Österreichisches Religionspädagogisches FORUM

23. Jahrgang 2015

schnider verlag

Religionspädagogische Kooperationen angesichts religiöser Vielfalt

s schnider verlag ISSN 0000-0000

Inhalt

Editorial

Wolfgang Weirer: Religionspädagogische Kooperationen angesichts religiöser Vielfalt 7

Thementeil: Religionspädagogische Kooperationen angesichts religiöser Vielfalt

Karin Peter: Wenn Fremde sich begegnen ... Bedeutung von bleibend Fremdem und Unzugänglichem in interreligiösen Lernkonzepten 11

Zekirija Sejdini: Grundlagen eines theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells islamischer Religionspädagogik und Religionsdidaktik im deutschsprachigen Kontext 21

Martina Kraml / Zekirija Sejdini: Religiöse Unterschiedlichkeit als Potenzial. Innsbrucker Interreligiöse Religionspädagogik und Religionsdidaktik 29

Helga Kohler-Spiegel: Religiöses Lernen angesichts gegenwärtiger Vielfalt. Religionspädagogische Überlegungen 39

Sonja Danner: KoKoRu: konfessionell-kooperativer Religionsunterricht – ‚das Wiener Modell’ 47

Thomas Schlager-Weidinger / Renate Hofer: Z.I.M.T. – Würze in der LehrerInnenbildung. Grundsätzliche Überlegungen zum neu gegründeten Zentrum für Interreligiöses Lernen, Migrationspädagogik und Mehrsprachigkeit an der PH der Diözese Linz 55

Edda Strutzenberger-Reiter / Ingrid Kromer / Doris Lindner: Vielfalt an Schulen. Umgang mit religiöser Diversität im pädagogischen Alltag 63

Ednan Aslan / Thomas Weiß: (unter Mitarbeit von Ranja Ebrahim, Nadire Mustafi, Minela Salkic Joldo, Ahmed al Shafey) Miteinander lernen – Voneinander wissen. Dokumentation zum Doktorandenkolleg Islamische Theologie als Wissenschaft in Europa 73

ÖRF 23 • 2015 Weitere wissenschaftliche Beiträge

Silvia Habringer-Hagleitner / Philipp Klutz: Wandelt sich die Vorstellung von einem guten Religionslehrer? Das Linzer Forum Religionspädagogik im Diskurs mit Thesen Rudolf Englerts 87

Annegret Reese-Schnitker: Biografie als grundlegende Kategorie religionspädagogischer Forschung. Ein Forschungs- und Literaturbericht 93

Martin Rothgangel: ReligionslehrerInnen im Horizont jüngerer empirischer Studien 101

Christian Feichtinger / Mario Schönhart: Naturalismus als Herausforderung für den Religionsunterricht 111

Ingrid Kromer / Michaela Hajszan: Jungschar als zentraler Ort non-formaler Bildung in katholischen Pfarren Österreichs. Ausgewählte Ergebnisse einer umfassenden empirischen Studie 121

Thomas Benesch: Erzählhäufigkeiten von biblischen Geschichten in der Familie und Allgemeine Religiosität 131

Berufsfeldspezifische Forschung

Ursula Fatima Kowanda-Yassin / Alfred Garcia Sobreira-Majer: Interreligiöse Beratung und Extremismus-Prävention. Erfahrungen aus der Praxis des Beratungszentrums für interreligiöse und interkulturelle Fragen der KPH Wien/Krems und der IRPA 139

Matthias Scharer: Der österreichische Religionspädagoge im Übergang. Nachruf auf em. o. Univ.-Prof. Dr. phil. Edgar Josef Korherr 149

Praxisberichte

Ednan Aslan / Martin Rothgangel: Facetten der Kooperation von christlicher und muslimischer Theologie an der Universität Wien 153

Matthias Scharer: Zur Eröffnung der Islamischen Religionspädagogik an der Universität Innsbruck. Festakt am 6. Oktober 2014 157

Vorstellungen wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten / Rezensionen

Maria Jedliczka: Die Kunst des Theologisierens und Philosophierens mit Jugendlichen und der kompetenzorientierte Religionsunterricht – Widerspruch oder Ergänzung? Diplomarbeit am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien 161

4 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Viktoria Winkler: Trauer und perimortale Trauerbegleitung. Diplomarbeit am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien 165

Ranja Ebrahim: Rezension zu: Ednan Aslan / Marcia Hermansen (Hg.): and Citizenship Education, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2015 (= Wiener Beiträge zur Islamforschung 5). 167

Silvia Arzt: Rezension zu: Carla Amina Baghajati: Muslimin sein. 25 Fragen – 25 Orientierungen, Innsbruck / Wien: Tyrolia Verlag 2015. 169

Christian Feichtinger: Rezension zu: Susanne Heine / Rüdiger Lohlker / Richard Potz: Muslime in Österreich. Geschichte, Lebenswelt, Religion. Grundlagen für den Dialog, Innsbruck / Wien: Tyrolia 2012. 171

Wolfgang Weirer: Rezension zu: Andrea Lehner-Hartmann: Religiöses Lernen. Subjektive Theorien von ReligionslehrerInnen, Stuttgart: Kohlhammer 2014 (= Praktische Theologie heute 133). 173

Dominik Helbling: Rezension zu: Philipp Klutz: Religionsunterricht vor den Herausforderungen religiöser Pluralität. Eine qualitativ-empirische Studie in Wien, Münster / New York: Waxmann 2015 (= Religious Diversity and Education in Europe 28). 177

Hans Mendl: Rezension zu: Claudia Gärtner: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015 (= Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 19). 179

Christian Feichtinger: Rezension zu: Burkard Porzelt / Alexander Schimmel (Hg.): Strukturbegriffe der Religionspädagogik, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2015. 181

Renate Wieser: Rezension zu: Ulrich Kropač / Uto Meier / Klaus König (Hg.): Zwischen Religion und Religiosität. Ungebundene Religionskulturen in Religionsunterricht und kirchlicher Jugendarbeit – Erkundungen und Praxis, Würzburg: Echter 2015. 183

Monika Prettenthaler: Rezension zu: Angela Kaupp / Gabriele Bussmann / Brigitte Lob / Beate Thalheimer (Hg.): Handbuch Schulpastoral. Für Studium und Praxis (Grundlagen Theologie), Freiburg im Breisgau: Herder 2015. 187

Martina Kraml: Rezension zu: Forschungsgruppe „Religion und Gesellschaft“: Werte – Religion – Glaubenskommunikation. Eine Evaluationsstudie zur Erstkommunionkatechese, Wiesbaden: Springer 2015. 189

Philipp Klutz: Rezension zu: Ingrid Kromer / Michaela Hajszan: Jungschar-Studie 2014. Kinderpastoral in Österreichs Pfarren. Empirische Befunde und Analysen, Wien: Katholische Jungschar 2015. 193

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Wolfgang Weirer

Religionspädagogische Kooperationen angesichts religiöser Vielfalt Editorial

nsere Lebenswelt wird zunehmend von kultureller, ren und außeruniversitären Bildungseinrichtungen, speziell religiöser und ethnischer Vielfalt geprägt. Die Her- den katholischen und evangelischen, erweitert werden. U ausforderungen, die sich daraus für das gesell- In diesem spezifisch österreichischen Kontext entstan- schaftliche Zusammenleben im Allgemeinen und für schuli- dene Formen der Kooperation und die gewonnenen sche Bildungsprozesse im Besonderen ergeben, sind in ihrer Erkenntnisse und Erfahrungen werden in dieser Ausgabe vollen Tragweite gegenwärtig noch unabsehbar. Ob und wie des Österreichischen Religionspädagogischen Forums doku- erkennbare Aufgaben wahrgenommen, reflektiert und mentiert und reflektiert. Dies betrifft sowohl die Zusam- gestaltet werden, wird die Qualität zukünftigen Zusammen- menarbeit auf der Ebene der Aus- und Fortbildung von lebens maßgeblich beeinflussen. ReligionslehrerInnen als auch konkrete Kooperationspro- Der sich ständig weiter entwickelnden Vielfalt im religi- jekte im schulischen Kontext. ösen Bereich gebührt naturgemäß auch das Interesse wis- Ganz grundsätzlich mit den Herausforderungen, Chan- senschaftlicher Religionspädagogik. Religionspädagogik in cen und Grenzen der Begegnung mit Fremdem in interreli- konfessions- und religionsübergreifender Kooperation ist giösen Lernprozessen beschäftigt sich der Beitrag von Karin seit vielen Jahren ‚state of the art‘ in der österreichischen Peter, katholische Religionspädagogin an der Universität wissenschaftlichen Landschaft. Das „Österreichische Religi- Wien, mit dem Titel „Wenn Fremde sich begegnen“. Sie ana- onspädagogische Forum“ ist seit Beginn ein Zusammen- lysiert aktuelle interreligiöse Lernkonzepte und plädiert schluss von Religionspädagoginnen und Religionspädago- dafür, Rivalitäten und Konflikte nicht frühzeitig zu harmo- gen aller Konfessionen und Religionen, die eine akademi- nisieren, sondern auch Nicht-Bewältigbarem seinen Raum sche Ausbildung anbieten. in Lernprozessen bereitzustellen. Der Leiter der islamischen Dazu kommt, dass Österreich, bedingt durch seine Religionspädagogik an der Universität Innsbruck, Zekirija Geschichte – Annexion von Bosnien und Herzegowina im Sejdini, reflektiert in seinem Beitrag „Grundlagen eines Jahre 1908 und die Anerkennung des durch das theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells isla- Islamgesetz von 1912 – einen in Europa einmaligen Zugang mischer Religionspädagogik und Religionsdidaktik im zum Islam hat, der einen wichtigen Bestandteil der interreli- deutschsprachigen Kontext“ Entwicklungsprozesse islami- giösen Landschaft in Österreich und in Europa darstellt. scher Religionspädagogik im europäischen Kontext. Das Im Bewusstsein der Notwendigkeit interreligiöser und ‚Innsbrucker Modell der Religionspädagogik‘ – eine Koope- interkonfessioneller Zusammenarbeit haben sich, speziell ration von katholischer und islamischer Religionspädagogik nach der Einführung des islamischen Religionsunterrichtes – stellt einen exemplarischen Referenzrahmen für seine im Schuljahr 1982/83, Kooperationen im Bereich des kon- Reflexionen dar. Gemeinsam mit der katholischen Religi- fessionellen Religionsunterrichtes entwickelt. Diese zunächst onspädagogin Martina Kraml reflektiert Sejdini in einem auf den Religionsunterricht beschränkte Zusammenarbeit weiteren Beitrag mit dem Titel „Religiöse Unterschiedlich- ebnete den Weg für eine Ausweitung der Kooperationen hin keit als Potenzial“ das konkrete Projekt ‚Interreligiöse Religi- auf den gesamten Bereich der Religionspädagogik. onspädagogik und Religionsdidaktik‘ als Prozess interreligi- Durch die Etablierung einer privaten (IRPA 1998) und öser Lehrentwicklung. Muslimische und katholische Lehr- zweier staatlicher (Universität Wien 2006 und Universität amtsstudierende lernen an der Universität und ausgewähl- Innsbruck 2013) islamischer Bildungseinrichtungen zur ten Praxisorten unter Begleitung von Lehrenden aus beiden Ausbildung von islamischen Religionslehrerinnen und Reli- Religionen, welche Chancen, aber auch welche Grenzen gionslehrern sowie für die religionspädagogische Forschung Kooperationen zwischen Religionen in der Schule erfahren. konnten die Kooperationen mit den bestehenden universitä- Die katholische Religionspädagogin Helga Kohler-Spiegel

Wolfgang Weirer: Religionspädagogische Kooperationen angesichts religiöser Vielfalt • ÖRF 23 (2015), 7–10 7 stellt am Beispiel einer Vorarlberger Studie zu Werthaltun- islamischer und evangelischer Religionspädagogik vor. Die gen junger Menschen in ihrem Beitrag „Religiöses Lernen gegenwärtig bereits in Arbeit befindlichen Dissertationspro- angesichts gegenwärtiger Vielfalt“ dar, welche Bedeutung jekte werden von den jeweiligen AutorInnen selbst kurz religiöses Lernen im Kontext Schule für den Umgang mit beschrieben und zeigen die Breite und Tiefe der aktuellen Heterogenität haben kann. Reflexionen um eine europäisch ausgerichtete islamische Schulische Zusammenarbeit verschiedener christlicher Theologie sowie mannigfache Anknüpfungspunkte für Konfessionen strebt schon seit 2002 das Wiener Modell andere Disziplinen: Ranja Ebrahim befasst sich mit dem „KoKoRU: konfessionell-kooperativer Religionsunterricht“ Thema „SchülerInnen im Diskurs mit dem Qurˈān: Chan- an. Die evangelische Religionspädagogin Sonja Danner ist cen und Grenzen für einen zukunftsorientierten islamischen Mitglied der Steuerungsgruppe KoKoRu. Sie beschreibt in Religionsunterricht – Ein Handlungskonzept zum themen- ihrem Beitrag die Genese des Projektes, Chancen und Stol- zentrierten Arbeiten anhand der Offenbarungsanlässe persteine sowie begleitende Maßnahmen in der Ausbildung (asbāb an-nuzūl)“; Nadire Mustafi schreibt eine Arbeit mit an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule Wien/Krems dem Titel „Der Islamische Staat – Entwicklung einer kontro- und in der Schulpraxis. versen Idee“; Minela Salkic Joldos Dissertationsprojekt Z.I.M.T. – Zentrum für Interreligiöses Lernen, Migrati- heißt „Gotteskonzepte. Eine Studie zur theoretischen Model- onspädagogik und Mehrsprachigkeit – nennt sich eine lierung und empirischen Erfassung von Gotteskonzepten bei eigene Einrichtung an der Privaten Pädagogischen Hoch- muslimischen OberstufenschülerInnen im Raum Wien“ und schule der Diözese Linz. Dieses Zentrum hat zum Ziel, Ahmed al Shafey forscht zum Thema „Die koranischen adäquate Kompetenzen von (künftigen) Lehrpersonen in Erzählungen. Eine Quelle für einen zeitgemäßen islami- der Begegnung mit (religiöser) Vielfalt zu entwickeln. Tho- schen Religionsunterricht? Dargestellt am Beispiel von mas Schlager-Weidinger und Renate Hofer, beide Leh- Muḥammed Aḥmed Ḫalafallāh“. rende an der PPH Linz, beschreiben unter dem Titel Neben den Beiträgen, die sich eng um die Heftthematik „Z.I.M.T. – Würze in der LehrerInnenbildung“ die Genese ranken, finden sich auch in dieser Ausgabe des ÖRFs eine und die Aufgabenstellungen des Zentrums. Angestrebt sind ganze Reihe von Artikeln, die sich weiteren religionspädago- die Sensibilisierung von PädagogInnen im Hinblick auf gischen Themenfeldern widmen. So beleuchten Silvia Hab- Diversität und Chancengerechtigkeit. ringer-Hagleitner, Religionspädagogin an der PPH Linz Wie gehen Schulen im pädagogischen und schulorgani- und Philipp Klutz, Religionspädagoge an der Katholischen satorischen Alltag mit der Tatsache religiöser Diversität um? Privatuniversität Linz, auf der Grundlage von Thesen Rudolf Wird diese vorwiegend als ein Problemfall wahrgenommen Englerts das gegenwärtige und zukünftige Profil von Religi- oder auch als zu gestaltendes Lernfeld? Ein interdisziplinä- onslehrerInnen zwischen den Chiffren eines ‚Glaubenszeu- res und institutionenübergreifendes Forschungsprojekt von gen‘ und eines ‚Experten für Religion‘. Die zentrale Frage- Kirchlich Pädagogischer Hochschule Wien/Krems, der stellung, die ihrem Beitrag auch den Titel gibt, lautet: „Wan- Katholisch-Theologischen und der Evangelisch-Theologi- delt sich die Vorstellung von einem guten Religionslehrer?“ schen Fakultät an der Universität Wien sowie der IRPA (Stu- Annegret Reese-Schnitker, katholische Religionspädagogin diengang für das Lehramt für Islamische Religion an Pflicht- an der Universität Kassel, gibt in einem Forschungs- und schulen in Wien) widmet sich diesen Fragestellungen auf Literaturbericht einen Überblick über religionspädagogische theoretischer Ebene, will aber auch Methoden und Modelle Forschungsarbeiten zum biografischen Lernen und For- für einen diversitätssensiblen Umgang mit religiöser Vielfalt schen sowie zur Rolle von Biografie in der religionspädago- entwickeln. Drei Lehrende der KPH Wien/Krems, Edda gischen Arbeit insgesamt. Sie bezeichnet „Biografie“ als Strutzenberger-Reiter, Ingrid Kromer und Doris Lindner, „grundlegende Kategorie religionspädagogischer For- stellen dieses Forschungsprojekt im Beitrag „Vielfalt an schung“. Ein weiterer Forschungsbericht, verfasst von dem Schulen. Umgang mit religiöser Diversität im pädagogi- evangelischen Religionspädagogen an der Universität Wien, schen Alltag“ vor und stellen es in einen größeren wissen- Martin Rothgangel, beschäftigt sich mit empirischen Stu- schaftlichen Kontext. Der umfangreiche Thementeil dieser dien der jüngeren Zeit, die die Rolle und Situation von Reli- Ausgabe des ÖRFs wird abgeschlossen von einem Bericht gionslehrerInnen analysieren. Sein Beitrag trägt dement- über ein DoktorandInnenkolleg „Islamische Theologie“ an sprechend den Titel „ReligionslehrerInnen im Horizont jün- der Universität Wien. Der islamische Religionspädagoge gerer empirischer Studien“. „Naturalismus als Herausforde- Ednan Aslan und der evangelische Religionspädagoge Tho- rung für den Religionsunterricht“ ist das Thema des Beitra- mas Weiß stellen dieses DoktorandInnenkolleg, dessen Ziel ges von Christian Feichtinger (Katholischer Religionspäda- die Förderung und Entwicklung islamischer Theologie im goge an der Universität ) und Mario Schönhart (Religi- Kontext Europas ist, als konkretes Kooperationsprojekt von onslehrer in der Steiermark sowie Dissertant in Philoso-

8 Österreichisches Religionspädagogisches Forum phie). Mit Bezug auf eine ‚Theologie für Kinder und Jugend- geplanten Schwerpunktthemen der einzelnen Ausgaben liche‘ suchen die beiden Autoren Wege, naturalistischen sowie alle weiteren Hinweise lassen sich der Homepage Aussagen von SchülerInnen im Religionsunterricht zu (http://unipub.uni-graz.at/oerf) entnehmen. begegnen und diese kritisch zu hinterfragen. Als weiteres Als weiterer Schritt zur internationalen Wahrnehmbar- Arbeitsfeld der Religionspädagogik neben dem Religionsun- keit des ÖRFs werden ab sofort nicht nur die Abstracts zwei- terricht nehmen Ingrid Kromer (KPH Wien/Krems) und sprachig erscheinen, sondern auch die Titel der Beiträge die Psychologin Michaela Hajszan kirchliche pfarrliche Bil- sowie nach bibliothekarischen Standards festgelegte dung in den Blick. In ihrem Beitrag „Jungschar als zentraler ‚keywords‘, anhand derer die wissenschaftlichen Beiträge Ort non-formaler Bildung in katholischen Pfarren Öster- auch in einschlägige Datenbanken eingepflegt werden kön- reichs“ werden die Ergebnisse einer umfangreichen empiri- nen. schen Studie über die Situation der Jungschararbeit vorge- Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei den stellt. Thomas Benesch wiederum stellt die Verbindung neugewonnenen Förderern der Zeitschrift bedanken. Es zwischen verschiedenen religionspädagogischen Feldern sind dies die österreichischen Pädagogischen Hochschulen her, in dem er Volksschulkinder über ihre religiöse Erzie- in kirchlicher Trägerschaft. Die Kirchliche Pädagogische hung und dabei besonders die Rolle von biblischen Erzäh- Hochschule Wien/Krems sowie die Private Pädagogische lungen befragte. Seine empirische Studie trägt den Titel Hochschule der Diözese Linz haben bereits für das Jahr „Erzählhäufigkeiten von biblischen Geschichten in der 2015 jeweils Subventionen übernehmen können und auch Familie und Allgemeine Religiosität“. Zusagen für die kommenden Jahre abgegeben, die Kirchli- Im Bereich „berufsfeldspezifischer Forschung“ stellen che Pädagogische Hochschule Edith Stein (Innsbruck / Feld- Ursula Fatima Kowanda-Yassin und Alfred Garcia Sobrei- kirch / Salzburg) sowie die Kirchliche Pädagogische Hoch- ra-Majer ein weiteres Zentrum einer Pädagogischen Hoch- schule der Diözese Graz-Seckau haben uns Subventionen ab schule, das sich mit interreligiösen und interkulturellen Fra- 2016 zugesagt. Bedanken möchte ich mich darüber hinaus gen beschäftigt, vor. Das Beratungszentrum als Kooperati- für Förderungen seitens des Vizerektors für Forschung an onsprojekt von KPH Wien/Krems und IRPA stellt Lehren- der Universität Graz und für die Bereitstellung der Uni-Pub- den, Studierenden, Eltern und SchülerInnen ein Beratungs- Plattform durch die Universitätsbibliothek Graz. Ohne diese und Fortbildungsangebot zur Verfügung. Der emeritierte Förderungen wäre eine kontinuierliche Fortführung und Innsbrucker Religionspädagoge Matthias Scharer verfasste Weiterentwicklung der Zeitschrift im oben beschriebenen einen wissenschaftlichen Nachruf auf den heuer im Früh- Sinne nicht denkbar. jahr verstorbenen Grazer Katechetiker Edgar Josef Korherr. Danken möchte ich den Verantwortlichen für die Uni- Unter „Praxisberichte“ finden sich von Ednan Aslan Pub-Plattform, Christian Kaier und Karin Lackner, für die und Martin Rothgangel nachgezeichnete „Facetten der äußerst angenehme und unkomplizierte konstruktive Kooperation von christlicher und muslimischer Theologie Zusammenarbeit. Großer Dank gebührt auch dem Team der an der Universität Wien“ sowie ein anhand von ausgewähl- Fakultätsbibliothek Theologie an der Universität Graz ten Bausteinen aus seiner E-mailkorrespondenz zusammen- (Michaela Linhardt und Katharina Mitsche) für die kompe- gestellter Erfahrungsbericht von Matthias Scharer zur Ein- tente und effiziente bibliothekarische Betreuung. richtung der Islamischen Religionspädagogik in Innsbruck. Durch das Peer-Review-Verfahren und die steigende Den Abschluss dieser heurigen Ausgabe des „Österrei- Anzahl an zu begutachtenden Beiträgen ist mittlerweile der chischen Religionspädagogischen Forums“ bilden wie Stab an Peers aus der Schweiz, Deutschland und Österreich immer Vorstellungen ausgezeichneter Qualifikationsarbei- – aus der evangelischen, katholischen und islamischen Reli- ten aus dem Bereich der österreichischen Religionspädago- gionspädagogik – auf eine stattliche Anzahl angewachsen. gik sowie eine Reihe von Rezensionen aktueller religionspä- Ihnen allen vielen herzlichen Dank für die rasche und kom- dagogischer Neuerscheinungen. petente Zusammenarbeit und für die Bereitschaft, immer wieder unentgeltlich Gutachten für die Zeitschrift zu über- Neuerungen und Dank nehmen. Zugleich ist dem Editorialboard sowie dem ÖRF-Vorstand für die wertschätzende, ideenreiche und Das Editorialboard des „Österreichischen Religionspäd- unkomplizierte Zusammenarbeit zu danken. agogischen Forums“ hat in Absprache mit dem ÖRF-Vor- Zuletzt – dafür aber ganz besonders herzlich – bedanke stand beschlossen, die Erscheinungsweise der Zeitschrift ab ich mich bei Katrin Staab und Andreas Bogensberger, dem dem Kalenderjahr 2016 zu verändern. Die Zeitschrift wird Team am Institut für Katechetik und Religionspädagogik ab sofort halbjährlich erscheinen, und zwar jeweils in den Graz, das die Alltagslast der Arbeit an der Zeitschrift trägt. Monaten Juli und Dezember. Aktuelle Informationen zu den Korrespondenz mit AutorInnen und GutachterInnen, akri-

ÖRF 23 (2015) • 7–10 9 bische Korrektur und Layout gehören zu ihren Aufgabenbe- zit ein, der Schriftleitung und dem Editorialboard als Ver- reichen. Ohne euch würde es diese Zeitschrift in der Form antwortliche für diese Zeitschrift eine Rückmeldung auf die nicht geben. inhaltliche Gestaltung, aber auch auf andere Aspekte unse- Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre der Beiträge rer Zeitschrift, zukommen zu lassen. Wir freuen uns über dieser Ausgabe – dem 23. Jahrgang des Österreichischen jede Anregung! Religionspädagogischen Forums. Zugleich lade ich Sie expli-

Für die finanzielle Unterstützung bedanken wir uns bei:

10 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Karin Peter

Wenn Fremde sich begegnen ... Bedeutung von bleibend Fremdem und Unzugänglichem in interreligiösen Lernkonzepten die autorin Dr.in Karin Peter, Universitätsassistentin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theolo- gischen Fakultät der Universität Wien, Fachbereich Religionspädagogik und Katechetik.

Abstract Die Erfahrung von Fremdheit und Andersheit stellt ein Charakteristikum in der Begegnung mit (religiös) anderen Menschen dar. Sie macht zum einen die Fragmentarität des einzelnen deutlich und birgt zum anderen die Gefahr, dass Rivalitäten und Konflikte in Gruppen auf Kosten von Menschen gelöst werden, die von der Norm abweichen. Ausgehend von diesen grundlegenden Überlegungen werden verschiedene aktuelle interreligiöse Konzepte hinsichtlich dieser Dimension in den Blick genommen. Gerade angesichts kompetenzorientierter Ausrichtungen stellt sich die Frage, inwiefern das Achten von bleibenden Grenzen und Nicht-Bewältigbarem Berücksichtigung finden kann. Schlagworte: Interreligiosität, Fremdheit, Andersheit, Konflikt

When strangers encounter … The importance of remaining foreignness and inaccessibility in interreligious learning concepts The experience of foreignness is characteristic of an encounter with (religious) other persons. Thus the fragmentation of the individual becomes evident on the one hand and on the other it entails the risk of solving rivalry and conflicts in groups at the expense of persons deviating from the standard. Based on these fundamental thoughts, different current concepts of interreligious learning will be analysed, regarding this dimension of foreignness. Especially in view of concepts which are sensitive for competences, the question arises, how persisting limits and no-manageable factors can be taken in consideration. Keywords: Inter-religiousness, Foreigness / Strangeness, Otherness, Conflict

egegnung ist entscheidend durch Nähe gekennzeich- Baden-Württemberg weist die Förderung ökumenischer net. Und dennoch ist sie immer wesentlich auch und interreligiöser Dialogfähigkeit als ein entscheidendes B Konfrontation mit dem Fremden. In einer Gegen- Anliegen ihres Unterrichts aus. Dabei möchten zwei Drittel wartssituation, in der – auch religiöse – Pluralität als ent- der Lehrpersonen Gemeinsames betonen, ein Drittel spricht scheidendes Charakteristikum zu verstehen ist, stellt sich sich dagegen aus, Unterschiede zwischen den verschiedenen immer neu die Frage nach Differenz1, einem adäquaten Religionen aufzuzeigen.6 Auch Martin Jäggle ortet – gerade Umgang mit dieser und entsprechender Reflexion.2 Dabei im Bereich der Primärpädagogik – oft ein Harmoniebedürf- besteht die erste Herausforderung schon darin, Differenz als nis, das sich bis zur Harmoniesucht steigern kann.7 solche überhaupt wahrzunehmen und nicht in einer „zu Und doch spielt sich interreligiöses Lernen in der Span- glatte[n] Sicht der Toleranz“3 alles als „gleich-gültig“ und nung von Vertraut-Sein und Fremdheit ab. Deshalb soll in Differenz als „wert-los“4 aufzufassen. Über die generelle diesem Beitrag das „bleibend irritierende“8 Unbekannte und Tendenz von Schulen hinaus, gerade religiöse Differenz aus- Widerständige9, die Bedeutung (bleibender) Fremdheit des zublenden5, sind auch die Zielsetzungen von Religionslehre- Anderen in interreligiösen Lernkonzepten näher in den rInnen in dieser durch Vielfalt geprägten Situation stark Blick genommen werden. Exemplarisch werden drei aktuelle durch das Herausstreichen von Gemeinsamkeiten geprägt: Lernkonzepte daraufhin untersucht, wie diese Aspekte Die Mehrheit evangelischer LehrerInnen in Niedersachsen Berücksichtigung finden, um so gegenwärtige Akzentset- bzw. evangelischer und katholischer LehrerInnen in zungen bzw. Trends im Themenfeld sichtbar zu machen.

