MO INTERVIEW MAGAZIN FÜR OTHMAR KARAS MENSCHENRECHTE NR. 45 Ende der Neiddebatte. MASTERPLAN FÜR ÖSTERREICH Wohin steuern wir? Herausgeberin: SOS Mitmensch, Zollergasse 15/2, A-1070 Wien, www.sosmitmensch.at Wien, A-1070 15/2, Zollergasse SOS Mitmensch, Herausgeberin: , Magazin für Menschenrechte 4/2016, Dezember 2016 bis Februar 2017 bis Februar 2016 Dezember 4/2016, Magazin für Menschenrechte

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R Ü O F eine unmögliche Beziehung? JETZT SPENDEN! IBAN: AT87 6000 0000 9100 0590 BIC: BAWAATWW Einstieg/MO 45 MO EDITORIAL

Illustration: P.M. Hoffmann

Die Kulturkampf-Karte zieht immer noch.

Liebe Leserin Lieber Leser

Die rechtsextreme NPD in Deutschland hatte vor zwei Jahren mit dem Spruch „Maria statt Scharia“ wahlgekämpft, der RFJ, die Jugend- organisation der FPÖ, reimte voriges Jahr „Josef & Maria statt Burka & Scharia“. Parteichef Heinz-Christian Strache verkündete heuer in einer „Rede zur Lage der Nation“ folgende Botschaft: „Muslime, die unter dem D‚Islamischen Gesetz der Scharia‘ leben wollen, ersuchen wir höflich, Ös- terreich umgehend zu verlassen. Wir sehen in ihnen radikale Islamisten, nicht mehr und nicht weniger.“ Soweit also alles wie gehabt in diesem politischen Spiel. Die Frage, worüber hier eigentlich diskutiert wird, wollten wir dennoch nicht übergehen und haben den Grazer Universitätsprofessor Karl Pren- ner neun Fragen zur Scharia gestellt. Einiges, das man angesichts der me- dial inflationären Wortmeldungen zur Scharia über den Glauben musli- mischer Menschen wissen sollte, ist nun hier nachzulesen. Des Weiteren präsentieren 11 NGOs einen Fahrplan für Österreich, wie sich das Land in eine bessere Zukunft für alle entwickeln könnte.

Spannende Momente wünscht Gunnar Landsgesell

3 INHALTSVERZEICHNIS

811 32 Foto: Suzy Stoeckl Foto: Claudia Spiess / Garten der Begegnung Foto: Stephanie Füssenich

Einstieg 3 EDITORIAL Beiträge: David Mum, Johannes Wahlmüller, Elisabeth Klatzer, Alexander Pollak, Heidi Schrodt, Alexandra 4 INHALTSVERZEICHNIS Strickner, Susanne Haslinger

7 KURZE BILANZ NACH DREI JAHREN 32 ABHOLZEN IM NAMEN DER NACHHALTIGKEIT Fünf Gründe, warum Sebastian Kurz den Titel Kathrin Hartmann hat recherchiert, wie Palmöl-Firmen zu „Integrationsminister“ nicht verdient. erst riesige Waldflächen abholzen und dann mit Monokul- Kommentar: Alexander Pollak turen am Emissionshandel verdienen. Interview: Johanna Müller 8 MÜSSEN VON DER NEIDDEBATTE WEGKOMMEN 35 IMPRESSUM Der ÖVP-Europapolitiker Othmar Karas im Gespräch über Ein-Euro-Jobs, Flüchtlings- und Brexit-Referenden und die Rubriken Auswirkungen von Symbolpolitik. Interview: Kathrin Wimmer 36 KOLUMNEN Martin Schenk: Lebensmittel, die man nicht essen kann 11 SIE SCHAFFEN ES Philipp Sonderegger: Gandhi, der Rassist Flüchtlinge, ein Jahr nach der großen Ankunft. Wer Clara Akinyosoye: Burkadebatte - Alles nur Kosmetik? kümmert sich um sie? Was ist aus den zahlreichen Initiativen geworden? 38 COMMUNITY NEWS Reportage: Milena Österreicher Neues aus den muslimischen Gemeinden. Die MJÖ feiert 20 Jahre, in Kuala Lumpur gibt es eine 14 NOTSTAND HERRSCHT ANDERSWO Ausstellung über den in Österreich zu sehen. Margaretha Maleh, seit 2015 Präsidentin von „Ärzte ohne Text: Ibrahim Yavuz Grenzen Österreich“, übt scharfe Kritik an Österreichs Flüchtlingspolitik. 39 SPOTLIGHT Interview: Eva Maria Bachinger Martin Glier ist der Pressesprecher von Norbert Hofer und damit möglicherweise auch der des höchsten Re- 18 DIE SCHARIA WAR SCHON IMMER FLEXIBEL präsentanten der Republik. Wenn er twittert, dann Neun Fragen an den Grazer Universitätsprofessor Karl kann es ruppig werden. Prenner über die Scharia, über die viele reden und Text: Muhamed Beganovic niemand eine Ahnung hat. 42 MEDIEN 22 SCHARIA - EIN GEDANKENANSTOSS Bücher: Wir da draußen; Die neue Türkei; Wert und Ein Kommentar von Carla Amina Baghajati. Würde; Deutschland ist bedroht; Der Fall - Erinnerungen eines Vaters; Über/Leben im Krieg; Kinder, das sind eure 23 DAS IST VERHANDLUNGSSACHE Rechte. Film: Die Geträumten Warum die Scharia vor allem Ausdruck der offenen Struktur des Islam ist. Ein Kommentar der Buchautorin 45 SOS MITMENSCH und Islamlehrerin Lamya Kaddor. Gaskammernverleugnung ist keine Bagatelle.

25 MASTERPLAN FÜR ÖSTERREICH 46 ANDERE ÜBER … Ein gutes Leben für Alle versprechen 11 NGOs, die ein Andrea Eraslan-Weninger und Willi Resetarits über die Budget für Österreich erstellt haben, das eine bessere Forderung nach Ein-Euro-Jobs. Zukunft verspricht. Sofern sich die Politik an den Fahrplan hält.

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HANDLUNGSBEDARF Kein Integrationsminister Fünf Gründe, warum Sebastian Kurz den Titel „Integrationsminister“ nicht verdient.

Kommentar: Alexander Pollak Illustration: Petja Dimitrova

Als Sebastian Kurz im Juni 2011 in die Re- in Österreich ermöglichen sollte. Sebastian für sind extrem restriktive Einbürgerungs- gierung gerufen wurde, erntete er viel Kri- Kurz setzt sich dafür ein, diesen Mindest- bestimmungen. Wer etwa zu wenig ver- tik und auch Spott. Er sei zu jung, er verfüge betrag für kinderreiche Familien und für dient, hat keine Chance auf Einbürgerung. über keinerlei Erfahrung, er sei noch kei- Menschen mit Fluchtgeschichte radikal zu Das betrifft auch Personen, die bereits 15, ne gestandene Persönlichkeit, hieß es. Sehr kürzen. Dass das fatale Auswirkungen auf 25 oder 50 Jahre im Land leben oder hier rasch zeigte sich jedoch, dass Kurz den Ehr- die Lebensbedingungen und Perspektiven geboren wurden. Die Folge ist, dass immer geiz und das Vermögen hatte, viele seiner der Betroffenen hat, nimmt er in Kauf. mehr Menschen in Österreich von demo- gestandenen PolitikerkollegInnen an die Bildungs-Frühselektion: Das Selektieren kratischen Rechten und auch von Zugehö- Wand zu spielen. Er beeindruckte mit küh- von Kindern im Alter von 10 Jahren macht rigkeit ausgeschlossen sind. ler Strategie, wirkungsvoller Rhetorik und Bildungschancen zunichte. Auch innerhalb Diskreditierung von Willkommenskultur: viel Fleiß in der Entwicklung und Vermark- der ÖVP gibt es inzwischen Stimmen, die Vor zwei Jahren setzte sich Kurz noch für tung von Projekten. dem kritisch gegenüber stehen. Sebastian ein Mehr an Willkommenskultur ein. In Die strategische Linie von Kurz bestand von Kurz gehört jedoch nicht dazu. Er setzt wei- dem Moment, als der Begriff von rechts kri- Anfang an darin, Vorhaben voranzutreiben, terhin auf Selektion statt Integration. Dabei tisiert wurde, ließ Kurz ihn nicht nur wie bei denen er mit der Zustimmung einer zeigen Studien, dass ein Selektionsschulsy- eine heiße Kartoffel fallen, er fing auch an, breiten Mehrheit der Wahlberechtigten in stem Kinder, deren Eltern ein geringes Ein- ihn zu diskreditieren. Dabei ist eine Will- Österreich rechnen konnte. Er setzte promi- kommen und keinen akademischen Hinter- kommenskultur, die Menschen offen, hilfs- nente Persönlichkeiten als „Integrationsbot- grund haben, eklatant benachteiligt. bereit und respektvoll begegnet und die schafter“ an Schulen ein. Er forderte schär- Integration nicht von Anfang an: Lange hat Solidarität, Menschlichkeit und Gleichbe- fere Strafen für Schulpflichtverletzungen. sich Kurz mit Händen und Füßen dage- rechtigung vorlebt, die vielleicht stärkste in- Er setzte Erleichterungen bei der Einbürge- gen gewehrt, Integrationsprogramme und tegrative Kraft, die unsere Gesellschaft lei- rung für „Supermigranten“ um. Und er ver- Sprachkurse auch für Asylsuchende und sten kann. knüpfte Integration mit dem Begriff „Lei- nicht nur für Asylberechtigte anzubieten. Sebastian Kurz ist ein hochtalentierter Rhe- stung“. Einige Bundesländer haben, entgegen der toriker, der überzeugend aufzutreten ver- Inzwischen ist Kurz seit fünfeinhalb Jahren Linie des Ministers, von sich aus angefan- mag. Seine Integrationspolitik beschränkt Mitglied der Bundesregierung, drei Jahre gen, Angebote für Asylsuchende zu entwi- sich jedoch auf Bereiche, die als popu- davon als Minister. Doch ist Sebastian Kurz ckeln. An einem flächendeckenden Inte- lär gelten. In anderen Bereichen lässt Kurz tatsächlich ein Integrationsminister? Erheb- grationsprogramm für Neuankommende Engagement vermissen oder macht sogar liche Zweifel sind angebracht. von Anfang an fehlt es jedoch nach wie vor. beinharte Chancenminimierungs- und Se- Mindestsicherungskürzung: Im Jahr 2010 Kurz hat sich auch gegen die Ausbildungs- gregationspolitik. legten Bundesregierung und Länder ge- pflicht von jungen Asylsuchenden gestellt. Kurz ist der Minister, der für die Integrati- meinsam einen Mindestbetrag fest, der für Einbürgerungsblockade: Österreich zählt onsagenden zuständig ist, Integrationsmini- mittellose Personen ohne ausreichend be- zu den europäischen Ländern mit der ster ist er jedoch bisher nicht. Diesem Auf- zahlten Job ein menschenwürdiges Leben niedrigsten Einbürgerungsrate. Grund da- trag sollte er nachkommen.

7 MO 45/Symbolpolitik MÜSSEN VON DIESER NEIDDEBATTE WEG „Ein-Euro-Jobs“, Kürzung der Mindestsicherung und andere Symbolpolitik statt Inhalte. Die Politik hat ein Glaubwürdig- keitsproblem, sagt Othmar Karas. Der ÖVP-Europapolitiker über Sozialneid, direkte Demokratie und den Sinn für die richtige Wortwahl. Interview: Kathrin Wimmer

Vor kurzem hat das österreichische Innen- 1,61 Euro und neben der Mindestsicherung ministerium einen „Leistungskatalog“ mit darf man laut Gesetzgeber derzeit ungefähr 32 gemeinnützigen Hilfstätigkeiten für 200 Euro dazuverdienen. Das heißt, wir ha- AsylwerberInnen veröffentlicht. Aufgelis- ben eine Obergrenze und es geht um qua- tet sind Tätigkeiten wie Schneeräumung, si-ehrenamtliche Tätigkeiten. Ich bin dafür, Pflege von Parkanlagen oder Altenbetreu- dass sich Flüchtlinge an Gemeinwohltätig- ung. Der Stundenlohn ist noch nicht fest- keiten beteiligen, solange es sich nicht um gelegt und bewegt sich zwischen 2,50 und eine Zwangstätigkeit handelt. Ich würde mir 5 Euro. Außenminister Kurz hat im Som- auch wünschen, dass diese Fragen nicht von mer verpflichtende „Ein-Euro-Jobs“ für Bundesland zu Bundesland oder von Mit- arbeitslose Asylberechtigte gefordert. Was gliedstaat zu Mitgliedstaat unterschied- halten Sie von diesen Vorschlägen? lich entschieden werden, sondern wir zu Ich verstehe die Diskussion darüber, dass je- gemeinsamen Grundprinzipien kommen. mand, der in Österreich oder in der Euro- Solange es keine gemeinsamen Regeln gibt, päischen Union Asyl erhält, auch ein sicht- wird es auch schwer sein, den europäischen bares Zeichen des Willens zur Integration Verteilungsschlüssel umzusetzen. durch eine Tätigkeit für das Gemeinwohl leisten soll. Eine gemeinnützige Tätigkeit In Oberösterreich wurde im Sommer die darf aber nicht Ersatz für eine Arbeitstätig- Mindestsicherung von Asylberechtig- keit sein. Arbeit für das Gemeinwohl darf ten von 914 Euro auf 520 Euro gekürzt. kein Niedriglohnjob werden, damit keine Wie stehen Sie zu Kürzungen in diesem Ungleichheiten am Arbeitsmarkt entste- Bereich? hen. Deshalb bin ich froh, wenn man die Egal ob Mindestsicherung oder Vertei- Tätigkeiten klar beschreibt. Die Höhe ist lungsschlüssel, ich wünsche mir gemein- noch nicht geklärt, denn es handelt sich um same europäische Grundprinzipien im

keinen Arbeitsplatz. Ein Zivildiener kriegt Umgang mit Flüchtlingen und eine ge- Suzy Stoeckl Foto:

8 Symbolpolitik/MO 45

meinsame Migrationspolitik in der EU. Die Präsidenten der Hilfsorganisationen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Frei- en Wohlfahrt haben vor kurzem einen ge- meinsamen Brief an die Bundesregierung verfasst, den ich als Präsident des „Hilfs- werk Österreich“ unterzeichnet habe. Wir treten dafür ein, dass die Kernelemen- te der bestehenden 15a Vereinbarung zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung un- verändert bleiben. Jedem Menschen ist ein Mindestmaß an würdevoller Existenz zu- zusichern. Menschen ohne Arbeit und An- spruch auf sozialversicherungsrechtliche Leistungen sollen krankenversichert sein. Es soll mit der Mindestsicherung dafür Sorge getragen werden, dass es zu keiner Verarmung kommt und die Wege zur Er- werbstätigkeit deutlich verbessert werden. Wir wollen als Gesellschaft dazu beitragen, dass niemand betteln muss und die Grund- bedürfnisse des Lebens abgedeckt sind. Das WIR WOLLEN ALS GESELLSCHAFT DAZU BEITRAGEN, DASS NIE- MAND BETTELN MUSS.

heißt, Familien sollen nicht ihre Wohnung verlieren, weil sie nicht mehr leistbar ist. So lauten die Grundlagen der 15a Verein- barung aus dem Jahr 2015, daran hat sich nichts verändert. Eine Rückkehr in die alte Logik von neun völlig verschiedenen Re- gelungen lehne ich ab. Das wäre ein gro- ßer sozialer Rückschritt. Ich spreche mich ganz klar für eine bundeseinheitliche Rege- lung aus und ich bin dafür, dass man sich um gemeinsame Grundprinzipien inner- halb der EU bemüht. Dass die 15a Verein- barung mit Ende des Jahres auslaufen soll, macht mir große Sorgen. Wir müssen von dieser „Neiddebatte“ weg und hin zu einer sachlichen Diskussion kommen, die auf einem gemeinsamen Recht, auf gemeinsa- men Werten und gemeinsamen Grundsät- zen wie Fakten beruht.

Als Sie 2013 die Flüchtlinge in der Votiv- kirche besuchten, forderten Sie „europa- weite, einheitliche Standards bei der Un- terbringung und Grundversorgung“. Was hat sich seither verändert? Wir haben in Europa leider zu wenig Ge- „Ich finde sie unverantwortlich, weil sie die Gemeinschaft schwächen und Feindbilder schaffen.“ Othmar meinschaftskompetenz und es gibt mehr Karas über Referenden zur Flüchtlingsquote in Ungarn und den Brexit in Großbritannien. Vorschläge als letztlich beschlossen wurde

9 MO 45/Symbolpolitik

und mehr Beschlüsse, als umge- „verbaler Abrüstung“ gespro- setzt wurden: wie zum Beispiel die chen. Was haben Sie damit ge- Überarbeitung der Dublin-Rege- meint? lung, einheitliche EU-Asylverfah- Ich habe damals gesagt, man soll ren, Außengrenzschutz, Hilfe vor nicht eine Provokation mit einer Ort, sowie auch der Verteilungs- anderen beantworten. Die aktuel- schlüssel. Wir sind zwar viel wei- len Vorgänge in der Türkei scho- ter als vor dem Jahr 2014, aber im- ckieren mich zutiefst und können mer noch nicht weit genug. Ein von allen Demokraten nur verur- „Zaun“ löst kein Problem, son- teilt werden. Der Angriff auf De- dern bleibt Symbol für Sicherheit mokratie, Freiheit und Menschen- Karas traf im Winter 2012/13 die Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche. und Schutz. Nur die Lösung vor Das Foto ist aus dem Dokumentarfilm „Last Shelter“ (2015), den würde ist auch ein klares Signal Ort und die Integration bei uns Regisseur Igor Hauzenberger über das Refugee Protest Camp in der der Türkei, dass sie keine weiteren kann diese Herausforderung ge- Votivkirche gedreht hat. Beitrittsverhandlungen mit der recht und menschlich bewälti- Europäischen Union will. gen. Wir müssen innerhalb der EU mehr hört, die dagegen stimmen und dann ein Die Europäische Union muss Konsequen- Gemeinsamkeiten entwickeln und in der Referendum macht, das ihm das Recht ge- zen ziehen und darf nicht zur Tagesord- Wortwahl bedächtig sein. Darum bin ich ben soll, den Beschluss nicht umsetzen zu nung übergehen. Die Türkei bewegt sich auch bei „Ein-Euro-Jobs“, „Kürzung“ oder müssen. ständig von der Europäischen Union weg „Zaun“ immer so vorsichtig. Die Wortwahl In der Politik ist es wichtig, durch das ei- und überschreitet rote Linien. Wenn je- trägt nicht immer zur Lösung bei, sondern gene Handeln glaubwürdig zu sein, sonst mand mit der Todesstrafe zündelt, dann kann auch eine „Neiddebatte“ und das „Ge- verliert man an Vertrauen. Im Moment ha- bricht er selbst die Gespräche für einen EU- geneinanderausspielen“ verstärken. Das ist ben wir eine Glaubwürdigkeitskrise, weil zu Beitritt ab. Dennoch bleibt die Türkei un- nicht mein politischer Anspruch. Wir müs- vielen Politikern die Schlagzeilen von mor- ser Nachbar. Und weil die Türkei Nachbar sen bereit sein, differenzierter zu argumen- gen wichtiger sind als eine nachhaltige Pro- ist, weil wir eine gemeinsame Grenze und tieren, uns grundsätzlicher der Thematik zu blemlösung. Das ist die Herausforderung gemeinsame Interessen haben, müssen wir stellen, und dürfen nicht auf die tagespoli- für die europäische Demokratie. im Gespräch bleiben. Die Flüchtlings- und tische Schlagzeile schielen. Migrationsströme zeigen, dass wir durch je- WIR WÄHLEN NICHT HOFER den Krisenherd, nah oder fern, mitbetroffen Nach dem „Flüchtlings-Referendum“ in ODER VAN DER BELLEN, sind. Wir sollten daher nicht sagen, wir re- Ungarn, dem „Brexit“ in Großbritannien SONDERN EIN den nicht mehr miteinander und suggerie- oder etwa auch der CETA-SPÖ-Parteimit- AMTSVERSTÄNDNIS. ren damit der Bevölkerung, dass die Proble- gliederbefragung in Österreich: Welchen me gelöst sind. Das ist einfach nicht ehrlich Einfluss können Ihrer Ansicht nach sol- Diese Vertrauenskrise hat auch mit einer und auch nicht richtig. Nicht miteinander che Volksbefragungen auf die Politik in populistischen Politik zu tun, die durch zu reden, löst kein Problem. der EU haben? Verunsicherung statt Problemlösung Diese Referenden wurden mit der natio- Stimmen sammelt. Man könnte das auch Und es wird „weitergezündelt“... nalen Karte oder der Schuldzuweisung auf als Symbolpolitik bezeichnen, was verste- Die Frage ist: Wie gehen Politiker in Zei- den Nachbarn begründet und schüren die hen Sie unter dem Begriff? ten, wo alles komplexer wird und die Angst Anti-EU-Stimmung. Sie stärken den Natio- Symbole allein lösen noch kein Problem. vor dem Tempo der Veränderung steigt, mit nalismus und nicht die europäische Solida- Symbole sind wichtig, aber sie sind kein dem Ohnmachtsgefühl der Menschen um? rität. Ich finde sie unverantwortlich, weil sie Ersatz für notwendiges Handeln. Die Fak- Dieser Gedanke schwingt bei jeder Ent- die Gemeinschaft schwächen und Feindbil- ten, das Recht, die Werte und die Menschen scheidung mit. Auch bei der Bundespräsi- der schaffen. Wir können nur dann Proble- müssen Grundlage des Handelns sein. Wel- dentenwahl wählen wir nicht Hofer oder me lösen, wenn wir Verständnis füreinan- che Lösungen ich anbiete, welche Maßnah- Van der Bellen, sondern wir wählen ein der entwickeln. men ich setze, ist immer auch eine Frage Amtsverständnis für den Bundespräsiden- des eigenen Gewissens. Ich würde nie das ten der Republik Österreich. Dieser trägt Was schlagen Sie vor, was sollte man da- Gewissen gegen die Sache ausspielen. Wenn als Staatsoberhaupt maßgeblich zur Rolle gegen tun? ich jeden Tag eine andere Wirklichkeit vor- nach innen wie nach außen bei. Das ist der Politik anders machen. An Lösungen ar- gaukle und immer nur weiß, wer schuld ist, Grund, warum ich für Alexander Van der beiten. Ich bin gegen das Referendum in anstatt zu wissen in welcher Form ich mit- Bellen eintrete. Nicht weil ich immer sei- Ungarn aufgetreten und andere haben be- verantwortlich bin, habe ich längerfristig ner Meinung bin, sondern weil er zur Mit- hauptet, das sei direkte Demokratie. Es ist ein Problem. verantwortung Österreichs in Europa steht nicht demokratisch, wenn Viktor Orbán an und ich gegen jeden auftrete, der mit der einem Beschluss, dem Verteilungsschlüs- Sie haben im Zusammenhang mit den nationalen Karte gegen die europäische So- sel, teilnimmt, wo er zu den 4 von 28 ge- EU-Türkei-Beitrittsverhandlungen von lidarität argumentiert.

