich zusperren. Das kann doch nicht wirklich Ziel Ihrer Politik sein. In Deutschland (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Brigitte brauchen wir, wie es auch der Sachverständigenrat ge- Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fordert hat, ein Vertragsoptionsmodell. Vo r sc h l äg e ist ein Gefühl!) dazu haben wir vorgelegt.

Jörg Rohde (FDP): Ich empfehle daher der Bundesregierung und den bei- Herr Schaaf, ich bin Ihnen für die Frage dankbar. den Koalitionsfraktionen, den Antrag der FDP anzuneh- Beim ersten Teil hatte ich schon gehofft, Sie hätten Ein- men und gleichzeitig den Antrag der Linken abzulehnen. sicht in unsere Bemühungen gezeigt. Es gibt wirklich Entfernen Sie Barrieren, damit schnell neue Jobs in Unternehmer, die sagen, bei diesen Schwellenwerten Deutschland entstehen! stelle ich nicht ein, weil der Kündigungsschutz für alle Vielen Dank. Arbeitnehmer greift, wenn ich einen zusätzlichen Ar- beitnehmer einstelle. Deswegen schaffen sie keine neuen (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5183

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: legten und heute diskutierten Anträge verdienen wirklich (C) Ich erteile das Wort Kollegen Frank Spieth, Fraktion nur ein Prädikat: besonders daneben. Die Linke, zu einer Kurzintervention. Während die FDP in gewohnter Manier dem Heuern und Feuern frönt und dabei noch behauptet, sie sei die Frank Spieth (DIE LINKE): wahre Arbeitnehmerpartei, Herr Kollege Rohde, ich habe gehört, dass Sie mit Ih- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) rem Antrag, beim Kündigungsschutzgesetz den Schwel- lenwert zu erhöhen, die Arbeitslosigkeit bekämpfen wol- fordert die Linke, dass einem 56-jährigen Mitarbeiter in len. Kennen Sie die IAB-Panels für Ostdeutschland, die einem Handwerksbetrieb mit zwei Angestellten, der län- auf der Grundlage von SÖSTRA-Studien seit mittler- gere Zeit keine Aufträge hat – dieser Mitarbeiter ist dort weile über zehn Jahren erfasst werden? Wissen Sie, dass schon zehn Jahre tätig, hat sich über den Chef geärgert mit der Anhebung des Schwellenwertes auf 20 Beschäf- und macht deswegen nur noch Dienst nach Vorschrift –, tigte – es werden nicht Vollzeitbeschäftigte, sondern nicht gekündigt werden darf, während einem erst 45-jäh- Köpfe gezählt, also auch Teilzeitbeschäftigte – in Ost- rigen Leistungsträger – er ist in diesem Betrieb drei deutschland der Kündigungsschutz nur noch in 5 Pro- Jahre tätig und rackert für zwei – gekündigt werden zent aller Betriebe überhaupt gelten würde? Das heißt, muss. Dadurch geht der Betrieb endgültig ein. Sechs 95 Prozent aller ostdeutschen Betriebe würden vom Jahre nach der Jahrtausendwende kann das alles doch Kündigungsschutzgesetz nicht mehr betroffen sein. Ist nicht wahr sein. Ihnen das bewusst? Wollen Sie tatsächlich so weit ge- Seien wir also froh, dass in Deutschland Augenmaß hen? herrscht und dass wir mit dem bestehenden und bewähr- (Dr. [DIE LINKE]: Und ten Kündigungsschutz den Bedürfnissen unserer moder- trotzdem höhere Arbeitslosigkeit!) nen und flexiblen Arbeitswelt entsprechen. Das war mein Fazit; ich habe es vorweggenommen. Jetzt komme Jörg Rohde (FDP): ich zu den Anträgen. Herr Kollege, der Kündigungsschutz, den wir hier im Zunächst einmal komme ich auf den FDP-Antrag zu Bundestag besprechen, gilt natürlich für ganz Deutsch- sprechen. Sie verweisen auf den Sachverständigenrat land. Wir wissen, dass in Ostdeutschland ein strukturel- und sagen, die Liberalisierung des Kündigungsschutzes les Problem herrscht. Wir haben schon damals zu Be- sei erforderlich, um die Verfestigung der Arbeitslosig- ginn, als die neuen Bundesländer hinzukamen, andere keit aufzubrechen; dies gelte besonders für Langzeitar- Vorschläge gemacht, zum Beispiel zum Steuerrecht, um beitslose und Geringverdiener. (B) genau diese Situation nicht entstehen zu lassen. Jetzt ha- (D) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sagt nicht ben wir leider die Situation, die wir heute vorfinden. unser, sondern euer Sachverständiger!) Deswegen müssen wir für die gesamte Wirtschaft – das Arbeitsrecht gilt ja für Gesamtdeutschland – die Ge- Wenn das alles so wäre, wie Sie es darstellen! Langzeit- setze, die die FDP vorschlägt, einführen. Dann besteht arbeitslose und Geringverdiener haben doch nicht wegen die Chance, unter anderen Rahmenbedingungen einen des Kündigungsschutzes ein Problem, sondern wegen Wirtschaftsaufschwung in Deutschland zu erreichen. Die ihrer Defizite. Man muss sie erst einmal ordentlich qua- Situation in Ostdeutschland ist verfahren. Wir dürfen uns lifizieren. Warum stecken wir denn so viel Geld in die aber nicht nur regionalen Problemen widmen, sondern Qualifizierung, damit diese Menschen den Wiederein- wir müssen die Probleme für ganz Deutschland anpa- stieg in den Arbeitsmarkt schaffen? Das hat doch mit cken. Kündigungsschutz überhaupt nichts zu tun. Wenn es ei- nen solchen Zusammenhang gäbe, dann hätte man sämt- Vielen Dank. liche älteren Langzeitarbeitslosen schon längst einge- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie wollen den stellt; schließlich ermöglicht dies die Gesetzeslage, Kündigungsschutz in ganz Deutschland ab- Stichwort „ständige Befristung“. schaffen! Das ist der Fakt! – Dr. Dagmar (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, nein, nein! Enkelmann [DIE LINKE]: Ihre Logik stimmt Das ist vorbei! EuGH!) doch nicht!) – Doch, doch, doch! Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: In Ihrem Antrag steht, nötig sei der Übergang vom Ich erteile das Wort Kollegin Doris Barnett, SPD- Bestandsschutz zum Abfindungsprinzip. Die FDP verab- Fraktion. schiedet sich damit ganz offensichtlich vom Kündi- gungsschutz als gesetzlicher Regelung. Sie wollen ein Doris Barnett (SPD): Kündigungsschutzrecht für eine moderne Wirtschafts- ordnung. Wie sieht dieses Recht aus? Es soll entfallen! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Das kann doch alles nicht sein. den beiden Anträgen beschleicht mich wie den Kollegen Lehrieder der Gedanke: Es muss wohl daran liegen, dass Sie wollen ein Vertragsoptionsmodell, das vorsieht, diese beiden Fraktionen am Rande sitzen. Das sage ich, dass beim Vertragsabschluss die Höhe der Abfindung auch wenn ich sie damit – um Gottes willen – nicht als vereinbart wird. Ich stelle mir einmal Folgendes vor: Ein Randerscheinung bezeichnen will. Die von ihnen vorge- Geringverdiener oder ein Langzeitarbeitsloser – diese 5184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Doris Barnett (A) Menschen liegen Ihnen ja am Herzen – versucht, mit ei- Entscheidung des Arbeitgebers bewahrt. Das ist insoweit (C) nem möglichen Arbeitgeber über die Höhe einer Abfin- richtig. Aber bei den einzelnen Forderungen von Ihnen dung zu verhandeln. Ich kann mir das beim besten Wil- muss ich doch einige Fragezeichen setzen. len nicht vorstellen. Offensichtlich glauben Sie, dass der Arbeitssuchende mit seinem Rechtsanwalt kommt und Sie sagen, Motivation und Kreativität der Beschäf- eine Abfindungssumme vereinbart. Was Sie hier vor- tigten seien höher, wenn sie keine Angst hätten. Angst schlagen, das ist doch alles nicht von dieser Welt. ist immer der schlechteste Ratgeber und führt auch im Arbeitsleben nicht zu mehr Leistung. Wenn man den Be- Ganz besonders komisch ist es, dass Sie vorschlagen, schäftigten einen interessanten Arbeitsplatz gibt und ein Arbeitssuchender könne statt einer Abfindung eine wenn man sie fortbildet, dann wird ein Schuh daraus. Weiterbildung vereinbaren. Ich stelle mir jetzt vor: Ein Wir brauchen deswegen nicht unbedingt nur einen bes- Fahrer unseres Fahrdienstes verhandelt dahin gehend, seren Kündigungsschutz, sondern wir brauchen auch dass er, wenn er zwei, drei oder fünf Jahre angestellt gute Betriebsräte und gute Tarifverträge, die absichern. war, eine Ausbildung bekommt, wobei er selbst Inhalt und Kosten der Ausbildung bestimmt; der Arbeitgeber Sie sagen, dass man den Kündigungsschutz unbedingt nickt das alles ab. Das ist blanker Unsinn. braucht, um Rechte durchzusetzen, weil nämlich die Menschen sonst erpressbar sind. Ich erwidere darauf: Um Wissen Sie, was dann geschehen würde? Eigentlich Rechte durchzusetzen, braucht man auch einen vernünf- müssten wir uns über die Umsetzung Ihres Vorschlags tigen Betriebsrat, vernünftige Gesetze – ein gutes Be- freuen, weil die Arbeitsverwaltung dadurch – theore- triebsverfassungsgesetz gehört dazu – und Tarifverträge, tisch – entlastet würde; schließlich ist sie bisher für die die die Arbeitnehmer schützen. Da darf man sich nicht Eingliederung zuständig. Eine solche Änderung wäre leicht herausschleichen können. eine schöne Sache. Ich frage Sie: Warum fordern Sie nicht Ihre Seite, also die Arbeitgeberseite, auf, das ganze Ich sehe, dass meine Redezeit abläuft; deswegen kann Geld in die Qualifizierung vor der Kündigung zu inves- ich nur noch Folgendes sagen: tieren, damit die Angestellten erst gar nicht entlassen werden müssen? Die Linke will zwar vordergründig durch den Kündi- gungsschutz die Arbeitnehmer stärken. Leider behindert (Dirk Niebel [FDP]: Die Arbeitgeberseite ist der aber massiv Neueinstellungen. Sie von der Linken nicht unsere Seite! Unsere Seite sind die Bür- scheinen aber auch einen Systemwechsel zu wollen, ger in unserem Land! Das haben Sie bloß noch nämlich weg von der Interessenvertretung durch Be- nicht verstanden!) triebsräte hin zu einer solchen durch Gewerkschaften, die direkt in Betriebe eingreifen, wie das in Spanien der (B) Dann würde ein Schuh daraus. Aber darüber kann man (D) mit Ihnen offensichtlich überhaupt nicht sprechen. Fall ist. Wenn Sie das wollen, dann würde ich Sie schon auffordern, das dann auch so zu sagen. Ihren Forderungen liegen ein Menschenbild und ein Gesellschaftsbild zugrunde, über die man nur den Kopf Beim Kündigungsschutz geht es um die Art und schütteln kann. Sie wollen die Sperrzeiten so ändern, Weise, in der wir mit den Arbeitnehmern umgehen. Die dass es keine Kettenverträge gibt. An und für sich wol- Arbeitnehmer brauchen ein Mindestmaß an Sicherheit, len Sie aber Kettenverträge; schließlich fordern Sie die um ihre Existenz und möglicherweise eine neue, näm- Möglichkeit von Befristungen ohne sachlichen Grund lich die einer Familie, zu sichern. Sie wollen vorwärts bis zu vier Jahren; in den ersten zwei Jahren soll sowieso kommen und sind bereit – dazu müssen sie auch bereit kein Kündigungsschutz bestehen. Wenn überhaupt, dann sein –, ihre Beschäftigungsfähigkeit durch ständige soll es einen Kündigungsschutz nur für Betriebe ab Weiterbildung zu gewährleisten. Das nützt ihnen, ihrem 20 Arbeitnehmern geben. Aber jetzt kommt es: Die Pro- Preis, aber auch den Arbeitgebern; denn nur hoch quali- rata-temporis-Regelung soll gelten. Wir sprechen also fizierte und motivierte Mitarbeiter bringen die notwen- über eine Grenze von – im schlimmsten Fall – 40 Arbeit- dige Innovation. Beide Seiten sind mit ihren Schicksalen nehmern und da sagen Sie, das sei ein moderner Kündi- eigentlich so ineinander verwoben und voneinander ab- gungsschutz in unserem Staat. hängig, dass nur ein gerechter Ausgleich Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schafft. Deswegen brauchen wir einen (Jan Mücke [FDP]: Aber die Leute haben dann guten Kündigungsschutz. Den haben wir. Den brauchen Arbeit!) wir nicht zu verändern. Hinzu kommt noch: Bei der Vertragsoption verlangen Vielen Dank. Sie, dass es nicht zu einer Sperrzeit kommen soll, wenn man sich auf so etwas einlässt. Damit belasten Sie wie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dirk der die Kasse der Arbeitslosenversicherung, die es näm- Niebel [FDP]: Dass Riesenhuber klatscht, lich tragen muss, wenn die Arbeitnehmer ihr Geld ein- wundert mich!) fach bekommen. Das ist eine Besserstellung, wiederum zulasten Dritter, nämlich hier der Arbeitsverwaltung. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zum Antrag der Linken ist Folgendes zu sagen: Über Das Wort hat nun Kollege Michael Fuchs, CDU/ die eine oder andere Formulierung könnte man sich mit CSU-Fraktion. Ihnen verständigen. So sagen Sie, dass der Kündigungs- schutz vor unbegründeter Entlassung und willkürlicher (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5185

(A) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): SPD darüber, dass wir da ein ganzes Stück vorangekom- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber men sind. Das ist nämlich eine zentrale Aufgabe für uns Herr Kollege Kolb, ich vermisse heute hier eigentlich in diesem Hohen Hause. den rheinland-pfälzischen Dampfplauderer und Kuschel- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kursfahrer Rainer Brüderle. Der Antrag der FDP-Fraktion enthält aus meiner (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er wäre gekom- Sicht – das wird Sie vielleicht nicht überraschen – viele men, wenn der Pofalla gekommen wäre!) sinnvolle Schritte zur Modernisierung des Arbeitsrechts. Es hätte mich sehr gefreut, wenn Sie in dieser Woche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – diesen Termin zur Brautschau tatsächlich durchgeführt Beifall bei der FDP) hätten Über einige Einzelheiten dieses Antrags könnte man (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dirk Niebel auch intensiv nachdenken. Aber – das ist kein Vorwurf [FDP]: Er sitzt wahrscheinlich da, wo Pofalla an die FDP – der Antrag ändert nichts an der Unüber- sitzt!) sichtlichkeit und Kompliziertheit unseres Arbeitsrechts. und Ihren Antrag mitgenommen hätten, um einmal aus- Da müssen wir noch ein ganzes Stück weiterkommen. zuloten, wie groß die Gemeinsamkeiten sind; das kann (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da legen wir man an diesem Antrag sicherlich sehr gut machen. noch nach!) Verehrte Frau Pothmer, der – inzwischen leider ver- Was wir in Deutschland eigentlich brauchen, ist ein storbene – Professor Nipperdey hat sich mit Arbeitsrecht großer Wurf beim Arbeitsrecht. und dieser Materie insgesamt in Deutschland beschäf- tigt. Er hat ein dickes Werk dazu verfasst. Es gibt über (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine große Leis- 90 Gesetze und Verordnungen nur zum Arbeitsrecht. Da tung beginnt mit dem ersten Schritt, Herr kommt kaum noch ein normaler Jurist mit. Man braucht Fuchs!) hoch spezialisierte Fachjuristen; denn das Arbeitsrecht Es gibt in diesem Zusammenhang Gott sei Dank Bemü- ist außerordentlich kompliziert und unübersichtlich. Das hungen, das zu verändern und ein einheitliches Arbeits- ist sicherlich auch einer der Gründe dafür, dass sich Un- vertragsgesetzbuch zu schaffen. ternehmer, vor allem kleinere Unternehmer, schwer da- mit tun, jemanden einzustellen. Das haben wir dann ja (Dirk Niebel [FDP]: Ihr habt doch die große auch in den letzten Tagen, genauer gesagt: gestern, wie- Koalition!) der bestätigt bekommen. In einer Studie des World Eco- (B) Ich halte die Diskussion darüber für ausgesprochen (D) nomic Forum landen wir in puncto Regulierung von wichtig, Herr Kollege Niebel, ob man nicht die über 125 Staaten auf Platz 79, 40 Gesetze, in denen heute das Arbeitsvertragsrecht ein- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) schließlich des Kündigungsschutzrechts verstreut ist, in einem Gesetz zusammenfasst. Das kann ja eigentlich nur beim Kündigungsschutz belegen wir sogar Platz 120. Sinn machen. (Zuruf von der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir brauchen also eine grundlegende Vereinfachung neten der FDP) des Arbeitsrechtes in Deutschland. Die Bertelsmann Stiftung hat eine entsprechende Kom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mission eingesetzt und ein erster Arbeitsentwurf liegt vor. Damit sollten wir uns beschäftigen. Angesichts der Jeder Arbeitgeber sollte Einstellungen und die zusätzli- vielen in den letzten Jahren neu erlassenen Gesetze ist es che Beschäftigung von Mitarbeitern als Chance und sicherlich sinnvoll, hier ein vernünftiges Werk zu schaf- nicht als ein unkalkulierbares Risiko ansehen können. fen. Das könnten wir dann auch gemeinsam in Gang set- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk zen. Niebel [FDP]: Dann machen wir es doch!) Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, dass Es ist, nebenbei gesagt, fast genauso wie im Steuerrecht. es zur Zukunft des Arbeitsrechts in diesem Hohen Hause Wir haben da ja auch mittlerweile die Situation, dass nur immer unterschiedliche Auffassungen gegeben hat und noch Experten mit diesem Steuerrecht überhaupt klar- auch weiterhin geben wird. Die CDU/CSU-Bundestags- kommen. Diese sind dann allerdings in der Lage, die be- fraktion hat in der letzten Legislaturperiode einen Ge- rühmten Nischen zu finden, die wir noch nicht zuge- setzentwurf zur Vereinfachung des Arbeitsrechtes und macht haben. zur Modernisierung des Kündigungsschutzrechtes vorge- legt. Leider – daraus mache ich jetzt auch keinen Hehl – Dank einer verbesserten Auftrags- und Beschäfti- gibt es in der jetzigen Regierungskonstellation und auch gungslage, die wir ja Gott sei Dank gemeinsam geschaf- in den Koalitionsfraktionen hierüber keinen Konsens. fen haben – ich bin sehr froh, jetzt Zahlen mitteilen zu Wir werden entsprechend der Koalitionsvereinbarung können, die gerade eben aus Nürnberg veröffentlicht eine Nachfolgeregelung für die sachgrundlose Befristung worden sind –, haben wir 409 000 Arbeitslose weniger von Arbeitsverträgen mit älteren Arbeitnehmern, die so als vor einem Jahr – ein echter Beschäftigungsaufwuchs! genannte 52er-Regelung, finden müssen. Ich gehe davon Ich freue mich gemeinsam mit unseren Partnern von der aus, dass wir im Zusammenhang mit der Initiative 5186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Michael Fuchs (A) „50 plus“ des Arbeitsministers Müntefering jetzt einen (Dirk Niebel [FDP]: Das kann ich verstehen!) (C) entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen werden, der die Man merkt, dass die Herrschaften noch nie in Betrie- Beschäftigungshemmnisse gerade für ältere Arbeitneh- ben gewesen sind, mer abbaut. Das muss unser Ziel sein. (Lachen bei der LINKEN) Außerdem sollten wir bei dieser Gelegenheit einen auf dem Jobgipfel im Jahr 2005 gemachten Vorschlag schon gar nicht in kleinen Betrieben. Sie, Herr Dreibus, aufgreifen. Da wurde vereinbart, das Verbot aufzuheben, waren vielleicht als Gewerkschaftssekretär der einen ohne sachlichen Grund ehemals befristet Beschäf- IG Metall einmal bei irgendwelchen Betriebsratssemina- tigten ein zweites Mal befristet einzustellen. Ich halte ren. das für sinnvoll. Es handelt sich um diese berühmte Praktikantenregelung. Jemandem, der also einmal ein (Lachen bei der LINKEN) Praktikum in einem Betrieb gemacht hat, eine befristete Aber mit der wirklichen Arbeit haben Sie noch nie etwas Einstellung zu verwehren, halte ich für schlicht unsinnig. zu tun gehabt, sonst könnten Sie so einen Unfug gar Wir werden das hoffentlich gemeinsam angehen. Ich nicht erzählen. denke, da besteht Konsens auf allen Seiten des Hauses. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der FDP – Widerspruch bei der LINKEN) Den Vorschlag der FDP, zwischen wiederholten Einstel- Wenn Sie glauben, den Gewerkschaften ein Ver- lungen nur eine dreimonatige Frist vorzusehen, halte ich bandsklagerecht bei sozial ungerechtfertigter Kündi- für falsch. Hier sollten wir bei sechs Monaten bleiben, gung geben zu müssen, frage ich mich, wer eigentlich wie wir es auf dem Jobgipfel diskutiert haben. Ich halte feststellt, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist: es für sinnvoll, in diese Richtung zu gehen. Bei einer die Gewerkschaften in ihrer völligen Neutralität? Wie Frist von nur drei Monaten ist mir die Gefahr, dass Miss- soll das bitte gehen? Wir schaffen damit ein zusätzliches brauch betrieben wird, einfach zu groß. Richterrecht, davon haben wir in Deutschland wahrlich genug. (Doris Barnett [SPD]: Ohne sachlichen Grund!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, der Vorschlag aus dem Das Arbeitsrecht sollte ein Recht für Arbeit sein und Koalitionsvertrag, anstelle der sachgrundlosen Befris- nicht ein Recht gegen Neueinstellungen. tung eine neue Wartezeitoption einzuführen, hat sich (Beifall des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]) als nicht sinnvoll umsetzbar erwiesen. Unter anderem (B) hätten wir einen Sonderkündigungsschutz während einer Wir schützen oftmals aber diejenigen, die einen Job ha- (D) 24-monatigen Warteoption aufgeben müssen, wenn man ben. Aber noch effektiver schützen wir Arbeitslose da- die sachgrundlosen Befristungen durch eine solche Op- vor, einen zu bekommen. tion hätte ersetzen wollen. Rechtlich gesehen wäre das Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass weder sehr schwierig geworden. Deswegen wird es so etwas unser geltendes Recht noch die vorliegenden Anträge nicht geben. Wir müssen aber trotzdem an die 52er-Re- diesem Ziel endgültig entsprechen und dass wir tiefer gelung für ältere Arbeitnehmer herangehen. In diesem greifende Veränderungen für ein vereinfachtes und Zusammenhang sollten wir auch über den Wegfall des grundlegend modernisiertes Arbeitsrecht brauchen. In Verbots der Wiedereinstellung durch den gleichen Ar- dem Sinne sollten wir vernünftig weiter zusammenarbei- beitgeber diskutieren. ten. Wir werden darauf achten – das halte ich für sehr Vielen Dank. wichtig –, ob und wie betriebliche Bündnisse für Ar- beit im Rahmen der Tarifautonomie genutzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auch das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Die neten der SPD und der FDP) tarifvertragliche Öffnung ist für mich ein wichtiges Fle- xibilisierungsinstrument bei unseren überregulierten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Märkten. Sie funktioniert aber immer noch nicht in allen Ich erteile dem Kollegen Josip Juratovic von der Branchen. Ehrlicherweise muss ich hier Gerhard SPD-Fraktion das Wort. Schröder loben, der in seiner Agenda 2010 gerade diesen Punkt aufgegriffen und gesagt hat, dass wir dann, wenn (Beifall bei der SPD) keine vernünftigen Bündnisse für Arbeit entstehen, über das Gesetz regeln müssen, dass solche Öffnungen er- Josip Juratovic (SPD): möglicht werden. Wir sollten daran herangehen und das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre Ganze völlig emotionslos betrachten. Ich glaube, das wieder kommt der Kündigungsschutz auf die Tagesord- wird die große Koalition auch so tun. nung. Die Mär, der Kündigungsschutz sei ein Beschäfti- (Zuruf von der FDP: Ha, ha!) gungshemmnis, hält sich hartnäckig, besonders in den Reihen der Liberalen. Die Argumente der Liberalen, Meine Damen und Herren, ich habe eigentlich über- warum der Kündigungsschutz aufgeweicht werden haupt keine Lust, etwas zu dem zweiten Antrag, dem der sollte, sind bereits mehrfach widerlegt worden. Ich Linken, zu sagen. werde das Gefühl nicht los, dass der immer wieder bei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5187

Josip Juratovic (A) nahe ideologisch thematisierte Kündigungsschutz nichts Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (C) anderes als Augenwischerei und Rechtfertigung der FDP (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und einzelner Verbände für ihre Konzeptlosigkeit und der CDU/CSU) mangelnde Kreativität ist. Aus meiner Erfahrung sind die Betriebe beschäfti- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gungspolitisch erfolgreich, die in Bildung, Qualifizie- Ich erteile das Wort Kollegen Clemens Bollen, SPD- rung, Innovation und Organisation investieren, und vor Fraktion. allem diejenigen, die ihr Kapital im Betrieb anlegen und nicht in Villen und Yachten. Clemens Bollen (SPD): (Beifall bei der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich erstaunlich, Zu dem Antrag von PDS und Linken stelle ich fest: wie locker ein existenzielles Recht der Arbeitnehmerin- Sie versuchen mit Versprechen, die an der Realität völlig nen und Arbeitnehmer von der FDP-Fraktion zur Dispo- vorbeigehen, Punkte zu sammeln. Ihr vermeintlicher sition gestellt wird. Schutz älterer Arbeitnehmer würde in der Realität das Gegenteil bewirken. (Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlan- gen] [CDU/CSU]: So sind sie!) Dazu ein Beispiel aus der Praxis. Nehmen wir einen Kleinunternehmer mit einem Mitarbeiter, der nach zehn Das, was über Jahrzehnte als Schutz im Rahmen eines Jahren Betriebszugehörigkeit 55 Jahre alt ist, die Hälfte Sozialkonsenses in dieser Gesellschaft erkämpft worden seine Arbeitszeit krankheitsbedingt fehlt und erst mit ist, wird nun umgedeutet als Barriere. Die Menschen, die arbeitslos sind und die nicht für den Abbau der Rechte 65 Jahren in Rente gehen kann: Bei Umsetzung Ihres der Beschäftigten missbraucht werden wollen, und auch Antrages hätten wir nicht eine Beschäftigungssicherung, die Menschen, die Arbeit haben, fragen sich: Wo leben sondern zwei Arbeitslose mehr, nämlich den Arbeitneh- eigentlich die, die da jetzt diskutieren? mer und den Arbeitgeber, da der Kleinunternehmer die Belastung nicht mehr tragen könnte. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen – davon war bereits die Rede; gestern legte das Institut für Öffentli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten che Wirtschaft und Personalwirtschaft der Universität der CDU/CSU und des Abg. Heinz Hamburg die neuesten Ergebnisse einer Untersuchung Lanfermann [FDP]) vor – machen deutlich: Es gibt keinen relevanten Zusam- Es ist in der Tat so, dass das nur jemand fordern kann, menhang zwischen Einstellungsverhalten der Betriebe und Kündigungsschutz. (B) der keine Ahnung von betrieblicher Realität hat oder der (D) die Menschen mit der reinen Lehre beglücken will. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Marcus Allen, ein amerikanischer Soziologe, sagte sehr schön: Manche leiden mehr unter ihren Vorstellungen als Bei der Fülle hochrangiger Gewerkschaftsfunktionäre in unter der Wirklichkeit. Ihren Reihen grenzt es übrigens an ein Wunder, dass sich dieser Unsinn bis zum Antrag entwickeln konnte. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Die Hamburger Forscher haben erneut mit dem Vor- urteil aufgeräumt, dass der Kündigungsschutz Ein- Für uns ist der Kündigungsschutz mehr als nur ein stellungen verhindert. Im Gegenteil: Schon jetzt zeigt ökonomischer Wert oder ein betrieblicher Kostenfaktor. der Arbeitsmarkt in Deutschland eine hohe Fluktuation. Er gibt den Beschäftigten Sicherheit und Planungs- 4 Millionen Menschen wechseln jährlich den Arbeits- möglichkeit. Eine Kündigung ist ein tiefer Eingriff in platz. Man muss sich einmal vorstellen, was diese Mo- das Leben eines Menschen, da der Arbeitsplatz die ein- bilität aufgrund des Arbeitsplatzwechsels für schul- zige Quelle für seinen Lebensunterhalt ist. Außerdem ist pflichtige Kinder bedeutet! Arbeitnehmerinnen und der Kündigungsschutz mehr als ein Schutz vor dem Ar- Arbeitnehmer beweisen hohe Flexibilität und hohe Mo- beitsplatzverlust. Ohne Kündigungsschutz sind auch die bilität. Arbeitnehmerrechte wie Kündigungsschutz und kollektiven Rechte aus der Betriebsverfassung kaum ein- Mitbestimmung unterstützen die Betriebsräte, wenn es zufordern, ohne befürchten zu müssen, deshalb den Ar- um die Vereinbarung von Sozialplänen geht. Dagegen beitsplatz zu verlieren. Ein geringerer Kündigungsschutz sind Abbau von Kündigungsschutz und Ausweitung von schürt nur Ängste. befristeten Verträgen auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht – das sollte besonders die FDP interessieren – pro- Zu beiden Anträgen kann ich aus meiner 22-jährigen blematisch. Betriebserfahrung sagen: Die Menschen vor Ort sind sehr sensibel. Viele bangen um ihren Arbeitsplatz; viele Vor wenigen Tagen ist eine neue Kölner Langzeitstu- sind bereits arbeitslos. Doch sie wissen, dass es in der die unter dem Titel „Die hohen Kosten der Angst“ veröf- verstärkt globalisierten Welt keine Patentrezepte gibt. fentlicht worden. Die Zahlen sind für alle, die Verant- Deshalb erwarten sie berechtigterweise von uns mehr wortung tragen, in der Tat alarmierend und machen Seriosität und ein ernstes Herangehen an ihre Probleme. deutlich, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Dies trägt zur Sicherheit bei. Diese Sicherheit motiviert unsicheren Arbeitssituationen eine dramatisch verrin- zum Konsum. Kauffreudigkeit stärkt die Beschäftigung. gerte Produktivität haben. Ihre prekäre Situation erfüllt Das ist das Ziel der großen Koalition. die Menschen mit Zukunftsangst, wodurch sie gelähmt 5188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Clemens Bollen (A) werden. Angst beeinträchtigt die Motivation, das Enga- Ich erteile nun das Wort Kollegen Andreas Steppuhn, (C) gement und die Kreativität. Dabei sind genau diese Fak- SPD-Fraktion. toren für die Betriebe wichtig. Aus diesem Grunde ist ein Drehen am Kündigungsschutz so gefährlich, wenn es Andreas Steppuhn (SPD): um das Mitziehen der Arbeitnehmer in den Betrieben geht. Die Kölner Studie – diese Zahlen muss man sich Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- einmal vor Augen halten – beziffert den Produktivitäts- ren! Die hier zur Beratung anstehenden Anträge der verlust für die Wirtschaft zwischen 50 und 100 Milliar- Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke zum den Euro. Das muss alle alarmieren. Thema Kündigungsschutz könnten wohl kaum unter- schiedlicher ausfallen. Sie, meine Damen und Herren Wir dagegen wollen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- von der FDP, wollen den Kündigungsschutz gänzlich ab- nehmer, die sich bei ihrer Arbeit engagieren, die sich mit schaffen. ihren Betrieben identifizieren und die mit Einsatz und Kreativität die Produktion und Verwaltung nach vorne (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist schon alles ge- bringen. Was geht in einem Arbeitnehmer vor, der viel- sagt, nur noch nicht von Herrn Steppuhn!) leicht morgen seinen Stuhl vor der Tür stehen hat? Wie soll er sich engagieren? Was geht in einem Arbeitnehmer Bravo, sage ich da nur; denn damit schärfen Sie erneut vor, der nicht weiß, ob sein Vertrag verlängert wird? Um deutlich Ihr Profil als arbeitnehmerfeindlichste Partei dies alles zu verhindern, müssen wir uns für feste Ar- Deutschlands. Herr Kolb, ich schlage Ihnen deshalb vor, beitsverhältnisse einsetzen und benötigen wir Arbeitneh- Ihre Partei am besten gleich umzubenennen – ich habe merrechte und soziale Sicherheit. mir schon einen Namen ausgedacht –, und zwar in AFPD, in arbeitnehmerfeindlichste Partei Deutschlands, Wir brauchen dies aber nicht nur aus betriebswirt- um damit in Ihrem Namen gleich für alle erkennbar Ihre schaftlichen Gründen, sondern auch für unsere Gesell- Arbeitnehmerfeindlichkeit zum Ausdruck kommen zu schaft. Es wird die alternde Gesellschaft beklagt und lassen. dass es immer weniger Familien mit Kindern gibt. Wir brauchen eine familienfreundlichere Arbeitswelt. Die (Beifall bei der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Ar- Vorschläge der FDP führen zum genauen Gegenteil. Sie beitnehmerpartei! Sie haben das missverstan- behauptet, dass ältere und jüngere Arbeitnehmer von ei- den!) nem gelockerten Kündigungsschutz oder von befristeten Arbeitsverträgen profitieren würden. Ich kann Ihnen eines mit auf den Weg geben: Das Heuern und Feuern von Arbeitnehmerinnen und Arbeit- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) nehmern ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen. (B) Ich frage Sie ganz ehrlich: Wie sollen jüngere Menschen (Beifall bei der SPD) (D) eine Familie gründen und ihre Zukunft planen, wenn sie keine gesicherte wirtschaftliche Grundlage haben, auf Im Übrigen empfehle ich an dieser Stelle, einen Blick die sie sich verlassen können? Wer vom Praktikum zum nach Italien zu werfen, wo man den Kündigungsschutz Kurzzeitjob und zum Zeitvertrag wandert, kann keine fast vollständig abgeschafft hat und nunmehr feststellt Zukunft planen. Zukunftsangst und wirtschaftliche Unsi- – wir Sozialdemokraten haben das schon immer ge- cherheit sind keine Grundlage für eine familiengerechte wusst –, dass eine Lockerung des Kündigungsschutzes Zukunft. gänzlich ohne beschäftigungspolitische Wirkung bleibt. (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Nun zu Ihnen, meine Damen und Herren vom ganz [FDP]: Die „Generation Praktikum“ ist doch linken Spektrum. Auch Ihr Antrag lässt jeglichen Reali- unter eurer Mehrheit entstanden!) tätssinn vermissen, obwohl auch ich finde, dass es beim Kündigungsschutz durchaus Verbesserungen geben Deshalb bleibt festzuhalten: Der Antrag der FDP ist könnte. Den Menschen jedoch vorzugaukeln, im Him- beschäftigungspolitisch wirkungslos, betriebswirtschaft- mel sei Jahrmarkt, und mal eben pauschal all das zu for- lich kontraproduktiv und sozialpolitisch nicht zu verant- dern, was einem so einfällt, zeugt nicht unbedingt von worten. Stattdessen müssen und werden wir in der gro- Glaubwürdigkeit, sondern hat schon etwas von Populis- ßen Koalition eine Balance zwischen der notwendigen mus. Flexibilität der Unternehmen und der ebenso notwendi- gen sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit für die Ar- Sie stellen Forderungen auf, die noch nicht einmal beitnehmerinnen und Arbeitnehmer halten. von den Gewerkschaften zu hören sind. Da fordern Sie Herzlichen Dank. zum Beispiel – das ist ja an sich lobenswert – den abso- luten Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer ab (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 55 Jahre und nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit. der CDU/CSU) Soll ich Ihnen sagen, wie das werden würde, wenn wir das so beschließen würden? Alle Unternehmen würden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: versuchen, ihren älteren Beschäftigten vor dem 55. Le- Kollege Bollen, dies war Ihre erste Rede im Deut- bensjahr und vor dem Erreichen einer Betriebszugehö- schen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute rigkeit von zehn Jahren zu kündigen, da dies nach Über- für die weitere Arbeit! schreitung dieser beiden Zeitpunkte faktisch nicht mehr möglich wäre. Die Folge wäre eine noch höhere Arbeits- (Beifall) losigkeit älterer Arbeitnehmer. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5189

Andreas Steppuhn (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die großen Wirtschaftsverbände haben sich gegen das (C) der CDU/CSU – Jörg Rohde [FDP]: Genauso in der Koalitionsvereinbarung verankerte Vorhaben der ist das!) sachgrundlosen Befristung ausgesprochen. Die Ge- werkschaften lehnen diese Pläne wegen der Wartezeit- Wir Sozialdemokraten wollen, dass ältere Arbeitnehmer verlängerung gänzlich ab. Wir stehen zum Kündigungs- wieder mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, und schutz, wie er zurzeit existiert, und sind überhaupt nicht wollen sie nicht in die Arbeitslosigkeit treiben. böse darüber, dass der in der Koalitionsvereinbarung Dann fordern Sie, den Schwellenwert, also die Be- niedergeschriebene Änderungswille nunmehr nicht um- schäftigtenzahl eines Unternehmens, ab der der Kündi- gesetzt wird. gungsschutz einsetzt, gänzlich abzuschaffen, sodass die- Wir Sozialdemokraten sehen keine Veranlassung, den ser faktisch beim ersten Beschäftigten einsetzt. Kündigungsschutz und das darin enthaltene Befristungs- recht gegen den Willen der Sozialpartner in Deutschland Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu ändern. Eine erneute Debatte über Änderungen im Kollege Steppuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage Kündigungsschutzgesetz und im Befristungsrecht würde des Kollegen Dreibus? die Wirtschaft, aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verunsichern und den beginnenden Auf- Andreas Steppuhn (SPD): schwung am Arbeitsmarkt negativ beeinflussen. Wir ha- Ja, gleich. Ich möchte diesen Gedanken noch zu Ende ben in Deutschland einen Kündigungsschutz, der sich in bringen. – Meine Damen und Herren von der Linkspar- der Vergangenheit bewährt hat, und dieses soll auch zu- tei, ich habe einmal nachgeschaut: So etwas hat noch künftig so bleiben. nicht einmal die alte DKP im alten wilden Westen gefor- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dert. (Beifall bei der SPD) (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)

Bitte sehr, Herr Dreibus. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Werner Dreibus (DIE LINKE): Kollege Steppuhn, ist Ihnen bekannt, dass die Rege- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen lung, die wir für ältere Beschäftigte ab dem 55. Lebens- auf den Drucksachen 16/1443 und 16/2080 an die in der jahr und nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit im Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sinne eines Schutzes vor ordentlicher Kündigung – das Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann (B) ist kein vollkommener Kündigungsschutz; ich hoffe, sind die Überweisungen so beschlossen. (D) dass Sie das wissen – vorsehen, bereits seit 40 bis Es folgen nun eine ganze Reihe Abstimmungen. 50 Jahren für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmern in Deutschland gilt, nämlich per Tarifver- Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 35 a bis trag, und dass es in den Bereichen, in denen dies gilt, 35 o sowie Zusatzpunkt 2 auf: beispielsweise in der Metall- und Elektroindustrie, sehr 35 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten viele Menschen gibt, die älter als 55 Jahre sind und einen Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Arbeitsplatz haben? Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft – Drucksache 16/513 – Andreas Steppuhn (SPD): Das ist mir bekannt. Ich habe ja sehr deutlich gesagt, Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) dass auch wir Sozialdemokraten uns Verbesserungen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorstellen können. Aber ich halte es für falsch, solche Regelungen im Kündigungsschutzgesetz flächendeckend b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- in Deutschland einzuführen. gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das unterscheidet uns!) – Drucksache 16/2703 – Überweisungsvorschlag: Das, was von FDP und der Linken in ihren Anträgen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) formuliert worden ist, ist mehr als jenseits von Gut und Rechtsausschuss Böse. Deshalb bin ich froh, dass wir Sozialdemokraten für einen wirksamen Kündigungsschutz von Arbeitneh- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- merinnen und Arbeitnehmern eintreten und dies auch ge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- genüber unserem Koalitionspartner beharrlich vertreten. rung kraftfahrzeugsteuerlicher und autobahn- mautrechtlicher Vorschriften Wir Sozialdemokraten haben das Ziel, den Kündi- gungsschutz weiterzuentwickeln, Beschäftigung zu för- – Drucksache 16/2718 – dern, die Schutzfunktion für bestehende Arbeitsverhält- Überweisungsvorschlag: nisse nachhaltig zu sichern und die unbefristete Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Finanzausschuss Beschäftigung gegenüber den befristeten Arbeitsverhält- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nissen zu stärken. Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO 5190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- Jelpke, Sevim Dagdelen, Kersten Naumann, tokoll vom 1. Juni 2006 zur Änderung des am Petra Pau und der Fraktion der LINKEN 29. August 1989 unterzeichneten Abkommens Für die unbeschränkte Geltung der Men- zwischen der Bundesrepublik Deutschland schenrechte in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur – Drucksache 16/1202 – Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Überweisungsvorschlag: Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Vermögen und einiger anderer Steuern Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/2708 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Finanzausschuss (f) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Frak- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- tion der FDP kommen vom 30. September 2005 zwischen Europäische Bodenschutzstrategie durch eine der Bundesrepublik Deutschland und der Re- sachgerechte Klärschlammverwertung unter- publik Belarus zur Vermeidung der Doppelbe- stützen steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 16/1679 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/2705 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Finanzausschuss Verbraucherschutz f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- k) Beratung des Antrags der Abgeordneten gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Dr. Christel Happach-Kasan, Michael Kauch, kommen vom 1. Dezember 2005 zwischen der Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und (B) Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisi- der Fraktion der FDP (D) schen Republik zur Vermeidung der Doppel- Biologische Kohlenstoffsenken für den Klima- besteuerung und zur Verhinderung von Steu- schutz nutzen erhinterziehungen auf dem Gebiet der Steuern – Drucksache 16/2088 – vom Einkommen und vom Vermögen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/2706 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans- g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- der Fraktion der FDP kommen vom 3. Mai 2006 zwischen der Bun- Schienenanbindung des Jade-Weser-Port si- desrepublik Deutschland und der Republik cherstellen Slowenien zur Vermeidung der Doppelbe- – Drucksache 16/2091 – steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Überweisungsvorschlag: Einkommen und vom Vermögen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/2707 – Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Finanzausschuss Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans- Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der Fraktion der FDP gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes Modellversuch für Wassertaxen in Berlin star- ten – Drucksache 16/2704 – – Drucksache 16/2519 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Ausschuss für Tourismus Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5191

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Berichterstattung: (C) Wolfgang Wieland, Volker Beck (Köln), Silke Abgeordnete Otto Fricke Stokar von Neuforn, weiterer Abgeordneter und Georg Fahrenschon der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN Roland Claus Bessere Evaluierung der Anti-Terror-Gesetze – Drucksache 16/2072 – Der Haushaltsausschuss empfiehlt, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, Rechtsausschuss um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Verteidigungsausschuss tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe tung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Dritte Beratung Abgeordneter und der Fraktion der FDP Evaluierung des Terrorismusbekämpfungsge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem setzes präziser gestalten Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Der Gesetzentwurf ist mit den – Drucksache 16/2671 – gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom- Überweisungsvorschlag: men. Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Tagesordnungspunkt 36 b: Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Zweite Beratung und Schlussabstimmung des ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Gruß, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser- eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der 12. August 2004 zwischen der Bundesrepublik Fraktion der FDP Deutschland und der Republik Ghana zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Konkretes und tragfähiges Konzept zur Be- Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem kämpfung von Extremismus, Fremdenfeind- Gebiet der Steuern vom Einkommen, vom (B) lichkeit und Antisemitismus vorlegen und zeit- Vermögen und vom Veräußerungsgewinn (D) nah umsetzen – Drucksache 16/2254 – – Drucksache 16/2779 – Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schusses (7. Ausschuss) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- – Drucksache 16/2759 – ten Verfahren ohne Debatte. Berichterstattung: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Abgeordneter Manfred Kolbe die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 t sowie wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- den Stimmen des Hauses bei einer gewissen Unklarheit hen ist. bei der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 36 a: (Heiterkeit – Dr. Volker Wissing [FDP]: Zustimmung!) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Zur Erläuterung: Es gibt nur eine zweite Lesung, da es Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ver- ein Vertragsgesetz ist. besserung der personellen Struktur beim Bun- deseisenbahnvermögen und in den Unterneh- Tagesordnungspunkt 36 c: men der Deutschen Bundespost Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksachen 16/1938, 16/2476 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. Oktober 2004 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- zwischen der Europäischen Union, der ausschusses (8. Ausschuss) Europäischen Gemeinschaft und der Schwei- – Drucksache 16/2789 – zerischen Eidgenossenschaft über die 5192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Assoziierung dieses Staates bei der Umset- langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (C) zung, Anwendung und Entwicklung des Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Schengen-Besitzstands schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Grünen angenommen. – Drucksache 16/2255 – Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Tagesordnungspunkt 36 e: schusses (4. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 16/2775 – richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Berichterstattung: Verordnung der Bundesregierung Abgeordnete Ralf Göbel Verordnung über Stoffe, die die Ozonschicht Gisela Piltz schädigen (Chemikalien-Ozonschichtverord- Ulla Jelpke nung – ChemOzonSchichtV) Silke Stokar von Neuforn – Drucksachen 16/2209, 16/2548 Nr. 2.1, 16/2654 – Der Innenausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf an- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Berichterstattung: zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Abgeordnete (Konstanz) dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Heinz Schmitt (Landau) in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen Michael Kauch die Stimmen der Linksfraktion angenommen. Eva Bulling-Schröter Dritte Beratung Sylvia Kotting-Uhl und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Drucksache 16/2209 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – wurf ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenom- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von men. CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grü- nen und bei Enthaltung der Linksfraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 36 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 36 f: (B) (D) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nologie (9. Ausschuss) zu der richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz – Verordnung der Bundesregierung und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Fünfundsiebzigste Verordnung zur Ände- rung der Außenwirtschaftsverordnung Erste Verordnung zur Änderung der Zweiund- zwanzigsten Verordnung zur Durchführung des – Verordnung der Bundesregierung Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verordnung Einhundertfünfte Verordnung zur Ände- über Immissionswerte für Schadstoffe in der rung der Ausfuhrliste Luft) – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverord- – Drucksachen 16/2212, 16/2548 Nr. 2.2, 16/2655 – nung – Berichterstattung: – Drucksachen 16/1788, 16/1941 Nr. 2.1, 16/2459, Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) 16/2548 Nr. 2.3, 16/2737 – Detlef Müller (Chemnitz) Berichterstattung: Angelika Brunkhorst Abgeordneter Erich G. Fritz Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord- nung der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirt- Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf schaftsverordnung auf Drucksache 16/1788 nicht zu ver- Drucksache 16/2212 zuzustimmen. Wer stimmt für diese langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, men des Hauses bei Enthaltung der Linksfraktion ange- SPD und FDP bei Enthaltung der Linksfraktion und ge- nommen. gen die Stimmen der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 g: Weiterhin empfiehlt der Ausschuss, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverord- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz nung – auf Drucksache 16/2459 ebenfalls nicht zu ver- und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5193

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Hans- betreffend das anwendbare Recht in diesem (C) Josef Fell, Winfried Hermann, weiterer Abgeord- Bereich (einschl. 11818/06 ADD 1 und ADD 2) neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN KOM (2006) 399 endg.; Ratsdok. 11818/06 – Drucksachen 16/2555 Nr. 2.115, 16/2784 – Verbrennung von Halmgut als Biobrennstoff in Kleinfeuerungsanlagen neu regeln Berichterstattung: Abgeordnete – Drucksachen 16/1149, 16/2564 – Dirk Manzewski Berichterstattung: Mechthild Dyckmans Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Sevim Dagdelen Marko Mühlstein Jerzy Montag Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill Der Ausschuss empfiehlt, festzustellen, dass zu dem Hans-Josef Fell Verordnungsvorschlag keine Bedenken hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Subsidiarität Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- und der Verhältnismäßigkeit bestehen und im Übrigen sache 16/1149 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- der Verordnungsvorschlag einer späteren Befassung vor- schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – behalten bleibt. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Links- empfehlung ist einstimmig angenommen. fraktion und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 j: Tagesordnungspunkt 36 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausschusses (6. Ausschuss) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Übersicht 4 nologie (9. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- gericht schen Parlaments und des Rates über die (B) strukturelle Unternehmensstatistik – Drucksache 16/2761 – (D) KOM (2006) 66 endg.; Ratsdok. 6715/06 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung – Drucksachen 16/1101 Nr. 2.5, 16/2575 – ist einstimmig angenommen. Berichterstattung: Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 36 k bis Abgeordneter Christian Lange (Backnang) 36 t. Es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung, die Unterrichtung zur Kenntnis zu Tagesordnungspunkt 36 k: nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- ausschusses (2. Ausschuss) empfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei unklarer Abstimmungslage bei der Linksfraktion angenommen. Sammelübersicht 87 zu Petitionen Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt – Drucksache 16/2639 – der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt tungen? – Die Sammelübersicht 87 ist einstimmig ange- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung nommen. ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Grü- nen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 l: Tagesordnungspunkt 36 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu Sammelübersicht 88 zu Petitionen der Unterrichtung durch die Bundesregierung – Drucksache 16/2640 – Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 tungen? – Die Sammelübersicht 88 ist mit den Stimmen im Hinblick auf die Zuständigkeit in Ehe- des Hauses bei Ablehnung der Linksfraktion angenom- sachen und zur Einführung von Vorschriften men. 5194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Tagesordnungspunkt 36 m: ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bünd- (C) nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von FDP und Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Linksfraktion angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 36 s: Sammelübersicht 89 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/2641 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Sammelübersicht 96 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht 89 ist einstimmig ange- nommen. – Drucksache 16/2647 – Tagesordnungspunkt 36 n: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tungen? – Die Sammelübersicht 96 ist mit den Stimmen ausschusses (2. Ausschuss) von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der drei an- deren Fraktionen angenommen. Sammelübersicht 90 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 36 t: – Drucksache 16/2642 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ausschusses (2. Ausschuss) tungen? – Die Sammelübersicht 90 ist einstimmig ange- nommen. Sammelübersicht 97 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 36 o: – Drucksache 16/2648 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ausschusses (2. Ausschuss) tungen? – Die Sammelübersicht 97 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Ablehnung durch die Sammelübersicht 91 zu Petitionen Linksfraktion und bei Enthaltung durch die Grünen an- – Drucksache 16/2643 – genommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Zusatzpunkt 3: tungen? – Die Sammelübersicht 91 ist mit den Stimmen Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ des Hauses bei Ablehnung der Grünen angenommen. CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- (B) Tagesordnungspunkt 36 p: SES 90/DIE GRÜNEN (D) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr der ausschusses (2. Ausschuss) sanitären Grundversorgung“ der Vereinten Nationen ausrufen Sammelübersicht 93 zu Petitionen – Drucksache 16/2758 – – Drucksache 16/2644 – Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange- tungen? – Die Sammelübersicht 93 ist mit den Stimmen nommen. des Hauses bei Ablehnung der FDP angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Tagesordnungspunkt 36 q: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Korrup- ausschusses (2. Ausschuss) tionsverdacht bei der Bundesanstalt für Finanz- Sammelübersicht 94 zu Petitionen dienstleistungsaufsicht und die Rolle der Bun- desregierung in diesem Zusammenhang – Drucksache 16/2645 – Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Christine Scheel, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- tungen? – Die Sammelübersicht 94 ist mit den Stimmen nen, das Wort. von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linksfraktion und Grünen angenommen. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tagesordnungspunkt 36 r: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt, Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- weil es vom BMF unterschiedliche und widersprüchli- ausschusses (2. Ausschuss) che Aussagen zu den Korruptionsfällen bei der BaFin Sammelübersicht 95 zu Petitionen gegeben hat und weil wir der Auffassung sind, dass es uns Parlamentarier und Parlamentarierinnen umtreiben – Drucksache 16/2646 – muss, wenn es in Behörden, die für den Finanzplatz Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Deutschland äußerst wichtig sind, zu solchen Vorfällen gen? – Die Sammelübersicht 95 auf Drucksache 16/2646 kommt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5195

Christine Scheel (A) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Als Parlamentarier und Parlamentarierinnen müssen (C) Solms) wir uns schon fragen, warum das Prüfungsamt des Bun- des vor zwei Jahren überhaupt einen Bericht angefertigt Es geht nicht nur um die Frage: Was ist in der Bun- hat. Er führte anscheinend zu keinerlei Konsequenzen. desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht passiert? Dabei hätten alle Alarmglocken schrillen müssen. Die Vielmehr geht es in diesem Zusammenhang immer auch Lebensrealität zeigt doch: Wo Rauch ist, ist in der Regel um die Frage: Wie steht es um die Reputation Deutsch- auch Feuer. Wie konnte es sein, dass ein Brand zwei lands in der Welt? Denn Korruption ist ein Krebsge- Jahre schwelt, ohne dass er entdeckt wird? Hier muss es schwür, das wir mit allen Mitteln bekämpfen müssen eine Verantwortungslücke geben, die die mehrjährige und dem wir alle unsere größte Aufmerksamkeit und Korruption überhaupt erst möglich machte. Hierfür ist Wachsamkeit schenken müssen. nicht nur der Chef der BaFin verantwortlich, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch das BMF hat eine gewisse Verantwortung dafür, dass solche Korruptionsfälle nicht auftreten. Vertrauen kann nur durch völlige Transparenz und Klarheit zurückgewonnen werden. Gerade deshalb ha- Wenn der jetzt angeklagte BaFin-Mitarbeiter sagt, es ben wir uns sehr gewundert, dass die Spitze des BMF wurde ihm leicht gemacht, ein Doppelleben in Saus und noch in der letzten Woche in der Sitzung des Finanzaus- Braus zu führen, fällt ein dunkler Schatten auf die Füh- schusses behauptet hat, vom Bericht des Prüfungsamtes rung der Finanzaufsichtsbehörde. Auch die Innenrevi- des Bundes vom März 2004 keine Kenntnis gehabt zu sion hat die verschiedenen Kontrollsysteme als entwick- haben. lungsbedürftig bezeichnet. Sie hat moniert, dass die Vorgaben noch nicht umgesetzt worden seien. Das muss (Florian Pronold [SPD]: Falsch!) ja wohl schon eine ganze Weile so gewesen sein. Deswe- Dabei ist es doch nahe liegend, dass man Kenntnis von gen muss man klar sagen: Wer andere kontrollieren diesem Bericht hatte. Denn nach eigenen Angaben hat muss, sollte wenigstens sein eigenes Haus bestellen kön- das BMF sowohl die Fach- als auch die Rechtsaufsicht. nen. Der Korruptionsbekämpfung muss der Stellenwert beigemessen werden, der ihr gebührt, um zukünftige (Florian Pronold [SPD]: Waren Sie denn ges- Brände von vornherein auszuschließen. tern nicht im Finanzausschuss?) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Korruption in einer nachgelagerten Behörde ist nun ein- SES 90/DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg mal keine Lappalie. [CDU/CSU]: Wie lange waren Sie da drin, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frau Kollegin?) (B) Florian Pronold [SPD]: Das ist eine Verdre- Es geht nicht, dass die Führung des BMF erklärt: (D) hung der Tatsachen!) Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Die BaFin ist als Finanzdienstleistungsaufsichts- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sind Sie als ehe- behörde gegenüber allen Banken, Versicherungen und maliges Mitglied heute Chefanklägerin?) Finanzdienstleistern verantwortlich tätig. Wenn in ihrem eigenen Hause über Jahre hinweg aufgrund mangelhafter Ich kann nur an die Leitung des BMF appellieren: Klä- interner Finanzkontrollen Korruptionsfälle möglich wa- ren Sie lückenlos auf, verschweigen Sie und beschöni- ren, dann hat diese Finanzaufsichtsbehörde ein erhebli- gen Sie vor allem nichts und tun Sie alles in Ihrer Macht ches Glaubwürdigkeitsproblem. Stehende, um solche Vorfälle in Zukunft zu verhindern! Bereits im März dieses Jahres hat das Prüfungsamt im Danke schön. internen Controlling erhebliche Schwachstellen erkannt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es hat festgestellt, dass die Auftragsvergabe der BaFin sowie des Abg. Martin Zeil [FDP] – Leo mangelhaft kontrolliert und dass gegen vergaberechtli- Dautzenberg [CDU/CSU]: Vom Gremienmit- che Vorschriften verstoßen wurde. Daraufhin wurden glied zur Chefanklägerin! – Gegenruf der Prüfberichte der Innenrevision erarbeitet. Dann wurde Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE im Auftrag des BMF von Pricewaterhouse-Coopers ein GRÜNEN]: 2003!) Gutachten angefertigt, in dem man im Grundsatz zu ge- nau den gleichen Ergebnissen kam: dass die Richtlinie der Bundesregierung zur Korruptionsbekämpfung nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rechtzeitig umgesetzt worden ist und die Behördenlei- Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Bernhardt von der tung die Verwaltung nicht ausreichend kontrolliert hat. CDU/CSU-Fraktion. In der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses Otto Bernhardt (CDU/CSU): konnte vonseiten des BMF immer noch nicht gesagt werden, ob und, wenn ja, wann die Antikorruptionsricht- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und linie in der BaFin umgesetzt wurde. Wir finden, so nach- Herren! Die kriminellen Machenschaften in dieser Bun- lässig darf man mit einem solch wichtigen Thema wie desbehörde sind ein schlimmer Vorgang; darin stimmen der Korruptionsbekämpfung nicht umgehen. alle überein, die sich mit diesem Vorfall beschäftigen, Frau Kollegin Scheel. Die Frage, ob es gut ist, sich mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einem so komplizierten Vorgang in einer Aktuellen sowie bei Abgeordneten der FDP) Stunde zu beschäftigen, wo man sich nur fünfminuten- 5196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Otto Bernhardt (A) weise damit auseinander setzen kann, kann ich nicht be- ben in Deutschland eine hervorragende Finanzaufsicht. (C) antworten. Wir haben uns gestern im Finanzausschuss Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern haben wir ausführlich damit beschäftigt. Das ist der richtige Ort für keine Probleme – von ganz wenigen Ausnahmen abgese- die Erörterung dieses Vorgangs. Dort kann man die ein- hen – mit Banken, Versicherungen usw. Das ist sicher zelnen Argumente besser würdigen. ein Erfolg unserer guten Aufsicht. Wir müssen jetzt auf- passen, dass wir nicht deshalb, weil einige wenige – drei (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) oder vier, vielleicht sind es auch nur zwei; von einem Jeder, der schon einmal eine größere Behörde oder wissen wir es schon – kriminelle Handlungen begangen Firma geleitet hat, wird mir zustimmen, wenn ich sage: haben, nach außen den Eindruck erwecken, in der Be- Es gibt leider kriminelle Energien Einzelner. Die bekom- hörde gehe alles drunter und drüber. Das stimmt nicht. men Sie durch das beste System nicht in den Griff; wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lesen darüber jeden Tag etwas in den Zeitungen. Den- noch: An eine Behörde, die das Finanzwesen beaufsich- Insofern hoffe ich, dass uns in Kürze die abschließen- tigt, legen wir natürlich besonders strenge Maßstäbe an. den Berichte vorliegen, dass wir dann zu den notwendi- gen Entscheidungen kommen und dass wir gemeinsam Nun müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass noch eine dafür sorgen, dass wir in Deutschland eine gute Finanz- Reihe von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen lau- dienstleistungsaufsicht behalten. fen. Von daher ist keiner heute in der Lage, den Vorgang abschließend zu beurteilen. Das war der Grund, warum Herzlichen Dank. der Verwaltungsrat sich nicht in der Lage sah, zu einer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Entlastung zu kommen. Es liegt nichts vor, was einer Entlastung im Wege stehen würde – das sage ich sehr deutlich –, aber es laufen noch fünf Verfahren und es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: können neue Aspekte hinzukommen. Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion. Im Interesse des Finanzplatzes Deutschland können wir alle nur daran interessiert sein, dass die Vorgänge Dr. Volker Wissing (FDP): umfassend und möglichst schnell aufgeklärt werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Denn natürlich nehmen durch diese Diskussion der haben in den letzten Wochen immer wieder den Satz ge- Finanzplatz Deutschland, die Behörde und auch ihr Prä- hört, dass Herr Sanio ein hervorragender Kapitalmarkt- sident Schaden; das können wir gar nicht verhindern. experte mit einer hervorragenden Fachkompetenz ist. Andererseits wissen wir, dass die Finanzaufsicht in Niemand stellt die fachlichen Qualifikationen von Herrn (B) (D) Deutschland international einen guten Ruf hat; auch das Sanio infrage, am allerwenigsten die FDP. muss man in dieser Diskussion sagen. Es gibt eigentlich niemanden, der hier irgendwelche fachlich-kritischen (Florian Pronold [SPD]: Hört! Hört!) Fragen stellt. Im Gegenteil, die Diskussion vor Ort läuft ganz anders. Da heißt es eher, dass die Aufsicht ein biss- In dieser Affäre aber geht es um etwas ganz anderes. chen zu viel arbeiten würde, wie so manche kleine Spar- Hier geht es um die Frage, wie glaubwürdig der oberste kasse oder Volksbank berichtet. Auch Sie werden davon Bankenkontrolleur sein kann, wenn er seine eigene Be- gehört haben. hörde nicht unter Kontrolle hat. (Beifall bei der FDP) Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, generell über die Arbeit der BaFin zu sprechen, unab- Bei dieser Frage geht es auch nicht nur um Rücktritt hängig von diesen unangenehmen Vorfällen. Im Moment oder kein Rücktritt von irgendwelchen Personen und wird eine große Befragung durchgeführt, an der sich auch nicht in erster Linie um Herrn Sanio, sondern es nach meinen Informationen zwei Drittel der Kreditinsti- geht um das Ansehen des Finanzplatzes Deutschland. tute beteiligen. Wir werden uns mit dem entsprechenden Herr Kollege Bernhardt, darauf haben Sie zu Recht hin- Bericht, sobald er vorliegt, sicherlich ausführlich be- gewiesen. schäftigen. Das bisherige Verhalten der Bundesregierung in die- Hier wurden drei Institutionen zu einer zusammenge- sem Korruptionsskandal war allerdings alles andere als legt. Mit 1 000 Mitarbeitern fing das Ganze an, inzwi- hilfreich. Erst wurde Herr Sanio kritisiert, dann teilweise schen sind es 1 500. Wir haben der Behörde auch immer demontiert und schließlich wieder rehabilitiert. neue Aufgaben übertragen, sodass es sicherlich Zeit ist, ( [SPD]: Von wem?) sich mit dem Problem generell zu beschäftigen. Ich finde es auch gut, dass wir in dieser großen Behörde inzwi- Ihm wurde das Vertrauen ausgesprochen, die Entlastung schen einen besonderen Ausschuss eingerichtet haben, wurde ihm aber verweigert. Dieses wechselhafte Verhal- nämlich einen Haushalts- und Kontrollausschuss, damit ten ist wenig professionell, Frau Staatssekretärin sich einige wenige intensiver damit beschäftigen kön- Hendricks. Mit diesem Krisenmanagement werden Sie nen. Auch dies ist sicher ein richtiger Schritt. den Aufgaben, die Sie haben – zum Beispiel auch Scha- den vom Finanzplatz Deutschland abzuwenden –, nicht Wir alle sind gut beraten – jeder Einzelne muss sich gerecht. daran messen lassen –, alles zu unterlassen, was dieser Behörde Schaden in der Öffentlichkeit zufügt. Wir ha- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5197

Dr. Volker Wissing (A) Dabei steht das Finanzministerium in dieser Sache sonst die Verantwortung übernehmen müssten. Aber wir (C) keinesfalls gut da. Es stimmt doch nachdenklich, dass werden Sie aus dieser Verantwortung nicht entlassen. die Staatssekretärin in der letzten Woche in die Sitzung des Finanzausschusses gekommen ist – wohl wissend, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass über die BaFin geredet werden sollte – und ein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fachste Fragen nicht beantworten konnte. Sie legen hier ein Desinteresse an den Tag, das ich er- staunlich finde. (Florian Pronold [SPD]: Waren Sie in derselben Sitzung?) (Florian Pronold [SPD]: Das ist eine Brunnen- vergiftung jenseits aller Tatsachen!) Frau Hendricks konnte weder sagen, wann sie das erste Mal von den Vorgängen erfahren hat, noch wusste sie, ob das Ministerium überhaupt darüber informiert wor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den ist. Das Bundesfinanzministerium brauchte sage und Entschuldigen Sie, Herr Kollege Wissing. Herr Kol- schreibe eine Woche, um sich zu erinnern, dass es bereits lege Pronold, Sie haben nachher das Wort. Dann können 2004 von dem Gutachten des Prüfungsamtes in Koblenz Sie Ihre Argumente vortragen. – Bitte schön. erfahren hat, in dem das mangelhafte Vertrags- und Ver- (Nina Hauer [SPD]: Sie sollten es dem Redner gabemanagement der BaFin kritisiert wurde. überlassen, wie er mit Zwischenrufen umgeht! – (Joachim Poß [SPD]: Die Sitzung war doch Joachim Poß [SPD]: Das war nicht angemes- erst eine Woche später, Herr Kollege!) sen vom Präsidenten! Das war nicht in Ord- nung!) Frau Staatssekretärin Hendricks, selbst damit sind Sie erst herausgerückt, nachdem die Presse darüber berichtet Dr. Volker Wissing (FDP): hatte. Ich danke Ihnen, Herr Präsident. In dieser Woche haben Sie uns erklärt, dass der zu- Wenn Untersuchungsberichte des Bundesrechnungs- ständige Referatsleiter versetzt und auch ein Personal- hofs zu einer Angelegenheit der Arbeitsebene gemacht wechsel in der Unterabteilung vollzogen wurde, was Sie werden – das haben Sie, Frau Hendricks, mit Ihrer Erklä- dem Parlament wiederum nur auf wiederholtes Nachfra- rung gemacht –, dann ist das schon ein gefährliches In- gen mitgeteilt haben. Dann erklärten Sie uns noch, dass diz dafür, dass die politische Kontrolle der Verwaltung das selbstverständlich nicht das Geringste mit den Vor- nur noch eingeschränkt stattfindet. Rechnungshofbe- fällen in der BaFin zu tun habe. richte sind nicht irgendwelche Berichte. Sie sollen letzt- (B) (D) (Florian Pronold [SPD]: Weil der Referatsleiter lich verhindern, dass das Geld der Bürgerinnen und Bür- damals noch nicht verantwortlich war!) ger verschwendet wird. Das kann man, Frau Staatssekretärin Hendricks, nicht zur Angelegenheit der Es kommt noch toller. Frau Staatssekretärin Arbeitsebene erklären. Hendricks hat uns auch noch versichert, es sei absolut in Ordnung, dass der Bericht des Prüfungsamtes in Kob- (Beifall bei der FDP) lenz aus dem Jahre 2004 den Schreibtisch des zuständi- Sie machen das frei nach dem Motto: Die Steuererhö- gen Referatsleiters nicht verlassen habe. Es gab keine hungen sind Chefsache und um die Ausgabenkontrolle Information des Unterabteilungsleiters und keine Infor- kümmert sich die Beamtenebene. Das darf es nicht ge- mation der Hausspitze. Wozu auch? ben, schon gar nicht wenn es um Kritik an der Finanz- aufsicht geht. Die Aufsicht der Bundesregierung kann (Florian Pronold [SPD]: Waren Sie in nicht darin bestehen, dass sie ihre Beamten beauftragt, derselben Sitzung wie wir?) Warnhinweise einfach abzuheften, ohne die politische Es geht ja offensichtlich nur um kleine Unregelmäßig- Führung einzubinden. keiten. Was ist das schon? Einen Korruptionsverdacht Es ist bedauerlich, dass wir uns heute mit diesem bei der nationalen Bankenaufsicht erledigt man in Ihrem Thema erneut auseinander setzen müssen. Ich bin mir Hause offensichtlich auf Beamtenebene. Warum sollte durchaus im Klaren, dass diese Debatte dem Ansehen man damit auch die Politik belästigen? des Finanzplatzes Deutschland nicht förderlich ist. Aber Dass bei der Organisation der BaFin einiges nicht in die Verantwortung dafür, dass wir heute diese Aktuelle Ordnung war, steht außer Frage. Aber inzwischen ver- Stunde durchführen müssen, trägt nicht die Opposition. mittelt auch der Finanzminister den Eindruck, dass die Die Verantwortung liegt beim Finanzministerium, das Dinge in seinem Haus ganz schön durcheinander geraten sich an der Aufklärung dieser Affäre bisher nicht gerade sind, und zwar just in der für die BaFin zuständigen Ab- durch aktive Unterstützung ausgezeichnet hat. teilung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was in dieser Angelegenheit besonders bedauerlich ist: Die Leitungsebene des Bundesministeriums der Fi- nanzen will offenbar nichts davon wissen, wenn Prü- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fungsbehörden des Bundes Unregelmäßigkeiten bei der Für die Bundesregierung spricht jetzt die Parlamenta- BaFin feststellen. Sie wollen keine Kontrolle, weil Sie rische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks. 5198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Mitteilung über die Prüfung der Auftragsvergaben der (C) Bundesminister der Finanzen: BaFin an die BaFin. Das Prüfungsamt bat die BaFin, in- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nerhalb von drei Monaten zu den Prüfungsfeststellungen Herren! Wo Rauch ist, ist auch Feuer, so hat eben Frau Stellung zu nehmen. Zeitgleich wurde dem BMF der Kollegin Scheel gesagt. Nach dem Motto „Es bleibt im- Abdruck der Prüfungsmitteilung mit der Bitte um Kennt- mer etwas hängen“ verfahren in dieser Debatte bisher nisnahme übersandt. Der Eingang des Schreibens wurde Frau Kollegin Scheel und Herr Kollege Wissing, und am 17. März 2004 im Referat Z A 3 registriert. Das Re- zwar wider besseres Wissen. ferat Z A 3 in unserer Zentralabteilung ist im BMF die zentrale Eingangsstelle für Prüfberichte des Bundesrech- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nungshofes. Wir haben gestern und auch in der vergangenen Wo- Von dort wurde die Prüfungsmitteilung am che im Finanzausschuss über diese Angelegenheit sehr 25. März 2004 an das für die Rechts- und Fachaufsicht ausführlich debattiert. Ich hatte Sie, Herr Kollege über die BaFin zuständige Referat VII B 1 (alt) – weil es Wissing, eindringlich darum gebeten, Ihre Falschaus- in der Zwischenzeit eine Umstrukturierung gegeben hat, sage, die Sie heute wissentlich vor dem Plenum gemacht die aber nicht aus aktuellem Anlass erfolgt ist, sondern haben, nicht zu wiederholen; denn ich habe Sie gestern ohnehin erfolgen sollte, um das deutlich zu machen – darauf hingewiesen, dass die Versetzung der beiden Be- mit der Bitte um Kenntnisnahme weitergeleitet. Dies ist amten, die Sie ansprechen, nun wirklich gar nichts mit der übliche Kommunikationsweg zwischen Referaten dem Thema zu tun hat, weil nämlich beide Beamte in ohne Hierarchieeinbindung. dem fraglichen Zeitraum 2004 überhaupt nicht zuständig waren. Im Referat VII B 1 (alt) wurde der Eingang am 26. März 2004 vom damaligen Referatsleiter mit der Beide waren damals nicht in der entsprechenden Fragestellung abgezeichnet, ob die Prüfungsmitteilung Funktion. Mit Bezug auf das, was Sie vortragen, kann es in der Sitzung des Verwaltungsrates der BaFin am überhaupt keinen Anlass geben, die Beamten jetzt zu 18. Mai 2004 behandelt werden sollte. Auf der Tages- versetzen, wenn sie damals für ganz andere Tätigkeits- ordnung dieser Verwaltungsratssitzung war der Punkt felder verantwortlich waren. Der eine war zu der Zeit in „Berichte des Bundesrechnungshofs“ allgemein vorge- der Haushaltsabteilung und der andere war im Auftrag sehen. Dem Wortprotokoll und der Niederschrift zur be- des Bundesministeriums der Finanzen im außereuropäi- treffenden Verwaltungsratssitzung ist zu entnehmen, schen Ausland tätig. Das habe ich Ihnen gestern erläu- dass die Mitteilung des Prüfungsamtes Koblenz in der tert. Dadurch, dass Sie das heute wider besseres Wissen Sitzung am 18. Mai 2004 nicht angesprochen wurde. Al- wiederholen, missachten Sie die Fürsorgepflicht gegen- lerdings hatte, wie sich aus einer Anlage zum am (B) über Beamten, die auch Sie als Bundestagsabgeordneter (D) 4. Mai 2006 in Auftrag gegebenen Bericht von Pricewater- haben. house-Coopers ergibt, die Innenrevision der BaFin für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das Büro der Leitung der BaFin eine Hintergrundinfor- mation mit einem Vorschlag für den Sprechbeitrag zur Ich nehme im Übrigen zu dem Thema der aufgedeck- Sitzung des Verwaltungsrats am 18. Mai 2004 gefertigt. ten Veruntreuung bei der BaFin und den damit zusam- Das heißt, die BaFin war auf diesen Tagesordnungs- menhängenden Fragen, soweit sie das Bundesministe- punkt vorbereitet. Er wurde aber nicht abgehandelt. rium der Finanzen betreffen könnten, Stellung. Ich will dabei auf drei Punkte eingehen. Erstens: die Mitteilung Soweit aus den Akten ersichtlich, wurde die Prü- des Prüfungsamtes des Bundes Koblenz über die Prü- fungsmitteilung des Prüfungsamtes Koblenz auch nicht fung der Auftragsvergaben der BaFin vom 10. März in der Verwaltungsratssitzung verteilt. Es bestand zu der 2004. In diesem Zusammenhang werfen Sie uns Ver- Zeit Unklarheit, ob der Bundesrechnungshof durch die säumnisse vor. Dies ist aber kein Korruptionsfall, um das Satzung verpflichtet werden kann, seine Berichte dem ganz deutlich zu sagen. Zweitens: die Mitteilung des Verwaltungsrat zur Verfügung zu stellen. Der Bundes- Bundesrechnungshofes über die Prüfung der Jahresab- rechnungshof vertrat die Auffassung, dass keine gesetz- schlussunterlagen 2003 der BaFin vom 4. Mai 2005. lichen Verpflichtungen bestünden, dem Verwaltungsrat Drittens: die Korruptionsrichtlinie, zu der ich gestern in zuzuarbeiten; er könne auch nicht durch die Satzung der Tat noch keine abschließende Auskunft geben dazu verpflichtet werden. konnte. Sie werden sich vorstellen können, dass ein Mi- Die Lösung bestand in einer Änderung der Satzung nisterium über einen großen Aktenbestand verfügt. von 2004. Zu diesem Zeitpunkt bestanden unterschiedli- Im Folgenden stelle ich den Ablauf der Bearbeitung che Rechtsauffassungen, die durch die Satzung einerseits zu den beiden genannten Prüfungsmitteilungen dar, wie und die Bundeshaushaltsordnung andererseits ausge- er aus den im Bundesministerium der Finanzen vorlie- drückt wurden. Deshalb musste die Satzung 2004 geän- genden Unterlagen ersichtlich ist. dert werden, um sie mit der Bundeshaushaltsordnung in Einklang zu bringen. Erstens: Mitteilung des Prüfungsamtes Koblenz aus 2004 zur Prüfung der Auftragsvergaben. Das Prüfungs- Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Stel- amt Koblenz hat der BaFin und dem Bundesministerium lungnahmefrist für den Präsidenten noch nicht abgelau- der Finanzen mit Schreiben vom 7. Juli 2003 die Prü- fen war und der Präsident – wie sich später herausstell- fung der Auftragsvergaben der BaFin angekündigt. Am te – die Absicht hatte, den Empfehlungen des Bundes- 10. März 2004 übersandte das Prüfungsamt Koblenz die rechnungshofes zu dessen Zufriedenheit zu entsprechen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5199

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Mit Schreiben vom 28. Oktober 2004 teilte der Bundes- und im Bedarfsfall die Leitung bzw. das Aufsichtsorgan (C) rechnungshof unter Bezugnahme auf die mit Schreiben entsprechend unterrichtet. des BaFin-Präsidenten vom 7. Juni 2004 beschriebenen Der zuständige Leiter des Referates VII B 1 schrieb Maßnahmen den Abschluss des Prüfverfahrens mit. die Prüfungsmitteilung im Hinblick auf eine vorgese- Den gesamten Vorgang „Prüfungsamt Koblenz“ ver- hene Befassung des Verwaltungsrates am 24. Mai 2005 fügte der damals neu für die BaFin zuständige Leiter des zu den Akten. Es war vorgesehen, dass ein Vertreter des Referates VII B 1 am 27. Juli 2004 zu den Akten. Am Bundesrechnungshofes unter anderem zur Prüfung der 3. August 2004 – nach Ablauf der vom Prüfungsamt der Jahresrechnung 2003 vorträgt. Da dieser Vertreter des BaFin eingeräumten dreimonatigen Frist zur Stellung- Bundesrechnungshofes aus terminlichen Gründen nicht nahme – bat das Referat VII B 1 die BaFin per E-Mail teilnehmen konnte und zudem das kontradiktorische um Übersendung ihrer Stellungnahme zur Prüfungsmit- Verfahren noch nicht abgeschlossen war, wurde auf Vor- teilung. Daraufhin sandte die BaFin ihre gegenüber dem schlag des Verwaltungsratsvorsitzenden die Aussprache Prüfungsamt abgegebene Stellungnahme des Präsiden- auf die Herbstsitzung 2005 vertagt. ten vom 7. Juni 2004 am 10. August 2004 an das Referat In der Herbstsitzung am 17. November 2005 verzich- VII B 1. Die Stellungnahme des Präsidenten schließt mit tete der Verwaltungsrat auf den Vortrag zur Prüfung der der Feststellung, dass „damit dann alle Voraussetzungen Jahresrechnung 2003. Dies ist aus Sicht des Bundesmi- für eine ordnungsgemäße Durchführung der Vergabever- nisteriums der Finanzen auch deswegen gerechtfertigt, fahren uneingeschränkt geschaffen“ seien. weil der Bundesrechnungshof zuvor, am 26. September Aufgrund dieses Ergebnisses hat ein weiterer Kontakt 2005, der BaFin und zeitgleich dem Bundesministerium zwischen BMF und BaFin in dieser Sache nicht mehr der Finanzen zum Prüfungsschwerpunkt „IT-Ausgaben“ stattgefunden. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass Folgendes mitgeteilt hatte – ich zitiere –: die erwähnte Feststellung des Präsidenten auch Aus- Wir hatten festgestellt, dass die Planansätze einzel- druck seiner Gesamtverantwortung für die Organisation ner IT-Titel stark von den Istausgaben abwichen. seiner Behörde ist. Diese Organisationshoheit des Präsi- Wir hatten daher angeregt, dass die BaFin die Ent- denten ist im Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz ver- wicklung der Ausgaben stärker überwacht und an- ankert. gemessene Abweichungsanalysen erstellt. Wie ausgeführt, bestätigte der Bundesrechnungshof Sie hatten erläutert, dass erst nach Aufstellung des mit Schreiben vom 28. Oktober 2004, mit dem der Ab- Haushalts 2003 die genauen IT-technischen Rah- schluss des Prüfverfahrens bekannt gegeben wurde, die menbedingungen des wesentlich für diese Abwei- Auffassung des Präsidenten. (B) chungen verantwortlichen Verfahrens KONAN be- (D) Zu Punkt eins – Prüfungsamt Koblenz – möchte ich kannt wurden. abschließend hervorheben, dass in der Prüfungsmittei- lung empfohlen wird, wie die Mängel abgestellt werden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: können. Ein strafrechtlicher Bezug wurde vom Prü- Frau Kollegin Hendricks, ich darf Sie unterbrechen. fungsamt selbst nicht hergestellt. Insofern konnte und Sie haben die nach der Geschäftsordnung zulässige Zeit musste der zuständige Referatsleiter davon ausgehen, überschritten. Wenn Sie weitersprechen, kann eine Frak- dass es sich um einen Routinevorgang handelt, der keine tion einen Antrag auf Eröffnung der Aussprache stellen. Leitungsbefassung erforderte. Es wurde ganz offenbar Es liegt in Ihrer Hand, das zu entscheiden. auch kein Korruptionsvorwurf erhoben; denn die Prü- fungsfeststellungen wurden zur Zufriedenheit des Bun- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim desrechnungshofes im Oktober abgeschlossen. Wenn Bundesminister der Finanzen: also irgendjemand hier oder später gegenüber der Öf- Das ist mir klar. Ich frage die Fraktionen, ob sie jetzt fentlichkeit noch einmal behauptet, dass dies irgendet- eine vollständige Aufklärung wünschen oder nicht. was mit Korruption zu tun gehabt haben könnte, tut er dies wider besseres Wissen und entgegen der Wahrheit. (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Ja! – Carl- Darauf mache ich ausdrücklich aufmerksam. Ludwig Thiele [FDP]: Das ist Ihre Entschei- dung! Aber es ist okay!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Gut. Zweitens: Mitteilung des Bundesrechnungshofs vom 4. Mai 2005 über die Prüfung der Jahresabschlussunter- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lagen des Jahres 2003. Mit Schreiben vom 4. Mai 2005 Dann fahren Sie bitte fort. Ihre Redezeit wird dann hat der Bundesrechnungshof dem zuständigen Referat von der Redezeit der Kollegen aus der SPD-Fraktion ab- im Bundesministerium der Finanzen die Mitteilung über gezogen. die Prüfung der Jahresabschlussunterlagen 2003 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit der Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Bundesrech- Bundesminister der Finanzen: nungshof regt darin zum Prüfungsschwerpunkt „IT-Aus- Herr Präsident, ich bitte darum, vor dem Hintergrund gaben“ an, dass die BaFin die Entwicklung der IT-Aus- der Geschäftsordnung zu prüfen, ob es unterbleiben gaben stärker überwacht, Abweichungsanalysen erstellt kann, meine Redezeit von der eines Kollegen aus meiner 5200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Fraktion abzuziehen; denn offenbar sind die Fraktionen lige Referatsleiter zu den Akten verfügt. Eine darüber hi- (C) an einer vollständigen Aufklärung meinerseits interes- nausgehende Bearbeitung ergibt sich aus diesem Schrift- siert. Zudem wurde insbesondere von den Oppositions- stück nicht. In der BaFin wurde die Richtlinie spätestens fraktionen bemängelt, dass es bislang keine vollständige am 14. Oktober 2004 durch Information der Ansprech- Unterrichtung gebe. Mir liegt also daran, eine vollstän- partner für die Korruptionsbekämpfung bekannt ge- dige Unterrichtung zu geben. macht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der So viel zu den bisher offenen Punkten. Ich gehe davon CDU/CSU) aus, dass damit alle Fragen beantwortet sind, die mögli- cherweise gestern in der Finanzausschusssitzung noch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: offen geblieben sein könnten, auf die man sich im Zwei- Frau Kollegin, diese Vollmacht habe ich nicht. Die felsfall aber natürlich nicht vollständig und umfassend Geschäftsordnung und die Vereinbarung über die Rede- vorbereiten kann, weil man nicht auf jede Idee kommen zeit sehen das vor. Ich muss die Zeit abziehen. kann, die ein Kollege haben könnte. Insofern bitte ich, mir das nicht als Versäumnis vorzuhalten. Antworten auf Fragen, die ich in einer Sitzung nicht beantworten kann, Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim weil zu ihrer Beantwortung die Akten benötigt werden, Bundesminister der Finanzen: werden entweder schriftlich oder mündlich in der nächs- Ich fahre mit dem Zitat aus der Mitteilung des Bun- ten Sitzung nachgetragen. Dies ist Übung und das wer- desrechnungshofes fort: den wir auch in diesem Verfahren so halten. Ich bitte, Aufgrund der gemachten Erfahrungen wurden be- dies nicht als Missachtung des Parlamentes zu betrach- reits diverse Maßnahmen ergriffen, um die Qualität ten. und Belastbarkeit zu optimieren. Herzlichen Dank. Zusammenfassend stellt der Bundesrechnungshof fest: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir befürworten, dass Sie bereits erste Maßnahmen umgesetzt haben und auf die weitere Umsetzung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: noch offener Punkte achten wollen. Der Bundes- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von rechnungshof wird sich über die noch offenen der Fraktion Die Linke. Punkte bzw. über die Wirksamkeit bereits umge- setzter Maßnahmen in späteren Prüfungen infor- (Beifall bei der LINKEN) mieren. (B) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): (D) Im Übrigen kann ich darauf hinweisen, dass auch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Betrug Kollegin Christine Scheel dem Verwaltungsrat der BaFin muss bekämpft werden, Vetternwirtschaft muss be- für den Zeitraum Juli 2002 bis 31. Dezember 2003 ange- kämpft werden, völlig klar. Wenn es Betrug, Vetternwirt- hörte. Wie ausgeführt, befasste sich die Prüfungsmittei- schaft oder gar Fälle von Bestechung gab, müssen die lung des Bundesrechnungshofes auch mit den IT-Ausga- Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. ben. Das IT-Rahmenkonzept ist Teil der ergänzenden Das ist genauso selbstverständlich. Wenn die Bundesre- Unterlagen für jede Haushaltsplanung, zusammen mit gierung Kenntnis von solchen Machenschaften bei der Erläuterungen zum Haushaltsplan selbst und Erläuterun- BaFin hatte und nicht angemessen gehandelt hat, dann gen zum Personalhaushalt für das jeweilige Kalender- müssen – das ist auch klar – auch die dortigen Verant- jahr. Der Entwurf des Haushaltsplans mit umfangreichen wortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Ver- Angaben zum IT-Haushalt ging und geht jedem Verwal- waltungsrat der BaFin muss sich fragen, was vielleicht tungsratsmitglied und stellvertretenden Mitglied recht- in seiner eigenen Arbeit zu verbessern ist. Das werden zeitig vor der Herbstsitzung als Unterlage zur Sitzungs- alle Mitglieder dieses Hauses unterschreiben. Das ist, so vorbereitung zu. Der Verwaltungsrat ist nach § 4 Abs. 1 meine ich zumindest, völlig selbstverständlich. Nr. 1 der Satzung zur Feststellung des Haushaltsplans berufen. Mir ist nicht bekannt, dass Kollegin Christine Über Selbstverständliches zu reden, ist aber etwas Scheel in ihrer Funktion als Verwaltungsratsmitglied den langweilig. Daher lassen Sie mich zu einem Punkt kom- IT-Rahmenplan kritisch hinterfragt hätte. men, der für mich nicht so selbstverständlich ist. Ich werde den Verdacht nicht los, dass einige die Unregel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mäßigkeiten in der BaFin nutzen, um eigene Ziele zu der CDU/CSU) verfolgen, Ziele, die deutlich weiter gehen, als bloß die Zu drittens, Korruptionsrichtlinie. Die Richtlinie vom aktuellen Betrugsfälle aufzugreifen. 7. Juli 2004, die nach wie vor gültig ist, wurde mit (Zuruf von der SPD: Da hat er Recht!) Schreiben vom 30. August 2004 von dem in der Zentral- abteilung im Bundesministerium der Finanzen zuständi- Ich will ganz konkret werden. Es tobt eine Diskussion gen Referat Z A 7 an alle Abteilungen des BMF zur darüber, ob Teile der Finanzaufsicht nicht besser der Kenntnisnahme und gegebenenfalls zur Bekanntgabe im Bundesbank zuzuordnen sind. In einer Umfrage haben Geschäftsbereich des BMF gesandt. Die Kopie des da- die Banken erst kürzlich mehrheitlich gesagt, und zwar raufhin in das damals für die Rechts- und Fachaufsicht völlig unabhängig von den aktuellen Betrugsfällen: Wir, zuständige Referat gelangten Schreibens hat der dama- die Banken, wollen lieber, dass die Bundesbank Aufga- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5201

Dr. Axel Troost (A) ben der BaFin übernimmt. – Ich aber sage: Die Bundes- – Entschuldigung, der Verwaltungsrat. – Es scheint in (C) bank ist eine undemokratische Behörde. Die Banken der BaFin ein – ich sage es einmal ganz vorsichtig – wollen, dass diese undemokratische Behörde mehr Kon- doch recht eigenartiges Klima zwischen Behördenlei- trollaufgaben bekommt. Das will ich nicht. tung und Beschäftigten zu herrschen. Man wird auf- merksam, wenn man Vokabeln wie „Kriegserklärung“ (Beifall bei der LINKEN) hört, wenn der Vorwurf der Vorzugsbehandlung engerer Ich will, dass wir als Parlament, dass wir als Volksvertre- Mitarbeiter im Raum steht und wenn der Vizebehörden- ter wenigstens einen minimalen Einfluss auf die Institu- chef die Beschäftigten gar als „Nieten“ bezeichnet. tion ausüben können, die die Finanzmärkte der größten (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der PDS ist Volkswirtschaft Europas kontrolliert. das alles unbekannt!) (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg Der Verwaltungsrat hat eigentlich die Aufgabe, einmal [CDU/CSU]: Und dann zum Volkseigentum genauer hinzusehen und darauf hinzuarbeiten, dass es entwickeln!) zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Behör- Die BaFin untersteht der Fachaufsicht durch das denleitung und Personalrat kommt. Das ist eine Forde- BMF. Natürlich, die aktuellen Fälle zeigen: Es gibt da rung, die immerhin Gesetzesrang hat. möglicherweise Probleme. Vieles muss verbessert wer- Danke schön. den. Es gibt aber zum Beispiel auch die Möglichkeit, Herrn Sanio durch den Verwaltungsrat nicht zu entlas- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ten. Obwohl das zunächst einmal streng juristisch ge- neten der SPD) nommen ohne weitere Konsequenzen bliebe, ist das we- nigstens eine kleine demokratische Einflussmöglichkeit, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und das ist besser als gar nichts. Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon von der CDU/CSU-Fraktion. Die Bundesbank ist dagegen nach einer vollkommen anderen Philosophie aufgebaut. Sie ist für uns das Mus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) terbeispiel einer Expertokratie. Sie ist das Musterbei- spiel einer Behörde, die sich die Aura des – ich sage das Georg Fahrenschon (CDU/CSU): ganz bewusst – scheinbar neutralen Expertentums gibt. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Sie ist das Musterbeispiel einer Behörde, die sogar stolz ren! Wir erleben jetzt, was die Fraktionen der Grünen darauf ist, dass sie gegen Einflüsse aus der Politik völlig mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde erreicht immun ist. hat: Mittlerweile sprechen wir über das Demokratieprin- (B) zip bei der Deutschen Bundesbank. Wenn man einmal (D) Wir sagen dagegen: Die Finanzaufsicht muss nicht von der ausführlichen Darstellung der Bundesregierung nur effizient und kostengünstig sein. Sie muss nicht nur absieht – sie war notwendig und gut –, dann erkennt transparent und ohne Mauscheleien arbeiten. Sie muss man, dass diese Debatte zur Aufklärung nichts beitragen – das ist uns wichtig – auch demokratisch kontrollierbar wird. sein. Lieber Herr Troost, die Bundesbank ist unabhängig (Beifall bei der LINKEN) und das ist gut so. Wir brauchen eine transparente und demokratisch kon- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das nimmt trollierte Finanzaufsicht. der Kollege aber nicht zur Kenntnis!) Ich will ergänzen: Wir brauchen die BaFin als starke Ich glaube, die überwiegende Mehrheit der deutschen Kontrollbehörde, die die internationalen Finanzmärkte Bevölkerung ist mit dem Wirken der Notenbanker in einigermaßen in den Griff bekommt, die die zunehmen- Deutschland zufrieden. den Risiken, Verwerfungen und Probleme auf diesen Märkten – auch einmal durch unbequeme Regulierungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – vorschläge – in den Griff zu bekommen versucht. Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da soll Herr Troost doch wenigstens zuhören!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Ortwin Runde [SPD]) Man kann und man soll an dieser Stelle nichts be- schönigen. Für eine Aufsichtsbehörde und zumal für die Gerade hier hat sich die BaFin unter Herrn Sanio ver- Bankenaufsicht gibt es wohl kaum etwas Schlimmeres dient gemacht. Sanio war es, der öffentlich gesagt hat, als einen Fall von Veruntreuung in Millionenhöhe im ei- dass Hedge-Fonds die schwarzen Löcher des Weltfi- genen Haus. Aber man darf an dieser Stelle auch nicht nanzsystems sind. Sanio ist es, der ausdrücklich weitere vergessen: Dieser Fall wurde aufgedeckt, und er hat sich weltweite Regulierungen der Hedge-Fonds fordert. in der Beschaffung, nicht in der Aufsicht abgespielt. Wir brauchen also die nahtlose Aufklärung all dieser (Ortwin Runde [SPD]: Richtig!) Fälle. Es ist aber auch notwendig – das will ich zum Schluss ansprechen –, dass der Aufsichtsrat sich auch Deshalb ist es schon verwunderlich, was die Fraktion der mit sonstigen Fällen in der BaFin beschäftigt. Grünen auf der Basis eines typischen Mix aus pauscha- len Verdächtigungen einerseits und wilden Spekulatio- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Verwal- nen andererseits hier aufbereitet. Es ist auch der Situa- tungsrat!) tion unangemessen. 5202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Georg Fahrenschon (A) Meine sehr geehrte Kollegin Scheel, Korruption be- wenn die BaFin in Zusammenarbeit mit dem Bundesfi- (C) deutet im strafrechtlichen Sinne Bestechlichkeit. Der nanzministerium schnell und konsequent effektive Kon- Fall, mit dem wir uns beschäftigen müssen, ist Untreue. trollmechanismen entwickelt, die dann auch funktionie- Das hat mit Korruption im engeren Sinne nichts zu tun. ren und greifen, wird das Ansehen des Finanz- und vor Dass die Grünen eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema allem des Aufsichtsplatzes Deutschland gewahrt blei- veranlassen, ist deshalb mehr als verwunderlich: Es ist ben. In diesem Zusammenhang sind die Rolle und die ein Stück weit unverantwortlich. Denn als Vorsitzende Zukunft einzelner Personen eigentlich von untergeord- des Finanzausschusses neter Bedeutung. (Florian Pronold [SPD]: Ehemalige!) Ein erster wichtiger Schritt ist die Einrichtung eines wissen Sie sehr genau: Es gibt genügend andere Wege, Haushaltskontroll- und Prüfungsausschusses, das nachvollziehbare Informationsbedürfnis der Opposi- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) tion zu befriedigen. wie sie auf Initiative der CDU/CSU am Dienstag in der (Ortwin Runde [SPD]: Sehr richtig!) Sitzung des Verwaltungsrats der BaFin beschlossen Dass aber gerade die Fraktion, die noch bis vor einem wurde. Jahr in der Regierungsverantwortung stand und mit Ih- (Beifall bei der CDU/CSU) nen, Frau Scheel, auch noch die Vorsitzende des Finanz- ausschusses stellte, auf diesem Wege heute Fragen nach Der zweite Schritt ist die Auswertung der Ergebnisse der Rolle der Bundesregierung in einer Zeit stellt, in der des Gutachtens von Pricewaterhouse-Coopers. sie selbst in der Regierungsverantwortung war, das mu- Der dritte Schritt besteht darin, dass man auf der Ba- tet schon mehr als seltsam an. sis dessen, was man sofort einleiten kann, ein Bündel (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der von Maßnahmen schnürt, die nach Auffassung der Prü- FDP) fer, PwC, des Bundesrechnungshofs und der Vertreter der Branchen, die Mitglieder des Verwaltungsbeirats Eigentlich wäre es heute an uns, Ihnen Fragen zu stel- stellen, geeignet sind, die Probleme zu lösen. Das haben len, meine Damen und Herren von der grünen Fraktion. wir am Dienstag bereits auf den Weg gebracht. Wo waren denn Ihre Initiativen im Verwaltungsrat? Wo haben Sie denn die Haushaltspläne infrage gestellt oder Zu den ergriffenen Maßnahmen zählen ein zentrales hinterfragt? Wie haben Sie sich denn mit den Prüfungs- Vertragsmanagement, neue Zeichnungsbefugnisse und meldungen auseinander gesetzt? eine anders organisierte Innenrevision. Des Weiteren sind Änderungen der Aufbau- und der Ablauforganisa- (B) Werte Kollegin Scheel, ich erspare mir hier, gerade (D) tion vorgesehen. So werden zum Beispiel verschiedene unter der Überschrift „Korruption“ auf Nebengeräusche Zuständigkeiten in einer neuen Hauptabteilung zusam- einzugehen, die es im Zusammenhang mit Ihrem Rück- mengefasst und ein integrales internes Kontrollsystem tritt als Verwaltungsratsmitglied der BaFin aus Ihrer ei- geschaffen. genen Fraktion Ende des Jahres 2003 gegeben hat.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: NEN]: Was? Was soll das jetzt? Das hat doch Herr Fahrenschon, kommen Sie bitte zum Schluss. mit dem Verwaltungsrat der BaFin nichts zu tun!) Georg Fahrenschon (CDU/CSU): – Ich kann Ihnen zum Stichwort „Korruption“ aus der Herr Präsident, ich komme zum Schluss. „Süddeutschen Zeitung“ vom 2. Dezember 2003 vorle- sen: Das, meine Damen und Herren von der grünen Frak- tion, ist der Unterschied zwischen Ihrem Beitrag und Die Grünen stören sich plötzlich an Nebentätigkei- dem Beitrag der unionsgeführten Regierung: Wir han- ten ihrer Finanzexpertin Christine Scheel … Beirat deln sofort und im Sinne des Finanzplatzes. Barmenia, Verwaltungsrat Deutsche Ausgleichs- bank, Beirat Hamburg-Mannheimer, Aufsichtsrat Herzlichen Dank. Nürnberger Krankenversicherung … (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf von der SPD: Eine stattliche Liste!) neten der SPD) Das war Ausgangspunkt der Niederlegung Ihres Sitzes im Verwaltungsrat der BaFin. Es hieß, das könne gege- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: benenfalls ein schlechtes Licht auf Ihre fachliche Arbeit Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick werfen. vom Bündnis 90/Die Grünen. Bei der BaFin scheint es sich um einen besonders gra- vierenden Fall von krimineller Energie mit immensen Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausmaßen zu handeln. Doch das muss eigentlich nicht NEN): unser politisches Thema sein. Unser politisches Thema Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss vielmehr sein: Was tut die BaFin jetzt, damit so et- möchte erst kurz sagen, um was es uns nicht geht. Es was in Zukunft nicht wieder passieren wird? Nur dann, geht uns nicht darum, heute die fachliche Arbeit der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5203

Dr. Gerhard Schick (A) Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht als Fi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) nanzdienstleistungsaufsicht zu bewerten. Insofern möchte ich dem Kollegen Wissing, der davon (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Darum geht es sprach, dass er den Eindruck habe, hier herrsche ein ge- ja auch nicht!) wisses Desinteresse vor, durchaus Recht geben. Das werden wir im Rahmen des Evaluierungsberichtes Ein Spiel darf nicht stattfinden, nämlich dass man tun. Ich möchte das strikt trennen. Das sind zwei Paar jetzt alles in Richtung BaFin abschiebt. Natürlich ist es Stiefel. richtig, von Herrn Sanio zu fordern, darzulegen, welche Konsequenzen er intern zu ziehen gedenkt. Natürlich ist (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) das völlig richtig – Herr Fahrenschon hat diese Punkte ja Uns geht es heute darum, welche Rolle die Bundesre- schon aufgezählt –, was im Verwaltungsrat beschlossen gierung wurde. Aber entschuldigen Sie bitte: Es geht nicht nur um die BaFin. In den Grundsätzen über die Ausübung (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eure Regie- der Rechts- und Fachaufsicht des Finanzministeriums ist rung gewesen!) ganz eindeutig festgelegt, dass das Finanzministerium im Zusammenhang mit den Unregelmäßigkeiten bei der die politische Verantwortung für die Tätigkeit der BaFin BaFin gespielt hat, um nichts anderes. trägt. Diese ist nicht auf irgendwelche großen Vorhaben eingeschränkt, sondern für die gesamte Tätigkeit der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ist das jetzt die BaFin trägt das Finanzministerium die politische Verant- Nachbetrachtung der eigenen Regierung?) wortung. Es ist die Frage gestellt worden, warum es heute eine Deswegen kann es nicht nur um die Frage gehen, die Aktuelle Stunde dazu gibt. Wenn ein Thema dieser Be- Sie gestellt haben, Herr Fahrenschon, was die BaFin tut, deutung für den Finanzplatz Deutschland in den Medien sondern auch um die Frage, die wir als Grüne stellen, und in allen Gesprächen in der Branche eine zentrale nämlich was das BMF tut. Hier interessiert uns beson- Rolle spielt, dann kann es doch nicht daneben sein, es ders, welche Voraussetzungen geschaffen werden, damit, auch im Parlament zu diskutieren. Da möchte ich ein wenn in Zukunft etwas passiert – ich stimme Herrn paar Vorwürfe ganz eindeutig zurückweisen. Bernhardt ausdrücklich zu, dass wir nicht verhindern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – können, dass etwas passiert –, sichergestellt ist, dass die Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Fachausschuss Informationen rechtzeitig an die richtige Ebene gelan- ist auch Parlament, Herr Kollege) gen, dass unverzüglich gehandelt und reagiert wird und dass die Umsetzung von vorhandenen Richtlinien auch (B) – Ja, auf diesen Punkt, Herr Dautzenberg, möchte ich ge- rechtzeitig erfolgt. (D) rade jetzt als Zweites eingehen. In Ihrer Antwort, Frau Staatssekretärin, auf meine Im April 2006 sind die Korruptionsfälle aufgeflogen. Frage, welche Richtlinien und Anweisungen der Bun- Daraufhin wurde noch einmal ein Gutachten vom BMF desregierung allgemein Gültigkeit für die BaFin haben, in Auftrag gegeben. Etwa Mitte September ist die Sache weil sie Teil der Bundesbehörden ist, und welche spe- presseöffentlich geworden, wie auch immer das zustande ziell nur für die BaFin Gültigkeit haben, haben Sie zum kam, über ein Mitglied des Verwaltungsrates oder je- einen gesagt: Es handelt sich um eine solche Vielzahl, mand anderen. Wenn meine Fraktion dann am 20. Sep- dass man sie nicht darstellen kann. Das nehme ich so zur tember im Finanzausschuss konkrete Fragen zu diesem Kenntnis. Sie haben aber zum anderen auch gesagt: Die Fall stellt, dann darf ich doch wohl erwarten, dass die Umsetzung wird im Einzelfall von der Bundesregierung Antworten, die das Finanzministerium uns auf diese zen- nicht geprüft. Das haben Sie in Bezug auf die allgemei- tralen Fragen gibt, besser vorbereitet sind als die, die wir nen wie auch auf die speziellen Richtlinien und Anwei- bekommen haben. Es ist ja nicht so, als wäre dieses sungen, die einschlägig für die BaFin sind, gesagt. Wenn Thema am 20. September zum ersten Mal virulent ge- die Umsetzung von entsprechenden Vorgaben nicht worden. Da war es schon viele Tage in der Presse. Intern überprüft wird, möchte ich wissen, wie das BMF die ist ja offensichtlich auch die Brisanz des Falles erkannt Rechts- und Fachaufsicht, die im Finanzdienstleistungs- worden, sonst hätte man ja nicht extra ein Wirtschafts- aufsichtsgesetz festgelegt ist, eigentlich wahrnimmt. Das prüfergutachten in Auftrag gegeben. diskutieren wir hier. Deshalb weise ich die Vorwürfe, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dass wir hier unverantwortlich eine Aktuelle Stunde be- SES 90/DIE GRÜNEN) antragt haben, zurück. Natürlich kann es immer sein, dass man noch mal eine Zum Schluss möchte ich noch einmal aus dem Koali- Antwort auf eine gezielte Nachfrage nachreichen muss; tionsvertrag zitieren: das ist nicht der Punkt. Wenn aber ein Thema schon wo- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Sehr gut!) chenlang klar ist, in den Medien groß diskutiert wurde und auf der Tagesordnung des Finanzausschusses steht, Die Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministe- dann erwarte ich, dass auch entsprechende Antworten riums der Finanzen … ist zu verstärken. gegeben werden. Sie selbst hätten die Aktuelle Stunde Das haben Sie selber niedergelegt. von heute überflüssig machen können, wenn Sie von Anfang an intern intensiv recherchiert und den Aus- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehen Sie mal! schuss entsprechend informiert hätten. Das ist der Unterschied zu Rot-Grün!) 5204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Gerhard Schick (A) Da kann es doch nicht falsch sein, dass wir aus aktuel- Wir haben Vertrauen in die Fähigkeiten und in den Wil- (C) lem Anlass hier fragen, wie die Koalition genau dieses len der Leitung der Aufsicht, genau diese beiden Kultu- Vorhaben als Konsequenz aus den Fällen, die derzeit in ren so zusammenzubringen, dass es möglich ist, interna- der Presse diskutiert werden, umzusetzen gedenkt. tionaler Finanzaufseher zu sein und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass eine Behörde gut funktioniert. Danke schön. Dafür ist es notwendig, dass wir im Verwaltungsrat, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aber auch hier im Parlament noch einmal darüber reden, wie diese Behörde aufgestellt sein muss, wie ihre Struk- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tur sein muss, nicht nur ihr internes Kontrollsystem. Mit Das Wort hat die Kollegin Nina Hauer von der SPD- Kontrollsystemen und verschiedenen Zeichnungen sind Fraktion. wir immer schnell dabei. Aber die vierfachen Durch- schläge von vierfachen Prüfberichten werden am Ende Nina Hauer (SPD): auf dem internationalen Finanzmarkt wenig ausrichten. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mitarbeiter, die sich in diesem Bereich einer ständigen Lieber Herr Schick, Sie machen mir Spaß! Sie reden hier Kontrolle unterworfen sehen, werden die Leistungen, die darüber, dass Sie gar nicht die Aufsicht und die Qualität wir von ihnen brauchen, und die Selbstständigkeit und der Aufsicht infrage stellen oder öffentlich thematisieren die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, wahrscheinlich wollen, und dann beantragt Ihre Fraktion eine Aktuelle auch nicht auf einmal bringen können. Deshalb müssen Stunde zu Themen, die wir auch im Ausschuss viel sach- wir alle gemeinsam – dafür tragen wir auch Verantwor- licher und sachgemäßer miteinander hätten behandeln tung – dafür Sorge tragen, dass unsere Behörde so gut können. Sie haben Nerven! Sie zünden an und sagen hin- funktioniert, dass sie sorgfältig geleitet werden kann, terher, Sie wollen beim Löschen dabei sein. Die Argu- dass Mitarbeiter Verantwortung und Freiheit in gleichem mentation, die Sie hier vortragen, ist nicht konsistent. Maße haben und wir auch ein Prinzip zwar nicht der Überwachung, aber der sorgfältigen Überprüfung des- Wir haben 2002 in der rot-grünen Regierungszeit die sen, was gezeichnet wird, haben. Gleichzeitig muss der Allfinanzaufsicht gemeinsam gegründet, um den Finanz- hochdynamische Markt von jemandem beaufsichtigt platz zu stärken. Wenn man sich anschaut, wie wir inter- werden können, der die Zeit und auch die Freiheit hat, national dastehen, auch was die Wertschätzung gegen- das zu tun. Ich denke, das ist eine Aufgabe, die wir ge- über unserer Aufsicht angeht, denke ich, dass es uns meinsam haben, und eine Konsequenz, die wir aus die- auch gelungen ist, diesen Finanzplatz damit zu stärken. sen Vorgängen ziehen müssen. Die FDP-Fraktion macht immer wilde Vorschläge zu (B) Liebe Frau Scheel, Sie waren selber bis Ende 2003 (D) mehr Altersversorgung in Hedge-Fonds. Das zeigt Mitglied im Verwaltungsrat. Ihnen ist auch nicht aufge- schon, wie notwendig es ist, dass wir eine Aufsicht ha- fallen, wie sich der Haushalt an dieser Stelle im IT-Be- ben, die ihre Qualität vor allem aus ihrer Seriosität und reich entwickelt. Transparenz bezieht. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich finde, dass wir an dieser Stelle auch einmal sagen NEN]: Weil der ja erst in dem Jahr eingesetzt können, dass unser oberster Aufseher, der Leiter der All- wurde!) finanzaufsicht, zu diesem internationalen Ruf beigetra- gen hat. Denken Sie einmal daran, was wir bei den Ver- Selbst wenn wir den Prüfbericht früher gesehen hätten handlungen zu Basel II für den deutschen Mittelstand – was wir als Verwaltungsrat gar nicht gemusst hätten –, erreicht haben. Da haben wir als Bundestag zweimal den sage ich Ihnen: Wir hätten die kriminelle Energie, die Verhandlungsführer Jochen Sanio aufgefordert, sich da- hinter diesen Machenschaften steckt, nicht entdecken für einzusetzen, dass wir international bessere Bedin- können. gungen für unsere kleinen Unternehmen aushandeln. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Das ist gelungen. Sie wissen selber – das brauche ich Ih- CDU/CSU) nen nicht zu sagen –, dass es ein hartes Pflaster auf dem Markt gibt, auf dem er dort verhandelt hat. Da brauchen Deshalb sollten wir selber hier nicht so tun, als ob wir wir jemanden von internationalem Rang. Ich denke, des- nicht auch die Aufgabe hätten, unsere Finanzmarktauf- halb müssen wir zwischen dem, was die Qualität und die sicht zu schützen. Aufgabe der Aufsicht angeht, und dem, was am Ende in dieser Behörde vor sich geht, unterscheiden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Frau Kollegin Hauer, kommen Sie bitte zum Schluss. CDU/CSU) Es ist ganz offensichtlich so, dass die Leitung einer Nina Hauer (SPD): deutschen Behörde, die nach unseren Verwaltungsvor- Ich denke, es ist richtig, zu sagen, wir haben Ver- stellungen auch ihre Tücken hat, nicht gleichzeitig so trauen, wir haben auch unsere eigene Verantwortung, mit der Aufsicht über einen hochdynamischen Markt in aber wir müssen unserem Finanzmarkt auch dadurch ge- einer Person zusammengeht, wie wir uns das wünschen. recht werden, dass wir hier in der öffentlichen Debatte Nicht umsonst hat deshalb der Verwaltungsrat am Diens- deutlich machen, dass wir eine gute Aufsicht haben. Wir tag – ich denke, zu Recht – beschlossen, dass wir sagen: wollen diese Aufsicht und wir brauchen sie auch, damit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5205

Nina Hauer (A) unser Markt im internationalen Wettbewerb bestehen Finanzministeriums – wohlgemerkt: zur Zeit der rot-grü- (C) kann. nen Regierung – umfassend beurteilen zu können. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der FDP) Deswegen werde ich mich heute noch nicht abschlie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ßend positionieren. Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg von der CDU/CSU-Fraktion. Ebenso wenig werde ich mich an den Verschwörungs- theorien von Teilen der Opposition, die hier geäußert (Beifall des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU]) wurden, beteiligen. Wir wissen heute nur, dass ein Mit- arbeiter des Finanzministeriums bereits im Jahr 2004 Leo Dautzenberg (CDU/CSU): über Unregelmäßigkeiten bei der BaFin informiert war. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Daraus gleich eine Verstrickung der politischen Leitung Kolleginnen und Kollegen! Der deutsche Finanzmarkt in den gesamten Fall zu konstruieren, liegt mir fern und braucht eine leistungsstarke Bundesanstalt für Finanz- ist auch abwegig. dienstleistungsaufsicht mit glaubwürdigen Persönlich- Auf dem Stand der aktuellen Informationen kann ich keiten an ihrer Spitze. mir heute also kein abschließendes Urteil über ein Fehl- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verhalten des damaligen Finanzministeriums erlauben. neten der SPD) Für die Zukunft kann ich mir aber durchaus vorstellen, dass wir das Ministerium durch eine stärkere Rechts- Diese Tatsache steht für mich über allen Fragen, die wir und Fachaufsicht mit dafür in die Pflicht nehmen. Das ist heute diskutiert haben und die wir sicherlich auch noch der erklärte politische Wille, wie im Koalitionsvertrag in den nächsten Tagen und Wochen weiter diskutieren ausdrücklich dargelegt. Aber heute sind erst andere Fra- werden. gen aufzuwerfen. Der aktuelle Untreueverdacht bei der BaFin ist ein Neben der besseren Rechts- und Fachaufsicht sind die ernstes Thema, mit dem sich der Finanzausschuss inten- Kontrollmechanismen bei der BaFin selbst in den Vor- siv und sehr kritisch befassen muss. Darüber besteht dergrund zu stellen. Dafür hat Herr Sanio vorgestern überhaupt kein Dissens. Ob aber eine Aktuelle Stunde dem Verwaltungsrat geeignete Maßnahmen vorgeschla- am heutigen Tage dafür der richtige Rahmen ist, meine gen: erstens die Einrichtung eines zentralen Vertragsma- Damen und Herren von der Fraktion Bündnis 90/Die (B) nagements; zweitens die Neuordnung der Innenrevision (D) Grünen, wage ich jedoch zu bezweifeln. Zu der Frage, und der Zeichnungsbefugnisse – es ist nämlich mit Blick ob Sie der richtige Antragsteller für diese Aktuelle auf die Außenwirkung nur schwer nachvollziehbar, dass Stunde waren, haben Kollege Fahrenschon und andere von der Bankenaufsicht das Sechsaugenprinzip verlangt schon einiges gesagt. Frau Kollegin Scheel, es ist schon wird, aber intern in manchen Bereichen noch nicht ein- kurios, wie Sie sich hier vom Gremiumsmitglied zur mal das Vieraugenprinzip angewendet wird – und drit- Chefanklägerin entwickeln. tens die Verbesserung des internen Kontrollsystems. Ich Gerade weil das Thema ernst ist, hätte ich mir eher erwarte von der Leitung der BaFin, dass diese Maßnah- eine sachorientierte Selbstbefassung im Ausschuss ge- men zügig und konsequent umgesetzt werden. wünscht, sobald die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft – das wird voraussichtlich im Oktober der Fall sein – ab- Ebenso unterstütze ich die Forderung des Verwal- geschlossen sind. Ich persönlich werde mir meine tungsrates, dass die Innenrevision Herrn Sanio direkt un- abschließende Meinung zu dem gesamten Fall und der terstellt wird. Darüber hinaus ist auch die Initiative der Person Sanio jedenfalls erst nach Abschluss der Ermitt- Union durch ihre Vertreter im Verwaltungsrat umgesetzt lungen bilden. worden, über den Haushaltskontroll- und Prüfungsaus- schuss mit dazu beizutragen, dass Fehlentwicklungen Dennoch ist es richtig – das haben die Beiträge in den besser vorgebeugt werden kann. Aber gegen kriminelle letzten Minuten deutlich gemacht –, dass wir bereits Machenschaften sind auch die beste Organisation und heute nach der Sitzung des Verwaltungsrates am Diens- die beste Leitung manchmal nicht gefeit. tag und nach Vorlage des gestrigen und auch des heuti- gen Berichts in den Reden der Frau Staatssekretärin Für die zweite Bedingung wurde bei der Verwaltungs- Hendricks im Finanzausschuss und hier im Plenum ei- ratssitzung am Dienstag der Grundstein gelegt. In den nige Einschätzungen abgeben: erstens zu den Konse- Bereichen der Ablauforganisation sollen Verbesserungen quenzen, welche die BaFin als Organisation aus den kri- erzielt werden, damit Fehlentwicklungen vorgebeugt minellen Machenschaften ziehen muss, und zweitens zur wird. Rolle des Bundesministeriums der Finanzen in der Frage der Rechts- und Fachaufsicht. Insgesamt geht es – ich komme zum Schluss – nicht nur um die Zukunft der BaFin. Es geht nicht nur darum, Lassen Sie mich zunächst in aller Kürze auf die Rolle ob unter Umständen im Finanzministerium Fehlleistun- des Finanzministeriums eingehen. Auch hier – das muss gen festzustellen sind. Unsere Zielsetzung muss viel- man der Vollständigkeit halber sagen – fehlen mir letzt- mehr sein, dass die Funktionsfähigkeit unseres Finanz- lich noch einige Informationen, um die Rolle des marktes und unseres Finanzplatzes weiterhin in guten 5206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Leo Dautzenberg (A) Händen ist und zur Verbesserung unserer gesamten wirt- Das ist auch in aller Regel der Fall. Es gibt einige we- (C) schaftlichen Situation beitragen wird. nige, die das Vertrauen gelegentlich missbrauchen. Um das zu verhindern, brauchen wir entsprechende Struktu- Ich danke Ihnen. ren. Aber Hochmut ist nicht angemessen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es geht auch neten der SPD) nicht um Hochmut!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich sage noch einmal: In der Aufsichtsfunktion hat Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller von die BaFin eine hervorragende Rolle gespielt. Dies soll der SPD-Fraktion. sie auch weiter tun. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herren! Der Verwaltungsrat der BaFin hat sich am Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von Dienstag vom Präsidenten Sanio vortragen lassen, welche der SPD-Fraktion. organisatorischen Maßnahmen er bereits durchgesetzt und welche weiteren Umstrukturierungen er eingeleitet (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Der hat es sich hat, um nach menschlichem Ermessen Vorkommnisse, auch so genommen!) zu denen es bedauerlicherweise und unentschuldbar gekommen ist, für die Zukunft auszuschalten. Der Bun- Florian Pronold (SPD): desrechnungshof und die Wirtschaftsprüfungsgesell- Ich durfte hier ja keine Zurufe machen. – Herr Präsi- schaft Price Waterhouse waren vertreten. Beide haben dent! Sehr geehrte Damen und Herren! Für mich ist die Maßnahmen, die der Präsident erläutert hat, als ange- schon aufschlussreich, was hier veranstaltet wird. Denn messen und sachgerecht bezeichnet. Deswegen hat der in den zwei letzten Finanzausschusssitzungen gab es Verwaltungsrat sein Vertrauen in die Amtsführung des eine sehr ausführliche Darstellung der Vorkommnisse, Präsidenten ausgedrückt. und dies weitergehend, als es hier möglich ist. Der Kollege Fahrenschon hat völlig zu Recht unter- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! strichen, dass die Vorkommnisse, um die es sich hier Und nicht abschließend!) handelte, nicht die Aufsichtsfunktion der BaFin betrof- Da sind alle bestehenden Fragen geklärt worden. fen haben. Es handelte sich vielmehr um Unkorrekthei- ten und in einem Falle offensichtlich um wirklich krimi- (B) Herr Wissing hat wider besseres Wissen falsche Be- (D) nelle Machenschaften bei Beschaffungsvorgängen. Das hauptungen aufgestellt und Vermischungen unterschied- ist ein Unterschied. Dass der Verwaltungsrat das Ver- licher Dinge vorgenommen. trauen in die Amtsführung des Präsidenten bekundet hat, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Welche denn? – hängt damit zusammen, dass Präsident Sanio mit seinen Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Welche denn, Herr Mitarbeitern in den schwierigen Jahren nach dem Pronold?) 11. September 2001, als die Finanzmärkte international, aber auch in Deutschland an mehreren Stellen empfind- Darum muss man eines deutlich machen: Die Prüfungs- lich getroffen waren, eine hervorragende Arbeit geleistet mitteilung aus dem Jahr 2004 hat keinerlei Anhaltspunkt hat. dafür enthalten, dass es kriminelle Machenschaften ge- geben hat. Herr Wissing, Sie haben vorhin mit einem gewissen Hochmut, der Ihnen vielleicht angemessen erscheint, die (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wer hat die denn Bemerkung gemacht, dass so etwas nicht passieren darf. erstellt?) Das stimmt. Es darf eigentlich nicht sein. Es gibt manch- Der zuständige Referatsleiter im BMF hat diese Prü- mal zu viel Vertrauen. Gegen kriminelle Machenschaf- fungsmitteilung von der BaFin erhalten. Er hat seine ten oder auch große Schlampereien war allerdings selbst Rechts- und Fachaufsicht ausgeübt und bei der BaFin die FDP-Fraktion nicht gefeit, nachgefragt, was denn mit dem Vorgang sei. Die BaFin (Ortwin Runde [SPD]: Was? Das kann doch hat darauf dem Prüfungsamt und auch dem BMF als gar nicht sein!) Rechts- und Fachaufsicht geantwortet. Danach hat das Prüfungsamt den Vorgang für erledigt betrachtet. Jetzt als sie vor einiger Zeit Schwierigkeiten mit ihren Finan- wird der Vorwurf in den Raum gestellt: Warum hat der zen hatte. Auch die FDP als Partei hat mit solchen Din- Referatsleiter dieses nicht an die Leitung des Hauses gen – das ist nicht sehr lange her – zu kämpfen gehabt; weitergegeben? Aus der Sicht des Jahres 2004 war der das kann man natürlich nicht Ihnen persönlich vorwer- Vorgang ordnungsgemäß und im Rahmen der üblichen fen. Verfahrensweisen abgehandelt. Da gibt es nichts hinein- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber die BaFin zugeheimnissen und es können auch keine Schuldzuwei- hätte jeden Vorstand hinausgeschmissen!) sungen in Richtung BMF konstruiert werden. Ich würde aber ein bisschen vorsichtiger sein, wenn der Unterschlagungen mit gefälschten Rechnungen bei Leiter einer preußischen Behörde unterstellt, dass die Software sind auch nicht so einfach aufzudecken. Denn Mitarbeiter zunächst einmal von Anstand geleitet sind. diejenigen, die das kontrollieren, müssen fragen: Ist die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5207