Karin Peter: Wenn Fremde sich begegnen … Bedeutung von bleibend Fremdem und Unzu- gänglichem in interreligiösen Lernkonzepten • ÖRF 23 (2015), 11–19 11 Dafür wird zunächst eine leitende Perspektive zur Konkreti- klarer eingeholt, Unzugänglichkeit und „Widerfahrnischa- sierung des Fremdheits-Aspekts erarbeitet: Ausgegangen rakter des Fremden“15 werden stärker berücksichtigt. Der wird dabei von einem asymmetrischen Begegnungskonzept dialogischen Konzeptionen teils innewohnenden „Tendenz sowie der Gruppen inhärenten Tendenz, sich auf Kosten von zu einer Beschwichtigung von Differenz“16 wird entgegen- einzelnen, die von der Norm abweichen, zu konstituieren. wirkt. Für Emmanuel Lévinas konkretisiert sich die „Wucht dieser Fremdheit“17 in einer unbedingten ethischen Anfrage 1. Konzepte der Fremdheit und deren Aufmerk- an den einzelnen als Verpflichtung.18 samkeiten Für die Religionspädagogik ergibt sich aus dem konsti- Fremdes und Fremdheit werden in religionspädagogi- tutiven Bedenken der Bedeutung des Anderen, auch den schen Auseinandersetzungen unter verschiedenen Rücksich- Subjektbegriff als Grundlage religiöser Bildungsprozesse dif- ten und im Kontext verschiedener Diskurse in den Blick ferenziert in den Blick zu nehmen. Henning Luther geht von genommen.10 In einer grundlegenden Unterscheidung wird einer fragmentarischen Ich-Identität aus, die immer über 19 dabei Fremdheit, Alienität, von Andersheit, Alterität, unter- sich hinausweist. Die Bedeutung der Vorstellung „eines schieden: „Während mir Andere auf dem Boden eines bereits ursprünglich gespaltenen, fragmentierten, ja verletz- 20 Gemeinsamen gegenüberstehen, sind und bleiben mir ten Subjekts“ betont Ulrike Greiner und plädiert für die 21 Fremde unzugänglich.“11 Diese Differenzierung findet sich Beachtung der „dramatische[n] Dezentriertheit“ des Sub- allerdings in vielen sozialphilosophischen und soziologi- jekts, die sich – in Absetzung von Konzepten, die das Sub- schen Überlegungen in dieser begrifflichen Klarheit nicht jekt durch Kontinuität, Ganzheit und Selbstgewissheit kons- wieder.12 Entsprechend der rezipierten Literatur wird auch tituiert sehen – in bleibender Selbst-Differenz, Fragmentie- hier auf eine trennscharfe Terminologie verzichtet und den- rung sowie Sehnsuchts- und Antwortstruktur konkret 22 noch versucht, unterschiedlichen Aspekten des Fremden – zeigt. Bernhard Grümme ist um eine „kritische […] Sub- 23 im Sinne der Alienität mit ihrer bleibenden Unzugänglich- jektorientierung“ bemüht, um der Unabschließbarkeit des keit – nachzugehen. Subjektbegriffs im Kontext seines alteritätstheoretischen Konzepts gerecht zu werden. Er hält am Subjektbegriff als 1.1 Begegnung zwischen Dialogizität und Asymmetrie Ausgangspunkt fest, sieht diesen aber entscheidend in Aus- 24 In Abgrenzung zu Ansätzen, die von einer reziproken einandersetzung mit Anderem und Fremdem konstituiert. dialogischen Struktur zwischen dem Gegenüber und dem Trotz der Unterschiede dieser asymmetrischen Konzep- einzelnen ausgehen, wird in asymmetrischen Konzepten die tionen ist ihnen gemeinsam, dass sie die Fragmentarität und Ungleichheit der Beteiligten stark gemacht. Dialogische Unabgeschlossenheit des Subjekts betonen. Die Sensibilität Konzeptionen – wie die Buber’sche Überzeugung – betonen für alles Fragmentarische im Leben des einzelnen stellt ein die konstitutive Bedeutung der relationalen Verfasstheit des Gegenkonzept zur ‚Autonomiefalle‘, der Idealvorstellung 25 Menschen. Der einzelne kann nur als sich in Beziehung und einer vollkommenen, autonomen Persönlichkeit dar. Für Bezogenheit befindend verstanden werden. Über Ich-Es-Be- den Prozess und das Ziel interreligiöser Bildung gilt es des- ziehungen hinaus, in denen Begegnung mit dem Gegenüber halb zum einen wesentlich zu bedenken, inwiefern die Frag- immer (nur) distanziert, fragmentarisch und in einer instru- mentarität des Subjekts Berücksichtigung findet, zum ande- mentalisierenden Form möglich ist, wird in einer ren aber auch zu beachten, wie sich diese menschliche Ich-Du-Beziehung Begegnung zwischen den Beteiligten Grundkonstitution in kollektiven Zusammenhängen aus- ganzheitlich, offen, zweckfrei realisiert. „Die Beziehung zum wirkt. Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begriff- 1.2 Begegnung in kollektiven Zusammenhängen lichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie [...]. Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorweg- Zusammenleben in befriedeter Gemeinschaft wird vom nahme.“13 Insgesamt bergen die idealistischen Prägungen Kulturanthropologen René Girard nicht als Selbstverständ- dialogischer Konzeptionen eine doppelte Gefahr: Zum einen lichkeit gesehen, sondern als Resultat einer mittels eines mindert die Betonung der Dialogizität die Bedeutung der Ausschlussgeschehens gelösten Krise. Am Ausgangspunkt von vornherein gegebenen Einzigartigkeit des einzelnen, menschlicher Kultur steht für ihn das Zusammentreffen von zum anderen wird die Bedeutung der Alterität für die Sub- entscheidend mimetisch, durch Nachahmung, strukturier- jektwerdung marginalisiert.14 ten Menschen. Für Girard sind nicht nur äußerliche Verhal- Demgegenüber nehmen asymmetrische Konzepte ihren tensweisen des einzelnen, sondern auch sein Begehren ent- Ausgangspunkt bei der Ungleichheit der sich Begegnenden. scheidend durch Mimesis geprägt. Entscheidend für Ent- Die Fremd- und Andersheit des Anderen werden dadurch wicklung und Steigerung eines Begehrens ist also nicht das

12 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Aufspüren der dem einzelnen inhärenten Wünsche, sondern 2.1 Begegnung als Königsweg (Leimgruber) der Blick auf ein Modell – das im Unterschied zur eigenen Stephan Leimgruber präsentiert in seinem Standard- fragmentarisch wahrgenommenen Existenz als vollkommen werk zum interreligiösen Lernen29 ein Konzept, das er – autonom erscheint – und dessen Begehren. Dabei wird ein besonders deutlich in der Etablierung der Begegnung als dynamischer Prozess von Angleichung und Abgrenzung in Königsweg dieser Art des Lernens30 – ausdrücklich in der Gang gesetzt: Paradoxerweise wird durch das Bemühen des Dialogphilosophie Martin Bubers verankert31. Subjekts, sich an das Modell anzugleichen, erst recht Diffe- Die stufenspezifisch angelegten didaktischen Ziele neh- renz sichtbar, während sich die Beteiligten im Versuch, sich men die Entwicklung vom Kleinkind bis zum Erwachsenen voneinander abzuheben, immer ähnlicher werden. in den Blick und berücksichtigen dabei die jeweiligen Refle- Die trianguläre Begehrensstruktur birgt so insgesamt xionsmöglichkeiten von Menschen verschiedener Altersstu- die Gefahr, Rivalität zwischen Subjekt und Mittler auszulö- fen.32 Als Zielvision des interreligiösen Lernens werden ein sen. Sie hat nicht nur die Tendenz, in einer „doppelte[n] besseres „Koexistieren der Verschiedenen“33 als Beitrag zu 26 Vermittlung“ wechselseitig zu werden, sondern darüber einem friedlichen Zusammenleben und der gemeinsame hinaus immer mehr Menschen in dieses Geschehen zu Einsatz für mehr Gerechtigkeit angegeben.34 Grenzen des involvieren und so innerhalb einer Gemeinschaft eine Umsetzbaren und bleibende Fremdheit werden dabei nur mimetische Krise zu verursachen. Die Lösung derselben am Rande beschrieben. Dies ist erstaunlich, weil Leimgru- erfolgt wiederum auf mimetische Art, nämlich durch die ber in seinen grundlegenden theoretischen Überlegungen gemeinschaftliche Fokussierung aller Rivalitäts- und dem weisheitlichen Umgang mit Fremden – nicht generell Gewalttendenzen auf ein Individuum. Diese Kanalisierung, dem Fremdem – eigene Aufmerksamkeit widmet.35 Dabei die im Ausschluss des zufällig gewählten Opfers aus der wird auf das Konzept der Xenosophie von Yoshiro Naka- Gemeinschaft endet, bewirkt das Ende der Feindseligkeiten mura rekurriert, in dem von der Anerkennung des Mehr- 27 und eine friedliche Neukonstituierung der Gruppe. wertes des Fremden ausgegangen wird. Ziel stellt eine „Kul- Die Wahl des Sündenbocks im Rahmen dieses Mecha- 36 tivierung von Fremdheit“ dar, durch die Fremdes weder nismus der sich steigernden Eskalation erfolgt zufällig. Den- vorschnell harmonisiert, assimiliert oder vereinnahmt wer- noch lassen sich ‚Merkmale der Opferselektion‘ ausmachen, den soll, sondern als das eigene Selbst in Frage stellendes die die Wahrscheinlichkeit für den einzelnen, in diesem Gegenüber zu verstehen ist. dynamischen Geschehen zu einem Opfer zu werden, erhö- Über die Forderung nach wohlwollender Behandlung hen. Entscheidend dafür ist jegliche Form der Abweichung von Fremden in den abrahamitischen Religionen hinaus von der gegebenen Norm.28 Gerade Andere und Fremde nimmt Leimgruber Bezug auf die Philosophie des Anderen sind demnach besonders gefährdet, an den Rand von Grup- nach Emmanuel Lévinas und eine Kultur der Anerkennung pen gedrängt bzw. ausgeschlossen zu werden. nach Johann Baptist Metz.37 Daraus entwickelt er religions- Im Blick auf interreligiöse Bildungskonzepte gilt es des- pädagogische Standards für einen Umgang mit Fremden, die halb, dem dynamischen Prozess von Angleichung und den drei Bereichen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Hand- Abgrenzung im Kontext der Identitätsbildung entscheidende lungskompetenz zugeordnet werden. In diesen drei Berei- Aufmerksamkeit zu widmen. Es ist darauf zu achten, ob und chen wird die Anerkennung bleibender Bedeutung von wie sowohl die Etablierung von Gruppen im Kleinen als Fremdheit in einigen der formulierten Standards klar zum auch religiös konnotierte Abwertungs- oder gar Ausschluss- Ausdruck gebracht.38 Außerdem greift Leimgruber auch tendenzen in großen gesellschaftlich-medialen Zusammen- Erkenntnisse aus dem Bereich Interkultureller Pädagogik hängen (mit)bedacht werden. auf. Explizit nimmt er die von Auernheimer beschriebenen Faktoren der Störung von interkultureller Kommunikation 2. Beachtung und Bedeutung von Fremdheit in auf39 und beschreibt „Wege, Ziele und Lernbereiche inter- Konzepten interreligiösen Lernens kulturellen Lernens“40, um so der kulturellen Ausprägung Das Anliegen, die aus der skizzierten Perspektive deut- von religiösen Überzeugungen gerecht zu werden. lich gewordene Bedeutung der Fragmentarität des Subjekts In der sich aus dieser theoretischen Grundlegung erge- samt der dieser innewohnenden Dynamik sowie von Rivali- benden konkreten Ausfaltung des interreligiösen Lernpro- täts- und Ausschlusstendenzen in Gruppen in konkreten zesses kommt diesen klar formulierten Überlegungen zur interreligiösen Lernkonzepten aufzuspüren, erweist sich als Fremdheit aber keine wirklich konstitutive Bedeutung zu. Herausforderung. In der geforderten Kürze geht es nicht um Leimgruber beschreibt sechs interreligiöse Kompetenzfel- eine grundlegende Einschätzung der anregenden Konzepte, der, die sich nicht immer trennscharf voneinander abgren- sondern um die Fokussierung auf diesen einen Aspekt. zen lassen, s.E. jeweils aus interkulturellen Fähigkeiten her- vorgehen41 und anhand verschiedener Bereiche konkreti-

ÖRF 23 (2015) • 11–19 13 siert werden: interreligiös ästhetische Kompetenz, interreli- Vorschlag dabei zwischen den Konzepten von Buber und giös inhaltliche Kompetenz, anamnetische Kompetenz, Lévinas, zwischen der Versuchung, Unterschiedenheit zu interreligiöse Frage- und Ausdrucksfähigkeit, interreligiöse vernachlässigen und der Gefahr, Trennung so stark zu den- Kommunikationsfähigkeit, interreligiöse Handlungskompe- ken, dass Kontakt unmöglich ist. Schambeck lässt dabei die 42 tenz. religionspädagogischen Weiterführungen von Asymmetrie Auffallend ist, dass alle Kompetenzfelder und deren bzw. Alteritätskonzepte, wie sie Greiner und Grümme vorle- Konkretisierungen gelingens- und konsensorientiert gen, unberücksichtigt und entwickelt ein eigenes Konzept. beschrieben sind. Auch in Bereichen, in denen mögliche Inspirieren lässt sie sich in ihrem Vorschlag, „die Liebe als Schwierigkeiten und Grenzen offenkundig sind, wie bei der Schlüssel für das Verständnis von Differenz auszuloten“52, anamnetischen Kompetenz und der oft sehr konfliktbelade- von trinitätstheologischen Überlegungen Karl Rahners.53 nen (Erinnerungs-)Geschichte zwischen Angehörigen ver- Dabei wird „Differenz von der Einheit und Selbigkeit und schiedener Religionsgemeinschaften, werden diese nicht dessen Vorgängigkeit aus“ angedacht „und zugleich das explizit gemacht. Dies ist nicht nur aufgrund der theoreti- Andere nicht als nachträglich Hinzukommendes“ verstan- schen Grundlegung überraschend, sondern auch, weil Leim- den, „sondern grundlegend mit der Einheit und Selbigkeit gruber in den konkret entworfenen christlich-jüdischen Gestiftetes“54 gesehen. Eigenes und Fremdes werden perso- bzw. christlich-muslimischen Lernprozessen die Geschichte nal und Fremdes immer schon in Bezogenheit auf das zwischen den Glaubensgemeinschaften durchaus auch als Eigene gedacht: „Das Fremde ist nicht das ‚ganz Andere‘, das 43 Konfliktgeschichte beschreibt. Allerdings zeigt sich auch 55 vom Eigenen überhaupt nicht verstanden werden kann.“ hier das Bemühen, neben den Schwierigkeiten das Gelingen Das Ausgehen von Liebe als einigendem Grund von von Dialogprozessen ausreichend zu berücksichtigen.44 Differenz, der eine transformierende Kraft innewohnt56, Leimgruber orientiert sich am didaktischen Prinzip, stellt eine sehr idealistische Differenzkonzeption dar. Als vom Bekannten zum Unbekannten, von Vertrautem zu solche kommt ihr die Stärke utopischer, visionärer und nor- Neuem vorzudringen und betont, dass „das Gemeinsame mativer Konzepte zu, an denen Ausrichtung und Orientie- verbindet und stärkt“, aber nicht mit „Deckungsgleichheit rung möglich ist, allerdings birgt eine solche auch die zu verwechseln“45 ist.46 Entsprechend werden bei der Darle- Gefahr, allen asymmetrischen Aspekten bzw. nicht ideal gung von Schwerpunktthemen – wie Offenbarung und gelingenden Begegnungen wenig Beachtung zu schenken. Schriften, Jesus, Sakralräume – Übereinstimmungen und Unzugängliches in Begegnungen sowie Rivalitäten zwischen Differenzen zwischen den abrahamitischen Religionen den Beteiligten kommen in einem tendenziell harmonisie- beschrieben47. Auch bei der Konzeption konkreter Unter- renden Modell nicht in den Blick. Dies stellt eine Grenze des richtsreihen wird häufig auf Gemeinsamkeiten rekurriert Konzeptes dar, die die Freiburger Religionspädagogin auch bzw. mit Vergleichen gearbeitet, in denen nicht näher beschriebene Ähnlichkeiten und Unterschiede in konkreten zugesteht, trotzdem hofft sie, dass sich ausgehend von die- Bereichen thematisiert werden.48 Arbeit mit Vergleichen sem Ideal neue Perspektiven für eine adäquate Praxisgestal- 57 wird häufig vorgeschlagen, ohne dass allerdings eine diffe- tung auftun. renzierte grundlegende Auseinandersetzung dazu erfolgen Ihre Grundannahmen entwickelt Schambeck weiter zu würde.49 einer konkreten Beschreibung interreligiöser Kompetenz. Als Ziel für den Lernprozess zwischen ChristInnen und Diese wird wesentlich als Diversifikations- und Relations- MuslimInnen wird exemplarisch formuliert, „entscheidende kompetenz verstanden und meint die Fähigkeit, „die unter- Differenzen und Parallelen“50 aufzuspüren, in dem zusam- schiedlichen Dimensionen von eigener Religion im Ange- menfassenden Resümee wird aber vorwiegend von berei- sicht der fremden Religion wahrnehmen zu lernen (ästheti- chernden Begegnungen ausgegangen. So werden gegenüber sche Kompetenz), diskursiv mit ihnen umgehen zu können den v.a. kulturell geprägten Differenzen überraschende Kon- und auskunftsfähig zu sein (hermeneutisch-reflexive und vergenzen im religiösen Bereich konstatiert.51 hermeneutisch-kommunikative Kompetenz) sowie Konse- quenzen für das praktische Handeln und Verhalten zu zie- 2.2 Liebe als Grundlage von Differenz (Schambeck) hen (praktische Kompetenz).“58 Der Erwerb dieser Kompe- Explizit um eine Verhältnisbestimmung von Eigenem tenzen erfolgt nach Schambeck auf drei Niveaustufen. Auf und Fremdem als Voraussetzung der Etablierung eines der Basis des (1) Wahrnehmens von Differenz kann die (2) interreligiösen Kompetenzmodells bemüht sich Mirjam Auseinandersetzung mit Anderem erfolgen, was den Umbau Schambeck. Ausgehend von Liebe als Grund von Eigenem von kognitiven Konfigurationen zur Folge hat und Voraus- und Fremdem entwickelt sie ein theologisches Differenzmo- setzung dafür ist, dass (3) Transformationen hinsichtlich dell, das die Grundlage für ihre weitere Erarbeitung von Einstellungen, Haltungen und Handlungen vollzogen wer- interreligiösen Kompetenzen darstellt. Sie positioniert ihren den können.59

14 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Trotz der von der Konzeption her deutlichen Ausrich- die bleibende Bedeutung von Unzugänglichem und Irritie- tung an einer positiven Einbindung des Fremden werden in rendem zu wahren. der ausdifferenzierten Beschreibung der drei Kompetenzbe- Als Komponenten interreligiöser Kompetenz lassen sich reiche auch Aspekte von Fremdheit thematisiert, die nicht nach Willems (1) interreligiöse Deutungs- und Urteilskom- harmonisierend eingebettet sind. So wird Aufmerksamkeit petenz mit der Fähigkeit, interreligiös relevante Situationen sowohl für dunkle Aspekte einer Religion als auch für nega- überhaupt wahrzunehmen, zu deuten und zu beurteilen, (2) tiv qualifizierende Äußerungen über Religion gefordert interreligiöse Partizipations- und Handlungskompetenz mit sowie die Bedeutung von Mehrheits- und Machtverhältnis- der Fähigkeit, Deutungen in Diskurse einzubringen und (3) sen für interreligiöse Situationen betont.60 interreligiös bedeutsame Kenntnisse, unterscheiden.67 Wil- Als Prinzipien für einen solchen Lernprozess präsen- lems berücksichtigt für die Möglichkeit der Verwirklichung tiert Schambeck ein Vorgehen vom Näheren zum Entfernte- dieser Teilbereiche entwicklungspsychologische Zusammen- ren sowie von Unterscheidungen zum In-Beziehung-Setzen. hänge und formuliert für den interreligiösen Bereich zwei Darüber hinaus hat das Selbstverständnis des Anderen als Niveaustufen: Auf der ‚konfessiozentrischen Stufe‘ wird der Kriterium für Aussagen über seine Religion zu gelten.61 Die eigene Deutungsrahmen maßgebend auch für die Wahrneh- angezielte eigene Positionierung innerhalb des Religionsplu- mung und Deutung anderer Religion herangezogen, auf der rals zeigt sich im Kontext der exemplarischen Praxisbei- ‚konfessioreflexiven Stufe‘ hingegen können eigene Prägun- spiele sehr klar als Anliegen, fremde Vorstellungen mit eige- gen relativiert und andere anerkannt werden.68 nen konstruktiv in Verbindung zu bringen. Dies muss aller- Die Formulierungen des Komponentenmodells zeugen dings nicht zwingend zu inhaltlichen Neupositionierungen von einer positiv-konstruktiven Herangehensweise an die des einzelnen führen, sondern kann sich auch im Anerken- Thematik, in der die Bedeutungen von bleibenden Irritatio- nen von bleibend unterschiedlichen Bedeutsamkeiten zei- nen und Fremdheit – versteckt hinter den ‚interreligiös rele- gen.62 vanten Situationen‘ – erst in der Explikation der einzelnen Bereiche näher in den Blick kommen. So wird durchaus mit 2.3 Unterschiedliche Deutungsmuster (Willems) „Critical Incidents“69 gerechnet, mit Situationen, in denen Joachim Willems geht in seinen Überlegungen weder Missverständnisse aufgrund der sich unterscheidenden Vor- von dialogischen noch von asymmetrischen Subjekt- und verständnisse und Interpretationen der Beteiligten entste- Begegnungstheorien aus, sondern setzt bei konstruktivisti- hen. Eine solche Situation fordert, „Verständnislücken so zu schen Konzeptionen von Religion an. Auf dieser Grundlage füllen, dass es dem eigenkulturellen/eigenreligiösen Ver- nimmt er seinen konkreten Ausgangspunkt bei „interreligi- ständnis entspricht“70. Darüber hinaus sollen Hypothesen öse[n] Überschneidungssituationen“63. Als solche sieht er über die Gründe für das Entstehen von interreligiösen ganz allgemein Konstellationen, in denen „unterschiedliche Überschneidungssituationen angestellt und diese kommuni- religiöse Weltsichten […] von Bedeutung sind“64. Konkreter ziert werden können, außerdem wird die Erfordernis von sind darunter Situationen zu verstehen, in denen „unter- Frustrations- und Ambiguitätstoleranz erwähnt.71 Die schiedliche Beteiligte jeweils durch Religionskulturen Widerständigkeiten und Irritationen scheinen allerdings nur geprägte Deutungs-, Verhaltens- und Zuschreibungsmuster als zu überwindende eine Rolle zu spielen. Eigenständige, sowie emotionale und evaluative Muster zur Anwendung bleibende Bedeutung scheint ihnen keine zuzukommen72, bringen und in denen sich durch die relative Inkongruenz vielmehr beschreibt Willems die weitere Klärung des dieser Muster Spannungen (von Konflikten bis hin zur exo- Zusammenhangs von interreligiöser Kompetenz und Diffe- tischen Attraktivität) ergeben“65. Voraussetzung für eine renz bzw. des Konstruierens von religiös Differentem als positive Bewältigung einer solchen Überschneidungssitua- Desiderat.73 tion ist, dass die eigenen Orientierungsgrößen reflektiert werden, die Bedingungen und Besonderheiten von fremden 3. Bleibende Herausforderung Fremdheit – Eine Einschätzungen und Handlungen wahrgenommen und ver- vorsichtige Bilanz standen werden sowie anerkannt wird, dass diese ebenso Entscheidende Ergebnisse dieser kleinen Studie über sinnvoll sein können wie die eigene Herangehensweise an die Bedeutung des Fremden in interreligiösen Bildungspro- die Lebenswelt.66 zessen zeigen sich auf unterschiedliche Weise. Dem konstruktivistischen Zugang entsprechend ist das Andere und Fremde dabei allerdings nicht direkt im Blick, 3.1 Bedeutung von Fragmentarität und Ausschlusstenden- sondern zeigt sich (nur) in sich unterscheidenden Mustern zen der beteiligten Personen. Ein solcher Ansatz ist wohl von Die leitende Perspektive dieses Beitrags macht deutlich, seiner Konzeption her besonders gefordert, Sensibilität für dass es auch im Kontext neuester interreligiöser Lernkon-

ÖRF 23 (2015) • 11–19 15 zepte nottut, die Bedeutung von Grenzen und Nicht-Bewäl- Aspekt der Fremdheit durchaus berücksichtigen, ja betonen, tigbarem in diesem Themenfeld einzufordern. Das bleibend in den konkreten Vorschlägen und Beispielen aber doch Fragmentarische in der Subjektwerdung des einzelnen mit- vorwiegend ein harmonisierendes Anliegen erkennen las- samt der Dynamik von Angleichung und Abgrenzung einer- sen, wie dies tendenziell im Vorschlag von Leimgruber deut- seits und Rivalität, Konkurrenz und Ausschluss als Aspekte lich wird. Umgekehrt zeigt sich v.a. im Entwurf von Scham- von Gruppenprozessen andererseits finden in den beschrie- beck, dass eine Konzeption, die Differenz theoretisch letzt- benen Konzeptionen interreligiöser Bildungsprozesse näm- lich klar auf einen Einheitsgrund zurückführt, in der Ent- lich wenig bis kaum Beachtung. wicklung praktischer Lernschritte sensibler auf Unterschiede Sowohl asymmetrische Dialog- als auch ausschlusssen- achtet, als dies von vornherein zu erwarten wäre. sible Gruppenkonzeptionen fordern dazu heraus, einige Hier stellt sich die Frage, ob nicht bei der Theoriekon­ Konstanten in interreligiösen Lernkonzepten neu zu justie- struktion der verschiedenen interreligiösen Lernkonzepte ren – im Blick auf die einzelnen Personen und auch den selbst Auswirkungen des mimetischen Prozesses zwischen relational geprägten Raum, in dem Begegnung möglich Angleichung und Abgrenzung sichtbar werden: Im vorran- wird. Dabei ist nicht nur die Option des Scheiterns einer gigen Fokussieren auf einen Aspekt des dynamischen Pro- harmonisch-verstehenden Begegnung (mit) zu bedenken. Es zesses kommt unter der Hand der andere Pol zum Vor- gilt eine Vorstellung zu konzipieren, die sowohl den Aspekt schein. bleibender Fragmentarität der Person des einzelnen und der Begegnung mit anderen als auch die Fragilität von Frieden 3.3 Kompetenzorientierte Versuchungen und gerechtem Ausgleich innerhalb von Gruppen zu Aus- Die interreligiösen Lernkonzeptionen – samt den jewei- gangspunkten nimmt. So soll auch ein Korrektiv gegenüber ligen Entwicklungs- und Niveaustufen – weisen insgesamt sehr idealisierenden Konzepten gegeben sein, das vor über- doch die Tendenz auf, Fremdes und Widerständiges als fordernden, letztlich Frust erzeugenden, Erwartungen im (nur) zu Überwindendes zu denken. Dies scheint einer interreligiösen Lernfeld schützt. generell positiv-konstruktiven Grundausrichtung geschuldet Konkret kann sich das darin zeigen, Zielvorstellungen zu sein, die in kompetenzorientierten Prägungen besonders von interreligiösen Lernprozessen nicht nur vorwiegend deutlich wird. Der starken Fokussierung auf Fähigkeiten fokussiert auf konstruktive Verarbeitungen des/der einzel- und Vermögen wohnt die Tendenz inne, bleibenden Irritati- nen zu formulieren, sondern die Unabgeschlossenheit der Prozesse von Angleichung und Abgrenzung durchgehend zu onen und Differenzen sowie der Dynamik von Angleichung berücksichtigen. Im Hinblick auf Gruppenkonstellationen und Abgrenzung nicht die gebotene Bedeutung zuzumessen, gilt es sowohl in der reflexiven Vergegenwärtigung von sondern ziemlich schnell auf deren Bearbeitung und Bewäl- interreligiösen Begegnungen als auch in der konkreten tigung zu fokussieren. Dem Anerkennen und Beschreiben Gestaltung von Lernprozessen den Aspekten von Rivalität, von Schwierigkeiten sowie dem Achten von unaufhebbaren Konkurrenz und Ausschluss genügend Beachtung zu schen- Grenzen wird kaum ein Eigenwert zugestanden. ken. Das beinhaltet auch die Herausforderung, für Aus- Diese eher unbeachtete Dimension des Aushaltens von schlusstendenzen innerhalb kollektiver Prozesse zu sensibi- Differenzen, ohne diese harmonisierend auszutarieren oder lisieren und im Gruppengeschehen immer wieder ausrei- effizienzsteigernd verwerten zu können, kann vielleicht in chend Möglichkeiten zur Individualisierung zu bieten.74 den Bereich eingeordnet werden, den Friedrich Schweitzer Entscheidend ist, die Brüchigkeit des einzelnen, Dyna- für den Kontext Religionsunterricht folgendermaßen miken von Angleichung und Abgrenzung in Entwicklungs- beschreibt: „Das Beste […] lässt sich nicht mit Standards prozessen und die Fragilität von Gemeinschaften als konsti- messen.“75 In ähnlicher Weise macht auch Paul Konrad tutive Elemente interreligiöser Lernprozesse zu verstehen Liessmann auf ein Desiderat kompetenzorientierter Aus- und als entscheidende Aspekte in die entsprechenden Kon- richtung von Lernprozessen aufmerksam, das auch bei zepte zu integrieren. interreligiösen Lernprozessen zu berücksichtigen ist. Dies umso mehr, als in diesem Kontext wohl nur sehr einge- 3.2 (Fehlender) Zusammenhang von Grundlagen und Kon- schränkt von den beschriebenen Selbstverständlichkeiten kretionen ausgegangen werden kann: „Dass es Ziel eines Lernprozes- Im Unterschied zu grundlegenden theoretischen Annä- ses sein kann, eine vermeintliche Selbstverständlichkeit oder herungen an das Phänomen der Fremdheit, die konkrete erfolgreiche Praxis überhaupt erst als – womöglich gar nicht Konsequenzen für interreligiöse Lernkonzepte meiden, lösbares – Problem zu erkennen, kommt diesem [kompeten- bemühen sich die näher betrachteten Konzepte ausdrücklich zorientierten] Konzept nicht mehr in den Sinn.“76 um diesen Brückenschlag. Auffallend dabei ist, dass einige Entgegen dieser Einschätzung lassen sich aber durchaus Konzeptionen in ihrer theoretischen Grundlegung den auch innerhalb kompetenzorientierter Konzeptionen Versu-