10 Erfolgserlebnisse/MO 45 SIE SCHAFFEN ES Flüchtlinge ein Jahr nach der großen Ankunft. Wer kümmert sich um sie? Was ist aus den zahlreichen HelferInnen gewor- den? Ein Besuch bei drei Integrationsprojekten. Reportage und Fotos: Milena Österreicher

enn Nathalie Winger mit ih- rem Hund Lewis in die Trais- W kirchner Akademiestraße ein- biegt, spitzt dieser schon freudig die Ohren. Es ist Freitag, der Tag, an dem die beiden allwöchentlich zum „Garten der Begeg- nung“ fahren. Seit Frühjahr wird dort ge- meinschaftlich ein Feld bewirtschaftet, es werden Bio-Früchte angebaut. „Ein Bei- spiel für gelebte Integration“ heißt es auf der Website, denn beim gemeinsamen Garteln machen TraiskirchnerInnen und Asylwer- berInnen aus der wenige Gehminuten ent- fernten Erstaufnahmestelle (EAST) ebenso mit, wie Flüchtlinge aus nahegelegenen Un- terkünften der Nachbarorte. Die Ernte wird am Feld verkauft, ein Teil an den Traiskirch- ner Sozialmarkt gespendet und der Rest ge- „Es wird so getan, als gebe es die Hilfsbereitschaft der ÖsterreicherInnen nicht mehr. Aber das meinsam verkocht und verspeist. stimmt nicht“, sagt Nathalie Winger.

Gekommen, um zu bleiben dem Boden. Mittlerweile ist es um die Hel- „Es gibt definitiv mehr positive Beispiele, Über ein Jahr ist vergangen, seitdem eine ferInnen wieder ruhig geworden. Doch wie als immer vermittelt wird.“ große Anzahl an flüchtenden Menschen in die AsylwerberInnen sind auch sie hier – Österreich ankam. Knapp 90.000 Schutz- immer noch. So wie Nathalie Winger, die Obaidullah und seine Hemden suchende stellten 2015 einen Asylantrag. Zum „Garten der Begegnung“ gehört auch Etwa dreimal so viel wie im Vorjahr. Im GARTEN DER eine Textilwerkstatt ein paar Häuserblocks EAST Traiskirchen, einem der drei Erst- BEGEGNUNG: weiter. Dort sitzt an einer der Nähmaschi- aufnahmezentren Österreichs, waren es im EIN BEISPIEL FÜR nen Obaidullah Sherzai. Der 18-jährige Af- Juli 2015 an die 4.000 Menschen. Rund ein GELEBTE INTEGRATION ghane ist hier der kleine Star. Wenn man Drittel der AsylwerberInnen musste tage- nach der Textilwerkstatt fragt, kommen so- lang im Freien schlafen, da das Gebäude sich seit Beginn der sogenannten Flücht- fort alle auf „Obaidullah und seine Hem- restlos überfüllt war. lingskrise engagiert. Sie ärgert, dass das den“ zu sprechen. Auf einer eigenen Web- In besagtem Sommer erfasste Österreich Flüchtlingsthema medial so negativ auf- site bietet er mittlerweile acht Modelle an. eine Welle der Hilfsbereitschaft. Menschen geladen ist. „Es wird so getan, als gebe es In der Textilwerkstatt fing er an, als er vor fuhren zu Bahnhöfen und versorgten die die Hilfsbereitschaft der ÖsterreicherInnen zehn Monaten in die EAST Traiskirchen Ankommenden, Hilfsprojekte sprossen aus nicht mehr. Aber das stimmt nicht“, sagt sie. kam. Mittlerweile wohnt er in einer Unter-

11 MO 45/Erfolgserlebnisse

Nichtstun das erste Mal wieder Tagesstruk- turen haben“, sagt die Projektleiterin Ma- ria Steindl. 20 Unterrichtsstunden pro Wo- che stehen auf dem Stundenplan. Wer in Deutsch noch nicht sattelfest ist, besucht einen entsprechenden Deutschkurs. So wie Alika, 16 Jahre, aus Afghanistan, der im A1-Deutschkurs sitzt. „Subjekt, Prädi- kat und Objekt erkennen“ steht heute am Stundenplan. „Ich mag die Schule“, sagt er. Später möchte er Pflegehelfer werden. Ne- ben dem Unterricht, wird den Jugendcol- lege-BesucherInnen ein Berater oder eine Beraterin zur Seite gestellt, der/die bei der weiteren Orientierung hilft. Ziel ist es, die jungen Menschen nach etwa neun Mona- ten an weiterführende Schulen, Lehrstellen Eine Schneiderei in der Wiener Innenstadt ist bereits auf Obaidullah Sherzai aufmerksam geworden. oder Unis zu vermitteln oder direkt in ei- Doch er ist im Asylverfahren und darf noch nicht arbeiten. nem geeigneten Job unterzubringen. Der Großteil der Lernenden kommt aus kunft in Wien, trotzdem kommt er jede ProjektpartnerInnen. Die Stadt Wien, das Afghanistan. Weitere Herkunftsländer sind Woche zum Nähen nach Traiskirchen. AMS und der Europäische Sozialfonds fi- Syrien, Somalia, Irak, Iran, Rumänien und Dort wartet Gertrude Zöscher auf ihn. Zö- nanzieren es. Sowohl anerkannte Flüchtlin- Kongo. Nationalismus, soziale Kontrolle, scher ist gelernte Schneiderin und hilft ge, als auch Menschen im Asylverfahren, Religiosität – all das spielt auch im Jugend- Obaidullah. Nicht nur beim Nähen, son- college eine Rolle. Seit Beginn des Colle- dern auch bei Behördenwegen oder beim OBAIDULLAH HAT NÄHEN ges hat man einen Schüler ausgeschlossen, Deutschlernen. „Es bleibt nicht nur bei GELERNT. AUF SEINER weil er gewalttätig wurde. Bei über tau- den paar Stunden Nähen. Man baut na- WEBSITE BIETET ER NUN send Schülern und Schülerinnen ein guter türlich auch eine persönliche Beziehung ACHT MODELLE AN. Schnitt, meint Maria Steindl. „Es braucht auf und möchte helfen“, sagt die Steirerin. klare Regeln“, sagt die Projektleiterin. Au- Alle zwei Wochen fährt sie aus Bruck an die in der Grundversorgung sind, können ßerdem versteht sie das Jugendcollege als der Mur nach Traiskirchen und betreut ab- am Jugendcollege teilnehmen. religionsfreien Raum. Gebetsräume gibt es wechselnd mit Kolleginnen die Textilwerk- „Wir erleben die Freude der Menschen, im Gebäude keine. In den Gängen des Hau- statt. Oft kommen AsylwerberInnen aus der wenn sie nach so langer Ungewissheit und ses in der Spitalgasse 5-9 trifft man wenige EAST vorbei, um Kleidungsstücke kleiner nähen zu lassen. Die meisten der gespen- Gertrude Zöscher ist gelernte Schneiderin. Alle zwei Wochen fährt sie aus Bruck an der Mur nach deten Kleidungsstücke sind zu groß für die Traiskirchen und betreut abwechselnd mit Kolleginnen die Textilwerkstatt. Neuankömmlinge. Eine Schneiderei in der Wiener Innenstadt sei schon auf Obaidullah aufmerksam ge- worden. Doch er ist noch im Asylverfahren und darf somit nicht arbeiten. „Ich bin sehr XXXXXXX SELBST froh über die Ablenkung in der Textilwerk- DIE MEDIEN SPIELEN statt“, sagt Obaidullah. Denn mit seinen 18 XXXXXXXX GEWISSEN Jahren fällt er zudem aus dem schulpflich- GRAD MIT. tigen Alter heraus.

Endlich Schule Für junge Flüchtlinge, die das schulpflich- tige Alter überschritten haben, gibt es seit August das Jugendcollege „StartWien“. An zwei Standorten belegen 1.230 Jugendliche im Alter von 15 bis 21 Jahren Basis-Bil- dungsmodule wie Mathematik oder Eng- lisch. Auch Spezialfächer wie Gesundheit, Soziales oder Werkstätte werden vermittelt. Die VHS Wien führt es als eine von neun

12 Erfolgserlebnisse/MO 45

Karima Aziz (li.), die Leiterin des *peppa in Ottakring, und Aya, eine der Jugendlichen, die hier betreut werden.

Mädchen an. Mehr als zwei Drittel der Col- Probleme mit Sozialarbeiterinnen oder braucht oder Fragen zur Hausübung hat. lege-TeilnehmerInnen sind männlich. Wenn Ärztinnen besprechen. Die meisten Besu- „Sie sind alle so nett hier“, schwärmt Aya, Frauen in einer Klasse sind, dann mindes- cherinnen kommen aus der Türkei, gefolgt „*peppa ist meine zweite Familie.“ tens zu dritt, so die interne Regelung. von Afghanistan und Serbien, auch Öster- Manchmal vermitteln die *peppa-Mitar- reicherinnen sind dabei. „Aus ganz Wien beiterinnen auch zwischen Schulen und Mädchencafé in Ottakring kommen geflüchtete Mädchen ins *peppa“, Eltern. Einmal wollte ein Vater seine Toch- Einen geschützten Raum ganz für sich fin- erzählt Aziz, denn ansonsten gebe es für ter nicht an den berufspraktischen Ta- den junge Frauen hingegen im *peppa in Frauen nicht sehr viele Angebote, die ih- gen teilnehmen lassen. „Er wusste einfach Ottakring. Seit sechs Jahren gibt es das in- nen einen geschützten Raum bieten. nicht, was das ist und wozu das gut sein terkulturelle Mädchencafé und die Be- soll“, berichtet Karima Aziz. Die Beraterin- ratungsstelle der Caritas im 16. Bezirk, *PEPPA IST nen konnten ihn überzeugen: Das Mäd- einem der Bezirke mit dem höchsten Mi- MEINE ZWEITE chen schnupperte in den Berufsalltag und grantInnenanteil in der Bundeshauptstadt. FAMILIE. hat nun einen festen Berufswunsch: Apo- „Auch wir merken den Anstieg an geflohe- AYA thekerin. nen Menschen vom letzten Jahr“, sagt Ka- Ob Freiwilligen-Initiativen wie der „Garten rima Aziz, *peppa-Leiterin. Davor kamen Mit Bussi links, rechts und einer Umar- der Begegnung“ in Traiskirchen, NGO-Pro- jeden Tag etwa 25 Mädchen ins Mädchen- mung begrüßen sich Karima, Aziz und Aya jekte wie das *peppa in Ottakring oder das café, mittlerweile sind es täglich 40 bis 50. am Eingang des *peppa. Aya ist 15 Jahre alt. Wiener Jugendcollege auf Stadt-Ebene – „Es werden immer mehr Mädchen aus dem Seit zwei Jahren lebt die Syrerin in Öster- es ist einiges in Bewegung gekommen seit Irak und Syrien“, ergänzt Aziz. reich. Eines Tages schnappte sich ihre Leh- dem Sommer 2015. Und sie sind weiterhin Mädchen zwischen 10 und 20 Jahren, ein- rerin die Klasse und besuchte mit ihnen das hier: die neuen Mitmenschen aus verschie- heimische wie zugezogene – mit oder ohne *peppa. Aya gefiel es, sie blieb. „Ich kom- denen Ländern sowie die HelferInnen, die Fluchtgeschichte – sind im Zentrum will- me, so oft ich Zeit habe“, sagt sie. „Also je- versuchen, ihnen das Leben in Österreich kommen. Im *peppa können sie gemein- den Tag außer Montag.“ Die Beraterinnen zu erleichtern. Es tut sich viel, bemerkt und sam spielen, lernen, lesen, Workshops be- helfen ihr, wenn sie Formulare oder Briefe unbemerkt, meist abseits schriller Medien- suchen oder in der Beratung persönliche nicht versteht, wenn sie einen Arzttermin Meldungen.

13 MO 45/Interview NOTSTAND HERRSCHT ANDERSWO Margaretha Maleh, seit 2015 Präsiden- tin von „Ärzte ohne Grenzen Österreich“, übt scharfe Kritik an Österreichs Flücht- lingspolitik. Und sie spricht von der zu- nehmenden Missachtung von Menschen- rechten und Völkerrecht in kriegerischen Auseinandersetzungen. Interview und Fotos: Eva Maria Bachinger

Ärzte ohne Grenzen hat die Entscheidung zu kommen. Das widerspricht der Genfer Türkei um Asyl ansuchen könnten. getroffen, keine EU-Gelder mehr zu anzu- Konvention. Das war für uns eine Grund- Wenn Menschen schon in Griechenland nehmen. Warum? satzentscheidung, nicht zum Trotz oder sind, warum müssen sie zurück in die Tür- Es musste klar aufgezeigt werden, was der aus Widerstand. Dieser Deal widerspricht kei? Die Türkei ist kein EU-Land, da gilt Deal der Europäischen Union mit der Tür- auch unseren Grundprinzipien der Neut- das Dublin-Abkommen nicht. Zudem ist kei wirklich bedeutet. Es geht ja nicht nur ralität, Unabhängigkeit und Unparteilich- die Türkei auch nicht unbedingt ein siche- darum, dass die Türkei bis 2017 von der keit. Humanitäre Hilfe hat den besonderen res Land. EU drei Milliarden Euro zur Unterstüt- Auftrag, bedarfsorientiert zu helfen und ist zung für die Versorgung der Flüchtlinge nicht politisch motiviert. In Österreich geistern die Wörter „Ober- bekommt. Wir gönnen der Türkei die Mil- grenze“ sowie „Notverordnung“ durch liarden, sie brauchen sie auch, denn die DAS IST die politischen Debatten. Sehen Sie die Türkei beherbergt drei Millionen Flücht- MENSCHENHANDEL. Konvention hier auch verletzt? linge. Es geht darum, dass damit eine po- MALEH ÜBER DEN Ja, auf alle Fälle, weil das Menschenrecht ei- litische Instrumentalisierung verbunden DEAL MIT DER TÜRKEI. nen Asylantrag stellen zu dürfen, verletzt ist. Der Deal ist, dass die Türkei die Gren- wird. Österreich hat die Pflicht, Menschen zen dicht macht und dafür Flüchtlinge aus Besteht die Gefahr, dass deswegen Projek- zu helfen, die kommen. Sie sind in Not, Griechenland zurück nimmt. Das ist Men- te nicht mehr finanziert werden können? sonst würden sie ihre Heimat nicht verlas- schenhandel. Wenn wir das Geld weiter- Es wird kein einziges Projekt gekürzt oder sen, auch wenn es sogenannte wirtschaftli- hin nehmen, sind wir Mitspieler und neh- geschlossen. Wir haben ausreichend finan- che Gründe sind. Das ist die Realität. Wenn men in Kauf, dass die Grenzen zu sind und zielle Ressourcen, um so etwas durchtragen man weiß, wie prekär derzeit die Situation Menschen in Syrien eingeschlossen wer- zu können. in den Flüchtlingslagern im Sudan, in Tan- den und sterben. Flüchtlinge sollen um je- sania, in Äthiopien, in Kenia ist, dann ist es den Preis von Europa ferngehalten werden, Man könnte argumentieren, dass die verständlich, dass sich die Menschen auf obwohl sie ein Recht haben, außer Landes Flüchtlinge aus Griechenland auch in der den Weg machen. Wir sehen die überfüllten

14 Interview/MO 45

merkt, dass die Frauen nach einer gewissen Zeit so erschöpft sind, dass sie nicht mehr ihre Kinder versorgen können. Es stellt sich eine Lethargie ein, viele leiden an Depressi- onen, Angstzuständen, Panikattacken. Die Menschen haben auch keine Kraft mehr in stressigen Situationen angemessen zu re- agieren; familiäre Konflikte nehmen zu. Der permanente Stress führt häufig zu Ge- walt. Das ist ein Teufelskreis, deswegen ist psychosoziale Unterstützung so wichtig.

Wie sollte diese Hilfe gestaltet sein? Gefragt ist emotionale und soziale Unter- stützung. Das können individuelle Gesprä- che sein, wo sich die Betroffenen ausreden und ausweinen können, aber auch Spiel- gruppen, Frauengruppen, Kindergärten zur Stützung der Gemeinschaft. Psychosozia- le Unterstützung für Kinder und Jugendli- che ist besonders wichtig, viele wurden ver- letzt oder haben Gewalt und Tod erlebt. Sie haben von ihrer Zukunft geträumt, wollten Lehrerin oder Arzt werden, und was bleibt ihnen jetzt? Das sind ja auch keine kurz- fristigen, schnell vorübergehenden Situati- onen, da geht es um Jahre.

Uns geht es nicht darum, für Flüchtlinge ein „Hotel Sacher“ hinzustellen. Sie haben kritisiert, dass in Lagern wie Es geht um absolute Mindeststandards. Traiskirchen Massenküchen die Flücht- linge versorgen, anstatt den Menschen die Lager in Jordanien, im Irak, wir sind ja vor dass ein Mensch alles, was ihm wichtig ist, Möglichkeit zu geben, selber zu kochen. Ort. Es herrschen dort für uns unvorstell- verlässt, seine Freunde, seine Familie, sein Ja, denn es ist so wichtig, dass es eine mini- bare Bedingungen. Schlepper betreiben ihr Hab und Gut, und ins absolute Ungewisse male Tagesstruktur gibt, die sie selbst mit- schmutziges Geschäft, Missbrauch, Ausbeu- aufbricht, das Land nicht kennt, die Spra- gestalten. Strukturen geben Sicherheit und tung, Prostitution nehmen in diesem Kon- che, die Kultur und noch dazu weiß, dass Stabilität. Solche Details würden auch be- text massiv zu. Die ärmeren Länder beher- er dort nicht willkommen ist, ist es doch wirken, dass man einige Therapiestunden bergen Millionen von Flüchtlingen, obwohl nachvollziehbar, dass das Angst und Stress weniger benötigt. Sehr unmenschlich emp- sie selber nicht viel haben. Und wir reicheren verursacht. Wenn dann noch zusätzlich et- finde ich das Vorenthalten von Informatio- Länder wollen Flüchtlinge nicht aufnehmen was passiert, wie, dass die Menschen im nen, das ist ein Machtinstrument. Als tau- und ihnen nicht einmal das Recht einen sende Flüchtlinge aus Slowenien an der Asylantrag zu stellen, Sicherheit und eine MINIMALE österreichische Grenze warteten, habe ich menschenwürdige Versorgung geben. Nach TAGESSTRUKTUREN junge Syrer gefragt, ob sie wissen, was nun Obergrenzen zu rufen und den Notstand WÄREN SO auf sie zukommt. Sie wussten nur, dass sie auszurufen, das ist unglaublich. Notstand WICHTIG. in einer Reihe stehen und warten sollen. herrscht woanders und nicht in Österreich. Vorne sind zwei Männer gestanden und Boot merken, dass es untergeht, sie in letz- haben die Namen aufgeschrieben. War- Mit Ihnen gibt es erstmals eine Psycho- ter Minute gerettet werden und andere er- um kann man diesen Menschen nicht sa- therapeutin an der Spitze von Ärzte ohne trinken sehen oder wenn sie krank wer- gen, dass ihre Daten aufgenommen werden, Grenzen Österreich. Wie sehen Sie die den und keine Versorgung haben oder dass sie dann ein Essen bekommen und psychosoziale Versorgung von Flüchtlin- schlechte Nachrichten von Zuhause hö- dort drüben schlafen können? Wenn man gen? ren, kann das zum Zusammenbruch füh- keine Informationen hat, ist das ein Gefühl Völlig unzureichend. Dabei wäre das so ren. Viele Flüchtlinge sind dadurch nicht des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht. Das wesentlich und würde viele Langzeitfol- mehr in der Lage, den Alltag zu bewälti- verstärkt den Stress zusätzlich und fördert gen vermeiden. Wenn man sich vorstellt, gen. Ich habe in Flüchtlingslagern oft be- die Angst. Dann verwundert es, wenn sie

15 MO 45/Interview

die Geduld verlieren, an den Zäunen rüt- teln und aggressiv werden.

Hat es Änderungen in Traiskirchen nach ihrem kritischen Bericht über die Lage dort gegeben? Das Rote Kreuz wurde beauftragt, ein zu- sätzliches Feldspital aufzustellen. Wir ha- ben den Bericht natürlich zuerst mit dem Innenministerium besprochen und auch gute Rückmeldungen erhalten. Als wir ihn dann veröffentlicht haben, hieß es, alles falsch. Es ging uns aber nur darum, Emp- fehlungen abzugeben; uns ging es nicht um einen politischen Kampf, und auch nicht darum, ein Hotel Sacher hinzustellen. Es geht um absolute Mindeststandards.