Florian Pronold (A) Software da? Wo ist sie denn? – Das ist ja vom Prü- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) (C) fungsamt gemacht worden; diese Auskunft ist eingefor- gemäß § 96 der Geschäftsordnung dert worden. Die Antwort wurde immer wieder verscho- – Drucksache 16/2787 – ben. Nach den formalen Kriterien, die bis dahin auch für die Beschaffung gegolten haben, ist das Vieraugenprin- Berichterstattung: zip bei diesem Vorgang eingehalten worden. Es ist noch Abgeordnete nicht einmal ein objektiver Systemfehler festzustellen. Lothar Mark Der Fehler in Bezug auf das Vieraugenprinzip liegt bei Jürgen Koppelin der betreffenden Person und bei der Weisungsabhängig- keit. Aber daraus kann man doch nicht im Nachhinein Alexander Bonde einen Vorwurf konstruieren; das war ja im Jahr 2004 überhaupt nicht ersichtlich. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Man sollte auch nicht die Entschuldigungen, die der schuss) zu dem Entschließungsantrag der Abge- Täter jetzt öffentlich vorbringt, dass man es ihm nämlich ordneten Dr. Norman Paech, Monika Knoche, leicht gemacht habe – das sagt er, um Strafmilderung zu Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und erreichen; das ist klar; das weiß doch jeder –, für bare der Fraktion der LINKEN zu der ersten Beratung Münze nehmen und daraus einen Vorwurf gegen die Op- des Antrags der Bundesregierung fer – das sind nämlich die BaFin und das BMF – kon- struieren. Das zu machen, ist entweder naiv, liebe Kolle- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- gin Scheel, oder ein bisschen böswillig. scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Ich kann nur sagen: Wir sollten abwarten, was die Afghanistan unter Führung der NATO auf Staatsanwaltschaft herausfindet, die Umsetzung der Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom Maßnahmen, die im Verwaltungsrat beschlossen worden 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai sind, beobachten und anschließend den Vorgang seriös 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, politisch bewerten. Wir sollten nicht versuchen, ihn poli- 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) tisch auszuschlachten, etwa weil man darüber sauer ist, vom 17. September 2004, 1623 (2005) vom dass man nicht mehr im Verwaltungsrat sitzt, oder weil 13. September 2005 und 1707 (2006) vom man ein anderes Süppchen kochen will. 12. September 2006 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Danke schön. – Drucksachen 16/2573, 16/2623, 16/2776 – (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) der CDU/CSU) Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dr. Werner Hoyer Die Aktuelle Stunde ist beendet. Dr. Norman Paech Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: Kerstin Müller (Köln) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Zum Antrag der Bundesregierung liegt ein Entschlie- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- ßungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung vor. Über die Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstim- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- men. scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Afghanistan unter Führung der NATO auf die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, ner das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Frank- 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) Walter Steinmeier. vom 17. September 2004, 1623 (2005) vom 13. September 2005 und 1707 (2006) vom (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 12. September 2006 des Sicherheitsrates der der CDU/CSU) Vereinten Nationen Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des – Drucksachen 16/2573, 16/2774 – Auswärtigen: Berichterstattung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie Abgeordnete Eckart von Klaeden einen Blick in die heutigen Tageszeitungen werfen, dann Markus Meckel sehen Sie, dass es viele mal wieder ganz genau gewusst Dr. Werner Hoyer haben: Afghanistan ist verloren. Das ist ein Teil des Te- Dr. Norman Paech nors in einem Teil der deutschen Tageszeitungen. Die ei- Kerstin Müller (Köln) nen sagen es, weil sie schon immer wussten, dass wir in 5208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) der Region nichts verloren haben; die anderen sagen es, für uns, sondern für die ganze internationale Staatenge- (C) weil die internationale Staatengemeinschaft mal wieder meinschaft. von Anfang an alles falsch gemacht hat; die Dritten sa- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gen es, weil wir zu viel Militär in Afghanistan haben, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und die Vierten sagen es, weil wir zu wenig Militär in GRÜNEN) Afghanistan haben. Aus meiner Sicht ist das der ent- scheidende Satz: Afghanistan ist nur dann verloren, Bei aller Sorge über die Entwicklung der Sicherheits- wenn wir es aufgeben. lage, vor allen Dingen im Süden des Landes, die natür- lich auch ich teile, dürfen wir die Erfolge nicht überse- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem hen. Viele andere werden gleich noch etwas dazu sagen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage nur: 7 Millionen Mädchen und Jungen, die bis Wahr ist, dass wir alle uns wünschten, nach fünf Jah- vor fünf Jahren nicht in die Schule gehen durften, haben ren Aufbauarbeit weiter zu sein, als wir es sind. Wahr ist heute die Möglichkeit, Unterricht zu genießen. Diese auch, dass es Rückschläge gegeben hat und weiterhin Entwicklung geht aber – das ist zuzugeben – sicherlich geben wird, in einzelnen Regionen sogar Rückwärtsent- nicht weit genug. In vielen Teilen des Landes spüren die wicklungen; ich werde gleich darauf zurückkommen. Menschen noch nichts von unserem Engagement der Wahr ist aber auch, dass eine junge Generation, die bis letzten fünf Jahre. Natürlich bin ich mit vielen von Ihnen vor fünf Jahren chancen- und bildungslos war, ihre darin einig, dass die wachsende Drogenwirtschaft, der ganze Hoffnung auf uns setzt, nicht allein auf die Deut- zunehmende Drogenanbau und die damit einhergehende schen, sondern auf die internationale Staatengemein- Korruption die Stabilisierungserfolge gefährden. Da, schaft. Die Zukunft dieser jungen Generation hängt da- wo diese Stabilisierungserfolge ausbleiben, nutzen die von ab, ob wir mit unserem begonnenen Engagement die Chance, um sich wieder als angebliche Be- verantwortungsvoll umgehen. Wahr ist am Ende auch, schützer der Bevölkerung aufzuspielen. Sie setzen dass es jenseits des Humanitären Gründe dafür gab, dass darauf, dass durch ihre gewaltsamen Aktionen die inter- wir den gefahrvollen Weg nach Afghanistan Seite an nationale Staatengemeinschaft in ihrem Engagement er- Seite mit den anderen Europäern und den Amerikanern müdet wird. angetreten haben. Wir dürfen uns nicht zurückziehen; das ist meine feste Es scheint schon ein wenig in Vergessenheit geraten Überzeugung. Wir müssen unsere Anstrengungen fort- zu sein, dass Afghanistan in den Jahren der Menschen setzen und, wenn möglich, verstärken, und zwar auf der verachtenden Talibanherrschaft zu einer Ausbildungs- Grundlage des „Afghanistan Compact“ und entspre- zentrale für den weltweiten Terrorismus geworden chend den Leitlinien des Afghanistanpapiers, über das (B) war. Die Gefahren, die daraus entstanden sind, waren gerade in den Gremien des Deutschen Bundestages dis- (D) keineswegs nur virtuell. Wir haben erst vor 14 Tagen kutiert wird. – Sie werden sich erinnern – der Opfer des 11. Septem- Bezogen darauf sind mir vier Punkte wichtig, die ich ber gedacht. Sie wissen, dass die Blutspur, die aus den ganz kurz nennen will: afghanischen Ausbildungslagern herausführte, nicht in New York endete, sondern Europa nicht unberührt gelas- Erstens. Der weitere politische Aufbau muss unter sen hat. Berücksichtigung der soziokulturellen Gegebenheiten des Landes stattfinden. Die 22 Jahre Krieg, Bürgerkrieg und Talibanherr- schaft haben aber nicht nur eine Trümmerwüste in den Zweitens. Wir wollen und müssen unsere Anstren- Dörfern und Städten hinterlassen; fast schlimmer, weil gungen beim Aufbau und bei der Ausbildung der Poli- nur mit großer Ausdauer und viel Geduld wieder her- zei – das ist das zentrale Handlungsfeld, für das wir Ver- stellbar, ist die Zerstörung, die diese 22 Jahre im Alltags- antwortung tragen – aufrechterhalten und, wie ich leben, in den Köpfen und Herzen der Menschen ange- meine, soweit es in unserer Macht steht, sogar verstär- richtet haben. ken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie CDU/CSU) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie sieht denn die gegenwärtige Situation aus? Viele Wir sollten uns, wenn wir über unsere erweiterten Mög- von Ihnen werden inzwischen in Afghanistan gewesen lichkeiten reden, dafür einsetzen – das werde ich tun –, sein. Zwei Generationen von jungen, qualifizierten Ar- innerhalb der Europäischen Union Partner zu gewinnen, beitnehmern, die ausgebildet hätten werden können und die uns dabei unterstützen. müssen, fehlen; sie werden dringend gebraucht. Das Schlimmste an der Zerstörung in den Herzen und Köp- Drittens bin ich fest davon überzeugt, dass wir einen fen, von der ich gesprochen habe, ist, dass es lange dau- weiteren Schwerpunkt im Bereich der Bildung setzen ern wird, bis das Vertrauen in die Autorität von staatli- sollten. Ich habe es vorhin gesagt: Bürgerkrieg und Tali- chen, von politischen Institutionen – vor allen Dingen in banherrschaft haben nicht nur die physische, sondern vor die Polizei – wieder hergestellt sein wird. Auch deshalb allen Dingen auch die intellektuelle Infrastruktur Afgha- werbe ich hier dafür, dass wir den Aufbau, den wir mit nistans zerstört. Deshalb bin ich froh darüber, dass so der Petersbergkonferenz in Bonn begonnen haben, mit viele Schulen wieder aufgebaut und eröffnet werden Geduld, aber entschlossen fortsetzen. Das gilt nicht nur konnten. Aber das reicht nicht. Es müssen noch viel Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5209

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) mehr werden. Auch in diesem Bereich müssen wir uns trag zu diesem Thema gegossen hat. Ich kann ihm nicht (C) noch stärker engagieren. in allen Details zustimmen. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. Ich glaube aber, dass in dem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Antrag die richtigen Fragen benannt werden. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Übrigen rate ich dringend dazu, diese Debatte im Bündnis zu führen und nicht auf nationaler Ebene. Hier Vierter und letzter Punkt. Es gibt keinen Königsweg darf es keine nationalen Alleingänge geben. zur Lösung des Drogenproblems; das wissen wir alle. Ich verspreche Ihnen aber, dass die Bundesregierung das (Beifall bei Abgeordneten der FDP) ihr Mögliche tun wird, um gemeinsam mit der interna- Die Diskussion, die wir im Bündnis führen, muss auf tionalen Staatengemeinschaft künftig gebündelter und den Punkt gebracht werden. Mir gehen die NATO-Parla- damit auch effektiver zu handeln. Das gilt sowohl für die mentarier-Treffen, an denen ich häufig teilnehme, auf Bekämpfung des Drogenanbaus als auch für die Verbes- den Keks, da man sich nur wechselseitig versichert, was serung der regionalen Zusammenarbeit und den Aufbau für eine tolle Arbeit in Afghanistan geleistet wird. Ich einer gut ausgestatteten afghanischen Grenzpolizei. bestreite überhaupt nicht, dass die Angehörigen der Bun- Mit Blick auf das, was Deutschland vor allen Dingen deswehr, der Polizei und der Entwicklungsdienste her- im Norden Afghanistans geleistet hat, können wir trotz vorragende Arbeit leisten. Dennoch sollten wir einmal aller Veränderungen, die ich nicht zu beschönigen versu- eine Bestandsaufnahme machen und uns fragen, wo wir che, stolz sein. Gerade haben wir auf der NATO-Außen- eigentlich stehen sowohl im Kampf gegen den Terroris- ministerkonferenz in New York darüber diskutiert, wie mus als auch in unserem Bemühen um den Aufbau Af- wir das gute Beispiel der zivil-militärischen Zusammen- ghanistans. arbeit im Norden Afghanistans auf andere Bereiche (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ übertragen können. Ich finde, das ist eine Auszeichnung DIE GRÜNEN sowie des Abg. Eckart von für das Engagement, das unsere Soldatinnen und Solda- Klaeden [CDU/CSU]) ten wie auch die vielen zivilen Helfer dort leisten. Unser Grundansinnen war, einen substanziellen Bei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie trag zum Aufbau des Landes zu leisten und dafür einen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- hoffentlich nur vorübergehend erforderlichen militäri- NISSES 90/DIE GRÜNEN) schen Schutz anzubieten. Mittlerweile müssen wir leider Ich hoffe auf eine breite Zustimmung zum Antrag der konzedieren, dass das Bild des sympathisch, von der Be- Bundesregierung auf Verlängerung des Mandates um völkerung mit offenen Armen empfangenen deutschen (B) weitere zwölf Monate. Das wäre nicht nur ein starkes Soldaten nicht mehr ganz zutreffend ist. Die Tatsache, (D) Zeichen für die Soldatinnen und Soldaten, sondern auch dass wir ungeheuer viel in den Schutz unserer Soldaten für die vielen zivilen Helfer in Afghanistan, die dort in investieren müssen, macht deutlich, dass sich die Situa- einem immer noch sehr schwierigen Umfeld arbeiten. tion erheblich verändert hat. Der ISAF-Einsatz hat sich auch im Norden des Landes zu einem veritablen Ich danke Ihnen. Kampfeinsatz entwickelt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE bei Abgeordneten der FDP) GRÜNEN]: Na, na, na! Da hatte aber der Mi- nister mit dem, was er gesagt hat, Recht!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Lassen Sie uns einmal die Realität zur Kenntnis neh- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Werner Hoyer von men! Natürlich haben die Ereignisse im Norden des Lan- der FDP-Fraktion. des eine andere Qualität als das, was im Rahmen von (Beifall bei der FDP) ISAF im Süden und im Rahmen von OEF, Operation Enduring Freedom, insgesamt geschieht. Aber wir dür- Dr. Werner Hoyer (FDP): fen den militärisch-kämpferischen Teil dieses Einsatzes unserer Soldaten nicht kleinreden; denn auch in dieser Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Hinsicht wird großartige Arbeit geleistet. FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Antrag der Bun- desregierung zu. Wir hielten es angesichts der Tataren- (Beifall bei der FDP) meldungen, die uns gegenwärtig ereilen, schlicht für un- verantwortlich, einfach zum ungeordneten Rückzug zu Man muss sich aber fragen, ob nicht viele der Anfangs- blasen und die Menschen in Afghanistan, für die auch erfolge schon weggebröckelt sind bzw. wegzubröckeln wir große Verantwortung übernommen haben, jetzt im drohen. Wir haben riesige Erfolge erzielt. Herr Minister, Stich zu lassen und einfach wegzugehen. Gleichwohl Sie haben auf die Schülerinnenzahlen hingewiesen; das muss ich sagen, dass wir dieses Ja mit großem Bauch- ist, wie ich finde, in der Tat der größte Erfolg. Aber diese grimmen aussprechen, weil es unseres Erachtens sehr Zahlen sind schon wieder rückläufig. Ist es eigentlich die viele Dinge gibt, die uns außerordentlich besorgt ma- richtige Strategie, zunächst mit großem Aufwand – er ist chen. übrigens größer, als ihn manche Fachleute für erforder- lich halten – Schulen zu bauen, dann aber nicht dafür zu Ich finde übrigens, dass der Kollege Nachtwei seine sorgen, dass auch Lehrer finanziert werden, die unter- Überlegungen in einen sehr klugen Entschließungsan- richten? Hier gibt es in der Tat erhebliche Lücken. 5210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Werner Hoyer (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten befinden. Deswegen ist die Fixierung auf sie nicht ganz (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) richtig. Außerdem hilft man ihnen nicht, indem man ih- nen als Nahrungshilfe die Produktionsüberschüsse der Auch dürfen wir, was in der Vergangenheit geschehen Industrieländer schickt, sodass jedes Incentive für eigene ist, nicht vergessen. Wir müssen uns die Verbindungsli- Agrarproduktion wegfällt. nien, die es gegeben hat und die es nach wie vor gibt, vor Augen führen, die Verbindung zwischen den Taliban und (Beifall bei der FDP) der al-Qaida und die Verbindung zu Pakistan. Wenn Pa- kistan ein Doppelspiel betreibt und die Taliban vielleicht Das Hauptproblem sind natürlich die Drogenhändler und längst wieder als die zukünftigen Herrscher in Afghanis- diejenigen, die das Zeug weiterverarbeiten. Dort entste- tan betrachtet, dann wird der militärische Kampf gegen hen gigantische Gewinne. Wir wissen, dass mittlerweile die Taliban meiner Auffassung nach kaum zu gewinnen mehr als ein Drittel des Sozialprodukts Afghanistans da- sein. In diesem Zusammenhang ist mir eine Formulie- her rührt. Mindestens 90 Prozent von diesem Drittel lan- rung eines hohen Militärs unvergesslich, der neulich den bei diesen Händlern des Todes. Sie sind mittlerweile sagte: Wir werden nicht notwendigerweise verlieren. – in der Lage – nicht nur durch ihre Beziehungen zu Poli- Das ist mir als Begründung eines militärischen Einsat- zeibehörden, Verwaltungen und zu Regierungskreisen, zes, bei dem wir das Leben von Soldaten riskieren, zu sondern auch dadurch, dass sie die wirtschaftlichen As- wenig. sets dieses Landes in den Griff bekommen –, die Geschi- cke dieses Landes weitgehend zu bestimmen. Ich aner- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kenne die Bemühungen des Bundesaußenministers in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) seinen Gesprächen mit Präsident Karzai auf diesem Ge- biet. Wenn es diesem nicht gelingt, hier einigermaßen Wenn das, was ich zu Pakistan gesagt habe, auch nur durchzugreifen, stehen wir eines Tages möglicherweise ansatzweise zutrifft, dann wird das Nation-Building in vor einem Desaster. Lassen Sie uns deshalb in den Afghanistan sehr schwierig. An diesem Punkt sollten wir nächsten Monaten, unabhängig von einer konkreten Ent- uns etwas mehr Demut auferlegen. Bisweilen habe ich scheidung über ein Mandat, in aller Ruhe und sehr kri- das Gefühl, dass Nation-Building bei uns wie Blaupau- tisch, auch selbstkritisch, darüber diskutieren und dann sen avantgardistischer Architekturbüros wahrgenommen im nächsten Jahr neu entscheiden. wird. Ein bisschen mehr Rücksichtnahme auf kulturelle Gegebenheiten und Identitäten würde uns, wie ich Noch ein letztes Wort zur Operation Enduring Free- glaube, gut tun. Deutschland leistet hier keine schlechte dom. Ich stelle fest, Herr Bundesminister: Die zuständi- Arbeit. Aber auch diese Debatte müssen wir im Bündnis gen Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses bzw. deren führen. Obleute sind, seitdem Sie im Amt sind, noch kein einzi- (B) (D) ges Mal über die deutsche Beteiligung an „Enduring (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Freedom“ vertraulich unterrichtet worden. Ich lege auf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Vertraulichkeit sehr viel Wert; ich glaube, wir müs- sen mit dem, was wir mitgeteilt bekommen, sehr vor- Nation-Building wird in Afghanistan nicht dauerhaft sichtig umgehen. Aber wir müssen als Parlamentarier sein, wenn die staatlichen Strukturen nicht funktionie- hier Verantwortung tragen. Dazu benötigen wir ein Min- ren. Das Überpfropfen von formalen Wahlprozessen als destmaß an Information. Etablierung der Demokratie zu definieren, ist falsch. Ohne ein Mindestmaß an demokratischer Kultur und de- (Beifall bei der FDP) mokratischer, insbesondere rechtsstaatlicher Absiche- rung funktioniert Demokratie nicht, ebenso wie keine Marktwirtschaft ohne eine Kartellbehörde und ein Ka- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tasteramt, das die Eigentumsrechte sichert, funktionieren Das Wort hat jetzt der Kollege Eckart von Klaeden kann. von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Schließlich komme ich auf einen Schwachpunkt zu sprechen, den auch Sie, Herr Minister, erwähnt haben. Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich bekenne: Auch ich habe keine Blaupause für die Lö- Was von den Vorrednern bereits ausgeführt worden ist, sung des Drogenproblems. Aber wir können zumindest ist richtig. Es hat in den letzten Wochen und Monaten für uns reklamieren, dass wir das von vornherein gesagt Besorgnis erregende Mitteilungen über die Entwicklung haben. In der Debatte, die wir im Jahre 2003 zu diesem in Afghanistan, die Sicherheitslage, die Steigerung des Thema geführt haben, habe ich hier gesagt: Durch die Drogenanbaus und das Wiedererstarken der Taliban, ge- Ausweitung des Einsatzes auf Kunduz und später auf geben. Aber gleichzeitig ist richtig, dass wir auf große Faizabad schicken wir unsere Soldaten in eine „Mission Erfolge in der Entwicklung Afghanistans zurückschauen Impossible“, weil sie vor blühenden Mohnfeldern stehen können. Eine Sache macht das besonders deutlich: Die müssen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. übergroße Mehrheit der afghanischen, muslimischen Be- völkerung begrüßt den Einsatz der NATO, begrüßt das Das Hauptproblem sind aber nicht die Drogenan- Engagement der internationalen Gemeinschaft, vor al- bauer, die sich in einer ziemlich aussichtslosen Situation lem der Deutschen und unserer . Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5211

Eckart von Klaeden (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Terrorismus geworden. Seitdem hat es eine Serie von (C) neten der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE Anschlägen auf Einrichtungen der Vereinigten Staaten, LINKE]: Woher wissen Sie das?) auf Einrichtungen anderer Staaten und vor allem auch auf unbeteiligte Zivilisten in Indien, Indonesien, Pakis- Wir müssen uns die Frage stellen, welche Konsequen- tan, Russland und an vielen Orten der arabischen Welt zen wir aus der Entwicklung der letzten Wochen und gegeben, zum Beispiel in Tunesien, wo auch deutsche Monate ziehen. Ich meine, wir müssen alles tun, um ein Touristen den Anschlägen zum Opfer gefallen sind. Scheitern der Mission der internationalen Gemeinschaft, die auf der Grundlage des internationalen Rechts erfolgt, Der Ausgangspunkt für diese Anschläge ist al-Qaida zu verhindern. Denn welche Konsequenzen hätte ein und der Ausgangspunkt von al-Qaida liegt wiederum in solches Scheitern? Die Folge wäre eine verheerende Afghanistan. Aus Afghanistan haben sich die Metasta- Kettenreaktion. Die Mehrheit der afghanischen Bevöl- sen dieses Krebsgeschwürs auf andere Länder ausgebrei- kerung, die auf unserer Seite steht, wäre von uns ent- tet. Das Talibanregime wollte den Schutz für al-Qaida täuscht, wenn wir sie im Stich lassen würden, denn sie nicht aufgeben und es will heute wieder ein Regime in würde Opfer eines neuen Talibanregimes. Wir würden Afghanistan errichten, das Rückzugs-, Schutz- und also zurückfallen in eine Situation, wie sie vor dem Übungsraum für al-Qaida werden kann. 11. September 2001 bestanden hat; möglicherweise wäre sie dann noch schlimmer. Wir müssten damit rechnen, Erst die amerikanische Militärintervention hat das dass sich die Region weiter destabilisierte, dass extre- Talibanregime gestürzt und die Ausbildungslager von mistische Islamisten auch in anderen Ländern Erfolg al-Qaida zerstört. Dieses Regime fiel zwar wie ein Kar- hätten. Wir müssten damit rechnen, dass so etwas nicht tenhaus zusammen, aber wir wissen, dass sich die Tali- nur auf die Region begrenzt bliebe. Wir müssten welt- ban und mit ihnen al-Qaida in das afghanisch-pakistani- weit mit einem Erstarken des islamistischen Extremis- sche Grenzgebiet zurückgezogen haben. Sie haben einen mus rechnen. Das hätte letztlich auch für die Sicherheit Großteil ihrer Führungsstrukturen erhalten – mit Mullah in unserem eigenen Land Konsequenzen. Schließlich Omar an der Spitze. würde die Glaubwürdigkeit der NATO und der interna- Aus diesen Rückzugsgebieten haben die Taliban in- tionalen Organisationen in eine schwere Krise geraten. zwischen ihre Kampagne gestartet, die zu den heftigen Ich will es ganz deutlich sagen: Diejenigen, die sich Gefechten der letzten Wochen und Monaten geführt hat. jetzt für den Abzug der Bundeswehr einsetzen, hätten Ihre Ziele sind klar, nämlich die Vertreibung der westli- ein solches Scheitern und die geschilderten Konsequen- chen Soldaten und der Soldaten der internationalen Ge- zen zu verantworten. meinschaft sowie der Entwicklungshelfer, die Rückkehr (B) nach , der Sturz von Präsident Karzai und die Wie- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dererrichtung eines islamistischen Regimes. Es wäre die neten der SPD) Rückkehr in das Jahr 2001 und in die Zeit davor. Fünf Jeder, der heute für den Abzug der Bundeswehr ein- Jahre Aufbauarbeit und das Vertrauen der afghanischen tritt, muss sich die Frage stellen, ob er sein Verhalten Bevölkerung stehen auf dem Spiel. auch zum Maßstab für das Verhalten des gesamten Hau- ses machen könnte. Ich will niemandem, der heute gegen Mit dem Sturz des Talibanregimes ging 2001 eine Pe- die Mandatsverlängerung stimmt, unterstellen, dass er riode von Krieg und Bürgerkrieg zu Ende, die 27 Jahre das nur deswegen tut, weil er mit der Mehrheit des Hau- gedauert hat. Am Beginn dieser Tragödie stand ein kom- ses für den Einsatz rechnet. Jeder, der dagegen stimmt, munistischer Putsch, der später den Einmarsch der Roten muss sich daher klar machen, dass er das herbeiführen Armee nach sich zog. 27 Jahre Krieg und Bürgerkrieg würde, was er vorgibt, verhindern zu wollen. Sich heute sowie das Talibanregime haben das zuvor schon arme aus Afghanistan zurückzuziehen, hätte die Qualität eines Entwicklungsland in jeder Hinsicht ruiniert. Für einen Selbstmordes aus Angst vor dem Tode. Deswegen ist die Vergleich mit Deutschland ist die Zerstörung Deutsch- Fortsetzung unseres Engagements Voraussetzung für das lands und Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nicht Gelingen. Das ist aber nicht die einzige Voraussetzung, angemessen. Wir müssen den Vergleich mit dem Zu- sondern wir müssen auch über die Konsequenzen der stand Europas nach dem Dreißigjährigen Krieg im Besorgnis erregenden Entwicklung der letzten Wochen Jahre 1648 ziehen. und Monate nachdenken. Dazu werde ich gleich noch et- Gemessen an dieser Ausgangslage waren der Opti- was ausführen. mismus und die Aufbruchstimmung der internationalen Zunächst einmal müssen wir uns doch klar machen, Gemeinschaft in den letzten fünf Jahren möglicherweise warum wir überhaupt in Afghanistan sind und warum zu groß. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsere Ziele die Bundeswehr am Hindukusch steht. Der wesentliche jetzt der Realität anpassen und unsere Anstrengungen er- Grund sind die Gefahren, die vom transnationalen Ter- heblich erhöhen, damit wir diese Ziele auch erreichen rorismus ausgehen und die nach wie vor nicht gebannt können. sind. Vor zwei Wochen haben wir der Anschläge des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 11. September auf das World Trade Center in New York neten der SPD) und auch der Opfer, die es im Pentagon und in der Nähe von Pittsburgh gegeben hat, gedacht. „9/11“ ist zur Chif- Ich bin der Bundesregierung und auch – das will ich fre für den bisherigen Höhepunkt des internationalen hier deutlich sagen – unserem Botschafter in Kabul für 5212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Eckart von Klaeden (A) ihren Einsatz sowie für die realistische und nüchterne Wir brauchen vor allem eine bessere Koordination der (C) Einschätzung der Lage außerordentlich dankbar. Entwicklungshilfe, die dort von unterschiedlichen Part- nern geleistet wird. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Wir brauchen größere Anstrengungen beim Aufbau der Institutionen in diesem Land. Bisher sieht Das ist als eine Ehrenerklärung für unseren Botschafter das Konzept so aus, dass unterschiedliche Nationen un- Hans-Ulrich Seidt zu verstehen; terschiedliche Verantwortung übernommen haben: die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Briten für die Bekämpfung des Drogenanbaus, wir für DIE GRÜNEN und der LINKEN) den Aufbau der Polizei, die Amerikaner für den Aufbau der Armee, andere für den Aufbau der Infrastruktur und denn ich finde es in einem hohen Maße unfair, unkolle- den Aufbau eines Rechtsstaates, für eine korruptions- gial und unehrlich, Zitate aus einer geheimen Sitzung freie Administration und für die Entwaffnung der Mili- aus dem Zusammenhang zu reißen, zu entstellen und da- zen. mit in der Öffentlichkeit einen Eindruck entstehen zu lassen, der weder von dem Botschafter noch von der Im Augenblick beginnen die einzelnen Nationen, sich Bundesregierung noch von den sie tragenden Fraktionen gegenseitig die Verantwortung für die schwierige Ent- noch von anderen in dem Ausschuss vermittelt worden wicklung in den letzten Wochen und Monaten zuzu- ist. Man kann die sinnentstellten Zitate aus einer gehei- schieben. Es ist völlig richtig, dass man bei der Bekämp- men Sitzung nicht zurechtrücken – das liegt in der Natur fung des Drogenanbaus nur dann Erfolg haben kann, einer geheimen Sitzung –, weil man sich sonst selber wenn es gleichzeitig eine gut ausgebildete Polizei gibt. strafbar machen würde. Deswegen will ich das hier in Eine gut ausgebildete Polizei ist auf eine vernünftige Be- dieser Deutlichkeit, aber bedauerlicherweise auch in die- zahlung und auf eine korruptionsfreie Verwaltung oder ser Allgemeinheit so sagen. eine Verwaltung, die die Korruption in ihren eigenen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Reihen zumindest bekämpft, angewiesen. Diese Verwal- bei Abgeordneten der FDP) tung wiederum ist auf ein Sicherheitsumfeld angewie- sen, das voraussetzt, dass Milizen entwaffnet worden Auf unsere großen Erfolge – etwa sieben Millionen sind und dass der Aufbau der afghanischen Armee vo- Kinder, davon 40 Prozent Mädchen, können heute wie- ranschreitet. der zur Schule gehen – ist schon hingewiesen worden. Es ist kein Zufall, dass die Taliban vor allem diesen Fort- Was will ich damit sagen? Das eine hängt mit dem an- schritt bekämpfen, dass sie Anschläge auf Schulen ver- deren zusammen. Jeder muss sich klar machen, dass der (B) üben, dass sie Lehrer umbringen und dass in diesen Ta- eigene Beitrag und die eigene Aufgabe für das Gelingen (D) gen die Frauenbeauftragte der südafghanischen Provinz des Projekts Afghanistan essenziell sind, dass deswegen Kandahar ermordet worden ist. Wir sollten auch an diese alle zusammenarbeiten und ihre Anstrengungen vermeh- Menschen denken, die sich unter Einsatz ihres Lebens ren müssen, ohne mit dem Finger auf den anderen zu engagieren. Wir sollten uns klar machen, dass sie uns weisen. vertrauen und dass wir sie nicht im Stich lassen dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich will hier ganz ausdrücklich unseren Soldatinnen und neten der SPD) Soldaten, aber auch den vielen zivilen Helferinnen und Helfern danken, die den Namen unseres Landes nach Drittens. Wir müssen dazu übergehen, auch die Nach- Afghanistan tragen und unter Einsatz ihres Lebens groß- barstaaten Afghanistans stärker einzubeziehen. Wir müs- artige Arbeit leisten. sen darüber nachdenken, wie wir zu einem institutiona- lisierten Konsultationsprozess kommen können, für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den das Nahostquartett oder andere Kontaktgruppen ein neten der SPD) Beispiel sein können. Wir müssen dafür sorgen, dass Es gibt eine lange und beeindruckende Verbindung zum Beispiel der Dialog zwischen Afghanistan und Pa- Deutschlands zu Afghanistan. Es ist kein Zufall, dass kistan nicht allein dem amerikanischen Präsidenten fast die Hälfte der Mitglieder des afghanischen Kabinetts überlassen wird. fließend deutsch spricht. Es wird von uns ein besonderer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Einsatz erwartet und es wird uns ein besonderes Ver- trauen entgegengebracht. Diesem besonderen Vertrauen Wir müssen dafür sorgen, dass die zentralasiatischen sollten wir in Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten Staaten, die ein enormes Interesse an dem Auftrag, den weiterhin gerecht werden. wir in Afghanistan erfüllen, haben und auch einen enor- men Beitrag dazu leisten, stärker mit einbezogen wer- Was sind die Konsequenzen aus der Besorgnis erre- den. Wir müssen auch versuchen, Länder wie Indien und genden Entwicklung? Erstens. Wir müssen in Zusam- selbst China stärker in diesen Prozess mit einzubeziehen. menarbeit mit unseren Bündnispartnern unser Konzept der Entwicklungshilfe überarbeiten. Ich glaube, dass Es geht auch darum, die Demokratisierung Afgha- man zu früh von der Nothilfe auf strukturelle Hilfe um- nistans im Rahmen eines institutionellen Prozesses zu gestiegen ist. Wir müssen uns Gedanken machen, wie begleiten und dabei deutlich zu machen, dass es nicht das, was in den letzten Wochen und Monaten an Struktu- nur um die Stabilisierung Afghanistans, sondern der ge- ren zerstört worden ist, wieder aufgebaut werden kann. samten Region geht und dass wir an der Zusammenar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5213

Eckart von Klaeden (A) beit mit denjenigen interessiert sind, die bereit sind, in der Verteidigungsminister immer mehr gepanzerte Fahr- (C) der Region Verantwortung zu übernehmen und eigene zeuge vom Typ Dingo anfordert und der Truppe die Wei- Beiträge zu leisten. sung erteilt, diese Fahrzeuge und die Lager nicht mehr zu verlassen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) So sieht keine Erfolgsstory eines fünfjährigen Militär- einsatzes aus, der zu einer Verlängerung drängt. Es geht also um drei Aspekte: erstens die Verbesse- rung und Überprüfung der internationalen Entwick- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE lungshilfe, zweitens die bessere Koordination der jewei- GRÜNEN]: Die gibt es nicht!) ligen Schlüsselaufgaben, die die einzelnen Nationen übernommen haben, und drittens die Institutionalisie- Die Bundeswehr klagt selbst über eine dramatisch sin- rung eines Konsolidierungsprozesses. Niemand hat den kende Zustimmung der afghanischen Bevölkerung zu ih- Stein der Weisen gefunden, was die weitere Entwicklung rem Einsatz. Herr von Klaeden, ich weiß nicht, woher in Afghanistan angeht. Aber heute schon durch eine Ab- Sie die anders lautende Information haben. Der Bot- lehnung unseres weiteren Engagements dafür zu sorgen, schafter hat sie gestern in der geheimen Sitzung nicht be- dass Afghanistan scheitert, wäre verantwortungslos und stätigt. letztlich auch mit verheerenden Konsequenzen für die Die anfängliche Sympathie für die ISAF ist in weit Sicherheit unseres eigenen Landes verbunden. Deswe- gehende Ablehnung und – insbesondere im Süden – in gen brauchen wir die Fortsetzung und Verbesserung un- Hass umgeschlagen. Sie haben Ihr politisches Urteils- seres Engagements und vor allem auch eine sorgfältige vermögen der militärischen Logik geopfert, dass die und aufmerksame Begleitung der Arbeit der Bundes- NATO das Feld nicht als Verlierer verlassen darf. Aber regierung durch den Deutschen Bundestag. Sie erinnern sich sicherlich: Die USA hatte keinen Rück- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zugsplan aus Vietnam und ist von dort vertrieben wor- den. Die Sowjets hatten keinen Rückzugsplan für Afgha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nistan und sind von dort vertrieben worden. Die USA neten der SPD) und ihre Koalition stehen nun im Irak erneut vor einem Desaster, aus dem sie mit militärischen Mitteln nie he- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rauskommen werden. In Afghanistan droht ihnen das- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norman Paech von selbe. der Fraktion Die Linke. Es ist lobenswert, wenn aus der CDU/CSU-Fraktion (B) (Beifall bei der LINKEN) nun die Forderung kommt, Bundeswehreinsätze künftig (D) nur unter der Bedingung, dass sie befristet sind und dass es eine Exitstrategie gibt, zu bewilligen. Aber beides Dr. Norman Paech (DIE LINKE): liegt in diesem Fall nicht vor. Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutigen Zeitungsmeldungen stützen Ihre (Beifall bei der LINKEN) Position überhaupt nicht, Herr Außenminister. Es gibt aber schon seit Wochen und Monaten täglich Meldungen Sie müssten also die Verlängerung ablehnen; denn die über Anschläge, Selbstmordattentate, Überfälle und Bundesregierung hat – wir haben ständig nachgefragt – Kampfhandlungen. Es ist erstaunlich, dass Sie das zwar keine Vorstellung über die Dauer des Einsatzes. Stattdes- offensichtlich mit Sorge erfüllt, aber nicht in Ihrer Ent- sen lässt sie im Norden, in der Nähe von Masar-i-Scha- scheidung irritiert, den Einsatz der Bundeswehr immer rif, ein gigantisches militärisches Fort mit der Perspek- wieder zu verlängern. tive von zehn bis 15 Jahren bauen. Sie hat außerdem gemeinsam mit dem NATO-Rat die ISAF zu einer Wir hören von der Bundesregierung seit Monaten nur, Kampftruppe umgewandelt, die nun in den Süden und dass die Situation in Afghanistan nicht ruhig und nicht den Osten Afghanistans geschickt wird. stabil ist. Sie preist den Aufbau demokratischer Institu- tionen, gibt aber fairerweise zu, dass diese – kaum ent- Während wir hier reden, tritt ein neuer Beschluss des standen – schon von Korruption durchzogen sind. NATO-Rates in Kraft, der den Einsatz der ISAF-Truppe auf den umkämpften Osten Afghanistans ausweitet. Dies In Ihrer Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion bedeutet, dass künftig rund 13 000 US-amerikanische versuchen Sie, uns mit einem – ich zitiere – „verbesser- Soldaten, und zwar alte Antiterrortruppen, im Osten Af- ten Klima der Sicherheit“ zu beruhigen. Das ist – mit ghanistans dem NATO-Kommando der ISAF unterstellt Verlaub – eine besonders einfältige Form der Schönred- werden, während die übrig gebliebenen 8 000 US-ameri- nerei. kanischen Soldaten den Antiterrorkampf der von den USA geführten Operation Enduring Freedom fortsetzen. (Beifall bei der LINKEN) Natürlich kann auch die Bundeswehr dorthin geschickt Denn aus den Medien erfahren wir täglich, dass sich die werden; denn das ist seit einem Jahr Bestandteil des Verluste bei den britischen und amerikanischen Truppen Mandats. Die NATO will also nun einen Krieg fortset- drastisch erhöht haben und die Taliban die Kampfformen zen, den die US-amerikanischen Streitkräfte seit fünf aus dem Irak übernommen haben und allmählich in den Jahren im Rahmen der Operation Enduring Freedom er- Norden tragen. Insofern ist es nur zu verständlich, dass folglos führen. Es ist vollkommen irreführend, zu 5214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Norman Paech (A) behaupten, die Trennung von ISAF und der Antiterror- Ich glaube, dass wir Afghanistan heute weder mit (C) truppe OEF bestehe weiterhin. Schönfärberei noch mit Schwarzmalerei begegnen dür- fen. Vielleicht könnte man sich, auch mit Blick auf die (Beifall bei der LINKEN) Kollegen der Linken, einfach an Antonio Gramsci hal- Die Einsätze sind vielmehr eng verzahnt. Die Infrastruk- ten. Er hat einmal von der Haltung des Optimismus des tur wird geteilt. Die Kommandeure sind teilweise iden- Herzens und des Pessimismus des Geistes gesprochen. tisch. Wenn wir uns dieser Haltung befleißigen, dann muss man feststellen: Es gibt nicht das eine Afghanistan. Es Blicken Sie doch endlich realistisch auf die tiefe Kluft gibt zwei Afghanistan. Es gibt das Afghanistan des zwischen der fortschreitenden Verschlechterung der Si- Nordens. Hier wird gebaut, hier gehen Millionen, auch cherheitslage und Ihrem illusionären Afghanistankon- Mädchen, wieder zur Schule. Hier gibt es eine positive zept! Der Grundfehler ist, dass die Stabilisierung und der Entwicklung und hier wird Nation-Building betrieben. Wiederaufbau Afghanistans als Nation-Building, als Hier gibt es eine wesentlich von Deutschen angeführte eine grundlegende Transformation von Gesellschaft und zivil-militärische Kooperation. Natürlich gibt es auch Institutionen begriffen werden. Daran waren die Sowjets hier Korruption und es gibt auch Anschläge. Aber nie- schon vor 20 Jahren gescheitert. Erinnern Sie sich daran! mand wird ernsthaft bestreiten, dass sich die Situation in (Beifall bei der LINKEN) dieser Region seit dem Sturz der Taliban zum Besseren entwickelt hat. Die Carnegie-Stiftung hat unlängst 18 Regimewechsel untersucht, die mit amerikanischen Bodentruppen vorge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nommen wurden. Sie kommt zu dem Ergebnis: 13-mal und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Christian wurde das Ziel, eine Demokratie oder eine ähnliche Re- Ruck [CDU/CSU]) gierungsform zu etablieren, verfehlt. Diese Art des Na- Man kann es auch so sagen: Im Norden Afghanistans ist tion-Building hat im Irak schon mehr als 250 Milliarden das Glas halb voll. Ich finde, wir müssen alles dafür tun, US-Dollar gekostet und sich selbst widerlegt. dass es voller wird. Zum Schluss: Ganz anders ist die Situation im Süden, in den Gebie- ( [CDU/CSU]: Gott sei ten der Paschtunen an der Grenze zu Pakistan. Hier do- Dank!) miniert der Krieg. Bewaffnete Aufständische beherr- schen weite Teile des Landes. Ein amerikanischer Herr Minister, wir sind mit Ihren Forderungen nach ei- kommandierender General brachte die Situation mit dem (B) nem politischen Aufbau, der Bildung einer Polizei und Satz auf den Punkt: Wo die Straßen enden, herrschen die (D) Alternativen zum Drogenanbau vollständig einverstan- Taliban. – Im Süden ist Krieg. Hier ist das Glas nicht den. Aber was machen Sie bislang? Sie geben jährlich halb voll, hier ist es wahrscheinlich dreiviertel und 80 Millionen Euro für die Entwicklungshilfe aus, aber es leert sich täglich weiter. fast das Sechsfache, rund 460 Millionen Euro, für das Militär. Tauschen Sie die Summen aus! Bereiten Sie mit Diese Entwicklung ist mit dem Begriff der Irakisie- den 80 Millionen Euro den Rückzug des Militärs vor rung des Südens beschrieben worden. Man muss zwi- und stecken Sie die 460 Millionen Euro in zivile Pro- schen den Ursachen der Konflikte unterscheiden. Sie jekte! Dann werden Sie sich auch wieder ohne Panzer- sind nicht identisch. Aber die Parallele auf der Ebene der wagen in Afghanistan bewegen können. Phänomene ist doch unübersehbar. Selbstverständlich hat allein der Krieg gegen den Irak viele Kapazitäten Danke schön. beispielsweise der USA gebunden, die nun in Afghanis- (Beifall bei der LINKEN) tan nicht mehr vorhanden sind. Selbstverständlich ist auch da zu beobachten – viele Besucher berichten das –, dass dort private Sicherheitsfirmen dominieren, die teil- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weise Söldner beschäftigen, die auch für jeden anderen Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin vom Warlord arbeiten würden. Selbstverständlich muss man Bündnis 90/Die Grünen. die Frage stellen, ob es klug ist, Truppen, die vorher im Kampfeinsatz in einem sehr blutigen Krieg im Irak ge- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wesen sind, anschließend in Afghanistan einzusetzen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Man braucht sich nicht zu wundern, wenn sie dort ähnli- Kollege Paech, ich wusste gar nicht, dass Sie etwas mit che Methoden anwenden. George W. Bush gemeinsam haben. Außer Ihnen glaubt nur noch er, dass die Taliban auf einer Ebene mit der Be- Aber unübersehbar ist der Konflikt im Irak auch für freiungsbewegung des Vietcong stehen. Deswegen wäre die andere Seite ein Modell für Afghanistan geworden. ich an Ihrer Stelle mit Vergleichen von Afghanistan mit Es hat vor dem Krieg im Irak keine Selbstmordattentate Vietnam sehr vorsichtig. in Afghanistan gegeben, wie sie nun verstärkt vor allem im Süden stattfinden. Auch die bewaffneten Aufständi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen lernen von ihrem Gegner nicht nur über CNN und und bei der SPD – Widerspruch bei der LIN- al-Dschasira. Auch sie privatisieren mittlerweile den KEN) Krieg. Ihre Day-by-day-Kämpfer erhalten übrigens das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5215

Jürgen Trittin (A) Doppelte des Soldes der Soldaten der afghanischen Ar- ist schon in Südamerika zum Scheitern verurteilt gewe- (C) mee. sen –, Berücksichtigen wir schließlich, dass die Aufständi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen mit den Paschtunengebieten in Pakistan ein offe- dann muss man sich andere Gedanken machen und dann nes Hinterland haben und durch den gewachsenen Dro- auch einmal so frei sein, etwa darüber nachzudenken, ob genanbau über beachtliche Geldressourcen verfügen, es nicht eine Alternative ist, den Bauern das Opium ab- dann verstehen wir, warum beispielsweise „Newsweek“ zukaufen und es zu vernichten, wenn sie ihren Lebens- diese Woche mit dem Titel „Losing Afghanistan“ auf- unterhalt mit dem Verkauf anderer landwirtschaftlicher macht und die Frage aufwirft, ob sich der Sieg hier in Produkte nicht bestreiten können. eine Niederlage verwandelt. Wir müssen uns einer Tatsa- che stellen: Nur militärisch ist dieser Konflikt in Afgha- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ nistan nicht zu gewinnen. Deswegen macht es auch DIE GRÜNEN und der LINKEN) keinen Sinn, blind mehr Truppen in den Süden hineinzu- schicken. Das ist übrigens keine Feststellung, die Pazi- Wenn es richtig ist, dass auch im Norden Afghanis- fisten und Friedensfreunde für sich gepachtet haben. Der tans Korruption und staatliche Inkompetenz vorhanden Oberkommandierende der NATO bis 2004, Wesley sind, dann müssen wir sämtliche Anstrengungen unter- Clark, schreibt in der gleichen Ausgabe von „News- nehmen, damit mehr Polizei im Einsatz ist, und dann week“ über diesen Krieg: The real war isn’t military. It’s darf es keine weiteren Verzögerungen im Bereich des political and economic. – Er schreibt seiner Regierung Justizaufbaus geben. ins Stammbuch, sie müsse endlich anerkennen, dass dort Die Bedrohung dieses ganzen Prozesses hängt auch Nation-Building betrieben werden müsse. Das ist das, mit der Unfähigkeit und/oder – ich weiß es nicht – dem was Deutschland im Norden im Rahmen von ISAF Unwillen der pakistanischen Regierung zusammen, das macht. Grenzgebiet zu kontrollieren. Welche Konsequenzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ziehen eigentlich wir, die Bundesrepublik Deutschland, sowie bei Abgeordneten der SPD und der Europa und die internationale Gemeinschaft aus dieser CDU/CSU) Tatsache für die Politik gegenüber Pakistan? Ohne ei- nen verstärkten Polizei- und Justizaufbau, ohne eine an- Ich finde, Wesley Clark hat Recht. Wir müssen den dere Drogenpolitik, ohne eine dramatische Änderung der zivilen Aufbau stärken. Wir dürfen nicht mehr kleckern, Pakistanpolitik wird die Afghanistanpolitik scheitern. sondern wir müssen klotzen. Die Angabe, dass die inter- Mit der Forderung nach einer notwendigen Änderung (B) nationale Gemeinschaft 85 Milliarden für das Militäri- (D) sche und 7 Milliarden für den Aufbau aufgewendet hat, der Politik verbindet die Mehrheit meiner Fraktion ihre ist richtig. Dieses Verhältnis muss man verschieben. Das heutige Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Man- ist richtig. Nur werden Sie diese Verschiebung nicht hin- dats. Wir wissen eines: Ein Abzug von ISAF würde jede bekommen, wenn Sie darauf verzichten, den Aufbau mi- Chance zur Änderung der Afghanistanpolitik zerschla- litärisch abzusichern. Das ist die Unlogik an dieser gen. Ein Abzug von ISAF würde das Glas auch im Nor- Stelle. den leeren. Es wäre die Irakisierung des gesamten Af- ghanistans. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das kann niemand wollen. Es geht dabei nicht nur um mehr Geld; vielmehr muss man auch darauf achten, dass dieses Geld dort ankommt, Wir nehmen auch zur Kenntnis, dass die Bundesre- also nicht in dunklen Kanälen versickert, und dass die gierung Änderungsbedarf in der Politik gegenüber Af- Traditionen, die kulturellen Gefühle der Menschen so- ghanistan sieht. Wir erwarten, dass diese Bereitschaft die wie die traditionellen Entscheidungsstrukturen berück- Fragen der Operation „Enduring Freedom“ einschließt. sichtigt werden. Es gibt Projekte, die dies tun. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass diese beiden Einsätze strikt getrennt werden. Die USA und Großbri- Die internationale Gemeinschaft muss nicht nur im tannien trennen dies nicht. Norden, sondern in – ich betone – ganz Afghanistan end- lich ein nicht nur von Deutschland oder Norwegen, son- So richtig es ist, dass der zivile Aufbau ohne ISAF ge- dern von allen Mitgliedern getragenes, flächendecken- fährdet ist, so richtig ist aber auch, dass es keine dauer- des Konzept einer zivil-militärischen Kooperation haft funktionierende Koexistenz geben kann zwischen umsetzen. einem bloß militärisch verstandenen Kampf gegen den Terrorismus und einem zivil-militärischen Ansatz, wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir ihn – ich finde, erfolgreich – verfolgen. Dabei müssen wir auch aus den Fehlern und Erfah- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ rungen lernen. Wenn die Opiumernte trotz Ersatzange- DIE GRÜNEN und der SPD) boten und trotz des massenhaften Niederbrennens von Feldern – das ist nur ein Beispiel – einen Rekordwert er- Ein solches Nebeneinander kann wiederum zu der be- reicht, dann kann man nicht einfach nur stumpf einen fürchteten Irakisierung beitragen. Wir erwarten von der Krieg gegen die Droge weiterführen – ein solcher Krieg Bundesregierung, dass sie diesem Haus, bevor sie uns im 5216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Jürgen Trittin (A) Oktober um die Verlängerung des Mandats „Enduring Das deutsche ISAF-Kontingent hat seinen Schwer- (C) Freedom“ bittet, hier eine wirkliche Bilanz über Er- punkt im Norden des Landes, ist aber zwischenzeitlich folge und Probleme, über die Notwendigkeit und auch in die Lage versetzt worden, ISAF-Operationen zeitlich über das Spannungsverhältnis gegenüber ISAF vorlegt. und im Umfang begrenzt auch in anderen Regionen zu Wir wollen die Irakisierung ganz Afghanistans verhin- unterstützen, sofern dies – ich zitiere – „zur Erfüllung dern. Deswegen werden wir heute zustimmen. Deswe- des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar ist“. Diese Aus- gen werden wir aber auch Ihre Erfahrungen mit „Endu- dehnung des Mandats ist mit der Mandatsverlängerung ring Freedom“ sehr genau zu prüfen haben. im September 2005 beschlossen worden. Sie wird im vorliegenden Antrag der Bundesregierung ausdrücklich Vielen Dank. wiederholt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich mache auf diesen Punkt aufmerksam, weil sich sowie bei Abgeordneten der SPD) nicht nur im Süden und Osten Afghanistans, aber doch vor allem dort die Sicherheitslage deutlich verschlechtert Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hat. Es ist deshalb nicht völlig auszuschließen, dass ganz im Sinne des erweiterten Mandats neue Anforderungen Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Ulrich Klose von auch an das deutsche ISAF-Kontingent herangetragen der SPD-Fraktion. werden. Hierzulande wünscht das niemand. Auszu- schließen ist es aber nicht, was mich jedenfalls veran- Hans-Ulrich Klose (SPD): lasst, anknüpfend an eine Aussage von Herrn Dr. Hoyer, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heu- an die Zusage der Bundesregierung zu erinnern, im Rah- tige Entscheidung zur fortgesetzten Beteiligung der Bun- men der regelmäßigen Unterrichtung über die Auslands- deswehr an der International Security Assistance Force, einsätze der Bundeswehr das Parlament unverzüglich ISAF, ist keine Routineentscheidung. Jeder und jede, ob über Unterstützungsleistungen außerhalb der Nordregion dem Ja zuneigend oder dem Nein, muss den Antrag der zu informieren. Bundesregierung genau prüfen, einmal um eigenständig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entscheiden zu können, zum anderen um der Bevölke- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- rung, den Menschen in den Wahlkreisen, erklären zu SES 90/DIE GRÜNEN) können, warum wir uns mit Soldaten in Afghanistan en- gagieren. Dies ist umso wichtiger, je unschärfer die Abgrenzung zwischen Terrorismusbekämpfung einerseits und ISAF- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (B) Unterstützungsoperationen andererseits wird. (D) Kastner) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr wahr!) „Die Bundesrepublik wird auch am Hindukusch ver- teidigt“, das war die knappe Formel des früheren Vertei- Die Bundesregierung betont in ihrem Antrag, dass es digungsministers Peter Struck. Sie ist richtig, überzeugt bei der klaren Abgrenzung und deshalb auch bei der aber nur, wenn die Hindukuschmetapher richtig verstan- Trennung der beiden Mandate, Enduring Freedom und den wird. Sie steht für eine sehr grundsätzliche, wenn ISAF, bleibt. Ich unterschreibe das ausdrücklich, habe man so will, globale Herausforderung des Westens, aber, wie ich zugebe, wachsende Zweifel, ob diese klare westlicher Lebensweise und westlicher Werte durch reli- Abgrenzung noch lange möglich und kommunizierbar giös motivierte Gotteskrieger, denen es letztlich um die ist. Vorherrschaft einer bestimmten Lesart des Islam und der (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!) Scharia geht – in Afghanistan und weit darüber hinaus. Je grimmiger sich der neuerlich aufgeflammte Wider- Afghanistan – daran muss fünf Jahre nach den Anschlä- stand im Süden Afghanistans entwickelt, umso ähnlicher gen von New York und Washington erinnert werden – war werden sich die beiden Mandate und umso vernehmli- das Gastland, das logistische Zentrum, das ideologische cher melden sich in der deutschen Öffentlichkeit die und kriegerische Trainingscamp von al-Qaida und ist es Zweifler zu Wort, die zum Rückzug blasen. grenzüberschreitend nach Pakistan noch immer oder schon wieder. Das zeigen die jüngsten Kämpfe im Süden Ich will nicht schwarzmalen, obwohl oder weil ich und Osten Afghanistans. Was dort stattfindet, ist die seit einiger Zeit den Eindruck habe, dass die Zahl der Fortsetzung eines Krieges, der nie zu Ende geführt Skeptiker zunimmt. Aber auch das neue Afghanistan- wurde, weil Amerika sich auf einen anderen, den Krieg konzept der Bundesregierung, Herr Außenminister, ist im Irak, konzentrierte. alles andere als optimistisch. Man kann es realistisch nennen; optimistisch nicht. Es werden zu Recht Fort- Die jüngsten Angriffe der wiedererstarkten Taliban- schritte bei der Wiederbegründung afghanischer Staat- kämpfer richteten sich gegen ISAF-Soldaten, die im Sü- lichkeit beschrieben, aber immer noch ist das Land weit den und Osten Afghanistans eingesetzt sind, vor allem entfernt von Stabilität und Good Governance. Eine deut- Briten und Kanadier. Es sind NATO-Soldaten. Der Un- liche Verbesserung der Lebensverhältnisse ist nicht er- terstützungsauftrag von ISAF ist inzwischen auf ganz reicht worden. Die nicht unbeträchtlichen Hilfsmittel, Afghanistan ausgedehnt worden und wird von der die die internationale Gemeinschaft zur Verfügung ge- NATO geführt. stellt hat, sind, vorsichtig formuliert, nicht immer bei Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5217

Hans-Ulrich Klose (A) den Menschen angekommen. Es hat Geschäftemacherei Nein, meine Damen und Herren, es handelt sich nicht (C) und Korruption gegeben und die Sicherheitslage ist nicht um eine Routineentscheidung, die wir heute zu treffen nur durch den Terror gefährdet, sondern auch durch Kri- haben. Jeder entscheidet für sich mit Ernst und der nöti- minelle, Warlords und Drogenbarone. Die Taliban profi- gen Portion Skepsis, die sich immer einstellen muss, tieren von Enttäuschung und Unsicherheit. Sie sind in wenn wir über militärische Auslandseinsätze zu ent- Afghanistan nicht beliebt, aber sie gewinnen an Boden, scheiden haben. weil andere an Sympathie verlieren. Darauf, meine Da- men und Herren, haben auch die weiblichen Abgeordne- (Beifall der Abg. [Essen] [SPD]) ten des afghanischen Parlaments hingewiesen, die uns Wir denken dabei in erster Linie an das Wohl unserer kürzlich in Berlin besucht haben. Sie waren allesamt für Soldaten. Wir danken ihnen und den vielen zivilen Hel- die Fortsetzung des ISAF-Mandats, fern für ihren Einsatz in Afghanistan. Sie helfen dem (Monika Knoche [DIE LINKE]: Nein, nicht Land am Hindukusch und sie helfen uns. alle!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP weil dessen Beendigung die sofortige Rückkehr der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warlords und Taliban zur Folge hätte, worunter vor al- lem die Frauen leiden müssten. Dennoch war auch bei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: diesen Abgeordneten eine zunehmende Skepsis vor al- Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDP- lem gegenüber Amerika zu spüren. Fraktion. (Monika Knoche [DIE LINKE]: Das stimmt!) Birgit Homburger (FDP): Ich will die Schar der Schwarzmaler nicht vergrößern, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Gegenteil: Ich will, dass die NATO-Länder in Afgha- Die FDP wird heute der Verlängerung des ISAF-Man- nistan erfolgreich sind, damit Afghanistan an Zukunft dats zustimmen; denn wir sind der Meinung, es wäre gewinnt und die NATO ihre Glaubwürdigkeit behält. falsch, in der jetzigen Situation die Truppen abzuziehen. Die NATO darf nicht scheitern. Im Interesse unserer Si- Das würde das Land in ein Chaos stürzen und alle bishe- cherheit darf die NATO nicht scheitern. rigen Bemühungen und Fortschritte zunichte machen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Die Bundesregierung muss aber wissen, dass das keinen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Freibrief für die Zukunft darstellt. Diese Zustimmung NISSES 90/DIE GRÜNEN) gilt nicht unbegrenzt und eine routinemäßige Verlänge- (B) rung von Bundeswehreinsätzen wird es jedenfalls mit (D) Sie braucht aber dringlich eine abgestimmte und in den der FDP nicht geben. Prioritäten leicht veränderte Strategie: eine militärische und eine politische Strategie. Mit militärischen Mitteln (Beifall bei der FDP) allein ist der Kampf gegen den internationalen Terro- rismus nicht zu gewinnen, weder im Irak noch in Afgha- Der Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten ist nistan. nur dann sinnvoll, wenn er der Durchsetzung eines rea- listischen politischen Konzepts dient. Daran mangelt es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie im Augenblick. Da muss die Bundesregierung aus unse- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- rer Sicht auch nacharbeiten. Sie muss alle Anstrengun- NISSES 90/DIE GRÜNEN) gen unternehmen, um sichtbare Fortschritte bei der Ver- besserung der Sicherheitslage und beim Wiederaufbau Darf man diese beiden Länder in einem Atemzug des Landes zu erreichen. Die Menschen in Afghanistan nennen? Ich denke schon; denn in beiden Ländern zeigt müssen das Gefühl haben, dass sich ihre persönliche Si- sich, dass man trotz überlegener militärischer Stärke und tuation verbessert. Aber auch die Bürger in Deutschland besten Absichten scheitern kann, wenn man die Unter- müssen das Gefühl haben, dass es vorangeht und dass stützung der Bevölkerung verliert. Das scheint jedenfalls der Einsatz etwas bringt, wenn wir wollen, dass unser im Süden Afghanistans der Fall zu sein. Wer daran Engagement für die Stabilisierung und Demokratisie- schuld ist – die Regierung in Kabul, der Nachbar Pakis- rung Afghanistans auch in der deutschen Öffentlichkeit tan, die westliche Führungsmacht –, das ist schwer zu sa- Unterstützung findet. gen. Verbale Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Entscheidend ist, dass der Westen aus den bisherigen Er- (Beifall bei der FDP) fahrungen im Kampf gegen den internationalen Terroris- mus die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Es handelt Deshalb erfordert die aktuelle Lage eine kritische sich in erster Linie um einen politischen Kampf. Nicht Bestandsaufnahme. Nach wie vor bestehen Defizite im die Zahl der getöteten Feinde, sondern die Zahl der für Hinblick auf den Aufbau einer funktionierenden Polizei die eigene Sache gewonnenen Freunde und Partner ent- und eines funktionsfähigen Justiz- und Strafvollzugsys- scheidet über Erfolg und Misserfolg. tems. Die Problematik beim Drogenanbau, aber auch die Probleme in den Beziehungen zwischen Afghanistan (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem und Pakistan hat mein Kollege Werner Hoyer bereits be- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- schrieben. Dazu kommen Berichte über zunehmende geordneten der FDP) Bedrohungen durch gewaltbereite Kräfte und vermehrte 5218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Birgit Homburger (A) Anschläge auf ISAF-Soldaten, auch auf deutsche Solda- ermächtigung. Deshalb erwarten wir von der Bundes- (C) ten im Norden. regierung zunächst einmal eine klare Information des Parlamentes. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee Anfang September hat die Bundesregierung dann ihr und deshalb müssen wir Bescheid wissen, wenn Solda- Afghanistankonzept vorgelegt. Immerhin hat die Bun- ten außerhalb des Kerngebietes eingesetzt werden. desregierung jetzt ihre Bewertung geändert. Während sie im April noch davon gesprochen hat, dass im letzten Be- (Beifall bei der FDP) richtszeitraum latente Spannungen unter Kontrolle ge- Wir erwarten auch, dass das die absolute Ausnahme halten werden konnten, sagt sie jetzt, dass sich in vielen bleibt; denn der Norden hat ein latentes Eskalations- Regionen Afghanistans die Sicherheitslage deutlich ver- potenzial. Die Bundeswehr ist voll und ganz gefordert, schlechtert hat. Damit stellt sich die Bundesregierung die Situation im Norden stabil zu halten. Dass es schon endlich der Realität, die wir vorfinden. Das Konzept, heute an der Ausstattung mangelt, dass es einen Mangel liebe Kolleginnen und Kollegen, muss jetzt darauf aus- an gepanzerten Fahrzeugen und auch an Lufttransportka- gerichtet sein, daraus militärische und politische Konse- pazitäten gibt, zeigt, dass wir uns in der Tat auf den Nor- quenzen zu ziehen. den konzentrieren müssen. Die Bundesregierung muss mit den NATO-Partnern Die Bundesregierung hat unsere Unterstützung, wenn sprechen. Die NATO kann nicht einfach weitermachen sie keine weitere Ausweitung der Obergrenze der Zahl wie bisher. Das fängt mit der Frage an, wie die Soldaten der Soldaten vornimmt und auch keine Ausweitung des auftreten, ob sie den Menschen in Afghanistan mit Einsatzgebietes nach Osten und Süden. Die Bundeswehr Respekt begegnen oder ob sie als Besatzer wahrgenom- ist vor dem Hintergrund einer Vielzahl weiterer Aus- men werden. Da gilt es, alles zu tun, damit der gute Ruf landseinsätze – inzwischen in fünf Regionen der Erde – und die bisherigen Kontakte, die die Bundeswehr zu den wirklich an der Grenze der Belastbarkeit angelangt. Sie Menschen in Afghanistan hat, aufrechterhalten bleiben. ist materiell, personell und finanziell nicht in der Lage, Herr Minister Jung, deshalb ist auch die Korrektur Ihrer weitere Auslandseinsätze zu übernehmen oder beste- Haltung, die Anpassung Ihrer Strategie mit der Folge, hende Auslandseinsätze drastisch auszuweiten. Wir Par- dass man angepasst an die jeweilige Gefährdungslage lamentarier müssen wissen, dass unter den derzeit beste- weiter Fußpatrouillen durchführt, richtig gewesen. Wir henden Umständen das Ende der Fahnenstange, was brauchen den Kontakt zu den Menschen und wir müssen weitere Einsätze angeht, erreicht ist. die NATO-Partner dazu bringen, ihr Verhalten ebenfalls zu ändern. Die Bundesregierung will den Bundeswehreinsatz erst nach Schaffung eines sicheren Umfeldes beenden. (B) (Beifall bei der FDP) Das ist zwar sicherlich richtig, aber wir brauchen eine (D) Deutschland ist natürlich auch besonders beim Auf- Exit-Strategie. Wir müssen mit unseren Partnern reden, bau der Polizei gefordert. Wir haben hier die Verantwor- wie man erreichen kann, dass die Truppen wieder abzie- tung übernommen. Herr Minister Steinmeier, Sie haben hen können. Es müssen politische Zwischenschritte ver- das auch vorgetragen. Eine funktionierende Polizei ist einbart werden, die in einem klaren Zeitplan münden. eine zentrale Voraussetzung, damit die afghanische Re- Wir brauchen ein abgestimmtes politisches Konzept. Ein gierung irgendwann selbst in der Lage ist, für Sicherheit solches vorzulegen, ist Ihre Aufgabe, meine Damen und und Ordnung zu sorgen. Die Anstrengungen in diesem Herren von der Regierung. Es ist unvorstellbar, dass die Punkt dürfen nicht etwa eingeschränkt, sondern müssen Bundeswehr noch weitere 15 oder 20 Jahre in Afghanis- eher verstärkt werden, Herr Minister. Dazu gibt es offen- tan bleibt. sichtlich nach wie vor unterschiedliche Vorstellungen in- nerhalb der Bundesregierung. Deshalb hat die FDP-Bun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: destagsfraktion auch eine Kleine Anfrage gestellt, mit Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist deutlich überschrit- der wir genau diese Frage klären wollen. Wir sind näm- ten. Würden Sie bitte zum Ende kommen? lich der Meinung, dass das ein ganz wesentliches Ele- ment für den weiteren Aufbau Afghanistans ist. Wir wol- Birgit Homburger (FDP): len Ihnen hier gern die Gelegenheit geben, die Position Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. der Bundesregierung zu koordinieren. Nach der Mandatsverlängerung darf es kein Business Die Bundeswehr hat die Verantwortung für die ge- as usual geben. Jetzt werden die Weichen neu gestellt. samte Nordregion übernommen und leistet damit auch Das nächste Jahr des Mandats ist entscheidend für die einen wichtigen Beitrag zum ISAF-Gesamtauftrag. Es Zukunft. Es handelt sich um keine Routineoperation; es wurde gerade schon von meinem Vorredner zitiert, dass gibt schon gar keinen Automatismus für die Zustim- die Möglichkeit besteht, zeitlich und im Umfang be- mung zu diesem Einsatz. Deutschland und auch die grenzt auch ISAF-Operationen in anderen Teilen des NATO müssen aus den veränderten Bedingungen, die Landes zu unterstützen. Dies geht aber nur insofern, als wir derzeit in Afghanistan vorfinden, die Konsequenzen dies zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweis- ziehen. bar ist. Vielen Dank. Ich sage klar und deutlich, die FDP-Fraktion trägt diese Notfallklausel mit. Das ist aber keine General- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5219

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Erstens. Wir müssen überall dort, wo es möglich ist, (C) Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/ den Übergang von Soforthilfemaßnahmen zu einer lang- CSU-Fraktion. fristigen Aufbauarbeit konsequenter vorantreiben, vor allem wenn es darum geht, dafür zu sorgen, dass die Af- (Beifall bei der CDU/CSU) ghanen im Verwaltungssystem, im Ausbildungssystem und im Sicherheitssystem ihre Verantwortung mit hoher Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Kompetenz eines Tages selbst übernehmen können. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Afgha- Zweitens ist der Ausbau unserer Polizeiausbildung nistan ist nicht nur der Ort des größten Bundeswehrein- wichtig; darauf wurde schon hingewiesen. Hierbei geht satzes, sondern auch der Ort der größten Baustelle deut- es nicht nur um eine quantitative Steigerung einer wirk- scher Entwicklungspolitik. Nirgendwo anders als in lich qualitativ hochwertigen Arbeit, sondern auch um die Afghanistan zeigt sich so dramatisch: Es gibt keine Komponente der Bezahlung. Denn auch der am besten Sicherheit ohne Entwicklung und keine Entwicklung ausgebildete und am höchsten motivierte Polizist wird ohne Sicherheit. Mit dem Einsatz unserer Soldaten schwach, wenn ihm die Warlords das Doppelte des Ge- schaffen wir ein Zeitfenster für Stabilisierung und Wie- halts von dem anbieten, was ihm die offizielle Regierung deraufbau. Vom Erfolg des Wiederaufbaus hängt wie- zahlen kann. Diese Komponente ist, glaube ich, genauso derum die Sicherheit unserer Soldaten ab. wichtig. Es gibt bereits – das wurde schon gesagt – große Er- Eine wichtige Erkenntnis aus unseren Schwierigkei- folge beim Wiederaufbau. Beispielsweise ist das Pro- ten ist, dass der Aufbau und die Stabilität in Afghanis- Kopf-Einkommen um 77 Prozent gestiegen. Die vielen tan ein Mosaik bilden. Wenn einzelne Teile nicht fertig Schülerinnen und Schüler, die jetzt wieder eine Schule werden oder herausbrechen, ist das Ganze gefährdet und besuchen können, wurden ebenfalls schon erwähnt. Das bricht das Ganze auseinander. Oder umgekehrt: Wenn alles ist ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu dem andere mit der Erfüllung ihrer Hausaufgaben, zum Bei- Zustand vor fünf oder sechs Jahren – Sie erinnern sich spiel im Drogenbereich, beim Aufbau der Justiz oder bei sicher –, als wir bei Null angefangen haben. der Entwicklung im Süden, Schwierigkeiten haben, dann ist der Gesamterfolg und damit auch unser Erfolg, den Es ist auch richtig: Unsere Soldaten und unsere Ent- wir zweifellos im Norden haben, gefährdet. Das hat für wicklungsexperten genießen einen hervorragenden Ruf. mich zwei Konsequenzen: Es muss erstens eine bessere Das PRT-Konzept, das auch bei uns heftig diskutiert Koordination insgesamt und zweitens eine stärkere wurde, war angesichts des riskanten Umfeldes in Afgha- Nachbarschaftshilfe geben. (B) nistan genau richtig. Diese Position können wir auch (D) nach außen vertreten. Zum Stichwort Koordination. Hier ist die dringende Forderung nach mehr Kontinuität, nach mehr Effizienz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und auch nach mehr Seriosität bei der Tätigkeit mancher neten der SPD) internationaler Organisationen inklusive mancher UN- Organisationen in Betracht zu ziehen. Es ist schon völlig richtig dargestellt worden, dass wir zum ersten Mal nach fünf Jahren eine Situation erleben, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der es keinen Fortschritt gibt, sondern – im Gegenteil – neten der SPD) einen dramatischen Rückschritt. Es gibt krisenhafte Er- Da bauen wir auf Tom Koenigs, unseren Kompatrioten, scheinungen, was die Sicherheitslage in weiten Teilen der neuer UN-Beauftragter in Afghanistan ist und den des Landes angeht. Entwicklungen sind zum Stillstand wir bei der Arbeit für mehr Effizienz unterstützen soll- gekommen, die Korruption ist auf dem Vormarsch und ten. die Drogenproduktion erreicht immer neue Rekord- stände. Dies alles gefährdet die Gesamtmission Afgha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nistan. Deswegen ist es richtig, Frau Homburger, dass SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- wir aus den Analysen und aus den Nachrichten die rich- NEN) tigen Schlüsse ziehen, und zwar ohne Tabus. Das sind Koordinationsbedürftig ist auch der so wichtige Auf- wir unseren Soldaten und unseren Entwicklungshelfern bau der Sicherheitsorgane; das wurde schon gesagt. Wir schuldig. bilden die Polizisten – um es einmal etwas überspitzt zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- formulieren – mit deutscher Gründlichkeit zu Bürgern in neten der SPD und der FDP) Uniform aus, während andere das Ganze im Sheriff- crashkurs in sechs Wochen machen. Das passt natürlich Ebenfalls richtig ist, dass die Bundesregierung ihr nicht zusammen. Afghanistankonzept überarbeitet. Wir wollen dabei (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mitdiskutieren. Ich möchte einige Schlüsse nennen, die bei Abgeordneten der FDP) wir ziehen sollten. Da geht es zunächst einmal um unse- ren eigenen Beritt, nämlich um die Bereiche, in denen Das Ganze gilt auch – das wurde schon angesprochen – wir Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten übernom- für ein heikles Thema, nämlich für die unterschiedlichen men haben. Hier halte ich zwei Punkte für besonders Philosophien der verschiedenen Streitkräfte gegenüber wichtig: der Zivilbevölkerung in Afghanistan. Auch hier muss 5220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Christian Ruck (A) eine stärkere Koordinierung stattfinden. Das ist ein ganz Mohn mehr anbauen. Auch darauf zielt ein deutsches (C) heikler Punkt, vor dem wir nicht die Augen verschließen Entwicklungsprojekt – es ist ein Versuchsballon – sollten. Auch sollten wir die Augen nicht vor dem Thema Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nachbarschaftshilfe verschließen, und zwar auch in Herr Kollege, auch Sie muss ich an die Redezeit erin- Sektoren und Gebieten außerhalb unseres Wirkungsbe- nern. reiches. Auch ich bin – das sage ich ganz ehrlich – gegen eine Ausdehnung des Bundeswehreinsatzes in den Sü- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): den. Aber es gibt zum Beispiel konkrete Hilfsersuchen – jawohl –; das ist unsere Zuckerfabrik. der Kanadier nach unserer Expertise, nach unserem Rat (Zuruf von der SPD) zu rasch wirksamen und rasch sichtbaren Soforthilfe- maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, zum – Man muss einfach auf neue Ideen kommen. Polizeiaufbau, zur ländlichen Entwicklung und zur Ver- Drittens. Wir brauchen die Unterstützung der ver- besserung der Arbeit ihrer PRTs. Dazu sollten wir Ja sa- nünftigen Mullahs und der vernünftigen Stammesfürs- gen. Wir sollten die Kanadier in Kandahar nicht im Stich ten, die auch zu Talibanzeiten gegen die Drogenproduk- lassen, wenn es um solche zivilen Ratschläge und zivilen tion vorgegangen sind, und zwar aus religiösen Gründen. Expertisen geht. (Beifall des Abg. Bernd Schmidbauer [CDU/ Auch ich halte Überlegungen für positiv, die deutsche CSU]) Entwicklungszusammenarbeit wieder dort aufzu- nehmen, wo wir noch vor kurzem sehr erfolgreich tätig Es ist machbar. Wir müssen nur mehr Anstrengungen waren, nämlich in Khost und Baktiar, wo wir hoch als bisher unternehmen. Wir sollten auch – da gebe ich angesehen sind und wo uns unter anderem auch die loka- Ihnen Recht – etwas mehr Demut an den Tag legen. len Stammesfürsten zurückersehnen. Wir sollten uns überlegen, ob wir hier einen zusätzlichen Beitrag zur Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Stabilisierung Afghanistans leisten könnten. Herr Kollege, Sie reden auf Kosten Ihres nachfolgen- Zum Schluss möchte ich auf das heikle Thema der den Kollegen. Drogenbekämpfung eingehen. Das ist eigentlich Sache der Briten. Aber es nützt nichts: Wenn die Situation aus Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): dem Ruder läuft, sind wir alle betroffen und ist unser Verzeihung. Gesamteinsatz gefährdet. Nach einem Hearing unserer (B) (Heiterkeit) (D) Fraktion, bei dem übrigens auch Spezialisten aus Ko- lumbien und Thailand anwesend waren, um den Afgha- Mein Schlusssatz. Wir haben in Afghanistan Verant- nen eventuell Hilfestellung zu geben, sage ich: Dies ist wortung übernommen und wir dürfen uns, auch im eige- schwierig, aber nicht unmöglich, wenn man auch auf nen Interesse, aus dieser Verantwortung nicht davonsteh- neue Ideen kommt und sich vor neuen Ideen nicht len. scheut. Vielen Dank. In Afghanistan ist eine Kombination von drei Dingen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wichtig:

Erstens. Auch die politische Spitze in Afghanistan Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: muss hinter der Drogenbekämpfung stehen. Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche, Fraktion (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Linke. Das gilt auch für die Personalpolitik, bis hin zum Präsi- (Beifall bei der LINKEN) denten Karzai. Seine Personalentscheidungen in letzter Zeit, sowohl was die Drogenbekämpfung als auch was Monika Knoche (DIE LINKE): die Besetzung der höchsten Stellen der Polizei anlangt, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Herren haben nicht für Vertrauen gesorgt, auch nicht in der Be- und Damen! Herr Klose, Sie haben sehr eindringlich ge- völkerung. sagt, die NATO dürfe nicht scheitern. Ich empfinde das nicht als ein Statement eines gestandenen Realpolitikers, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der eben weil uns die Wirklichkeit immer deutlicher vor Au- FDP) gen führt: Der Kampf gegen Terror kann mit Krieg nicht Zweitens. Die Polizei, auch wenn sie noch so gut aus- gewonnen werden. gebildet ist, kommt nicht in das letzte Bergdorf Afgha- (Beifall bei der LINKEN – Rainer Arnold nistans. Aber die Marktwirtschaft kommt dorthin. Wenn [SPD]: Aber mit guten Worten allein auch wir den afghanischen Bauern, die ja nur 1 Prozent des nicht!) Erlöses aus dem Drogengeschäft abbekommen, eine marktwirtschaftliche Lösung inklusive Marktzugang und Wenn Sie immer noch mehr Militär ins Land bringen, einen vernünftigen Preis für ein vernünftiges Produkt ga- bringt das nicht mehr Freiheit und auch nicht Frieden in rantieren können, dann kann es gelingen, dass sie keinen das Land. Ich erinnere daran: Zu den kriegslegitimieren- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5221

Monika Knoche (A) den Gründen zählte nicht nur die Zerschlagung der al- (Beifall bei der LINKEN) (C) Qaida, sondern auch die Befreiung der Frau von der Stellen wir uns doch einfach einmal vor, den Warlords, Burka und die Beendigung systematischer Menschen- den Drogenkönigen, würde der Geldhahn abgedreht, in- rechtsverletzungen an ihnen. dem ihnen das Schmiermittel für die Korruption und die Diese Woche wurde in einem schrecklichen Anschlag Finanzierungsquelle für ihre Milizen abhanden kom- die Frauenbeauftragte Safiya Omar Jan getötet. Mäd- men! chenschulen sind Anschlagsziele. Gerade deshalb sage Ich höre Ihre ernsten Klagen über die Dimension, die ich: Es darf nie das Menschenrecht der afghanischen der Drogenanbau erreicht hat: Afghanistan beliefert die Frau zur Disposition gestellt werden. Welt mit verbotenem Heroin. Das gedeiht unter der mas- (Beifall bei der LINKEN – Eckart von siven internationalen Militärpräsenz. Haben Sie eine Klaeden [CDU/CSU]: Deswegen wollen Sie praxistaugliche Antwort? Ich habe heute keine gehört. die Bundeswehr abziehen!) Wenden Sie sich einer pragmatischen Position zu, wie ich sie skizziere. Die Frage aber ist, ob es dazu des Militärs oder nicht doch mehr Polizei bedarf. Das Menschenrecht der Frau (Zuruf von der CDU/CSU: Was wollen Sie muss von der afghanischen Gesellschaft und ihren staat- denn eigentlich?) lichen Institutionen geschützt werden. Die aber sind Ich bin mir bewusst, dass Sie das jetzt nicht hören mö- schwächer geworden, je länger der Krieg dauert. gen. Aber was ist Ihre Alternative? Sie haben keine. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Präsident Karzai verliert seine Unterstützung. Die Eines ist gewiss: Entwicklung und Entwicklungszu- afghanische Regierung ist ineffizient; Frauen sind in sammenarbeit können nur gelingen, wenn die Korrup- ihr nicht vertreten, wohl aber die Warlords. Diese haben tionsbekämpfung wirksam ist. Korruptionsbekämpfung erkennbar kein Interesse an Frauenrechten, an einer Sta- kann nur durch eine sinnvolle Drogenpolitik gelingen. bilisierung und am Aufbau einer Zivilgesellschaft. Das ist eine klare, einfache Wahrheit. Das Geld für inter- nationales Militär ist besser investiert in Wirtschafts- Mir geht es heute darum, eines der Grundübel der in- hilfe, Rechtsstaatsbildung, Armutsbekämpfung sowie nerafghanischen politischen Verhältnisse zu benennen, den Aufbau von Polizei und sicheren Grenzen. Afgha- ein Übel, das mit Krieg gegen Terror genauso wenig zu nistan braucht unsere nachhaltige Unterstützung. vertreiben ist wie mit Krieg gegen Drogen: Das ist der (B) Mohnanbau. Er ist Quelle der Finanzierung von Kor- Zu einer Exitstrategie gehört nicht nur, den Abzug des (D) ruption, Quelle der Finanzierung der Warlords und der Militärs zu planen, sondern dazu gehört auch, eine öko- archaischen Macht. Dass das so ist, daran hat leider auch nomische Perspektive für eine volkswirtschaftliche Ge- Deutschland Anteil. sundung des Landes zu entwickeln. Ein starker Einsatz von deutschen Soldaten für zivile Aufgaben wird obso- In Ermangelung anderer Staatsmänner wurden in der let, wenn starke zivile Kräfte die Zivilgesellschaft stär- Ära nach den Taliban die Warlords in die Regierung ge- ken. bracht und das Ganze wurde als Demokratie bezeichnet. Bis heute ist der Drogenanbau rasant gestiegen; die Ge- (Beifall bei der LINKEN) winne explodieren. Da hilft auch das Abbrennen der Ob das allein die Taliban zurückdrängen wird, weiß Mohnfelder nichts, im Gegenteil: Es treibt die bäuerliche ich nicht sicher. Aber es besteht hinreichend Anlass, da- Bevölkerung noch tiefer in den Sumpf der Abhängigkeit. von auszugehen, dass ISAF und Operation Enduring Die Ursubstanz für Heroin gedeiht; die agrarische Pro- Freedom sie nicht wirklich schwächen, im Gegenteil. duktion ist dadurch nahezu vollständig ersetzt worden. Haben Sie Mut zu neuen Wegen, denn das Militär befin- Was also ist zu tun? Es ist an der Zeit, das Unortho- det sich bereits in einer Sackgasse. doxe zu denken. Es ist an der Zeit, den Drogenanbau in (Beifall bei der LINKEN) kontrolliertem Umfang zu legalisieren. Es ist an der Zeit, den Drogenanbau zu ersetzen. Angesichts der Preise, die die Bauern dadurch erzielen, scheitert die prinzipielle Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Illegalisierung sowieso. Das Wort hat die Kollegin Christel Riemann- Hanewinckel, SPD-Fraktion. Ein Ausweg ist die massive Subventionierung des Anbaus agrarischer Produkte. In Europa haben wir uns Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): längst daran gewöhnt, die Landwirtschaft finanziell zu Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- unterstützen. Ein weiterer Weg sind ein lizenzierter, le- legen! Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen die galer, kontrollierter Mohnanbau und der Aufbau eines reale Geschichte einer afghanischen Frau erzählen. staatlichen Monopols zur Aufbereitung für medizinische Zwecke. Die Welt braucht kostengünstige Schmerzmit- Diese Frau hat sich in ihrem Land, in Afghanistan, im tel. Das gilt insbesondere für die so genannten Entwick- Rahmen einer Ausbildungsmaßnahme, die mit Mitteln lungsländer. Man muss mutige, neue Wege gehen und der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gefördert nicht noch mehr vom Falschen verordnen. wurde, zur Polizistin ausbilden lassen. Diese Frau fährt 5222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Christel Riemann-Hanewinckel (A) jeden Tag mit dem Bus zu ihrem Arbeitsplatz; das ist der kommen haben und Rechtsberatung erhalten. Die Ent- (C) Flughafen in Kabul. Ihr Arbeitsplatz dort ist die Sicher- wicklungszusammenarbeit hat auch dazu beigetragen, heitskontrolle. Sie ist bekleidet mit einer Polizeiuniform. dass Frauen Arbeitsplätze, zum Teil mit paralleler Kin- Darüber trägt sie eine Burka. Die Burka legt sie erst ab, derbetreuung, bekommen. Außerdem hat die Entwick- wenn sie ihren Arbeitsplatz erreicht hat. lungszusammenarbeit dazu beigetragen, dass sauberes Wasser, Energie, neue Straßen und Infrastruktur wirt- Für diese Frau hat sich das Leben nach dem Sturz des schaftliches Leben ermöglichen. Talibanregimes grundlegend verändert. Sie hat nach 36 Jahren erstmals das Parlament mitwählen können. Sie Dieses Engagement müssen wir fortsetzen. Wir wol- kann endlich öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Sie len mit unserem Engagement die Mehrheit in Afghanis- hat die Möglichkeit bekommen, eine Ausbildung zu ma- tan stützen. Die Mehrheit in Afghanistan sind die Frauen chen. Sie hat einen Arbeitsplatz. Sie verdient Geld, um und Mädchen, die nämlich wie in nahezu allen Ländern ihre Familie zu ernähren. Sie erlebt, dass ihre Kennt- dieser Welt fast 53 Prozent ausmachen. Sie müssen zum nisse, ihre Erfahrungen notwendig sind und ihr Tun als Entwicklungsmotor in Afghanistan werden. Frau genauso wichtig wie das der Männer ist. Sie nimmt Wir wollen, dass die Durchführungsorganisationen am öffentlichen Leben teil. Sie ist gefragt. Sie baut die vor Ort ein Mindestmaß an Sicherheit haben, gerade Gesellschaft mit auf. Diese wichtigen Erfahrungen kann jetzt, da Mord und Gewalt das bisher Erreichte erheblich sie an ihre Familie, an ihre Kinder, an ihre Töchter und gefährden. Die Nichtregierungsorganisation medica in ihrer Nachbarschaft weitergeben. mondiale – viele von Ihnen kennen sie – hat mir ge- Sie erlebt aber auch Einschüchterung und Bedrohung. schrieben: Unsere Projekte zur Stärkung, Heilung und Sie trägt die Burka heute nicht mehr, weil sie sie tragen Partizipation von Frauen wären ohne die Präsenz von muss, sondern – so absurd das für uns klingen mag – ISAF gar nicht möglich. weil sie ihr Schutz gibt. Sie will als Polizistin in der Öf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fentlichkeit nicht erkannt werden, weil sie sich damit ei- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ner tödlichen Gefahr aussetzt. GRÜNEN) Dieses Beispiel zeigt: Frauen in Afghanistan gehen Deshalb sind in Afghanistan noch immer deutsche ein hohes persönliches Risiko ein, um sich am Aufbau Fachfrauen und Fachmänner sowie deutsche Soldatinnen ihres Landes zu beteiligen. Sie haben den Mut, sich als und Soldaten in der Entwicklungszusammenarbeit nötig. Polizistinnen, als Richterinnen, als Anwältinnen und als Deshalb – nicht weil wir Krieg führen wollen, sondern Lehrerinnen ausbilden zu lassen und als solche zu arbei- weil wir mit den Fachfrauen und Fachmännern, mit den ten. Sie wollen die Rechte, die ihnen die neue afghani- Menschen in Afghanistan und mit deutschen Soldatin- (B) (D) sche Verfassung gibt, ergreifen und sie mit Leben füllen. nen und Soldaten vieles erreichen – bitte ich Sie, der Dieses Beispiel macht deutlich, dass Entwicklung ohne Verlängerung des ISAF-Mandates zuzustimmen. Sicherheit nicht möglich ist. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dauerhafte Sicherheit kann nur dort entstehen, wo Bildung und Entwicklung gemeinsam wachsen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- CDU/CSU-Fraktion. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bildung und Ausbildung von Frauen sind ein Schwer- punkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Afghanistan. Pro Jahr werden in Rahmen der Entwick- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen lungszusammenarbeit 80 Millionen Euro investiert, um und Kollegen! Auslandseinsätze der Bundeswehr sind den Aufbau von Staat und Gesellschaft voranzubringen. zur Normalität geworden. Aber gerade deshalb dürfen Deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat dazu bei- weder wir als Parlamentarier noch die Öffentlichkeit getragen, dass Mädchen wieder in die Schule gehen kön- diese Einsätze als Alltagsgeschäft behandeln. Es wäre nen. Denn es darf nicht so bleiben, dass 90 Prozent der fatal, wenn der Eindruck entstünde, dass wir leichtfertig, Frauen in Afghanistan Analphabetinnen sind. Das muss fast schon routiniert Männer und Frauen in die Krisenge- und kann sich durch deutsche Entwicklungszusammen- biete dieser Welt schicken. Ich bin mir sicher: Wir sind arbeit ändern. uns der Verantwortung voll bewusst und wägen, wie die Debatte zeigt, bei jeder Mandatsverlängerung Chancen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Risiken, Auftrag und Mittel sorgfältig ab. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Demnächst stehen nahezu 10 000 deutsche Soldaten, darunter knapp 10 Prozent Reservisten, weitgehend gut Die Entwicklungszusammenarbeit hat dazu beigetragen, ausgerüstet und gut ausgebildet, im Einsatz. Dabei sind dass Frauen Zugang zu medizinischer Versorgung be- Gefahren für Leben und Gesundheit unserer Soldatinnen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5223

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) und Soldaten immanent. Vor diesem Hintergrund ent- ich ausdrücklich die Gesetzesinitiative von Minister (C) scheiden wir heute über die Verlängerung des ISAF- Dr. Jung zur Weiterbeschäftigung von im Einsatz dauer- Mandats. Als der Bundestag vor fünf Jahren zum ersten haft schwer beschädigten Soldatinnen und Soldaten. Mal einen Afghanistaneinsatz beschlossen hat, muss je- dem klar gewesen sein, dass dies keine gefahrlose, kurze (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Episode sein würde, sondern dass dabei Geduld, Finger- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- spitzengefühl und ein langer Atem notwendig sein wür- NISSES 90/DIE GRÜNEN) den – politisch, militärisch und finanziell. Natürlich dürfen sich unsere Soldaten nicht einigeln. Um Nach fünf Jahren des ISAF-Einsatzes und des Wie- ihren Auftrag zu erfüllen, müssen sie den Kontakt mit deraufbaus in Afghanistan ist die Bilanz durchwachsen den Menschen halten, auch wenn dies mit Gefahren ver- – meine Vorredner haben schon darauf aufmerksam ge- bunden ist. macht –: Einerseits gibt es, nicht zuletzt dank deutscher Der Kollege Klose hat darauf hingewiesen: Die For- Hilfe, Fortschritte im Gesundheits- und Schulwesen, ein mulierung des Mandats, dass das deutsche Kontingent gewähltes Parlament, eine legitime Regierung und Fort- die ISAF-Operation zeitlich und im Umfang begrenzt in schritte beim Aufbau der Polizei. Andererseits nimmt anderen Regionen unterstützt, sofern dies zur Erfüllung die Zahl der Anschläge im ganzen Land zu, der Dro- des ISAF-Gesamtauftrags unabwendbar ist, lässt genü- genanbau floriert und es werden Rekordernten gemeldet, gend Spielraum für verantwortungsbewusste Entschei- die Korruption ist ungebrochen und im Süden herrscht dungen. regelrecht Krieg. Ich befürworte eine realistische Analyse der Lage. Ich Auch im Norden des Landes hat sich die Lage in kur- warne jedoch dringend vor pessimistischen Schlussfol- zer Zeit dramatisch zugespitzt. Die deutschen Feldlager gerungen und davor, bereits jetzt von einem Scheitern in Masar-i-Scharif, Kunduz und Faizabad sind regelmä- der internationalen Gemeinschaft oder der NATO in Af- ßig unter Raketen- und Gewehrbeschuss. Hinzu kom- ghanistan zu sprechen. men die IEDs, versteckte, ferngezündete Bomben, als ständige Bedrohung unserer Patrouillen sowie Selbst- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mordattacken und Autobombenanschläge. neten der SPD) Machen wir uns nichts vor: Auch im Norden, im Auf- Das Afghanistankonzept der Bundesregierung heißt gabenbereich der Bundeswehr, wächst die Frustration kurz gefasst: Sicherheit und Wiederaufbau. Dieses Kon- und Enttäuschung der Menschen, die Ablehnung der zept ist richtig und zukunftsweisend. Für Sicherheit und Zentralregierung und der internationalen Gemeinschaft. Stabilität als Grundlage des Wiederaufbaus steht die (B) Auch dort werden unsere Soldaten, so Leid uns das tut PRT-Konzeption von ISAF, für die die Bundeswehr in (D) und so sehr uns das schmerzt, mehr und mehr als Besat- der Nordregion die Verantwortung trägt. Aber auch die zer und nicht als Helfer angesehen. Operation Enduring Freedom leistet einen unverzichtba- ren Beitrag zur Schaffung von Sicherheit und zur Her- Wir sind derzeit nach Großbritannien der zweitgrößte stellung stabiler Verhältnisse. Entscheidend wird jedoch Truppensteller. Im Norden des Landes stellen wir sein, beim Wiederaufbau der Infrastruktur rascher sicht- 2 200 und in Kabul 580 Soldatinnen und Soldaten; damit bare Erfolge zu erzielen. Trotz der verschlechterten Si- sind wir sowohl in der Fläche als auch in der Hauptstadt cherheitslage ist eines klar: Wir können nicht weglaufen, vertreten. Sie leisten unter gefährlichen Bedingungen wenn es kritisch wird. Wer jetzt für den Abzug unserer hervorragende Arbeit. Soldaten plädiert, lässt die Menschen in Afghanistan im (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Stich, übrigens mit unabsehbaren Folgen für unsere ei- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- gene Sicherheit, von den Folgen eines Scheiterns für die NISSES 90/DIE GRÜNEN) NATO ganz zu schweigen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und an dieser Stelle ausdrücklich unseren Soldaten in allen der SPD) Einsatzgebieten, insbesondere aber denen in Afghanis- Der Kampf um die Herzen und Köpfe der Afghanen tan, unseren herzlichen Dank sagen. steht auf Messers Schneide, aber er ist nicht verloren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wir müssen ihn gewinnen. Wir stimmen deshalb der bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Verlängerung des ISAF-Mandats zu. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie verdienen, wie ich meine, nicht nur unseren Dank, der SPD) sondern auch unsere volle Unterstützung, wenn es da- rum geht, ihre materielle Ausstattung zu verbessern, im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Hinblick auf geschützte Fahrzeuge, Hubschrauber, eine Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege gepanzerte Reserve oder auch beim Schutz der Feldla- Rainer Arnold, SPD-Fraktion. ger. Mit dem Einsatzversorgungsgesetz haben wir zudem Rainer Arnold (SPD): die Absicherung unserer Soldatinnen und Soldaten ent- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- scheidend verbessern können. An dieser Stelle begrüße gen! Auch die fünfte Verlängerung des Mandates der 5224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Rainer Arnold (A) Vereinten Nationen zum Einsatz der Internationalen Si- Es mehren sich die kritischen Stimmen, die immer (C) cherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan ist alles wieder darauf hinweisen, dass Teile der politischen Füh- andere als parlamentarische Routine. Unsere Parla- rung des Landes möglicherweise ein Teil des Problems mentsarmee verlangt von uns mehr: weitere Diskussion darstellen. Wir haben heute vom Polizeiaufbau gehört, über die schwierige, ernste Situation und einen größeren wo sich die Bundesregierung engagiert und gute Ausbil- Beitrag aller Parlamentariergruppen in allen tangierten dung leistet. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass wich- Ausschüssen, den wir zur Begleitung der Anstrengungen tige Führungspositionen bei der Polizei nach einem der Bundesregierung stärker vernetzen sollten. Insofern Klientelsystem besetzt werden. finde ich es schade, dass die Grünen ihren Antrag so kurzfristig eingebracht haben. Wir hätten uns bestimmt Ich denke, wir Deutschen haben wegen unserer guten auf eine gemeinsame Initiative verständigen können. Beziehungen zu Afghanistan eine ganz besondere Ver- Das hätte das Thema verdient gehabt. antwortung. Wir tun das aber in dem Bewusstsein, dass das nur mit einer gemeinsamen Verantwortung der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) NATO-Partner für den Norden, den Zentralteil, den Sü- den und den Osten gelingen kann. Ich fürchte aber, dass Zur parlamentarischen Verantwortung, Frau Kollegin wir noch eine Debatte mit dem Ziel führen müssen, ei- Homburger, gehört auch, dass die Regierung uns korrekt nen wirklich kohärenten Stabilisierungsprozess aller informiert. Nur, mit Ihrer Formulierung haben Sie ver- NATO-Partner zu erreichen. sucht, den Eindruck zu erwecken, die Bundesregierung tue dies möglicherweise nicht. Deshalb stelle ich hier Dabei müssen wir auch bedenken: Wenn durch die fest: Die Bundesregierung hat das Parlament über die militärischen Operationen zwar der Terrorismus be- Obleute – auch über Einsätze und Unterstützungsleistun- kämpft wird, gleichzeitig aber keine Rücksichten auf die gen der Soldaten im Süden Afghanistans – stets korrekt Gefühle und Traditionen der Menschen genommen wird, informiert. dann dürfen wir uns am Ende nicht wundern, wenn die Gegner des Stabilisierungsprozesses mehr und mehr Un- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Den federführenden terstützung finden. Wenn es uns in einem Land, in dem Ausschuss nicht!) 58 Prozent der Menschen unter 18 Jahre alt sind, nicht gelingt, die Lebensbedingungen gerade der jungen Wir wissen, die Sicherheitslage hat sich massiv ver- Menschen schnell zu verbessern, dann dürfen wir uns schlechtert. Im Süden des Landes herrscht eigentlich nicht wundern, wenn die jungen Männer, die keine Zu- Krieg zwischen ISAF und militärisch organisierten Auf- kunftsperspektive haben, aufgrund der islamistischen ständischen. Dort sind auch die internationalen Hilfsor- Propaganda nach Pakistan gehen, um dort für ein paar ganisationen kaum mehr einsatzfähig. Das alles hat auch Dollar am Tag das Terroristenhandwerk zu erlernen. (B) auf den Norden, das Einsatzgebiet der deutschen Solda- (D) ten, Auswirkungen. Jetzt in Panik zu verfallen, wäre die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der falsche Reaktion. Aber wir müssen in der öffentlichen CDU/CSU) Debatte das Risiko für die Bundeswehr, für die Men- Wir brauchen diese strategische Debatte in der NATO schen in der Truppe, realistisch darstellen und bewerten, also, um die Bevölkerung, die uns entfremdet ist, wieder ohne es allerdings zu verdrängen. Wir haben es mit einer ein Stück weit zurückzugewinnen. Wir brauchen nicht komplizierten Situation zu tun, bei der es auf die auftau- nur Härte, sondern wir brauchen den Dialog und vor al- chenden Fragen keine einfachen Antworten gibt. Der len Dingen schnell sichtbare und große Kraftanstrengun- Minister und wir Parlamentarier tun alles, um den Solda- gen: Projekte für Wasser, Straßen, Bildung, Elektrizität ten den notwendigen Schutz zu gewähren. Doch im Ziel- und Gesundheit. Wir müssen die unterschiedlichen PRT- konflikt dazu steht die Erfüllung des Auftrages. Deshalb Konzepte wirklich evaluieren. Bei keinem Wiederaufbau kann man sich nicht darauf beschränken, mit sicheren eines Landes hatte die internationale Truppe in Relation Fahrzeugen durch den Norden Afghanistans zu fahren; zur Gesamtbevölkerung einen so geringen Umfang wie die Soldatinnen und Soldaten müssen aussteigen, mit jetzt in Afghanistan. Trotzdem ist dieses PRT-Konzept den Afghanen kommunizieren, Vertrauen bilden und In- der richtige Weg, weil wir wissen: Allein durch eine formationen weiterleiten. Masse von Soldaten kann dieses Land am Ende nicht Angesichts dieses Zielkonfliktes müssen wir die Risi- stabilisiert werden. An die Linke gerichtet: Freundliche ken korrekt analysieren: Afghanistan steht sicherlich auf Worte und billige Ratschläge allein werden aber natür- der Kippe und es bleibt nicht mehr allzu viel Zeit, um die lich auch nicht langen, um in Afghanistan Vertrauen und Wende zu Sicherheit und sozialer Stabilität zu schaffen. Stabilität wiederherzustellen. Ich habe den Eindruck, dass wir uns gelegentlich durch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die sichtbaren, aber vielleicht nur oberflächlichen Erfolge beim Aufbau der staatlichen Institutionen ha- Ich komme zum Ende. Nur mit diesem abgestimmten ben blenden lassen. Diese Institutionen sind geschaffen, Prozess werden wir die derzeitige Entwicklung noch ja, aber sind sie wirklich in den Köpfen der Bevölkerung umdrehen können, damit Afghanistan nicht in Bürger- angekommen? Es darf uns nicht wundern, dass das krieg und Chaos zurückfällt. Scheitert Afghanistan, dann schwierig ist in einem Land, das nie ein gefestigtes scheitert im Übrigen nicht nur die NATO, sondern dann Staatswesen gekannt hat. Wir reden im Hinblick auf Af- scheitert auch die Idee der gesamten Staatengemein- ghanistan nicht von einem Wiederaufbau, wir reden von schaft, für den Neuaufbau eines Landes eine gemein- einem Neuaufbau des Landes. same Verantwortung zu übernehmen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5225

Rainer Arnold (A) Ich denke, die Taliban und alle Terroristen dort sollen Tagesordnungspunkt 6 c. Beschlussempfehlung des (C) wissen: Wir werden diese Herausforderung beharrlich, Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/2776 zu entschlossen und auch mit dem notwendigen Gespür für dem Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zu die Kultur der Menschen in Afghanistan annehmen. Wir dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der tun dies mit besonders großem Respekt und mit beson- Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afgha- ders großer Anerkennung all der Menschen bei der nistan. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsan- Truppe und bei den zivilen Organisationen, die stellver- trag auf Drucksache 16/2623 abzulehnen. Wer stimmt tretend für unser ganzes Land dort diese gefährliche Ar- für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- beit leisten. haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und Herzlichen Dank. FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ange- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nommen. des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: DIE GRÜNEN]) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Ich schließe die Aussprache. schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streit- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- kräfte an der Friedensmission der Vereinten sache 16/2774 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Nationen im Sudan (UNMIS) auf Grundlage Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher der Resolution 1709 (2006) des Sicherheits- Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher- rates der Vereinten Nationen vom 22. Septem- heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung ber 2006 der NATO. – Drucksachen 16/2700, 16/2777 – Mir liegen Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 Berichterstattung: unserer Geschäftsordnung vor, und zwar von den Kolle- Abgeordnete Eckart von Klaeden ginnen und Kollegen Bärbel Höhn, Ute Koczy, Ingrid Brunhilde Irber Arndt-Brauer, Frank Schwabe, Otto Fricke, Jürgen Dr. Werner Hoyer Koppelin, Gisela Piltz, Winfried Hermann, Hans- Dr. Norman Paech Christian Ströbele und weiteren Kolleginnen und Kolle- Kerstin Müller (Köln) (B) gen aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. (D) b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- gemäß § 96 der Geschäftsordnung lung, den Antrag auf Drucksache 16/2573 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte alle – Drucksache 16/2786 – Kolleginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe darauf Berichterstattung: zu achten, dass die Stimmkarten, die sie verwenden, Abgeordnete Herbert Frankenhauser auch ihren Namen tragen. Ich bitte die Schriftführerin- Lothar Mark nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu- Jürgen Koppelin nehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das Michael Leutert ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Alexander Bonde Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, dass seine Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der mentlich abstimmen. Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich später bekannt gegeben.1) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, wieder ihre Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Plätze einzunehmen, damit wir die weiteren Abstim- gin Brunhilde Irber, SPD-Fraktion. mungen vornehmen können. (Beifall bei der SPD) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Brunhilde Irber (SPD): auf Drucksache 16/2778. Wer stimmt für diesen Ent- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Kollegen! Am 9. Januar 2005 unterzeichneten die suda- gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen nesische Regierung und die südsudanesische Rebellen- der SPD, der CDU/CSU und der Fraktion der Linken bei bewegung SPLM das so genannte Comprehensive Peace Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- Agreement. Mit diesem Friedensabkommen war und tung der FDP abgelehnt. ist die Hoffnung verbunden, einen der längsten Bürger- kriege Afrikas zu beenden. Seit der Mandatierung der 1) Ergebnis Seite 5226 D VN-Friedensmission UNMIS mit der Resolution 1590 5226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Brunhilde Irber (A) vom 24. März 2005 und dem vom Bundestag daraufhin len. Auch dies war keine Routineentscheidung. Wir (C) am 22. April 2005 beschlossenen Einsatz von Bundes- müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die Rolle wehrsoldaten wurden viele Anstrengungen unternom- der deutschen Bundeswehr in den letzten Jahren geän- men. Beispiele dafür sind die Bildung der Regierung der dert hat. Darüber sollte auf jeden Fall öffentlich stärker nationalen Einheit, die Übergangsverfassung für den diskutiert werden. Die Bundeswehr genießt hohes Anse- Südsudan, die Bildung einer Regierung im Südsudan, hen in Deutschland. Es wäre zu wünschen, dass diese die Bemühungen zur Entwaffnung und Eingliederung breite Akzeptanz auch die Auslandseinsätze einschließt. von Milizen, die Hilfe für zahllose Flüchtlinge und der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Darfur-Friedensvertrag im Mai dieses Jahres. Nun steht erneut die Verlängerung des Mandats für Die deutschen Soldaten sollen nach dem heutigen Be- die Bundeswehrsoldaten an. Gemäß der am vergangenen schluss ihre Aufgabe zur Unterstützung des Nord-Süd- Freitag verabschiedeten VN-Resolution 1709 soll dies Friedensprozesses weiterhin wahrnehmen. Mit bis zu für zunächst weitere 14 Tage geschehen. Warum nur 75 Militärbeobachtern ist dies in Anbetracht der Pro- 14 Tage? Hintergrund ist das Bestreben der Amerikaner, blemlage sicherlich ein bescheidener Beitrag. Aber ein mit der ständigen Neubefassung des Sicherheitsrats die wichtiger ist es allemal. Unser Dank gilt den deutschen sudanesische Regierung zu einer Zustimmung zur Soldaten in diesem Einsatz. Resolution 1706 zu bewegen. Sie soll den Übergang der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) von der Afrikanischen Union geführten und gestellten Friedensmission in Darfur, AMIS, in die bestehende Im kommenden Jahr wird Deutschland die EU-Rats- Mission der Vereinten Nationen, UNMIS, herbeiführen. präsidentschaft und die G-8-Präsidentschaft überneh- men. Die so genannte Neue Partnerschaft für die Ent- Wir haben es also derzeit mit zwei Missionen zu tun. wicklung Afrikas, der NEPAD-Prozess, wird ein Thema Auch dann, wenn Präsident al-Bashir grünes Licht für sein. Die Initiative könnte die Bundesregierung auch für den Übergang von AMIS zu UNMIS geben würde, einen Allparteiendialog außerhalb des Sudan ergreifen. bliebe es faktisch bei zwei Missionen. Wir sind gut beraten, wenn wir mit dem gleichen Engage- Ohne Zweifel hätten sich die Dinge positiver entwi- ment, mit dem unsere Soldaten Dienst in der sudanesi- ckelt, wenn der Friedensprozess von einer größeren An- schen Krisenregion leisten, die soziale und die wirt- zahl der Akteure und Interessengruppen getragen wäre schaftliche Entwicklung der afrikanischen Staaten und wenn die sudanesische Regierung den Prozess tat- unterstützen. Beides gehört zusammen. Militärische Op- kräftiger unterstützen würde. Weil dies derzeit nicht der tionen der internationalen Staatengemeinschaft zur Si- Fall ist, häufen sich Meldungen über direkte Gefechte cherung des Weltfriedens müssen von infrastrukturellen (B) zwischen Rebelleneinheiten und Regierungstruppen. Es Konzepten und Hilfen für den Staatenaufbau begleitet (D) geschieht, was in solchen Situationen immer geschieht: werden. Es trifft vor allem die Zivilbevölkerung. Solange die Hoffnung besteht, dass mit einer erwei- Kofi Annan hat am 11. September in seiner Rede vor terten UNMIS-Mission das Leiden Hunderttausender ge- dem Sicherheitsrat zu Recht gesagt: „Die Tragödie in mildert wird, alle bisherigen Bemühungen nicht umsonst Darfur hat einen kritischen Punkt erreicht.“ Mit Blick waren und der Friedensprozess weitergeht, so lange ist auf das Versagen der Vereinten Nationen in Ruanda der Einsatz deutscher Soldaten im Süden des Sudan fügte er hinzu: „Es ist keine Zeit für den Mittelweg halb- wertvoll. herziger Maßnahmen.“ Deshalb müssen die diplomati- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schen Bemühungen noch einmal enorm gesteigert wer- den, um die Konfliktparteien zur Vernunft zu bringen. Wir sollten deshalb dem Antrag der Bundesregierung Gefordert ist hierbei neben der UN und der Afrikani- auf Verlängerung des Mandats mit großer Mehrheit zu- schen Union vor allem auch China. stimmen. Der Friedensprozess muss fortgesetzt werden. Alles Herzlichen Dank. andere wäre eine Katastrophe, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und zwar für alle: für den Sudan, Afrika, Europa und die Ich komme zu Tagesordnungspunkt 6 a zurück und gebe internationale Staatengemeinschaft. das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der na- mentlichen Abstimmung über die Beschlussempfeh- Die UNMIS-Mission im Süden des Sudan – nur da- lung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der rum geht es bei der heutigen Entscheidung – ist ein Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung be- wichtiger Bestandteil des Friedensprozesses für den waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz in Afgha- gesamten Sudan und damit auch ein wichtiges Element nistan unter Führung der NATO, Drucksachen 16/2573 im Hinblick auf den Weg zu einer politischen Lösung und 16/2774, bekannt: Abgegebene Stimmen 572. Mit Ja des Konflikts im westsudanesischen Darfur. haben gestimmt 492, mit Nein haben gestimmt 71, Ent- Die Entscheidung vom 22. April 2005, deutsche Sol- haltungen neun. Die Beschlussempfehlung ist damit an- daten an UNMIS zu beteiligen, ist uns nicht leicht gefal- genommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5227

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Endgültiges Ergebnis Reinhard Grindel Friedrich Merz Andrea Astrid Voßhoff (C) Abgegebene Stimmen: 572; Hermann Gröhe Laurenz Meyer (Hamm) Gerhard Wächter davon Michael Grosse-Brömer Maria Michalk Markus Grübel ja: 492 Philipp Mißfelder nein: 71 Monika Grütters Dr. Eva Möllring Peter Weiß (Emmendingen) enthalten: 9 Karl-Theodor Freiherr zu Gerald Weiß (Groß-Gerau) Guttenberg Carsten Müller Ingo Wellenreuther Ja (Braunschweig) Karl-Georg Wellmann Holger Haibach Stefan Müller (Erlangen) Anette Widmann-Mauz CDU/CSU Bernward Müller (Gera) Klaus-Peter Willsch Ursula Heinen Hildegard Müller Elisabeth Winkelmeier- Uda Carmen Freia Heller (Bremen) Becker Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Dagmar Wöhrl Thomas Bareiß Franz Obermeier Wolfgang Zöller Ernst Hinsken Willi Zylajew Dr. Wolf Bauer Eduard Oswald Robert Hochbaum Günter Baumann SPD Ernst-Reinhard Beck Klaus Hofbauer Rita Pawelski (Reutlingen) Franz-Josef Holzenkamp Dr. Peter Paziorek Dr. Lale Akgün Dr. Joachim Hörster Ulrich Petzold Otto Bernhardt Anette Hübinger Sibylle Pfeiffer Nils Annen Hubert Hüppe Dr. Friedbert Pflüger Ingrid Arndt-Brauer Carl-Eduard von Bismarck Susanne Jaffke Beatrix Philipp Rainer Arnold Dr. Daniela Raab (Neuruppin) Dr. Hans-Heinrich Jordan Hans Raidel Doris Barnett Andreas Jung (Konstanz) Peter Rauen Dr. Hans-Peter Bartels Wolfgang Bosbach Dr. Franz Josef Jung Klaus Brähmig Bartholomäus Kalb (Potsdam) Sören Bartol Michael Brand Hans-Werner Kammer Sabine Bätzing Steffen Kampeter Dr. Dr. Ralf Brauksiepe Franz Romer Monika Brüning Bernhard Kaster Johannes Röring Klaus Uwe Benneter Siegfried Kauder (Villingen- Kurt J. Rossmanith Dr. (B) (D) Schwenningen) Dr. Norbert Röttgen Leo Dautzenberg Dr. Christian Ruck Alexander Dobrindt Eckart von Klaeden (Weiden) Thomas Dörflinger Jürgen Klimke Peter Rzepka Clemens Bollen Marie-Luise Dött Julia Klöckner Anita Schäfer (Saalstadt) Maria Eichhorn Hermann-Josef Scharf Dr. Anke Eymer (Lübeck) Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Wolfgang Schäuble Klaus Brandner Georg Fahrenschon Manfred Kolbe Dr. Norbert Königshofen (Hildesheim) Dr. Hans Georg Faust Dr. Georg Schirmbeck Enak Ferlemann Hartmut Koschyk Bernd Schmidbauer Ingrid Fischbach Thomas Kossendey Andreas Schmidt (Mülheim) Hartwig Fischer (Göttingen) (Berlin) Dr. Michael Bürsch Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Axel E. Fischer (- Dr. Günter Krings Dr. Ole Schröder Marion Caspers-Merk Land) Dr. Martina Krogmann Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Herta Däubler-Gmelin Dr. Maria Flachsbarth Johann-Henrich Wilhelm Josef Sebastian Klaus-Peter Flosbach Krummacher Kurt Segner Martin Dörmann Herbert Frankenhauser Dr. Hermann Kues Bernd Siebert Dr. Carl-Christian Dressel Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. (Heidelberg) Elvira Drobinski-Weiß (Hof) Dr. Erich G. Fritz Detlef Dzembritzki Dr. Michael Fuchs Dr. Maximilian Lehmer Christian Freiherr von Stetten Sebastian Edathy Hans-Joachim Fuchtel Paul Lehrieder Gero Storjohann Siegmund Ehrmann Dr. Jürgen Gehb Andreas Storm Max Straubinger Dr. Klaus W. Lippold () Petra Ernstberger Ralf Göbel Lena Strothmann Karin Evers-Meyer Dr. Reinhard Göhner Dr. Michael Luther Michael Stübgen Annette Faße Josef Göppel (Altötting) Elke Ferner Peter Götz Wolfgang Meckelburg Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Wolfgang Götzer Dr. Michael Meister Rainer Fornahl Ute Granold Dr. Volkmar Uwe Vogel Gabriele Frechen 5228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ulrike Merten Jörn Thießen Dr. (C) Peter Friedrich Dr. Franz Thönnes Marina Schuster Sigmar Gabriel Ursula Mogg Rüdiger Veit Dr. Hermann Otto Solms Martin Gerster Marko Mühlstein Simone Violka Dr. Max Stadler Iris Gleicke Detlef Müller (Chemnitz) Jörg Vogelsänger Dr. Rainer Stinner Günter Gloser Michael Müller (Düsseldorf) Dr. Marlies Volkmer Carl-Ludwig Thiele Angelika Graf (Rosenheim) Gesine Multhaupt Hedi Wegener Florian Toncar Dieter Grasedieck Franz Müntefering Andreas Weigel Christoph Waitz Monika Griefahn Dr. Rolf Mützenich Petra Weis Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Gabriele Groneberg (Wiesloch) Dr. Volker Wissing Achim Großmann Holger Ortel Dr. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Wolfgang Grotthaus Heinz Paula Lydia Westrich Martin Zeil Hans-Joachim Hacker Johannes Pflug Dr. Bettina Hagedorn Joachim Poß Andrea Wicklein BÜNDNIS 90/DIE Klaus Hagemann Christoph Pries Heidemarie Wieczorek-Zeul GRÜNEN Alfred Hartenbach Florian Pronold Dr. Dieter Wiefelspütz Michael Hartmann Dr. Engelbert Wistuba Kerstin Andreae (Wackernheim) Dr. (Bremen) Nina Hauer Steffen Reiche (Cottbus) Waltraud Wolff Volker Beck (Köln) Maik Reichel (Wolmirstedt) Cornelia Behm Rolf Hempelmann Gerold Reichenbach Heidi Wright Birgitt Bender Dr. Barbara Hendricks Dr. Manfred Zöllmer Matthias Berninger Christel Riemann- Grietje Bettin Petra Heß Hanewinckel Alexander Bonde Gabriele Hiller-Ohm FDP Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Gerd Höfer Sönke Rix Jens Ackermann Dr. Uschi Eid (Wismar) René Röspel Hans-Josef Fell Frank Hofmann (Volkach) Dr. Daniel Bahr (Münster) Eike Hovermann Karin Roth (Esslingen) Rainer Brüderle Anja Hajduk Klaas Hübner Michael Roth (Heringen) Angelika Brunkhorst Britta Haßelmann Christel Humme Ortwin Runde Ernst Burgbacher Brunhilde Irber Marlene Rupprecht Patrick Döring Priska Hinz (Herborn) Johannes Jung (Karlsruhe) (Tuchenbach) Mechthild Dyckmans Ulrike Höfken (B) Josip Juratovic Anton Schaaf Jörg van Essen Bärbel Höhn (D) Johannes Kahrs Axel Schäfer (Bochum) Ulrike Flach Thilo Hoppe Ulrich Kasparick Dr. Otto Fricke Ute Koczy Dr. h. c. Susanne Kastner Paul K. Friedhoff (Aachen) Horst Friedrich (Bayreuth) Renate Künast Silvia Schmidt (Eisleben) Hans-Michael Goldmann Undine Kurth (Quedlinburg) Hans-Ulrich Klose (Nürnberg) Dr. Christel Happach-Kasan Markus Kurth Astrid Klug Dr. Frank Schmidt Heinz-Peter Haustein Dr. Reinhard Loske Dr. Bärbel Kofler Heinz Schmitt (Landau) Anna Lührmann (Erfurt) Birgit Homburger Jerzy Montag Fritz Rudolf Körper Dr. Werner Hoyer Kerstin Müller (Köln) Karin Kortmann Michael Kauch Winfried Nachtwei Rolf Kramer Reinhard Schultz Hellmut Königshaus Omid Nouripour Anette Kramme (Everswinkel) Gudrun Kopp Brigitte Pothmer Nicolette Kressl () Heinz Lanfermann (Augsburg) Volker Kröning Sibylle Laurischk Angelika Krüger-Leißner Dr. Angelica Schwall-Düren Harald Leibrecht Elisabeth Scharfenberg Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Martin Schwanholz Ina Lenke Christine Scheel Jürgen Kucharczyk Sabine Leutheusser- Dr. Gerhard Schick Helga Kühn-Mengel Rita Schwarzelühr-Sutter Schnarrenberger Rainder Steenblock Ute Kumpf Wolfgang Spanier Michael Link (Heilbronn) Silke Stokar von Neuforn Dr. Uwe Küster Dr. Margrit Spielmann Markus Löning Jürgen Trittin Christine Lambrecht Jörg-Otto Spiller Patrick Meinhardt Wolfgang Wieland Christian Lange (Backnang) Dr. Ditmar Staffelt Jan Mücke Josef Philip Winkler Dr. Andreas Steppuhn Burkhardt Müller-Sönksen Margareta Wolf (Frankfurt) Waltraud Lehn Ludwig Stiegler Dirk Niebel Helga Lopez Rolf Stöckel Hans-Joachim Otto Gabriele Lösekrug-Möller Christoph Strässer (Frankfurt) Nein Dirk Manzewski Dr. Peter Struck Detlef Parr CDU/CSU Joachim Stünker Jörg Tauss Gisela Piltz Wolfgang Börnsen Markus Meckel Jella Teuchner Jörg Rohde (Bönstrup) Petra Merkel (Berlin) Dr. h. c. Wolfgang Thierse Frank Schäffler Dr. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5229

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Henry Nitzsche Roland Claus Kersten Naumann fraktionslos (C) Willy Wimmer (Neuss) Sevim Dagdelen Dr. Norman Paech Dr. Petra Pau Gert Winkelmeier SPD Werner Dreibus Elke Reinke Dr. Dagmar Enkelmann Paul Schäfer (Köln) Enthalten Klaus Ernst Volker Schneider Dr. Wolfgang Gehrcke (Saarbrücken) Renate Gradistanac CDU/CSU Diana Golze Dr. Herbert Schui Reinhold Hemker Dr. Gregor Gysi Dr. Ilja Seifert Renate Blank Petra Hinz (Essen) Heike Hänsel Dr. Lothar Mark Lutz Heilmann Frank Spieth SPD Hans-Kurt Hill Dr. Kirsten Tackmann Marco Bülow Cornelia Hirsch Dr. Axel Troost FDP Inge Höger-Neuling Alexander Ulrich Ernst Kranz Joachim Günther (Plauen) Dr. Barbara Höll Jörn Wunderlich Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Lukrezia Jochimsen Sabine Zimmermann Frank Schwabe Jürgen Koppelin Dr. Hakki Keskin Katja Kipping BÜNDNIS 90/DIE FDP DIE LINKE Monika Knoche GRÜNEN Jan Korte Hüseyin-Kenan Aydin Katrin Kunert Winfried Hermann Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Dietmar Bartsch Michael Leutert Peter Hettlich Miriam Gruß Karin Binder Ulla Lötzer Dr. Anton Hofreiter Sylvia Kotting-Uhl Dr. Dr. Gesine Lötzsch BÜNDNIS 90/DIE Ulrich Maurer GRÜNEN Eva Bulling-Schröter Dorothee Menzner Hans-Christian Ströbele Dr. Martina Bunge Kornelia Möller Dr. Harald Terpe Irmingard Schewe-Gerigk

Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Arbeit noch nicht aufgenommen. Zudem ist der Grenz- Marina Schuster, FDP-Fraktion. konflikt um Abyei noch nicht entschieden. (Beifall bei der FDP) Ich könnte weitere Verzögerungen, aber auch wirkli- (B) che Erfolge nennen. Entscheidend ist jedoch: Ein Abzug (D) der UNMIS-Mission aus dem Südsudan wäre zum jetzi- Marina Schuster (FDP): gen Zeitpunkt fatal; denn das hätte schwere Auswirkun- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- gen auf den ganzen Sudan und das Darfur-Peace-Agree- nen und Kollegen! Die aktuellen Meldungen aus dem ment. Wir können beides nicht isoliert voneinander Sudan sind – wir haben darüber bereits an verschiedenen betrachten. Stellen gesprochen – äußerst dramatisch und besorgnis- erregend. Dennoch leistet der UNMIS-Einsatz einen Deswegen möchte ich kurz auf Darfur eingehen, wertvollen Beitrag zur Sicherung des Friedens im auch weil es im Antrag der Bundesregierung erwähnt Südsudan. Nach 20 Jahren Bürgerkrieg und schätzungs- wird. Ich meine, wir tun immer gut daran, wenn die De- weise über 2 Millionen Toten ist das Comprehensive- batte über eine mögliche Lösung auch aus der Perspek- Peace-Agreement, ist dieser Friedensvertrag ein Meilen- tive unserer Bündnispartner betrachtet wird. Wir sollten stein auf dem Weg zu dauerhaftem Frieden. bei aller Zurückhaltung, die wir uns verständlicherweise bei der Umsetzung der Resolution 1706 selbst auferle- Die Bundeswehr leistet bei diesem Einsatz vor Ort gen, nicht verkennen, dass dieses Thema bei entschei- trotz der schwierigen Bedingungen sehr gute Arbeit. Ich denden Bündnispartnern schon eine ganz andere Dyna- war vor zwei Monaten im Sudan, auch in Juba im Süd- mik hat. In den USA und in Großbritannien hat der sudan. Ich konnte sehen, welche Bedingungen dort herr- Darfurkonflikt eine öffentliche Aufmerksamkeit er- schen: Malariagefahr, sintflutartige Regenfälle, extreme reicht, von der wir hier in Deutschland leider meilenweit Hitze, Unmengen an Landminen und Überfälle. Aber ich entfernt sind. Wir sollten uns klar darüber sein, dass hier habe auch die Herzlichkeit der Menschen erlebt, bei de- bald Entscheidungen auf uns zukommen können. Ich nen die Bundeswehr hohes Ansehen genießt. Ich glaube, würde es sehr begrüßen, wenn wir hierzu im Vorfeld dass ich für alle hier spreche, wenn ich sage: Den Solda- eine fundierte und eine tiefgehende Diskussion über den ten gilt unser großer Dank und unser ganzer Respekt. politischen Ansatz führen würden. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der SPD) Ich konnte in Juba sehen, dass die Umsetzung des Frie- Wir nehmen hier und heute keine Entscheidung über ei- densvertrags vorankommt, wenn auch deutlich verzö- nen Darfureinsatz oder das so genannte Rehatting vor- gert. Die sudanesische Zentralregierung ist dafür maß- weg. Aber eines muss gesagt sein: Ohne einen Darfur- geblich verantwortlich. Die Erdölkommission hat ihre Darfur-Dialog, der alle Konfliktparteien und die Zivilge- 5230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Marina Schuster (A) sellschaft einschließt, werden wir nie einen dauerhaften Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Frieden erreichen. Die Menschen – wir reden von mehr Das Wort hat der Bundesverteidigungsminister, als zwei Millionen Flüchtlingen – brauchen nichts mehr Dr. Franz Josef Jung. als Sicherheit. Für die Sicherheit brauchen wir einen breiten und stabilen Friedensvertrag, einen Vertrag, der von allen getragen wird, nicht nur von der Rebellen- Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- gruppe um Minni Minawi. gung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wir müssen uns auch die Rolle Chinas im Sudan vor Herren! Die Bundesregierung bittet Sie um Zustimmung Augen führen. Diese beunruhigt. China hat dort massive zur Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an der Interessen. Die Volksrepublik baut Staudämme, Straßen, Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan. An sogar Fertighäuser. China schweigt zu Massenvertrei- dieser Friedensmission nehmen derzeit 36 Soldatinnen bung und zu Menschenrechtsverletzungen in Darfur und und Soldaten teil. Das Bundestagsmandat erlaubt aber investiert gleichzeitig 2 Milliarden US-Dollar in die Öl- den Einsatz von 75 Soldatinnen und Soldaten zur Mili- industrie des Landes. Gleichzeitig kommt China als ent- tärbeobachtung sowie als Einzelpersonal in den UNMIS- scheidendem Akteur im Weltsicherheitsrat eine Schlüs- Stäben im Südsudan. selrolle zu. Bislang stellen sich die Chinesen schützend vor das Regime in Khartum. Ich frage daher die Bundes- Dieser Einsatz beruht auf einem Beschluss des regierung – Herr Minister Jung kann danach antworten –: Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wie sie wis- sen, war ursprünglich geplant, das Mandat für diesen Inwiefern hat sie ihre guten Arbeitsbeziehungen beim Einsatz auf sechs Monate zu beschränken. Die Vereinten jüngsten Treffen mit Ministerpräsident Wen Jiabao ge- Nationen haben vor kurzem eine Entscheidung für einen nutzt, um in dieser Frage etwas zu erreichen? Zeitraum von zwei Wochen getroffen. Das heißt, die (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Gute Frage!) Mission der Vereinten Nationen im Sudan dauert bis zum 8. Oktober an. Es reicht nicht, zu erfahren, dass das Thema dort ange- sprochen wurde. Was wurde denn konkret vereinbart? Bevor ich auf die Begründung zu sprechen komme, will ich darauf hinweisen, dass sich unser Antrag nur auf (Beifall bei der FDP) diese zwei Wochen bezieht. Ich denke, es ist auch im In- teresse des Parlaments, die Dinge nicht in einem Rhyth- Wie und mit welchen Mitteln soll das weitere deutsche mus von zwei Wochen zu erörtern. In Zukunft sollten Vorgehen gegenüber dem Regime dort im Rahmen der wir einen längeren Zeitraum vereinbaren, um die Bera- (B) internationalen Staatengemeinschaft sein? Welche Rolle tung effektiv zu betreiben. Wegen der militärischen (D) wird China dabei spielen? Wir müssen die Chinesen als Schutzkomponente ist es wichtig, dass es sich hier letzt- einen entscheidenden Akteur im Weltsicherheitsrat in lich um einen bewaffneten militärischen Einsatz handelt. die Pflicht nehmen, wenn es darum geht, den Worten Deshalb ist auch die Zustimmung des Deutschen Bun- und Sicherheitsratsbeschlüssen Taten folgen zu lassen. destages zu diesem Mandat notwendig. (Beifall bei der FDP) Was ist der Grund für die Verlängerung der Mission der Vereinten Nationen um nur zwei Wochen? Tatsache Die Bundeskanzlerin, die leider der Debatte jetzt ist, dass die Vereinten Nationen beabsichtigen, das Man- nicht beiwohnt, hat in ihrer Rede bei der Generaldebatte dat UNMIS mit der von der Afrikanischen Union am 6. September – das ist noch gar nicht so lange her – geführten Mission, AMIS, zu einer VN-geführten an die Verantwortung für Afrika als unseren Nachbar- Gesamtmission im Sudan zusammenzulegen. Dies ent- kontinent erinnert. Ich teile ihre Meinung. Nur eines spricht auch der Bitte der Afrikanischen Union. Wie Sie muss ich hier klarstellen: Ihre Verantwortung ist nicht wissen, lehnt die sudanesische Regierung diese Absicht damit erledigt, dass wir deutsche Soldaten im Sudan, im der Vereinten Nationen bisher ab. Es ist notwendig, hier Kongo oder in anderen Ländern haben. Wie wird denn eine Übereinstimmung zu erzielen. Auch ich bin der Afrika und insbesondere der Sudan bei den Präsident- Meinung, dass ein Dialog stattfinden muss, wenn es zu schaftsplanungen berücksichtigt? Deutschland hat eine einer solchen Übereinstimmung kommen soll. Chance, eine aktivere Afrikapolitik bei der EU und der G 8 zu forcieren. Ich bin der Meinung, wir sollten diese Wahr ist auch: Ungeachtet des Friedensabkommens Chance nutzen. vom 5. Mai haben die Zusammenstöße zwischen suda- nesischen Regierungskräften und Rebellengruppen so- Ich komme zum Schluss. Die FDP-Fraktion wird die- wie Übergriffe auf NGOs oder auf die Zivilbevölkerung sem Antrag, der ohne inhaltliche Änderung ist, und die- zugenommen. Aufgrund dieser Entwicklung ist es auch sem Mandat zustimmen, weil wir meinen, dass der Frie- im Interesse der Friedensbemühungen, dass der Sicher- densprozess unterstützt werden muss. Die entscheidende heitsrat der Vereinten Nationen seiner tiefen Sorge Aus- Frage aber bleibt für uns offen: Wann definiert die Bun- druck verleiht, um so die humanitäre Situation in Darfur desregierung endlich klar ihre Ziele und Interessen in positiv zu beeinflussen und die Beendigung der Gewalt Afrika? Denn eine deutsche Afrikapolitik, die nur auf zu ermöglichen. Diese kurzen Zeitabstände sind letztlich Zuruf reagiert, ist keine Strategie. auch gewählt, um politischen Druck auszuüben, damit eine friedliche Entwicklung im Sudan insgesamt einge- (Beifall bei der FDP) leitet werden kann. Wir sollten diese Bemühungen des Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5231

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) Sicherheitsrats der Vereinten Nationen tatkräftig unter- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): (C) stützen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es muss uns doch auffallen, dass wir über Außenpolitik (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der hier im Hause fast nur noch im Zusammenhang mit FDP sowie der Abg. Kerstin Müller [Köln] Militäreinsätzen debattieren. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Unsere Auslandseinsätze – das gilt auch für ein sol- Winkelmeier [fraktionslos]) ches Mandat – sind von drei Grundprinzipien geprägt: von den Überlegungen, die im Einklang mit unseren Ich habe in den letzten Monaten keine außenpolitische Werten stehen, von unseren internationalen Verpflich- Debatte ohne diese Komponente erlebt. Das kennzeich- tungen – gegenüber den Vereinten Nationen, gegenüber net eigentlich die ganze Dramatik in unserer Politik. Au- der NATO und gegenüber der Europäischen Union – und ßenpolitik kann nicht auf Militärpolitik reduziert wer- davon, dass diese Einsätze auch in unserem Interesse lie- den. gen müssen. Gerade bei einem Einsatz wie diesem müs- sen Krisenbewältigung, Stabilisierung und Gewährleis- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert tung eines sicheren Umfeldes für den Wiederaufbau Winkelmeier [fraktionslos]) – Sie haben von konkreten Projekten gesprochen – einer Es ist schon ein bisschen Absurdistan, finde ich, dass der friedlichen Entwicklung dienen. Der Einsatz unserer Außenminister über Militäreinsätze redet und der Vertei- Soldatinnen und Soldaten sollte sich daran orientieren. digungsminister über Außenpolitik redet. Das heißt, man macht Militär zum Mittel der Außenpolitik und ver- Wir können Krisen und Konflikten nur dort begeg- schiebt hier die Achsen. nen, wo sie auch entstehen. Die zahlreichen negativen Geschehnisse haben notwendigerweise Rückwirkungen Dies zeigt auch der Antrag. Ich habe in diesem Hause auf unser Land. Wenn wir die Krisen und Konflikte vor viel erlebt, aber ein Antrag, der sich auf 14 Tage bezieht, Ort bewältigen, dann dient das auch dem Schutz unserer das ist neu; das hatten wir noch nicht, Herr Minister. Bürgerinnen und Bürger und einer friedlichen und stabi- Wenn sich ein Antrag auf 14 Tage bezieht, dann hat das len Entwicklung bei uns. Der eingeschlagene Weg ist einen Hintergrund. Den Hintergrund muss man hier klar – auch im Hinblick auf das UNMIS-Mandat – richtig. machen. Der Hintergrund ist, dass die Vereinten Natio- Unseren Einsatz werden wir dementsprechend fortset- nen beschlossen haben, die Missionen zusammenzule- zen. gen und das Militär in Darfur um – nicht auf, sondern um – 22 500 Soldaten zu erhöhen. Dafür gibt es keine (B) Ich bitte den Deutschen Bundestag um die entspre- Zustimmung, bislang jedenfalls nicht, der sudanesischen (D) chende Unterstützung für dieses Mandat. Ich bitte aber Regierung. auch darum, damit einverstanden zu sein, dass wir in Zu- kunft längerfristige Regelungen – dieses Mandat wird Rechtlich ist das, was die UNO beantragt hat, in Ord- nur bis zum 8. Oktober gültig sein – treffen. Sie wissen, nung, aber politisch – das sage ich Ihnen – ist ein solches dass an dem bisherigen Mandat inhaltlich nichts verän- Vorhaben gegen die sudanesische Regierung und ihre dert wird und dass wir dann, wenn im Rahmen des Man- Machtausübung nicht durchzusetzen. Hier gehen Recht dats gegebenenfalls zusätzliche Komponenten in Darfur und Politik auseinander. berücksichtigt werden müssen, eine zusätzliche Informa- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert tion geben und auch eine Abstimmung mit dem Deut- Winkelmeier [fraktionslos]) schen Bundestag herbeiführen. Wer heute dem zustimmt – wir stimmen über einen Ich kann nur hoffen und wünschen, dass in Zusam- konkreten Antrag ab; das weiß ich auch –, der öffnet ei- menarbeit der Vereinten Nationen und der sudanesischen nen Weg, bei dem man nicht weiß, wo man am Ende an- Regierung das Ziel erreicht wird, zu einer gesamtverant- kommt. wortlichen Mission zu kommen, um in diesem teilweise geschundenen Land zu einer stabilen und friedlichen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Entwicklung beizutragen. Deshalb bitte ich Sie um Un- terstützung für die Verlängerung dieses UNMIS-Man- Bei Militäreinsätzen muss man aber sehr genau wissen, dats. wo man ankommt. Besten Dank. Über Ihren mündlichen Antrag, Herr Jung, dass wir das jetzt gleich für sechs Monate absegnen, können wir (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der in den Ausschüssen reden; das steht hier überhaupt nicht FDP) zur Debatte, weil Sie das gar nicht beantragt haben. So können wir nicht vorgehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aber zur Sache selbst: Man weiß auch nicht, wie sich Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke, Frak- Deutschland verhalten wird, was die Stellung von Sol- tion Die Linke. daten angeht, wenn es zu diesem Einsatz kommt. Ich möchte einmal die Bundeskanzlerin zitieren. Am (Beifall bei der LINKEN) 6. September hat Frau Merkel hier im Hause ausgeführt: 5232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Wolfgang Gehrcke (A) Ich sehe aber im Augenblick keine Möglichkeit, Warum blendet man die drohende Gefahr aus, dass (C) dass wir neben unserem Engagement im Kongo ein die Staatlichkeit des Sudans auseinander fällt? Der Sü- zusätzliches Engagement in Darfur übernehmen. den des Sudans steuert doch auf einen eigenen Staat zu; bei Darfur ist es nicht anders. Wenn man aber nicht ga- Heißt denn das – das könnten die Kolleginnen und rantieren kann, dass die Staatlichkeit des Sudans erhal- Kollegen der CDU/CSU einmal erklären –, dass man ten bleibt, muss man sich bewusst sein, dass ein neuer dann, wenn der Kongoeinsatz – er soll im Oktober zu Konfliktherd von ungeheurer Dimension entstehen Ende gehen – erledigt ist, Möglichkeiten sieht, auch könnte, in dem sich dann viele Soldaten aufhalten. Das deutsche Soldaten nach Darfur zu schicken? Ich sage Ih- kann doch nicht Absicht vernünftiger Politik sein. nen: Sie werden die Unzahl von Militäreinsätzen der Be- völkerung nicht weiter erklären können. Wenn wir (Beifall bei der LINKEN) irgendjemanden hier im Haus aufrufen würden – ich schaue einmal wild in die Reihen – und ihn bitten wür- Deshalb mein Rat: Wenn man sich nicht sicher ist, lie- den, aufzuzählen, wo überall wir im Moment Mandate ber Nein sagen. Dann kann man nämlich weiter diskutie- haben, würden wir merken: Man bekommt diese elf ren. Mandate kaum zusammen. – Da muss man also genau Danke sehr. überlegen, wo man zustimmt oder nicht. (Beifall bei der LINKEN) Meine erste Schlussfolgerung ist: Wenn nicht klar ist, wohin die Reise geht, sollte man besser nicht zustim- men. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Bündnis 90/Die Grünen. Winkelmeier [fraktionslos]) Meine Fraktion wird ablehnen oder sich der Stimme ent- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halten. Wir diskutieren sehr intensiv über die Inhalte. NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann Das Zweite – das liegt mir eigentlich noch mehr am mich noch sehr gut an die langen und sehr komplizierten Herzen –: Man muss mehr darüber nachdenken, wie man Verhandlungen über das Naviasha-Friedensabkommen diesen unhaltbaren und unmenschlichen Bürgerkriegs- erinnern, an denen ich als Staatsministerin teilgenom- zustand in Darfur beendet, welche politische Lösung es men habe. Ich weiß, dass, als dieses Abkommen nach dafür gibt. Das muss die Zielsetzung sein. mehr als 21 Jahren Bürgerkrieg zwischen Norden und (B) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Süden, einem der blutigsten und längsten Bürgerkriege (D) Winkelmeier [fraktionslos]) Afrikas, endlich unter Dach und Fach war, das als sehr großer Erfolg für die Menschen vor Ort wahrgenommen Die Regierung des Sudans und die Rebellenorganisatio- wurde. nen müssen dazu gebracht werden, die Kämpfe einzu- stellen. Widersprüche, die reale Widersprüche sind, bei Lieber Herr Gehrcke, meine Damen und Herren von denen es um Wasser, Boden oder Naturschätze geht, dür- der PDS, fen nicht gewaltsam, sondern müssen friedlich ausgetra- gen werden. Deswegen muss der politische Druck auf (Zuruf von der LINKEN: Linke!) die Regierung des Sudans wachsen. ich kenne auf der internationalen Ebene wirklich nie- Wenn Präsident Bush vor den Vereinten Nationen den manden, der ernsthaft die Notwendigkeit von UNMIS Militäreinsatz in Darfur damit begründet, dass das Teil infrage stellt. des Krieges gegen den Terror ist, dann ist das kontrapro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN duktiv. und bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Bei diesem Mandat von einer Militarisierung der deut- Ich habe immer wieder vorgeschlagen – darauf rea- schen Außenpolitik zu reden, ist einfach völlig absurd. giert aber keiner, weil der Verteidigungsminister keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Außenpolitik machen darf –, sich an die Blockfreien zu bei der CDU/CSU und der SPD) wenden. Sudan ist Teil der Blockfreien. Diese hatten eine Konferenz mit 128 Staaten. Man weiß, wie eng die Ich will einmal den Versuch machen, Ihnen das zu erklä- Zusammenarbeit Südafrikas und übrigens auch Kubas ren. mit dem Sudan ist. Warum setzt man die Regierung Su- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Gerne! – dans nicht stärker über die Blockfreien unter Druck? Das Gegenruf des Abg. Winfried Nachtwei wäre eine Aufgabe der Politik. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist bera- (Beifall bei der LINKEN) tungsresistent!) Warum blenden wir einfach aus, dass China Zunächst einmal ist Militäreinsatz nicht gleich Militär- 70 Prozent der Erdölförderung im Sudan in den Händen einsatz, sehr geehrter Herr Gehrcke. Anders als bei Dar- hält? China hat mindestens 1 000 Soldaten im Sudan, die fur ist es hier zum Beispiel so, dass beide Konfliktpar- die Pipelines absichern. teien – ich habe diese Gespräche geführt, bevor man Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5233

Kerstin Müller (Köln) (A) überhaupt international darüber gesprochen hat – aus- Da möchte ich mich an die Bundesregierung wenden: (C) drücklich eine UNO-Mission gewünscht haben. Eine reine Mandatsverlängerung für die deutschen Mili- tärbeobachter reicht nicht – obwohl man sie braucht –, Wenn man sich den Fahrplan des Abkommens und sondern wir brauchen einen massiven Ausbau ziviler die UN-Resolution ansieht, stellt man fest, dass es hier Hilfsprogramme im Süden Sudans, zum Beispiel für vor allen Dingen um die politische Absicherung eines die Flüchtlingsrückkehr. Das Flüchtlingshilfswerk der komplizierten Prozesses durch die internationale Ge- Vereinten Nationen musste jetzt am 15. September den meinschaft geht. Es geht um den Aufbau von Zivilpoli- Abbruch seiner Programme für den Fall ankündigen, zei, Menschenrechtsförderung, Demobilisierung der dass es nicht mehr Mittel erhält. Ich meine, hier wie in Milizen und Flüchtlingsrückkehr. All das ist in der Reso- anderen Bereichen muss Deutschland der UNO aktiv lution enthalten. Vor diesem Hintergrund gehört, wie ich Hilfe anbieten. Ich fordere deshalb die Bundesregierung finde, viel politische Ignoranz dazu, aus einem friedens- auf, zumindest teilweise die 2005 in Oslo in Aussicht ge- unterstützenden Mandat ein Kriegsmandat zu konstruie- stellten Mittel für die Entwicklung des Südens endlich ren. Das ist einfach völlig realitätsfern. freizugeben – nicht für den Norden, aber für den Süden –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, denn der Süden muss die Chance auf Entwicklung ha- bei der SPD und der CDU/CSU) ben. Sie begründen es damit, dass es nach Kapitel VII (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mandatiert ist, obwohl es im Kern um ein Überwa- sowie bei Abgeordneten der SPD) chungs- und Beobachtungsmandat geht. Liebe Kollegin- Der Frieden im Süden steht aber auch auf dem Spiel nen und Kollegen von der Linken, da sind an Ihnen ein- – da ist der Zusammenhang –, wenn es nicht gelingt, die fach zehn Jahre Debatte um UNO-Peacekeeping Gewalt in Darfur und übrigens auch in anderen Teilen vorbeigegangen. Darüber hat man innerhalb der UNO des Sudans zu beenden. Wir brauchen deshalb endlich diskutiert. Es gibt einen Brahimi-Report. Nach Ruanda diplomatische Initiativen der Bundesregierung im Hin- und Srebrenica werden alle Einsätze nach Kapitel VII blick auf Darfur, mandatiert. Weil es eben zu schwierigen Situationen in Postkonfliktgesellschaften kommen kann, ist es unver- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- antwortlich, Soldaten in einen Einsatz zu schicken, ohne SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. diesen nach Kapitel VII zu mandatieren, auch wenn er Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) im Kern nur der Überwachung dient. zum Beispiel mehr Druck auf die Schutzmächte Khar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN toums, Russland und China. Das ist der Hintergrund, und bei der SPD) warum wir nur um 14 Tage verlängern. Die UNO hat (B) (D) Khartoum eine Frist gesetzt, der Erweiterung von Meine Fraktion wird jedenfalls der Entsendung von UNMIS zuzustimmen. Ich muss sagen: Es ist völlig kon- unbewaffneten Militärbeobachtern – das ist nämlich traproduktiv, wenn die Bundeskanzlerin, wie in der der deutsche Beitrag; das haben Sie eben auch unter- Haushaltsdebatte geschehen, offenkundiges Desinteresse schlagen, Herr Gehrcke – in diese Mission zustimmen. an Darfur zeigt. Wir brauchen jetzt diplomatische Initia- Auch ich bin unmittelbar nach dem Krieg im Süden tiven der Regierung, wir dürfen nicht den Druck von der gewesen. Ich muss sagen, ich habe selten eine so zer- sudanesischen Regierung nehmen. Ich erwarte von der störte Region gesehen. Nach 21 Jahren Bürgerkrieg fan- deutschen Bundesregierung, dass sie sich im Fall Darfur gen die Menschen dort bei null an; Sie haben es eben ge- endlich an die Spitze der Bewegung in Europa setzt – da schildert. Es wurde aber schon jetzt einiges erreicht; muss man erst einmal diplomatisch aktiv werden – und insgesamt wird man aber noch lange für den Aufbau alles tut, um das Drama zu beenden. brauchen. Danke schön. Immerhin ist der Waffenstillstand stabil; die Demobi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lisierungsprogramme laufen; es gibt inzwischen eine Re- sowie bei Abgeordneten der SPD) gierung der nationalen Einheit; Schulen sind wieder in Betrieb; Minen werden geräumt und Flüchtlinge kehren zurück. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer von der Kofi Annan hat aber in seinem Bericht vom Septem- SPD-Fraktion. ber auch Probleme benannt: Bei der Wahlvorbereitung und bei der Macht- und Ressourcenaufteilung gibt es lei- Christoph Strässer (SPD): der kaum Fortschritte. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ich möchte mich ganz klar den Forderungen Annans Herren! Mit dem schon mehrfach angesprochenen Com- anschließen, damit dieses Friedensabkommen letztlich prehensive Peace Agreement von Nairobi wurde ein zum Erfolg wird: 20 Jahre währender Bürgerkrieg formell beendet. Ange- sichts der Dauer des Krieges, der zu einer kaum be- Erstens. Beide Parteien müssen sich wirklich strikt an schreibbaren humanitären Katastrophe mit zwei Millio- die Umsetzung des Friedensabkommens halten. nen Toten und vier Millionen Binnenvertriebenen Zweitens. Die internationale Unterstützung des Frie- geführt hat, stellt das Friedensabkommen zweifelsfrei ei- densprozesses muss dringend ausgebaut werden. nen Erfolg dar. Ich glaube, jedem, der sich mit der Sache 5234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Christoph Strässer (A) befasst hat, ist bewusst, dass dieses Friedensabkommen kommens wurden auch umgesetzt, zum Beispiel die Ver- (C) nur zustande gekommen ist, weil die Vereinten Nationen abschiedung der Verfassung. Diese Verfassung enthält mit dem UNMIS-Mandat klare Unterstützung auch mit Elemente aus einem modernen Grundrechtekatalog, von militärischer Komponente zugesagt haben. Ansonsten denen viele westliche Demokratien nur träumen können. könnten wir davon ausgehen, weiter jeden Tag Tod, Wir sollten entsprechende Anstrengungen, diese Verfas- Mord und Plünderungen im Südsudan zu erleben. Ich sung zu implementieren, massiv unterstützen. glaube, das kann niemand in diesem Hohen Hause wol- len. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Menschenrechtssituation hat sich gerade im Ver- der CDU/CSU) gleich zum immer wieder angesprochenen Konflikt in Darfur deutlich verbessert, wenn auch das Niveau, was Wir wissen auch, dass das Friedensabkommen allein die Menschenrechte betrifft, noch nicht ausreichend ist. noch nicht bedeutet, dass im Südsudan materiell Frieden Wir konnten aber zu der Feststellung gelangen, dass zu- eingetreten ist. Deshalb fordern wir – das ist ein Kern mindest der Südsudan auf einem guten und richtigen der Auseinandersetzung, mit der wir es zu tun haben –, Weg ist. Unterstützung ist notwendig, damit die jahr- dass im Vordergrund steht, zivile Aufbauhilfe für den zehntelang marginalisierte Bevölkerung in dieser Region Südsudan zu leisten. Dies geschieht auch; das haben wir endlich Zugang zu dem bekommt, was sie am dringends- mit eigenen Augen erlebt. Aber sie wird nur dann erfolg- ten braucht, nämlich Zugang zu einem funktionierenden reich sein, wenn sie in einem Klima der Sicherheit statt- Gesundheits- und Bildungssystem. Davon sind wir aber findet. Für diese Sicherheit ist das UNMIS-Mandat aus noch weit entfernt. meiner Sicht nach wie vor erforderlich. Ansonsten würde UNMIS dort versagen. Das wäre ein Versagen der Einige Vorstellungen ließen sich leider nicht umset- Völkergemeinschaft, eine Kapitulation vor Völkermord zen. Es ist schon angesprochen worden, dass sich der und anderem. Ich glaube, wir haben lange genug wegge- Aufbau jeglicher Infrastruktur noch nahezu am Null- schaut; das dürfen wir nicht weiter hinnehmen. punkt befindet. Das Land ist nach wie vor zerstört. Die Entwaffnung und die Wiedereingliederung der Milizen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ müssen entschiedener vorangetrieben werden. Viele CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE junge Menschen in diesem Land – das muss man sich GRÜNEN) einmal vorstellen – haben in ihrem Leben bislang nichts Der Ausschuss für Menschenrechte und Humani- anderes als den Dienst an der Waffe erlebt. Die Waffe täre Hilfe hat vor drei Monaten den Südsudan besucht. war für sie das, was für andere die Familie ist. Man muss Wir haben feststellen können, dass es dort zwar voran- daher dafür sorgen, dass es eine Kompensation gibt, da- (B) (D) geht, dass wir aber in der Tat von stabilen Verhältnissen mit die Menschen in Frieden leben können. Die Entwaff- noch sehr weit entfernt sind. In der Zeit, in der wir dort nung kann eben nicht nur mit zivilen Organisationen und gewesen sind, sind in einem Nachbarort von Dschuba mit zivilen Mitteln durchgeführt werden. Auch dafür durch Überfälle von Rebellen neun russische Aufbauhel- brauchen wir weiterhin die UNMIS-Mission, an der die fer getötet worden. Ich glaube, in dieser Situation davon Bundeswehr beteiligt ist. zu sprechen, man könne dort nur und ausschließlich Aufbauhilfe leisten, ohne gleichzeitig für die Sicherheit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der Menschen zu sorgen, ist einer der größten Fehler, die CDU/CSU) man sich überhaupt vorstellen kann. Dann gehen die Wir müssen des Weiteren die Feststellung treffen, Menschen nämlich nicht mehr dorthin. dass der Aufbau im Südsudan mit einer zarten Pflanze zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vergleichen ist. In diesem krisengeschüttelten Umfeld ist nach wie vor nichts sicher. Die Bundeswehr leistet – das Wir sind auch mit Vertretern der südsudanesischen ist meine fest Überzeugung; sie steht im Gegensatz zu Regierung, mit Parlamentariern und mit Vertretern der dem, was Sie verbreiten – dort keinen Beitrag zu einem Zivilgesellschaft zusammengetroffen. Wenn man mit Krieg. Wer die Meinung vertritt, dass sich deutsche Au- diesen Menschen redet, dann bekommt man einen ande- ßenpolitik in der letzten Zeit ausschließlich an Bundes- ren Eindruck als den, der hier zum Teil vermittelt wer- wehreinsätzen orientiert, der verbreitet Propaganda, die den soll. Eines ist völlig klar: Uns wurden viel Lob und hier nicht hingehört. Die Bundeswehr unterstützt den Dank für das deutsche Engagement entgegengebracht, Aufbau einer zivilen Gesellschaft. Eine solche Politik verbunden mit der Bitte, dort zu bleiben, weiterzuma- brauchen wir und sie ist – davon bin ich fest überzeugt – chen und mit der internationalen Völkergemeinschaft für ohne die Bundeswehr nicht möglich. dauerhaften Frieden zu sorgen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Mein Eindruck ist – das ist der Eindruck aller Aus- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schussmitglieder; ich glaube, auch des Kollegen der GRÜNEN) Linksfraktion –, dass im Südsudan in bestimmten Be- reichen durchaus eine Aufbruchstimmung vorhanden ist. Es ist richtig: Es gibt die Verknüpfungen zum Darfur- Der Südsudan hat sich eine fortschrittliche Agenda zum konflikt. Wer in den letzten Jahren vor Ort gewesen ist, Ziel gesetzt. Das Friedensabkommen von Nairobi sieht der kann nicht begreifen, wie man nicht der Auffassung einen Quasistaat Südsudan mit einer weit reichenden sein kann, dass die internationale Staatengemeinschaft Autonomie vor. Entscheidende Teile des Friedensab- mit massiven Kräften einen Völkermord verhindern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5235

Christoph Strässer (A) muss. Auch hier haben wir zivile Komponenten in die wahr. Das entspricht unserer Position in Europa ebenso (C) Diskussion gebracht. wie unserer Position in der internationalen Gemein- schaft. Wir handeln auf der Grundlage einer gemeinsa- Es ist wichtig, unter Menschenrechtsaspekten noch men Werte- und Interessenlage. folgenden Punkt anzusprechen. Es gibt nach wie vor – auch Deutschland ist daran sehr aktiv beteiligt – die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- angekündigten Maßnahmen des Internationalen Straf- neten der SPD) gerichtshofs. Wer sagt, wir dürfen ausschließlich mit Gesprächen Herrn al-Baschir dazu zwingen, sich anders Wir handeln im Rahmen der internationalen Verpflich- zu verhalten, der kennt Herrn al-Baschir nicht richtig. tungen, die Deutschland hat. Die Verhandlungen mit sudanesischen Regierungstrup- pen, die wir geführt haben, zeigen, dass es nur mit Druck Der Sudan ist der flächengrößte Staat auf dem afrika- geht. Deswegen muss auch mit deutscher Hilfe die Straf- nischen Kontinent, siebenmal so groß wie Deutschland. androhung durch den ICC aufrechterhalten werden. Das Im Sudan leben unterschiedlichste Ethnien und treffen ist eine klare Bewährungsprobe für den Internationalen verschiedene Religionen aufeinander. Wie die Konflikte Strafgerichtshof. Wenn er an dieser Stelle versagt, dann dort gelöst werden und wie Frieden erreicht werden wird das internationale Gewaltmonopol der Vereinten kann, hat Auswirkung auf die gesamte Region. Nationen in noch weitere Ferne rücken, als es ohnehin Die Krise im Sudan kostete Millionen von Menschen schon der Fall ist. das Leben und hat Millionen von Menschen zur Flucht Ich bin unter Menschenrechtsaspekten voller Über- genötigt. Destabilisierte Staaten bieten Potenziale für zeugung der Meinung, dass das UNMIS-Mandat in der den internationalen Terrorismus, eine Frage, die uns vorgesehenen Form verlängert werden muss. dann im gleichen Maße betrifft. Herzlichen Dank. Wir sind daher weit über die humanitäre Verantwor- tung hinaus gefordert. Es gibt die Grundüberzeugung, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass allein eine militärische Mission nicht dazu geeignet der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ist, einen verlässlichen Frieden zu erzielen. Dennoch GRÜNEN) wird unsere Bereitschaft, Verantwortung zu überneh- men, in Zukunft auch die Bereitschaft zu militärischen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Komponenten beinhalten. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion. Das Programm von UNMIS ist umfassend ausgerich- (B) tet. Es geht um die Umsetzung des Vertrages von Nai- (D) (Beifall bei der CDU/CSU) robi. Es geht um die Aufklärung der Bevölkerung in die- sem Friedensprozess. Es geht aber ebenso um die Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Entwaffnung und die Eingliederung der Milizen in natio- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nale Strukturen. Es geht um den Aufbau rechtsstaatlicher Herren! Über den UNMIS-Einsatz der Vereinten Natio- Strukturen mit einer unabhängigen Rechtsprechung und nen ist in der Vergangenheit mehrfach in diesem Hause einer zivilen Polizei. dabattiert worden. Heute geht es wieder um den deut- schen Beitrag an UNMIS, das heißt um den Einsatz von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- maximal 75 deutschen Soldaten im Sudan. neten der SPD) UNMIS ist ein wesentlicher Beitrag der internationa- Es geht um Hilfe bei der Gewährleistung der beschlosse- len Gemeinschaft zur Unterstützung eines vielschichti- nen sechsjährigen Übergangsphase. Es geht aber auch gen Friedensprozesses. Zum Frieden haben sich die um den Schutz der humanitären Hilfe und der Helfer und Konfliktparteien im Sudan verpflichtet. Es geht im We- um den Schutz der bedrohten Zivilbevölkerung. sentlichen – das ist in dieser Debatte schon angeklungen – um die Umsetzung des Friedensvertrages von Nairobi, Unsere Zustimmung zur deutschen Beteiligung an der am 9. Januar 2005 vereinbart worden ist. Im UNMIS haben wir im Frühjahr 2005 getroffen. Mit den Frühjahr 2005 hat sich die internationale Gemeinschaft UN-Resolutionen 1706 und 1709 hat sich die Situation auf der Grundlage der UN-Resolution 1590 für diese geändert. Darauf in einer Debatte hier im Bundestag zu friedensbildende Mission entschieden. Der Einsatz- reagieren und den deutschen Beitrag nicht im verein- schwerpunkt ist der Südsudan. fachten Verfahren zu verlängern, ist meines Erachtens angemessen. Wir zeigen damit unser ungebrochenes In- Am 22. April 2005 haben wir im Deutschen Bundes- teresse an der Umsetzung des Friedensabkommens von tag auf Antrag der Bundesregierung einer deutschen Nairobi. Wir zeigen aber auch, dass wir mit gleich bren- Beteiligung zugestimmt. Wir haben den deutschen Bei- nender Sorge auf die Eskalation besonders im Westsu- trag zu UNMIS in sechsmonatigen Intervallen verlän- dan, in Darfur, blicken, auch wenn es in diesem Gebiet gert, zunächst im September 2005 und dann im April nicht um einen deutschen Einsatz im Rahmen von 2006. Seit dem Beginn von UNMIS ist Deutschland UNMIS geht. Wir legen mehr als nur ein Bekenntnis der nicht nur humanitär, sondern auch durch eine militäri- Solidarität mit den Millionen Opfern und den Millionen sche Komponente beteiligt, aktuell mit 36 Soldaten. Das Flüchtlingen im Sudan ab. Wir erneuern unsere Zusage, zeigt: Deutschland nimmt in der Welt Verantwortung aktiv zu helfen. 5236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Anke Eymer (Lübeck) (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich (C) neten der SPD) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. De facto wird es zukünftig zwei UNMIS-Teilmissio- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- nen geben. Der zukünftige deutsche Beitrag im Rahmen gin Kornelia Möller, Fraktion Die Linke. von UNMIS wird voraussichtlich keine Aktionen in der Region Darfur, also im Westsudan, umfassen; unsere Be- (Beifall bei der LINKEN) teiligung, über die wir hier heute befinden, wird unver- ändert den Schwerpunkt im Südsudan haben. Kornelia Möller (DIE LINKE): Ich bitte um Ihre Zustimmung und danke für die Auf- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! merksamkeit. Deutschland ist eines der Schlusslichter in Europa bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vor allem der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Langzeitarbeitslosigkeit. Für einen großen Teil der 2,9 Millionen Langzeitarbeitslosen fehlen Arbeits- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: plätze, und das augenscheinlich noch für eine lange Zeit. Ich schließe die Aussprache. Hinzu kommen verschiedene Vermittlungshemmnisse. Fazit: Unter den gegenwärtigen Arbeitsmarktbedingun- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- gen haben diese Frauen und Männer auch längerfristig empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz. Sie wurden aus- sache 16/2777 zu dem Antrag der Bundesregierung auf rangiert. Ältere sind besonders hart dran. Entgegen allen Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Beteuerungen stellen Betriebe nur selten jemanden aus Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan. Der dem Personenkreis 50 plus ein. Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/2700 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Mit den Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Arbeitsmarkt ist es Rot-Grün nicht gelungen, die Ar- vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an beitslosigkeit zurückzudrängen. Stattdessen trugen diese den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich Gesetze und die in diesem Zusammenhang von die Abstimmung. Schwarz-Rot auf den Weg gebrachten Gesetze erheblich Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine zur Verschärfung der sozialen Lage arbeitsloser Men- Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der schen bei. Nach dem Bericht des Bundesrechnungshofes Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- kritisierte „Report Mainz“ am vergangenen Montag, führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu dem 25. September, dass die Arbeitsagenturen Millionen (B) beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen von Betroffenen rechtswidrig aussortieren. (D) später bekannt gegeben.1) Wir setzen die Beratungen (Dirk Niebel [FDP]: Das ist eine Sauerei!) fort. – Ja, ein Skandal erster Güte. So ist es. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: Der von uns auf die Tagesordnung gesetzte Antrag a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia zur Ausweitung und für eine neue Qualität öffentlich Möller, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weite- finanzierter Beschäftigung ist sozial gerecht und ent- rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN spricht einem breiten öffentlichen Bedürfnis. Für eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter Beschäftigung (Beifall bei der LINKEN) – Drucksache 16/2504 – Der DGB sowie einige seiner Einzelgewerkschaften, das Überweisungsvorschlag: Diakonische Werk, die Arbeiterwohlfahrt, aber auch Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) kleinere Organisationen, zum Beispiel der Kirchenkreis Haushaltsausschuss oder die Berliner Initiative „Kampagne gegen Hartz IV“, haben in den letzten Wochen und Monaten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Vorschläge und Initiativen zu öffentlich finanzierter Be- Pothmer, Markus Kurth, Dr. Thea Dückert, weite- schäftigung in die Debatte gebracht. Dass es geht, hat rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- unser Arbeitsminister Helmut Holter in Mecklenburg- NISSES 90/DIE GRÜNEN Vorpommern gezeigt. 665 Schulsozialarbeiterstellen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren wurden dort geschaffen. Gesellschaftlich wichtige Ar- beit wird geleistet. – Drucksache 16/2652 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der LINKEN) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Weitgehende Übereinstimmung besteht zwischen uns Haushaltsausschuss und den anderen Akteuren auch im wichtigen Bereich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Finanzierung. Statt Arbeitslosigkeit soll sozialversi- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die cherungspflichtige Arbeit auf freiwilliger Basis finan- ziert werden.

1) Seite 5237 D (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5237

Kornelia Möller (A) Möglich wird dies durch eine Bündelung von Finanz- Die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit sind für die (C) mitteln, die gegenwärtig sowieso aufgebracht werden: Menschen erheblich. „Arbeitslose sterben früher als Er- für das Arbeitslosengeld II, die Kosten der Unterkunft, werbstätige“ titelte „Die Welt“ am 14. August dieses die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosen- Jahres und nahm Bezug auf die Studie der Universität versicherung, die Mehraufwandsentschädigungen für Leipzig, die darauf aufmerksam macht, dass sich der Ge- 1-Euro-Jobs sowie die Mittel, die die Trägereinrichtun- sundheitszustand arbeitsloser Menschen drastisch ver- gen von 1-Euro-Jobs pauschal erhalten. Nach Auffas- schlechtere und sich ihre Lebenserwartung verkürze. sung der Linksfraktion sollen auch im Bereich der öf- Langzeitarbeitslosigkeit zerstört Familien und entzieht fentlich finanzierten Beschäftigung Mindestlöhne von Menschen eine würdevolle Gegenwart und Zukunft. 8 Euro plus gezahlt werden. Noch einmal: Geld ist da. Handeln Sie endlich! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Um eine solide Startfinanzierung zu sichern, ist es Wenn Sie unserem heute vorgelegten Antrag zustim- notwendig, dass ein Teil der bei der Bundesagentur für men, erhalten 500 000 Menschen, die entsprechend un- Arbeit in diesem Jahr erzielten Überschüsse in das Jahr serem Antrag in einem öffentlich finanzierten Sektor 2007 übertragen wird. Weitere Finanzierungsmöglich- existenzsichernde und sozialversicherungspflichtige Be- keiten resultieren aus Länderprogrammen, aus ESF-Mit- schäftigung finden würden, eine Zukunft, die sie mit teln sowie aus finanziellen Mitteln von Unternehmen, Hartz IV nicht haben. die sich als Träger an öffentlich geförderter Beschäfti- gung beteiligen. Sie sehen, meine Damen und Herren der Koalition: Geld ist da. Ihnen fehlte bislang allein der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wille zu handeln. Frau Kollegin. Selbst die Vorstellungen der Bundesagentur für Arbeit zu alternativen Beschäftigungsformen im Bereich des Kornelia Möller (DIE LINKE): SGB II müssen seit Monaten in den Schubladen schmo- Denn auch heute gilt: Hartz IV ist ein schlechtes Ge- ren, weil die Politik kein Zeichen gibt. Ich erinnere Sie setz. Hartz IV muss weg. an Ihre Aussage im Koalitionsvertrag: Ich danke Ihnen. Personen, deren Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist (Beifall bei der LINKEN) und die keine Arbeit auf dem regulären Arbeits- markt finden können, müssen eine Perspektive be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) kommen. (D) Ich komme zu Tagesordnungspunkt 7 zurück und Was sagen Sie den Langzeitarbeitslosen in Ihrem gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern Wahlkreis in Vorpommern, Frau Merkel, oder Sie, liebe ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung Kolleginnen und Kollegen, in Ihren Wahlkreisen? Was über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- sagen Sie denen, die sich nicht mehr von Ihnen vertreten, schusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fort- sondern allein gelassen und preisgegeben fühlen – und setzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der dies vielleicht auch wissen –, denen, die sich entmutigt Friedensmission der Vereinten Nationen im Sudan, durch Ihre Politik von der Demokratie abwenden? Drucksachen 16/2700 und 16/2777, bekannt: abgege- (Zuruf von der SPD: Das scheint auch ein bene Stimmen 564. Mit Ja haben gestimmt 504, mit Nein PDS-Problem zu sein!) haben gestimmt 48, Enthaltungen 12.

Endgültiges Ergebnis Ernst-Reinhard Beck Thomas Dörflinger Dr. Michael Fuchs Abgegebene Stimmen: 563; (Reutlingen) Marie-Luise Dött Hans-Joachim Fuchtel davon Dr. Christoph Bergner Maria Eichhorn Dr. Jürgen Gehb Otto Bernhardt Anke Eymer (Lübeck) Norbert Geis ja: 503 Clemens Binninger Georg Fahrenschon Eberhard Gienger nein: 48 Carl-Eduard von Bismarck Ilse Falk Ralf Göbel enthalten: 12 Renate Blank Dr. Hans Georg Faust Dr. Reinhard Göhner Peter Bleser Enak Ferlemann Josef Göppel Ja Antje Blumenthal Ingrid Fischbach Peter Götz Jochen Borchert Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU Wolfgang Bosbach Dirk Fischer (Hamburg) Ute Granold Klaus Brähmig Axel E. Fischer (Karlsruhe- Reinhard Grindel Ulrich Adam Michael Brand Land) Hermann Gröhe Ilse Aigner Helmut Brandt Dr. Maria Flachsbarth Michael Grosse-Brömer Dr. Ralf Brauksiepe Klaus-Peter Flosbach Markus Grübel Peter Altmaier Monika Brüning Herbert Frankenhauser Manfred Grund Thomas Bareiß Gitta Connemann Dr. Hans-Peter Friedrich Monika Grütters Norbert Barthle Leo Dautzenberg (Hof) Olav Gutting Günter Baumann Alexander Dobrindt Erich G. Fritz Holger Haibach 5238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gerda Hasselfeldt Hildegard Müller Elisabeth Winkelmeier- Kerstin Griese (C) Ursula Heinen Bernd Neumann (Bremen) Becker Gabriele Groneberg Uda Carmen Freia Heller Michaela Noll Matthias Wissmann Achim Großmann Michael Hennrich Dr. Georg Nüßlein Dagmar Wöhrl Wolfgang Grotthaus Bernd Heynemann Franz Obermeier Wolfgang Zöller Hans-Joachim Hacker Ernst Hinsken Eduard Oswald Willi Zylajew Bettina Hagedorn Peter Hintze Henning Otte Klaus Hagemann Robert Hochbaum Rita Pawelski SPD Alfred Hartenbach Klaus Hofbauer Michael Hartmann Dr. Peter Paziorek Dr. Lale Akgün Franz-Josef Holzenkamp (Wackernheim) Ulrich Petzold Gerd Andres Joachim Hörster Nina Hauer Sibylle Pfeiffer Ingrid Arndt-Brauer Anette Hübinger Hubertus Heil Dr. Friedbert Pflüger Rainer Arnold Hubert Hüppe Reinhold Hemker Beatrix Philipp Ernst Bahr (Neuruppin) Susanne Jaffke Daniela Raab Rolf Hempelmann Dr. Peter Jahr Doris Barnett Dr. Barbara Hendricks Hans Raidel Dr. Hans-Peter Bartels Dr. Hans-Heinrich Jordan Peter Rauen Gustav Herzog Andreas Jung (Konstanz) Klaus Barthel Petra Heß Eckhardt Rehberg Sören Bartol Dr. Franz Josef Jung Katherina Reiche (Potsdam) Gabriele Hiller-Ohm Bartholomäus Kalb Sabine Bätzing Gerd Höfer Klaus Riegert Dirk Becker Hans-Werner Kammer Dr. Heinz Riesenhuber Iris Hoffmann (Wismar) Steffen Kampeter Uwe Beckmeyer Frank Hofmann (Volkach) Franz Romer Klaus Uwe Benneter Alois Karl Johannes Röring Eike Hovermann Bernhard Kaster Dr. Axel Berg Klaas Hübner Kurt J. Rossmanith Ute Berg Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Norbert Röttgen Christel Humme Schwenningen) Petra Bierwirth Brunhilde Irber Dr. Christian Ruck Volker Blumentritt Volker Kauder Albert Rupprecht (Weiden) Johannes Jung (Karlsruhe) Eckart von Klaeden Clemens Bollen Josip Juratovic Peter Rzepka Gerd Bollmann Jürgen Klimke Anita Schäfer (Saalstadt) Johannes Kahrs Julia Klöckner Dr. Gerhard Botz Ulrich Kasparick Hermann-Josef Scharf Klaus Brandner Jens Koeppen Dr. Wolfgang Schäuble Dr. h. c. Susanne Kastner Kristina Köhler (Wiesbaden) Bernhard Brinkmann Ulrich Kelber Dr. Andreas Scheuer Manfred Kolbe (Hildesheim) Christian Kleiminger Karl Schiewerling Norbert Königshofen Edelgard Bulmahn Hans-Ulrich Klose Georg Schirmbeck Dr. Rolf Koschorrek Marco Bülow Astrid Klug Bernd Schmidbauer Hartmut Koschyk Ulla Burchardt Dr. Bärbel Kofler (B) Andreas Schmidt (Mülheim) (D) Thomas Kossendey Martin Burkert Walter Kolbow Ingo Schmitt (Berlin) Michael Kretschmer Dr. Michael Bürsch Fritz Rudolf Körper Dr. Andreas Schockenhoff Gunther Krichbaum Christian Carstensen Karin Kortmann Dr. Günter Krings Dr. Ole Schröder Marion Caspers-Merk Rolf Kramer Dr. Martina Krogmann Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Peter Danckert Anette Kramme Johann-Henrich Wilhelm Josef Sebastian Dr. Herta Däubler-Gmelin Ernst Kranz Krummacher Kurt Segner Karl Diller Nicolette Kressl Dr. Hermann Kues Bernd Siebert Martin Dörmann Volker Kröning Dr. Karl Lamers (Heidelberg) Thomas Silberhorn Dr. Carl-Christian Dressel Angelika Krüger-Leißner Dr. Norbert Lammert Johannes Singhammer Elvira Drobinski-Weiß Dr. Hans-Ulrich Krüger Katharina Landgraf Jens Spahn Garrelt Duin Jürgen Kucharczyk Dr. Max Lehmer Christian Freiherr von Stetten Detlef Dzembritzki Helga Kühn-Mengel Paul Lehrieder Gero Storjohann Sebastian Edathy Ute Kumpf Ingbert Liebing Andreas Storm Siegmund Ehrmann Dr. Uwe Küster Eduard Lintner Max Straubinger Hans Eichel Christine Lambrecht Dr. Klaus W. Lippold Thomas Strobl (Heilbronn) Gernot Erler Christian Lange (Backnang) Patricia Lips Lena Strothmann Petra Ernstberger Dr. Karl Lauterbach Dr. Michael Luther Michael Stübgen Karin Evers-Meyer Waltraud Lehn Stephan Mayer (Altötting) Antje Tillmann Annette Faße Helga Lopez Wolfgang Meckelburg Dr. Hans-Peter Uhl Elke Ferner Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Michael Meister Arnold Vaatz Gabriele Fograscher Dirk Manzewski Dr. Angela Merkel Volkmar Uwe Vogel Rainer Fornahl Lothar Mark Friedrich Merz Andrea Astrid Voßhoff Gabriele Frechen Caren Marks Laurenz Meyer (Hamm) Gerhard Wächter Dagmar Freitag Katja Mast Maria Michalk Marco Wanderwitz Peter Friedrich Hilde Mattheis Hans Michelbach Kai Wegner Sigmar Gabriel Markus Meckel Philipp Mißfelder Marcus Weinberg Martin Gerster Petra Merkel (Berlin) Dr. Eva Möllring Peter Weiß (Emmendingen) Iris Gleicke Ulrike Merten Marlene Mortler Gerald Weiß (Groß-Gerau) Günter Gloser Dr. Matthias Miersch Carsten Müller Ingo Wellenreuther Renate Gradistanac Ursula Mogg (Braunschweig) Karl-Georg Wellmann Angelika Graf (Rosenheim) Marko Mühlstein Stefan Müller (Erlangen) Anette Widmann-Mauz Dieter Grasedieck Detlef Müller (Chemnitz) Bernward Müller (Gera) Klaus-Peter Willsch Monika Griefahn Michael Müller (Düsseldorf) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5239

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gesine Multhaupt Petra Weis Dr. Guido Westerwelle SPD (C) Gert Weisskirchen Franz Müntefering Dr. Claudia Winterstein Gregor Amann Dr. Rolf Mützenich (Wiesloch) Dr. Volker Wissing Petra Hinz (Essen) Andrea Nahles Dr. Rainer Wend Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Thomas Oppermann Lydia Westrich Martin Zeil DIE LINKE Heinz Paula Dr. Margrit Wetzel Johannes Pflug Andrea Wicklein BÜNDNIS 90/DIE Hüseyin-Kenan Aydin Joachim Poß Heidemarie Wieczorek-Zeul GRÜNEN Karin Binder Christoph Pries Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Lothar Bisky Dr. Wilhelm Priesmeier Engelbert Wistuba Kerstin Andreae Heidrun Bluhm Florian Pronold Dr. Wolfgang Wodarg Volker Beck (Köln) Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Dr. Sascha Raabe Waltraud Wolff Cornelia Behm Sevim Dagdelen Mechthild Rawert (Wolmirstedt) Birgitt Bender Heidi Wright Matthias Berninger Dr. Diether Dehm Steffen Reiche (Cottbus) Werner Dreibus Manfred Zöllmer Grietje Bettin Maik Reichel Dr. Dagmar Enkelmann Brigitte Zypries Alexander Bonde Gerold Reichenbach Klaus Ernst Ekin Deligöz Dr. Carola Reimann Wolfgang Gehrcke Christel Riemann- FDP Dr. Thea Dückert Diana Golze Hans-Josef Fell Hanewinckel Jens Ackermann Heike Hänsel Walter Riester Christian Ahrendt Kai Gehring Lutz Heilmann Sönke Rix Daniel Bahr (Münster) Anja Hajduk Hans-Kurt Hill René Röspel Uwe Barth Britta Haßelmann Cornelia Hirsch Dr. Ernst Dieter Rossmann Rainer Brüderle Winfried Hermann Inge Höger-Neuling Karin Roth (Esslingen) Ernst Burgbacher Peter Hettlich Dr. Lukrezia Jochimsen Michael Roth (Heringen) Patrick Döring Priska Hinz (Herborn) Dr. Hakki Keskin Ortwin Runde Mechthild Dyckmans Ulrike Höfken Katja Kipping Marlene Rupprecht Jörg van Essen Dr. Anton Hofreiter Monika Knoche Jan Korte (Tuchenbach) Ulrike Flach Bärbel Höhn Anton Schaaf Thilo Hoppe Katrin Kunert Otto Fricke Ulla Lötzer Axel Schäfer (Bochum) Paul K. Friedhoff Ute Koczy Dr. Hermann Scheer Ulrich Maurer Horst Friedrich (Bayreuth) Sylvia Kotting-Uhl Dorothee Menzner Marianne Schieder Dr. Edmund Peter Geisen Fritz Kuhn Ulla Schmidt (Aachen) Kornelia Möller Hans-Michael Goldmann Renate Künast Kersten Naumann Silvia Schmidt (Eisleben) Joachim Günther (Plauen) Undine Kurth (Quedlinburg) Dr. Norman Paech Renate Schmidt (Nürnberg) (B) Dr. Christel Happach-Kasan Markus Kurth Elke Reinke (D) Dr. Frank Schmidt Heinz-Peter Haustein Monika Lazar Paul Schäfer (Köln) Heinz Schmitt (Landau) Elke Hoff Dr. Reinhard Loske Volker Schneider Carsten Schneider (Erfurt) Birgit Homburger Anna Lührmann (Saarbrücken) Olaf Scholz Dr. Werner Hoyer Jerzy Montag Dr. Herbert Schui Ottmar Schreiner Michael Kauch Kerstin Müller (Köln) Dr. Ilja Seifert Reinhard Schultz Hellmut Königshaus Winfried Nachtwei Frank Spieth (Everswinkel) Gudrun Kopp Omid Nouripour Dr. Kirsten Tackmann Swen Schulz (Spandau) Dr. Axel Troost Heinz Lanfermann Brigitte Pothmer Ewald Schurer Alexander Ulrich Sibylle Laurischk Claudia Roth (Augsburg) Frank Schwabe Harald Leibrecht Jörn Wunderlich Krista Sager Dr. Angelica Schwall-Düren Ina Lenke Sabine Zimmermann Elisabeth Scharfenberg Dr. Martin Schwanholz Sabine Leutheusser- Christine Scheel Rolf Schwanitz Schnarrenberger fraktionslos Irmingard Schewe-Gerigk Rita Schwarzelühr-Sutter Michael Link (Heilbronn) Gert Winkelmeier Wolfgang Spanier Markus Löning Dr. Gerhard Schick Dr. Margrit Spielmann Patrick Meinhardt Rainder Steenblock Jörg-Otto Spiller Jan Mücke Silke Stokar von Neuforn Enthalten Dr. Ditmar Staffelt Burkhardt Müller-Sönksen Hans-Christian Ströbele FDP Andreas Steppuhn Dirk Niebel Dr. Harald Terpe Ludwig Stiegler Hans-Joachim Otto Jürgen Trittin Miriam Gruß Rolf Stöckel (Frankfurt) Wolfgang Wieland Dr. Heinrich L. Kolb Christoph Strässer Detlef Parr Josef Philip Winkler Jürgen Koppelin Dr. Peter Struck Cornelia Pieper Margareta Wolf (Frankfurt) Gisela Piltz Jörg Tauss Jörg Rohde DIE LINKE Jella Teuchner Frank Schäffler Nein Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Konrad Schily Dr. Dietmar Bartsch Jörn Thießen Marina Schuster CDU/CSU Roland Claus Franz Thönnes Dr. Hermann Otto Solms Dr. Gregor Gysi Simone Violka Dr. Max Stadler Wolfgang Börnsen Dr. Barbara Höll Jörg Vogelsänger Dr. Rainer Stinner (Bönstrup) Michael Leutert Dr. Marlies Volkmer Carl-Ludwig Thiele Dr. Peter Gauweiler Dr. Gesine Lötzsch Hedi Wegener Florian Toncar Henry Nitzsche Petra Pau Andreas Weigel Christoph Waitz Willy Wimmer (Neuss) Dr. Petra Sitte 5240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Arbeitsmarkt 824 000 offene Stellen gemeldet sind; das (C) sind 180 000 mehr als vor einem Jahr. Besonders erfreu- (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/ lich aber und ein Beweis dafür, dass die Regierung auf CSU]) dem richtigen Wege ist, ist die Mitteilung der Bundes- Wir setzen unsere Debatte fort. Das Wort hat der Kol- agentur, dass mittlerweile der Aufbau sozialversiche- lege Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion. rungspflichtiger Beschäftigung zum Rückgang der Ar- beitslosigkeit beiträgt. (Beifall bei der CDU/CSU) Darauf mache ich besonders aufmerksam, weil damit ein sechsjähriger Negativtrend endlich gebrochen ist. Peter Rauen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem Klaus Brandner [SPD]) Antrag will die Fraktion Die Linke die Arbeitslosigkeit Von September 2000 bis einschließlich April 2006 ist durch öffentlich finanzierte Beschäftigung bekämpfen, die Zahl der ordentlich Beschäftigten in jedem nur denk- während der Antrag der Grünen darauf zielt, Beschäfti- baren Vergleich mit den Vorjahresmonaten zurückgegan- gung für die circa 400 000 Menschen zu organisieren, gen. Insgesamt sind in diesem Zeitraum auf dem ersten die heute Arbeitslosengeld II beziehen, auf dem ersten Arbeitsmarkt 1,8 Millionen ordentliche Beschäfti- Arbeitsmarkt aber vermutlich keine Chance haben. gungsverhältnisse verloren gegangen. Im Mai 2006 wa- (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- ren erstmals 103 664 mehr Beschäftigte als im Mai des Eckardt) Vorjahres zu verzeichnen. Im Juni waren es bereits 128 634 mehr. Heute vermeldet die Bundesagentur, dass Ich komme auf diese Anträge zurück. Zunächst will die Zahl der ordentlich Beschäftigten im Juli 2006 um ich aber einige Vorbemerkungen machen. Die neue Re- 194 000 höher war als im Juli 2005. gierung ist mit zwei großen Zielen angetreten: erstens die staatlichen Finanzen in Ordnung zu bringen und Die Bundesagentur vermeldet ferner – das halte ich zweitens die Arbeitslosigkeit abzubauen bzw. die Zahl für besonders wichtig –, dass die Zunahme in allen Bun- der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver- desländern außer dem Saarland stattgefunden hat. Ich hältnisse zu erhöhen. Diese Vorgehensweise wurde mit gehe davon aus, dass sich diese Trendumkehr im August den Begriffen Investieren, Konsolidieren und Reformie- und September fortgesetzt hat, obwohl die Zahlen dazu ren formuliert. noch nicht vorliegen. Trotz aller Schwierigkeiten auf diesem Wege, die ich (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Kommen Sie (B) gar nicht bestreiten will, gibt es zwei harte Fakten, die doch mal zu unserem Antrag!) (D) belegen, dass die Regierung auf diesem Wege erfolg- – Ich komme dazu. – Von 28 285 045 sozialversiche- reich ist: rungspflichtig Beschäftigten im September 2002 waren (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oje!) wir auf 25 815 795 im Februar 2006 zurückgefallen. Dieser Rückgang hatte verheerende Folgen für die Steu- Erstens. Im Mai dieses Jahres waren die tatsächlichen ereinnahmen und vor allem für die sozialen Sicherungs- Steuereinnahmen zum ersten Mal höher als die erwarte- systeme: Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ten. Das hat es seit fünf Jahren nicht mehr gegeben. zahlen ja nicht nur Lohnsteuer, sie finanzieren auch – ge- (Beifall bei der CDU/CSU) meinsam mit den Arbeitgebern – unsere Sozialkassen. Die nun festzustellende Trendumkehr ist für unsere ge- Ich gehe davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt und samte Volkswirtschaft, für die Finanzierung unserer so- dass die Maastrichter Stabilitätskriterien entgegen der zialen Sicherungssysteme und für den Arbeitsmarkt von zuvor formulierten Erwartung der Regierung am Ende allergrößter Bedeutung. dieses Jahres möglicherweise doch eingehalten werden können. Über die grundsätzliche Weichenstellung zur Schaf- fung von mehr Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeits- Dies ist deshalb so wichtig, weil nur ein Staat mit markt ist die Bundesregierung vor allem bemüht, die gesunden Finanzen auf Dauer in der Lage ist, in die Zu- Langzeit- und Altersarbeitslosigkeit zu reduzieren. kunft zu investieren: in Infrastruktur, Forschung und Bil- dung. Wir wollen in die Verbesserung der Infrastruktur (Beifall bei der CDU/CSU) und in die Erhaltung der vorhandenen Infrastruktur in- Deshalb wird die Bundesregierung in der Arbeitsmarkt- vestieren. Das sichert sofort Arbeitsplätze und ist alle- politik weitere Weichen stellen. Zwei Ansätze stehen im mal besser als irgendein öffentlich finanziertes Beschäf- Mittelpunkt der Bestrebungen des Bundesministeriums tigungsprogramm. für Arbeit und Soziales: erstens eine sinnvollere Ord- nung im Niedriglohnbereich und zweitens eine effizien- (Beifall bei der CDU/CSU) tere Organisation im SGB II. Zweitens. Die Bundesagentur für Arbeit hat heute ver- (Dirk Niebel [FDP]: Sagen Sie einmal etwas meldet, dass die Arbeitslosigkeit im September dieses zum Mindestlohn!) Jahres gegenüber dem Vorjahresmonat um 409 000 Perso- nen zurückgegangen ist. Das ist höchst ermutigend. Die Bundesregierung hat daher mit Kabinettsbeschluss Ferner teilte die Bundesagentur mit, dass auf dem ersten vom 23. August 2006 die Arbeitsgruppe „Arbeitsmarkt“ Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5241

Peter Rauen (A) eingesetzt, die heute in Form einer Anhörung ihre Arbeit Doch es darf nicht sein, dass auf der einen Seite (C) aufgenommen hat. Sie wird neben der effizienteren Um- strikte Sanktionen gefordert werden und auf der anderen setzung des SGB II die Themen Kombilohn, Mindest- Seite derjenige mit einer dauerhaften Beschäftigung „be- lohn und dritter Arbeitsmarkt ausleuchten und Lösungen lohnt“ wird, der sich – möglicherweise nachhaltig – der vorlegen. Jobvermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt entzieht. Des Weiteren hat die Bundesregierung mit den Eck- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) punkten der Initiative „50 plus“ ältere Arbeitnehmerin- Zudem stellt sich mir die Frage, ob der Zeitpunkt für sol- nen und Arbeitnehmer in den Fokus gerückt. Ein Instru- che Überlegungen nicht zu früh ist, da die Arbeit in den ment ist der Kombilohn für Menschen über 50 Jahre. Sie Argen und den Optionskommunen derzeit noch nicht sollen möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess richtig funktioniert. Ich verweise hier auf den Bericht eingegliedert werden und, wenn sie weniger Lohn be- des Bundesrechnungshofes. kommen als auf ihrer letzten Stelle, einen Zuschuss be- kommen. Im Moment sind noch zu viele Empfänger von ALG II im System, die arbeiten könnten, bisher aber Zum Antrag der Fraktion Die Linke. Diesen Antrag nicht die entsprechenden Angebote oder Anreize erhal- lehnen wir ab. Wer ihn liest, stellt fest, dass sich Die ten haben. Es kommt ganz wesentlich auf die korrekte Linke von Planwirtschaft und Staatsdirigismus noch im- Umsetzung dieser Idee an: ob sie als richtige Ergänzung mer nicht verabschiedet hat. zu den arbeitsmarktorientierten Instrumenten des SGB II (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie funktioniert oder ob sie diese möglicherweise konterka- bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der riert. Diesbezüglich sind zum jetzigen Zeitpunkt zu viele LINKEN: Haha!) Fragen offen, die noch beantwortet werden müssen. Des- halb lehnen wir den Antrag der Grünen ebenfalls ab. Sie hängen nach wie vor dem Motto an: Der Staat sam- melt Geld ein, der Staat verteilt das Geld und alle haben (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Arbeit, und sei es staatlich finanzierte. Woher allerdings NEN]: Ach, Herr Rauen! Ein solcher Anlauf das Geld kommen soll, wenn nicht durch Wertschöp- und dann das!) fung, sagt von der Linken niemand. Diese Antwort blei- Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes fest- ben Sie uns schuldig. stellen: Durch alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Sie haben den im Sinne von Arbeitsbewirtschaftung konnte letztend- Antrag nicht gelesen! Es wäre gut, Sie würden lich nicht verhindert werden, dass wir heute eine viel zu ihn lesen!) hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland haben. Das gilt (B) auch für die letzten 40 Jahre, egal unter welcher Regie- (D) – Zu der Finanzierung, die Sie vorgeschlagen haben, rung. Deshalb hat diese Regierung zu Recht den Schwer- komme ich noch. punkt darauf gelegt, auf dem ersten Arbeitsmarkt erfolg- Zum Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen. reich zu sein. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mit der Mehrwertsteuererhöhung werden die Beiträge NEN]: Herr Rauen, jetzt aber vorsichtig!) zur Arbeitslosenversicherung um mindestens 2 Prozent- punkte gesenkt. Der Antrag der Grünen ist da schon ganz anders. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Rauen. In der Analyse der tatsächlichen Situation liegen wir gar nicht weit auseinander: Peter Rauen (CDU/CSU): Das führt dazu, dass die Menschen, die arbeiten und (Dirk Niebel [FDP]: Hat die Bundeskanzlerin Beiträge zahlen, netto mehr in der Tasche behalten und das erlaubt?) gleichzeitig die Arbeitskosten sinken. Das ist das beste Eine nicht kleine Gruppe der ALG-II-Bezieher, circa Programm für mehr Beschäftigung in Deutschland. 400 000, hat auf dem ersten Arbeitsmarkt, wie man rea- (Beifall bei der CDU/CSU) listischerweise sagen muss, keine Chance. Sie können aller Voraussicht nach auf dem regulären Arbeitsmarkt kein bedarfsdeckendes Einkommen erzielen. Die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gründe hierfür sind sehr verschieden: mangelnde Quali- Herr Rauen, kommen Sie bitte zum Ende. fikation, lange Arbeitslosigkeit oder andere Vermitt- lungshemmnisse wie soziale oder seelische Probleme. Peter Rauen (CDU/CSU): Wir wollen die Betroffenen keinesfalls als erwerbsunfä- Ich komme sofort zum Schluss. hig abschreiben und in die Sozialhilfe abdrängen. Inso- fern wäre eine dauerhafte Förderung der Betroffenen in Wenn es die Finanzen der Bundesagentur für Arbeit einem dritten Arbeitsmarkt zumindest eine Option, die dauerhaft hergeben, dann muss die Senkung auch höher geprüft werden muss. als die genannten 2 Prozentpunkte ausfallen. Die Über- schüsse der Bundesagentur müssen an die zurückgege- (Klaus Brandner [SPD]: Das ist gut so!) ben werden, denen das Geld gehört. Das sind diejenigen, 5242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Peter Rauen (A) die ordentlich arbeiten, und die Unternehmen, für die sie haben. Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, dann betrifft das (C) arbeiten. leider nicht die Langzeitarbeitslosen. Deren Zahl steigt immer weiter an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: NEN]: So ist es!) Herr Rauen! Herr Rauen, diesem Teil der Betroffenen müssen Sie ein Angebot machen. Hier reicht es bei weitem nicht aus, Peter Rauen (CDU/CSU): zu sagen, die Argen und die Optionskommunen würden Dies ist allemal zielführender als der Vorschlag der noch nicht richtig arbeiten, vielleicht aber später einmal. Linken, dieses Geld in Beschäftigungsprogramme zu Ich sage Ihnen: Später kann für viele viel zu spät sein. stecken. Ich glaube, das zeichnet leider auch die Arbeit der Schönen Dank. großen Koalition aus. Wenn ein Problem auftaucht, dann vertagen Sie die Lösung und setzen sich in eine Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gruppe. Es geht dann nicht weiter. Deswegen haben wir neten der SPD und des Abg. Rainer Brüderle Ihnen ein Konzept speziell für diese Gruppe vorgelegt, [FDP]) von der wir ganz sicher sind, dass sie unter den gegebe- nen Bedingungen – das will ich hier betonen – bis auf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weiteres keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt ha- Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin ben wird, weil die persönlichen beruflichen Profile die- Brigitte Pothmer. ser Menschen zu stark von den Anforderungen abwei- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Darf chen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt derzeitig gestellt bei Ihnen kein anderer reden? – Weiterer Zuruf werden. von der CDU/CSU: Sie haben doch schon!) Herr Rauen, Sie wissen im Übrigen seit langem, dass diese Menschen leider auch nicht von Konjunkturauf- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schwüngen profitieren. Diese Gruppe bleibt leider auch Im Gegensatz zu anderen Kollegen hier im Haus habe bei Konjunkturaufschwüngen arbeitslos. Deshalb müs- ich eben immer noch etwas zu sagen. sen Sie dort mit anderen Instrumenten herangehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) Es nützt dabei überhaupt nichts, sie von einem 1-Euro- (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Job in den nächsten und danach in die nächste Qualifi- Raunen, zierung zu stecken. Das ist rausgeschmissenes und nicht sinnvoll eingesetztes Geld, Herr Rauen. Das frustriert (Dirk Niebel [FDP]: Ein Raunen geht durch die Menschen. Es geht darum, diesen Menschen auch den Saal und das für eine Grüne!) eine langfristige Perspektive zu geben; schade eigentlich: Sie hatten so gut angesetzt, als es um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Antrag der Grünen ging. denn auch für sie trifft das zu, was für andere zutrifft: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass Arbeit sehr viel mehr ist, als Geld zu verdienen. Es Entschuldigung, Frau Pothmer, der Kollege heißt geht auch darum, wieder Anschluss zu finden, eine sinn- Rauen. stiftende Tätigkeit auszuüben und Mitglied in der Ge- sellschaft zu sein. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Klaus Brandner [SPD]: Da hat sie Recht!) Sagte ich das nicht? Das dürfen Sie auch diesen Menschen nicht verwehren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir machen hier ein Angebot, das kostenneutral ist. Nein. Ich wollte das nur kurz klarstellen. Wir sagen Ihnen: Es geht auch, ohne dass Sie mehr Geld in die Hand nehmen. Sie müssen das Geld einfach nur sinnvoll einsetzen, indem Sie die aktiven und die passi- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ven Leistungen zusammenlegen. Warum schmeißen Sie Es ging ein Raunen durch das Haus. War es so? das Geld für 1-Euro-Jobs heraus? Warum legen Sie die- Herr Rauen, ich finde, Sie haben gut angefangen, als ses Geld nicht mit dem Geld für die passiven Leistungen es um den Antrag der Grünen ging. Deswegen war die und dem Wohngeld zusammen? Dadurch können Sie für Konsequenz, die Sie daraus gezogen haben, aus meiner die Menschen, denen diese Leistungen zugute kommen, Sicht überhaupt nicht logisch. dauerhafte Perspektiven schaffen. Das ist gut für die Be- troffenen, das ist aber auch gut für die Träger, bei denen Natürlich sind wir alle froh, wenn sich der Arbeits- diese Menschen arbeiten. So können Sie etwas Sinnvol- markt entspannt. Wenn Sie aber einmal ein bisschen ge- les für die Gesellschaft tun. nauer hinschauen würden, dann würden Sie sehen, dass wir es mit einem sehr gespaltenen Arbeitsmarkt zu tun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5243

Brigitte Pothmer (A) Wir würden gerne noch ein weiteres Instrument ein- (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Doch!) (C) setzen – Sie kennen das vielleicht nicht, daher sage ich es Ihnen einmal –, und zwar die Integrationsbetriebe. Sie gehen darauf gar nicht ein, Frau Möller. Ihr Refrain Die Integrationsbetriebe sind derzeit ein Instrument für „Hartz muss weg!“ langweilt langsam. Denken Sie sich behinderte Menschen. Warum muss das so bleiben? Da, einmal etwas Neues aus. Das wissen wir alles schon. wo es Sinn hat, kann man in diesen Betrieben auch (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Dann handeln Langzeitarbeitslose, die multiple Vermittlungshemm- Sie doch endlich!) nisse haben, einsetzen. Insofern wäre jetzt eine gute Gelegenheit, intensiver Geben Sie sich einmal einen Ruck! Sie haben doch nach Lösungen zu suchen. längst eingesehen, dass unsere Vorschläge gut sind. Wir beraten darüber noch einmal im Ausschuss. Bis dahin (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Wir haben werden wir bei der Begründung noch etwas nachlegen. einen Antrag gestellt!) Dann können Sie eigentlich nicht mehr Nein sagen. – Ja, darauf gehe ich gerne ein. Vielen Dank. Wenn ich mir anschaue, was Sie als Lösung vorstellen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – da kann ich meinem Kollegen Rauen nur zustimmen –, sowie bei Abgeordneten der SPD) dann stelle ich fest, dass Sie im Grunde Ihrem alten Mo- dell von Staat und Politik verhaftet bleiben. Ihre Antwort Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ist eigentlich nur: mehr Staat, mehr Politik und wir in Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller Berlin sollen das richten. Das halte ich für einen absolut von der SPD-Fraktion. unrealistischen Vorschlag. Ich finde ihn wirklich mager. Umso bombastischer sind aber die Effekte, die Sie sich Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): ausrechnen. Sie sagen locker: ab Januar nächsten Jahres Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir 150 000 Arbeitsplätze, bis 2009 weitere 350 000 Arbeits- sprechen über zwei Anträge. Wer diese Anträge gelesen plätze, also mal eben eine halbe Million Arbeitsplätze. hat, hat schnell feststellen können: Sie sind von sehr un- 500 000 Menschen Arbeit zu versprechen und ihnen terschiedlicher Qualität. noch zu versichern, es sei locker möglich, mit 1 400 Euro im Monat nach Hause zu gehen, finde ich leichtfertig. Die Zustandsbeschreibung in der Einführung beider Ich denke, das ist eine Politik, die überhaupt nicht reali- Anträge kritisiere ich nicht; beide schildern die Situation sierbar ist. Das kritisiere ich nachdrücklich an Ihrem (B) zutreffend. Dazu wird es hier im Haus auch Zustimmung Vorschlag. Aber so einfach ist das eben in der Opposi- (D) geben, zumal sie sich beide auf äußerst seriöse Quellen tion. beziehen. Sie beschreiben allerdings auch ein Problem, das die große Koalition sehr ernst nimmt. Daran will ich (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: gar keinen Zweifel lassen. Gilt das auch für die Hightechindustrie, wo Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden Ehrlich gesagt bedurfte es beider Anträge nicht, um sollen?) darauf aufmerksam zu machen, dass wir als Politiker – insbesondere in der großen Koalition – genau für den Deshalb denke ich auch, dass es vollkommen reicht, Personenkreis, über den wir hier reden, derzeit Antwor- wenn man sich so weit mit Ihrem Antrag auseinander ten entwickeln und Lösungen erarbeiten. Bei diesem setzt. Personenkreis handelt es sich um Menschen, die er- werbsfähig, aber arbeitsmarktfern sind, und die es auf- Vollkommen anders sehe ich es allerdings, verehrte grund multipler Vermittlungshindernisse schwer haben, Frau Pothmer, beim Antrag der Grünen. Darauf möchte auf dem Arbeitsmarkt integriert zu werden. Genau des- ich jetzt eingehen. Ich denke, dass Sie sich in der Tat halb braucht dieser Personenkreis unsere Aufmerksam- dem Thema wesentlich substanzieller nähern. keit; genau deshalb braucht er auch unsere besondere (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Knapp am Beachtung. Allerdings kann ich da nur sagen: Im Koali- Thema vorbei ist auch vorbei!) tionsvertrag ist das eindeutig als ein Thema festgelegt. Ich finde, daraus erwächst genau die politische Ver- Das geht aus dem Antrag und auch aus dem zugrunde pflichtung, der wir nachkommen. liegenden Positionspapier hervor. Es war mir eine Freude, das zu lesen. Ich musste allerdings bald erken- Aus der Zustandsbeschreibung schließe ich allerdings nen, dass auch das nicht ganz ausreicht. Ich möchte das anderes als zum Beispiel Sie, Kollegin Möller, oder die gerne – das lässt meine Redezeit noch zu – im Einzelnen Fraktion der Linken. Ihr Antrag liest sich so, als ob die ausführen. Bundesregierung in den letzten Jahren keinerlei Arbeits- marktpolitik betrieben hätte. Sie haben zwei gute Lösungswege aufgezeigt. Ein (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Aber ohne Weg sieht vor, in Zukunft Integrationsfirmen besser zu Erfolg!) nutzen, um auch dem Personenkreis der Langzeitarbeits- losen Lösungen anzubieten. Ich halte das für sinnvoll, Da kann ich nur sagen: Offenbar haben Sie gar nicht zu- um zu erkennen, inwieweit man passive und aktive Leis- gehört, nicht hingeschaut und das nicht erlebt. tungen zusammenführen kann. 5244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Gabriele Lösekrug-Möller (A) Ich habe aber festgestellt, dass in Ihrem Antrag mehr um 29 000 – darunter allein 22 000 zusätzliche 1-Euro- (C) Fragen verborgen sind, als er in den Antworten und Lö- Jobs – gestiegen. Das heißt, es bleibt eine Differenz von sungsvorschlägen suggeriert. 12 000 Menschen, die nicht mehr in der Statistik geführt werden. Faktisch ist leider im Vergleich zum Vormonat (Klaus Brandner [SPD]: Das ist so!) die Zahl der Arbeitslosen um 12 000 gestiegen, und zwar Insofern ist er zwar ein guter Start, aber Sie nehmen ei- mit dem Instrument der 1-Euro-Jobs, einem öffentlich nen Riesenanlauf und hören dann nach dem ersten geförderten Beschäftigungsbereich, der sowohl hinsicht- Sprung auf. Ich lade Sie ein: Machen Sie es wie beim lich der Teilnehmerzahl als auch des Finanzvolumens im Dreisprung! Lassen Sie uns die zwei weiteren Sprünge letzten Jahr das umfangreichste arbeitsmarktpolitische zusammen angehen. Dann kommen wir zu guten Ergeb- Instrument war. Die Bundesregierung hat 1,1 Milliar- nissen. den Euro in die so genannte Mehrbeschäftigung inves- tiert, und zwar für 604 000 Teilnehmer. Was Ihre Einladung angeht, Frau Pothmer, im Rah- men der Diskussionen im Ausschuss weitere gute Vor- Der leichtfertige Umgang mit dem Geld anderer schläge zu machen, sehe ich der Zusammenarbeit ausge- Leute ist bemerkenswert. Denn wie der Bundesrech- sprochen gerne entgegen. nungshof festgestellt hat, fehlten bei einem Viertel der Vielen Dank. Maßnahmen die Fördervoraussetzungen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja unglaublich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es gab keine Zusätzlichkeit, es gab kein öffentliches In- Dirk Niebel hat das Wort für die FDP-Fraktion. teresse und keine Wettbewerbsneutralität. Bei 50 Pro- zent dieser Maßnahmen wussten die Grundsicherungs- Dirk Niebel (FDP): stellen nichts über den Inhalt der Maßnahmen. Sie haben Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und die Maßnahmenträger einfach gewähren lassen – mit Herren! Die Forderung der Ausweitung eines öffentlich dem Geld, das die Bürgerinnen und Bürger durch ihrer geförderten Beschäftigungssektors – vor allem von der Hände Arbeit erwirtschaftet haben. Ich meine, es ist der linken Seite des Hauses – ist nicht neu. Sie legt den falsche Weg, diese Instrumente weiter stärken zu wollen, Schluss nahe, wenn alle Arbeitslosen beim Staat ange- sei es auf dem völlig abstrusen Weg der PDS oder auf stellt würden, dann hätten wir Vollbeschäftigung. Aber dem etwas weniger praktikablen Weg, den die Grünen spätestens aus dem Evaluierungsbericht zu den Hartz- vorschlagen. (B) Reformen, den die alte Bundesregierung in Auftrag ge- Wir sind der festen Überzeugung, dass man entgegen (D) geben und die neue Bundesregierung vorgestellt hat, den Feststellungen des Bundesrechnungshofs den Men- wird deutlich, dass die Instrumente der letzten Jahr- schen, die Probleme haben, Hilfestellung geben sollte. zehnte nicht geeignet sind, die Massenarbeitslosigkeit zu Sie waren damals noch nicht im Parlament. Wir anderen bekämpfen. In dem Bericht wird im Gegenteil festge- aber waren alle zusammen am Vermittlungsverfahren im stellt, dass sie nicht nur nicht helfen, sondern dass sie so- Zusammenhang mit den Hartz-Gesetzen beteiligt. gar häufig denjenigen Schaden zufügen, die mit diesen hat sich damals für die Klassifizierung Instrumenten „beglückt“ werden. der Erwerbsfähigkeit eingesetzt, die sich in Arbeits- Insofern ist dieser Weg der Arbeitsmarktpolitik – im marktnähe und Arbeitsmarktferne unterteilt. Wir waren Auftrag der alten Bundesregierung erdacht und von der uns alle aus guten politischen Gründen einig, nur die neuen Bundesregierung verkündet – nachweislich rentenrechtliche Regelung zu übernehmen und von der falsch. Deswegen sollten wir diesen Weg nicht wieder arbeitsmarktpolitischen Regelung abzusehen. Diese Re- beschreiten. gelung ist zwar eventuell arbeitsmarktpolitisch sinnvoll, weil man damit die Statistik schnell verändern kann. Sie (Beifall bei der FDP) hilft aber nicht den Menschen. Hier gibt es einen sozial- Die Bundesagentur für Arbeit hat heute die Arbeits- politischen Auftrag der Bundesagentur für Arbeit. Des- marktzahlen vorgestellt. Viele – zumindest von politi- wegen ist es verwerflich, dass durch die Hintertür, auf scher Seite – zeigen sich in der Kommentierung glück- dem Verordnungsweg der politische Willen des gesam- lich darüber. Auch ich freue mich über jeden Menschen, ten Hauses umgangen wird und dass die Bundesagentur der aus der Arbeitslosigkeit herauskommt. Aber nicht für Arbeit Menschen aus dem Arbeitsmarkt bewusst he- nur im Zweiten Deutschen Fernsehen gilt „Mit dem rausdrängen will. Zweiten sieht man besser“, sondern manchmal auch bei (Beifall bei der FDP) Arbeitslosenstatistiken: Mit dem zweiten Blick sieht man manches besser. Die Menschen brauchen Möglichkeiten, wieder in Beschäftigung zu kommen. Das heißt, wir müssen Rah- (Klaus Brandner [SPD]: Da müssen Sie aber menbedingungen für mehr reguläre Beschäftigung lange suchen!) schaffen. Ich habe verwundert gelesen, dass mancher Saisonbereinigt ist die Zahl der Arbeitslosen im Ver- meint, die Bundesagentur für Arbeit erwirtschafte gleich zum Vormonat um 17 000 zurückgegangen. Das Überschüsse. Dazu möchte ich deutlich sagen: Wenn je- ist gut. Allerdings ist im Vergleich zum letzten Monat mand in Deutschland nichts erwirtschaftet, dann ist es die Zahl der aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Bundesagentur für Arbeit. Das Geld, das dort übrig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5245

Dirk Niebel (A) ist, ist den Bürgerinnen und Bürgern, den Arbeitnehmern der Menschen treffen müssen, die schulisch und beruf- (C) und den Arbeitgebern, zu viel weggenommen worden. lich schlecht qualifiziert sind. Eine andere Frage ist, wel- Das heißt, man muss es ihnen zurückgeben und den Bei- che Maßnahmen wir ergreifen. tragssatz in der Arbeitslosenversicherung deutlich mehr senken, als bislang geplant. Das macht Arbeit billiger. Bei allem Streit und angesichts der beiden vorliegen- Wenn Arbeit billiger wird, wird auch mehr eingestellt. den Anträge können wir festhalten, dass es für die be- Wer eingestellt wird, kann Steuern und Sozialversiche- treffenden Menschen noch immer besser ist, im Rahmen rungsbeiträge zahlen. ihrer Leistungsfähigkeit zu arbeiten, als arbeitslos zu sein und Sozialleistungen ohne Gegenleistung zu bezie- (Beifall bei der FDP) hen. Aber das liegt in der Verantwortung nicht nur des Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Die ver- Steuerzahlers und des Staates, sondern auch der gesam- meintlichen Überschüsse, also das dem Bürger zu viel ten Wirtschaft. Über den Sinn der alten arbeitsmarktpoli- weggenommene Geld, das bei der Bundesagentur für tischen Instrumente kann man wahrlich streiten. Mega- Arbeit gesammelt wird, könnten wir zur Senkung der ABM, öffentliche Beschäftigung, SAM und das Pro- Arbeitslosenversicherungsbeiträge nutzen. Wir bräuch- gramm „Arbeit statt Sozialhilfe“ waren sicherlich not- ten dann nicht die von Ihnen geplante arbeitsplatzfeindli- wendige Instrumente. Wenn man aber ehrlich ist, muss che Mehrwertsteuererhöhung, die Sie, meine Damen und man zugeben, dass sie unter dem Strich die Langzeitar- Herren von der SPD, noch im Wahlkampf völlig zu beitslosigkeit nicht abgebaut, sondern eher verfestigt ha- Recht angegriffen haben. ben, sodass wir nun eine Bugwelle von Unqualifizierten vor uns herschieben. Die Beitragssenkungsspielräume in der Arbeitslosen- versicherung sind im System vorhanden, wenn man nur Über Begründung und Schlussfolgerung sind wir uns noch das fördert, was zur Integration in den ersten Ar- – auch in der großen Koalition – einig. Wir müssen wei- beitsmarkt führt, und wenn man das zu viel weggenom- terhin an diesem Thema arbeiten, aber in einem vermut- mene Geld den Arbeitnehmern und Arbeitgebern wieder lich viel größeren Zusammenhang – dazu haben wir eine zurückgibt. Wir dürfen nicht die Konzepte aus den ver- Arbeitsgruppe eingesetzt –, als Sie das in Ihren Anträgen gangenen Jahrzehnten wieder aufgreifen, sondern müs- darlegen. In der Tat ist entscheidend, welche Anreize für sen neue Wege für neue Beschäftigung in diesem Land die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im SGB II gegeben gehen. sind. Sind die Hinzuverdienstregelungen sinnvoll? Wir stellen jedenfalls fest, dass dort zunehmend weniger An- Wir wollen als Partei der sozialen Verantwortung den reize für die Aufnahme einer geringfügigen Beschäfti- Menschen die Chance geben, ihren Lebensunterhalt gung, etwa über 400 Euro, gegeben sind und dass sich selbst zu verdienen. Dafür brauchen wir entsprechende (B) die Menschen an der Hinzuverdienstgrenze in Höhe von (D) Rahmenbedingungen. Wir brauchen eine Senkung der 160 Euro orientieren und offiziell so viele Stunden arbei- Arbeitskosten, und zwar im Bereich der Sozialversiche- ten, bis diese Grenze erreicht ist. Das sind Fragen, die rung, eine Senkung der Steuerlast der Bürgerinnen und wir im Zusammenhang mit Kombilöhnen, Mindestlöh- Bürger sowie der Unternehmer, damit mehr konsumiert nen und einem ergänzenden dritten Arbeitsmarkt zu dis- und investiert wird, sowie ein flexibles Arbeitsrecht, das kutieren haben. Einstellungen erleichtert, damit die Menschen die Chance haben, bei einem kleinen konjunkturellen Auf- Sie schreiben, dass es keinen Mechanismus der Ver- schwung wie dem momentanen wieder in Beschäftigung drängung regulärer Beschäftigung geben darf, aber Sie zu kommen. sagen nicht, welche Mechanismen greifen sollen. Das ist eine Frage, die die gesamte Gesellschaft, vor allen Din- Vielen herzlichen Dank. gen die Wirtschaft, bewegt. Ich finde den Ansatz der (Beifall bei der FDP) Grünen richtig, wonach wir keine Kriterien für flächen- deckende Beschäftigungsprogramme festlegen können Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und darüber die Akteure vor Ort, etwa in den Beiräten Für die SPD spricht der Kollege Rolf Stöckel. der Arge unter Beteiligung der Wirtschaft, insbesondere des Handwerks und des Mittelstandes, entscheiden sol- len. Ich glaube, das ist richtig. Sie müssen aber gleich- Rolf Stöckel (SPD): zeitig klären – die Frage beantworten Sie nicht –, wie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr wir eine Kontrolle darüber haben, ob die Bundesmittel, Niebel, abgesehen davon, dass Sie hier ständig dieselbe die wir zahlen sollen, zielgerichtet und im Sinne Ihres Blaupause vorlegen, gebe ich Ihnen in einem Punkt Antrags verwendet werden. Ob es richtig ist, die Mittel Recht: In der Tat ist die Definition der Erwerbsfähigkeit den Kommunen zu geben, daran haben wir nach den an- in Deutschland, was die Integration von benachteiligten derthalb Jahren Erfahrung, die wir in den Argen und den und leistungsgeminderten Menschen in den Arbeits- Optionskommunen gemacht haben, große Zweifel. Wir markt angeht, richtig gewählt. Aber wir müssen daraus werden uns im Detail darum kümmern, welche Mecha- die Schlussfolgerung ziehen, dass es im Bereich der we- nismen dort eingeführt werden müssen. niger qualifizierten Tätigkeiten kaum offizielle Beschäf- tigungsverhältnisse gibt, weil sich diese aufgrund man- Es ist für mich als Sozialpolitiker ein wichtiger As- gelnder Produktivität nicht rechnen, und dass wir in der pekt, dass wir mit Mega-AB-Maßnahmen, die für Men- aktiven Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Maßnahmen ge- schen eingerichtet werden, die das Kriterium des Alters rade zugunsten ehemaliger Sozialhilfeempfänger und und womöglich der Benachteiligung erfüllen, eine 5246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Rolf Stöckel (A) Stigmatisierung herbeiführen können. Diese Maßnah- Es ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. – (C) men müssen durchlässig gemacht werden. Außerdem Dazu höre ich keinen Widerspruch. muss der Qualifizierungsaspekt, der neben der psycho- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- sozialen Hilfe, die ebenfalls berücksichtigt werden muss, minister Sigmar Gabriel. ein weiterer wichtiger Aspekt ist, klar definiert werden. Wir erleben, dass von Landesregierungen Stellen für So- zialberatung wie Schuldnerberatung und Drogenbera- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- tung abgebaut werden und dass sich die Argen und Op- schutz und Reaktorsicherheit: tionskommunen schwer tun, solche Beratungen wieder Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir bedarfsgerecht anzubieten. Angesichts dieser Tatsache sprechen heute über einen Gesetzentwurf, mit dem ver- habe ich Zweifel daran, dass Ihre Anträge, aus denen sucht werden soll, einen vernünftigen Ausgleich zwi- vielleicht der Wunsch spricht, in die richtige Richtung zu schen den Vorteilen des Gesetzes über erneuerbare Ener- gehen, die aber die falschen Instrumente anbieten, das gien und den volkswirtschaftlichen Lasten, die wir zum Ziel erreichen. Teil im Zusammenhang mit der Energiepolitik auferle- gen, zu erreichen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zunächst zur Erfolgsgeschichte des Gesetzes. Wir ha- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. ben mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz einen un- glaublichen Erfolg bei Schritten zu einer stärkeren Un- Rolf Stöckel (SPD): abhängigkeit von Energieimporten, also Importen von Ich muss, da ich nur vier Minuten Redezeit hatte, jetzt Rohstoffen zur Energiegewinnung wie Uran, Öl oder schließen. Gas, erzielt. Erneuerbare Energien finden wir im eige- nen Land. Wir haben die Möglichkeit, Wind, Sonne, Geothermie und Biomasse zu nutzen. Wir haben vor al- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lem eine Technologieentwicklung in Gang gesetzt, die Jetzt schon fünf. nicht nur energiepolitisch und klimapolitisch von Erfolg gekrönt ist, weil wir CO2 einsparen und die negativen Rolf Stöckel (SPD): Auswirkungen des Verbrennens von Kohle, Gas oder Öl Ich glaube, dass wir uns im Interesse der Betroffenen begrenzen; vielmehr hat das Erneuerbare-Energien-Ge- gemeinsam bemühen sollten, an der einen oder anderen setz gleichzeitig dazu geführt, dass Deutschland bei die- Stelle zusammenzuarbeiten und die Fragen, die heute ser Technologie heute weltweit führend ist. aufgeworfen worden sind, zu beantworten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden 170 000 Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen. Diese Arbeitsplätze sind übrigens größtenteils in Regio- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen mit ansonsten großen Strukturschwächen entstan- Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlagen auf den. Eben gab es eine Debatte über Arbeitslosigkeit. den Drucksachen 16/2504 und 16/2652 an die in der Ta- Dank des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sind zum Bei- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen spiel in Ostfriesland ein paar Tausend Arbeitsplätze in worden. – Damit sind Sie offensichtlich alle einverstan- der Windenergie entstanden. In Thalheim in Sachsen den. Dann ist die Überweisung so beschlossen. gibt es weit über 1 000 Arbeitsplätze in der Solarindus- Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: trie. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (Zuruf von der SPD: Thalheim ist in Sachsen- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Anhalt!) Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare- – Sorry, in Sachsen-Anhalt. Habe ich „Sachsen“ gesagt? Energien-Gesetzes (Ulrich Kelber [SPD]: Aber Freiberg ist in – Drucksache 16/2455 – Sachsen!) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Ich meine Thalheim bei Bitterfeld und das liegt in ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Sachsen-Anhalt, gelle? Auch in Sachsen gibt es eine heit (16. Ausschuss) Menge neuer Arbeitsplätze. – Drucksache 16/2760 – Thalheim ist eine Region, die bisher weit weniger als zum Beispiel der Großraum Dresden von der wirtschaft- Berichterstattung: lichen Entwicklung profitiert hat. Die Photovoltaik- Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth industrie dort ist ein wichtiger Träger der wirtschaftli- Marco Bülow chen Entwicklung geworden. Michael Kauch Hans-Kurt Hill Wir exportieren Produkte aus dem Bereich erneuer- Hans-Josef Fell bare Energien inzwischen weltweit; es gibt eine un- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5247

Bundesminister Sigmar Gabriel (A) geheure Nachfrage. Das führende Land auf diesem tech- eine gewaltige Entlastung der stromintensiven Betriebe (C) nologischen Gebiet ist Deutschland geworden, das eine und des stromintensiven Gewerbes. Hightechstrategie verfolgt hat. Ingenieurwissen, For- schung, Wissenschaft führen zu Arbeitsplätzen. Damit Das hat natürlich zur Folge, dass der Strompreis für verbunden sind echte Chancen auch für diejenigen, die diejenigen, die davon nicht profitieren können, etwas sonst keine Arbeit mehr finden. Ich denke an Menschen, steigt, allerdings nur um 0,02 bis 0,03 Cent pro Kilo- die klassische Facharbeiterberufe ausüben. Es sind rich- wattstunde. Es handelt sich also um einen verschwin- tig zukunftsfeste Jobs entstanden. Es gibt also eine Win- dend geringen Betrag. Ich glaube, dass dieser Gesetzent- win-Situation: Umwelt- und Klimaschutz auf der einen wurf damit einen guten Kompromiss darstellt. Die Seite und Arbeitsplätze auf der anderen Seite. Zuständigkeit des Bundesamtes für Wirtschaft und Aus- fuhrkontrolle für die Überprüfung, wer diese Entlastung (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem wirklich in Anspruch nehmen darf – es gilt, Trittbrettfah- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rer zu verhindern –, bedeutet, dass wir einen starken Kontrolleur haben, sodass wirklich diejenigen entlastet Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag, den werden, die es nötig haben, und nicht Unternehmen, die CDU, CSU und SPD geschlossen haben, die Fortschrei- darauf eigentlich keinen Anspruch haben. Ich glaube, bung dieser Erfolgsgeschichte vereinbart. Der Anteil der dies ist ein guter Gesetzentwurf. erneuerbaren Energien an der Stromversorgung liegt heute bei etwa 11 Prozent. Wir wollen, dass dieser An- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. teil auf mindestens 20 Prozent im Jahre 2020 steigt. Der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten Primär- energiebereich liegt bei knapp 5 Prozent. Wir wollen, dass dieser Anteil im Jahr 2020 auf 10 Prozent angestie- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen ist. Diese Ziele sind vereinbart. Es ist gut, dass über Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion. erneuerbare Energien kein großer politischer Streit mehr geführt wird. Michael Kauch (FDP): Aber wir müssen natürlich sehen, dass es sich auch Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ge- bei den erneuerbaren Energien um eine neue Technolo- setzentwurf zur Änderung des EEG ist das Eingeständnis gie handelt, die wir in den Markt einführen mussten. Es der Bundesregierung, dass das Gesetz über die erneuer- wird gelegentlich darüber diskutiert, wie viel das kostet: baren Energien eben doch unnötig hohe Kosten nach Es macht etwa 3 Prozent des Strompreises aus; die sich gezogen hat. Der Weg, den die Bundesregierung mit Netznutzungsentgelte, von denen die Regulierungsbe- diesem Gesetzentwurf beschreitet, ist untauglich, die (B) hörde gerade festgestellt hat, dass sie überhöht sind, ma- Kosten zu senken. (D) chen 30 bis 40 Prozent des Strompreises aus. Wir reden Die Bundesregierung verringert zwar die finanziellen also über einen relativ kleinen Betrag: Erneuerbare Ener- Lasten für die energieintensiven Unternehmen, doch be- gien kosten einen Drei-Personen-Haushalt pro Monat deutet das, dass die Belastungen für alle anderen, die 1,60 Euro. Man kann sagen: Das ist immer noch zu viel. nämlich nicht privilegiert sind – das sind die Verbrau- Ich sage: Für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkin- cherinnen und Verbraucher und mittelständische der ist das wirklich ein niedriger Preis. Unternehmen –, steigen werden. Wenn Sie die Kosten für die einen senken, dann greifen Sie den anderen in die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Tasche. Die Frage ist, ob das gerecht ist. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Wir müssen natürlich darüber reden, was eigentlich in den stromintensiven Bereichen der deutschen Industrie Die FDP ist der Meinung, dass es nicht gerecht ist. Wir passiert, die einem harten internationalen Wettbewerb lehnen Ihre Kostenverschiebungspolitik deshalb ab. ausgesetzt sind und bei denen relativ hohe Lohnkosten Wenn der Minister darlegt, wie gering die Erhöhung – wir wollen, dass es bei relativ hohen Löhnen bleibt, für die Haushalte ist, dann ist das nur ein Teil der Wahr- weil in Deutschland auch die Lebenshaltungskosten heit. Ein anderer Teil der Wahrheit heißt: Mehrwertsteu- hoch sind – anfallen. Neben den hohen Sozialkosten ererhöhung und Abbau von Steuervergünstigungen ohne kommt auf diese Bereiche mit den Energiekosten ein gleichzeitige Senkung der Steuersätze. Ein weiterer Teil dritter Faktor hinzu, der Einfluss auf den internationalen der Wahrheit ist, dass zusätzlich die Benzinpreise steigen Wettbewerb hat. Wir müssen aufpassen, dass wir zwar werden, weil Sie Steuern auf Biokraftstoffe erheben und im Bereich der erneuerbaren Energien etwas Gutes ma- gleichzeitig einen Beimischungszwang einführen. Das chen, was aber dazu beitragen kann, dass die rund 330 im alles zusammen ergibt die Belastung, die auf die Gering- internationalen Wettbewerb stehenden stromintensiven verdiener zukommt, die schon heute unter den staatlich Betriebe in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig verteuerten Energiepreisen leiden. Für die FDP ist Um- sind. weltpolitik ein Gerechtigkeitsthema. Ich hätte gedacht, Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sorgen wir da- dass das auch für die Sozialdemokratische Partei gilt. für, dass über die Aufhebung des 10-Prozent-Deckels bei (Beifall bei der FDP) besonders stromintensiven Betrieben die Entlastung – es gibt sie schon jetzt – von 100 Millionen Euro pro Jahr Mit der Änderung des EEG zeigt sich, in welchem auf 400 Millionen Euro pro Jahr gesteigert wird. Das ist ordnungspolitischen Dilemma sich die Förderung der 5248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Michael Kauch (A) erneuerbaren Energien derzeit befindet. Die Konflikte zu weltgerechten Energieversorgung abhängig sind. Daher (C) den Grundsätzen von Markt und Wettbewerb sind offen- hat die schwarz-rote Bundesregierung die Erarbeitung sichtlich. Der Staat maßt sich nicht nur die Bestimmung eines nationalen Energiekonzeptes als wichtigen Punkt des Einspeisepreises für jede Technologie an; auch der auf ihre Agenda geschrieben. Es muss insbesondere fest- Wettbewerb zwischen den erneuerbaren Energien wird gelegt werden, wie der Energiemix der Zukunft ausse- durch dieses Fördermodell ausgeschaltet. hen soll, welchen Anteil die Primärenergieträger erneu- Aus ökologischer Sicht wären Alternativen zum heuti- erbare Energien, Stein- und Braunkohle, Mineralöl, gen EEG wünschenswert. Solange die gesetzliche Förde- Erdgas und Kernenergie haben sollen. Unbestritten gibt rung unkoordiniert neben dem Emissionshandel eingesetzt es bezüglich des Energiekonzeptes noch einigen Diskus- sionsbedarf. Doch in einem Punkt ist sich die große wird, erbringt das keine zusätzlichen CO2-Einsparungen; denn die Einsparungen durch die erneuerbaren Energien Koalition einig – ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag –: machen lediglich Zertifikate für andere Emittenten frei, Ein wichtiges Element unserer Klimaschutz- und etwa fossile Kraftwerke. Der Klimaschutz unter dem Energiepolitik ist der ökologisch und ökonomisch Emissionshandelsregime ist im Zusammenhang mit dem vernünftige Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir EEG nicht besonders überzeugend. werden daher: Die FDP spricht sich deshalb für ein Modell der diffe- – ambitionierte Ziele für den weiteren Ausbau in renzierten Mengensteuerung aus. Das ist ordnungspo- Deutschland verfolgen, unter anderem litisch der klarste Weg. Das ist ein Instrument, das im Einklang mit Markt und Wettbewerb steht. Die Förde- – den Anteil erneuerbarer Energien an der Strom- rung – das sage ich ganz deutlich – ist zusätzlich zum erzeugung bis 2010 auf mindestens 12,5 % und Emissionshandel notwendig. Ziel ist, die Verknüpfung bis 2020 auf mindestens 20 % steigern … von Klimaschutz und Versorgungssicherheit durch hei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mische erneuerbare Energien zu erreichen. Dabei müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen für (Beifall bei der FDP) die Nutzung der erneuerbaren Energien so gesetzt wer- Meine Damen und Herren, ich mache Sie noch darauf den, dass mit ihrer Nutzung die Ziele der Energiepolitik aufmerksam, dass wir nicht für eine reine Mengensteue- der Bundesregierung, nämlich Umweltverträglichkeit, rung eintreten. Wir sehen sehr wohl, dass es zukunftsfä- Versorgungssicherheit und Preiswürdigkeit, erreicht hige, aber noch nicht wettbewerbsfähige Technologien werden. im Bereich der erneuerbaren Energien gibt, die eine zu- Zur Umweltverträglichkeit. Die Notwendigkeit zu (B) sätzliche Förderung brauchen. Hier ist ganz klar auch aktivem Klimaschutz und zu verminderter Freisetzung (D) unser Ziel, Technologieförderung zu betreiben. Aber sol- von Treibhausgasen gehört inzwischen zum Grundkon- che Technologieförderung muss aus dem Haushalt be- sens in diesem Land. Geschlossene CO -Kreisläufe bei zahlt werden. Zuschüsse aus Steuermitteln zu den Markt- 2 der Nutzung von Biomasse sowie CO2-freie Energien erlösen halten wir für richtig. Das wäre dann offen im aus Sonne, Wind, Wasser und Erdwärme liefern unum- Haushalt ausgewiesen und transparent. Es ist eben nicht stritten wichtige Beiträge zur Bekämpfung des Treib- transparent, wie das EEG heute gestaltet ist, indem näm- hauseffektes und damit zum Schutz unserer Umwelt. lich versteckt über die Strompreise die Verbraucherinnen und Verbraucher die Dinge bezahlen, die aus gesamt- Zur Versorgungssicherheit. Trotz der derzeit rück- wirtschaftlicher Sicht mit dem Ziel der Technologieför- läufigen Preise an den Energie-, insbesondere den Mine- derung unterstützt werden sollen. ralölmärkten ist langfristig mit steigenden Kosten zu rechnen. Aufstrebende Wirtschaftsmärkte wie in Indien, (Beifall bei der FDP) China oder Brasilien haben steigenden Energiebedarf. Zusammengefasst: Sie reparieren mit Ihrem Gesetz- Eine verschärfte Nachfragekonkurrenz aufgrund be- entwurf ein problematisches Fördermodell in einer un- grenzter fossiler Energieressourcen auf den internationa- tauglichen Weise – und das auf Kosten der Verbrauche- len Energiemärkten ist die Folge. Erschwerend kommt rinnen und Verbraucher. hinzu, dass insbesondere Öl und Gas aus politisch eher labilen Regionen dieser Welt importiert werden. Erneu- (Beifall bei der FDP) erbare Energien als heimische Ressource haben daher ih- ren unbestrittenen Anteil an einer größeren Sicherheit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Energieversorgung in Deutschland. Das Wort hat Dr. Maria Flachsbarth, CDU/CSU-Frak- (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau tion. richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ohne Zweifel haben diese Vorteile, die ich in Bezug auf Umweltfreundlichkeit und Versorgungssicherheit ge- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): nannt habe, ihren Preis. Wie Sie wissen, legt das EEG Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den Preis und die bevorzugte Netzeinspeisung des aus Deutschland ist eine hoch technisierte Industrienation, erneuerbaren Energien erzeugten Stroms fest. Wie Sie deren Wohlstand, soziale Sicherheit und sozialer Frieden ebenfalls wissen, wird die Einspeisevergütung für EEG- unmittelbar von einer sicheren, kostengünstigen und um- Strom durch eine Umlage auf den Strompreis finanziert, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5249

Dr. Maria Flachsbarth (A) die alle Stromkunden gemeinsam zu tragen haben. So Bei Abwägung aller Vor- und Nachteile sind wir aller- (C) lag die Umlage für Unternehmen und Privathaushalte im dings zu der Überzeugung gelangt, dass diese Belastung Jahr 2005 grundsätzlich bei 0,56 Cent pro Kilowatt- von 0,02 bis 0,03 Cent pro Kilowattstunde – das hat der stunde. Minister eben auch gesagt – sehr moderat ausfällt und deshalb vertretbar ist. Ich darf Ihnen das an einem Bei- Um besonders stromintensive Betriebe wie zum spiel vorrechnen: Für einen Durchschnittshaushalt mit Beispiel die Aluminium-, Zement- oder Stahlindustrie, einem Jahresverbrauch von 3 500 Kilowattstunden er- deren hoher Stromverbrauch aus produktionstechnischen gibt das eine Mehrbelastung von lediglich etwa 1 Euro Gründen nicht reduziert werden kann, nicht unverhält- pro Jahr. nismäßig zu belasten, was eben schlimmstenfalls auch zum Verlust von Arbeitsplätzen führen würde, kennt das (Michael Kauch [FDP]: Das hat der Trittin EEG bereits seit 2004 in § 16 eine Härtefallregelung, die auch immer gesagt!) die Höhe der Stromkosten bei besonders hohen Verbräu- – Nicht alles, was Herr Trittin gesagt hat, ist falsch. chen kappt. Für Unternehmen, die besonders viel Ener- Manches ist allerdings sehr differenziert zu sehen. gie für ihren Fertigungsprozess benötigen, betrug die (Marco Bülow [SPD]: Das ist einfach richtig, EEG-Umlage deshalb im Jahr 2005 0,1 Cent pro Kilo- egal wer es sagt!) wattstunde. Sie würde allerdings ohne eine Änderung in diesem Jahr auf 0,2 Cent pro Kilowattstunde ansteigen, Wir wissen allerdings um die vielen kleinen Griffe in sich also verdoppeln. die Taschen des Verbrauchers, die sich insgesamt zu ei- ner spürbaren Belastung summieren. Deshalb ist das Um den Industriestandort Deutschland als Produk- zweite große Anliegen dieses Gesetzes eine Stärkung tionsstandort auch für energieintensive Branchen weiter des Verbraucherschutzes durch mehr Transparenz bei wettbewerbsfähig zu erhalten, werden CDU/CSU und der Abrechnung der EEG-Kosten im Rahmen der Strom- SPD deshalb des Weiteren, wie im Koalitionsvertrag rechnung. Leider ist es bisher tatsächlich nicht auszu- vereinbart – ich zitiere –, schließen, dass es im Zusammenhang mit der Weiter- gabe der entstehenden Kosten des Erneuerbare- die EEG-Härtefallregelung unverzüglich so umge- Energien-Gesetzes an die Letztverbraucher zu Rechts- stalten, dass die stromintensive Industrie eine ver- verstößen kommt, denen wir nicht ausreichend mit zivil- lässlich kalkulierbare Grundlage (Aufhebung des gerichtlichen Möglichkeiten begegnen können. Deshalb 10 %-Deckels) erhält und ihre wirtschaftliche Be- haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart – ich darf er- lastung auf 0,05 Cent pro kWh begrenzt wird … neut zitieren –, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Berechnungsmethode zur EEG-Umlage trans- (B) neten der SPD) parent und verbindlich so (zu) gestalten, dass die (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegen- Energieverbraucher nur mit den tatsächlichen Kosten der EEG-Stromeinspeisungen belastet werden … den Gesetzentwurf setzen wir diese Vereinbarung des Koalitionsvertrages um. Wir stärken die besonders stark (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von den Stromkosten betroffenen Betriebe, indem wir Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bei ihnen die durch das EEG verursachten Stromkosten- sieht das neue Gesetz vor, dass die Bundesnetzagentur in anteile auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde begrenzen. Da- Zukunft als unabhängige Behörde die gesetzlichen Vor- neben geben wir diesen Betrieben Planungssicherheit für gaben zum Schutz der Verbraucher effektiv überwachen die Zukunft. Die 10-Prozent-Deckel-Regelung hat bis- wird. Deshalb sind Betreiber von Anlagen zur Strom- lang erschwert, dass Unternehmen sich der auf sie zukom- erzeugung aus erneuerbaren Energien, Netzbetreiber und menden Stromkosten sicher sein konnten. Der 10-Pro- die Elektrizitätsversorgungsunternehmen zukünftig ver- zent-Deckel begrenzte den Härtefallausgleich stark, da pflichtet, der Bundesnetzagentur die für den bundeswei- die EEG-Kosten durch die Anwendung der Ausgleichsre- ten Ausgleich der EEG-Kosten erforderlichen Angaben gelung für alle nicht der Härtefallregelung unterliegenden mitzuteilen. Damit stellen wir sicher, dass den Stromver- Verbraucher um maximal 10 Prozent steigen durften. Mit brauchern keine überhöhten Kosten für den EEG-Strom dem vorliegenden Gesetzentwurf und seiner modifizier- berechnet werden. ten Härtefallregelung schaffen wir den 10-Prozent-De- ckel und damit die Kalkulationsunsicherheit ab. Durch Ich darf zusammenfassen. Mit der Neuregelung des die Härtefallregelung werden etwa 330 besonders strom- EEG werden wir somit die gesetzlichen Rahmenbedin- intensive Betriebe entlastet; sie erhalten zudem höhere gungen sowohl für die energieintensiven Betriebe als Planungssicherheit. Dies schafft Vertrauen und eine ver- auch für alle Stromkunden verbessern. Wir erreichen lässliche Grundlage für Investitionsentscheidungen in eine ökologisch und ökonomisch vorausschauende, sinn- der Zukunft. volle Förderung der erneuerbaren Energien, mehr Ent- lastung und mehr Kalkulationssicherheit für energiein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben diesem Fort- tensive Betriebe und schließlich mehr Transparenz für schritt für energieintensive Unternehmen sagen wir den die Verbraucher und damit für alle Bürgerinnen und Bür- Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes auf der anderen ger unseres Landes. Die Unionsfraktion wird daher dem Seite ganz klar – Herr Kauch, Sie haben es angesprochen –, Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen. dass sich die Kosten für die übrigen Stromverbraucher, Herzlichen Dank. die nicht unter die besondere Ausgleichsregelung fallen, erhöhen werden, wenn auch nur geringfügig. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 5250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Niemand kann verantworten, Atomreaktoren mit völ- (C) Ich erteile dem Kollegen Hans-Kurt Hill das Wort für lig unzureichenden Sicherheitssystemen auch nur einen die Linke. Tag länger am Netz zu lassen. Niemand kann ernsthaft wollen, dass sich ein Stromausfall wie im Münsterland (Beifall bei der LINKEN) wiederholt. Niemand kann wollen, dass 5,2 Millionen arme Haushalte in Deutschland ihre Energierechnung Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): nicht mehr bezahlen können. Ich frage mich, wie lange Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr- die Bundesregierung dem Treiben noch zusehen will. Sie ten Kolleginnen und Kollegen! Was ist eigentlich der lassen sich doch von den Energiekonzernen an der Zweck des Erneuerbare-Energien-Gesetzes? Erstens im Nase herumführen! Interesse des Klimaschutzes eine nachhaltige Entwick- lung der Energieversorgung zu ermöglichen, zweitens Wir unterstützen auf jeden Fall die Aktion der Um- die volkswirtschaftlichen Kosten der Energieversorgung weltverbände. Unter www.atomausstieg-selber-machen.de zu verringern, drittens einen Beitrag zur Vermeidung kann jeder der Atomlobby die rote Karte zeigen und zu von Konflikten um fossile Energieressourcen zu leisten Ökostrom wechseln. Statt den großen vier die Flügel zu und viertens die Weiterentwicklung von Technologien stutzen, schieben Sie den schwarzen Peter lieber dem zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien zu EEG zu. Die Dummen sind wieder einmal die kleinen fördern. Betriebe und die privaten Haushalte. Sie zahlen die ge- samte Ökosteuer und tragen allein das EEG. (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ein gutes Gesetz, nicht?) Mit Ihren Änderungen im EEG schwächen Sie vor al- Zweck des Gesetzes ist es aber auch, den Anteil erneuer- lem die erneuerbaren Energien. Wenn Sie so weiterma- barer Energien an der Stromversorgung bis zum chen, dann schaffen Sie mit der nächsten Novelle des Jahr 2020 auf mindestens 20 Prozent zu erhöhen. Gesetzes sehr wahrscheinlich das, was die FDP will, nämlich die Abschaffung des EEG. Wenn Sie das wollen, (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist korrekt!) dann sagen Sie es einfach. Das haben wir eben gehört; das ist alles korrekt und so Wenn Sie aber einen Anteil der erneuerbaren Ener- steht es in § 1 des EEG. gien von 20 Prozent bis 2020 erreichen wollen, sollten Aber ich bin der Meinung, dass die große Koalition Sie beizeiten dem Energiekartell Paroli bieten. Ich for- offenbar Schwierigkeiten hat, den Sinn des EEG zu er- dere die Bundesregierung auf, übernächste Woche auf fassen. dem zweiten Energiegipfel für Wind und Sonne klar Po- sition zu beziehen. Die Verbraucherinnen und Verbrau- (B) (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist gut! cher haben einen Anspruch auf eine zukunftsfähige (D) Dann erklären Sie uns das einmal!) Energiepolitik, die zu günstigen Energiepreisen führt. Deshalb war es notwendig, das einmal zu betonen, Herr (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Kelber, auch wenn Sie jetzt gähnen. Oder wie sonst ist es Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu verstehen, dass der Gesetzentwurf zur Änderung des NEN]) EEG dazu missbraucht wird, Geschenke an die strom- intensive Industrie zu verteilen? Das ist völlig unnötig. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell, Bünd- So wird das Gerücht geschürt, erneuerbare Energien nis 90/Die Grünen. würden Strom teuerer machen. Das ist einfach die fal- sche Botschaft. Im Gegenteil wirkt sich der Preis bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Windstrom dämpfend aus und senkt zudem den Import- bedarf bei Erdgas. Ein positiver Effekt ist: Die teuren Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gasimporte werden zunehmend durch regenerative Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Energien mit stabil sinkenden Preisen ersetzt. Herren! Auch ich wollte meine Rede mit der Erfolgsge- Wenn die Bundesregierung etwas für die großen schichte des Erneuerbare-Energien-Gesetzes beginnen. Stromkunden tun will, muss sie am Anfang der Preis- Der Bundesumweltminister ist mir zuvorgekommen. Ich kette bei den Erzeugern zu Regelungen kommen. So kann nur feststellen, dass Sie hervorragend beschrieben schafft man Kalkulationssicherheit und Transparenz. haben, wie erfolgreich die Ziele, die wir mit dem Erneu- erbare-Energien-Gesetz angestrebt haben, erreicht wur- (Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt!) den. Wir befinden uns auf Erfolgskurs. Wir stimmen an Ich sage Ihnen: In das EEG einzugreifen, ist der falsche dieser Stellte jeder Ihrer Aussagen zu und freuen uns, Weg. Die Preistreiber auf dem Energiemarkt sind die dass diese gemeinsame rot-grüne Initiative sich so er- Vattenfalls, die RWEs und Co. Das sind diejenigen, die folgreich entwickelt hat. für die hohen Kosten bei den energieintensiven Indus- Ich denke, dies war einer der größten Erfolge der rot- trien verantwortlich sind. grünen Koalition. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN So verhalten sich keine seriösen Energieversorger. und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5251

Hans-Josef Fell (A) Denn neue Arbeitsplätze sind geschaffen worden. Wir ponieren, nicht auch noch über verschiedenste Methoden (C) haben einen neuen Exportartikel geschaffen. Wir haben Gewinnmitnahmen erzielen. Es ist gut, dass die Netzbe- neue Technologien auf den Weg gebracht. Wir haben In- hörde einen Blick darauf werfen kann. Das begrüßen wir vestitionen auch aus dem Ausland insbesondere in den in der vorliegenden Gesetzesnovelle sehr. Osten Deutschlands, wo sie dringend erforderlich waren, Wir denken aber, dass eine weitere Entlastung der geholt. Schließlich haben wir damit einen großen Bei- stromintensiven Industrie aus verschiedenen Gründen trag zum Klimaschutz geleistet. Was wollen wir eigent- nicht mehr gerechtfertigt ist. Deswegen stimmen wir lich noch mehr, außer dass es auf diesem Gebiet schnell dem Gesetzentwurf nicht zu. Dies ist nicht im Sinne des und effektiv vorangeht? In diesem Ziel weiß ich uns mit Verbraucherschutzes. Wer die Lasten sehr viel stärker der SPD und mit Bundesminister Gabriel sehr einig. auf die allgemeinen Verbraucher überträgt, handelt nicht Auch das freut uns. im Sinne des Verbraucherschutzes. Dabei ist die ener- Einzig und allein die FDP hat noch nicht verstanden, gieintensive Industrie doch sogar ein Nutznießer. Die warum mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz so viele Stahlindustrie hat heute ihren zweitgrößten Absatzmarkt in der Windindustrie. Warum sie dann das Erneuerbare- Ziele, die Sie selbst in den Mittelpunkt rücken, tatsäch- Energien-Gesetz immer wieder attackiert, geht mir nicht lich erreicht werden. Sie hätten wenigstens einmal den in den Kopf. Wir haben doch gehört, wie sehr die jetzi- Bericht der EU-Kommission lesen können, in dem Ihre gen Stromerzeugungskosten durch das Erneuerbare- Argumente widerlegt werden. Das EEG ist besonders Energien-Gesetz gesenkt werden. Das HWWA hat uns wettbewerbskonform. Wir stimmen darin überein, dass das doch wunderbar vorgerechnet. Der Vorteil aus der mehr Wettbewerb ein Ziel ist. Aber wenn Sie, Herr Senkung der Kosten ist höher als die im Erneuerbare- Kauch, sagen, das EEG sei ein Wettbewerbshemmnis Energien-Gesetz festgelegte Umlage. Also schon heute und es würde den Wettbewerb der erneuerbaren Ener- tragen die erneuerbaren Energien zur Senkung der gien untereinander verhindern, dann müssen Sie klar sa- Strompreise bei. gen, was Sie wollen. Sie wollen bisher nur eine einzige, nämlich die billigste, Technologie auf Basis der erneuer- Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten, damit wir baren Energien am Markt, aber beispielsweise nicht eine ein Ziel übererfüllen können, das auch im Gesetzentwurf Technologie wie die Photovoltaik. Wie soll denn heute steht. Wir werden nämlich wahrscheinlich schon in die- die Photovoltaik in einem offenen Wettbewerbsmarkt sem oder im nächsten Jahr einen Anteil der erneuerbaren mit der Windenergie ökonomisch konkurrieren? Sagen Energien von 12 Prozent an der Stromerzeugung erreicht Sie doch, wenn Sie keine Entwicklung auf dem Gebiet haben. Deswegen werden wir ein ambitionierteres Ziel ins Auge fassen und bis 2010 nicht nur einen Anteil von der Photovoltaik unterstützen wollen. Dann wissen wir 12,5 Prozent erreichen können. Die Erneuerbare-Ener- wenigstens Bescheid. Das Gleiche gilt auch für die Geo- gien-Branche kann viel mehr leisten. Lassen wir dies mit (B) thermie. der EEG-Novelle im nächsten Jahr auch zu! (D) Sie sagen, Sie wollen das Instrument der Mengensteu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erung. Schauen Sie doch einmal in die Berichte der EU- Kommission! Dann können Sie erkennen, dass Instru- mente wie Zertifikate und Mengensteuerung – ich kann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht alle nennen –, die in diese Richtung gehen, in vie- Das Wort hat Marco Bülow für die SPD-Fraktion. len Ländern der Welt ausprobiert wurden und sich als (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten untauglich erwiesen haben. der CDU/CSU) Schauen Sie nach Großbritannien. Dort gibt es viel mehr Wind als in Deutschland, fast keine Windräder, Marco Bülow (SPD): kaum Windenergieindustrie, wenige Arbeitsplätze in Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! diesem Bereich und kaum Klimaschutz über Windräder, Die erneuerbaren Energien sind auf dem Vormarsch. Ein obwohl in Großbritannien höhere Preise bei der Winden- Garant für diesen Vormarsch ist das Erneuerbare-Ener- ergie zu erzielen sind. Wenn das Ihr Modell ist, dann gien-Gesetz. Der Bundesminister hat zu Recht auf einige verbreiten Sie es bitte weiter. Ich bin froh, dass diese Ge- Eckpunkte hingewiesen, zum Beispiel darauf, wie viele danken selbst bei der Union angekommen sind und sie Arbeitsplätze in diesem Bereich geschaffen worden sind dies inzwischen unterstützt. oder wie viele Investitionen dort getätigt werden. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – will eine Zahl hinzufügen, die sehr wichtig ist – denn in Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ganz erster Linie ist dies ein Klimaschutzinstrument, meines ohne Polemik geht es nicht!) Erachtens sogar das wichtigste –: Wir sparen jährlich 84 Millionen Tonnen CO2 ein, Tendenz steigend. Viel- – Das ist keine Polemik. Ich freue mich vielmehr da- leicht schaffen wir sogar bald die 100 Millionen. Ich rüber, Frau Flachsbarth, dass Sie das so dargestellt ha- denke, es ist sehr wichtig, das zu erwähnen. Denn ohne ben. das Erneuerbare-Energien-Gesetz – das müssen wir fest- stellen – würden wir unser ambitioniertes Klimaschutz- Nun zum Gesetzentwurf. Wir halten es für sehr posi- ziel auf nationaler Ebene nicht erfüllen können. Deswe- tiv, dass hier ein Paragraf vorgesehen ist, der Transpa- gen ist es wichtig, dass wir das Erneuerbare-Energien- renz ermöglicht, nämlich dass die Netzbehörde in die Gesetz geschaffen haben und es auch in der großen Lage versetzt wird, den Umlagemechanismus zu kon- Koalition weiterlebt. trollieren, damit die großen Netzbetreiber, die immer noch heftig gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz op- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 5252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Marco Bülow (A) Eines ist klar: Der Klimaschutz ist die wichtigste He- über 15 Cent. Ich weiß nicht, ob das einen marktwirt- (C) rausforderung unserer Gesellschaft in diesem Jahrhun- schaftlichen Vorsprung darstellen soll. Ich glaube, Sie dert. Wir werden sie nur bewältigen können, wenn wir sollten überlegen, ob Sie das Gerüst nicht endlich dahin die erneuerbaren Energien fördern und in verschiedenen packen, wo es hingehört, nämlich in den Altpapiercon- Bereichen mehr Energieeffizienz herstellen. Ich will ei- tainer. nen weiteren Punkt nennen: Wir müssen insgesamt da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rauf achten – ich weiß, dass das in Deutschland manch- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE mal ein wenig schwierig ist –, dass die Wälder nicht GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das gehört weiter abgeholzt werden und dass wir weiter versuchen, in den Sondermüll!) Aufforstungsprogramme zu fördern. Wir müssen die Erfolgsgeschichte im Zusammenhang Ich will einen kleinen Schlenker machen; denn beim mit den erneuerbaren Energien fortsetzen. Natürlich Klimaschutz muss man in längeren Zeitdimensionen müssen wir auch nachjustieren. Das tun wir heute. Wir denken. Ich glaube nicht, dass es förderlich ist, dass wir drehen an zwei Schrauben – das wurde teilweise von den deutschen Wald – ich weiß, das liegt in der Verant- Frau Flachsbarth und vom Bundesminister angesprochen –, wortung der Länder – verkaufen bzw. privatisieren. und zwar im Bereich der Transparenz und im Bereich Denn ich bin mir nicht sicher, ob dieser Wald dann auch der Härtefallregelung. über Jahrhunderte geschützt wird. Ich glaube, dass das ein falscher Weg ist. Wir stehen zu den Änderungen bei der Härtefallrege- lung. Wir wissen, dass sie zu zusätzlichen Belastungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die Verbraucher führen, und sprechen das auch offen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE aus. Wir glauben aber, dass die Belastungen vertretbar GRÜNEN) sind. Auf der anderen Seite müssen wir aufpassen, dass Ich möchte vor allen Dingen etwas zu den Kosten sa- es bei einer Härtefallregelung bleibt. gen, die ein paarmal erwähnt wurden. Der Bundesminis- Ich rufe alle, die sich entschieden für die Härtefallre- ter hat richtig vorgerechnet: 1,60 Euro pro Monat kosten gelung eingesetzt haben, auf, nicht auf das EEG zu die erneuerbaren Energien jeden Dreipersonenhaushalt. schießen mit dem Argument, es verursache insgesamt zu Diese Kosten sind immer in den Berechnungen enthal- hohe Kosten für die Verbraucher. Man muss sich schon ten. Andererseits sollte aber auch berechnet werden, wie entscheiden. Ich glaube, man muss dazu stehen, dass viel wir durch die erneuerbaren Energien sparen. Das diese Härtefallregelung neue Kosten verursacht. UBA hat vorgerechnet, dass ein normaler Haushalt durch die erneuerbaren Energien einen Gewinn von Mit der Transparenzregelung wollen wir erreichen, (B) 4 Euro erzielt. Es werden nämlich volkswirtschaftliche dass die Bundesnetzagentur unklare Berechnungsdaten (D) Kosten eingespart, weil wir weniger CO2-Energien nut- und Umwälzungsmethoden der Netzbetreiber überprüft. zen müssen. Wir müssen also immer beides gegenüber- Auf Deutsch: Es darf nicht mehr abgerechnet werden als stellen. die Kosten, die die erneuerbaren Energien tatsächlich verursachen. Ich glaube, diese Transparenzregelung ist Noch etwas zum Klima: Das Deutsche Institut für ein echter Fortschritt. Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, dass eine Klima- erwärmung um nur 1 Grad – mittlerweile hat es schon Abschließend möchte ich dem Minister dafür danken, eine Klimaerwärmung um 0,7 Grad gegeben; in dass wir diese Regelung gefunden haben. Ich versehe Deutschland wird sie wahrscheinlich schon bald um den Dank zugleich mit der Bitte, ergänzend zu diesen 1 Grad liegen – die Volkswirtschaft 137 Milliarden Euro Änderungen am Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Anla- kostet. Das ist eine Zahl, die nicht auf der Rechnung genregister einzuführen. Wir brauchen es, um festzu- steht, die wir aber immer im Hinterkopf behalten müs- stellen, wo die erneuerbaren Energien erzeugt wurden, sen. und damit wir wissen, wohin sie fließen. Ich glaube, wir brauchen in Zukunft solch ein Register. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Vor allen Dingen ist wichtig – ich bin sehr zufrieden, NISSES 90/DIE GRÜNEN) dass es die meisten gesagt haben –, dass wir die erneuer- baren Energien brauchen und das Erneuerbare-Energien- Die FDP postuliert immer wieder – auch das hat mit Gesetz das richtige Instrument ist, um sie zu fördern. Ich Kosten zu tun – das Mengengerüst. Auch Herr Fell hat denke, dieser große Konsens, den es bis auf eine Frak- es eben angesprochen. Ich möchte Ihnen einmal eine tion gibt, ist einen Applaus wert. Zahl nennen: Die Kosten für Windenergie betragen in Deutschland zwischen 6,2 und 8,5 Cent pro Kilowatt- Vielen Dank. stunde. Damit kommen wir der Wettbewerbsfähigkeit (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem schon nahe; es lässt sich absehen, ab wann die Wind- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) energie wettbewerbsfähig sein wird. Ähnlich ist es in Spanien, sogar noch ein bisschen günstiger. Sie wenden Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: das gleiche Prinzip wie in Deutschland an. Die Englän- Ich schließe die Aussprache. der und die Italiener haben das Mengengerüst, das Sie immer postulieren, eingeführt. In Großbritannien kostet Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Strom aus Windenergie über 10 Cent, in Italien sogar desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5253

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Dafür würde es allerdings reichen, wenn in jeder Apo- (C) Drucksache 16/2455. Der Ausschuss für Umwelt, Natur- theke ein Apotheker oder eine Apothekerin beschäftigt schutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Be- wäre. Für die Qualität der Beratung haben die Besitzver- schlussempfehlung auf Drucksache 16/2760, den Ge- hältnisse doch keinerlei Bedeutung. setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, um das Handzeichen. – Ge- Auch für das Mehrbesitzverbot werden höhere genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent- Gründe angeführt. Seine Befürworter behaupten, dass wurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen Kartelle und Monopolisten andernfalls überhöhte Preise der gesamten Opposition angenommen. verlangen könnten. Wir haben doch aber Erfahrungen mit Institutionen, die helfen, die Ausnutzung einer Dritte Beratung Marktmacht zu verhindern. Wir haben die Monopol- kommission und das Bundeskartellamt. Warum sollten und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz- sie nicht auch auf diesem Markt tätig werden und einen entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. – Machtmissbrauch verhindern können? Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf mit demselben Die Aufhebung des Mehrbesitzverbotes wird nicht Stimmergebnis wie zuvor angenommen. zuletzt mit der Begründung abgelehnt, dass dann die flä- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: chendeckende Versorgung mit Arzneimitteln gefähr- det sei. Die entstehenden Apothekenketten, so heißt es, Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt würden sich nur die Rosinen heraussuchen. In struktur- Bender, Matthias Berninger, Kerstin Andreae, schwachen und ländlichen Regionen, so wird beschwo- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des ren, gäbe es dann gar keine Apotheke mehr. Das ist kein BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gutes Argument; denn schließlich ist die Gründung einer Apotheke auch heute kein Akt der Nächstenliebe. Ein Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apotheken Apotheker, der eine Apotheke gründen will, oder eine aufheben Apothekerin, die eine Apotheke übernehmen möchte, – Drucksache 16/2506 – überlegt sich doch sehr genau, ob an diesem Standort Überweisungsvorschlag: gute Umsätze zu erwarten sind. Das ist übrigens auch Ausschuss für Gesundheit (f) der Grund, warum die Apothekendichte in Deutschland Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zwischen Stadt und Land sowie zwischen wohlhabenden Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und und ärmeren Regionen so unterschiedlich ist. Wir alle Verbraucherschutz wissen doch, dass es in den Städten inzwischen mehr (B) Es wurde verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu Apotheken als Briefkästen gibt. Im ländlichen Raum ist (D) debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann das nicht so. ist so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Biggi Bender, Bündnis 90/Die Grünen. An diesem wirtschaftlichen Kalkül würde sich auf ei- nem freieren Apothekenmarkt nichts ändern. Apotheker würden sich auch weiterhin außerhalb der Ballungs- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): räume niederlassen; schließlich ist dort die Wettbe- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das werbsintensität geringer. Verändern würden sich aber deutsche Apothekenrecht ist bizarr. Da verhindert ein – das müssen wir uns angesichts der Diskussion im Rah- Selbstbedienungsverbot, dass die Kundinnen und Kun- men der Gesundheitspolitik überlegen – die Kosten des den selber an das Regal mit verschreibungsfreien Arz- Arzneimittelhandels. Aufgrund der Erfahrungen in an- neimitteln herantreten, um sich das preiswerteste Präpa- deren Ländern rechnen uns Fachleute vor, dass mit Ein- rat herauszusuchen. Da ist der Besitz von Apotheken nur sparungen zwischen 1 und 2 Milliarden Euro zu rechnen Apothekern gestattet. Das ist eine Regelung, die es in an- sei. Angesichts der Anforderungen an die gesetzliche deren Bereichen, wo der Verbraucherschutz ebenfalls Krankenversicherung sind das nun wahrlich keine Pea- eine wichtige Rolle spielt, etwa in Bäckereien oder Su- nuts. Wir können es uns nicht leisten, solche Wirtschaft- permärkten, nicht gibt und die dort wohl auch jeder für lichkeitsreserven nicht zu nutzen. absurd halten würde. Im Übrigen wird der deutsche Weg auch im Hinblick (Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Das ist ja nun auf das europäische Recht nicht aufrechtzuerhalten sein. etwas ganz anderes!) Die Europäische Kommission wendet sich gegen Wett- Da darf ein Apotheker neben seiner Hauptapotheke bewerbshindernisse auf den Apothekenmärkten. Sie höchstens drei Filialapotheken betreiben, die auch noch sagt, das Fremdbesitzverbot sei zur Wahrung der Volks- nahe beieinander liegen müssen. gesundheit nicht notwendig, stelle deswegen einen Ver- stoß gegen die europäische Niederlassungsfreiheit dar. Um solche wettbewerbsbeschränkenden Regelungen Deswegen hat die Kommission bereits Vertragsverlet- aufrechterhalten zu können, muss man in einer markt- zungsverfahren gegen Österreich, Italien und Spanien wirtschaftlichen Ordnung schon gute Gründe haben. eingeleitet. Hier findet man aber keine. Gerne wird das Fremdbesitz- verbot damit begründet, dass die Qualität der Beratung (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber nicht gewährleistet sein müsse, was als Anforderung zutrifft. gegen Deutschland!) 5254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Birgitt Bender (A) Kurzum: Die Aufhebung von Mehr- und Fremdbe- Nicht umsonst hat der Gesetzgeber die Aufgabe der Arz- (C) sitzverbot ist erstens wirtschaftlich geboten, zweitens neimittelversorgung in die Hände der eigenständigen ordnungspolitisch richtig und hat drittens keine gesund- Apotheken gegeben. Ich meine, wir sollten es dabei be- heitspolitischen Auswirkungen, die ihr entgegenstünden. lassen. Angesichts dieser Ausgangslage ist es schon bemerkens- wert, dass die Bundesregierung auf diesem Felde so gar Mit den Gründen, die Sie, Frau Bender, genannt ha- nicht tätig sein will. Das gilt übrigens auch für die FDP, ben, können wir uns gerne einzeln auseinander setzen. Herr Bahr. Immerhin führen Sie sich ja gerne als Schild (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Schwert des Liberalismus auf. Aber im Apotheken- NEN]: Ja, tun Sie das doch!) wesen halten Sie Wettbewerb für Teufelszeug. Das ist bi- zarr. Ich lade Sie heute ein, einmal mit mir gemeinsam in eine Apotheke in Berlin zu gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Ute Kumpf [SPD]: Ein bisschen shoppen!) Das Regelungsdickicht im Apothekenwesen ist doch Danach können Sie nicht mehr behaupten, man gehe nur aufgrund guter Lobbyarbeit und enger Klientelbezie- dort ans Regal und nehme sich einfach etwas heraus. Ich hungen entstanden und keinen sachlichen Erwägungen glaube, Sie müssen einmal sehen, dass das gar nicht so geschuldet. Die Bundeskanzlerin hat die Losung ausge- einfach geht. geben, dass in der Gesundheitspolitik das Gemeinwohl Vorrang vor Gruppeninteressen haben müsse. Wenn das Etwas ganz anderes ist es, wenn Kapitalgesellschaf- so ist, dann lassen Sie uns dem folgen und eine Liberali- ten die Erlaubnis erteilt wird, öffentliche Apotheken zu sierung des Apothekenmarktes angehen. betreiben. Wir beklagen doch auch in diesem Haus per- manent, wie sich Kapitalgesellschaften in unserer Ge- Danke schön. sellschaft verhalten, wie sie mit ihren Mitarbeitern um- gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Wir machen jetzt erst ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mal die Gesundheitsreform!) der SPD – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt die Union! Das merk ich mir! Das ist ja eine interessante wirtschaftspo- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: litische Aussage!) Das Wort hat der Kollege Dr. Wolf Bauer, CDU/CSU- (B) Fraktion. Dann sollen wir den Kapitalgesellschaften in diesem (D) sensiblen Bereich Tür und Tor öffnen? Dieser Vorschlag (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kommt ausgerechnet von Ihnen, den Grünen. Aber las- neten der SPD) sen wir das.

Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Zum wiederholten Male wurde die Diskussion über die Entscheidung des Saarlandes angestoßen – das haben Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Sie angesprochen –, einer niederländischen Aktienge- Herren! Wir haben uns heute mit einer sehr interessanten sellschaft eine Betriebserlaubnis für eine Apotheke in Frage zu beschäftigen, nämlich: Welchen Stellenwert hat Saarbrücken zu erteilen. die öffentliche Apotheke in unserer Gesellschaft im All- gemeinen und in unserem Gesundheitswesen im Beson- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: deren? Ich glaube, wir sind uns alle darin einig: Zweifel- Gute Entscheidung!) los hat die Apotheke einen sehr hohen Stellenwert, da sie Garant für die ordnungsgemäße und sichere Arzneimit- Auch wenn es sich vorrangig um eine von Europarecht telversorgung unserer Bevölkerung ist. geprägte Entscheidung handelt, sollten wir bei der Beur- teilung dieses Vorgangs nicht vergessen, dass die Euro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- päische Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft neten der SPD) und erst recht nicht nur eine Wettbewerbsgesellschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist. Der Europäi- Dabei haben sich insbesondere die mittelständischen sche Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang mehr- Strukturen und die Freiberuflichkeit bewährt, und das mals festgestellt, dass Leben und Gesundheit in der EU über viele Jahrhunderte. Über die freien Berufe findet Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen genießen. Die sich im Partnerschaftsgesellschaftsgesetz eine sehr inte- Wirtschaft dient den Verbrauchern und nicht umgekehrt. ressante Aussage. Ich zitiere: Dies hat zur Folge, dass die Wirtschaftsordnung auch im Die Freien Berufe haben im allgemeinen auf der Gemeinschaftsrecht flexibel an die sachlichen und fach- Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation lichen Erfordernisse einzelner Sektoren anzupassen ist. oder schöpferischer Begabung die persönliche, ei- Daher belässt Art. 152 des EG-Vertrages die primäre genverantwortliche und fachlich unabhängige Er- Zuständigkeit für die Regelung und Organisation der bringung von Dienstleistungen höherer Art im Inte- Gesundheitsfürsorge bei den Mitgliedstaaten. resse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5255

Dr. Wolf Bauer (A) Die Europäische Gemeinschaft beschränkt sich ledig- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) lich auf die Ergänzung von Maßnahmen, die Förderung Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Gesundheit und die Koordinierung der Mitgliedstaa- NEN]: Ich schicke Ihnen das Gutachten!) ten. In diesem Artikel steht auch, dass bei der Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit der Bevöl- Der Kollege Lauterbach zum Beispiel spricht von Ein- kerung die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die sparungen in Höhe von lediglich 1 Milliarde Euro. Hier Organisation des Gesundheitswesens und die medizini- ist also eine gewaltige Differenz festzustellen. sche Versorgung in vollem Umfang gewahrt wird. Das Zudem bitte ich die Verfasser des Antrags, darzulegen ist letztendlich auch Ausdruck des Subsidiaritätsprin- – möglichst auch empirisch; das ist ja ein schönes Wort –, zips, auf das wir so stolz sind und das im EG-Vertrag in welchen Ländern sich die Sicherheit und die Qualität verankert ist. der Arzneimittelversorgung durch die Freigabe ver- bessert hat. Auch das lässt sich nicht nachweisen. Die Gegner des deutschen Fremdbesitzverbotes stüt- zen sich auf die unterschiedlichsten Gründe, warum man (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es endlich beseitigen muss. Aber ich glaube, das bringt NEN]: Die Kosten sind niedriger!) uns nicht weiter. Zwingende Gründe wie das Gemein- wohl werden angeführt. Ich glaube aber, dass all das Da wir gerade bei der Empirie sind: Mich würde Gründe für die Beibehaltung des Verbots sind. Laut Eu- brennend interessieren, in welchen Ländern die Arznei- ropäischem Gerichtshof nimmt die Gesundheit – das mittelabgabepreise aufgrund der Existenz von Ketten- muss ich noch einmal betonen – apotheken günstiger wurden. Dass das der Fall ist, stimmt nämlich auch nicht. Das können Sie in jedem (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gutachten und in vielen anderen Schriftstücken nachle- NEN]: Dadurch wird es nicht wahrer!) sen. unter allen Rechtsgütern, die zur Einschränkung der Ich frage Sie, meine Damen und Herren vom Bünd- Grundfreiheiten berechtigen, den ersten Rang ein. Das nis 90/Die Grünen: Wollen Sie eigentlich einen Wettbe- Verbot des Fremd- und uneingeschränkten Mehrbesitzes werb wie in Norwegen? Dort waren 80 Prozent aller dient dem Zweck, eine geordnete, verlässliche und kon- Apotheken innerhalb von zwei Jahren nach Aufhebung trollierte Arzneimittelversorgung zu gewährleisten. des Mehr- und Fremdbesitzverbotes in der Hand von vier Ketten. Nur 15 Apotheken stehen nicht unter direk- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tem Ketten- oder Großhandelseinfluss. NEN]: Na gut! Dann machen wir das doch auch im Lebensmittelrecht! – Dr. Margrit (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Spielmann [SPD]: Da gibt es schon noch einen NEN]: Gibt es da Wettbewerb? – Maria (D) Unterschied, Frau Bender!) Michalk [CDU/CSU]: Das ist ja eine Leis- tung!) Dazu gehört, dass den besonderen Gefahren des Arznei- mittelgebrauchs Rechnung getragen und ein ungehinder- In Norwegen ist es so weit gekommen, dass bei einer ter Arzneimittelkonsum verhindert wird. Apothekenkette mittlerweile 45 Prozent der abgegebe- nen Generika vom zum selben Unternehmen gehörenden Gleichwohl wird diese Entscheidung letztlich in der Hersteller stammen. Ist das Wettbewerb? Hand des Europäischen Gerichtshofes liegen. Wir soll- ten abwarten, was dabei herauskommt. Es ist allerdings Interessant ist auch, dass das norwegische Gesund- schade, dass man sich im Saarland auf nur ein Gutachten heitsministerium im Jahre 2004 feststellen musste, dass gestützt hat. die Handelskonzerne zwar bei ihren Zulieferern, vor al- lem bei Generikaherstellern, Rabatte einforderten und (Zuruf von der SPD: Ja!) auch erhielten, diese jedoch nicht an die Verbraucher oder Krankenkassen weitergaben. Ist es das, was Sie Ich kenne auch Gutachten, die das genaue Gegenteil be- wollen? Das kann es doch auch nicht sein. sagen. Sie wissen ja: zwei Juristen, drei Meinungen. Hier hätte man etwas sorgfältiger vorgehen sollen. Wie kann man – siehe den Antrag vom Bündnis 90/ Die Grünen – einen Wettbewerb zwischen großen Apo- Die Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes thekenketten und kleinen, herkömmlichen Apotheken wird mit der Zulassung von mehr Wettbewerb begrün- als segensreich fordern? Nichts anderes besagt folgendes det; das haben wir gerade wieder gehört. Im Antrag vom Zitat aus Ihrem Antrag: Bündnis 90/Die Grünen ist von einer Einsparung von bis zu 2 Milliarden Euro die Rede. Außerdem heißt es, es Die kleinteilige Struktur des Apothekenmarkts lässt fehle an empirischen Belegen dafür, dass eine Aufhe- einen effizienz- und effektivitätssteigernden Wett- bung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes zu einer Ein- bewerb zwischen den Apotheken nicht zu. schränkung der Sicherheit und der Qualität der Arznei- Angesichts der Entwicklung in Norwegen, die ich vorhin mittelversorgung führt. Frau Bender, wenn es schon um angesprochen habe, frage ich Sie: Wollen Sie das wirk- empirische Belege geht, würde es mich natürlich un- lich? heimlich freuen, wenn auch eine betriebs- und volks- wirtschaftlich nachvollziehbare Berechnung vorgelegt Sie sagten, es sei kein Problem, eine flächende- würde, aus der ein Einsparvolumen von 2 Milliarden ckende Versorgung sicherzustellen. Aber sie ist in Euro hervorgeht. Gefahr. In Norwegen musste die Regierung den drei 5256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Wolf Bauer (A) marktbeherrschenden Unternehmen Übernahmegaran- der Gesundheitspolitik muss so viel Wettbewerb wie nö- (C) tien für aufgegebene Landapotheken geben. In Großbri- tig und möglich für Effizienzsteigerungen sorgen; dafür tannien subventioniert der Staat mittlerweile jede vier- stehen wir als FDP. Der Gesundheitsmarkt ist aber nach zigste Apotheke, um eine flächendeckende Versorgung wie vor ein ganz besonderer Markt, wie hier im Hause zu gewährleisten. Ist es wirklich das, was Sie wollen? wohl keiner bestreiten wird. Mehr als in anderen Berei- chen spiegeln sich die Präferenzen der Kunden eben Anstatt unsere qualitativ hochwertige Arzneimittel- nicht im freien Spiel der Kräfte von Angebot und Nach- versorgung zu zerschlagen, sollten wir zunächst einmal frage wider. Dieser Bereich unterliegt ganz eigenen Ge- die Auswirkungen des AVWG und des sich gegenwärtig setzen. in der Diskussion befindlichen GKV-Wettbewerbsstär- kungsgesetzes abwarten. Die Gesundheitspolitik muss die Arzneimittelversor- gung in Deutschland so organisieren, dass sie den Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dürfnissen der Menschen entspricht. Kaum ein anderes Außerdem bin ich sicher, dass sich auch der Europäische Land hat eine so gute Arzneimittelversorgung wie Gerichtshof noch ausführlich mit dieser Materie ausei- Deutschland. nander setzen wird. Sie haben es bereits angesprochen: (Beifall bei der FDP) Gegen Österreich, Italien und Spanien sind bereits Ver- fahren, die eine ähnliche Thematik betreffen, beim Euro- Was ist gut an der derzeitigen Arzneimittelversorgung? päischen Gerichtshof anhängig. Interessant ist in diesem Erstens. Jeder Bürger hat jederzeit Zugang zu Medika- Zusammenhang, dass gegen Deutschland bisher noch menten, egal ob er in der Stadt oder auf dem Land kein Verfahren vonseiten der EU-Kommission in die wohnt, egal ob er sie vormittags oder nachts oder am Wege geleitet worden ist. Wochenende benötigt. Zweitens. Die Arzneimittelver- sorgung weist einen hohen Grad an Sicherheit auf. Das (Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist das!) Problem, dass Fälschungen aufkommen, hat deshalb Daraus lässt sich schließen, dass unsere Gesetzgebung nicht auf die Verbraucher durchschlagen können. Drit- durchaus EU-rechtskonform ist. tens. Der einzelne Apotheker fühlt sich für seine Apo- theke und seine Kunden verantwortlich. Teilweise über- (Beifall der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]) nimmt er eine Mittlerfunktion zwischen Arzt und Ich appelliere an das Hohe Haus, nicht in vorauseilen- Patient. Wenn die Zeit beim Arzt nicht gereicht hat, dem Gehorsam gute, gewachsene Strukturen zu zerstö- wenn Zusatzinformationen notwendig sind, nimmt sich ren. Wir werden den Antrag der Fraktion des Bündnis- der Apotheker die Zeit, entsprechend zu informieren. ses 90/Die Grünen ablehnen. Ich wiederhole meine Ein- Was haben wir davon, wenn die Versorgung qualitativ (B) (D) ladung: Lassen Sie uns einmal zusammen in eine Apo- schlechter würde? Wer immer etwas an dem bestehen- theke gehen, damit Sie sich ein Bild von dem umfangrei- den System ändern will, muss nachweisen, dass das An- chen Leistungskatalog machen können! gestrebte qualitativ besser ist als der Istzustand: Erstens. Danke schön. Wird die räumliche Versorgung wirklich besser? Zwei- tens. Wird die Auswahl an Medikamenten wirklich grö- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ßer? Drittens. Wird die Beratung besser? Viertens. Wer- den die Arzneimittelpreise niedriger? – Frau Bender, Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fordern mit Ihrem Antrag, die rechtlichen Voraussetzun- Für die FDP hat Daniel Bahr das Wort. gen zu ändern, wer eine Apotheke besitzen darf, mehr nicht. Dadurch würden die Arzneimittelpreise nicht (Beifall bei der FDP – Birgitt Bender [BÜND- niedriger. Doch das steht nicht in Ihrem Antrag. Er ist NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt erklärt uns die deshalb eine Verkürzung dieses Bereiches. FDP, warum sie gegen Wettbewerb ist!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Daniel Bahr (Münster) (FDP): Liebe Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Nur wenn die Arzneimittelpreisverordnung kom- Kollegen! Das Fremd- und Mehrbesitzverbot für Apo- plett aufgehoben wird, die Pharmahersteller bei den theken ist ein klassisches Beispiel für einen Interes- Preisen trotz Festbeträgen und Arzneimittelhöchstbeträ- senkonflikt zwischen verschiedenen Politikfeldern, gen noch nennenswerte Spielräume haben, die nicht zwischen Wirtschaftspolitik auf der einen und Gesund- durch die Krankenkassen mit Rabattverträgen ausge- heitspolitik auf der anderen Seite. schöpft werden, und – ein ganz wesentlicher Aspekt – das Zusammenspiel aus vertikaler und horizontaler Kon- Die FDP will einen Ausgleich zwischen den berech- zentration den Preissetzungsspielraum für die Apothe- tigten Interessen der Gesundheits- und der Wirtschafts- kenketten nicht sogar zulasten der Verbraucher erhöht, politik. Aus wirtschaftspolitischer Sicht sind Apothe- würden Arzneimittel billiger. Sonst würden Apotheken- ker gewerbetreibende Kaufleute, die sich am Umsatz ketten nur eines bewirken, nämlich eine Produzenten- orientieren und Gewinne anstreben. Die Apotheken- rente beim Apothekenkettenkonzern, also eine Erhöhung preise von Medikamenten kommen allerdings nicht des Gewinns beim Konzern. durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage zu- stande, sondern durch einen gesetzlich festgelegten, pro- Das Fremd- und Mehrbesitzverbot erklärt sich aus der zentualen Aufschlag auf die Preise des Großhandels. In heilberuflichen Komponente des Apothekerberufs. Der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5257

Daniel Bahr (Münster) (A) Apotheker galt bisher traditionell als Heilberufler. Das sichern. Deswegen werden wir als FDP diesen Antrag (C) rechtfertigt die flächendeckende Versorgung mit Apo- der Grünen ablehnen. theken, die wir in Deutschland haben. Diese heilberufli- che Komponente des Apothekers wurde mit dem Arznei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie mittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz von Anfang bei Abgeordneten der SPD) dieses Jahres – Herr Bauer hat es angesprochen – durch das Verbot von Naturalrabatten noch betont. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ Das Wort hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer, SPD- CSU und der SPD) Fraktion. Man muss sich einmal Gedanken machen, was man ei- gentlich will. Natürlich ist der Apotheker sowohl Heil- Dr. Marlies Volkmer (SPD): berufler als auch Kaufmann. Man kann aber nicht, wie es Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! einem gerade gefällt, das eine Mal betonen, dass der Die Ausgaben für Medikamente sind ein wichtiger Apotheker ein Heilberufler ist, und Naturalrabatte ver- Kostenfaktor in der gesetzlichen Krankenversicherung. bieten, und dann wieder einfordern, dass er als Kauf- Frau Bender, sie stehen von daher sehr im Mittelpunkt mann direkt mit den Kassen oder der Pharmaindustrie des Interesses und sind häufig Ziel gesetzgeberischer verhandelt. In diesem Zwiespalt befinden wir uns. Des- Maßnahmen. halb müssen wir uns diese Frage immer wieder stellen. Nicht Kommerzialismus, sondern die Gesundheitsver- Eine solche Maßnahme haben wir Anfang dieses Jah- sorgung soll im Vordergrund stehen. Eine Apotheken- res mit dem Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlich- kette im Besitz einer Kapitalgesellschaft würde zumin- keitsgesetz – AVWG – durchgeführt. Mit diesem Gesetz dest dies anders gewichten. waren wir durchaus erfolgreich. Wir haben die Arznei- mittelpreise mit diesem Gesetz gesenkt. Die Arzneimit- Die Grünen betonen in ihrem Antrag allein die wirt- telausgaben im Juli sind gegenüber dem Vorjahr um schaftspolitische Sicht. Ich vermisse dabei die gesund- 3,5 Prozent zurückgegangen. heitspolitische Komponente. Auch die wirtschaftspoli- tische Komponente ist nicht konsequent durchdacht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wer wirtschaftspolitisch konsequent handeln will, der der CDU/CSU) muss den gesamten Arzneimittelmarkt marktwirtschaft- Heute beschäftigen wir uns mit einem Antrag der lich ausrichten. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und es geht um (B) (Beifall bei der FDP) die Abschaffung des Mehrbesitz- und Fremdbesitzver- (D) bots für Apotheken. Sie wollen also, dass ein Nichtapo- Das steht nicht in Ihrem Antrag. Er müsste auch die Ab- theker eine unbeschränkte Zahl von Apotheken besitzen schaffung von Festbeträgen und Festpreisen sowie die kann – vorausgesetzt, er kann das bezahlen. Sie verspre- Aufhebung der Importquoten, der gesetzlichen Zwangs- chen sich davon – ich zitiere – „einen effizienz- und ef- rabatte, der Bonus-Malus-Regelung, der Aut-idem-Re- fektivitätssteigernden Wettbewerb“ sowie die Erschlie- gelung, des Verbots von Naturalrabatten usw. fordern. ßung erheblicher Wirtschaftlichkeitsreserven. Mit diesen ganzen Fragen beschäftigen Sie sich in Ihrem Antrag nicht. Sie beschäftigen sich allein mit dem Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Fremd- und Mehrbesitzverbot. Es ist deshalb nicht ge- woher nehmen Sie denn die Gewissheit, dass die Zulas- rechtfertigt, diesem Antrag zuzustimmen. sung des unbeschränkten Apothekenbesitzes und die da- mit einhergehende Bildung von Apothekenketten wirk- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich zu einer höheren Wirtschaftlichkeit und Effizienz der CDU/CSU) und vor allen Dingen auch zu niedrigeren Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung führt? Es ist vorhin All das müsste dem freien Spiel der Kräfte überlassen schon gesagt worden: In Norwegen ist der Markt inzwi- werden und sich als Ergebnis des Handelns von Ärzten, schen unter drei Apothekenketten aufgeteilt. Die Einzel- Patienten, Pharmaherstellern, Großhändlern und Apo- apotheke ist fast verschwunden. Das hat zur Störung der thekern ergeben. Tun wir also nicht so, als ob allein die flächendeckenden Versorgung geführt. Durch das Bei- Wirtschaftspolitik hier eine Rolle spielt, und führen wir spiel Norwegen wird auch deutlich, dass durch eine ernsthaft eine Auseinandersetzung darüber, in welchen Marktfreigabe des Apothekenbesitzes nicht automatisch Bereichen der Apotheker in seiner heilberuflichen Ver- für dauerhaft billigere Arzneimittel gesorgt wird. antwortung gestärkt werden muss und in welchen Berei- chen rein marktwirtschaftliche Lösungen ohne Verlust Natürlich könnte man sich vorstellen, dass zukünftig wichtiger gesundheitspolitischer Anliegen möglich und auch in Deutschland zahlungskräftige Nichtapotheker sinnvoll sind. oder kapitalstarke Unternehmen Apothekenketten besit- zen und Apotheker bei sich einstellen. Natürlich muss sich der Gesundheitssektor und müs- sen sich auch die Gesundheitsberufe – Ärzte, Apotheker, Pflegekräfte – den wandelnden Bedingungen anpassen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ziel muss es aber doch sein, die Versorgungsqualität zu Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der verbessern oder zumindest auf dem heutigen Niveau zu Kollegin Birgitt Bender zulassen? 5258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Dr. Marlies Volkmer (SPD): (Beifall bei der LINKEN) (C) Nein. – Zu fragen ist aber, ob das den Kunden oder nur denjenigen nutzen wird, die heute gern in den lukra- Frank Spieth (DIE LINKE): tiven Markt möchten, aber noch nicht dürfen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- Es gibt im Arzneimittelgroßhandel schon jetzt eine ben es gehört: Kein Bereich im deutschen Gesundheits- erhebliche Konzentration. Teilweise bestehen enge Ver- wesen hat höhere Zuwachsraten als der Pharmabereich. flechtungen zu Generikaherstellern. Wenn diese Unter- Wir zahlen hier mittlerweile mehr als für die ambulante nehmen nun Apotheken aufkaufen würden, dann führte ärztliche Versorgung. Darüber sollte man in der Tat ein- das zu einer perfekten vertikalen Konzentration von den mal nachdenken. Pharmaherstellern über den Arzneimittelgroßhandel bis Trotz aller Kostendämpfungsbemühungen sind die hin zur Apotheke. Das würde die Gefahr mit sich brin- Kosten für die Arzneimittel in den zurückliegenden gen, dass die Apotheke nur noch ein eingeschränktes Jahren gestiegen. Die Milliarden, die hier ausgegeben und nicht unbedingt das preiswerteste Arzneimittelsorti- werden, fehlen an anderer Stelle im Gesundheitswesen. ment vorhalten würde. Zudem wäre es fahrlässig, wenn die Pharmaindustrie über den Weg der Apothekenkette (Beifall bei der LINKEN) einen direkten Zugang zu Patientendaten erhalten würde. Ich war immer der Ansicht, da seien wir einer Meinung. Gleichzeitig mussten sich die Patientinnen und Patienten Wozu die Konzentration eines Marktes auf wenige An- daran gewöhnen, immer höhere Eigenanteile zu zahlen. bieter, also ein so genanntes Oligopol, führen kann, zei- Nun kommen die Grünen mit der Idee, durch die gen doch eindeutig der Mineralölmarkt und der Energie- Abschaffung des Fremd- oder Mehrbesitzverbotes für markt. Apotheken einen besseren Wettbewerb und mehr Wirt- Aus meiner Sicht wäre es jedoch ein großer Fehler, schaftlichkeit herstellen zu können und damit unter Um- bei diesem Thema nur über Markt, Wirtschaftlichkeit ständen round about 2 Milliarden Euro einsparen zu und Preise zu sprechen. Der Verkauf von Medikamenten können. Abgesehen davon, dass ich die Grünen, die ein- ist eben nicht dasselbe wie der Verkauf von Waschmit- mal für Nachhaltigkeit und lokalen Zusammenhalt ein- teln oder Brot und Brötchen. getreten sind, nicht mehr verstehe, halte ich diesen An- satz in der Tat für einen schweren Denkfehler. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der LINKEN – Birgitt Bender DIE GRÜNEN]: Und Fleisch?) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt die Linkspartei auch noch damit!) Ein Medikament ist ein Produkt, das neben seiner er- (B) wünschten Wirkung auch Risiken und Nebenwirkungen Schon heute können Apotheker bis zu drei Filialen (D) hat. Jeder kennt den Hinweis aus der Werbung: Zu Risi- betreiben, Frau Bender; denn Rot-Grün hat damals dafür ken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder gesorgt, dass es die Möglichkeit dieses Mehrbesitzes Apotheker. Die Nebenwirkungen können lebensbedroh- gibt. Der Vorschlag der Grünen, das Mehrbesitzverbot lich sein, vor allen Dingen bei der gleichzeitigen Ein- für Apotheken gänzlich aufzuheben, geht aber nach mei- nahme von vielen Medikamenten, bei chronischen ner Einschätzung an dem tatsächlichen Problem vorbei: Erkrankungen und bei Allergien. Es kommt beim Arz- Die Ausgaben für Arzneimittel haben sich von 1995 bis neimittel eben nicht nur auf den günstigen Preis an, son- 2005 von 8,94 Milliarden Euro auf 15,44 Milliarden dern auch auf die Qualität der Beratung. Die Hausapo- Euro erhöht. Im gleichen Zeitraum, Frau Bender, haben theke mit dem direkten Kontakt zu den Patienten ist sich die Rohgewinne der Apotheken und des Großhan- deswegen aus unserer Sicht kein Auslaufmodell, son- dels in Höhe von 5 Milliarden in 1995 und 4,94 Milliar- dern ein Zukunftsmodell. den in 2005 sogar geringfügig reduziert. Das heißt, nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Apotheken sind die Kostentreiber; der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ich sage ganz klar: Die SPD steht zum Apotheker als neten der SPD) Heilberuf und sieht in ihm eben nicht nur den einfachen vielmehr haben die Pharmakonzerne 72 Prozent der Arzneimittelkaufmann. Kostensteigerungen im Bereich der Arzneien zu verant- Noch einige Worte zur Vereinbarkeit der deutschen worten. Die Auseinandersetzung über diesen Fakt wird Regelungen mit dem europäischen Recht. Es ist schon von Ihnen gescheut. An dieser mächtigen Lobby ist bis- gesagt worden: Vertragsverletzungsverfahren laufen ge- her im Kern noch jede Reform gescheitert. Ich befürchte, gen Österreich, Italien und Spanien, und zwar vor allen dass mit der Einführung von Apothekenketten zwangs- Dingen deswegen, weil die Niederlassungsfreiheit in läufig die Qualität der unabhängigen Beratung leidet. diesen Ländern nicht gewährleistet ist. In Deutschland Wenn Apothekenketten von Pharmaunternehmen ge- ist sie gewährleistet. führt werden, dann ist an eine unabhängige Medika- mentenberatung nicht mehr zu denken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Aber gerade das sollte unser Ziel sein: die qualifizierte Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und hochwertige Arbeit der Pharmazeuten. Es bleibt Das Wort für die Linksfraktion hat Frank Spieth. nach meiner Erkenntnis – das haben Gespräche mit vie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. 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Frank Spieth (A) len Apothekern bestätigt – die Notwendigkeit, den Apo- um damit ihrem Selbstverständnis als Heilberufler (C) theker als letztes Korrektiv bei falschen Verschreibungen nachzukommen. Sie wollen aber nicht in Zukunft Kauf- einzusetzen. leute oder Kettenbesitzer sein. Denn sie meinen, dass nur die unabhängige inhabergeführte Apotheke ihrer Ver- Es stimmt, dass die meisten Apothekenbesitzer in pflichtung nachkommen kann. Deutschland ein durchaus auskömmliches Nischenda- sein führen. Daran haben auch die Internetapotheken (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und der Versandhandel mit Arzneimitteln nichts geän- NEN]: Was sagen Sie und der Kollege dert. Richtig ist auch, dass die Qualität der Beratung und Lauterbach denn?) der Service mancherorts verbesserungswürdig sind. Da- – Dazu komme ich noch, Frau Kollegin Bender. – Des- rüber können wir reden. halb muss verhindert werden, dass in Deutschland Ket- Die Grünen gehen aber von Einsparmöglichkeiten tenstrukturen ähnlich wie bei den Lebensmittelketten aus, die ich für irreal halte. Wie soll das funktionieren? oder den von Ihnen angeführten Bäckern etabliert wer- Die Apotheken erhalten unabhängig vom Abgabepreis den. Ich meine, Frau Bender, dass solche Systeme profit- des jeweiligen Medikaments eine Pauschale in Höhe von orientiert sind. Der Verbraucherschutz und die Heilbe- 6,10 Euro. Naturalrabatte, wie sie bis zur Einführung des ruflichkeit treten in den Hintergrund. Arneimittelverordnungs-Wirtschaftlichkeitsgesetzes ge- Zu Ihrer Frage, Frau Bender: In einer von rein kauf- geben waren, sind mittlerweile verboten. Kurzum: Apo- männischen Interessen geleiteten Kette würden unter thekerinnen und Apotheker haben kein eigenes wirt- anderem die Versorgungssicherheit und die Qualität schaftliches Interesse mehr an den Arzneimittelpreisen. leiden, weil sie zugunsten rein wirtschaftlicher Überle- Deshalb ist dieser Ansatz falsch. gungen in den Hintergrund treten würden. Ketten wür- Wie sollen Apothekenketten 2 Milliarden Euro ein- den sich zudem auf bestimmte lukrative Standorte kon- sparen können, wenn es durch die Politik der letzten zentrieren, sodass die flächendeckende Versorgung und Jahre nicht möglich war? Aus welchem Grund sollen all vor allem die Arzneimittelsicherheit nicht mehr gewähr- die Apothekenketten bereit sein, die Vorteile aus ihren leistet werden könnten. ausgehandelten Rabatten an die Versichertengemein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schaft weiterzugeben? Ich sehe an dieser Stelle keine CDU/CSU) Chance. Die Erfahrungen in den USA – das wurde be- reits ausgeführt – und in Norwegen zeigen, dass dieser Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wol- Weg in die falsche Richtung führt. Monopole, wie sie len mit Ihrem Antrag die Arzneimittelversorgung von dort entstehen, würden uns das Fürchten lehren. 82 Millionen Menschen mir nichts, dir nichts auf den (B) Kopf stellen. Ich frage mich, wo dabei die sachliche (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Rechtfertigung bleibt, die Sie der bisherigen Versor- Sie müssen zum Ende kommen. gungsstruktur absprechen. Sie erwähnen mit keinem Wort die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Apotheken und machen nicht deutlich, was sie erwartet, Frank Spieth (DIE LINKE): wenn die im Antrag enthaltenen Forderungen umgesetzt Ich komme zum Schluss. – Ich meine, wir sollten ei- würden. Sie sagen auch nichts zu den Leistungen, die nen anderen Weg gehen. Unsere Fraktion wird sich dem täglich vom Heilberuf des Apothekers erbracht werden. Antrag der Grünen nicht anschließen. Wir lehnen – wie hoffentlich die Mehrheit des Parlaments – diesen blinden In Ihrem Antrag gehen Sie auch nicht auf die Konse- Neoliberalismus ab. quenzen ein, die Kettenstrukturen auf die Arbeitsplätze und die qualitativ hochwertigen Ausbildungsplätze in (Beifall bei der LINKEN) Apotheken hätten. Mit Ihrem Antrag wollen Sie die Axt an ein System legen, das den Menschen eine flächende- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ckende und qualitativ hochwertige Arzneimittelversor- Das Wort hat die Kollegin Margrit Spielmann, SPD- gung sichert. Wer heute als Patient oder Patientin mit ei- Fraktion. nem Rezept aus der Arztpraxis kommt, erhält in den meisten Fällen das verordnete Medikament noch am sel- Dr. Margrit Spielmann (SPD): ben Tag, und dies unabhängig davon, wo er lebt. Außer- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! halb der üblichen Ladenöffnungszeiten stehen die Apo- Ohne Lobbyistin zu sein, thekerinnen und Apotheker im Not- und Nachtdienst der Arzneimittelversorgung der Menschen zur Verfü- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber Sie gung, und dies in Stadt und Land, Frau Bender. Ich weiß haben Interessen!) nicht, wie Sie sich die Not- und vor allem die Nachtver- sorgung vorstellen. habe ich mir erlaubt, den Antrag der Grünen bei Apothe- kerinnen und Apothekern in meinem Wahlkreis vorzu- In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass wir erst dann stellen. Ich möchte Ihnen das Ergebnis mitteilen. Alle rechtliche Änderungen vornähmen, wenn wir dazu ge- Apothekerinnen und Apotheker haben festgestellt, dass zwungen würden, dass wir erst dann tätig würden, wenn sie in erster Linie Apotheker sind, dass sie persönliche uns der Europäische Gerichtshof dazu zwinge. Ich sage Verantwortung tragen und in der Haftung stehen und Ihnen: Wir haben im Apothekenbereich – ich will gar dass sie Beratung und Betreuung übernehmen wollen, nicht verschweigen: auch mit Ihrer Unterstützung – 5260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Dr. Margrit Spielmann (A) wichtige Veränderungen auf den Weg gebracht. Die Ver- schneller und kostengünstiger zu ihrer Eintragung kom- (C) gütung der Apotheker wurde von einem prozentualen, men. Nutznießer ist aber auch, wer Informationen aus am Arzneimittelpreis orientierten Zuschlag auf einen dem Handelsregister abrufen möchte. Anders als beim festen Zuschlag umgestellt. Der Mehrbesitz ist erlaubt, ortsgebundenen Papierregister kann in das elektronische sodass man neben der Hauptapotheke drei Filialen be- Register jederzeit und von jedem Ort aus über das Inter- treiben kann. Der Versandhandel ist zugelassen. Dieses net Einsicht genommen werden. Die Recherche im elek- System funktioniert und muss erhalten bleiben. tronischen Register ist bequemer, schneller und kostet weniger. Der elektronische Abruf von Handelsregister- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bekanntmachungen wird unentgeltlich und ohne vorhe- CDU/CSU) rige Anmeldung möglich sein. Der elektronische Regis- Wir wollen den Apotheker als Heilberufler, der alle terauszug kostet künftig 4,50 Euro, während man früher Anstrengungen unternimmt, um die Qualität und die für einen nicht beglaubigten Registerauszug 10 Euro Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung sicherzu- zahlen musste. stellen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. So gut und so richtig der Gesetzentwurf ist, so sehr (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) bedauere ich einige der Änderungen, die an unserem Re- gierungsentwurf vorgenommen wurden. Es ist schade, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass Unternehmen in Deutschland noch zwei Jahre län- Es ist vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 16/2506 ger als eigentlich notwendig mit den Kosten für Tages- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu zeitungsbekanntmachungen belastet werden. Was ant- überweisen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die worte ich nun einem jungen Existenzgründer aus Überweisung so beschlossen. meinem Wahlkreis, wenn er mich fragt, warum er bis zu mehreren Hundert Euro an eine Tageszeitung zahlen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: muss, obwohl die Registerbekanntmachung im Internet steht und dort problemlos eingesehen und abgerufen Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- werden kann? Vielleicht sage ich ihm: Hol dir dein Geld regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages! über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unterneh- Diese Übergangsfrist – meine lieben Kolleginnen mensregister (EHUG) und Kollegen, das wissen Sie alle selbst genau – ist wirt- – Drucksache 16/960 – schaftsfeindlich und schadet gerade kleinen und mittle- ren Unternehmen. Sie kostet Geld und nutzt eigentlich (B) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- nur den Zeitungsverlegern, die weiterhin von einer staat- (D) schusses (6. Ausschuss) lich angeordneten Quersubventionierung profitieren. Mir ist natürlich klar, dass Sie alle unter dem Druck der – Drucksache 16/2781 – massiven Kampagne der Zeitungsverleger standen. Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Carl-Christian Dressel NEN]: Es ging!) Mechthild Dyckmans Ich denke, man hätte darauf hinweisen müssen, was Wolfgang Nešković die Redakteure schreiben. Sie schreiben, man müsse die Jerzy Montag Wirtschaft von Bürokratiekosten entlasten, man müsse Hierfür ist ebenfalls eine halbe Stunde Debatte vorge- die öffentliche Verwaltung modernisieren, Informa- sehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- tionstechnologien nutzbar machen und Richtlinien strikt schlossen. eins zu eins umsetzen. All das haben wir gemacht. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Für ebenfalls wenig geglückt halte ich die Änderung Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das bei den Sanktionen für unterlassene Einreichungen Wort. der Jahresabschlüsse. Wir sind europarechtlich dazu gehalten, diese Bekanntmachungspflichten wirksam durchzusetzen. Die Unternehmen kennen ihre Pflichten Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- und wissen, was sie tun müssen. Wenn sie trotzdem desministerin der Justiz: nichts veröffentlichen, dann – so war unsere Meinung – Guten Abend, Frau Präsidentin! Guten Abend, liebe ist ein Bußgeldverfahren die richtige und angemessene Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Januar 2007 werden Sanktion. Mit dem Ordnungsgeldverfahren, das jetzt im Justizbereich die Register in Deutschland auf die vorgeschlagen wird, schaffen wir demgegenüber neue elektronische Führung umgestellt. Unternehmen und Bürokratie und neue Kosten, die letztlich der Steuerzah- Notare können dann per Mausklick den Registergerich- ler zu tragen hat. ten Anmeldungen und Dokumente in elektronischer Form übermitteln. Damit vereinfachen und beschleuni- Als wir gestern abschließend im Rechtsausschuss be- gen wir die Arbeit der Register. Wir sparen Postlaufzei- raten haben, da habe ich einen Stoßseufzer losgelassen ten und reduzieren die Zahl der Arbeitsschritte. Nutznie- und gesagt: Gott sei Dank, dass es zu Ende ist, aber ßer sind aber nicht nur die Registergerichte, sondern vor musste es so schlimm kommen? – Dann kam eine allem auch Existenzgründer und Unternehmen, die Stimme aus dem Off und sagte: Sei demütig, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5261

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Hartenbach, es hätte viel schlimmer kommen können! – (Daniela Raab [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (C) In der Tat, wenn wir mit den Grünen, unseren ehemali- gen Freunden, regieren würden, Leider scheint es aber zwischen dem Bundesjustizminis- terium und dem Bundesfinanzministerium keine ausrei- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chende Abstimmung zu geben. NEN]: Wir sind weiterhin Freunde, keine Angst!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) – natürlich – unserem vorherigen Regierungspartner, Anders ist es nämlich nicht zu erklären, dass wir heute dann wäre jetzt die Veröffentlichungspflicht in den Zei- mit dem EHUG in § 72 a der Börsenzulassungs-Verord- tungen bis 2011 vorgeschrieben. Dann müsste ich dem nung einen neuen Absatz 2 einfügen, der für bestimmte jungen Unternehmer aus meinem Wahlkreis sagen: Hol Veröffentlichungen, nämlich unter anderem für solche dir dein Geld bei Jerzy Montag! nach § 63 der Verordnung, eine Übergangsfrist vorsieht. Vielen Dank. Durch den Entwurf des Transparenzrichtlinie-Umset- zungsgesetzes aus dem Bundesfinanzministerium wird (Beifall bei der SPD – Heiterkeit des Abg. dies jedoch wieder aufgehoben, da die entsprechende Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Vorschrift gestrichen werden soll. Auch wenn der Inhalt Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Da kann ich der Vorschrift an anderer Stelle, nämlich im Wertpapier- nicht klatschen! Das war eine absonderliche handelsgesetz, geregelt werden soll, wie der Kollege Rede!) Hartenbach in seiner Antwort auf meine Frage ausge- führt hat, so fehlt es in dem Entwurf des Transparenz- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: richtlinie-Umsetzungsgesetzes jedenfalls an einer Ände- Das Wort hat die Kollegin Mechthild Dyckmans, rung oder Ergänzung des heute hier zu verabschiedenden FDP-Fraktion. § 72 a Abs. 2 EHUG, damit die Übergangsvorschrift wieder zum Tragen kommt. Mechthild Dyckmans (FDP): (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ein unglaublicher Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Vorgang!) und Kollegen! Der Entwurf eines Gesetzes über elektro- Hier muss zweifellos nachgebessert werden, da sonst der nische Handelsregister und Genossenschaftsregister so- Wille des Gesetzgebers konterkariert wird. Herr wie das Unternehmensregister – EHUG – ist ein begrü- Hartenbach, ich muss Ihnen hier sagen: Sie sind noch ßenswerter Schritt auf dem Weg zu mehr Transparenz nicht am Ende. Sie müssen zusammen mit dem Bundes- und mehr Bürgerfreundlichkeit. Durch die Umstellung finanzministerium noch nachbessern. (B) auf die elektronische Registerführung wird die derzeit (D) auf verschiedene Datenbanken aufgeteilte Unternehmens- (Beifall bei der FDP) publizität in ein zeitgemäßes und benutzerfreundli- Ich möchte noch ganz kurz auf die von Ihnen ange- ches System überführt. Dadurch wird es künftig – der sprochene Übergangsfrist zu sprechen kommen. Sie ha- Herr Staatssekretär hat es schon gesagt – sehr viel leich- ben gesagt, dass die Zeitungsverlage die Hauptnutz- ter möglich sein, über das Internet Informationen über nießer sind. Nein, es sind nicht nur Zeitungsverlage. Gesellschaften aus dem Handelsregister zu erhalten, was Auch kleine und mittlere Unternehmen bedürfen näm- zu erheblichen Erleichterungen in der Wirtschaft führen lich dieser längeren Übergangsfrist. Wir halten eine wird. In vielen europäischen Ländern ist ein elektroni- Übergangsfrist von drei Jahren für angemessen; dement- sches Handelsregister bereits Standard, zum Beispiel in sprechend ist die Regelung in unserem Änderungsan- England, Österreich, Finnland, Belgien und Italien. Wir trag. So weist zum Beispiel der Zentralverband des sind insofern also wieder nicht bei den Ersten. Deutschen Handwerks in seiner Stellungnahme darauf In Deutschland war es bisher gesetzlich vorgeschrie- hin, dass noch nicht alle Unternehmen mit den gleichen ben, die einzutragenden Unternehmensdaten in der öf- elektronischen und kommunikativen Mitteln ausgestattet fentlichen Tagespresse und im Bundesanzeiger zu veröf- sind, und fordert etwa eine fünfjährige Übergangsfrist. fentlichen. Diese Veröffentlichung soll nun durch Gerade Handwerksbetriebe in ländlichen Gebieten ver- elektronische Bekanntmachung abgelöst werden. Dies fügen noch nicht über den für die Teilnahme an der elek- führt – darüber waren wir uns alle einig – zu gewissen tronischen Registerführung erforderlichen Internetan- Übergangsschwierigkeiten und ruft nach Übergangsfris- schluss. ten. Zu bedenken ist auch: Sie haben auch die Verbraucher (Beifall bei der FDP) als Nutznießer dargestellt; sie könnten die Daten durch einen Blick ins Internet leicht einsehen. Eine flächende- Für die FDP kann ich sagen: Ich bin froh, dass sich im ckende Versorgung der Bevölkerung mit dem Internet ist Berichterstattergespräch die Auffassung durchgesetzt noch längst nicht gewährleistet. In vielen Bundesländern hat, eine für alle Bundesländer gleichermaßen geltende verfügen erst 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung über ei- Übergangsvorschrift festzulegen. Eine Länderöff- nen Internetanschluss. nungsklausel, wie von der Regierung vorgeschlagen, hätte zu einer Rechtszersplitterung innerhalb Deutsch- Ich komme zum Schluss. Auch wenn wir von der lands geführt und wäre daher für die Wirtschaft schäd- FDP uns eine längere Übergangsfrist, nämlich bis 2009, lich gewesen. gewünscht hätten – wir haben einen entsprechenden 5262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Mechthild Dyckmans (A) Änderungsantrag gestellt, der von der CDU/CSU übri- ckende elektronische Führung und weitere Erleichterun- (C) gens nicht befürwortet wurde, obwohl auch die Kollegen gen deutlich verkürzt. im Bundesrat diese Übergangsfrist vorgeschlagen hat- ten –, möchte ich hervorheben, dass es sich – wenn die (Beifall bei der CDU/CSU) Ergänzungen vorgenommen worden sein werden – ins- So wird der heute zur Verabschiedung anstehende Ge- gesamt um ein gelungenes Werk handelt und für die setzentwurf erheblich und nachhaltig dazu beitragen, Wirtschaft durchaus wichtig ist. den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Endlich (Beifall bei der CDU/CSU) kommen die Erkenntnisse!) Mit dem Einsatz moderner Techniken vollzieht sich Ich danke Ihnen. naturgemäß ein nicht immer unumstrittener Anpas- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der sungsprozess. Eine Frage – das ist hier schon angespro- SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt chen worden – betraf die Wirkungsweise der digitalen verstehe ich auch, warum man für fünf Jahre Publikation von Wirtschaftsinformationen. Es geht dabei als Übergangsfrist ist, wenn man fünf Minuten konkret um die Frage, wie mit den bisher im HGB und in braucht, um zu so einer Erkenntnis zu kom- der Börsenzulassungs-Verordnung geregelten Pflicht- men) veröffentlichungen von Unternehmensinformationen in regionalen Tageszeitungen und Börsenblättern umzuge- hen ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Voßhoff, Die künftige Internetveröffentlichung erfüllt sicher- CDU/CSU-Fraktion. lich die rechtlichen Anforderungen an die Publizität von Registereintragungen und macht die mit zusätzlichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kosten verbundene bisherige Veröffentlichung in den gedruckten Tageszeitungen dauerhaft entbehrlich. Bei Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): der Frage „Laptop oder Zeitung?“ geht es aber nicht nur Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- darum, wer welches Medium bevorzugt, wer mit wel- gen! Eine Anmerkung, verehrter Herr Staatssekretär chem Medium lieber arbeitet; es geht schon auch darum, Hartenbach: Meinem Verständnis von Parlamentarismus sich von einem langjährig bewährten umfassenden Pu- entspricht es, dass es durchaus vorkommen kann, dass blizitätssystem zu verabschieden und es durch eine neue, das Parlament, der Gesetzgeber, in Teilen anderer Auf- zentral abrufbare digitale Publikation – das sind ganz fassung ist als die Regierung. neue Dimensionen – zu ersetzen. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Es darf aber nicht verkannt werden, dass für viele bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- der täglichen Lektüre der regionalen Wirtschaftsnach- geordneten der SPD) richten das zentrale Medium ist, um Wir beschließen heute – das ist schon gesagt worden; sich über die geschäftlichen Aktivitäten von Kunden und ich meine, man kann es zusammenfassen – einen weite- Konkurrenten zu informieren. Die Informationen wer- ren Meilenstein im elektronischen Rechtsverkehr. Mit den buchstäblich ins Haus gebracht. Gerade im Bereich der Schaffung weiterer Rechtsgrundlagen für die flä- der Börsenpflichtinformationen sorgen begleitende Be- chendeckende elektronische Führung der Handels-, Ge- wertungen und Informationen der Printpresse für eine nossenschafts- und Partnerschaftsregister und mit der kompakte, umfassende Unterrichtung. Die Internetveröf- Schaffung eines künftigen Unternehmensregisters mit fentlichung dagegen erfordert die gezielte Suche, bei der einem zentralen digitalen Portal für Wirtschaftsinforma- vor Erlangung der gewünschten Informationen erst re- tionen setzen wir nicht nur EU-Vorgaben um; die große cherchiert werden muss. Koalition modernisiert vielmehr auch weitere Bereiche Es stellt sich aber auch die Frage, welche Chancen der Justizverwaltung im Sinne einer schnelleren und ef- und Risiken mit der gebündelten digitalen Publizierung fizienteren Dienstleistung für die am Wirtschaftsleben veröffentlichungspflichtiger Informationen verbunden Beteiligten. sein werden. Deshalb empfehle ich uns eine sorgsame Ich begrüße es, dass dieses Gesetzgebungsvorhaben Beobachtung. Ich bin der Auffassung, dass dieses neue letztlich im Einvernehmen mit fast allen Fraktionen die- Publizitätssystem letztlich von der Wirtschaft gebraucht ses Hauses erfolgen konnte, so wie dies bereits im ver- wird, für einen modernen Standort unerlässlich ist, gangenen Jahr beim Justizkommunikationsgesetz der schnell von der Wirtschaft angenommen wird und sich Fall war, mit dem die rechtlichen Grundlagen für die auch bewähren wird. elektronische Aktenführung geschaffen wurden. Dann aber ist eine dauerhafte oder langfristige Duali- Justiz, so heißt es, ist immer auch ein Standortfaktor. tät, also Doppelveröffentlichung, digital und in der Mit dem EHUG können künftig Registereintragungen Printpresse, nicht haltbar und alle wesentlichen Unternehmensinformationen im (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist es!) Wege eines One-Stop-Shops, also über ein zentrales In- ternetportal, abgerufen werden. Die von vielen Unter- und gegenüber den Unternehmen, die die Kosten für die nehmen oftmals kritisierten langwierigen Verfahren zur zusätzliche Printveröffentlichung zu tragen haben, auch Eintragung in die Register werden durch eine flächende- nicht zu verantworten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5263

Andrea Astrid Voßhoff (A) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Entbüro- aus der Haftungsbeschränkung. Wer sich einer Rechts- (C) kratisierung!) form bedient, die nach geltender Rechtslage Publizitäts- pflichten fordert, muss ihnen auch nachkommen. Die Unter Abwägung der genannten Bedenken sagen die Nichtbefolgung des Rechts ist der Autorität des Rechts Koalitionsfraktionen Ja zur zentralen digitalen Publika- nicht förderlich. tion. Wir standen daher auch vor der Frage, ob die beste- Um sich aber auf diese einzustellen, bedarf es eines henden Sanktionen nachhaltiger und wirkungsvoller zu Anpassungsprozesses. Herr Hartenbach, ich hätte mir gestalten sind. Es gibt einerseits in der Wirtschaft, insbe- gewünscht, dass Sie auch darauf eingegangen wären. Es sondere im Bereich der kleinen und mittelständischen geht nicht nur um den Druck, der vielleicht durch Zei- Unternehmen, so sie denn unter die Veröffentlichungs- tungsverlage entstanden ist. Ich sagte es vorhin: Wir ver- pflichten fallen, immer wieder die Besorgnis, ob und, abschieden uns von einem bewährten Publikationssys- wenn ja, inwieweit die Publizierung mit wirtschaftlich tem. nachteiligen Folgen verbunden ist. Deshalb halte ich es (Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: So für nicht angebracht, in jedem Verstoß gegen die Offen- ist es!) legungspflicht eine böswillige oder absichtliche Aufleh- nung gegen die Rechtsordnung zu sehen. Andererseits Wir wissen auch noch nicht, ob es technisch einwandfrei ist es aber Aufgabe der Rechtspolitik, die Sicherung und laufen wird. Wir haben aber die Verantwortung und die Förderung des Rechtsverkehrs an die größtmögliche Pu- Verpflichtung – das darf man nicht vergessen –, für eine blizität der Registerinformationen zu binden und für de- ordnungsgemäße Publizität zu sorgen. ren Einhaltung zu sorgen. In diesem Spannungsfeld be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. wegen wir uns. Hinzu kommt die neue Dimension der Mechthild Dyckmans [FDP] und des Abg. Publizität, die künftig zentral und digital abrufbar herge- Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) stellt werden soll. Auf Initiative der CDU/CSU haben sich die Koali- Im Lichte dieser Diskussion erschien uns ein Buß- tionsfraktionen zur Begleitung und Erleichterung justa- geldverfahren so, wie es der Gesetzentwurf zum EHUG ment dieses Anpassungsprozesses auf eine zweijährige ursprünglich mit einer Bußgeldandrohung von bis zu bundeseinheitliche Beibehaltung der parallelen Veröf- 50 000 Euro als Sanktion für den Fall der unterlassenen fentlichung von Registereintragungen und Börsen- Offenlegung von Rechnungslegungsunterlagen vorsah, pflichtinformationen in den Printmedien verständigt. zum jetzigen Zeitpunkt unverhältnismäßig. Warum gleich das scharfe Schwert des Ordnungswidrigkeiten- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bundesein- verfahrens hervorholen, wenn das Ziel auch mit einem (B) (D) heitlich, das ist das Entscheidende!) Ordnungsgeldverfahren in modifizierter Form erreicht Außerdem wollen wir vor Ablauf der Übergangszeit werden kann? Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich einen Bericht darüber, ob die technischen Voraussetzun- dem Koalitionspartner SPD, der sich unserer Argumen- gen für die digitale Publizität reibungslos funktionieren tation nicht verschlossen hat, dass man die Unternehmen und daher dem gesetzten Anspruch gerecht werden. nicht gleichzeitig mit der Einführung des EHUG noch mit neuen Bußgeldtatbeständen belasten dürfe. (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) (Beifall bei der CDU/CSU) Durch diese bundeseinheitliche zweijährige Über- Ich verhehle nicht, dass es bei der Frage der Sanktio- gangsregelung wird verhindert, dass Investoren sich un- nierung in den Beratungen der Koalitionspartner unter- ter Umständen von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk mit schiedliche Positionen gab unterschiedlichen Bekanntmachungsvorschriften aus- einander setzen müssen. Ich sagte es schon: Wir kom- (Joachim Stünker [SPD]: Es geht mir auch um men damit auch den Interessen kleiner und mittelständi- die Amtsgerichte!) scher Unternehmen entgegen, denen die Möglichkeit eingeräumt wird, sich in dieser Übergangszeit an die on- – ich weiß –: von der Beibehaltung des bisherigen Sank- line gesteuerte Informationsbeschaffung zu gewöhnen. tionsverfahrens bis hin zum scharfen Schwert des Buß- geldverfahrens. Wir konnten uns auf einen, wie ich Eine zweite wichtige Frage während der Beratungen meine, tragfähigen Kompromiss verständigen. Als Sank- zum EHUG war, mit welchen Sanktionen Verstöße von tion bleibt ein Ordnungsgeldverfahren mit einer Ord- Unternehmen gegen die Publizitätspflicht zu ahnden nungsgeldandrohung bis maximal 25 000 Euro, das aber sind. Es ist zutreffend: Wir können immer wieder fest- von Amts wegen eingeleitet werden kann. Im Rahmen stellen, dass nur eine geringe Anzahl von Unternehmen einer Evaluierung wollen wir zudem die Entwicklung in dieser Offenlegung unaufgefordert nachkommt. Auffal- den nächsten zwei Jahren beobachten. lend ist in dem Zusammenhang übrigens auch, dass von dem Recht, Anträge auf Offenlegung zu stellen, das der- Ich erlaube mir an dieser Stelle aber auch die Anre- zeit jedem Dritten zusteht, nur geringfügig Gebrauch ge- gung, meine Damen und Herren Kollegen, dass ich es macht wird. für notwendig erachte, die uns insbesondere auch durch die Europäische Union vorgegebenen Publizitätspflich- Unstreitig ist aber, dass die Offenlegungspflicht seit ten und die damit verbundenen Offenlegungspflichten Jahren geltendes Recht ist. Publizitätspflichten von Ka- für Unternehmen, die nicht den organisierten Kapital- pitalgesellschaften sind auch der Preis für die Vorteile markt in Anspruch nehmen, hinsichtlich Umfang, 5264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Andrea Astrid Voßhoff (A) Notwendigkeit und ökonomische Risiken gerade für die Besonders das neue Unternehmensregister, das die (C) davon betroffenen mittelständischen Betriebe, sowohl Informationen des elektronischen Handelsregisters und auf nationaler wie auf europäischer Ebene, zu themati- die des elektronischen Bundesanzeigers zusammenführt, sieren und zu diskutieren. beendet die Zersplitterung der Unternehmensinformatio- nen in Deutschland und erfüllt insofern auch die Forde- Ich sagte eingangs, Justiz ist ein Standortfaktor. Ich rung der Regierungskommission von 2001 über Corpo- denke, das EHUG in der jetzt zu beschließenden Form rate Governance. leistet einen wichtigen Beitrag zur Stärkung einer mo- dernen, dienstleistungsfreundlichen Justizverwaltung. Auch die Kosten für Eintragungen und für Abrufe werden sinken, wenn wir, was ich nicht hoffe, die Ge- Vielen Dank. bühren, die jetzt vereinbart wurden, nicht bald drastisch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) erhöhen werden. Die Senkung der Gebühren ist damit ein weiterer mit diesem Gesetz verbundener Vorteil. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Trotzdem handelt es sich nicht um ein völlig problem- Die Kollegin Sevim Dagdelen von der Fraktion Die loses Gesetz. Nicht jeder in Deutschland hat einen Inter- Linke hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) netanschluss, nicht jeder verfügt über die Kenntnisse und Fähigkeiten, dieses Medium zu bedienen. Deshalb Damit hat der Kollege Jerzy Montag von der Fraktion hat auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. – darauf ist schon hingewiesen worden –, der genau die Menschen vertritt, die mit diesem Medium vielleicht Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht so vertraut sind, um eine Übergangsfrist gebeten. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Sich mit dieser Forderung zu beschäftigen, ist kein billi- Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hartenbach, Sie ger Klientelismus, kein Nachgeben gegenüber einer haben uns heute gezeigt, dass es manchmal sehr schwer Lobby, sondern ein Eingehen auf eine berechtigte Forde- ist, gleichzeitig Parlamentarier und Regierungsmitglied rung. Wir sind nach vielen Überlegungen auf die Forde- zu sein. Deswegen empfehle ich Ihnen: Bleiben Sie bei rung des Zentralverbandes nach einer Übergangszeit von Ihrem Vorsatz der Demut. Gesetze werden in diesem fünf Jahren nicht eingegangen. Land immer noch vom Parlament und nicht von der Bundesregierung gemacht. Natürlich müssen auch die Interessen der Zeitungs- verleger berücksichtigt werden. In der kurzen Zeit, die (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Aber mir noch bleibt, möchte ich sagen: Herr Kollege (B) ich stimme auch mit!) Hartenbach, sollten Sie in Ihrem Wahlkreis wirklich ei- (D) nen jungen Unternehmer haben, der sich bei Ihnen über – Seien Sie also stolz darauf, Parlamentarier zu sein. – die 100 Euro beschwert, die er weiterhin an die Zeitun- Sie wissen ganz genau, wir übernehmen für die Gesetze, gen zahlen muss, dann schicken Sie ihn zu mir. Ich die wir hier machen, die politische Verantwortung und werde versuchen, ihm das zu erklären. Sie aber scheinen Haftung. Aber die Zeiten, da wir persönlich dafür zur in Ihrem Wahlkreis keinen Mittelständler mehr zu haben, Kasse gebeten wurden, sind vorbei. Insofern war Ihr an der eine Zeitung verlegt. Deshalb sind Ihnen offensicht- mich gerichteter Vorschlag vielleicht ein bisschen veral- lich die Probleme, die sich für diese ergeben, fremd. Ich tet. kann Ihnen sagen: In dem Wahlkreis, in dem ich Wahl- Ihnen, Herr Kollege Dr. Gehb, will ich sagen: Sie kampf gemacht habe und in dem ich lebe und wohne, brauchen keine Minute zu warten. Wir Grünen sind für gibt es – glaube ich – mehr Jungunternehmer als bei Ih- dieses Gesetz. Wir finden es richtig und werden dafür nen und bei mir hat sich kein einziger beschwert. stimmen. (Zuruf von der SPD: Die machen das bei Endlich bekommt dieses Land ein elektronisches anderen Parteien!) Handelsregister, ein elektronisches Genossenschaftsre- gister und ein elektronisches Unternehmensregister. Es Aber der Verband Bayerischer Zeitungsverleger, der wird möglich sein, online in diese Register Daten einzu- viele mittelständische Zeitungen vertritt – in Bayern ha- stellen, online Einsicht zu nehmen und sie online abzu- ben wir immer noch eine aufgefächerte Zeitungs- und rufen, und zwar nicht nur zu Dienstzeiten, sondern jeder- Zeitschriftenlandschaft –, hat uns darüber berichtet, zu zeit, und nicht nur von bestimmten Orten, sondern welchen Friktionen der Übergang führt. Wir als Grüne weltweit. Wir erfüllen damit die Anforderungen der Pu- haben uns eine längere Übergangszeit gewünscht und blizitätsrichtlinie und der Transparenzrichtlinie. Die dafür auch gefochten. Die zwei Jahre, die wir bekommen Umsetzungsfrist läuft Ende des Jahres aus. Deswegen haben, sind ein Kompromiss, mit dem wir leben können. sei an dieser Stelle auch vermerkt: Fast hätten wir die Deshalb erklären wir auch, dass wir dem Gesetz, weil es Frist nicht eingehalten. In der Praxis wird es bei der Um- ein gutes Gesetz ist, zustimmen werden. stellung noch Schwierigkeiten geben, weil Sie den Ent- wurf in den Sommerferien zwischenzeitlich einmal in Danke schön. der Versenkung haben verschwinden lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und 1) Anlage 6 der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5265

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bungsverfahren, dem wir uns unterworfen haben. Dabei (C) Das Wort hat nun der Kollege Dr. Carl-Christian ist ein gutes Gesetz herausgekommen. Ich bitte Sie um Dressel für die SPD-Fraktion. eine möglichst breite Zustimmung. Danke. Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Guten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Gewissens können wir – auch nach der Erleichterung des bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Kollegen Staatssekretär Hartenbach – sagen: Das Gesetz GRÜNEN) über elektronische Handelsregister und Genossen- schaftsregister sowie das Unternehmensregister, das wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: heute verabschieden werden, ist ein Jahrhundertwerk. Ich schließe die Aussprache. Warum ein Jahrhundertwerk? Weil dieses Gesetz das Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Handelsregister vom Stand des Jahres 1897, als es mit Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über elek- Verabschiedung des Handelsgesetzbuches eingeführt tronische Handelsregister und Genossenschaftsregister so- worden ist, auf den Stand des 21. Jahrhunderts bringt. wie das Unternehmensregister auf Drucksache 16/960. Das ist gut so. Denn in den letzten 109 Jahren haben sich Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen fehlung auf Drucksache 16/2781, den Gesetzentwurf in einschneidend verändert. Das beginnt bei der Kommuni- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, kation über das Internet, geht über die Globalisierung die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- der Ökonomie bis hin zur heute im Vergleich zur damali- men, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltun- gen Zeit viel engeren Taktung des Tagesgeschehens. gen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung Man muss sich mit dem 19. Jahrhundert auseinander mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der setzen. Ich sage: Im 19. Jahrhundert war das Medium SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen Tageszeitung nicht jedem in dem Maße zugänglich, in die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. dem es das heute ist. Ebenso ist das Medium Internet Wir kommen zur heute – ohne zu übertreiben – in einem Maße verbreitet, wie es im ausgehenden 19. Jahrhundert die Tageszeitung dritten Beratung war, sodass wir mit der angemessenen Übergangsfrist und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem von zwei Jahren eine vernünftige und zeitgemäße Me- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – thode schaffen, Transparenz im Handels- und Unter- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- nehmensregister zu ermöglichen. Ich denke, Transpa- wurf ist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen. (B) renz muss im Mittelpunkt des Registers stehen. Um (D) Transparenz zu ermöglichen, brauchen wir natürlich je- Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 12 a und manden, der Daten liefert. 12 b: Die entscheidende Frage, die die Kollegin Voßhoff a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael – bei der ich mich für die gute Zusammenarbeit in der Kauch, Horst Friedrich (Bayreuth), Patrick Berichterstatterrunde ebenfalls sehr herzlich bedanke – Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion bereits angesprochen hat, ist die: Wie bringe ich jeman- der FDP den, der nicht will, dazu, die Daten auf diese Weise ein- Lärmschutz im Schienenverkehr verbessern – zustellen? Die Koalition hat sich anstelle eines Bußgeld- Marktwirtschaftliche Anreize nutzen, Schie- verfahrens für ein Zwangsverfahren entschieden, das nenbonus überprüfen von Amts wegen durchzuführen ist. Es bringt im Gegen- satz zu dem Bußgeldverfahren in weiten Teilen eine Ent- – Drucksache 16/675 – lastung für die Gerichte, die ansonsten in Einspruchsfäl- Überweisungsvorschlag: len Entscheidungen über Bußgeldbescheide zu treffen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) hätten. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Mit dem Zwangsverfahren ist ein gewisser, wenn Ausschuss für Bildung, Forschung und auch kleiner Verwaltungsaufwand verbunden. Dieser Technikfolgenabschätzung Aufwand für die Androhung eines Zwangsgeldes wird b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried mit der Erhebung einer Gebühr in Höhe von 50 Euro in Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, Rechnung gestellt. Um es offen zu sagen: 50 Euro sind weiterer Abgeordneter und der Fraktion des nur ein geringer Betrag dafür, dass jemand seiner Ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN pflichtung nicht nachkommt und dadurch ein Verwal- tungsverfahren auslöst. In der von der Kollegin Voßhoff Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf angesprochenen Evaluation müssen wir uns auch über den Weg bringen die Gebührenhöhe unterhalten. – Drucksache 16/2074 – Insgesamt ist das Gesetz ein tragfähiger Kompromiss Überweisungsvorschlag: zwischen vielen Interessen, der nach einer zweijährigen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Gesundheit Übergangszeit ein modernes Handelsregister mit viel Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Transparenz ermöglicht. Es war ein langes Gesetzge- Haushaltsausschuss 5266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die An bestehenden Schienenwegen besteht ein beson- (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die ders hoher Bedarf an Lärmsanierung. Dabei könnten wir FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre dazu keinen heute mit dem Einsatz moderner Technik einen erhebli- Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. chen Beitrag zur Lärmminderung leisten. Beispielsweise kann durch den Einsatz moderner Kunststoffbremsen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem eine Lärmreduzierung von 15 dB(A) erreicht werden. Kollegen Michael Kauch für die FDP-Fraktion. Weitere Maßnahmen wie Radschallabsorber, dämp- (Beifall bei der FDP) fende Federungen oder auch leisere Loks und Drehge- stelle könnten helfen, den Lärm zu mindern. Andere Länder wie Österreich und die Schweiz zeigen, dass das Michael Kauch (FDP): möglich ist. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dauer- (Beifall bei der FDP) hafter Lärm belastet die Umwelt und gefährdet die Ge- sundheit. Auch im Güter- und Personenverkehr auf der Fest steht: Die Haushaltsmittel zur Lärmsanierung Schiene besteht hier noch Nachholbedarf. Etwa sind begrenzt. Das freiwillige Lärmsanierungsprogramm 20 Prozent der deutschen Bevölkerung fühlen sich durch für den Bau von Schallschutzwänden, den Einbau von den Schienenverkehrslärm belästigt; etwa ein Viertel da- Schallschutzfenstern und die Gleispflege reicht bei wei- von schwer. Insbesondere nachts wird der Schlaf durch tem nicht aus, um den bestehenden Lärmsanierungsbe- Gütertransporte gestört und die Regenerationsphase des darf zu decken. Bei den heutigen Haushaltsansätzen dau- Körpers beeinträchtigt. In puncto Lärmschutz muss auch ert die Sanierung etwa drei Jahrzehnte. Deshalb müssen auf der Schiene mehr passieren. wir uns stärker dem aktiven, vorbeugenden Schall- schutz an der Quelle zuwenden. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der FDP) Das Gesetz schützt derzeit nur Anwohner von Neu- Die FDP fordert, dass das Schienenlärmsanierungs- baustrecken durch Erstattung der Aufwendungen für programm für die Umrüstung von Schienenfahrzeugen passiven Schallschutz. Doch selbst hier besteht Hand- geöffnet wird. lungsbedarf, da im Vergleich zu anderen Lärmquellen (Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] mit zweierlei Maß gemessen wird. Der Grund liegt im so [FDP]) genannten Schienenbonus, wonach – anders als bei an- deren Verkehrsträgern – pauschal 5 dB(A) vom gemes- Auch technische Maßnahmen zur Lärmreduzierung an der Quelle, wie zum Beispiel der Einbau einer Kunst- (B) senen Schallpegel abgezogen werden, und das sogar in (D) der Nacht. stoffbremse, sollten künftig aus den Mitteln dieses Pro- grammes finanziert werden können. Das wäre ein wirksa- Diese Regelung folgt dem Ergebnis sozialwissen- merer flächendeckender Lärmschutz für die Betroffenen, schaftlicher Studien, wonach Anlieger an Schienenwe- als ausschließlich in Lärmschutzwände zu investieren. gen durch Lärm weniger belastet würden als Anlieger an (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Straßen. Nicht nur weil diese Studien aus den 70er- und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 80er-Jahren stammen, ist die Begründung heute mehr als LINKEN) fraglich. Damit es keine Missverständnisse gibt: Schallschutz- (Beifall bei der FDP) wände und Schallschutzfenster sind notwendig, aber nur Die Entwicklung im Schienenverkehr und neue Be- an den Brennpunkten. triebsformen wie Hochgeschwindigkeitsverkehr und Bei der ganzen Diskussion sollten wir nicht verges- dichtere Zugfolgen stellen in Zweifel, ob dies noch zeit- sen, dass wir es im Güterverkehr nicht nur mit der Deut- gemäß ist. Deshalb fordern wir als FDP die Überprüfung schen Bahn, sondern auch mit vielen privaten Betreibern des Schienenbonus. und ausländischen Bahnen zu tun haben. Deshalb reicht etwa ein Förderprogramm für die Deutsche Bahn nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aus. Vielmehr brauchen wir marktwirtschaftliche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Anreize dafür, dass alle Bahngesellschaften, alle diejeni- Generell brauchen wir mehr Sensibilität für den vor- gen, die auf dem deutschen Schienennetz Waggons be- beugenden Lärmschutz an Neubaustrecken. Wenn die treiben, einen Anreiz haben, Lärmschutzmaßnahmen Bahn zum Beispiel eine neue transeuropäische Güter- durchzuführen. Hier sind unsere Nachbarländer weiter bahnstrecke am Rhein quer durch die Stadt Offenburg als Deutschland; denn in der Schweiz gibt es marktwirt- plant, statt sie um die Stadt herum oder durch einen Tun- schaftliche Anreize zur Durchführung von Lärmschutz- nel zu führen, dann provozieren Bahn und Planungsbe- maßnahmen durch ein lärmabhängiges Trassenpreissys- hörden sehenden Auges massive Lärmbelästigungen, die tem. Auch die Niederlande und Österreich arbeiten an vermeidbar wären. der Vorbereitung eines solchen Systems. Nur in Deutschland, wo wir das theoretisch bzw. eisenbahn- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des rechtlich schon könnten, blockiert die Deutsche Bahn BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Netz AG jede Einführung lärmabhängiger Trassenpreise Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Skandal!) oder anderer umweltbezogener Differenzierungen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5267

Michael Kauch (A) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warum (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) wohl?) Patrick Döring [FDP]) Die Bundesregierung als Eigentümer schaut zu. Deshalb Die große Koalition hat deutlich gemacht, wie wich- fordern wir die Bundesregierung auf, nicht weiter untä- tig ihr dieses Thema ist: Wir haben beschlossen, dass die tig zuzusehen, sondern marktwirtschaftliche Anreize im Mittel dafür im Haushalt für dieses Jahr erheblich – im- Trassenpreissystem dadurch verpflichtend zu machen, merhin von 50 Millionen Euro auf 75 Millionen Euro – dass sie die entsprechende Verordnung ändert. aufgestockt werden. Damit wollen wir ein deutliches Zeichen setzen, dass wir in diesem Felde mehr tun wol- Frei nach dem Werbespruch der Bahn: „Die Bahn len. Bei der vorliegenden Haushaltssituation ist das kein kommt“ – aber zu laut – muss sich auf der Schiene noch schlechtes Zeichen im Hinblick auf die Lärmsanierung einiges bewegen. Wir als FDP-Bundestagsfraktion ha- an bestehenden Schienenwegen. Es geht hier nicht um ben mit unserem Antrag konkrete Vorschläge auf den die neuen Schienenwege; denn beim Bau neuer Schie- Tisch gelegt: die Öffnung des Lärmschutzprogramms für nenwege wird der Lärmschutz heute stets berücksichtigt. den aktiven Schallschutz und lärmdifferenzierte Trassen- Es geht also um die bestehenden Strecken. preise als marktwirtschaftlichen Anreiz. Ich halte nichts davon, dass wir ewig viel Geld in Wir laden Sie als Koalition ein, sich mit diesen Vor- Lärmschutzwände, Doppelglasfenster und viele andere schlägen auseinander zu setzen und sich ernsthaft Ge- Dinge investieren. Eine Lärmsanierung ist nämlich we- danken darüber zu machen, wie der Lärm auf den Schie- sentlich einfacher zu erreichen – das weiß jeder Fach- nen Deutschlands verringert werden kann. Denn so mann –, indem man durch den Einsatz leiserer Fahr- weiterzumachen wie bisher, bedeutet, dass ein umwelt- zeuge und Wagen den Lärm an der Quelle bekämpft. freundlicher Verkehrsträger, zumindest was den Klima- schutz angeht, dadurch diskreditiert wird, dass er in ei- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der nem anderen Bereich, nämlich bei den Lärmemissionen, FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- anderen Verkehrsträgern hinterherhinkt. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Die Erkenntnis, dass wir den Lärm an der Quelle be- DIE GRÜNEN) kämpfen müssen, steht im klaren Widerspruch zu der bisher vorgegebenen Politik. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Damit sind wir beim Thema der so genannten K-Sohle. Das Wort hat nun der Kollege Enak Ferlemann für die Natürlich ist es sinnvoll, in alle bestehenden Güterwag- CDU/CSU-Fraktion. gons K-Sohlen einzubauen. Man muss jedoch wissen, (B) dass eine entsprechende Umrüstung eines Güterwaggons (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) etwa 4 000 Euro kostet. Da der Umbau nach den Beihil- ferichtlinien der EU nur zu 30 Prozent gefördert wer- Enak Ferlemann (CDU/CSU): den darf, muss ein Eisenbahnunternehmen 70 Prozent Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und selbst aufwenden. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lärmsa- Denken wir nur einmal an die Deutsche Bahn AG. nierung an Schienenwegen des Bundes ist ein wichtiges Derzeit befinden wir uns in den Verhandlungen über die Thema. Ähnlich wie im Straßenbau stellt sich dieses Frage der Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn AG. Problem bei den Schienenverkehrswegen. Es gibt wohl Die Kapitalausstattung ist nicht so umfangreich, als dass kein Mitglied im Verkehrsausschuss, das Folgendes der Deutschen Bahn eine solche Investition leicht fallen nicht bejahen würde: würde. Das gilt erst recht für andere Eisenbahnunterneh- Erstens. Verkehrslärm ist ein zentrales Problem mit men. vielen Folgewirkungen für die Betroffenen. Es muss also auf europäischer Ebene eine Regelung Zweitens. Wir würden uns ein schnelleres Vorankom- zu der Frage gefunden werden, wie man mit diesem Pro- men bei der Lärmsanierung an Schienenwegen wün- blem umgehen will. Es gibt Signale, dass sich die Euro- schen. päische Union hier öffnen will. Vorhin wurde gefragt, wie man das finanzieren könne. Aus meiner Sicht ist das Drittens. Die vorhandenen technischen Möglichkeiten relativ leicht zu machen. Wir haben ermittelt, dass inner- sollten besser genutzt werden. halb von zehn Jahren Kosten in Höhe von etwa Viertens. Die EU sollte – bei allem Respekt für die 600 Millionen Euro entstehen, wenn wir alle bestehen- europäische Richtlinienpolitik – ihre beihilferechtlichen den Fahrzeuge umrüsteten. Es gibt Berechnungen, dass Vorgaben überdenken. sich die Kosten für eine passive Lärmsanierung auf 800 Millionen Euro belaufen würden, die wir dann ein- Ich denke, wir sind uns da sehr einig. Ich begrüße es, sparen würden. Es ist also wirtschaftlich sogar von Vor- dass zwei Oppositionsfraktionen unterschiedliche An- teil, wenn wir den Lärm an der Quelle bekämpften. Das träge zum gleichen Thema gestellt haben. Meine Frak- Problem ist nur, dass wir nicht ausreichend Mittel haben. tion ist sich mit Ihnen einig, dass wir uns um dieses Wenn wir die Lärmsanierung für so wichtig halten, dass Thema kümmern müssen. Ich glaube, es gibt gute Chan- gehandelt werden muss, müssen wir eine Umfinanzie- cen, dass wir bei diesem Thema zu einer Lösung kom- rung im allgemeinen Eisenbahntopf vornehmen. Das men. kann man machen. Ich denke, wir sollten uns im 5268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Enak Ferlemann (A) Ausschuss in Ruhe darüber unterhalten. Die Überwei- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) sung an den Fachausschuss dient auch dazu, dass wir uns Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Lutz darüber Gedanken machen können. Heilmann für die Fraktion Die Linke. Ich finde es gut, dass die Grünen der Meinung sind, (Beifall bei der LINKEN) das Ganze dürfe nicht nur auf die DB AG begrenzt wer- den, sondern müsse – das ist ein Unterschied zum FDP- Lutz Heilmann (DIE LINKE): Antrag – für alle Eisenbahnunternehmen gelten. Das ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! übrigens ein wichtiges Kriterium für die Europäische Lärm ist für eine Vielzahl von physischen und psychi- Union: Wir dürfen nicht selektieren; für alle muss die schen Beeinträchtigungen verantwortlich. Lärm entwi- gleiche Lösung gefunden werden. Insofern begrüße ich ckelt sich mehr und mehr zu einer Geißel der Zivilisa- sehr, dass der Antrag der Grünen alle Wettbewerber im tion. Der Kollege Kauch hat bereits darauf hingewiesen, Schienennetz erfasst. dass 20 Prozent der Bevölkerung von Schienenlärm be- troffen sind. Ganz einfach gesagt: Schienenlärm beein- Die Problematik der beihilferechtlichen Beschrän- trächtigt die Lebensqualität der Menschen. Sie können, kungen betrifft natürlich alle Mitgliedstaaten. Wir kön- um nur einiges zu nennen, nicht ruhig schlafen oder sich nen nur eine europaweite Lösung anstreben. Das geht nach getaner Arbeit nicht entsprechend erholen; die Kin- eben nur, wenn wir auf EU-Ebene eine Änderung der der sind mangels gesunden Schlafes in ihrer Entwick- beihilferechtlichen Vorschriften erreichen. So ergäbe lung gehemmt. sich die Möglichkeit, in zehn Jahren mit diesem Thema abzuschließen. Es macht wesentlich mehr Sinn, in ganz 60 Prozent der Bevölkerung leiden heute unter Stra- Deutschland die Lärmbelästigung zu senken, als dies nur ßenlärm. Dieses Thema aber kehren Sie alle seit Jahren an einzelnen bestehenden Strecken zu tun. leider unter den Teppich. Verehrte Kollegen von den Grünen, weitere Studien (Beifall bei der LINKEN) halte ich in diesem Zusammenhang allerdings für über- Und noch eines: Ein Drittel der Bevölkerung leidet unter flüssig. Das wäre hinausgeworfenes Geld; denn wir alle Fluglärm. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage kennen doch das Problem. Ich weiß nicht, warum in Ih- an die FDP – die CDU/CSU muss ich mittlerweile rem Antrag weitere Studien gefordert werden. Ich gleichfalls ansprechen –: Können Sie mir sagen, warum glaube, Studien führen uns nicht weiter. Wir müssen Sie beim Schienenlärm für aktiven Lärmschutz sind und vielmehr aus dem Haushalt heraus zu einer Finanzierung beim Fluglärm nicht? Sind die von Fluglärm betroffenen kommen, und zwar ohne den Gesamtansatz zu erhöhen, Bürgerinnen und Bürger für Sie Bürger zweiter Klasse? (B) und das beihilferechtliche Problem mit der EU lösen. (D) Ich sage Ihnen: Der beste und gleichzeitig billigste Das Schweizer Modell – es wurde bereits erwähnt – Lärmschutz bei jeder Form von Lärm ist, diesen an der ist ein interessanter Ansatz: lärmbezogene Trassen- Quelle zu bekämpfen, anstatt nur an den Symptomen he- preise. Dieses Modell gibt es in Deutschland derzeit rumzudoktern. noch nicht. Man muss sich gut überlegen, ob man in die- ses Modell einsteigen will. Das kann man natürlich tun; (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Rede das hätte aber viele wettbewerbsrechtliche Konsequen- kommt ungefähr zehn Jahre zu spät! – zen. Wenn wir Wettbewerb auf der Schiene wollen – ab Christian Carstensen [SPD]: Die K-Sohle ha- dem 1. Januar 2007 gilt in Europa der freie Güterverkehr –, ben wir bei Flugzeugen noch nicht!) dann müssen wir aufpassen, dass wir diesen Wettbewerb Bleiben wir beim Schienenlärm. Für mich hat die Um- nicht durch zu viele Regulierungen einschränken, zum rüstung von Güterwagen auf die K-Sohle Vorrang vor Beispiel indem wir nur wenigen Unternehmen die Mög- dem Bau von Schallschutzmauern. Dies hilft allen Be- lichkeit geben, Güterfernverkehr wirtschaftlich zu be- troffenen, unabhängig davon, ob ihre Trasse in das treiben, weil die Preise auf den einzelnen Trassen unter- Lärmsanierungsprogramm aufgenommen wurde oder schiedlich sind. Die Idee ist vom Grundsatz her nicht. sicherlich richtig. Es gilt aber abzuwägen, da es auf der anderen Seite auch Probleme gibt. So lässt sich mit vergleichsweise wenig Geld viel er- reichen. Die Bahn spricht von Kosten in Höhe von etwa Insofern freue ich mich auf eine fruchtbare Diskus- 550 Millionen Euro für alle Güterwagen, auch für die sion über dieses Thema im Ausschuss. Ich glaube, dass der Konkurrenz. Das heißt, dass wir mit nur 50 Millio- wir noch darüber nachdenken müssen, wie wir der Euro- nen Euro im Jahr in elf Jahren mehr für die Betroffenen päischen Union deutlich machen können, dass der von erreichen würden als mit dem bestehenden Lärmsanie- ihr bevorzugte Ansatz falsch ist. Deutschland kann sich rungsprogramm in 30 Jahren. So lange dauert nämlich dieser europäischen Vorgabe aber nicht entziehen. Wir – das wurde ebenfalls schon erwähnt – die Sanierung der brauchen eine gute Lösung, damit wir im Interesse der Schienentrassen, wenn, wie derzeit, jährlich 75 Millio- Menschen in unserem Land zu einer Verbesserung kom- nen Euro zur Verfügung stehen. men. Ich bin für eine Erhöhung der Summe um 25 Millio- Danke schön. nen Euro auf 100 Millionen Euro, damit die Sanierung schneller vorangeht. Ich fordere, dass das Lärmsanie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) rungsprogramm – diesbezüglich stimme ich den Kolle- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5269

Lutz Heilmann (A) gen von der FDP zu – auch für die Umrüstung von Gü- neuen und bei wesentlichen Änderungen bestehender (C) terwagen geöffnet wird. Schienenwege Anspruch auf Schallschutz besteht, gibt es für Maßnahmen an vorhandenen Strecken keine recht- Der Schienenbonus ist für mich übrigens nicht die liche Grundlage, um die von Lärm betroffenen Bürgerin- entscheidende Frage. Weitere Untersuchungen sind zeit- nen und Bürger zu schützen. lich sehr aufwendig. Darauf können und dürfen wir im Interesse der Betroffenen nicht warten. Trotzdem wurden von unserer Seite aus wichtige und richtige Weichen gestellt. Das Sonderprogramm (Beifall bei der LINKEN) Lärmschutz – es wurde bereits genannt –, welches unter Auch die Forderung nach einer verbindlichen Einfüh- Gerhard Schröder aufgelegt wurde, hat wesentliche Er- rung lärmabhängiger Trassenpreise bringt den Betrof- folge gezeigt. Für dieses Programm wurden erstmals fenen recht wenig. Lieber Kollege Kauch, Sie beantwor- 1999 Bundesmittel in Höhe von 51 Millionen Euro jähr- ten nicht die Frage, wie Sie das praktisch umsetzen lich eingestellt. wollen. Sollen an allen Trassen Mautbrücken wie an den (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist Autobahnen installiert werden? Sollen alle Güterwagen, richtig!) auch die ausländischen, mit On Board Units ausgestattet werden? Fragen über Fragen, die mich im Zusammen- Nebenbei bemerkt war es schon immer die SPD-Bundes- hang mit Ihrem Vorschlag beschäftigen! tagsfraktion, die – gerade in den 90er-Jahren – in diesem Bereich erhebliche Verbesserungen eingefordert hat. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, welche Züge Hier werden keine Probleme unter den Teppich ge- eingebunden werden müssen?) kehrt, sondern sie werden mit Augenmaß angepackt. Wir wissen: Der Sanierungsbedarf ist sehr hoch. Versäum- Zum anderen hat die Diskussion über emissions- nisse der Vergangenheit lassen sich nicht innerhalb we- abhängige Trassenpreise in den letzten Jahren mehr niger Tage nachholen. Deswegen hat die Bundesregie- Schaden als Nutzen angerichtet, weil die Lärmsanierung rung, hat die Koalition die Mittel deutlich aufgestockt. damit politisch ausgebremst wurde. Außerdem sollen damit die Kosten für die Umrüstung der Wagen auf die (Beifall bei der SPD) Unternehmen abgewälzt werden. Eine zusätzliche Belas- tung des Systems Schiene ist mit uns allerdings nicht zu Wir können uns sicher vorstellen, dass weitere Mittel er- machen. Wir dürfen die Schiene im Wettbewerb mit forderlich werden. Aber diese Aufstockung kann bereits LKW und Luftverkehr nicht noch weiter benachteiligen. in vielen Bereichen zu deutlichen Verbesserungen füh- Nur wenn wir in den Haushaltsberatungen eine Erhö- ren. (B) hung der Mittel für das Lärmsanierungsprogramm be- Wir wissen: Der Gesamtinvestitionsbedarf liegt bei (D) schließen und daraus den Einbau der K-Sohle fördern, über 2 Milliarden Euro. Mit dieser Aufstockung errei- sind wir und Sie den Betroffenen gegenüber glaubwür- chen wir zumindest, dass der Zeitrahmen von über dig. Nur dann können wir weiter über den Schienenbo- 42 Jahren, der ursprünglich angedacht war, deutlich, auf nus und emissionsabhängige Trassenpreise debattieren. 28 Jahre, reduziert werden kann. Ich wünsche mir für die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. zukünftigen Haushaltsberatungen, dass wir die Mittel weiter aufstocken, sodass wir mehr investieren können (Beifall bei der LINKEN) und mit diesem Programm schneller vorankommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Das Wort hat nun der Kollege Heinz Paula für die GRÜNEN) SPD-Fraktion. Mit diesem Geld wurde von der Bahn in den letzten (Beifall bei der SPD) sieben Jahren sehr viel Positives bewegt. Ich darf nur ein paar Stichworte nennen – zu denen mir sicherlich der Heinz Paula (SPD): eine oder andere gleich vorhalten wird, dass das bei wei- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- tem noch nicht ausreiche. Das wissen wir. Deswegen ar- gen! Wie schon wiederholt angesprochen wurde, ist beiten wir intensiv weiter daran –: 243 Ortsdurchfahrten Lärm zweifelsohne eines der größten unserer Umwelt- wurden komplett saniert. 115 Kilometer Schallschutz- probleme. Verkehrslärm hat daran einen ganz wesentli- wände entstanden. Über 27 000 Wohnungen erhielten chen Anteil. Die Auswirkungen sind hierbei – im Ge- zusätzlichen Lärmschutz in Form von Schallschutzfens- gensatz zu vielen anderen Umweltproblemen – direkt tern. Mehr als 1 000 Kilometer Schiene werden unter spürbar, da zum Beispiel der Schlaf in der Nacht gestört Berücksichtigung des Prinzips „Besonders überwachtes wird. Wir alle wissen: Lärm stresst, Lärm macht krankt. Gleis“ gepflegt, was ebenfalls zu einer deutlichen Redu- Deswegen messen wir dem Lärmschutz eine ganz beson- zierung des Lärms beitragen kann. dere Bedeutung bei. Bei diesen Berechnungen spielt der so genannte Das gilt gerade für den Schienenverkehr. Wir kennen Schienenbonus eine Rolle – vorhin war schon einmal die rechtliche Situation: Beim Neubau und beim Ausbau kurz die Rede davon –, wonach gegenüber dem Straßen- bestehender Strecken gibt es entsprechende Vorgaben für lärm ein Abschlag in Höhe von 5 Prozent vorgenommen die Lärmvorsorge. Während allerdings beim Bau von wird. Die Abschaffung des Schienenbonus wird in bei- 5270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Heinz Paula (A) den Anträgen gefordert. Wie Sie wissen, ist diese Bonus- hen Hause, sondern dem Betreiber der Eisenbahninfra- (C) regelung auf Ergebnisse von Studien aus den 70er- und struktur. Nach § 21 Abs. 2 der Eisenbahninfrastruktur- 80er-Jahren zurückzuführen. Sie wissen auch Benutzungsverordnung kann das Wegeentgelt einen Ent- geltbestandteil umfassen, der den Kosten der umweltbe- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Asbach zogenen Auswirkungen des Zugbetriebs Rechnung trägt. uralt!) Vor diesem Hintergrund wird derzeit ein Forschungs- – Kollege Friedrich, ich gebe Ihnen absolut Recht –, dass programm des Bundesministeriums für Umwelt, Natur- momentan neue Studien angefertigt werden, auf deren schutz und Reaktorsicherheit vorangetrieben, um die Ergebnisse wir sehr gespannt sind. Ob bzw. inwiefern Möglichkeiten der Einführung eines emissionsabhängi- diese Ergebnisse zu einer neuen Beurteilung führen, gen Trassenpreissystems zu untersuchen. Sie sehen: müssen wir abwarten. Dann wird mit Sicherheit entspre- Auch an dieser Stelle wird gehandelt. Im Gegensatz zu chend entschieden und gehandelt. dem, was mein Vorredner gefordert hat, warten wir aller- Die Lärmsanierung an bestehenden Schienen ist aller- dings zunächst die Untersuchungsergebnisse ab, um dings nur ein Teil der Lärmbekämpfung im Bereich des dann konsequent und zielgerichtet zu handeln. Schienenverkehrs. Natürlich ist uns bekannt, dass ein er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hebliches Potenzial zur Verminderung von Lärm im rol- der CDU/CSU – Horst Friedrich [Bayreuth] lenden Material zu sehen ist. Sie haben beantragt, das [FDP]: Das ist ja etwas völlig Neues!) Lärmsanierungsprogramm zur Finanzierung techni- Wir sind uns einig, dass Lärm vermieden bzw. redu- scher Verbesserungen wie der Umrüstung von Brem- ziert werden muss. Viele Maßnahmen werden bereits sen etc. zu öffnen. Allerdings – das wissen wir alle nur umgesetzt. Neue Erkenntnisse können und werden zu zu genau – betrifft dieses Thema nicht nur unser Land. neuen Maßnahmen führen. Hier handelt es sich um Probleme, die auf europäischer Ebene in Angriff genommen werden müssen. Sie alle Ich bedanke mich. wissen, dass es aufgrund von EU-Richtlinien inzwischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch auf europäischer Ebene Emissionsgrenzwerte gibt. der CDU/CSU) Diese Grenzwerte werden mit Sicherheit zur Folge ha- ben, dass kein neuer Wagen mehr gekauft wird, der nicht über die berühmte K-Sohle verfügt. Ansonsten würden Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Grenzwerte nämlich schlicht und ergreifend nicht Das Wort hat nun der Kollege Winfried Hermann für eingehalten. die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Der Einsatz neuer Wagen auf neuen Strecken kann (B) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) eine Lärmreduzierung um mehr als 15 Dezibel, das zeit- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nahe Schleifen der Schienen um 3 Dezibel bringen. Im Herren! Am Ende dieser Debatte kann ich gewisserma- Netzzustandsbericht wird in Zukunft übrigens auch die ßen für alle zusammenfassen: Es liegen zwei gute An- Riffelbildung von Bedeutung sein. träge – von der FDP und von den Grünen – vor, die in (Renate Blank [CDU/CSU]: Tja! Wenn wir den Reden fast aller außerordentlich viel Zustimmung nur einen ordentlichen Bericht hätten! – Horst gefunden haben. Darüber freuen wir uns. Das war also Friedrich [Bayreuth] [FDP]: In welchem Netz- ein guter Anstoß aus der Opposition heraus. zustandsbericht denn?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN All diese Maßnahmen gehen auf Initiativen zurück, die und bei der FDP) entweder von der Bundesregierung oder auf europäi- Alle Redner und Rednerinnen haben betont, dass wir scher Ebene ergriffen wurden. Sie lassen zweifelsohne – ich sage bewusst: wir, die Politik – das Problem des positive Auswirkungen auf die Lärmminderung im Be- Schienenlärms im Vergleich zu anderen Lärmarten lange reich des Eisenbahnsystems erwarten. Zeit vernachlässigt haben, vermutlich auch deswegen, weil die Bahn ein Staatsbetrieb war. Das gilt übrigens Obwohl weitere Maßnahmen zur Reduzierung des europaweit: Die Staaten tun sich schwer, bei sich selber Schienenlärms auf den Weg gebracht wurden, kann hier zu reduzieren. Das ist ein deutlicher Hinweis, dass wir noch das eine oder andere mehr getan werden. Auch auf da mehr tun müssen, gerade wenn wir wollen, dass es europäischer Ebene wurde eine Reihe von Initiativen er- mehr Schienenverkehr gibt. griffen. All diese Maßnahmen gilt es nun auszugestalten, übrigens auch die Forderung nach lärmbezogenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trassenpreisen. Es wurde schon angesprochen, dass die Die Probleme nehmen zu – Kollege Kauch hat es ge- lärmabhängigen Trassenpreise sicherlich einen mögli- sagt –: Überall dort, wo Neubaustrecken geplant sind, chen Weg darstellen, um für die Betreiber marktwirt- bilden sich Anwohnerinitiativen gegen Schienenverkehr. schaftliche Anreize zu schaffen – darauf kommt es uns Das kann nicht in unserem Interesse liegen. Wenn wir ganz wesentlich an –, die Waggons mit der K-Sohle mehr Schienenverkehr wollen, müssen wir dafür sorgen, nachzurüsten oder andere Lärmminderungsmaßnahmen, dass dieser umwelt- und sozialverträglich ist. zum Beispiel den Einbau von Scheibenbremsen oder Radschallabsorbern, durchzuführen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Gestaltung der Trassenpreise – auch das ist uns Alle Rednerinnen und Redner haben betont, dass das bekannt – obliegt nicht dem Bund und nicht diesem Ho- Lärmsanierungsprogramm ein guter Einstieg war. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5271

Winfried Hermann (A) Alle haben aber auch gesagt, dass es damit nicht getan Fazit: Wir müssen an die Quellen ran. Wir müssen ein (C) sein kann. Wir können nicht immer mehr Lärmschutz- Umrüstprogramm auflegen und wir brauchen lärm- mauern in Deutschland bauen, wir können nicht immer abhängige Benutzungsgebühren. Das wird uns weiter- mehr Schallschutzfenster in die Häuser einbauen. Das ist bringen und dann kommen wir voran. verdammt teuer und nicht besonders sinnvoll. Klüger ist Wenn ich das richtig wahrgenommen habe, dann gibt es, an die Quelle zu gehen, dort zu sanieren. Die Techno- es in dieser Frage einen großen Konsens. Ich sehe vier logien dafür sind entwickelt. Alle haben sie beschrieben: Fraktionen, die dabei mitmachen. Dann muss ja etwas die K-Sohle. Ferner gibt es inzwischen Gestelle, die leise dabei herauskommen. und leicht sind und deswegen erheblich weniger Lärm machen. Wenn wir alle technischen Möglichkeiten nut- Danke. zen, können wir den Schienenverkehrslärm um bis zu 20 Dezibel reduzieren. Das ist sehr viel und würde den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) Menschen weit mehr helfen als passive Lärmschutzmaß- nahmen; diese bringen nämlich höchstens 10 Dezibel. Wir haben hier also ein hohes Potenzial, das wir nutzen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sollten. Ich schließe damit die Aussprache. Ein Skandal ist allerdings, dass die Produzenten und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen diejenigen, die Wagen kaufen, immer noch alte Technik auf den Drucksachen 16/675 und 16/2074 an die in der kaufen. Ich war auf der Innotrans. Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich auch!) sind die Überweisungen so beschlossen. – Ihr wart auch da. Dann ist euch vielleicht wie mir ge- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15: sagt worden, dass immer noch zwei Drittel der neuen Güterwaggons mit alter Technik verkauft werden. Zwei Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Drittel! Das liegt daran, dass die einschlägige europäi- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- sche Verordnung nichts taugt, oder sagen wir: zu wenig nologie (9. Ausschuss) taugt. Sie ist ausgerichtet auf den Hochgeschwindig- – zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz keitsverkehr. Den Lärm machen aber Güterwaggons, die Meyer (Hamm), Thomas Bareiß, Veronika nur 100 oder 80 fahren. Sie sind von dieser Verordnung Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- überhaupt nicht erfasst. Deswegen tut sich da nichts. So tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten nimmt man beim Kauf neuen Wagenmaterials für die Ludwig Stiegler, Dr. Rainer Wend, nächsten 20, 30, 40 Jahre Schienenverkehrslärm in Kauf, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiterer Abge- (B) der nicht sein müsste. Das ist schlecht, da müssen wir ordneter und der Fraktion der SPD (D) ran, da müssen wir was tun. Das Nationale Reformprogramm Deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN land und die Lissabon-Strategie weiterfüh- sowie bei Abgeordneten der SPD und der ren – Wirtschaftswachstum und Beschäfti- FDP – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo gungspolitik zum Erfolg führen er Recht hat, hat er Recht!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Unsere beiden Fraktionen schlagen vor, materielle An- Dückert, Matthias Berninger, Brigitte Pothmer, reize zu schaffen. Kollege Heilmann, ich war, was die weiterer Abgeordneter und der Fraktion des geistige Flexibilität und die Nachvollziehbarkeit Ihrer BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausführungen angeht, enttäuscht von Ihrer Rede: Sie sag- ten, dass man für die Trassen keine lärmbezogene Maut Mehr Ehrgeiz bei der Erreichung der Lissa- erheben könne. Es ist doch ein Leichtes, so etwas zu tun! bon-Ziele Die wenige Meter vom Verkehrsministerium entfernte – Drucksachen 16/2629, 16/2622, 16/2782 – Technische Universität Berlin hat ein lärmbezogenes Trassenpreissystem für die Niederlande entwickelt, das Berichterstattung: dort eingeführt wird. Der deutsche Verkehrsminister hat Abgeordneter Martin Zeil davon nichts gemerkt und auch die PDS/Linkspartei Die Kolleginnen und Kollegen Alexander Dobrindt, glaubt nicht, dass so etwas machbar ist. Dabei ist es ein Doris Barnett, Martin Zeil, Alexander Ulrich und schneller und guter Weg für alle: für die europäischen Dr. Thea Dückert haben ihre Reden zu diesem Tagesord- Konkurrenten der DB, für die DB und für die vielen Pri- nungspunkt zu Protokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich vatbahnen in Deutschland. Ein solches System gäbe den eine Aussprache. Anreiz: Wer lärmarme Waggons fährt, zahlt zukünftig we- niger – die anderen legen drauf. Wenn wir ein solches Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be- System geschickt ausgestalten, können wir damit sogar schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und ein Umrüstungsprogramm finanzieren; über das, was rein- Technologie auf Drucksache 16/2782. kommt, können wir Gelder zur Verfügung stellen für die- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner jenigen, die nachrüsten und umrüsten wollen. Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck- Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Bitte kei- nen Fonds gründen!) 1) Anlage 7 5272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) sache 16/2629 mit dem Titel „Das Nationale Reformpro- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried (C) gramm Deutschland und die Lissabon-Strategie weiter- Nachtwei, Alexander Bonde, Volker Beck (Köln), führen – Wirtschaftswachstum und Beschäftigungspolitik weiterer Abgeordneter und der Fraktion des zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diese Beschluss- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Zivilbevölkerung wirksamer schützen – Streu- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- munition ächten tionsfraktionen angenommen. – Drucksache 16/2749 – Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Überweisungsvorschlag: fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags des Auswärtiger Ausschuss (f) Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2622 mit Rechtsausschuss dem Titel „Mehr Ehrgeiz bei der Erreichung der Lissabon- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ziele“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Verteidigungsausschuss Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist diese Be- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung tionen, der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion ge- Haushaltsausschuss gen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 14: Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt Müller- Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- der FDP richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Für die Ächtung von Landminen und Streu- Gysi, Oskar Lafontaine, Werner Dreibus, Petra munition Pau und der Fraktion der LINKEN – Drucksache 16/2780 – Gegen die Schließung von 45 Standorten bei Überweisungsvorschlag: der Deutschen Telekom AG Auswärtiger Ausschuss (f) – Drucksachen 16/845, 16/1797 – Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung: Verteidigungsausschuss Abgeordnete Waltraud Lehn Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Hans-Joachim Fuchtel Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (B) Entwicklung (D) Dr. Claudia Winterstein Haushaltsausschuss Dr. Gesine Lötzsch Anja Hajduk Auch hier haben die Kollegen ihre Reden zu Proto- koll gegeben. Es handelt sich um die Kollegen Hans Auch hier haben die vorgesehenen Rednerinnen und Raidel, Andreas Weigel, Florian Toncar, Paul Schäfer Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich 2) um die Kolleginnen und Kollegen Dr. Martina und Winfried Nachtwei. Krogmann, Waltraud Lehn, Martin Zeil, Werner Dreibus Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag 1) und Margareta Wolf. der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Drucksache 16/1995 mit dem Titel „Gefährliche Streu- Haushaltsausschusses auf Drucksache 16/1797 zu dem munition verbieten – Das humanitäre Völkerrecht wei- Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gegen die terentwickeln“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist Schließung von 45 Standorten bei der Deutschen Telekom dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist dieser Antrag mit AG“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- Drucksache 16/845 abzulehnen. Wer stimmt für die Be- men der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/ schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenom- Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der men. Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen Tagesordnungspunkt 17 b. Interfraktionell wird vor- der Fraktion Die Linke angenommen. geschlagen, den Antrag auf Drucksache 16/2749 zu überweisen, zur federführenden Beratung an den Aus- Ich rufe Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b sowie wärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Rechts- Zusatzpunkt 5 auf: ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo- 17 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ gie, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für CSU und der SPD Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gefährliche Streumunition verbieten – Das humanitäre Völkerrecht weiterentwickeln sowie an den Haushaltsausschuss. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über- – Drucksache 16/1995 – weisungen so beschlossen.