16 Österreichisches Religionspädagogisches Forum che finden, den Umgang mit den ‚Grenzen der Machbarkeit’ Ziebertz, Hans-Georg (Hg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für 6 einzuholen. Dies ist aber nur möglich, wenn spezifische Studium, Ausbildung und Beruf, München: Kösel 2010, 76–105. 3 Roebben, Bert: Religionspädagogik der Hoffnung. Grundlinien reli- Akzentsetzungen innerhalb bzw. Erweiterungen des verbrei- 2 77 giöser Bildung in der Spätmoderne, Berlin u.a.: Lit 2011 (= Forum teten Kompetenz-Begriffs nach Weinert vorgenommen Theologie und Pädagogik 19), 154. 78 werden. In der Klieme-Expertise werden die – allerdings 4 Jäggle, Martin: Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schul- nur in Verbindung mit den kognitiven Fähigkeiten und Fer- entwicklung, in: Jäggle, Martin / Krobath, Thomas / Schelander, tigkeiten genannten – „motivationalen, volitionalen und Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schul- sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten“79 als „Einstellun- kultur und Schulentwicklung, Wien u.a.: Lit 2009, 265–280, 275. 5 Dass die Einschätzung von Fischer, Dietlind: Unterricht als interkul- gen, Werte […] und Motive […]“80 konkretisiert. Deren turelles Handlungsfeld, in: Dies. (Hg.): Auf dem Weg zur Interkultu- ausdrückliche Berücksichtigung stellt gegenüber der stark rellen Schule. Fallstudien zur Situation interkulturellen und interreli- kognitiven Prägung des Kompetenz-Begriffs eine Auswei- giösen Lernens, Münster / New York: Waxmann 1996, 101–112,103 tung dar, in der die geforderte empirische Überprüfbarkeit immer noch aktuell ist, zeigt Strutzenberger-Reiter, Edda: Reli- nicht mehr wirklich gewährleistet ist und begriffliche gion in der Schulentwicklung – Perspektiven von ReligionslehrerIn- nen, in: Krobath, Thomas / Lehner-Hartmann, Andrea / Polak, Unschärfen in Kauf genommen werden.81 Regina (Hg.): Anerkennung in religiösen Bildungsprozessen. Interdis- Für den religionspädagogischen Bereich generell erar- ziplinäre Perspektiven. Diskursschrift für Martin Jäggle, Göttingen: 82 beitet Schweitzer „einstellungsbezogene Kompetenzen“ V&R unipress 2013 (= Wiener Forum für Theologie und Religions- hinsichtlich des existentiellen Zugangs des einzelnen zum wissenschaft 8), 219–230, 226-229. behandelten Gegenstand. Konkretisierung könnten diese 6 Vgl. Feige, Andreas u.a.: „Religion“ bei ReligionslehrerInnen. Religi- auch hinsichtlich der Anerkennung und des bewussten onspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen, Münster: Lit 2000, 225 sowie Umgangs mit Fremdem, Widerständigem und Nicht-Mach- Feige, Andreas / Tzscheetzsch, Werner: Christlicher Religionsun- barem finden. Kritisiert wird an solchen Versuchen, dass sie terricht im religionsneutralen Staat? Unterrichtliche Zielvorstellungen fast beliebige subjektive Ausweitung und Ausdifferenzierung und religiöses Selbstverständnis von ev. und kath. Religionslehrerin- von Kompetenzen darstellen, die dann auch nicht mehr nen und -lehrern in Baden-Württemberg. Eine empirisch-repräsenta- objektiv überprüfbar sind.83 Einen Vorschlag, der dem tive Befragung, Stuttgart: Schwabenverlag / Kohlhammer 2005, 25. 7 Vgl. Jäggle, Martin: Schritte auf dem Weg zu einer Kultur gegenseiti- Bemühen zuzuordnen ist, die Anerkennung bleibender ger Anerkennung. Religionspädagogische Impulse zum religiösen Begrenztheit einzuholen, bietet Silvia Habringer-Hagleitner Lernen in der pluralen Gesellschaft, in: Bastel, Heribert u.a. (Hg.): 84 mit der Etablierung einer „Fragmentaritätskompetenz“ . Das Gemeinsame entdecken – Das Unterscheidende anerkennen. Pro- Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, „sich der Gebro- jekt eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts. Einblicke chenheit der menschlichen Existenz stellen zu können und – Hintergründe – Ansätze – Forschungsergebnisse, Wien: Lit 2006, nicht länger daran zu verzweifeln.“85 Hier wird eine Analo- 31–42, 41. 8 Dressler, Bernhard: Religiöse Bildung und Schule, in: Schreiner, gie zur Debatte um die Erbsündenlehre in der Systemati- Peter / Sieg, Ursula / Elsenbast, Volker (Hg): Handbuch Interreligiö- schen Theologie deutlich, in der das Annehmen der ses Lernen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, 86–101, 97. erbsündhaften Verfasstheit des Menschen als Möglichkeit 9 Zur prinzipiellen Bedeutung der Beachtung des Widerständigen in für eine realistische, positive Gestaltung des eigenen Lebens (religiösen) Lernprozessen siehe Lehner-Hartmann, Andrea: Dem gesehen wird.86 Widerständigen Raum geben. (Religiöses) Lernen jenseits gesell- schaftlicher Einpassung, in: Krobath / Lehner-Hartmann / Polak Im Kontext der Begegnung mit Fremden, aber auch im 2013 [Anm. 5], 165–176. Kontext einer tendenziell immer stärker auf Machbarkeit 10 Eine systematische Unterscheidung bietet Grümme, Bernhard: Diffe- ausgerichteten Pädagogik scheint es gerade für religionspäd- renz denken? Überlegungen zu einer alteritätstheoretischen Dialogizi- agogische – und dabei vielleicht noch einmal in besonderer tät, in: Englert, Rudolf u.a. (Hg.): Welche Religionspädagogik ist Weise für interreligiöse – Lernprozesse unabdingbar, der pluralitätsfähig? Kontroversen um einen Leitbegriff, Freiburg i. Br. u.a.: Herder 2012 (= RPG 17), 158–169, 161–169. bleibenden Bedeutung von Grenzen und Nicht-Bewältigba- 11 Gmeiner-Pranzl, Franz: Beunruhigungen, in: Lederhilger, rem genügend Beachtung zu schenken. Severin J. (Hg.): Auch Gott ist ein Fremder. Fremdsein – Toleranz – Solidarität, Frankfurt/Main: Peter Lang 2012, 53–75, 62. Anmerkungen 12 Vgl. Ricken, Norbert / Balzer, Nicole: Differenz: Verschiedenheit – Andersheit – Fremdheit, in: Straub, Jürgen / Weidemann, Arne / 1 Vgl. Nipkow, Karl Ernst: Bildung in einer pluralen Welt. 1. Moralpäd- Weidemann, Doris (Hg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation agogik im Pluralismus, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998, 176: und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, „Pluralität ist in ihrem Kern Differenz“. Stuttgart / Weimar: Metzler 2007, 56–69, 64. 2 Vgl. dazu insgesamt u.a. Schweitzer, Friedrich u.a. (Hg.): Entwurf 13 Buber, Martin: Ich und Du, Stuttgart: Reclam 2002 (= Reclams Uni- einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Freiburg i. Br.: Herder versalbibliothek 9342) [Ersterscheinung 1923], 12. 2002 bzw. unter religionsdidaktischer Perspektive Ziebertz, Hans- 14 Vgl. Grümme, Bernhard: Vom Anderen eröffnete Erfahrung. Zur Georg: Gesellschaftliche und jugendsoziologische Herausforderungen Neubestimmung des Erfahrungsbegriffs in der Religionsdidaktik, für die Religionsdidaktik, in: Hilger, Georg / Leimgruber, Stephan /

ÖRF 23 (2015) • 11–19 17 Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007, 272f, 275; zum zweiten viertem und fünftem bzw. fünftem und sechstem Kompetenzfeld Hin- Aspekt auch Greiner, Ulrike: Der Spur des Anderen folgen? Religi- weise, dass jedenfalls diese konsekutiv zu verstehen sind. In Leimgru- onspädagogik zwischen Theologie und Humanwissenschaft, Münster ber, Stephan: Interreligiöse Bildung. Eine katholische Perspektive, in: u.a.: Lit 2000 (= BMT 11), 337, Grümme 2012 [Anm. 10], 167f und Pohl-Patalong, Uta (Hg.): Religiöse Bildung im Plural. Konzeptio- Roebben 2011 [Anm. 3], 154f. nen und Perspektive, Schenefeld: EB-Verlag 2003, 157–170, 163–167, 15 Gmainer-Pranzl 2012 [Anm. 11], 67. Leimgruber, Stephan: Interreligiöses Lernen zwischen Christen und 16 Grümme 2007 [Anm. 14], 328. Muslimen. Impulse für Schule und Erwachsenenbildung, in: ZMR 17 Ebd., 273. 88/1 (2004) 20–41, 21–24 und Leimgruber, Stephan: In der Begeg- 18 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über nung mit Muslimen lernen. Chancen interreligiösen Lernens im Reli- die Exteriorität, Freiburg i. Br. / München: Alber 1987, v.a. 283–289. gionsunterricht der Sekundarstufen I und II, in: rhs 49/1 (2006) 246– 19 Vgl. Luther, Henning: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Prak- 254, 247f finden sich (Vor-)Überlegungen mit anderen Zuordnungen. tischen Theologie des Subjekts, Stuttgart: Radius-Verlag 1992, v.a. 43 Vgl. Leimgruber 2006 [Anm. 42], 251, Leimgruber 2007 [Anm. 29], 160–182. 117–133, 139–141 und 174–189. 20 Greiner 2003 [Anm. 14], 315. 44 Vgl. Leimgruber 2007 [Anm. 29], 124–131, 144–152 und 180–189, 21 Ebd., 319. 225–234. 22 Vgl. ebd., 316–319. 45 Ebd., 191. 23 Grümme 2007 [Anm. 14], 315. 46 Vgl. Leimgruber 2006 [Anm. 42], 250; Leimgruber 2007 [Anm. 29], 24 Vgl. ebd., 315–322. 190f. 25 Vgl. Scharer, Matthias: Die „Wozu-Falle“ in der (religiösen) Bildung, 47 Vgl. Leimgruber 2004 [Anm. 42], 27–32, 37 – auf den dazwischen- in: RpB 50 (2003) 39–48, 42–43. liegenden Seiten werden mit dem differenten Erziehungsverständnis 26 Girard, René: Wenn all das beginnt ... Dialog mit Michel Treguer, in Christentum und Islam sowie ethischen Konfliktfeldern in erster Thaur u.a.: Lit 1997 (= BMT 5), 30. Im Original kursiv gesetzt. Linie Unterschiede bearbeitet; Leimgruber 2006 [Anm. 42], 250– 27 Vgl. Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, Zürich: Benziger 253; Leimgruber 2007 [Anm. 29], 133–144, 190–224. 1987, 119–122, 214f; Girard 1997 [Anm. 26], 37f; Girard, René: Ich 48 Vgl. Leimgruber 2007 [Anm. 29], 155–168, 235–252. sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apo- 49 Eine solche findet sich z.B. in Jäggle, Martin: Religionen-Didaktik, logie des Christentums, Wien: Hanser 2002, 38–42, 54. in: Figl, Johann (Hg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen 28 Vgl. Girard, René: Der Sündenbock, Zürich u.a.: Benziger 1998, und ihre zentralen Themen, Innsbruck: Tyrolia 2003, 817–833, 819f. 30–34. 50 Leimgruber 2007 [Anm. 29], 235. 29 Vgl. Leimgruber, Stephan: Interreligiöses Lernen. Neuausgabe, Mün- 51 Vgl. ebd., 254f. chen: Kösel 2007. 52 Schambeck, Mirjam: Interreligiöse Kompetenz, Göttingen: 30 Wobei in den konkreten Unterrichtskonzeptionen unmittelbare Vandenhoeck&Ruprecht 2013, 124. Begegnungen mit Gläubigen der jeweils anderen Religion eine 53 Vgl. ebd., 124–134. erstaunlich geringe Rolle spielen (vgl. ebd., 156–168, 236–252). In 54 Ebd., 133. Leimgruber, Stephan: Feinde oder Freunde. Wie können Christen 55 Ebd., 127. Eine Kurzfassung findet sich auch in Schambeck, Mirjam: und Muslime miteinander umgehen, Kevelaer: Topos plus Verlagsge- Multi-Kulti? Kulturtheoretische, theologische und religionspädagogi- meinschaft 2008, 180 finden auch Kooperationsmöglichkeiten zwi- sche Überlegungen, in: Rahner, Johanna / Schambeck, Mirjam: schen dem Religionsunterricht verschiedener konfessionellen Aus- Zwischen Integration und Ausgrenzung. Migration, religiöse richtungen Erwähnung. Identität(en) und Bildung – theologisch reflektiert, Berlin: Lit 2011 (= 31 Vgl. Leimgruber 2007 [Anm. 29], 101–103. Die Betonung des Begeg- BamTF 13), 177–214, 190–197. nungslernens findet sich schon in Leimgruber, Stephan: Die gesell- 56 Vgl. Schambeck 2013 [Anm. 52], 129, 133. schaftliche und religionspädagogische Bedeutung interreligiösen Ler- 57 Vgl. ebd., 130, 180f, 201–205. nens, in: Renz, Andreas / Leimgruber, Stephan (Hg.): Lernprozess 58 Schambeck 2013 [Anm. 52], 178. Konkretion findet dieses Modell Christen Muslime. Gesellschaftliche Kontexte – Theologische Grund- im Lernarrangement zum Thema ‚Tod als große Frage‘ in Schambeck lagen – Begegnungsfelder, Münster u.a.: Lit 2002 (= Forum Religions- 2011 [Anm. 55], 208–210 bzw. anhand verschiedener Themenberei- pädagogik interkulturell 3), 5–16, 9. che im Dialog zwischen Christentum und Judentum, Islam, Hinduis- 32 Vgl. Leimgruber 2007 [Anm. 29], 97f. mus und Buddhismus in Schambeck 2013 [Anm. 52], 206–223. 33 Ebd., 98. Im Original kursiv gesetzt. 59 Vgl. Schambeck 2013 [Anm. 52], 181–183. 34 Vgl. ebd., 97f. 60 Vgl. ebd., 176–179. 35 Vgl. ebd., Kapitel 2.3, 82–90. 61 Vgl. ebd., 203–205. 36 Ebd., 84. 62 Vgl. ebd., 216. 37 Vgl. ebd., 85–89. 63 Willems, Joachim: Interkulturalität und Interreligiosität. Eine kon- 38 Vgl. ebd., 89f. struktivistische Perspektive, Nordhausen: Bautz 2008 (= Interkultu- 39 Vgl. Auernheimer, Georg: Einführung in die Interkulturelle Pädago- relle Bibliothek 126), 145; Willems, Joachim: Interreligiöse Kompe- gik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 107–113. tenz. Theoretische Grundlagen – Konzeptualisierungen – Unter- 40 Leimgruber 2007 [Anm. 29], 95. richtsmethoden, Wiesbaden: Springer 2011, 142 u.ö. 41 Vgl. ebd., 99. 64 Willems 2011 [Anm. 63], 142. 42 Vgl. ebd., 100f. Die verschiedenen Kompetenzen und die diesen zuge- 65 Willems, Joachim: Art. Interreligiöse Kompetenz, in: Das Wissen- ordneten Bereiche scheinen – auch von der grafischen Gestaltung her schaftlich-Religionspädagogische Lexikon, 2015, in: https://www. – auf den ersten Blick hierarchisch gleichrangig angeordnet. Erst in bibelwissenschaft.de/stichwort/100070 [abgerufen am 08.05.2015], den verbalen Erläuterungen finden sich in der Beschreibung zwischen 1.2.

18 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 66 Vgl. Willems 2011 [Anm. 63], 77. 80 Klieme u.a. 2007 [Anm. 78], 21. 67 Vgl. ebd., 165–169 bzw. Willems 2015 [Anm. 65], 2.1. 81 Vgl. Obst, Gabriele: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im 68 Vgl. Willems 2011 [Anm. 63], 203f; Willems 2015 [Anm. 65], 2.2. Religionsunterricht, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2008, 51. 69 Willems 2008 [Anm. 63], 145 u.ö.; Willems 2011 [Anm. 63], 78 u.ö. 82 Schweitzer, Friedrich: Bildungsstandards auch für Evangelische 70 Willems 2008 [Anm. 63], 147; Willems 2011 [Anm. 63], 79. Religion?, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 56/3 (2004) 71 Vgl. Willems 2011 [Anm. 63], 163–169. 236–241, 238. Im Original kursiv gesetzt. 72 Dies zeigt sich u.a. auch daran, dass sie in der Kurzfassung Willems 83 Vgl. allgemein Liessmann 2014 [Anm. 76], 45–60, v.a. 48–50 bzw. für 2015 [Anm. 65] keine Berücksichtigung finden. den Bereich religiösen Lernens Obst 2008 [Anm. 81], 50–53. 73 Vgl. ebd., 3. 84 Habringer-Hagleitner, Silvia: Lieben, was ist – Theologie für Kin- 74 Vgl. die im Anschluss an die Theorie Girards formulierten Forderun- der als Habitus. Ein spirituell-diakonisches Modell für das Zusam- gen zur Mobbing-Inter- bzw. Prävention: Bödefeld, Axel: „… und du menleben in Kindertagesstätten, in: Bucher, Anton A. / Schwarz, bist weg! Bullying in Schulklassen als Sündenbock-Mechanismus, Elisabeth E. (Hg.): „Darüber denkt man ja nicht von allein nach …“. Wien u.a.: Lit 2006 (= BMT 21), 265–268, 270. Kindertheologie als Theologie für Kinder, Stuttgart: Calwer 2013 (= 75 Schweitzer, Friedrich: „Guter Religionsunterricht“ – aus der Sicht JaBuKi 12), 68–80, 73 u.ö. der Fachdidaktik, in: Bizer, Christoph u.a. (Hg.): Was ist guter Religi- 85 Ebd., 74. onsunterricht, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2008 (= JRP 22), 86 Vgl. Schwager, Raymund: Erbsünde und Heilsdrama. Im Kontext 41–51, 51. von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik, Münster: Lit ²2004 76 Liessmann, Paul Konrad: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. (= BMT 4), 143–151. Eine Streitschrift, Wien: Zsolnay 2014, 48. 77 Vgl. Weinert, Franz E.: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen Autorinneninformation – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: Ders. (Hg.): Leistungs- Dr.in Karin Peter messungen in Schulen, Weinheim u.a.: Beltz 2001, 17–32, 27f. Institut für Praktische Theologie 78 Vgl. Klieme, Eckhard u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstan- Fachbereich Religionspädagogik und Katechetik dards. Expertise, hg. vom Bundesministerium für Bildung und For- Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien schung (BMBF), Berlin: Eigenverlag 2007, in: http://www.bmbf.de/ Schenkenstraße 8-10 pub/zur_entwicklung_nationaler_bildungsstandards. A-1010 Wien pdf#search=%22klieme%20bildungsstandards%20expertise%22 e-mail: [email protected] [abgerufen am 06.05.2015], v.a. 19–30. GND: (DE-588)1012437205 79 Weinert 2001 [Anm. 77], 27f.

ÖRF 23 (2015) • 11–19 19

Zekirija Sejdini

Grundlagen eines theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells islamischer Religionspädagogik und Religionsdidaktik im deutschsprachigen Kontext der autor Univ.-Prof. Mag. Dr. Zekirija Sejdini, Professor für die islamische Religionspädagogik und Leiter des Bereiches islamische Religionspädagogik der Uni- versität Innsbruck.

Abstract Beeinflusst durch die weltweiten politischen Ereignisse stellte sich in den letzten Jahren vermehrt die Frage nach der Eigenart islamischer Religionspädagogik im europäischen Kontext. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht, denn die wissenschaftli- che Auseinandersetzung mit den theologisch und religionspädagogisch relevanten islamischen Themen im europäischen Kontext befindet sich in ihrer frühen Entwicklungsphase. Ausgehend von dieser Tatsache soll dieser Beitrag in Anlehnung an das „Inns- brucker Modell der Religionspädagogik“ den möglichen Rahmen eines theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells der islamischen Religionspädagogik darstellen. Schlagworte: Islamische Religionspädagogik, Religionspädagogik, Islamische Theologie, Innsbruck

Bases of a theologically-sensitive and involved-related model of Islamic religious education theory and religious didactics in the German-speaking contex: Influenced by the global political events in recent years increasingly the question of the characteristic of Islamic religious educa- tion in European context arises. Answering this question is not easy, because the scientific exploration of the theological and religious education relevant Islamic themes in a European context is in its early stages of development. Based on this fact this article intends to set the possible scope of a theology sensitive and involved related model of Islamic Religious Education on the basis of the „Innsbrucker model of religious education“. Keywords: Islamic religious education, Religious education, Islamic theology, Innsbruck

1. Aktuelle Entwicklungen im Bereich der islami­ und Religionspädagogik ein wichtiger Grund für das Aus- schen Religionspädagogik bleiben einer islamischen Religionspädagogik europäischer Prägung gewesen ist. Auch wenn die muslimische Präsenz in Westeuropa Die Folgen der Abwesenheit islamischer Theologie und eine lange Geschichte hat und die Anzahl der in Westeuropa Religionspädagogik an den europäischen Universitäten las- lebenden MuslimInnen seit den 1960-Jahren des vergange- sen sich am besten anhand des ‚österreichischen Modells’ nen Jahrhunderts kontinuierlich gestiegen ist, haben sich im veranschaulichen. Denn obwohl in Österreich aufgrund der Bereich der islamischen Theologie und Religionspädagogik 1979 erfolgten Anerkennung der islamischen Glaubensge- keine nennenswerten Konzepte entwickelt, die unter meinschaft in Österreich (IGGiÖ)2 seit dem Schuljahr Berücksichtigung des neuen Kontextes – in diesem Fall des 1982/83 der islamische Religionsunterricht an öffentlichen europäischen – der klassischen islamischen Theologie und Schulen angeboten wird und seit 1998 auch eine außeruni- des gegenwärtigen Wissenschaftsparadigmas zur Weiterent- versitäre Ausbildung für islamische ReligionslehrerInnen wicklung der islamischen Religionspädagogik im europäi- vorhanden ist,3 sind keine wesentlichen wissenschaftlichen schen Kontext geführt hätten.1 Die Gründe des Ausbleibens Entwicklungen im Bereich der islamischen Theologie und solcher Konzepte sind vielschichtig. Dennoch kann behaup- Religionspädagogik zu verzeichnen.4 Im Gegenteil, die tet werden, dass das Fehlen universitärer Einrichtungen für österreichische Praxis wird trotz langer Tradition sowohl im Lehre und Forschung im Bereich der islamischen Theologie Bereich des islamischen Religionsunterrichtes als auch der

Zekirija Sejdini: Grundlagen eines theologiesensiblen und beteiligtenbezogenen Modells isla- mischer Religionspädagogik und Religionsdidaktik im deutschsprachigen Kontext • 21 ÖRF 23 (2015), 21–28 islamischen LehrerInnenausbildung nicht selten als ‚Nega- nach persönlicher Einstellung – entweder eine bloße Modi- tivbeispiel’ wahrgenommen.5 fikation der klassischen islamischen Lehrmeinungen oder Erst durch die Etablierung islamischer Studienrichtun- die Adaption der christlichen religionspädagogischen Kon- gen an österreichischen und deutschen Universitäten ab zeptionen ausreichen würde. 20066 werden erste Ansätze einer wissenschaftlichen Ausei- Damit wird hier weder einem Bruch mit der islami- nandersetzung mit theologisch-religionspädagogisch rele- schen Tradition noch einer Abkoppelung und Isolation von vanten Themen im europäischen Kontext sichtbar.7 Doch den Entwicklungen in der christlichen Religionspädagogik die wissenschaftliche Auseinandersetzung im theolo- das Wort geredet, was auch in Widerspruch zum Anliegen gisch-religionspädagogischen Bereich befindet sich zurzeit dieses Aufsatzes wäre, sondern eher die Unumgänglichkeit noch in einer Orientierungs- und Selbstvergewisserungs- einer Auseinandersetzung mit theologischen Inhalten unter- phase, denn die neuen universitären Studienrichtungen strichen, wenn die islamische Religionspädagogik mehr als haben neben den Anfangsschwierigkeiten auch mit zusätzli- eine Anwendungswissenschaft der islamischen Theologie chen islamspezifischen und situationsbedingten Herausfor- sein soll. Dabei handelt es sich bei diesem Prozess um etwas, derungen zu kämpfen. Dazu zählen unter anderem die was auch die christliche Religionspädagogik durchgemacht hohen Erwartungen der Gesellschaft und der politischen hat und teilweise noch durchmacht.12 Akteure im Hinblick auf Themen wie Integration und Dera- Die naive Vorstellung der Abwendbarkeit einer Grund- dikalisierung sowie auch der Mangel an wissenschaftlich satzdiskussion über islamische theologische Themen einer- qualifiziertem Personal im Bereich der islamischen Religi- seits und die zum Teil unzureichenden Kenntnisse der Ent- onspädagogik.8 wicklungsgeschichte der Religionspädagogik im deutsch- Neben den erwähnten organisatorischen, personellen sprachigen Raum anderseits führen nicht selten dazu, dass und gesellschaftspolitischen Hürden kommt der Osnabrü- unvereinbare gegensätzliche religionsdidaktische Stand- cker islamische Religionspädagoge Bülent Ucar in seiner punkte von ein und derselben Person vertreten werden, Analyse über den Zustand der islamischen Fachdidaktik in sodass eine Erörterung des diesbezüglichen Standpunktes Deutschland u.a. auch auf inhaltliche Unzulänglichkeiten zu unmöglich wird. sprechen. Zu diesen zählt er vor allem eine unzureichende So ist es zum Beispiel nicht leicht zu eruieren, welche innerislamische Diskussion, das Fehlen „seriöser Grundla- Richtung für die islamische Religionspädagogik und Religi- genforschung“9 im Bereich der islamischen Fachdidaktik onsdidaktik vorgeschlagen wird, wenn in derselben Publika- und die mangelnde Berücksichtigung der Lebensrealität der tion zu diesem Thema zunächst das Aufgabenfeld der isla- SchülerInnen.10 Der muslimische Religionspädagoge Harun mischen Religionsdidaktik als „Reflektion der zu unter- Behr bringt die inhaltliche Problematik auf den Punkt, wenn richtenden Inhalte und die Untersuchung deren Legitima- er sagt: tion, Relevanz, […]“13 definiert und die häufige Reduktion „Wir haben auch als Muslime mit Erziehungsproblemen bzw. „unrechte Verwechslung“14 der Didaktik mit der zu tun. Sie resultieren aus dem strukturellen Mangel an Methodik zurecht beklagt wird, im nächsten Schritt jedoch einer theologisch begründbaren und dennoch vernunfto- mit der Aussage: „Es darf nicht vergessen werden, dass rientierten Theorie islamischer Bildung und Erziehung, Didaktik bloß ein Mittel, eine Methodik zur Erschließung die pragmatisch gedacht wird.“11 von Religion ist“15 die Didaktik als bloßes Mittel und als Diese Aussagen deuten darauf hin, dass es bis zur Ent- Methodik dargestellt wird. Aussagen wie diese lassen erken- stehung von eigenständigen islamischen religionspädagogi- nen, dass der Prozess der Entwicklung einer islamischen schen Konzeptionen im europäischen Kontext noch ein wei- Religionspädagogik und Religionsdidaktik im europäischen ter Weg ist und eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Kontext sich noch in den frühen Anfängen befindet und islamischen Themen bevorsteht. eine inhaltliche Auseinandersetzung noch bevorsteht. Die Forderung nach einer weitgehenden innerislami- Auf diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag schen wissenschaftlichen Diskussion ist deshalb unverzicht- ausgehend von den aktuellen Entwicklungen im Bereich der bar, weil die Mehrzahl der aktuellen Publikationen im islamischen Religionspädagogik und in Anlehnung an die Bereich der islamischen Religionspädagogik den Eindruck islamische Anthropologie sowie an das ‚Innsbrucker Modell erweckt, als könne ohne grundlegende und tiefgreifende der ReligionslehrerInnenausbildung‘16 (hier auch ‚Innsbru- Auseinandersetzungen über zentrale theologische Themen cker Modell der Religionsdidaktik’ genannt) Impulse zur wie Offenbarungsverständnis, die Bedeutung des Korans, Entwicklung von „theologisch begründbaren und dennoch das islamische Menschenbild usw. eine islamische Religions- vernunftorientierten Theorien islamischer Bildung und pädagogik im europäischen Kontext entstehen, für die – je Erziehung“17 im europäischen Kontext liefern.18

