Land Der Mythen Und Koteletten
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Weltmeister Breitner und Müller RUHM Land der Mythen und Koteletten Willy Brandt war nicht mehr Kanzler, sondern Helmut Schmidt, Gerd Müller sah aus wie Ché Guevara, und Franz Beckenbauer spielte schon damals den Chef. Ein Rückblick auf die WM 1974. VON KLAUS BRINKBÄUMER Torschütze Müller im Endspiel gegen die Niederlande Fan-Protest gegen die Junta in Chile Turnier-Star Johan Cruyff Fans in Uniform bei einem WM-Spiel in Stuttgart Überfluteter Platz in Frankfurt (Deutschland gegen Polen) Niederländische Fans RUHM s gibt diese Wochen in der Kindheit, in denen das Leben Tempo gewinnt, Ein denen sich Welten öffnen; es sind Wochen, nach denen das Leben und die Welt anders sind. Größer und weiter. Es war im Sommer 1974, einem kühlen und ziemlich verregneten Sommer. Es war der Sommer nach Willy Brandts Rücktritt und Helmut Schmidts Kanzlerwahl. Der Sommer der höchsten Sicherheitsstufe, wegen Baader-Meinhof. Der Sommer von Abbas „Waterloo“. Und es wurde der Sommer, in dem Tag für Tag Männer in dunkelblauen Trainingsanzügen mit drei weißen Streifen im Fernsehen kamen, Männer mit langen Haaren, Männer, die Rebellen genannt wurden, weil sie Jaguar fuhren und Discotheken besaßen. Es war jener Sommer, in dem selbst Gerhard „kleines dickes“ Müller aussah wie Ché Guevara. Was für die Väter 1954 war, das wurde für die Söhne 1974. Wer Mitte der sechzi- ger Jahre geboren wurde und nachmittags mit Freunden wie Frank und Uwe auf der Wiese hinterm Haus Fußball spielte auf Tore, die die Väter gezimmert hatten, der erlebte in diesem Sommer seine erste Weltmeisterschaft. Und wer zufällig auch noch in Hiltrup aufwuchs, Vorort der un- gemein mondänen Stadt Münster in West- falen, der musste vor dem Kicken Sonntag für Sonntag mit den Eltern am Steiner See spazieren gehen, über den Parkplatz vom Waldhotel Krautkrämer führte der Weg, am Tennisclub vorbei und einmal herum um den See in 35 Minuten. Und plötzlich waren sie da. Cruyff, Neeskens, Rep, Haan, Ren- ECHT GAEBELE (U. L. + R.); S. 130: RAINER MARTINI MARTINI L. + R.); S. 130: RAINER (U. ECHT GAEBELE senbrink stiegen vor dem Waldhotel Krautkrämer aus ihrem Bus, gaben nicht gern, aber letztlich doch viele Autogram- me, die wir in Alben klebten neben die Spielberichte aus den „Westfälischen Nachrichten“. Und wir durften ihre Bälle zurücktragen beim Training, und auf der Wiese spielten wir die Siege unserer Nie- derländer nach, 4:1 gegen Bulgarien in der Vorrunde, 4:0 gegen Argentinien in der Zwischenrunde, dann 2:0 gegen die DDR und 2:0 gegen Brasilien – Holland in Hil- trup, es war eine Erscheinung. Diese Mannschaft und ihre orangefar- benen Trikots und ihre langen Haare und ihr Spiel, das war Glamour, Kunst, das war Triumph, das war, wie das Leben wer- den sollte, und fast hätten wir Hiltruper den Holländern sogar den Sieg in Mün- chen gegönnt, aber dann kam die Nacht im Pool. Dort lagen Cruyff und die anderen und ein paar Hiltruper Mädchen. Und die „Bild“-Zeitung schrieb darüber, weil ihr Reporter dabei gewesen war; deshalb musste Cruyff nächtelang mit seiner Frau telefonieren und seine Ehe retten; deshalb Hoeneß und Beckenbauer nach dem Endspiel konnte er sich nicht auf Berti Vogts vor- bereiten. WEREK (U.); (O.); S. 128: WEREK / IMAGO FOTOS (M. R.); ALBR (M. L.); DPA R.); SCHULZE/IMAGO L.); WEREK/IMAGO (O. (O. S. 129: VSW 130 spiegel special 2/2006 spiegel special 2/2006 131 Torhüter Maier bei der Regenschlacht in Frankfurt WM-Gast Pelé ISTVAN BAJZAT / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); FRINKE / IMAGO (R.) (L.); FRINKE / IMAGO / DPA / PICTURE-ALLIANCE BAJZAT ISTVAN Nackte Hiltruperinnen im Pool? So soll- schenrunde, mit Jugoslawien, Schweden bert bei der Europameisterschaft 1972, te das Leben nicht sein, das war widerlich, und Polen und nicht mit Argentinien, Bra- „Rambazamba“ hatten Günter Netzer wir waren noch Grundschüler. Und so ret- silien und Holland, so kam die BRD ins Fi- und Franz Beckenbauer ihre Taktik des tete eine Schlagzeile in „Bild“ den Pa- nale, sie lag nach 57 Sekunden und ohne permanenten Rollentauschs genannt. triotismus vieler Hiltruper Jungs, und dar- den Ball berührt zu haben mit 0:1 in Rück- Aber nun, im Sommer 1974, wurden sie um jubelten wir über Gerd Müllers 2:1 stand nach Neeskens’ Elfmeter. Und wur- bei Vorbereitungsspielen ausgepfiffen, und waren am Ende natürlich schon im- de doch Weltmeister. weil sie müde spielten und verloren, denn mer und bedingungslos für unser Deutsch- Diese ganze große WM war Reise und die Bayern waren erschöpft nach dem Sieg land gewesen. Abenteuer, und was für ein Finale war im Europapokal, und Netzer (jener Net- Heute weiß man, dass die Niederlän- das, mit Hölzenbeins Schwalbe und Breit- zer, der 30 Jahre später bei der neuen Ge- der ihre Niederlage nie verstanden und ners Elfmeter zum Ausgleich, mit Müllers neration so gern ständiges Konzentrieren nie hingenommen haben, es gibt ja diese Drehung und Flachschuss zum 2:1, vorbei einklagt) war seltsam antriebslos. Niederlagen, die ewig wirken. Nach dem an Jongbloed, der sich doch nur nach Dann wurde Erwin Kremers, Schalker Endspiel, auf ihrem Bankett, ließen sie rechts hätte werfen müssen, wie er das im Linksaußen, aus dem Kader geworfen, sich zujubeln als „Weltmeister“, sie schu- Training vor unseren Augen so oft ge- weil er im letzten Bundesligaspiel den fen sich eine eigene Wirklichkeit, und die macht hatte – so scharf war Müllers Schuss Schiedsrichter als „blöde Sau“ bezeich- feierten sie. nicht. 2:1 stand es schon vor der Pause, net hatte, „mindestens dreimal“, das ver- Die Polen machten das ähnlich. Nach und danach führten Beckenbauer und merkte der Spielbericht. Und dann kam ihrem 0:1 von Frankfurt, der Wasser- Maier den Abwehrkampf auf der Torlinie, der Prämienstreit. schlacht, die zu einer dieser wenigen wirk- und Vogts wurde immer stärker gegen Es war ja eine neue Zeit angebrochen lichen Fußball-Legenden wurde, weil das Cruyff, und am Ende sieht man den Bun- im Sport, auf einmal kam richtig Geld ins Waldstadion nach Wolkenbrüchen eine despräsidenten Walter Scheel, der Franz Spiel. Die Spieler, geführt von Becken- Seenplatte war und der deutsche Torwart Beckenbauer den Pokal übergibt. bauer, der geführt wurde von seinem Ma- Sepp Maier im Morast den Sieg festhielt, Das Turnier begann vergnügt, auch für nager Robert Schwan, verlangten ihren nach diesem Spiel also erzählten sie in die Deutschen, Ost. Die hatten bei den Anteil und für den Fall des Titelgewinns Polen, die Deutschen hätten nur in der Olympischen Spielen in München, zwei 100000 Mark pro Mann, und der Verband polnischen Hälfte das Wasser abgepumpt, Jahre zuvor, Bronze gewonnen, und nun und das deutsche Volk waren natürlich damit Gerd Müller dort das eine Tor stiegen sie in erstaunlich grünen Hemden entsetzt; Bundestrainer Helmut Schön schießen konnte, in der deutschen Hälfte und mindestens ebenso erstaunlich gel- drohte mal mit seiner Abreise und mal jedoch hätten die Fluten den polnischen ben Krawatten aus dem Flugzeug; sie trai- mit 22 neuen Spielern. 