Noteinsätze werden für Helfer gefährli- cher, weil Angriffe auf medizinische, hu- manitäre Einrichtungen in Kriegsgebie- ten in letzter Zeit stark zugenommen haben. Ja, das hat es zwar immer schon gegeben, aber nicht in dem Ausmaß und mit dieser Rücksichtslosigkeit, wie wir das nun beob- achten. Das internationale Völkerrecht, das den Schutz von Gesundheitseinrichtungen garantiert, scheint keine Gültigkeit mehr zu haben. Teilweise hängt die Zunahme Grenzverfahren: Die Leute wussten nur, dass sie in einer Reihe stehen und warten sollen. damit zusammen, dass vermehrt radikali- sierte Gruppen involviert sind. Sie fühlen bell ist oder ein Soldat oder eine Zivilis- die Fakten zusammen und ist unabhän- sich an internationale Verträge nicht ge- tin. Jeder Mensch hat das Recht auf eine gig. In der ganzen Geschichte der Gen- bunden. Das trifft aber genauso auf staatli- medizinische Behandlung, das ist ein ver- fer Konvention wurde sie nie aktiviert, es che Akteure zu, die gezielt Luftangriffe auf brieftes Menschenrecht. Uns wird immer wäre also das erste Mal. Doch Ärzte ohne Krankenhäuser fliegen. Wenn wir einen wieder auch unterstellt, dass wir Rebellen Grenzen kann dieses internationale Gremi- Einsatz planen, sind von vornherein Ver- oder Terroristen Unterschlupf bieten wür- um nicht direkt anrufen. Wir appellieren handlungen mit den politisch Verantwort- den. Doch das ist bei uns ein hundertpro- an alle Staaten, uns zu unterstützen, denn lichen vorgesehen. Wir betreiben medizi- zentiges No-Go, es kommt auch niemand das darf nicht folgenlos bleiben. Wie sollen nische Einrichtungen und verlangen das wir denn sonst unsere Arbeit machen kön- Zugeständnis, dass wir nicht angegriffen IN SYRIEN WERDEN nen? Wir sind nicht selten die einzige me- werden, wie es das Völkerrecht vorsieht. GEZIELT LUFTANGRIFFE dizinische Einrichtung in einer Region von AUF KRANKENHÄUSER 30.000 Menschen. Wenn unser Spital zer- Wo wird Ärzte ohne Grenzen besonders GEFLOGEN. stört wird, haben diese 30.000 Menschen oft angegriffen? keine gesundheitliche Versorgung mehr. In Afghanistan, im Jemen. In Syrien ist es mit Waffen in unsere Einrichtungen hin- derzeit besonders schwierig, fast täglich ein. Diese Vorwürfe zeigen auf, dass es den Sie arbeiten schon viele Jahre für Ärz- werden Gesundheitseinrichtungen bom- Staaten vorrangig um nationale Interessen te ohne Grenzen. Was hat sie bisher am bardiert. Von staatlicher Seite wird be- geht und nicht um das internationale Völ- meisten beeindruckt? tont, wir haben euch nicht eingeladen hier kerrecht und Menschenrecht. Die Kraft der Menschen, auszuhalten, zu sein, also müssen wir euch auch nicht durchzuhalten, wieder aufzustehen und schützen. Das ist natürlich eine unverhoh- Wie reagieren Sie auf die Angriffe? weiter zu gehen. Das ist erstaunlich und lene Ignoranz des internationalen Rechts. Wenn es gezielte Attacken auf unsere Spi- absolut bewundernswert. Es kommt auch täler sind, wie jener Angriff in Kunduz, for- sehr viel Dankbarkeit zurück, oft dann, Ein Vorwurf lautet immer wieder, dass dern wir, dass die internationale humanitä- wenn man sich denkt, ich habe ja gar nichts auch Terroristen behandelt werden. re Ermittlungskommission (IHFFC) solche Großartiges getan. Aber für die Menschen Wir behandeln Menschen, die verletzt wur- Vorfälle genauer untersucht. Das ist zwar in Not ist jede freundliche Geste bereits we- den. Wir unterscheiden nicht, ob es ein Re- kein Gericht, aber die Kommission trägt sentlich und wichtig.

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MO 45/Scharia DIE SCHARIA WAR SCHON IMMER FLEXIBEL

Rechtspopulisten machen die Scharia zum Kulturkampf-Thema, Medien verkürzen die Scharia auf spektakulär klingende Passagen. Doch, nicht jeglicher Bezug zur Scharia zeugt von einem radikalen Islamismus, so Karl Prenner.

18 Scharia/MO 45

Ist die Scharia ein göttliches Gebot und deshalb nicht verhandelbar? Wie wichtig ist sie für MuslimInnen? Was regelt die Scharia überhaupt? Warum wird mit der Scharia Politik betrieben? Sind Staat und Religion untrennbar? Neun Fragen zu einem Thema, das oft zitiert wird und niemand kennt. Antworten von Karl Prenner, Professor für Islam- wissenschaft an der Universität . Illustration: P.M. Hoffmann

1. Zeugt jeglicher Bezug zur Scharia von pheten kasuistisch ausgearbeitet haben und ßerdem gibt es im sunnitischen Islam kei- radikalem Islamismus oder ist eine Diffe- wurde etwa im 11. Jh. abgeschlossen. Da- ne verbindliche Instanz, die entscheiden renzierung notwendig? her heute der Versuch, die Scharia nicht als könnte, ob etwas noch islamisch ist oder Eine Differenzierung ist notwendig, denn Gesetz, sondern als Richtschnur ethisch be- bereits unislamisch. Der konfliktreiche Dis- die Scharia, das göttliche Gesetz, ist ein Re- stimmten Handelns und als Kanon grund- kurs etwa um eine islamische Kleiderord- gelwerk, das den Anspruch hat, das gesam- legender Maximen und Werte zu deuten, nung und andere Fragestellungen zeigt dies te Leben des Menschen, privat und öffent- um den modernen Verhältnissen Rech- anschaulich. Die Beantwortung der ersten lich bis in die Politik hinein anhand der nung zu tragen und nun die veränderten Frage müsste also dahin geltend lauten, fünf Rechtskategorien zu erfassen: geboten, Orts- und Zeitverhältnisse zu berücksich- dass nicht jeglicher Bezug zur Scharia von verboten, erlaubt, verpönt, erwünscht bzw. tigen. Grundsätzlich geht die Mehrheit der einem radikalen Islamismus zeugt, außer nach ihrer Rechtsgültigkeit: gültige ungül- MuslimInnen davon aus, dass die Ritual- man reduziert die Scharia auf das islami- tige Handlungen. Daher unterscheidet man pflichten zeitunabhängig sind, während die sche Strafrecht, was sehr oft in den Medien zwei große Bereiche der Scharia: zwischenmenschlichen Beziehungen sehr geschieht. Gerade der politische Islam (Is- tDie Ritualpflichten, d.h. die fünf Pflichtge- wohl den Zeitbedingungen unterliegen. Da lamismus) fordert auch die Einführung des bote gegenüber Gott, die fünf „Säulen“ jedoch ein Teil der „zwischenmenschlichen islamischen Strafrechts. des Islam: Glaubensbekenntnis, fünfmal Beziehungen“ auch im Koran normativ ge- tägliches Gebet, Ramadan-Fasten, Almo- regelt ist (z.B. Erbrecht, Eherecht, Strafrecht 3. Wie kann die Scharia im Vergleich zu sensteuer, Wallfahrt nach Mekka. anderen Religionen eingeordnet werden? t%JF zwischenmenschlichen Beziehungen MAN KANN DIE Gibt es auch so etwas wie eine jüdische, bzw. sozialen Pflichten: dieser Bereich um- SCHARIA NICHT AUF eine christliche „Scharia“? fasst das Vertragsrecht und wird unterteilt DAS STRAFRECHT Auch das Judentum kennt eine „Scharia“, in Unterkapitel: Eherecht, Kauf und Ver- REDUZIEREN. nämlich die Halacha, die genauso wie die kauf, Sklavenrecht, das Erbrecht und ver- Scharia eine Weganleitung darstellt. Im wandte Bereiche; das Strafrecht (hadd-/ usw.), wird die Behauptung, die zwischen- Christentum fehlt etwas Vergleichbares, Grenz-Strafen). Vorschriften über die Süh- menschlichen Beziehungen seien generell hier steht eine Person, nämlich Jesus im neleistungen, die vor allem bei Verstößen nach orts- und zeitgebundenen Verhältnis- Mittelpunkt, der von sich sagte: „Ich bin der gegen die Ritualgesetze zu erbringen sind, sen, d.h. vernunftgemäß und flexibel zu re- Weg, die Wahrheit und das Leben“. sowie die Strafen, mit denen eine Missach- geln, immer wieder in Frage gestellt. Wenn Scharia und Halacha haben vieles gemein- tung der Regeln der zwischenmenschlichen Muslime sagen, dass wir die Scharia nicht sam, das hängt damit zusammen, dass sich Beziehungen zu ahnden ist. Der erste Teil ist aufgeben können, dann wird vor allem der und seine Gemeinde in Medi- vielfach um die Vorschriften zum Dschihad erste Teil gemeint, die Verpflichtungen ge- na nach der jüdischen Halacha ausrichte- erweitert, weiters um die Speiseverbote, genüber Gott, also die fünf „Säulen“ des Is- ten (Speisegebote, Fasten, Gebetszeiten u.a.), rein/unrein und Schlachtvorschriften und lam. später aber dann vom Judentum abgrenzten die Gelübde. und das Übernommene neu deuteten und Der Islam, wie auch das Judentum, sind 2. Ist die Scharia ein Gesetz? ausrichteten. So wurde etwa das gemeinsa- stärker Religionen des Tuns, da eine Ortho- Insgesamt ist die Scharia kein Gesetzes- me Fasten mit den Juden durch die Einfüh- praxie und damit auch rechtliche Aspekte kodex, vielmehr handelt es sich aufgrund rung des Ramadan-Fastens abgelöst. im Mittelpunkt stehen. der vier Rechtschulen um ein unterschied- Die Scharia ist das Produkt der vier Rechts- liches Meinungsspektrum zu den einzel- 4. Inwieweit sind gewisse religiöse Regeln schulen, die die koranische Ethik mit Hilfe nen Fragestellungen, wodurch auch eine vereinbar/unvereinbar mit einem demo- der Sunna (Brauch, Gepflogenheit) des Pro- Meinungspluralität begründet wird. Au- kratischen Rechtsstaat?

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der homogenen Gesellschaften und deren kultureller und religiöser Praxis ist aber auch die traditionelle Identität in Frage ge- stellt. Dies führt dann dazu, dass hier in Ös- terreich/Europa sehr stark ein Riten-Islam sichtbar wird, der fast ausschließlich in ei- ner rein religiösen Praxis gefunden wird, die auch nach außen hin sichtlich präsent ist. Die Definition als Muslim oder Musli- ma ist eben nicht mehr selbstverständlich, sondern muss neu gefunden werden – und erfolgt fast ausschließlich über die Religi- on, nicht mehr über die Kultur, denn Kultu- relles wird als religiös geboten ausgegeben, wie etwa die Ablehnung der Koedukation u.a. Hierbei fungiert dann der Islam ins- gesamt als Alternativmodell zur westlichen Kultur. Das führt wiederum zu Spannun- gen, einerseits innerhalb der muslimischen Scharia bzw. islamisches Recht sind kein starres Regelwerk, sagt Karl Prenner. Mit der Gemeinschaften, andererseits aber auch zur damit verbundenen Meinungspluralität können also demokratisch-rechtsstaatliche Elemente auch religiös begründet werden. Mehrheitsgesellschaft. Wenn auch der Islam in Österreich öffentlich anerkannt ist, so ist Dazu gibt es mehrere Positionen. Eine ex- Intellektuelle und Reformer wiederum for- er doch sehr plural und vielfältig, vor al- treme Haltung finden wir heute bei vielen dern heute eine zeitgerechte Koran- und lem auch durch die ethnische Ausrichtung. islamistischen und salafistischen Gruppie- Scharia-Interpretation als religiöse Ethik Das neue Islamgesetz soll eine Beeinflus- rungen, die sämtliche demokratische Ver- und nicht als Gesetz, sowie auch die Tren- sung der Moscheengemeinden durch das hältnisse ablehnen, weil es nur einen Ge- nung von Staat und Religion. Nicht ver- Ausland unterbinden, in diesem Zusam- setzgeber gibt, und das ist Gott. Menschen einbar mit einem demokratischen, in der menhang gibt es auch die Bemühungen, können für Menschen keine Gesetze erlas- Hauptsache säkularen Rechtsstaat, ist grund- den Islam an österreichische oder europä- sen, daher lehnen sie Demokratie und Par- sätzlich die enge Verflechtung von Staat und ische Verhältnisse anzupassen. Die zu er- lamentarismus als unislamisch ab. Grund- Religion, wenn etwa der Islam als Staatsre- richtende Islamische Theologie und die be- sätzlich ist davon auszugehen, dass es nach reits bestehenden religionspädagogischen islamischer Sicht keine Legislative gibt, da DIE PROBLEMATIK Einrichtungen in Wien und Innsbruck sol- Gott als höchster Gesetzgeber die Normen, VON SCHARIA- len dazu beitragen. Der umfassende An- Werte und Gesetze des irdischen Lebens, GERICHTEN spruch der Scharia wird, sofern diese nicht also Gut und Böse, für alle Zeiten verbind- GIBT ES. als ethischer und moralischer Wertekodex lich festgelegt hat. Aufgabe der Menschen betrachtet wird, sondern als Gesetz, aber ist es, diese Normen zu interpretieren, um ligion fungiert; weiters das islamische Straf- immer wieder Schwierigkeiten bereiten, sie auf ihre konkreten Lebensumstände an- recht, die Polygamie, denn der Koran erlaubt den Islam in rechtsstaatliche parlamentari- wenden zu können. Das kann nach musli- bis zu vier Ehefrauen. Aber auch die Kop- sche Strukturen des Westens zu integrieren. mischer Auffassung auch im Rahmen einer pelung der Menschenrechte an die Scharia, parlamentarischen Ordnung geschehen. D.h. der Umgang mit nicht-muslimischen Min- 6. Die Scharia kann jede/r für sich prakti- Volkssouveränität kann es nach islamischer derheiten und diverse kultur- bzw. stammes- zieren, solange das innerhalb der Lehre nur in einem beschränkten Sinn ge- bezogene Praktiken in Bezug auf Frau und gesetzlichen Regelungen eines Landes ben. Im Mittelpunkt steht das Prinzip der Mann. erfolgt. Wie ist das aber mit Scharia-Ge- „Beratung“ (schura). Gegenseitige Bera- richten, wie es sie z.B. in England gibt? tung im Alltag und auch die Beratung des 5. Wie sieht es diesbezüglich konkret in Wenn ein Ehepaar mit Problemen zu ei- Herrschers. Schura wird heute als Grund- Österreich aus? nem Scharia-Gelehrten geht und dieser lage einer spezifisch islamischen Demokra- Auch Österreich, wo der Islam als Religi- der Frau zu mehr Gehorsam rät? Ist die tie angesehen. So kann die parlamentarische onsgemeinschaft offiziell anerkannt ist, hat Beratung eines Scharia-Gelehrten ver- Mehrparteiendemokratie durchaus als eine eine islamistische und salafistische Sze- gleichbar mit der bei einem Priester? zeitgemäße Form von schura gelten, aller- ne. Man kann aber davon ausgehen, dass Diese Problematik von Scharia-Gerichten dings muss sich diese im Rahmen des Islam die Mehrheit der Muslime in Österreich gibt es, denn hier werden demokratisch- bzw. der Scharia bewegen. Die Flexibilität Rechtsstaatlichkeit und Demokratie grund- rechtsstaatliche Systeme zunehmends aus- der Scharia bzw. des islamischen Rechts und sätzlich nicht ablehnt. Das Problem für den gehebelt. Man kann die Tätigkeit eines die damit zusammenhängende Meinungsp- gegenwärtigen Diskurs ergibt sich daraus, Scharia-Gelehrten nicht mit der eines luralität erlaubt es also durchaus Elemente dass von den MigrantInnen grundsätzlich Priesters vergleichen, da ein Scharia-Ge- einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ord- die Kultur der Herkunftsländer nicht mit- lehrter einer juridischen Tätigkeit nach- nung auch religiös zu begründen. genommen werden kann. Mit dem Verlust kommt, während ein Priester eher versucht,

20 Scharia/MO 45

eine beratende Funktion als Seelsorger aus- ein säkulares System, kaum vorstellbar in zuüben. Daher wird es in Zukunft wichtig Staaten, in denen der Islam Staatsreligion sein, dass die Imame in Europa ausgebil- ist. Daher der Diskurs, wieweit die Scharia det werden und nicht nur vom Ausland im- eine öffentliche Ordnung oder bloß eine in- portiert werden. Diese Beratungsfunktion dividuelle Lebensführung angibt. der Imame gründet sodann nicht mehr auf Scharia als ein „nicht zu hinterfragen- dem traditionellen Schariarecht, sondern des Recht“ findet sich vor allem bei poli- auf der Scharia als einem ethischen und tischen und salafistischen Gruppierungen moralischen Regelwerk, also auf einer Wer- der Gegenwart, die die Einbettung in den teordnung; nur auf diese Weise können die Zeitkontext ablehnen und von einer wört- veränderten Orts- und Zeitbedingungen, lichen Interpretation der Quellen ausge- denen auch die Schariagesetzgebung unter- hen. Ich verweise nochmals darauf, dass worfen ist, adäquat berücksichtigt werden. der zweite Teil der Scharia, die zwischen- menschlichen Beziehungen, heute grund- 7. Muss die Scharia aus Glaubenssicht sätzlich als eine wandelbare Größe angese- in ihrer Gesamtheit gelten oder darf sie hen wird, daher hat neben Tunesien auch hinterfragt und nur in Teilen praktiziert Marokko ein modernes, den heutigen Er- werden? fordernissen entsprechendes Familienrecht. Die Scharia als juristisches System hat Und überhaupt haben sämtliche islamische sich erst im Laufe der Zeit durch die vier „Die Scharia kann als ethisches und moralisches Staaten das traditionelle Familienrecht mo- Wertesystem eine positive Rolle in unserer Rechtsschulen herauskristallisiert und gilt Gesellschaft spielen.“ dernen Verhältnissen angepasst, freilich oft daher, gerade was den zwischenmenschli- nur in der Theorie und noch nicht in der chen Bereich anbelangt, als Menschenwerk. gegeben; das Motto der Einheit von „Staat praktischen Handhabung. Von den über 6200 Koranversen bringen und Religion“ ist erst in der Kolonialzeit etwa nur 80 Verse juristische Aussagen (ge- aufgekommen und sodann rückprojiziert 9. In welcher Form kann die Scharia in boten, verboten usw.). Ansonsten spricht worden. Außerdem ist gerade auch das is- der österreichischen Gesellschaft eine re- der Koran von allgemeinen Direktiven und lamische Strafrecht gegenüber der heutigen levante, positive Rolle spielen? Richtlinien. Heute versucht man daher die Situation in dieser Form kaum angewandt Ich denke eben nicht als Gesetz, sondern Scharia in den historischen Kontext zu stel- worden, es ist so kasuistisch ausformuliert als ethisches und moralisches Wertesystem, len und nicht als Gesetz sondern als ethi- worden, dass es eben nicht zur Anwendung das unter Beachtung der veränderten Zeit- sches, moralisches und theologisches Re- kam. und Ortsbedingungen, d.h. der konkreten gelwerk zu interpretieren, ausgenommen Lebensbedingungen der muslimischen Ge- die fünf kultischen Pflichten der Muslime. DIE VERPOLITISIERTE sellschaften in Europa dann durchaus auch Grundsätzlich ist zu differenzieren zwi- SCHARIA wieder stärker konkret normiert werden schen der Scharia-Gesetzgebung, wie sie im IST EIN MODERNES kann. Denn die traditionelle Scharia-Ge- Laufe der Jahrhunderte angewandt wur- PHÄNOMEN. setzgebung entspricht ja den Bedingun- de und den Veränderungen, die ab der Ko- gen einer gewissen Zeit. Oft wird hierbei lonialzeit einsetzten. Denn das islamische 8. Warum wird mit der Scharia Politik auf den traditionellen bosnischen Islam Recht insgesamt und die Scharia im Spe- gemacht? verwiesen, der sich durch eine vergeistig- ziellen sind keine starren monolithischen, Die „verpolitisierte Scharia“ ist ein mo- te Auslegung der Religionsquellen von ei- sondern flexible Größen, die auch in den dernes Phänomen, denn traditioneller- ner Gesetzes- zu einer Gesinnungsreligion Jahrhunderten islamischer Geschichte fle- weise waren hierfür eben die Religions- entwickelt hat. Mit dieser ethisch-morali- xibel gehandhabt wurden. So hat es schon gelehrten und nicht der Staat zuständig. schen Ausrichtung wurde ein Anschluss an immer eine gewisse Trennung zwischen Trotzdem ist eine vollständige Trennung die europäische Denk- und Lebensweise er- staatlichen und religiösen Angelegenheiten zwischen Staat und Religion/Islam, also möglicht.

Koran, Überlieferungen, Mythologien. Religion ist vor allem Interpretations- und Auslegungssache. Das gilt auch für den Iran. ZUR PERSON Karl Prenner ist seit 1997 Professor für Is- lamwissenschaft mit Schwerpunkt Koranfor- schung am Institut für Religionswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er hat ein Studium der Fachtheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl- Franzens-Universität sowie Studien am In- stitut für Orientalistik (Studienrichtung Arabistik) und Judaistik an der Universität

Foto: privat, gun privat, Foto: Wien absolviert.