22 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 2. Grundzüge einer islamischen theologischen (Adam) ihnen ihre Namen mitgeteilt hatte, sagte (Gott): Anthropologie »Sagte ich euch nicht, Wahrlich >Ich alleine kenne die verborgene Wirklichkeit der Himmel und der Erde und Die theologische Anthropologie liefert eine unabding- weiß alles, was ihr offenlegt, und alles was ihr verbergen bare Grundlage für die Religionspädagogik und Religionsdi- möchtetMuhammad Assad Mensch für die Verwaltung und den angemessenen Umgang bezeichnet das im Koranvers angesprochene „Wissen aller mit seiner Umwelt von Gott mit den verschiedensten Kom- Namen“ die Fähigkeit des Menschen zur „logischen Begriffs- petenzen ausgestattet worden, zu denen insbesondere das bestimmung und somit zum begrifflichen Denken.“31 Auch Denkvermögen26 gehört. Als eine weitere wichtige mensch- Kenneth Cragg sieht in der erwähnten koranischen Darstel- liche Eigenschaft nennt der Koran die Willensfreiheit27, die lung Anzeichen der Überlegenheit des Menschen gegenüber den Menschen zum Eigenverantwortlichen seiner Taten den Engeln, da nach Cragg die Namensgebung eine klassi- macht. sche semitische Darstellung für Souveränität ist.32 Als Herzstück der islamischen Anthropologie mit religi- Betrachtet man nun die koranischen Aussagen in einem onspädagogischer Relevanz eignen sich die Koranverse der breiteren Kontext, ergeben sich u.a. folgende Grundzüge zweiten Sure (2:30-34), in der es um die Erschaffung von einer islamisch-theologischen Anthropologie, die unser reli- Adam und das Gespräch Gottes mit den Engeln über sein gionspädagogisches und religionsdidaktisches Handeln prä- Vorhaben geht.28 Dort heißt es: gen können: „30. UND SIEHE! Dein Erhalter sagte zu den Engeln: • Die besondere Stellung des Menschen innerhalb »Seht, ich bin dabei, auf Erden einen einzusetzen, der sie der Schöpfung ist eine Würdigung des Menschen, erben wird.« Sie sagten: »Willst Du auf ihr einen solchen die aber auch mit einer großen Verantwortung einsetzen, der drauf Verderbnis verbreiten und Blut ver- gegenüber Gott verbunden ist, da die Schöpfung gießen wird – während wir es sind, die Deinen grenzlo- dem Menschen anvertraut worden ist und er für sen Ruhm lobpreisen und Dich preisen und Deinen seinen Umgang mit der Schöpfung im Jenseits zur Namen heiligen?« (Gott) antwortete: »Wahrlich, ich Rechenschaft gezogen wird. So bringt es Cragg auf weiß, was ihr nicht wißt.« 31. Und Er lehrte die Namen den Punkt, wenn er in diesem Zusammenhang, aller Dinge; dann brachte er sie in die Kenntnis der Engel ausgehend vom Koran, die Herrschaft des Men- und sagte: »Nennt mir die Namen dieser (Dinge), wenn, schen als „Privileg“, „Vertrauen“ und „Geschenk“ was ihr sagt, wahr ist.« 32. Sie erwiderten: »Grenzenlos und nicht als „Recht“, „Besitz“ oder „Prärogativ“ bist Du in Deinem Ruhm! Kein Wissen haben wir außer bezeichnet.33 dem, das Du uns gelehrt hast. Wahrlich, Du allein bist • Betrachtet man den Islam in seiner Gesamtheit allwissend, wahrhaft weise.« 33. Er sagte: »O Adam teile und das koranische Menschenbild im Besonderen, Ihnen die Namen dieser (Dinge) mit.« Und sobald

ÖRF 23 (2015) • 21–28 23 wird deutlich, dass es sich beim Islam nicht um 3. Bildung als Erkundung der Lebensmöglich­ eine Gesetzesreligion handelt, der es um die Darle- keiten auf die Zukunft hin gung der Gebote und Verbote geht, sondern um einen Weg, auf islamische Weise „Mensch zu 3. 1 Die Bedeutung religiöser Bildung sein.“34 Smith drückt diese in Vergessenheit gerate- Entgegen dem aktuellen, vielfach verengenden Standar- nen wesentlichen Punkte aller monotheistischen disierungsdenken kann der Bildungsbegriff den Horizont Religionen folgendermaßen aus: „It is a mistake to erweitern und den Menschen – theologisch sensibel – in sei- think of the Islamic as one of the several ways of ner ganzheitlichen und offenen Bestimmung in den Blick being religious. Rather, for fourteen centuries the nehmen. Islamic has been one of the salient ways of being Ausgehend vom koranischen Menschenbild ist der human.“35 Mensch in seiner Natur mit der Fähigkeit ausgestattet, sich • Ein weiteres anthropologisches Merkmal, das Aus- immer weiter zu bilden. Um der Verantwortung des Statt- wirkungen auf das Bildungs- und Lernverständnis halters gerecht zu werden, muss der Mensch sich durch Bil- hat, besteht in der Überzeugung, dass Muslime wie dung ständig erneuern, um damit die Beziehung zur alle anderen Menschen ihre Religion mitgestalten Umwelt, aber auch zum Schöpfer aufrechterhalten zu kön- und keine bloßen passiven Empfänger sind, auch nen und sich selbst positionieren zu können. Es gibt einige wenn sie in einen bestimmten Kontext „hineinge- Hinweise im Koran41, die auf die Notwendigkeit einer konti- 36 boren“ sind. Diese Annahme öffnet die Möglich- nuierlichen Bildung des Menschen verweisen und diese Ent- keiten einer kontinuierlichen Neuinterpretation wicklung als gottgewollt darlegen. der Religion und die Herstellung einer Beziehung Doch nicht nur das Dass der Bildung ist entscheidend, zur Lebenswirklichkeit, die nicht selten fehlt. sondern auch das Wie. Es macht einen Unterschied aus, ob Zusammenfassend lassen sich ausgehend von der anth- wir – in einem materialen Verständnis – Bildung als einen ropologischen Bestimmung zwei Aspekte von Religion/ eindimensionalen Vorgang verstehen, der ausschließlich auf Glaube hervorheben, die unmittelbar anschlussfähig an den Inhalte bezogen ist, oder ob Bildung mehrdimensional und Bildungsgedanken und damit an die Religionspädagogik prozessartig fortschreitend gedacht wird. Wir gehen anders und Religionsdidaktik sind: mit Religion um, wenn wir religiöses Lernen und religiöse • Entgegen der häufigen Wahrnehmung der Reli- Bildung prozess-, beteiligten- und identitätsbezogen sehen gion, speziell im islamischen Kontext, als Regel- als wenn wir sie von einem (unbeteiligten) Beobachter- werk zur Festlegung von Geboten und Verboten, standpunkt aus in den Blick nehmen. erscheint aus anthropologischer Perspektive die Die Stärke des ‚Innsbrucker Modells’ liegt im Prozess- Wahrnehmung der Religion als „symbolische und bewusstsein und in der Mehrperspektivität. Aus diesem rituelle Reise des Menschen“37 um „seinen Existen- Grund wurde es ausgewählt um zu ergründen, welche zort zu finden“38 eine dem Bildungsgedanken Aspekte auf eine zu entstehende islamische Religionspäda- angemessenere Sichtweise. gogik und Religionsdidaktik als theologiesensible Theorien • Dem entsprechend kann es bei der Interpretation religiöser Bildung angewandt werden können. einer religiösen Quelle bzw. einer religiösen Vor- 42 schrift nicht nur um die eigene Genese und die 3.2 Das „Innsbrucker Modell der Religionsdidaktik“ Rekonstruktion des eigenen historischen Verständ- Das Innsbrucker Modell, das aus den Ansätzen der nisses gehen, sondern die Interpretation muss Themenzentrierten Interaktion (TZI) und der Kommunika- „[…]in ihrer praktischen Auslegung, auf eine tiven Theologie entstanden ist43, soll als Anregung zur Ent- gegenwärtige Situation und konkrete Subjekte“39 wicklung eigener islamischer religionspädagogischer Kon- zielen. Eine zusätzliche Verschärfung des Problems zepte verstanden werden. Denn, wie Möller und Tschirch sieht Peukert dann: „[…] wenn es darum geht, eine zutreffend formulieren „[…] kann es kein allgemeingültiges religiöse Tradition in Erziehungs- und Bildungs- und normatives Konzept religiöser Erziehung geben.“44 prozessen der nächsten Generation zu vermitteln. Im Folgenden sollen die Grundmerkmale des Modells Denn die nächste Generation steht immer vor der anhand der Stichwörter mehrdimensional, beteiligtenbezo- Frage, ob diese Tradition ihr selbst auf Zukunft hin gen/identitätsbezogen, erfahrungsbezogen, theologiesensi- Lebensmöglichkeiten eröffnet oder verschließt.“40 bel vorgestellt werden: Im Innsbrucker Modell der Religionsdidaktik werden vier Perspektiven unterschieden (Blickrichtungen), die im

24 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Hinblick auf religiöse Bildungsprozesse beachtet werden Ebenen zu Quellen (Orten) theologisch-wissenschaftlicher sollten. Dabei handelt es sich um die subjektiv-biografische Erkenntnis. Perspektive, die intersubjektiv-kommunikative Perspektive, Das Entscheidende der wissenschaftlichen Erkenntnis die inhaltlich-sachliche Perspektive und die Globe-/Kon- liegt aber in der Verknüpfung dieser Quellen. Dies darf aber textperspektive. nicht methodisch-pragmatisch geschehen. Vielmehr ist eine Das Forschungsprogramm der Kommunikativen Theo- Haltung vonnöten, die sich aus theologischen und anthro- logie kann bei der Weiterentwicklung des Innsbrucker pologischen Grundüberzeugungen speist wie es das Beispiel Modells die Idee der Ebenen theologischer Lehre und For- des Statthalterseins veranschaulicht hat. schung und die theologische Grundperspektive beisteuern: Es zeigt sich: Religion/Tradition ist kein festes und In der Kommunikativen Theologie wird zwischen der unveränderbares System von Glaubensaussagen, die man in unmittelbaren Beteiligungsebene, der Erfahrungs- und Deu- Form einer Lehre weitergibt, sondern ein lebendiges, sich tungsebene und der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion ständig wandelndes Gefüge. Gleichzeitig darf man sich die unterschieden.45 Anliegen ist die Vernetzung dieser Ebenen ‚Eckpunkte‘ des Innsbrucker Modells, die in den ‚Dimensio- und Perspektiven in der religionsdidaktischen Forschung nen’ der Kommunikativen Theologie sachlich wiederkehren, und Lehre.46 und die Ebenen Kommunikativer Theologie nicht isoliert Auf der unmittelbaren Beteiligungsebene treten Men- vorstellen. Zu theologisch sensibler religionspädagogischer schen unmittelbar miteinander in Kontakt. Lebendige Pro- und theologischer Erkenntnis gelangt man durch die Ver- zesse ereignen sich, an denen zunächst einzelne Personen als netzung der Ebenen und Dimensionen (Perspektiven).48 zu bildende Subjekte beteiligt sind. Diese leben in religiösen Mit Blick auf eine islamische Religionspädagogik und Traditionen und vollziehen diese. Dabei bleiben die einzel- Religionsdidaktik kann man mehrere Bezüge zusammenfas- nen Subjekte nicht solipsistisch für sich. Gerade religiöse sen, die im Innsbrucker Modell, aber auch in der Religions- Kommunikation geschieht in Interaktion und Kommunika- pädagogik grundsätzlich prägend sind: tion mit anderen Menschen. Gleichzeitig sind diese Vollzüge • Subjektbezug (der Bezug zu den Subjekten als ein- in einem bestimmten historischen, gesellschaftlichen, religi- zelnen Personen im Bildungsprozess mit ihren ösen, politischen Kontext und in bestimmten Rahmenbe- dynamischen Lebensgeschichten), dingungen situiert. • Beziehungsbezug (der Bezug zu den Anderen, der Das aktuelle Involviert- und Beteiligtsein im Prozess ist Gruppe, der Gemeinschaft); temporär und flüchtig. Es wird erst bewusst, greifbar und • Situationsbezug (Der Mensch soll in der Lage sein, reflektierbar durch symbolische Erfahrungsbildung. Diese seine gegenwärtige Lebenssituation und seine aktu- integriert das Erlebte in den je eigenen Lebenszusammen- ellen Erfahrungen besser verstehen und verarbei- hang und geht in Austausch mit den Erfahrungen und Vor- ten zu können, um sich dadurch auf die zukünftige stellungen anderer Personen sowie mit dem gesellschaft- Lebenssituation besser vorbereiten zu können); lich-politisch-religiösen Kontext. Die Kommunikative Theo- • Traditionsbezug (eigene religiöse Tradition und logie spricht von Erfahrungs- und Deutungsebene. Dabei andere religiöse Traditionen). wird auf die eigene religiöse Tradition und auf die anderer In dieser seiner Mehrperspektivität dient das Innsbru- zurückgegriffen. Diese Tradition stellt ihrerseits wiederum cker Modell nicht nur der Gestaltung von Bildungsprozes- Erfahrungsbildung dar. Das bedeutet: Ein hermeneutischer sen, sondern auch der Standortbestimmung und Rechen- Prozess um Religion und Tradition ist in Gang gesetzt. In schaftslegung über die Qualität von religionsdidaktischen den didaktischen Handlungsfeldern geht es wesentlich um Konzepten: Schwerpunktsetzungen, Gewichtungen und Ein- diesen hermeneutischen Prozess entlang der eigenen Erfah- seitigkeiten entlang der subjektiven, kommunikativ-interak- rungen, der Gruppenerfahrungen, Kontexterfahrungen und tiven, kontextuellen und Traditionsperspektive werden der Erfahrungen mit den Traditionen. Dieser Prozess wirkt sichtbar, können wahrgenommen und verändert werden. themengenerierend. Vor allem wird deutlich: Es ist nicht der Traditionsbezug In Lehre und Forschung bewegen wir uns auf der drit- allein, der die Qualität ausmacht, es geht vielmehr um eine ten Ebene kommunikativ-theologischer Lehre und For- Vernetzung der einzelnen Dimensionen und Ebenen und schung, der wissenschaftlichen Reflexionsebene47: Diese somit um eine theologisch-religionspädagogische und reli- zeichnet sich durch methodische Geleitetheit und wissen- gionsdidaktische Grundhaltung. schaftliche Reflexion aus. Hier werden die einzelnen Pers- Um das Innsbrucker Modell auch für die islamischen pektiven von Biografie, Sozialität, Kontextualität und religi- Anliegen erproben zu können, ist eine weiterführende Refle- öser Tradition bzw. theologische Theorie quer durch alle xion erforderlich. Im Folgenden sollen die Vor- und Nach- teile kurz umrissen werden.

ÖRF 23 (2015) • 21–28 25 3.3 Vor- und Nachteile des Innsbrucker Modells für die isla- mensionalität, Interaktionalität, Prozessorientierung, Kon- mische Religionspädagogik/Religionsdidaktik tingenzbewusstsein, Pluralitätsfähigkeit, Kontextbezug und Das Modell ist gekennzeichnet durch hohe Flexibilität die Berücksichtigung der Lebensrealität als unverzichtbare und maximale Anpassungsfähigkeit an aktuelle Anforde- universelle Komponenten einer ‚europäischen Religionspäd- rungen, seien es die einzelnen Subjekte, die Dynamik der agogik’, unabhängig von der religiösen oder konfessionellen Interaktion und Kommunikation oder die Kontexte und Eigenart der jeweiligen Religion bzw. Konfession. Traditionen. Durch diese Prozessorientierung können Phä- Wie jedoch die einzelnen Aspekte innerhalb bestimm- nomene wie – in unserem Fall – Bildung besser nachvollzo- ter theologischer und religionspädagogischer Themen gen werden. Mehrdimensionalität berücksichtigt die unter- behandelt werden, bleibt den jeweiligen Religionen überlas- schiedlichen Faktoren der Aneignung und lässt religi- sen, da in diesem Kontext die Theologie der jeweiligen Reli- ös-theologische Themen ins Herz (nicht nur in den Kopf) gion eine entscheidende Rolle spielt. Dies bedeutet auch, gelangen. Sowohl einzelne Personen wie auch die Gruppe dass die essenzielle Arbeit einer zu entstehenden islami- werden in ihrem Selbststand gefördert. Im Kontext der Pro- schen Religionspädagogik im europäischen Kontext in der zessorientierung muss noch ein besonderes Anliegen des Inkorporation der erwähnten Aspekte besteht. Die Inkorpo- Innsbrucker Modells erwähnt werden: die Wahrnehmung ration der erwähnten Aspekte setzt aber eine bestimmte der ambivalenten und ‚dunklen’ Seiten von Erscheinungen Haltung voraus, wenn es um die universale Gültigkeit religi- und Prozessen. öser Aussagen bzw. deren absoluten Wahrheitsanspruch Als Nachteile können genannt werden: Die Arbeit nach geht. Um in diesem schwierigen Terrain voranzukommen, dem Innsbrucker Modell erfordert viel Zeit und Gelassen- bedarf es – wie in fast allen anderen Theologien – insbeson- heit. Es können keine schnellen Lösungen angezielt werden. dere in der islamischen Theologie eines Paradigmenwech- Die Berücksichtigung der einzelnen Personen und der sels, speziell in der Haltung gegenüber der Religionspädago- Gruppe in Bildungsprozessen macht die Bildungsarbeit gik. Ein Thema, dem wir den nächsten und letzten Teil die- komplizierter. Vieles muss mit der Gruppe erst ausgehandelt ses Aufsatzes widmen werden. werden. Ein weiterer Punkt, von dem fraglich ist, ob es ein Nachteil ist: Von Seiten der LeiterInnen von Bildungsprozes- 4. Paradigmenwechsel in der islamischen Theologie sen sind Prozess-, Konflikt- und theologische Kompetenzen Subjektbezug, Beziehungsbezug, Situationsbezug, Tra- in einem offenen Sinn erfordert. Das bedeutet durch hohe ditionsbezug und Erfahrungsbezug sind unabdingbare Ausbildungsqualität in der LehrerInnenbildung: Verschrän- Aspekte und Konstanten einer entstehenden islamischen kung von theologischen, didaktischen und pädagogischen Religionspädagogik im europäischen Kontext. Dabei dürfen Kompetenzen. Dies betrifft speziell Kompetenzen, mit diese Aspekte nicht nur formal verstanden werden, sondern Gruppen umzugehen, also Leitungskompetenzen. als konstitutive Elemente einer islamischen Religionspäda- Aus islamischer Perspektive betrachtet, kann in diesem gogik. Um diesen Aspekten eine grundlegende Bedeutung Zusammenhang folgendes gesagt werden: Wie zuvor zu sichern bedarf es, besonders in der jetzigen Situation, wie erwähnt, kann es kein für alle verbindliches Konzept bzw. erwähnt, eines Paradigmenwandels in der islamischen Modell der Religionspädagogik bzw. Religionsdidaktik Theologie zur Konstruktion der notwendigen und unab- geben. Dies gilt sowohl für die inter- als auch intrakonfessi- dingbaren Wechselwirkung mit der islamischen Religions- onelle Perspektive. Dennoch gibt es einzelne Aspekte, die pädagogik. Denn es ist unumstritten, dass neben den Erzie- unabhängig von ihrem Entstehungskontext und aufgrund hungswissenschaften die Theologie der jeweiligen Religion ihres universellen Charakters, unter Beibehaltung der bzw. Glaubensgemeinschaft die Bezugswissenschaft der inhaltlichen Authentizität und Autonomie der jeweiligen Religionspädagogik darstellt.49 Religion oder Konfession, in verschiedene religionspädago- In Anbetracht der prekären Lage der ‚islamischen Welt’ gische Konzepte einfließen können. Diese gegenseitige und der ‚theologischen Ohnmacht’ gegenüber gewaltför- Wechselwirkung tritt speziell dann auf, wenn religionspäda- dernden Tendenzen innerhalb der islamischen Theologie gogische Konzepte auf ähnlichen Grundideen aufbauen, im und der Frage „[…] wie die heranwachsende Generation selben Kontext operieren und somit auch vor ähnlichen durch die schulische (Aus-) Bildung auf die sich abzeichnen- Herausforderungen stehen, wie es zum Beispiel bei den den Veränderungen in der Welt […] so vorbereitet werden monotheistischen Religionen im europäischen Kontext der kann, dass sie zu deren verantwortlicher Mitgestaltung fähig Fall ist. ist […]“50, ist auch der islamische Religionsunterricht her- Aus diesem Grund erscheinen – zumindest wenn man ausgefordert, in diesem Zusammenhang seinen Beitrag zu vom europäischen Kontext ausgeht – Aspekte wie Mehrdi- leisten.

26 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Die Aufgabe, aus eigener Tradition adäquate, im Religi- 2 Vgl. Heine, Susanne / Lohlker, Rüdiger / Potz, Richard (Hg.): Mus- onsunterricht verwendbare Antworten zu finden kann nur lime in Österreich. Geschichte, Lebenswelt, Religion. Grundlagen für den Dialog, Innsbruck / Wien: Tyrolia-Verlag 2012, 55–64. durch ein „paritätisches Verhältnis des Wechselseitigen-von- 3 Vgl. Khorchide, Mouhanad: Der islamische Religionsunterricht zwi- 51 einander-Lernens“ zwischen der islamischen Theologie schen Integration und Parallelgesellschaft. Einstellungen der islami- und Religionspädagogik entstehen. Daher ist – aus gegen- schen ReligionslehrerInnen an öffentlichen Schulen, Wiesbaden: VS wärtiger Perspektive betrachtet – ein Paradigmenwandel in Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2009, der islamischen Theologie, wie bereits erwähnt, unabding- 43–49. bar. Denn eine Theologie, die sich „als eine auf ewigen 4 Vgl. Mohr, Irka-Christin: Islamischer Religionsunterricht in Europa. Lehrtexte als Instrumente muslimischer Selbstverortung im Vergleich, Wahrheiten gegründete und damit zeitlichen und kontextu- Bielefeld: Transcript 2006, 143–196. ellen Zufälligkeiten enthobenen Spekulation, für deren Ein- 5 Vgl. Mohr, Irka-Christin / Kiefer, Michael (Hg.): Islamunterricht - 52 sichten universale Gültigkeit beansprucht wird, versteht“ , islamischer Religionsunterricht - Islamkunde. Viele Titel - ein Fach?, und ihren Praxisbezug darin sieht, „theoretisch abgesicherte Bielefeld: Transcript 2009, 20. Einsichten zu Verfügung zu stellen“53, kann nur zur Indokt- 6 Vgl. Aslan, Ednan: Situation und Strömungen der islamischen Reli- gionspädagogik im deutschsprachigen Raum, in: Theo-Web. Zeit- rination und Unmündigkeit führen. schrift für Religionspädagogik 11/2 (2012) 10–18; Özdil, Ali-Özgür: Dies impliziert aber keinen Bruch mit den klassischen Islamische Theologie und Religionspädagogik in Europa, Stuttgart: islamischen Themen und auch keine Degradierung dieser Kohlhammer 2011. „[…] zum Müll einer erledigten Geschichte“54, sondern eine 7 Vgl. Nipkow, Karl Ernst: Grundlagen einer Religionsdidaktik aus Vergegenwärtigung der Themen im eigenen Kontext, um die christlicher Sicht, in: Kaddor, Lamya (Hg.): Islamische Erziehungs- Inhalte mit Leben zu füllen und in Beziehung mit Lebens- und Bildungslehre, Berlin / Münster: Lit 2008, 27–48. 8 Vgl. Aslan, Ednan: „Wir erwarten europaweit Impulse“. Die Stimme wirklichkeit zu bringen. In diesem Prozess „bleibt die Religi- eines Hochschullehrers, in: Behr, Harun / Rohe, Mathias / Schmid, onspädagogik bzw. Religionsdidaktik jedoch keineswegs Hansjörg (Hg.): „Den Koran zu lesen genügt nicht!“. Fachliches Profil bloße Rezipientin der in den anderen theologischen Diszip- und realer Kontext für ein neues Berufsfeld; auf dem Weg zum islami- linen initiierten theologischen Neu- und Weiterentwicklun- schen Religionsunterricht, Berlin / Münster: Lit 2008, 63–74, 74. gen“ 55, sondern „sie gibt ihrerseits vielmehr auch weiterfüh- 9 Ucar, Bülent: Synopse für das Fach „Islamunterricht“ in der Grund- schule: Zwischen didaktischem Profil und inhaltlicher Gestaltung, in: rende Impulse in die übrige Theologie hinein“56. Kiefer, Michael / Gottwald, Eckart / Ucar, Bülent (Hg.): Auf dem Nur durch ein auf Anerkennung und auf Wechselseiti- Weg zum islamischen Religionsunterricht. Sachstand und Perspekti- ges-voneinander-Lernen basierendes Verhältnis zwischen ven in Nordrhein-Westfalen, Berlin / Münster: Lit 2008, 121–140, Theologie und Religionspädagogik bzw. Religionsdidaktik 121. können auch religionspädagogische und religionsdidakti- 10 Vgl. ebd. sche Konzepte und Konzeptionen entstehen, die den gläubi- 11 Behr, Harry Harun: Bildungstheoretisches Nachdenken als Grund- lage für eine islamische Religionsdidaktik, in: Kaddor, Lamya (Hg.): gen MuslimInnen auch heutzutage in ihren jeweiligen Kon- Islamische Erziehungs- und Bildungslehre, Berlin / Münster: Lit 2008, texten die Möglichkeit eröffnen, auf islamische Weise 49–65, 49. Mensch zu werden und somit ihren Beitrag im europäischen 12 Vgl. Lachmann, Rainer: Geschichte der Religionspädagogik bis Kontext zu leisten. Anfang des 20. Jahrhunderts- didaktische Schlaglichter, in: Rothgan- gel, Martin / Adam, Gottfried / Lachmann, Rainer (Hg.): Religions- Anmerkungen pädagogisches Kompendium, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 72011, 53–72. 1 Die Betonung des europäischen Kontextes gründet auf der Annahme, 13 Dafir, Khalid: Islamische Religionsdidaktik zwischen Selbstverwirk- dass genuine Religionspädagogik nur durch Berücksichtigung der lichung und Transferverständnis, Hamburg: Kovač 2013, 13. eigenen Lebenswirklichkeit entsteht und aus diesem Grund die in 14 Ebd., 34 andern Kontexten und Umgebungen entstandenen religionspädagogi- 15 Ebd., 17. schen Konzeptionen nicht übertragen werden können, da sie teilweise 16 Vgl. dazu: Scharer, Matthias: Religion unterrichten lernen: Das einem ganz anderem Verständnis von Religionspädagogik entstam- Innsbrucker Modell, in: Bensberger Protokolle: Kompetenz für die men. Lamya Kaddor drückt dies folgendermaßen aus: „Das türkische, Praxis? Innovative Modelle der Religionslehreraus- und –fortbildung arabische, oder indonesische Verständnis von ‚Religion und Pädago- 101 (2000) 55–68; Scharer, Matthias: „Lebendigen Lernprozessen gik‘ ist in der Regel ein völlig anderes als das deutsch-europäische trauen, Kompetenzen fördern.“ Das ‚Innsbrucker Modell‘ der Religi- Verständnis von Religionspädagogik“. Vgl. Kaddor, Lamya: „Das onslehrerInnenausbildung unter der Herausforderung des Kompe- Wichtigste im Islam ist…“. Vorstellungen muslimischer Jugendlicher tenz- und Standarddiskurses in der Religionsdidaktik, in: Österreichi- von ihrer Religion und die Herausforderungen für die islamische Reli- sches Religionspädagogisches Forum 21 (2013) 63–69, 63. Vgl. auch gionspädagogik in Deutschland, in: Behr, Harry Harun u.a. (Hg.): den Beitrag „Religiöse Unterschiedlichkeit als Potenzial – Innsbrucker Was soll ich hier. Lebensorientierung muslimischer Schülerinnen und Interreligiöse Religionspädagogik und Religionsdidaktik“ von Mar- Schüler als Herausforderung für den islamischen Religionsunterricht, tina Kraml und Zekirija Sejdini in diesem Heft. Münster: Lit 2009, 37–53, 39–40. 17 Behr 2008 [Anm. 11], 49.

ÖRF 23 (2015) • 21–28 27 18 Es gibt zwei ausschlaggebende Gründe, warum das Innsbrucker 37 Gruber, Franz: Das entzauberte Geschöpf. Konturen des christlichen Modell in diesem Beitrag als Inspirationsquelle herangezogen wird: Menschenbildes, Regensburg: F. Pustet 2003, 31. Zunächst liegt es daran, dass durch die Etablierung der islamischen 38 Ebd. Religionspädagogik an der Universität Innsbruck eine sehr intensive 39 Peukert, Helmut: Erziehungswissenschaft-Religionswissen- Zusammenarbeit mit der Katholischen Religionspädagogik entstan- schaft-Theologie-Religionspädagogik Eine spannungsgeladene Kons- den ist, die eine nähere Auseinandersetzung mit dem Innsbrucker tellation unter den Herausforderungen einer geschichtlich neuartigen Modell mit sich gebracht hat. Noch wichtiger jedoch ist die inhaltliche Situation, in: Gross, Engelbert (Hg.): Erziehungswissenschaft, Reli- Ausrichtung des Innsbrucker Modells, seine Subjekt- und Kontextbe- gion und Religionspädagogik, Münster: Lit 2004, 51–93, 83. zogenheit. Sein Wahrheitsverständnis und sein kommunikativ-theo- 40 Ebd. logischer Ansatz sind universelle Aspekte, die sich auch auf 41 Vgl. Sure 39,9; 21,7; außerchristliche Kontexte übertragen lassen. 42 Vgl. unter dem Titel „Innsbrucker Modell der ReligionslehrerInnen- 19 Wielandt, Rotraud: Der Mensch und seine Stellung in der Schöp- ausbildung“: Scharer 2013 [Anm. 16], 63–69. fung. Zum Grundverständnis islamischer Anthropologie, in: Bsteh, 43 Schneider-Landolf, Mina / Spielmann, Jochen / Zitterbarth, Andreas / Hagemann, Ludwig (Hg.): Der Islam als Anfrage an christ- Walter (Hg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI), Göttin- liche Theologie und Philosophie. [Christentum in der Begegnung] ; gen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009; Forschungskreis Kommuni- Referate - Anfragen - Diskussionen, Mödling: Verl. St. Gabriel 1994, kative Theologie: Kommunikative Theologie. Selbstvergewisserung 97–105, 97. unserer Kultur des Theologietreibens, Wien-Berlin: Lit 2006 (= Kom- 20 Interessant in diesem Zusammenhang ist die Auffassung des türki- munikative Theologie – interdisziplinär / Communicative Theology – schen Professors für Koranhermeneutik Ismail Cerrahugolu, der in Interdisziplinary Studies 1/1); Hilberath, Bernd Jochen / Scharer, seinem Aufsatz über die Erschaffungsszenen im Koran die Meinung Matthias: Kommunikative Theologie. Grundlagen – Erfahrungen – vertritt, dass die koranischen Erzählungen, zu denen auch die Klärungen, Ostfildern: Schwabenverlag 2012 (= Kommunikative Erschaffung des Menschen gehört, eigentlich die Vervollkommnung Theologie 15). der menschlichen Ethik anzielen und nicht der Darstellung eines his- 44 Möller, Rainer / Tschirch, Reinmar: Ein religionspädagogisches torischen Ereignisses dienen. Vgl. Cerrahoglu, Ismail: Kur`anda Konzept entwickeln, in: Möller, Rainer (Hg.): Arbeitsbuch Religi- insanin yaratilis sahnesinin düsündüdüdükleri, in: Ankara Üniver- onspädagogik für ErzieherInnen, Stuttgart: Kohlhammer 42009, 111– sitesi Ilahiyat Fakultesi Dergisi 20 (1972) 85–95, 86. 147, 115. 21 Vgl. Sure 32,7. 45 Forschungskreis Kommunikative Theologie 2006 [Anm. 43], 22 Vgl. Sure 32,9. 74–86. 23 Vgl. Sure 17,70. 46 Ebd., 86–93. 24 Vgl. Sure 2,30. 47 Ebd., 80–87. 25 Vgl. Sure 20,55. 48 Ebd., 86–92. 26 Vgl. Sure 39,9. 49 Rothgangl, Martin: Was ist Religionspädagogik? Eine wissen- 27 Vgl. Sure 6,169. schaftstheoretische Orientierung, in: Rothgangel, Martin / Adam, 28 Mehr zum Thema islamische Anthropologie: Vgl. Hajatpour, Reza: Gottfried / Lachmann, Rainer (Hg.): Religionspädagogisches Kom- Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in pendium, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 72011, 17–34, 29. der islamischen Existenzphilosophie, Freiburg / München: Alber 2013 50 Mette, Norbert / Schweitzer, Friedrich: Neuere Religionsdidaktik (= Welten der Philosophie 10); Renz, Andreas: Der Mensch unter im Überblick, in: Bizer, Christoph (Hg.): Religionsdidaktik, Neukir- dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild chen-Vluyn: Neukirchener Verl. 2002, 21–43, 36. des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie, Würzburg: 51 Ebd., 38. Ergon 2002 (= Christentum und Islam. Anthropologische Grundlagen 52 Ebd., 37. und Entwicklungen 1); Wielandt 1994 [Anm. 19]; Bouman, Johan: 53 Ebd., 38. Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropo- 54 Mette, Norbert / Schweitzer, Friedrich: Neuere Religionsdidaktik logie anhand des Beispiels Allah und Muhammad, Darmstadt: Wis- im Überblick, in: Bizer, Christoph (Hg.): Religionsdidaktik, Neukir- senschaftliche Buchgesellschaft 21989; HABĀBĪ, MUHAMMAD chen-Vluyn: Neukirchener Verl. 2002. 'AZĪZ AL-: Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen 55 Ebd., 39. Anthropologie, Freiburg im Breisgau: Herder 12010. 56 Ebd. 29 Übersetzung von Vgl. Asad, Muhammad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos-Verl. 22011. Autoreninformation 30 Vgl. Sure 17, 70. Univ.-Prof. Mag. Dr. Zekirija Sejdini 31 Vgl. Asad, Muhammad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Universität Innsbruck Kommentar, Ostfildern: Patmos-Verl. 22011, 34–35. Karl-Rahner-Platz 1 32 Vgl. Cragg, Kenneth: The Privilege of Man. A Theme in Judaism, A-6020 Innsbruck Islam and Christianity, London: Athlone Press 1968, 28. e-mail: [email protected] 33 Vgl. Cragg, Kenneth: Readings in the Qur‘an, Brighton u.a.: Sussex GND: (DE-588)1031178864 Acad. Press 1999, 73.. 34 Smith, Wilfred Cantwell: On understanding Islam. Selected studies, The Hague / Paris / New York: Mouton 1981, 12. 35 Ebd. 36 Ebd., 17.