1) Anlage 8 2) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5273

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Zusatzpunkt 5. Wir kommen zur Abstimmung über den b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C) Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2780 mit richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und dem Titel „Für die Ächtung von Landminen und Streu- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter- munition“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt richtung durch die Bundesregierung dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist dieser Antrag ab- gelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Aktionsprogramm für Straßenverkehrssicher- Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen heit: Halbierung der Zahl der Unfallopfer bis und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der 2010 FDP-Fraktion. Entschließung des Europäischen Parlaments Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und b auf: zu dem Europäischen Aktionsprogramm für a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike die Straßenverkehrssicherheit: Halbierung Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer der Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- in der Europäischen Union bis 2010: eine ge- SES 90/DIE GRÜNEN meinsame Aufgabe (2004/2162[INI]) (EuB-EP 1263) Verbraucherinformationsgesetz nachbessern und das Lebensmittel-Kontrollsystem neu ord- – Drucksachen 16/150 Nr. 1.69, 16/578 – nen Berichterstattung: – Drucksache 16/2656 – Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Gero Verbraucherschutz (f) Storjohann, Heidi Wright, Patrick Döring, Dorothée Rechtsausschuss Menzner und Dr. Anton Hofreiter ihre Reden zu Proto- Ausschuss für Gesundheit koll gegeben.2) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 19 a. Interfraktionell wird die Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2100 an Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- der Fraktion der LINKEN schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Bund-Länder-Staatsvertrag – Qualitäts- management Lebensmittelqualität Tagesordnungspunkt 19 b. Beschlussempfehlung des (B) – Drucksache 16/2744 – Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf (D) Drucksache 16/578 zu der Unterrichtung durch die Bun- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und desregierung über die Entschließung des Europäischen Verbraucherschutz (f) Parlaments zu dem Europäischen Aktionsprogramm für Rechtsausschuss die Straßenverkehrssicherheit. Der Ausschuss empfiehlt, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzu- Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Julia nehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Klöckner, Elvira Drobinski-Weiß, Michael Goldmann, Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist diese Be- Dr. Kirsten Tackmann und Ulrike Höfken ihre Reden zu schlussempfehlung einstimmig angenommen. Protokoll gegeben.1) Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2656 und 16/2744 an die in der Beratung des Antrags der Abgeordneten Kersten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Naumann, Dr. Martina Bunge, Dr. Gesine Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. der LINKEN Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und b auf: Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlän- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- gern regierung Bericht der Bundesregierung über die Maß- – Drucksache 16/2746 – nahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung Überweisungsvorschlag: im Straßenverkehr 2004 und 2005 (Unfallver- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) hütungsbericht Straßenverkehr 2004/2005) Rechtsausschuss – Drucksache 16/2100 – Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Maria Michalk, Silvia Schmidt, Heinz-Peter Haustein, Kersten Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Naumann und Markus Kurth ihre Reden zu Protokoll ge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geben.3) Ausschuss für Gesundheit

2) Anlage 11 1) Anlage 10 3) Anlage 12 5274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des (C) Drucksache 16/2746 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Entwicklung auf Drucksache 16/2762. Der Ausschuss verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die sungen so beschlossen. Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1961 mit dem Titel „Keine Weltbank- Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: kredite für Atomtechnologie“. Wer stimmt für diese Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes hält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung ange- 2007 (JSTG 2007) nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und – Drucksache 16/2712 – Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1978 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit dem Titel „Eine Weltbank-Energiepolitik der Zu- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO kunft – Ja zu mehr Effizienz und erneuerbaren Energien, Nein zur Atomkraft“. Wer stimmt für diese Beschluss- Die Kolleginnen und Kollegen Klaus-Peter Flosbach, empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Gabriele Frechen, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Barbara Dann ist diese Beschlussempfehlung angenommen mit Höll, Christine Scheel und die Parlamentarische Staats- den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP ge- sekretärin Dr. Barbara Hendricks haben ihre Reden zu gen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak- Protokoll gegeben. 1) tion des Bündnisses 90/Die Grünen. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 23 auf: wurfs auf Drucksache 16/2712 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- damit einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über steuer- Dann ist das so beschlossen. liche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (SEStEG) (B) richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- (D) sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) – Drucksache 16/2710 – Überweisungsvorschlag: – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Finanzausschuss (f) Hänsel, Hans-Kurt Hill, Monika Knoche, wei- Rechtsausschuss terer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie KEN Die Kolleginnen und Kollegen Peter Rzepka, Lothar Keine Weltbankkredite für Atomtechnologie Binding, Dr. Volker Wissing, Dr. Axel Troost und Dr. Gerhard Schick haben ihre Reden zu Protokoll gege- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, ben.3) Thilo Hoppe, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- DIE GRÜNEN wurfs auf Drucksache 16/2710 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Eine Weltbank-Energiepolitik der Zukunft – Ja zu mehr Effizienz und erneuerbaren damit einverstanden? – Dann sind die Überweisungen so Energien, Nein zur Atomkraft beschlossen. – Drucksachen 16/1961, 16/1978, 16/2762 – Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf: Berichterstattung: Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Stokar von Neuforn und der Fraktion des BÜND- Gabriele Groneberg NISSES 90/DIE GRÜNEN Dr. Karl Addicks Informationspflicht für Unternehmen bei Heike Hänsel Datenschutzpannen einführen Ute Koczy – Drucksache 16/1887 – Auch hierzu haben die Rednerinnen und Redner ihre Überweisungsvorschlag: Reden zu Protokoll gegeben. Es sind die Kollegen Innenausschuss (f) Dr. Georg Nüßlein, Gabriele Groneberg, Dr. Karl Rechtsausschuss Addicks, Heike Hänsel und Ute Koczy.2) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien

1) Anlage 13 2) Anlage 14 3) Anlage 15 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5275

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Auch hierzu haben die Rednerinnen und Redner ihre Leistungen aus einer Hand für Menschen mit (C) Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Behinderungen ermöglichen Kollegen Beatrix Philipp, Dr. Michael Bürsch, Gisela – Drucksache 16/2751 – Piltz, Jan Korte und Silke Stokar von Neuforn.1) Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Drucksache 16/1887 an die in der Tagesordnung aufge- Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus sen. Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 25: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Das Existenzminimum sichern – Sozialhilfe- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- regelsätze neu berechnen und Sofortmaßnah- rung einer Biokraftstoffquote durch Ände- men für Kinder und Jugendliche einleiten rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und zur Änderung energie- und stromsteuer- – Drucksache 16/2750 – rechtlicher Vorschriften (Biokraftstoffquoten- Überweisungsvorschlag: gesetz – BioKraftQuG) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss – Drucksache 16/2709 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Ab- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und geordneter und der Fraktion der LINKEN Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Für ein menschenwürdiges Existenzminimum Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO – Drucksache 16/2743 – Überweisungsvorschlag: Die Kolleginnen und Kollegen Norbert Schindler, Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Reinhard Schultz, Marko Mühlstein, Dr. Hermann Otto Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Solms, Hans-Kurt Hill und Dr. Reinhard Loske haben Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (B) die Reden zu Protokoll gegeben.2) Ausschuss für Gesundheit (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wurfs auf Drucksache 16/2709 an die in der Tagesord- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Wir haben jetzt das Vergnügen, eine halbe Stunde Überweisung so beschlossen. Aussprache zu genießen. Ich erteile das Wort dem Parla- mentarischen Staatssekretär Franz Thönnes. Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 27 sowie zu den Zusatzpunkten 6 bis 8: Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- 27 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- minister für Arbeit und Soziales: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! rung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Die Sozialhilfe ist eine unverzichtbare Säule des Sozial- und anderer Gesetze staates in Deutschland. Um diesem Verfassungsauftrag gerecht zu werden, werden im Rahmen der Sozialhilfe – Drucksachen 16/2711, 16/2753 – den Hilfebedürftigen die erforderlichen Mittel zur Abde- Überweisungsvorschlag: ckung eines soziokulturellen Existenzminimums zur Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Verfügung gestellt. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Basis dafür ist verlässlich, einheitlich und auch gerecht zu gestalten. Nach diesen Prinzipien sind wir bei ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus der Behandlung der Einkommens- und Verbrauchsstich- Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe- probe des Jahres 2003 vorgegangen. Dabei handelt es Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion sich um eine amtliche Statistik, die im Wesentlichen die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie das Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Verbrauchsverhalten privater Haushalte in Deutschland Behinderungen weiterentwickeln – Das Brut- feststellt. Das ist die Basis, auf der wir die Regelsätze toprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und neu bemessen haben. Es ist gut, dass 16 Jahre nach der deutschen Einheit 1) Anlage 16 entschieden wurde, eine Grundlage für einheitliche Re- 2) Anlage 17 gelsätze in Ost- und Westdeutschland zu schaffen, 5276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) sodass sich in Zukunft ein einheitlicher Sozialhilfesatz Sozialhilfe bestreiten kann. Es ist ehrenwert, diese Ziele (C) in der Größenordnung von 345 Euro ergibt. Wir haben mit dem Änderungsgesetz zu erreichen. damit das nachvollzogen, was wir im Zweiten Buch So- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zialgesetzbuch praktiziert haben. Wir sind damit im Kern einer Empfehlung des Ombudsrates für das SGB II Uns ist ebenfalls wichtig, dass klargestellt wird, dass gefolgt und haben vor dem Hintergrund der Lebensver- auch die Empfänger von Grundsicherungsleistungen im hältnisse in Deutschland die Grundlage für eine gleiche Alter und bei Erwerbsminderung in diese Regelung ein- Praxis geschaffen. Die Bundesländer legen natürlich bezogen sind. weiterhin die Regelsätze fest. Sie sind wie in der Vergan- Über die Eckpunkte dieser Neuregelung gibt es er- genheit frei, regionale Unterschiede zu berücksichtigen freulicherweise Konsens zwischen dem Bund, allen und so Spielräume zu nutzen, wenn es um die Festset- Bundesländern und den kommunalen Spitzenverbän- zung der Regelsätze geht. Nochmals: Es ist gut, 16 Jahre den. Ich hoffe, dass dies auch bei der Umsetzung des nach der deutschen Einheit eine gesamtdeutsche Ver- einheitlichen Sozialhilfesatzes in Deutschland der Fall brauchsstruktur und einen einheitlichen Regelsatz fest- sein wird. zulegen. Wir vollziehen die deutsche Einheit nun auch in der Sozialhilfe nach, und das ist gut so. In diesem Sinne, glaube ich, wird die Sozialhilfe für die Menschen zielorientiert weiterentwickelt und in Ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) samtdeutschland einheitlich gestaltet. Sie wird damit ei- nen Beitrag zu einer gerechten Verteilung der Sozialleis- Seit der letzten Sozialhilfereform am 1. Januar 2005 tungen in diesem Land leisten. hat sich einiger Änderungsbedarf ergeben. Ich will auf zwei, drei Punkte eingehen, die dabei eine Rolle spielen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt beläuft sich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der Absetzbetrag bei Erwerbstätigkeit derzeit auf 30 Prozent des erzielten Einkommens, ohne Obergrenze. Dies führt bei hohen Hinzuverdiensten zu nicht zu recht- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: fertigenden hohen Absetzbeträgen. Um diesem Miss- Das Wort hat nun der Kollege Jörg Rohde für die stand zu begegnen, wird eine Kappungsgrenze in Höhe FDP-Fraktion. des halben Regelsatzes eingeführt. Ich denke, das ist ver- tretbar; denn die Sozialhilfe ist eine solidarische Leis- Jörg Rohde (FDP): tung aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP unterstützt, wo immer möglich und sinnvoll, (B) Im Rahmen der Eingliederungshilfe entsprechen wir die Maßnahmen zur Reduzierung öffentlicher Bürokra- (D) nun dem Grundsatz des Nachrangs und der Eigenverant- tie. Dies gilt selbstverständlich auch für den Bereich der wortlichkeit in der Sozialhilfe. Hiermit folgen wir einem Sozialgesetzgebung. Deshalb verweigern wir uns auch Votum der Länder, indem wir das Nettoprinzip einfüh- nicht, wie die Kolleginnen und Kollegen des Bündnis- ren, wie es bereits im Pflegebereich geschehen ist. Dies ses 90/Die Grünen, von vornherein kategorisch einer bedeutet, dass künftig die Leistungen, die der Berech- Umgestaltung des bislang praktizierten Bruttoprinzips in tigte von Dritten erhält, bei den Kosten bzw. Aufwen- der Eingliederungshilfe. Vielmehr werden wir uns dem- dungen, die zum Beispiel bei der Unterbringung in ei- nächst mit allen Verantwortlichen an einen Tisch setzen nem Heim anfallen, zu berücksichtigen sind. Der (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das muss verbleibende Teil wird dann vom Sozialhilfeträger im aber ein großer Tisch sein!) Wege der Eingliederungshilfe erbracht. Damit bleibt es im Kern dabei, dass der Betroffene wie bisher seine be- und nach dem besten Weg suchen, der den Interessen der darfsdeckenden Leistungen erhält. Wir stellen zudem si- Menschen mit Behinderung, der Einrichtungen und der cher, dass im Einzelfall wie bisher die erweiterte Hilfe Sozialhilfeträger am besten Rechnung trägt. gewährt werden kann. In der einen oder anderen Einrich- Maßnahmen zur Verwaltungsvereinfachung dürfen tung kann es zu Herausforderungen bei der Umstellung nicht ohne umfängliche Prüfung möglicher Konsequen- kommen. Deswegen soll diese gesetzliche Regelung erst zen zulasten Dritter durchgesetzt werden. Dies gilt ins- zum 1. Januar 2008 Praxis werden. besondere für die Einführung des Nettoprinzips in der Eine weitere Neuregelung ist für Ehepaare vorgese- Eingliederungshilfe. Nicht ohne guten Grund treten bis- hen, bei denen ein Partner aufgrund von Behinderung lang die Träger der Leistungen in Vorleistung. Dieses oder Pflegebedürftigkeit stationär betreut werden muss. Verfahren stellt sicher, dass notwendige Leistungen auch Bislang waren aufgrund einer komplexen und veralteten bei offenen Fragen einer eventuellen Kostenbeteiligung Heranziehungsvorschrift beispielsweise diejenigen Ehe- des Leistungsempfängers auf jeden Fall erbracht wer- paare ganz besonders schlecht gestellt, bei denen das den. Das Bruttoprinzip verhindert, dass noch ungeklärte Kostenbeteiligungsfragen auf dem Rücken des Leis- Einkommen überwiegend von dem weiterhin zu Hause tungsnehmers ausgetragen werden. Die Ausführung not- lebenden Ehepartner erzielt wurde. Das wird nun geän- wendiger Pflege-, Betreuungs- und Rehabilitationsmaß- dert. Wir favorisieren nun eine Regelung, die alle Er- nahmen ist sichergestellt. werbsbiografien von Ehepaaren gleichbehandelt und die dem zu Hause gebliebenen Ehepartner genügend finan- Selbstverständlich ist es zutreffend, dass die nachträg- zielle Mittel lässt, damit er seinen Lebensunterhalt ohne liche Einforderung von Kostenbeteiligung einen nicht zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5277

Jörg Rohde (A) unterschätzenden bürokratischen Aufwand für die Trä- wird offensichtlich mit einer politisch motivierten Re- (C) ger der Sozialhilfe darstellen kann. Auch rechtssystema- gelsatzbemessung gearbeitet. So weit ist es schon ge- tisch kann man eine Abschaffung des Bruttoprinzips in kommen. Erwägung ziehen, wenngleich der Vorwurf verloren ge- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Unerhört!) hender Rechtssicherheit, den das Bündnis 90/Die Grü- nen erhebt, sicher über das Ziel hinausschießt. Aber eine An diesem Punkt sollte man das Votum der Bundesrats- Übertragung der Bürokratie auf die die Leistung erbrin- ausschüsse ernst nehmen, die darauf verweisen, dass es gende Einrichtung und den Leistungsempfänger muss deutliche Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten in immer vor dem Hintergrund der Leistungsfähigkeit der Deutschland gibt. Eine Abkoppelung von diesen Realitä- Empfänger und Erbringer der Leistung gesehen werden. ten darf nicht stattfinden, Viele Menschen mit einer Behinderung sind nicht in der (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Lage, diese Angelegenheiten alleine für sich selbst zu re- Wollen Sie senken?) geln. Wenn Angehörige fehlen, die einspringen können, kann es für den Leistungsempfänger schwierig werden. so sehr sie aus Gründen der politischen Korrektheit auch Ich denke hier vor allem an Menschen mit einer geisti- erwünscht sein mag. Jedenfalls ist unter diesen Voraus- gen Behinderung oder an ältere Menschen mit einem setzungen die Forderung verfehlt, die Regelsätze auch Handicap. Viele von ihnen sind schon jetzt mit der noch über die bisherigen 345 Euro hinweg anzuheben. Durchsetzung ihrer Ansprüche überfordert. Das Einkommen der Vergleichsgruppe der Regelsatzbe- zieher ist in den letzten Jahren gesunken. Richtiger ist es (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP]) daher, den Ländern wie bisher die Möglichkeit zu geben, Der Gesetzentwurf will diesem Problem mit der Mög- die Regelsatzhöhe den regionalen Gegebenheiten anzu- lichkeit begegnen, dass in begründeten Fällen weiterhin passen. Ein gleicher Regelsatz bei höchst unterschiedli- die Vorleistungspflicht des Sozialhilfeträgers bestehen chen Verbrauchskosten je Region stellt eine ungerechte bleibt. Diese Formulierung wird aber innerhalb des Ge- Gleichbehandlung dar. Viele Menschen werden damit setzestextes nicht weiter spezifiziert. Erst in der Geset- schlechter gestellt, als sie es verdienen. zesbegründung wird näher erläutert, wann dies der Fall (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sein soll. Es sollte deshalb im Beratungsprozess der Vor- NEN]: Wollen Sie einen Absenkungswett- schlag der Lebenshilfe aufgegriffen werden, ob nicht lauf?) eine Einfügung des entsprechenden Begründungsteils in den Gesetzestext eine wünschenswerte Klarstellung leis- Um solch eine politische Willkür in Zukunft zu vermei- ten kann. den, sollte das Regelsatzfestlegungsverfahren mehr an tatsächlichen Zahlen wie der Lohnentwicklung ausge- (D) (B) (Beifall bei der FDP) richtet werden und weniger an zufälligen Prozentwerten Am Ende einer Änderung des Bruttoprinzips darf kein bestimmter Verbrauchsstrukturen. Ergebnis stehen, bei dem die Einrichtungen zur Kom- Ansonsten wird die Regelsatzfestlegung doch – wie pensation neuer Bürokratiekosten den Leistungsumfang nun in diesem Verfahren der Regelsatzverordnungsände- gegenüber Menschen mit Behinderung kürzen oder not- rung – zu etwas Willkürlichem, zu einer politischen wendige Leistungen von den Betroffenen wegen eines Farce. Die Festlegung der Regelsatzhöhe im Parlament zu hohen bürokratischen Aufwands nicht oder nicht würde zu einer Politisierung der Regelsatzfestlegung mehr in vollem Umfang in Anspruch genommen wer- führen. Besser ist aber eine Depolitisierung der Regel- den. Hier macht die FDP nicht mit. satzfestlegung. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Ich komme zu den geplanten Änderungen bei den Re- Die Koppelung der Regelsatzanpassung an die Verän- gelsätzen. Die Regelsatzbemessung ist seit Jahren ein derung des Rentenwertes kann beibehalten werden, da hoch umstrittener und ideologisch aufgeladener Punkt. sie sinnvoll ist. Einige Verbände und Parteien fordern eine deutliche Er- höhung, andere eine Absenkung oder ein Festhalten am Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bisherigen Satz. Die FDP will bei der Regelsatzbemes- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sung vor allem für die Zukunft eine ehrliche und transpa- Kollegen Weiß von der CDU/CSU-Fraktion? rente Bemessung erreichen (Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt denn Jörg Rohde (FDP): das?) Auch zu dieser späten Stunde, ja. und die Realitäten im Blick behalten. Mit der Anwen- dung der bisherigen Methodik der Regelsatzbemessung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wären die Regelsätze nach Angabe der Bundesregierung Herr Weiß, bitte. ab 2007 abzusenken. Mit der neuen Regelsatzverord- nung verändert man die Berechnungsmethodik aber so, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): dass im Westen genau die gleiche Regelsatzhöhe wie Eigentlich wollte ich keine Zwischenfrage stellen, um bisher herauskommt und in den neuen Bundesländern die Sitzung nicht unnötig zu verlängern. Herr Kollege die Regelsätze um 14 Euro erhöht werden können. Hier Rohde, wenn man sich zu den Regelsätzen aber so 5278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Peter Weiß (Emmendingen) (A) äußert, wie Sie es in Ihrer Rede getan haben, dann muss Katja Kipping (DIE LINKE): (C) ich Sie einfach Folgendes fragen: Ist Ihnen bekannt, dass Lieber Kollege, können Sie sich vorstellen, den Kol- man damals das Warenkorbprinzip abgeschafft hat? Ist legen Weiß darauf hinzuweisen, dass wir bei allen Erör- Ihnen bekannt, dass sich die Einkommens- und Ver- terungen über Vorzüge und Nachteile von Warenkorb brauchsstichprobe – sie ist keine politische Größe – und Statistikmodell jetzt in der schlimmen Situation schlichtweg am Verbrauchsverhalten derjenigen orien- sind, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer tiert, die, was das Einkommen angeht, zu den unteren weiter auseinander geht und dass deswegen die alleinige 20 Prozent in Deutschland gehören? Man wollte nämlich Orientierung am ärmsten Fünftel der Bevölkerung auto- eine unpolitische und nicht manipulierbare Größe zur matisch dazu führt, dass es eine Spirale nach unten gibt Festsetzung des Regelsatzes finden. Wollen Sie diese, und dass die Verarmung vorangetrieben wird? wie ich finde, sachlich-fachlich gute Regelung wirklich infrage stellen und durch etwas anderes ersetzen? Jörg Rohde (FDP): Ich kann mich Ihrer Vorstellung nicht anschließen, den Kollegen Weiß in dieser Richtung zu beraten. Jörg Rohde (FDP): Herr Kollege Weiß, Sie haben Recht, wenn Sie sagen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dass es einen Warenkorb gibt, dessen Zusammensetzung Trotzdem bin ich über die Ergebnisse der Regelsatz- außerhalb des Parlaments festgelegt wird. Sie haben bemessung verwundert. Ich bin auf die morgigen Bera- auch Recht, wenn Sie sagen, dass es sich dabei um eine tungen im Ausschuss gespannt. gute Größe handelt. Nur verwundert es mich zutiefst, dass die Berechnungsgrundlage im Vergleich zu 1998 Da wohl kein weiterer Wunsch nach einer Zwischen- und zu 2003 geändert wurde und dass im Westen am frage besteht, versuche ich jetzt, mit meinem Redetext Ende exakt derjenige Wert herauskam, der bis dahin ge- zum Ende zu kommen. golten hatte. Im SGB XII werden Zuverdienst und Vermögen stärker angerechnet als beim ALG II. Beispielsweise (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja, das ist nun bleiben beim Zuverdienst nur 30 Prozent anrechnungs- einmal so!) frei. Grund dafür ist nach Angabe der Bundesregierung, Bei der letzten Festlegung, 1998 – damals begann die dass Menschen mit SGB-XII-Bezug grundsätzlich stär- politische Debatte darüber –, wurde politisch ein Regel- ker und dauerhafter auf die Unterstützung der Gemein- satz festgelegt, der über den ermittelten Sätzen lag. Ich schaft angewiesen sind als erwerbsfähige Bezieher von wiederhole: Dieses Mal ist es exakt derjenige Betrag, der ALG II. Allerdings übersieht eine solche Argumenta- bis dahin gegolten hatte, nämlich 345 Euro. Das verwun- tion, dass unter das SGB XII auch Menschen fallen, die nur zeitweise völlig erwerbsgemindert sind. Zudem (D) (B) dert mich und deswegen unterstelle ich ein wenig, dass übersieht eine solche Bestimmung, dass Menschen im man an den Stellschrauben gedreht hat. dauerhaften SGB-XII-Bezug in bestimmten Werkstätten (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe unter bestimmten Bedingungen Arbeiten verrichten kön- [CDU/CSU]: Wir haben einfach eine gute nen und dafür etwas Geld erhalten. Diese Motivation Bundesregierung!) sollte ihnen nicht genommen werden. Das SGB-XII-Änderungsgesetz sollte hier verbes- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: serte Zuverdienstmöglichkeiten schaffen. Zudem sollte für den Fall nur zeitweiser vollständiger Erwerbsminde- Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- rung darüber nachgedacht werden, die Vermögensan- frage des Kollegen Weiß? rechnung den Regeln des SGB XII anzugleichen. Ich komme zum Schluss. Positiv wäre ebenfalls, die Jörg Rohde (FDP): von den Bundesratsausschüssen vorgeschlagene Pau- Nein. Wir haben morgen um 8 Uhr eine Ausschusssit- schalierung von einmaligen Leistungen auch für Bezie- zung. Dann können wir darüber gemeinsam weiterdisku- her stationärer Leistungen umzusetzen. Dafür könnte die tieren. Bemessungsgrundlage für den Barbetrag um 2 Prozent- punkte angehoben werden. Dies wäre ein sinnvoller Bei- Die Koppelung der Regelsatzanpassung an die – – trag für die Entlastung von Verwaltungsaufwand und würde zugleich den Betroffenen helfen, mit den finanzi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ellen Belastungen besser zurechtzukommen, die für sie Herr Kollege, Entschuldigung, dass ich Sie noch ein- durch die Gesetzesänderungen, etwa im Gesundheitswe- mal unterbreche. Es gibt einen weiteren Wunsch nach ei- sen, in den letzten Jahren entstanden sind. ner Zwischenfrage, nämlich der Kollegin Kipping. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) Jörg Rohde (FDP): Na gut, ich kann mich ja gleich revanchieren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort der Kollege Max Straubinger für Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die CDU/CSU-Fraktion. Frau Kipping, bitte. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5279

(A) Max Straubinger (CDU/CSU): (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Gibt es denn in München mehr?) Wir beraten heute den Entwurf zur Änderung des Zwölf- oder ob ich in Niederbayern oder an der polnischen ten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze in ers- Grenze wohne; denn dort sind die Lebenshaltungskosten ter Lesung. Das ist Ausdruck dessen, dass die große etwas anders. Deshalb ist es meines Erachtens richtig, Koalition nach 16 Jahren – der Parlamentarische Staats- dass Anpassungsmöglichkeiten gegeben sind. sekretär hat bereits darauf hingewiesen – in diesem Be- reich endlich eine Angleichung vornimmt und keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West macht. Es ist Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: auch richtig, dass wir zukünftig einen einheitlichen Sozi- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des alhilfesatz von 345 Euro haben. Kollegen Kurth?

(Beifall bei der CDU/CSU) Max Straubinger (CDU/CSU): Wir werden damit unserer sozialpolitischen Verant- Ja. wortung gerecht. Es ist ohne Zweifel richtig: Wir stehen bei den Menschen, die in Not geraten sind und sich nicht Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): selbst helfen können, in der Pflicht, ihnen soziale Sicher- Kollege Straubinger, Sie sprachen davon, dass die Le- heit und Unterstützung zu geben. Dem wird hier in rich- benshaltungskosten in München höher sind als an- tiger Weise Rechnung getragen. derswo. Das ist zweifellos richtig. Ist es denn auch so, dass in München ein höherer Regelsatz als 345 Euro ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zahlt wird und von der Möglichkeit der regionalen An- Wir nehmen eine großzügige Anpassung vor. Vorher passung der Regelsätze nach oben Gebrauch gemacht war bereits von der Einkommens- und Verbrauchsstatis- wird, oder ist es nicht vielmehr so, dass in der Regel nur tik die Rede. Wir passen die Regelungen den neuen Ge- abgesenkt wird? gebenheiten an und bestimmen die Parameter neu. Wenn wir die alten zugrunde gelegt hätten, wäre es gegenüber Max Straubinger (CDU/CSU): den geltenden Sätzen zu einer Absenkung gekommen. Es ist richtig, dass in Bayern der Regelsatz von Auch dies zeigt, dass CDU/CSU und SPD sowie die 345 Euro in zehn Städten, in München, in Nürnberg und Bundesregierung ihre sozialpolitische Verantwortung weiteren Städten, eingehalten wird und dass in den wahrnehmen. Landkreisen, also in den ländlichen Regionen, ein um Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich hier 10 Euro geringerer Sozialhilfesatz zugrunde gelegt wird. (B) (D) um eine staatliche Leistung handelt, die von den Steuer- Das ist meines Erachtens durchaus sachgerecht und ver- bürgern erwirtschaftet wird und auf die Menschen be- tretbar. Ich kann nur feststellen, dass in Bayern die so- grenzt werden muss, die tatsächlich in Not geraten sind ziale Situation der Menschen, die dieser Hilfe bedürfen, und sich nicht selbst helfen können. genauso gewährleistet ist wie in anderen Bundesländern. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Lin- Da es natürlich sehr viele Wünsche gibt, müssen wir ken: In Ewigkeit, amen!) abwägen. Ich halte nichts davon, dass wir den Menschen in Deutschland weit höhere Sätze versprechen, wie das Verehrte Damen und Herren, mit diesem Gesetzent- im Antrag der Linken vorgesehen ist. Mit 420 Euro fast wurf wird auch die EU-Richtlinie 2004/38/EG umge- eine Rundumversorgung zu gewähren, ist meines Erach- setzt und nun entsprechend der Regelung des SGB II tens illusorisch; nun auch im SGB XII ein Ausschluss von Leistungen für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem (Inge Höger-Neuling [DIE LINKE]: Machen Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie für deren Famili- Sie es doch mal vor, mit 420 Euro zu leben!) enangehörige vorgesehen. Das ist sachgerecht, weil an- die Heizkosten und die Unterkunftskosten kommen ja gesichts der begrenzten Finanzmittel auch darauf zu ach- noch hinzu. Das ist auch unter haushalterischen Ge- ten ist, dass Sozialtourismus kein Vorschub geleistet sichtspunkten nicht zu leisten. wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ich würde mir wünschen, dass auch die Vorschläge Klaus Brandner [SPD]: Aber wir machen auch des Bundesrates noch in den Gesetzentwurf einfließen. keine niedrigeren Sätze!) Im Gesetzgebungsverfahren werden wir diese sicherlich noch diskutieren. Meines Erachtens wäre es gerechtfer- – Wir machen auch keine niedrigeren Sätze; das ist über- tigt, diese mitaufzunehmen. haupt keine Frage. – Aber 420 Euro im Monat zu gewäh- ren, ist eine utopische Vorstellung, die möglicherweise Lassen Sie mich zum Schluss auf einen der Hauptdis- nur in manchen Wahlkämpfen begründet ist. kussionspunkte der letzten Zeit eingehen, nämlich auf das auch im Gesetzentwurf enthaltene Vorhaben, vom Es ist sicherlich sachgerecht, bei der Anwendung der bisher geltenden Bruttoprinzip auf das Nettoprinzip Sätze die regionalen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. umzustellen. Das Bruttoprinzip sorgt bisher dafür, dass Bayern macht bisher als einziges Bundesland von dieser die Sozialhilfeträger die Hilfe zunächst auch insoweit Möglichkeit Gebrauch. Es ist eben ein Unterschied, ob gewähren, als dem Leistungsberechtigten das Aufbringen ich in München, oder Düsseldorf wohne der Mittel aus Einkommen und Vermögen zuzumuten ist. 5280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Max Straubinger (A) Beim Nettoprinzip erfolgt, vereinfacht gesagt, vonseiten entsprechend zu entscheiden. Ich bin davon überzeugt, (C) des Sozialhilfeträgers nur noch die Zahlung des entspre- dass wir in den kommenden Wochen die Gelegenheit chenden, von ihm nach Prüfung zu zahlenden Anteils. nutzen werden, nicht nur mit den Einrichtungen zu spre- Das hätte zur Folge, dass die Einrichtungsträger künftig chen, sondern uns darüber hinaus sehr intensiv auch mit nicht mehr ausschließlich mit dem Sozialhilfeträger ab- dieser Frage zu beschäftigen. Ich denke, in diesem Sinne rechnen müssten, sondern beispielsweise auch direkt mit können wir die Beratungen aufnehmen. dem Heimbewohner. (Beifall bei der CDU/CSU) Was spricht für die Einführung eines so genannten Für mich ist das Entscheidende, dass die Menschen Nettoprinzips? Zunächst sicherlich, dass es dieses be- mit Behinderung in Zukunft sicher sein können, die ent- reits im Bereich der Pflege gibt. Der Herr Staatssekretär sprechenden Leistungen zu bekommen, die es ihnen er- hat darauf hingewiesen. Auch ordnungspolitische Erwä- lauben, ein möglichst gutes Leben zu führen. Wichtig ist, gungen sind nicht von der Hand zu weisen: Jeder Betei- dass ihnen hierzu von staatlicher Seite die entsprechende ligte soll sich um die eigenen Zahlungsströme kümmern Unterstützung gegeben wird. und die mit einseitigen staatlichen Vorleistungen verbun- denen Rückholrisiken werden vermieden. Das scheint Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. im Hinblick auf das im Sozialhilferecht verankerte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nachrangprinzip gerechtfertigt. Des Weiteren wird von neten der SPD) den Befürwortern des Nettoprinzips vorgebracht, dass mit einer größeren Transparenz der Zahlungsströme Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: auch eine Stärkung der Eigenverantwortung und Selbst- Das Wort hat nun die Kollegin Katja Kipping von der bestimmung – unter Zugrundelegung des Gedankens des Fraktion Die Linke. persönlichen Budgets – des behinderten Menschen bzw. seiner Betreuungsperson einhergehe. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie tritt jetzt wieder (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zur Sozialolympiade an: Schneller, höher, wei- Auch verwaltungstechnische Erleichterungen auf staatli- ter!) cher Seite sind nicht von der Hand zu weisen. Katja Kipping (DIE LINKE): Andererseits, werte Kolleginnen und Kollegen, führt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr die Einführung des Nettoprinzips zu mehr Verwaltungs- Straubinger, wenn Sie ernsthaft 420 Euro im Monat als und Kostenaufwand aufseiten der Einrichtungsträger. Rundumversorgung bezeichnen, kann ich nur sagen: Sie (B) (Jörg Rohde [FDP]: So ist es!) haben wohl noch nicht von 420 Euro im Monat leben (D) und damit auskommen müssen. Diese Frage muss natürlich auch ins Kalkül gezogen werden. Die doppelte Abrechnung mit Heimbewohnern (Beifall bei der LINKEN – Rolf Stöckel und Sozialhilfeträgern wird womöglich zu einer länge- [SPD]: Das ist doch nur der Regelsatz, Frau ren Bearbeitungsdauer führen, da ja vorgeschaltete Ein- Kipping! Das ist nur die halbe Wahrheit! – kommens- bzw. Vermögensprüfungen durchzuführen Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Erzählen sind. Ob dagegen auf staatlicher Seite entsprechende Sie, was dazukommt!) Kostenersparnis und weniger Bürokratieaufwand ver- Die Höhe ist natürlich viel zu niedrig bemessen. Sie zeichnet werden können, wird von den Kritikern bezwei- wissen genau, dass wir uns, wenn wir von 420 Euro re- felt. Diesen Punkt müssen wir noch sehr nachhaltig hin- den, auf solide Berechnungen vom Paritätischen Wohl- terfragen. fahrtsverband stützen. Bei 420 Euro geht es noch nicht um ein Leben in Wohlstand, da geht es lediglich darum, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- dass das Existenzminimum abgesichert ist. wie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN – Rolf Stöckel [SPD]: Das hätten manche Arbeitnehmer Es sind ja möglicherweise sehr viele Sozialhilfefälle be- gern!) troffen. Bei diesen müsste dann eine Doppelprüfung stattfinden, zum einen durch den Heimträger und zum Das zweite Problem ist – das wissen Sie genauso gut anderen durch die staatlichen Stellen. Die Frage, ob da- wie wir –, dass der Regelsatz in seiner weiteren Ent- mit dann überhaupt etwas gewonnen wäre, muss in die wicklung an den Rentenwert gekoppelt ist. Der Renten- Überlegungen einbezogen werden. wert aber ist an die Lohnentwicklung gekoppelt. Da frage ich Sie, meine Damen und Herren von SPD und Deshalb hat sich auch der Freistaat Bayern dieser Pro- CDU/CSU, wer von Ihnen bereit wäre, 420 Euro darauf blematik angenommen und im Bundesrat einen entspre- zu verwetten, dass der Rentenwert in den nächsten Jah- chenden Antrag zur Beibehaltung des Bruttoprinzips ren steigen wird. Findet sich hier jemand im Raum, der eingebracht, der von vom Land Rheinland-Pfalz unter- dazu bereit wäre? Nein, und ich glaube, Sie sind gut be- stützt wurde. Hier hatte man ebenfalls die Überlegung raten, diese Wette nicht einzugehen. angestellt, ob die geplante Umstellung praktikabel ist. Ein weiteres Problem ist, dass die Verbrauchs- Ich glaube, dass wir aufgerufen sind, diese Frage in ermittlung auf Daten aus dem Jahr 2003 basiert. 2003 den Beratungen sehr intensiv zu beleuchten und dann gab es aber noch keine Mehrwertsteuererhöhung; 2003 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5281

Katja Kipping (A) gab es noch keine hohen Zuzahlungen und die Praxisge- Weitere Verschlechterungen gibt es bei Ausländerin- (C) bühr. Das heißt, der Regelsatz basiert auf alten Zahlen. nen und Ausländern. Die Einschränkung, die Sie hier Der Regelsatz bleibt die ganze Zeit über gleich niedrig, vornehmen, zeigt einmal mehr, wie doppelbödig Ihre die Kosten aber, die die Leute zu decken haben, wandern Europapolitik ist. Wenn es um die Liberalisierung der munter nach oben. Märkte geht, dann kennt die Freizügigkeit keine Gren- zen. Aber wenn es um Menschen geht, dann wollen Sie Im Volksmund gibt es eine Skepsis gegenüber Sta- von Freizügigkeit nichts mehr wissen. tistiken. Bei der EVS, der Einkommens- und Ver- brauchsstichprobe, zumindest bei der alten, ist diese 345 Euro soll der Regelsatz nun betragen. Damit wird Skepsis mehr als berechtigt. So hatte man bei der Be- Armut nicht bekämpft; damit wird Armut zementiert. rechnung der Bedarfe einfach einmal mit dem Hinweis (Beifall bei der LINKEN) darauf einen Abschlag vorgenommen, es könnten sich ja unter den Verbrauchen des ärmsten Fünftels der Bevöl- Wäre es nach so manchem CDUler oder so manchem kerung Pelze und Segelboote befinden. In was für einer Sachverständigen gegangen, würde der Regelsatz noch Traumwelt muss man leben, wenn man ernsthaft an- niedriger ausfallen. Dass er bei 345 Euro bleibt, dazu ha- nimmt, dass das ärmste Fünftel der Gesellschaft Pelze ben auch die immer wieder kritischen Nachfragen von- trägt und Segelyachten besitzt! seiten meiner Fraktion und der Druck von der Straße bei- getragen. (Rolf Stöckel [SPD]: Das war doch einmal!) Wir werden den hier vorliegenden Gesetzentwurf kri- – Dieser eklatante Fehler ist jetzt behoben worden, das tisch begleiten. Wir haben einen eigenen Antrag dazu stimmt. eingebracht. Denn uns ist bekannt: 7,5 Millionen Men- schen in diesem Land sind angewiesen auf die Leistun- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Aber Sie gen im Rahmen des SGB XII und des SGB II. müssen das noch einmal erwähnen! Das passt so richtig!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Natürlich muss man Ihre Fehler erwähnen, weil nur Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. das Hinweisen auf Fehler überhaupt dazu führt, dass Sa- chen nachgebessert werden. Wenn wir und die Wohl- Katja Kipping (DIE LINKE): fahrtsverbände nicht immer darauf hingewiesen hätten, Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. wäre dieser Fehler von Ihnen bestimmt noch nicht beho- ben worden. Herr Straubinger und Herr Weiß, bei allen Erörterun- gen über statistische Effekte dürfen wir eines nicht aus (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) den Augen verlieren: Der Regelsatz, den wir hier festle- gen, wirkt sich ganz konkret auf die Lebenssituation von Ein weiteres Problem ist, dass beim Regelsatz immer 7,5 Millionen Menschen in diesem Lande aus. noch Abschläge angebracht werden und dann vor allem in den Bereichen Bildungsmaterialien, Nachrichtenüber- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. mittlung und Verkehr. Dabei müssen gerade Erwerbslose (Beifall bei der LINKEN) heutzutage agil, mobil und bestens informiert sein, um sich auf die schwere Suche nach einem Arbeitsplatz ma- chen zu können. Mit Ihren Abschlägen beeinträchtigen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie das enorm. Nun hat der Kollege Markus Kurth das Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. (Rolf Stöckel [SPD]: Wir reden jetzt aber gar nicht darüber! Sie sind beim SGB II, nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beim SGB XII!) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lassen sie mich auf ein weiteres Problem hinweisen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Umstellung auf das Nettoprinzip bei Eingliede- Mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf schlägt die rungshilfen. Das klingt erst einmal ganz technokratisch Bundesregierung eine Vielzahl von Änderungen im So- und harmlos. Aber viele Wohlfahrtsverbände weisen zialhilferecht vor. Nicht alle Änderungen sind schlecht. darauf hin, dass das zu einem enormen Problem werden Aber ich werde die Bundesregierung erst loben, wenn wird und dieses Vorhaben das Ziel, Menschen mit Be- wir über diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritter Be- hinderung bei der Suche nach Arbeit, bei der Eingliede- ratung zu einer hoffentlich christlicheren Zeit beraten. rung, schnellstmöglich Hilfe zukommen zu lassen, kon- terkariert. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das merken wir uns!) Was sich hinter diesem technokratischen Begriff ver- Dann werden auch mehr Menschen zuhören können. birgt, ist im Grunde nichts weiter, als dass Verwaltungs- arbeit, die vorher von sachkundigen Sachbearbeitern ge- Ich möchte mich jetzt auf zwei Kritikpunkte konzen- leistet wurde, jetzt outgesourct wird, wodurch Menschen trieren. In einem von uns eingebrachten Antrag haben mit Beeinträchtigungen, also Menschen, die eh schon in wir die Kritik am Regelsatz wiederholt. Dieser Regelsatz ihren Kapazitäten eingeschränkt sind, besonders betrof- wird nicht hier im Hause beschlossen, sondern per fen werden. Rechtsverordnung zwischen Bund und Ländern. Wir 5282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

Markus Kurth (A) stellen gleichwohl nach wie vor Schwächen bei der Sys- dern, die erst vor drei Tagen von der Staatssekretärin im (C) tematik des Regelsatzes fest. Wir bestehen darauf, dass Bundesgesundheitsministerium vorgestellt wurde, fest- darüber hier diskutiert wird und dass diese Schwächen gestellt, dass bei 27 Prozent der Kinder aus sozial beseitigt werden. Man sollte allerdings nicht vollmundig schwachen Familien Fehlernährung vorliegt. Hierauf versprechen, dass am Ende ein Betrag in Höhe von muss mithilfe des Sozialhilferechtes reagiert werden. 420 Euro herauskommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Man sollte aber auf die Schwächen hinweisen, die in Rolf Stöckel [SPD]: Dann muss der Staat aber der Bemessung des Regelsatzes liegen. Denn es ist kei- direkt in die Betreuung investieren!) neswegs so, dass es sich hier um ein rein objektives Ver- Über das Bruttoprinzip werden wir sicherlich im fahren handelt. Der Kollege Weiß versuchte vorhin in Rahmen des Ausschusses noch einmal diskutieren. Auch seiner Zwischenfrage an Herrn Rohde zu suggerieren, dazu haben wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt, dass mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ein den ich nicht mehr in Gänze darstellen kann. Ich sage al- objektiver wissenschaftlicher Maßstab gegeben sei. Man lerdings abschließend eines: Wir müssen sehr darauf muss sehen, dass danach im Wesentlichen politisch be- achten, dass wir nicht mithilfe des Sozialhilferechts gründete Abschläge bei den einzelnen Verbrauchsposi- genau das, was wir im Sozialgesetzbuch IX, im Behin- tionen vorgenommen werden. Einige hat Frau Kipping dertenrecht, wollten, nämlich Hilfe aus einer Hand, kon- genannt. Frau Kipping, man kann Ihren Antrag in vielen terkarieren. Hier muss man sehr aufpassen. Herr Punkten kritisieren; aber an dieser Stelle haben Sie Straubinger hat auf ein paar Schwachpunkte hingewie- Recht. sen. Ich möchte den Stromverbrauch als ein Beispiel nen- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Guter nen. Auf die Bezugsgröße, für die die 20 Prozent mit Mann, der Straubinger!) dem geringsten Einkommen die Grundlage bilden, wird ein Abschlag von 15 Prozent vorgenommen. Man kann Ich hoffe, dass wir hier zu guten Korrekturen kommen. nicht nachvollziehen, wieso jemand, der langzeitarbeits- Vielen Dank. los ist – für diese Menschen ist der Regelsatz ebenfalls relevant –, oder ein Sozialhilfeempfänger 15 Prozent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weniger Strom verbraucht. Weil sich diese Personen län- ger zu Hause aufhalten, könnte man annehmen, dass sie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mehr Strom verbrauchen. Hier muss politisch nachge- Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort steuert werden. Wir müssen die Regelsatzberechnung, die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die Fraktion der die auch für steuerliche Freibeträge wichtig ist, auf eine (B) SPD. (D) solide Grundlage stellen. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Meiner Auffassung nach brauchen wir dringend Öff- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nungsklauseln, wenn wir sehen, dass es in Härtefallbe- Die Sozialhilfe nach dem SGB XII ist das unterste so- reichen Defizite gibt. Diese Fälle tauchen weniger im ziale Netz. Natürlich sind 345 Euro im Monat – das ist Bereich der Sozialhilfe auf als im Bereich des ganz klar, Frau Kollegin Kipping – nicht viel Geld, wenn Arbeitslosengeldes II, und dort insbesondere im Bereich man damit haushalten muss. Das ist überhaupt keine der Kinder und Jugendlichen. Da gibt es Schwächen bei Frage. Sie haben aber vergessen, in Ihrer Rede darauf der Versorgung mit Lernmitteln. Das ist ein Versäumnis hinzuweisen, dass die Menschen nicht allein von diesen der Länder, wobei die Sozialhilfeträger und die SGB-II- 345 Euro im Monat leben müssen. Träger keine Möglichkeit haben, korrigierend einzugrei- fen. Es soll zwar keine rechtlichen Verpflichtungen ge- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Richtig! ben; aber zumindest die Möglichkeit sollte eröffnet wer- So ist das!) den, Schülerinnen und Schüler zum Beispiel mit Zusätzlich werden natürlich von den Sozialhilfeträgern Schulbüchern zu versorgen. Darauf sollten wir achten. die Heizkosten, die Miete und zusätzliche Bedarfe über- nommen. Eine Reihe von Wohlfahrtsverbänden haben im Hin- blick auf die Teilnahme an Schulspeisungen vorge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schlagen, den Betrag der häuslichen Ersparnis für die Schulspeisung einzusetzen, es aber dem Sozialhilfeträ- Es ist gut, dass wir die Sozialhilfe haben. Sie dient der ger zumindest zu ermöglichen, den darüber hinaus ge- Sicherung der Existenz der Menschen in Deutschland. henden Betrag zu erstatten, damit Kinder und Jugendli- Ich bin froh, dass es sie in Deutschland gibt. Wir werden che in den Genuss des Essens in der Schule oder in der alles dafür tun, sie zu erhalten. Kindertagesstätte kommen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und der parallel laufenden Regelsatzanpassung passen wir den Regelsatz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Sozialhilfe, also die Basisleistung zur Existenzsiche- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) rung, an die Ergebnisse der letzten Einkommens- und Das Robert-Koch-Institut hat in einer viel beachteten Verbrauchsstichprobe an. Die EVS hat ergeben: Ost ersten großen Langzeitstudie zur Gesundheit von Kin- und West wachsen weiter zusammen. Das ist gut so. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5283

Gabriele Hiller-Ohm (A) Deshalb wird der Sozialhilferegelsatz künftig bundes- legin Kipping möchte noch eine Zwischenfrage stellen. (C) weit einheitlich 345 Euro betragen. Das Gesetz be- Gestatten Sie sie noch? schränkt sich – wir haben es schon vom Staatssekretär gehört – nicht nur auf diese Regelsatzanpassung, son- (Birgit Homburger [FDP]: Nein!) dern beinhaltet weitere wichtige Änderungen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ich greife eine heraus: die Anrechnung des befristeten Ich möchte jetzt gern zum Schluss kommen. Zuschlags beim Arbeitslosengeld II. Sie wird neu gere- gelt. Wenn also ein Partner Arbeitslosengeld II und der Die angebotene Heraufsetzung des Barbetrages um andere Partner Leistungen nach dem SGB XII erhält, 2 Prozentpunkte würde die Länder etwa 30 Millionen wird der Zuschlag künftig nicht mehr gegengerechnet. Euro kosten. Die als Gegenleistung verlangten Strei- Für viele Sozialhilfe empfangende Menschen bedeutet chungs- und Kürzungsforderungen würden den Ländern dies eine deutliche Besserstellung. und Kommunen hingegen eine Entlastung von rund 200 Millionen Euro bringen. Hier gibt es also eine deut- Die meisten Änderungen im Gesetz sind bei Betroffe- liche Schieflage zulasten der Sozialhilfebezieher. Dies nen und Verbänden relativ unumstritten. Wir haben es werden wir auf keinen Fall so mittragen. Die Länder be- aber schon erlebt: Anders sieht es bei der beabsichtigten treiben hier ein falsches Spiel. Sie tun so, als wollten sie Umstellung vom Brutto- auf das Nettoprinzip bei der die Lage der Sozialhilfebezieher in Heimen verbessern; Eingliederungshilfe aus. Hierzu liegt uns ein Antrag der in Wirklichkeit wollen sie bei ihnen sparen. Das werden Grünen vor, die einen Verzicht auf diese Umstellung for- wir nicht mitmachen. dern. Auch ich sehe hier noch Diskussionsbedarf. Wir haben das in unserer Fraktion noch nicht ausdiskutiert. Dies ist heute die erste Lesung. Es wird eine Anhö- Dazu wird eine Anhörung stattfinden. In dieser Anhö- rung geben. Wir werden Zeit haben, uns auszutauschen. rung wird es die Gelegenheit geben, zu prüfen, ob diese Ich freue mich darauf. Umstellung zumutbar ist oder ob sie möglicherweise ne- Als letzte Rednerin wünsche ich Ihnen einen schönen gative Auswirkungen auf betroffene Menschen in den Abend. Heimen haben wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Uns liegen auch zwei Anträge zu Einkommens- und Verbrauchsstichproben von den Grünen und von der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Linksfraktion vor. Ich finde das schon spannend: Sie for- Ganz so weit sind wir noch nicht. Die Kollegin dern eine deutliche Anhebung des Regelsatzes. Natür- Kipping hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet. lich würde auch ich mich freuen, wenn wir das erreichen (D) (B) würden. Die Antragsteller bleiben aber die Antwort schuldig, wie das angesichts der finanziellen Lage der Katja Kipping (DIE LINKE): Länder und Kommunen bezahlt werden soll und vor al- Ich möchte Ihnen hiermit nicht das Recht auf das len Dingen, wie wir hierfür eine Mehrheit im Bundesrat letzte Wort streitig machen. Sie haben zu Recht eingefor- erreichen können. So einfach kann Opposition sein. dert, dass gesagt wird, wie die Umsetzung entsprechen- der Vorschläge finanziert werden soll. Ich möchte nur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) darauf hinweisen, dass wir ein eigenes Steuerkonzept er- arbeitet haben, das darauf abzielt, die Finanzierung unse- Auch der Bundesrat hat sich in seiner Sitzung am rer Vorhaben, etwa die Anhebung des Regelsatzes auf letzten Freitag mit dem Gesetzentwurf befasst. Ich finde 420 Euro, zu gewährleisten. Das Konzept sieht verschie- es ausgesprochen gut, dass die Angleichung der Sozial- dene Einnahmen durch eine andere Einkommensteuer, hilfe in Ost und West nicht mehr infrage gestellt wurde. eine andere Vermögensteuer und eine Börsenumsatz- Das sah anfangs etwas anders aus: Einige Bundesländer steuer vor, die für die Finanzierung so wichtiger Maß- wollten offensichtlich hier im Vorwege das Rad zurück- nahmen wie der Erhöhung der Regelsätze notwendig drehen. Das ist jetzt aus der Welt. sind. Das zweite wichtige Signal, das der Bundesrat gegeben Danke für Ihre Aufmerksamkeit. hat: Sozialhilfe empfangende Menschen in Heimen sollen endlich eine Entschädigung für den Wegfall der Weih- (Beifall bei der LINKEN) nachtsbeihilfe erhalten. Der Bundesrat schlägt dazu eine Anhebung des Barbetrages für Sozialhilfe empfangende Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Heimbewohner von 26 auf 28 Prozent des Eckregelsatzes Frau Kollegin, wollen Sie antworten? vor. Es wäre schön, wenn es dazu käme. Allerdings wer- den von den Ländern Kompensationsforderungen ge- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: stellt, die derart hoch sind, dass sie in keinem Verhältnis Nein!) zu der angebotenen Anhebung des Barbetrages um 2 Prozentpunkte stehen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ja. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unter- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: breche. Sie sind zwar am Ende Ihrer Redezeit; aber Kol- Bitte sehr. 5284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Überweisungsvorschlag: (C) Frau Kipping, wir werden über die Steuerpolitik spre- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss chen. Die Unternehmensteuerreform liegt vor uns. In Ausschuss für Arbeit und Soziales diesem Zusammenhang werden wir über neue Formen Ausschuss für Gesundheit der Umverteilung sprechen. Hinsichtlich der Erbschaft- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und der Vermögensteuer sind wir im Moment nicht Ausschuss für Bildung, Forschung und handlungsfähig, da noch ein Urteil des Bundesverfas- Technikfolgenabschätzung sungsgerichts aussteht. Wenn das Urteil gefallen ist, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana werden wir darüber sprechen. Golze, Dr. Barbara Höll, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Frau Kipping, ich bin schon sehr erstaunt, für was al- les Sie die Einnahmen aus einer Erbschaft- und Vermö- Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten – Kin- gensteuer verbrauchen wollen. derarmut wirksam bekämpfen (Zustimmung bei der CDU/CSU – Gitta – Drucksache 16/2077 – Connemann [CDU/CSU]: Dreifach und vier- Überweisungsvorschlag: fach, Frau Kipping!) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Finanzausschuss Das ist wirklich enorm! So hoch können die Steuersätze Ausschuss für Arbeit und Soziales gar nicht sein, als dass das Geld für alles, wofür Sie es einsetzen wollen, reichen könnte. Die Rechnung können Die Kolleginnen und Kollegen Thomas Dörflinger, Sie uns an anderer Stelle einmal aufmachen. Marlene Rupprecht, Diana Golze, Ina Lenke und Ekin Deligöz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Inter- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Druck- sache 16/2754 zu Tagesordnungspunkt 28 a zur feder- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: führenden Beratung an den Ausschuss für Familie, Se- Ich schließe die Aussprache. nioren, Frauen und Jugend und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Arbeit und Sozia- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen les, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für auf den Drucksachen 16/2711, 16/2751, 16/2750 und Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie an den Aus- 16/2743 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schüsse vorgeschlagen. Zu dem Gesetzentwurf der Bun- schätzung zu überweisen. Die Vorlage auf Druck- desregierung auf Drucksache 16/2711 liegt inzwischen sache 16/2077 zu Tagesordnungspunkt 28 b soll an die die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellung- (B) in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwie- (D) nahme des Bundesrates auf Drucksache 16/2753 vor, die sen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist an dieselben Ausschüsse wie der Gesetzentwurf über- nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- wiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich schlossen. sehe, das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf: ordnung. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Dörflinger, Thomas Bareiß, Antje Blumenthal, destages auf morgen, Freitag, den 29. September 2006, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der 9 Uhr, ein. CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Clemens Bollen, Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und Abend. der Fraktion der SPD Die Sitzung ist geschlossen. Öffentliche Verantwortung wahrnehmen – (Schluss: 20.52 Uhr) Mit fairen Chancen Kinder stark machen – Drucksache 16/2754 – 1) Anlage 18 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5285

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom Liste der entschuldigten Abgeordneten 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich 17. September 2004, 1623 (2005) vom 13. Sep- tember 2005 und 1707 (2006) vom 12. Septem- ber 2006 des Sicherheitsrates der Vereinten Bär, Dorothee CDU/CSU 28.09.2006 Nationen Bellmann, Veronika CDU/CSU 28.09.2006 Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Der geplanten Fortset- Connemann, Gitta CDU/CSU 28.09.2006 zung und Verlängerung des Afghanistaneinsatzes deut- scher Streitkräfte um ein Jahr werde ich trotz grundsätz- Deittert, Hubert CDU/CSU 28.09.2006* licher Bedenken noch ein letztes Mal zustimmen. Angesichts der schwierigen Lage in dem Land auf- Fromme, Jochen-Konrad CDU/CSU 28.09.2006 grund der vermehrten Talibanübergriffe ist es zum jetzi- Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 28.09.2006 gen Zeitpunkt gegenüber der afghanischen Bevölkerung nicht zu verantworten, die Bundeswehrtruppen kurzfris- Herrmann, Jürgen CDU/CSU 28.09.2006* tig abzuziehen. Das kommende Einsatzjahr muss zwingend dazu ge- Hilsberg, Stephan SPD 28.09.2006 nutzt werden, die afghanische Regierung in die Lage zu versetzen, aus eigener Kraft für ein ausreichendes Maß Jelpke, Ulla DIE LINKE 28.09.2006 an Stabilität und Sicherheit zu sorgen. Unsere Soldaten können nicht auf unbestimmte Zeit in Afghanistan ver- Lafontaine, Oskar DIE LINKE 28.09.2006 weilen. Einer nochmaligen Verlängerung des Mandates Nešković, Wolfgang DIE LINKE 28.09.2006 kann ich aus nachfolgend näher ausgeführten Gründen daher nicht mehr meine Zustimmung geben. (B) Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 28.09.2006 Neben der persönlich oft schwierigen Situation für (D) die Soldaten und deren Familien sprechen vor allem Piltz, Gisela FDP 28.09.2006 auch die fortlaufenden Kosten für ein baldiges Auslau- fen des militärischen Engagements. Bundeswehrdauer- Polenz, Ruprecht CDU/CSU 28.09.2006 einsätze ohne die Option eines konkreten Ausstiegs kön- nen wir uns angesichts der eigenen zu bewältigenden Schauerte, Hartmut CDU/CSU 28.09.2006 Zukunftsaufgaben – zum Beispiel Investitionen in Bil- Schily, Otto SPD 28.09.2006 dung, Forschung und Integration – nicht mehr leisten.

Schindler, Norbert CDU/CSU 28.09.2006* Jürgen Koppelin (FDP): Der geplanten Verlänge- rung des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan Schummer, Uwe CDU/CSU 28.09.2006 werde ich nicht zustimmen.

Steinbach, Erika CDU/CSU 28.09.2006 Die Zustände in Afghanistan werden immer besorg- niserregender. Trotz des ISAF-Einsatzes befinden sich Dr. Tabillion, Rainer SPD 28.09.2006 Teile des Landes im Kriegszustand. Ebenso haben die Anschläge im gesamten Land zugenommen. Zapf, Uta SPD 28.09.2006 Der Auftrag der Bundeswehr wird daher immer ver- schwommener. Das ist für die deutschen Soldaten ein * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- unhaltsamer Zustand. sammlung des Europarates Es ist nicht einmal die Chance eines Endes des Bun- deswehreinsatzes in Sicht. Anlage 2 Zusätzlich nimmt der Drogenanbau trotz des Einsat- zes von Militärkräften deutlich zu. Durch Militär ist die Erklärungen nach § 31 GO Situation in Afghanistan nicht zu lösen. zur namentlichen Abstimmung über den An- trag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter Frank Schwabe (SPD): Für Enthaltungen gibt es deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der In- unterschiedliche Begründungen. Eine Enthaltung kann ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe unpolitisch sein. In diesem Fall enthalte ich mich jedoch 5286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) ganz bewusst, nicht weil ich keine Haltung habe, son- gegenwärtig noch die Möglichkeit hat, einen positiven (C) dern weil ich die befürwortenden und ablehnenden Beitrag zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau des Gründe für politisch gleichgewichtig halte und ich ein Landes zu leisten. Zeichen für zukünftige Entscheidungen über Auslands- einsätze der Bundeswehr setzen will. Nach erheblichen Rückschlägen ist der Aufbaupro- zess jedoch ohne eine Strategieänderung vom Scheitern Ich müsste gegen die Verlängerung des Einsatzes bedroht. Politische Fehlentwicklungen und die wach- stimmen, weil erstens sich Teile des militärischen Ein- sende Intensität der Kampfhandlungen untergraben die satzes in Afghanistan einer Kriegslogik des internationa- Erfolgsaussichten der ISAF. Die von vielen Afghanen len Einsatzes gegen den Terrorismus bewegen, die aus als Besatzung empfundenen Kräfte der Operation En- meiner Überzeugung den Terrorismus eher verstärken during Freedom haben es nicht vermocht, Rückhalt in denn verhindern; zweitens sich die Situation in den letz- der Bevölkerung zu gewinnen, das Wiedererstarken der ten Einsatzjahren in Afghanistan nicht nachhaltig ver- Taliban zu verhindern und die Kontrolle über den Süden bessert hat und ich auch kein Konzept der internationa- und Osten Afghanistans herzustellen. Eine Wende in der len Staatengemeinschaft erkennen kann, das dieses Entwicklung ist mit den derzeitigen Konzepten und Poli- zukünftig ändert; drittens die Bundeswehr an die Gren- tikansätzen nicht absehbar. Es bedarf daher dringend zen der derzeitigen Auslandseinsatzmöglichkeiten stößt einer Neuausrichtung der Politik in den Bereichen Terro- und die Soldatinnen und Soldaten großen Gefahren aus- rismusbekämpfung, Drogenbekämpfung und Wiederauf- gesetzt sind. bau wie sie im Entschließungsantrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen – Bundestagsdrucksache 16/2573 – Ich sollte für die Verlängerung des Einsatzes stim- eingefordert wird. men, weil erstens viele Menschen in Afghanistan eine si- chere und friedliche Zukunft erhoffen und sie dieses mit Vor jeder Entscheidung über eine mögliche weitere dem Engagement der internationalen Truppen verbindet; Verlängerung der deutschen Beteiligung an ISAF wird das betrifft zum Beispiel die Frauen im Land; ein Abzug deshalb kritisch zu prüfen sein, ob es tatsächlich zu Fort- der Truppen kann ein gefährliches Vakuum entstehen schritten auf den genannten Feldern gekommen ist. Da- lassen; zweitens die bisherigen Jahre des Einsatzes, auch von wird maßgeblich mit abhängen, ob eine Fortsetzung mit Verlusten an Menschenleben, sinnlos würden und des Einsatzes weiter Erfolg versprechend und verant- alle Verbesserungen obsolet werden könnten. wortbar ist. Im Bewusstsein, dass es zu einer Mehrheit im Deut- Unsere heutige Zustimmung zur Verlängerung des schen Bundestag kommt, will ich mit meiner Enthaltung deutschen Beitrages in Afghanistan bezieht sich allein darauf aufmerksam machen, dass sowohl das Konzept in auf ISAF. Die noch dieses Jahr anstehende Entscheidung (B) Afghanistan klarer werden muss als auch ein zukünftiges über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der (D) internationales Engagement Deutschlands sich klarer an Operation Enduring Freedom wird dadurch nicht präju- den Kriterien eines mehr zivilen als militärischen En- diziert. Grundlage unserer Entscheidung waren wieder- gagements messen lassen muss. Deshalb enthalte ich holte Versicherungen der Bundesregierung, dass eine mich ganz bewusst. Ausdehnung des Einsatzgebietes der deutschen ISAF- Einheiten auf den Süden des Landes, wo die Grenzen zwischen ISAF und Enduring Freedom zunehmend ver- Anlage 3 wischen, nicht in Betracht kommt. Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Bärbel Höhn und Ute Koczy Anlage 4 (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na- Erklärung nach § 31 GO mentlichen Abstimmung über den Antrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- der Abgeordneten Otto Fricke und Gisela Piltz scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- (beide FDP) zur namentlichen Abstimmung tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Af- über den Antrag: Fortsetzung der Beteiligung ghanistan unter Führung der NATO auf bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein- Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom satz der Internationalen Sicherheitsunterstüt- 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai zungstruppe in Afghanistan unter Führung der 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510 NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 17. September 2004, 1623 (2005) vom 13. Sep- 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November tember 2005 und 1707 (2006) vom 12. Septem- 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 ber 2006 des Sicherheitsrates der Vereinten Na- (2004) vom 17. September 2004, 1623 (2005) tionen (Tagesordnungspunkt 6 a) vom 13. September 2005 und 1707 (2006) vom 12. September 2006 des Sicherheitsrates der Wir stimmen der Verlängerung der deutschen Beteili- Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) gung an ISAF um ein Jahr in der Überzeugung zu, dass trotz der gravierenden Verschlechterung der Sicherheits- Ich stimme der nochmaligen Verlängerung des Man- lage im Süden und zunehmender Kritik an der Afghanis- dates für die deutschen Streitkräfte in Afghanistan zu. tanpolitik der internationalen Staatengemeinschaft ISAF Allerdings sehe ich die Sicherheitslage für die deutschen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5287

(A) Soldaten dort als nicht zufriedenstellend an. Dies gilt kommensquelle angewiesen. Der Krieg gegen den Dro- (C) insbesondere hinsichtlich der Sicherheitsausstattung für genanbau treibt die Bevölkerung Warlords und Taliban die Soldaten. Das Material, mit welchem die Bundes- in die Arme. Die Einheiten der Bundeswehr sind zuneh- wehr dort arbeiten muss, bietet bei weitem nicht die Si- mend in die Eskalation einbezogen und werden nicht als cherheit, die die sich stets verschärfende Situation im Teil eines Wiederaufbauprogramms, sondern als Teil ei- Lande erforderlich macht. Meine Zustimmung knüpfe ner Kriegsführung wahrgenommen. Auch Soldaten von ich daher an die Erwartung, dass die Bundesregierung ISAF werden mehr und mehr als Besatzungstruppen ge- alle notwendigen Maßnahmen zu einer Verbesserung des sehen, vor allem südlich von Kabul. Schutzes der Bundeswehrsoldaten ergreifen wird. Dies ziehe ich einem Rückzug der Bundeswehr aus diesem Eine Fortsetzung des bisherigen Einsatzes der Bun- deswehr in Afghanistan ist nicht verantwortbar; eine Land vor, da der Auftrag der Bundeswehr, den diese im – dringend gebotene – Ausstiegsstrategie enthält der An- Verbund mit den übrigen ISAF-Truppen in Afghanistan bekommen hat, im Interesse eines Aufbaus des Landes trag nicht. weitergeführt werden muss und ein Abzug destabilisie- Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir daher ab. rende Wirkung entfalten würde.

Anlage 6 Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede Erklärung nach § 31 GO zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans- elektronische Handelsregister und Genossen- Christian Stöbele, Sylvia Kotting-Uhl, schaftsregister sowie das Unternehmen (EHUG) Dr. Anton Hofreiter, Dr. Harald Terpe, Peter (Tagesordnungspunkt 13) Hettlich und Monika Lazar (alle BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung Sevim Dagdelen (DIE LINKE): Der Siegeszug des über den Antrag: Fortsetzung der Beteiligung Internet hat den Großteil unserer Gesellschaft und mitt- bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein- lerweile auch das Gesellschaftsrecht erreicht. Die allsei- satz der Internationalen Sicherheitsunterstüt- tige Verfügbarkeit jedweder Form von Daten für jeder- zungstruppe in Afghanistan unter Führung der mann durch das World Wide Web legt es nahe, es für alle NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 Publikationen, insbesondere für amtliche, zu verwenden. (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom Die Möglichkeit der automatisierten Suche, Zusammen- (B) 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November fassung und Auswertung von Daten und die Geschwin- (D) 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 digkeit der Informationsverbreitung prädestinieren das (2004) vom 17. September 2004, 1623 (2005) Internet geradezu zur Herstellung von Transparenz. vom 13. September 2005 und 1707 (2006) vom Transparenz ist ein hohes Gut und Voraussetzung der 12. September 2006 des Sicherheitsrates der Demokratie. Die Herstellung derselben im Bereich der Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 6 a) Politik ist für uns eine wichtige Forderung und Herzens- Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir ab. angelegenheit. Auch im Bereich der Wirtschaft unter- stützen wir dahingehende Bestrebungen. Für das Gesell- Die Sicherheitslage in Afghanistan entwickelt sich schaftsrecht, welches vom Grundsatz der Publizität zunehmend katastrophal. Die internationale Sicherheits- geprägt ist, ist ein elektronisches Register mithin eine ef- unterstützungstruppe ISAF sollte den zivilen Wiederauf- fiziente und kostengünstige Alternative zu der bisher al- bau rund um Kabul schützen und die Abhaltung von lein betriebenen Veröffentlichung der Registerdaten mit- Wahlen ermöglichen. Der ISAF-Einsatz wird auf immer tels der Printmedien. weitere Landesteile ausgedehnt. Eine Trennung zwi- Die Fraktion Die Linke, unterstützt daher die Einfüh- schen der Schutzfunktion von ISAF und den fortgesetz- rung eines elektronischen Handels-, Gesellschafts- und ten und erheblich intensivierten Kampfeinsätzen durch Unternehmensregisters. Dem diesbezüglich vorliegen- die Operation Enduring Freedorn, OEF, kann nicht den Gesetzesentwurf vermögen wir jedoch nicht zuzu- durchgehalten werden. Immer stärker werden ISAF- stimmen. Dafür haben wir Gründe, die ich Ihnen zur Truppen in Kampfhandlungen verwickelt, die Bevölke- Wahrung der Transparenz politischen Handelns darlegen rung erlebt den zivilen Aufbau als verzahnt mit möchte. Kampfeinsätzen und deren Zielsetzungen. Besonders im Süden und Osten des Landes wird auch von den beteilig- In einem Bericht des Ausschusses für Recht und Bin- ten Staaten eine Zusammenführung von ISAF und OEF nenmarkt des Europäischen Parlaments zur Errichtung gewünscht und de facto praktiziert. elektronischer Register heißt es: „Die Beschränkung der Mitgliedsstaaten auf eine einzige elektronische Informa- Die Konflikte in allen Landesteilen eskalieren drama- tionsbezugsquelle und die damit zwangsläufig verbun- tisch, die Zahl der täglichen Opfer ist inzwischen ver- dene Abwertung und Diskriminierung anderer, traditio- gleichbar derjenigen im Irak. Statt eines Wiederaufbaues neller Informationsmedien ist zur Erreichung der Ziele findet ein Übergang der Konflikte in einen regelrechten der Kommission nicht erforderlich und demnach unver- Krieg besonders im Süden des Landes statt. Die Masse hältnismäßig. Der wesentliche Grundgedanke des Ge- der Bauern ist weiterhin auf Mohnanbau als einzige Ein- sellschafts- und Wertpapierrechts würde gefährdet“. 5288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Ob durch den Begriff „Diskriminierung“ der sich ab- In dem Register sind neben dem Namen beispiels- (C) zeichnende Einnahmenverlust traditioneller Printme- weise auch der Wohnort und das Geburtsdatum natürli- dien passend umschrieben ist, halte ich für fraglich. Für cher Personen eingetragen. Damit ist es für jeden Inter- zwingend halte ich es aber, von der Diskriminierung der netnutzer ein Leichtes, die Wohnanschrift der Person Menschen zu sprechen, die keinen Zugang zum Internet herauszufinden oder diese Daten mit weiteren über das haben. Dem möchte man entgegnen, dass es solche heute Internet zugänglichen Angaben zu verknüpfen, ohne kaum noch gibt, zumal ja für ein paar Cent der Internet- dass hierfür eine sachliche Rechtfertigung besteht. shop um die Ecke zu helfen vermag. Der Entwurf äußert sich zu diesen Fragen nicht, daher Doch wie ist es mit den Alten, die die Technik nicht be- geht er auch nicht den datenschutzrechtlich schonende- herrschen, was macht derjenige der auf dem Land lebt ren Weg der Ersetzung des Wohnorts durch eine Zustell- und wie sieht es in anderen Ländern aus? Die Zahl der adresse oder des Verzichts auf das zu Identifikationszwe- Nutzer des Internet steigt zwar immer weiter an, sie wird cken nicht notwendige Geburtsdatum. jedoch gemeinhin überschätzt und lag im letzten Jahr aus- weislich diverser Studien bei unter 60 Prozent der deut- Es wird allerdings darauf verzichtet, die Entstehung schen Bevölkerung. Noch weniger Menschen besitzen ei- von privaten Parallelregistern durch Einrichtung eines nen eigenen Zugang, wohingegen immer noch 80 Prozent Kopierschutzes oder durch Verabschiedung einer ein- der Bevölkerung Zugang zu Zeitungen haben. deutig entgegenstehenden Rechtslage zu verhindern. So- mit werden Löschungsfristen für persönliche Daten zur Die Kluft zwischen denjenigen, die in der Lage sind, Makulatur. So werden private Datenbanken auf Basis ohne großen Aufwand das Internet zu nutzen, und denen, der gezwungenermaßen an das Register erteilten Infor- die das – aus welchen Gründen auch immer – nicht sind, mationen, gegen die effektiver Rechtsschutz nicht zu er- wird international als „Digital Divide“ bezeichnet. Bill langen ist, die Regel. So wird das Recht auf informatio- Gates hat in diesem Zusammenhang einmal prognosti- nelle Selbstbestimmung ohne Not geschwächt und so ziert, es werde in Zukunft zwei Klassen von Menschen wird der Publizität letztlich ein Bärendienst erwiesen. geben: die mit und die ohne Internetzugang. Da wir als Linke, uns für das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft Mit gesellschaftsrechtlicher Transparenz hat dies einsetzen, fordern wir die Beibehaltung der Veröffentli- ebenso wenig zu tun wie das Vorgehen der Regierung chung der Registerdaten in den Printmedien. bei dem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte, mit politischer Transparenz. Ein Änderungsantrag der Fraktion der Grünen, nach welchem – im Gegensatz zu der vorgesehenen zweijähri- Unmittelbar vor Toresschluss wurde kurzerhand der gen – zumindest eine fünfjährige Schonfrist für Druck- Höchstbetrag des Ordnungsgeldes, welches bei Verstoß erzeugnisse eingeräumt werden soll, so lange also eine gegen bestimmte Offenlegungspflichten zu erheben ist, (B) (D) Doppelveröffentlichung erfolgen muss, liegt vor. Aus halbiert. Warum, lässt sich aus der Gesetzesbegründung den genannten Gründen und weil auch wir denken, dass nicht ersehen. Auf Nachfrage hieß es, Grund sei eine po- die Interessen regionaler und überregionaler Zeitungen, litische Entscheidung und Internas würden nicht verra- die teilweise von besagten Veröffentlichungen leben, Be- ten. rücksichtigung finden sollten, unterstützen wir diesen Diese diskrete Haltung mag auch bei manchen Kapi- Änderungsantrag. talgesellschaften hinsichtlich ihrer zu veröffentlichenden Zahlen vorherrschen. Warum auch nicht, zahlen sie doch Ich verzichte jetzt darauf, Ihnen die Unterschiede der die maximal 25 000 Euro Ordnungsgeld oftmals leicht jeweiligen Publizitätsstrukturen beider Medien, insbe- aus der Portokasse. sondere des Push-und-Pull-Verfahrens und deren Aus- wirkungen auf die Adressaten, darzulegen und komme Transparenz wird so jedenfalls nicht gefördert, weder zu einem nächsten Kritikpunkt: Die Bundesregierung in der Politik noch im Gesellschaftsrecht. hatte im Jahr 2002 noch die Notwendigkeit betont, das allgemeine datenschutzrechtliche Problem bei der Veröf- fentlichung von Daten durch Behörden und Gerichte im Anlage 7 Internet und die anschließende Weiterveröffentlichung durch Dritte zu lösen. Geschehen ist jedoch nichts, so- Zu Protokoll gegebene Reden dass sich gerade bei dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Beratung der Beschlussempfehlung und des die Frage stellt, wie er sich mit dem Recht auf informa- Berichts zu den Anträgen: tionelle Selbstbestimmung derjenigen Personen versteht, deren Daten in das Register eingetragen werden. – Das Nationale Reformprogramm Deutsch- land und die Lissabon-Strategie weiterfüh- Der unbeschränkte Zugang für jedermann entspricht ren – Wirtschaftswachstum und Beschäfti- der bisherigen Rechtslage. Verkannt wird aber, dass sich gungspolitik zum Erfolg führen aus der Zusammenlegung der drei Register in elektroni- scher Form Informations- und Verarbeitungsmöglich- – Mehr Ehrgeiz bei der Erreichung der Lissa- keiten ergeben, die die bisherige Dimension weit bon-Ziele überschreiten. So ermöglicht das elektronische Unter- nehmensregister wie auch die Abfrage der zum Handels- (Tagesordnungspunkt 15) register eingereichten Unterlagen die Identifizierung der hinter einem Unternehmen stehenden Menschen in bis- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Der Europäische her nicht bekanntem Maße. Rat hat sich im März 2000 in Lissabon das ehrgeizige Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5289

(A) Ziel gesetzt, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dy- Das investierte Geld kommt den Handwerkern, den (C) namischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt Betreibern vor Ort und den Mittelständlern zugute. Es zu entwickeln. Im November 2004 stellte die Sachver- bleibt vor Ort, wird in Arbeitsplätze umgesetzt und sorgt ständigengruppe unter der Leitung des ehemaligen nie- dafür, dass zum ersten Mal seit Jahren mehr Mittelständ- derländischen Ministerpräsidenten Wim Kok Defizite in ler wieder an Personaleinstellung denken anstatt an Per- der Erreichung der Lissabonziele fest. Im folgenden Jahr sonalabbau. wurde dann eine Neuausrichtung der Lissabonstrategie beschlossen. Das Hauptziel – nämlich die Dynamik der Wir haben dafür gesorgt, dass die Investitionsbremse Europäischen Wirtschaft zu stärken – wird nach wie vor der Unternehmen gelöst wird. Zu Zeiten von Rot-Grün verfolgt. haben die Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen vor sich her geschoben, weil die Politik nicht verlässlich Europa steht im strengen Wettbewerb mit anderen war. Wir haben eine Sonderabschreibung auf bewegliche Wirtschaftsgroßräumen wie die USA und Japan, aber Wirtschaftsgüter eingeführt, die den Investitionsstau auf- auch die rasant wachsenden Volkswirtschaften Indiens gelöst hat und dafür sorgt, dass der Mittelstand wieder und – vor allem – Chinas. Europa und die Bundesrepu- investiert. Das schafft Arbeitsplätze. blik können und dürfen sich diesem Wettbewerb nicht verschließen. Wir müssen klar in der Umsetzung der Lis- Wir haben die Absetzbarkeit von Handwerkerrech- sabonziele voranschreiten. Das „Nationale Reformpro- nungen eingeführt, um der Schwarzarbeit zu begegnen, gramm Deutschland“ der Bundesregierung verfolgt und viele Dinge mehr, die uns einen bedeutenden Schritt dieselben Ziele wie sie in der Lissabonstrategie festge- näher an bessere Beschäftigungszahlen heranführen. schrieben sind. Beide Programme führen zu mehr Wir haben zudem bereits etwas geändert, was die Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und in der Menschen in unserem Land belastet hat. Noch vor weni- EU. gen Monaten hatte jeder vierte Arbeitnehmer Angst vor Interessant ist, dass wir den Antrag der Grünen „Mehr Arbeitslosigkeit. Diese Angst ist drastisch zurückgegan- Ehrgeiz bei der Erreichung der Lissabonziele“ gerade gen. Und natürlich hatte diese Angst Auswirkungen auf heute diskutieren, wenn die neuesten Arbeitslosenzahlen das alltägliche Verhalten der Menschen: Anschaffungen der Bundesagentur für Arbeit verkündet werden. Unbe- wurden nicht getätigt, wenn sie nicht unbedingt notwen- stritten ist Beschäftigung eines der zentralen Ziele der dig waren. Häuser und Wohnungen wurden nicht gebaut, Lissabonstrategie und, mit Verlaub, eines, bei dem die weil die Menschen Angst vor der Zukunft hatten. Mit Grünen in den sieben Jahrein, in denen sie Regierungs- dieser Unsicherheit hat diese Bundesregierung Schluss verantwortung hatten, kläglich versagt haben. gemacht. Das trägt maßgeblich zum Aufschwung in Deutschland bei. (B) Gott sei Dank sind die Zahlen jetzt optimistischer und (D) wir haben alle, glaube ich, große Hoffnung, dass sich Um Wirtschaft und Arbeit weiter zu fördern, ist auch dieser Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt weiter verfestigt. ein engagierter Bürokratieabbau notwendig. Der in der 4,2 Millionen Arbeitslose sind eine deutliche Verbesse- Lissabonstrategie geforderte Bürokratieabbau ist bei uns rung gegenüber dem Vorjahr: über 400 000 Arbeitslose in vollem Gange. Er wurde im „Ersten Gesetz zum Ab- weniger. Das ist ein entscheidender Beitrag zur Errei- bau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der Mit- chung der Lissabonziele. Die Bekämpfung der Arbeits- telständischen Wirtschaft“ in einem ersten Schritt ver- losigkeit ist wahrscheinlich das wichtigste Ziel für die wirklicht. 37 weitere Maßnahmen sind bereits geplant. Menschen in unserem Land. Der Normenkontrollrat hat soeben seine Arbeit aufge- Bedeutend in diesem Zusammenhang ist auch der Zu- nommen. Ich erwarte mir davon eine unabhängige Über- wachs bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- prüfung der Kosten und Belastungen, die neue Gesetze gungsverhältnissen. Wir wissen, dass niedrigere Arbeits- für die Unternehmen bringen. Des Weiteren sollen auch losigkeit die eine Seite der Medaille ist. Die Zahl der bestehende Gesetze daraufhin überprüft werden, inwie- Beschäftigungsverhältnisse ist die andere, die maßgeb- weit sie Belastungen für Unternehmen verursachen. lich über die Finanzierung unserer Sozialsysteme mitent- Dann werden wir uns unterhalten, wo wir schnelle Ent- scheidet. Auch das ist nämlich ein Lissabonziel: die So- lastungen für den Mittelstand erreichen. zialsysteme zukunftsfest zu machen. Wir könnten beim Bürokratieabbau schon weiter sein. Wir erwarten auch, dass dieser Aufschwung am Ar- Aber jetzt habe ich Hoffnung, dass wir mit schnellen beitsmarkt sich nicht – wie die Grünen behaupten – als Schritten vorankommen. Vor allem dürfen wir uns nicht ein Strohfeuer entpuppt. Nein, dieser Aufschwung wird immer durch angebliche EU-Vorgaben einschränken las- anhalten. Das zeigt auch jetzt schon die steigende An- sen oder wir müssen zumindest die Menschen darüber zahl an freien Stellen, die bei der Arbeitsagentur gemel- aufklären, dass der Großteil der bürokratischen Belas- det werden. Diese Entwicklung ist das Ergebnis der tungen heute durch Brüssel verursacht wird. wachstumsorientierten Politik der letzen Monate. Dass Bundeswirtschaftsminister Glos, dem wir maß- Großen Anteil hat daran unser 25 Milliarden Euro geblich diesen Aufschwung verdanken, zum Koordina- Wachstumspaket zur Förderung von Handwerk und Mit- tor der Lissabonstrategie ernannt wurde, war nur folge- telstand. Ich nenne nur das Gebäudesanierungspro- richtig. Als so genannter Mister Lissabon setzt sich der gramm: Unsere Investitionsanreize haben ein Auftrags- Bundeswirtschaftsminister für ein KMU-freundliches volumen von 8 Milliarden Euro ausgelöst. Umfeld, einen starken Binnenmarkt, eine gestärkte Inno- 5290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) vationspolitik sowie eine sichere und preisgünstige En- Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass die Arbeit (C) ergieversorgungspolitik ein. der Bundesregierung Früchte trägt und dass wir auf dem richtigen Weg sind. Das Erreichen der Lissabonziele hat Gerade im Bereich Arbeitsmarkt ist die deutsche Poli- für uns Priorität. Lissabon steht nicht in Konkurrenz zum tik auf dem richtigen Weg. Der Lissabonforderung nach „Nationalen Reformprogramm Deutschland“. Im Ge- beschäftigungsfreundlichen Arbeitskosten kommen wir genteil: Beide Zielvorgaben sind kongruent. Mit dem ei- nach. Die Sozialversicherungsbeiträge sollen dauerhaft nen erreichen wir auch das andere. Was aber am wich- unter 40 Prozent gesenkt werden. Zum 1. Januar 2007 tigsten ist: Wenn wir den bereits eingeschlagenen Weg fällt der Beitrag zur Arbeitslosensicherung von 6,5 auf konsequent weiterverfolgen, können wir das erreichen, 4,5 Prozent. Auch ist erfreulich, dass wir uns dem Lissa- was wir uns vorgenommen haben – nämlich mehr bonziel von 60 Prozent Frauenbeschäftigung im Jahr Wachstum und mehr Beschäftigung. 2010 mit 59,6 Prozent bereits jetzt nicht nur angenähert, sondern es schon fast erreicht haben. Doris Barnett (SPD): Heute setzen wir unsere De- Mit dem Programm „50 plus“ wenden wir uns direkt batte um unser Nationales Reformprogramm zur Umset- und zielgenau an die Gruppe der älteren Arbeitslosen. zung der Lissabonstrategie fort, die wir vor einer Woche Hier müssen wir Unterstützung anbieten, um die Betrof- eingeleitet haben. Zum Teil war es eine Diskussion mit fenen wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern und verpassten Möglichkeiten. Denn die Opposition hat nur damit unsere Sozialversicherungssysteme wieder wett- im üblichen Reflex all das aufgeführt und bemängelt, bewerbsfähig zu machen. was an dem vor über sechs Jahren gesteckten Ziel nicht Priorität der Bundesregierung bleibt die Erreichung erreicht wurde. Dass es dafür hinreichende Gründe gibt, der Lissabonziele. Die Quote der über 55-jährigen Ar- vom Terroranschlag des 11. September über das Platzen beitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss bis 2010 auf der New Economy-Blase, dem Ölpreisanstieg bis hin zur 50 Prozent steigen und bis 2012 wollen wir in diesem Euro-Aufwertung ab 2002, das wurde von der Opposi- Punkt zur Spitze in Europa gehören. Wir brauchen die tion geflissentlich unterlassen. Erfahrung der Älteren in den Betrieben. Deshalb bleibe ich auch heute dabei: Die Lissabon- Ich komme nun zu einem weiteren Punkt meiner Aus- strategie der EU ist wichtig und richtig, sie ist ein inte- führungen: der Bildungspolitik. Um die Dynamik Euro- grierter Teil der in Gang gesetzten großen Debatte um pas und des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu die Zukunft von Europa. Was anderes soll denn unser al- fördern, müssen wir in Ausbildung und Bildung inves- ler Ziel sein, wenn nicht eine große wirtschaftliche Dy- tieren. Hier rennen die Grünen mit ihrem Antrag bei uns namik, die hochwertiges innovatives Wachstum schafft, offene Türen ein und sind bei ihrem Anlauf abermals ge- Wachstum, das auf Nachhaltigkeit Wert legt, sich um (B) (D) stolpert. Bloß die Forderungen der Lissabonstrategie ab- Aufwuchs von Arbeitsplätzen, Stabilität der öffentlichen zuschreiben, reicht nicht aus. Sie müssen schon mit Kon- Finanzen und der aggregierten Nachfrage und Zukunfts- zepten aufwarten. festigkeit der Sozialsysteme kümmert? Einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung des 3-Pro- Deutschland als die größte Volkswirtschaft Europas zent-Zieles leistet die große Koalition, indem sie die muss dabei vorangehen, Zugpferd sein, alles tun, um Möglichkeit schuf, in dieser Legislaturperiode zusätzlich Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze zu schaffen. 6 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung zu in- Deutschland muss zum Gelingen des europäischen Wirt- vestieren. Dies ist ein gewaltiger Schritt nach vorn. schafts- und Sozialmodells beitragen Wie wir unseren Welche Bereiche sollen davon profitieren und wie ist Beitrag dazu leisten, ist im vorliegenden Fortschrittsbe- dies umzusetzen? Wir wollen sowohl Spitzen- als auch richt 2006 festgehalten. Querschnittstechnologien mit breitem Anwendungspo- Es ist richtig, dass die Bundesregierung mit der eige- tenzial fördern. Die Leistungsfähigkeit des Forschungs- nen Prioritätensetzung im Nationalen Reformprogramm standortes Deutschland soll damit noch weiter gesteigert die Schwerpunkte des Europäischen Rates abdeckt. Da- werden. Die Förderung soll aber nicht nur einseitig er- bei – hier greife ich ausdrücklich meine Ausführungen folgen. Integrativ sollen auch leistungsfähige KMU ge- von letzter Woche auf – muss klar sein und darauf ge- fördert werden und Dynamik bei Unternehmensgrün- achtet werden, dass bei den Zuständigkeiten von Ge- dungen und auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst werden. meinschaft und Mitgliedstaat eine erkennbare Abgren- Die eben vorgestellte Hightechstrategie für Deutsch- zung zu erfolgen hat. land soll ganzheitlich fördern. Es müssen Querverbin- Eine verantwortliche Politik muss gegen eine syste- dungen zwischen Forschung und Wissenschaft auf der matische Einengung der Handlungsmöglichkeiten der einen Seite und der deutschen Wirtschaft auf der anderen Mitgliedstaaten gerade im Zusammenhang mit dem Bei- Seite hergestellt werden. Forschungsförderung und die hilferecht vorgehen. Ausgestaltung von Rahmenbedingungen auf ausgewähl- ten Hightechsektoren werden über die nächsten Jahre Die Möglichkeiten eines Beihilferechts im Sinne ei- hinweg gebündelt. Nur so können wir uns Zukunfts- ner Unterstützung für das Erreichen der Lissabonziele märkte sichern. Wir alle wissen genau, wie wichtig für dürfen nicht abgeschafft werden. Denn die Komplexität uns eine starke Positionierung im Bereich der Biotech- und Vielfalt wirtschaftlicher Prozesse verlangt auch eine nologien, Umwelt- und Nanotechnologien oder auch in Vielfalt von Unterstützungs- und Lösungsansätzen. der Kommunikationstechnologie sein wird. Wenn Forschung gefördert, kleine und mittelständische Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5291

(A) Unternehmen unterstützt, Existenzgründer zu Risiken Die Bundesregierung hat vor wenigen Tagen den Nor- (C) angehalten werden sollen, dann muss auch die Kommis- menkontrollrat benannt, der sich jetzt an die Aufgabe sion einsehen, dass es keine Eine-für-alle-Lösung im macht, die in Deutschland bestehenden Gesetze und die Beihilferecht geben wird und kann. neue Gesetzgebung dahingehend zu prüfen, welche Kos- ten der Wirtschaft auferlegt werden. Aber dieser Nor- Deshalb müssen wir uns, wenn es uns um die Ge- menkontrollrat hat auch die Aufgabe, die Umsetzung des meinschaft und um das Erreichen des gemeinsamen EU-Rechts, also die Gesetze und Rechts- und Verwal- Lissabonzieles geht, darauf verständigen, wie wichtig tungsvorschriften, zu prüfen, die Brüssel erlässt. das Subsidiaritätsprinzip bleiben muss. Der Lissabon- prozess wird mit einem zu zentralistischen und unflexib- Darüber hinaus ist aber fast noch wichtiger der Auf- len Beihilferahmen in seiner Entwicklung gebremst. trag, die Vorarbeiten zu europäischen Rechtsakten und Lissabon realisieren heißt Flexibilität und Dynamik zu- zu den Verordnungen sowie Richtlinien der Europäi- zulassen. schen Gemeinschaft auf ihre Notwendigkeit und Aus- In 25 – und demnächst 27 – Mitgliedstaaten werden wirkungen zu überprüfen, also eine Folgenabschätzung auch andere Politikfelder nicht mit einer Einheitsrichtli- vorzunehmen. Damit könnten wir nämlich sicherstellen, nie bzw. mit einem zu eng gesteckten Rahmen zu steuern dass nicht wieder – sozusagen durch die Hintertür – neue sein, sondern es muss Freiraum für die Unterschiedlich- bürokratische Lasten entstehen; auch dies ist Teil des keit bleiben, die in der Gemeinschaft herrscht und die Lissabonprozesses. nicht komplett in einer Einheitssoße untergehen soll. Bei der Vollendung des gemeinsamen Marktes muss Mit dem vorgelegten Bericht beschreibt die Bundes- besondere Aufmerksamkeit dem Bereich der Dienstleis- regierung ihre integrierte Wirtschafts-, Finanz-, Arbeits-, tungen geschenkt werden. Die Debatte um die sich jetzt Sozial, Forschungs- und Bildungspolitik, mit dem das in der Abstimmung befindliche Dienstleistungsrichtlinie Wachstum stabilisiert und die Rahmenbedingungen für zeigt die Bedeutung dieses wirtschaftlichen Sektors. die Unternehmen so verbessert werden sollen, dass sie Denn hier kommt die Bürokratie im Sinne von „gleiche ihr Potenzial entfalten und im Wettbewerb bestehen kön- Sachverhalte gleich zu behandeln“ ausgesprochen kurz. nen und gleichzeitig der soziale Zusammenhalt gewahrt Was soll zum Beispiel eine „Leitlinie für die Entsendung bleibt. Wir unterstützen dieses vernetzte Vorgehen in der von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Politik. Wir ermuntern auch gerne die Bundesregierung, Dienstleistungen“, wenn dort, wo die Dienstleistung er- den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. bracht wird, so gut wie nicht die Einhaltung von übli- chen Arbeitsschutzstandards überprüft werden darf und Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz auf ein Problem noch nicht einmal ein Zustellungsbevollmächtigter nebst eingehen, dem wir uns alle bewusst sind, bei dem wir (B) Anschrift verlangt werden kann. (D) aber bisher wenig Erfolg hatten. Das Stichwort lautet „Bürokratieabbau“ bzw. „Regelungswut“ der EU. Auch Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass zumindest bei hier wissen wir, dass einerseits ein gemeinsames Europa der Dienstleistungsrichtlinie ein relativ ausgewogener nicht ohne Regelungen und Gesetze zu haben ist. Ande- Entwurf vorliegt. Es ist gut, dass das Europäische Parla- rerseits behindert die zunehmende Bürokratie die Wachs- ment den ursprünglichen Richtlinientext in eine faire tumschancen unserer Wirtschaft. Wir wissen, dass nicht und praktikable Form umgeschrieben hat. Jetzt werden Brüssel etwas schaffen darf, was wir im nationalen Rah- wirtschaftspolitische mit sozialpolitischen Zielsetzungen men gerade herunterfahren: die bürokratischen Lasten. verzahnt und das Ergebnis kann dann für alle Europäer Zwar hat sich Brüssel fest vorgenommen, überbor- eine Win-win-Situation werden. Das entspricht auch der dende Bürokratie abzuschaffen. Aber wir alle wissen Vorstellung eines europäischen Sozialmodells, um das doch, dass Vorschriften, kommen sie nun aus Brüssel uns andere beneiden. oder Berlin, extrem widerstandsfähig sind. Am Montag Nachahmenswertes Vorbild wollen wir und sollte dieser Woche war ein Bericht – oder war es vielleicht auch Europa sein, wenn es um zukunftsweisende Ener- eher eine Glosse? – im „Handelsblatt“ zu lesen, in dem giepolitik geht. Denn hier haben wir nicht nur ökologi- es um die Frage der Sinnhaftigkeit einer EU-Richtlinie sches Innovationspotenzial, das wir als Wettbewerbsvor- zu Verpackungsgrößen geht. Es wurde die Frage aufge- teil nutzen sollten, wir können sogar Standards auch worfen, ob raffinierter Zucker nur im Kilopaket verkauft außerhalb des europäischen Marktes setzen, nicht zuletzt werden darf. im Interesse unserer einen Welt, die wir nicht kaputt ge- Nun, in den Siebzigerjahren, als diese Regelung ein- hen lassen dürfen. geführt wurde, gab es noch nicht so viele Single-Haus- Gerade China setzt dabei nicht wenige Erwartungen halte wie heute. Auch der EU-Vizepräsident Verheugen in Europa, besonders aber auch in Deutschland. Letzte hat in Brüssel einen solchen, weshalb er auch über diese Woche konnte Minister Tiefensee den ersten Energie- Frage und somit über diese Richtlinie gestolpert ist. pass außerhalb Deutschlands verleihen, nämlich einem Dieses Beispiel zeigt, wie beharrlich an Regelungen energieeffizienten Gebäudeprojekt in Shanghai. Dort festgehalten wird, obwohl sich die Welt weitergedreht setzen sie auf uns und wollen mit uns für ihr Land Stan- hat. Deshalb gehört zu den Aufgaben, die die Kommis- dards entwickeln. Die Weltausstellung 2010 in Shanghai sion zu erledigen hat, all ihre Vorschriften auf den Prüf- sollte uns Herausforderung sein – nicht zuletzt auch für stand zu stellen, um ihrerseits dem Lissabonprozess eine wegweisende Energieeffizienz-Richtlinie. Das Bei- nicht im Wege zu stehen. spiel zeigt nochmals deutlich, wie viele Facetten die 5292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Lissabonstrategie hat, wenn man sie richtig versteht und Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass es gelungen (C) nutzt. ist, einen wirtschaftspolitischen Rahmen zu entwi- ckeln und diesen eng mit umfassenden Reformmaß- Die Lissabonstrategie ist keine Zauberformel und das nahmen in den Bereichen Arbeit und soziale Siche- Nationale Reformprogramm kein Hexenwerk. Vielmehr rungssysteme zu verknüpfen. sind beide Verpflichtung und Herausforderung zugleich und es gilt, das zu tun, was notwendig ist und dabei auch Schöne, richtige Worte. Aber wo sind diese Maßnah- über den Tag hinaus zu denken. Schließlich wollen wir men? in Deutschland, ja in ganz Europa, zur attraktivsten Sie fordern eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Wirtschaftszone in der Welt werden. Dass wir dabei et- und des Kapitalstocks der Unternehmen und diskutieren was länger brauchen als ursprünglich geplant, heißt we- eine Unternehmensteuerreform, die diesen Zielen mit ei- der, dass das Ziel noch der eingeschlagene Weg falsch ner mittelstandsfeindlichen Substanzbesteuerung diame- ist. Schreiten wir also voran! tral entgegenläuft. Sie fordern den freien und fairen Waren-, Kapital- Martin Zeil (FDP): Die Staats- und Regierungschefs und Dienstleistungsverkehr auf der einen Seite und ar- Europas verabschiedeten im März 2000 die so genannte beiten auf der anderen Seite an einer Umsetzung der Lissabonstrategie mit dem Ziel, die Europäische Union Dienstleistungsrichtlinie, die Protektionismus statt Wett- bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dyna- bewerb und mehr, nicht weniger bürokratische Hemm- mischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu nisse bringt. machen. Wir Liberale unterstützen diese Zielvorstellung, denn wer wollte nicht, dass wir den Wettbewerb mit an- Sie wollen die Schwarzarbeit sinnvoll bekämpfen, deren dynamischen Regionen der Welt bestehen. Leider doch schaffen mit der Mehrwertsteuererhöhung die ist es anlässlich der ersten Beratung der Anträge nicht beste Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Schwarzarbei- gelungen, eine tiefer greifende Auseinandersetzung über ter. den Weg und die Umsetzung der Lissabonstrategie zu führen, wie mein Fraktionskollege Brüderle dies ange- Sie reden von Strukturreformen am Arbeitsmarkt, regt hat. Stattdessen wird die Debatte eher oberflächlich, zum Beispiel einer nachhaltigen Integration der Lang- mit vielen schönen Schlagworten und gegenseitigem zeitarbeitslosen. Ein Blick in die aktuelle Studie der Schulterklopfen, geführt. Der Antrag der Koalition ist OECD zum Thema Arbeitsmarkt zeigt, dass die Länder, ein beredtes Beispiel für eine solche Politik der Worthül- die den Kündigungsschutz flexibler gestalten, wesent- sen und Ankündigungen. Doch damit entfernt sich die lich weniger Langzeitarbeitslose haben. Aber die Koali- tion kann sich nicht von den ideologischen Verkramp- (B) Diskussion immer weiter von der Wahrnehmung und (D) Realität der Menschen und Betriebe. Wenn es uns nicht fungen bei diesem Thema lösen und verteufelt solche gelingt, dass alle mitmachen, die wir für den Erfolg der Bestrebungen als unsozial. Wirklich sozial ist aber im- Lissabonstrategie brauchen, dann werden wir scheitern mer noch, was Arbeitsplätze schafft. Deshalb ist es unso- und die Menschen entfernen sich noch weiter von Eu- zial, sich abzuschotten, die Märkte zu verschließen und ropa. bürokratische Barrieren für Einstellungen aufrechtzuer- halten. Ein Blick auf das reale BIP bringt Ernüchterung mit sich – ich verwende die standardisierten Zahlen der Ein weiterer großer Punkt im Nationalen Reformpro- OECD, um es vergleichbar zu machen –: Deutschland gramm ist der Normenkontrollrat: Doch Sie hatten nicht hinkt nicht nur in Europa hinterher, Europa rangiert auch den Mut, dieses Gremium wirklich unabhängig und mit weit abgeschlagen hinter den USA. Die Arbeitslosigkeit Biss auszustatten. Trotz der durchaus honorigen perso- in Europa ist im Schnitt fast 40 Prozent höher als in den nellen Zusammensetzung besteht die Gefahr: Viel heiße USA. Damit kann man die bisherige Lissabonstrategie Luft, aber nichts Konkretes. als gescheitert bezeichnen. Wenn man die Lissabonstra- Die Frage der sicheren und effizienten Energieversor- tegie aber von den reinen Zahlen löst und sie mit dem gung – eine der Zukunftsfragen für die Menschen und Ziel verbindet, ein Programm zur Umstrukturierung der die Wirtschaft in unserem Land, aber auch weltweit – EU zu schaffen, das weg von noch mehr Regelungen bleibt ungelöst. Die schwarz-rote Bundesregierung und hin zu mehr Markt und Wettbewerb, mehr Flexibili- müsste die deutsche Präsidentschaft im Europäischen sierung und mehr Freiheiten im Binnenmarkt führt, dann Rat im nächsten Jahr dringend nutzen, um hier wichtige hat sie eine Chance. Deshalb muss sich die Umsetzung Akzente zu setzen. Die schwarz-rote Koalition hat aber von einigen planwirtschaftlichen Elementen lösen und bisher kein Konzept und keine einheitliche Linie, gerade stärker auf Marktwirtschaft und Wettbewerb setzen. Ge- in der entscheidenden Frage eines wirtschaftlich vertret- rade auf nationaler Ebene besteht hier viel Freiraum für baren Energiemixes, zu dem auch Kernenergie zählt. eine Regierung, – wenn sie zu Reformen entschlossen Damit verabschiedet sich Deutschland aus der Debatte und fähig ist. Ich möchte nur einige Beispiele nennen, über ein Thema, an dem sich auch die Wettbewerbsfä- die zeigen, wie weit die deutsche – teilweise auch die eu- higkeit der deutschen Wirtschaft entscheiden wird. ropäische – Politik hinter den hehren Worten der Lissa- bonstrategie hinterherhinkt: Schließlich ein Blick auf den Mittelstand: Während der deutsche Mittelstand bereits auf die Herausforderun- So heißt es – und ich zitiere wörtlich – in Ihrem An- gen der Globalisierung reagiert hat und sich im interna- trag: tionalen Wettbewerb gut behauptet, dümpeln in Deutsch- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5293

(A) land wichtige Reformvorhaben dahin, und die schwarz- Deutschlands Wachstumsrate war in den letzten fünf (C) rote Koalition bringt es nicht fertig, dem Mittelstand Jahren nicht halb so hoch wie der Durchschnitt der auch national endlich verlässliche Rahmenbedingungen 25 europäischen Mitgliedstaaten. Die einseitige Exporto- zu geben, die ihn entlasten und nicht weiter belasten. rientierung der Bundesrepublik und die im EU-Vergleich desolate Lohn- und Beschäftigungsentwicklung werden Die schwarz-rote Koalition ist bislang nur groß im einfach nicht zur Kenntnis genommen. Deutschland hat Ankündigen, in taktischen Spielchen und Kehrtwendun- im Gegensatz zu 18 anderen europäischen Nachbarstaa- gen – bei der Umsetzung einer Strategie wie der Lissa- ten keinen gesetzlichen Mindestlohn. Es geht um 5 Mil- bonstrategie sind Sie schwächer als viele kleine Koali- lionen Menschen in der Bundesrepublik, die von einem tionen vor Ihnen und die meisten europäischen gesetzlichen Mindestlohn profitieren würden. Profitieren Regierungen. Kein Wunder, dass in Ihrem Antrag The- würden auch die Nachfrage und die Binnenwirtschaft. men nur angerissen und Schlagwörter genannt werden, ohne eine verbindende Idee oder Zielvorstellung, vor al- Stattdessen will die Regierungspolitik den Niedrig- lem ohne konkret zu werden. Keine der wichtigen Re- lohnsektor ausbauen. Darum wird die Fraktion Die formbaustellen, die in dem Bericht der Bundesregierung Linke, die sich im Bundestag für Mindestlöhne, für eine genannt sind, wird wirklich zu Ende gebracht. In der solidarische Bürgerversicherung, für eine gerechtere Summe bleibt das Nationale Reformprogramm eine An- Steuerpolitik und gegen Rentenkürzungen einsetzt, auch sammlung allgemeiner Absichtserklärungen. Ihre Politik die Proteste der Gewerkschaften am 21. Oktober nach erinnert an einen viel sagenden Begriff aus der Betriebs- Kräften unterstützen. wirtschaft: Was Schwarz-Rot seit einem Jahr in Deutsch- Die derzeitige negative Lohnpolitik wird nicht nur in land praktiziert, ist nicht mehr als „Stillstandsmanage- Deutschland, sondern auch in der gesamten Europäi- ment“. Es wäre gefährlich, wenn Sie der Versuchung schen Union zu einem weiteren Abfall der Wachstums- erliegen würden, die halbwegs gute Stimmung und Auf- und Beschäftigungsdynamik führen. Der Wettlauf um wärtsbewegung, die wir im Moment haben, ihrer Politik die niedrigsten Löhne und Gehälter wird dadurch be- zuzuschreiben. Die wirklichen Hausaufgaben auf dem schleunigt. Weg zu den Zielvorstellungen für ein erfolgreiches Eu- ropa liegen noch vor uns. Auswirkung der Lissabonstrategie in Deutschland war die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetzgebung, die Ein Satz zu dem Antrag der Bündnisgrünen: Thomas zu Massenprotesten und einem Sozialabbau in bisher Romanus hat einst gesagt: „Das Haar, das man in einer nicht gekanntem Ausmaß geführt haben. Auch das von Suppe findet, stammt oft vom eigenen Kopf.“ In diesem der Bundesregierung geplante Elterngeld, um die Be- Sinne muss ich Sie darauf hinweisen, dass Sie dieses schäftigungsquote der Frauen zu erhöhen, bringt nur ein- (B) Land in der ersten, entscheidenden Phase des Lissabon- geschränkt Vorteile. Erwerbslose und geringverdienende (D) prozesses – zwischen 2000 und 2005 – regiert haben. Ihr Eltern werden schlechter gestellt. Das betrifft 155 000 Antrag liest sich daher wie ein schlechtes Zeugnis für Familien in Deutschland. Die Regelungen führen zu ei- Ihre eigene Politik. Andere Länder sind hier mutige ner Umverteilung von Arm zu Reich. Schritte gegangen und haben die Reformen, von denen Sie bislang nur reden, bereits umgesetzt. Das Nationale Ich komme zur Unternehmensteuerreform. Trotz der Rahmenprogramm und der Antrag der Koalition strotzen im EU-Vergleich niedrigen Steuerbelastung der deut- nur so vor Allgemeinplätzen. Schade um die vielen schen Unternehmen kündigt die Bundesregierung wei- Worte und das viele Papier. Um es mit Marie von Ebner- tere Steuersenkungen an. Es gibt eigentlich überhaupt Eschenbach zu sagen: gar keinen Anlass, die Steuern zu senken. Diese Unter- nehmen sind sehr wettbewerbsfähig, sonst wäre man Für das Können gibt es nur einen Beweis: das Tun. nicht Exportweltmeister. Sie sollten wieder mehr an der Finanzierung der Gesellschaft beteiligt werden. Mit wei- teren Steuersenkungen zwingen wir die europäischen Alexander Ulrich (DIE LINKE): Die alte und über- arbeitete Lissabonstrategie verfolgt den falschen Ansatz. Nachbarn, nachzuziehen, mit dem Ergebnis, dass die Damit sage ich aus Sicht der Linken nichts Neues. Das Wettbewerbsbedingungen gleich bleiben, Steuereinnah- Nationale Reformprogramm als nationaler Umsetzungs- men ausbleiben und die Bevölkerung dies mit weiterem bericht zur Lissabonstrategie der Bundesregierung und Sozialabbau bezahlen muss. der entsprechende Antrag der großen Koalition folgen Die Mehrwertsteuererhöhung wird den privaten Kon- dem Kurs der Kommission. sum weiter ausbremsen und die Konjunktur schwächen. Der private Konsum sank auch im zweiten Quartal die- Bündnis 90/Die Grünen stellt sich in seinem Antrag ses Jahres. Die Bundesregierung ignoriert auch diese ebenfalls hinter die neoliberale Agenda der EU-Kom- Tatsache. mission und fordert lediglich „mehr Ehrgeiz“ und eine „Vorreiterrolle“ der Bundesrepublik. Das Ziel der Lissa- Die Unterstützung von Exzellenz in Forschung, Bil- bonstrategie, bis zum Jahre 2010 die Europäische Union dung sowie bei der Anwendung von wissenschaftlichen zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissens- Erkenntnissen ist allemal zu begrüßen. Bildungsinvesti- basierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, ist bisher tionen sind die entscheidenden Kriterien für die Zu- nicht ansatzweise geglückt. Die Fakten und Zahlen, kunfts- bzw. Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft. nicht zuletzt die der Halbzeitprüfung – Kok-Bericht –, Die Investitionen für Forschung und Bildung müssen belegen das Gegenteil. deutlich ausgeweitet werden. 5294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Die Linke begrüßt die Förderung von kleinen und Deutschland. Dabei ist Wissen der einzige Rohstoff, den (C) mittelständischen Unternehmen mit einer breiten Palette wir in Deutschland haben. Hier müssen wir stärker vo- an Projektmaßnahmen durch die Bundesregierung. Aber rankommen. Das Weiter-so der Bundesregierung können gerade diese Unternehmen werden durch die genannten wir uns nicht länger leisten. steuerpolitischen Maßnahmen besonders unter der Bin- nenmarktschwäche leiden. Beispiel Beschäftigung von Frauen: Frauen werden am Arbeitsmarkt immer noch stark benachteiligt. Dies Die Energiekonzerne verzeichnen Spitzenprofite. Die zeigt sich vor allem hinsichtlich Arbeitsvolumen, Bezah- Fortschreibung der Liberalisierung der Energiemärkte, lung und Karrierechancen. Bei einer Vollzeitbeschäfti- wie sie die Lissabonstrategie fordert, hat zu einer He- gung verdienen Männer im Durchschnitt 28 Prozent rausbildung von Monopolstrukturen geführt. Wesentli- mehr als Frauen. Nirgendwo in Europa stehen Frauen che Ursache für die steigenden Gewinne der Energiekon- schlechter da. In den deutschen Chefetagen tauchen zerne sind die gestiegenen Kosten für die Verbraucher. Frauen nur auf, um die Aktenmappe zu bringen oder den Deshalb brauchen wir eine konsequente Preiskontrolle. Kaffee zu servieren. Deutschland ist weltweit ganz hin- Die Strom- und Gasnetze sind in die öffentliche Hand zu ten bei Frauen in Führungspositionen. Die Männerdomi- überführen. nanz ist längst zum Innovationshindernis für Deutsch- land geworden. Außenpolitische Krisen um Öl, Gas und Uran, die Endlichkeit der fossilen Energieträger, die kartellartigen Letztlich geht es auch bei der Lissabonstrategie um Strukturen des Energiemarktes und der bedrohliche Kli- die Frage: Welches Europa wollen wir? Wir Grünen wol- mawandel sind offenbar kein Thema für die EU-Kom- len ein soziales, ökologisches und wettbewerbsfähiges missare. Deshalb fordere ich dringend dazu auf, Energie- Europa. Die Menschen wollen wissen unter welchen Be- effizienz und erneuerbare Energien zu fördern, um dingungen sie in Deutschland und Europa leben und ar- Arbeitsplätze zu schaffen und weltweit führend in Zu- beiten werden. Wie sollen sie verstehen, dass wir fast kunftstechnologien zu bleiben. Wir brauchen ein neues das einzige Land ohne Mindestlöhne sind und die Bun- Herangehen, in dessen Mittelpunkt die Bedürfnisse der desregierung noch nicht einmal den Minimalschritt zu- Menschen stehen und nicht die der Konzerne in Europa. stande bringt, das Entsendegesetz auf alle Branchen an- zuwenden? Der Versuch, ein neoliberales Europa mit der Die eingebrachten Anträge der Fraktion des Bündnis- Brechstange einzuführen, ist zum Scheitern verurteilt ses 90/Die Grünen sowie der Regierungsfraktion verfol- und schadet der EU als Ganzes. Man denke nur an die gen den neoliberalen und unsozialen Ansatz unter dem Dienstleistungsrichtlinie und die gescheiterten Verfas- offiziellen EU-Segen namens „Lissabonstrategie“. Wir sungsreferenden. Wir dürfen weder die soziale noch die lehnen beide Anträge ab. (B) ökologische Dimension als lästigen Ballast über Bord (D) werfen, wie dies einige bei der Debatte um den Kok-Be- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): richt versucht haben, und ein Stück weit ist es ihnen ja Es ist das erklärte Ziel der Bundeskanzlerin, in Europa sogar leider auch gelungen. Für uns Grüne ist klar: Nur einen Spitzenplatz einzunehmen. Angesichts dessen ist eine nachhaltige Entwicklung verspricht eine dauerhaft der vorliegende Umsetzungsbericht eine einzige Enttäu- höhere Lebensqualität. schung. Kein einziges der Lissabonziele erfüllt Deutsch- Wenn wir die Menschen für Europa gewinnen wollen, land derzeit. Das Markenzeichen der großen Koalition müssen die Bürgerinnen und Bürger die konkreten Vor- bleibt: viel Eigenlob, keine Konzepte. Der wettbewerbs- teile Europas erfahrbar machen. Deshalb ist auch die fähigste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt lässt Lissabonstrategie so wichtig und deshalb ist es so bedauer- sich aber nicht herbeiwünschen. Nötig ist: „Mehr Ehr- lich, dass die Bundesregierung das Ganze nur noch als rhe- geiz bei der Erreichung der Lissabonziele“, wie wir dies torische Pflichtübung behandelt. Bald übernimmt Deutsch- auch in unserem Antrag einfordern. land die EU-Präsidentschaft. Sie steht deshalb auch in Der Antrag der Regierungsfraktionen beinhaltet dage- einer besonderen Verantwortung für den Lissabonpro- gen viel warme Worte und wenig Konkretes. Er ist damit zess. Schlimm, dass Deutschland bei den Lissabonzielen ganz auf einer Linie mit dem Umsetzungsbericht der nicht gut dasteht! Viel schlimmer aber ist, dass diese Re- Bundesregierung, in dem Brüssel die heile Welt gemel- gierung weder Konzept noch Ehrgeiz hat, dies zu än- det wird. Dass Bericht und Realität weit auseinander dern. klaffen, scheint der Bundesregierung nicht peinlich zu sein. Ich will nur zwei Beispiele aufführen. Anlage 8 Beispiel Bildung: Im schulischen Bereich hat Deutschland einen blauen PISA-Brief und bleibt verset- Zu Protokoll gegebene Reden zungsgefährdet. Im Hochschulbereich hat uns die OECD bescheinigt, dass wir weit mehr Hochschulabsolventen zur Beratung der Beschlussempfehlung und des brauchen, als wir tatsächlich ausbilden. In dem Umset- Berichts: Gegen die Schließung von 45 Standor- zungsbericht verliert die Bundesregierung auch kein ten bei der Deutschen Telekom AG (Tagesord- Wort über die derzeit 215 000 Jugendlichen auf Ausbil- nungspunkt 14) dungsplatzsuche. Eine Weiterbildungsstrategie für Er- wachsene gibt es nicht. Die skandinavischen Länder er- Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Der vorlie- reichen doppelt so hohe Weiterbildungsquoten als gende Antrag der Fraktion Die Linke ist eine schwer er- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5295

(A) trägliche Mischung aus Heuchelei, billigstem Populis- sche Entscheidungen zu treffen und andere zu unterlas- (C) mus und völliger wirtschaftlicher Ahnungslosigkeit. Sie sen, kann eigentlich nur von der PDS sein. fordern die Rückkehr in die Staatswirtschaft. Dabei ist nun wirklich jedem völlig klar, dass der Liberalisie- Waltraud Lehn (SPD): Der vorliegende Antrag be- rungsprozess in der Telekommunikation eine einzige Er- zieht sich auf eine unternehmerische Entscheidung der folgsgeschichte ist. T-Com. Ziel dieser Entscheidung ist es, durch Konzen- In den zehn Jahren zwischen 1995 und 2005 sind in der tration der 96 Call-Center eine größere Effizienz sowie ITK-Branche 120 000 – und das möchte ich betonen – zu- höhere Qualitätsstandards zu sichern. sätzliche Arbeitsplätze entstanden. Auch wenn einige Dazu stelle ich fest: Erstens. Geschäftsführung und Arbeitsplätze durch die unglaubliche Dynamik der Bran- Gesamtbetriebsrat haben sich darauf verständigt, che, den atemberaubenden technischen Wandel im Be- 36 Standorte zu schließen. Das Unternehmen wollte ur- reich der Kommunikation verloren gegangen sind, so sprünglich 45 Standorte schließen. Unter den gegebenen sind doch noch mehr hinzugekommen. Der Saldo ist Umständen ist dieses Ergebnis ein Erfolg für die Be- positiv. schäftigten. Zweitens. Am 22. September 2006 waren Die Liberalisierung hat für die Verbraucher zu vielfäl- bereits 20 Standorte geschlossen, 16 weitere folgen – un- tigen Angeboten bei drastisch reduzierten Preisen ge- ter den Beteiligten abgestimmt – in diesem Jahr. Drit- führt. Das haben wir in den letzten zehn Jahren gesehen. tens. Die Privatisierung der Telekom – nur zur Erinne- Call-by-Call-Dienste sind im Festnetz eine Selbstver- rung – ist Fakt und wurde von der Regierung Kohl ständlichkeit geworden. Mehrwertdienste sind in der bereits beschlossen. klassischen Telefonie und im Mobilfunk inzwischen all- Ohne Zweifel: Das privatisierte Unternehmen trägt täglich. Ein Beispiel für die ungebrochene Dynamik der besondere Verantwortung gegenüber seinen Beschäftig- Branche, für ihre außerordentliche Innovationskraft ist ten. Es ist eine gute Nachricht, dass im Zuge der Stand- das Internet. Das Internet hat in den letzten zehn Jahren ei- ortzusammenlegung sozialverträgliche Regelungen zwi- nen Siegeszug ohne gleichen angetreten. Dank einer im- schen Unternehmen und Betriebsrat gefunden wurden. mer leistungsfähigeren Telekommunikationsinfrastruktur Betriebsbedingte Kündigungen konnten so vermieden sind Internetzugänge für Privatkunden 30-mal schneller werden. als vor zehn Jahren, einige sogar schon 300-mal schnel- ler. Das ermöglicht immer mehr Anwendungen, immer Ich sage deutlich: Betriebliche Vereinbarungen haben mehr Dienste und schafft neue Arbeitsplätze im Land. einen hohen Stellenwert in unserem Land. Sie sind in al- Dies alles ist mit Staatswirtschaft der PDS nicht zu ler Regel interessenausgleichend. Sie sind problem- und schaffen. ortsnah und damit am ehesten geeignet, gute Lösungen (B) zu finden. (D) Jetzt zu den Callcentern der Telekom. Ich frage mich, ob und – wenn ja – welches wirtschaftliche Verständnis Hinter dem vorliegenden Antrag steht aber ein viel Sie haben, Entscheidend ist doch, dass so viel Arbeits- weiter gehendes Anliegen, als es der Titel vermuten plätze wie möglich geschaffen werden. Das geht aber lässt. So fordern die Herren und Damen Antragsteller die nur dann, wenn nicht unrentable Arbeitsplätze und -stät- Bundesregierung allgemein auf, über ihre Beteiligung an ten den Unternehmen die finanzielle Kraft für Innova- der Deutschen Telekom AG darauf hinzuwirken, die Pri- tion und Expansion rauben. Wer aus angeblich sozialen vatisierung des Konzerns zu beenden. Gründen unrentable Arbeitsplätze erhält, gefährdet nicht Wir lehnen den Antrag aus mehreren Gründen ab: nur sein Unternehmen, sondern auch den Wirtschafts- Zum einen ist der Einfluss der Bundesregierung auf die standort Deutschland. Entscheidung der T-Com zur Zusammenlegung von Es ist schlimm und dramatisch für alle Betroffenen, Standorten rechtlich begrenzt. Die hier debattierte Frage wenn Arbeitsplätze abgebaut werden müssen. Um so er- betrifft nämlich das operative Geschäft des Unterneh- freulicher ist es dann, wenn man auf Menschen trifft, die mens. Laut Aktiengesetz ist der Bund als Anteilseigner offen für pragmatische Lösungen sind. Auch im Vor- in diesen Fragen jedoch zur Neutralität verpflichtet, da stand der T-Com sitzen verantwortungsvolle Manager, das operative Geschäft ausschließlich vom Vorstand des die zwar die wirtschaftliche Zukunft ihres Unternehmens Unternehmens bestimmt wird. Die Entscheidung zur Pri- natürlich im Blick haben, sich aber sinnvollen Lösungen vatisierung des ehemaligen Staatskonzerns Telekom ist für die Region nicht verschließen. So konnten zum Bei- längst getroffen. Ob das mehr oder weniger richtig ist, spiel. 200 Arbeitsplätze in Neustadt an der Weinstraße, steht überhaupt nicht zur Debatte. Es ist Fakt. Die Priva- 260 in Saarbrücken und auch 100 in Stade erhalten wer- tisierung der Telekom entspricht geltendem EU-Recht. den. Insgesamt konnte die Zahl der von der Zusammen- Hätten wir sie nicht schon, müssten wir sie jetzt machen. legung betroffenen Mitarbeiter von rund 3 300 auf Wir müssen akzeptieren, dass die T-Com unter erheb- 2 150 reduziert werden. Darüber haben sich Arbeitgeber lichem Wettbewerbsdruck steht. Neben allen richtigen und Betriebsrat im Rahmen eines Einigungsstellenver- und wichtigen Bedenken gegen Stellenabbau muss sich fahrens verständigt. das Unternehmen am Markt behaupten. Und auch wenn Deshalb ist es schlimm, dass die Linke den Menschen jede Nachricht über Stellenabbau in unserem Land eine etwas vorgaukelt! Wer ernsthaft glaubt, dass der Staat als schlechte Nachricht ist: Die Zusage, dass der vorgese- Minderheitsaktionär einem Unternehmen, an dem er be- hene Abbau von 32 000 Arbeitsplätzen bei der Deut- teiligt ist, vorschreiben kann, bestimmte unternehmeri- schen Telekom bis 2008 ohne betriebliche Kündigungen 5296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) geschieht, gibt zumindest den derzeit Beschäftigten die litiker oder Verwaltungen die besseren Unternehmer, die (C) Perspektive einer sicheren Beschäftigung bzw. eines so- besser wissen, was das Richtige für ein Unternehmen zialverträglichen Übergangs in andere Arbeitsverhält- wie die Deutsche Telekom ist? Wollen wir entscheiden, nisse oder auch in den Ruhestand. was der beste Standort, der beste Tarif und das beste neue Produkt ist? Natürlich können diese Argumente kein Freischein für Stellenabbau sein. Als einer der größten Arbeitgeber Wer die soziale Marktwirtschaft will, kann die Frage dieses Landes mit derzeit 170 000 Mitarbeiterinnen und nur ganz klar mit Nein beantworten. Auch wenn die Mitarbeitern im Inland trägt der Konzern Deutsche Tele- Bundesregierung bei vielem Murks macht, Marx ist kom auch eine hohe soziale Verantwortung. Als ehema- nicht die richtige Antwort. ligen Staatskonzern sehe ich das Unternehmen in einem Da es diesem Sachverhalt aus unserer Sicht keinen noch stärkeren Spannungsfeld zwischen Menschen und neuen Punkt hinzuzufügen gibt, möchte ich die Gelegen- Markt als die Wirtschaft generell. Arbeitsplatzabbau heit nutzen, um noch auf zwei Beispiele einzugehen, bei kann für Unternehmen allgemein und für die T-Com im denen sich die Herangehensweise der Bundesregierung Besonderen immer nur das letzte Mittel einer verant- im Bereich der Telekom von unserem liberalen Denken wortlichen Politik sein. sehr stark unterscheidet: Ich unterstütze Überlegungen, die nach innovativen Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf eines Beschäftigungsmöglichkeiten für Überhangpersonal bei Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ver- der Telekom suchen. Ich halte es für Unsinn, wenn besserung der personellen Struktur beim Bundeseisen- 45-Jährige in der Blüte ihres Arbeitslebens tatenlos in bahnvermögen und in den Unternehmen der Deutschen Beschäftigungsgesellschaften geparkt werden. Es gibt Bundespost vorgelegt, der es dem Postnachfolgeunter- bereits positive Erfahrungen, dass für diese Arbeitneh- nehmen Deutsche Telekom AG ermöglichen soll, Perso- mer Beschäftigungen in Argen oder bei der Bekämpfung nalüberhänge durch Frühpensionierung bei den Beamten von Schwarzarbeit gefunden werden. Solange dies nicht abzubauen. So bestehen gemäß der Gesetzesbegründung mit Zusatzkosten für den Bundeshaushalt verbunden ist, bei der Telekom Überhänge von zurzeit rund 32 000 Be- helfen solche Lösungen allen Beteiligten. Die bestehen- schäftigten, wobei von diesen überzähligen Kräften circa den Erfahrungen sollten ausgewertet und, wenn möglich, 10 000 Mitarbeiter Beamte sind. Diese Frühpensionie- ausgeweitet werden. rungswelle passt nicht in die Zeit. Einer Bundesregie- Diese Ansätze können helfen, folgendes Spannungs- rung, die ernsthaft über ein Renteneintrittsalter mit verhältnis zu lösen: Auf der einen Seite steht ein hoher 67 Jahren diskutiert, gleichzeitig aber Beamte mit 55 in Nettokonzerngewinn von 1 Milliarde Euro im letzten Pension schicken will, scheint nicht nur der Sinn für das (B) Quartal. Auf der anderen Seite stehen noch immer fast Gemeinwohl abhanden gekommen zu sein, sie macht (D) 40 Milliarden Euro Schulden. Zum Dritten wächst die sich auch unglaubwürdig. Hier tut sich die viel disku- nationale und internationale Konkurrenz weiter an. tierte Gerechtigkeitslücke auf. Dazu scheint das Inte- resse des Bundes an guten Kursen und hohen Dividen- Die Lösung dieses Problems darf nicht einseitig und den als Folge eines staatlich unterstützten Personalab- auf Kosten der Beschäftigten ausfallen. baus in den jeweiligen Aktiengesellschaften den „Golde- nen Handschlag“ zu beflügeln. Die SPD-Fraktion steht zur erfolgreichen Privatisie- rung der Deutschen Telekom. Wir fordern und unterstüt- Auch der Bundesrechnungshof hat sich kritisch mit zen im Rahmen unserer Möglichkeiten eine verantwor- dem Gesetzentwurf auseinander gesetzt, mit dem Ergeb- tungsvolle Unternehmensstrategie, die alle Interessen im nis, dass am Ende mehr ungeklärte Fragen als Antworten Blick behält: die Interessen des Unternehmens, die Inte- im Raum standen. Aus der Gesetzesbegründung war es ressen der Beschäftigten und die Interessen des Bundes. dem Rechnungshof nicht möglich, die Belastbarkeit der Aussage hinsichtlich der Kostenneutralität zu prüfen. Martin Zeil (FDP): Ungeachtet der unterschiedlichen Zudem führen die kurzen Fristen dazu, Risiken und Auffassungen zu den Grundprinzipien einer marktwirt- Chancen des Bundes nicht bewerten zu können. Im Ge- schaftlichen Ordnung und zur Staatstätigkeit möchte ich gensatz dazu soll nach Angaben der Bundesregierung vorweg wiederholen, was ich bereits bei der ersten Le- die Frühpensionierungsregelung für den Haushalt kos- sung dieses Antrags betont habe: tenneutral sein. Konkrete Angaben über das Gesamtvo- lumen werden allerdings nicht gemacht. Damit wird ein Da von den beabsichtigten Schließungen auch weiterer unkalkulierbarer Posten in den Haushalt gestellt 16 Standorte in Bayern betroffen sind, habe ich vol- und eine weitere so genannte Lex Telekom geschaffen. les Verständnis für die Situation der betroffenen Das können wir Liberale nicht unterstützen! Wie un- Mitarbeiter, denn gerade die Verlagerungen von Ar- glaubwürdig muss dies in den Augen der Telekom-Mit- beitsplätzen aus strukturschwachen Regionen ist in arbeiter wirken, die von den Schließungen betroffen sind vielen Teilen Deutschlands ein Problem. und dann diese Politik des „Goldenen Handschlags“ an anderer Stelle erleben müssen? Der Antrag gibt über den konkreten Anlass hinaus zu- gleich aber die Gelegenheit, die Frage nach den Aufga- Interessanterweise war der Begriff „Lex Telekom“ für ben der Politik und der Rolle des Staates bei der wirt- die geplanten Regulierungsferien beim Breitbandange- schaftlichen Betätigung zu stellen: Wollen wir soziale bot und den so genannten neuen Märkten reserviert, was Marktwirtschaft oder staatliche Planwirtschaft? Sind Po- aber die oberste nationale Wettbewerbshüterin, die Bun- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5297

(A) desnetzagentur, unterbunden hat, eine Entscheidung, die dilstränen über den Arbeitsplatzabbau sparen. Wer – wie (C) langfristig mehr Wettbewerb in diesem Markt bringen die Bundesregierung – den Investoren öffentliches Ei- wird, wovon am Ende die Verbraucher durch eine grö- gentum andient, der kann hinterher nicht behaupten, er ßere Auswahl an qualitativ hochwertigen und preisgüns- hätte nicht gewusst, dass Investoren zuallererst den Un- tigen Breitbandangeboten profitieren werden. Nur durch ternehmenswert steigern und nicht die Beschäftigung si- diesen Wettbewerb und mit keiner staatlichen Verord- chern wollen. Beides zusammen geht nicht! Wenn die nung wird sich langfristig auch die Zahl der Anwender öffentliche Hand zu ihrer beschäftigungspolitischen Ver- und Nutzer dieser schnellen Internetanbindung in antwortung in zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge Deutschland erhöhen. – Gesundheit, Kommunikation, Verkehr, Wohnen etc. – stehen will, dann muss sie am öffentlichen Eigentum Die Entscheidung der Bundesnetzagentur sollte als festhalten. Zeichen von der schwarz-roten Koalition erkannt wer- den, ihre bisherigen Positionen zu überprüfen. Zu erwar- Ich habe heute morgen in der Debatte über den Kün- ten ist hier aber nicht viel, da sich die Regierung bisher digungsschutz darauf verwiesen, dass die Beschäftigten – auch mit Blick auf die Umsatzsteuerbefreiung und das erst durch Schutzrechte in die Lage versetzt werden, Teilmonopol der Deutschen Post AG – nicht gerade zwischen Alternativen zu wählen. Wer keine Rechte hat, durch eine wettbewerbsfreundliche Politik auszeichnet. der kann nicht wählen. Er muss das machen, was andere, – in diesem Fall die Arbeitgeber – ihm oder ihr diktieren. Eine letzte Bemerkung zu den in letzter Zeit viel dis- kutierten DSL-Anschlüssen im ländlichen Raum. Viele Ähnlich verhält es sich mit den Beschäftigten öffentli- Gemeinden und damit auch viele innovative Betriebe cher Unternehmen: Solange das Unternehmen im Besitz werden da von der Versorgung mit schnellen DSL-Da- der öffentlichen Hand ist, ist dieses angehalten, bei sei- tenanschlüssen und damit von einer Zukunftstechnik nen unternehmerischen Entscheidungen das Wohl der ausgeschlossen. An dieser Stelle nutzt die Telekom ihr Beschäftigten in besonderer Weise zu berücksichtigen. altes Monopol aus. Wir fordern deshalb auch hier in Zu- Private Unternehmen kennen diese Fürsorgepflicht nicht kunft mehr Wettbewerb. Es muss eine Lösung gefunden in gleicher Weise; bei ihnen steht das Gewinninteresse werden, die unabhängig von allen bisherigen gesetzli- im Vordergrund. Wenn nun die öffentliche Hand ihre chen Regelungen ist und mit der sowohl die Verbraucher Unternehmen privatisiert, dann bedeutet das für die Be- als auch das Unternehmen leben können. schäftigten zwangsläufig die Unterordnung ihrer Interes- Wir Liberale werden uns auch in Zukunft dafür ein- sen unter das Gewinnstreben des Unternehmens. setzen, dass private Lösungen staatlichen vorgezogen Die beschäftigungspolitische Verantwortung der öf- werden, dass es einen fairen Wettbewerb gibt und dass fentlichen Hand kann deshalb nur eines bedeuten: den (B) aus ehemaligen staatlichen Monopolen keine privaten Erhalt des öffentlichen Eigentums an den Einrichtungen (D) Monopole werden, die den Wettbewerb zu Lasten der der Daseinsvorsorge. Alles andere führt wie im Fall der Verbraucher unterbinden. Telekom letztendlich zu Beschäftigungsabbau.