21 MO 45/Scharia

KOMMENTAR

Ein Gedankenanstoß Die Gesellschaft kann sich vor Hassern und Hetzern schützen, indem sie Musliminnen und Muslime als Partner im Einsatz für Menschenrechte und sozialen Zusammenhalt wahrnimmt.

Kommentar: Carla Amina Baghajati

Jedes Wort löst Assoziationen aus, oft auch benes Gesetz. Ohne Zweifel geht es um „re- muss mit Bildung und theologischem Wei- Emotionen. Wer in Europa „Scharia“ hört ligiöse Rechtleitung“. Gottes Offenbarung terdenken begegnet werden. Insbesondere und nicht selbst Muslim/in ist, wird wohl – für Muslime als erste Quelle der Koran gilt es einem wortwörtlichen Quellenver- Bilder archaisch anmutender Körperstrafen – wird aber von Menschen gelesen und in- ständnis entgegenzutreten, das den inhalt- der Verbrecherbande IS im Kopf haben und terpretiert. Das ist also eine Einladung zu lichen größeren Zusammenhang ignoriert. im Bauch das Gefühl „passt nicht hierher, Mündigkeit und Ansage gegen blinde Au- Dazu hat u. a. eine Wiederbelebung des be- bedroht mich“. Denn ist das nicht dieses toritätshörigkeit. „Wollt ihr nicht nachden- reits vor Jahrhunderten entwickelten Kon- starre islamische Recht, der Widerspruch ken“, richtet sich der Koran an die Men- zepts der unverrückbaren Prinzipien der zu säkularer Rechtsstaatlichkeit schlecht- schen. Scharia (maqasid asch-scharia) stattge- hin? Ganz andere Gedanken tun sich bei funden: Schutz der Religionsfreiheit, des gläubigen Muslimen auf. Für sie signalisiert Gibt kein Buch „Die Scharia“ Lebens und der Menschenwürde, des Be- „Scharia“ eine gottgefällige Lebensführung. Demzufolge gibt es auch kein mit „Die sitzes, der Familie und der Vernunft. So Das Wort verknüpft sich mit positiven As- Scharia“ betiteltes Buch universalen An- können Auslegungen dahingehend über- pekten wie Sicherheit, Gerechtigkeit und spruchs. Der Auslegungsprozess kann nie prüft werden, ob sie auch dem Geist des persönlicher Verantwortung für das Allge- abgeschlossen sein. Praktische Fragen zu entsprechen. Die Gesellschaft kann meinwohl. Somit ist „Scharia“ wohl der Be- den gottesdienstlichen Handlungen stan- sich vor Hassern und Hetzern schützen, in- griff, bei dem in Islamdebatten am meisten den im Vordergrund. Literatur zur rituellen dem sie diesen Entwicklungen mehr Auf- aneinander vorbei geredet wird. Als Ursa- Reinheit oder dem Gebetsablauf ist somit merksamkeit schenkt und Musliminnen che für Ängste und Misstrauen liegt hier sehr viel umfangreicher als zu politischen und Muslime als Partner im Einsatz für ein Nährboden für populistische Feindbil- Fragen. Schon im frühen Islam hatte sich Menschenrechte und für sozialen Zusam- der. Umso dringender ist eine Begriffsde- die Anschauung durchgesetzt, jeder Regie- menhalt wahrnimmt. finition. rung sei Loyalität geschuldet, die das Prak- Ins Deutsche übersetzt bedeutet das arabi- tizieren des Islams ermögliche. Muslime in sche Wort Γωϱέε/ šarī῾a „Weg zur Was- Europa haben sich in zahlreichen offiziellen serstelle“. In der Symbolik des Wasser- Stellungnahmen klar zur demokratischen schöpfens liegt ein Bezug zu den religiösen Rechtsstaatlichkeit und der säkularen Ge- Quellen Koran und Sunna (vorbildliche waltenteilung bekannt. Lebensweise des Propheten Muhammad). Gleichzeitig ist im innermuslimischen Dis- Der ständig aufs Neue zu beschreiten- kurs viel in Bewegung, weil gegen Miss- de Weg zeigt die Notwendigkeit auf, die- brauch des Begriffs Scharia angegangen se Quellen immer wieder neu zu befragen. werden muss. Extremisten suchen über Mit sich verändernden Lebensumständen „Scharia“ ihre menschenverachtenden und durch sich wandelnde Zeit, lokale Gege- gewaltverherrlichenden Positionen zu le- benheiten und gesellschaftliche Rahmen- gitimieren und sie als „göttlichen Willen“ ZUR PERSON bedingungen ändern sich Fragestellungen. hinzustellen. Islamhasser schüren Ängste, Carla Amina Baghajati ist Medienreferentin Die Scharia steht somit schon vom Wort indem sie diese Verdrehungen als „den Is- der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IG- her für einen dynamischen Anspruch und lam“ präsentieren und Terroristen damit GIÖ) und Mitgründerin der „Initiative mus- nicht für ein unveränderlich festgeschrie- noch Recht geben. Dieser Herausforderung limischer ÖsterreicherInnen“.

22 Scharia /MO 45

KOMMENTAR

Das ist Verhandlungssache Die Scharia ist kein bürgerliches Gesetzbuch. Liberale Theologen interpretieren sie liberal, fun- damentalistische fundamentalistisch. Die Scharia ist Ausdruck der offenen Struktur des Islam.

Kommentar: Lamya Kaddor

„Scharia“ ist ein Schreckenswort. Dabei ist stierung der Scharia ist Verhandlungssache auf Leben und Besitz unabhängig von Al- es eines der am meisten – unbewusst und von Theologen. Liberale Theologen füllen ter und Geschlecht, das Recht auf persön- bewusst – missverstandenen Worte in den die Seiten liberal, fundamentalistische fun- liche Freiheit, auf Schutz der Schwachen ein. Debatten über den Islam. Islamfeinde nut- damentalistisch. Nicht die Scharia per se ist Genau diesen Schutz garantiert heute ein zen den Begriff, um die Religion als un- daher problematisch, sondern diejenigen, Rechtsstaat. Brutale Körperstrafen, wie sie menschlich darzustellen, indem sie ihn als die sie für andere verbindlich mit Inhalten auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhun- Chiffre für brutale Körperstrafen feilbieten. füllen wollen. dert als Drohung nötig waren, um das Volk Islamistische Fundamentalisten missbrau- Ein weiteres Problem: Da man in der Theo- zu disziplinieren, haben sich erübrigt. Und chen ihn, um Gläubige einzuschüchtern, rie traditionell nicht zwischen der Gemein- realiter wollen Muslime und Muslimin- um Macht über sie zu erlangen oder selbi- schaft aller Muslime und Musliminnen und nen auch keine irgendwie geartete offizielle ge zu bewahren. Angesichts dieser Prägung dem Staat unterscheidet, ist die Scharia re- Scharia – abgesehen von Fundamentalisten des Begriffs durch moderne Extremisten ligiöses und staatliches Recht zugleich. oder Einwanderern, in deren Herkunftslän- verknüpfen Laien damit häufig mittelalter- Das passt mit heutigen Vorstellungen in der etwa Scharia-Gerichte üblich sind. Mus- liche Vorstellungen. einem säkularen Rechtsstaat nicht zusam- lime wollen nur eines: in Ruhe und ohne men. Selbst islamische Länder haben da- sich erklären zu müssen ihren Glauben le- Zugleich religiöses und mit Schwierigkeiten: Fast alle verfügen ben. Denn so bewegt sich ihr Leben längst staatliches Recht daher über ein kodifiziertes, vom Staat er- entlang der Scharia. Was aber ist die Scharia überhaupt? Der stelltes Rechtssystem aus Zivil- und Straf- Begriff stammt aus dem Arabischen und recht, während die Scharia nur noch bei Fa- ZUR PERSON bezeichnet zunächst einmal nichts anderes milienangelegenheiten herangezogen wird. Lamya Kaddor wurde 1978 im westfälischen als einen Weg, der in lebensfeindlicher Das liegt daran, dass der Koran – entgegen Ahlen als Tochter syrischer Einwanderer ge- Wüste zu lebensspendender Wasserquelle der verbreiteten Vorstellung – kaum kon- boren. Sie studierte Arabistik und Islamwis- führt. Im übertragenen theologischen Sinn krete gesetzliche Regelungen für den All- senschaft, Allgemeine Erziehungswissen- führt er folglich zu Gott. Dem Glauben der tag der Menschen enthält. schaft und Komparatistik an der Universität Muslime nach ist das irdische Leben eine Auf einem derart schwimmenden Funda- Münster und bildete Islamische Religionsleh- Prüfung. Wer sich richtig verhält, gelangt ment lässt sich kein Staat bauen. Eine Ver- rerInnen aus. Sie hielt Lehraufträge an meh- nach dem Tod zu Gott ins Paradies. Scha- handlungssache kann auch nicht Grund- reren Universitäten. Zudem unterrichtet sie ria ist somit nichts anderes als der Sammel- lage für das Handeln in einem freiheitlich Islamische Religion an der Schule. Kaddor ist begriff für sämtliche göttliche Gebote. Wie säkularen Rechtsstaat sein. Etwas, das nicht Autorin mehrerer Bücher, zuletzt: „Die Zer- kann man einem gläubigen Menschen das klar definiert werden kann, kann nicht offi- reißprobe – Wie die Angst vor dem Fremden wegnehmen wollen? ziell anerkannt werden. unsere Demokratie bedroht“, das 2016 im ro- Ein Problem ist nun: die Scharia ist kein Aber: Muslim/innen und Bürger/innen sol- wohlt Verlag erschien. bürgerliches Gesetzbuch. Sie ist nicht fest- cher Staaten brauchen auch keine offizielle Zuvor, u.a.: „Zum Töten bereit. Warum geschrieben. Es sind weitgehend leere Sei- Scharia. Gott will den Schutz der Grund- deutsche Jugendliche in den Dschihad zie- ten, die permanent mit Inhalt gefüllt wer- rechte des Menschen. Das macht der Ko- hen“ (2015). „So fremd und doch so nah. Ju- den müssen. Die Scharia ist Ausdruck der ran an vielen Stellen deutlich: keine Willkür, den und Muslime in Deutschland“ (2013). offenen Struktur des Islam ohne offizielle keine Übertreibungen, keine Ungerechtig- „Muslimisch, weiblich, deutsch - Mein Leben Hierarchien, ohne Oberhaupt. Die Manife- keiten. Scharia schließt mithin das Recht für einen zeitgemäßen Islam, 2010.

23 Die zivilgesellschaftliche Allianz „Wege aus der Krise“ ist ein Zusammenschluss von 11 Gewerkschaften und NGOs. Seit 2010 entwickeln sie das „Zivilgesellschaftliche Zukunftsbudget“ für ein gutes Leben für alle in Österreich.

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EIN GUTES LEBEN FÜR ALLE: MASTERPLAN FÜR ÖSTERREICH Österreich könnte anders, könnte besser aussehen. In sozialer, ökologischer, ökono- mischer und sonstiger Hinsicht. Eine Kritik und ein Zukunftsszenario in mehreren Schlaglichtern. Illustrationen: Eva Vasari

NGOs und Gewerkschaften set- gisch nachhaltige Steuer- und Budgetpoli- den Beitrag der Banken zu den Kosten der zen dem angeblichen „Budgetnot- tik. Mittlerweile sind mehr als eine halbe Finanzkrise zu verlängern. Die Steuerre- 11stand“ und der Ratlosigkeit der Million Menschen in Österreich ohne Ar- form 2015/2016 hat all diese Probleme des Regierung in Sachen Arbeitsplatzschaffung beit. Die 2016 begonnene Debatte über Kür- österreichischen Budgets kaum verändert. mit dem „Zivilgesellschaftlichen Zukunfts- zungen der Mindestsicherung ist einer der Auch eine ökosoziale Steuerreform, die um- budget“ solidarische und ökologisch nach- größten Angriffe auf die soziale Absiche- weltschädliche Steuern abschafft und den haltige Alternativen gegenüber. Mehr Steu- rung jener, die ohnehin bereits am Rande Weg zu einer ökologisch nachhaltigen Wirt- ergerechtigkeit ermöglicht 11 Milliarden der Gesellschaft stehen. Zugleich bleiben schafts- und Lebensweise unterstützt, wurde Euro an zusätzlichen Einnahmen für In- große Vermögen und Erbschaften weiterhin bisher noch nicht angegangen. vestitionen in die Stärkung von Sozialstaat steuerlich entlastet – in dem Land mit der Die zivilgesellschaftliche Allianz „Wege aus und Menschenrechtsschutz, eine nachhalti- größten Vermögensungleichheit innerhalb der Krise“, ein Zusammenschluss von elf ge Energiewende, sowie den Ausbau der öf- der EU. Trotz der Panama-Leaks sind ernst- Gewerkschaften und NGOs, entwickelt seit fentlichen Mobilität. Zusammen mit einer hafte Schritte zur Beendigung der „legalen“ 2010 das „Zivilgesellschaftliche Zukunfts- Ökologisierung von Steuersystem und Wirt- Steuervermeidung von Vermögenden und budget“. Hier der Vorschlag für das Zu- schaft schaffen diese Investitionen 175.000 großen Unternehmen nicht sichtbar. Und kunftsbudget 2017-2019 – ein Vorschlag für neue Arbeitsplätze. gegenwärtig verhandelt die Regierung so- alternative „Wege aus der Krise“ für eine so- Wir brauchen notwendiger denn je Alter- gar über die Abschaffung der Bankenabga- lidarische, ökologisch nachhaltige und de- nativen für eine sozial gerechte und ökolo- be, anstatt diese sinnvolle Maßnahme und mokratische Zukunft.

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der Hand, dass damit kein Mensch in Be- schäftigung gebracht wird. Aber es wird der Druck erhöht, schlecht entlohnte Arbeit zu schlechten Bedingungen anzunehmen. Die Ausgaben für die Mindestsicherung betra- gen 0,23 Prozent der österreichischen Wirt- schaftsleistung. Die Allianz „Wege aus der Krise“ will dem- gegenüber einen Kurswechsel einschlagen: Mehr Beschäftigung durch mehr öffentli- che Investitionen und fairere Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Statt Kürzungen soll es mehr öffentliche Investi- tionen geben. Finanziert soll das u.a. durch mehr vermögensbezogene Steuern und Ökosteuern werden. In Zeiten steigender und vor allem verfes- David Mum, Foto: Privat tigter und längerer Arbeitslosigkeit, muss Johannes Wahlmüller, Foto: Privat man die soziale Absicherung verbessern: Soziales durch höheres Arbeitslosengeld und eine Ökologie INVESTIEREN STATT KÜRZEN längere Bezugsdauer. Es braucht eine An- WEGE IN EINE KLIMAFREUNDLICHE hebung der Nettoersatzrate von derzeit 55 GESELLSCHAFT Von David Mum Prozent auf mindestens 70 Prozent und eine Verlängerung der Bezugsdauer auf Von Johannes Wahlmüller irtschaftsvertreterInnen können es mindestens 39 Wochen. Durch eine Ar- W nicht oft genug wiederholen: Ös- beitszeitverkürzungsoffensive soll es zu ei- m 4. November ist das Klimaschutz- terreich rutscht in vielen Rankings ab. Ge- ner gerechteren Verteilung von Erwerbs- A abkommen von Paris in Kraft getre- meint sind dabei meist eher fragwürdig er- arbeit und somit weniger Arbeitslosigkeit ten. Jetzt muss es an die Umsetzung gehen. stellte Umfragen unter ManagerInnen, was kommen. Hier soll es eine Anschubfinan- 189 Staaten haben Pläne vorgelegt, die jetzt die Standortqualität betrifft. Schlussfolge- zierung für kleinere Unternehmen ge- rechtsverbindlich werden. Dass Klimaschutz rungen sind dann meist Steuer- und Ab- ben. Durch mehr öffentliche Investitionen eine zentrale Aufgabe der Republik ist, hat gabensenkungen für Unternehmen und im Bereich der sozialen Dienstleistungen sich aber wohl noch nicht bis zum Finanz- Einsparungen im Sozialstaat. Auch die und Bildung (Pflege, Ausbau von Kinder- ressort durchgesprochen. Anders ist es nicht zivilgesellschaftliche Allianz „Wege aus krippen, Kindergärten, Vorschulen Ganz- zu erklären, warum in der Budgetpolitik Kli- der Krise“ sieht Handlungsbedarf. Aller- tagsschulen, Bildungsmöglichkeiten und maschutz so wenig berücksichtigt wird. dings mit völlig anderen Schlussfolgerun- Sprachkurse für Asylsuchende,...) können Zu tun gäbe es genug: Laut WIFO werden gen und Vorzeichen. Denn 8 Jahre nach viele Arbeitsplätze geschaffen werden, wo in Österreich jährlich 3,7 bis 4,8 Milliarden der Finanz- und Wirtschaftskrise ver- es einen hohen gesellschaftlichen Bedarf Euro an umweltschädlichen Subventionen harrt Europa noch immer in einer gesell- gibt. gewährt. Beispiele sind die unbegründete schaftlichen und sozialen Krise. Der vor- Die Mindestsicherung liegt mit ihrem Leis- Steuerbegünstigung von Diesel gegenüber herrschende neoliberale Kurs bewirkt eine tungsniveau unter der Armutsgrenze. In Benzin oder die Steuerbefreiung von Ke- Krisenverschärfung durch Kürzungspoli- Österreich sind über 300.000 Kinder ar- rosin, die den Flugverkehr künstlich ver- tik. Hier werden die Betroffenen zu Schul- mutsgefährdet und über 130.000 Kinder billigt. Gleichzeitig wird selbst der Einbau digen und Sündenböcken gemacht. Auch von manifester Armut betroffen. Da ist von Ölheizungen noch gefördert, während in Österreich ist dieses verheerende Mus- mehr Unterstützung nötig und nicht eine Staaten wie Dänemark den Einbau längst ter zu beobachten: Während die Arbeits- geringere. Die Mindestsicherung soll daher nur noch in Ausnahmefällen erlauben. losigkeit Höchststände erreicht, versuchen nicht gekürzt sondern erhöht werden. Das Anstatt diese Probleme anzupacken, star- viele PolitikerInnen skrupellos den Druck Zivilgesellschaftliche Zukunftsbudget setzt tete die Bundesregierung holprig in einen auf die Arbeitslosen zu erhöhen: mit stren- nicht auf Almosen, sondern auf die dauer- Prozess zur Erarbeitung einer Energie- und geren Zumutbarkeitsregeln und Kürzungen hafte Prävention von Armut. Mit dem „Zu- Klimastrategie. Ein äußerst wichtiger Pro- bei der Mindestsicherung. In einem Land, kunftsbudget“ (70 Schritte in ein gutes Le- zess, der festlegen soll, wie die Energie- und in dem die Vermögenssteuern im homöo- ben für alle) wird gezeigt, wie eine sozial Klimapolitik in Österreich auf Jahrzehnte pathischen Bereich liegen, wird eine popu- gerechte und ökologisch nachhaltige Steu- aussehen wird. Trotzdem konnte man sich listische Debatte darüber geführt, was man er- und Budgetpolitik Probleme lösen und im Vorfeld nicht einmal darauf einigen, ob denjenigen wegnehmen soll, die schon am zu mehr Chancen und Gerechtigkeit bei- diese Strategie langfristige Ziele verfolgen wenigsten haben: Asylberechtigten und Fa- tragen kann. soll. Das ist bedenklich, weiß man doch, milien mit Kindern soll die Mindestsiche- David Mum arbeitet in Wien als Leiter der dass das Klimaschutzabkommen von Paris rung massiv reduziert werden. Es liegt auf Grundlagenabteilung in der GPA-djp. genau das vorsieht: Alle unterzeichnenden

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Klimaschutz-Schlendrian: Laut WIFO werden in Österreich jährlich 3,7 bis 4,8 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen gewährt.