28 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Martina Kraml / Zekirija Sejdini

Religiöse Unterschiedlichkeit als Potenzial

Innsbrucker Interreligiöse Religionspädagogik und Religionsdidaktik1 die autorin der autor Dr.in Martina Kraml, assoziierte Professorin am In- Univ.-Prof. Mag. Dr. Zekirija Sejdini ist Professor für stitut für Praktische Theologie der Universität In- islamische Religionspädagogik und Leiter des Be- nsbruck, Fachbereiche Katechetik/Religionspäda- reiches islamische Religionspädagogik der Universität gogik und Religionsdidaktik. Innsbruck.

Abstract Der Beitrag präsentiert Ziele und Fragestellungen des Projekts „Interreligiöse Religionspädagogik und Religionsdidaktik“, das in den Fachbereichen Islamische Religionspädagogik und Katholische Religionspädagogik in Innsbruck im Entstehen begriffen ist. Dabei werden evidenzbasierte Einblicke in die Prozesse interreligiöser Lehrentwicklung gegeben und Kriterien einer interreligiö- sen Haltung fokussiert. Schlagworte: Interreligiosität, Religionspädagogik, Religionsdidaktik, Lehrerausbildung, Universität Innsbruck

Religious Varieties as a Promising Possibility. An Interreligious Approach to Religious Education: The article presents the project „Interreligiöse Religionspädagogik und Religionsdidaktik“ which is about to start at the depart- ments of Islamic Religious Education and Catholic Religious Education in Innsbruck. It provides insights into goals and research issues of the project as well as into evidence-based processes of interreligious education and teaching. In addition elements of interreligious discourse and methodology shall be developped. Keywords: Inter-religiousness, Religious education, Training of Teachers, University of Innsbruck

1. Ausgangspunkt der Haltung. Eine Perspektive, die auf das Homologe gerich- tet ist, verweigert sich der Wahrnehmung der Differenz. Den Diskurs der aktuellen Pädagogik und Didaktik Im Feld von Kontingenz, Pluralität, Vielheit und der bewegen Fragen der Anerkennung von Unterschieden. Bei- damit verbundenen Ambivalenz und Ambiguität sind Reli- spiele dafür sind Gendergerechtigkeit, Interkulturalität und gionen4 ein bedeutender Faktor und ebenso religiöse Bil- nicht zuletzt Interreligiosität. Der Ursprung der Unter- dung. schiedlichkeit liegt im Phänomen der Kontingenz (etwas ist Wenn (religiöse) Bildung unter diesen Bedingungen als anders möglich als es ist). Kontingenz ist Voraussetzung für Transformations- und Veränderungsprozess5, als Auseinan- Pluralität im Sinne von Vielfalt2. Pluralität enthält, so Han- dersetzungsprozess des Menschen mit sich selbst, seinen nah Arendt, in sich Verschiedenheit. Um dies stärker her- Beziehungen, seinem Kontext im Horizont der Fragen von vorheben zu können, spricht Arendt mehr von „Vielheit“ als Weltanschauung, Religion und der Gottesfrage verstanden von „Vielfalt“. „Im Menschen wird die Besonderheit, die er werden kann, wird deren Stellenwert deutlich. Ob diese mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit Auseinandersetzungsprozesse nun mehr oder weniger ziel- allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche orientiert oder informell bzw. in unterschiedlichem Grade Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, institutionalisiert sind, immer wird es um Erkenntnis und dass jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“3 Eine Wissen, mehr wohl aber noch um die Ausprägung von Hal- derartige Wertschätzung von Pluralität im Sinne von Unter- tungen und Einstellungen gehen, die es möglich machen, schiedlichkeit ist eine Sache der Perspektive und gleichzeitig sich unter den angesprochenen Bedingungen bewegen zu können.

Martina Kraml / Zekirija Sejdini: Religiöse Unterschiedlichkeit als Potenzial. Innsbrucker Interreligiöse 29 Religionspädagogik und Religionsdidaktik • ÖRF 23 (2015), 29–37 2. Pluralitätsfähigkeit und Kontingenzkompetenz dersetzung mit der Frage, wie diese Begegnungsprozesse als Ziel von Bildung gestaltet und wissenschaftlich begleitet werden können, ist die Aufgabe einer interreligiös ausgerichteten Religionspäd- In einem Bildungsgeschehen, das darauf zielt, die Kon- agogik und Religionsdidaktik. tingenz- und Pluralitätsfähigkeit zu fördern, sind die Religi- Ziel einer wissenschaftlich orientierten interreligiösen onspädagogik, die sich religiösen Bildungsprozessen und Religionspädagogik und Religionsdidaktik ist die Erfor- ihren Bedingungen widmet, sowie die Religionsdidaktik, die schung dieses Prozesses auf verschiedenen Ebenen und in sich mit der Planung, Leitung und Evaluierung von Bil- unterschiedlichen Handlungsfeldern wie Universität, Schule, dungsprozessen beschäftigt, vor große Herausforderungen Erwachsenenbildung etc. Beispielhaft sollen in diesem Pro- gestellt. jekt religionspädagogische und religionsdidaktische Pro- Diese Herausforderungen wurden durch die Etablie- zesse in der LehrerInnenbildung, jeweils aus muslimischer rung von religionspädagogischen und religionsdidaktischen und katholischer Perspektive geplant, durchgeführt, reflek- Aus- und Weiterbildungsprogrammen, die auf Interreligiosi- tiert und evaluiert werden. Angehende ReligionslehrerInnen tät und damit auf Pluralitäts- und Kontingenzkompetenz im sollen so auf ihre Profession vorbereitet werden. Bereich Religion abzielen, angenommen. Dies geschah durch die Einrichtung einer privaten 4. Forschungsanliegen und Struktur des Projekts (IRPA 1998) und zweier staatlicher islamischer Bildungsein- richtungen (Universität Wien 2006 und Universität Inns- Die Theoriebildung im Kontext des Projektes „Interreli- bruck 2013) zur Ausbildung von islamischen Religionslehre- giöse Religionspädagogik und Religionsdidaktik“ hat das rInnen sowie für die religionspädagogische Forschung.6 Ziel, eine interreligiöse Didaktik zu entwickeln. Dies schließt Gleichzeitig haben sich die islamische Religionspädagogik folgende Anliegen ein: und Religionsdidaktik nicht isoliert entwickelt. Kooperatio- • die Entwicklung eines didaktischen Modells inter- nen mit den bestehenden universitären und außeruniversi- religiöser Bildung, tären Bildungseinrichtungen, besonders den katholischen • die empirische Untersuchung der interreligiös und evangelischen, wurden stets gesucht und weiter entwi- durchgeführten Lehrveranstaltungen bzw. Praktika ckelt. und Speziell mit der Einführung des islamischen Religions- • die Erarbeitung von Konsequenzen für Planung, unterrichts im Jahre 1982/837 ist ein erster Schritt in Rich- Leitung und Evaluierung von interreligiösen Bil- tung Kooperation in der österreichischen Religionspädago- dungsprozessen. gik getan worden, zumal ökumenische und interreligiöse Entsprechend den Forschungsanliegen umfasst das Pro- Anliegen in allen Lehrplänen ausdrücklich verankert sind, jekt „Interreligiöse Religionspädagogik und Religionsdidak- so ihren Platz im Religionsunterricht finden und als „ein tik“ ein Bündel von Teilprojekten. Diese Teilprojekte können gelebtes Zeichen des Dialogs zwischen Konfessionen und folgenden Bereichen zugeordnet werden: Religionen“ verstanden werden.8 Sensibilität und Bewusst- • Grundlagenforschung, die sich mit der Entwick- sein für Zusammenarbeit wurden erst in den letzten Jahren lung von Modellen interreligiöser Lehre und For- geschaffen, ebenso wie die Entwicklung entsprechender schung beschäftigt, Modelle. Davor lag die Konzentration meist auf dem Lernen • evidenzbasierte Hochschul- und Schulforschung, über die anderen Religionen. • Interreligiöse Foren der Begegnung und For- Trotz dieser wachsenden Aufmerksamkeit hat es bis schung. jetzt auf wissenschaftlicher Basis noch wenig Zusammenar- beit in interreligiöser Hinsicht gegeben. In diesen Raum 5. Forschungsfragen stößt das Projekt einer interreligiösen Religionspädagogik Neben einer Reihe von Fragen, die sich auf die Grund- und Religionsdidaktik in Innsbruck. lagenforschung bzw. die interreligiösen Foren der Begeg- nung und Forschung beziehen, nimmt die evidenzbasierte 3. Aufgabe und Ziel Hoch- und Schulforschung einen besonderen Stellenwert Bildungsinstitutionen, insbesondere Schulen9, spiegeln ein. Folgende der Pilotphase des Projekts entsprechend noch einem Mikrokosmos gleich die gesellschaftlichen Bedingun- sehr offene Fragen kennzeichnen diese forschungsgeleitete gen wider. Ihre Aufgabe ist es, inmitten dieses pluralen Kon- Lehrentwicklung: textes (religiöse) Bildungsprozesse zu initiieren, zu begleiten • Was zeigt sich in religionspädagogischen und reli- und zu reflektieren. Dabei kommt es unweigerlich zur gionsdidaktischen Bildungsprozessen, wenn musli- Begegnung mit dem jeweils religiös Anderen. Die Auseinan- mische und katholische Studierende, Lehrende

30 Österreichisches Religionspädagogisches Forum sowie AkteurInnen im Kontext Schule (Praxisleh- renden am Ende der universitären Lehrveranstal- rerInnen, SchülerInnen, Eltern, SchuldirektorIn- tung gebeten, eine Legearbeit10 zu gestalten. Die nen u. a.) aufeinander treffen? Aufgabenstellung, die die Lehrveranstaltungsleite- • Welche Einflussfaktoren (subjektive Muster und rin an die Gruppe weitergab, lautete: Wie habe ich Konzepte, interaktionelle Dynamiken, kontextuelle die Lehrveranstaltung in dieser Zusammensetzung Bedingungen, inhaltliche Aspekte u.a.) auf die erlebt? Gestalte ein Bild und teile deine Gedanken! interreligiösen Bildungsprozesse können ausge- Die Bilder wurden dann in der Gruppe von jedem/ macht werden? jeder Einzelnen kommentiert. Der Kommentar • Welche Handlungsstrategien lassen sich bei den wurde auf Tonband aufgenommen und transkri- AkteurInnen erkennen? biert. Die Bilder wurden fotografiert. • Welche Schlussfolgerungen ziehen die AkteurIn- 2. Mit den PraxislehrerInnen fand ein Gruppenge- nen? spräch über deren Wahrnehmung der interreligiös Mit Blick auf die Konsequenzen der empirischen Ergeb- zusammengesetzten Praxisgruppen statt, das aufge- nisse wurden folgende Fragen entwickelt: nommen und anschließend transkribiert wurde. • Was ergibt sich aus dem empirischen Befund für Der Eingangsimpuls für das Gespräch lautete: Wie die Didaktik von religiösen Bildungsprozessen in bin ich ins Basispraktikum gegangen? Was habe ich den verschiedenen Handlungsfeldern? erlebt? Im Anschluss an diesen ersten Teil gab es • Welche hochschuldidaktischen Modifizierungen eine zweite Runde, die stärker auf die Evaluierung der interreligiös durchgeführten Lehrveranstaltun- des Basispraktikums aus der Sicht der LehrerInnen gen und Praktika legen sich auf dem Hintergrund ausgerichtet war. Hier lautete die einleitende Frage: des empirischen Befunds nahe? Wenn ich jetzt an nächstes Jahr Basispraktikum denke – was sind meine Empfehlungen? Was wäre 6. Das Forschungsfeld der Lehrentwicklung und wichtig zu beachten? Was sollte verändert werden? die Anlage des Forschungsdesigns Was sollte beibehalten werden? 3. Parallel dazu wurden drei nach dem Kriterium der Im Rahmen der religionsdidaktischen Ausbildung maximalen Kontrastierung ausgewählte gemischt absolvieren muslimische und katholische Studierende meh- religiöse Praxisgruppen (zu je drei Studierenden) rere Lehrveranstaltungen und Praktika gemeinsam: mittels leitfadengestützten Interviews zu ihren • Vorlesung und Seminar Religionsdidaktik Grund- Erfahrungen in der Schule (interreligiös zusam- lagen, mengesetzte Praxisgruppe, PraxislehrerInnen, • das Basispraktikum mit zwei Teilen: SchülerInnen) befragt. Zu Beginn des Interviews - interreligiöse universitäre Begleitlehrveranstaltung wurde folgende Impulsfrage gestellt: Was haben Sie - interreligiöse Praxisgruppen im Praktikumsteil, als Studierende in der muslimisch-katholisch zusam- • die Lehrveranstaltung Spezielle Fachdidaktik und mengesetzten Praxisgruppe in der Schule erlebt? • das Pflichtschulpraktikum II. Durch den offenen Frageimpuls und die wenig Im Zentrum einer als Pilotprojekt durchgeführten for- direktive Leitung der InterviewerInnen sollte vor schungsgeleiteten Lehrentwicklung im Wintersemester allem die Eigenkonstruktionsleistung der Studie- 2014/15 stand das Basispraktikum. Dieses wird immer im renden angeregt werden.11 Der Gesprächsleitfaden Oktober durchgeführt, es besteht aus einem universitären enthielt folgende weitere Fragen: Teil, der sich über einen Monat erstreckt und dem parallel • Wie ist es Ihnen miteinander gegangen in der mus- dazu laufenden Praktikum an einer Volksschule. Die Studie- limisch-katholisch zusammengesetzten Gruppe? renden absolvierten dieses Praktikum erstmals in gemisch- Wie haben Sie diese Zusammensetzung persönlich ten Gruppen (muslimisch-katholisch) und zwar im katholi- erlebt? Können Sie Beispiele erzählen, wie die schen Religionsunterricht. Beteiligt sind universitäre Lehr- Zusammenarbeit ausgesehen hat und wie Sie diese beauftragte, Studierende, LehrerInnen, SchülerInnen, Direk- erlebt haben? Was war schwierig? torInnen und – mittelbar – auch Eltern. • Wie haben die Kinder reagiert? Erinnern Sie sich Die Datenerhebung bestand aus drei Teilen: an Beispiele? 1. Um die Wahrnehmung der Studierenden im Hin- • Sind Sie Eltern begegnet? Was haben Sie wahrge- blick auf die interreligiöse Zusammensetzung und nommen? Kooperation des universitären Teils des Basisprak- • Wie haben Sie die Begleitung erlebt? Wie hat die tikums erkennen zu können, wurden die Studie- Begleitlehrerin/der Begleitlehrer auf die musli-

ÖRF 23 (2015) • 29–37 31 misch-katholische Zusammensetzung der Gruppe Ein weiterer Studierender merkt an, dass er durch das reagiert? Seminar und die interreligiöse Zusammensetzung aufmerk- • Wie sind Sie in der Schule, von der Direktion, dem samer geworden sei: „Jeder war bereit über das zu sprechen, Lehrerkollegium aufgenommen worden? was ihm am Herzen lag und auch deine Ehrlichkeit, dass du • Wie haben Sie als muslimische/r Studierende/r die einfach so bist, wie du bist […] ich bin durch das Seminar Situation erlebt? vielleicht einfach angeregter gewesen über dieses Thema nach- • Worauf sollten wir achten, wenn wir das Prakti- zudenken, wie das eigentlich ist, wenn man so multikulturell kum im kommenden Jahr wieder in musli- oder religiös zusammen lebt und ich hatte ein paar Gespräche misch-katholischer Zusammensetzung planen? in diesen vier Wochen, wo ich mir einfach immer wieder, wo Als Abschluss des Gesprächs wurden folgende Fragen mir die Haare zu Berge standen, weil es mich einfach aufregt gewählt: und ich, ich es erschreckend finde, wie die Einstellungen noch • Gibt es sonst noch etwas, was Sie uns gerne erzäh- sind, aber: Jeder Ton, der irgendwo gestartet werden kann und len möchten? einen guten Resonanzkörper hat, klingt lange weiter.“ (Stu- • Wie haben Sie das Gespräch erlebt? dent, Nr. 15) • Was war Ihre Motivation am Gruppengespräch Mit Blick auf die PraxislehrerInnen zeigt sich u.a.: Die teilzunehmen? interreligiöse Begegnung im Rahmen des Basispraktikums Für den gesamten Forschungsprozess, die Datengewin- wird von den meisten PraxislehrerInnen als eine Selbstver- nung wie auch die -auswertung wurden Anleihen bei der ständlichkeit wahrgenommen. Von ca. 300 SchülerInnen Methodologie der Grounded Theory genommen. Ausgangs- haben fünf Elternteile kritische Rückmeldungen gegeben, punkt bildete ein sequenzanalytisches Vorgehen. In einem wovon drei nach einem persönlichen Gespräch über die weiteren Schritt wurden Kategorien gewonnen und Model- Ziele und Anliegen des Praktikums keine Einwände mehr lierungen vorgenommen, die stetig verfeinert wurden. Ent- hatten, sondern das Projekt aktiv unterstützten. sprechend dem ‚Vieraugenprinzip’ wurde im Auswertungs- Für die betroffenen PraxislehrerInnen wurde deutlich: prozess konsequent in einer muslimisch-katholischen For- Die Selbstverständlichkeit, mit der sie in die Begleitung des scherInnengruppe analysiert. Praktikums gestartet sind, wird nicht von allen PartnerIn- nen (z.B. Eltern) geteilt, sodass Konflikte ‚wie aus heiterem 7. Einblicke in erste Ergebnisse Himmel‘ hervorbrechen. So erzählt eine Praxislehrerin, sie Im Hinblick auf die interreligiöse Zusammensetzung habe am ersten Praktikumstag nur Positives erlebt. Aus die- der universitären Lehrveranstaltung im Rahmen des Basis- ser positiven Haltung heraus hat sie dann der Anruf einer praktikums wurde in einer ersten Analyse Folgendes deut- Mutter sehr überrascht: lich12: „Und für mich war es- also ich war total überzeugt, mir Für die Studierenden bewirkt die interreligiöse Zusam- hat es total gut gefallen und mittags dann im Zug hat mich mensetzung der universitären Lehrveranstaltung neue Sicht- schon die erste Mama total erbost angerufen und gesagt, was weisen und Perspektiven, Räume eröffnen sich, Menschen das für eine Frechheit sei und Leute aus einer so gewaltberei- verändern sich durch die Begegnungs- und Reflexionsmög- ten Religion wie dem Islam keine Sekunde was in unserem lichkeiten. Unterricht verloren hätten […] .“ (BL 2, 79-81) So kommentiert eine Studierende ihr gestaltetes Motiv Im Gespräch mit der Mutter sowie durch die Themati- und stellt Veränderungen bei sich fest, die sich darin zeigen, sierung im Schulforum gelang es, Missverständnisse auszu- dass Skepsis und „Unsicherheit“, „Sicht nur aus einem Blick- räumen und Begegnungen zu ermöglichen. Offensichtlich winkel“ „weggezogen“ wurden und durch „Punkte wie Zufrie- wurde auch: Wenn es um MuslimInnen geht, besteht die denheit, Toleranz, Identität, Respekt gegenüber anderen oder Gefahr der politisch-medialen Instrumentalisierung der anderen Religionen […]“ ersetzt wurden. Die Wirkung des interreligiösen Kooperation. Dieselbe Praxislehrerin wurde Seminars schildert sie so: „Und das hat das Seminar bei mir von einem Vater angerufen, der aufgebracht meinte: bewirkt. […] Also, nach dem Seminar oder allgemein nach „[…], dass das ein Skandal ist und er geht eben an die meinem Studium ist mir eigentlich auch aufgefallen, dass ich Medien. Und das war dann eben auch der Vater, der das an gar nichts weiß von meiner Religion oder allgemein über die die [Name Zeitung] und überall hingebracht hat und er hat Leute hier. Und das regt mich eben an, mehr zu erforschen gesagt, er würde, wenn die Katholische Kirche sich den Feind oder eben über etwas nachzufragen. Und als Gegenstand habe ins Boot holt, dann überlegt er, aus der Kirche auszutreten ich eben das Schneckenhaus ausgewählt, weil es einem dazu […] .“ (BL 2, 99-101) anregt, […] aus dem Schneckenhaus herauszukommen und Dieses Beispiel hat gezeigt, dass interreligiöse Arbeit etwas Neues zu erfahren.“ (Studentin weiblich, Nr. 6) weitreichende Kreise ziehen kann. So wurde über politische

32 Österreichisches Religionspädagogisches Forum und mediale Kanäle versucht, Druck auszuüben. Hier waren sagen unseren Glauben auch leben in Form von eine gute Vorbereitung des Projektes und die Vernetzung Gebet und Kreuzzeichen.“ (BL 5, 230-233) aller Beteiligten inklusive Schulbehörden und Universitäts- Immer wieder sprechen die PraxislehrerInnen an, wie verantwortlichen entscheidend. sie von der Veränderung der eigenen Perspektiven durch die Bemerkenswert ist, dass die interreligiöse Kooperation interreligiöse Zusammensetzung und die daraus resultieren- von den PraxislehrerInnen als großes Potenzial eingeschätzt den Auseinandersetzungen und Gespräche im Praktikum wurde und dies auch durch Konflikte und punktuelle prob- überrascht wurden. So kommentiert eine Lehrerin schmun- lematische Presseberichterstattung nicht erschüttert wurde, zelnd ihre noch wenig differenzierten Anfangserwartungen wie die meisten PraxislehrerInnen hervorhoben. Eine an weibliche muslimische Studierende, als sie feststellen Stimme soll herausgegriffen werden: musste, dass eine Studierende – entgegen ihrer Erwartung – „Die Kinder haben wirklich eine Freude damit gehabt. kein Kopftuch trug: […]. Es war ganz spannend. Also für mich war das total toll. „Ich habe die zwei Frauen am Mittwoch um viertel nach […] Und auch die Kolleginnen und Kollegen […] und die sieben am Bahnhof abgeholt. Und das erste, was ich zu ihnen Direktorin hat, so denke ich mir, dass ich bei einem solchen gesagt habe, war: Grüß Gott, ich bin die Maria. Merve, Projekt mittu, das hat ihr, glaube ich, auch gefallen, so dass warum hast du kein Kopftuch an?“ (BL 1, 30-33) wir offen sind und unsere Schule da offene Türen hat.“ (BL3, Da die Studierenden ihr im Vorfeld als angehende Reli- 180-183) gionslehrerInnen und somit gläubige MuslimInnen (die Weiters hat sich gezeigt: Interreligiöse Begegnung/Inter- Praxislehrerin spricht von „Islamisten“) vorgestellt wurden, aktion bringt – mit Blick auf Schule – die Chance mit sich, war sie über die Tatsache, dass „die ohne Kopftuch kommt“ dass katholische SchülerInnen/LehrerInnen muslimischen (BL 1, 35), irritiert und lernte erst nach und nach die Plura- Personen und damit der islamischen Religion authentisch lität im muslimischen Bereich kennen. Am Beispiel der begegnen können und dass sie nicht auf das ausschließliche Zuschreibung „Islamisten“, die in Unkenntnis des Kontextes ‚Reden über‘ angewiesen sind: – und vermutlich beeinflusst durch die mediale Berichter- „Also ich habe es extrem bereichernd gefunden, für die stattung – erfolgte, wird deutlich, welche Bedeutung sachge- Schüler, für die Eltern auch teilweise, für mich selber auf jeden rechter Sprache und Sprachsensibilität in der interreligiösen Fall. Und was noch total ein toller Abschluss war: Die Viert- Begegnung und Bildung zukommt13. klässler haben viele Fragen gehabt. […] Dann haben wir diese Aus den ersten Einblicken in interreligiöse (Aus-)Bil- Fragen gesammelt, in der anderen Stunde, wo die Studenten dungsprozesse lassen sich folgende Erkenntnisse zusam- nicht da waren. Ich habe sie ihnen dann gemailt, damit sie menfassen: sich darauf vorbereiten können in kindgerechter Weise. Und es • Interreligiöse Auseinandersetzung auf verschiede- ist eine sehr aufgeweckte vierte Klasse und ich glaube, die nen Ebenen (in Schule, Universität u.a.) kann waren noch nie so ruhig und brav wie in dieser Stunde, man Horizonterweiterung mit sich bringen und neue hätte eine Stecknadel fallen lassen können. […] Das war so Perspektiven und Möglichkeiten in den Blick kom- faszinierend, es war wirklich eine total tolle Stunde für die men lassen. Kinder dann. Also, ich würde es sofort wiedermachen, trotz • Interreligiöse Arbeit in Bildung und Ausbildung aller Schwierigkeiten […] .“ (BL 2, 122-137) konfrontiert mit anderen Perspektiven und Lebens- Für die Zukunft ist angedacht, dass nicht nur muslimi- formen. sche Studierende den katholischen Religionsunterricht besu- • Interreligiöse Kommunikation und Interaktion chen, sondern auch katholische Studierende im islamischen beinhalten die Chance, die eigene Perspektive in Religionsunterricht anwesend sein werden und islamische den Blick nehmen und somit eigene ‚blinde Fle- und katholische PraxislehrerInnen stärker zusammenarbei- cken’ entdecken zu können. ten. • Interreligiöse Kommunikation fördert das Nach- Dass die interreligiöse Kommunikation ‚Stolpersteine‘ denken über die eigene Religion und die eigene beinhaltet, sich hier im Gespräch auch schon länger Positionierung. bekannte theoretische Konzepte (Exklusion, Inklusion etc.) • Interreligiöse Begegnung/Interaktion beinhalten spiegeln, wird in folgendem Beispiel offensichtlich, in dem hohe Emotionalität (bei Eltern, bei Studierenden, eine Praxislehrerin angesichts der muslimischen Studieren- bei universitär Lehrenden, bei DirektorInnen, bei den verunsichert ist, ob sie die eigene religiöse Praxis PraxislehrerInnen …). (Kreuzzeichen) im Unterricht aufrecht erhalten soll: • Emotionalität/Interventionen/Störungen/Konflikte „[…] es waren meine persönlichen Bedenken, ob ich nicht sind kein Hindernis, sondern können sich als ein irgendwie über eine Grenze drüber geh, wenn wir jetzt sozu- Potenzial für fruchtbare Auseinandersetzung, reali-