Werner Dreibus (DIE LINKE): Im April dieses Jah- Unter der Führung der SPD wurde dieser Fehler be- res hat meine Kollegin Petra Pau an dieser Stelle an die gangen und es gibt keinen Grund, diesen Fehler unter beschäftigungspolitische Verantwortung des Bundes in der Führung der Union ein weiteres Mal zu begehen. Si- seiner Funktion als Arbeitgeber erinnert. Auf dem Spiel chern Sie Beschäftigung und öffentliche Daseinsvor- standen damals 32 000 Stellen bei der Deutschen Tele- sorge! Beenden Sie die Politik der Privatisierung! kom. Inzwischen haben sich das Unternehmen, die Ge- werkschaft Verdi und der Betriebsrat auf eine soziale Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE Abfederung des Arbeitsplatzabbaus geeinigt. Das ist aus GRÜNEN): Die Einführung von Wettbewerb bei der Sicht der betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehme- Telekommunikation hat die Voraussetzung für das Ent- rinnen sicher zu begrüßen. stehen von Hunderttausenden neuen Arbeitsplätzen im Bereich der Informations- und Kommunikationsdienst- Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Bun- leistungen, der neuen Medien und des E-Commerce ge- desregierung ihrer Verantwortung nicht gerecht gewor- schaffen. Wir unterstützen diesen Prozess und fordern den ist: Die Arbeitsplätze wurden abgebaut und früher faire Wettbewerbsbedingungen für große und kleine Un- oder später werden die Betroffenen trotz aller Zwischen- ternehmen. Wer Staatsunternehmen erhalten will wie die lösungen auf der Straße stehen. Und das ändert auch PDS, der verwehrt kleinen und mittleren Unternehmen nichts an dem Umstand, dass die organisierte Verantwor- den Marktzugang und verhindert so das Entstehen wett- tungslosigkeit des Bundes, aber auch vieler Länder und bewerbsfähiger Arbeitsplätze. Kommunen weiter anhält. Bereits heute ist erkennbar, um nur ein Beispiel zu Die Deutsche Telekom AG als früheres Monopol- nennen, dass bei der von SPD und Union betriebenen unternehmen hat einen schwierigen Anpassungsprozess Privatisierung der Bahn wieder Tausende Beschäftigte zu meistern. Sie muss unter Wettbewerbsbedingungen unter die Räder kommen werden. bestehen und sich auf neuen Märkten positionieren. Na- turgemäß muss sie Marktanteile an neue Wettbewerber Wer den Börsenwert eines – noch – öffentlich kon- abgeben. Per saldo sind bei den Telekommunikationsun- trollierten Unternehmens zur Maxime seines Handelns ternehmen seit der Liberalisierung 1998 neue Arbeits- macht, der kann sich nach der Privatisierung die Kroko- plätze entstanden. 5298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Der Bund sollte seine Anteile kontinuierlich verkau- Wir sind für faire Wettbewerbsbedingungen für alle (C) fen und die Mittel aus dieser Privatisierung in Bildung Unternehmen. Wir treten für soziale Schutzrechte für die und Forschung investieren. Nur so können für die Zu- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein, die in allen kunft Arbeitsplätze in Deutschland gehalten werden. Unternehmen gleichermaßen gelten. Die PDS will an Staatsunternehmen festhalten und meint, mit Staatsunternehmen die Probleme struktur- Anlage 9 schwacher Regionen lösen zu können. Diese Versuche sind bereits sehr oft gescheitert. Wir wollen struktur- Zu Protokoll gegebene Reden schwache Regionen mit Zukunftsinvestitionen und nicht zur Beratung der Anträge: mit Staatsunternehmen unterstützen. – Gefährliche Streumunition verbieten – Das Unter anderem durch schwere Versäumnisse und Feh- humanitäre Völkerrecht weiterentwickeln ler des Managements ist es der Deutschen Telekom AG nicht gelungen, sich so auf dem Markt zu behaupten, – Zivilbevölkerung wirksamer schützen – dass sie ohne Personalabbau auskommt. Wer aber will, Streumunition ächten dass auch bei der Telekommunikation Wettbewerb – Für die Ächtung von Landminen und Streu- greift, der kann nicht ausschließen, dass auch bei frühe- munition ren Monopolunternehmen Personal abgebaut werden muss. Andernfalls könnte auch bei den Wettbewerbern (Tagesordnungspunkt 17 a und b und Zusatz- kein Personal aufgebaut werden. tagesordnungspunkt 5) Der Antrag der PDS hat mit der Realität nichts zu tun. Hans Raidel (CDU/CSU): Mit unserem Antrag „Ge- Der Bund hält nur noch eine Minderheitsbeteiligung an fährliche Streumunition verbieten – Das humanitäre der Deutschen Telekom. Richtig ist, dass die Deutsche Völkerrecht weiterentwickeln“ greifen wir ein äußerst Telekom AG im Einvernehmen mit dem Betriebsrat die wichtiges abrüstungspolitisches Thema auf, das durch Zahl der Callcenter von 91 auf 58 reduziert. Die Mitar- viele Krisenherde in der Welt, insbesondere aber durch beiter in den zu schließenden Callcentern erhalten Ange- aktuelle Kampfhandlungen im Libanonkonflikt, uns er- bote, in anderen Callcentern zu arbeiten. Es gibt keine neut seine Brisanz eindringlich ins Bewusstsein ruft. Je- betriebsbedingten Kündigungen. Wir fordern die DTAG dermann weiß, gefährliche Blindgänger von Streumuni- auf, für Härtefälle soziale Lösungen zu suchen. Weiter- tion hemmen die Wiederaufbauanstrengungen und hin fordern wir die Deutsche Telekom auf, wo immer erschweren den Transport von Hilfssendungen sowie die möglich durch Qualifizierung und Umschulung neue Nutzung oder Urbarmachung land- und forstwirtschaftli- (B) Perspektiven für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu (D) cher Flächen. Sie erschweren an vielen ehemaligen schaffen, deren Beschäftigung wegfällt. Netto werden Schauplätzen bewaffneter Konflikte die Rückkehr der im Konzern 19 000 abgebaut, dabei werden 27 000 Stel- Zivilbevölkerung in ihre angestammten Wohngebiete. len abgebaut, während 8 000 Stellen neu aufgebaut wer- den. Andere Fraktionen haben eigene Anträge gestellt. Um es klarzustellen: Wir achten jede Auffassung und Mei- Wir halten auch nichts davon, der Deutschen Tele- nung, die hilft, die Ächtung und letztlich die Beseitigung kom AG in neuen Bereichen Monopolstellungen zu ge- dieser scheußlichen Kriegsmittel herbeizuführen und währen. Bisweilen erweckt die DTAG ja den Eindruck, völkerrechtlich möglichst rasch verbindliche Formen mit dann auf Arbeitsplatzabbau verzichten zu können. Der Verträgen, Vereinbarungen oder Protokollen zu errei- Abbau von Arbeitsplätzen bei Wettbewerbern wäre das chen. Dass wir dabei die Respektierung unserer Auffas- Ergebnis. EU-Wettbewerbskommissarin Natalie Croes sung ebenso erwarten, ist selbstverständlich. hat in einem Brief an die Bundesregierung festgestellt, dass der Entwurf zur Novelle des Telekommunikations- Es geht also nicht um das Ob, da sitzen wir im selben gesetzes nicht mit dem europäischen Telekommunika- Boot, sondern um das Wie. Welche Wege sind erfolg- tionsrecht übereinstimmt und ein Vertragsverletzungs- reich? Welche Maßnahmen sind geeignet, das Thema zu verfahren nach sich ziehen wird. Die Bundesregierung befördern? Welche sind eher schädlich? Und es geht will die DTAG für den Aufbau des VDSL-Breitbandes trotz aller Sympathien für das Thema auch darum, wel- von der Zugangs- und Preisregulierung durch die Bun- che Sicherheitsinteressen für das eigene Land, für die desnetzagentur ausnehmen. Das würde der Deutschen EU, für die NATO und andere Regionen berücksichtigt Telekom AG gestatten, ihre marktbeherrschende Stel- werden müssen. lung in weitere Bereiche auszudehnen, denn Wettbewer- Wir wissen aus Erfahrung, wie mühsam es ist, Abrüs- ber hätten nicht die Möglichkeit, diese innovativen tungserfolge zu erzielen. Betrachten wir nur das Ottawa- Dienste anzubieten. Der Regulierungsverzicht erhöht die Minenprotokoll und das damit verbundene jahrelange Preise für Verbraucherinnen und Verbraucher, innovative Tauziehen. Deutschlands Regierung und Parlament ha- Anbieter von Diensten und erschwert den Marktzugang ben sich dabei besonders engagiert und erfolgreiche für Wettbewerber. Durch dieses Vorgehen werden Unter- Schrittmacherdienste geleistet. Das Ottawa-Minenproto- nehmen wie zum Beispiel Arcor oder iesy benachteiligt koll wirkt. und um Marktchancen bei im neu entstehenden „triple- play“-Markt (Fernsehen, Internet und Telefonie über Diplomatisches Fingerspitzengefühl für das politisch eine Leitung) beraubt. Machbare, verbunden mit einem realistischen Schrittfol- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5299

(A) gekonzept der praktischen Schritte und des Zeitmaßes tion ist das UN-Waffenübereinkommen, CCW, mit (C) für die Ächtung und Beseitigung sind auch hier das Ge- seinem globalen Konsultationsmechanismus. Die bishe- bot der Stunde. Ein langer Atem und die Bereitschaft rigen Erörterungen des Themas in diesem Rahmen, zu- zum Bohren dicker Bretter sind auch hier Voraussetzun- letzt Anfang September in Genf, haben gezeigt, dass der- gen für den Erfolg. „Alles oder nichts“-Konzepte“ und zeit keine Aussicht besteht, dass der überwiegende Teil Betrachtungen vom hohen moralischen Podest führen er- der Staatengemeinschaft einem kurzfristigen Verzicht fahrungsgemäß nicht zum Erfolg. auf Streumunition zustimmt. Etliche Staaten sperren sich bereits gegen ein Erörterungsmandat zu Streumunition. Mit unserem Antrag stützen und unterstützen wir den eingeschlagenen Weg der Bundesregierung und befür- Die Bundesregierung ist dagegen nachhaltig bemüht, worten die diplomatischen Initiativen des Auswärtigen dass die CCW-Überprüfungskonferenz im November Amtes und die praktischen Schritte im deutschen Besei- 2006 ein Mandat für das Jahr 2007 verabschiedet, das tigungskonzept der Bundeswehr. Erörterungen zur Funktionszuverlässigkeit und zum Ein- Inzwischen verstehen immer mehr Regierungen die satz von Streumunition vorsieht, um so die Grundlagen Dringlichkeit des Themas. Um die Diskussion voranzu- für ein von uns angestrebtes Verbot solcher Streumuni- bringen, haben wir im März 2006, als erster Staat über- tion zu legen, deren für Personen gefährliche Blindgän- haupt, eine Definition von Streumunition vorgestellt. gerrate über einem Prozent liegt. Der noch weiter gehen- Unsere Definition wird auf den nächsten Sitzungen wei- den Forderung einiger weniger Vertragsstaaten, bereits ter diskutiert werden, wobei wir natürlich auch zusätzli- jetzt ein Verhandlungsmandat zu beschließen, wurde ge- che bilaterale Gespräche, so unter anderem mit Frank- rade von solchen Staaten eine Absage erteilt, die über er- reich, Großbritannien, USA, Russland und anderen, hebliche Bestände an Streumunition verfügen. Doch ge- führen. Damit sind wir unserem Ziel, eine substanzielle rade diese Staaten gilt es in unsere Bemühungen zum internationale Diskussion über Streumunition anzusto- schrittweisen Verzicht auf Streumunition einzubinden. ßen, ein gutes Stück näher gerückt. Eine Reihe von Mit- Die Position der Bundeswehr beurteile ich folgender- gliedstaaten, das Internationale Komitee des Roten maßen: Kreuzes und die in der Thematik führende Nichtregie- rungsorganisation Human Rights Watch haben unsere Im Rahmen des UN-Waffenübereinkommens – Über- Vorstöße ausdrücklich begrüßt. einkommen vom 10. Oktober 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventio- Als langfristiges Ziel der Diskussionen streben wir neller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder ein Protokoll zu Streumunition an, das Regelungen zu unterschiedslos wirken können – hat Deutschland stets Verlässlichkeit, aber auch zum Einsatz umfassen sollte. das Ziel verfolgt, die Auswirkungen bewaffneter Kon- (B) Dabei setzen wir uns für ein Verbot solcher Streumuni- flikte in ihrem Verlauf und nach ihrer Beendigung vor al- (D) tion ein, deren für Personen gefährliche Blindgängerrate lem auf die Zivilbevölkerung zu minimieren. bei über einem Prozent liegt. Das Protokoll über explosive Kampfmittelrückstände Bis dahin ist aber noch ein langer Weg. Wir sind da- – Protokoll V vom 28. November 2003 zum UN-Waf- von überzeugt, dass wir behutsam agieren müssen, um fenübereinkommen – trägt der Erkenntnis Rechnung, möglichst viele Staaten auf diesem Weg mitzunehmen. dass explosive Kampfmittelrückstände, unter anderem Wir glauben daher, dass der von einigen Staaten wie der Blindgänger, nach Konflikten schwerwiegende humani- Schweiz oder Schweden erhobene Ruf nach einem Ver- täre Probleme verursachen. Neben allgemeinen Rege- handlungsmandat über Streumunition verfrüht ist und lungen zur Reduzierung der Gefahren durch explosive die Gefahr eines abrupten Endes der Diskussionen im Kampfmittelrückstände enthält das Protokoll V auch die Rahmen des UN-Waffenübereinkommens in sich birgt. Verpflichtung zur Kennzeichnung und Beseitigung kon- Wichtig ist vor allem, das Thema überhaupt interna- ventioneller Blindgänger und Fundmunition. Außerdem tional zu behandeln und ein Forum für den Vergleich na- soll die Funktionszuverlässigkeit von Munition auf frei- tionaler Anstrengungen zu bieten. Schon dadurch wer- williger Basis verbessert werden. den sich viele Änderungen ergeben. So sind wir davon Das Gesetz zum Protokoll V zum UN-Waffenüberein- überzeugt, dass die wegweisende deutsche Entschei- kommen ist am 11. Februar 2005 in Deutschland in Kraft dung, Streumunition durch alternative Munition zu er- getreten. Deutschland hat am 3. März 2005 als fünfter setzen, einen profunden Einfluss auf die Rüstungsent- Vertragsstaat die Ratifizierungsurkunde beim General- scheidungen anderer Länder haben wird. sekretär der Vereinten Nationen als Verwahrer des UN- Bislang hat nur Belgien im Februar/März 2006 ein Waffenübereinkommens hinterlegt. Das Protokoll wird gesetzliches Verbot von Streumunition erlassen, das absehbar am 12. November 2006 für rund 22 Staaten auch den vollständigen Abbau der nationalen Bestände völkerrechtlich in Kraft treten, die es bereits ratifiziert einschließt. Norwegen hat im Sommer 2006 bekannt ge- haben. geben, dass ein Moratorium zu Streumunition entsteht, Festzuhalten gilt: Streumunition ist bislang ein völ- bis die nationalen Tests zur Blindgängerrate abgeschlos- kerrechtlich zulässiges Verteidigungsmittel. Ihr Einsatz sen sind. Kein weiterer Mitgliedstaat der Europäischen ist jedoch, genauso wie der Einsatz anderer Waffen, Ein- Union und der NATO ist bisher diesem Beispiel gefolgt. schränkungen durch das humanitäre Völkerrecht unter- Gradmesser für das Erreichbare zur Weiterentwick- worfen, insbesondere ist ein Einsatz gegen die Zivilbe- lung der humanitären Rüstungskontrolle bei Streumuni- völkerung, zivile Siedlungsgebiete oder zivile Objekte 5300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) verboten. Spezielle völkerrechtliche Regeln, so insbe- ziellen Zwängen unterworfen. Schneller geht es nicht. (C) sondere im Rahmen des UN-Waffenübereinkommens, Die Bundesregierung hat sich trotz der hohen Kosten für zu technischen Spezifikationen oder zum Einsatz von einen Umstieg von Streumunition auf alternative Muni- Streumunition gibt es bislang nicht. tionen entschieden. Anderen weisen wir damit den Weg. Streumunition ist entwickelt und beschafft worden, Mit dieser Position, die einen Einsatz von Streumuni- um Flächenziele auf begrenztem Raum, aber auch ver- tion nur dann vorsieht, wenn geeignete alternative Muni- teilte Einzelziele, so zum Beispiel Ansammlungen von tion nicht verfügbar ist, nimmt die Bundesregierung in- Panzerfahrzeugen, Raketenwerfern, Artilleriegeschützen ternational eine Vorreiterrolle ein, auch unter unseren oder Flugzeugen am Boden, auf Entfernung zu bekämp- westlichen Partnern. Dies wird auch deutlich vor dem fen. Streumunition ist somit ein Mittel, um gegnerische Hintergrund, dass bereits jetzt Vertragsstaaten haben er- Kräfte so frühzeitig wie möglich zu bekämpfen und da- kennen lassen, dass sie ihre nationale Zielsetzung einer mit auf Abstand zu halten, um den Schutz unserer Solda- für Personen gefährlichen Blindgängerrate höher als ein tinnen und Soldaten sowie die Durchhaltefähigkeiten zu Prozent ansetzen werden. Und nochmals, wir streben zu- erhöhen. Auch zukünftig muss sich die Bundeswehr auf mindest einen Wert von einem Prozent an. Einsätze im gesamten Intensitätsspektrum einstellen, so- dass auch die Fähigkeit zur Bekämpfung von Flächen- Als langfristiges Ziel der Diskussionen soll die Bun- zielen nicht zuletzt im Interesse des Schutzes eigener desregierung auf internationaler Ebene und insbesondere Soldaten und der von Verbündeten unverändert erforder- im Rahmen des UN-Waffenübereinkommens ein Proto- lich bleibt. koll zu Streumunition anstreben, das völkerrechtliche Regelungen zu Verlässlichkeit, aber auch zum Einsatz Um die Anzahl gefährlicher Blindgänger weitestge- umfassen sollte. Dabei sollte sich die Bundesregierung hend zu beschränken, muss Streumunition über eine für ein Verbot solcher Streumunition einsetzen, deren für größtmögliche Verlässlichkeit verfügen. In dieser Hin- Personen gefährliche Blindgängerrate bei über einem sicht verfügt Streumunition der Bundeswehr über den Prozent liegt. Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg. höchsten technisch derzeitig erreichbaren Standard. Wir sind davon überzeugt, dass hierbei behutsam agiert werden muss, um möglichst viele Staaten auf diesem Hinsichtlich der für Personen gefährlichen Blindgän- Weg mitzunehmen. So stützen wir die Überzeugung der gerrate strebt die Bundesregierung eine Obergrenze von Bundesregierung, dass mit der deutschen Entscheidung, maximal einem Prozent an. Streumunition, deren Verläss- Streumunition durch alternative Munition zu ersetzen lichkeit nicht auf die von der Bundesregierung angestreb- und diejenige, deren für Personen gefährliche Blindgän- ten Werte erhöht werden kann, wurde und wird, wo noch gerrate bei über einem Prozent liegt, grundsätzlich nicht in Restmengen vorhanden, aus dem Bestand der Bundes- mehr für einen Einsatz vorzusehen, eine internationale (B) wehr schrittweise mit dem Ziel der Vernichtung entfernt. (D) Vorreiterrolle eingenommen wird, die einen Einfluss auf Ein Beispiel hierfür ist die Streumunition BL-755 der die Rüstungsentscheidungen anderer Länder haben wird. Luftwaffe, welche die Bundeswehr bereits seit dem Jahr 2001 aussondert und umweltgerecht entsorgt. Wir helfen der Bundesregierung auf diesem langwie- rigen und steinigen Weg, zum Beispiel mit unserem heu- Aufgrund konzeptioneller und bündnispolitischer tigen Antrag. Verpflichtungen ist es notwendig, die erforderlichen Fä- higkeiten für die Auftragserfüllung kontinuierlich bereit- zuhalten. Zeitliche Lücken dürfen dabei nicht entstehen. Andreas Weigel (SPD): Streubomben müssen ver- Umstellungen können also nicht abrupt, sondern müssen schwinden. Streubomben gehören geächtet. Dass sich in Phasen gestaltet werden, die zudem den Transforma- die Staatengemeinschaft so schwer tut, hier entscheidend tionsprozess der Streitkräfte berücksichtigen. weiterzukommen, ist kaum nachvollziehbar. Streubom- ben sind weltweit Realität. Seit Ende des Zweiten Welt- Ungeachtet dessen hat die Bundesregierung entschie- kriegs sind sie in mindestens 25 militärischen Konflikten den, dass die Bundeswehr ab sofort keine Neubeschaf- zum Einsatz gekommen. fung von Streumunition vorsieht; dass bereits im Jahr 2008 eine zunehmende Verlagerung des Schwerpunkts Diese Bomben haben eine Blindgängerquote von bis der Wirkmittel zur Bekämpfung von Flächenzielen weg zu 40 Prozent. In Regionen, in denen Streubomben ein- von der Streumunition und hin zu alternativen Kampf- gesetzt wurden, können Menschen sich nur noch unter mitteln vorgesehen ist; dass im Jahr 2015 geprüft wird, hoher Lebensgefahr aufhalten. Der Landwirt kann nicht ob die dann noch vorhandene Streumunition insgesamt auf sein Feld, der Bauarbeiter riskiert bei der Wiederher- durch alternative Munition ersetzt werden kann, und stellung von Straßen und Gebäuden sein Leben. Wer dass 33 Prozent des Heeres- und über 90 Prozent des Streubomben einsetzt, hinterlässt vermintes Gebiet. Der Luftwaffenträgerbestandes an Streumunition bis abseh- Einsatz von Streubomben unterscheidet sich kaum vom bar zum Jahr 2009 ausgephast werden. Einsatz der weltweit geächteten Landminen. Die Vorgehensweise stellt sicher, dass Deutschland Das allein ist Grund genug, vehement die Ächtung seine Bündnisverpflichtungen erfüllen und gleichzeitig von Streumunition einzufordern. Doch selbst der militä- anderen Staaten Orientierung geben kann, wie der stu- rische Nutzen von Streumunition ist mehr als fraglich, fenweise Verzicht auf Streumunition insgesamt und re- hinterlässt sie doch für nicht absehbare Zeit ein Gebiet alistisch vollzogen werden kann. Der Zeitplan ist also der verbrannten Erde. Militärische Operationen sind sehr ehrgeizig. Dies alles ist auch technischen und finan- dort, wo Streumunition eingesetzt wurde, auch für denje- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5301

(A) nigen, der diese Waffe eingesetzt hat, nur noch begrenzt nicht augenblicklich abschaffen. Aber die Bundeswehr (C) möglich. hat bereits solche Munition vernichtet, die einen hohen Blindgängeranteil hat. Die Bundeswehr plant keine Neu- Die SPD-Führung hat sich Anfang September ent- beschaffung von Streumunition. Durch die Bundeswehr schieden für die Vernichtung aller Streubomben ausge- ist Streumunition nie zum Einsatz gekommen. So ist es sprochen. hat noch einmal ein generelles, auch bei unseren Streitkräften das erklärte Ziel, im Rah- weltweites Verbot dieses Waffentyps gefordert. Wir le- men der internationalen Verhandlungen einen völligen gen heute einen Antrag vor, mit dem wir dieses Ziel im Verzicht dieser Munition zu erreichen. Auge haben. Dass es dabei Kritik an unserem Antrag gibt, ist nicht überraschend. Insbesondere Organisatio- Natürlich klingt das angesichts der furchtbaren Aus- nen wie dem „Aktionsbündnis Landmine“ und „Handi- wirkungen dieser Waffen nicht sehr ermutigend. Das ist cap International“ geht der Antrag nicht weit genug. richtig. Aber man darf nicht außen vor lassen, welche Dynamik sich auf dem Wege internationaler Verhand- Warum wird nicht eine sofortige Vernichtung sämtli- lungen entwickeln kann. Der Ottawaprozess hat hier das cher Streumunitionsbestände der Bundeswehr gefordert? beste Beispiel gegeben. Auf dem Weg, im Zuge der Ver- Warum verlangt der Antrag kein weltweites Moratorium handlungen kann sich ein Bewusstsein entwickeln – ähn- für den Einsatz von Streubomben? Können wir nicht von lich wie im Ottawaprozess, das schließlich eine welt- unseren Verbündeten fordern, sofort alle Bestände von weite Ächtung von Streumunition ermöglicht. Streumunition zu vernichten? Schließlich ist man bei der Ächtung von Antipersonenminen im Ottawaprozess Indem wir in den nationalen Parlamenten nicht aufhö- auch mit radikalen Forderungen ein großes Stück weiter ren, die Ächtung von Streumunition zu thematisieren, in- gekommen. dem wir damit unseren nationalen und europäischen Dele- gationen einen deutlichen Auftrag in die UN-Beratungen Man mag unseren Antrag kritisieren, nur sollte man über ein Waffenübereinkommen geben, können wir nicht übersehen, dass er schon in seiner Überschrift ei- Schritt für Schritt zu einem internationalen Konsens nes unmissverständlich klarstellt: Ziel ist das generelle kommen, der es Staaten vor dem humanitären Völker- und uneingeschränkte Verbot von Streumunition. Der recht sehr schwer macht, Streumunition einzusetzen. Antrag ist ein erster, zugleich aber auch ein wesentlicher Schritt, im Rahmen der Verhandlungen zum UN-Waf- fenübereinkommen eine Perspektive für ein Verbot von Florian Toncar (FDP): In vielen Konflikten der ver- Streumunition zu eröffnen. Denn, so ernüchternd es auch gangenen Jahre wurden Streubomben eingesetzt, deren ist, wir stehen in den Verhandlungen noch ganz am An- Sprengkörper teils nicht explodierten und als Blindgän- fang. China, Russland und die USA sind die größten ger im Boden liegen blieben. Immer wieder kam es in- (B) Produzenten von Streumunition und noch weit davon folgedessen zu Verwechslungen von Munitionsblindgän- (D) entfernt, auf die Option eines Einsatzes dieser Waffen zu gern und etwa ähnlich aussehenden Lebensmittelpake- verzichten. Es gibt bei den Verhandlungen zum UN- ten – oft mit tödlichen Folgen. Dieses Beispiel zeigt Waffenübereinkommen also noch lange keine tragende deutlich die Gefahr, die der Bevölkerung durch Blind- Mehrheit für eine Ächtung von Streumunition. Nein, gänger nach dem Ende von Kampfhandlungen droht. vielmehr ist Streumunition noch immer ein völkerrecht- Streumunition trägt wegen der hohen Zahl an Explosiv- lich zulässiges Verteidigungsmittel. Allerdings ist ihr körpern maßgeblich zu dieser heimtückischen Gefahr Einsatz Einschränkungen durch das humanitäre Völker- bei. Das bedrückende dabei ist, dass besonders oft spie- recht unterworfen. lende Kinder zu Opfern werden, da sie gefundene Blind- gänger aus Neugierde ahnungslos aufheben. Der Kon- Das klingt zynisch angesichts der bekannten Auswir- flikt im Libanon hat uns jüngst die grausamen Folgen kungen ihres Einsatzes. Dennoch ist der Weg über Ver- dieser Waffe nochmals vor Augen geführt. handlungen innerhalb der Vereinten Nationen, der Weg über das Völkerrecht im Augenblick die einzige Mög- Neben Blindgängern durch Streumunition stellen lichkeit, im Kampf gegen Streubomben überhaupt voran auch Landminen weiterhin eine heimtückische Gefahr zu kommen. dar. Auch wenn Anti-Personenminen in der Ottawakon- vention von 1997 verboten wurden, so gibt es weiterhin Ich halte es für falsch, allein auf Maximalforderungen keine Regelung zum Verbot von Anti-Fahrzeugminen. zu setzen. Maximalforderungen werden bei den interna- Auch diese Minen töten oft wahllos. So unterscheidet tionalen Verhandlungen wenig bewegen. Vielmehr ver- eine normale Anti-Fahrzeugmine nicht zwischen einem bauen wir uns damit die Möglichkeit des Dialogs. Das Panzer oder einem Bus. Auch eine moderne Mine er- Ziel einer weltweiten Ächtung von Streumunition wer- kennt nicht, ob ein LKW mit militärischer Ausrüstung den wir aber nur auf dem Weg der Verhandlungen errei- oder Flüchtlingen beladen ist. Ferner wirken viele Anti- chen. Ringen wir den Verhandlungspartnern über das Fahrzeugminen, die mit einem so genannten Aufhebe- Völkerrecht mehr und mehr Einschränkungen beim Ein- schutz versehen sind, faktisch wie die verbotenen Anti- satz dieser Munition ab, so kommen wir einem Verbot Personenminen, da sie bei unbeabsichtigter Berührung von Streubomben Schritt für Schritt näher. detonieren. Wir wissen, selbst die Bundeswehr hat noch Streumu- Streumunitionsblindgänger und Landminen sind nicht nition. Aufgrund der integrierten Militärstruktur der nur eine Gefahr, die tötet und verstümmelt. Sie verbrei- NATO kann sie diese Waffen innerhalb ihrer Bündnis- ten auch Angst und Unsicherheit und verhindern so, dass verpflichtungen angesichts multinationaler Operationen nach dem Ende von Konflikten das Leben weitergehen 5302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) kann. Die Bevölkerung kann nicht in Wohngebiete zu- reichbar. Aus diesem Grund hat man sich bei den Ver- (C) rückkehren, Verkehrswege bleiben unterbrochen, Äcker handlungen über die Ottawakonvention zum Verbot von bleiben unbestellt und die Menschen sind auf die huma- Anti-Personenminen bewusst dazu entschieden, auch nitäre Hilfe von außen angewiesen. Das schürt neue Anti-Personenminen mit Wirkzeitbegrenzung abzu- Spannungen und Konflikte und verhindert oft eine lang- schaffen – ohne Wenn und Aber, ohne Kleingedrucktes. fristige Aufbaustrategie für frühere Kriegsgebiete. Hätte man auch hier zwischen „dummen“ und „intelli- genten“ Anti-Personenminen differenziert, wäre das Ab- Daher hat die FDP heute einen umfassenden Antrag kommen nicht so erfolgreich durchgesetzt worden. zur Ächtung von Streumunition und Landminen vorge- legt. Wie die Verhandlungen über die Ottawakonvention Die Argumentation der Bundesregierung in puncto zum Verbot von Anti-Personenminen untrennbar mit Streumunition ist wegen der unklaren technischen Krite- dem Namen verbunden sind, so hat die rien für vermeintlich akzeptable Streumunition nicht nur FDP wieder eine klares Konzept vorgelegt, um der Ge- intransparent. Sie sendet auch kein glaubwürdiges Zei- fahr durch diese verbleibenden Waffen zu begegnen. Wir chen, das einen Impuls für eine internationale Regelung Liberalen senden hiermit ein starkes Signal für die zur Ächtung von Streumunition geben kann. Belgien hat Schaffung einer internationalen Konvention zur umfas- bereits erklärt, künftig auf Streumunition verzichten zu senden Ächtung von Streumunition und Landminen. wollen. In ganz Europa tendiert die Diskussion derzeit in Deutschland muss in dieser Frage eine führende Rolle dieselbe Richtung – zu Recht, wie ich meine. einnehmen. Im Hinblick auf die zweite Geißel – nämlich die Ge- Denn es ist doch klar: Wenn Deutschland auf interna- fahr durch Landminen – schweigt sich der Antrag der tionaler Ebene glaubwürdig und erfolgreich für die Ab- Regierungsfraktionen völlig aus. Dabei ist dieses Pro- schaffung von Streumunition und Landminen auftreten blem genauso dringend. Auch hier setzt die FDP mit ih- will, muss es selbst mit gutem Beispiel voran gehen und rem Antrag ein klares Zeichen, um den internationalen auf diese heimtückischen Waffen verzichten. Man kann Verhandlungsprozess voranzutreiben. nicht von anderen Staaten die Abschaffung von Waffen verlangen, auf die man selbst nicht zu verzichten bereit Eines ist völlig klar: Für die FDP hat der Schutz der ist. Bundeswehr gerade bei Auslandseinsätzen höchste Prio- rität. Der Verzicht auf Landminen und Streumunition Der Antrag der Regierungsfraktionen, über den wir kann kompensiert werden. Die FDP sieht allerdings hier auch zu entscheiden haben, geht an dieser Stelle auch, dass, mit dem Verzicht auf Streumunition einher- nicht weit genug. Er sieht vor, dass Deutschland nur ei- gehend, vermehrt in den Schutz unserer im Einsatz be- nen Teil seiner Streumunition abschaffen soll. Er argu- findlichen Soldaten investiert werden muss. (B) mentiert, dass Streumunition mit einer Blindgängerrate (D) von unter 1 Prozent oder einer Wirkzeitbegrenzung ak- Die Opfer von Landminen und Streumunitionsblind- zeptabel sei. Aber es bleibt dabei: Solange Streumuni- gängern mahnen uns, neue Wege in der Politik zu gehen. tion Blindgänger hat, stellt sie eine unkalkulierbare Ge- Ein Verzicht auf diese schrecklichen Waffen muss auf fahr für die Bevölkerung dar. internationaler Ebene organisiert werden. Deutschland muss hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Wie schon Darüber hinaus ist völlig ungewiss, ob die Streumuni- beim Verbot der Anti-Personenminen weist die FDP die- tion der Bundeswehr selbst heute oder in absehbarer Zeit sen Weg. Auch wenn er sicher steinig wird, so liegt es an über diesen Standard einer Blindgängerrate von unter uns, dass dieser Weg am Ende auch minenfrei wird. 1 Prozent verfügt. Dass das BMVg bisher Informationen hierzu zurückhält, stimmt skeptisch. Andere Länder je- denfalls, die baugleiche Munition verwenden, sprechen Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Deutschland von weit höheren Blindgängerraten. Dabei sind diese muss sich für eine internationale Ächtung von Streumu- Daten oft unter Laborbedingungen ermittelt worden. In nitionen einsetzen und auch im nationalen Rahmen wei- Kriegssituationen, bei weichen Bodenbeschaffenheiten tere Schritte unternehmen. Streumunition wirkt unter- oder unvorteilhaftem Aufschlagwinkel in bergigem Ge- schiedslos und flächendeckend gegen Zivilisten und lände sind die Blindgängerraten oft um ein Vielfaches Soldaten. Der Einsatz von Streumunition ist unter huma- höher. nitären Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. In der Praxis verstößt ihr Einsatz regelmäßig gegen die Prinzi- Das zweite von der Regierung angelegte Kriterium pien des Völkerrechts: Noch lange nach Beendigung der für „saubere“ Streumunition ist die Ausstattung mit einer Kampfhandlungen bleiben die nicht explodierten Spreng- Wirkzeitbegrenzung. Aber auch hier ist die Verlässlich- körper eine tödliche Gefahr für die Bevölkerung – wie keit nicht immer gegeben. Außerdem sendet ein solcher sich derzeit im Libanon zeigt. Die UNO geht inzwischen Vorbehalt ein schlechtes politisches Signal, Wenn davon aus, dass mehr als eine Million nicht explodierter Deutschland anfängt, sich einen Teil der Streumunition Streumunitionskörper zwischen den Trümmern liegen. mit hohem technischen Standard vorzubehalten, werden Täglich steigt der Blutzoll. Seit dem Ende der Kampf- arme Staaten, die sich solche hochwertigen und teuren handlungen starben 14 Menschen, erst gestern ein klei- Waffen nicht leisten können, den Eindruck gewinnen, ner Junge. 90 Menschen wurden verletzt. dass der Westen will, dass sie ihre schlechte Streumuni- tion abschaffen, er aber selbst nicht bereit ist, auf seine Unserer Auffassung nach wäre eine gemeinsame Ini- hochmoderne Streumunition zu verzichten. Das wird tiative dieses Parlaments dringlich und notwendig gewe- nicht funktionieren. Ein solches Abkommen ist nicht er- sen, um deutlich zu machen, wie ernst es dem Bundestag Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5303

(A) ist, diese Munition aus den Waffenarsenalen zu verban- militärischen Zielen unterscheiden, ein hundertprozenti- (C) nen. Wir dürfen keinen Zweifel daran lassen, dass jede ges Funktionieren kann nicht garantiert werden. Art von Streumunition gefährlich ist, Herstellung, Lage- rung, Export und Einsatz verboten werden müssen. Wir fordern die Bundesregierung auf, diese und an- dere Beschaffungsvorhaben, wie das Munitionsdispen- Wir haben uns gefragt, ob eine Zustimmung zu dem sersystem TAURUS, zu stoppen. Genauso sind Exporte vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen sinnvoll dieser Systeme und Technologien im Sinne einer restrik- sein könnte. Leider sind die Mängel im Antrag erheblich tiven Rüstungsexportpolitik zu unterbinden. Aus diesen und nicht schönzureden. Da die Koalition auf einer so- Gründen unterstützt meine Fraktion die Forderungen der fortigen Abstimmung über ihren Antrag besteht, werden im Aktionsbündnis „Landmine.de“ zusammengeschlos- wir diesen Antrag ablehnen müssen. Dem klareren und senen Hilfsorganisationen nach einem vollständigen konsequenteren Antrag der FDP werden wir dagegen zu- Verbot von Streumunition und der Bereitstellung von stimmen, auch wenn wir bedauern, dass die FDP ihn mehr Ressourcen für die Opferhilfe und die Räumung nicht an die Ausschüsse überweisen wollte. Er wäre eine von Minen und Blindgängermunition. gute Grundlage für eine gemeinsame Initiative gewesen. Wir bedauern, dass es nicht möglich ist, mit einer ge- Wesentliche Kritikpunkte am Antrag der Regierungs- meinsamen Bundestagsentschließung ein Zeichen zu set- zen, dass wir für die konsequente Ächtung von Streumu- fraktionen: Die Präzisierung der internationalen Bemü- nitionen eintreten. Um es noch einmal klar zu sagen: Die hungen ist unzureichend und die vorgeschlagenen natio- von der Regierungskoalition getroffene Unterscheidung nalen Bestimmungen sind einfach ungenügend. Eine zwischen „gefährlicher“ und „ungefährlicher“ Streumu- Forderung wie die, dass der Einsatz von Streumitteln nur nition geht an der Realität vorbei und ist für uns nicht dann vorzusehen ist, wenn geeignete alternative Muni- tragbar. tion nicht verfügbar ist, ist naiv und kontraproduktiv für eine Ächtung. Es darf bei der parlamentarischen Initia- tive nicht darum gehen, nur einen den westlichen Muni- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tionsproduzenten genehmen Streumunitionsstandard Für die heutige Debatte haben alle Fraktionen des Deut- aufzustellen. Bestes Beispiel ist die auch von den Grü- schen Bundestages, mit Ausnahme der Linksfraktion, ei- nen vorgeschlagene Fehlerquote von 1 Prozent als Grad- gene Anträge vorgelegt. Konsens ist, dass sich alle für messer für erlaubte bzw. verbotene Streumunition. Diese eine Ächtung von Streumunition aussprechen, die eine Fehlerquote ist irreführend. Die Testbedingungen für Blindgängerquote von mehr als 1 Prozent hat. Damit Streumunition entsprechen in keiner Weise der Einsatz- dürfte die Ächtung für mehr als 20 der circa 30 Millio- realität. Laut UNO funktionierten etwa 70 Prozent der nen Streumunitionen im Bestand der Bundeswehr gel- (B) von Israel über dem Libanon abgeworfenen Streubom- ten. Ich finde, dass dieser breite parlamentarische Kon- (D) ben nicht auf Anhieb. Und selbst wenn, müssen diese sens grundsätzlich zu begrüßen ist. Er weist in die 1 Prozent wie Hohn in den Ohren der betroffenen Bevöl- richtige Richtung. kerung klingen. 1 Prozent bedeutet zum Beispiel im Begrüßenswert ist auch, dass mit dem Antrag der Ko- Falle des Mehrfachraketenwerfers MARS (Mittleres Ar- alitionsfraktionen ein Kurswechsel dokumentiert wird, tillerieraketensystem), welcher mit nur einer einzigen der in den vergangenen Jahren unter Rot-Grün eingelei- Salve bis zu 8 000 Submunitionsgeschosse auf etwa tet wurde. Bereits damals gab es eine Übereinkunft, dass 250 000 Quadratmetern verteilt, dass etwa 80 Stück ak- die Bundeswehr keine weitere Streumunition beschaffen tiv am Boden liegen bleiben. Ein weiteres Beispiel: Bei wird und ihre Bestände an Streumunition, die eine der Bombardierung des Iraks 2003 wurden nach Anga- Blindgängerrate von mehr als 1 Prozent hat, schnellst- ben von Human Rights Watch 2 Millionen Stück Streu- möglich vernichtet. Hier ist einiges geschehen. Aber das munition eingesetzt. Das heißt, dass bei einer Fehler- reicht noch nicht. Außerdem hatte die Bundesregierung quote von 1 Prozent wenigstens 20 000 Stück aktiv am sich in den vergangenen Jahren bereits intensiv dafür ein- Boden liegen bleiben. Solche Kollateralschäden sind gesetzt, dass das Thema Streumunition im Rahmen der einfach nicht hinnehmbar! VN-Waffenkonvention auf der politischen Tagesordnung bleibt. Im April 2006 haben das Verteidigungsministerium Der glaubwürdigste und nachhaltigste Weg zu einer und das Auswärtige Amt in Form der 8-Punkte-Position zu weltweiten, internationalen Ächtung der Streumunition Streumunition ihre Position schriftlich abgestimmt. ist die Durchsetzung eines kategorischen Verzichts im Diese 8-Punkte-Position wurde – zum Teil wortgetreu – nationalen Rahmen. Dafür reicht es nicht, lediglich „ge- den Abgeordneten der Regierungsfraktionen in Antrags- fährliche Streumunition“ nicht mehr zu beschaffen. Es form vorgelegt. Eine eigene parlamentarische Hand- reicht nicht, zu geloben, ältere Streumunition nur im Not- schrift ist nicht zu erkennen. fall einzusetzen. Sämtliche Lagerbestände der Bundes- wehr müssen vernichtet werden. Die Bundesregierung Der Antrag enthält über weite Strecken nichts, was muss auch auf die Neuentwicklung von Streumunition nicht sowieso schon beschlossen ist und gemacht wird. und den entsprechenden Verlegesystemen verzichten. Insofern ist er nur ein parlamentarisches Beglaubigungs- Derzeit beschafft die Bundeswehr neue Lenkraketen für schreiben der 8-Punkte-Vereinbarung. Wir hätten dem das MARS-System. Insgesamt 600 Lenkraketen werden Antrag der Regierung gerne zugestimmt. Wir waren und mit einem SMArt-Gefechtskopf ausgestattet, der jeweils sind bereit acht der zehn Forderungen zu unterschreiben. vier SMArt-Submunitionen enthält. Auch dieser Muni- An einem Punkt jedoch gehen Sie in die falsche Rich- tionstyp kann nach Ausstoß nicht zwischen zivilen und tung. Das zeigt sich schon im Titel „Gefährliche Streu- 5304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) munition verbieten“. Ich weiß nicht, wer sich den Titel hung. Die Westerwelle-FDP ist sicherheitspolitisch (C) des Regierungsantrags erdacht hat. Rückwärts gelesen inzwischen so pluralistisch – manche nennen es opportu- heißt das: Ungefährliche Streumunition erlauben. Abge- nistisch oder schizophren –, dass sie keine Schwierigkei- sehen davon, dass es keine ungefährliche Streumunition ten hat, gleichzeitig das Entgegengesetzte zu vertreten. gibt, wollen Sie der Bundesregierung ausdrücklich das Die Botschaft des Antrags hör ich wohl, allein mir fehlt Recht zubilligen, „den Einsatz von Streumunition … der Glaube. Wenn ich mir ansehe, wer den Antrag nicht dann vorzusehen, wenn geeignete alternative Munition unterzeichnet hat – die Verteidigungspolitiker –, dann nicht verfügbar ist“. Das ist meines Wissens ein einmali- werde ich hinsichtlich der Ernsthaftigkeit Ihres Anlie- ger Vorgang. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort gens mehr als skeptisch. Und. wenn ich höre, dass die auf unsere Kleine Anfrage mitgeteilt, dass sie „bei zwin- FDP auch Wert darauf legt, dass ihr Antrag heute Nacht gendem Erfordernis“ auch bereit ist zum Beispiel die von der parlamentarischen Tagesordnung geräumt wird, von Israel im Libanon eingesetzte Streumunitionsrakete macht mich das auch sehr skeptisch. M 26 zu nutzen. Die Blindgängerrate der Submunition liegt Schätzungen zufolge bei bis zu 40 Prozent. Diese Wir werden unseren Antrag in die Ausschussberatung Ermächtigung werden wir der Bundesregierung nicht er- überweisen. Wir hoffen, dass wir nach der Genfer Kon- teilen. Im Gegenteil: Wir wollen ein sofortiges Einsatz- ferenz auf offenere Ohren stoßen werden. Wir sollten moratorium, wie auch das Europaparlament gefordert uns bemühen, als Abgeordnete des Deutschen Bundesta- hat. Unsere Fraktion kann und wird dem Antrag der Re- ges auch parlamentarische Eigenverantwortung zu tra- gierungsfraktionen beim besten Willen nicht zustimmen. gen und nicht alle Fragen an die Bundesregierung zu de- legieren. Hinsichtlich eines Gesetzes zur Ächtung jeder Der Koalitionsantrag soll, so wurde uns gesagt, der Streumunition in Deutschland liegt mit unserem Antrag Regierung für die Genfer Überprüfungskonferenz den der Ball im Spielfeld des Bundestages. Rücken stärken. Die Frage ist, in welcher Richtung. Würden wir nicht ein viel deutlicheres Zeichen setzen, wenn wir uns bereit erklären, sofort auf den Einsatz jeg- Anlage 10 licher Streumunition zu verzichten und national diese Waffenkategorie zu ächten? Ich habe den Eindruck, dass Zu Protokoll gegebene Reden hier einige Abgeordnete in der Fraktion sich ganz schön krumm machen und wenig Standfestigkeit zeigen. Ich zur Beratung der Anträge: frage mich, warum keine einzige Abgeordnete und kein – Verbraucherinformationsgesetz nachbessern einziger Abgeordneter der Koalitionsfraktionen bereit und das Lebensmittel-Kontrollsystem neu ist, den Antrag namentlich zu unterschreiben und Ge- ordnen (B) sicht zu zeigen. Ich frage mich auch, ob dieser Antrag (D) nicht auch deshalb spät nachts und sofort verabschiedet – Bund-Länder-Staatsvertrag – Qualitäts- werden soll, damit man das Thema schnell vom Tisch management Lebensmittelqualität hat. (Tagesordnungspunkt 22 a und b) Wir können Ihnen diesen Gefallen nicht tun. Wir wol- len, dass das Thema auch in den Ausschüssen debattiert wird und der Bundestag die Politik der Bundesregierung Julia Klöckner (CDU/CSU): Der vergangene Frei- in einer Anhörung näher beleuchtet. Wir wollen nicht, tag war ein guter Tag für alle Verbraucherinnen und Ver- dass sich die Abgeordneten auf die Funktion des Notars braucher. Das Verbraucherinformationsgesetz ist nach der Regierungspolitik reduzieren lassen. Wir wollen, jahrelangem Ringen nun verabschiedet worden und kann dass der Bundestag dem belgischen Beispiel folgt und in Kraft treten. Die Verbraucherinnen und Verbraucher – parallel zu den Regierungsaktivitäten in Genf – sich erhalten mit dem Verbraucherinformationsgesetz zum für eine Ächtung jeglicher Streumunition ausspricht. Wir ersten Mal einen bundesweit einheitlichen, speziell auf laden in unserem Antrag alle Fraktionen dazu ein, einen ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Anspruch auf Nutzung solchen Gesetzentwurf im kommenden Jahr zu erarbei- behördlich vorliegender Informationen über Lebensmit- ten und baldmöglichst zu verabschieden. tel, Futtermittel, Bedarfsgegenstände etc. Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz begründen, Daneben werden mit der im Gesetz ebenfalls enthal- warum wir dem FDP-Antrag nicht zustimmen. Die For- tenen Änderung des § 40 des Lebensmittel- und Futter- derungen kommen uns aus der eigenen Programmatik mittelgesetzbuches die zuständigen Behörden nunmehr sehr vertraut vor, Wir finden es gut, wenn neben der grundsätzlich verpflichtet, bei wichtigen Fällen wie Ge- Linksfraktion auch die FDP friedenspolitische Produkt- sundheitsgefahren, Rechtsverstößen, erheblichen Ver- piraterie bei den Bündnisgrünen betreibt. Das geringere brauchertäuschungen oder dem Verkauf von Gammel- Problem ist, dass die FDP notorisch mehr Geld für das fleisch die Öffentlichkeit von selbst zu informieren, und mechanische statt für das humanitäre Minenräumen for- zwar unter Nennung des Lebensmittelunternehmens und dert und damit vor allem der Rüstungsindustrie den Rü- des Produktnamens. Nur in begründeten Fällen dürfen cken stärkt. Wenn wir uns enthalten, dann bitten wir Sie, die Behörden von einer Information der Öffentlichkeit dies als Misstrauensvotum zu verstehen. Wir trauen dem absehen. Die Information der Öffentlichkeit kann nach Braten nicht. Wir haben von der FDP leider schon zu der neuen Regelung auch dann noch erfolgen, wenn die viele Wendemanöver erlebt. Der eine fordert die Kür- betroffenen Erzeugnisse vom Markt verschwunden sind. zung des Verteidigungshaushalts, die andere die Erhö- Dies sind – allen durchsichtigen Unkenrufen bestimmter Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5305

(A) Kreise zum Trotz – für die Verbraucher wichtige Fort- Statt irgendwelchen irrealen Wunschvorstellungen (C) schritte. hinterherzulaufen oder kurzsichtigen Verbandsinteressen den Vorzug zu geben, hilft es den Verbraucherinnen und Das Gesetz macht die Informationspolitik der Behör- Verbrauchern mehr, wenn wir jetzt der Anwendung die- den damit ein ganzes Stück bürgerfreundlicher und er- ses Gesetzes eine Chance geben. Anstatt gleich ein Ge- möglicht eine einfache Teilhabe an den vorliegenden setz schlecht zu reden, sollten wir Erfahrungen sammeln, Daten und Informationen. Wir sind dem Bild des mündi- wie einzelne Punkte in der Praxis umgesetzt werden. In gen Bürgers, der, ausgestattet mit direkten und umfas- zwei Jahren wird es eine Evaluierung geben, um zu prü- senden Informationen, bewusst entscheidet, was er kauft fen, wie das Gesetz angenommen wurde und ob die ge- oder konsumiert, ein wirklich großes Stück näher ge- troffenen Regelungen den Erfordernissen der Verbrau- kommen. cher gerecht werden. Miteinander muss es gehen, nicht Umso weniger verstehe ich deshalb Ihre Anträge, gegeneinander! Die von Ihnen vorgetragenen Befürch- liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die tungen hinsichtlich der Praktikabilität von Fristen und Grünen und der Linksfraktion. Das Gesetz ist noch nicht Ausschlussgründen sowie der Entwicklung von Gebüh- einmal eine Woche alt, da wird von Ihnen mal wieder al- ren wird damit genüge getan. Und eines ist auch sicher: les zerredet und schlecht gemacht. Vor allem Frau Wenn darüber hinaus Nachbesserungen notwendig sind, Künast und ihre Parteikollegen sollten bei dieser Thema- wird es hierzu Vorschläge geben. tik doch etwas zurückhaltender sein. Wir haben nach fünf Jahren ein Gesetz zu Wege gebracht, das unter der Wenn man sich die beiden Anträge durchliest, wird damaligen Ministerin Künast so nie zustande gekommen wieder mal deutlich, dass Sie Politik als ein Wunschkon- wäre. Sie selbst ist genau mit den Forderungen, die die zert begreifen und dementsprechend unrealistische For- Grünenfraktion jetzt aus der Schublade holt, an den eige- derungen stellen, weil Sie nicht in der Verantwortung nen Kabinettskollegen gescheitert. Erinnern wir uns stehen, sondern Klientelpolitik und nicht gesamtgesell- kurz: Im März 2002 einigte sich Frau Künast mit Herrn schaftliche Ordnungspolitik machen wollen. Was in der Clement darauf, den Anwendungsbereich des Gesetzes Politik aber zählt, ist eben das, was in Kraft tritt und auf Lebensmittel und Bedarfsgegenstände zu beschrän- nicht das, was Sie sich auf einen theoretischen Wunsch- ken und – man staune wieder –: die Informationsmög- zettel schreiben. Sie fordern die Informationspflicht auf lichkeit für die Behörden wurde von der zwingenden Re- Unternehmen auszuweiten. Zu Ihrer Erinnerung: Die gelung in eine Kannregelung umgewandelt. Erst unser Forderung nach einem Unternehmensauskunftsanspruch Gesetz hat diese Regelung jetzt in ein Sollregelung um- hat Ihre Fraktion unter der ehemaligen Ministerin Frau gewandelt. Künast noch vor dem Stadium des Referentenentwurfs selbst fallen gelassen. Sie fordern jetzt die Ausdehnung (B) Den Auskunftsanspruch gegenüber den Unterneh- auf alle Verbraucherprodukte und nicht nur die Be- (D) men, den Frau Künasts Partei und, in deren Gefolge, be- schränkung auf Lebensmittel und Bedarfsgegenstände. stimmte Gruppierungen jetzt so vehement fordern, hatte Ja, warum haben Sie selbst es dann damals nicht ge- Frau Künast schon – man kommt aus dem Staunen nicht macht, warum haben Sie denn gegenüber Herrn Clement heraus – schon vor der offiziellen Ressortabstimmung nachgegeben? Jetzt können Sie natürlich viel fordern. fallen gelassen. Kurzum: So, wie sich Die Grünen jetzt Auch die Einschränkung des Schutzes von Betriebs- und verhalten, ist das pure Heuchelei und Populismus. Als Geschäftsgeheimnissen bei Rechtsverstößen und un- Sie in der Regierung waren, konnten Sie nicht, aber in günstigen Untersuchungsergebnissen war im alten Ent- der Opposition wollen Sie, weil Sie sowieso nicht kön- wurf von Frau Künast erst gar nicht vorgesehen. nen. In unserem Gesetz fallen Informationen über Rechts- Liebe Kollegen der Linksfraktion, um es Ihnen noch verstöße, wie die Überschreitung von gesetzlichen einmal kurz zu erläutern: Unser Staat hat einen föderalis- Grenzwerten oder das Inverkehrbringen von Gammel- tischen Aufbau und die Zusammenarbeit mit den Län- fleisch, ausdrücklich nicht mehr unter den Schutz von dern gehört zu den Grundprinzipien unseres Landes. Ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Damit können Staatsvertrag ist deshalb sicherlich keine Option, um alle solche Informationen dem Verbraucher zugänglich ge- Probleme zu lösen und zukünftig mit den Ländern kon- macht bzw. von den Behörden veröffentlicht werden. struktiv zusammenzuarbeiten. Was im Rundfunkbereich gut ist, muss noch lange nicht willkürlich auf andere Be- Und ein Wort noch zu dem von Ihnen jetzt mit Kroko- reiche übertragbar sein. dilstränen bedachten Schutz sonstiger wettbewerbsrele- vanter Informationen. Diese Formulierung des jetzigen Die Art und Weise, wie in den vergangenen Wochen Gesetzes entstammt wortwörtlich alten Künast-Entwür- versucht wurde, das Verbraucherinformationsgesetz vor fen. Und die von Ihnen beklagten Antragsfristen waren seiner Beratung im Bundesrat noch zu verhindern, war in Ihren eigenen Entwürfen doppelt so lang wie jetzt. wieder einmal beispielhaft. Die Äußerungen gewisser Wenn das nicht Heuchelei ist, was sonst? Lobbyisten sind teilweise rational nicht mehr nachvoll- ziehbar. Ich habe mir schon in einer stillen Stunde ge- Geben wir dem vorliegenden Gesetz eine reelle dacht, vielleicht wollen sie das VIG in Wirklichkeit gar Chance, leisten wir unseren Beitrag zu einer offeneren nicht, weil sie mit dem dann fehlenden VIG als offener Informationspolitik. Auch die Wirtschaft wird, davon Wunde jeder Regierung – welcher Couleur auch immer – bin ich überzeugt, die Vorteile transparenterer Märkte so schön verbraucherpolitische Defizite vorwerfen kön- noch stärker als bisher erkennen und ihren eigenen Bei- nen. trag zu einer verbesserten Verbraucherinformation 5306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) leisten. Unternehmen, die eine offene und transparente unter besonderer Beobachtung stehen. Die abschre- (C) Informationspolitik praktizieren, werden sich dann auch ckende Wirkung, dass Unternehmen, die Gesetzesver- im Wettbewerb von Konkurrenten am Markt abheben. stöße begehen, öffentlich benannt werden können, auch Neben der Chance, durch Qualitätsprodukte Wettbe- wenn die Ware bereits vom Markt genommen wurde, werbsvorteile zu nutzen, können Unternehmen so durch wird schwarze Schafe aus dem Markt treiben. Transparenz Kundenvertrauen steigern. Auch über die „Task-Force-Einheit“ gibt es schon Aber sicherlich liegt es auch am mündigen Verbrau- konkrete Pläne im Ministerium und in den Ländern. In cher, inwieweit er sein Kaufverhalten von der Informa- Bayern wurde beispielsweise die bestehende Spezialein- tionspolitik der Unternehmen abhängig macht und wie er heit mit mehr Kompetenzen ausgestattet, um schneller zwischen einzelnen Unternehmen auswählt. Ein gesetz- und präventiver zu kontrollieren. Sie sehen also, bessere licher Anspruch kann hier nicht das Ziel sein. Dies hätte Absprachen zwischen Bund und Ländern wird und muss nur eine Konsequenz: Kleine und mittelständische Un- es geben. Eine Auditierung im Rahmen eines länder- ternehmen, die sich – anders als größere Unternehmen – übergreifenden Qualitätsmanagement wird hier ebenso keinen aufwendigen Verwaltungsaufwand leisten kön- eine Verbesserung bringen wie intensivere Kontrollen nen, würden auf der Strecke bleiben. Übrigens: Bei ei- der Lebensmittelkontrolleure. nem Blick auf andere Länder wird eines deutlich: Um- Ein Staatsvertrag ist nun wirklich kein konstruktiver fassende gesetzliche Informationsansprüche gegenüber Vorschlag und wieder einmal ein Beispiel für ihr unre- Unternehmen gibt es weltweit bislang nur in Südafrika alistisches Politikverständnis. Wer keine Verantwortung und dort auch nur, wenn es zur Geltendmachung eigener hat, muss sich auch nicht messen lassen. Nach diesem Ansprüche erforderlich ist. Motto wurde auch hier ein Antrag erdichtet. Lassen Sie Viele Ihrer Punkte wurden bereits in dem 13-Punkte- mich eines abschließend sagen: Wer im Glashaus sitzt, Programm zwischen dem Ministerium für Ernährung, sollte nicht mit Steinen werfen. Wenn ihre Fraktionsvor- Landwirtschaft und Verbraucherschutz und den Verbrau- sitzende der Grünen in zwei Anläufen kein Gesetz zu- cherministern der Länder am 7. September 2006 ange- stande bringt und jetzt mehr fordert, als sie als Ministe- sprochen, sodass ich hier nur in aller Kürze darauf ein- rin gewollt hat, dann kann ich sie wirklich nicht mehr gehe. Die Verbesserung der Lebensmittelsicherheit im ernst nehmen. Im Unterschied zu den Künast-Entwürfen Hinblick auf die AW Rüb weiterzuentwickeln, steht aus den vergangenen beiden Legislaturperioden erfüllt schon längst auf der politischen Agenda. Ebenso wird unser Gesetz erstmals die Anforderungen einer moder- eine Verbesserung der Bund-Länder-Koordination kom- nen Verbraucherpolitik. Denn moderne kluge Verbrau- men. Die Verbraucherinformationskonferenz am 7. Sep- cherpolitik ist Wirtschaftspolitik von der Nachfrageseite. (B) tember 2006 war ein wichtiger Schritt. Ich denke, alle (D) Beteiligten sind sich einig, dass hier künftig intensiver Elvira Drobinski-Weiß (SPD): „Gammelfleisch mit zusammengearbeitet und die Koordinierungsfunktion illegalem Gentech-Reis an pestizidbelasteten Beeren“ – des Bundes anerkannt und weiter gestärkt werden muss. aus der Liste der ungenießbaren Nahrungsmittel, die in Dies steht auch im Koalitionsvertrag und wird deshalb den letzten Wochen die Schlagzeilen beherrschten, las- weiter fortgesetzt werden. sen sich mühelos ganze Menüs zusammenstellen. Dass sich auf dem Lebensmittelmarkt etwas tun muss, ist an- Im Rahmen der deutlichen Ausweitung des § 40 des gesichts der Zuspitzung der Missstände in der letzten Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, wird die Ein- Zeit unumstritten. Der Fleischskandal ist der Auslöser richtung von Datenbanken ausdrücklich erleichtert, so einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die die Bundes- dass auch auf Rückrufaktionen der Industrie selbst hin- regierung teilweise schon umgesetzt hat; andere werden gewiesen werden kann. Zudem bietet das FIS-VL heute noch diskutiert. schon die Möglichkeit, zeitnah aktuelle Erkenntnisse al- len Ländern und dem Bund zu Verfügung zu stellen. Au- In der Sache sind wir einig. Aber den beiden Anträ- ßerdem werden die Staatsanwaltschaften verpflichtet, gen zur Lebensmittelqualität und zum Verbraucherinfor- die Lebensmittelüberwachungsbehörde unverzüglich mationsgesetz der Fraktionen der Linken und des Bünd- über die Einleitung von Ermittlungsverfahren zu unter- nisses 90/Die Grünen werden wir nicht zustimmen, weil richten. sie kaum Neues enthalten – nichts, was nicht bereits in der Umsetzung oder zumindest in der Prüfung ist. Und Zu dem Thema schärfere Strafen und Bußgelder: Die der Sinn eines Bund-Länder-Staatsvertrags – wie im An- bisherigen Straf- und Bußgeldverordnungen sollten erst trag der Linken, der „freiwillig und aufkündbar Kon- einmal besser ausgeschöpft werden, bevor wir strengere trollkompetenzen einräumt“ – erschließt sich mir nicht. Strafen fordern. Erst wenn die Strafen voll ausgeschöpft sind und zu keiner Entschärfung des Problems führen, Die Bundesregierung hat bereits vor Wochen eine sollte über eine Überprüfung der Straf- und Bußgeldver- Verwaltungsvorschrift zur Vereinheitlichung der Lebens- ordnung nachgedacht werden. Fünf Jahre Haft und Buß- mittelkontrollen verabschiedet. Damit sind zukünftig geldstrafen, die, anders als oft behauptet, sehr wohl über bundesweit die gleichen Standards Pflicht. Ein schneller der 20 000-Euro-Grenze Gewinne abschöpfen können, Informationsaustausch wurde mit einem EDV-gestützten sind schon ein klares Signal. Wie gesagt: Es gibt weniger Fachinformationssystem geschaffen. Im Verbraucher- ein Gesetzes- als ein Vollzugsdefizit. Diejenigen, die in informationsgesetz wurde die Mitteilungspflicht der Er- Deutschland in großem Stil Fleischhandel betreiben, mittlungsbehörden an die Lebensmittelüberwachungs- sind in der Branche bekannt und müssen deshalb auch behörden verankert. Damit wird die Strafverfolgung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5307

(A) erleichtert. Das sind nur einige Beispiele für bereits er- nen Stoff, der dazu bestimmt ist oder von dem erwartet (C) griffene Maßnahmen. werden kann, dass er in einem Lebensmittel oder Futter- mittel verarbeitet wird, durch alle Produktions-, Verar- Unser Verbraucherinformationsgesetz hat auch den beitungs- und Vertriebsstufen zu verfolgen“. Bundesrat passiert und ist verabschiedet. Es verleiht den Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher mehr Nach Art. 18 Nr. 2 und Nr. 3 müssen Lebensmittel- Gewicht, indem es die Behörden verpflichtet, die Öffent- und Futtermittelunternehmen entsprechende Systeme und lichkeit bei Verstößen gegen das geltende Lebensmittel- Verfahren bereitstellen, mit denen die Informationen den recht grundsätzlich zu informieren, auch wenn die be- zuständigen Behörden auf Aufforderung zur Verfügung troffenen Produkte nicht mehr auf dem Markt sind. gestellt werden können. Nach Art. 17 Nr. 1 haben die Die Behörden sollen die Öffentlichkeit zum Beispiel Unternehmen auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und informieren bei Verdacht auf Gefahr für die menschliche Vertriebsstufen für die Einhaltung der Anforderungen Gesundheit, über Täuschungen, über ekelerregende Le- des Lebensmittelrechts zu sorgen und diese Einhaltung bensmittel wie zum Beispiel Gammelfleisch oder wenn zu überprüfen. Es existiert also eine EU-rechtliche Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Gefährdung vor- Grundlage dafür, dass jedes Unternehmen Herkunft und liegen, die aber wissenschaftlich noch nicht abschlie- Weg seiner Produkte ausführlich dokumentieren muss – ßend geklärt ist. Das gilt zum Beispiel für Acrylamid in und das in einer Form, die den Behörden auf Anfrage Chips oder Lebkuchen. Außerdem können sich Verbrau- Einblick ermöglicht. cherinnen und Verbraucher demnächst auch selbst an die Der Gammelfleischskandal lässt vermuten, dass die Behörden wenden, um Informationen zu bekommen, betroffenen Unternehmen dieser EU-rechtlichen Ver- etwa über die Beschaffenheit bzw. die Behandlung von pflichtung nicht nachkommen; denn sonst hätte der Verpackungen. Sie können erfahren, ob etwa bei einer Fleischgroßhändler ja schon beim ersten Verdacht den Saftverpackung eine bestimmte Druckchemikalie ver- kompletten Weg der Ware offen legen müssen. Rückver- wendet wurde oder nicht. folgbarkeit und Transparenz müssen garantiert werden. Wir werden beobachten, wie sich das Verbraucher- Das hat gleich mehrere Vorteile: Zum einen könnte da- informationsgesetz bewährt. Wir werden weitere not- mit tatsächlich auf Lebensmittel- oder Futtermittelskan- wendige Maßnahmen ergreifen, und wir – die SPD – dale ganz schnell reagiert, auf allen Stufen der Waren- wollen den Informationsanspruch auf weitere Produkte kette eingegriffen und die Ware vom Markt genommen und Dienstleistungen erweitern. Die SPD will, dass auch werden. Zum anderen würde diese Transparenz den An- die Wirtschaft ihre Verantwortung gegenüber den Ver- reiz zur gegenseitigen Kontrolle der einzelnen am Wa- braucherinnen und Verbrauchern wahrnimmt und ihnen renstrom Beteiligten verstärken. (B) Zugang zu ihren Informationen gewährt. Denn bei den (D) Unternehmen liegen alle Daten vor, die eine bewusste Ich komme noch einmal zu unserem Verbraucher- Auswahl ermöglichen und eine eigenverantwortliche informationsgesetz bzw. zu unserem Entschließungs- Marktteilnahme gewährleisten. Deshalb fordere ich die antrag dazu zurück: Wir haben ja die Wirtschaft aufge- Wirtschaft hier und heute zu mehr Transparenz gegen- fordert, Vorschläge zu erarbeiten, wie sie die ihnen über den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf. Denn vorliegenden Informationen den Verbrauchern zugäng- wer Qualität produziert und anbietet, der braucht sich lich machen können. Mit den Daten, die die Unterneh- nicht zu verstecken, der kann offensiv damit werben! men nach der EU-Verordnung zur Rückverfolgbarkeit sowieso sammeln und zur Verfügung stellen müssen, ist Wir brauchen einen transparenten Markt; denn neben eigentlich der Grundstein schon gelegt. Diese Daten Lebensmittelkontrollen und harten Sanktionen bei Ver- könnten um weitere für Verbraucher wichtige Informa- stößen ist die Transparenz das wichtigste Instrument im tionen ergänzt werden. Auf dieser Grundlage könnte Kampf gegen Lebensmittelskandale. Ohnehin stehen die also leicht der nächste Schritt gegangen werden: Die Unternehmen in der Pflicht; denn nach der seit An- „Systeme und Verfahren …, mit denen diese Informatio- fang 2005 geltenden EU-Verordnung 178/2002 müssen nen den zuständigen Behörden auf Aufforderung mitge- sie Verfahren und Systeme zur stufenübergreifenden teilt werden können“ – Art. 18 Nr. 2 Satz 2 – könnten so Rückverfolgung bereitstellen. Die Wirtschaftsbeteiligten ausgestaltet werden, dass sie auch den Zugriff der Ver- müssen sich gegenseitig kontrollieren und Lebensmittel braucher ermöglichen. Wir brauchen einen transparenten müssen lückenlos rückverfolgbar sein, damit mangel- Lebensmittelmarkt, damit Skandale verhindert werden hafte Produkte auf allen Produktionsstufen schnell iden- und Qualität sich durchsetzt. Ich bitte alle Kolleginnen tifiziert und vom Markt genommen werden können. und Kollegen, gemeinsam mit uns daran zu arbeiten. Der Gammelfleischskandal zeigt erneut, wie schwie- rig es ist, die Wege der verdorbenen Ware zu recherchie- Hans-Michael Goldmann (FDP): Ich finde es ren und schnell vom Markt zu holen. Die Vorgaben der schon erstaunlich, dass wir nicht einmal eine Woche EU-Basisverordnung 178/2002 gelten seit dem 1. Ja- nach Verabschiedung des Verbraucherinformationsgeset- nuar 2005, sind unmittelbar an die Unternehmen gerich- zes im Bundesrat heute über Nachbesserungen in diesem tet und enthalten die Verpflichtung zur Sicherstellung Gesetz diskutieren. Es ist ja nicht so, als wären ich und der Rückverfolgbarkeit von Lebens- und Futtermitteln. meine Fraktion mit dem verabschiedeten Gesetz beson- Die „Rückverfolgbarkeit“ ist in Art. 3 Nr. 15 definiert ders glücklich – und als hätten wir uns nicht eine andere als „die Möglichkeit, ein Lebensmittel oder Futtermittel, Abstimmung im Bundesrat erhofft, insbesondere ange- ein der Lebensmittelgewinnung dienendes Tier oder ei- sichts der kurz vor der Abstimmung bekannt geworde- 5308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) nen verfassungsrechtlichen Fragestellungen. Das hätte In einem haben Sie ja Recht: Das Gesetz krankt an sei- (C) man noch klären müssen und der Vermittlungsausschuss ner Halbherzigkeit. So ist überhaupt nicht einzusehen, hätte dafür sicherlich eine gute Gelegenheit geboten. warum der Anwendungsbereich auf Sachverhalte, die dem Lebensmittel- und Futtermittelgesetz unterfallen, Inhaltlich ist es natürlich völlig zutreffend, dass das beschränkt sein soll. Haben die Verbraucher nicht auch in Verbraucherinformationsgesetz nicht das versprochene anderen Bereichen ein Interesse an Information? Warum Ziel erreicht. Das Verbraucherinformationsgesetz haben wollen Sie dem Verbraucher zwar erlauben, bei den Le- wir abgelehnt, weil es schlecht gemacht ist und weil es bensmittelkontrollbehörden nachzufragen, ob sein Schnit- das Ziel verfehlt, wirklich etwas für den Verbraucher- zel in Ordnung ist, aber nicht bei der Versicherungsauf- schutz zu tun. Ebenso schlimm: Es schützt nicht einmal sicht, ob mit der Lebensversicherung, die tausende Euro die Wirtschaftsinteressen in ausreichendem Maße. Be- kosten soll, alles im Einklang mit dem Gesetz steht? Das triebs- und Geschäftsgeheimnisse müssen einen absolu- ist überhaupt nicht einzusehen. Verbraucherinformation ten Schutz genießen, so wie es im Informationsfreiheits- zu allen Produkten und Dienstleistungen, das wäre der gesetz des Bundes steht – kein Wenn und Aber, kein richtige Weg. Diesen Weg wollen Sie offensichtlich gar Ermessen, einfach nur ein klarer Satz. Aber das zeigt den nicht; ansonsten hätten Sie doch ein solches Gesetz vor- großen Mangel des Gesetzes exemplarisch auf: Hier legen müssen. Jetzt nachzuschieben, dass Sie eigentlich herrscht keine klare Linie. Hier wird nicht für Rechts- mehr wollten – wem wollen Sie eigentlich etwas vorma- klarheit gesorgt. Stattdessen werden zukünftig wohl Be- chen? hörden, Unternehmen und Verbraucher gleichermaßen darüber rätseln, wie das Gesetz nun anzuwenden ist. Wir beraten heute nicht nur über den Antrag der Grü- nen, in dem Nachbesserungen zum Verbraucherinforma- Rechtsunklarheit tut aber weder dem Verbraucher- tionsgesetz gefordert werden, sondern auch noch über schutz gut noch sorgt sie für den notwendigen Schutz der einen Antrag der Linken, in dem ein Staatsvertrag zwi- legitimen Interessen der Wirtschaft. Wir werden es jetzt schen Bund und Ländern zur Verbesserung der Lebens- in der Praxis erleben, wenn Behörden darüber rätseln mittelkontrollen gefordert wird. Ich stehe ja nicht so sehr dürfen, wie die Ausnahmetatbestände auszulegen sind, im Verdacht, die Politik der Linkspartei zu befürworten. und wenn gleichzeitig die Unternehmen nicht absehen Aber in einem haben die Kolleginnen und Kollegen können, wie die behördliche Praxis aussehen wird. Bei- schon Recht: Ihr 13-Punkte-Katalog, Herr Seehofer, ist spielsweise hat jetzt Herr Schnappauf aus Bayern ange- ebenso Verbrauchertäuschung wie Ihre Lippenbekennt- kündigt, dass er dafür sorgen will, dass das Gesetz zu- nisse zur Verbraucherinformation. Ich habe mir das mal gunsten der Verbraucher weit ausgelegt wird. Da kann angesehen: Der einzige Punkt, der noch nicht in Ihren ich nur staunen; denn wenn doch die CSU offensichtlich 10-Punkte-Sofort- und Ergänzungsprogrammen vom (B) der Auffassung ist, dass man das Gesetz auch ganz res- November 2005 stand, ist Punkt 13, nämlich die Erwar- (D) triktiv und verbraucherunfreundlich auslegen kann, dann tungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Alle an- frage ich mich, warum sie nicht den politischen Willen, deren Punkte sind nur aufgewärmt. Das ist ein ganz kla- nämlich die Verbraucher zu informieren und ihnen Zu- rer Fall von Umetikettierung: ein Jahr lang auf Eis gelegt gang zu den behördlichen Informationen zu gewähren, und jetzt schnell ein neues Haltbarkeitsdatum aufge- gleich richtig und klar ins Gesetz geschrieben haben. klebt. Wir brauchen jetzt keine Soundsoviel-Punkte-Pro- Dies muss in einer Weise geschehen, die nicht zu einer gramme, sondern konsequentes Handeln. Mit immer unterschiedlichen Verwaltungspraxis in den unterschied- neuen Ankündigungen wird kein einziger Lebensmittel- lichen Ländern führen wird und die auch nicht davon ab- skandal verhindert werden. Wir brauchen ein klares Be- hängt, ob der zuständige Verbraucherminister gerade kenntnis zu Verbraucherinformation und damit zum mal nett zu den Verbrauchern sein will und das Ganze mündigen Verbraucher. dann vielleicht – wenn Gras über das Gammelfleisch ge- „Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft durch wachsen ist – doch wieder ganz anders sieht. mündige und aufgeklärte Verbraucher sicherstellen“ war der Titel des Entschließungsantrags der FDP-Fraktion Interessant finde ich auch – das sollte hier nicht uner- zum Verbraucherinformationsgesetz. Genau das ist der wähnt bleiben –, dass selbst das federführende Ministe- zentrale Punkt. Alle reden immer vom mündigen Ver- rium in der Bundesregierung der Meinung ist, dass das braucher. Aber was heißt das denn? Wie wird ein Gesetz nicht gut ist. Da sagte doch letzte Woche tatsäch- Mensch zum mündigen Verbraucher? Durch Bildung lich der Staatssekretär im Verbraucherministerium, Gert und Aufklärung, durch Beratung und eben nicht zuletzt Lindemann, dass es sich nicht um eine „abschließende durch objektive Informationen. Bildung und Information Regelung“ handele, sondern dass der Anwendungsbe- gehören zusammen; denn wer nicht weiß, wie er Infor- reich ausgedehnt werden müsse. Da möchte ich schon mationen einordnen und verarbeiten kann, dem nützt einmal nachfragen, was das bedeuten soll. Was wollen auch mehr Information nichts. Das Verbraucherinforma- Sie denn nun eigentlich, Herr Seehofer? Sie können sich tionsgesetz muss diesem Ziel gerecht werden: für besse- da doch nicht wieder herauslavieren, wenn sie ein Ge- ren Verbraucherschutz durch mündige Verbraucher, die setz machen, das den Ansprüchen nicht genügt und dann in die Lage versetzt werden, sich zu informieren und die gerechtfertigte Empörung der Bürgerinnen und Bür- diese Informationen in kluge Entscheidungen umzuset- ger mit Ankündigungen eindämmen. Das ist doch unred- zen. liche Bürgertäuschung. Machen Sie es doch einfach bes- ser. Legen Sie ein besseres Gesetz vor. Was Sie hier Ich will hier aber noch einen Punkt betonen, der auch betreiben, ist doch Augenwischerei. in dem heute zu beratenden grünen Antrag auftaucht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5309

(A) Mit Verbraucherinformation meine ich, meint die FDP, mittelsicherheit tatsächlich garantiert. Ich bin gespannt, (C) ausschließlich die Informationen, die bei den Behörden was aus den 13 Punkten wird; ich hoffe nur sehr, dass vorliegen. Es geht hier nicht um einen Anspruch gegen- wir nicht in einem Jahr wieder hier stehen und dann über über den Unternehmen selbst. Das wäre ein nicht zu 15 oder vielleicht auch 14 Punkte debattieren, weil außer rechtfertigender Eingriff in die Rechte der Unternehmen. Reden wieder nichts passiert ist. Die Verbraucher, die objektive Informationen erhalten wollen, sollen sich gerne an die Behörden wenden. Die Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): In einer alten Aufsichts- und Kontrollfunktionen, die die Behörden Bauernweisheit heißt es: Ein Ochs, der viel brüllt, zieht ausüben, sind ja im Grunde genommen, Aufgaben, die wenig. sie für die Bürgerinnen und Bürger ausüben – darüber dürfen die Bürger dann auch bitte Bescheid wissen. Minister Seehofer hat seit seinem Amtsantritt beim Thema Verbraucherschutz viel gebrüllt. Von „Null Tole- Die Behörden – ich habe großes Zutrauen zum rechts- ranz“ war die Rede, von Bußgeldern und Haft für die staatlichen Handeln unserer Behörden, die, das kann ich Sünder. Im Juli wurde gar der Vollzug der Überprüfung aus eigener Erfahrung sagen, vor allem im Lebensmittel- aller 317 EU-Kühlhäuser verkündet. bereich sehr gut mit den Unternehmen zusammenarbei- ten – müssen aber dafür geradestehen, dass die Informa- Inzwischen kennen wir den Wert dieser Verkündung: tionen, die sie herausgeben, richtig sind. Unternehmen in sieben Bundesländern wurden circa 1 500 Tonnen müssen darauf vertrauen können, dass nicht Vermutun- verdorbener bzw. überlagerter Fleisch- und Wurstwaren gen oder unbestätigte Untersuchungsergebnisse oder gar aus mehr oder weniger dunklen Ecken einzelner Kühl- Sachverhalte, die zwischen Behörde und Unternehmen häuser ans Licht befördert. Das nenne ich „Null Tole- streitig sind, vorschnell an die Öffentlichkeit gelangen. ranz“ mit fest geschlossenen Augen! Verbraucherinnen und Verbraucher müssen sich darauf Nun stellt sich Minister Seehofer wieder an die Spitze verlassen können, dass die Informationen, die sie von der Jäger des verlorenen Schatzes Lebensmittelqualität. den Behörden kommen, auch belastbar sind und dass sie auf diese Informationen guten Gewissens ihre Entschei- Mit Verlaub: eine wenig angemessene Rolle für einen dungen stützen können. Eine Verpflichtung zur Überprü- Minister, der gerade ein zahnloses Verbraucherinforma- fung der Richtigkeit der Daten fehlt aber im Gesetzent- tionsgesetz durch den Bundesrat gedrückt hat, das Un- wurf der Koalition – ein schwerer Fehler! ternehmen vor allzu großer Neugier von Verbraucherin- nen und Verbrauchern schützt. Das fordert uns Linke Wichtig ist zudem, dass die Verbraucherinnen und geradezu heraus! Wir werden jeden einzelnen Fall des Verbraucher verwertbare Informationen erhalten. Daher Versagens des Gesetzes aufgreifen! (B) müssen die Daten aufbereitet werden. Die Behörden (D) müssen Erläuterungen beifügen und Informationen in Was wir darüber hinaus dringend brauchen, sind Re- allgemein verständlicher Form herausgeben. Denn es geln für die länderhoheitliche Lebensmittelkontrolle, die nützt keinem etwas, wenn einfach Daten in den Raum erstens verbindlich und zweitens bundeseinheitlich sind. gestellt werden, die aber dem normalen Verbraucher Denn das Seehofer-10-Punkte-Sofortprogramm ist auch nichts sagen. an seiner Unverbindlichkeit gescheitert. Das 13-Punkte- Programm der Verbraucherschutzministerkonferenz ist Die Zuständigkeit für die Lebensmittelkontrollen ebenso unverbindlich. Im Zuge der Föderalismusreform liegt bei den Ländern. Der Bund hat allerdings die wurde die Schaffung eines solchen einheitlichen Lebens- Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Lebensmittelkontrollen mittelkontrollsystems einfach verschlafen – oder es war auch gut und mit gleichermaßen hohen Standards überall nicht gewollt. Aber der Handlungsbedarf ist jetzt drin- durchgeführt werden. Es ist kein Zufall, dass wir es bei gender denn je. den Lebensmittelskandalen im letzten Jahr immer wie- Eine Tatsache macht mich ein wenig zuversichtlich: der mit Bayern zu tun hatten. Der zuständige Bundes- Die Notwendigkeit eines bundesweit einheitlichen Qua- minister darf sich nicht damit abspeisen lassen, dass die litätsmanagements der Lebensmittelkontrollen ist unter Länder melden, alles sei in Ordnung. Er muss dann auch uns wohl unstrittig. Wir müssen also nur einen Weg dort- mal genauer hinschauen. Wenn Sie, Herr Seehofer, ver- hin suchen. Meine Fraktion, Die Linke, schlägt dafür ei- künden, dass alle EU-zugelassenen Kühlhäuser geprüft nen Bund-Länder-Staatsvertrag vor. wurden, dann können Sie sich redlicherweise nicht nur zurechnen lassen, wenn da alles prima ist, sondern dann Dieser Bund-Länder-Staatsvertrag muss folgendes übernehmen Sie auch Verantwortung dafür, dass die enthalten: Kontrollen auch fach- und sachkundig und vor allem gründlich durchgeführt wurden. Sie können sich dann Erstens eine verbindliche Festschreibung bundesweit nicht herausreden, dass das ja Ländersache sei, wenn Sie einheitlicher Qualitätsstandards zur Sicherung der Inte- sich zugleich in der Öffentlichkeit die Lorbeeren für Ih- ressen der Verbraucherinnen und Verbraucher. ren Einsatz für mehr Sicherheit ans Revers stecken. Zweitens. Bund und Länder sollen in Haftung genom- men werden können für Schäden aus Organisationsver- Wir müssen ganz sicher noch weiter über dieses schulden bei der Lebensmittelkontrolle. Thema reden und gemeinsam dafür Sorge tragen, dass Lebensmittelkontrollen wirklich gut funktionieren. Die Drittens. Verantwortlichkeiten, Aufgabenzuweisungen, Verbraucher müssen sich darauf verlassen können, dass Fristen, Rechte und Pflichten müssen mit Vertragsstra- der Staat seiner Pflicht nachkommt und die Lebens- fvereinbarungen fixiert werden. 5310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Viertens. Regelungen zur Flankierung der Lebensmit- gesetz der Fall gewesen wäre. Der Gammelfleischskan- (C) telkontrolle durch eine begleitende Kontrolle der Kon- dal hat uns auch drastisch vor Augen geführt, dass die trolleure. Als Kronzeugen für die Notwendigkeit dieser Bundesregierung und die Länder ihre Hausaufgaben bei Regelung zitiere ich Minister Seehofer aus der Aus- der Lebensmittelkontrolle nicht gemacht haben. Die schusssitzung vom 8. September 2006: Natürlich muss Bundesregierung gibt unverblümt zu, dass die für den die Kontrolle kontrolliert werden … Natürlich muss es Verbraucherschutz zuständigen Ministerinnen und Mi- eine unabhängige Auditierung geben. Das schafft übri- nister der Länder mit ihrem 13-Punkte-Programm vom gens auch Vertrauen, Macht muss kontrolliert werden, 7. September 2006 nichts Neues vorgelegt haben. Auch das wissen wir alle … die bereits im November 2005 beschlossenen Maßnah- men des so genannten Zehn-Punkte-Programms wurden Um einen Einwand vorweg zu nehmen: Das Grund- kaum umgesetzt. Statt nun Schuldzuweisungen zu be- gesetz lässt Vertragsschlüsse der Länder miteinander und treiben, hätten die Kompetenzen in der Lebensmittel- mit dem Bund zu. Es steht damit der Einführung effekti- kontrolle mit der Föderalismusreform endlich an die An- ver Qualitätssicherungssysteme nicht entgegen, im Ge- forderungen der Europäischen Union neu ausgerichtet genteil. Da das Bundesamt für Verbraucherschutz und werden müssen, wie die Grünen gefordert haben. Aber Lebensmittelsicherheit ohnehin die Aufgabe des Krisen- Seehofer hat das Thema nicht einmal zur Sprache ge- managements im Bereich Lebensmittelsicherheit wahr- bracht. So können sich nun weiter Länder und Bund die nimmt, können die zusätzlichen Aufgaben dort zugeord- Verantwortung hin- und herschieben – zulasten der Ver- net werden. Es sollte assistiert werden von einem im braucher und der gesamten Ernährungswirtschaft. Rotationsverfahren wechselnden Bundesland. Die eklatanten Mängel im System der Lebensmittel- Erlauben Sie mir abschließend noch einen demokratie- kontrolle sind unhaltbar geworden, und das nicht nur theoretischen Diskurs: Es ist ein ziemlich hilfloses Bild, beim Fleisch. Auch bei illegalen Genreisimporten liegt wenn sich Bundes- und Länderminister in aller Öffent- ein Systemversagen vor. Herr Seehofer hat angekündigt, lichkeit wechselseitig den schwarzen Peter zuschieben die Koordination des Überwachungsprogramms für statt endlich zu handeln. Auch so wird Vertrauen in die nicht zugelassenen Reis aus den USA und China zu Handlungsfähigkeit der Demokratie verspielt. Unser Vor- übernehmen. Dennoch liegen die Rückmeldungen der schlag eines Bund-Länder-Staatsvertrags Lebensmittel- Untersuchungen der Länder immer noch nicht vor, ob- qualität ist dagegen eine konkrete Lösung eines aner- wohl inzwischen klar ist – dank Greenpeace –, dass sol- kannten Problems. Insofern bin ich neugierig auf eine che weltweit nicht zugelassenen und auf ihre gesundheit- konstruktive Diskussion im Ausschuss. liche Unbedenklich nicht untersuchten Produkte in den Regalen unserer Lebensmittelgeschäfte liegen. Auch die (B) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist Bundesregierung bezeichnet das Inverkehrbringen als (D) allerhöchste Zeit, dass in diesem Land den Ver- rechtswidrig. braucherinnen und Verbrauchern endlich ein umfassen- der Informationsanspruch eingeräumt wird. Minister Doch was passiert? Wochen nach der Entdeckung des Seehofer wollte den schwarzen Schafen das Handwerk illegalen Genreises liegt die kontaminierte Ware immer legen durch Offenlegung der Bewertung eines Betriebs noch im Supermarkt. Das ist völlig unverantwortlich. durch die Lebensmittelkontrolle. Wie nötig das ist, hat Wir fordern Minister Seehofer auf, sofort dafür Sorge zu uns wieder der Gammelfleischskandal der letzten Wo- tragen, dass die Ware umgehend vom Markt genommen chen mehr als deutlich gemacht. Doch: Das nach langer wird. Die Kosten sollten verursacherbezogen dann vom Ankündigung nun verabschiedete Verbraucherinforma- verantwortlichen Konzern, etwa Bayer, getragen werden. tionsgesetz der Koalition ist bloß ein Placebo. Statt Wir fordern mit unserem Antrag die Bundesregierung Transparenz über ein leicht zugängliches Informations- erneut zum Handeln auf. Erstens. Das Verbraucherinfor- system – wie es zum Beispiel problemlos in Dänemark mationsgesetz ist grundlegend zu überarbeiten, das existiert und dort auch die in Deutschland tätigen Be- heißt: Anwendungsbereich ausdehnen, Informations- triebe wie McDonald’s ihre Bewertungen in den Gast- pflicht für Behörden, Unternehmen einbeziehen, Aus- stätten und dem Internet präsentieren – sorgen in nahmetatbestände restriktiv fassen und auf das Notwen- Deutschland mit diesem Gesetz zahlreiche eingebaute dige beschränken, Antragsverfahren und Gebühren Hemmnisse für Informationsverweigerung, eine geringe transparent und verbraucherfreundlich gestalten, um nur Auskunftsreichweite und möglicherweise hohe Gebüh- die wichtigsten Punkte zu nennen. ren. Die schwarzen Schafe dürfen sich freuen. Noch vor In-Kraft-Treten sind die Schwachstellen Zweitens. Das System der Lebensmittelkontrolle ist und Lücken dieses Gesetzes klar erkennbar. Auch inner- neu zu ordnen. Wie Herr Minister Seehofer selbst festge- halb der Koalition weiß man, es gibt Nachbesserungsbe- stellt hat, wird die Lebensmittelkontrolle in Deutschland darf, und vertröstet die enttäuschten Verbraucher und den nach EU-Recht bestehenden Anforderungen nicht Verbraucherinnen auf eine „Evaluierung“ in ein paar gerecht. Die im 13-Punkte-Programm angekündigten Jahren. einheitlichen Qualitätsstandards müssen umgehend mit einer bundesweiten Koordination umgesetzt werden. Hier wurde eine Chance vertan, die Unternehmen Der Bund ist dafür verantwortlich, dass ein modernes stärker in die Verantwortung zu nehmen und Verbraucher- und leistungsfähiges System der staatlichen und kommu- informationsrechte umfassend zu gestalten, wie es mit nalen Lebensmittelüberwachung in Zusammenarbeit mit unserem Vorschlag für ein Verbraucherinformations- den Ländern geschaffen wird. Ebenso muss das Voll- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5311

(A) zugsdefizit endlich behoben werden. Die Lebensmittel- Willen, denn es gilt: Jeder im Straßenverkehr Getötete (C) überwachung muss finanziell und personell besser aus- ist ein Getöteter zu viel! gestattet werden, qualitativ besser werden und deren Unabhängigkeit muss gewährleistet werden. Die All- Deshalb unterstützen meine Fraktion und ich nachhal- gemeine Verwaltungsvorschrift Rahmenüberwachung, tig das Aktionsprogramm der Europäischen Kommis- AVV Rüb, ist entsprechend weiterzuentwickeln. sion, die Zahl der Unfallopfer im Straßenverkehr bis 2010 zu halbieren. Deshalb ist jeder Beitrag, den wir zur Wir haben dazu in unserem Antrag eine Reihe von Erhöhung der Verkehrssicherheit leisten, ein wichtiger konkreten Vorschlägen gemacht. Die Bundesregierung Beitrag. Viele solcher Beiträge haben die CDU/CSU- kann und muss weitaus mehr tun, als bisher geschehen, Fraktion und ich im Berichtszeitraum geleistet. beispielsweise einen ausreichenden Informantenschutz arbeitsrechtlich verankern. Beispiel: Begleitetes Fahren ab 17. Lange haben wir von der CDU/CSU-Fraktion hierfür gekämpft, viel Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, wäh- Überzeugungsarbeit musste geleistet werden – im Au- rend ihrer EU-Ratspräsidentschaft einen Schwerpunkt gust 2005 hat die damalige Bundesregierung endlich die auf den Verbraucherschutz zu legen und eine EU-Richt- gesetzliche Grundlage hierfür geschaffen. Seitdem kön- linie Verbraucherinformation zu initiieren, die insbeson- nen die einzelnen Bundesländer diesen Modellversuch dere auch die Informationspflichten der Unternehmen freiwillig einführen. Durch das begleitete Fahren soll die festlegt. Die Defizite in der Lebensmittelüberwachung Fahrpraxis junger Fahranfänger erhöht werden. Der Be- müssen so lange hier im Bundestag diskutiert werden, gleiter, der mindestens 30 Jahre alt sein muss, seit fünf bis sie endlich behoben sind. Jahren im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis der Klasse B ist und nicht mehr als drei Punkte in der zentra- len Verkehrssünderkartei in haben darf, soll Anlage 11 den Fahranfängern diese Praxis vermitteln. Ich erwarte mir durch das begleitete Fahren einen hohen Sicherheits- Zu Protokoll gegebene Reden gewinn, denn wenn junge Fahranfängerinnen und Fahr- zur Beratung: anfänger nach einem Jahr in Begleitung ab dem 18. Lebensjahr ohne Begleitung fahren dürfen, verfügen – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- sie bereits über Praxiserfahrung durch das Fahren in Be- rung über die Maßnahmen auf dem Gebiet gleitung. Ich freue mich, dass bereits sieben Bundeslän- der Unfallverhütung im Straßenverkehr der den Modellversuch eingeführt haben, so unter ande- 2004 und 2005 (Unfallverhütungsbericht rem auch mein Heimatland Schleswig-Holstein. In (B) Straßenverkehr 2004/2005) diesen Ländern wurde das begleitete Fahren sehr gut an- (D) genommen, wie der Unfallverhütungsbericht Straßen- – Beschlussempfehlung und Bericht Aktions- verkehr ausführt; die Teilnahme sei, so die Autoren, mit programm für Straßenverkehrssicherheit: über 49 000 Personen sehr groß gewesen. Dies zeigt, Halbierung der Zahl der Unfallopfer bis dass die Initiative meiner Fraktion zur Einführung des 2010 Entschließung des Europäischen Parla- begleiteten Fahrens richtig gewesen ist. Ich hoffe, dass ments zu dem Europäischen Aktionspro- jungen Fahranfängern demnächst in allen Bundesländern gramm für die Straßenverkehrssicherheit: die Möglichkeit eröffnet wird, in Begleitung ab dem Halbierung der Zahl der Unfallopfer im 17. Lebensjahr erste Fahrerfahrungen zu sammeln, denn Straßenverkehr in der Europäischen Union dies ist ein wichtiger Beitrag für mehr Sicherheit auf un- bis 2010: eine gemeinsame Aufgabe (2004/ seren Straßen. 2162(INI)) (EuB-EP 1263) Gemeinsam mit der SPD-Fraktion ist im Berichtszeit- (Tagesordnungspunkt 19 a und b) raum die Sicherung unbeschrankter Bahnübergänge durch eine Kombination aus Andreaskreuz und Stopp- Gero Storjohann (CDU/CSU): Der Unfallverhü- schild auf den Weg gebracht worden. Es ist unser tungsbericht Straßenverkehr 2004/2005 der Bundes- gemeinsamer politischer Wille, durch diese Schilder- regierung macht Mut: Mit 5 361 Menschen im Jahre kombination endlich zu einer besseren Sicherung unbe- 2005 liegt die niedrigste Zahl an Verkehrstoten seit Ein- schrankter Bahnübergänge zu gelangen. Ich bedanke führung der amtlichen Statistik im Jahre 1953 vor. mich bei der Kollegin Heidi Wright von der SPD-Bun- Schauen wir zum Vergleich einmal auf das Jahr 1970: destagsfraktion für die sehr gute Zusammenarbeit in die- Damals starben in ganz Deutschland 21 000 Menschen ser Frage. Der diesbezügliche Verordnungsentwurf ist im Straßenverkehr. Die Zahl der Getöteten im Straßen- bereits vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und verkehr ist damit um rund 75 Prozent zurückgegangen. Stadtentwicklung erarbeitet worden. Ich fordere das Gleichzeitig haben sich im gleichen Zeitraum Fahrleis- Bundesverkehrsministerium auf, eine entsprechende tung und Anzahl der Fahrzeuge auf Deutschlands Stra- Verordnung schnellstmöglich zu erlassen, damit unbe- ßen etwa verdreifacht. Weltweit sterben jährlich schrankte Bahnübergänge endlich effektiv gesichert 1,2 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen im Stra- werden können. Viel zu viel Zeit ist in dieser Angelegen- ßenverkehr. Dies zeigt: Wir stehen bei der Verkehrssi- heit schon im Lande gestrichen – die Kombination aus cherheit vor riesigen Herausforderungen. Die Verkehrs- Andreaskreuz und Stoppschild muss nun endlich Reali- sicherheitsarbeit braucht daher einen starken politischen tät werden! 5312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Zu einem anderen Thema: Ich freue mich, dass das Stärkung der Verkehrsinfrastruktur für Fahrräder ist ein (C) Fahren mit Licht am Tage Berücksichtigung im Unfall- wichtiges Thema. Fahrradfahren erfreut sich immer grö- verhütungsbericht Straßenverkehr 2004/2005 gefunden ßerer Beliebtheit und stellt zwischenzeitlich einen erheb- hat. Hier ist zu lesen, dass eine Untersuchung der Bun- lichen Wirtschaftsfaktor dar. Fahrradfahren muss des- desanstalt für Straßenwesen, BASt, zu dem Ergebnis ge- halb sicher sein. Ich plädiere daher neben dem kommen sei, dass Fahren mit Licht am Tage einen signi- verstärkten Ausbau des Radwegenetzes für das freiwil- fikanten Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit lige Tragen von Fahrradhelmen. So kann eine erhöhte erwarten lässt. Bereits seit Oktober 2005 empfiehlt das Sicherheit der Radfahrer gewährleistet werden. Bundesverkehrsministerium, auch am Tage freiwillig mit Licht zu fahren. Das Fahren mit Licht am Tage be- Sorge bereiten nach wie vor die motorisierten Zweirad- darf der breiten Akzeptanz in der Bevölkerung. Es ist fahrer. Im Jahr 2005 verunglückten 53 524 motorisierte deshalb nicht nachvollziehbar, dass nur etwa 500 Meter Zweiradfahrerinnen und Zweiradfahrer einschließlich vom Bundesverkehrsministerium entfernt am Ende des Mitfahrerinnen und Mitfahrer, so der Unfallverhütungsbe- Tiergartentunnels in Berlin Verkehrsschilder mit dem richt. Davon wurden 982 getötet und 14 645 schwer ver- Wort „Licht“ und einem großen Fragezeichen dahinter letzt. Das fahrleistungsbezogene Risiko, mit einem mo- aufgestellt wurden. Diese Schilder müssen angesichts torisierten Zweirad tödlich zu verunglücken, ist circa der Empfehlung des Verkehrsministeriums, auch am zehnmal so hoch wie das entsprechende für PKW-Insas- Tage mit Licht zu fahren, nun wirklich nicht sein! sen. Hier kommt der Aufklärung zu mehr Eigenverant- wortung der Motorradfahrer eine hohe Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass Vorausschauendes Fahren und das Tragen geeigneter sich auch die EU-Kommission jetzt in einem Konsulta- Schutzkleidung helfen, die Sicherheit des Motorradfah- tionspapier dafür ausspricht, eine allgemeine Pflicht zum rers zu verbessern. Im Rahmen der Verkehrsüberwa- Einschalten des Pkw-Lichts auch bei Tage einzuführen. chung sollten darüber hinaus Radaranlagen technisch so Ab einem bestimmten Stichtag sollten zudem alle Neu- eingestellt werden, dass sie Motorradfahrer von hinten wagen mit einem Tagfahrlicht ausgerüstet werden, das aufnehmen, um so deren Zulassungskennzeichen zu er- sich mit der Zündung automatisch einschaltet. Hierzu fassen. muss die Bundesregierung bis zum 17. November eine Stellungnahme bei der EU abgeben. Deutschland und Lassen Sie mich noch einen Aspekt herausgreifen, der die anderen EU-Mitglieder sind nun aufgerufen, sich zu meines Erachtens helfen kann, die Sicherheit auf unse- den Vorschlägen zu erklären. In dem Konsultationspa- ren Straßen zu erhöhen, und damit zu einer Verringerung pier gehen die Autoren davon aus, dass pro Jahr bis zu der Zahl der Verkehrsunfallopfer führt. Die Förderung 2 000 Menschenleben europaweit gerettet werden könn- von elektronischen fahrdynamischen Stabilitätssystemen (B) ten, wenn die Fahrer aller Kraftfahrzeuge am Tage das ist ein wichtiger Beitrag für die Verkehrssicherheit. Das (D) Licht einschalten würden. Befürchtete Nachteile für elektronische Stabilitätsprogramm, ESP, sollte daher in schwächere Verkehrsteilnehmer konnten demnach nicht der Europäischen Union verpflichtend eingeführt wer- bestätigt werden. Zudem sei auch der Spritverbrauch ge- den – und zwar für alle Fahrzeugklassen, auch für Fahr- ringer als angenommen und könne durch den Einsatz zeuge im unteren Preissegment. Ich bin überzeugt, dass moderner Lichttechnik weiter reduziert werden. Ich for- durch die Einführung des elektronischen Stabilitätspro- dere die Bundesregierung daher auf, sich in Brüssel da- gramm es ein Zugewinn an Sicherheit im Straßenverkehr für einzusetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland erreicht werden kann. ESP wirkt durch blitzschnellen eine allgemeine Pflicht zum Einschalten des Lichts an Eingriff in Motor- und Getriebesteuerung mithilfe ver- Kraftfahrzeugen auch bei Tage uneingeschränkt befür- schiedener Sensoren dem Schleudern entgegen. wortet. Der Bericht der Bundesregierung über die Maßnah- Darüber hinaus sollten wir auch einem anderen men auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenver- Thema verstärkt unsere Aufmerksamkeit widmen: der kehr 2004 und 2005 und das Aktionsprogramm der EU Sicherheit von Farradfahrerinnen und Fahrradfahrern im zur Halbierung der Zahl der Unfallopfer rufen uns Ver- Straßenverkehr. Im Verkehrsunfallverhütungsbericht kehrspolitiker auf, mit einem starken politischen Willen lesen wir dazu, dass durch den Nationalen Radverkehrs- und in enger Zusammenarbeit mit Bundesregierung und plan, NRVP, der Anteil des Radverkehrs am Gesamtver- Europäischer Union die Verkehrssicherheit auf unseren kehr bis 2012 deutlich gesteigert und die Verkehrssicher- Straßen ständig zu verbessern. Der Herr Bundesminister heit der Radfahrer verbessert werden sollen. Bei unserer hat unsere volle Unterstützung, wenn er dies gemeinsam ersten Parlamentsfahrradtour „Berlin by bike“ wurden mit uns vorantreibt. wir vor wenigen Tagen über die Umsetzung des Nationa- len Radverkehrsplanes in Berlin informiert. Außerdem Heidi Wright (SPD): Unsere Verkehrssicherheits- wurde exemplarisch das Radfahren auf Busspuren, an politik zeigt erneut eine deutlich positive Wirkung; die Wasserstraßen und entlang von Autobahnen demons- jährlich sinkenden Unfallzahlen belegen dies. So sank triert. Hier hat sich gezeigt, dass in diesem Bereich noch die Zahl der Verkehrstoten von 5 842 in 2004 auf 5 361 erheblicher Handlungsbedarf besteht. in 2005. Das ist die niedrigste Zahl seit Einführung der amtlichen Statistik im Jahr 1953 – ein Satz, den wir Gott Ich unterstütze das in dem Bericht genannte Ziel, zur sei Dank in jedem Jahr aussprechen können. Vermeidung von Fahrradunfällen den Fahrradverkehr durch den Bau von Radwegen vom motorisierten Ver- Ich erinnere: 1970 hatte die Statistik noch über kehr auf stark frequentierten Straßen zu trennen. Die 21 000 Getötete gemeldet. Die Zahl der Getöteten im Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5313

(A) Straßenverkehr ist damit um rund 75 Prozent zurückge- Fahranfängern zur Last gelegt wurde, gefolgt von „Al- (C) gangen – trotz einer Verdreifachung der Fahrleistung und koholeinfluss“ mit 16 Prozent. der Anzahl der Fahrzeuge. Auch im ersten Halb- Wer rast, wer zu dicht auffährt, wer mit Alkohol fährt, jahr 2006 setzt sich der seit langem beobachtete positive gefährdet nicht nur sich, sondern insbesondere auch an- Trend bei der Zahl der Unfalltoten und Verletzten fort. dere. Deshalb sind Rasen, rowdyhaftes Fahren und Fah- Nach Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes wur- ren mit Alkohol absolut keine Kavaliersdelikte, sondern den im ersten Halbjahr 2006 in Deutschland 2 263 Ver- streng zu ahndende Straftaten ohne Toleranz. kehrsteilnehmer im Straßenverkehr getötet. Das waren 9,1 Prozent weniger als im ersten Halbjahr 2005. Soweit Hoffnung bei jugendlichen Fahranfängern macht die die gute Nachricht. große Resonanz, die das „Begleitete Fahren ab 17“ her- vorgerufen hat. Obwohl sich nur sieben Bundesländer an Der Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2004/2005 dem Modellversuch beteiligten, ist die Teilnahme mit bestätigt aber auch eine andere Kontinuität: Schlimme über 49 000 jungen Fahranfängern sehr groß. Auch von Entwicklungen gibt es immer noch bei Kindern unter 15, der Einführung eines Alkoholverbots für junge Fahran- älteren Verkehrsteilnehmern über 65, Radfahrern, Nut- fänger sind unfallsenkende Wirkungen zu erwarten. Der zern motorisierter Zweiräder und Fußgängern. Gesetzentwurf wird im BMVBS auf Fachebene vorbe- reitet und muss nun zügig auf den Weg gebracht werden. Kinder sind nach wie vor in besonderem Maße unfall- gefährdet. Dies besagt der Bericht der Bundesregierung Straßen sind öffentlicher Raum und als Politikerinnen und dies belegen jüngste Studien – Auswertung durch und Politiker haben wir die Verantwortung, die Sicher- TU Berlin –, denen zufolge das Risiko, bei Verkehrsun- heit im öffentlichen Raum zu gewährleisten. Deshalb ist fällen verletzt oder getötet zu werden, nicht in allen Al- es aus meiner Sicht notwendig, sich dem einzig vertret- tersstufen gesunken ist. Für Sechsjährige bis 15-Jährige baren Ziel in der Verkehrssicherheit zu verpflichten: Vi- hat das Unfallrisiko sogar zugenommen. sion zero, null Verkehrstote. Dafür brauchen wir aber einen Ansatz in der Verkehrspolitik und in der Gesell- Eine besondere Gefährdung gibt es nach wie vor für schaft, der weiter reicht als der bisherige. die Radfahrer: 2004 sind 475 Radfahrer getötet worden. 2005 war dann für den Radverkehr mit 575 Toten, da- Anlässlich der Halbzeitbilanz des „Europäischen Ak- runter 41 Kinder, ein schlimmes Jahr. Die Zahl der getö- tionsprogramms für die Straßenverkehrssicherheit“ im teten Radfahrer ist damit um 21,05 Prozent gestiegen. Februar 2006 bescheinigte EU-Verkehrskommissar Bar- rot Europa keine positive Bilanz. Der Rückgang der Ver- Zwar leistet der Bund trotz schwieriger Haushaltslage kehrstoten in Europa um 17,5 Prozent seit 2001 reiche Erhebliches, etwa durch Finanzierung von Radwegen, nicht aus, um das Ziel einer Halbierung der Anzahl der (B) (D) die die Sicherheit gerade auch für Kinder erhöhen. 2004 Verkehrstoten im Jahr 2010 zu erreichen. Bei diesem und 2005 wurden insgesamt rund 800 Kilometer Rad- „Fortschritt“ würden 2010 in der EU noch immer wege in Höhe von rund 160 Millionen Euro fertig ge- 32 500 Menschen im Straßenverkehr sterben. stellt. Hochgefährlich für Radfahrer sind jedoch noch Unserem Nachbarn Frankreich konnte Barrot eine immer die rechtsabbiegenden Lkw, die noch nicht mit vorbildliche Bilanz bescheinigen; denn kein geringerer den neuen Spiegelsystemen ausgerüstet sind, die den als Staatspräsident Chirac hat sich dort das Ziel der „toten Winkel“ weitestgehend minimieren. Reduzierung der Unfallopfer zu Eigen gemacht. In Deutschland hat die Gefahr zwar erkannt und gehan- Frankreich gibt es ein Gesetz gegen Gewalt im Straßen- delt: Dank einer parlamentarischen Initiative von Rot- verkehr. Nichts weniger ist verkehrsgefährdendes Ver- Grün in der 15. Wahlperiode war die EU-Richtlinie halten. Es ist Gewalt gegen sich und andere. Unnach- 2003/97/EG zur Vermeidung des „toten Winkels“ vorge- sichtiges Vorgehen der französischen Polizei gegen alle zogen und ausgeweitet worden. Die Sicherheit für Rad- Raser hat dazu geführt, dass die Zahl der Verkehrstoten fahrer und Fußgänger wurde damit aber noch immer seit 2001 um enorme 32 Prozent zurückgegangen ist. Ja, nicht verbessert; denn die Nachrüstung unterbleibt und hier wird eingeworfen, von einem hohen Niveau. von einer verantwortlichen freiwilligen Nachrüstung ist In Deutschland wurden 2001 insgesamt 6 977 Perso- nichts in Sicht. Ich kann es den aktiven ADFC-Verbän- nen im Straßenverkehr getötet. Dies entspricht – bis 2005 den deshalb nicht verdenken, wenn sie gegen diese tödli- mit 5 361 Toten – einem Rückgang von 23,4 Prozent. Ja, che Unverantwortlichkeit wieder mobilisieren. Auch wir hatten auch vor 2001 schon eine ambitionierte Ver- Brüssel ist am Zug: Längst hätte eine europaweite Rege- kehrssicherheitsarbeit und deshalb schon reduzierte Zah- lung zur verpflichtenden Nachrüstung von Lkw erreicht len. Aber das darf uns nicht hochmütig oder gar nachläs- werden müssen. Verkehrskommissar Barrot hat dieses sig werden lassen. Angenommen, die Anzahl der Thema in dieser Woche auf einer parlamentarischen Ver- Unfalltoten in Deutschland würde sich von 2005 bis kehrssicherheitskonferenz in Paris ausdrücklich ange- 2010 im selben Maße fortsetzen, würden wir das Ziel sprochen. des Europäischen Aktionsprogramms für die Straßenver- kehrssicherheit, Halbierung der Verkehrstoten bis 2010, Traurige Kontinuität belegt der Bericht der Bundes- also 3 488 Getötete, mit dann 3 745 Getöteten nur knapp regierung auch bei den Unfallursachen: An der Spitze verfehlen. steht mit 52 Prozent noch immer die „nicht angepasste Geschwindigkeit“, sprich: die Raserei. Sie ist auch das Wir können uns zusammen mit Skandinavien, Groß- häufigste Fehlverhalten, das im Berichtszeitraum jungen britannien, den Niederlanden bei den Anstrengungen für 5314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Verkehrssicherheit im Spiegel der Statistik durchaus se- sich in ihrem Bericht selber über den grünen Klee lobt – (C) hen lassen. Doch, ist uns das genug? Ich sage Nein. Ich wir müssen dennoch feststellen, dass die deutsche Ver- fordere, Weiteres zu tun, um unsere Mobilität sicherer zu kehrssicherheitspolitik im internationalen Vergleich al- machen. Ich setze mich dafür ein, Verkehrssicherheit in lenfalls mittelmäßige Fortschritte macht. Angesichts von Deutschland ebenso wie in Frankreich zu einer nationa- 14 Toten jeden Tag muss ich sagen: Mittelmaß ist zu we- len Gesamtaufgabe zu machen, von der Bundeskanzlerin nig. über den Bundesverkehrsminister hinein in die gesamte Gesellschaft. Wir haben in der Straßenverkehrssicherheit Vor allem müssen wir bei der Verbesserung der Stra- gute Entwicklungen; aber wir bleiben unter unseren ßenverkehrssicherheit neben den Fahrzeugen auch die Möglichkeiten! Infrastruktur verstärkt in den Blick nehmen. Ich will jetzt nicht wieder auf den Zahlen herumreiten, aus denen Wir haben auf den Bundesautobahnen zu viele Dräng- hervorgeht, dass Sie in den Haushaltsplanungen gerade ler, Raser und Verkehrsrowdies, die ihr vermeintliches nicht mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur vorsehen, Recht auf „freie Fahrt“ rigoros einfordern. Ich bin fest auch wenn Herr Tiefensee nicht müde wird, das unwahre davon überzeugt, dass mit Entschleunigung durch ein Gegenteil zu behaupten. Ich möchte aber sehr wohl da- allgemeines Tempolimit wie in fast allen OECD-Staaten rauf hinweisen, dass Sie zum Beispiel über ein Problem nicht nur das Unfallrisiko zu senken, sondern weitere in diesem Bericht gar nicht reden: Das ist das Thema der wichtige verkehrspolitische und gesellschaftliche Ziele Baustellensicherheit. Anscheinend ist dies für Sie über- zu erreichen wären. Ich werbe ausdrücklich für eine ge- haupt kein sicherheitsrelevanter Aspekt. Das ist aus- sellschaftliche Debatte über dieses Thema. Ich werbe für drücklich zu bedauern, denn nach Erkenntnissen des die Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Sicherheits- ADAC sind Baustellen die größten Unfallrisiken im Ver- verbesserung und dazu gehört auch das allgemeine Tem- kehr überhaupt. polimit auf Autobahnen. Es ist zwar richtig, dass bereits heute mehr als ein Drittel des deutschen Autobahnnetzes Allein im letzten Jahr ist die Zahl der Unfälle in Bau- dauerhaft geschwindigkeitsbegrenzt ist und die hohe stellenbereichen um 26 Prozent gestiegen. Wir wissen Verkehrsdichte das Fahren mit hohen Geschwindig- doch alle: Wie gut wir auch versuchen, Baustellen abzu- keiten immer weniger zulässt. Dies ist jedoch meines Er- sichern; allein die Einrichtung einer Baustelle birgt achtens gerade eine Argumentation für ein allgemeines schon immer ein Risiko in sich. Da ist doch die logische Tempolimit. Dadurch verstetigt sich der Verkehrsfluss Konsequenz, dass wir die notwendigen Bauarbeiten so und unnötiges Drängeln für wenige Kilometer „freie schnell wie irgend möglich abschließen. Ihre Regierung Fahrt“ wird überflüssig. tut in dieser Hinsicht jedoch nichts. Im Gegenteil, Bau- stellen werden in großer Zahl aufrechterhalten, obwohl (B) Ein Tempolimit hilft, Stausituationen zu vermeiden, teilweise wochenlang nicht gebaut wird. (D) indem es die Stabilität des Verkehrsablaufs erhöht. Das Tempolimit harmonisiert den Verkehrsfluss, da weniger Wenn ich dann auf eine von mir im Sommer gestellte Brems- bzw. Beschleunigungsvorgänge notwendig sind. Anfrage nach Baustellen, die länger als notwendig ein- Das Verkehrsgeschehen wird insgesamt weniger hektisch gerichtet sind, eine Antwort erhalte, die an Ignoranz und und aggressiv. Gemäßigte Autofahrer – die Mehrheit – Herablassungen kaum zu überbieten ist, dann frage ich werden vom Druck aggressiv auffahrender Schnellfahrer mich schon, ob die Straßenverkehrssicherheit in Ihren befreit. Das Tempolimit trägt zur Harmonisierung der Händen gut aufgehoben ist. europaweiten Verkehrsverhältnisse bei. Aber lassen Sie mich auch zu den fahrzeugbezogenen Das Drängen aus der EU für ein allgemeines Tempo- Aspekten der Straßenverkehrssicherheit etwas sagen: limit auch in Deutschland wird immer heftiger. Nicht nur Die Automobilindustrie leistet bereits seit Jahren ei- der französische Verkehrskommissar fordert dies, auch nen wichtigen Beitrag durch Verbesserung der aktiven der deutsche Kommissar Günter Verheugen findet har- und passiven Sicherheit der Fahrzeuge. Aber auch Sie sche Worte gegen eine Automobilindustrie, die glaubt im als Bundesregierung stehen diesbezüglich in der Pflicht, immer Schneller und Stärker noch eine Zukunft zu ha- aus der wir Sie nicht so leicht entlassen werden. Seit ben. Die Herausforderungen der Zukunft für die Automo- 2001 wurden auf europäischer und nationaler Ebene ver- bilindustrie sind neben Sicherheit vor allem Reduzierung schiedenste Maßnahmen verabschiedet, um die Ver- des Treibstoffverbrauchs und der Umweltbelastung. Dass kehrssicherheit auf breiter Basis zu verbessern. Die Bun- auch hier eine Temporeduzierung helfen kann, ist eben- desregierung hat es dennoch bisher nicht vermocht, ein falls unbestritten. zielgerichtetes Verkehrssicherheitskonzept vorzulegen. Das Thema Verkehrssicherheit, Reduzierung der Un- Auch dieser Bericht ist wieder nur eine Aneinanderrei- fälle, Reduzierung der Unfalltoten verlangt, dass wir im- hung von – wenn auch zugegebenermaßen oft durchaus mer wieder unsere Möglichkeiten und die Akzeptanz in positiven – Einzelansätzen. der Bevölkerung überprüfen. Verkehrssicherheit ist es Als eine der begrüßenswerten Einzelmaßnahmen will allemal wert, auch kontrovers zu diskutieren. Ich fordere ich hier das vor einiger Zeit im Europäischen Parlament hierzu auf. behandelte europaweite Notrufsystem eCall nennen. Die harmonisierte Einführung auf der Grundlage des Notrufs Patrick Döring (FDP): Jedes Jahr sind im deutschen 112 rettet Leben und mindert die gesundheitlichen Schä- Straßenverkehr weit über 5 000 Tote zu beklagen – das den von Unfallopfern effektiv, indem Helfer schnell und sind 14 Tote täglich! Auch wenn die Bundesregierung präzise an den Unfallort gerufen werden können. Vor al- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5315