Staaten sollen Klimaschutzstrategien mit Unternehmen würden hingegen mit einem Integration einem Zeithorizont bis 2050 ausarbeiten. „Innovationsbonus“ für klimafreundliche FÜR EINE SOLIDARITÄTSOFFENSIVE Hat man in Wien nicht gelesen, was man Investitionen belohnt. Gleichzeitig sieht das unterzeichnet hat? Erst nach monatelanger Zukunftsbudget eine Reihe von Offensiv- Von Alexander Pollak Kritik erklärten Umweltminister Rupprech- maßnahmen vor: Investitionen in die At- ter und Wirtschaftsminister Mitterlehner traktivierung der Regionalbahnen, einen sterreich soll sein Selbstverständ- bei einer Infoveranstaltung am 19. Oktober Zukunftsfonds für die Ausweitung des Rad- Ö nis als Land, das auch von Migration in Linz, dass der langfristige Ausstieg aus verkehrs und eine verstärkte Förderung der und Veränderung geprägt ist, weiterentwi- Kohle, Öl und Gas das langfristige Ziel sein thermischen Sanierung. ckeln und normalisieren. Es gilt Willkom- soll. Zentrale Vorgabe für den Prozess sind Nicht nur das Klima, wir alle würden da- mens- und Integrationsstrukturen sowohl diese Ziele aber immer noch nicht. Längst von profitieren. Allein durch eine Anhe- für Neuankommende als auch für bereits wäre es an der Zeit zu handeln. bung der Sanierungsrate von derzeit einem hier lebende Menschen auszubauen. Und Das zivilgesellschaftliche Zukunftsbudget Prozent des Gebäudebestands pro Jahr auf es gilt die demokratische und rechtsstaat- zeigt, dass es eine Alternative zum Schlen- drei Prozent würden 30.000 Arbeitsplätze liche Grundlage dafür zu schaffen, dass ein drian beim Klimaschutz gibt. Eine ökosozi- entstehen. Saubere Luft und weniger Lärm offenes, gleichberechtigtes und friedliches ale Steuerreform ließe sich schon mit dem würde unsere Lebensqualität steigern und Zusammenleben von Menschen mit unter- nächsten Budget verwirklichen. Mit einer die regionale Wertschöpfung ankurbeln. schiedlichen Biografien und Lebensentwür- Steuererhöhung auf fossile Energie könn- Statt, wie jetzt, Milliarden Euro an Import- fen möglich ist. Es darf zu keiner Spaltung ten im Gegenzug andere Steuern verringert kosten für Kohle, Öl und Gas abzustottern. der Gesellschaft entlang von Kriterien wie werden. Bzw. könnte das Aufkommen an Setzen wir uns also für ein Budget ein, das Herkunft, Hautfarbe oder Religion kom- Haushalte mit einem Pauschalbetrag – ei- unsere Zukunft in die Hand nimmt, anstatt men. nem „Pro-Kopf-Ökobonus“ – rückvergütet sie aufs Spiel zu setzen! Die wichtigsten fünf Maßnahmen zur Um- werden. Auf diese Weise würden finanzi- Johannes Wahlmüller ist Energiesprecher von setzung dieser Ziele sind: ell schwache Haushalte sogar bessergestellt. Gobal 2000. Solidaritätsoffensive: Der Wohlstandsku-

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Schaffung von Einrichtungen, Strukturen und Diskursformen, die Freiheit, Respekt, Gleichberechtigung, Nichtdiskriminierung und das demokratische Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft fördern. Wir erleben eine Zeit, in der politische Kräfte das Schüren von Angst und das Auf- wiegeln und gegeneinander Ausspielen von Menschen nahezu perfektioniert haben. Doch wir erleben auch eine Zeit, in der In- itiativen für ein gutes Zusammenleben viel Kraft entwickeln können. Ein solidarisches und offenes Österreich, das allen hier lebenden Menschen Pers- pektiven bietet, würde Sicherheit und Op- timismus fördern und vor gesellschaftlicher Spaltung bewahren. Das Verbesserungspo- Alexander Pollak, Foto: Privat tenzial in der Integrationspolitik ist gewal- Elisabeth Klatzer, Foto: Privat tig. Zur Umsetzung braucht es eine politi- chen ist längst nicht mehr rund, sondern sche Führung, die den Mut hat, nicht im der Gesamtarbeit zu erreichen, vor allem weit in Richtung Vermögende ausgebeult. Strom von derzeit populären Frontenbil- durch starke Verringerung der bezahlten Das System der Mindestsicherung muss dungen gegen Ausländer, Flüchtlinge, etc. Wochenarbeitszeit und bessere Verteilung verbessert und ausgebaut werden. Die gute zu schwimmen, sondern an einem gemein- der unbezahlten Arbeit bei Betreuung und Nachricht: In Österreich sind genug Mit- samen, lebenswerten Österreich für alle, die im Haushalt. tel vorhanden, um ein gutes Sozialsystem hier leben, zu arbeiten. Eine Fülle von Maßnahmen ist nötig, be- nachhaltig zu finanzieren – und alle wür- Alexander Pollak ist Sprecher von sonders wichtig sind dabei: den davon profitieren. Auch diejenigen, die SOS Mitmensch. Erhöhung des Lohnniveaus im Sozial- und ihre Solidarität finanziell unter Beweis stel- Bildungsbereich. Mehr und bessere Kinder- len müssen und dafür als Rendite in einem betreuungseinrichtungen und Pflegeange- sozialen und sicheren Land leben können. Geschlechtergerechtigkeit bote. Ausbau der Ganztagsschule für bessere Integrationsmasterplan für Neuankom- FÜR ELTERNKARENZ UND TAT- Zukunftschancen für alle Kinder. Einfüh- mende: Dazu gehören von Anfang an In- SÄCHLICHE GLEICHSTELLUNG rung einer Elternkarenz, die die Hälfte der formations- und Orientierungsveranstal- Zeit für Väter reserviert (ohne Übertra- tungen, Sprachkurse, Wohnrauminitiativen, Von Elisabeth Klatzer gungsmöglichkeit der Zeiten an Mütter) Mentoring-Programme, psychologische Be- Ein Umbau des Steuersystems, das Vermö- treuung. Wichtig sind aber auch die rasche sterreich hat eine traurige, empörende gen und Konzerne (höher) besteuert und Anerkennung von Qualifikationen, Bil- Ö Bilanz in Sachen Gleichstellung: An- steuerliche Entlastungen niedrigen Einkom- dungsmöglichkeiten, sowie der Zugang statt Fortschritte zu machen, verliert Öster- men gleichermaßen zugute kommen lässt zum regulären Arbeitsmarkt nach spätes- reich im internationalen Vergleich an Bo- (über Absetzbeträge statt Freibeträgen). tens sechs Monaten. den: laut dem Global Gender Gap Bericht Ein Umbau von budget- und wirtschafts- Egalitäres Bildungssystem, das mit Vielfalt rutschte Österreich innerhalb von 3 Jah- politischen Entscheidungsprozessen, um umgehen kann: Dazu gehören ein profes- ren um 32 Plätze (!) ab und ist 2016 nur eine tatsächlich gleichberechtigte Beteili- sioneller Umgang mit Vielsprachigkeit und mehr auf Platz 52 (von 144 Ländern) zu gung von Frauen und das Einbringen von Herkunftsvielfalt, Empowerment-Maßnah- finden. Das ist eine Schande und zeigt das Fraueninteressen zu ermöglichen. Kurzfris- men für nichtakademische Eltern, Ganzta- Versagen der Wirtschafts- und Gleichstel- tig wird die Einrichtung eines unabhängi- gesschulen, die besondere Förderung von lungspolitik und die fortwährende struktu- gen Beirates zur Umsetzung geschlechter- Schulen an Standorten mit einem hohen relle Benachteiligung von Frauen in Wirt- gerechter Budgetpolitik gefördert. Anteil an Kindern aus einkommensschwa- schaft, Politik und Gesellschaft deutlich Derzeit sehen wir vor allem Rückschritte chen Haushalten und ein Ende der Frühse- auf. Besonders eklatant ist die Benachtei- in der Gleichstellungspolitik. Für das Mili- lektion im Alter von 10 Jahren. ligung von Frauen im Bereich wirtschaft- tär sind zusätzliche Milliarden vorhanden, Öffnung Österreichs hin zu einer inklusi- liche Beteiligung. Wir sind weit von wirt- für dringend nötige Frauenpolitik bleiben ven Demokratie. Das würde Beteiligung schaftlicher Unabhängigkeit entfernt. Als nur Brösel übrig. Ein unhaltbarer Zustand. und Zugehörigkeit stärken. Immer mehr vordringliche Maßnahmen gilt es, die ekla- Frauen haben ein Recht auf wirtschaftliche Menschen in Österreich sind durch die re- tanten Einkommensunterschiede zwischen Unabhängigkeit, auf tatsächliche Gleich- striktiven Einbürgerungs- und Wahlrechts- Frauen und Männern abzubauen, die hohe stellung in allen Bereichen. Ganz unab- bestimmungen von vollen Rechten und Armutsbetroffenheit von Frauen – vor al- hängig davon tragen Investitionen im Sin- der Beteiligung an der Demokratie ausge- lem im Alter und als Alleinerzieherinnen ne des Zukunftsbudgets zu einem besseren schlossen. – zu verringern, eine bessere Verteilung Leben für alle bei! Ein Fokus auf Frauen-

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und Gleichstellungspolitik bedeutet ganz gung der sozialen Schieflage in Angriff ge- einfach eine bessere Wirtschaftspolitik. Es nommen werden, die Kinder und Jugend- ist höchst an der Zeit, dass Österreich die liche aus sozial schwachen migrantischen sozialen und wirtschaftlichen Rechte von Familien derzeit besonders hart trifft. Dazu Frauen ernst nimmt, den eklatanten Rück- muss die Ressourcenzuteilung an Schulen fall im internationalen Vergleich bekämpft grundlegend neu gedacht werden, und und sich um Fortschritte bemüht! zwar weg vom Gießkannenprinzip hin zu Elisabeth Klatzer von der Initiative Femme Fiscale, einer gerechten Zuteilung nach Kriterien die sich für geschlechtergerechte Steuer- und Bud- des Sozialindex. Das würde heißen, dass getpolitik einsetzt. künftig so genannte Brennpunktschulen wesentlich mehr Ressourcen zur Verfügung hätten als Schulen an nicht benachteiligten Standorten. Diese Ressourcen können sie zur gezielten Einzelförderung ebenso ein- setzen wie für entsprechendes Unterstüt- zungspersonal. Weiters muss so bald wie möglich die Frühkind-Pädagogik ins Zen- trum gerückt werden, mitsamt der baldigen Alexandra Strickner, Foto: Attac Einführung eines zweiten verpflichtenden Kindergartenjahres für alle. Nach skandi- Ökonomie navischem Vorbild wäre die frühkindli- WOHLSTAND STATT NOTSTAND: che Förderung mit aufsuchender Sozial- FÜR EIN ANDERES BUDGET arbeit und Elternkommunikation ebenso zu koppeln, wie mit der drastischen Re- Von Alexandra Strickner duzierung des Betreuungsverhältnisses in Krippen und Kindergärten. Auch die bes- as öffentliche Budget ist in Zahlen ten PädagogInnen können bei den derzei- D gegossene Politik. Ein Blick auf die tigen Gruppengrößen keine professionelle Einnahmenseite zeigt: Das österreichische Arbeit erbringen. Budget wird trotz der großen Steuerre- Heidi Schrodt, Foto: Privat Dass die künftigen Elementar-PädagogIn- form von 2015, bei der die Lohnsteuer re- nen endlich an tertiären Institutionen aus- formiert wurde, immer noch zu rund zwei Bildung gebildet werden, sollte eigentlich gar nicht Drittel aus Steuern auf Arbeit und Konsum WEG MIT DER GIESSKANNE! mehr extra erwähnt werden müssen. Die finanziert. Wer viel Vermögen hat und da- Trennung der Kinder im Alter von zehn von sogar lebt – also ein leistungsloses Ein- Von Heidi Schrodt Jahren wäre ersatzlos zu streichen – jahr- kommen bezieht – der zahlt für den jähr- gangsübergreifende Lerngruppen würden lichen Vermögenszuwachs, den er oder sie atürlich ist nicht alles schlecht in der nicht nur diese Transition entschärfen, son- in einem Jahr verzeichnet, lediglich 27,5 N österreichischen Schule, man den- dern auch die vom Kindergarten zur Volks- Prozent Steuern. Auch weiterhin beste- ke etwa an das berufsbildende Schulwe- schule oder von der Sekundarstufe 1 zur hen Steuerschlupflöcher für transnatio- sen. Doch die gravierenden Schwächen Sekundarstufe 2. Schließlich müssen mas- nal agierende Konzerne, sodass auch diese eines Systems, das in seinen Grundstruk- sive Aus- und Fortbildungsmaßnahmen die ihre Steuerlast auf ein Minimum reduzie- turen in den Sechziger-Jahren steckenge- LehrerInnen im Umgang mit der Heteroge- ren können. Auf der Unternehmensseite blieben ist, treten immer deutlicher zutage. nität und Mehrsprachigkeit in ihren Klas- leisten also in erster Linie die Klein- und Allem voran steht natürlich die Tatsache, senzimmern professionalisieren. All das Mittelbetriebe – sie sind das Rückgrat der dass ideologische Blockaden eine grundle- findet – von klein auf – selbstverständlich österreichischen Wirtschaft – ihren Bei- gende Gesamtreform seit Jahrzehnten ver- in inklusiv geführten Lerngruppen statt. trag zur Finanzierung, der für eine funk- hindern, eine gemeinsame Vision von der Schon jetzt gibt es im österreichischen Par- tionierende Gesellschaft und Wirtschaft Zukunft der österreichischen Bildung ins- lament mehr PolitikerInnen, die den ge- notwendigen Infrastrukturen und des So- gesamt nach wie vor aussteht. nannten Reformmaßnahmen aufgeschlos- zialstaates. Auch aus einer ökologischen Längst herrscht unter ExpertInnen Kon- sen gegenüberstehen, als man annehmen Perspektive ist das österreichische Steuer- sens darüber, was die Eckpunkte einer Re- würde. system reformbedürftig: so wird z.B. Auto- form sein sollten und wo vorrangig ange- Würden diese Maßnahmen, als Teil eines fahren steuerlich noch immer belohnt. setzt werden müsste. Das vor einem Jahr Gesamtpakets, umgesetzt, so wären wir in Die Folge davon: Die reichsten 5 Prozent beschlossene Reformpaket berücksichtigt zehn Jahren der Vision einer gerechten und der ÖsterreicherInnen besitzen 58 Prozent aber nur Einzelaspekte einer künftigen Re- gebildeten Gesellschaft einen wesentlichen des Privatvermögens, während große Kon- form. Jedenfalls könnte man ohne größere Schritt näher gekommen. zerne immer weniger zur Finanzierung der Vorarbeiten an die schrittweise Umsetzung Heidi Schrodt ist Vorsitzende der Initiative von ihnen genutzten Infrastrukturen, so- gehen. Ganz prioritär müsste die Beseiti- Bildung grenzenlos. wie zum Sozialstaat beitragen. Und: Steu-

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ern steuern uns zu wenig in Richtung einer sentlich bessere Vereinbarkeit von Beruf sozial gerechteren und ökologisch nachhal- und Privatleben, sondern auch eine besse- tigeren Zukunft. re gesellschaftlichen Teilhabe. Attac legt seit 2010 gemeinsam mit den Der klassischen Forderung nach Arbeits- Trägerorganisationen der Allianz „Wege zeitverkürzung schlägt dennoch zuneh- aus der Krise“ Reformvorschläge dazu vor, mend Skepsis entgegen. Besonders groß die an diesen Problemen ansetzen. Dazu ist sie im Dienstleistungssektor, wo die Ge- zählt u.a. die Einführung einer Vermögens- fahr weiterer Arbeitsverdichtung groß ist: und Erbschaftssteuer auf große Vermögen, Hier kann neben realistischeren Zeitvor- eine höhere Besteuerung von leistungslosen gaben effektiv nur mit Begleitmaßnahmen Einkommen (sie sollen als Einkommen de- wie verpflichtenden Personalschlüsseln ge- klariert werden und somit den Steuersätzen arbeitet werden. der Lohn- und Einkommensteuer unterlie- Wer über Arbeitszeitverkürzung spricht, gen), eine Abschaffung von Steuerprivilegi- muss aber auch über Lohnausgleich spre- en für Konzerne und eine umfassende öko- chen und damit die Frage stellen, wer die- logische Steuerreform. se Kosten einer Arbeitszeitverkürzung – Bisher wurden seitens der Politik von die- und in welchem Verhältnis – tragen soll. sen Vorschlägen nur kleine Schritte in Rich- Susanne Haslinger, Foto: Privat Nicht vergessen dürfen wir, dass die Ver- tung Reduzierung von Steuerprivilegien für kürzung der Arbeitszeit und ihre Auftei- leistungslose Einkommen und von umwelt- losigkeit steigt auch die Zahl der Beschäf- lung auf mehr Köpfe letztlich eine Vertei- schädlichen Subventionen gesetzt. ÖVP, FPÖ tigten konsequent. Geschaffen wurden je- lungsfrage ist, deren Finanzierbarkeit auch und NEOS haben bisher – gemeinsam mit doch keine qualitativ hochwertigen Jobs, im Rahmen der längst überfälligen Umver- der Industriellenvereinigung – erfolgreich sondern vor allem nicht existenzsichern- teilungsdebatte mitgedacht werden muss. die Wiedereinführung von Vermögens- de und auch selten freiwillige Teilzeitbe- Genauso schlägt Wege aus der Krise aber und Erbschaftssteuern für große Vermö- schäftigung, sowie prekäre Arbeitsformen. auch eine öffentliche Förderung eines Teils gen verhindert. Eine umfassende Ökolo- Unterm Strich ist das eine Arbeitszeitver- des Lohnausgleiches vor, wenn Arbeitgebe- gisierung des Steuersystems findet sich kürzung ohne Lohnausgleich und ein be- rInnen entsprechend zusätzliches Personal nicht auf der Prioritätenliste der Regierung. wusst angefachter Wettbewerb um die Ar- einstellen. Die Mittel dafür stehen durch Diese Maßnahmen würden nicht nur die beitsplätze, der Standards sukzessive senkt. die Entlastung des AMS, die mit der Schaf- wachsende Ungleichheit reduzieren und Gleichzeitig steigen Arbeitsdruck und Ar- fung neuer Arbeitsplätze einhergeht, bereits umweltfreundliches Verhalten befördern. beitsverdichtung und stressbedingte Er- zur Verfügung. Sie würden zugleich jene Mehreinnahmen krankungen. Denn die Arbeit geht uns Susanne Haslinger ist Rechtsschutzsekretärin/ ermöglichen, mit denen eine Vielzahl von noch lange nicht aus, in Österreich wer- Soziales bei der Gewerkschaft PRO-GE. notwendigen Zukunftsinvestitionen finan- den jährlich über 250 Millionen Überstun- ziert werden können, wie im Zivilgesell- den geleistet. Würde nur ein Drittel davon schaftlichen Zukunftsbudget vorgeschla- durch neue Arbeitsplätze ersetzt, ergäbe das Asyl gen. Maßnahmen, die uns mit Verweis auf allein 38.600 neue Stellen. VOM BACKLASH ZUR SOLIDARITÄT die Notwendigkeit der Einhaltung von EU- Wir können neue, hochwertige Arbeitsplät- Defizitzielen vorenthalten werden. Sie sind ze schaffen und Arbeit zur gleichen Zeit Von Anny Knapp allesamt problemlos finanzierbar – wenn entlasten. Das zivilgesellschaftliche Zu- man sich das Geld dort holt, wo zu viel liegt. kunftsbudget zeigt, wie: Was es braucht, ist ine Prognose über die künftigen Ent- Alexandra Strickner ist Mitbegründerin von „attac“. ein Maßnahmenpaket aus einer Umvertei- E wicklungen bei Flucht und Asyl, bei lung von Erwerbsarbeit (Stichwort Arbeits- Migration im allgemeinen abzugeben, er- zeitverkürzung), Konjunkturmaßnahmen, scheint mir derzeit als eine besonders Arbeitsverhältnisse längst überfälliger Investitionen in sozia- schwierige Aufgabe. Gerade im Asylsystem GUTE ARBEIT FÜR ALLE IST MÖGLICH le Infrastruktur (wie z.B. Kinderbetreuung, finden seit vielen Jahren in immer kürzeren Bildung, öffentlichen Verkehr; siehe Kom- Intervallen gesetzliche Änderungen statt. Von Susanne Haslinger mentare der anderen Ressorts) und einer Ob das Erreichte auch einmal gesichert wer- Reform der Arbeitsmarktpolitik, die sich den kann, ist fraglich und zudem in vielen ährend die Regierung von Bundes- an den betroffenen Menschen orientieren. Punkten gar nicht wünschenswert, weil ja W kanzler Christian Kern die Schaf- Neben der gesundheitlichen Notwendig- viele der gesetzlichen Änderungen Asylver- fung von 20.000 neuen Arbeitsplätzen bis keit kürzerer und damit weniger belasten- schärfungen brachten. Freilich gab es im- 2020 verlautbart hat, ist davon wenig zu der Arbeitszeiten, schafft die Verkürzung mer wieder auch einen Ausbau und eine merken. Fast eine halbe Million Menschen der Arbeitszeit auch ein Mehr an Lebens- Kodifizierung von Rechten, etwa durch die sind in Österreich arbeitslos, während an- qualität und mehr Zeit für Familie, Freun- Einführung der Grundversorgung 2004, die dere in den Burnout schlittern. dInnnen, Weiterbildung, zivilgesellschaftli- mit der willkürlich gewährten oder verwei- Seit Jahren ist ein besorgniserregender ches Engagement und persönliche Hobbies. gerten Versorgung mit dem Lebensnotwen- Trend zu beobachten: Neben der Arbeits- Insgesamt bedeutet das nicht nur eine we- digsten während des Asylverfahrens Schluss

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Zukunftsbudget 2017-2019: darf als Vorschlag für eine solidarische, ökologisch nachhaltige und demokratische Zukunft verstanden werden. gemacht hat. Auch lange von NGOs gefor- ten dürfte. Unsere treibende Kraft bei der nig Anlass für Zuversicht. Die jüngsten Ge- dert, dann aufgrund der EU-weit gültigen Sicherung der Grund- und Menschenrech- setzesnovellen (Asyl auf Zeit, erschwerter Standards in Asylverfahren, wurde kosten- te, die EU, hat mit Problemen wie Finanz- Familiennachzug, Kürzung der Sozialleis- lose rechtliche Unterstützung im Beschwer- krise und mangelnder Solidarität und Zu- tungen) zeigen, dass die Rechte von Flücht- deverfahren bei Gericht eingeführt. Manche sammenhalt zu kämpfen, die Flüchtlinge lingen systematisch beschnitten werden. vorbildliche österreichische Bestimmun- sind eine zusätzliche Aufgabe. Auch in der Selbst eigene Forderungen, wie jene nach gen wurden hingegen wieder abgeschafft, österreichischen Politik ergibt das politische Integration, werden systematisch konter- nicht weil sie sich nicht bewährt hätten, Gezerre rund um das Flüchtlingsthema we- kariert. Schließlich sollen einige Tausend sondern aufgrund der Befürchtung, Ös- Flüchtlinge in der Lage sein, in Österreich terreich könnte für Schutzsuchende zu „at- einen Notstand hervorzurufen, der auch die traktiv“ sein. Etwa die bis 2004 vorhande- Aussetzung der Genfer Flüchtlingskonven- ne Möglichkeit, einen Asylantrag bei einer tion und grundrechtlicher Verpflichtun- österreichischen Botschaft zu stellen oder gen legitimieren soll. Das wäre mir noch die Ausnahme traumatisierter Flüchtlin- vor kurzem völlig unrealistisch erschienen. ge und Folteropfer von zeitraubenden und Aber halt – da war doch noch was: die Zi- nervenzerrenden Zulassungsprüfungen. vilbevölkerung hat Mut und Empathie ge- Etliche positive Änderungen haben wir den zeigt, hat eingegriffen, wo der Staat versagt Entscheidungen der Höchstgerichte oder hat und es gab eine Macht des Faktischen, Brüssel zu verdanken. Nicht alle rechtli- siehe unseren nunmehrigen Verteidigungs- chen Vorgaben des gemeinsamen euro- minister, der an der Grenze im Burgenland päischen Asylsystems wurden mit voller 2015 Schlimmeres durch die Gestattung der Überzeugung umgesetzt, im europäischen Einreise für Flüchtlinge verhindern wollte. Vergleich schneiden wir noch immer nicht Es könnte also doch sein, dass sich aus dem so schlecht ab. derzeitigen Backlash wieder eine neue Wel- Derzeit befinde ich mich aber in einer we- le der Beruhigung und Reformen aufbaut. niger euphorischen Phase, was wohl für die Anny Knapp ist Obfrau des Vereins asylkoordination. Entwicklungen in der EU als gesamtes gel- Anny Knapp, Foto: Privat österreich und Expertin für Asylrecht.