ÖRF 23 (2015) • 29–37 33 tätsbezogenes Lernen und differenzierteres Sehen öse Begegnung und unmittelbare Beteiligung20 in Bildungs- erweisen. prozessen. Durch Begegnung werden authentisches Lehren • Nicht nur Inhalte, sondern auch Prozesse sind rele- und Lernen ermöglicht und Toleranz, Achtung vor dem vant für interreligiöse Bildung und Ausbildung. Anderen, Anerkennung des Anderen gefördert. In Begeg- Diese spielen sich ab entlang verschiedener Fakto- nung geschieht aber nicht nur Harmonisches. Ungewissheit ren wie der eigenen Person, der Interaktion und wird sichtbar.21 Differenzen und Konflikte zeigen sich. Kommunikation in der Lerngruppe sowie dem Gerade der Umgang mit Konflikten erfordert die Entwick- politisch-gesellschaftlich-religiösen Kontext (der lung besonderer Kompetenzen, in der LehrerInnenbildung besondere Aufmerksamkeit braucht!) und den zu genauso wie im Unterricht oder in anderen Bildungshand- gestaltenden Inhalten. lungsfeldern. • Die beobachteten Prozesse sind aufschlussreich für Die doppelte Perspektive – das konsequente interreligiöse die Weiterentwicklung von interreligiöser Begeg- ‚Vier-Augenprinzip’: Wenn nicht ausschließlich das distan- nung, Lehre und Forschung in der Aus-, Weiter- zierte ‚Reden über‘ die jeweils andere Religion, sondern und Fortbildung von (Religions-)LehrerInnen14. lebendige Begegnung im Zentrum steht, dann muss auch die Eine solche Weiterentwicklung und Weiterbildung gemeinsame wissenschaftliche Arbeit auf Augenhöhe tun not. geschehen. Es sind – sowohl in der Forschung wie auch in der Lehre – jeweils beide religiöse Perspektiven mit einzube- 8. Kriterien einer interreligiösen Haltung in Lehre ziehen und zu reflektieren bzw. Lehre und Forschung wer- und Forschung den aus diesen beiden Perspektiven wahrgenommen und gestaltet. Diese Arbeit aus der konsequenten Doppelpers- Die zu entwickelnden Grundzüge interreligiöser Lehre pektive kennzeichnet den Innsbrucker Ansatz. Dabei ist ein und Forschung sowie interreligiöser Bildung speisen sich Wechselspiel zwischen intra- und interreligiöser Perspektive aus den Quellen der Themenzentrierten Interaktion nach unerlässlich. Reinhold Bernhardt spricht von der „Dialektik Ruth C. Cohn15, des Innsbrucker Modells der Religionsdi- des Bei-sich-Seins in der eigenen Tradition, des daktik (IMRA16) und der Kommunikativen Theologie17. Aus-sich-Herausgehens in andere Traditionen und der Gleichzeitig aber musste eine neue gemeinsame Verständi- bereicherten, horizonterweiterten Rückkehr in die eigene gungsbasis beider religionspädagogischer Zugänge gefunden Tradition.“22 Gleichzeitig muss angemerkt werden, dass hier werden. Bisherige Erfahrungen haben vor allem folgende auch die systemische Perspektive und die Machtkonstellatio- Kriterien qualitätsvoller interreligiöser Forschung und Lehre nen mitbedacht werden müssen, wie Safiye Yildiz schreibt: sowie interreligiösen Bildungshandelns erkennbar werden „Gerade die Marginalisierten sind auf Solidaritätsformen lassen: angewiesen, um die herrschenden eklatanten strukturellen Vernetzung von religiöser Innen- und Außenperspektive: und rechtlichen Ungleichheiten abzuwehren und zu verän- Speziell im Kontext öffentlicher religiöser Bildungsprozesse dern. Dies setzt die Anreizung von Bewusstseinsprozessen wird – vor allem angesichts von Pluralität – die Notwendig- voraus, welche sich auf die system- und diskursimmanente keit einer ‚neutralen’ Außenperspektive betont und die kon- Systematik der sich gegenseitig stützenden Differenzsetzun- fessionell konnotierte Innenperspektive ausgeblendet. Ein gen und Differenzierungen beziehen müssten, die nicht bedeutsames Charakteristikum des Innsbrucker Modells unmittelbar bei den Identitäten der Subjekte zu suchen sind. interreligiöser Bildung ist die Verbindung von Innen- und Die interkulturellen diskursiven Prozesse sind, wie gesehen, Außenperspektive als Verbindung von ‚intra‘ und ‚inter‘.18 stets mit Essentialisierung von Identitäten und Differenzen Mehrperspektivität: Perspektivität und auf dieser Basis verknüpft, die zur Produktion von Ungleichheiten und zu Mehrperspektivität ist ein weiteres Charakteristikum inter- ihrer Entpolitisierung beitragen. Um Bedeutungs- und religiöser Religionspädagogik und Religionsdidaktik. Inter- damit Sichtverschiebungen zu ermöglichen, erachte ich religiöse Lehr- und Lernprozesse zu gestalten bedeutet, die daher eine Politisierung der epistemischen Perspektiven für einzelnen Personen als Individuen mit ihrer je eigenen Bio- unumgänglich.“23 grafie und ihren Erfahrungen in den Blick zu nehmen und Angemessene Theologie: Eine Konzeption, die die Innen- diese Perspektive zu vernetzen mit jener der Interaktion und perspektive von Religion (‚in religion’) in den Blick kommen Kommunikation in der Gruppe, des umgebenden gesell- lässt, ist naturgemäß stark mit der Theologie verwoben. schaftlichen Kontextes und der weltanschaulichen religiösen Nicht jede Theologie ist für die Zusammenarbeit mit der Traditionen.19 Religionspädagogik/Religionsdidaktik geeignet. Es gilt, die Begegnung als Ausgangspunkt interreligiöser Bildungs- theologische Perspektive ausgehend von den religionspäda- prozesse: Ausgangspunkt des Konzepts bildet die interreligi- gogischen und religionsdidaktischen Anliegen zu entwi-

34 Österreichisches Religionspädagogisches Forum ckeln und so die Religionspädagogik und Religionsdidaktik usw. entzieht“ und sie fahren fort: „Bhabhas Wendungen des als Orte theologischer Erkenntnis ernst zu nehmen. 24 Begriffs der Hybridität, wie auch des Begriffs der Ambiva- Haltung entscheidender als Methode: Die geschilderten lenz oder der Mimikry können, zusammenfassend und all- Charakteristika des Innsbrucker religionsdidaktischen gemein betrachtet, als Denkfiguren gelesen werden, über die Modells stellen keine ausschließlich methodischen Elemente sich die Widerständigkeit und die Handlungsfähigkeit der dar. Sie sind vielmehr Teile zur Kultivierung einer Haltung, Kolonisierten gegenüber dem Anspruch der KolonisatorIn- die gegenseitige Anerkennung, einen vorurteilsfreien nen auf kulturelle Autorität theoretisieren und diskursivie- Umgang mit Pluralität, die kritische Auseinandersetzung ren lassen.“33 mit den eigenen Traditionen, die eigene Begrenztheit (auch Safiye Yildiz schreibt im Kontext der binären Logiken: des eigenen Wahrheitsanspruches25) angesichts des Anderen „Die Dekonstruktion von binären Logiken ist sicherlich („in der Gegenwart des religiös Anderen“26) fördert. einer der wichtigen Schritte, um die diskursiv erzeugten Offenheit und Groundedness: Im Hinblick auf die empi- Machtmomente, die sowohl die Positionen der Beobachter rische Forschung folgt das Projekt interreligiöse Religions- wie auch deren epistemische Schreibweise umfassen, zu irri- pädagogik und Religionsdidaktik den Prinzipien der Offen- tieren. Solche Dekonstruktion führt dazu, dass die Wir- heit, der ‚Groundedness‘, der Prozessorientierung und Kon- kungsmacht der binär geordneten Diskurse bei der Verwirk- tingenzsensibilität. Erkenntnisse aus der Ethnografie lichung von bestimmten Subjekttypen und deren Verwei- machen es möglich, das Prinzip der doppelten Perspektive sung in separierte Kulturbereiche, die die Herrschaftsbezie- in der empirischen Forschung umzusetzen. hungen reproduziert, gebrochen wird. Insofern besteht das Problem nicht darin, herauszufinden, ob wir Ausländer, 9. Abschluss: Räume eröffnen Migrant/innen oder Deutsche sind, d.h. welche Identität jeweils die unsere ist, sondern all die Diskursformen abzu- Nicht zuletzt geht es in der interreligiösen Bildung und lehnen, die uns zu solchen typisieren, uns dazu machen und Ausbildung, Lehre und Forschung um die Eröffnung von schließlich uns voneinander abspalten.“34 Räumen (neuen Denkmöglichkeiten, Formen von Um für all die ‚Diskursformen’, „die uns zu solchen Anders-Sehen) angesichts von eingespielten, ‚zementierten‘ (Hervorhebung durch die AutorInnen) typisieren, uns dazu Machtverhältnissen, ‚Sackgassen‘, binären Logiken, dualisti- machen und schließlich uns voneinander abspalten“, auf- schen Denkformen.27 merksam zu sein, sie individuell wie systemisch zurückzu- Im Kontext der postkolonialen Forschung führte der weisen, uns ihnen zu verweigern, dort, wo wir können, ist Literaturwissenschaftler Homi Bhabha28 – nicht unkriti- ein Ziel des vorgestellten Projekts und darüber hinaus wohl siert29 – das Konzept des „Dritten Raumes“ ein. Matthias eines der bedeutendsten Ziele (religiöser) Bildung. Scharer30 hat diese Idee aufgenommen und für die interreli- giöse Forschung und Lehre fruchtbar gemacht. Im Zuge der Anmerkungen Errichtung des Studiums islamische Religionspädagogik in Innsbruck hat sich gezeigt, dass die – säkulare – Universität 1 Für die Mitarbeit im Projekt „Interreligiöse Religionspädagogik und zu einem neuen („dritten“) Raum werden kann, in dem Religionsdidaktik“ bedanken wir uns bei den MitarbeiterInnen unse- rer Fachbereiche: Fatima Cavis, Maria Juen, Petra Juen, Harald Kling- Möglichkeiten eröffnet werden, die beispielsweise die Glau- ler, Mehmet Tuna. bensgemeinschaften in dieser Art und Weise nicht hätten 2 Pluralität wird im Folgenden synonym mit Vielfalt verwendet. Vgl. ermöglichen können. Schweitzer, Friedrich: Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als Dritte Räume lassen „ein neues semiotisches Feld“31 religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh: entstehen, das die Möglichkeit eröffnet, „sich mit der Macht Gütersloher Verlagshaus 2014. Zur Pluralität in der Schule: Jäggle, Martin: Herausforderung der religiösen Pluralität für die Schule, in: auseinanderzusetzen“32. Dritte Räume – ebenso wie dritte Polak, Regina / Reiss, Wolfgang (Hg.): Religion im Wandel. Trans- Personen – können Auswege darstellen und Möglichkeiten formation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration – sichtbar werden lassen, die es in binär konstruierten und Interdisziplinäre Perspektiven, Wien / Göttingen: V&R unipress 2015, essentialistisch verstandenen Verfassungen nicht gibt. 183–203; Schluss, Henning u.a. (Hg.): Wir sind alle „andere“. Schule So merken Anna Babka und Gerald Posselt in der Ein- und Religion in der Pluralität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht leitung zum Band „Über kulturelle Hybridität“ an: „Das 2015. Vgl. auch: Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011. ‚Wesen‘ oder der ‚Ort‘ der Kultur kann folglich nicht mehr 3 Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München: als einheitlich und geschlossen verstanden werden, sondern Piper 82010, 214. verlangt nach einem ‚Dritten‘, das sich als die Möglichkeits- 4 Die Pluralität des österreichischen Kontextes im Hinblick auf Religio- bedingung der Artikulation kultureller Differenz den geläu- nen zeigt sich exemplarisch am Beispiel der MuslimInnen. figen Polaritäten von Ich/Anderer, Dritte Welt/Erste Welt 5 Vgl. dazu den Bildungsbegriff von Susanne Böhner und Jörg Zirfas: Böhner, Susanne / Zirfas, Jörg: Die Bildung der Trauer. Eine päda-

ÖRF 23 (2015) • 29–37 35 gogisch-anthropologische Betrachtung, in: Zeitschrift für Erziehungs- Mina / Spielmann, Jochen / Zitterbarth, Walter (Hg.): Handbuch wissenschaft (2012) 15, 125–141, hier 125; vgl. auch das Bildungsver- Themenzentrierte Interaktion (TZI), Göttingen: Vandenhoeck & Rup- ständnis der Themenzentrierten Interaktion (TZI), von dem im Fol- recht 2009; Forschungskreis Kommunikative Theologie: Kom- genden noch die Rede sein wird. Zum Thema Bildungsbegriff und munikative Theologie. Selbstvergewisserung unserer Kultur des Theo- Transformation siehe ebenso Susanne Gottuck und Paul Mecheril: logietreibens, Wien-Berlin: Lit 2006 (= Kommunikative Theologie – „Der Begriff der Bildung steht für die empirische und theoretische interdisziplinär / Communicative Theology – Interdisziplinary Stu- Analyse bestimmter Transformationsprozesse. Bildung wollen wir dies 1/1). Hilberath, Bernd Jochen / Scharer, Matthias: Kommuni- hier verstehen als jene ästhetische und politische Form, die von Men- kative Theologie. Grundlagen – Erfahrungen – Klärungen, Ostfildern: schen gestaltet wird, ein Verhältnis zur Unverfügbarkeit ihrer selbst Schwabenverlag 2012 (= Kommunikative Theologie 15). zu finden, die zweierlei ist: Der Abschied von dem Trugbild des sich 16 Vgl. Scharer, Matthias: Religion unterrichten lernen: Das Innsbru- selbst autonomisierenden Subjekts und zugleich der Einsatz gegen cker Modell, in: Bensberger Protokolle: Kompetenz für die Praxis? Ordnungen, die über je mich und andere in einer entwürdigenden Innovative Modelle der Religionslehreraus- und –fortbildung 101 Weise verfügen.“ Gottuck, Susanne / Mecheril, Paul: Einer Praxis (2000) 55–68; Scharer, Matthias: „Lebendigen Lernprozessen einen Sinn zu geben, heißt sie zu kontextualisieren. Methodologie trauen, Kompetenzen fördern.“ Das ‚Innsbrucker Modell‘ der Religi- kulturwissenschaftlicher Bildungsforschung, in: Rosenberg, Florian / onslehrerInnenausbildung unter der Herausforderung des Kompe- Geimer, Alexander (Hg.): Bildung unter Bedingungen kultureller tenz- und Standarddiskurses in der Religionsdidaktik, in: Österreichi- Pluralität, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden 2014, 87–108, sches Religionspädagogisches Forum 21 (2013) 63–69, 63. hier 90. 17 Die Neuinterpretation der TZI durch die Kommunikative Theologie 6 Vgl. Aslan, Ednan: Situation und Strömungen der islamischen Reli- betrifft vor allem die Bezeichnung der Faktoren (als Dimensionen), gionspädagogik im deutschsprachigen Raum, in: Theo-Web. Zeit- die Einführung der Ebenen (unmittelbare Beteiligungsebene, und die schrift für Religionspädagogik 11/2 (2012) 10–18; Özdil, Ali-Özgür: Erweiterung der Axiome zu (theologischen) Optionen. Zur Genese Islamische Theologie und Religionspädagogik in Europa, Stuttgart: und Weiterentwicklung des Forschungsansatzes vgl.: Forschungs- Kohlhammer 2011. kreis Kommunikative Theologie 2006 [Anm. 17], 41–43. 7 Vgl. Khorchide, Mouhanad: Der islamische Religionsunterricht 18 Erhellend für dieses Konzept ist die Unterscheidung von „in religion“, zwischen Integration und Parallelgesellschaft. Einstellungen der isla- „from religion“ und „about religion“. vgl.: Scharer, Matthias: ‚Lear- mischen ReligionslehrerInnen an öffentlichen Schulen, Wiesbaden: ning (in/through) Religion‘ in der Gegenwart der/des Anderen. Unfall VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2009. und Ernstfall öffentlicher Bildung, in: Österreichisches Religionspäd- 8 Lehrplan für den katholischen Religionsunterricht an der Volksschule, agogisches Forum 22 (2014) 93–102, in: http://unipub.uni-graz.at/ approbiert von der Österreichischen Bischofskonferenz im November oerf/periodical/pageview/153543 [abgerufen am 28.06.2015]; Roeb- 2013, Bildungs- und Lehraufgabe, Punkt 2. ben, Bert: Religionspädagogik der Hoffnung. Grundlinien religiöser 9 Interreligiöse Bildung ist nicht nur Aufgabe des Religionsunterrichts. Bildung in der Spätmoderne, Berlin: Lit 22011 (= Forum Theologie Vielmehr ist die gesamte Schule einschließlich der Schulkultur davon und Pädagogik 19), 141–144, 154; Schambeck, Mirjam: Interreligiöse betroffen. Vgl. dazu: Jäggle, Martin: (Schul-)Kultur der Anerken- Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttin- nung im Spannungsfeld von Pluralität und Alterität, in: Schluss, gen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 78–93; Schweitzer, Friedrich: Henning u.a. (Hg.): Wir sind alle „andere“. Schule und Religion in der Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Pluralität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 70–86. Herausforderung und Chance, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 10 Da insbesondere emotionale Komponenten in diesem Zusammen- 2014. hang eine wichtige Rolle spielen, war eine gestaltungsoffene Aufga- 19 Vgl. Diese Formulierung stellt eine mögliche interreligiöse Weiterfüh- benstellung notwendig. Die Studierenden wurden eingeladen, aus rung der in der TZI sowie der im Innsbrucker religionsdidaktischen einer Fülle von vorhandenem Material ein Bild zu gestalten. Modell und im Forschungskreis Kommunikative Theologie (For- 11 Vgl. dazu: Kruse, Jan: Qualitative Interviewforschung. Ein integrati- schungskreis Kommunikative Theologie 2006 [Anm. 17], 92) ver Ansatz, Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2014, 217. getroffenen Bestimmung dar. 12 Die Veröffentlichung der Ergebnisse ist für die zweite Hälfte des Jah- 20 Vgl. dazu die Unterscheidung der drei Ebenen Kommunikativer res 2016 geplant. Theologie: unmittelbare Beteiligungsebene, Erfahrungs- und Deu- 13 Vgl. dazu den Beitrag von Fatima Cavis und Maria Juen zur interreli- tungsebene, wissenschaftliche Reflexionsebene: Forschungskreis giösen Sprachsensibilität im Tagungsband zur Tagung der Fachdidak- Kommunikative Theologie 2006 [Anm. 17], 74–84. tik 2015 in Innsbruck: Cavis, Fatima / Juen, Maria: „Zwischen Span- 21 „Dies verlangt eine unvoreingenommene Haltung, um dem Anderen nung und Sehnsucht“ – Einblicke in forschungsgeleitete interreligiöse freimütig (ohne Vorbedingungen) entgegenzutreten, und von ihm Lehrentwicklung unter Berücksichtigung des Aspekts „Sprachsensibi- sowie seiner Lebensperspektive zu lernen (a posteriori). Dies verlangt lität“, in: Innsbrucker Beiträge zur Fachdidaktik. 2, Innsbruck: inns- einen Sprung ins Ungewisse, eine Hoffnung auf Kommunikationsbe- bruck university press 2015 (in Druck). reitschaft beim Anderen, eine Hoffnung, die sich nur dadurch über- 14 Schluss, Henning: Erforschung (inter-)religiöser Kompetenz, in: prüfen lässt, dass man sich tatsächlich als InitiatorIn in das Gespräch Schluss, Henning u.a. (Hg.): Wir sind alle „andere“. Schule und Reli- begibt.“ Roebben, Bert: Religionspädagogik der Hoffnung. Grundli- gion in der Pluralität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, nien religiöser Bildung in der Spätmoderne, Berlin: Lit 22011 (= 87–104. Forum Theologie und Pädagogik 19), 155. 15 Die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth C. Cohn (TZI) versteht 22 Bernhardt, Reinhold: Pluralistische Theologie der Religionen, in: sich als Konzept lebendigen Lehrens und Lernens, das auf einer Ver- Schreiner, Peter / Sieg, Ursula / Elsenbast, Volker (Hg.): Hand- netzung der Faktoren ICH-WIR-ES-KONTEXT unter Berücksichti- buch Interreligiöses Lernen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, gung von weltanschaulichen Axiomen und Postulaten, die den 168–178, hier 176–177. Arbeitsprozess lenken, gründet. Vgl. dazu: Schneider-Landolf,

36 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 23 Yildiz, Safiye: Interkulturelle Erziehung und Pädagogik. Subjektivie- María do Mar / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kriti- rung und Macht in den Ordnungen des nationalen Diskurses, Wies- sche Einführung, Bielefeld: Transcript 22015 (= Cultural Studies 36), baden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009, 421. 296. 24 In Wahrung dieses Anliegen verband die Kommunikative Theologie 30 Scharer 2014 [Anm. 20]. die loci-theologici-Lehre von Melchior Cano und Neuinterpretatio- 31 Bhabha 2012 [Anm. 28], 64. nen mit dem Ansatz der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth C. 32 Ebd. Cohn. Vgl. Forschungskreis Kommunikative Theologie 2006 33 Babka, Anna / Posselt, Gerald: Vorwort, in: Bhabha, Homi K.: [Anm. 17], 80–84. Über kulturelle Hybridität. Übertragung und Übersetzung. Herausge- 25 Die Begrenztheit des eigenen Anspruchs erkennen können, heißt, geben und eingeleitet von Anna Babka und Gerold Posselt, Wien: ‚mit dem Vielleicht zu lernen‘: Vielleicht haben die Anderen doch Verlag Turia + Kant 2012, 7–16, 15. (auch) Recht. 34 Yildiz 2009 [Anm. 23], 421. 26 Bert Roebben hat hier die Diktion von Mary C. Boys („learning in the presence of the other“) aufgenommen. Roebben, Bert: Religionspäda- AutorInneninformation gogik der Hoffnung. Grundlinien religiöser Bildung in der Spätmo- Assoz.-Prof. Dr.in Martina Kraml derne, Berlin: Lit 22011 (= Forum Theologie und Pädagogik 19), 151. Institut für Praktische Theologie 27 Der Gedanke des Aufbrechens aus dualistischen Strukturen (Entwe- Karl-Rahner-Platz 1 der-Oder-Konstruktionen) findet sich auch bei Käte Meyer-Drawe: A-6020 Innsbruck „Die Bemühung um eine Sicht, die sich aus dem Entweder-Oder her- e-mail: [email protected] auswinden möchte, richtet sich auf Zwischenmöglichkeiten, in denen GND: (DE-588)130623482 die zur Entscheidung gebrachten Alternativen noch verbunden sind, auf eine ‚Philosophie mit verschiedenen Eingängen‘, die nicht nur Univ.-Prof. Mag. Dr. Zekirija Sejdini dem Philosophen offenstehen.“ Meyer-Drawe, Käte: Illusionen von Universität Innsbruck Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, Mün- Karl-Rahner-Platz 1 chen: Kirchheimverlag 22000, 10. A-6020 Innsbruck 28 Vgl. dazu Bhabha, Homi K.: Über kulturelle Hybridität. Übertragung e-mail: [email protected] und Übersetzung. Herausgegeben und eingeleitet von Anna Babka GND: (DE-588)1031178864 und Gerold Posselt, Wien: Verlag Turia + Kant 2012. 29 Vgl. dazu Kritik an Bhabhas Theorie, in der ihm u. a. mangelnde Klarheit und Transparenz vorgeworfen werden: Castro Varela,

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Helga Kohler-Spiegel

Religiöses Lernen angesichts gegenwärtiger Vielfalt

Religionspädagogische Überlegungen die autorin Prof.in Dr.in Helga Kohler-Spiegel, Pädagogische Hochschule Vorarl- berg, Fachbereich Humanwissenschaften, Prof. für Pädagogische Psy- chologie und Religionspädagogik, Psychoanalytikerin, Psychothera- peutin und (Lehr-)Supervisorin in Feldkirch/Österreich.

Abstract Eine umfangreiche Studie zu den Werthaltungen junger Menschen in Vorarlberg kann den Blick öffnen für die Heterogenität junger Menschen heute. In dieser Vielfalt das eigene religionspädagogische Grundverständnis transparent zu machen, religiöses Lernen anzuregen und immer wieder neu altersentsprechende Formen für die Begleitung dieses Lernens zu entwickeln, sind zen- trale Aufgaben einer Religionspädagogik, die sich in Vielfalt und Dialog versteht. Schlagworte: Religion, Lernen, Vielfalt, Religionspädagogik, Erhebung, Vorarlberg

Religious learning in the view of present diversity. Considerations on religious educational science: A comprehensive study on the value orientation of adolescents in Vorarlberg will make the heterogeneity of today‘s youth appa- rent. To make one‘s own basic understanding of religious education evident within its variety, to stimulate religious education, and to continuously redevelop age appropriate forms of learning guidance are the vital tasks of educational science in a religious faculty seen in diversity and engagement. Keywords: Religion, Learning, Diversity, Religious education, Survey, Vorarlberg

1. Miteinander Spaß haben, einander treu sein … • Unterscheiden sich Wertorientierungen und Ver- Heterogenität konkret: Werte von Jugendlichen haltensbereitschaften von SchülerInnen verschie- in Vorarlberg dener Schultypen? • Unterscheiden sich Werthaltungen von Jugendli- Wie sehen Jugendliche ihre Zukunft? Positiv oder mit chen mit und ohne migrantischem Hintergrund Sorge? Welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ent- und wenn ja in welcher Weise?1 wicklungen machen Jugendlichen Angst? Wie sehen sie Die Fragestellungen brachten es mit sich, dass für die Schule und Familie, ihre LehrerInnen, ihre Eltern und sich Arbeit am Fragebogen breite Kooperationen fachlicher und selbst? Welche Vorstellungen haben sie von Liebe und Ehe, kultureller Art unverzichtbar waren. In der Zwischenzeit von Politik und Religion? 2175 Jugendliche in Vorarlberg sind die Arbeiten für die fünf Jahre nach der Erstuntersu- zwischen 14 und 16 Jahren haben 2009 einen 15-seitigen chung angesetzten Folgeuntersuchung zur Bestätigung und/ Fragebogen zu verschiedenen gesellschaftsrelevanten The- oder Korrektur des Forschungsergebnisses von 2011 aufge- menfeldern ausgefüllt. Bei der Auswertung interessierten nommen, die Ergebnisse dazu sind 2016 zu erwarten. uns folgende Aspekte: Die Befragung basierte auf einem offenen Wertebegriff, • Was ist jungen Menschen in Vorarlberg wichtig, bei dem ‚Werte‘ verstanden werden als „allgemeine und wohin entwickeln sich die Wertorientierungen? grundlegende Orientierungsrichtlinien, die für das Denken, • In welchen Bereichen sind die Wertorientierungen Reden und Handeln der Menschen auf individueller und von Mädchen und Buben ähnlich, in welchen kollektiver Ebene als verbindlich akzeptiert, dabei explizit Bereichen unterscheiden sie sich?

Helga Kohler-Spiegel: Religiöses Lernen angesichts gegenwärtiger Vielfalt. Religions- 39 pädagogische Überlegungen • ÖRF 23 (2015), 39–46 artikuliert oder implizit angenommen werden.“2 Ausge- 1.5 Nicht zu unterschätzen: Religion wählte Ergebnisse mögen exemplarisch Einblick geben in Feste haben für fast alle Jugendlichen hohe Bedeutung. die Situation von Jugendlichen in Vorarlberg. Sie sind eingebettet in familiäre Traditionen. Für Jugendli- che ohne Migrationshintergrund sind vor allem der persön- 1.1 Optimistische Zukunftsperspektive – konkrete Zukunfts­ liche Glaube und innere religiöse Überzeugungen von ängste Bedeutung, für Jugendliche mit türkischem Migrationshin- Erfreulich, wie optimistisch die Vorarlberger Jugendli- tergrund scheint Religion zum Kern der Identität zu gehö- chen ihre Zukunft sehen. Nahezu zwei Drittel der Vorarlber- ren, bei ihnen finden alle Fragen der Religion ca. 90 % ger Jugendlichen haben feste Pläne für die Zukunft, sie hal- Zustimmung. Nicht überraschend haben Religion und Reli- ten ihre Ziele für erreichbar. Inhaltlich ist dies bei allen eine giosität für Mädchen etwas mehr Bedeutung als für Buben, Kombination von gelingenden Beziehungen, einer guten sowohl in den praktizierten Formen als auch den verinner- Ausbildung und dem Wunsch, das Leben zu genießen. lichten Überzeugungen. Mit ansteigendem Alter und mit Gleichzeitig haben die Jugendlichen sehr konkrete Zukunfts­ höherer Schulbildung sinkt die Zustimmung zu religiösen ängste: An erster Stelle stehen Ängste vor Brüchen in sozia- Überzeugungen, die Vorstellung, ohne Religion und Glaube len Beziehungen, Trennung der Eltern und Zerbrechen von leben zu können, nimmt zu. Freundschaften, gefolgt von existentiell wirtschaftlichen Befürchtungen wie der Angst, keinen Ausbildungs- oder 1.6 Hohe Bedeutung von Bildung und Schule Arbeitsplatz zu finden. Bei Jugendlichen mit Migrationshin- Die hohe Bedeutung, die die Vorarlberger Jugendlichen tergrund kommt die Befürchtung hinzu, auf Grund der Her- Bildung und Schule beimessen, zieht sich konstant durch die kunft bei der Arbeitsplatzsuche im Nachteil zu sein, bei Ergebnisse der Studie ‚Lebenswelten‘. Eine gute Schulausbil- männlichen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund ist dung ist ein vorrangiges Ziel der Jugendlichen. Sie wird von 3 die Angst vor starker Zuwanderung deutlich. einer großen Mehrheit als der beste Start in eine erfolgreiche Berufslaufbahn bewertet. Nahezu 90 % der befragten 1.2 Selbstsicher, ausgeglichen, allem gewachsen? Jugendlichen sind der Auffassung, in ihrer Schule eine gute Bei Fragen zur Persönlichkeit sind Selbstsicherheit und Allgemeinbildung zu erhalten. Drei Viertel meinen, dass das Selbstzufriedenheit bei Jungen stärker ausgeprägt als bei in der Schule Gelernte im Leben nützlich sei. In ihren Bezie- Mädchen. Die Zufriedenheit mit dem Aussehen und dem hungen zu den LehrerInnen haben 70 % der Jugendlichen eigenen Körper ist bei Mädchen mit Migrationshintergrund das Gefühl, ernst genommen zu werden. Eine deutliche deutlich höher als bei Mädchen ohne Migrationshinter- Mehrheit schätzt Notengebung als fair ein, die methodische grund, Paralleles gilt für Buben. Gestaltung des Unterrichtsstoffes wird kritisch bewertet. Eindrücklich ist, dass ein Drittel der Mädchen sagt, vor Prü- 1.3 Immer wieder unterschätzt: Familie ist wichtig fungen schlecht zu schlafen, und jede zweite steht „voll unter Mädchen wie Buben äußern mit knapp 95 % den Stress“, v.a. Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund Wunsch nach einer guten Beziehung zu ihren Eltern, 80 % sind davon besonders betroffen. wünschen sich, dass sich die Eltern für sie interessieren. Familiäre Werte und Bildungswerte stehen deutlich an erster 1.7 Zusammenfassend Stelle für die jungen Menschen. Fast 50 % der Jugendlichen Die Studie redet nicht über Jugendliche, sondern zeigt, wollen laut der Studie so sein wie ihre Eltern. was Jugendliche in ihrer Verschiedenheit selbst über die Themenbereiche Freizeit, Zukunft, Ziele, Persönlichkeit, 1.4 Der Wunsch nach Partnerschaft und Beziehung Familie und Erziehung, Partnerschaft, Stellung von Mann Beziehungs- und soziale Werte sind bei Mädchen stär- und Frau, Politik, Integration und Minderheiten, Reli- ker ausgeprägt als bei Buben. Wenn es aber um Partner- gion sowie Bildung und Schule denken. Verantwortliche schaft geht, sind Treue, Verlässlichkeit und miteinander in den Bereichen Politik und Soziales, Bildung und Schule, Spaß haben für Mädchen wie Buben mit fast 100 % von zen- Kirchen, Jugendarbeit und Familienverbände u.v.m. nutzen traler Bedeutung. Bildungsinteresse ist nicht nur für die die Daten zur weiteren Diskussion und zur Präzisierung Jugendlichen und deren Eltern sehr wichtig, sondern Bil- dung wird auch vom künftigen Partner erwartet. Finanzielle ihrer Schwerpunkte. Zugleich aber sind die Ergebnisse der Unabhängigkeit ist für Mädchen wie für Buben wichtig – Studie eine eindrückliche Einladung, junge Menschen nicht und natürlich das Aussehen. alleine zu lassen mit ihrer Suche nach Orientierung.