(A) lem in Deutschland kann eine zügige und entschiedene der Blick bei solchen statistischen Zahlen auf etwas an- (C) Umsetzung auch dazu dienen, wirtschaftlichen Nachtei- deres richtet: Dem Bericht der Bundesregierung ist zu len eines ab 2009 geplanten verpflichtenden Einbaus von entnehmen, dass die Zahl der auf den Straßen Getöteten eCall in Neufahrzeuge entgegenzuwirken. Die betroffe- und schwer Verletzten in den letzten 15 Jahren in etwa nen Automobilhersteller leisten dabei seit jeher einen halbiert werden konnte – ich betone: halbiert – von rund vorbildlichen Beitrag in dieser Sache. Über ihren Dach- 142 000 im Jahr 1991 auf 82 000 im letzten Jahr. verband ACEA haben sie sich bereits zur gemeinsamen und unternehmensübergreifenden Arbeit an dem System Obwohl in demselben Zeitraum die Fahrleistungen bekannt. Jetzt muss die Arbeit darauf konzentriert wer- durch immer mehr Autos und immer größere zurückge- den, ein wirtschaftliches Betreibermodell zu schaffen legte Entfernungen sogar verdoppelt wurden, ist es trotz- und so zu kostendeckenden Lösungen zu gelangen. dem gelungen, einerseits die Menschen verstärkt für die Verkehrssicherheit zu sensibilisieren und andererseits Ausdrücklich begrüßen will ich auch, dass Sie im ver- die Straßen und Fahrzeuge technisch erheblich sicherer gangenen Jahr – wenn auch vielleicht nicht ganz freiwil- zu machen. Dafür danke ich allen, die dazu beigetragen lig – die rechtliche Grundlage für den Modellversuch haben und die dabei mitgeholfen haben, insbesondere „Begleitetes Fahren ab 17“ geschaffen haben. Nachdem den unzähligen Notfallhelfern, die anderen Menschen in Niedersachsen das Projekt erst im Alleingang durch- halfen und sich dabei selbst stets sehr viel abverlangen geführt wurde, haben sich dort die Erwartungen voll be- mussten. stätigt. Die ersten wissenschaftlichen Ergebnisse der Be- gleituntersuchung haben gezeigt, dass die frühzeitige Da sind wir jetzt sozusagen am wunden Punkt ange- Beteiligung junger Menschen am Straßenverkehr zu langt: Je mehr ich in dem hochinteressanten Bericht der mehr Verantwortungsbewusstein führt, wenn sie dann ab Bundesregierung las, desto mehr stellte ich mir die 18 alleine fahren dürfen. Junge, durch diese Erfahrung Frage: Was mögen uns all die vielen Maßnahmen kosten, geübte Fahrer verursachen 40 Prozent weniger Unfälle mit denen wir Verkehrsunfälle vermeiden oder deren und zahlen 60 Prozent weniger Bußgelder als Gleichalt- Folgen mindern können? rige ohne diese Vorbildung. Und das möglichst, ohne unser eigenes Verhalten ver- Es ist ja kein Geheimnis, dass in Niedersachsen ein ändern zu müssen. Wir alle wissen, dass mit steigender Liberaler Verkehrsminister ist. Wenn Sie also innovative Geschwindigkeit die Schadensschwere exponential Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit steigt, und leisten uns doch hier den Luxus, nicht einmal suchen, dann sind Sie bei der FDP mal wieder besonders mehr über generelle Geschwindigkeitsbegrenzungen auf gut aufgehoben. Diejenigen, die auch aus diesem Hause Autobahnen auch nur zu diskutieren. Immer getreu dem (B) den niedersächsischen Weg kritisiert hatten, sollten an- Motto „Zeit ist Geld“? (D) gesichts der erfreulichen Realität zukünftig mit Presse- mitteilungen zu Modellversuchen in Niedersachsen vor- Ich bitte, mich da bloß nicht falsch zu verstehen: Es sichtiger sein. darf natürlich nichts und nirgends gespart werden, wenn es um Sicherheit und Schadensminderung geht. All das Am heutigen Tag über Verkehrssicherheit zu reden, muss sein, aber Kosten dürfen dennoch kein Tabuthema ist wahrscheinlich nicht möglich, ohne die tragischen Er- sein. Erst recht dann nicht, wenn schon bald neue Tech- eignisse in Lathen anzusprechen. Aber ich finde auch, niken auf uns zujagen werden, mit denen es möglich wir sollten angesichts dieser Katastrophe in der politi- werden wird, die Zahl der Unfälle und die Schwere ihrer schen Debatte für einen Moment innehalten können. Folgen noch einmal deutlich zu mindern. Für Autos Wenn ich dann im Verkehrsausschuss am Mittwoch erle- zeichnet sich jetzt schon das Rundum-Kurzstrecken-Ra- ben muss, dass – noch nicht einmal fünf Tage nach dem dar ab. Außerdem wird daran gedacht, in Europa das et- Unglück – schon versucht wird, daraus politisches Kapi- liche Milliarden Euro teure Fahrzeugortungs- und Not- tal zu schlagen, dann finde ich das, gelinde gesagt, schä- fallmeldesystem „eSafety“ zur Anwendung zu bringen. big, um eine dem Hohen Haus unangemessene Wortwahl Sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen der bei- zu vermeiden. Ich spreche da ganz gezielt die linke Seite den Systeme wird es wahrscheinlich, die Zahl der Opfer des Plenums an. Die politische Diskussion wird und auf unseren Straßen abermals zu halbieren. muss folgen, aber bitte erst auf gesicherter Tatsachen- grundlage und nicht unter Ausnutzung der allgemeinen Da wird dann für uns alle, die wir mehr Sicherheit Bestürzung über das Unglück. wollen, die Nagelprobe ins Haus stehen. Wir werden Wege finden müssen, diese neuen Techniken zu finan- zieren. Als Gesellschaft und als Verkehrsteilnehmer. Si- Dorothée Menzner (DIE LINKE): Zu später Stunde cherheit darf kein Luxusgut nur für wenige sein. widmen wir uns hier der Unfallvermeidung auf den Stra- ßen. Ein Thema, für das es freilich niemals zu spät ist und sein darf. Denn just während wir hier dazu Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 30 Minuten lang debattieren, werden 25 Menschen auf Eingangs ist festzuhalten, dass die Abnahme der Zahl unseren Straßen Schaden erleiden. Wenn die statisti- der Verkehrstoten von 2004 auf 2005 um 8 Prozent sehr schen Angaben stimmen, dann werden drei dieser Men- erfreulich ist und wir damit bisher den niedrigsten Wert schen schwer verletzt, und ein weiterer könnte während erzielt haben. Doch vergessen wir nicht die Schwerver- dieser Zeit gerade sterben. Das stimmt mich recht nach- letzten, die zum Teil ihr Leben lang die Folgen eines denklich, denn auch ich bin darauf getrimmt, dass sich Verkehrsunfalls zu tragen haben. 5316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Im Unfallverhütungsbericht heißt es: Jeder im Stra- lieren. Die Geldbußen entfalten keine Abschreckung. Sie (C) ßenverkehr Getöteter ist ein Getöteter zu viel! Diese An- sind im Vergleich zu anderen Ländern viel zu niedrig. sicht unterstreichen wir. Wir können noch mehr tun, zum Beispiel im Bereich Im Unfallverhütungsbericht heißt es aber auch, dass des Güterverkehrs. Die Verlagerung eines großen Teils das Ziel, einen unfallfreien Straßenverkehr anzustreben, des Güterverkehrs auf die Schiene ist auch ein Beitrag nur mit unvertretbar hohen Kosten zu erzielen sei. Die- zur Verkehrssicherheit. ses Leitbild ist lebensfeindlich. Das lehnen wir ab, weil es Tote und Schwerverletzte in Kauf nimmt. Die Mobili- Wir sind für die Zähmung rasender Kleinlaster, weil tät darf als gesellschaftlicher Wert nicht höher bewertet sie überdurchschnittlich häufig Unfälle verursachen. Die werden als die Wertschätzung des Lebens und der Ge- Fahrer sind hohen Belastungen ausgesetzt. Sie unterlie- sundheit. Ganz zu schweigen von den Unfallfolgekosten, gen nicht den Lenk- und Ruhezeiten und brauchen weder die deutlich höher sind als die erforderlichen Verkehrssi- eine Wochenend- noch eine Fahrgenehmigung für Feier- cherheitsinvestitionen. tage. Wir sind davon überzeugt: Wer sich intensiv für das Bei den schweren Lkw werden höchstens 4 Prozent Ziel „Vision Zero – Null Verkehrstote“ einsetzt, der kann aller Verstöße gegen Straßenverkehrsregelungen aufge- es langfristig auch erreichen. Dazu brauchen wir eine spürt. 213 000 Verstöße gegen Lenk- und Ruhezeiten. Strategie, die darauf basiert, dass der Mensch Fehler Das ist zu viel. Verstöße gegen Ladungsvorschriften und macht. Nicht der Mensch ist besser dem Verkehr anzu- überhöhte Geschwindigkeiten kommen hinzu. So fuhren passen, sondern das System Straße. Was in anderen eu- 87 Prozent der LKW, die 2003 auf der Landstraße kon- ropäischen Ländern möglich ist, das ist auch bei uns trolliert wurden, zu schnell. Wir brauchen mehr Kontrol- möglich. Kürzungen bei den Regionalisierungsmitteln len und härtere Strafen, die die Kostenersparnisse, die sind im Hinblick auf Verkehrssicherheit sicher nicht ziel- durch illegales Verhalten entstehen, abschöpfen. Die führend. Jeder zusätzliche Nutzer des öffentlichen Ver- Fahrzeughalter sind als Auftraggeber mehr in die Pflicht kehrs erhöht die Verkehrssicherheit und verlangsamt den zu nehmen. Regelverstöße dürfen sich auch hier nicht Klimawandel. Das Risiko, im Auto zu verunglücken, ist lohnen. Im Vergleich zu anderen Verkehrsunfällen enden zwölfmal und sich zu verletzten vierzigmal höher als im Unfälle mit Lkw-Beteiligung doppelt so oft tödlich. Das Zug. ist vermeidbar. Bei 52 Prozent der Alleinunfälle ist nicht angepasste 16 Prozent der Unfälle gehen auf Alkoholkonsum zu- Geschwindigkeit die Hauptursache. Aufklärungs- und rück, so der Bericht. Auch hier könnte die Bundesregie- Informationskampagnen reichen nicht. Es ist nicht nach- rung mehr von jungen und alten Bürgerinnen und Bür- (B) vollziehbar, dass es in Deutschland als nahezu einzigem gern gleichermaßen fordern. (D) Land der Welt kein allgemeines Tempolimit auf Auto- Ein anderes Thema ist die Mobiltätserziehung: Die bahnen gibt. Die Tradition „freie Fahrt für freie Bürger“ Mobilitätserziehung muss sich künftig bundesweit und ist offensichtlich so schwer zu überwinden, wie in den systematisch der kindgerechten Vermittlung der Ver- USA das verfassungsmäßig verbriefte Recht, eine Waffe kehrswelten auf allen Ebenen und für alle Altersstufen tragen zu dürfen. ab dem Kleinkindalter widmen. Es ist vor allem zu erler- Wir müssen uns der Frage stellen, ob das Recht eini- nen, welches Sozialverhalten richtig ist, wenn man sich ger weniger, mit ICE-Geschwindigkeiten über deutsche im Verkehr bewegt. Ebenso wichtig ist die Sensibilisie- Autobahnen zu rasen, höher einzustufen ist, als das rung für die Folgen von Drogen- und Alkoholkonsum. Recht derer, die sich aufgrund dieser exzessiven Ge- Darüber hinaus sind die Auswirkungen der unterschied- schwindigkeiten bedroht fühlen, da sie mit einem weni- lichen Verkehrsträger auf Siedlungen und Umwelt zu ger leistungsstarken Fahrzeug unterwegs sind? vermitteln. Die richtige Verkehrsmittelwahl ist erlernbar. Tempo 130 auf deutschen Autobahnen ist genug. Nicht unsere Kinder sind dem Verkehr anzupassen, Langsamer Fahren heißt sicher ankommen. Wer für eine sondern der Verkehr unseren Kindern. Das heißt: Wir europaeinheitliche Verkehrssicherheit ist, darf beim müssen uns endlich von der autogerechten Stadt verab- Tempolimit nicht auf der Bremse stehen. Wir begrüßen schieden. den Vorstoß von Jacques Barrot für ein allgemeines eu- ropäisches Tempolimit. Auch die Fahrschulausbildung bedarf einer grundle- genden Erweiterung. Die klassischen Säulen der Fahr- Was für die Autobahn gut ist, kann für die Landstraße schulausbildung: die Vermittlung von Verkehrsregeln, nicht schlecht sein. Auch hier fordern wir eine Ge- der Erwerb der Fahrzeugbeherrschung und das Erlernen schwindigkeitsreduktion. Die Zahl der Getöteten auf lebensrettender Maßnahmen müssen künftig ergänzt Landstraßen ist am höchsten. Auch für den innerörtli- werden. Die Fahrausbildung muss berücksichtigen, dass chen Verkehr fordern wir eine weitere Geschwindig- junge Fahrerinnen und Fahrer während der Anfangs- keitsbegrenzung. Das kommt insbesondere den phase mehr Begleitung und einen langsameren Erfah- schwächsten Verkehrsteilnehmern und damit unseren rungsaufbau benötigen. Dabei steht die Sensibilisierung Kindern zugute. Geschwindigkeitsreduktionen führen für das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer im auch zu geringeren Investitionskosten, weil die Regel- Mittelpunkt. Dazu ist es notwendig, dass die Ausbildung querschnitte der Straßen kleiner ausfallen können. Trotz- der Fahrlehrer mehr psychologische und pädagogische dem ist die Einhaltung der Regeln intensiver zu kontrol- Kenntnisse vermittelt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5317

(A) Unsere Strategie setzt nicht nur auf technische Fahr- wohl in der jährlich versandten Renteninformation auf (C) zeugverbesserungen, sondern verfolgt umfassende die Notwendigkeit der Kontenklärung und die auslau- Änderungen am gesamten Verkehrssystem, ohne die fende Frist hingewiesen worden ist. Dies ist aus meiner Mobilität einzuschränken. Hochgezüchtete Motorenleis- Sicht durchaus ein Indiz dafür, dass wir eine höhere Mit- tungen sind hier der falsche Weg. Sie schaden der Um- wirkungsbereitschaft der Versicherten einfordern müs- welt und der Verkehrssicherheit. sen. Diesen Appell will ich von dieser Stelle aus durch- aus senden. Null Verkehrstote und Null Schwerverletzte lassen sich nur erreichen, wenn sich Verkehrssicherheit nicht Wer die fehlenden Beschäftigungsnachweise nicht auf die Perspektive der Windschutzscheibe beschränkt. nachliefert, büßt später Rente ein. Die Unterlagen über Löhne und Arbeitszeiten, die in den Betrieben, ihren Nachfolgefirmen oder in Archivzentren liegen, müssen Anlage 12 nach der derzeitigen Gesetzeslage gemäß § 28 f. Abs. 5 SGB IV nur noch bis zum 31. Dezember 2006 vorgehal- Zu Protokoll gegebene Reden ten werden. zur Beratung des Antrags: Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis Nachweise der Versicherten, die inzwischen von Ost- 31. Dezember 2012 verlängern (Tagesordnungs- deutschland nach Westdeutschland umgezogen sind, punkt 20) sind bei den bisher genannten Zahlen der offenen Fälle noch gar nicht berücksichtigt. Es ist in jedem Fall also jedem dringend zu empfehlen, endlich die persönliche Maria Michalk (CDU/CSU): Erinnern wir uns: In der Kontenklärung in Angriff zu nehmen. ehemaligen DDR waren Lohnunterlagen bis zu zwei Jahren nach Eintritt in das Rentenalter des Versicherten Trotz unserer Erwartung, dass dieser Prozess forciert aufzubewahren. Diese Regelung bestand unabhängig wird, ist es unrealistisch anzunehmen, dass alles bis Jah- von der Verpflichtung des jeweiligen Arbeitgebers, den resende abgearbeitet sein kann. Von daher hat sich die Verdienst im grünen SV-Ausweis einzutragen, und zwar CDU/CSU-Bundestagsfraktion frühzeitig für die Verlän- bis zur Bemessungsgrenze. Das wurde bis Ende 1991 so gerung der Frist ausgesprochen. Wir haben entschieden, vollzogen. Seit dem 1. Januar 1992 ist die Rentenversi- dies gesetzestechnisch als Artikelgesetz im Gesetzesent- cherung zur Speicherung der Daten und zur Kontenklä- wurf mit der Bundestagsdrucksache 16/1936 – Entwurf rung verpflichtet. Dazu werden unter anderem die per- eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsren- sönlichen Arbeitsverdienste bis zur tatsächlichen Höhe tengesetzes – anzubinden. Das gibt uns die Möglichkeit, benötigt, und das für alle Versicherte. Das ist eine im- diesen Punkt gegebenenfalls im Rahmen der im Oktober (B) mense Aufgabe. geplanten Anhörung noch genauer zu beleuchten. (D) Bei der Diskussion um das Rentenüberleitungsgesetz Deshalb ist der Antrag der Linken überflüssig. Wir in der 12. Legislaturperiode sind wir davon ausgegan- lehnen ihn ab. gen, dass diese Arbeit nach 15 Jahren erfüllt sein wird. Diese Frist endet am 31. Dezember 2006. Klar ist unser politischer Wille, die Aufbewahrungs- frist bis zum 31. Dezember 2012 zu verlängern. Das Ich möchte darauf verweisen, dass neben der Schaf- schafft Klarheit, Rechtssicherheit und die Möglichkeit fung der personellen und technischen Voraussetzungen der ordnungsgemäßen Bearbeitung durch den Renten- bei der Rentenversicherung und den informellen und or- versicherungsträger, verstärkt aber auch unsere Erwar- ganisatorischen Herausforderungen insgesamt auch eine tung auf die konsequente Mitwirkung der betroffenen Mitwirkungsbereitschaft der Versicherten unbedingt vor- Bürgerinnen und Bürger. Es geht also nicht, die Sache handen sein muss. dem Selbstlauf zu überlassen. Das Recht auf seine tat- sächlichen Rentenansprüche schließt die Pflicht der Bei- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich schon im bringung aller notwendigen Unterlagen ein. Frühjahr dieses Jahres mit dem derzeitigen Stand der Kontenklärung befasst. Damit keine Nachteile bei der Um das Thema Alterssicherung kann man sich gar Berechnung des persönlichen Rentenanspruches entste- nicht früh genug kümmern. hen und eventuelle Streitigkeiten vermieden werden können, muss eine ausreichende Möglichkeit der Kon- An dieser Stelle danke ich allen Mitarbeiterinnen und tenklärung bestehen. Jedoch wissen wir, dass dem Bund Mitarbeitern in den Dienststellen, die sich Tag für Tag für das Vorhalten der Lohnunterlagen Kosten von jähr- kompetent und geduldig um die Umsetzung dieser gro- lich etwa 2,5 Millionen Euro entstehen. ßen Aufgabe bemühen. Das Erstellen der Verdienstbescheinigungen ist für Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Wer am vergange- die Versicherten kostenfrei. Für Betriebe, die ein Insol- nen Wochenende in den neuen Ländern die Zeitungen venzverfahren eröffnet haben, gelten besondere Rege- gelesen hat, dem wird Folgendes aufgefallen sein: Die lungen. Journalisten haben darauf hingewiesen, dass ehemalige Aktuell haben wir in Ostdeutschland 1,3 Millionen DDR-Bürger dringend ihre Rentenkonten klären sollten, Versicherte der Jahrgänge 1977 und älter mit lückenhaf- weil die Aufbewahrungsfrist der DDR-Lohnunterlagen ten Versicherungskonten. In den meisten Fällen sind die zum 31. Dezember 2006 ausläuft. Auf Hinweis der Beschäftigungsnachweise nicht beigebracht worden, ob- Deutschen Rentenversicherung Bund – so zum Beispiel 5318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) die „Berliner Zeitung“ vom 23./24. September – solle Rentenkonto nicht überprüfen lassen. Wir reden also (C) man sein Rentenkonto schnellstmöglich klären. Der An- über eine Zahl von 1,4 Millionen Versicherten, die durch trag der Fraktion Die Linke beabsichtigt nun, dass die das Fristende betroffen sind. Aufbewahrungsfrist der DDR-Lohnunterlagen bis Ende 2012 verlängert wird. Nach Vermutungen des Sozialverbandes Volkssolida- rität liegt die Dunkelziffer sogar noch höher, denn die § 28 f Abs. 5 SGB IV regelt die Aufbewahrungsfrist Deutsche Rentenversicherung habe diejenigen Fälle in für Lohnunterlagen in den neuen Bundesländern aus der Ihren Zahlen nicht berücksichtigt, die seit der Wende in Zeit vor dem 31. Dezember 1991. Die Frist läuft nach die alten Bundesländer umgezogen sind. Das waren in jetziger Rechtslage zum 31. Dezember 2006 aus. Wir den Jahren 1991 bis 2004 insgesamt 2,54 Millionen haben uns dieser Problematik längst angenommen; denn Menschen. Wenn von denen ebenso 20 Prozent noch wir wissen, dass viele DDR-Bürger ihr Rentenkonto keine Kontenklärung vorgenommen haben, dann reden noch nicht geklärt haben. Rund l,5 Millionen Versicherte wir über weitere 500 000 Fälle, also 1,8 Millionen Be- der Jahrgänge 1943 bis 1974 aus den neuen Bundeslän- troffene. dern haben die für die Rentenberechnung notwendigen Unterlagen aus der Zeit vor 1990 noch nicht beim Renten- Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine versicherungsträger eingereicht. Die Frist wird nun bis kleine Anfrage aus dem August 2006 geäußert – Bun- zum 31. Dezember 2011 verlängert, um den Zugriff auf destagsdrucksache 16/2385 –, es sei vorrangig eine Ob- diese Lohnunterlagen bis zur endgültigen Übernahme in liegenheit der Betroffenen selbst, sich um eine Konten- die Rentenkonten zu sichern. Die Verlängerung bis 2011 klärung zu bemühen und die ordnungsgemäße Erfassung ist nun in Art. 3 des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes ihrer Beschäftigungszeiten in den Unterlagen der Ren- zur Änderung des Betriebsrentengesetzes enthalten. Wir tenversicherung sicherzustellen. Diese Sichtweise wird kommen damit den berechtigten Interessen der Betroffe- grundsätzlich von uns als derjenigen liberalen Partei ge- nen entgegen. teilt, die stets auf die Eigenverantwortung der Bürgerin- nen und Bürger setzt. Doch so einfach darf sich der Staat hier nicht aus der Verantwortung stehlen. Der Staat muss Heinz-Peter Haustein (FDP): Wir reden hier heute eine Antwort finden auf die Frage, warum bisher trotz über ein so banales Thema wie eine Fristverlängerung. des stetig wiederholten Aufrufs zur Klärung der Renten- Doch worum geht es? Die Unterlagen und Dokumente konten die Menschen dem nicht nachgekommen sind. über Löhne und Arbeitszeiten in Betrieben in der ehema- Entsprechend dieser Antwort wäre dann auch zu han- ligen DDR müssen von den Unternehmen und ihren deln. Aber offensichtlich hat es die Bundesregierung bis- Nachfolgeunternehmen bzw. den damit beauftragten Ar- her versäumt, sich dieser Aufgabe zu widmen, so dass chiv- und Dokumentationszentren laut der derzeitigen (B) jetzt aufgrund der Ende Dezember verstreichenden Frist (D) Gesetzeslage nur noch bis zum 31. Dezember 2006 auf- keine Zeit mehr bleibt, um sich dieser Aufgabe zu stel- bewahrt werden. In der Regel gehen die jährlichen Ent- len, und es zunächst nur darum gehen kann, die Aufbe- gelte aus DDR-Zeiten zwar aus den Einträgen in den wahrungsfrist zu verlängern, um Schaden von den Rent- grünen Sozialversicherungsnachweisen hervor. Dennoch nerinnen und Rentnern abzuwenden. sollte aber jeder überprüfen lassen, ob alle für die spätere Gewährung der Rente notwendigen Angaben und Unter- Es geht also bei diesem Antrag nicht nur um eine lagen der Rentenversicherung auch wirklich vorliegen. bloße Fristverlängerung im Sinne einer Formalie. Es Experten sprechen dabei von einer Kontenklärung. Wird geht auch um die Frage, welche Aufgaben der Staat hat bei der Kontenklärung festgestellt, dass Angaben oder und welche nicht, welche Verantwortung die Bundesre- Belege fehlen, so können mit der nun auslaufenden Frist gierung trägt und welche die Bürgerinnen und Bürger. In unter Umständen Dokumente ab 2007 nicht mehr be- Anbetracht der Dringlichkeit dieser Angelegenheit liegt schafft werden. Dem Betroffenen bleibt in dem Fall nur die Vermutung nahe, dass sich das zuständige Bundes- noch die Möglichkeit der so genannten Glaubhaftma- ministerium bisher der Problematik der Kontenklärung chung mit Hilfe eidesstattlicher Erklärungen oder beige- nicht bewusst war, sonst wäre die Verlängerung der Auf- brachter Zeugen gemäß § 268 b SGB IV. Jedoch werden bewahrungsfristen heute keine Thema für den Deutschen laut § 256 b (1) SGB VI bei einer glaubhaft gemachten Bundestag und die Konten wären geklärt. Beitragszahlung lediglich fünf Sechstel des Durch- schnittsverdienstes der Beschäftigten im Beitrittsgebiet Selbstverständlich wird meine Fraktion das Anliegen berücksichtigt, die in dem betreffenden Wirtschaftsge- einer Fristverlängerung unterstützen, denn es muss in biet mit derselben Qualifikation des Versicherten tätig der augenblicklichen Situation die Verantwortung des waren. Dass das bei einer möglicherweise ohnehin schon Parlaments sein, eine Kontenklärung auch nach dem kleinen Rente schmerzhafte Einbußen bei der Rente Jahr 2006 sicherzustellen. Aber ich möchte der Bundes- nach sich ziehen kann, muss ich nicht betonen. regierung hier ausdrücklich ins Stammbuch schreiben, dass sie sich der Problematik stellen muss und nicht wie- Die Rentenversicherungsträger bemühen sich seit fast der Jahre verstreichen lassen kann, ohne sich der Sache 15 Jahren darum, ehemalige DDR-Bürger zur Beantra- angenommen zu haben. Obwohl ich nachvollziehen gung einer Kontenklärung zu bewegen. Doch von den kann, dass die große Koalition angesichts des Desasters, 7,4 Millionen Menschen der Jahrgänge 1943 bis 1977, dass sie mit der Gesundheitsreform und anderem fabri- die in den neuen Bundesländern leben, schon in der ziert, größere Sorgen hat als eine Fristverlängerung, DDR gearbeitet haben, sich aber zurzeit noch nicht im möchte ich betonen: Herr Minister Müntefering, das Par- Ruhestand befinden, haben noch immer 20 Prozent ihr lament wird sie retten und die Aufbewahrungsfristen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5319

(A) verlängern. Jetzt sind Sie gefordert, das Problem zu be- gesetzes soll diese Frist nun bis zum 31. Dezember 2011 (C) heben! verlängert werden, um weiterhin den Zugriff auf diese Lohnunterlagen bis zur endgültigen Übernahme in die Kersten Naumann (DIE LINKE): Wenn ein politi- Rentenkonten zu sichern. Wir begrüßen ausdrücklich, sches System ein anderes mit ganz anderen rechtlichen dass die Bundesregierung so plötzlich und so schnell re- Grundlagen übernimmt, kann auch nach 15 Jahren Wie- agiert hat. Nicht zuletzt gibt die Regierung damit zu, dervereinigung nicht alles im juristischen Sinne geklärt dass es nicht nur – ich zitiere aus der Antwort der Bun- sein. So auch in der Frage der Übernahme der Lohnun- desregierung auf unsere Kleine Anfrage – „vorrangig terlagen ehemaliger DDR-Bürger in das Rentenkonten- eine Obliegenheit der Betroffenen selbst“ ist, sich um system der BRD. eine Kontenklärung zu bemühen und die ordnungsge- mäße Erfassung ihrer Beschäftigungszeiten in den Un- Auf Initiative der Fraktion Die Linke wurde zunächst terlagen der Rentenversicherung sicherzustellen. in einer Kleinen Anfrage und weiterhin in einem Antrag ein gravierendes Problem aufgegriffen. Unterlagen über Es ist auch die Pflicht der Rentenversicherung, Hin- Löhne und Arbeitszeiten in den früheren DDR-Betrieben weise und Aufforderungen zur Kontenklärung zu geben. müssen von den Unternehmen oder ihren Nachfolgern Die Verantwortung an die Betroffenen abzugeben und sowie den Archiv- und Dokumentationszentren nur noch ihnen vorzuwerfen, sie hätten bisher auf die Aufforde- bis Ende dieses Jahres aufbewahrt werden. Die Rege- rungen der Rentenversicherung nur sehr zögerlich oder lung ist nach § 28f Abs. 5 SGB IV bis zum 31. Dezem- gar nicht reagiert, ist herabwürdigend und läuft auf eine ber 2006 befristet. Kollektivbestrafung ostdeutscher Bürgerinnen und Bür- ger hinaus. Davon betroffen sind nach Aussagen der Deutschen Rentenversicherung nach dem derzeitigen Stand der Anhängige Gerichtsverfahren, eingelegte Widersprü- Kontenklärung immerhin noch 1,3 Millionen Versicherte che und Eingaben bei der BfA sowie Tausende von Peti- der Jahrgänge 1977 und älter in den neuen Bundeslän- tionsbegehren sind noch offen. Sollte eine positive Ent- dern, deren Rentenkonten noch ungeklärt sind. Dabei scheidung möglicherweise im nächsten Jahr oder später sind die ungeklärten Konten der 2,54 Millionen Versi- gefällt werden, haben die Betroffenen das Nachsehen, da cherten, die im Zeitraum zwischen 1991 und 2004 in die sie die erforderlichen Unterlagen nicht mehr beibringen alten Länder verzogen sind, noch nicht einmal berück- können. Arbeitsnachweise und Lohnzettel, die in DDR- sichtigt. Die Deutsche Rentenversicherung ist schlicht- Nachfolgeunternehmen lagern, werden von diesen ohne weg überfordert. Laut Geschäftsbericht der DRV können Anforderung der BfA nicht an Betroffene herausgege- jährlich circa eine halbe Million Renten für das gesamte ben. Die Unternehmen sehen sich auch nicht in der (B) Bundesgebiet erstmalig festgestellt werden. Hinzu kom- Pflicht, die alten Unterlagen nach 2006 weiter aufzuhe- (D) men mehrere Zigtausende zu erledigende Widersprüche, ben. Für diese und die jeweils in den Landesbehörden la- Klagen, Berufungen, Nichtzulassungsbeschwerden und gernden Lohnunterlagen ließ die Bundesregierung in der Revisionen. Antwort auf unsere Kleine Anfrage völlig offen, was da- mit nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist bis Ende des Die Klärung der Rentenkonten ist jedoch eine wich- Jahres geschehen soll. tige Voraussetzung, um Rentenansprüche zu sichern. Die Lohn- und Gehaltsunterlagen dienen als Nachweis über Ich empfinde es fast schon als zynisch, wenn die Auf- geleistete Arbeitszeiten und die Höhe der erhaltenen Ar- bewahrungsfristverlängerung im Änderungsantrag der beitsentgelte für die Bürgerinnen und Bürger der ehema- Koalitionsfraktionen zum Betriebsrentengesetz nun mit ligen DDR. Sie sind Grundlage zur Feststellung der Anfragen der neuen Bundesländer und der Deutschen Höhe rentenrechtlicher Ansprüche. Viele ehemalige Rentenversicherung begründet wird. Sicherlich kennen Bürgerinnen und Bürger der DDR haben ihre Renten- die neuen Bundesländer das Problem und haben entspre- konten jedoch noch nicht klären lassen. Mit dem Auslau- chend reagiert. Die Deutsche Rentenversicherung fen der gesetzlichen Aufbewahrungspflicht am 31. De- möchte das Problem eher gelöst sehen, als Lohnunterla- zember 2006 besteht die Gefahr, dass ihnen wichtige gen hinterherzurennen. Aber unseren Antrag damit ab- Nachweis- und Beweismittel nicht mehr zur Verfügung zubügeln, zeigt wie „demokratisch“ das ganze System stehen. Nach Vernichtung der Akten kann eine Klärung ist. der Rentenkonten lediglich auf dem Wege der Glaub- haftmachung erfolgen. Außerdem sind die Unterlagen in Wenn Beschäftigungszeiten auf dem Rentenkonto der Zusammenhang mit der Klärung von Streitigkeiten über Deutschen Rentenversicherung noch nicht oder nicht die Modalitäten der Rentenüberleitung im Zuge der Ver- vollständig erfasst sind, können sich nach Ablauf der einigung von Bedeutung und werden für diese Zwecke Aufbewahrungsfrist Nachweisprobleme ergeben. Sofern benötigt, solange diesbezüglich noch Fragen offen sind. diese Nachweise über Beschäftigungszeiten fehlen und Eine Verlängerung der Aufbewahrungsfrist der Lohnun- ein Rückgriff auf die Lohnunterlagen zukünftig ausge- terlagen von DDR-Betrieben ist somit dringend erforder- schlossen wäre, besteht zwar die Möglichkeit der Glaub- lich, um auch in Zukunft eine Klärung der Rentenkonten haftmachung der Beitragszahlung nach dem Sozialge- und eine juristische Überprüfung der Erwerbsgeschichte setzbuch. Aber die nach Ansicht der Bundesregierung so ehemaliger DDR-Bürger zu ermöglichen. genannte Möglichkeit der Glaubhaftmachung der Bei- tragszahlungen nach § 280 b Sozialgesetzbuch VI ist für In einem Änderungsantrag der Regierungsfraktionen bereits ohnehin durch den Gesetzgeber benachteiligte zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Betriebsrenten- Rentner und Rentnerinnen sowie zukünftige Rentnerin- 5320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) nen und Rentner aus dem Osten sehr unbefriedigend. Bundesländern einen Änderungsantrag vorgelegt hat, (C) Wenn ein Nachweis über Beschäftigungszeiten und Ein- mit dem die Frist bis zum 31. Dezember 2011 verlängert kommen im Wege der Glaubhaftmachung gelingt, wird werden soll. Der hier debattierte Antrag der Fraktion die trotzdem ein Sechstel der erworbenen Rentenansprüche Linken ist daher aus unserer Sicht hinfällig geworden. nicht anerkannt und geht damit verloren. Aus Sicht der zunehmend unterbrochenen Versicherungsbiografien ist das sozial unverträglich. Die Glaubhaftmachung ist da- Anlage 13 her kein adäquater Ersatz für einen auf der Grundlage von Lohn- und Gehaltsunterlagen zu erbringenden Zu Protokoll gegebene Reden Nachweis. zur Beratung des Entwurfs eines Jahressteuer- In der DDR wurden Beschäftigungsverhältnisse in gesetzes 2007 (JSTG 2007) (Tagesordnungs- den grünen Sozialversicherungsausweis eingetragen. punkt 21) Fehlt dieses Dokument oder fehlen Eintragungen des je- weiligen Betriebes, muss beim ehemaligen Arbeitgeber nachgefragt werden. Existiert das Unternehmen nicht Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Eine Vielzahl mehr, helfen die Rentenversicherungsträger und die steuerrechtlicher Maßnahmen konnte aufgrund des vor- Rentenberater weiter. Unterlagen aus abgewickelten zeitigen Endes der 15. Legislaturperiode im letzten Jahr Treuhandfirmen werden oft in den von den Ländern be- nicht mehr verwirklicht werden. Mit dem Jahressteuer- auftragten Archiv-und Dokumentationszentren, den so gesetz 2007 wird uns nun ein so genanntes Omnibusge- genannten DISOS-Archiven, aufbewahrt. setz mit 231 Änderungen vorgelegt, das zahlreiche Regelungen aus nahezu sämtlichen zentralen Steuerge- Die Beschäftigungszeiten und Arbeitsentgelte für die setzen enthält. Rentenversicherung wurden in Ostdeutschland erst seit Januar 1992 maschinell erfasst. Es geht daher um die Herauszuheben sind die positiven Veränderungen im weitere Aufbewahrung der Unterlagen über Löhne und Bereich der Altersvorsorge. Eine Forderung der Union Arbeitszeiten der Geburtsjahrgänge 1940 bis 1977. Das aus dem Jahr 2004, damals diskutiert im Rahmen des Al- heißt, von der nunmehr durch den Gesetzgeber zu tref- terseinkünftegesetzes, wird erfüllt. Es geht um die Basis- fenden Entscheidung sind Menschen betroffen, die heute rente oder Rürup-Rente. Diese musste bisher über Versi- noch nicht mal 30 Jahre alt sind, also Versicherte, die in cherungsverträge gestaltet werden. Jetzt können auch erst über 30 Jahren ihre Rente beantragen. Ich denke, die Sparpläne mit Banken oder Investmentgesellschaften ab- weitere Aufbewahrung der Unterlagen und damit der Er- geschlossen werden, entsprechend den Riester-Verträgen. (B) halt der Nachweismöglichkeiten für die Versicherten ist Damit wird eine größere Wahlfreiheit in der Altersvor- (D) nicht nur im Interesse der Versicherten, sondern auch im sorge erreicht. Wir schaffen einen größeren Wettbewerb Interesse des Staates. Den Betroffenen diese Nachweis- der Anbieter und stärken insgesamt den Finanzmarkt in möglichkeiten zu nehmen, würde in der Zukunft Ausei- Deutschland. nandersetzungen, Widersprüche und Klagen über die Darüber hinaus wird durch das Jahressteuergesetz Höhe von erworbenen Rentenansprüchen nach sich zie- 2007 ein grober Fehler des Alterseinkünftegesetzes von hen und den Aufwand für die Rentenversicherungsträger 2004 beseitigt. Bisher stellt sich für Selbstständige und erhöhen. Freiberufler stets die Frage, ob sich eine Basisrente oder Mit ihrer Initiative hat die Fraktion Die Linke einen Rürup-Rente überhaupt lohnt. In einem komplizierten Stein ins Rollen gebracht, den nun die Bundesregierung Rechenverfahren muss erstens geprüft werden, was ab- auffangen und aus dem sie ihrerseits die richtigen politi- gesetzt werden kann, und zweitens, ob der steuerliche schen Schlussfolgerungen ziehen muss. Abzug für Versicherungen und Vorsorge nach altem oder neuem Recht für den Versicherten günstiger ist. Wer also bereits größere Ausgaben für Lebensversicherungen Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die oder Krankenversicherungen bzw. Krankenkassenbei- Fraktion Die Linke fordert mit diesem Antrag die Ver- träge hat, der stellt fest, dass die Beiträge zur Rürup- längerung der Aufbewahrungsfrist von DDR-Lohnunter- Rente nur zum Teil abzugsfähig sind. Die Folge war, lagen bis zum 31. Dezember 2012. Bislang wurde eine dass in Deutschland in 2005 nur 148 000 Verträge für Aufbewahrungsfrist bis Ende 2006 eingeräumt. Nach diese Form der Altersvorsorge abgeschlossen wurden. Meinung der Linken reicht diese Zeit aber nicht aus, um Angesichts von 90 Millionen Lebensversicherungsver- die 1,3 Millionen noch immer ungeklärten Versiche- trägen ist das eine verschwindend kleine Anzahl. rungskonten zu klären. Wir verstehen die Besorgnis der Linken, dass eine Klärung der Rentenkonten nach Ver- Diese Prüfung – die so genannte Günstigerprüfung – nichtung der Lohnunterlagen mit finanziellen Verlusten wird jetzt abgeschafft. Jetzt können bis zu 20 000 Euro der Versicherten verbunden ist. Da die Gründe für eine pro Person jährlich für die Altersvorsorge aufgewendet bislang nicht erfolgte Kontenklärung vielfältig sind, hal- und im Jahr 2006 mit 62 Prozent nach der festgelegten ten auch Bündnis 90/Die Grünen ein Fristende im De- Staffelung steuermindernd geltend gemacht werden. So- zember dieses Jahres für eine unzumutbare Schlechter- mit gelingt auch die Umstellung auf die nachgelagerte stellung. Wir begrüßen es daher sehr, dass die Besteuerung, dem Kernelement des Alterseinkünftege- Bundesregierung nun auf Intervention der Rentenversi- setzes. Herauszuheben ist die volle Wirkung, die bereits cherungsträger und einiger Abgeordneter aus den neuen für das Jahr 2006 zugunsten des Versicherten eintritt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5321

(A) Ganz anders wird in dem Gesetzentwurf mit dem werden sollen. Es stellt sich die Frage, ob Ausgaben des (C) Thema der Verlustverrechnung umgegangen. Rückwir- Arbeitgebers, die nicht zu Einnahmen des Arbeitneh- kend auf den 1. Januar 2006, also auf den Veranlagungs- mers führen, dennoch steuerlich als vermögenswertes zeitraum 2006, soll die Beschränkung der Verlustver- Recht zu versteuern sind, obwohl kein unmittelbarer Zu- rechnung des § 15 b EStG auf sämtliche Einkünfte aus fluss erfolgt. Kritisch zu sehen ist, dass die Zuordnung Kapitalvermögen ausgedehnt werden. Durchaus ver- von Sonderzahlungen zu den einzelnen Mitarbeitern ständlich sollen Modelle, die nur aus Steuerspargründen kaum möglich ist und die betriebliche Altersversorgung konstruiert wurden, „geknackt“ werden. Denn es geht aus einer Leistungszusage und eben nicht aus einer Bei- um eine Steuerstundung von 700 Millionen Euro. Die tragszusage besteht. folgende grundsätzliche Frage muss hier gestellt werden: Kann der Steuerpflichtige den geltenden Gesetzen ver- Für die Akzeptanz der betrieblichen Altersversorgung trauen? wird auch der Verwaltungsaufwand für die Betriebe von Bedeutung sein. Überzogene Aufzeichnungs- und Auf- Das Bundesverfassungsgericht hat die echte Rückwir- bewahrungspflichten, mit denen über Jahrzehnte die kung für grundsätzlich unzulässig erklärt. Der Steuer- Aufbewahrung von Unterlagen ausgeschiedener Mitar- pflichtige steht nun vor der Frage: Was gilt eigentlich? beiter verlangt werden, müssen vermieden werden. Gilt die Veröffentlichung des Gesetzes im Bundesgesetz- blatt, der Bundestagsbeschluss, der Kabinettsbeschluss, Schließlich wird der Wunsch der Bundesregierung, der Referentenentwurf, die Ankündigung eines Referen- Steuerforderungen im Insolvenzverfahren vorrangig ge- tenentwurfes oder die Vermutung einer Ankündigung ei- genüber allen anderen privaten Gläubigern zu berück- nes Referentenentwurfes? sichtigen, auf Widerspruch stoßen. Durch die Kompliziertheit des deutschen Steuerrechts Durch den 159-seitigen Gesetzentwurf der Bundesre- werden immer wieder neue Gestaltungsmöglichkeiten gierung wird uns ausreichend Gelegenheit gegeben, uns erlaubt. Die Literatur hierzu ist unendlich. Wir sollten mit den Details im deutschen Steuerrecht, aber auch mit deshalb neue Wege gehen, um unerwünschte Steuerge- Grundsatzpositionen auseinander zu setzen. staltungen zu vermeiden. In vielen Ländern müssen mo- dellhafte Gestaltungen genehmigt werden. So kann Gabriele Frechen (SPD): Der vorliegende Gesetz- Rechtssicherheit geschaffen werden. Die vorliegende entwurf zum Jahressteuergesetz 2007 der Bundesregierung Rückwirkung stößt allerdings auf schwerwiegende ver- greift in 19 Artikeln auf 159 Seiten Gesetzesänderungen fassungsrechtliche Bedenken. auf, die überwiegend klarstellend oder redaktionell sind. Ein anderer für die Praxis schwerwiegender Punkt ist Diese Punkte müssen wir uns genau ansehen, ob sie tat- (B) die beabsichtigte Prüfung von Jahressteuerbescheini- sächlich keine materiellen Auswirkungen haben. Außer- (D) gungen unmittelbar bei Bankinstituten. Diese Beschei- dem werden Änderungen und Anpassungen vorgelegt, nigungen sind eine Ausfüllhilfe der Bank für die Jahres- die aufgrund der BFH-Rechtsprechung, des EU-Rechts erklärung des Steuerpflichtigen. Es gibt keine oder des Rechnungsprüfungsausschusses umzusetzen Rechtsgrundlage für die Finanzbehörden, diese Jahres- sind. bescheinigung von den Steuerpflichtigen zu verlangen. Unabhängig von § 30 der Abgabenordnung hinsichtlich Zu den materiellen Änderungen gehören Änderungen des steuerlichen Bankgeheimnisses erübrigt sich diese bei der Basis- oder Rürup-Rente und der betrieblichen gewünschte Prüfung bei Verwirklichung der geplanten Altersvorsorge und die Fortsetzung unserer Bemühun- Abgeltungssteuer. gen, Steuerstundungsmodelle einzuschränken. Es ist unmöglich, hier auf alle wesentlichen steuer- Unter echten redaktionellen Änderungen ist beispiel- rechtlichen Bestandteile des Jahressteuergesetzes 2007 haft die Ersetzung des praktisch aus dem Sprachgebrauch einzugehen. Die bevorstehende Anhörung mit 40 Exper- verschwundenen Begriffs „Kraftdroschken“ durch den ten wird uns eine tiefer gehende Beratung von Einzelas- neueren Begriff „Taxen“ zu verstehen. Oder die Erset- pekten erlauben. Einige politisch möglicherweise streiti- zung des Begriffs „vom Hundert“ durch „Prozent“. Sol- gen Punkte möchte ich aber schon jetzt ansprechen. che Anpassungen sind sicherlich sinnvoll und unproble- matisch. Ob der ermäßigte Mehrwertsteuersatz bei Leistungen eines Zweckbetriebes gemeinnütziger Organisationen Zu den materiellen Änderungen gehört die Verbesse- eingeschränkt werden soll, muss genauestens untersucht rung bei der Absetzbarkeit von Rentenversicherungs- werden. Es ist wichtig, eine saubere Abgrenzung zu fin- beiträgen zur Basisrente. Wir folgen damit unserem den zwischen steuerbegünstigten Leistungen, mit denen Weg, Menschen finanziell über das Steuerrecht zu hel- ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtä- fen, zusätzliche Vorsorge für ihr Alter zu treffen. Gleich- tige und kirchliche Zwecke verfolgt werden, und solchen zeitig wird der Kreis der Anbieter und der begünstigten Leistungen, die auch andere, nicht steuerbegünstigte Un- Produkte erweitert. ternehmer ausführen können, ohne dafür die Steuerermä- ßigung in Anspruch nehmen zu können. Ebenfalls wird mit diesem Gesetz der Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung für umlagefinanzierte Ver- Bei der betrieblichen Altersversorgung wird geklärt sorgungssysteme vollzogen. Damit wird die Gleichbe- werden müssen, wie bestimmte einmalige Arbeitgeber- handlung mit der kapitalgedeckten betrieblichen Alters- zahlungen an betriebliche Versorgungssysteme erfasst vorsorge erreicht. 5322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Steuervermeidungsstrategien wird auch mit diesem des Kollegen Friedrich Merz, zu den Akten gelegt sind (C) Gesetz entgegengewirkt. So wird durch die Einführung die Ideen von Professor Kirchhoff zu den Akten gelegt einer Regelung für die Abwicklung von bestimmten Ak- sind die Beschlüsse des Leipziger Parteitages der CDU tiengeschäften, in der Regel Leerkäufen, verhindert, dass und das Wahlprogramm der Union für die Bundestags- Kapitalertragsteuer bescheinigt wird, die nicht abgeführt wahl 2005. Hoffentlich ergibt sich zukünftig die Möglich- wurde. keit, wieder grundsätzlich mit einer Neuordnung und ei- ner Systematisierung des Steuerrechtes Ernst zu machen. Ein weiterer Punkt ist die Ausweitung der Verlustver- rechnungsbeschränkung auf Einkünfte aus Kapitalver- Diese Koalition hat dazu nicht die Kraft. Wenn mit mögen. Herrn Kollegen Pronold ein führender Vertreter der Lin- ken innerhalb der SPD versuchen soll, sich mit den Kol- Wir haben als Gesetzgeber Ende 2005 unmissver- legen der Union zu einigen, so bedauere ich zum einen ständlich klar gemacht, dass wir es ernst meinen mit dem die Kollegen der Union, vor allem aber bedauere ich, Schließen von Steuerschlupflöchern, indem wir die Ver- dass kein systematischer Ansatz im Steuerrecht gefun- lustverrechnung aus Steuerstundungsmodellen spürbar den wird, sondern lediglich weitergewurstelt wird. eingeschränkt haben. Jedem, der nach diesem Zeitpunkt ein neues Modell gestrickt hat oder in ein solches inves- Wir haben deshalb das eher bizarre Vergnügen, uns tiert hat, musste wissen, worauf er sich einlässt. Der vor- mit einem Jahressteuergesetz 2007 zu befassen, das neun liegende Gesetzentwurf folgt diesem Weg konsequent, Steuergesetze, sechs steuerliche Durchführungsverord- indem die Regelungen des § 15b EStG auf sämtliche Ka- nungen, das Melderechtsrahmengesetz und die Erste pitaleinkünfte ausgeweitet werden. Bundesmeldedatenübermittlungsverordnung – ein Wort- ungeheuer – ändert. 39-mal soll mit dem Jahressteuer- Eine Änderung im Umsatzsteuergesetz betrifft die gesetz 2007 allein das Einkommensteuergesetz geändert Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf werden. Arme Steuerbürger, arme Finanzbeamte! Freuen Zweckbetriebe. Das Gesetz stellt klar, dass für Leistun- werden sich aber die Steuerberater. gen eines Vereins, die nicht mehr der Förderung des Ver- einszwecks, sondern in erster Linie der Erzielung von Ich will überhaupt nicht bestreiten, dass es sich in vie- Steuervorteilen dienen, der ermäßigte Steuersatz nicht len Fällen – aber beileibe nicht in allen – um fachlich zum Ansatz kommt. Die meisten Vereine sind von dieser zwingend erforderliche Steuerrechtsänderungen han- Änderung nicht betroffen, da ihre Leistungen von der delt, wie in der Gesetzesbegründung argumentiert wird. tatsächlichen Ausgestaltung und der Gesamtrichtung her Der Punkt ist aber doch, dass diese Änderungen nur des- dazu bestimmt sind, den begünstigten Zweck unmittel- halb notwendig werden, weil ein heillos zerfasertes, bar zu fördern. wahnsinnig kompliziertes Steuerrecht fortgeführt wird (B) und kein Neuanfang erfolgt. (D) Eine weitere Änderung betrifft die Abgabe der zusam- menfassenden Meldung. Der Schritt von der Quartals- Ich möchte einige Punkte aus dem Gesetzentwurf zur monatlichen Abgabe erfolgt, um dem Umsatzsteuer- konkret erwähnen, denen die FDP äußerst kritisch ge- betrug entgegenzuwirken. Durch die zeitnahe Prüfung genübersteht: der Meldungen durch die Finanzbehörden wird die Mög- Die vorgeschlagene Vorverlegung des Termins für die lichkeit zum Umsatzsteuerbetrug klar eingeschränkt. Rentenbezugsmitteilungen an die „zentrale Stelle“ vom Ein Geschäft wird erst dann ein Geschäft, wenn man 31. Mai auf den 15. Februar ist von der Wirtschaft kaum dem Finanzamt nachweisen kann, dass es kein Geschäft zu realisieren. Die Bundesregierung macht es sich zu war, wird ein unbekannter Verfasser zitiert. Damit ma- einfach, wenn sie in der Gesetzesbegründung feststellt, chen wir Schluss und das zu Recht. Ich freue mich auf dass bis zum 31. Mai ein großer Teil der Einkommen- konstruktive Ausschussberatungen. steuerveranlagungen bereits durchgeführt sei und dass die Betriebe, Pensionskassen, Pensionsfonds usw. die Daten deshalb eben gefälligst früher liefern müssten. Carl-Ludwig Thiele (FDP): 405 Vorschriften des Der 15. Februar ist in der Praxis jedenfalls nicht zu hal- Einkommensteuergesetzes sind seit Beginn der letzten ten. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages geändert worden, etliche Regelungen sogar mehrfach. Das Körper- Die Ausdehnung der Verlustverrechnungsbeschrän- schaftsteuergesetz wurde in dieser Zeit 45-mal abgeändert, kung gemäß § 15 b EStG stößt wegen der Rückwirkung das Umsatzsteuergesetz nicht weniger als 122-mal. Dies auf den Beginn des Jahres 2006 auf größte verfassungs- ist das Ergebnis einer Anfrage der FDP-Fraktion an die rechtliche Bedenken. Eine solche Rückwirkung stellt Bundesregierung. keine planbare und verlässliche Finanzpolitik dar. Sie ist eine Fortführung einer ebenso willkürlichen Steuergesetz- Wie sollen die Steuerpflichtigen, ihre Berater und die gebung unter Rot-Grün. Lesen Sie dazu das Gutachten Steuerbeamten dem noch folgen? Ein Steuerrecht, das von Frau Prof. Johanna Hey, Lehrstuhl für Unterneh- der Bürger nicht mehr überschauen kann, ist in höchstem mensteuerrecht an der Universität Düsseldorf. Lesen Sie Maße ungerecht. Zu einer durchgreifenden Steuerreform dazu das Gutachten unseres früheren hochgeschätzten mit einer Beseitigung der meisten Sondervorschriften Kollegen Prof. , in der 14. Legislaturpe- und niedrigen Steuersätzen, so wie von der FDP-Fraktion riode Vorsitzender des Rechtsausschusses. in einem konkreten, bis ins Detail durchformulierten Ge- setzentwurf vorgeschlagen, hat die große Koalition keine Die geplante Einführung eines Prüfungsrechts der Fi- Kraft gefunden. Zu den Akten gelegt sind die Vorschläge nanzverwaltung bei den Kreditinstituten, das den Finanz- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5323

(A) ämtern eine Prüfung der Jahresbescheinigung für Kapi- schafft, um im Falle der Insolvenz eine Gleichbehand- (C) talerträge gemäß § 24 c EStG ermöglicht, ist nach lung aller Gläubiger zu erreichen. Nun wird versucht unserer Auffassung gleichfalls unvertretbar. Als die Ver- Privilegien quasi durch die Hintertür wieder festzu- pflichtung der Kreditinstitute zur Erstellung der Jahres- schreiben. bescheinigung eingeführt wurde, wurde in der seinerzei- tigen Gesetzesbegründung dargelegt, dass es sich bei Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf zur Anpassung dieser Bescheinigung lediglich um eine Ausfüllhilfe für des Rechts der Insolvenzanfechtung implementiert eine den Steuerpflichtigen handele. Dieser Plan macht deut- klare Begünstigung des Fiskus, die sich zum Nachteil al- lich, dass hinter der von Rot-Grün eingeführten Jahres- ler übrigen Insolvenzgläubiger auswirken wird. Das bescheinigung von Anfang an mehr steckte als eine gut wird dazu führen, dass zukünftig weniger Insolvenzver- gemeinte Ausfüllhilfe für den Bankkunden. Mit dieser fahren eröffnet werden als bisher. Die Insolvenzmasse neuen Vorschrift soll ein weiterer Schritt zum „gläsernen wird durch den Fiskus gegenüber anderen Gläubiger auf- Bürger“ getan werden. Sie ist abzulehnen, auch im Hin- gezehrt. Dies alles entspricht in keiner Weise der gesetz- blick auf die Pläne zur Einführung einer Abgeltungs- geberischen Intention, die vor sieben Jahren die einst- steuer. Eine echte Abgeltungssteuer macht nämlich die mals übliche Privilegierung der öffentlichen Hand Jahresbescheinigung überflüssig. abgeschafft hat. Wir lehnen daher eine Änderung des § 14 der Insolvenzordnung ab. Wir lehnen auch die Ver- Gründlich geprüft werden müssen auch die geplanten suche der Bundesregierung ab, diese Änderung klamm- Änderungen im Recht der Doppelbesteuerungsabkom- heimlich – gegen das Votum der Rechtspolitiker aller men. Die Spitzenverbände der Wirtschaft sehen hier Ver- Fraktionen – in die Abgabenordnung zu übernehmen, stöße gegen die Mutter-Tochter-Richtlinie, gegen Doppel- wie dies in den letzten Wochen geschehen ist. Denn ist besteuerungsabkommen und gegen Grundsätze des es nicht nachgerade absurd, dass uns mit dem Argument Völkerrechts. einer angeblichen Ungleichbehandlung des Fiskus scha- denfroh die überkommene Konkursordnung wieder an- Auch aus diesen Gründen hat die FDP die Sach- grinst. Ich kann an dieser Stelle nur davor warnen, das verständigenanhörung mit beantragt. Ich hoffe, dass hart erkämpfte Insolvenzrecht an einem zentralen Punkt auch seitens der Koalition diese Anhörung nicht als eine zu beschädigen. Alibiveranstaltung genommen wird, sondern dass die Koalition in der Lage ist, sich mit den Bedenken und Angeblich, so der Entwurf der Änderung, seien Ein- Anregungen der Sachverständigen im weiteren Gesetz- nahmeausfälle von jährlich 177 Millionen Euro zu ver- gebungsverfahren ebenso auseinander zu setzen, wie wir zeichnen. Diese Zahl lässt sich nicht belegen und gleich- dieses seitens der FDP tun werden. zeitig bleiben andere nachgewiesene Fakten außen vor. So gehen Fachverbände und Sachverständige davon aus, dass sich durch die Gesetzesänderung die Chancen auf (D) (B) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Jahreszeitlich genau eine Sanierung für 10 000 mittelständische Betriebe platziert ist das Jahressteuergesetz 2007 mit einem jährlich verschlechtern würden. Damit verbunden wäre herbstlich bunten Strauss von 17 Gesetzesänderungen. ein Verlust von 50 000 bis 100 000 Arbeitsplätzen. Das Es umfasst wichtige Neuregelungen zur Besteuerung beträfe insbesondere Betriebe des Handwerks, die perso- privater Rentenversicherungen und reicht bis zu redak- nalintensiv arbeiten. Das Insolvenzrecht ist für in ihrer tionellen Korrekturen im Umsatzsteuerrecht wie der des Existenz bedrohte Unternehmen ein sanierungsfreundli- Begriffes der Kraftdroschke, angepasst und modernisiert ches Angebot und somit wirtschafts- und standortfreund- durch den Begriff „Taxe“. In jedem Falle ist es so, dass lich. Mit einer faktischen Privilegierung des Fiskus es im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2007 eine große würde es ausgehöhlt und wäre ein fatales Zeichen gerade Bandbreite an Regelungs- und Klärungsbedarf gibt. Sie für kleinere und mittelständische Unternehmen, die sich können davon ausgehen, dass wir als Opposition uns auf unter schwierigen Bedingungen am Markt behaupten die entsprechende Anhörung freuen und dass wir auch müssen. gespannt darauf schauen, was wir an Ungereimtheiten noch entdecken werden. Wir möchten aber bereits im In der 1999 beschlossenen Insolvenzordnung heißt es Rahmen der ersten Lesung auf einen wesentlichen Kri- wie folgt: tikpunkt eingehen. Das Insolvenzrecht ist für die Funktion der Markt- Mit Ihrem Gesetzentwurf beabsichtigen Sie unter an- wirtschaft von grundlegender Bedeutung. Es geht derem eine Änderung der Abgabenordnung. Damit in- um die rechtliche Ordnung des Marktaustritts oder stallieren Sie eine Änderung des Insolvenzrechts mit er- des finanziellen Umbaus am Markt versagender heblichen Auswirkungen. Diese Änderung – so viel Wirtschaftseinheiten. Das Insolvenzrecht ist ein können wir schon jetzt feststellen – lehnt die Linke ab. zentraler Bestandteil des Wirtschaftsprivatrechts. Die Reform muss in besonderem Maße auf die Das seit 1999 gültige Insolvenzrecht, welches die Steuerungs- und Ordnungsfunktion des Rechts für Gleichbehandlung aller Gläubiger festschreibt, sichert in die Abläufe und Strukturen der gesamten Wirt- ihrer weiteren Existenz bedrohten Unternehmen ein schaft bedacht sein. Überleben und der Wirtschaft Arbeitsplätze. Das ist in der Praxis vielerorts bewiesen. Vor allem aus diesem Frau Staatssekretärin Dr. Hendriks bemerkte in der Grund bewerten wir das jetzige Insolvenzrecht außeror- gestrigen Sitzung des Finanzausschusses, dass auch das dentlich positiv. Auch im internationalen Maßstab findet BMF strittige juristische Fragen im Zusammenhang mit dieses Insolvenzrecht durchaus Anerkennung. Seit nun- der angekündigten Änderung des Insolvenzrechts sieht. mehr sieben Jahren sind die Vorrechte des Fiskus abge- Das macht uns Hoffnung auf Einsicht der Regierung ge- 5324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) genüber schwerwiegenden Argumenten gegen eine Ge- wichtig; denn immerhin geht es um die Verhinderung (C) setzesänderung. von Steuerausfällen von rund 685 Millionen Euro. Es ist grundsätzlich unbefriedigend, dass der Gesetz- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geber beim Aufkommen neuer Steuersparmodelle der Das Jahressteuergesetz 2007 enthält eine Vielzahl sinn- Entwicklung in der Regel hinterherläuft und dann oft- voller Regelungen; wir Grünen sehen dieses Gesetzes- mals rückwirkende Regelungen trifft, um milliarden- vorhaben deshalb grundsätzlich positiv. Es freut uns, schwere Steuerausfälle zu verhindern. Das ist häufig ver- dass es bei der Umstellung der betrieblichen Altersvor- bunden mit verfassungsrechtlichen Risiken und schadet sorge auf eine nachgelagerte Besteuerung jetzt weiter dem Vertrauen der Bürger in die geltenden Steuerge- vorangeht. setze. Im Prinzip läuft das Spiel wie beim Wettlauf zwi- schen Hase und Igel. Kaum ist ein Steuersparmodell ge- Kritisch sehen wir allerdings, dass die Bundesregie- schlossen, existiert schon wieder ein neues. Dieses rung in dem Paragrafendschungel ein wichtiges und Dilemma wollen wir Grünen grundsätzlich lösen. strittiges Vorhaben quasi versteckt. Es geht um die Bes- serstellung des Fiskus bei Insolvenzverfahren. Wir sehen Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien sind einen Zielkonflikt. Auf der einen Seite stehen die kurz- den deutschen Finanzbehörden im Kampf gegen Steuer- fristigen fiskalischen Interessen des Staates, seine Um- sparmodelle die Hände gebunden. Zwar verbietet der satzsteuereinnahmen besser zu sichern; hier geht es um § 42 der Abgabenordnung, AO, Steuern sparende Ge- eine Größenordnung von jährlich knapp 180 Millionen. staltungen im Allgemeinen, aber dieser Paragraf kann Euro. Auf der anderen Seite steht das längerfristige wirt- nur in Ausnahmefällen tatsächlich wirken. Darüber hi- schafts- und sozialpolitische Interesse daran, die Sanie- naus behindern Standortinteressen und entsprechende rungschancen von Unternehmen aus der Insolvenz he- Verwaltungsstrukturen in Deutschland den Austausch raus zu verbessern. Die Regierung plant, die nach zwischen den Finanzbehörden in verschiedenen Bundes- Verfahrenseröffnung entstehenden Steuerschulden zu ländern. Masseverbindlichkeiten aufzuwerten. Das schmälert na- Um effizient und im Sinne des Vertrauensschutzes der türlich empfindlich die Erfolgsaussichten, ein Unterneh- Bürger gegen Steuergestaltungen vorzugehen, wäre eine men aus der Insolvenz heraus noch zu retten, und die ge- Bundessteuerverwaltung sinnvoll, die Steuern sparende fährdeten Arbeitsplätze kommen noch stärker unter Gestaltungen zentral genehmigt. Dem Gesetzgeber wä- Druck. In der Anhörung im Rechtsausschuss am ren die Gestaltungen damit von vornherein bekannt und 27. September 2006 haben die Sachverständigen sich rückwirkende gesetzliche Änderungen nicht mehr not- deshalb gegen die geplante Neuregelung ausgesprochen. wendig. Für Schäden, die den Bürgern dadurch entste- Was vergebene Sanierungschancen die Volkswirt- hen können, dass Steuersparmodelle nicht anerkannt (B) schaft kosten, lässt sich leider nicht so leicht beziffern werden und sie davon nichts gewusst haben, haften die (D) wie Umsatzsteuerausfälle. Ich plädiere deshalb gegen Anbieter. Wir Grüne wollen mit diesem Vorschlag Steu- Milchmädchenrechnungen und dafür, langfristig und ersparmodelle verfassungsgemäß einschränken und das wirtschaftspolitisch zu denken. Die Chancen für Unter- Vertrauen der Bürger in geltendes Recht stärken. Wir nehmen und Arbeitsplätze in der Krise dürfen nicht be- werden diese Idee weiter verfolgen und in die parlamen- schnitten werden. Das sichert dann auch nachhaltig die tarischen Beratungen einbringen. Steuern und Abgaben. Ein weiteres Problem sehen wir bei der Sicherung des Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Vertrauensschutzes der Bürgerinnen und Bürger. Die Bundesminister der Finanzen: Mit dem Ihnen vorliegen- Bundesregierung beabsichtigt mit dem Entwurf des Jah- den Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2007 – einem so ressteuergesetzes 2007, neue Steuersparmodelle zu genannten Omnibusgesetz – soll eine Vielzahl fachlich schließen, die nach der grundsätzlichen Einschränkung zwingend erforderlicher steuerrechtlicher Maßnahmen der Steuerprivilegien geschlossener Fonds durch den umgesetzt werden. Dazu gehören unter anderem steuer- neuen § 15 b EStG vermehrt aufgetreten sind. Dazu soll rechtliche Änderungen als Reaktion auf die BFH-Recht- die neue Verlustverrechnungsbeschränkung im § 15 b sprechung, Anpassungen an das Gemeinschaftsrecht, die EStG auf sämtliche Einkünfte aus Kapitalvermögen aus- Umsetzung von Vorschlägen und Forderungen aus dem gedehnt werden, und zwar rückwirkend ab dem 1. Januar parlamentarischen Raum sowie rein redaktionelle Ände- 2006. So weit, so gut. Die Einschränkung von Steuer- rungen. Ferner enthält der Gesetzentwurf weitere Maß- sparmodellen finden wir richtig und werden das unter- nahmen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen. stützen. Es war ja die Union, die jahrelang verhindert Die Mehrzahl der Regelungen hat lediglich klarstel- hat, dass Steuergestaltungsmöglichkeiten wirksam ein- lenden Charakter ohne bezifferbare finanzielle Auswir- gedämmt wurden. kungen auf die öffentlichen Haushalte. Folgende Rege- lungen möchte ich aus dem Gesetzespaket herausgreifen: Das Ganze hat aber einen Schönheitsfehler: Die rück- wirkende Ausdehnung wird von Sachverständigen gut- Erstens. Regelung zur korrespondierenden Besteue- achterlich als nicht verfassungskonform kritisiert und es rung von verdeckten Gewinnausschüttungen: Durch die wird eine Datierung auf den Kabinettbeschluss bzw. auf vorgesehene Korrektur in § 32 a Körperschaftsteuergesetz den Bundestagsbeschluss empfohlen. Wir wollen im wird sichergestellt, dass Bezüge des Anteilseigners, die weiteren Gesetzgebungsverfahren klären, ob der Ver- auf Ebene der Kapitalgesellschaft als verdeckte Gewinn- trauensschutz ausreichend gewährleistet ist, damit es ausschüttung dem Einkommen hinzugerechnet wurden, eine verfassungsfeste Regelung gibt. Das ist enorm bei diesem nach den Grundsätzen des Halbeinkünftever- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5325

(A) fahrens besteuert werden. Mit den Änderungen in § 3 besitz ist nicht allein für Zwecke der Erbschaftsteuer, (C) Nr. 40 Einkommensteuergesetz und § 8 b Körperschaft- sondern auch für Zwecke der Grunderwerbsteuer erfor- steuergesetz wird auch der umgekehrte Sachverhalt gere- derlich. Eine grundsätzliche Neuausrichtung der Ermitt- gelt, wonach die Vergünstigungen des Halbeinkünftever- lung der Grundbesitzwerte ist wegen der noch ausste- fahrens dem Anteilseigner nur unter der Voraussetzung henden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu gewähren sind, dass die verdeckte Gewinnausschüt- nicht vorgesehen. Die Vorabänderung berücksichtigt ins- tung auf Ebene der leistenden Kapitalgesellschaft das besondere die einschlägige Rechtsprechung des Bundes- Einkommen gemäß § 8 Abs. 3 Satz 2 Körperschaftsteuer- finanzhofs zur Bewertung von Grundbesitzwerten. gesetz nicht gemindert hat. Achtens. Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines Zweitens. Änderungen im Bereich der Altersvorsorge klarstellen: Mit dem neuen Absatz 2 b in § 20 Einkom- bzw. Alterseinkünfte, unter anderem durch Verbesserun- mensteuergesetz soll sichergestellt werden, dass die vom gen bei der Berücksichtigung von Beiträgen für eine pri- Gesetzgeber in § 15 b Einkommensteuergesetz enthal- vate Basisrente – vielfach auch Rürup-Rente genannt – tene Verlustverrechnungsbeschränkung zur Vermeidung im Rahmen der Günstigerprüfung für Vorsorgeaufwen- von Umgehungsgestaltungen auf sämtliche Einkünfte dungen. aus Kapitalvermögen ausgedehnt wird. Drittens. Änderungen bei der betrieblichen Altersver- Selbstverständlich hat die Bundesregierung die Zuläs- sorgung: Erfassung bestimmter Arbeitgeberzahlungen sigkeit der Anwendung der Vorschrift auf den Veran- an betriebliche Versorgungssysteme als Einnahmen aus lagungszeitraum 2006 geprüft und festgestellt, dass die nichtselbstständiger Arbeit. Hierunter fallen insbeson- vorgesehene – so genannte unechte – Rückwirkung ver- dere Beiträge und Zuwendungen, aber auch Sonder- und fassungsrechtlich zulässig ist. Das Bundesverfassungs- Gegenwertzahlungen sowie Sanierungsgelder für eine gericht wendet für den Bereich des Steuerrechts das so nicht kapitalgedeckte Altersversorgung. Einführung einer genannte Annuitätsprinzip an, das heißt, da die Einkom- Pauschalbesteuerungspflicht in Höhe von 15 Prozent für mensteuer erst mit Ablauf des Kalenderjahres entsteht, Sonder- und Gegenwertzahlungen sowie Sanierungs- wirkt jede Änderung steuerlicher Normen, die innerhalb gelder des Arbeitgebers für eine nicht kapitalgedeckte eines Veranlagungszeitraums – auch rückwirkend auf Altersversorgung an kommunale, kirchliche und betrieb- den Beginn dieses Veranlagungszeitraums – erfolgt, le- liche Zusatzversorgungskassen. Ein langfristig gestreck- diglich als zulässige unechte Rückwirkung. ter, stufenweiser Einstieg in die nachgelagerte Besteue- rung für nach dem 31. Dezember 2007 geleistete laufende Auch genießen Dispositionen in Steuersparmodelle Zuwendungen des Arbeitgebers zum Aufbau einer nicht – bei denen im Übrigen regelmäßig Rückabwicklungs- kapitalgedeckten Altersversorgung der Arbeitnehmer. klauseln vereinbart werden – keinen erhöhten Ver- (B) (D) Die aus der vorgenannten pauschalierten Besteuerung trauensschutz. Dies wäre nur der Fall, wenn der Gesetz- resultierenden Mehreinnahmen in Höhe von rund geber einen gezielten Anreiz zur Investition hätte setzen 330 Millionen Euro werden durch den gleichzeitigen wollen. Letztlich ist diese Maßnahme zur Vermeidung Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung überkompen- von Steuerausfällen in erheblichem Umfang im öffent- siert. Allein der Bund wird aus dieser Maßnahme zusätz- lichen Interesse auch geboten. So ist der Gesetzgeber lich 207 Millionen Euro aufzubringen haben. insbesondere berechtigt, eine als wirtschaftlich unsinnig erkannte und nur auf Steuervermeidung abzielende steu- Viertens. Einführung einer Regelung für die Abwick- erliche Gestaltung alsbald abzustellen, ohne dass die lung von Aktiengeschäften an der Börse in zeitlicher Nähe Neuregelung kurz vor ihrem Erlass unterlaufen werden zum Ausschüttungstermin (so genannte manufactured kann. dividends). Die Maßnahme dient der Verringerung von Steuerausfällen, die derzeit bei der Abwicklung von Aktiengeschäften an der Börse in zeitlicher Nähe zum Anlage 14 Gewinnverteilungsbeschluss dadurch entstehen, dass Kapitalertragsteuer bescheinigt wird, die nicht abgeführt Zu Protokoll gegebene Reden wurde. Es handelt sich in der Praxis meistens um so ge- nannte Leerverkäufe. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: Fünftens. Pauschalierung der Einkommensteuer bei Sachzuwendungen. Zur Vereinfachung des Besteuerungs- – Keine Weltbankkredite für Atomtechnologie verfahrens ist in dem Gesetzentwurf mit einem neuen § 37 b Einkommensteuergesetz eine Regelung vorgese- – Eine Weltbank-Energiepolitik der Zukunft – hen, die es den Steuerpflichtigen nunmehr ermöglicht, die Ja zu mehr Effizienz und erneuerbaren Einkommensteuer für Sachzuwendungen pauschal durch Energien, Nein zur Atomkraft den Zuwendenden zu erheben. (Tagesordnungspunkt 24) Sechstens. Anpassung der Steuerberatergebührenver- ordnung an entfallene und neu hinzugekommene Gebüh- Dr. Georg Nüßlein (CSU): Diese Republik hat an- rentatbestände. dere Sorgen, als eine Phantomdebatte zu führen, losge- Siebtens. Änderung der Vorschriften für die Bedarfs- treten von den Grünen und den Linken. Sie greifen ein bewertung in Bewertungsgesetz und Baugesetzbuch. Die Thema aus der Luft und bauen ohne jedes Fundament vorgesehene Änderung bei der Bewertung von Grund- ein argumentatives Luftschloss darauf. 5326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Ich habe mir erlaubt, bei der Weltbank genauer bei blem des weltweiten Energiehungers umweltverträglich (C) dem deutschen Exekutivdirektor, Herrn Deutscher nach- zu entschärfen. Dezentralität und Verfügbarkeit machen zufragen, ob es einen Strategiewechsel bei der Weltbank erneuerbare Energien entwicklungspolitisch besonders gibt bzw. ob man nun Kernenergieprojekte finanzieren relevant. wolle. Die Antwort war klar: Nein. Die Weltbank hat noch nie Kernkraftwerke finanziert, mit einer Aus- Wir werden aber trotzdem erleben, dass die Kohle in nahme: 1959 in Italien. China verbrannt werden wird. Die Frage wird sein: mit welcher Effizienz, mit welcher Technik, mit welchen Die Weltbank hat in Sachen Kernenergiefinanzierung Umweltfolgen? Das kann man nur beeinflussen, wenn keine Kompetenz, wird keine aufbauen und deshalb kei- man die entsprechende Kompetenz und gelegentlich nerlei Projekte begleiten: soweit die Stellungnahme der auch die Finanzierung anbieten kann. Weltbank. Wir werden auch den Bau neuer Kernkraftwerke erle- So einfach wäre das gewesen. Die Grünen und die ben. Egal, ob wir aus dieser Technologie in Deutschland Linken hätten nur zum Hörer greifen und die Zeitver- aussteigen oder nicht. Die Frage wird sein: mit welcher schiebung beachten müssen und schon hätten sie ge- Technik, mit welchen Sicherheitsstandards? Die Frage wusst: Diese Debatte erübrigt sich von selbst. Das haben wird sein, wie wir das beeinflussen können. sie nicht getan. Weil es aber relativ einfach gewesen wäre, gehe ich davon aus, dass sie es vorsätzlich nicht Vor diesem Hintergrund muss man die von den Grü- getan haben. Sonst wäre nämlich der Aufhänger für die nen und den Linken vorgeschlagene Totalverweigerung Diskussion weggefallen. Sie haben nur einen Anlass ge- sehen. Wir verspielen technologische Kompetenz in ei- sucht, sich ideologisch über das Thema Kernenergie zu ner Technologie, bei der wir einmal ganz vorne waren, in verbreiten. einer Technologie, die uns – ob wir das wollen oder nicht – noch eine ganze Weile begleiten wird. Dabei Eigentlich sollte man sich nicht darauf einlassen und räume ich ein, dass die CSU der Meinung ist, dass wir ihnen den Gefallen nicht tun. Weil sie aber dauernd ei- auf die Kernenergie als Brücke zu einem neuen Energie- nen neuen Anknüpfungspunkt suchen und uns eine mix noch nicht verzichten können. Nacht- und Nebeldebatte ohnehin nie ersparen, möchte ich trotzdem ein paar energiepolitische Anmerkungen Wenn wir heute schon Lehrstühle in Deutschland nur machen. noch ausländisch besetzen können, zeigt das doch, dass wir hier den Ausstieg vorweggenommen haben. Wenn Ceteris paribus – will heißen, wenn sich Politik und wir die technologische Kompetenz nicht mehr haben, Technik nicht revolutionär ändern – wird der Energiebe- dann können wir die Sicherheitsstandards im Ausland darf der Welt, getrieben von den Schwellenländern, dra- (B) nicht beeinflussen. Wenn wir die wirtschaftliche Kompe- (D) matisch wachsen. Nach Schätzungen soll der weltweite tenz nicht mehr haben, können wir beim Bau die Sicher- Energiebedarf bis 2030 um mehr als 50 Prozent zuneh- heit im Ausland nicht mehr beeinflussen. Wie wollen wir men. Der Zugang zu Energie ist die conditio sine qua dann hier Entwicklungshilfe im engen Sinne des Wortes non für wirtschaftliche Entwicklung und damit die leisten? Grundvoraussetzung für entwicklungspolitischen Erfolg. Noch immer sind 1,6 Milliarden Menschen ohne Strom. Die entwickelten Nationen sollten aber gerade ein In- Diese Studie der Weltbank hätte man lesen und diskutie- teresse daran haben, Sicherheit in der Welt beeinflussen ren sollen. zu können. Das kann man nur, wenn man Kompetenz und auch die Finanzierung von Sicherheit anbieten kann. Der Energiehunger bleibt aber umweltseitig nicht Insofern müsste man eigentlich darüber nachdenken, ob ohne Konsequenzen: Im Jahr 2020 bereits sollen die man diese nicht sogar bei Weltbank und IWF aufbaut. CO2-Emissionen der Entwicklungsländer die der OECD- Staaten überholen. Das ist ein Problem, darüber sollte Aber ich will jetzt keine Phantomdebatte in die an- man diskutieren, aber unter dem Aspekt, was man ma- dere Richtung anzetteln. Es wäre schon genug, wenn wir chen muss, um dieses Problem zu lösen, nicht unter dem alle einsehen würden, dass die Nutzung von Kernenergie Aspekt, welche Maßnahme wir dagegen nicht ergreifen? auch in Schwellenländern Fakt sein wird. Statt sie weg- zudiskutieren, sollten wir zu maximaler Sicherheit bei- Den Energiebedarf gilt es zu decken – und zwar zu fi- tragen. nanzierbaren und umweltverträglichen Konditionen. Bei der Versorgung der ärmeren Weltbevölkerung wird das Die Diskussion, ob Kernenergie eine „clean energy“ Thema Finanzierbarkeit im Fokus stehen. Unsere Auf- darstellt, können wir an dieser Stelle nicht führen. Wenn gabe wird es sein, sicherzustellen, dass das Thema Kli- aber die Kohlendioxidproblematik zu den dringlichsten maschutz nicht aus den Augen verloren wird. weltweiten Umweltproblemen zählt, so ist doch eines Dabei werden erneuerbare Energien eine besondere unstrittig: die Kohlendioxidemission wird durch die Nut- Rolle spielen. Es ist gut, dass wir deren Entwicklung zung von Kernenergie gesenkt. über innovative Forschung, das Marktanreizprogramm, aber ganz besonders auch durch das Erneuerbare-Ener- Gabriele Groneberg (SPD): Energiepolitik zu spä- gien-Gesetz vorantreiben. Wir haben Deutschland da- ter Stunde, ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, durch in eine Vorreiterrolle – wirtschaftlich wie techno- Ihre Energie reicht zur Diskussion dieses Tages- logisch – gebracht. Wir entwickeln also bei uns in ordnungspunktes noch aus. Die Politik der Weltbank im Deutschland etwas, was dazu beitragen kann, das Pro- Energie- und Umweltbereich – damit beschäftigen wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5327

(A) uns in schöner Regelmäßigkeit und das zu Recht. Kaum alle nur miteinander daran arbeiten, dass wir dem Klima- (C) ein anderes Thema wird mit so viel Leidenschaft und wandel mit seinen verheerenden Folgen entgegenwirken. Überzeugung diskutiert, vor allem dann, wenn es dabei auch noch um Atomkraft geht. Die Diskussion um die All das, was wir hier verhandelt und beschlossen ha- Nutzung der Atomenergie bestimmt seit Jahren die Tages- ben, ist Grundlage der Politik dieser Bundesregierung ordnung. Wir haben uns als SPD dazu seit Jahren eindeu- und selbstverständlich spiegeln sich unsere Aktivitäten tig positioniert: Wir wollen keine neuen Atomkraft- bei den „Erneuerbaren“ in unseren Aktivitäten in inter- werke. Zwischen SPD und CDU/CSU gibt es nationalen Institutionen wider und vor allem natürlich in unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Nutzung den Beschlüssen im Bereich unserer wirtschaftlichen der Kernenergie zur Stromerzeugung. In dem Koali- Zusammenarbeit. Sie wissen das aber doch bestens; tionsvertrag ist aber eindeutig vereinbart worden, dass denn diesem Thema haben wir uns ausführlich in den die am 14. Juni 2000 von Bundesregierung und Energie- letzten zwei Jahren immer wieder mit Anträgen gewid- versorgungsunternehmen geschlossene Vereinbarung in met, in denen der Bundesregierung klare Aufgaben mit Bezug auf das gestaffelte Abschalten bei uns betriebener auf den Weg gegeben wurden. Schauen Sie vor allem in Kernkraftwerke gültig bleibt. Diese Vereinbarung ist seit die Bundestagsdrucksache 15/3465, „Für eine nachhal- tige Rohstoff- und Energiepolitik der Weltbank“ und in Jahren Grundlage der Politik der Bundesregierung in die Bundestagsdrucksache 15/3212, „Globale Zukunfts- Deutschland. Dieses Grundverständnis löst sich nicht in sicherung durch die Förderung erneuerbarer Energien in Luft auf, wenn es um unsere Interessenvertretung in inter- Entwicklungsländern vorantreiben“, auch nicht zu ver- nationalen Gremien geht. Nur sitzen wir dort nicht alleine, gessen die Diskussion um die sozialen und ökologischen das bitte nehmen wir doch mal zur Kenntnis. Zu glau- Standards in der Weltbank. Diese Anträge sind hier im ben, wir würden uns zum Beispiel bei der Weltbank mit Hause verabschiedet worden und wir sehen keine Not- unseren Interessen in allen Punkten durchsetzen, ist doch wendigkeit, mit reinem Aktionismus immer wieder Teile einfach naiv. Wir stehen zu unseren Beschlüssen in davon neu aufzugießen. Diese Bundesregierung, allen Deutschland und ich bin fest davon überzeugt, dass un- voran das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenar- sere Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul unsere Inte- beit und Entwicklung, wird sich vehement für unsere ressen in dieser Hinsicht auch in internationalen Gre- hier formulierten Ziele einsetzen; davon bin ich über- mien im Rahmen der dort möglichen Einflussnahme zeugt. vertritt. Ich glaube auch, dass dieser Einsatz mit dazu beigetra- Ebenso wie wir zum Ausstieg aus der Atomenergie gen hat, die Politik der Weltbank zu ändern. Sie wissen stehen haben wir uns zum Ausbau erneuerbarer Energien doch, dass das Thema „Erneuerbare Energien“ vor 2004 positioniert. Muss ich in diesem Gremium daran erin- (B) so gut wie keine Rolle gespielt hat. Die Zahlen von 2005 (D) nern, dass es die Politik dieser Regierung ist, den Anteil zeigen, dass sich dies definitiv geändert hat: Die Welt- der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung bis bank hat Kredite in Höhe von 212 Millionen Dollar für 2020 auf mindestens 20 Prozent steigern zu wollen? erneuerbare Energien und 87 Millionen Dollar für Energie- Muss ich daran erinnern, dass Deutschland jetzt schon effizienz eingesetzt. Die Zahlen für die Wasserkraft habe Vorreiter ist in der Nutzung erneuerbarer Energien und ich hier bewusst außen vor gelassen. Ich weiß ja, dass der der Steigerung der Energieeffizienz? Muss ich daran er- Mitteleinsatz für große Staudämme – obwohl erneuerbare innern, dass unser EEG eine Vorbildfunktion für eine Energien – durchaus heftig umstritten ist. Gesetzgebung in diesem Bereich in etlichen Ländern in dieser Welt hat und wir sehr froh darüber sind? Ich bin allerdings auch Realistin genug, um einzuse- hen, dass es eine längere Zeit braucht, damit sich der Ein großer Erfolg der durch die vorherige Bundesregie- Rest der Welt mit der gleichen Überzeugung für dieses rung initiierten internationalen Konferenz für Erneuer- Thema einsetzt. Und das man einfach länger braucht, um bare Energien in Bonn 2004 ist, dass sich 87 Regierun- auch in den internationalen Institutionen und hier natür- gen bereit erklärt haben, zusammen an dem Ziel zu lich vor allem der Weltbank, alle mit am Tisch sitzenden arbeiten, erneuerbare Energien weltweit einzusetzen, sie Länder mit der gleichen Intensität die gleichen konse- marktfähig zu machen. Erklärtes Ziel ist es, bis zum quenten Beschlüsse zum Thema Energie zu fassen wie Jahre 2015 eine Milliarde Menschen, die bisher keinen wir hier in Deutschland. Es wäre sicherlich hilfreich, Zugang zu moderner Energieversorgung haben, mit Ener- dass die kleinen Fortschritte, die erzielt werden, von Ih- gie aus erneuerbaren Quellen zu versorgen. Die Vorteile nen auch mal positiv aufgenommen werden würden. gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern liegen Und sicherlich wäre es auf dem internationalen Parkett auf der Hand. Armutsbekämpfung muss Hand in Hand ebenso hilfreich, wenn Sie die Politik dieser Bundes- gehen mit dem Aufbau der Energieversorgung. Sie ist regierung zur Energiepolitik unterstützen würden. Grundlage dafür, dass Menschen Zugang zu einer wirk- samen Gesundheitsversorgung, zu Bildung und zu wirt- Warum erzähle ich das alles? Aus meinen Ausführun- schaftlichem Wachstum bekommen. Die Abhängigkeit gen wird sehr deutlich, dass beide Anträge alter Wein in vom teuren Öl macht nicht nur uns zu schaffen, die Fol- neuen Schläuchen sind. Wir werden sie ablehnen. gen für die Entwicklungs- und Schwellenländer sind gera- dezu fatal. Allein die Haushalte von Entwicklungsländern Dr. Karl Addicks (FDP): „Ja zu mehr Effizienz und würden um mindestens 60 Milliarden US-Dollar entlastet, erneuerbaren Energien“ – einen Teil des Antrags, den wenn sie nicht die Mehraufwendungen für den gestiege- wir hier beraten, können wir Liberale vollkommen un- nen Ölpreis zu tragen hätten. Und nicht zuletzt können wir terstützen. Denn erstens ist Effizienz immer gut und 5328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) zweitens ist mit Blick auf die erneuerbaren Energien nur ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen könnte, (C) festzustellen, dass durch deren forcierte Nutzung in den sondern die auch zum Beispiel durch den Einsatz moder- Entwicklungsländern viel für eine wirksame Entlastung nerer Informationstechnologien, für mehr Bildungschan- der Erdatmosphäre erreicht werden kann. Der Zugang zu cen und eine transparentere Welt sorgen könnte. Energie ist, wie Sie richtig in Ihrem Antrag schreiben, entscheidend für die Verbesserung der Lebensumstände Ihre Forderungen in dem Antrag gehen eindeutig zu in Entwicklungsländern und ein zentrales Element im weit. Entwicklungsländern dürfen keine ideologischen Kampf gegen die Armut. Ja, die Bereitstellung von Ener- Vorgaben bei der Wahl innovativer Energiekonzepte, die gie in Entwicklungsländern ist auch aus Sicht der FDP von vielen verschiedenen Faktoren abhängig sind, ge- ein elementarer Bestandteil bei der Bekämpfung der macht werden. Stattdessen muss ihnen Hilfestellung ge- weltweiten Armut. leistet werden, bei der Lösung von Umweltproblemen konsequent marktwirtschaftliche Instrumente einzuset- Dabei muss jedoch beachtet werden, dass die geolo- zen, wie im Kiotoprotokoll vorgesehen. Letztlich können gischen, klimatischen, infrastrukturellen und politisch- wir den Ländern, allen voran den Entwicklungsländern, gesellschaftlichen Ausgangs- und Rahmenbedingungen nicht vorschreiben, für welche Energietechnologien sie regional und international höchst unterschiedlich sind. sich zu entscheiden haben, auch nicht mittelbar durch Bei der Förderung des Einsatzes erneuerbarer Energien die Kreditvergabe der Weltbank. Wir können aber dafür muss den Gegebenheiten in den jeweils betreffenden sorgen, dass diese Länder, wenn sie sich für die Kern- Ländern deshalb sorgfältig Rechnung getragen werden. technologie entscheiden, auf das Know-how Deutsch- Große Chancen bestehen beispielsweise für die Photo- lands und höchstmögliche Sicherheitsstandards zurück- voltaik in sonnenreichen Regionen der Erde, zumal greifen können. dann, wenn für die Energieversorgung dort keine ausrei- chende Netzinfrastruktur vorhanden ist. So sehen auch Ihre Vorschläge, liebe Mitglieder der Fraktion Bünd- wir Liberale den Einsatz von Atomtechnologie zur Elek- nis 90/Die Grünen, grenzen an eine Art Ökoimperialis- trifizierung ländlicher Räume für nicht angebracht, da mus, den wir von der FDP nicht mittragen können und der Einsatz von regenerativer Energie viel nützlicher und wollen. praktikabler ist. Was nützt uns denn ein Kraftwerk ohne die dafür notwendigen Netze zur Verbreitung der Ener- Heike Hänsel (DIE LINKE): Wir befassen uns heute gie? Hier sind Sonne, Wind oder Biomasse gerade in mit konkreten Forderungen an die Energiepolitik der ländlichen Gebieten ohne natürliche Energievorkommen Weltbank. Wir tun dies vor dem Hintergrund der Welt- und ohne Stromnetze wirtschaftlicher. bank-IWF-Tagung, die vor einer Woche in Singapur stattfand. Aber, liebe Mitglieder der Fraktion Bündnis 90/Die (B) (D) Grünen, hier trennen sich dann unsere Wege, denn auch Ich möchte zunächst aber etwas anderes ansprechen, Länder wie China und Indien zählen noch immer zu Ent- nämlich die inakzeptable Einschränkung von demokrati- wicklungs- und Transformationsländern. Diese planen, schen Grundrechten während der Herbsttagung in Singa- wie Sie selber sagen, einen massiven Ausbau der Atom- pur. Die Regierung der Republik Singapur erstellte im energie. Das ist ja auch klar; denn sie benötigen die Ener- Vorfeld schwarze Listen mit den Namen von NGO-Ver- gie schon lange nicht mehr, um Grundbedürfnisse zu er- treterinnen und -vertretern, die von einer Einreise und möglichen, sondern hier geht es hauptsächlich darum, möglichen Teilnahme an Demonstrationen abgehalten ihre stetig wachsende und nach Energie hungernde Wirt- werden sollten. Das Demonstrationsrecht wurde darüber schaft zu „füttern“. Dabei muss es uns doch am Herzen hinaus deutlich eingeschränkt. Insgesamt standen liegen, die wichtige Reaktorsicherheitstechnik für diese 28 Vertreterinnen und Vertreter von NGOs, denen von Länder sicherzustellen. Hier dürfen auf keinen Fall Welt- Weltbank und IWF eine Akkreditierung erteilt worden bankkredite für Atomtechnologie verwehrt werden. Es war, auf der schwarzen Liste. 22 von ihnen wurde am gilt sogar, Deutschlands Position als Standort für die zweiten Tag die Einreise doch noch erlaubt, allerdings Entwicklung und den Export von energiewirtschaftlicher war dann für viele, die zuvor abgewiesen worden waren, Hochtechnologie zu festigen und im Rahmen einer Export- eine Einreise nicht mehr möglich – sie hatten sich bereits offensive weiter auszubauen. Dabei geht es im Sinne der wieder auf die Heimreise gemacht bzw. ihre Flüge um- Nachhaltigkeit auch um eine Verbesserung der Energie- gebucht etc. Viele NGOs boykottierten daraufhin die Dia- effizienz und um die Nutzung von Kostensenkungspoten- logveranstaltungen in Singapur oder nutzten sie, um ih- zialen für den internationalen Klimaschutz. ren Protest kundzutun. Wir haben gegen diese Maßnah- men ebenfalls protestiert und dies in einem offenen Brief Der Einsatz erneuerbarer Energien in Entwicklungs- an den Botschafter der Republik Singapur in Deutsch- ländern macht aus unserer Sicht nur dann Sinn, wenn land deutlich gemacht. Kriterien der wirtschaftlichen Effizienz berücksichtigt werden. In weiten Bereichen ist es sinnvoller, in die Ver- Wir finden es gut, dass Bundesministerin Heidemarie besserung bestehender Kraftwerke und Stromnetze zu Wieczorek-Zeul im Vorfeld ihrer Singapur-Reise in die- investieren, da mit demselben Einsatz eine stärkere Ver- sem Sinne deutlich zu den Vorgängen Stellung bezogen besserung der Umweltsituation und eine höhere Energie- hat, und hoffen, dass sie dies auch vor Ort gegenüber den erzeugung erreicht werden können. So könnte mit dem- Verantwortlichen getan hat. Leider muss ich aber fest- selben Geld eines Weltbankkredits den Menschen in stellen, dass zumindest in der öffentlichen Widerspiege- Entwicklungsländern wesentlich mehr Energie zur Ver- lung das Thema im Laufe der Konferenz keine größere fügung gestellt werden, Energie, die den Menschen nicht Rolle mehr spielte – business as usual? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5329

(A) Für die Zukunft müssen solche Vorfälle ausgeschlos- Weisungsbefugnis über ein Mitglied des Exekutivdirek- (C) sen werden. Weltbank, IWF und auch die Bundesregie- toriums der Weltbank, um falsche Weichenstellungen zu rung fordern von anderen gerne Good Governance verhindern. – „Gute Regierungsführung“ – ein. Good Governance muss aber auch für die Weltbank und den IWF bzw. ihre Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fast zwei Gastgeber gelten. Ich würde mir hier noch einmal ein Milliarden Menschen sind heute weltweit immer noch klares Wort der Ministerin wünschen, welche Vorstellun- auf traditionelle Brennstoffe, vor allem Holz, angewie- gen sie davon hat, wie die Weltbank in Zukunft mit die- sen. Das ist ein Drittel der Weltbevölkerung. Für ein sem Thema umgehen sollte und welche diesbezüglichen Kind, das täglich mehrere Stunden mit der Brennholzsu- Verabredungen sie mit dem deutschen Vertreter im Exe- che verbringt, bleibt der regelmäßige Schulbesuch ein kutivdirektorium der Weltbank getroffen hat. Traum. Und eine Schule braucht Licht. Ein Krankenhaus Zum Thema unseres Antrags: Das neue Investment braucht Strom für den Operationssaal. Kleingewerbe Framework on Clean Energy and Development der braucht Strom zur Produktion. Die Landwirtschaft Weltbank gibt wenig Hoffnung auf eine energiepoliti- braucht Zugang zu bezahlbarer Energie. Jede Form von sche Wende der Weltbank hin zu mehr Förderung von Industrieproduktion ist abhängig von möglichst konstan- regenerativen Energien. Im Gegenteil: Es wird weiterhin tem Zugang zu Energie. auf Kohlekraftwerke, große Wasserkraftwerke und An diesen wenigen Beispielen zeigt sich, dass Ar- Atomenergie gesetzt. Der Entwicklungsausschuss von mutsbekämpfung ohne Zugang zu Energie nicht erfolg- Weltbank und IWF lässt in seiner Erklärung leider keine reich sein wird. Praktisch alle Millenniumsziele stehen kritische Auseinandersetzung mit dieser Haltung erken- in Beziehung zu einer nachhaltigen Energieversorgung. nen. Die Handschrift von Frau Wieczorek-Zeul, die sich Ohne Zugang zu nachhaltiger Energie können die Le- im Vorfeld sehr gut, nämlich eindeutig ablehnend gegen- bensumstände in Entwicklungsländern nicht verbessert über einer möglichen Förderung von Atomtechnologie werden. durch die Weltbank, geäußert hatte, ist nicht zu erken- nen. Hinzu kommt ein Weiteres: Auch für den Kampf ge- gen den Klimawandel – unter dem Entwicklungsländer In der Energiepolitik setzt die Weltbank leider weiter besonders zu leiden haben – ist der Aufbau eines nach- auf Projekte, von denen vor allem Großkonzerne des haltigen Energiesystems entscheidend. Der Energiever- Nordens profitieren und die für die lokale Bevölkerung brauch steigt in der ganzen Welt und damit die Nach- überwiegend negative Konsequenzen haben, wie zum frage nach Energie, woran die bevölkerungsreichen Beispiel die Staudämme Pak Mun in Thailand und Schwellenländer einen großen Anteil haben. Doch eine Kedung in Indonesien zeigen. (B) Wiederholung des Entwicklungsschemas der westlichen (D) Auch sonst wird immer deutlicher, dass die beiden In- Welt, also ein Aufbauen auf fossiler Energie, wird unser stitutionen Weltbank und IWF den Entwicklungsländern Planet nicht verkraften. Daher besteht heute die Heraus- mehr schaden als nutzen. Zur Jahrestagung in Singapur forderung darin, den steigenden Verbrauch mit größerer wies ein Bericht von Social Watch darauf hin, dass be- Effizienz, möglichst ohne Klimaschädlichkeit, mit der reits seit 15 Jahren die Entwicklungs- und Schwellenlän- Verringerung der Luft-, Boden- und Wasserverschmut- der mehr Geld in Form von Zinsen und Tilgungen an die zung und mit einem besseren Zugang für die ärmsten Weltbank überweisen, als sie von ihr bekommen. Menschen zu verbinden. Es ist erschreckend, dass wir uns 20 Jahre nach Aus grüner Sicht wird sich eine langfristige globale Tschernobyl und angesichts der Tatsache, dass auch Energiesicherheit nur durch den massiven Ausbau er- diese Bundesregierung zugesagt hat, am Atomausstieg neuerbarer Energien, durch die Steigerung der Energie- festzuhalten, überhaupt noch über Sinn und Unsinn von effizienz und durch verstärktes Energiesparen erreichen Atomkraft unterhalten müssen. Ich fordere die Bundes- lassen. Das gilt gerade auch für Entwicklungsländer, de- regierung auf, sich auch auf internationaler Ebene für ei- ren Effizienz- und Einsparpotenziale ungenutzt sind und nen Atomausstieg stark zu machen. Ich beobachte aller- deren einzige einheimische Quellen oft Wind, Wasser, dings, dass die Gefahr besteht, dass auf internationaler Sonne, Erdwärme und Biomasse sind. Erneuerbare Ener- Ebene die Weichen eher anders gestellt werden: Mittel- gien sind saubere Energien. Sie sind sofort verfügbar fristig wäre dadurch ein Unterlaufen des Atomausstiegs und tragen nicht zum Klimawandel bei. Jedes Land ver- in Deutschland möglich – das Grünbuch Energie der fügt über erneuerbare Energien. Sie zu nutzen, verringert EU-Kommission ist hierfür ein Warnzeichen. die Abhängigkeit von Energieimporten aus oft politisch instabilen Weltregionen. Analysten schätzen, dass der Die Vorstellung, Atomenergie könnte ausgerechnet in Preis in wenigen Jahren auf über 100 Dollar pro Barrel Schwellen- und Entwicklungsländern ein Beitrag zu steigen kann. Es ist sinnvoller, in erneuerbare Energien nachhaltiger Entwicklung sein, ist irrwitzig. Milliarden- zu investieren, als dauerhaft steigende Ölrechnungen zu schwere Investitionsruinen von Argentinien bis zu den bezahlen. Philippinen, Entsorgungsprobleme überall und gewalti- ger Raubbau an Uranvorkommen in Afrika beweisen das Welche Rolle kann die Weltbank beim Aufbau einer Gegenteil. Dazu kommen unvertretbare Sicherheitsrisi- nachhaltigen Energiepolitik spielen? Zunächst einmal ist ken. Deshalb, Frau Wieczorek-Zeul, lassen Sie Ihren Re- generell zu begrüßen, dass die Weltbank eine umfas- den Taten folgen und nutzen Sie die konkreten Einwir- sende Diskussion um die Fortschreibung ihrer Energie- kungsmöglichkeiten, die Sie haben, in diesem Fall die politik begonnen hat und an einem Investitionsrahmen 5330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) für saubere Energie und Entwicklung arbeitet. Im Kern Die große vorhandene Menge von waffenfähigem (C) einer Weltbankstrategie müssen aus grüner Sicht – und Plutonium gefährdet die weltweite Abrüstung und bildet dies führt der heute debattierte Antrag aus – vier Dinge vor dem Hintergrund terroristischer Attacken ein unver- stehen: die Fokussierung der Weltbank auf die Förde- antwortbares Risiko. Mit der Ausbreitung der zivilen rung erneuerbarer Energien; die Unterstützung von Ent- Nutzung der Atomenergie wachsen auch die Möglich- wicklungsländern beim sparsamen Umgang mit Energie. keiten ihrer militärischen Nutzung. Das hat großes Potenzial; die Förderung moderner, effi- zienter Verfahren in der Industrieproduktion, mit redu- ziertem Energieeinsatz und der Ausstieg der Weltbank Anlage 15 aus der Förderung fossiler Energien bis 2010, wie es eine Untersuchungskommission zur Rohstoffpolitik der Zu Protokoll gegebene Reden Weltbank (Salim-Bericht) schon vor einigen Jahren vor- geschlagen hat. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung Kurz gesagt, die Konzentration auf die „drei E“, Er- der Europäischen Gesellschaft und zur Ände- neuerbare, Einsparung, Effizienz. Dies muss mit einer rung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften besonderen Konzentration auf den Zugang der ärmsten (SEStEG) (Tagesordnungspunkt 23) Bevölkerungsgruppen und einer stärkeren Ausrichtung auf den ländlichen Raum unterstützt werden. Gerade hier möchte ich noch einmal auf das Ziel der Konferenz Peter Rzepka (CDU/CSU): Der Bundestag behan- für Erneuerbare Energien (Renewables 2004 in Bonn) delt heute in erster Lesung das Gesetz über steuerliche hinweisen, bis 2015 für 1 Milliarde Menschen Zugang Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen zu Energie durch Erneuerbare zu schaffen. Gesellschaft. Mit dem SEStEG sollen die deutschen steuerrechtlichen Vorschriften an die aktuellen EU- In Singapur auf der Herbsttagung von IWF und Welt- rechtlichen Vorgaben auf dem Gebiet des Steuerrechts bank wurde ein Fortschrittsbericht der Weltbank debat- und des Gesellschaftsrechts angepasst werden. tiert. Er enthält Elemente, die ich durchaus begrüße, wie den Aktionsplan für Subsahara-Afrika. Weiterhin kommt Die Auswirkungen auf eine Reihe deutscher Gesetze die Weltbank zu dem Ergebnis, dass bestehende Finan- ergeben sich aus folgenden Umständen: zierungsmechanismen wie die Globale Umweltfazilität (GEF) nicht ausreichen, um den Übergang zu einer „low Erstens aus den Verordnungen über das Statut der Eu- carbon economy“ herbeizuführen. Deshalb schlägt die ropäischen Gesellschaft, societas europeae, sowie über Bank neue Finanzierungsinstrumente vor. Ich glaube das Statut der Europäischen Genossenschaft. (B) (D) auch, dass die Investitionen in ein nachhaltiges Energie- Zweitens aus der geänderten Richtlinie über das ge- system verstärkt werden müssen. Gleichwohl werden meinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen und wir diesem Ansatz nur zustimmen, wenn sichergestellt die Einbringung von Unternehmensteilen sowie aus der ist, dass dadurch verbindliche Minderungsverpflichtun- Richtlinie über die Verschmelzung von Kapitalgesell- gen im Rahmen des Post-Kioto-Prozesses nicht infrage schaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten. gestellt werden. Anders formuliert: Wir wollen keine Schwächung des Prozesses, der die Fortschreibung des Drittens und letztens aus Vorgaben des Europäischen internationalen Rechtsrahmens in der Klimapolitik zum Gerichtshofs. Ziel hat. Die Regelungen zur Gründung und Sitzverlegung ei- Umso unverständlicher und inakzeptabler bleibt die ner Europäischen Gesellschaft der Europäischen Genos- Position der Weltbank in der Frage der Nuklearenergie. senschaft waren bis zum 1. Januar 2006 umzusetzen, alle Nuklearenergie ist weder „sauber“ noch „billig“, wie es übrigen Regelungen sind bis zum 1. Januar 2007 in na- innerhalb der Weltbank manche Autoren nahe legen. Wir tionales Recht umzusetzen. befürchten zwar aktuell nicht eine direkte Beteiligung der Weltbank an Nuklearprogrammen. Doch dient die Mit dem vorliegenden Entwurf wollen wir steuerliche Weltbank als intellektueller Bezugspunkt der Debatte Hemmnisse für die grenzüberschreitende Reorganisation um eine nachhaltige Energieversorgung. Und die Befür- von Unternehmen beseitigen und die Möglichkeiten zur wortung von Atomkraft wäre ein falsches Signal für an- freien Wahl der Rechtsform verbessern. Künftig sollen dere Geber. Bei der Atomkraft liegt die Weltbank europaweit die gleichen steuerlichen Grundsätze für in- schlicht falsch. Atomkraft bietet keine Lösung der Ener- ländische wie für grenzüberschreitende Umstrukturie- gieprobleme in Entwicklungsländern. Im Gegenteil: Sie rungen von Unternehmen gelten. Die steuerlichen Rege- schafft nur neue unkalkulierbare Risiken. Die Gefahr ei- lungen für die Einbringung von Betrieben, Teilbetrieben nes Super-GAUs lässt sich nicht bannen. Die Entsor- und Anteilen werden ebenfalls neu gestaltet. Der Gesetz- gungsfrage für den strahlenden Atommüll ist seit über entwurf ist damit ein weiterer Schritt zur Herstellung des 50 Jahren weltweit ungelöst. Aber auch ökonomisch ist gemeinsamen Marktes in der Europäischen Union. Auch diese Option nicht überzeugend. Würde irgendwo auf das Steuerrecht muss den fortschreitenden internationa- der Welt auch nur ein Atomkraftwerk rein privatwirt- len wirtschaftlichen Verflechtungen Rechnung tragen. schaftlich gebaut, ohne massive finanzielle staatliche Vor allem aber geht es um die Stärkung des Standortes Unterstützung? Ein Beispiel dazu wäre mir nicht be- Deutschland für Investitionen, Wirtschaftswachstum und kannt. Arbeitsplätze. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5331

(A) Ungeachtet dieser Zielsetzungen ist es notwendig, Viertens. Übernahmegewinne und Übernahmever- (C) deutsche Besteuerungsrechte und das deutsche Steuer- luste bei Umwandlung einer Kapitalgesellschaft auf eine aufkommen zu sichern. Denn durch EU-weite Umstruk- andere Kapitalgesellschaft sollen grundsätzlich steuer- turierungen und die Verlagerung von Vermögenswerten lich unberücksichtigt bleiben. Allerdings werden bei über die Grenze wird das Zugriffsrecht des Fiskus auf Übernahmegewinnen 5 Prozent dieser Gewinne für die deutsches Steuersubstrat erschwert oder sogar unmög- übernehmende Körperschaft als Ausgaben fingiert, die lich gemacht. nicht als Betriebsausgaben abgezogen werden dürfen. Das könnte ein Widerspruch zu Art. 7 der EU-Fusions- In dem Spannungsfeld zwischen der Schaffung ein- richtlinie sein, der vorsieht, dass eine Besteuerung der heitlicher Rechtsgrundsätze für alle inländischen und übernehmenden Körperschaft bei einem Anteil von mehr EU-weiten Umstrukturierungen von Unternehmen einer- als 20 Prozent an der übertragenden Körperschaft unter- seits, sowie der Sicherung der deutschen Besteuerungs- bleibt. rechte andererseits bewegen sich die vorliegenden Rege- lungen. In dem Gesetzgebungsverfahren wird – mithilfe Fünftens: Mehrheitsbeteiligungen an Gesellschaften der Sachverständigen – eingehend zu prüfen sein, ob der in Drittstaaten sollen nicht mehr steuerneutral einge- Gesetzentwurf der Bundesregierung in dem beschriebe- bracht werden können. nen Spannungsfeld sachgerechte Lösungen vorschlägt, Bei der kritischen Prüfung dieser Punkte in den Aus- die nicht zu höheren Steuerbelastungen der Unterneh- schussberatungen werden wir uns auch den von der EU- men führen. Vor dem Hintergrund der hohen nominalen Kommission erhobenen europarechtlichen Bedenken und effektiven Steuerbelastung der deutschen Unterneh- und der vom Bundesrat am vergangenen Freitag gefor- men könnten zusätzliche Steuererhöhungen den deut- derten Überarbeitung des Gesetzentwurfs stellen müs- schen Standort schwächen. Sie stünden auch im Gegen- sen. Insbesondere die Entstrickungstatbestände mit der satz zu dem Ziel der Unternehmensteuerreform, die unterschiedlichen Behandlung von Unternehmen und internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- Privatpersonen werden kritisiert. schaft zu stärken. Ob wir uns als Gesetzgeber zur Rechtfertigung der Da das Regelwerk äußerst komplex ist und hier nicht Sofortbesteuerung bei den Unternehmen auf eine Aus- im Einzelnen dargestellt werden kann, will ich einige der sage der Europäischen Kommission stützen sollten, die Punkte hier herausgreifen, die im Gesetzgebungsverfah- diese in Bezug auf § 6 des Außensteuergesetzes getrof- ren einer kritischen Prüfung unterzogen werden müssen: fen hat, halte ich für fraglich. Danach steht der Bundes- Erstens. Die Sofortversteuerung stiller Reserven im republik Deutschland „das unbestrittene Recht zu, Wert- zuwächse seiner Steuerpflichtigen zu besteuern“. (B) Fall des Ausschlusses beziehungsweise der Beschrän- (D) kung des deutschen Besteuerungsrechts sowie bei der Schließlich ist das Recht, Wertzuwächse zu besteuern, Verbringung von Wirtschaftsgütern in eine außerhalb der nicht gleichzusetzen mit einem Recht zur Sofortbesteue- Grenzen Deutschlands befindliche Betriebsstätte (so rung. genannte Entstrickung). Der Gesetzentwurf hat sich in Die Alternative zur Sofortversteuerung wäre eine Re- diesem Fall für die uneingeschränkte und sofortige Be- gelung, welche die Besteuerung bis zum Zeitpunkt der steuerung entschieden und zwar zulasten der unterneh- Veräußerung zurückstellt oder die anfallende Steuer für merischen Flexibilität. Dabei zieht der steuerliche Zu- einen bestimmten Zeitraum zinslos stundet. Dies hält die griff einen entsprechenden Liquiditätsabfluss beim Finanzverwaltung für zu aufwendig und insgesamt nicht Unternehmen nach sich, ohne dass diesem – wie im Fall administrierbar. einer Gewinn realisierenden Veräußerung – Liquidität zufließt. Dagegen soll beim Wegzug einer Privatperson Allerdings hat sich der Bundesrat am vergangenen ins Ausland die Steuer auf die stillen Reserven einer von Freitag mit guten Argumenten für die Möglichkeit einer ihr gehaltenen, mehr als 1-prozentigen Beteiligung an ei- zeitlich gestreckten Besteuerung stiller Reserven ausge- ner Kapitalgesellschaft erst im Zeitpunkt der Veräuße- sprochen. Danach soll ein bei der Beschränkung oder rung der Beteiligung erhoben werden. dem Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts bzw. bei der Überführung eines Wirtschaftsguts von einer in- Zweitens. Bei der Umwandlung von Kapitalgesell- ländischen in eine ausländische Betriebsstätte entstehen- schaften in Personengesellschaften sollen verrechenbare der Entnahmegewinn zumindest bei Wirtschaftsgütern Verluste, verbleibende Verlustvorträge und vom übertra- des Anlagevermögens in einen den Gewinn mindernden genen Rechtsträger nicht ausgeglichene Negativein- Ausgleichsposten eingestellt werden. Dieser soll unter künfte nicht übergehen. bestimmten Voraussetzungen – bei abnutzbaren Wirt- schaftsgütern spätestens nach fünf Jahren – Gewinn er- Drittens: Verlustvorträge von Kapitalgesellschaften höhend aufgelöst werden. sollen bei der Umwandlung auf andere Kapitalgesell- schaften nicht geltend gemacht werden können. Dies ge- Die hinter dieser Konstruktion stehende Überlegung schieht offenbar aus Sorge, ausländische Verluste bei Hi- ist folgende: Die Sofortversteuerung könnte mit der Nie- neinverschmelzungen berücksichtigen zu müssen. Die derlassungsfreiheit des Art. 43 EG-Vertrages kollidieren, Folge ist, dass der bisher in Inlandsfällen geltende Über- siehe EuGH, Rs. C-9/02 Lasteyrie de Saillant. Wenn gang der Verluste auf die Übernehmerin gestrichen wird. nämlich die Ausgleichspostenmethode als milderes, aber Dadurch könnten Umstrukturierungen erheblich behin- ebenso wirksames Mittel zur Verfügung steht, gibt es dert oder ganz verhindert werden. keine Rechtfertigung für die Sofortversteuerung, welche 5332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) folglich einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeits- Die Anpassung des nationalen Rechts an das Gemein- (C) grundsatz darstellen würde. Außerdem könnte ein Ver- schaftsrecht der Europäischen Union, EU, bietet uns stoß gegen Doppelbesteuerungsabkommen vorliegen. auch die Möglichkeit, eigene politische Zielvorstellun- gen im Rahmen des SEStEG zu verwirklichen. Ziel ist, Fazit: Der vorliegende Gesetzentwurf ist wichtig und auf der Grundlage der europarechtlichen Vorgaben eine notwendig, weil er zum Teil Rechtsakte umsetzt, die auf einheitliche Rechtsgrundlage für alle inländischen und europäischer Ebene erlassen wurden, und zum Teil deut- grenzüberschreitenden Umstrukturierungen von Unter- sche Gesetze den Vorgaben des Europäischen Gerichts- nehmen zu schaffen. Damit werden auch Gestaltungs- hofs in Luxemburg anpasst. Die grundsätzlichen Ziele möglichkeiten, also grenzüberschreitende Steuersparmo- – Erhöhung der Attraktivität des Standortes Deutsch- delle, verhindert. land, Sicherung des deutschen Steuersubstrats, Steuer- vereinfachung – sind durchaus zu begrüßen. Die Rechtsfolgen bei grenzüberschreitenden Um- wandlungen und beim Verlust des deutschen Besteue- Allerdings muss vermieden werden, dass die Unter- rungsrechts bei Grenzüberschreitung werden klar gere- nehmen bei notwendigen Umstrukturierungen im inter- gelt. Damit trägt der Gesetzentwurf zu einer erheblichen nationalen Wettbewerb behindert werden, ihre Steuerlast Rechtsvereinfachung und Rechtssicherheit bei. Das erhöht und Deutschland als Standort für Konzernspitzen SEStEG leistet einen wichtigen Beitrag für die Pla- unattraktiver wird. Wir werden also erheblichen Bera- nungssicherheit der Unternehmen. Wir erwarten durch tungsbedarf haben. die verbesserten Rahmenbedingungen, dass der Investi- tionsstandort Deutschland an zusätzlicher Attraktivität Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Heute behan- gewinnt. deln wir in erster Lesung einen Gesetzesentwurf mit dem Namen „Entwurf eines Gesetzes über steuerliche Das SEStEG ermöglicht künftig grenzüberschreitende Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Umwandlungen und erleichtert den Unternehmen die Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrecht- freie Wahl der Rechtsform. Wir geben einen wichtigen licher Vorschriften“ – gut, dass es eine Abkürzung gibt: Impuls, Unternehmen wieder in Deutschland anzusie- SEStEG. deln, hier zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen und schließen damit weitere Lücken im bestehenden Be- Mit dem SEStEG passen wir die Bestimmungen des steuerungssystem. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Ver- deutschen Steuerrechts an die Vorgaben des europäi- wirklichung einer europaweit unverzichtbaren Steuer- schen Steuer- und Gesellschaftsrechts an. Das Gesetz gerechtigkeit auf der Grundlage von Kooperation, einer dient der Umsetzung der Lissabonstrategie. Mit der Lissa- gemeinsamen Bemessungsgrundlage und Konkurrenz, (B) bonstrategie versuchen wir, die Produktivität und Inno- die sich über die Steuersätze einstellt. Last, but not least (D) vationsgeschwindigkeit der EU zu erhöhen. Ziel dabei wollen wir natürlich das Steuersubstrat für Deutschland ist es, den europäischen Raum zum wettbewerbsfähigs- erhalten und trickreichen Umgehungen begegnen. ten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu ent- wickeln. Wesentliche steuerrechtliche Regelungen sind: Mit diesem Gesetz werden wir die Anpassung der na- Erstens. Die Sicherstellung der Besteuerung stiller tionalen steuerlichen Vorschriften zur Umstrukturierung Reserven bei Rechtsträgerwechsel und bei Entnahme von Unternehmen vornehmen. Wir sind aufgefordert, von Vermögen oder Verlust des deutschen Besteuerungs- folgende vier gemeinschaftsrechtliche Vorgaben in den rechtes. Diese Regelungen unter Beachtung der europa- nationalstaatlichen Gesetzesrahmen einzuarbeiten: Die rechtlichen Vorgaben erfolgen im Einkommensteuer- und Verordnung 2157/2001 über das Statut der Europäischen Körperschaftsteuerrecht, in § 4 Abs. l Satz 3 EStG und Gesellschaft, der Societas Europaea, kurz: SE; die SE ist § 12 Abs. l KStG. Die Besteuerung greift bei Wirtschafts- also eine Rechtsform auf Grundlage des Gemeinschafts- gütern, die im Rahmen einer grenzüberschreitenden Um- rechts, nach der Unternehmen die Möglichkeit haben strukturierung in eine ausländische Betriebsstätte ver- eine „Europäische Gesellschaft“ zu gründen; die Verord- bracht werden und bei denen deshalb das deutsche nung 1435/2003 über das Statut der Europäischen Genos- Besteuerungsrecht beschränkt wird. Der Gesetzentwurf senschaft, der Societas Cooperativa Europaea, kurz: SCE; sieht in diesen Fällen eine sofortige Besteuerung der stil- die Richtlinie 2005/19/EG zur Änderung der Fusions- len Reserven vor. Dies wird unter Hinweis auf die Recht- richtlinie und die Richtlinie 2005/56/EG über die Ver- sprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Teil kriti- schmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen siert. Es wird eine zinslose Steuerstundung gefordert. Mitgliedstaaten, die so genannte Verschmelzungsrichtli- Eine Steuerstundung ist unter Berücksichtigung des der- nie. zeitigen Stands der Harmonisierung der direkten Steuern und der Zusammenarbeit der Finanzbehörden in der Euro- Hier ist schon zu ahnen, wie viele steuerrechtlich päischen Union jedoch nicht akzeptabel und europa- wichtige Gesetze in Folge dieser Anpassung berührt rechtlich nicht zwingend. Denn deutsche Besteuerungs- sein werden. Ich nenne die wichtigsten: Einkommen- rechte würden dadurch nicht hinreichend sichergestellt. steuergesetz, Einkommensteuer-Durchführungsverord- Dies wird durch den Bericht der Europäischen Kommis- nung, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, sion vom 8. Februar 2006 zur Beitreibungsrichtlinie un- Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung, Umwandlungs- terstrichen. In diesem Bericht kommt die EU-Kommis- steuergesetz, Außensteuergesetz, Bewertungsgesetz und sion selbst zu dem Ergebnis, dass die Erfolgsquote der Finanzverwaltungsgesetz. Vollstreckung von deutschen Steuerforderungen inner- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5333