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In den Supermärkten finden sich kaum noch Produkte, die ohne Palmöl hergestellt sind. Der Grund: es ist billiger. Riesige Wälder werden dafür vernichtet und in Monokulturen verwandelt, unterstützt im Namen der Nachhaltigkeit.

32 Raubbau/MO 45 ABHOLZEN IM NAMEN DER NACHHALTIGKEIT Palmöl-Firmen, die erst den Regenwald abholzen und dann mit Monokulturen am Emissionshandel verdienen – subven- tioniert von EU und UNO: Einen nachhaltigen Kapitalismus gibt es nicht, sagt Kathrin Hartmann. In ihrem aktuellen Buch „Aus kontrolliertem Raubbau“ recherchierte die deutsche Jour- nalistin die Komplizenschaft von Wirtschaft und Politik, die es den großen Konzernen ermöglicht, sich im Namen der Green Economy die letzten natürlichen Ressourcen zu sichern. Interview: Johanna Müller

Reden wir zunächst über das Palmöl: Sie Es gibt diesen Runden Tisch schon seit Die Naturschutzorganisation WWF sitzt beschreiben in Ihrem Buch sehr eindrück- zehn Jahren. Gibt es überhaupt keine ja auch am Runden Tisch und weist lich, wie das Gütesiegel des Runden Ti- Verbesserungen? Teile des Regenwaldes als geschützt aus. sches für Nachhaltiges Palmöl (RSPO- Nein, illegale Abholzung und Menschen- In Ihrem Buch schildern Sie aber, dass Siegel) dazu beiträgt, dass noch mehr rechtsverletzungen der Palmölfirmen ste- das etwa Kleinbauern enteignet. Sind sol- Regenwald abgeholzt wird. Kann man hen nach wie vor an der Tagesordnung. che Schutzmaßnahmen von vorne herein sich auf Gütesiegel gar nicht verlassen? Die vermeintlichen Verbesserungen nüt- Pseudoaktionen? Kathrin Hartmann: Das Siegel des RSPO Erstens muss man sich fragen, warum der ist für mich exemplarisch für die Green PALMÖL UND DIE FOLGEN: WWF gemeinsam mit den Palmöl-Unter- Economy: Anstatt etwas zu verändern, le- DIE ZERSTÖRUNGEN IN nehmen die Definitionshoheit darüber ha- gitimiert man ein sozial und ökologisch INDONESIEN HABEN MICH ben soll, welcher Wald schützenswert ist schädliches System mit einem Nachhaltig- ERSCHÜTTERT. und welcher nicht. Zweitens sind die ge- keitssiegel. Man sichert sich zugleich den schützten Flächen meist kein zusammen- Zugriff auf den Rohstoff. Als ich mich auf zen vor allem den Ländern des Nordens: hängender Wald, der Wildtieren als Le- die Suche nach dem angeblich nachhalti- Wenn Palmölfirmen beispielsweise ihre bensraum dienen kann. Kleinbauern und gen Palmöl machte, das im europäischen Abwasserbecken überdachen lassen, da- Indigenen ist die Nutzung oft nicht mehr Biodiesel steckt, habe ich in Indonesien ein mit kein Methan in die Luft gelangt, erhal- erlaubt. Das ist „Green Grabbing“. Drittens Ausmaß der Zerstörung gesehen, das mich ten sie dafür Zertifikate, mit denen sie am gibt es keine Sanktionen des RSPO für Mit- erschüttert hat. Ich habe das nachhaltige Emissionshandel mitverdienen können. Es glieder, die illegal oder in geschützten Ge- Palmöl nirgends gefunden – wohl aber für ist eine weitere Verwertung der Zerstörung. bieten Wälder abholzen. In zehn Jahren Palmöl-Monokulturen zerstörte Natur, ver- Mit dem RSPO-Siegel erfüllen die Konzer- wurden lediglich zwei Firmen ausgeschlos- triebene Kleinbauern, Gewalt gegen Indi- ne sogar die verbindlichen Nachhaltigkeits- sen, wobei die eine freiwillig den RSPO ver-

Foto: Stephanie Füssenich Stephanie Foto: gene und Sklavenarbeit auf den Plantagen. kriterien der EU. lassen hatte.

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Greenpeace kämpft gegen gewaltige Zerstörungen: Konzerne wie Unilever, die am meisten Palmöl verbrauchen und damit die Entwaldung vorantreiben, sitzen mit am Tisch, wenn es um neue Klimaschutz-Abkommen geht.

Die Arbeitsbedingungen auf den Planta- jahrealten Landkonflikt. Trotzdem die in- initiativen fungieren als freiwilliger Pseu- gen prüft unter anderem der TÜV Rhein- digene Gemeinde im Auftrag der Palmöl- do-Ordnungsrahmen, der politische Re- land für den RSPO. Sie beschreiben die firma – die Mitglied im RSPO war – bru- gulierung ersetzt. Man schafft ein neues, Zustände auf den Plantagen als katast- tal überfallen und misshandelt worden war, diesmal grünes, Kolonialregime. Die gro- rophal. Wie kommt es zu den positiven kam der TÜV Rheinland zu einem positi- ßen Unternehmen sitzen – ohne demo- Prüfergebnissen? ven Gutachten im Sinne der Palmölfirma, kratische Legitimation – in vielen wichti- Der TÜV Rheinland ist ein gewinnorien- die dieses Gutachten ja auch bezahlt hat. gen Gremien bis hin zur UNO. So saß etwa tiertes Unternehmen, das von den Firmen Unilever, die am meisten Palmöl weltweit für deren Zertifizierung und Kontrollen be- DER TÜV RHEINLAND IST verbrauchen und damit Treiber von Ent- zahlt wird. Ich habe einen Zertifizierungs- EIN GEWINNORIENTIERTES waldung sind, in der Calderon-Kommissi- prozess auf einer Plantage in Nordsumatra UNTERNEHMEN, BEZAHLT on, die einen Vorschlag für ein Nachfolge- beobachtet. Die Prüfung war wochenlang VON DEN FIRMEN, DIE ER abkommen des Kyoto-Protokolls vorlegte. vorher angekündigt und die Prüfer sehen ZERTIFIZIERT. Unilever gehörte außerdem zu den Unter- sich offenbar nur den Teil der Plantage an, zeichnern der New Yorker Erklärung zum der für die Prüfung vorbereitet war. Wür- Schutz der Wälder der UN. den sie nur eine halbe Stunde in die Planta- Auch die Behörden verlassen sich auf die- ge reinfahren, stünden sie in den Slums, wo se Gutachten und Siegel. Woher kommt Wie funktioniert die Zusammenarbeit die Arbeiter unter erbärmlichsten Bedin- der seltsame Gleichklang von Konzernen von Wirtschaft und Politik konkret? gungen hausen. Die Prüfer haben nur mit und Politik? Afrika ist ein gutes Beispiel, weil es als Ab- den Vertretern der gelben Gewerkschaft ge- Die Politik hat sich ganz dem Wachstum satzmarkt und wegen seiner großen Agrar- redet, das ist die, die von dem Unterneh- verschrieben. Die Entwicklungshilfepoli- fläche für die Industrie sehr interessant ist. men selbst gegründet wurde. Der TÜV tik in Deutschland wurde schon unter Dirk Da gibt es etwa die G8 New Alliance for Rheinland steht aktuell unter Beschuss, Niebel (Minister für wirtschaftliche Zusam- Food Security and Nutrition. Unter dem weil er auch in Rhana Plaza Textilfabriken menarbeit und Entwicklung bis Ende 2014; Deckmantel der Ernährungssicherheit kontrolliert hat und die Baumängel nicht Anm.) zu einer Art Industrieförderung um- möchte sie eine industrielle Landwirtschaft gesehen haben will. Auf einer anderen gebaut. Es geht um Zugriff auf die Ressour- umsetzen. Das wird von den Kleinbauern Plantage in Sumatra in der Provinz Jam- cen an Boden, Bodenschätzen usw. in den allerdings vehement abgelehnt. So werden

bi untersuchte der TÜV Rheinland einen Ländern des Südens. Die Zertifizierungs- so genannte Wachstumskorridore einge- Ulet Ifansasti / Greenpeace Foto:

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IMPRESSUM

MO REDAKTION: c/o SOS Mitmensch, Zollergasse 15/2, 1070 Wien, T +43 1 524 99 00, F +43 1 524 99 00-9, richtet, Sonderwirtschaftszonen, in denen Ich habe in Bangladesch mit Vertretern [email protected], Regulationen abgebaut werden, Gesetze so der Kleinbauernorganisation, die dort 2,5 www.momagazin.at geändert, dass Unternehmen einfacheren Millionen Mitglieder hat, gesprochen: Nie- Zugang zu Land bekommen, gentechnisch mand sagt, wir wollen dicke Autos und so REDAKTION: Gunnar Landsgesell (Chefredakteur; gun), verändertes Saatgut erlaubt wird und Ag- leben wie ihr. Im Gegenteil, sie sagen „das Petja Dimitrova (Porträt-Illus), Alexander rarkonzerne leichter Dünger und Pestizide Leben, das ihr führt, schadet uns“. In Wirk- Pollak (apo), Karin Wasner (Bilder), Eva Vasari verkaufen können. Es sind für solche Kor- lichkeit wollen wir mit diesem Wohlstand- (Illustrationen); Clara Akinyosoye, Eva Maria Ba- ridore bereits Bauern von ihrem Land ver- sargument ja nur unseren Lebensstil retten chinger, Philipp Sonderegger, Baruch Wolski AUTORINNEN DIESER AUSGABE: trieben worden. und legitimieren. Clara Akinyosoye, Eva Maria Bachinger, Carla Ami- na Baghajati, Muhamed Beganovic, Andrea Eras- Auch die FAO hat lange argumentiert, Wie kann man dazu beitragen, dass sich lan-Weninger, Angela Gföhler, Susanne Haslin- man könne den Hunger in der Welt nur diese Verhältnisse ändern? ger, Lamya Kaddor, Elisabeth Klatzer, Anny Knapp, durch eine industrielle Landwirtschaft Ich hoffe, dass sich mehr Menschen in den David Mum, Johanna Müller, Milena Österreicher, Karl Prenner, Willi Resetarits, Martin Schenk, Heidi bekämpfen. reichen Ländern gegen diese fatalen Land- Schrodt, Philipp Sonderegger, Alexandra Strickner, Natürlich gibt es in Afrika Hunger und wirtschaftsprogramme zusammenschlie- Johannes Wahlmüller, Kathrin Wimmer, Armut, natürlich muss man die Landwirt- ßen, sich darüber informieren, was mit Ibrahim Yavuz schaft verbessern. Aber das heißt nicht, dass den Steuergeldern passiert. Man kann sich BUSINESS DEVELOPMENT: Magdalena Summereder COVERBILD: P.M. Hoffmann dies industriell passieren muss. Die inter- Bündnissen anschließen: Die internationa- LEKTORAT: Sonja Dries nationale Kleinbauernbewegung fordert, le Kleinbauernbewegung La Via Campesi- ARTDIREKTION: Mitko Javritchev agrarökologische Methoden und Ernäh- na hat auch in Europa Ableger. Man kann LAYOUT-KONZEPT: Theo Kammerhofer rungsunabhängigkeit, also eine selbstbe- auch die Aktivisten vor Ort unterstützen: DRUCK: Ferdinand Berger & Söhne GmbH, stimmte regionale Landwirtschaft jenseits Sie sind ja nicht hilflos, wie man uns seit Wiener Straße 80, 3580 Horn ANZEIGEN: Katharina Hofmann-Sewera von exportorientiertem Anbau von „Cash- Kindertagen weismachen will. offi[email protected], T +43 1 524 99 00-16 Crops“ und des Diktats von Agrarmultis. ABOS: Bernhard Spindler, [email protected] Die industrielle Landwirtschaft wird den INDUSTRIALISIERUNGS- T +43 1 524 99 00-18 Hunger nicht abschaffen – sie ist es ja, die OFFENSIVE IN KENIA: VERTRIEB: für Bodenerosion, Wassermangel, den Ver- Beilage „Der Standard“; Straßenkolportage KARTOFFELANBAU FÜR AUFLAGE: 30.000 lust der biologischen Vielfalt und Land- CHIPS UND POMMES. HERAUSGEBERIN: raub verantwortlich ist. Hinter der Indust- SOS Mitmensch, Zollergasse 15/2, 1070 Wien, rialisierungsoffensive steckt sehr viel Geld. Aber ohne Verzicht geht es nicht. T +43 1 524 99 00, F +43 1 524 99 00-9, Zum Beispiel von der Bill & Melinda Ga- Ist es wirklich Verzicht, nicht jeden Tag Mail: offi[email protected] Web: www.sosmitmensch.at tes Foundation: Sie arbeiten in der German Schnitzel zu essen? Keine Tütensuppen ZVR: 22747570 Food Partnership mit der deutschen Ent- mehr zu haben? Stattdessen wird es et- OFFENLEGUNG gem. § 25 MedienG: wicklungshilfe zusammen, um etwa Kar- was anderes geben, nämlich mehr Zeit und Medieninhaber (Verleger) und toffeln in Kenia und Nigeria anzubauen – Energie für soziale Beziehungen, für Arbeit, Herausgeberin: SOS Mitmensch Sitz: Wien für die Produktion von Chips und Pommes. die man gerne macht. Ich glaube, der Kon- Geschäftsführung: Alexander Pollak, Das braucht kein Mensch. Da werden Milli- sumirrsinn ist oft nur ein schaler Glückser- Gerlinde Affenzeller; onen Euro auch öffentlicher Gelder gebun- satz, eine Entschädigung für das Leben, das Obmann: Max Koch den, die besser in öffentlichen Institutionen wir führen, aber so nicht wollen. Grundlegende Richtung: gegen Diskriminierung, eingesetzt wären. für Menschenrechte, Demokratie und Migration ZVR: 22747570 Die Bill & Melinda Gates Foundation hält SPENDEN: Aktien von Monsanto, insofern ist ihr En- IBAN: AT87 6000 0000 9100 0590 gagement verständlich. Von öffentlichen ZUR PERSON BIC: BAWAATWW MO ist das Medium von SOS Mitmensch Stellen hört man das Argument, man Die Ursachen von Armut und Ausbeutung gegen Rassismus und Diskriminierung, könne Indien, Afrika usw. den westlichen sind die Themen der Journalistin Kathrin für Menschenrechte, Demokratie und Wohlstand nicht absprechen. Hartmann. 2009 erschien ihr Buch „Ende Migration. Ja, das ist eines der besonders verlogenen der Märchenstunde. Wie die Industrie die Der Nachdruck der Beiträge ist bei Nennung Standardargumente. Auf einmal werden Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt“, der Quelle und Übersendung von Belegexemplaren ausdrücklich erwünscht, wenn das Copyright nicht Konsumexzesse nach westlichem Vorbild 2012 „Wir müssen leider draußen blei- ausgewiesen ist. Die Rechte der Fotografien liegen wie ein Menschenrecht behandelt, während ben“ über Armut in Deutschland. In ihrem bei den UrheberInnen. für diese gleichzeitig reale Menschenrechte Buch „Aus kontrolliertem Raubbau“ nimmt Falls kein/e Urheber/in ausgewiesen ist: mit Füßen getreten werden. De facto ver- sie globale Ausbeutungsverhältnisse in den SOS Mitmensch. nichtet man seit Jahrzehnten schon die Le- Blick. Das Buch ist im Blessing Verlag er- bensgrundlage der Menschen im Süden. schienen.

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POPULÄR GESEHEN SONDERECKE

Gandhi, der Lebensmittel, Rassist die man nicht Einer der populärsten Men- essen kann schen hat zwei Geschichten: Ikone des friedlichen Wider- Wer dauernd hungert, standes und rassistische wird jenen folgen, die Brot Persona non grata. versprechen. UM DIE ECKE GEDACHT MIT EINE KOLUMNE VON MARTIN SCHENK Martin Schenk ist Sozialexperte PHILIPP SONDEREGGER Illustration: Petja Dimitrova der Diakonie Österreich. Illustration: Petja Dimitrova

s gibt etwas in unserem Leben, das der Freizeit-, der Beziehungs- und Fami- on meiner Schulzeit an zählte für E einfach wichtig ist. Bestimmte Be- lienmensch ist den Verantwortlichen V mich Mahatma Gandhi zu den dürfnisse, die gestillt werden müssen. aus Politik und Wirtschaft offensicht- Lichtgestalten des Weltgeschehens. Mei- Dazu gehören auch Lebensmittel, die lich völlig egal“, analysiert Jugendforscher ne Generation blickte zu ihm auf. Schon man nicht essen kann, aber trotzdem Heinzelmaier. Eine weitere Beobachtung als 19-Jähriger setzte er sich über das in- zum Leben braucht. Fünf Mängel zählt liefert der französische Soziologe Didier dische Kastenwesen hinweg und schiffte Psychologe Abraham Maslow auf, die Eribon. Die Fabriksarbeiter seiner Ver- nach London ein, um Recht zu studieren. uns bei Nichtbefriedigung empfäng- wandtschaft wählen alle die Rechtsex- Als junger Anwalt verschlug es ihn nach lich für Hetze aller Art machen: Hun- tremen. Eribon schreibt, „dass man die Südafrika, wo er wegen seiner Hautfarbe ger & Durst, Gewalt & Arbeitslosigkeit, Zustimmung zum Front National zumin- aus dem Zug geworfen wurde. Der Vor- Isolation & Einsamkeit, fehlende Ach- dest teilweise als eine Art politische Not- fall stachelte ihn an, eine Organisation tung & Wertschätzung, Brachliegen der wehr der unteren Schichten interpretie- gegen Diskriminierung aufzubauen. Zu- eigenen Potenziale. „Wer dauernd hun- ren muss. Sie versuchen, ihre kollektive rück in Indien führte er das Land in die gert, wird jenen folgen, die Brot ver- Identität zu verteidigen, oder jedenfalls Unabhängigkeit von den britischen Ko- sprechen. Jene, die Sicherheit garan- eine Würde, die seit je mit Füßen getre- lonialherren und setzte auf Versöhnung tieren, werden bei Verängstigten und ten worden ist und nun sogar von de- zwischen Muslimen und Hindus. Er ver- Traumatisierten einen Zuhörer finden“, nen missachtet wurde, die sie zuvor re- trat Menschenrechte für Frauen und Un- analysiert dazu der Netzwerkforscher präsentiert und verteidigt hatten.“ Aus berührbare, mit Taktiken des zivilen Un- Harald Katzmair. „Jene, die Teilhabe Arbeitern und Arbeiterinnen wurden gehorsam wurde er schon zu Lebzeiten anbieten, werden bei einsamen Men- „sozial Schwache“, aus Proletariern „bil- zur Ikone des gewaltfreien Widerstandes. schen Resonanz erzeugen. Jene, die sa- dungsferne Schichten“. Aus AkteurInnen, Doch Gandhi wird nicht überall so ver- gen: So wie Du bist, bist du ein wertvol- die Rechte einforderten, wurde ein Sam- ehrt. In der ghanaischen Hauptstadt Ac- ler Mensch, werden bei denen, die nie melsurium von Opfern und Hilfsbedürf- cra erwirkten unlängst ProfessorInnen im Licht der Anerkennung stehen, An- tigen gemacht. Die einen verwandeln sie und Studierende die Entfernung eines klang finden.“ Wer diese Grundbedürf- in Objekte sozialmoralischer Pädagogik, Gandhi-Denkmales vom Uni-Cam- nisse nicht mehr auf dem Radar hat, wird die nichts können, die anderen betrach- pus. Das Monument wurde erst im Juni auch nichts ausrichten gegen Ideologi- ten sie als Objekte erobernder Fürsorge, im Beisein des indischen Präsidenten en der sozialen Ausgrenzung. Vor allem als Opfer, die alles brauchen. Aber nie als Pranab Mukherjee enthüllt, um die Ver- das Bedürfnis nach Wertschätzung, Wür- Handelnde. Es gibt eben Lebensmittel, bundenheit der beiden Länder zu be- de und Integrität von all jenen, die sich die man nicht essen kann, aber trotzdem kräftigen. Die GegnerInnen der Statue nicht täglich im Lichte des Erfolgs son- zum Leben braucht. Wer nicht im Licht verweisen auf Ausführungen Gandhis, nen können, ist aus dem Blick geraten. steht, wird jenen vertrauen, die anbieten, in denen er eine Überlegenheit von In- Lehrlinge beispielsweise werden meist was in ihrem Alltag verloren zu gehen derInnen gegenüber AfrikanerInnen auf ihre Funktionalität für den Arbeits- droht: Achtung und Würde. behauptet und letztere auch noch mit markt angesprochen. „Der Mensch außer- einem rassistischen Schmähbegriff be- halb der Arbeit, der politische Mensch, denkt. Tatsächlich wurde Gandhi auch

36 Rubriken/MO 45

CLARTEXT

Burkadebatte: Alles nur Kosmetik? Das Burka-Thema wird uns noch länger begleiten. Kos- metikdebatten werden uns nicht weiterhelfen.