40 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 2. Religionspädagogisches Grundverständnis ren, d.h. über Ankündigen und Kommentieren der Hand- lungszusammenhänge, über die wechselseitige Feinabstim- Alltag an Schulen und Hochschulen, auch an der eige- mung in der Interaktion, über Berührung und Körperkon- nen Hochschule, spiegelt die in der Studie sichtbare Hetero- takt. Das Baby lernt dadurch auf kognitiver Ebene, dass sein genität, längst sind SchülerInnen und Studierende kulturell Verhalten eine Reaktion der Mutter, des Vaters bzw. der pri- und religiös heterogen in ihrer Herkunft und in ihrer gegen- mären Bezugsperson verursacht bzw. herbeiführt, dass es wärtigen Zugehörigkeit. Dies fordert auch im Blick auf die vorhersehbare Zusammenhänge zwischen Ereignissen gibt, Religionspädagogik, das eigene Grundverständnis transpa- was die Welt durchschaubar, steuerbar und sicher macht. Es rent zu machen, um über religiöses Lernen in Dialog treten lernt emotional, dass die Bezugsperson ihre Reaktion auf zu können und darüber, wie Lernen angesichts religiöser den Erregungszustand des Babys abstimmt und diesen regu- Vielfalt und in religiöser Vielfalt entwickelt und ermöglicht liert, das Baby erlebt, dass seine Gefühle verstanden werden, werden kann. dass es Trost spendet, wenn man die eigenen Gefühle mit- 11 2.1 Am Beginn des Lebens: Bindung – die besondere Bezie­ teilt. hung 2.2 Im Zentrum der christlichen Botschaft: Beantwortet Bindung ist ein angeborenes Grundbedürfnis des Men- werden schen, um Sicherheit zu erlangen, sich zu orientieren, um 4 Angst zu mindern, und auch Werte zu vermitteln. Attach- Ein Bindungsangebot ment ist (nach Mary Ainsworth, auf der Basis von John Der kurze Einblick in die emotionale Entwicklung zeigt Bowlby5) „die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen die Bedeutung der frühen Erfahrungen für den Menschen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen.“6 Es ist ein und die Notwendigkeit, sicher zu sein und sich im Gegen- „imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person veran- über – im Spiegel – selbst wahrnehmen zu können. Reso- kert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine nanz geben meint also, ein Kind, eine andere Person emoti- andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, onal zu beantworten, auf die Empfindungen, Stimmungen, bindet.“7 Die Qualität von Bindung beschreibt das „Aus- Gedanken zu reagieren und mit dem Gegenüber mitzusch- maß, mit der eine Bindungsbeziehung Sicherheit aus der wingen.12 Sicht des ‚Schwächeren’ in der Beziehung vermittelt. […] Jüdisch-christliche Tradition beschreibt die Beziehung Die Hauptqualitäten sind: sicher, unsicher-vermeidend und zwischen Gott und dem Menschen häufig mit den Bildern unsicher-ambivalent.“8 Bindung entwickelt sich im Kontakt, von Bindung, Beziehung und Begegnung. ‚Religio‘ meint in der Beziehung. ‚sich rückbinden‘, ‚glauben‘ heißt in der hebräischen Wurzel Ein Beispiel: Sie tragen ein Kind auf dem Arm, sie ‚festhalten‘ und beschreibt die Bewegung des kleinen Kin- lächeln das Kind an, das Kind nimmt Ihre Gesichtszüge des, wenn es sich in einer unsicheren Situation am Rockzip- wahr, es nimmt dies auf und lächelt zurück. Sie lächeln wie- fel, an den Hosenbeinen seiner primären Bezugspersonen der, Sie verknüpfen das Lächeln mit Worten, vielleicht mit festhält. Solange die Bezugsperson für ein Kind da ist, muss einem Summen, einer Melodie. Das Kind nimmt zu den das Kind die Bindung nicht ‚sichern‘. Wenn aber Mama oder Gesichtszügen den Klang Ihrer Stimme auf, es reagiert mit Papa den Raum verlässt, muss das Kind reagieren, rufen, seinen Möglichkeiten, immer in Resonanz zu Ihrem Aus- schreien. Auch religiös wird Bindung häufig in Momenten druck. So entsteht Dialog, so wächst Bindung. von Unsicherheit gesichert.13 Das von Giacomo Rizzolatti entdeckte System der ‚Spie- Die jüdische und christliche Bibel lebt von Narrationen, gel-Nervenzellen‘ erklärt die schon längere Zeit bekannte, Leben wird erzählt. Da ist die Rede von Liebe und all den kurz nach der Geburt einsetzende Fähigkeit des Säuglings, Gefährdungen von Liebe, von Angst und Freude und Mut empfangene Signale aufzunehmen und durch Imitation und Wut und Ohnmacht. Biblische Texte erzählen von emo- zurück zu spiegeln, auch neurobiologisch.9 Martin Dornes tionalen Erfahrungen, wenn es um die Erfahrungen von betont, dass diese Fähigkeit bereits beim Säugling die Erfah- Menschen mit Gott geht. ‚Christlich‘ (weil ich davon geprägt rung ermöglicht, „daß innere Zustände keine privaten bin) wird der Name, also das Wesen Gottes erfasst mit den Ereignisse sind, sondern soziale- und Beziehungsangelegen- vier Buchstaben: JHWH – ‚Ich bin bei Dir. Ich bin da, als heiten.“10 Es ermöglicht die Erfahrung: Andere sehen, was der ich da sein werde.‘ Das Zentrum, der Name Gottes, ist ich fühle, ich bin in meinem Gefühlszustand wahrgenom- ein Bindungsangebot. Gott begleitet, richtet auf, ruft heraus men und anerkannt. und weckt zum Leben. In einem (anonym überlieferten) Bindung entwickelt sich über Blickkontakt mit dem Text für 9-jährige Kinder heißt es: „Sag es mir // Sag es, Baby mit passender Affektabstimmung, über das Verbalisie- wenn ich mich verkriechen möchte, / wenn ich meine Fami-

ÖRF 23 (2015) • 39–46 41 lie nicht sehen mag, / wenn ich genug habe von der Schule. phisch-theologisches Denken fordern heraus, verschiedene // Sag: Ich bin bei dir. // Sag es, wenn die schlimmen Träume Ausdrucksmöglichkeiten und Spracharten zu entwickeln. kommen, / wenn ich in der Nacht aufschrecke, / wenn ich Dabei kommen auch ethische Fragen ausdrücklicher in den am Morgen nicht aufstehen mag // Sag: Ich bin bei dir. // Sag Blick: Wie ist das mit Gut und Böse? Warum müssen Kinder es, wenn mein Herz klopft, / wenn ich die Nähe der Eltern leiden? Stimmt es denn, dass die Welt einen ‚Sinn‘ hat? Und suche, / wenn ich vor mich hinträume. // Sag: Ich bin bei dir. mein Leben? Friedrich Schweitzer nennt es ein „Recht des // […] Sag es immer: / Ich bin bei dir.“14 Kindes“, auch mit den „großen Fragen“ nach Leben und Auch am Beginn und am Ende des Weges Jesu steht Sterben und Ungerechtigkeit und Leid nicht allein gelassen diese Botschaft des ‚Ich bin bei dir‘: Jesu Verkündigung zu werden. Schweitzer benennt fünf Fragen, „die entweder macht erfahrbar und sichtbar: Der Gott der Bibel verspricht die Kinder an uns richten oder mit denen wir uns selbst bei den Menschen kein einfaches und unkompliziertes, auch der Erziehung konfrontiert sehen. Und es sind ‚große Fra- kein leidfreies Leben, aber ein begleitetes Leben. Einander gen’, weil sie zumindest potentiell nach einer religiösen Ant- zu beantworten, einander nicht alleine zu lassen mit den wort verlangen.“18 jeweils eigenen Erfahrungen und Empfindungen, Heraus- Neben dem Recht des Kindes auf Nahrung und forderungen und Nöten ist eine zutiefst christliche Grund- Wohnung, auf emotionale und kognitive Entwicklung, haltung, wie sie sich in den Schriften des Neuen Testaments haben Kinder und Jugendliche so verstanden das Recht auf als zentrale Haltung Jesu15 zeigt. Theologisch gesprochen einen Raum zur Auseinandersetzung mit dem, was Men- wird in dieser Erfahrung von Resonanz, von Beantwortet- schen im Kontext von Religion und Religionen beschäftigt werden durch Jesus die Resonanz, das Beantwortetwerden und beschäftigt hat, ausgefaltet mit allen heutigen didak- durch JHWH sichtbar. Dieses Wesensmerkmal Gottes ist tischen und methodischen Möglichkeiten. Es ist Aufgabe zentral in Ex 3,1–12 überliefert und durch die hebräische von Erwachsenen, eine auch in religiöser Hinsicht anre- und christliche Bibel hindurch bestätigt. Sich als Christin gungsreiche Mit- und Umwelt zu sichern und das Nachden- oder Christ zu verstehen heißt, sich eingeladen zu wissen ken über diese Fragen anzuregen und zu begleiten. Der zur ‚Nachfolge‘, d.h. sich gegenseitig anzuerkennen, einan- Gesetzgeber in Österreich stuft es nicht nur als Recht, son- der Resonanz zu geben, und besonders die Menschen zu dern als Pflicht ein, indem er auf der Sekundarstufe II einen beantworten, die am Rande stehen, die nicht bzw. kaum Schulversuch ‚Ethik‘ vorsieht, wenn dieses Nachdenken gesehen werden. nicht im jeweiligen Religionsunterricht geschieht.19

2.3 Religionspädagogische Überlegungen 3. Religion lernen im Kontext von Schule Der Begriff ‚Pädagogik‘ hilft zum Verständnis: pais-a- Szene: Eine Grundschule im Rheintal in Vorarlberg, gein, ein Kind bei der Hand nehmen, führen. In der Antike eine Mischung aus urbanem und ländlichem Raum. 19 wurde der Begriff verwendet, wenn der Sklave das freie Kinder, 11 Nationen, acht Religionen. Vielfalt ist selbstver- Kind zum Ort des Lernens begleitete. Lernen zu ermögli- ständlich, Heterogenität ist Alltag. Für die Kinder ist das chen bedeutet, Kinder an Orte zu begleiten, an denen sie (noch) kein Problem, für sie ist wichtig, mit wem zu spielen lernen können. Dies gilt auch für Religiöses: Räume zur Freude macht, wer nicht schupst, wer sein Jausenbrot teilt. Verfügung zu stellen, in denen Kinder sich im Religiösen Leistungsstarke Kinder sind mit verträumten langsamen orientieren lernen, Erfahrungen sammeln und diese deuten Kindern zusammen, Sprachen und religiöse Feste sind ver- lernen, ihren eigenen Standpunkt im Religiösen und im schieden – Kinder erzählen einander davon. Selbstver- Glauben finden können. So wird Begegnung mit Religion ständlich sind Lehrpersonen gefordert, diesen Lernraum zu ermöglicht – mit Inhalten, mit Personen, mit Ritualen, mit gestalten. Traditionen, mit verschiedenen Konfessionen und Religio- 16 nen. 3.1 Lernen in Heterogenität Die Vorstellungen und Bilder, die sich Kinder von ‚Gott‘ Die Szene zeigt: Schulisches Lernen ist inklusiv und machen, entwickeln sich entlang der kognitiven und emo- heterogen, in allen Lebens- und Lernbereichen, kompetenz­ tionalen Entwicklung.17 Die Entwicklungen in Sprache, orientiert formuliert in allen Domänen. Heterogenität macht Emotionen und im Denken des Kindes ermöglichen auch die Verschiedenheit zum Normalfall, Inklusion macht deut- eine stärkere Differenzierung in seinen religiösen Vorstel- lich, dass ein gemeinsames Merkmal zwischen Menschen lungen. Philosophieren und Theologisieren mit Kindern die reale Vielfalt unter diesen Menschen nicht aufhebt. Wir zeigt, dass in der mittleren und späteren Kindheit Fragen sind gewohnt, Kategorien zu bilden, gemäß denen wir Welt von Religion und Glaube zur gedanklichen Herausforderung wahrnehmen, strukturieren und meist auch bewerten. Ein- werden können, naturwissenschaftliches und philoso-

42 Österreichisches Religionspädagogisches Forum heimisch – fremd, männlich – weiblich, Hautfarbe, Nation- Verortung. Die Notwendigkeit zur individuellen Identitäts- alität, Religion – verschiedene Kategorien werden verwen- konstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis det, um ‚ingroup‘ und ‚outgroup‘ zu definieren, um zu bes- nach Anerkennung und Zugehörigkeit. [...] Identität bildet timmen, wer dazu gehört und wer nicht. Heterogenität ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der hingegen öffnet den Blick für die Vielfalt, Inklusion hilft u.a. äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppel- wahrzunehmen, dass Menschen in einer dieser Kategorien charakter von Identität sichtbar: Sie soll einerseits das gleich sein können – und trotzdem verschieden sind. unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzepta- ble darstellbar machen. Insofern stellt sie immer eine Kom- 3.2 Ein differenzierter Begriff von ‚Religion‘ promissbildung zwischen ‚Eigensinn‘ und Anpassung dar.“26 Die Szene zeigt auch: Im Kontext von Schule als öffent- Im erzählenden Erinnern konstruiert die erzählende lichem Bildungsraum steht nicht Glaube, sondern Religion Person eigene Wirklichkeit, eigene Identität. „Durch seine im Vordergrund. Ohne auf alle Aspekte von ‚Religion‘ ein- Narrationen konstituiert das menschliche Subjekt seine zugehen, helfen verschiedene Differenzierungen20, hier Welt, seine Beziehungen zu sich selbst und zu anderen, seine genannt seien exemplarisch die Dimensionen von Charles Gefühle und Empfindungen. Durch die Form der Narration Glock, der daran erinnert, dass ‚Religion‘ immer mehrpers- transformiert der Mensch natürliche Zeit in menschliche pektivisch zu verstehen ist.21 Die verschiedenen Aspekte Zeitlichkeit und entdeckt so, wer und was er zwangsläufig prägen sich in Biografien unterschiedlich aus, und schuli- gewesen sein muß, um zu demjenigen geworden zu sein, der sches Lernen setzt unterschiedliche Schwerpunkte, die Klar- er nun ist und eines Tages vielleicht sein wird. Indem die heit schaffen darüber, von welcher Art von Religionsunter- Narration Ereignisse zu Plots […] organisiert, ermöglicht sie richt die Rede ist. Denn in der Schule wird Religion ein Teil Erklärungen von Ursache und Wirkung und schafft zugleich von ‚Bildung‘. eine Gelegenheit, moralische Akteure mit ihren Handlungen und Motiven, Verantwortlichkeiten und Unzulänglichkeiten 3.3 Das Tun der Lehrperson zu identifizieren.“27 Sich seiner selbst gewiss sein ist ohne Nach John Hattie (815 Metaanalysen mit über 50.000 Erzählen nicht möglich. Identität ist immer auch narrativ Studien)22 wissen wir, „what works best?“: Es ist nicht ein- konstruiert, indem erinnert wird, was in die Konstruktion fach die Lehrperson, die zählt, sondern das Lehrerhandeln. der eigenen Identität passt, und vergessen wird, was diese Entscheidend ist, was die Lehrperson tut. Entscheidend aber narrative Identität stört.28 Zur individuellen Erinnerung ist nach Hattie auch die Haltung, dass es die Lehrperson gehören auch die Erinnerungen und die erinnerten interessiert, dass die SchülerInnen wirklich etwas lernen. Geschichten der Familie, der Region sowie der eigenen Kul- Und entscheidend ist das Tun der Lehrperson: dass die tur und Religion. Lehrperson auf ein vertrauensvolles, angstfreies, fehler- Das Subjekt kann über sich selbst und seine Identität freundliches und menschlich zugewandtes Miteinander ver- Auskunft geben, Identität ist also auch reflexiv zugänglich bunden mit hohen Ansprüchen an Einsatz und Anstren- und damit erforschbar. Identität wird als Relationsbegriff gungsbereitschaft achtet.23 SchülerInnen müssen erleben, verstanden, es handelt sich also nicht um ein statisches Kon- dass die Lehrperson sich für sie interessiert, oder direkt for- strukt, welches Auskunft darüber gibt, wie man sich zu muliert: Sie müssen spüren, dass die Lehrperson sie mag. So einem gegebenen Zeitpunkt sieht, vielmehr wird eine Bezie- wird Resonanz-Geben, Beantwortet-Werden konkret. hung hergestellt zur eigenen Person, zu anderen Personen, zu anderen Situationen, oder früheren oder zukünftigen 3.4 Identität und deren Konstruktion Zeitpunkten.29 Leben verlangt nach Deutung, der Zwang zu deuten kann als Existenzial beschrieben werden.24 Was in den Sze- 3.5 Befremdungen nen des Alltags erlebt und im Erzählen verbunden und Die Erfahrung, sich seiner selbst – vorläufig – sicher zu gedeutet wird, ermöglicht die Wahrnehmung und das Erle- sein, wird durch die Erfahrung ergänzt, sich seiner selbst ben der eigenen Person, eingebunden in die Wahrnehmung nicht zu sicher zu sein. Es gilt, die prinzipielle Fragmentari- anderer.25 „Identität ist ein Akt sozialer Konstruktion: Die tät von Ich-Identität nicht zu leugnen oder zu verdrängen. eigene Person oder eine andere Person wird in einem Zugleich brauchen Menschen Szenen, die das ‚Befremden‘ Bedeutungsnetz erfasst. Die Frage nach der Identität hat lehren, die sich dem Verstehen entziehen, die nicht vorgau- eine universelle und eine kulturell-spezifische Dimensionie- keln, dass Menschen und ihre Geschichten bruchlos zu ver- rung. Es geht immer um die Herstellung einer Passung zwi- stehen sind. „Sie wahren Distanz, eine Art Respekt vor den schen dem subjektiven ‚Innen‘ und dem gesellschaftlichen Fremdheiten in den Geschichten, die sie erzählen. Sie ver- ‚Außen‘, also um die Produktion einer individuellen sozialen weigern uns Zuschauern die Identifikation mit den Figu-

ÖRF 23 (2015) • 39–46 43 ren.“30 In der Begegnung mit Geschichten, Szenen, Men- um sich selbst und die anderen und die Welt zu verstehen.32 schen, deren Lebenskonzept und Lebensform sich von den Religiösem im Alltag zu begegnen, heißt auch, Religiöses eigenen unterscheiden und in der Begegnung mit Fremden und Ausprägungen von Religion im Alltag wahrzuneh- gehen die Selbstverständlichkeit des Eigenen, die Selbstver- men.33 Und es braucht junge Menschen, die sich anregen ständlichkeiten der eigenen Gruppe verloren; Nachdenken lassen, die sich einlassen. über Eigenes kann einsetzen. Denn auch ‚Fremdheit‘ ist ein Längst ist – mit Wolfgang Welsch formuliert – klar, dass Beziehungsbegriff. Edouard Glissant spricht vom „Men- „humanes Leben nur im Plural möglich“34 ist. Werthaltun- schenrecht auf Undurchsichtigkeit“. „Es genügt nicht, dem gen und Verhaltensdispositionen von Jugendlichen zu erhe- anderen seine Andersartigkeit zuzugestehen. Was ich ein- ben und aufzuzeigen, wie junge Menschen sich selbst und klage, ist das Menschenrecht auf Undurchsichtigkeit. Ich ihre Zukunft sehen, kann anregen, diese Vielfalt zu sehen muss dich nicht verstehen müssen, um mit dir leben zu kön- und die Situation von jungen Menschen wahrzunehmen, nen.“31 um so auch religiöse Lernangebote immer wieder neu zu entwickeln. Untersuchungen aber ersetzen nie den direkten 3.6 Erzählen und Deuten, Feiern u.v.m. Kontakt, den Dialog mit den an religiösen Lernprozessen Szenen sind also Ausgangspunkt für Wahrnehmung, beteiligten Personen. Diese und andere Untersuchungen Deutung und Erinnerung von Erlebtem, in Szenen wird machen deutlich, dass grundlegende Fragen und Werte für Erlebtes aufgenommen und konstruierend verarbeitet, in jede Generation neu bedeutsam sind, die Fragen nach Szenen kann es abgelegt und wieder vergegenwärtigt wer- Zukunft und Glück, nach Ängsten und Leid sowie nach den, dies geschieht emotional. Religiöse Überlieferungen einem ‚guten Leben‘. Die neuen Daten, die für 2016 für Vor- und Traditionen stellen kollektive Szenen zur Verfügung arlberg zu erwarten sind, werden zeigen, inwieweit sich in und halten diese präsent. In den ‚heiligen Geschichten‘, in fünf Jahren verändert hat, was jungen Menschen wichtig den Bildern, Gebeten und Liedern sowie in den Ritualisie- und wertvoll ist. Diese Jugendlichen begleiten wir in ihren rungen werden Narrationen – in der Differenziertheit kol- religiösen Lernprozessen, wie immer sie sich gerade zeigen. lektiver Tradierungsprozesse mit ihren Anpassungen, Diese Jugendlichen werden als Erwachsene die Zukunft des Ergänzungen und Auslassungen – weitergegeben. Die ‚gro- Landes mitprägen. ßen Szenen‘ der religiösen Überlieferung unterbrechen gewohnte Deutungen bzw. können diese unterbrechen, und Anmerkungen sie können sich immer wieder neu mit erlebten eigenen Sze- 1 Böheim-Galehr, Gabriele / Kohler-Spiegel, Helga: Lebenswelten nen verbinden, mit Erfahrungen, die im Erzählen das Erin- – Werthaltungen junger Menschen in Vorarlberg. Unter Mitarbeit von nerte gegenwärtig setzen. In dieser Verbindung kann auch Johann Engleitner, Petra Hecht, Egon Rücker, Innsbruck: Studienver- eine einseitig individualisierte Perspektive zugunsten von lag 2011 (= FokusBildungSchule 1). Mit aller weiteren Literatur in gemeinschaftlich kollektiven Erfahrungen und Deutungen diesem Band. Vgl. auch Böheim-Galehr, Gabriele / Engleitner, Johann / Koh- überwunden werden. ler-Spiegel, Helga u.a.: Die Vorarlberger Schulen der 10- bis 14-Jäh- rigen in der Wahrnehmung von Schüler/innen, Lehrpersonen und 4. Exemplarische Konkretion und Schluss Eltern: Relevanz für die Weiterentwicklung der Sekundarstufe I, Inns- bruck: Studienverlag 2015 (= Schule der 10- bis 14-Jährigen in Vorarl- Einige wenige Konkretionen mögen das Gesagte abrun- berg. Entwicklungen, Bildungshaltungen und Bildungserwartungen. den und die Überlegung anregen, was für so verstandenes Projektbericht 1). religiöses Lernen in Vielfalt hilfreich sein könnte. 2 Rödder, Andreas: Werte und Wertewandel. Historisch-politische Selbstverständlich braucht es Erwachsene, die sich für Perspektiven, in: Rödder, Andreas / Elz, Wolfgang (Hg.): Alte Werte junge Menschen und für Religion interessieren und die – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen: Vanden- hoeck und Ruprecht 2008, 9–25, 12. bereit sind, sich auf beides einlassen. Es braucht Erwach- 3 Vgl. auch Böheim-Galehr, Gabriele / Kohler-Spiegel, Helga: sene, die jungen Menschen die Grunderfahrungen wie ange- Lebenswelten junger Menschen in Vorarlberg, in: Erziehung und nommen sein, einen Platz haben, sich versöhnen u.a. Unterricht 161/9-10 (2011) 894–902. ermöglichen. Und es braucht Menschen, die bereit sind, 4 Vgl. exemplarisch Stern, Daniel: Tagebuch eines Babys. Was ein Kind zusammen mit jungen Menschen Sprache zu entwickeln für sieht, spürt, fühlt und denkt, München: Piper TB 1993. 5 Vgl. Holmes, Jeremy: John Bowlby und die Bindungstheorie, Mün- das, was glücklich und was Angst macht, was traurig sein chen: Ernst Reinhardt 2009, 86ff. Bowlby, John: Bindung als sichere lässt und was hoffen lässt – in Wort, in Bild und Bewegung, Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie, München: in Musik. Privatisierung von Religion hat häufig auch zu Ernst Reinhardt 2010. einer Verarmung der Sprache geführt, deshalb braucht es 6 Zit. nach Grossmann, Karin / Grossmann, Klaus E.: Bindungen – umso mehr verstehbare Sprache und Geschichten und Feste, das Gefüge psychischer Sicherheit, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, 29. Vgl. auch Grossmann, Karin / Grossmann, Klaus E. (Hg.): Bindung