(A) halb der Europäischen Union bei durchschnittlich nur Nach den bisherigen Regelungen kam es allerdings zu (C) 1 Prozent der Forderungen liegt. Demgegenüber liegt die einer Doppelbesteuerung der stillen Reserven auf der Erfolgsquote der deutschen Finanzbehörden bei der Bei- Ebene des Veräußerers einbringungsgeborener Anteile treibung ausländischer Steuerforderungen bei fast 39 Pro- und auf der Ebene der die eingebrachten Wirtschaftsgü- zent. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Opposition ter veräußernden Kapitalgesellschaft. Die Neuregelung diesen grundsätzlichen Gedanken anschließen könnte. geht deshalb zum Grundsatz der nachträglichen Besteue- rung der im Zeitpunkt der Einbringung vorhandenen stil- Zweitens. Das Umwandlungssteuergesetz, UmwStG, len Reserven beim Einbringenden über. Hingegen er- wird in seinem Anwendungsbereich auf grenzüber- folgt keine Versteuerung dieser stillen Reserven mehr schreitende Vorgänge geöffnet. Es wird dort aber auch auf der Ebene des Anteilseigners beim Verkauf der ein- geregelt, dass bei grenzüberschreitenden Fusionen ein bringungsgeborenen Anteile. Seine Anschaffungskosten bestehender Verlustvortrag der Überträgerin auf die erhöhen sich um die bei der Ermittlung des steuerpflich- Übernehmerin nicht übergeht. Mit dieser Regelung wer- tigen Gewinns der Kapitalgesellschaft berücksichtigten den wir uns im Ausschuss sicher eine Weile beschäftigen stillen Reserven. Es erfolgt auch keine Versteuerung die- müssen, denn so notwendig diese Regelung zur Verhin- ser stillen Reserven mehr auf der Ebene der überneh- derung von Steuergestaltung ist, so vorsichtig sollten wir menden Kapitalgesellschaft, wenn diese die Wirtschafts- dieses Instrument bei inländischen Fusionen anwenden. güter verkauft. Auf Antrag wird der Bilanzansatz der Mit dem Wissen, dass weder Inländer noch Ausländer übernommenen Wirtschaftsgüter um die stillen Reserven steuerlich diskriminiert werden dürfen – natürlich auch erhöht, wenn der Einbringer die auf den Einbringungs- sonst nicht –, ist dies keine leichte Aufgabe. Verfällt der gewinn entfallende Steuer entrichtet hat. Verlustvortrag bei einer Fusion grundsätzlich, kann das Bei grenzüberschreitenden Umwandlungen sollen sachlich korrekt sein oder aber falsch und ungerecht. Verluste einer Kapitalgesellschaft nicht mehr an eine an- Dies ist ein fast nicht auflösbarer Widerspruch. dere Körperschaft übergehen können. Der Steuerstandort Drittens. Sicherstellung von Besteuerungsrechten bei Deutschland soll also vor dem Import von Verlusten grenzüberschreitenden Umstrukturierungen: Das Um- durch grenzüberschreitende Umwandlungen geschützt wandlungssteuergesetz war bisher auf inländische Vor- werden. gänge beschränkt. Das SEStEG sieht Regelungen zur Wir sehen, dass mit diesem Gesetz die Steuereinnah- Sicherstellung der Besteuerungsrechte bei grenzüber- men des Fiskus sichergestellt werden sollen. In Schwe- schreitenden Umstrukturierungen vor. Steuerneutrale den würde ich sagen können, das Gesetz zielt darauf, den Umwandlungen, bei denen die Buchwerte fortgeführt „Schatz des Volkes“, unseres Volkes, zu erhalten. (B) und keine stillen Reserven aufgedeckt werden, sind (D) möglich, wenn das deutsche Besteuerungsrecht nicht Wir werden sicher viel Post erhalten, denn wenn Ge- eingeschränkt wird. Bei grenzüberschreitenden Um- staltungen, an die man sich gewöhnt hat, wegfallen, wird strukturierungen, bei denen das deutsche Besteuerungs- dies häufig als Verschärfung der Rechtslage wahrgenom- recht eingeschränkt wird, muss der Ansatz der Wirt- men, weil man sich nicht an der Vergangenheit erfreut – schaftsgüter zum gemeinen Wert erfolgen, das heißt, viele Steuern gespart. Nein, die Vergangenheit gerät in stille Reserven werden aufgedeckt und versteuert. den Hintergrund und künftig korrekte Besteuerung wird als Belastung empfunden. Hier gilt es vorsichtig und Viertens. Nachträgliche Besteuerung von Einbringun- verantwortungsvoll vorzugehen. Deshalb müssen wir im gen: Das bisherige Modell, das Sonderregelungen für die Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens beispielsweise Besteuerung von Anteilen, die ein Einbringer im Gegen- darauf achten, dass durch die geplante Änderung des zug für eine Sacheinlage in eine Kapitalgesellschaft er- § 20 ff. UmwStG-E keine ungerechte und ungerechtfer- hält, und eine Missbrauchsklausel vorsah, wird abgelöst tigte Benachteiligung für Konzerne entsteht, bei denen (§21UmwStG, §8b Abs.4KStG, §3 Nr.40 S.3 und Mitgesellschafter in Drittstaaten ansässig sind. Ein gutes 4 EStG; § 26 Abs. 2 S. l und 2 UmwStG). Stattdessen Beispiel ist etwa das Unternehmen Freudenberg & Co in nehmen wir mit dem SEStEG eine nachträgliche Be- Weinheim, ein deutscher Personengesellschaftskonzern steuerung des zugrunde liegenden Einbringungsvor- mit mehr als 20 Drittstaatengesellschaftern. gangs vor, wenn die eingebrachten Anteile innerhalb ei- Steuergerechtigkeit, Gleichbehandlung und Planungs- ner Sperrfrist von sieben Jahren nach der Einbringung sicherheit sind Voraussetzungen für die Attraktivität des veräußert werden. Der nachträglich zu versteuernde Ein- Standorts Deutschland. Bislang ist die Sicherstellung des bringungsgewinn ergibt sich dabei aus der Differenz deutschen Besteuerungsrechts bei grenzüberschreiten- zwischen dem gemeinen Wert des Betriebsvermögens den Sachverhalten in verschiedenen Einzelgesetzen ge- im Zeitpunkt der Einbringung und dem Wert, mit dem regelt oder beruht gar auf der Rechtsprechung des die aufnehmende Gesellschaft dieses angesetzt hat. Bundesfinanzhofs, die durch Verwaltungsanweisungen Ohne Sonderregelungen würde die Einbringung von umgesetzt werden muss. Diese Regelungen werden wir Vermögen in eine Kapitalgesellschaft im Austausch ge- nunmehr systematisch zusammenfassen. Mit der Umset- gen Anteile der übernehmenden Kapitalgesellschaft und zung der europarechtlichen Vorgaben in nationalstaat- die anschließende Weiterveräußerung dieser Anteile auf- liches Recht gelten künftig europaweit die gleichen steu- grund des Halbeinkünfteverfahrens niedriger besteuert erlichen Grundsätze für inländische und für alle als ein direkter Verkauf, bei dem der Veräußerungsge- grenzüberschreitenden Umstrukturierungen von Unter- winn voll zu versteuern wäre. nehmen. Mit dem SEStEG schaffen wir ein Gesetz, mit 5334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) dem wir die Gleichbehandlung von in- und ausländi- quente Entlastung. Wir sind überzeugt, dass Deutschland (C) schen Unternehmen fest im deutschen Steuerrecht veran- konkurrenzfähig ist und sich dem Wettbewerb stellen kern. kann. Deutschland ist nicht schlechter als andere Länder und deshalb brauchen wir dieses Gesetz nicht. Unser Land braucht keine Antiabwanderungssteuer; unser Dr. Volker Wissing (FDP): Der „Entwurf eines Ge- Land braucht eine Regierung, die entschlossen refor- setzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einfüh- miert, statt endlos diskutiert. Unser Land braucht eine rung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung Regierung, die die Steuer senkt und nicht unentwegt er- weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG)“ klingt höht. Unser Land braucht eine Regierung, die in der nicht nur schrecklich, er ist es auch. Der Gesetzentwurf Lage ist, Investitionen ins Land zu holen, und nicht da- von Schwarz-Rot ist ein Armutszeugnis für die Finanz- rauf angewiesen ist, Unternehmen per Strafsteuer im und Wirtschaftspolitik. Wenn CDU/CSU und SPD es Land festzuhalten. Unser Land braucht eine Regierung, schon nicht schaffen, die wirtschaftlichen Rahmenbedin- die in der Lage ist, Zukunft zu gestalten und nach vorne gungen in Deutschland attraktiv zu gestalten, dann ver- gerichtet zu regieren. Unser Land braucht eine andere suchen sie zumindest die Unternehmen, die bei uns Regierung. keine Perspektive mehr haben, in die Zange zu nehmen. Viel destruktiver kann die Finanzpolitik der großen Ko- alition nicht mehr werden. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Seit 1959, also seit mehr als 40 Jahren, wird auf Ebene der Europäischen Mit Ihrem Gesetzentwurf machen Sie unser Land zur Union über die Einführung einer internationalisierten Mausefalle für Investitionen. Welcher ausländische In- Rechtsform für Unternehmen diskutiert. Ergebnis dieses vestor wird künftig noch in Deutschland investieren, langen Diskussionsprozesses ist unter anderem die wenn er sein Kapital damit in eine Sackgasse schleust? Schaffung der Europäischen Aktiengesellschaft als ein- Ihr Gesetzentwurf ist nichts anderes als eine Strafsteuer heitliche Rechtsform und entsprechend das Statut der auf unternehmerische Mobilität. So werden Sie jeden- Europäischen Gesellschaft (SE), das seit 2001 als Rah- falls keine Investitionen in unser Land holen. Dieser men existiert. Versuch der Festschreibung von Unternehmensstand- orten via Steuerrecht ist unseres Landes unwürdig und er Ziel war und ist es, Unternehmen, die über die Gren- zeugt von wenig Selbstbewusstsein. Glauben Sie wirk- zen hinaus agieren, dieses zu erleichtern und einheitliche lich, dass der Standort Deutschland das verdient hat? Rechtsnormen, zum Beispiel bei der Mitbestimmung Glauben Sie wirklich, Sie brauchen das Steuerrecht, um und den Gremien, zu setzen. die Unternehmen im Land zu halten? Wenn Ihnen da Auch wenn aktuell noch äußerst wenig Unternehmen nichts Besseres einfällt, haben Sie schon verloren. den Weg der Europäischen Aktiengesellschaft gehen (B) wollen – in der Bundesrepublik beabsichtigen dies ganze (D) Statt unser Land für Unternehmen attraktiv zu gestal- vier Unternehmen –, sind einheitliche Vorschriften grund- ten und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so zu sätzlich zu begrüßen. Begrüßenswert ist aus unserer Sicht verbessern, dass wieder in Deutschland investiert wird, auch, dass die Verordnung über das Statut der Aktienge- beschränken Sie sich darauf, Betriebsverlagerungen aus sellschaft den geringsten gemeinsamen Nenner darstellt Deutschland gewissermaßen unter Steuerstrafe zu stel- und es den Mitgliedstaaten der EU in vielen Bereichen len. Unser Land hat wahrlich mehr verdient als eine überlassen bleibt, in welcher Form sie diese Rechtsform Bundesregierung, die das Vertrauen in den Wirtschafts- in ihren Ländern umsetzen wollen. Damit erhält die SE standort Deutschland verloren hat und deshalb Barrieren keinen Sonderstatus neben den anderen Unternehmens- für Unternehmen einführen will. formen. Sie lädt Unternehmen damit, beispielsweise im Auch CDU/CSU und SPD müsste klar sein, dass Sie steuerlichen Bereich, auch nicht zu Gestaltungen ein, um so bestenfalls einen Niedergang aufhalten können, aber die Steuerlast weiter zu optimieren. niemals einen Aufschwung herbeiführen werden. Es Entsprechend liegt dem Bundestag der Gesetzentwurf zeigt sich einmal mehr: Das Einzige, was an dieser so über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der genannten großen Koalition groß ist, das ist ihre Hilfs- Europäischen Gesellschaft – SEStEG – vor. Dieser soll und Konzeptionslosigkeit. Was ist denn aus dem „Mehr die steuerlichen Vorschriften in der Bundesrepublik an Freiheit wagen“ von Frau Merkel geworden? Was hat es, betroffene Umstrukturierungen zur Gründung von euro- bitte schön, mit mehr Freiheit zu tun, wenn Sie die Un- päischen Aktiengesellschaften anpassen. ternehmen über das Steuerrecht am Standort zu halten versuchen? „Mehr Freiheit wagen“, das heißt für mich, Dieser Gesetzentwurf hat bereits im Vorfeld sowohl dem Land auch etwas zutrauen. Es ist ganz sicher nicht die Wirtschaft als auch das politische Umfeld gespalten: schön, wenn Unternehmen abwandern. Deshalb sollten So monieren zum Beispiel Ländervertreter im Wirt- Sie sich einmal fragen, weshalb die Betriebe gehen. Un- schaftsausschuss des Bundesrates, dass der Gesetzent- ser eigentliches Problem ist nämlich nicht nur, dass die wurf der Bundesregierung an verschiedenen Stellen „zu Unternehmen abwandern, sondern dass in Deutschland weit“ und über die EU-Fusionsrichtlinie hinausgeht. nicht mehr investiert wird. Und daran ändern Sie mit Umgekehrt fordert der Finanzausschuss des Bundesrates diesem Gesetz nichts. Im Gegenteil: Ihr Gesetz verhin- Regelungen, die das vorliegende Gesetz noch verschär- dert neue Investitionen. fen. Dies verdeutlicht einmal mehr die aus unserer Sicht gegenläufigen Interessen von Teilen der Wirtschaft auf Die FDP hat Vertrauen in die Kraft unseres Landes. der einen und der öffentlichen Hand auf der anderen Wir trauen den Unternehmen und den Bürgerinnen und Seite. Denn Dreh- und Angelpunkt des Gesetzentwurfes Bürgern etwas zu. Deshalb setzen wir auf eine konse- ist, unter welchen steuerlichen Bedingungen Unterneh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5335

(A) men fusionieren, Holdinggesellschaften und Töchter Durchschnitt zu kürzen. So könnten Verlustrückträge (C) gründen und – nicht zuletzt – ihren Geschäftssitz bzw. grundsätzlich abgeschafft und -vorträge auf fünf bis ihre Vermögenswerte ins Ausland verlegen und – bei sechs Jahre begrenzt werden. Dies würde die Einnahme- letzterem – dem Fiskus als Steuerzahler verloren gehen. situation der öffentlichen Haushalte erheblich verbes- sern. Gerade für die Fälle der im Steuerdeutsch bezeichneten Entstrickung – der Verlagerung von Vermögenswerten der Grundsätzlich positiv bewerten wir auch die Vor- Unternehmen ins Ausland – sieht die Bundesregierung schriften zur so genannten Verstrickung zur Einführung durch die vorliegenden Änderungen im Einkommen-, von Vermögenswerten oder Wirtschaftsgütern in die Körperschaft- und Außensteuerrecht Verschärfungen vor: Bundesrepublik. Hier sorgen Sie dafür, dass Unterneh- So sollen in den Fällen, in denen zum Beispiel Vermö- men nur wenn die stillen Reserven in Bezug auf das be- gen das Unternehmen verlässt, Wirtschaftsgüter dem Zu- treffende Wirtschaftsgut zuvor aufgedeckt und versteuert griff des Fiskus entzogen werden oder die Steuerpflicht wurden, neue Abschreibungsmöglichkeiten in Anspruch im Inland endet, stille Reserven aufgedeckt und hier so- nehmen können und weniger Steuern bezahlen. fort besteuert werden. Diese Regelung begrüßen wir. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die Pro- Nicht zuletzt der Europäische Gerichtshof selbst hat der bleme, die seitens verschiedener Experten bezüglich der Bundesrepublik das Recht zugestanden, die Wertzu- Europarechts- und Verfassungskonformität aufgelistet wächse seiner Steuerpflichtigen zu besteuern. werden, müssen im kommenden Gesetzgebungsverfah- Die sofortige Versteuerung der stillen Reserven in den ren geprüft werden. Konsens für die Begleitung der SE Fällen, in denen das Besteuerungsrecht der Bundesre- durch steuerliche Maßnamen muss aber sein, dass die publik eingeschränkt wird oder gänzlich wegfällt, wird Gründung einer SE nicht mit massiven steuerlichen allerdings als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit Gestaltungsmöglichkeiten und damit Entlastungen für bewertet. Auch wenn wir diese Bewertung kritisch sehen, Unternehmen einhergeht. Dieser Ansatz ist bisher durch muss dies im Gesetzgebungsverfahren geprüft, gegebe- den Gesetzentwurf im Wesentlichen gewahrt. Die Bun- nenfalls europarechtskonform gestaltet oder aber eine desregierung lässt – zumindest bei einem großen Teil der Regelung für alle Unternehmen eingeführt werden. Regelungen – sogar eine erstaunenswerte Konsequenz erkennen. So gäbe es für die Bundesregierung zum Beispiel die Möglichkeit, bisher unversteuerte Wertzuwächse der Un- Nun sind Sie aufgefordert, diese Konsequenz auch im ternehmen, die stillen Reserven, grundsätzlich zu besteu- Rahmen der kommenden Unternehmensteuerreform zu ern. Damit würde die Steuerlast nicht erst im Moment beweisen, wenn es darum geht, die steuerliche Bemes- des Wegzuges des Unternehmens anfallen, europäisches sungsgrundlage für Unternehmen zu verbreitern. Recht bliebe gewahrt. Gleichzeitig könnte der Fiskus (B) durch die schrittweise Einführung der Besteuerung stil- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) ler Reserven Milliardensummen an Steuermehreinnah- Mit der Einführung der Europäischen Gesellschaft und men erzielen. So würden allein bei den Immobilien der der Europäischen Genossenschaft haben wir erste Unternehmen durch die Anpassung der Buch- an die Ver- Schritte unternommen, damit Unternehmen sich euro- kehrswerte und entsprechende Versteuerung mittelfristig päisch aufstellen können. Das waren die gesellschafts- rund 10 Milliarden Euro jährlich mehr in die öffentlichen rechtlichen Voraussetzungen. Jetzt, bei diesem Gesetz Haushalte fließen. Wir fordern die Bundesregierung auf, über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der dies im Rahmen der Unternehmensteuerreform umzuset- europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer zen. steuerlicher Vorschriften, geht es um eine Reihe steuer- rechtlicher Fragen, mit denen weitere Hürden für grenz- Darüber hinaus unterstützen wir die Bundesregierung überschreitende wirtschaftliche Tätigkeit abgebaut wer- ebenfalls darin, dass sie bei Fusionen von Unternehmen den sollen. Für uns bleiben bei dem Entwurf, den die zukünftig verbieten will, dass ein Unternehmen die Ver- Bundesregierung vorgelegt hat, noch eine Reihe von lustvorträge des anderen Unternehmens übernehmen Fragen offen, die wir in den weiteren Beratungen und kann. Gerade die Regelungen für Verlustvorträge sind in bei der anstehenden Anhörung klären müssen. der Bundesrepublik großzügiger als in den Mehrzahl der anderen europäischen Staaten. Sie mindern die Steuerlast Zunächst geht es bei der Gesetzesinitiative darum, von Unternehmen in erheblichem Umfang. Deshalb sind dass Deutschland die EU-rechtlichen Vorgaben einhält, sie bei Fusionen von Unternehmen äußerst willkommen, ohne gleichzeitig sein Steuersubstrat zu verlieren. Es nicht selten sind sie sogar ein Grund für Fusionen. Am wird im Ausschuss zu diskutieren sein, ob die Wegzugs- Ende des Jahres 2001 verblieben allein den Kapitalge- besteuerung hier der richtige Weg ist. Viele Expertinnen sellschaften in der Bundesrepublik Verluste in Höhe von und Experten schätzen sie als europarechtswidrig ein: In fast 400 Milliarden Euro, die sie in die nächsten Jahre einem einheitlichen Binnenmarkt darf es steuerrechtlich mitnehmen und entsprechend ihre Steuerzahlung schmä- keinen Unterschied machen, ob eine Betriebsstätte von lern konnten. Dies verdeutlicht die erhebliche Dimen- Berlin nach Hamburg oder nach Warschau verlegt wird. sion dieser Großzügigkeit für die öffentliche Hand. Um- Der Grundsatz, nach dem eine Verlagerung innerhalb ei- gekehrt birgt eine grundsätzliche Beschränkung der nes Staates genauso behandelt werden muss wie eine Regelungen des Verlustausgleichs auch für inländische grenzüberschreitende Verlagerung, wird offenkundig Unternehmen ein erhebliches Einnahmepotenzial. Auch verletzt. Ich meine, wir sollten uns gut überlegen, ob das hier fordern wir die Bundesregierung auf, im Rahmen Gesetz vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand ha- der Unternehmensteuerreform die Verlustverrechnungs- ben wird. Denn die Unsicherheit, die durch schwebende regelungen für Unternehmen auf den europäischen steuerrechtliche Verfahren entsteht, sollten wir für die 5336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Unternehmen, aber auch aus fiskalischen Gründen ver- wird. Und, was viele nicht erwarten: Es gibt eine (C) meiden. Denn es bedeutet immer unkalkulierbare Risiken Schnittmenge zwischen den meisten Fraktionen in die- für den Bundeshaushalt, wenn aufgrund einer Entschei- sem Haus, das heißt einige Gemeinsamkeiten. Das ist dung des EUGH die Steuereinnahmen wegbrechen. Wir – weiß Gott – nicht selbstverständlich, jedoch nachzule- brauchen also in den Beratungen eine eindeutige Klä- sen in dem regelmäßig zum Datenschutzbericht gemein- rung der Frage, wie das Gesetz europarechtlich hieb- sam zustande gebrachten Entschließungsantrag. und stichfest gemacht werden kann. Bei dem heute von den Grünen vorgelegten Antrag Klar ist aber auch, dass Deutschland ausreichende geht es im Wesentlichen um eine Änderung oder – ge- Steuereinnahmen braucht, um die von Privaten und Un- nauer – Ausweitung des Bundesdatenschutzgesetzes. ternehmen in Anspruch genommenen öffentlichen Leis- Mit der vorgeschlagenen Regelung streben Sie eine tungen auf diesem hohen Niveau finanzieren zu können. deutliche Steigerung der Pflichten für die deutschen Un- Deswegen muss gelten: Wertzuwächse müssen für die ternehmen im Hinblick auf gespeicherte und verwertete deutschen Steuerbehörden greifbar sein. Deswegen muss Datensätze an. Dass ausgerechnet Sie von den Grünen es bei der Hebung von stillen Reserven zu einer Besteue- und ausgerechnet im Bereich des Datenschutzes nachah- rung kommen, die den deutschen Fiskus berücksichtigt. menswerte Beispiele in den USA finden würden, hätte Das kann in einem einheitlichen europäischen Wirt- ich mir bisher nicht träumen lassen, aber immerhin. Als schaftsraum, in dem das EU-Recht eine Ungleich- Vorbild diente Ihnen in dem vorgelegten Antrag nämlich behandlung von In- und Ausländern verbietet, eigentlich der „Security Breach Information Act“, der in Kalifor- nur mit der Einführung einer gemeinsamen Körperschaft- nien seit dem 1. Juli 2003 gilt. Damit werden Unterneh- steuerbemessungsgrundlage geschafft werden. Hier muss men dieses US-Bundesstaats dazu verpflichtet, ihre die Bundesregierung – vor allem im Rahmen ihrer EU- Kunden umgehend darüber zu informieren, „wenn deren Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr – für eine For- persönliche Daten möglicherweise nicht vertraulich cierung des Verhandlungstempos sorgen. Kleinteilige Lösungen auf nationalstaatlicher Ebene bleiben hinter behandelt worden sind. Das ist der Fall, wenn Unterneh- dem europäischen Ansatz weit zurück. Außerdem müs- men die Daten der Kunden nicht ordnungsgemäß schüt- sen wir sehen, ob die Bedenken des Bundesrates und zen oder die Kunden nicht über unbefugte Zugriffsversu- großer Teile der Industrie stichhaltig sind. Von dieser che informieren“, so laut dem weltweit im Bereich Seite wird befürchtet, dass die deutschen Unternehmen „Daten und Sicherheit“ agierenden Unternehmen Syman- über Gebühr belastet werden. Dann würde das Ziel, das tec. Kommen die Unternehmen dieser Pflicht nicht nach, mit der Einführung der Europäischen Gesellschaft und müssen sie mit einer zivilrechtlichen Klage oder einer der Europäischen Genossenschaft verfolgt wurde, kon- einstweiligen Verfügung rechnen. Es gibt also nicht nur terkariert. Wie das vermieden werden könnte, auch dazu juristische Konsequenzen, sondern bei entsprechender (B) sollen uns die weiteren Beratungen Aufklärung liefern. Veröffentlichung wird es neben der zu erwartenden Ruf- (D) schädigung auch zu einem Vertrauensverlust beim Kun- Auch bei einer anderen Vorschrift des Gesetzes drohen den kommen. So viel zur Situation in Kalifornien, wobei Konflikte mit dem Bundesrat und mit Vertretern der Wirt- ich, mit Verlaub gesagt, jede Parallele zu den USA im schaft. Bei grenzüberschreitenden Fusionen sollen künf- Bereich des Datenschutzes für bedenklich halte. Auch tig keine Verluste mehr übertragen werden können. Denn darüber haben wir uns schon mehrfach hier in diesem es kann nicht angehen, dass sich deutsche Unternehmen Hause auseinander gesetzt. durch die Übernahme von Schulden ihres Fusionspartners vor dem deutschen Fiskus arm rechnen können. Auch Wir können nicht auf der einen Seite die USA, in de- hier wird wieder deutlich, dass für einen Binnenmarkt nur nen fast alle Daten ungeschützt „kursieren“ und vor al- eine konsolidierte Bemessungsgrundlage mit Verlustver- lem bei den Bürgerinnen und Bürgern kaum Bewusst- rechnung wirklich passt. Bei der Gesetzgebung wird es sein für sensiblen Datenbestand existiert, als Vorbild in notwendig sein, hierbei die Balance zu wahren zwischen Sachen Datenschutz heranziehen, wie dies in diesem zwei berechtigten Anliegen: Einerseits wollen wir deut- Antrag geschieht, andererseits aber – undifferenziert – schen Unternehmen Fusionsmöglichkeiten mit ausländi- ein fast uneingeschränktes Recht auf informationelle schen Unternehmen nicht verbauen, andererseits gilt es, Selbstbestimmung einfordern, selbst dann, wenn es um das deutsche Steuersubstrat zu sichern und für den Fiskus den Bereich der inneren Sicherheit geht. Diese Meinung zugänglich zu machen. Wie dieser Spagat zu meistern ist, wird im Übrigen von den meisten Bürgerinnen und Bür- werden wir im Ausschuss diskutieren müssen. gern geteilt, wenn man Umfragen etwa zur Videoüber- wachung glauben darf.

Anlage 16 Völlig selbstverständlich ist aber für uns, dass es eine Rechtsgrundlage geben muss. Auch wenn gestern im In- Zu Protokoll gegebene Reden nenausschuss im Zusammenhang mit dem Thema „Flug- gastdaten“ das Fehlen einer solchen Rechtsgrundlage zur Beratung des Antrags: Informationspflicht festgestellt werden musste – nach EU-Recht –, ist unser für Unternehmen bei Datenschutzpannen ein- Sicherheitsstandard mit dem in anderen Ländern kaum führen (Tagesordnungspunkt 26) vergleichbar. Dabei haben Datensicherheit und Daten- schutz einen sehr hohen Stellenwert. Insofern haben wir Beatrix Philipp (CDU/CSU): Der Datenschutz ist – wie bei der zurzeit aktuellen Diskussion um die von ein Thema, das uns in den vergangenen Monaten recht der belgischen Firma SWIFT an die USA weitergegebe- oft beschäftigt hat und auch in Zukunft beschäftigen nen Daten – ein großes Problem. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5337

(A) Wie wir immer wieder spüren, spielt der Antiterroris- spielsweise in Form von Identitätsdiebstählen, nimmt zu. (C) muskampf in den USA vielleicht eine noch größere Bei einem Identitätsdiebstahl missbraucht jemand die Rolle als bei uns. Jedoch sind die Ansprüche an wirk- persönlichen Daten eines Dritten, um beispielsweise same Rechtsgrundlagen und damit verbunden an die Kreditkartenbetrug oder Bankbetrug zu begehen. Das ist Rechtmäßigkeit des Umgehens mit Daten offensichtlich ein ernst zu nehmendes Problem, dem wir uns widmen erheblich andere. Hier sind wir am entscheidenden müssen. Aber gerade weil es sich um ein ernst zu neh- Punkt: Der Antrag der Grünen suggeriert, dass es in mendes Problem handelt, müssen wir uns sehr genau an- Deutschland keine adäquate Regelung des Datenschut- sehen, wie wir diesem Problem begegnen. zes in Bezug auf den Schutz der Bürgerinnen und Bürger Die Grünen wollen eine Informationspflicht für Un- gäbe. Das ist definitiv falsch. ternehmen einführen. Die Unternehmen sollen ihre Kun- Ich nenne ein paar Beispiele: Das Bundesdaten- den darüber informieren, wenn sie bei der Erhebung, schutzgesetz regelt in § 4 zunächst die Zulässigkeit der Speicherung oder Verwertung personenbezogener Daten Datenerhebung im Allgemeinen, die grundsätzlich von der Kunden ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben. Kom- der Zustimmung des Betroffenen oder vom Bestehen ei- men sie ihrer Informationspflicht nicht nach, sollen sie ner ausdrücklichen gesetzlichen Norm abhängt. In § 7 ein Bußgeld zahlen. Hintergrund des Antrags ist offen- Bundesdatenschutzgesetz wird ausdrücklich ein Scha- bar der kalifornische „Security Breach Information Act“, denersatzanspruch des Betroffenen für den Fall, dass der Unternehmen verpflichtet, ihre Kunden sofort zu in- diesem aufgrund einer unzulässigen oder unrichtigen Er- formieren, wenn die vertrauliche Behandlung ihrer per- hebung seiner Daten ein Schaden entstanden ist, zuge- sonenbezogenen Daten nicht mehr gewährleistet ist. standen. Insofern ist die Einführung eines Schadener- Ich halte eine derartige Änderung des Bundesdaten- satzanspruches bereits erfolgt. schutzgesetzes für überstürzt. Bevor hier tatsächlich Neu wäre in der Tat die Einführung eines Bußgeldtat- wieder neue Vorschriften und Informationspflichten für bestandes, der bereits „früher“ ansetzt. So heißt es in Ih- Unternehmen in das Bundesdatenschutzgesetz aufge- rem Antrag, dass die Konsumenten wissen müssten, ob nommen werden, müssen einige Fragen geklärt werden: die Gefahr bestehe, dass ihre Daten missbraucht werden Zunächst müssen wir doch genau untersuchen, ob über- könnten. Das könnte zum Beispiel schon zum Zeitpunkt haupt Gesetzgebungsbedarf besteht. Reichen die beste- der vermutlichen oder unmittelbaren Gefährdung der henden Instrumente im Datenschutzrecht, beispielsweise Daten etwa aufgrund eines Einbruchs oder ähnlicher Ge- die Kontrolle privater Unternehmen nach § 38 des Bun- schehnisse der Fall sein. Es wird zu überprüfen und zu desdatenschutzgesetzes, und die Straf- und Bußgeldvor- überlegen sein, inwieweit tatsächlich eine gesetzliche schriften der §§ 43 und 44 des Bundesdatenschutzgeset- zes nicht vielleicht aus? Besteht hier tatsächlich Bedarf (B) Verankerung im Bundesdatenschutzgesetz angemessen (D) wäre. zur Erweiterung des Datenschutzrechts? Ist eine der- artige Informationspflicht von Unternehmen überhaupt An dieser Stelle erinnere ich an ein weiteres Thema, sinnvoll und wirksam zur Verhinderung von Datenmiss- das wir uns in dieser Legislatur zur Aufgabe gemacht ha- brauch? ben: den Bürokratieabbau. Müssen wir uns nicht öfter fragen, ob das, was wir fordern, tatsächlich unabdingbar Im Sinne des Bürokratieabbaus muss außerdem erst ist? Ist nicht unser Datenschutzgesetz ein so umfassen- einmal geprüft werden, welcher Verwaltungsaufwand des, dass es keiner „Erweiterung“ bedarf, dass es aber oft bei den verpflichteten Unternehmen entstehen würde, an der Umsetzung der Pflichten und Einhaltung der Re- um etwa bestehende Missstände unverzüglich zu erken- geln mangelt? Belasten wir mit einer immer weiter aus- nen und darüber unverzüglich zu informieren. Denn nur ufernden Gesetzgebung nicht gerade die erneut, die wir eine zeitnahe Information kann meines Erachtens über- eigentlich entlasten wollen, Arbeitgeber, Mittelstand haupt sinnvoll sein. Steht dieser Aufwand dann noch in etc.? So wird auch die Frage nach dem Aufwand bei der Relation zu der Wirkung der Informationspflicht? Feststellung und dem Nachweis einer Sorgfaltspflicht- Ich halte es auch nicht für sinnvoll, ohne nähere Prü- verletzung zu stellen sein. Schließlich bringen wir mit fung der Zusammenhänge ein Gesetz einer anderen derartigen „Verfeinerungen“ gerade die „Kleinen“ in Be- Rechtsordnung zum Vorbild zu nehmen. Vor welchem drängnis: den Arzt, der nicht nach jedem Eintrag in die rechtlichen und tatsächlichen Hintergrund kam es in Ka- Patientenkartei den PC schließt, den Apotheker, bei dem lifornien zu diesem „Security Breach Information Act“? die Kasse geplündert und die Reinigung, der das Auf- Welche Erfahrungen hat der US-Bundesstaat in der Zwi- tragsbuch gestohlen wird. schenzeit mit diesem Gesetz gemacht? Darüber hinaus Kurz: Es gibt eine Menge Fragen, die zu beantworten wäre es sicherlich sinnvoll, sich anzuschauen wie andere sind. Abwägungen sind vorzunehmen und das richtige Staaten mit diesem Problem umgehen und auch deren Maß ist zu finden. In der derzeitigen Form ist der Antrag Erfahrungen zu evaluieren, denn Datenmissbrauch ist nicht zustimmungsfähig. Wir stimmen aber einer Über- ein internationales Problem. weisung in den Innenausschuss zu. Es gibt jede Menge offene Fragen. Das macht deut- lich, dass der vorliegende Antrag nicht entscheidungsreif Dr. Michael Bürsch (SPD): Der Antrag der Fraktion ist. Wie eingangs bemerkt, ist es gut, dass der Antrag un- des Bündnisses 90/Die Grünen beschäftigt sich mit ei- sere Aufmerksamkeit auf das Problem des Datenmiss- nem Problem, das aktuell und wichtig ist. Die unbefugte brauchs lenkt; aber Hektik ist sicherlich kein guter Rat- und auch kriminelle Nutzung persönlicher Daten, bei- geber bei der Gesetzgebung. 5338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Gisela Piltz (FDP): Der Antrag will den Datenschutz steigen. Angesichts des bestehenden Systems der be- (C) verbessern und dabei vor allem vor Identitätsdiebstahl trieblichen Datenschutzbeauftragten haben wir aber be- schützen. Diese Anliegen teilt die FDP uneingeschränkt. reits ein kostenintensives System. Die zweimalige büro- Gerade auch die zunehmende Ansammlung von Daten in kratische Belastung der Unternehmen für denselben der Hand Privater und die im Vordringen befindlichen Zweck bedarf nach Ansicht der FDP schon der besonde- Score- und Ratingverfahren, mit deren Hilfe zuneh- ren Rechtfertigung. mende Bereiche der Privatwirtschaft ihre Auswahl an Vertragspartnern und die Art des jeweiligen Angebotes Wenn wir die Sache praktisch betrachten, dann unter- anhand der Attraktivität des möglichen Vertragspartners scheidet uns noch etwas entscheidend von den USA: Bei nach pauschalisierten Kriterien bestimmen will, geben uns gibt es bereits veröffentlichte Berichte sogar von be- Anlass, hier über eine Verbesserung der aktuellen Lage rufener Stelle. Die Berichte der Datenschützer und der nachzudenken. Auch die Gefahr des „Identitätsdieb- betrieblichen Datenschützer existieren bereits. Machen stahls“ durch die unkontrollierte Verbreitung persönli- wir ein verpflichtendes Datenschutzaudit und verpflich- cher Daten muss sehr ernst genommen werden. Grund- ten wir die Betriebe, die Berichte ihrer betrieblichen Da- sätzlich ist eine bessere Information der Verbraucher tenschutzbeauftragten jedem Geschäftspartner – ganz begrüßenswert. Die FDP will die Informationsfreiheit ähnlich wie bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen – und die informierte Verbraucherentscheidung. vor Vertragsschluss zugänglich zu machen. Damit wäre die informierte Verbraucherentscheidung um einiges Aber schlägt dieser Antrag geeignete Maßnahmen besser sicherzustellen als eine breite und damit letztlich vor, um den Problemen beim Datenschutz zu begegnen? weitgehend wirkungslose Veröffentlichung. Denn dass Wir haben hier in Deutschland ein komplett anderes Sys- die im Antrag geforderte allgemeine Veröffentlichung tem als in den USA, um den Datenschutz zu gewährleis- mehr Aufmerksamkeit erregen soll als die regelmäßigen ten. Hier existiert bereits ein etabliertes Schutzsystem Berichte der Datenschützer oder die veröffentlichungs- mit betrieblichen Datenschutzbeauftragten. Die FDP hält pflichtigen Angaben aus dem Handelsregister, ist nicht das bewährte System der Datenschutzbeauftragten ge- plausibel. genüber der Informationspflicht für Unternehmen bei Verstößen für sehr bewährt, da im Alltagsgeschäft auch Eins zeigt dieser Antrag aber auch in aller Deutlich- eine präventive Wirkung erzielt wird und zudem eine ef- keit: Es ist dringend notwendig, das Bundesdatenschutz- fektivere Kontrolle vorgenommen wird als in den USA. gesetz endlich an die modernen Herausforderungen für den Datenschutz anzupassen. Das Recht auf informatio- Die Frage kann also nur heißen: Wollen und vor allem nelle Selbstbestimmung ist zunehmenden Gefahren eben brauchen wir diese Informationspflicht der Unternehmen wegen der neuartigen Umgangsmöglichkeiten mit per- (B) zusätzlich zu unseren bestehenden Regelungen und wie sönlichen Daten durch die verbesserten Möglichkeiten (D) passen diese Regelungen zusammen? der Datenaufbereitung zur Erstellung von Score- und Die Nutzung der Konsumentenmacht als Mittel zur Ratingwerten und durch die Technologie RFID ausge- verbesserten Durchsetzung individueller Rechte ist setzt. Darauf muss in einem modernisierten Bundesda- schwer dosierbar und reagiert letztlich unkontrollierbar tenschutzgesetz angemessen reagiert werden. und oft irrational. Die letztlich mittelalterliche Methode Was bei der Modernisierung des Bundesdatenschutz- des Prangers ist weder gerecht noch zwangsläufig wirk- gesetzes auf die Tagesordnung gehört, ist die Informa- sam. Auf der einen Seite kann gelten: Ist der Ruf erst rui- tion der von einer Datenschutzpanne betroffenen Perso- niert, lebt es sich ganz ungeniert. Die Wirkung ist je nen. Es ist aus der Sicht der FDP sinnvoll, demjenigen, nach Betätigung des Unternehmens sehr unterschiedlich. dem Gefahren für sein informationelles Selbstbestim- Auf der anderen Seite wird ein Institut für Meinungsfor- mungsrecht drohen, stärkere Rechte in die Hand zu ge- schung etwa nur noch schwer freiwillige Teilnehmer bei ben. Ein Informationsrecht, ein Schadenersatzanspruch den Umfragen finden, wenn den betreffenden Personen und ein Folgenbeseitigungsanspruch zugunsten der Be- bekannt ist, dass dieses Institut den Datenschutz nicht troffenen und ein Recht auf Sammelklage würden wohl einhält. der Effektivität des Schutzes vor Datenschutzverstößen Die von den Grünen geforderte Informationspflicht weitaus besser gerecht als die in dem Antrag geforderte hat auch noch andere unerwünschte Nebeneffekte. Es allgemeine Informationspflicht. Welche durchschla- gibt keine „Resozialisierung“, die Wirkung entfaltet sich gende Wirkung diese Instrumente haben können, wird in der Zukunft, egal wie das Unternehmen sonst das Da- uns auch gerade in den USA demonstriert. Dort werden tenschutzniveau in der Vergangenheit gestaltet hat und in Sammelklagen gegen AOL wegen einer datenschutzwid- der Zukunft gestalten wird. Das ist ungerecht. rigen Veröffentlichung von Suchanfragen eingereicht. Bei rund 660 000 Betroffenen und mindestens 5 000 Dollar Zudem ist schon fraglich, ob diese Regelung die Sen- Schadenersatz pro Person droht damit AOL nach Exper- sibilität in der Bevölkerung für die Gefahren im Bereich tenmeinung eine Klage über 3,3 Milliarden Dollar. Das des Datenschutzes verbessert. Zahlreiche Bagatellmel- sind dann auch für die Privatwirtschaft durchschlagende dungen können auch abstumpfen und damit genau das Argumente für einen ausreichenden Datenschutz. Gegenteil bewirken. Und letztendlich schafft die Informationspflicht für Jan Korte (DIE LINKE): Um es gleich vorweg zu die Unternehmen weitere bürokratische Pflichten. Der sagen: Ich finde diesen – zugegebenermaßen etwas Büroaufwand der Unternehmen und damit die Kosten kleinteiligen – Antrag der Grünen unterstützenswert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5339

(A) Angesichts spektakulärer Datenschutzpannen in der Ver- Schlampigkeit wie Vorsätzlichkeit muss nicht nur (C) gangenheit ist eine Informationspflicht für Unternehmen bußgeldbewehrt sein. Es müssen auch klare und vor al- absolut notwendig. Es handelt sich dabei selten um Ka- lem weiter gehende Regelungen zu Schadensansprüchen valiersdelikte oder Bagatellen, sondern wir haben es mit und Haftung getroffen werden. Die einschlägigen Rege- der hoch technisierten und automatisierten Datenverar- lungen im TMG reichen bei weitem nicht aus, wie der beitung, die auch schon kleinste Unternehmen betreiben, Fall eines Frauenhauses in der Nähe von Tübingen mit einem Kernbereich schutzwürdiger Belange von zeigte. Dort hatte die Telekom die Anschrift des Frauen- Bürgerinnen und Bürgern zu tun. Auf der einen Seite hauses trotz Sperrvermerk im Telefonbuch veröffentlicht geht es um das Vertrauen, dass ich als Kunde meine Da- und die Daten an zahlreiche Adresshändler verkauft. Das ten in gute Hände gebe. Auf der anderen Seite geht es Frauenhaus musste schließen, die Bewohnerinnen und um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, ihre Kinder wurden kurzerhand in städtische Wohnun- also das Recht, selbst entscheiden zu können, welche In- gen und andere Frauenhäuser umquartiert. Der Verein formationen ich öffentlich mache und wie ich damit in stand daraufhin vor dem Aus, weil der Schaden, den die der Öffentlichkeit wahrgenommen werden will. Schlampigkeit der Telekom verursachte, deutlich in den Vor diesem Hintergrund ist es beispielsweise bedenk- sechsstelligen Bereich ging. Natürlich weigerte sich die lich, dass das Berliner Verwaltungsamt mit den Abrech- Telekom, Schadensersatz zu leisten, weil man der Mei- nungen von Pensionären sensible Daten anderer Pensio- nung war, dass der Verrat von Kundengeheimnissen zum näre verschickte. Ursache war eine Computerpanne. Lebensrisiko gehört. Ein Telekommanager ließ sich so- gar damit zitieren, dass es doch ganz gut sei, wenn das In warfen Mitarbeiter eines Klinikums ärztliche Frauenhaus nun bekannter sei. In solch gravierenden Atteste, Anschriften von therapierten Kindern, interne Fällen muss nicht nur ein Schadensersatz fällig sein, Dokumente mit Patientendaten und ganze Krankheits- sondern auch eine saftige Strafe. verläufe in eine öffentlich zugängliche Mülltonne, an- statt diese Unterlagen zu schreddern. Es gibt also noch viel zu tun. Das Problem ist doch, dass die Novelle des Datenschutzrechts 2001 in einem 2001 konnten Sparkassenkunden, die sich in das On- guten Ansatz stecken geblieben ist. Gerade von den Kol- line-Banking einloggten, gleich die Kontodaten zahlrei- leginnen und Kollegen der Grünenfraktion würde ich cher anderer Kunden betrachten. mir da das eine oder andere selbstkritische Wort wün- Die Protokolle einer Notenkonferenz mit Hinweisen schen. Wir brauchen das Auditgesetz, wir brauchen eine wie „Wolfgang kriegt keinen ordentlichen Satz zu Pa- Vernetzung der Kontrollinstanzen, die Stärkung der be- pier“ oder „Fritzchen stand kurz vor dem Selbstmord“ trieblichen und behördlichen Datenschutzbeauftragten, (B) fanden sich auf einem ungesicherten Laufwerk einer das Arbeitnehmerdatenschutzgesetz und vieles andere (D) Schule und wurden als Pausengag auf dem Schulhof ver- mehr. teilt. Was wir aber vor allem brauchen, ist die Einsicht der Im Microsoft-Fanshop konnte man im Jahr 2000 Bundesregierung, dass nicht nur für private Stellen, son- durch kleine Änderungen in der Browserzeile auf Daten dern auch und gerade für staatliche Stellen der Umgang anderer Kunden des Shops zugreifen. mit Daten sensibel ist und dass der Datenschutz eine hohe Wertschätzung verdient. Tatsächlich ist der Staat Erst im April geriet der DSL-Anbieter „DSL on Air“ aber die übelste Datenkrake von allen. Im Falle des in die Kritik, weil selbst technisch unbegabte Menschen Lauschangriffs, des neuen Reisepasses oder der Anti- auf komplette Kundendaten einschließlich Auftragssta- terrordatei ist es Vorsatz. Bei der Vorratsdatenspeiche- tus und Bankverbindung nicht nur zugreifen, sondern rung treffen sich Vorsatz und Schlampigkeit. Im Falle auch Änderungen vornehmen konnten. der skandalösen Datenschutzlücken beim Arbeitslosen- Diese Beispiele zeigen, dass die mit treuen Augen ab- geld II und der Software A2LL ist es schlicht Schlam- gegebenen Versprechen vieler Unternehmen, sorgsam pigkeit, gepaart mit einer ordentlichen Portion Ignoranz. und verantwortungsbewusst mit Kundendaten umzuge- Mit der Volkszählung wird die Koalition dem Ganzen hen, oft das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrie- vermutlich noch die Krone aufsetzen. ben sind. Vor diesem Hintergrund scheint es mir sinn- Was wir also brauchen, ist die Einsicht, dass Daten voll, analog zu den gerade diskutierten Regelungen in schützenswert sind und dass man den Datenschutz nicht Sachen Gammelfleisch, Kunden und die allgemeine Öf- einfach unter der Überschrift „Bürokratieabbau“ über fentlichkeit nicht darüber in Unkenntnis zu lassen, wer Bord wirft, wie es die große Koalition gerade tut. Leider fahrlässig mit den ihm anvertrauten Daten umgeht. kann der Deutsche Bundestag eine solche Einsicht nicht Wie beim Gammelfleisch kann eine solche Informa- beschließen. Aber wir sollten uns wenigstens an unsere tionspflicht jedoch nur eine Seite der Medaille sein, weil eigenen Beschlüsse erinnern, wie zum Beispiel an Bun- dann das Kind sozusagen schon in den Brunnen gefallen destagsdrucksache 14/9490 – Entschließung zum 18. Tä- ist. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass der Datenschutz tigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten –, nicht als lästiges Hindernis auf dem Weg zu Gewinnen Bundestagsdrucksache 14/9709 – Beschluss „Umfas- angesehen wird, sondern als Teil der Qualitätsphiloso- sende Modernisierung des Datenschutzes“ – oder die phie und der Verantwortung den Partnern des Unterneh- Entschließung zum 19. Tätigkeitsbericht des Daten- mens gegenüber. Daher bedarf es noch weiterer Schritte. schutzbeauftragten auf Bundestagsdrucksache 15/4597. 5340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Dann müssten wir hier nicht zu später Stunde klein- besteht, greift auch dieser zu kurz. Die Beweispflicht für (C) teilige Anträge diskutieren, sondern schafften ein moder- Sorgfaltspflichtverletzungen liegt bei dem Betroffenen. nes Datenschutzrecht, das diesen Namen auch verdient, Es ist an der Zeit, diesen Umstand zu ändern. Ich sage indem es den Datenschutz im Steuerrecht, in der Gen- das ganz offen: Es wäre das Beste, nicht am bestehenden technik und den Arbeitnehmerdatenschutz realisiert, da- Gesetz herumzuflicken, sondern die weit gediehenen tenschutzgerechte Technik fordert und vor allem gleiche Vorarbeiten für ein völlig neues Datenschutzgesetz auf- Schutzniveaus in allen Bereichen herstellt. Schauen Sie zugreifen. Ich hoffe sehr auf ein Signal des Bundesin- dazu einmal in den 20. Tätigkeitsbericht des Bundesda- nenministers, hier entschlossen voran zu gehen. tenschutzbeauftragten. Auf Seite 22 sind die bekannten Vorschläge alle aufgelistet. Aber wie ich hörte, gibt es Andere Länder sind beim Schutz der Konsumenten im Innenausschuss schon Mitglieder, die diesen Tätig- schon weiter. Das gilt in bestimmten Fällen sogar für keitsbericht nicht einmal diskutieren wollen, weil er einzelne Bundesstaaten der USA. Da reibt man sich ver- schon so lange zurückliegt, der neue bald kommt und wundert die Augen. Während wir etwa bei der Behand- man ja nicht für nichts und wieder nichts die Auseinan- lung der Flugdaten europäischer Passagiere oder beim dersetzung mit diesem Bericht behindert haben will. Geldtransfer riesige Probleme mit den Vereinigten Staa- ten haben, ist Arnold Schwarzenegger hier Wolfgang Sie sehen, Teil des Problems sind also nicht nur die Schäuble voraus. Unternehmen, sondern auch der Staat selbst, der nicht nur nicht mit gutem Beispiel vorangeht, sondern sich Der so genannte Security Breach Information Act des selbst als Datenschleuder betätigt. Auch in diesem Sinne US-Bundesstaats Kalifornien gilt dort bereits seit dem bin ich dafür, nicht nur privatwirtschaftliche Sünder zu 1. Juli 2003. Wer als Unternehmen geschäftliche Kon- benennen, sondern beispielsweise Innenminister takte zu Bürgern dieses Bundesstaats unterhält, muss Schäuble in einer wöchentlichen Datenschutzbeichte so seine Kunden über Datenschutzpannen sofort informie- lange öffentlich auftreten zu lassen, bis auch der letzte ren. Ist die vertrauliche Behandlung personenbezogener verstanden hat, dass wir mit dem Datenschutz endlich in Daten nicht mehr gewährleistet, muss das Unternehmen die Pötte kommen müssen. reagieren, sonst kann es sich sogar schadensersatzpflich- tig machen. Diese gesetzliche Neuregelung hat für an- dere US-Bundesstaaten bereits eine Vorbildfunktion Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deutschland war nach dem grundlegenden übernommen. In der Praxis haben diese Gesetzeswerke Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts lange dazu geführt, dass Informationen über solche Verletzun- Jahre Vorreiter in Sachen Datenschutz. Einiges davon ist gen mehr und mehr öffentlich bekannt gemacht werden. (B) bis heute geblieben. Denken wir nur an die unabhängige Wir haben einen Antrag im Bundestag eingebracht, der (D) Rolle des Bundesdatenschutzbeauftragten. Wir haben die Grundgedanken der US-Regelungen aufgreift. Auch hier Standards gesetzt für die europäische Rechtsent- bei uns sollen zum Schutz der Verbraucherinnen und Ver- wicklung. braucher hier tätige Unternehmen zu einer umfassenden Allerdings ist unser Datenschutzrecht vielfach Bekanntmachung von Datenschutzpannen verpflichtet schlicht in die Jahre gekommen. So nimmt unser Gesetz werden. Wir fordern, dass Unternehmen bei fahrlässigem noch nicht hinreichend auf, dass eine immer größere Ge- Umgang mit personenbezogenen Daten ihrer Kunden zi- fahr für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vilrechtlich Schadensersatz leisten müssen. Diese Verlet- gerade auch von nichtöffentlichen Stellen ausgeht. zungen ihrer Sorgfaltspflicht gilt für die Erhebung, Spei- cherung und Verwertung personenbezogener Daten der National und international steigt die Zahl der so ge- betroffenen Personen. Mit einer bloßen Verpflichtung al- nannten Identitätsdiebstähle. Die Fälle von Kreditkarten- lein ist es aber nicht getan. Das Gesetz sollte – nach einer betrug durch die missbräuchliche Verwendung von Iden- Übergangsphase – den Datenschutzaufsichtsbehörden tifizierungsdaten nehmen immer größere Ausmaße an. auch die Möglichkeit geben, Ordnungswidrigkeitenver- Durch das so genannte Pishing im Online-Banking ent- fahren für besonders renitente Unternehmen zu verhän- steht pro Jahr ein grob geschätzter Schaden von 4,5 Mil- gen, die grob fahrlässig ihre Schutzpflichten verletzen lionen Euro. Wir wollen sicherstellen, dass Angriffe auf und ihren Transparenzverpflichtungen nicht nachkom- die IT-Systeme von Unternehmen, die mit personenbe- men. zogenen Daten arbeiten, umgehend an die Kunden ge- meldet werden müssen. Wir brauchen hier mehr Trans- Wir sind davon überzeugt, dass wir hier auch einen parenz, wir müssen die Schutzrechte der Betroffenen wirksamen Beitrag zu Kriminalitätsbekämpfung leisten stärken und Anreize setzen auf mehr präventive Datensi- können, weil mehr Sorgfalt und Transparenz bei den Un- cherheit in den Unternehmen. Der Markt allein wird dies ternehmen den kriminellen Nutznießern von zu niedri- nicht regeln. Das deutsche Datenschutzrecht ist hier gen Sicherheitsstandards das Handwerk legt. Die Men- nicht mehr auf der Höhe der technischen und wirtschaft- schen müssen wissen, wann die Gefahr besteht, dass mit lichen Entwicklung. Die Benachrichtigungspflichten des ihren Daten Missbrauch getrieben werden kann. Ich er- § 20 BDSG sowie die damit eng zusammenhängenden innere auch hier an die USA, wo solche staatlichen Berichtigungsansprüche in § 35 des Bundesdatenschutz- Sanktionen durch die Handels- und Wettbewerbsbehörde gesetzes beinhalten zu viele Ausnahmetatbestände. Ob- Federal Trade Commission, die Federal Communica- wohl mit der Novelle des Gesetzes nunmehr in § 7 ein tions Commission oder die Bankenaufsicht verhängt eigenständiger Schadensersatzanspruch des Betroffenen werden können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5341

(A) Ich hoffe, die Regierungsfraktionen zeigen sich in den und europäischen Kraftstoffmarkt und den finanzpoliti- (C) Fachausschüssen offen für die Debatte dieses neuen An- schen Zwängen vollbringen. satzes. Die Innovation in der Informationsgesellschaft muss einhergehen mit der Modernisierung des Daten- Aus diesem Grund gab es schon bei den Beratungen schutzrechtes. zum Energiesteuergesetz hitzige Debatten darüber, wie ein im Jahre 2007 in Kraft zu setzender Beimischungs- zwang von Biokraftstoffen zu mineralischen Kraftstof- fen ausgestaltet sein muss. Dabei muss das Augenmerk Anlage 17 auf die sinnvolle Verwertung von 4 bis 5 Millionen Ton- Zu Protokoll gegebene Reden nen Einheiten an Biokraftstoffen aus deutscher und euro- päischer Agrarproduktion gerichtet sein, die vom gesam- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur ten Energiebereich aufgenommen werden sollen und Einführung einer Biokraftstoffquote durch Än- müssen, damit unsere und die Vorgaben der Europäi- derung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes schen Union erfüllt werden können. Gleichzeitig haben und zur Änderung energie- und stromsteuer- wir dafür zu sorgen, dass Deutschland seine technologi- rechtlicher Vorschriften (Biokraftstoffquotenge- sche Energieführerschaft bei den nachwachsenden Roh- setz – BioKraftQuG) (Tagesordnungspunkt 25) stoffen auch in Zukunft behalten wird. Ziel des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir haben am Biokraftstoffquotengesetz ist es daher, den weiteren Donnerstag, dem 29. Juni 2006 das Gesetz zur Neurege- Ausbau der Biokraftstoffe auf eine tragfähige Basis zu lung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und zur stellen, die mit der Förderung der Biokraftstoffe verfolg- Änderung des Stromsteuergesetzes beschlossen, dessen ten energie- und umweltpolitischen Ziele Versorgungssi- Inhalt unter anderem die Neuordnung der Förderung der cherheit und Klimaschutz zu sichern sowie durch den biogenen Kraftstoffe in der Bundesrepublik Deutschland weitgehenden Ersatz der Steuerbegünstigung der Bio- war. Das Gesetz sah im Wesentlichen folgende Maßnah- kraftstoffe durch eine unternehmensbezogene Quoten- men vor: Der bisherige Katalog der Steuergegenstände pflicht einen Beitrag zum Subventionsabbau und zur des Mineralölsteuergesetzes wurde im Energiesteuerge- Konsolidierung des Bundeshaushaltes zu leisten. setz insbesondere um folgende Energieträger erweitert: bestimmte pflanzliche Öle und tierische und pflanzliche Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Mine- Fette, die zur Verwendung als Kraft- oder Heizstoff be- ralölwirtschaft ab dem 1. Januar 2007 ordnungsrechtlich stimmt sind und nicht teilweise aus Kohlenwasserstoffen verpflichtet, einen wachsenden Mindestanteil von Bio- kraftstoffen, jeweils bezogen auf den gesamten jährli- (B) bestehen, Kohle (Steinkohle, Braunkohle, Koks etc.), be- (D) stimmte synthetische Erzeugnisse, zum Beispiel Metha- chen Absatz eines Unternehmens an Otto- oder Diesel- nol, die als Heizstoff bestimmt sind, Erdgas und gasför- kraftstoff, zu vertreiben. Die Quotenregelung ist so mige Kohlenwasserstoffe, die als Kraftstoffe nicht in konzipiert, dass sie einfach, unbürokratisch und mit ver- Fahrzeugen, sondern zum Beispiel in ortfesten Motoren tretbaren Kosten für die Verbraucher und die Mineralöl- verwendet werden, Flüssiggase, die unvermischt mit an- wirtschaft umgesetzt werden kann. Gleichzeitig werden deren Energieerzeugnissen als Kraftstoff nicht in Fahr- Mechanismen eingebaut, die die Erfüllung der Quoten- zeugen, sondern zum Beispiel in ortfesten Motoren ver- pflicht und die Überwachung der Einhaltung der wendet werden. Darüber hinaus wurde der Begriff Quotenverpflichtungen sicherstellen und dafür gewähr- „Verheizen“ definiert und somit klargestellt, welche Mi- leisten, dass Unternehmen, die gegen ihre Quotenver- neralöle der Mineralölsteuer unterworfen sein werden. pflichtung verstoßen, wirtschaftlich nicht besser gestellt Gleichzeitig wurden Nachteile für Unternehmen des pro- werden als Unternehmen, die sich gesetzestreu verhal- duzierenden Gewerbes, die durch die frühere deutsche ten. Auslegung des Begriffes „Verheizen“ begünstigt waren, Damit künftigen – vor allem technischen – Entwick- vermieden bzw. weitere Verwendungszwecke im produ- lungen insbesondere im Bereich der so genannten Bio- zierenden Gewerbe steuerlich begünstigt. kraftstoffe der zweiten Generation Rechnung getragen Mit diesem Gesetz hat die Koalition den Grundstein werden kann, sind mehrere Verordnungsermächtigungen für eine zukunftsweisende Besteuerung von Energieträ- Bestandteil des Gesetzentwurfs. Hierüber soll auch die gern gelegt. Dies war für die Bundesrepublik Deutsch- Möglichkeit geschaffen werden, Nachhaltigkeits- oder land ein großer Schritt, um dem Ziel, die Verpflichtun- CO2-Kriterien in das Quotensystem zu integrieren. Da- gen aus dem Kiotoprotokoll zu erfüllen, näher zu rüber hinaus werden die Steuerbegünstigung und die Be- kommen. rücksichtigung bei der Biokraftstoffquote an die Erfül- lung der einschlägigen Qualitätsnormen gebunden. Mit Mit dem Energiesteuergesetz sind wir wegweisend diesen Verordnungsermächtigungen werden die im Be- für Europa. Aber mit diesem Gesetz allein ist es nicht richt des Finanzausschusses zum Energiesteuergesetz getan! Denn nur in Verbindung mit dem heute in erster – Bundestagsdrucksache 16/2061 – geforderten Nach- Lesung zu beratenden Biokraftstoffquotengesetz können haltigkeitsvorgaben im Sinne der EU-Cross-Com- wir den Spagat zwischen Sicherung der Wertschöpfung pliance-Regelung oder der positiven CO2-Bilanz umge- im ländlichen Raum und dem Schutz der heimischen setzt, um Aufschluss sowohl über die Herkunft und die Produktion im Biokraftstoffbereich, der Vermeidung ei- Herstellung der Rohstoffe für die Biokraftstoffe als auch ner wettbewerbsverzerrenden Situation im deutschen über die Zusammensetzung des Biokraftstoffes Auf- 5342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) schluss geben zu können. Ebenso wurde die Forderung Dennoch muss über einige Punkte geredet werden, da (C) des Finanzausschusses umgesetzt, für die in der Ent- im Gesetzentwurf nicht alle Aspekte einer sinnvollen wicklung befindlichen Biokraftstoffe der 2. Generation Kreislaufwirtschaft berücksichtigt worden sind. So ist eine verlässliche Perspektive zu schaffen, indem sie vor- bei uns die Herstellung von Biodiesel aus tierischen Fet- behaltlich einer beihilferechtlichen Genehmigung durch ten auf die der Kategorie III beschränkt, während in an- die EU-Kommission unter Berücksichtigung der Über- deren europäischen Staaten alle Fette weiterverarbeitet kompensationsregelung bis 2015 – auch innerhalb der werden können. Zudem kann das Endprodukt nicht un- Quote – degressiv steuerbegünstigt werden. Diese Pro- vermischt der Beimischung zugeführt werden. dukte verfügen heute noch nicht über eine Marktreife wie andere Biokraftstoffe, sodass die Förderung nicht Des Weiteren wird im Biokraftstoffquotengesetz der ausschließlich über die Beimischung geregelt werden Reinstoffmarkt nicht mehr berücksichtigt. Doch auch kann. Biogas und Bioethanol in Form von E85 und aus hier müsste auf den Bericht des Finanzausschusses zum Zellulose gewonnene Alkohole werden ebenfalls bis Energiesteuergesetz Bezug genommen werden, in dem Ende 2015 steuerbegünstigt. festgelegt worden ist, dass in den nächsten zwei Jahren eine Überprüfung der Kompensation stattfinden wird, Entscheidend für die weitere Zukunft der Biokraft- die im Übrigen auch zu einer Senkung der Besteuerung stoffe aller Generationen ist die Absicht, die Biokraft- führen könne. Ob nach den zwei Jahren eine Änderung stoffquoten entsprechend den Entwicklungen im der Steuersätze notwendig werden wird, kann heute ins- Biokraftstoffsektor und der europäischen Rahmenbedin- besondere aufgrund des Weltmark-Rohölpreises nicht gungen schrittweise anzuheben. Dabei ist mir der Zeit- abgesehen werden. horizont, dies erst nach 2010 tun zu wollen, viel zu spät. Aber es bleibt festzuhalten: Derzeit und in naher Zu- Deshalb plädiere ich für eine frühzeitige Festlegung von kunft haben wir in Deutschland zwei Märkte für Bio- höheren Gesamtquoten deutlich über 6 Prozent schon ab kraftstoffe: den Beimischungsmarkt und den Reinstoff- 2009, damit das heute technisch Machbare entsprechend markt. Dies sollten wir nicht aus den Augen verlieren. der derzeit geltenden Norm auch umgesetzt wird. Zu- gleich soll sich die Mineralölindustrie langfristig auf die Wieder einmal liegt eine harte Arbeit vor uns, die wir, erhöhte Biokraftstoffquote einstellen können. als „Große Koalition“ bis Ende Oktober meistern wer- den, damit das Biokraftstoffquotengesetz pünktlich Ende Mit diesem Gesetzentwurf wird die Mineralölwirt- November verkündet werden kann. schaft in Deutschland und Europa wenn sie auf dem deutschen Markt tätig bleiben möchte verpflichtet, einen Ich weiß, dass wir auch hier wieder versuchen müs- Anteil von 4,4 Prozent Biodiesel im gesamten Diesel- sen, die Quadratur des Kreises zu finden, bin mir jedoch (B) kraftstoffabsatz sicherzustellen, was ihr sicherlich sehr sicher, dass wir für die deutsche Landwirtschaft, für den (D) leicht fallen wird. Um die schwierigere Beimischung ländlichen Raum, für die mittelständischen Produzenten von Bioethanol zu Ottokraftstoff zu gewährleisten, von Biokraftstoffen und für den Verbraucher eine trag- wurde den Mineralölunternehmen eine Übergangszeit bare Lösung finden werden. Und dies alles unter der Prä- bis 2009 ermöglicht, in dem diese sukzessive Biokraft- misse, einen großen Schritt hin zur Einhaltung des stoffe beimischen können. Hier beträgt der Anteil min- Kiotoprotokolls zu tun. destens zwei Prozent; das mittelfristige Ziel muss jedoch 5 Prozent sein. Marko Mühlstein (SPD): Mit dem vorliegenden Ge- Im Ergebnis wird die Umsetzung der Quote, auch setzentwurf zur Einführung einer Biokraftstoffquote sol- wenn sie – entsprechend meinen Vorstellungen – im Ge- len die weitere Verbreiterung von Bio- und regenerativen setzgebungsverfahren noch erhöht werden sollte, weder Kraft- und Treibstoffen auf eine tragfähige Basis gestellt für die Kalkulation der Mineralölunternehmen ein un- und die dynamische Entwicklung der im Verkehr einge- überwindliches Hindernis sein noch das Preisniveau an setzten Biokraftstoffe weiter unterstützt werden. den Tankstellen entscheidend verändern. Warnen möchte Fast ein Drittel der in der Europäischen Union ver- ich schon heute vor großen Preissprüngen an den Tank- brauchten Energie wird im Verkehrsbereich eingesetzt. stellen ab 1. Januar 2007 mit der Begründung, der Ge- Da die herkömmlich genutzten Kraftstoffe fast aus- setzgeber habe dies durch die Beimischungspflicht so schließlich auf begrenzt verfügbaren fossilen Rohstoffen gewollt und die Ölmultis müssten sich dem beugen und wie Erdöl oder Erdgas basieren, ist langfristig mit deren könnten dies nur durch Überwälzung „hoher“ Kosten auf Verknappung und deutlichen Verteuerung zu rechnen. die Verbraucher. Deshalb ist es wichtig, dass wir bereits heute die Wei- chen für die zukünftige Versorgungssicherheit stellen Zurück zur Intention des Gesetzentwurfes als ent- und gleichzeitig die uns selbst gesteckten Ziele im Be- scheidenden Schritt „weg vom Erdöl“: Das Biokraft- reich des Klimaschutzes mit aller Kraft verfolgen. stoffquotengesetz ist durch die Verbindung von Umwelt- schutz und Ökonomie im besten Sinne des Wortes Das Biokraftstoffquotengesetz verpflichtet die Mine- nachhaltig. In jüngsten Veröffentlichungen des Münche- ralölwirtschaft dazu, einen wachsenden Mindestanteil ner Wirtschaftsinstitutes ifo zu Bioethanol und Biodiesel von Biokraftstoffen zu vertreiben, wobei sich dieser werden in der Biokraftstoffwirtschaft 86 000 Arbeits- Mindestanteil auf den gesamten jährlichen Absatz von plätze in Deutschland veranschlagt, denen mit den vor- Otto- und Dieselkraftstoff eines Unternehmens ein- gesehenen Regelungen eine gute Zukunftsperspektive schließlich der diese ersetzenden Biokraftstoffe bezieht. prognostiziert werden kann. Hierbei sind für Benzin und Diesel getrennte Quoten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5343

(A) vorgesehen. So muss der Mindestanteil von Biokraft- Biokraftstoffe in das Folgejahr vor. Positiv zu bewerten (C) stoffen beim Dieselabsatz im nächsten Jahr 4,4 Prozent ist hierbei, dass dies zwar zur Senkung von Preisspitzen betragen. Beim Benzin wird ein Mindestanteil von dienen kann. Jedoch kann es aber auch umgekehrt zur 2 Prozent und ab dem Jahr 2013 von 3 Prozent festge- Dominanz der Aufkäufer in Form der Mineralölkon- schrieben. Zusätzlich wird eine Gesamtquote festgelegt, zerne führen, sofern ausreichende Mengen am Markt die ab dem Jahr 2010 einen Anteil der Biokraftstoffe von verfügbar sind. Unter diesen Umständen ist eine Über- mindestens 6 Prozent vorschreibt. tragbarkeit nicht sinnvoll. Um zu verhindern, dass Unternehmen aus Motiven Auch die Altölfrage ist im Hinblick auf die steuerfreie der wirtschaftlichen Besserstellung gegenüber anderen Verbrennung aufbereitungsfähiger Altöle sowie Besteue- Unternehmen heraus gegen die Quotenverpflichtung rung des Energieeinsatzes bei der Aufbereitung von Alt- verstoßen, sind entsprechende Sanktionsregelungen vor- ölen entgegen der Haltung der AG Umwelt von SPD als gesehen. auch von CDU/CSU nicht entsprechend geregelt. Hier besteht ebenfalls noch Klärungsbedarf. Die Quotenregelung wird im Bundes-Immissions- schutzgesetz so konzipiert, dass sie relativ einfach und Neben den genannten Punkten müssen aus Sicht der mit vertretbaren Kosten sowohl für die Verbraucherin- Arbeitsgruppe Umwelt zusätzlich die Frage der Verord- nen und Verbraucher als auch für die Mineralölwirt- nungsermächtigung für das Bundesfinanzministerium schaft umgesetzt werden kann. Zu diesem Zweck knüpft nach § 66 des Energiesteuergesetzes sowie die Rolle von die Quotenverpflichtung der Unternehmen an das Ent- tierischen Fetten bei der Berechnung der Quotenerfül- stehen der Energiesteuer nach dem Energiesteuergesetz lung diskutiert und gegebenenfalls neu definiert werden. an. Darüber hinaus legt der vorliegende Gesetzentwurf die Grundlagen, um in einem weiteren Schritt auch Mit dem Biokraftstoffquotengesetz schlagen wir grundsätzlich den richtigen Weg ein – hin zu mehr Un- Nachhaltigkeits- oder CO2- Kriterien in das Quotensys- tem zu integrieren. Zudem erhalten die in der Entwick- abhängigkeit von fossilen Energieträgern und hin zu lung befindlichen BTL-Kraftstoffe eine verlässliche mehr Versorgungssicherheit. Wenn wir auf diesem Weg Perspektive in Form einer degressiv ausgestalteten Steu- an manchen Kreuzungen die Richtung etwas ändern, erbegünstigung. dann werden wir die uns selbst gesteckten Ziele auch er- reichen. Aus Sicht der Umweltpolitiker der SPD-Bundestags- fraktion zeigt sich im vorliegenden Gesetzentwurf im Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Mit dem Bereich der Quotenregelung viel Licht – aber auch Biokraftstoffquotengesetz setzen wir eine Reform fort, Schatten, insbesondere bei den vorgeschlagenen Rege- die wir vor der parlamentarischen Sommerpause mit (B) lungen zu den allgemeinen Steuersätzen und den Indus- (D) dem Energiesteuergesetz begonnen haben. Erstes Ziel triegasen. So bedürfen einige Punkte aus unserer Sicht beider Gesetze ist es, auf dem Wege einer Strategie noch einer ausführlichen Diskussion; andere wenige „Weg vom (Mineral-)Öl“ den Biokraftstoffen einen Vorschläge hingegen sind für uns schlicht nicht akzepta- wachsenden Marktanteil zu eröffnen. Dies kann mittel- bel. fristig nur durch eine ständig steigende Beimischungs- Wir lehnen die geplante Änderung des Energiesteuer- quote erfolgreich verfolgt werden, in der Effizienz und gesetzes ab, nach der künftig der allgemeine Steuersatz Kostenbewusstsein sowie Wettbewerb die Preise für für das Produzierende Gewerbe nicht mehr 60 Prozent Biokraftstoffe bestimmen und nicht ein steuerliches Sub- der Ökosteuererhöhungen bei Öl und Erdgas zum Ver- ventionsregime. heizen beitragen sollte, sondern 60 Prozent der gesamten Steuer. Diese Entlastung der Unternehmen, die einen Mit dem Einstieg in die Besteuerung von Biokraft- Steuerausfall von 100 Millionen Euro nach sich ziehen stoffen haben wir einen ersten wichtigen Schritt getan. würde, ist aus unserer Sicht wirtschaftspolitisch unbe- Als wir die Biokraftstoffe steuerfrei gestellt haben, ha- gründet, umweltpolitisch kontraproduktiv und würde ben wir einen Beihilfetatbestand geschaffen. Wir sind uns energiesteuerpolitisch zurück in die Zeit vor 1998 gegenüber der EU verpflichtet, regelmäßig eine Über- werfen. prüfung auf Überförderung vorzunehmen. Wir können Biokraftstoffe nicht beliebig subventionieren, sondern Gleiches gilt für den Vorschlag zur Aufnahme eines allenfalls die Kostennachteile bei ihrer Herstellung oder § 9 b in das Stromsteuergesetz, nach dem der Stromver- Nutzung durch eine steuerliche Regelung ausgleichen. brauch zur Herstellung von Industrieabgasen steuerfrei Wir dürfen nicht die Einkommen der Biokraftstoffher- gestellt werden soll, wenn die Stromkosten im Kalender- steller oder den Biokraftstoffvertrieb individuell subven- jahr 50 Prozent der Kosten für die Herstellung der Gase tionieren! Wir können nur für einen Preisabstand sorgen, übersteigen. Es ist mir absolut schleierhaft, warum bei- der die Wettbewerbsfähigkeit gewährleistet. spielsweise ein Unternehmen wie die Linde AG eine jährliche steuerfinanzierte Subvention in Höhe von In Abwägung aller Umstände wurde im Energiesteu- 7 Millionen Euro erhalten sollte. ergesetz die ursprünglich bis zum Jahr 2009 vorgesehene Vertrauensschutzregelung für Hersteller und für den Ver- Des Weiteren sehen wir erheblichen Diskussionsbe- trieb von Pflanzenöl und reinem Biodiesel bis ein- darf bei der Regelung hinsichtlich des § 37 a Abs. 4 des schließlich 2011 verlängert. Ab 2012 gilt der Regelsteu- Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Diese Regelung ersatz. Bis dahin steigt der Mineralölsteuersatz bei sieht eine Übertragbarkeit von übererfüllter Quote für reinem Pflanzenöl in gesetzlich bereits jetzt festgelegten 5344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Schritten von null in den Jahren 2006/2007 bis zur Re- Für Pilotprojekte zur Entwicklung alternativer Kraft- (C) gelbesteuerung im Jahr 2012. Vorgesehen ist eine Anhe- stoffe, zum Beispiel Wasserstoff als Kraftstoff, kann die bung auf 10 Cent im Jahr 2008, 18 Cent in 2009, 26 Cent Bundesregierung auf dem Verordnungswege eine steuer- in 2010, 33 Cent in 2011 und schließlich 45 Cent in liche Förderung vorsehen. Damit bleibt der Weg für In- 2012. Für reinen Biodiesel steigt der Steuersatz von novationen offen. 9 Cent in den Jahren 2006/2007 bis zur Regelbesteue- rung von 45 Cent/Liter im Jahr 2012 steil an. In den Jah- Um Ökodumping zu vermeiden, wird die Bundes- ren 2008 bis 2011 steigt der Satz um jeweils 6 Cent im regierung durch Rechtsverordnung Kriterien für die Zer- Jahr. tifizierung zugelassener Biokraftstoffe im Sinne einer nachhaltigen Herstellungskette und einer positiven CO2- Mit dem Biokraftstoffquotengesetz wird nun eine Bilanz vorgeben, die sich an den europäischen Nachhal- weitere Vorgabe der Koalitionsvereinbarung zwischen tigkeitsregeln für die Produktion von Lebensmitteln CDU/CSU und SPD umgesetzt und die steuerliche För- (Cross Compliance) orientieren. Damit soll verhindert derung von Biokraftstoffen behutsam durch ein ord- werden, dass mit Hilfe von Raubbau an der Natur, zum nungsrechtliches Instrument, nämlich die Quote, abge- Beispiel durch Rodung von Regenwäldern oder Über- löst. Der Entwurf sieht vor, sowohl für Diesel als auch düngung, in anderen Teilen der Welt Billigöle und für Ottokraftstoffe schrittweise einen zunehmenden Billigalkohol hergestellt werden, die unsere Märkte Marktanteil an Biokraftstoffen durchzusetzen. Bereits ab überschwemmen. dem 1. Januar 2007 muss der Mindestanteil von Bio- kraftstoffen beim Dieselabsatz 4,4 Prozent betragen, In diesem Gesetz wird auch die Überprüfung der Son- beim Benzin 2 Prozent und ab 2010 3 Prozent. Außer- derregelungen im Energiesteuerrecht für das produzie- dem, wird eine Gesamtquote festgelegt, und zwar für rende Gewerbe umgesetzt. Danach wird für das produ- 2009 mindestens 5,7 Prozent und 2010 mindestens zierende Gewerbe und die Land- und Forstwirtschaft der 6 Prozent. Wenn irgend möglich, wird die Koalition im Steuersatz für alle Heizstoffe auf 60 Prozent des vollen Gesetzgebungsverfahren weitere Stufen für den Anstieg Energiesteuersatzes gesenkt. Auch der Spitzenausgleich der Biokraftstoffquoten in der Zukunft vorgeben, um den für energieintensive Unternehmen wird unter Beibehal- Marktteilnehmern die notwendige Planungs- und Inves- tung der bisherigen Systematik neu geregelt. Insgesamt titionssicherheit zu geben. dienen diese Regelungen der Standortsicherung der deutschen Wirtschaft. „Beimischungsgebot“ ist ein untechnischer Begriff. Man kann zwar die Hersteller zwingen, dem Diesel oder Der Weg der Koalition zielt auf einen deutlichen An- Ottokraftstoff Biokraftstoff beizumischen; das würde stieg des Einsatzes von Biokraftstoffen durch jedermann (B) aber eine Absage an reine Biokraftstoffe bedeuten. Da im Rahmen einer Industriestrategie „Weg vom Öl“, der (D) wir das nicht wollen, werden wir eine unternehmensbe- hilft, CO2 im Straßenverkehr zu vermeiden, zusätzliche zogene Quote für die Mineralölunternehmen einführen. Wertschöpfung in Deutschland und besonders den länd- Das heißt, im Verhältnis zum Mineralölumsatz müssen lichen Räumen zu generieren und dabei die Kosten für sie einen bestimmten Prozentsatz an Biokraftstoffen in Staat und Wirtschaft deutlich zu begrenzen. den Verkehr bringen, ob nun als Beimischung oder in In diesem Gesetz werden auch die Sonderregelungen Reinstoffform. des Energiesteuergesetzes für das produzierende Ge- Die Erfüllung der Quotenpflicht durch die Mineralöl- werbe überprüft. Im Hinblick auf die weltweit angestie- wirtschaft kann vertraglich auf Dritte, zum Beispiel die genen Energiepreise gibt es momentan keinen Spielraum mittelständische Mineralölwirtschaft, übertragen oder für zusätzliche politische Preisbelastungen auf Energie. durch Beimischung erfüllt werden. Die quotenpflichti- Die Ökosteuer sollte einen künstlichen Verknappungs- gen Unternehmen unterliegen Mitteilungspflichten, die preis vorwegnehmen und damit Wirtschaft und Verbrau- Grundlage der Überwachung der Einhaltung sind. cher auf echte Verknappung vorbereiten. Das hat funk- tioniert. Mehr ist nicht nötig und ist auch nicht drin. In die Quote fallende Biokraftstoffe werden künftig entsprechend ihrem Energieinhalt voll besteuert. Im In- Die Ökosteuerschraube für die Wirtschaft ist sogar et- teresse des Vertrauensschutzes bleibt die Steuerbegünsti- was überdreht. Teilweise wirken in Deutschland Öko- gung für reine Biokraftstoffe, die nicht zur Erfüllung der steuer, Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Umlage für Quote eingesetzt werden, nach den Regelungen des am Kraft-Wärme-Kopplung, Konzessionsabgaben, Mehr- 1. August 2006 in Kraft getretenen Energiesteuergeset- wertsteuer und Preise für CO2-Zertifikate so kumulativ, zes bestehen. Die Steuerbegünstigung wird innerhalb dass sich für manche Unternehmen die Standortfrage von fünf Jahren schrittweise abgebaut. In der Landwirt- stellen könnte. Deswegen werden wir die Höhe der schaft eingesetzte reine Biokraftstoffe bleiben steuerfrei. Energiesteuern für das produzierende Gewerbe wieder auf den Stand von 1998, also vor Einführung der Öko- Moderne neue Biokraftstoffe wie synthetische Kraft- steuer, zurückführen. Für Unternehmen, die am CO2- stoffe und Bioethanol (E85) werden bis zur Marktreife, Handel teilnehmen müssen, wird es ab 2007 in der Regel höchstens aber bis zum Jahr 2015 weiterhin steuerlich keine Energiebesteuerung geben. Das gilt für den Ein- gefördert. Jährlich wird geprüft, ob die Steuerbefreiung satz von Primärenergie zur Stromerzeugung und den noch angemessen ist oder ob auch in diesen Fällen zur Einsatz von Energie zur Stoffumwandlung, zum Beispiel Vermeidung einer Übersubventionierung eine Besteue- in der Stahlindustrie oder Zementindustrie. Im Gegen- rung beihilferechtlich geboten ist. zug wird der Spitzenausgleich zwischen Ökosteuerbelas- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5345

(A) tung und Rentenversicherungsbeiträgen auf das Bezugs- Der vorliegende Gesetzentwurf ist schließlich äußerst (C) jahr 2006 festgelegt. kompliziert und führt – wie die Bundesregierung selbst einräumt – zu Mehrkosten für die Wirtschaft. Unterm In diesem Zusammenhang erlaube ich mir eine Be- Strich haben wir also höhere Belastungen für die Bürger, merkung: Im Hinblick auf eine verbesserte Wärmever- mehr Bürokratie und mehr Kosten für die Wirtschaft so- sorgung zum Beispiel durch Wärmedämmung oder den wie keinerlei Gewissheit, ob durch den Beimischungs- Einsatz erneuerbarer Energien bei der Nahwärmeversor- zwang der Anteil von Biokraftstoffen erhöht werden gung rate ich von einem Umlageverfahren zur Finanzie- kann. Wir werden im Laufe des Gesetzgebungsverfah- rung wie beim EEG ausdrücklich ab. Darin bin ich mit rens sehen, ob das der richtige Weg ist. Umweltminister Sigmar Gabriel einer Meinung. Wir ha- ben die Förderung der Biokraftstoffe von der Steuersub- vention auf ein ordnungsrechtliches Instrument – die Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Das Quotengesetz für Quote – umgestellt. Das Prinzip sollten wir wirksam Biokraftstoffe ist eine Absage an die Biokraftstoff-Bran- weiterentwickeln. che. Es ist eine Absage an die Zukunft der Landwirt- schaft, vor allem in Ostdeutschland. Herr Gabriel stößt Ein „Erneuerbares Wärmegesetz“ sollte es nur geben den Bauern mit der Zwangsbeimischung bewusst vor mit den Instrumenten des Ordnungsrechts und mit An- den Kopf. Diejenigen, denen der Umweltminister den reizen bei der Finanzierung. Gesetzliche Vorgaben zur Durchbruch bei Ökosprit zu verdanken hat, sollen jetzt Wärmeeinsparung bzw. zur Effizienzsteigerung oder zu Industriezulieferern herabgestuft werden. Eines muss Durchführungsverordnungen zum Bundes-Immissions- doch klar sein: die Mineralölkonzerne kaufen, was billig schutzgesetz mit dem Ziel der Abwärmenutzung und am Markt zu bekommen ist. Das bedeutet Billigimporte Energieeinsparung sind vorstellbar, gegebenenfalls kom- oder Monokultur auf riesigen Flächen. Auf der Strecke biniert mit einen Förderprogramm der KfW. bleiben die Natur und die Beschäftigung. Es gibt zurzeit keine Zertifizierung für importierte Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Der Entwurf des Biokraftstoffe aus dem asiatischen und lateinamerikani- Biokraftstoffquotengesetzes ist die Fortsetzung der kon- schen Raum. Große Mengen werden dort unter ökolo- zeptionslosen Energie- und Umweltpolitik der großen gisch und sozial bedenklichen Bedingungen angebaut. Koalition. Nach dem Energiesteuergesetz, das die Be- Letztendlich verkaufen die armen Länder ihr Nachhal- steuerung von Biokraftstoffen seit dem 1. August regelt, tigkeitspotenzial an die Industriestaaten. folgt nun ein äußerst kompliziertes Gesetz, das die Mi- neralölwirtschaft verpflichtet, herkömmlichem Kraft- In Deutschland haben zahlreiche Betriebe, vor allem stoff einen Anteil Biokraftstoff beizumischen. im Osten, auf Pflanzenöl, Biogas und Biodiesel als reine (B) Kraftstoffe gesetzt. Sie haben Millionenbeträge inves- (D) Die FDP unterstützt das Ziel, Biokraftstoffen einen tiert und Arbeit im ländlichen Raum geschaffen. Das ta- höheren Marktanteil einzuräumen. Langfristig gedacht ten sie in dem Vertrauen, dass die Vorteile für Klima- müssen wir alles tun, um unsere Abhängigkeit von den schutz und Volkswirtschaft gerecht belohnt werden. herkömmlichen Treibstoffen zu verringern. Allerdings benötigen wir dazu eine Strategie, die insbesondere der Diesen Kraftstoffen der so genannten ersten Genera- betroffenen Wirtschaft Verlässlichkeit und langfristige tion wird häufig vorgeworfen, sie hätten eine schlechte Berechenbarkeit ermöglicht. Klimaschutzbilanz. Wer die Vorteile von Biokraftstoffen richtig berechnet, stellte fest, dass betriebliche und regio- Daran hapert es bei der großen Koalition. Die ur- nale Kreisläufe die Ökobilanz deutlich verbessern. Wo sprünglich bis 2009 zugesagte Steuerfreiheit für Bio- sich Nahrungsmittel und Biosprit in der Produktion er- kraftstoffe wurde kurzfristig abgeschafft. Seit dem gänzen, kann man nicht nur von nachhaltiger Energiepo- 1. August gilt eine Besteuerung mit im Laufe der Zeit litik sprechen, sondern auch von nachhaltiger Beschäfti- steigenden Steuersätzen. Bei den in erster Linie kleinen gungspolitik. Die im großen industriellen Maßstab und mittelständischen Betrieben, die sich bisher auf die erzeugten Biokraftstoffe schaffen das nicht. Ohnehin be- Produktion von Biokraftstoffen spezialisiert haben, kann gibt sich Gabriel hier aufs Glatteis. Prozesse, wie das es durch diese Besteuerung zu erheblichen Verwerfun- Choren-Verfahren, sind bei weitem nicht so einfach zu gen kommen. Hier spielten ausschließlich fiskalische In- beherrschen, wie bisher gedacht. Wie Ökobilanz und teressen eine Rolle, die sich mit dem Ziel der Förderung Wirtschaftlichkeit tatsächlich sind, ist noch nicht abseh- des Marktanteils von Biokraftstoffen nicht vertragen. bar. Wir werden die Entwicklung sorgfältig beobachten. Es kann doch nicht sein, dass Biosprit ausschließlich Der jetzt vorgesehene Beimischungszwang ist plan- nach Interessenlage der Automobilindustrie „designt“ wirtschaftlich. Er wird in jedem Fall dafür sorgen, dass wird. Das Problem ist doch, dass der Verkehr in die Spritpreise ab Januar steigen. Der Gesetzentwurf äu- Deutschland an sich nicht nachhaltig organisiert ist. Die ßert sich nicht dazu, in welcher Höhe; die Wirtschaft Linke fordert deshalb ein zukunftsfähiges Mobilitäts- spricht von mehreren Cent. Zusammen mit der Mehr- konzept: erstens öffentlichen Nahverkehr stärken, zwei- wertsteuererhöhung bedeutet das wieder einmal erhebli- tens Straßenbau zugunsten der Schiene zurücknehmen, che Belastungen für die Bürger. Es liegt der Verdacht drittens klare und ordnungsrechtliche Senkungsziele für nahe, dass hinter dem Beimischungszwang weniger der den Spritverbrauch statt weichgespülter Selbstverpflich- Fördergedanke steht als die Gier des Finanzministers tung der Industrie, viertens Vorfahrt für reine Biokraft- nach neuen Einnahmen. stoffe in geeigneten Flottensystemen und fünftens das 5346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) ganze Spektrum von alternativen Antrieben und Kraft- die Industrie. Ihre Überarbeitung ist noch in diesem Jahr (C) stoffen gleichberechtigt fördern. zwingend erforderlich; denn die bisherige Regelung ist nur bis Jahresende befristet von der Kommission geneh- Das Quotengesetz für Biokraftstoffe zementiert nur migt. Und das aus gutem Grund; denn die Vergünstigun- den Status quo. Nehmen Sie es zurück! gen für die Industrie sind zu pauschal. Wir haben immer darauf gedrängt, dass die ermäßigten Steuersätze an eine Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ökologische Gegenleistung der Unternehmen – zum Bei- Wir beraten heute erstmals das Biokraftstoffquotengesetz, spiel die Teilnahme an einem Energie-Audit – gekoppelt mit dem erstens klare Ziele für den Zuwachs von Bio- werden; denn klar war immer, dass auch die Industrie treibstoffen vorgegeben werden und zweitens die Öko- Anreize zum Energiesparen bekommen muss. steuer-Sonderregeln für die Industrie überarbeitet wer- den. Was die große Koalition hier nun aber vorlegt, ist ein klimapolitisches Armutszeugnis und das absolut falsche Es ist ein richtiger Ansatz, dass alternative Kraftstoffe Signal an die deutsche Industrie. Statt sie mit einer kon- nicht nur über steuerliche Anreize gefördert werden, sistenten Steuerpolitik darin zu unterstützen, die Ener- sondern auch über eine Quotenregelung. Die Kombina- gie- und Ressourceneffizienz deutlich zu steigern, soll tion der beiden Instrumente ist erfolgversprechend. Des- die deutsche Wirtschaft aus ihrer klimapolitischen Ver- halb begrüßen wir, dass die Bundesregierung diesen Ge- antwortung entlassen werden. Schon heute erhält die In- setzentwurf erarbeitet hat. dustrie Nachlässe bei der Ökosteuer von rund 5,4 Mil- Es muss aber die Frage erlaubt sein, warum dieses liarden Euro pro Jahr. Aber statt sie abzubauen, sollen wichtige Gesetz zu nachtschlafender Zeit um 2.30 Uhr sie beibehalten und sogar ausgeweitet werden. Statt we- im Plenum behandelt werden soll. Man kann nur vermu- niger Subventionen gibt es mehr Extra-Würstchen für ten, dass der großen Koalition anscheinend die Lust auf die Industrie. Eine systematische Verzahnung mit dem hitzige Debatten zu Biokraftstoffen vergangen ist – so, Emissionshandel findet nicht statt. Würde dieser Vor- wie wir es vor der Sommerpause erlebt haben, als die schlag so beschlossen, wie er hier vorgelegt wird, dann Koalition wochenlang über die steuerliche Förderung wäre das eine verpasste Chance für effektivere Sonderre- von Biodiesel und Co. stritt. Damals wurde man den geln. Obendrein bewegen Sie sich mit Ihrem Vorschlag Eindruck nicht los, dass die schwarz-rote Koalition EU-rechtlich auf dünnem Eis, weil die bisherige Rege- wichtige Weichenstellungen für alternative Kraftstoffe lung sogar ausgeweitet statt eingeschränkt werden soll. rückgängig machen will. Zwar konnte der Bundestag Leider passt dieses Beispiel voll ins Bild der Umwelt- noch das Schlimmste verhindern, aber mit ihrem groß- politik der großen Koalition. Ihre Rhetorik stimmt ein- koalitionären Hick-Hack haben Sie wahrlich kein Signal (B) fach nicht mit Ihrem Handeln überein: Sie reden von (D) der Planungssicherheit für die junge Branche gegeben. mehr Klimaschutz durch den Emissionshandel, legen Wir halten es für sinnvoll, dass Bioenergien neben faktisch aber ein Förderprogramm für den Neubau von dem Strom- und Wärmemarkt zukünftig auch im Ver- klimaschädlichen Kohlekraftwerken auf; sie reden vom kehrssektor verstärkt eingesetzt werden, und sehen noch Verbraucherschutz, kämpfen aber für die Interessen der riesige Potenziale, gerade in der regionalen Erzeugung Chemielobby in Brüssel. Und sie reden von steuerlichen und Verarbeitung. In Kombination mit sparsameren Anreizen in der Umweltpolitik, schaffen aber die Öko- Fahrzeugen kann diese Strategie zu einer höheren Klima- steuer für die Industrie praktisch ab. verträglichkeit des Verkehrs beitragen. Wir sehen aber auch die Probleme eines großformatigen Einstiegs in den Anbau von Energiepflanzen, wenn der vermehrte Einsatz Anlage 18 von Biokraftstoffen zu höherem Pestizid- und Mineral- Zu Protokoll gegebene Reden düngereinsatz und zu einer Ausdehnung von Monokultu- ren führt. Dann wäre die ökologische Gesamtbilanz zur Beratung der Anträge: nämlich negativ. – Öffentliche Verantwortung wahrnehmen – Es darf vor allem nicht sein, dass ein höherer Anteil Mit fairen Chancen Kinder stark machen an Biokraftstoffen in Deutschland und Europa dazu führt, dass in den Ländern des Südens die Primärregen- – Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten – wälder gerodet werden. Das ist zum Teil schon heute so, Kinderarmut wirksam bekämpfen etwa in Brasilien, Indonesien und Malaysia. Hier kommt (Tagesordnungspunkt 28 a und b) es durch Energieplantagen auch nicht selten zur Zerstö- rung der Lebensgrundlagen für Teile der ländlichen Be- völkerung. Wir machen uns etwas vor, wenn wir diese Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Deutschland hat Bioenergie per se als grüne Energie bezeichnen. Sie ist sich auf den Weg gemacht, das System der öffentlichen es nicht. Deshalb brauchen wir schnellstens ein internatio- Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote zu re- nal wirksames Zertifizierungssystem nach ökologischen formieren und aufzubauen. Die Ziele sind klar formu- Kriterien. Sonst wird unser Autoverkehr zu einem der liert: Familien soll für das Aufwachsen ihrer Kinder ein Haupttreiber der Regenwaldzerstörung. ebenso verlässliches wie qualifiziertes und den Heran- wachsenden selbst zugleich ein umfassendes, altersge- Lassen Sie mich nun zum zweiten Teil des Gesetzes rechtes Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot kommen, zur Reform der Ökosteuer-Sonderregeln für bereitgestellt werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5347

(A) Dabei ist mir persönlich wichtig, dass es gelingt, die Zweitens. Nutzbarmachung von Haushaltsreserven. (C) bisher in politischen und wissenschaftlichen Diskursen Bedingt durch die demografische Entwicklung werden eigenständig verhandelten Themenbereiche Bildung und im Jugend- und Bildungsbereich zukünftig weniger Aus- Erziehung – vor und neben der Schule – eng miteinander gaben als in der Vergangenheit getätigt. Die öffentliche zu verknüpfen. Idealerweise bilden die Familien den Hand ist hier in der Pflicht, die Haushaltsansätze nicht Ausgangspunkt für alle Bildungsprozesse. Die Familie einfach linear nach unten zu schreiben, sondern in den ist von zentraler Bedeutung für die Auswahl der Bil- Ausbau von Qualität und Quantität von Bildung und Er- dungs- und Ausbildungsorte, für den Umgang mit den ziehung zu investieren! Die Bedarfsplanung muss aber Medien, für die Vermittlung von Leitbildern und Werten. auch in den Blick nehmen, dass der Bedarf tendenziell Familie und Schule haben entscheidenden Anteil an der – demografisch bedingt – zurückgeht. Hier gilt es, da- Ausprägung sozialer und personaler Kompetenzen, die rauf zu achten, keine Überkapazitäten aufzubauen. nachweislich großen Einfluss auf den beruflichen und Drittens. Bessere Verzahnung von Bildung und Erzie- privaten Lebenserfolg haben. Dabei sind die ersten Ent- hung. Bildung, Erziehung und Betreuung müssen Kin- wicklungsphasen eines Kindes von prägender Bedeu- dern aller Altersstufen unabhängig von ihrer sozialen tung für sein gesamtes weiteres Leben. Versäumnisse bei Herkunft zugänglich sein! Um dieses Ziel zu erreichen, der Erziehung im Vorschulalter kann die Schule nicht müssen wir noch einige Anstrengungen unternehmen. In mehr ausgleichen. Wie die PISA-Untersuchung gezeigt keinem vergleichbaren Land ist der Einfluss der sozialen hat, müssen die Rahmenbedingungen für das Lernen Herkunft auf die Bildungschancen so groß wie in verbessert und es muss darüber nachgedacht werden, Deutschland. Maßnahmen und Programme müssen ge- wie die Bildung in der frühkindlichen Entwicklung bes- rade auch benachteiligte Jugendliche – Jugendliche aus ser gefördert werden kann. In keiner Phase sind die Vo- sozialen Brennpunkten und Jugendliche mit Migrations- raussetzungen für die persönliche Entwicklung und das hintergrund – in den Blick nehmen. Mit dem vorliegen- spielerische Lernen so günstig wie in der frühen Kind- den Antrag machen die Koalitionsfraktionen deutlich: heit. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen. Die frühkindli- Wir wollen die Eltern in ihrer Verantwortung für das che Erziehung und Bildung muss weiterentwickelt wer- Aufwachsen ihrer Kinder stärken. Dies geschieht zum den. Hierzu sind verbindliche Leitlinien erforderlich, die einen durch das Nebeneinander verschiedener Bildungs- die Erziehung der Eltern ergänzen, Bildungsangebote und Erziehungsangebote. Dies alleine reicht aber nicht über das Elternhaus hinaus eröffnen, verbindliche Stan- aus, insbesondere Familien in spezifischen Problemla- dards setzen und Voraussetzungen für eine verbesserte gen werden dadurch nicht erreicht. Vielmehr bedarf es Chancengleichheit in Bildung und Erziehung schaffen. integrierter und an den lokalen Bedingungen orientierter Die Forderung des Bundespräsidenten nach einem ver- Angebote. Bildungseinrichtungen, Verbände und Institu- pflichtenden und nach Möglichkeit kostenfreien dritten (B) tionen der Jugendhilfe und Jugendarbeit stehen vor der (D) Kindergartenjahr hat daher meine volle Unterstützung. Herausforderung der Modernisierung und Vernetzung. Das Saarland hat es vorgemacht: Hier werden die Eltern Wir wollen hier neue Wege gehen und durch eine stär- von den Gebühren für das Kindergartenjahr vor der Ein- kere Verzahnung von Bildung und Erziehung konkrete schulung freigestellt. Allerdings sage ich auch, dass Zukunftschancen eröffnen. Es muss jedem und jeder er- diese Forderung im Hinblick auf die Zuständigkeiten der möglicht werden, sich den eigenen Fähigkeiten entspre- Länder und die Länderhaushalte allenfalls mittelfristig chend zu entwickeln. Dazu gehört nicht zuletzt, dass zu erfüllen sein wird. gesundheitliche Ressourcen entwickelt und gestärkt wer- Wir sind gefordert, gute Rahmenbedingungen für das den. Die Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten Aufwachsen und Heranwachsen der jungen Generation und Schulen, insbesondere im Hinblick auf gesundes Er- zu schaffen und Eltern, aber auch alle anderen beteilig- nährungs- und Bewegungsverhalten, die sprachlichen ten Akteure und Institutionen so zu unterstützen, dass für und motorischen Fähigkeiten und die Fähigkeit zur Kinder und Jugendliche optimale Lebens- und Zukunfts- Stressbewältigung, zu stärken, ist ein wichtiges und rich- chancen gewährleistet werden. Mit dem Antrag „Öffent- tiges Vorhaben. liche Verantwortung wahrnehmen: Mit fairen Chancen Viertens. Frühförderung. Frühförderung wendet sich Kinder stark machen!“ fordern die Fraktionen CDU/ an Eltern mit Kindern vom Säuglings- bis zum Schul- CSU und SPD die Bundesregierung zur Verstetigung des alter. Insbesondere will die Frühförderung helfen, wenn Gesamtsystems von Bildung, Erziehung und Betreuung kleine Kinder hinsichtlich ihrer körperlichen, geistigen auf. Der Antrag enthält hierzu ganz konkrete Vorschläge: und seelischen Entwicklung Unterstützung benötigen. Medizinische, psychologische, pädagogische und soziale Erstens. Qualifizierung des Tagespflegepersonals. Hilfen sind dabei unverzichtbare Bestandteile eines Kinderbetreuung in Tagespflege wird im Kinder- und Ju- ganzheitlichen Hilfekonzepts, in das die Familie mit ein- gendhilfegesetz der Betreuung in Tageseinrichtungen bezogen ist. Insgesamt geht es also um Frühförderung gleichgestellt. Die Kindertagespflege umfasst demnach mit den Familien zusammen. Auch hier soll und wird nicht nur die Betreuung und Pflege, sondern die Erzie- sich das ganzheitliche Konzept unserer neuen Familien- hung, Bildung und Förderung von Kindern. Deshalb er- politik zeigen. gibt sich nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus fachlicher Perspektive die Notwendigkeit, Tagespflege- Fünftens. Tagespflege im ländlichen Raum. Die Ta- personen für ihre Betreuungsarbeit fortzubilden. Qualifi- gespflege ist eine individualisierte und familienorien- zierung stellt den Schlüssel zur Qualitätsentwicklung in tierte Erziehungs- und Betreuungsform, die größtenteils der Tagespflege dar. in Privathaushalten stattfindet. Diese Betreuung ist eine 5348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Erfolgsstory, auch im Sinn des bürgerschaftlichen En- Dieser umfassende Begriff von Bildung beschreibt ei- (C) gagements. Zu Recht haben CDU und CSU diesen Weg nen Prozess, in dem sich diese kleinen Persönlichkeiten von Anfang an gefördert und positiv begleitet. Noch mit der Welt auseinander setzen und sie sich aneignen. mehr Bürgerinnen und Bürger können wir zur Mitarbeit In diesem erweiterten Bildungsbegriff ist Bildung ver- motivieren, wenn einem schon vorqualifizierten Perso- knüpft mit vielen Lernwelten und Bildungsorten, mit nenkreis ein neuer Weg in die Beschäftigung als qualifi- vielen Gelegenheiten und Inhalten. Die bisher übliche zierte Tagesmutter – oder Tagesvater – eröffnet wird. Bei Zuschreibung, nach der die Familie für die Erziehung, Personen mit einer Vorbildung als Erzieher, Sozialpäda- der Kindergarten für die Betreuung und die Schule für goge, Lehrer usw. kann eine verkürzte Weiterbildung als die Bildung zuständig sind, stimmt so nicht mehr und Tageselternteil zum Tragen kommen. Bei diesem Perso- steht einer optimalen Förderung des Kindes im Weg. nenkreis ist durch die berufliche Erfahrung und den be- Dies müssen wir berücksichtigen und entsprechend rea- reits erlernten Umgang mit Kindern ein breites pädago- gieren, damit wir Kindern die Vielfalt bieten, die sie gisches Wissen vorhanden. brauchen, um sich zu entwickeln. Sechstens. Programm Mehrgenerationenhäuser. Wir Wir müssen die Familie frühzeitig unterstützen, am möchten eine stärkere Begegnung und Kommunikation besten bereits in der Schwangerschaft. So früh wie mög- der Generationen miteinander durch die Schaffung von lich müssen Risiken und Gefährdungen erkannt werden Mehrgenerationenhäusern fördern. Diese Einrichtungen und je früher dies geschieht, desto eher können wir mit sollen offene Tagestreffpunkte für Jung und Alt werden, Begleitung und Betreuung Fehlentwicklungen vorbeu- in denen vielfältige Aktivitäten und Serviceangebote gen. Wir wollen die Erziehungskompetenz der Eltern möglich sind. Mehrgenerationenhäuser werden geprägt stärken. Die meisten Eltern sind ohne Hilfe in der Lage, von freiwilligem Engagement und Hilfe zur Selbsthilfe. ihre Kinder gut zu versorgen und zu erziehen. Doch dort, Daneben sollen sie ein Netzwerk an Informationen, auch wo Eltern überfordert sind, müssen wir früher hin- in professioneller Form, bieten. Die Mehrgenerationen- schauen und rechtzeitig dafür sorgen, dass diesen Fami- häuser werden am örtlichen Bedarf orientiert. Bereits lien geholfen wird. Für mich ist entscheidend, dass dies vorhandene Angebote für Jung und Alt können bedarfs- ohne Druck und nicht mit der Androhung von Strafe ge- gerecht miteinander verbunden und ergänzt werden. Zu- schieht, sondern mit unterstützenden Angeboten. Druck kunftsweisende Politik für Kinder und Jugendliche wird haben diese Familien schon genug. Wir dürfen nicht ver- ergänzt durch eine ganzheitliche Familienpolitik, die den gessen: Es geht uns darum, dass das Kind die Begrüßung Zusammenhalt der Generationen fördert und stärkt und „herzlich willkommen“ tatsächlich erfährt. damit den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert. Wir unterstützen Familien auch dadurch, indem wir (B) Die Koalitionsfraktionen haben sich von den Anre- ihnen die Realisierung ihres Lebensentwurfs erleichtern. (D) gungen des 12. Kinder- und Jugendberichts leiten lassen Die meisten Familien wollen heute Kinder und Beruf un- und einen Antrag formuliert, der im Interesse unserer ter einen Hut bringen. Die Vereinbarkeit von Familie Kinder und Jugendlichen liegt und Vorschläge zur Siche- und Beruf verbessern wir mit besseren Betreuungsange- rung der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft macht. boten, aber auch mit dem Elterngeld, das Eltern eine Ich freue mich auf einen konstruktiven Dialog in den Be- ökonomische Perspektive bietet. Brach bisher mit der ratungsgremien! Geburt eines Kindes meist ein Einkommen weg, wird mit dem Elterngeld der finanzielle Druck gemildert. Zu- dem ermutigen wir mit den Vätermonaten die Männer, Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Faire sich an der Erziehung mehr zu beteiligen als bisher. Chancen zu schaffen für alle Kinder und von Anfang an: Das ist unser Ziel. Wenn ein Kind auf dieser Welt an- Kinder brauchen andere Kinder, um sich emotional, so- kommt, muss man ihm vermitteln: Herzlich willkom- zial und kognitiv gut zu entwickeln. Mit dem verstärkten men! Die Stärkung seiner Persönlichkeitsentwicklung Ausbau der Kinderbetreuung für die unter dreijährigen und seine individuelle Förderung ist Ziel all unserer kin- Kinder sind wir hier auf dem richtigen Weg. Eine frühe, der- und jugendpolitischen Maßnahmen. Klar ist: Nur qualifizierte Förderung, die die Erziehung der Eltern er- eine kinderfreundliche Gesellschaft hat eine gute Zu- gänzt und Bildungsangebote über das Elternhaus hinaus kunft. eröffnet, leistet einen echten Beitrag zur Chancengleich- heit. Auch der Ausbau der Tagespflege und ihre qualita- Im Mittelpunkt des 12. Kinder- und Jugendberichts tive Weiterentwicklung spielen hier eine wichtige Rolle. der Bundesregierung mit dem Titel „Bildung, Betreuung Eine Modernisierung des schulischen Lernens ist eben- und Erziehung vor und neben der Schule“ steht ein ganz- falls notwendig. Ganztagsschulen bieten mehr Zeit und heitlicher Bildungsbegriff. Die Trias von Bildung, Erzie- Raum, jedes Kind individuell zu fördern. hung und Betreuung soll an allen Lebens- und Lernorten von Kindern verwirklicht werden. Den umfassenden Rahmen für unsere kinder- und jugendpolitischen Vorhaben bietet der „Nationale Ak- Kinder werden in dem Bericht als wissbegierige, tionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis selbstständige, eigenverantwortliche, lernfähige und 2010“, dessen zügige Umsetzung für die Verbesserung lernwillige Persönlichkeiten dargestellt. Es wird aus der Chancen der Kinder von zentraler Bedeutung ist. Bis Kindersicht angemahnt, was Kinder brauchen, damit sie 2010 wollen wir Deutschland zu einem der kinder- die Welt annehmen können und in ihr herzlich willkom- freundlichsten Länder Europas machen. Dieser themen- men sind. Das ist die große Leistung des Berichts. und ressortübergreifende Leitfaden ist unter Mitwirkung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5349

(A) von Bund, Ländern und Kommunen, der Wissenschaft, Ina Lenke (FDP): Der zum 1. Januar 2005 einge- (C) Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt von führte Kinderzuschlag von maximal 140 Euro monatlich Kindern und Jugendlichen entwickelt worden. Er be- pro Kind für 36 Monate richtet sich an gering verdie- schreibt in den sechs Bereichen Chancengerechtigkeit nende Eltern, die zwar ihren eigenen Lebensunterhalt, durch Bildung, Aufwachsen ohne Gewalt, Förderung ei- nicht jedoch den ihrer Kinder abdecken können und nes gesunden Lebens und gesunder Umweltbedingun- ohne entsprechende staatliche Fürsorgeleistung auf gen, Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, Ent- Arbeitslosengeld II angewiesen wären. Diese staatliche wicklung eines angemessenen Lebensstandards für alle Unterstützungsmaßnahme ist aus Sicht der Eltern zu be- Kinder sowie internationale Verpflichtungen konkrete grüßen, wenn sie tatsächlich in den Genuss dieser zusätz- Schritte hin zu dem Ziel eines kinderfreundlichen lichen Leistung kommen würden. Deutschlands. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bun- destagsfraktion hat dagegen ergeben, dass das Gesetz Es gilt nun, den Aktionsplan auf Bundesebene, aber das soziale, politisch positive Ziel nicht erreicht hat. auch in den Ländern und vor Ort Schritt für Schritt umzu- Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind bis setzen. In unserem föderalen Staat haben wir nicht auf al- November letzten Jahres 600 997 Anträge auf Kinder- len Ebenen das Zugriffs- und Wirkungsrecht. Die Koope- zuschlag eingegangen. Von diesen Anträgen wurden ledig- ration aller Ebenen im föderalen Staat ist zum Wohl der lich 49 434 Anträge bewilligt. 416 363 Anträge wurden Kinder aber dringend notwendig. abgelehnt. Auch für das Jahr 2006 stellt eine ifo-Studie In diesem Zusammenhang ein Wort zur kommunalen fest, dass bis Ende Mai 2006 660 000 Eltern den Zu- Jugendhilfeplanung: Hier gibt es trotz der im Kinder- schlag beantragt haben und wiederum nur 70 000 den Kinderzuschlag erhielten. Das ist ein eklatantes Missver- und Jugendhilfegesetz klar festgeschriebenen Verpflich- hältnis zwischen Anträgen und Bewilligung, das Bürger- tung der Kooperation leider immer noch Defizite. Man verdrossenheit und Bürokratie fördert. hat leider öfter den Eindruck, dass manche Kommunal- politiker der Ansicht sind, es handele sich um eine frei- Das führt zu einem enormen Bearbeitungsrückstau willige Leistung und keine Pflichtleistung. Ich hoffe beim Kinderzuschlag sowie bei Bearbeitungsproblemen sehr, dass alle Beteiligten – ob Bundestag, Landtage beim Kindergeld über volljährige Kinder. Diese Proble- oder Kommunalpolitiker – in Zukunft zum Wohl der matik hat die FDP-Bundestagsfraktion jüngst in einer Kinder noch mehr an einem Strang ziehen. Kleinen Anfrage an die Bundesregierung aufgegriffen. Denn Familien sind auf sofortige Hilfe angewiesen und Bei dem gerade heiß diskutierten Thema Kinderarmut können nicht monatelang auf ihr Geld warten. Zudem (B) möchte ich um Vorsicht bitten: Nicht alle Kinder, deren sind die Verwaltungskosten hoch: beim Kindergeld (D) Familien wenig Geld haben, sind zu bedauern. Viele Fa- 0,7 Prozent, beim Kinderzuschlag 18 Prozent der Gesamt- milien mit wenig Geld schaffen es, ihren Kindern mit Zeit kosten. und Zuneigung ein glückliches Aufwachsen zu bieten. Aber: Armut beginnt oft mit Bildungsarmut. Deshalb ist Diese Verfahrens- und Konzeptionsmängel wie auch die Förderung von Kindern die beste Armutsprävention. der hohe bürokratische Aufwand sind dem Bundesfami- Wir müssen die Spirale von Armut und mangelnden Bil- lienministerium seit langem bekannt. Im Januar 2006 er- dungschancen durchbrechen. Besonders Kinder und Ju- klärte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP, die Überlegungen seien nicht gendliche, die in sozialen Brennpunkten leben oder ei- abgeschlossen, sodass kein abgestimmtes Konzept vor- nen Migrationshintergrund haben, haben weniger gestellt werden könne. Auch die Ankündigung im Mai Bildungschancen – und damit auch weniger Zukunfts- dieses Jahres, die Ministerin werde noch vor der Som- chancen. Hier müssen wir noch stärker vernetzte Ange- merpause eine Gesetzesänderung auf den Weg bringen, bote in den Stadtteilen machen und früher beginnen, ist im Sand verlaufen. Nichts ist passiert. Im Entwurf für Kinder zu fördern sowie die Eltern einzubeziehen und zu den Haushaltsplan für 2007 wird der Kinderzuschlag mit unterstützen. lediglich 150 Millionen Euro etatisiert, und das, obwohl – so Zeitungsberichte – künftig statt 150 000 Kindern „Auf den Anfang kommt es an“ – unter diese Devise 420 000 Kinder vom Kinderzuschlag profitieren sollten. haben wir als SPD-Fraktion mit gutem Grund unsere Ich hätte mich gefreut, wenn der erst gestern eingegan- Kinder-, Jugend- und Familienpolitik gestellt. Je früher gene Antrag von CDU/CSU und SPD hierzu eine Ant- wir Eltern unterstützen, Familien begleiten und Kinder wort enthalten würde. Hier finden sich nur politische All- fördern, desto besser. gemeinplätze. Von einer verbesserten Unterstützung für Kinder haben eigene Rechte. Als Kinderbeauftragte Familien und einer Neugestaltung des Kinderzuschlags meiner Fraktion setze ich mich entschieden für die Veran- ist nicht die Rede. kerung der Kinderrechte im Grundgesetz ein. Ich freue Der Antrag der Fraktion Die Linke widmet sich der mich, dass auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpolitik Thematik der Bekämpfung von Armut von Kindern und die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker aller Parteien Jugendlichen. Die politischen Aussagen des Antrags kön- gut zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass wir auch in der nen wir jedoch nicht teilen. Es ist selbstverständlich, dass Frage der Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz das Existenzminimum von Kindern garantiert sein muss. über die Parteigrenzen hinweg gemeinsam für die gute Bevor Transferleistungen erweitert oder sogar erhöht wer- Sache kämpfen werden. den, ist es unbedingt erforderlich, dass wir uns einen 5350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006

(A) Überblick über die bestehenden familienpolitischen Leis- tiert den Betroffenen ein Armut verhinderndes Leistungs- (C) tungen – dies sind immerhin rund 100 Milliarden Euro niveau. Es ist ohne weiteres finanzierbar. Schließlich er- pro Jahr – verschaffen und prüfen, wie sie effizient und möglicht es erhebliche Einsparungen bei Sozialgeld und transparent gestaltet werden können. Dies haben wir auch Arbeitslosengeld II. Für den Einstieg rechnen wir mit in unserem Antrag „Flexible Konzepte für die Familie – Mehrkosten von etwa 3,5 Milliarden Euro. Aber das beste Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung zukunfts- Rezept gegen die Arbeitslosigkeit von morgen ist doch fähig machen“ (Bundestagsdrucksache 16/1168) gefor- die Armutsverhinderung von heute. Insofern ist die Ver- dert, der morgen im Rahmen der Elterngelddebatte be- hinderung von Kinderarmut eine Investition in die Zu- handelt wird. kunft, die perspektivisch die sozialen Kassen entlasten Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich ein Ge- und stabilisieren wird. samtkonzept für eine umfassende Familienförderung bis Die Politik der Bundeskanzlerin und der Familienmi- zur Vollendung des 18. Lebensjahres eines Kindes vor- nisterin lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: zulegen, das insbesondere die Existenzsicherung der Öffentlich machen sie gern große Worte über die Be- Kinder und die Förderung kinderreicher Familien be- kämpfung der Kinderarmut. Hinter verschlossenen Tü- rücksichtigt, und in diesem Zusammenhang auch endlich ren tun sie alles zur Verschärfung des Problems. Der eine vernünftige Lösung erstens für eine Neugestaltung Kinderzuschlag ist dafür ein hervorragendes Beispiel. des Kinderzuschlags vorzulegen und zweitens den Bear- beitungsrückstau bei der Bearbeitung von Kindergeld- Im Koalitionsvertrag steht der lobenswerte Vorsatz, den anträgen für volljährige Kinder zu beseitigen. Kinderzuschlag als sozial- und kinderpolitisches Instru- ment zu verbessern. Und was passiert in der Realität? Im Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz wurde am Kinderzu- Diana Golze (DIE LINKE): Es ist gerade acht Tage schlag herumgedoktert ohne wirklichen Veränderungs- her, dass anlässlich des Weltkindertages in ganz willen. Aber der nach § 22 Bundeskindergeldgesetz ein- Deutschland 2,5 Millionen Fahnen auf öffentlichen Plät- geforderte Bericht zu den Auswirkungen und der nötigen zen aufgestellt wurden. Jedes Fähnchen stand stellvertre- Weiterentwicklung des Kinderzuschlags liegt bis heute tend für ein Kind, das in Deutschland in Armut lebt. Ge- nicht vor. rade deshalb ist es wichtig, dass heute hier im Bundestag die Kinderarmut Thema ist. Die Fraktion Die Linke legt Stattdessen finden durch die Hintertür bereits erste heute ein Konzept zur Reform des Kinderzuschlags vor. Änderungen am Kinderzuschlag statt, ohne dem Parla- Damit schlagen wir einen ersten Schritt zur Verbannung ment die Ergebnisse einer Evaluierung vorzulegen, ohne der Kinderarmut in die Geschichtsbücher vor. die Defizite des Kinderzuschlags in ihrer Gänze offen zu (B) Welche Situation haben wir? Der Kinderzuschlag in legen. Gestern hat ein Gesetzentwurf der Bundesregie- (D) seiner derzeitigen Form ist völlig ungeeignet, um dem rung die Ausschüsse passiert, mit dem eigentlich nur der Anspruch der Bekämpfung von Kinderarmut gerecht zu Zugang von Ausländern mit Kindern zu Familienleis- werden. Allein die Tatsache, dass neun von zehn Antrag- tungen neu geregelt werden sollte. In einer Nacht-und- steller eine Ablehnung erhalten, ist ein Indiz dafür, dass Nebel-Aktion wurde kurz vor der Ausschussberatung ein das Gesetz dringend einer Überarbeitung bedarf. Artikel ins Gesetz geschrieben, der dort gar nichts zu su- chen hat. Durch die Hintertür verschärft die Große Koa- Was will die Linke? Wir wollen alle Kinder aus der lition nämlich die Anspruchskriterien für den Kinderzu- Sozialhilfe herausholen. Die Bedarfsgemeinschaft nach schlag. Wer in Zukunft eine Ablehnung seines Antrags SGB II oder SGB XII darf nicht länger das sozialpoliti- auf Arbeitslosengeld II erhält, weil Anspruch auf den sche Gefängnis von Millionen Kindern sein. Alle Kinder vorrangigen Kinderzuschlag besteht, hat künftig nur unter 18 Jahren sollen in Zukunft ein Kindergeld erhal- noch einen statt bisher sechs Monate Zeit, seine Ansprü- ten, das ihnen in voller Höhe zugute kommt. Gleichzei- che rückwirkend geltend zu machen. tig wollen wir den Kinderzuschlag zu einem einkom- mensabhängigen Instrument ausbauen, das jedem Kind Ich gehe davon aus, dass auf diese Weise noch weniger mindestens den Zugang zu einem soziokulturellen Exis- Anträge auf Kinderzuschlag bewilligt werden als jetzt tenzminimum in Höhe von 420 Euro garantiert. Bei der schon. Und die Bundesfamilienministerin geht wahr- Prüfung des Anspruchs auf Kinderzuschlag und der Er- scheinlich auch davon aus. In ein laufendes Gesetzge- mittlung seiner individuellen Höhe ist zukünftig aus- bungsverfahren wird ohne Vorlaufzeit und ohne ausrei- schließlich eine Einkommensobergrenze in Form eines chende Information der Betroffenen ein blinder Passagier pauschalierten Höchsteinkommens der Eltern zu berück- geschmuggelt. Im Kern werden hier Empfänger des Kin- sichtigen. Wir wollen die Mindesteinkommensgrenze derzuschlags auf das Diskriminierungsniveau von Hartz abschaffen, die die Mehrheit der Antragsteller um den IV herabgedrückt. Doch was nützt ein Kinderzuschlag, Kinderzuschlag bringt. Wir schlagen darüber hinaus vor, der den Betroffenen den Bezug von ALG II ersparen soll, dass die Beschränkung der Zahlung auf 36 Monate abge- wenn dieser Kinderzuschlag nach denselben entwürdi- schafft wird. Armut richtet sich schließlich nicht nach genden Bedingungen bewilligt oder abgelehnt wird? Die dem Kalender. Koalitionsfraktionen müssen sich fragen lassen, ob sie Nach unseren Berechnungen würden von diesem Kon- die im Koalitionsvertrag verabredete Weiterentwicklung zept circa 2,1 Millionen Familien mit 3,1 Millionen Kin- des Kinderzuschlags zum Wohle der Betroffenen wirk- dern profitieren. Unser Konzept ist im Vergleich zum lich wollen oder ob sie sich in dieser Art und Weise aus heutigen Kinderzuschlag sehr viel einfacher und garan- der Hand nehmen lassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. September 2006 5351

(A) Wir legen Ihnen heute eine Idee für eine echte Reform nen eingehen. Deshalb beschränke ich mich jetzt auf die (C) des Kinderzuschlags vor. Und auch wenn Sie den Antrag Bundespolitik. Auch der Bund hat in diesem Bereich pflichtgemäß ablehnen werden, bitte ich Sie im Interesse eine politische Verantwortung und eine gesetzgeberische der Betroffenen darum, dieses Zukunftskonzept zur Kompetenz. Die soll und muss er nutzen, indem er den Kenntnis zu nehmen. Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung ausweitet auf Kinder ab einem Jahr. Das empfiehlt übrigens auch die Abschließend gehe ich auf den Antrag der Regie- Berichtskommission zum 12. Kinder- und Jugendbericht. rungsfraktionen ein. Natürlich ist es erfreulich, dass Kin- Im Koalitionsantrag hingegen kann ich kaum Verbindli- der und deren Chancen gewürdigt werden, dass die Be- ches entdecken. Das ist schade; denn so bleibt die Koali- deutung der öffentlichen Verantwortung betont wird. tion auf dem Niveau von Sonntagsreden stecken. Damit Allerdings hätte ich nach fast einem Jahr, das seit der verdeckt sie aber den eigentlichen Handlungsbedarf. Sie Veröffentlichung des 12. Kinder- und Jugendberichtes täuscht außerdem über die massive fiskalische Heraus- vergangen ist, etwas tiefgründigere Analysen und vor al- forderung hinweg, die hinter dem Verbesserungsbedarf lem detailliertere Schlussfolgerungen erwartet, als Sie in der Förderinfrastruktur steckt. sie hier vorlegen. Sie bezeichnen ja unsere Vorlagen gern als luftig und zu pauschal. Für diese von Ihnen gilt Wie bringen wir das Geld auf, um flächendeckend das sicher. Ein Beispiel: Wir brauchen nicht mehr nur die hochwertige Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Forderung nach verbesserten Standards in der Qualität unsere Kleinsten zu schaffen? Nun, ihr Antrag gibt hier von Kinderbetreuung, sondern endlich klare Aussagen, nicht den geringsten Hinweis darauf. Ein ganz anderer wie man die Ausbildung von Erzieherinnen und Erzie- Hinweis zeigt aber mehr als klar, wie richtungslos die hern verbessern kann oder wie die Mindestanforderun- Familienpolitik zumindest der Union weiterhin ist. Ges- gen an die Tagespflege zu gestalten sind. tern war einer Agenturmeldung zu entnehmen, dass in Ich fasse zusammen: Der 12. Kinder- und Jugendbe- der Union ein Familiensplitting erörtert wird, welches zu richt, den Sie wiederholt begrüßen, geht in vielen Punk- staatlichen Mindereinnahmen von 1,3 Milliarden Euro ten schon weiter als der heute vorliegende Antrag der führt! Wie kommen Sie, meine Kolleginnen und Kolle- Großen Koalition. Ich erwarte von der Regierung, dass gen der Union, eigentlich darauf, über Transferauswei- sie den freundlichen Bekundungen der Übereinstim- tungen in dieser Größenordnung nachzudenken, wäh- mung nun endlich Politik folgen lässt! Für die Bekämp- rend es gleichzeitig bei Frühförderung und Bildung auch fung der Kinderarmut haben wir schon mal einen Teil Ih- heute an allen Ecken und Enden fehlt? rer Arbeit erledigt. Das Stichwort der knappen Haushaltslage bietet einen guten Übergang zum Kinderzuschlag. Dieses Instrument (B) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dieser soll dazu beitragen, dass Eltern nicht der Kinder wegen (D) Aussprache liegen zwei sehr unterschiedliche Anträge unter die Armutsschwelle fallen. Die Grundidee ist über- zugrunde. Die Kürze der Zeit gebietet es, nacheinander zeugend, aber ganz offenkundig ist die Ausgestaltung knapp beide Anträge zu bewerten. des Kinderzuschlags unzureichend. Die bisher bekannt gewordenen Zahlen lassen wohl kaum einen Zweifel da- Im Koalitionsantrag zum 12. Kinder- und Jugend- ran, wie notwendig eine Weiterentwicklung ist. Hierzu bericht wird die Bedeutung frühkindlicher Förderung sollte die Regierung jetzt schon konkrete Eckpunkte vor- und Bildung herausgestellt. Die Koalition stimmt in zen- stellen, die dann fachpolitisch zu beraten wären. Statt- tralen Punkten mit den Ergebnissen der Berichtskom- dessen schiebt sie die Diskussion mindestens bis zur mission überein. So wird in dem Antrag eine „gute Qua- Vorlage des Regierungsberichts auf. Umso länger wird lität von Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang demnach der unverhältnismäßige bürokratische Auf- an“ gefordert. Notwendig sei ein Infrastrukturangebot, wand bei geringer Wirkung für die Familien anhalten. das an den „Bedürfnissen und Förderbedarfen von Kin- Die Regierung sollte Berechnungen offenlegen, wie sich dern und Jugendlichen und ihren Kindern“ ausgerichtet verschiedene Änderungsoptionen zu den Einkommens- ist. Über diese grundsätzliche Notwendigkeit gibt es über grenzen bezüglich der Zahl der Leistungsberechtigten die Parteigrenzen hinweg kaum Dissenz. Wir haben zum und der Zusatzkosten auswirken würden. Entsprechen- Beispiel bereits im März dieses Jahres einen entspre- des ist vorzulegen hinsichtlich einer höheren Leistung chenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht: sowie bei einer modifizierten Einkommensanrechnung. Neue Chancen und Perspektiven für Kinder und Jugend- liche in Deutschland (Bundestagsdrucksache 16/817). Schon jetzt ist für uns klar, dass die absolute zeitliche Begrenzung auf 36 Monate aufgehoben werden sollte. Die entscheidende Frage ist jetzt aber folgende: Wie Der Kinderzuschlag honoriert Erwerbstätigkeit von El- können wir dieser Einsicht zur Umsetzung verhelfen? tern, die damit zumindest ihren eigenen Unterhalt voll- Denn eines ist doch nicht von der Hand zu weisen: Von ständig decken. Hier ist es durchaus nicht zu beanstan- einer Förder- und Bildungsinfrastruktur, wie sie etwa im den, wenn der Kinderzuschlag als mittel- bis langfristige Jugendbericht beschrieben wird, sind wir noch meilen- Unterstützung eingesetzt wird. Ein verstärkter Arbeits- weit entfernt. anreiz ließe sich viel besser durch einen niedrigeren An- Ich kann hier nicht auf die verschiedenen Gründe da- rechnungssatz von zum Beispiel 50 Prozent statt 70 Pro- für und auf die Verantwortlichkeiten der staatlichen Ebe- zent erzielen.

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