Philipp Sonderegger ist CLARA AKINYOSOYE SAGT ES NICHT DURCH DIE BLUME. Menschenrechtler, lebt in Wien EINE KOLUMNE ÜBER DIVERSITÄT UND MIGRATION. Clara Akinyosoye ist freie Journalistin und bloggt auf phsblog.at. Illustration: Petja Dimitrova und Ex-Chefredakteurin von M-Media. schon von namhaften indischen Intel- ch weiß schon. Der Sommer ist vor- schienen sind als früher. Nicht nur am lektuellen kritisiert. Unter anderem, weil I bei. Ich bin spät dran. Alle, die was Graben, sondern am Hannovermarkt, sein Kampf gegen die Apartheid weni- auf sich halten, haben sich zur Burkaf- am Handelskai, in Margereten. Dass es ger den Schwarzen als seinen indischen rage bereits geäußert. Es gab Kluges und vielleicht mehr werden, auch wenn es Landsleuten galt. weniger Geistreiches. Polemik von rechts eine Handvoll bleibt – darüber werden Nun kann man Menschen zugestehen, und links. Unqualifiziertes Geschwafel. wir wohl sprechen dürfen. Warum diese dass sie im Laufe ihres Lebens klüger Ultimative Bedrohungsszenarien. Non- Frauen den Schleier tragen und, ob das werden und auch in der zweiten Hälfte nenvergleiche. Nun gut. Man könnte ein Statement ist, mit dem sich eine li- noch dazu lernen können. Gandhi ist si- meinen, es ist genug über die Burka ge- berale Gesellschaft befassen muss, das cher auch ein gutes Beispiel dafür, dass sprochen worden. Immerhin so viel, dass sollten wir auch diskutieren. Eine Bur- die Heldengestalten der globalen Popu- mittlerweile auch einige Nicht-Nahost kaverbot-Debatte ist so legitim wie eine lärkultur mehr über unsere Art zu Den- oder IslamexpertInnen den Unterschied längst überfällige Laizismus-Diskussion. ken aussagen, als über die Wirklichkeit. zwischen Burka und Niqab erklären kön- Aber verirren wir uns nicht. Wenn wir Besonders bemerkenswert finde ich je- nen. Es ist genug. Immerhin kommt der nur über die Kleidung sprechen, verlie- doch, wie stark die Geschichtsschreibung nächste Sommer bestimmt. Jedem Som- ren wir uns in kosmetischen Debatten. selbst in einer globalisierten Welt noch mer seine Burkadebatte. Aber diese De- Wir sollten aber fundamentalistische divergieren kann. Wie kann einer der po- batte, mal ehrlich: Soll das alles gewesen Strömungen und extremistische Posi- pulärsten Menschen weltweit zwei ver- sein? Burka, Niqab und Burkini wurden tionen innerhalb der (übrigens gesam- schiedene Geschichten haben? Immerhin in Frankreich quasi gleichgesetzt. Frau- ten) Bevölkerung analysieren und disku- findet sich im deutschsprachigen Wiki- en mit Leggings und Kopftuch am Strand tieren, wie wir denen begegnen wollen pedia ein Hinweis auf die Rassismus- von der Polizei verfolgt. Applaudiert ha- und können, wie wir Mädchen und Bu- Vorwürfe. Ein Denkmalsturm erschie- ben vor allem Fundamentalisten – rechte ben stärken, aus tradierten Rollenbildern ne in Österreich aber unwahrscheinlich. und islamische. Welch Koalition schein- auszubrechen, wo wir Geld investieren Das hat nicht zuletzt mit dem Stellenwert heiliger Moralisten und Frauenverachter. müssen, um unliebsamen antidemokra- des Antirassismus hierzulande zu tun. In Österreich wurde die Debatte bereit- tischen Entwicklungen zu begegnen. Ob Mit Ausnahme des Holocaust ist diese willig aufgenommen. Schließlich steht (nur) ein Burkaverbot die Lösung ist, ich Perspektive aus der Geschichtsschrei- nach Wochen des Diskurses und der Ni- bezweifle es. Mehr muslimische Sozialar- bung weitgehend verdrängt und im öf- qab-Selbstversuche ein Burkaverbot im beiterinnen, die zu den Frauen und Mäd- fentlichen Bewusstsein ist sie margina- Raum. Es wird als Teil eines Integrations- chen über die wir seit Monaten sprechen, lisiert. Mit dem Ergebnis, dass so a bissl pakets verhandelt. Schon allein deswe- durchdringen, würden da vielleicht eher Rassismus bei uns noch lang keinen zu gen ist das Thema nicht vom Tisch, auch helfen. Diesbezüglich hab ich noch keine Fall bringt. Schon gar keinen wie Gandhi. wenn der Sommer vorbei ist. Es wird Forderung vernommen. Aber vielleicht uns wohl weiter beschäftigen. Auch weil erörtern wir das dann im Winter. Falls entgegen den Behauptungen mancher, nach dem Sommer der Symbolpolitik vollverschleierte Frauen wahrschein- noch Zeit ist – für Sachfragen. lich zuletzt öfter im Wiener Stadtbild er-

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POPULÄRKULTUR

Al-Insan, der Mensch. Auch der Name der 76. Sure im Koran. Community News Muslimische Communities helfen oft unbürokratisch und arbeiten zumeist abseits der Öffentlichkeit an der Integration von Flüchtlingen. Sie sind eine wichtige Schnittstelle innerhalb der Gesellschaft. Was aber tut sich hier?

TEXT: IBRAHIM YAVUZ

MJÖ ist 20 geworden des Islam in Österreich. „Die Ausstellung licht. Thema: die Reise der beiden nach Is- Die Muslimische Jugend Österreich feiert erweckte großes Interesse, viele wollen tanbul, nach Jerusalem und in die paläs- heuer ihr 20-jähriges Bestehen. Die größ- nun Österreich besuchen“, sagt Stanfel. Die tinensischen Gebiete. Die ORF-Sendung te muslimische Jugendorganisation Öster- Idee zur Ausstellung „Ostarrichislam“, die „kreuz und quer“ begleitete die beiden, reichs lud Ende Oktober Jugendliche zu erstmals 2012 in Wien gezeigt wurde, ent- der Film zum Buch wird demnächst aus- einem Fest im Center ein. stand aus der langjährigen Beschäftigung gestrahlt. Der Rabbiner und der Imam ha- Künstler wie Maher Zain, Yusuf Güney des Kurators mit der kulturellen Beeinflus- ben sich vor Ort ein Bild vom „Anderen“ oder die US-amerikanische Fechterin und sung der österreichischen Kultur durch gemacht mit dem Ziel sich gegenseitig bes- Olympiamedaillen-Gewinnerin Ibtijah Mu- den Islam. „Als Wahlmuslim habe ich mich ser zu verstehen. Eine Reise zwischen reli- hammad fanden den Weg nach Wien. Mehr schon länger gefragt, ob die Religion, in der giösen Stätten und politischen Konflikten als 15.000 Jugendliche feierten. Außerge- ich mich beheimatet habe, in meiner phy- als Denkanstoß und mutige Aktion für ein wöhnlich die Darbietung der Moderato- sischen Heimat geschichtlich Spuren vor respektvolles Miteinander. Der interreligi- rinnen. In Trachten und Tanzvorstellungen der Arbeitsmigration ab den 1960er Jah- öse Dialog, wie er in Österreich umgesetzt in österreichischer Kleidung erweckten sie ren hinterlassen hat. Wenn das so wäre, hät- wird, ist ihnen zu „wolkig“. Sie wollten mit den Eindruck einer Hyperintegration. An- te auch meine Herkunftskultur islamische der Reise ein konkreteres Zeichen setzen. wesend waren auch Innenminister Sobot- Anteile in sich und somit ich selbst kultu- Der interreligiöse Dialog zielt auf eine Mul- ka (ÖVP) sowie der jetzige und die beiden rell auch seit meiner Geburt“, erklärt Stan- tireligiösität ab, die einerseits Vielfalt im vergangenen Präsidenten der Islamischen fel. Gleichzeitig ist auch zu fragen, ob die Sinn eines reichen religiösen Lebens mit Glaubensgemeinschaft (IGGiÖ). In Anbe- ArbeitsmigrantInnen und ihre Nachkom- sich bringt, andererseits Quelle für Miss- tracht der jüngsten politischen Auseinan- men in der österreichischen Kultur etwas verständnisse und Vorurteile in sich birgt. dersetzungen der MJÖ mit der IGGiÖ und wiederfinden können, was ihnen vielleicht Den Dialog sehen der Imam und der Rab- der ÖVP beim Thema Islamgesetz, mutete aus ihrer Herkunftskultur bekannt ist. Dass bi als probatestes Mittel, um Ängste abzu- das gemeinsame Feiern etwas merkwürdig diese Ausstellung in einem muslimisch ge- bauen und ein harmonisches Zusammenle- an. Bereits seit längerer Zeit pflegt die MJÖ prägten Land wie Malaysia auf großes Inte- ben zu fördern. Nur so ist es letztlich auch auch kein inniges Verhältnis mehr zur IG- resse stößt, ist beachtlich. Malaysia ist eines möglich, Menschen in religiös konnotier- GiÖ. Vielleicht helfen derartige Veranstal- der weltweit größten Länder mit muslimi- ter Kleidung zu akzeptieren. Warum wer- tungen als Versöhnungskur. schem Bevölkerungsanteil – und einer der den erkennbar religiöse Menschen komi- wichtigsten Handelspartner Österreichs in scher angeschaut als nicht erkennbare? Ostarrichislam Südostasien. Diese Frage kann wohl nur psychologisch Die Ausstellung „Ostarrichislam“ wurde im beantwortet werden. Oktober in Kuala Lumpur präsentiert. Ku- Reise nach Jerusalem rator Gernot Galib Stanfel folgte der Einla- Der Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeis- Reise nach Jerusalem: Ein Imam und ein dung des Islamic Art Museums nach Ma- ter und Ramazan Demir, Imam aus Wien, Rabbiner unterwegs, Amalthea Verlag, laysia und berichtete über die Geschichte haben ein gemeinsames Buch veröffent- Wien 2016, 208 Seiten.

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SPOTLIGHT

Der Ausrutscher Eines muss man Martin Glier, Norbert Hofers Pressesprecher, lassen: Er ist ein engagierter Funktionär, der seine Arbeit aus Überzeugung macht.

TEXT: MUHAMED BEGANOVIC

lier, eifrig auf Twitter präsent, ver- nen frei, in Ihre Heimat zurückzukehren“. folgt das politische Geschehen pe- Glier ist der Herr im Haus, wenn er nach- G nibel und verpasst keine Gelegen- setzt: „In meinem Land erklärt mir nie- heit, Stimmung zu machen. Man könnte mand, wie ich Süßspeisen nennen muss.“ den Pressesprecher als Provokateur abtun, Wäre er keine Person des öffentlichen Le- weil seine Aussagen zuweilen recht unbe- bens, man könnte seine Sager als skurril an- holfen wirken. Anfang 2016 machte er sich mutende Äußerungen einer abgeschotte- auf Twitter über das Alter der Bundesprä- ten Welt verstehen. Glier ist aber Leiter der sidentschaftskandidaten lustig. Zu sehen Pressestelle der FPÖ. Das macht seine Aus- waren sechs Kandidaten mit Rollator und sagen brisant. Sie repräsentieren eine Partei, vor ihnen, in Führung, ein schlanker und die in Österreich den Machtanspruch stellt. fitter Norbert Hofer. Für Glier ist es Sa- Immer wieder zeigt der Pressesprecher, tire, da von all den Kandidaten nur Ho- dass seine Ausrutscher doch keine sind. fer eine Gehbehinderung hat. Es geht aber Über die Grüne Nationalratsabgeordnete noch plumper. Als sich der ORF „Im Zen- Alev Korun, die sich süffisant über eine Be- trum“ 2014 mit Ausschreitungen rund um Glier über die Grüne Nationalratsabgeordnete gegnung zwischen Norbert Hofer und der den Akademikerball beschäftigte, war auch Alev Korun. Sie könne „mit mitteleuropäischen Vorsitzenden des Front National, Marine Natascha Strobl, Mitveranstalterin einer der Umgangsformen“ nichts anfangen. Le Pen, geäußert hatte, twitterte er im Sep- Demos, eingeladen. Glier twitterte: „Diese tember 2016, dass es ihn „nicht wundert“, Frau Strobl ist ja ein unglaublicher Tram- Herr im Haus dass sie „mit mitteleuropäischen Umgangs- pel. Was fällt dem ORF ein, solche Kreatu- Wer das Recht hat, in Österreich zu sein formen nichts anfangen kann“. Auf die Kri- ren einzuladen?“ Das hatte ein rechtliches und wer gleichberechtigt die Stimme erhe- tik an seiner Aussage, die auf die türkische Nachspiel, weil Strobl klagte – und recht- ben darf, davon hat Glier feste Vorstellun- Herkunft von Korun abzielte, bediente er bekam. Das kostete Glier eine Entschul- gen. Er teilt sie problemlos mit der Öffent- sich einer höchst eigentümlichen Begriff- digung, eine Ehrenerklärung und 1.000 lichkeit. Menschen, die Geflüchteten helfen, lichkeit: „Nur zur Info: Gute Umgangs- Euro. Doch schon wenige Minuten nach gehören nicht unbedingt dazu. Glier hat formen haben nichts mit „Rasse“ zu tun, dem Tweet seiner Ehrenerklärung schrieb sie als „Invasions-Kollaborateure“ be- sondern mit Kinderstube.“ Besonders pro- er nochmals auf Twitter. „Erstaunlich wel- zeichnet. Es gibt mehrere solche Beispiele. blematisch: dass der eifrige Twitterer der cher Hass einem da von linker Seite ent- Im Oktober 2013, als eine öffentliche De- Öffentlichkeitsarbeiter des höchsten Reprä- gegenschlägt. Wenn ich das alles einklagen batte über die Benennung der Nachspei- sentanten der Republik sein könnte. würde, hätte mein Anwalt viel zu tun“. Ei- se „Mohr im Hemd“ geführt wurde, ließ ner gängigen Kommunikationsstrategie der er dem Journalisten Simon Inou ausrich- FPÖ folgend, hatte sich der Funktionär in ten: „Wenn es Ihnen nicht passt, wie wir

Foto: FPÖ Foto: die Rolle des eigentlichen Opfers begeben. unsere Süßspeisen nennen, steht es Ih-

39 MO 45/Rubriken

POPULÄRKULTUR

BUCH

den überhaupt. In diesem Buch diosen Selbstgewissheit ein und mischen Nutzbarkeitsdiskur- richtet sich nun der Blick aber wirkt am Ende ziemlich ideo- sen und sozialer Desintegrati- auf die Mehrheitsgesellschaft: logisch. Dabei stellt sich nicht on getragene Haltung verbirgt, Wie sieht es eigentlich mit un- nur die Frage, ob die Angst vor die nicht von der Sorge um De- serer eigenen Ethik aus, die wir Status- und ökonomischen Ver- mokratie getragen ist, sondern nunmehr Menschenrechte be- lusten etwa der Mittelschicht sich ganz im Gegenteil um de- schränken, eine „Flüchtlings- tatsächlich den Abbau von mokratische Werte nicht son- krise“ ausgerufen haben und Rechten legitimiert. Sondern derlich kümmert. Der gesell- humanitäre Hilfe nur noch un- es zeigt sich auch, dass in die schaftliche Zusammenhalt, der ter Protest leisten. Asyl soll im Zuwanderungsdebatte wie ein insbesondere vom Rechtspo- Schnellverfahren außerhalb Kuckucksei auch gleich Sozi- pulismus beschworen wird, der Landesgrenzen passieren, aldumping für andere Bevöl- belebt sich durch immer neue Wert und Würde das Problem zum Wohle aller kerungsgruppen eingebaut ist. Ausgrenzungstaktiken selbst. in die Türkei ausgelagert wer- Schenk: „Das Land Niederös- Wer diese Diskurse besser ver- Was ist von einer Wertedebat- den. Werte, erklären die Auto- terreich erließ ein Gesetz zur stehen möchte, wird durch die te zu halten, die soziale Grund- rInnen, das ist eigentlich ein Streichung der Mindestsiche- Publikation von Bachinger und rechte missachtet und Armut Begriff, der aus der Ökonomie rung bei Flüchtlingen, versteck- Schenk um viele Erkenntnisse erhöht? Das fragen Eva Maria entlehnt ist. Die Interpretation te aber darin die Kürzung des reicher. red Bachinger und Martin Schenk der Menschenrechte als Spe- Wohnens bei Menschen mit – beide sind seit vielen Jahren kulationsobjekt? Wie lässt sich Behinderungen. „Flüchtlinge“ Eva Maria Bachinger, Martin Schenk auch AutorInnen dieses Maga- das mit der Würde des Men- wird gesagt, aber gestrichen Wert und Würde – Ein Zwischenruf zins – in ihrer jüngsten Publi- schen vereinbaren? Diskrepan- wird dann beim Wohnen für Hanser Verlag, 2016 kation „Wert und Würde – Ein zen wie diesen gehen Bachinger alle, auch für alle Österreiche- 72 Seiten, E-Book, 2,99 Euro Zwischenruf“. Eigentlich ist die und Schenk auf ebenso konse- rInnen. So funktioniert das.“ Es Wertedebatte für Asylsuchende quent hinterfragte wie erhellen- gibt eine Reihe von Beispielen, reserviert und dient nicht selten de Weise nach. Die öffentliche die zeigt, dass sich hinter der als notdürftig verschleierte Res- Debatte rund um Flüchtlinge Wertedebatte um die angebli- sentimentabfuhr, wenn nicht büßt mit jeder neuen Buchsei- chen kulturellen Differenzen zur Abwehr von Asylsuchen- te ein bisschen von ihrer gran- eine ideologische, von ökono-

BUCH

Die Underdogs so richtig akzeptiert, und selbst die von Kränkungen, von Sen- keinen Plan im Leben. Doch sibilitäten und einer scharfen Poesie der Straße, unverstellt, das Unbehagen, das el Azzou- Wahrnehmung erzählen. Der- roh, erzählt aus einer Under- zi in seine Figuren legt, das oft- art lässt sich „Wir da draußen“, dog- und Außenseiterpers- mals komisch und unbeholfen das jüngste Buch von el Azzou- pektive. So stellt sich der Ro- von diesen formuliert wird, mit zi, als ebenso witzige wie auf- man „Wir da draußen“ dar, derbem Witz in ungeschliffe- schlussreiche Lektüre an. red den der Belgier mit marokka- ner Sprache, dieses Unbehagen nischen Wurzeln, Fikry el Az- frisst sich durch all die Episo- Fikry El Azzouzi zouzi, in der Ich-Perspektive den dieses Buches. Immer wie- Wir da draußen verfasst hat. Es geht um eine der vermittelt sich beim Lesen Dumont Verlag, 2016 Gruppe von Freunden, die in das Gefühl, dass sich hinter je- 224 Seiten, 20 Euro einer flämischen Kleinstadt ab- der Pose, hinter den flotten hängen, von den patriarchalen Sprüchen und den coolen Fas- Vätern vor die Tür gesetzt, von saden immer auch diese klei- der Mehrheitsgesellschaft nicht nen Wahrheiten verstecken,

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über die Türkei erfahren will, und –geboten oder auch der deren Tatsachen, die für einen erzählt, so kurzweilig wie ein per Gesetz verordneten latei- demokratischen Staat kaum Krimi, ist mit diesem Buch be- nischen Schrift. Spannend sind bewältigbar scheinen. Erst im stens bedient. Ali Cem Deniz, insbesondere die Kapitel, die Zusammenspiel all dieser Er- Radio-Mitarbeiter von FM4 die vergangenen Jahrzehnte eignisse lässt sich ein tieferge- sowie Autor dieses Magazins, behandeln: die Verstrickungen hendes Verständnis für die ak- weiß, wie er drängende Fra- der alten Parteien in den „tiefen tuelle politische Situation in gen rund um die politischen Staat“, um dessen mafiose Ver- der Türkei finden, wobei Recep Ereignisse in der Türkei ver- bindungen sich wilde Gerüchte Tayyip Erdoğan als einer von ständlich und klar aufbereitet, ranken; die faszinierende Meta- mehreren zentralen Akteuren ohne zu lange auszuholen, ohne morphose der wirtschaftslibe- eine realistische Einschätzung aber auch zu sehr zu verkür- ralen AKP aus den islamischen erfährt. Mit solch klarem und zen. Beim Lesen gewinnt man Vorgängerparteien; der Aufstieg unverstelltem Blick hat man schnell den Eindruck, dass hier Erdoğans zuerst als Bürgermei- sich der verfahrenen Lage jemand mit viel Hintergrund- ster, der Istanbul modernisier- dieses Landes selten angenä- Türkei nur erzählt wissen die Übersicht hat, sich te. Aber auch die Implikationen hert. gun auf relevante Ereignisse zu kon- auf eine Politik, die zwischen Jetzt ist schon wieder was pas- zentrieren. Deniz liefert einen Putschversuchen, jahrzehnte- Ali Cem Deniz siert. So in etwa fühlt sich die Abriss über die Entwicklung langen kriegerischen Auseinan- Yeni Türkiye – Die neue Türkei. österreichische (und deutsche) der modernen Türkei, deren ke- dersetzungen mit der PKK, ver- Von Atatürk bis Erdogˇan Türkei-Berichterstattung an, malistisch-westliche „Erneue- schiedensten Terroranschlägen, Promedia Verlag, 2016 nur, dass der Brenner fehlt, der rung“ die Bevölkerung mit har- ungeklärten Mordserien, einem 216 Seiten, 17,90 Euro am Ende die Hintergründe re- ten Einschnitten konfrontiert. allmächtigen Militär als kema- cherchiert. Wer dennoch mehr Das ging bis zu Kleidungsver- listischen Gralshüter und an-