70000 Mark, das Wundersturm gestoppt. Alles Verschwö- nierten dann vor Publikum und genossen war der Kompromiss. rung, mindestens organisiertes Verbre- den Westen; es war eine Phase, in der Die Spieler wurden kaserniert in Ma- chen, fast schon der dritte Krieg, so muss Erich Honecker Konsum und eine offene lente. „Ein Ausflug ins Legoland war der sich diese Niederlage für die Polen ange- DDR zuließ, man konnte Levi’s und absolute Höhepunkt“, sagt Paul Breitner, fühlt haben. Dass ihre Besten, Deyna und Wrangler kaufen in der Zone. aber das stimmte nicht ganz: Franz Lato, zu Hause sagten: „So ein Quatsch, War es Zufall, dass die DDR in dieser Beckenbauer nächtigte bei Heidi Brühl, erstens gab es ja einen Wechsel in der Pau- Phase forscher und freier Fußball spielte und andere fuhren auf die Reeperbahn. se und zweitens hatten wir die Seiten- als je zuvor und je danach? Im Mittelfeld spielte dann Overath; Uli wahl“, das änderte nichts. „Acht, neun, zehn, Klasse“, das war Hoeneß zog die Parallele zur Bonner Re- Weil Mythen im Fußball schon immer der Schlachtruf der 1300 Anhänger, die publik: Overath nach Netzer, das sei ge- stärker waren als Wahrheiten. von ihren Arbeitskolletiven vorgeschla- wesen wie Schmidt nach Brandt, denn das Diese WM, dieses Turnier von 1974, gen und dann in den Westen gekarrt eine wie das andere war Pragmatismus wurde ein Turnier der Mythen, und das ist worden waren und dort die Fahne mit nach einer Zeit der Visionen. sie geblieben für die, die gespielt haben, dem Werkzeugkasten schwenkten. Croy, Das 1:0 gegen Chile war schlimmer als und vermutlich auch für all die heute Bransch, Kische, Streich, das waren ihre nur pragmatisch, es war Quälerei, und nur 40-Jährigen, die mit diesem Turnier ein- Helden, und die DDR schlug Australien Breitners Fernschuss rettete den Gastge- gefangen wurden vom Fußball. 2:0, spielte 1:1 gegen Chile, und ihr 1:0 ge- ber; „mit einem richtigen Torwart geht so Die Bundesrepublik war Gastgeber und gen den Westen, das Sparwasser-Tor, das etwas nicht“, sagte der Held hinterher. wurde in Hamburg geschlagen von Jür- war für die DDR vermutlich soviel wert Das 3:0 gegen Australien war ein bisschen gen Sparwasser und den Gästen aus der wie für den Klassenfeind der Titel. besser, aber Beckenbauer spuckte in Rich- Deutschen Demokratischen Republik. Sie Für die Deutschen, West, begann das tung pfeifendes Publikum, und deshalb rutschte deswegen in die leichtere Zwi- Turnier ziemlich zäh. Sie hatten gezau- war eine Vereinigung von Mannschaft und 132 spiegel special 2/2006 Revoluzzer Breitner im Trainingslager Bayerische Folklore vor dem Finale FRINKE / IMAGO (L.); HORSTMUELLER (R.) (L.); HORSTMUELLER FRINKE / IMAGO Fans auch nach zwei Siegen nicht in Sicht. trug, war der „Geist von Malente“, so flackert, da steht einfach bloß „Jägermeis- „Wir waren nicht stabil, wir waren keine wurde das Phänomen hinterher getauft. ter“. Aber es ist ein dramatisches Spiel, Mannschaft“, das sagt Uli Hoeneß, und „Wir haben die deutschen Tugenden aus- auch 32 Jahre später noch.