FILM

„Die Geträumten“ sich eine eigene andere übermü- tige Chemie bemerkbar macht; Klingt nicht spektakulär, ist es oder wenn sie Plaschg, versun- aber. Anja Plaschg (Soap&Skin) ken am Flügel, beim Improvisie- und der Schauspieler Laurence ren beobachtet. Das Schöne an Rupp lesen, nein, leben die „Die Geträumten“ ist, dass hier wechselhafte Liebesbeziehung keine Poesie beschworen wird, zwischen Ingeborg Bachmann sondern die Musikerin und der und Paul Celan anhand von de- Profischauspieler selbst zu einer ren mal überschäumendem, mal lyrischen Form finden. Eine gute verzweifeltem Briefwechsel, der Entscheidung auch, dass Becker- über mehrere Jahre führte. Die mann darauf verzichtet hat, das Intensität zwischen Plaschg und Wahl anderer Partner immer mage oder ähnlich fade theatra- Geschehen mit Bildern jener Rupp ist erstaunlich. Wiewohl wieder neu für einander auf- lische Formen. Regisseurin Ruth Orte zu begleiten, an denen sich nur ein Saal im ORF-Funkhaus flammte, finden in Plaschg und Beckermann agiert unheim- Bachmann und Celan aufgehal- in der Argentinierstraße den Rupp eine Entsprechung, die lich nuanciert und präzise zwi- ten haben. Nichts verleiht den Rahmen setzt, packt einen di- weniger mit Interpretation und schen Close-ups der Gesichter Bildern dieses Films mehr Inten- ese Beziehung und lässt einen Bühne zu tun haben scheint, als der beiden und den rhythmisch sität und Farbe als das unmittel- nicht los. Bachmann und Celan, mit dem Gefühl, das sie selbst gesetzten Brüchen der Insze- bare Spiel, das man hier in die- ein unmögliches Paar, das über hier füreinander einbringen. nierung, wenn sie ihren beiden sem holzvertäfelten Studiosaal weite Distanzen zwischen Wien, Da findet sich alles, Wut, Liebe, ProtagonistInnen in den Pau- erleben kann. Ab 16. Dezember Berlin, Rom und selbst nach der Trauer, Poesie, nur keine Hom- sen zur Hintertreppe folgt, wo in den Kinos zu sehen. red

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selbst musste als Achtjährige sammelt. Sehr lebendig verfasst, nert sich an ihre Volksschul- das Land verlassen – im schma- entsteht gleichermaßen ein Bild zeit. An den Tag der Republik, len Band „Über/Leben im klammer Momente und einer der in Jugoslawien am 29. No- Krieg“ zusammengetragen. An- traurigen Rückschau. So wie vember gefeiert wurde, als die hand dieser Erzählungen wird jene von Hurka, die heute 50 SchülerInnen einen Eid aufzu- exemplarisch deutlich, was Ver- Jahre alt ist, und 1992 aus Mo- sagen hatten, der sie zu „Pionie- treibung heißt. Den persönlich tovo, einem Bergdorf 40 Kilo- rInnen“ machte. In weißer Blu- gestalteten Kapiteln vorange- meter von Tuzla entfernt, ge- se, dunkelblauem Rock auf der stellt ist ein Intro von Esmir flüchtet war. Damals war sie 24 Bühne wurde ihnen eine blaue Ćatić, das den politischen Rah- Jahre alt, eine junge Mutter, die Mütze mit rotem Stern (Titov- men für diese Erzählungen ab- mit ihren Kindern, mit anderen ka) überreicht. Dazu ein rotes stecken soll. Die Bilanz des Bos- Frauen eilig auf die Anhänger Halstuch, ein Abzeichen und nienkrieges sind 100.000 Tote, von Traktoren steigt, um al- ein kleines Buch. Doch dann, davon 68.000 BosnierInnen les hinter sich zu lassen. Das im Jahr 1992, war alles anders. muslimischen Glaubens. Die neubezogene, weiß gestrichene Jugoslawien war in Auflösung Flucht aus Bosnien Gräben zwischen Belgrad und Haus, die Kühe, den Schwieger- begriffen. red Sarajewo lassen sich aus diesem vater, ihr gesamtes bisheriges Bald 25 Jahre ist es her, dass Introtext herauslesen. Als wich- Leben. Sie konnte sich und ihre Adisa Begic´ der Krieg in Bosnien und Her- tiges Kapitel von oral history Kinder retten. Erinnerungen an Über/Leben im Krieg zegowina ausgebrochen ist. Ei- stellen sich die Erinnerungen ein scheinbar intaktes Land hat Al Hamra Buchhandel & nige Erinnerungen jener Men- vertriebener Menschen, vor- Lejla, heute 34 Jahre, geflüchtet Verlag, 2016 schen, die damals vertrieben wiegend von Frauen und Mäd- im Herbst 1992, aus Konjic. Die 80 Seiten, 9,90 Euro wurden, hat Adisa Begić – sie chen, dar, die im Folgenden ver- Klassenbeste von damals erin-

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sind Begriffe, die eher als Auf- der um Objektivierung bemüht die Reporterin auf den Straßen hänger zu verstehen sind, ver- ist, und der Mehrheit der deut- Deutschlands findet, doch die kaufsträchtig formuliert in einer schen Muslime demokratische oftmals plakativen Schlussfolge- Debatte, in die auch dieses Buch Gesinnung zuspricht, lauert die rungen machen diese Beobach- keine Ordnung und keinen Warnung vor Radikalisierung tungen nicht produktiv. Glei- roten Faden zu bringen vermag. hinter jedem nächsten Satz. chungen wie „Terror will Angst Aber das ist wohl auch nicht Dschihadismus ernst zu neh- erzeugen“ oder das Zitat eines der Anspruch der deutsch-jesi- men ist das wichtigste und ver- nicht ausgewiesenen Friedens- dischen Journalistin Düzen Tek- ständliche Anliegen von Tek- richters, in den deutschen Ge- kal, die etwa durch ihre Fern- kal und so etwas wie der Motor richten gehe es zu wie auf dem sehreportage „Háwar“ aus dem ihres Buches. Ideen gegen das Ponyhof, fühlen sich angesichts Irak bekannt wurde. „Deutsch- Erstarken radikaler Kräfte fin- des dringlich gehaltenen Buch- land ist bedroht“ liest sich we- den sich kaum, wenn, dann als titels ein wenig verloren an. red niger martialisch, als der Titel Mangelbeschreibung, etwa: „Die es verspricht. Tekkal fügt eine Treue zur demokratischen, repu- Düzen Tekkal Deutschland ist Kollektion aus Gedanken und blikanischen Ordnung wird in Deutschland ist bedroht: Warum bedroht Beobachtungen kolportagehaft Deutschland kaum thematisiert wir unsere Werte jetzt verteidigen zusammen, die auf in Deutsch- oder gar abgefragt.“ Statt dessen müssen Da sind sie wieder, die Wer- land lebende Muslime abzielen, würden die Deutschen die Fran- berlin Verlag, 2016 te. Dazu auch gleich die Bedro- und dabei ohne besondere zosen für ihren Nationalstolz be- 224 Seiten, 17 Euro hung. Der Untertitel des Buches Trennschärfe in Problemzusam- lächeln. Die stärkeren Momente heißt: „Warum wir unsere Wer- menhängen verhandelt werden. des Buches lassen sich eher in je- te jetzt verteidigen müssen“. Das Auch wenn Tekkal immer wie- nen Wahrheiten ausmachen, die

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erläutert. Die Vereinten Natio- Leiter des Projektes „CHILD OF boten, damit sie ihre Rechte um- nen einigten sich 1989 auf eine PLAY“ in Kooperation mit Kin- setzen können. Miteinander re- Festschreibung von Kinder- dern, Jugendlichen und interna- den steht im Vordergrund und rechten in Form der Kinder- tionalen KünstlerInnen auch ein zieht sich als Empfehlung wie rechtskonvention (KRK). Entste- „Dorf der Kinderrechte“ in der ein roter Faden durch das ge- hung der KRK und 10 wichtige Tiroler Stadt Hall aufgebaut. Ei- samte Buch. In der täglichen Kinderrechte werden in dieser nige Eindrücke aus dem Projekt Arbeit als Lehrerin bietet das Publikation kindgerecht bear- sind grundlegendes Anschau- Buch einige Möglichkeit es im beitet. Zu jedem Kinderrecht ungsmaterial dieses Buches. In Unterricht schwerpunktmäßig gibt es eine Beschreibung, mit Kooperation mit der Autorin mit Kinder vom 9. bis zum 14. anschließenden kinderzen- Anne-Katrin Schade und dem Lebensjahr einzusetzen. Darum trierten Fragen welche die Be- Kinderrechtsexperten Helmut liebe PädagogenInnen teilt eu- deutung des jeweiligen Rechtes Sax ist eine informative Kinder- ren Schützlingen mit: „Kinder, greifbarer machen. Die Mitar- literatur entstanden. das sind eure Rechte“. beit einiger Kinder an diesem Aus pädagogischer Sicht ist Angela Gföhler Kinderrechte jetzt Werk bietet anderen Jungen und schnell festgestellt, dass dieses Mädchen einen Reiz es zu lesen. Buch für die Kinderhand ge- Anne-Katrin Schade, Lukas „Darf ich genauso viel mitre- Dem Anspruch, Kinderreche auf dacht ist. Aufbau, Struktur und Maximilian Hüller den wie Erwachsene? Darf ich verständliche, altersgerechte und Sprache werden den Anfor- Kinder, das sind eure Rechte selbst bestimmen, wann ich ins anschauliche Weise zu präsentie- derungen für Kinder gerecht. Gabriel Verlag, 2016 Bett gehe? Habe ich das Recht ren, wird auch mit Hilfe der Bil- Wichtige Inhalte und komplexe 104 Seiten, 15,50 Euro auf Taschengeld?“ Diese und der des Künstlers Lukas Hüller Begriff werden den jungen Lese- weitere Fragen werden im Buch entsprochen. Lukas Hüller hat rInnen verständlich beschrieben. „Kinder, das sind eure Rechte“ als Initiator und künstlerischer Kindern werden viele Tipps ge-

BUCH

hängen bleibt. Tito ist der Sohn der Geschichte nach Menschen sich der Vater von seinem be- des brasilianischen Autors Di- mit Zerebralparese um und be- sonderen Sohn fühlt und wie ogo Mainardi. Aufgrund eines schreibt die grausame „T4-Ak- sich sein Horizont weitet. eba medizinischen Behandlungs- tion“ der Nazis, bei der Men- fehlers bei der Geburt, wodurch schen wie Tito vergast wurden. Sauerstoffmangel entstand, hat Und er protokolliert jeden klei- Diogo Mainardi Tito Zerebralparese, eine spa- nen Schritt, jede Verbesserung. Der Fall. Erinnerungen eines stische Hirnlähmung. Er kann Es vertieft sich die Vater-Sohn- Vaters in 424 Schritten. sich zuerst nur mit Gesten, Bil- Beziehung. Auch wenn man Zsolnay Verlag, 2016 dern und Symbolen verstän- berücksichtigt, dass es sich hier 176 Seiten, 18,40 Euro digen. Erst allmählich lernt er um eine wohlhabende Fami- gehen: Meistens fällt er, richtet lie handelt, die dem Kind alle sich wieder auf und versucht möglichen Förderungen zu- einen Schritt und fällt wieder. kommen lassen kann und es Mainardi beschreibt die er- dadurch auch bedeutend leich- Ein besonderer Fall sten zehn Jahre seines Sohnes ter hat als Familien ohne diesen in 424 kurzen Textabschnit- finanziellen Hintergrund, ist „Ich bin Titos Vater. Es gibt ten, garniert mit Fotos seines das Buch auf kunstvolle, eige- mich nur, weil es Tito gibt“, Sohnes oder historischen Bezü- ne Weise ein Plädoyer für eine schreibt der Autor an einer Stel- gen auf diesem langen Weg. Er andere Sicht auf Behinderung. le im Buch „Der Fall“. Es sind beschreibt den Gerichtsprozess Durch das ganze Buch hin- Sätze wie diese, an denen man gegen das Spital, er sieht sich in durch ist spürbar wie bereichert

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SOS MITMENSCH

TEXT: ALEXANDER POLLAK

WIEDERBETÄTIGUNG Gaskammernverleugnung ist keine Bagatelle

SOS Mitmensch hat Kritik daran geübt, Aus Sicht von SOS Mitmensch wird damit dass Justizminister Wolfgang Brandstetter ein bedenklicher Präzedenzfall in Sachen die Einstellung eines Verfahrens gegen ei- Straffreiheit von Gaskammernverleugnung nen Anwalt aus Wels verordnet hat, der im geschaffen. Die Verleugnung von Gaskam- Zuge eines Plädoyers die Existenz von Gas- mern im größten Konzentrations- und kammern in Mauthausen infrage gestellt Vernichtungslager auf österreichischem hatte. Brandstetter war einer Empfehlung Boden darf nicht zur Bagatelle erklärt wer- des Weisungsrates im Justizministerium ge- den, auch nicht im Zuge der Ausübung des folgt – einem Beratungsgremium, das vom rechtsanwaltlichen Berufes. Die Justiz muss Nicht nur in Auschwitz wurden Menschen durch Justizminister beigezogen werden kann. weiterhin klare Maßstäbe setzen. Gas ermordet, auch in Mauthausen.

SOZIALES Mit Armut spielt man nicht

Eine menschenwürdige Mindestsicherung derzeit einem Frontalangriff ausgesetzt. hilft allen in Österreich. Sie ist die Grund- Als Teil der von der Armutskonferenz ge- lage dafür, dass die Menschen in Österreich starteten Initiative #abersicher setzt sich in einem sozialen und sicheren Land leben SOS Mitmensch für eine bessere Mindest- können. Sie schafft Perspektiven für Kinder sicherung und weniger Armut ein. Wir ver- und Jugendliche, deren Eltern kein oder nur urteilen scharf jene Teile der Politik, die auf ein sehr niedriges Einkommen haben. Sie dem Rücken mittelloser Menschen Macht- schützt vor extremen Existenzängsten, Hoff- spiele betreiben und auf eine tiefe soziale nungslosigkeit, Verelendung und Krimina- Spaltung setzen. Die Budgetberechnungen lität. Investitionen in die soziale Stabilität der zivilgesellschaftlichen Allianz „Wege aus haben Österreich in den vergangenen Jahr- der Krise“ zeigen: Es sind genügend Mittel zehnten geprägt und stark gemacht. Mittel- vorhanden, um die Beibehaltung oder sogar lose Menschen zu unterstützen bedeutet am den Ausbau einer menschenwürdigen Min- Ende des Tages alle in unserer Gesellschaft destsicherung zu finanzieren. Gefragt ist der „Das soziale Schutznetz nicht zu schützen. Doch dieser soziale Konsens ist politische Wille zu solidarischem Handeln. zerreißen“

Gegen Live- Gegen einen Dublin- Einkommens- konstruierten Abschiebungen Zähler Notstand

Das Dublin-System sorgt weiter- SOS Mitmensch hat einen Live- Mehr als 4.400 Privatpersonen hin dafür, dass Geflüchtete auch Einkommens-Zähler online ge- haben sich der Stellungnahme nach ihrer Ankunft in Österreich stellt. Er zeigt, wie hoch die von SOS Mitmensch gegen die in täglicher Unsicherheit leben Regierungsmitglieder, was ihr Ein- Notverordnung angeschlossen. müssen. Familien, die sich be- kommen betrifft, über jenen Men- Darunter Nobelpreisträgerin El- reits hier eingelebt haben, wer- schen schweben, die Mindestsi- friede Jelinek, Olympia-Bronze- den wieder aus ihrer Umgebung cherung erhalten. Und er zeigt, medaillengewinner Thomas Za- herausgerissen. In zahlreichen was für ein existenzbedrohender jac und Holocaust-Überlebende Gemeinden protestieren Bürge- Einschnitt bei Mindestsicherungs- Dora Schimanko. Sie alle protes- rInnen gegen die Abschiebung bezieherInnen vollzogen wird: tieren gegen einen konstruierten Olympia-Bronzemedaillengewinner Thomas

Fotos: Alexander Pollak, Armutskonferenz, SOS Mitmensch Armutskonferenz, Pollak, Alexander Fotos: ihrer neuen NachbarInnen. www.sosmitmensch.at Notstand. Zajac gegen einen konstruierten Notstand

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ANDERE ÜBER …

KOMMENTAR How low can you go? Der Integrationsminister fordert 1-Euro-Jobs für Asylberechtigte. Wo bleiben die Maßnahmen für Bildung und Arbeitsmarktintegration?

Kommentar von Andrea Eraslan-Weninger und Willi Resetarits

Die bereits durchgeführten und geplanten Kürzun- se maximal 2,50-Euro-Jobs für Menschen in der gen der Mindestsicherung für Flüchtlinge in Ober- Grundversorgung fordert, mit der Behauptung, und Niederösterreich müssen unbedingt recht- dass 5 Euro für gemeinnützige Tätigkeiten ein An- lich bekämpft und zurückgenommen werden, da reiz für Wirtschaftsflüchtlinge sei. Dies ist an Ge- sie rechtswidrig und zutiefst unmenschlich sind schmacklosigkeit kaum noch zu überbieten. und die Schaffung von Armut als Programm ha- An dieser Diskussion wird deutlich, wie wichtig Andrea Eraslan-Weninger ist ben. Am Beispiel der aktuellen Mindestsicherungs- es ist, sich für die Erhaltung und Verbesserung Geschäftsführerin des Integra- debatte und der Forderung nach 1-Euro-Jobs von des Sozialstaates einzusetzen. Dafür braucht es tionshauses. Sebastian Kurz wird klar ersichtlich, dass unser So- eine breite Solidarität, eine verantwortungsvolle zialstaat in Gefahr ist. Die angedachten Kürzungen Politik und laute Stimmen aus der Zivilbevölke- Willi Resetarits, auch bekannt und Sanktionen bei der Mindestsicherung, sowie rung. Soziale Rechte sollen ausgebaut und nicht als Dr. Kurt Ostbahn, ist Grün- die unappetitliche Diskussion über 1-Euro-Jobs geschmälert werden. Es ist eine Tatsache, dass sich der und Ehrenvorsitzender des und 2,50-Euro-Jobs sind ein Angriff auf die sozi- der Arbeitsmarkt zunehmend prekarisiert und im- Integrationshauses in Wien Le- alen Leistungen in Österreich und auf die Arbeit- mer mehr Menschen trotz Arbeit auf die Mindest- opoldstadt. nehmerInnenrechte. sicherung angewiesen sind. Hier braucht es Maß- Kurz forderte bereits im August 2016 verpflichten- nahmen wie Arbeitszeitverkürzung, bessere Löhne Das Integrationshaus besteht de 1-Euro-Jobs für Asylberechtigte, u.a. mit der Be- und eine Verbesserung bei den Arbeitsmark-Integ- seit 1995. Am Tag vor dem gründung, wer den ganzen Tag zu Hause und im rationsprogrammen und den sozialen Leistungen Lichtermeer 1993 hatten sich Park herumsitzt, der hätte auch Tagesfreizeit, um und eine gute Kooperation mit der Wirtschaft. Resetarits und Sepp Stranig auf blöde Gedanken zu kommen. Was er nicht Eine Politik, die für Partizipation und Chancen- mit dem damaligen Vizebür- dazu sagte, dass er als Integrationsminister kei- gerechtigkeit steht, verlangt nach einer transkul- germeister und Finanzstadtrat ne bzw. viel zu wenige Möglichkeiten für Bildung, turellen Öffnung der Institutionen und nach inno- Hans Mayr getroffen, um ihm Ausbildung und Arbeitsmarktintegration geschaf- vativen Programmen, die einen gleichberechtigten das „Projekt Integrationshaus“ fen hat. Er macht, so eine beliebte politische Tak- Zugang zu Bildung, zum Arbeits- und Wohnungs- vorzuschlagen. Dieser sprach tik, Flüchtlinge zu Sündenböcken, obwohl er selbst markt und zu sozialen Rechten ermöglichen. Eine die legendären Worte: „Des für die fehlenden Möglichkeiten als Integrations- Politik, die Sanktionen beim Nichtbesuch von moch ma!“ Seit über 20 Jahren minister die politische Verantwortung trägt. Kurz Sprach- und Wertekursen vorsieht, real aber viel bietet es für Flüchtlinge und hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Darüber- zu wenige Mittel für Spracherwerbsmaßnahmen MigrantInnen Beratung, Ver- hinaus würde diese Maßnahme alle BezieherInnen anbietet, diffamiert Flüchtlinge und ist als schika- sorgung, Bildungs- und Ausbil- von Mindestsicherung gefährden. nös zu beurteilen. Wir brauchen aber keine Het- dungsprojekte und andere Ser- Wir im Integrationshaus fordern seit 20 Jahren Be- zer und Brandstifter, wir brauchen eine Politik, die vices an. treuung, Beratung und Bildung für Asylsuchende sich für eine gute Zukunft für alle einsetzt! Wir vom ersten Tag an und einen Arbeitsmarktzugang brauchen Mut für neue Wege und Visionen und nach längstens 6 Monaten. Dass Asylsuchende de Verteilungsgerechtigkeit. Es braucht eine Verän- facto nicht arbeiten dürfen, liegt auch ganz beson- derung und Weiterentwicklung der Institutionen ders am Widerstand von Teilen der ÖVP, insbe- und der gesamten Gesellschaft um adäquat und sondere aber an Innenminister Sobotka, der auf zukunftsorientiert ein gutes Zusammenleben für eine ebenso menschenverachtende Art und Wei- alle zu gestalten.

46 „Menschenrechte gehen uns alle an. Mir ist die unabhängige Aufbereitung von Menschenrechtsthemen im MO-Magazin von SOS Mitmensch 86 Euro im Jahr wert. Ihnen auch?“ Cornelius Obonya



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