44 Österreichisches Religionspädagogisches Forum und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die 21 Vgl. den Aspekt des Wissens, des persönlichen Glaubens, des Erle- Grundlagen der Bindungstheorie, Stuttgart: Klett-Cotta 2009. bens, der Ritualisierungen, der Ethik, der Gemeinschaft. Ausführlich 7 Zit. nach Grossmann / Grossmann 2004 [Anm. 6], 72; vgl. auch vgl. Kohler-Spiegel, Helga: „Wer nichts vom Menschen versteht, Holmes 2009 [Anm. 5], 86ff. versteht auch nichts von Religion“. Wie viel Religion braucht Religio- 8 Vgl. Grossmann / Grossmann 2004 [Anm. 6], 72ff. Eine andere Ein- sität in der Schule?, in: Kropac, Ulrich u.a. (Hg.): Zwischen Religion teilung der Bindungsmuster erläutert Grom, Bernhard: Religionspsy- und Religiosität. Ungebundene Religionskulturen in Religionsunter- chologie, München: Kösel 32009, 51f. Mit Bezug auf Bartholomew richt und kirchlicher Jugendarbeit. Erkundungen und Praxis, Würz- und Horowitz (1991). burg: Echter 2015, 93–104. 9 Vgl. Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen 22 Hattie, John: Visible Learning. A Synthesis of Over 800 Meta-Analy- und Lebensstile unsere Gene steuern, München: Piper 2006, 64f; vgl. ses Relating to Achievement, Abingdon/GB 2009, übersetzt und bear- Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommuni- beitet von Beywl, Wolfgang / Zierer, Klaus: John Hattie: Lernen kation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg: Hoffmann sichtbar machen, Baltmannsweiler: Schneider Verlag 2013, v.a. 27–46. und Campe 2005. Vgl. auch: SQA Schulqualität Allgemeinbildung / Bundesminis- 10 Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwick- terium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hg.): Die Hattie-Studie, lung des Menschen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1993, 159. Wien: 2012, 5. 11 Vgl. exemplarisch Stern 2011 [Anm. 4]. Vgl. Kohler-Spiegel, 23 Zur Auseinandersetzung grundlegend: Vgl. Kohler-Spiegel, Helga: Helga: Über uns selbst hinaus… Bindungserfahrungen und Religion, Wie bestimmen wir den Erfolg von Bildung?, in: Diakonia. Internati- in: Kalcher, Anna Maria / Lauermann, Karin (Hg.): Kompetent für onale Zeitschrift für die Praxis der Kirche 44 (2013) 168–175. die Welt. Bindung – Autonomie – Solidarität, Wien: G&G 2010, 143– 24 Vgl. Kohler-Spiegel, Helga: Identität lernen mit der Bibel. Ein bio- 161. grafiebezogener konstruktivistischer Zugang, in: Büttner, Gerhard, 12 Vgl. Ogden, Thomas: Frühe Formen des Erlebens, Wien: Springer u.a. (Hg.): Religion lernen - Jahrbuch für konstruktivistische Religi- 1995; vgl. Largo, Remo: Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in onsdidaktik. 1: Lernen mit der Bibel, Hannover: Lusa 2010, 83–97. den ersten vier Jahren, München: Piper 2003. 25 Das Gefühl der Ich-Identität ist – nach Erik Erikson – das „angesam- 13 Vgl. insgesamt: Kohler-Spiegel, Helga: Erfahrungen des Heiligen. melte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die Religion lernen und lehren, München: Kösel 2008. man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere 14 Anonym überliefert, zit. nach Kohler-Spiegel 2010 [Anm. 11], 154. Einheitlichkeit und Kontinuität [...] aufrechtzuerhalten.“ Erikson, 15 Vgl. Limbeck, Meinrad: Christus Jesus. Der Weg seines Lebens. Ein Erik: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, Modell, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2003; vgl. Roloff, Jürgen: 107. Jesus, München: C.H. Beck 2000. 26 Keupp, Heiner: Identität, in: Wenninger, Gerd (Hg.): Lexikon der 16 Vgl. exemplarisch Englert, Rudolf: Bloß Moden oder mehr? Konzep- Psychologie. 2, Heidelberg: Spektrum 2001, 243–246, 244. tionen von Religionsunterricht, in: Katechetische Blätter 136/4 (2011) Zur Identität gehört das Geschlecht bzw. die Konstruktion von 296–303; Englert, Rudolf: Was sich im Religionsunterricht lernen Geschlecht, von sex und gender, von biologischem und sozialem lässt, in: Katechetische Blätter 134/1 (2009) 50–58. Geschlecht in unserer Kultur. Vgl. von Braun, Christine / Stephan, Die Verknüpfung mit kompetenzorientiertem Arbeiten nehme ich an Inge: Gender@Wissen, in: Diess. (Hg.): Gender@Wissen. Ein Hand- dieser Stelle nicht weiter auf. Als Verweis genüge: Kohler-Spiegel, buch der Gender-Theorien, Köln: UTB Böhlau 2013, 7–45, 34. Helga: Kompetenzorientiert Religion unterrichten, in: Amt und 27 Reeder, Jürgen: Die Narration als hermeneutische Beziehung zum Gemeinde, 61/1 (2010), 27–38. Unbewußten, in: Psyche 59/Beiheft (2005) 22–34, 24. 17 Vgl. exemplarisch Kuld, Lothar: Das Entscheidende ist unsichtbar. 28 Vgl. Erinnerung selbst sowie Auslassungen und Verzerrungen in der Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen, München: Kösel Erinnerung sind also Leistungen des Ichs, als Abwehr verwendet, ver- 2001; vgl. Schweitzer, Friedrich: Postmoderner Lebenszyklus und stärken sich diese. Vgl. exemplarisch Holderegger, Hans: Der Religion. Eine Herausforderung für Kirche und Theologie, Gütersloh: Umgang mit dem Trauma, Stuttgart: Klett-Cotta 21998, 22. Gütersloh 2003. 29 Vgl. Maier, Markus / Pekrum, Reinhard: Identität, in: Keck, Rudolf 18 Schweitzer, Friedrich: Das Recht des Kindes auf Religion. Ermuti- / Sandfuchs, Uwe / Feige, Bernd (Hg.): Wörterbuch Schulpädago- gungen für Eltern und Erzieher, Gütersloh: Gütersloh 2000, 28: gik. Ein Nachschlagewerk für Studium und Schulpraxis, Bad Heil- Wer bin ich und wer darf ich sein? Die Frage nach mir selbst. brunn: Klinkhardt 22004, 206f., 206. Warum musst du sterben? Die Frage nach dem Sinn des Ganzen. 30 Messerschmidt, Astrid: Befremdungen – oder wie man fremd wird Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? Die Frage nach Gott. und fremd sein kann, in: Schreiner, Peter / Sieg, Ursula / Elsen- Warum soll ich andere gerecht behandeln? Die Frage nach dem bast, Volker (Hg.): Handbuch Interreligiöses Lernen. Eine Veröffent- Grund ethischen Handelns. Warum glauben manche Kinder an lichung des Comenius-Instituts, Gütersloh 2005, 217–228, 225. Allah? Die Frage nach der Religion der anderen. 31 Zit. nach ebd., 224. 19 Vgl. exemplarisch: http://www.schulamt.at/index.php/religionsun- 32 Vgl. exemplarisch die praktischen Vorschläge von Oberthür, Rainer: terricht/ethikunterricht (abgerufen am 30.05 2015) Das große Buch der Symbole. Auf Entdeckungsreise durch die Welt 20 Bei religiösem Lernen können religionskundliche Aspekte (‚learning der Religion, München: Kösel 2009. Vgl. Kohler-Spiegel, Helga: Die about‘) Werterziehung aus reflektierter Grundhaltung, die offen gelegt Bibel von innen her verstehen – Elemente bibliodramatischer Arbeit ist (‚learning from‘), und Elemente gelebten Glaubens und spirituellen mit Kindern und Jugendlichen, in: Text-Raum 11/23 (2005) 8–10. Lebens in einer konkreten Tradition (‚learning in‘) unterschieden 33 Vgl. Englert, Rudolf: Individualisierung und Religionsunterricht. werden. Vgl. Schweitzer, Friedrich: Interne Mitschrift einer Exper- Analysen, Ansatz, Option, in: Katechetische Blätter 121 (1996) 17–21, tentagung über „Religion und Kultur“ am 16. Dezember 2003 an der 19. Vgl. exemplarisch Kohler-Spiegel, Helga: Identität und Begeg- Universität Zürich. nung mit dem Fremden. Ziele, Reichweite und Grenzen interreligiö- sen Lernens im schulischen Religionsunterricht, in: rhs Religion an

ÖRF 23 (2015) • 39–46 45 höheren Schulen 49 (2006) 215–222. Vgl. auch: Edelbrock, Anke / Autorinneninformation Biesinger, Albert / Schweitzer, Friedrich: Religiöse Vielfalt in der Prof.in Dr.in Helga Kohler-Spiegel Kita: So gelingt interreligiöse und interkulturelle Bildung in der Pädagogische Hochschule Vorarlberg Praxis, Berlin: Cornelsen 2012. Liechtensteinerstraße 33–37 34 Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Berlin: Akademie A-6800 Feldkirch 62002, 41; vgl. Schweitzer, Friedrich / Schwab, Ulrich / Ziebertz, e-mail: [email protected] Hans-Georg: Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, GND: (DE-588)122514351 Gütersloh / Freiburg i.Br.: Gütersloh und Herder 2002, 17ff, 89ff.

46 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Sonja Danner

KoKoRu: konfessionell-kooperativer Religions- unterricht – ‚das Wiener Modell’ die autorin Mag.a Sonja Danner, Bereichskoordinatorin für Fortbildung evangelische Religion an Höheren Schulen in Österreich an der KPH Wien/Krems, Mit- glied der Steuerungsgruppe KoKoRu.

Abstract Mit dem Ansteigen der anerkannten Konfessionen/Religionen erfährt auch der Religionsunterricht an Schulen eine größere Viel- falt. Damit verbunden sind erhöhte Kosten und viele ‚stundenplantechnische‘ Stolpersteine. Die Unterbringung der Religions- stunden in den Regelunterricht wird immer schwieriger. Daher hat sich vor Jahren eine Gruppe von Lehrenden, Fachinspektor/ innen etc. zusammengefunden, um über alternative Formen des Religionsunterrichtes in Österreich nachzudenken und diese an ausgewählten Schulen in Wien erprobt. Dafür wurden in eigenen Lehrgängen LehrerInnen ausgeblidet und mit ihnen gemeinsam evaluiert und ein didaktisches Konzept für KoKoRu - konfessionell kooperativen Religionsunterricht- entwickelt. Mittlerweile ist diese Form des Unterrichtens auch in die Ausbildung an der KPH Wien/Krems für künftige ReligionslehrerInnen eingegangen, auch wenn das Modell nur zum Teil in Wien Fuß gefasst hat. Schlagworte: Religionsunterricht, Unterrichtsform, Didaktik, Lehrerausbildung, Schule, Konfession, Österreich

Religious Education: confessional cooperation - the viennese model Due to the rising number of confessions / religions acknowledged by the state religious education in schools is coming up in a greater variety. Rising expenses and rising problems in making timetables are two of the first consequences. Therefore years ago a group of teachers, school inspectors of RE etc. has been formed with the intention to think about alternative forms of RE in . These ideas of RE have been proved in several schools in . Teachers were trained in specific courses to put into practice the concept and together with them the RE lessons were evaluated and didactics of the model of KoKoRU (confessional cooperation in RE) were developed. In the meanwhile this concept of teaching RE is an inherent part of RE-teachers‘ education at the KPH Wien/Krems, even though the model only gained ground in some schools of Vienna. Keywords: Religious education, Teaching method, Post-activity feedback sessions and reflection, Training of Teachers Schools, Christian sects, Austria

it dem Ansteigen der anerkannten Konfessio- men werden unter dem Gesichtspunkt: Hat dieses Modell nen/Religionen erfährt auch der Religionsunter- Zukunft? M richt an Schulen eine größere Vielfalt. Damit verbunden sind unter anderem erhöhte Kosten und viele 1. KoKoRu – wer mit wem, wo und wie? ‚stundenplantechnische’ Stolpersteine. Die Unterbringung der Religionsstunden in den Regelunterricht wird immer 1.1 Vorüberlegungen zum Konzept schwieriger. Daher hat sich vor Jahren eine Gruppe von Leh- Das Projekt eines konfessionell-kooperativen Religions- renden, FachinspektorInnen etc. zusammengefunden, um unterrichts (KoKoRu) wird in Wien von vier staatlich aner- über alternative Formen des Religionsunterrichts in Öster- kannten christlichen Kirchen gemeinsam getragen und seit reich nachzudenken. Im Folgenden soll ein Überblick über dem Schuljahr 2002/03 an ausgewählten Schulen verwirk- die Genese des ‚Wiener Modells – KoKoRu’ (konfessio- licht. Einen guten Einblick in die Anfänge, Schwerpunkte, nell-kooperativer Religionsunterricht) gegeben und die Aus- didaktische Fragen, rechtlichen Aspekte und vieles mehr bildung an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule 1 Wien/Krems bzw. die Schulpraxis unter die Lupe genom- geben Bastel u.a.

Sonja Danner: KoKoRu: konfessionell-kooperativer Religionsunterricht – ‚das Wiener-Modell‘ • 47 ÖRF 23 (2015), 47–53 KoKoRu tritt in Wien im Jahr 2002/03 mit der Motiva- sich das zum Teil mit den Annahmen zu den Vorzügen des tion an, den Religionsunterricht allgemein zu stärken und gemeinsamen Unterrichtens im Team. „Zu den typischen auch an solchen Schulen zu ermöglichen, an welchen es bis Thesen zugunsten des Team-Teachings gehören folgende: zu jenem Zeitpunkt schwierig oder gar unmöglich schien, dass die Stärken beider Lehrpersonen zum Tragen kommen; denselben zu organisieren. Die demographischen Entwick- dass es die Kreativität anspornt, da die Lehrpersonen lungen unterstützen dieses Anliegen. Dabei werden folgende gezwungen sind, zusammen zu planen und sich gegenseitig Richtlinien festgelegt: für alle christlichen SchülerInnen soll anzuregen; dass es mehr individuelle Aufmerksamkeit die Möglichkeit zur Teilnahme am Religionsunterricht unter gegenüber den Lernenden ermöglicht. Allerdings gibt es zumutbaren Bedingungen bestehen, sowie für alle Religi- wenig Literatur zu den Effekten des Team-Teachings.“4 onslehrerInnen soll Religion unter zumutbaren Bedingun- Wie wenig diese Unterrichtsform allgemein bislang in gen unterrichtet werden können. Dem ‚Einzelkämpfertum’ den Fokus der Forschung genommen wurde, fassen Beywl von ReligionslehrerInnen wird damit Widerstand geleistet W. und Zierer K. folgendermaßen zusammen und schließen und einer mangelnden Einbindung in die jeweilige Schule sich damit einem Artikel von Armstrong D.G.5 an, dass man vorgebeugt. Es soll auch eine Stundenplangestaltung unter „erstaunt ist über die fundamentalen Fragen, zu denen die zumutbaren Bedingungen – ohne Nachteil – für den Reli- Forschung bislang […] noch nicht einmal versuchsweise gionsunterricht vorgenommen werden. Im Zentrum steht Antworten geliefert hat. Team-Teaching, das ist offenkun- das Wohl der Kinder. dig, stellt eines jener pädagogischen Verfahren dar, die noch Das ursprünglich angedachte Konzept sieht vor, dass nicht einer wirklich intensiven systematischen Untersu- KoKoRu jeweils über ein ganzes Schuljahr in den ausge- chung unterzogen worden sind […]. Zu diesem Zeitpunkt wählten Klassen stattfindet und in manchen Phasen vom findet sich in der Forschungsliteratur weder für die Kritiker traditionellen konfessionellen Religionsunterricht abgelöst des Team-Teachings noch für seine eifrigsten Befürworter wird. Es ergeht jeweils ein Brief an die Eltern und die Direk- nennenswerter Zuspruch.“6 tionen, die ihre Zustimmung zum Projekt deklarieren müs- Anders sehen das hingegen Schweitzer F. et al. für den sen. Als didaktischer Grundsatz wird ökumenisches Lernen Bereich des Religionsunterrichtes. „Die verschiedenen Rea- zugrunde gelegt, was aber nicht mit ökumenischem Religi- lisierungsformen in der Organisation konfessioneller onsunterricht zu verwechseln ist, um den es sich in diesem Kooperation im Religionsunterricht haben deutliche Folgen Fall nicht handelt. Ein Lernen an Differenzen soll in den für die Qualität des Lernens und müssen daran bemessen Blickpunkt kommen und zum Unterrichtsprinzip werden. werden. Besonders wirkungsvoll ist offenbar von zwei Lehr- „Demgemäß zielt der kooperative Religionsunterricht kräften mit unterschiedlicher Konfessionszugehörigkeit auf die immer weiterreichende Entdeckung und Entwick- gemeinsam erteilter Religionsunterricht (team-Teaching). lung von Gemeinsamkeiten, aber stets unter Berücksichti- Weiterhin empfehlenswert sind gezielte, didaktisch im Ein- gung der bleibenden Unterschiede und Differenzen. Inso- zelfall geplante oder phasenweise Formen der Kooperation. fern geht es nicht um eine einzelnes Thema (also etwa eine Solche phasenweisen thematischen Kooperationsformen Unterrichtseinheit ‚evangelisch – katholisch’), sondern um erlauben einen Dialog, wie er bei kooperativem Unterricht ein Prinzip für allen kooperativen Religionsunterricht.“2 anzustreben ist.“7 Teamteaching erfordert eine vorbehaltlose Hinwendung 1.2 Formen von KoKoRu zum Anderen, wie es das Prinzip der Anerkennung von Dabei werden vor allem folgende Formen angedacht. Nipkow K.E . intendiert. Ohne diese Hinwendung, ohne ein Delegationsunterricht (eine Lehrkraft unterrichtet über eine Interesse am Anderen fehlt die Motivation, kann es eine vereinbarte Zeit alle an KoKoRu beteiligten Konfessionen Kooperation nur sehr bedingt geben. Aber auch der emotio- einer Klasse), welcher organisatorisch viele Vorteile mit sich nalen Stimmung der einzelnen am Projekt Beteiligten muss bringen würde (Stundenplan etc.); Teamteaching (beide Rechnung getragen werden. Emotionen müssen bewusst Lehrkräfte unterrichten im Team beide Konfessionsgruppen gemacht und dürfen nicht übergangen werden, da sie sonst der Klasse – auch mit drei oder mehr LehrerInnen dreier einer gemeinsamen Arbeit im Wege stehen können. „Kon- Konfessionen möglich) und Parallelunterricht (beide Lehr- fessionell-kooperatives Lehren und Lernen ist emotionsbe- kräfte unterrichten parallel das gleiche Thema und verabre- haftet, positiv wie negativ, und umso mehr, je stärker die den sich zeitweise zu Phasen gemeinsamen Unterrichts – Teilnehmenden in ihrer Konfession verwurzelt sind.“8 auch hier mehr als drei Personen verschiedener Konfessio- Das Verstehen von Motiven und Absichten, das Prinzip nen denkbar). Das Teamteaching kristallisiert sich als des Verstehens (Nipkow K.E.), erfordert ein In-Dialog-Tre- besonders häufige Form heraus und ist bei KoKoRu-Lehre- ten mit den jeweiligen KooperationspartnerInnen unter der rInnen offensichtlich positiv besetzt.3 Möglicherweise deckt Bereitschaft den Anderen zu verstehen bzw. umgekehrt auch

48 Österreichisches Religionspädagogisches Forum dem Anderen seinen eigenen Glauben zu ‚zeigen’. Und, um den müssen, wenn sie das Konzept erfolgreich umsetzen sol- noch einmal Nipkow und seine Dialogregeln zu bemühen: len. der konfessionell-kooperative Unterricht steht besonders im Zeichen des Überwältigungsverbotes. 2. Fort- und Ausbildung

1.3 Didaktische Überlegungen 2.1 ‚Als erstes war der Lehrgang’ Parallel dazu laufen die Überlegungen bezüglich einer Da in der Ausbildung von ReligionslehrerInnen bislang Didaktik zum konfessionell-kooperativen Religionsunter- keinerlei Schwerpunktsetzung zum Thema ‚Ökumene‘ vor- richt, die möglichst allen Anforderungen gerecht werden handen war, wird ein eigener Lehrgang eingerichtet, um soll. Dieses Unterfangen ist bis dato ein ‚work in progress‘, interessierten LehrerInnen die Möglichkeit zu geben, sich da die Voraussetzungen einem andauernden Wandel unter- für einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht zogen sind (z.B. Lehrpläne wurden erneuert oder sind erst- nachzuqualifizieren. Während ein erster Durchgang ‚paar- malig in Kraft getreten, wie etwa der orthodoxe, der Kompe- weise‘ absolviert wird, (d.h. LehrerInnen, die gemeinsame tenzbegriff hat sich etabliert etc.). Stunden an einer Schule planen und auch abhalten, besu- „Bis heute fehlt es jedoch an einer ausgearbeiteten chen die Module zusammen), verliert sich dieser Ansatz bei Didaktik für den konfessionell-kooperativen Religionsun- den weiteren Lehrgängen. Die Teilnahme wird für alle Inter- terricht, so dass auch in dieser Hinsicht weiterer Entwick- essierten geöffnet, nicht zuletzt durch die Hoffnung, dass lungsbedarf besteht. Eine solche Didaktik müsste ebenso neue Kooperationen entstehen. Die Einführung des Wahlge- den theologischen und pädagogischen Anforderungen an genstandes ‚Multikulturelles Lernen‘ an den Berufsschulen, diesen Unterricht gerecht werden wie den unterschiedlichen welches von BerufsschullehrerInnen unterrichtet wird, ver- Möglichkeiten etwa im Kindes- und Jugendalter, aber auch läuft parallel dazu, ebenso die Überlegungen einer Auswei- in den verschiedenen Schularten.“9 tung des Projekts KoKoRu einerseits nach Niederösterreich Ursprünglich basierend auf einer Lehrplansynopse und andererseits in die Sekundarstufe II. Bis dato sind (evangelisch-katholisch) auf der thematischen Ebene, ist in jedoch Projekte über Wien hinaus überschaubar geblieben der Zwischenzeit die Diskussion einer Fachdidaktik um und KoKoRu in der Sekundarstufe II aus unterschiedlichen viele Facetten reicher geworden. Die Lehrplansynopse Gründen nicht angekommen. wurde um den Lehrplan der orthodoxen Kirche erweitert, 2007 wird der Lehrgang ‚Ökumene‘ an der Kirchlichen der Kompetenzbegriff nach Ritzer10 wurde mit aufgenom- Pädagogischen Hochschule Wien/Krems mit einem Grund- men, Inklusion11 als ein weiteres Ziel definiert immer auf kurs (Konfessionen und Ökumene. Information und Begeg- der Basis eines Unterrichts der Begegnung, des Dialogs, wel- nung) und einem Aufbaukurs (Konfessionelle Kooperation cher zusätzlich einen Beitrag zur Demokratieerziehung12 in Schule und Religionsunterricht) gestartet. Der Grundkurs auf Seiten der SchülerInnen liefert. ermöglicht den Teilnehmenden, sich – aufbauend auf vor- KoKoRu wird auch als Ausdruck einer pluralitätsfähi- handene konfessionskundliche Kenntnisse – über die ande- gen Religionspädagogik verstanden, welche die beiden Pole ren Konfessionen, ihre Besonderheiten in Theologie, christ- Beheimatung und Begegnung13 zum Ausdruck bringen soll. licher Praxis, Kunst, Feier und Politik, sowie über die Genese Es ist Lernen ‚von‘ und ‚mit‘ anderen14, wobei eine der zen- der konfessionellen Trennungen authentisch und umfassend tralen Fragen ist: Wie kann konfessorische15 Identität auch zu informieren. Außerdem vermittelt er Basiswissen über bei einer möglichen Auflösung des konfessionellen RUs Grundlagen, Zielsetzungen und die gegenwärtigen Entwick- erhalten bleiben unter Wertschätzung des Einzelnen und der lungen der Ökumene. Die eigenen konfessionellen Selbst- Traditionen? „Pluralitätsfähigkeit wird nicht durch Ausblen- verständlichkeiten sollen in den Biografien der Teilneh- dung von Unterschieden erreicht, sondern durch deren merInnen reflektiert und theologisch analysiert werden. Der bewusste Wahrnehmung im Sinne von Toleranz, Respekt Lehrgang selbst ist einerseits Begegnungsort, an dem diese und wechselseitiger Anerkennung.“16 Erfahrungen ausgetauscht werden, andererseits fördert er In diesem Sinne zielt konfessionell-kooperativer Religi- gegenseitige Besuche in den jeweiligen konfessionellen onsunterricht auf ein ganzheitliches, auf Verständigung und Gemeinden. Durch diese Begegnung erwerben die Teilneh- Versöhnung zielendes grenzüberschreitendes Lernen, das merInnen eine differenziertere Sicht der eigenen konfessio- handlungsorientiert und handlungsorientierend sein soll. Je nellen Identität. Ebenso sollen grundlegende Fragen einer deutlicher KoKoRu Konturen annimmt, desto klarer wird konfessionellen Hermeneutik erörtert werden.17 auch, dass die bereits ausgebildeten ReligionslehrerInnen Der Aufbaukurs vermittelt Kompetenzen zur Planung, dafür nicht genügend vorbereitet sind und unterstützt wer- Durchführung und Evaluierung konfessioneller Kooperatio-

ÖRF 23 (2015) • 47–53 49 nen in der Schule und im Religionsunterricht, wobei Mög- haften) Stunden an der KPH als positiv. Negativ hingegen lichkeiten für die Erwachsenenbildung und die Arbeit in wären die schwierige Organisation (geplante Stunden kön- Gemeinden mit zu berücksichtigen sind. Wege möglicher nen nicht gehalten werden, in Schulen gäbe es keine Kolle- Kooperationen in diesen Kontexten sollen vorgestellt, kri- gInnen der anderen Konfession, Stundenplan etc.) und die tisch reflektiert und in eigenen Projekten der Teilnehmen- aufwändige gemeinsame Planung. Als Voraussetzungen für den erprobt werden. Das Wiener Projekt ‚KoKoRu‘ wird die Durchführung von KoKoRu an den Schulen werden dabei besonders herausgearbeitet und seine spezifische besonders die Rahmenbedingungen wie z.B. die eines ‚guten‘ Didaktik der Kooperation in Theorie und Praxis an ausge- Stundenplanes und die Beziehungsebene (persönliche Kom- wählten Themen eingeübt. Eine Projektarbeit, in der ein patibilität zw. Lehrenden) hervorgehoben. Als Effekte beob- durchgeführtes Praxisprojekt präsentiert und reflektiert achten Studierende, dass SchülerInnen im Unterricht bei wird, dokumentiert die Lernfortschritte.18 KoKoRu aufmerksamer seien. Im Bereich der Identitätsbil- dung wird darauf hingewiesen, dass eine Auseinanderset- 2.2 KoKoRu trifft KPH: evaluiert zung mit der eigenen Tradition durch die Auseinanderset- Aber nicht nur in der Nachqualifizierung von Religi- zung mit dem Fremden stattfinde und zu einem respektvol- onslehrerInnen findet KoKoRu Eingang, sondern auch in leren Umgang untereinander führe (wachsendes Verständ- deren Ausbildung an der KPH Wien/Krems. Seit 2007 ist nis der eigenen und der anderen Konfessionen). konfessionell-kooperativer Religionsunterricht fixer Diese positive Bewertung der Auseinandersetzung mit Bestandteil des Curriculums und wurde jetzt erstmals in dem Fremden könnte auf einen gelingenden Reifeprozess einer Studie evaluiert mit der Forschungsfrage: „Erlangen der StudentInnen im Zuge der Module hinweisen, wenn Studierende der ReligionslehrerInnen-Ausbildung der KPH man bedenkt „[…], dass die Begegnung mit anders religiö- Wien-Krems curricular intendierte interkonfessionelle sen Menschen die eigene Identität beeinflusst, lassen sie sich Kompetenzen durch die angebotenen Module interkonfessi- unterschiedlich auf das Anderssein des anderen ein. Die onellen Lernens?“ Spanne reicht von der Konstruktion einer Fremdheit des Dazu wurden sowohl Studierende als auch Lehrende anderen im eigenen Selbst, um sich davon zu distanzieren, befragt und kamen – kurz zusammengefasst – zu folgenden bis hin zur Neugierde am Anderssein des anderen, um daran Ergebnissen19: Studierende waren mehrheitlich der Mei- zu reifen. Skeptiker von interreligiösen Dialogen geben zu nung, dass sie bereits mit einer anerkennenden Grundhal- bedenken, dass jede Identitätsbildung der Gegenidentität tung in die Ausbildung kämen. Manche von ihnen nehmen bedarf. Wenn der andere jedoch nicht er selbst, sondern mir aber eine innere Öffnung, die Erlangung eines besseren Ver- geschaffenes Gegenbild ist, dann sind Fremdenfeindlichkeit ständnisses der Anderen und höhere Wertschätzung – und Abgrenzung Tür und Tor geöffnet. Deshalb muss der beeinflusst durch persönliche Kontakte unter den Studieren- Aspekt der Identitätsbildung bei der Entwicklung von den, dem Lernen an Modellen (Haltung der Lehrenden) und Begegnungsmodellen besonders beachtet werden.“20 der Wissensvermittlung (bei sich selbst Zunahme an Wissen Als Kritikpunkt sehen die Studierenden, dass die über den Anderen) – wahr. Sie formulieren ebenso den Beschäftigung mit konfessionellen Unterschiedlichkeiten an Wunsch nach einem Skriptum, sowie gemeinsamen Gottes- der Lebenswelt der SchülerInnen vorbeigehe und es zu diensten. Beklagt wird manchmal ein fehlendes Öffnen der wenig Vermittlung von Faktenwissen gebe. Damit gehen sie jeweils anderen Konfession. Aus der Sicht der Lehrenden nicht konform mit der Meinung von Schweitzer F. et al. „Die hätten Studierende eine anerkennende Haltung, die sich im bewusste Wahrnehmung konfessionsbezogener Ausgangs- Laufe des Studiums verändert und entwickelt hätte. Grund- voraussetzungen und die Thematisierung sowohl von sätzlich sei es aber schwierig Haltungen festzustellen. Mögli- Gemeinsamkeiten als auch von Unterschieden führen im che Faktoren, an welchen diese gemessen werden könnten, Unterricht zu einer spezifischen Qualität des Lernens, die seien: Respekt, Wertschätzung und problemlose Zusam- offenbar direkt mit der konfessionellen Kooperation ver- menarbeit. Drei Faktoren für eine anerkennende Grundhal- bunden ist.“21 tung stellen das Modell der Lehrenden und die ökumenische Als zusätzliche Frage stellt sich in einem Fach wie Reli- Grundausrichtung an der KPH, das Wissen über die Konfes- gion die der Spiritualität. Wird die eigene Spiritualität in der sionen und das Gemischtkonfessionelle Zusammenarbeiten Auseinandersetzung mit anderen Konfessionen gefunden? (persönliche Begegnungen und Freundschaften unter den Studierende sind hier geteilter Meinung. Von einer skepti- Studierenden verschiedener Konfessionen) dar. schen Einstellung (fühlen sich zudem schlecht informiert Mehrheitlich erkennen Studierende Chancen konfessio- über unterschiedliche konfessionelle Formen) über ‚Behei- neller Kooperation im Unterricht und beurteilen die Erfah- matung in der eigenen Konfession hat zugenommen durch rungen des eigenen Unterrichts, sowie die erlebten (modell- Auseinandersetzung mit anderen‘ findet man hier eine große

50 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Bandbreite an Reaktionen. Als Einflussfaktoren gelten ihnen immer schwieriger neue Standorte zu finden, in denen hierbei, dass Fragen geklärt werden konnten, biographische KoKoRu realisierbar ist. Auch neue Teams sind kaum mehr Ansätze bedacht wurden, die Klärung liturgischer Fragen zu rekrutieren. Dort jedoch, wo die Teams ‚gut miteinander und Andachten. Auch die Antworten der Lehrenden zu die- können‘, findet das Projekt – wenn auch teils in abge- ser Frage fallen nicht eindeutig aus. Die Entwicklung sei schwächter Form – weiterhin statt, d.h. konfessionell beeinflusst durch die Eingangsvoraussetzungen und die getrennter Religionsunterricht ist der Normalfall und nur Beschäftigung mit biografischen Ansätzen, Praxisprojekten bei Projekten wird zusammen gearbeitet. und liturgischen Begegnungen. Zudem stellt sich ihnen die Aus der Anfangseuphorie eines durchgehend gemeinsa- Frage, ob die Entwicklung von Spiritualität Ziel einer Hoch- men RUs sind gemeinsame Phasen des RUs während des schuldidaktik sein könne? Schuljahres geworden. Die Form, welche ursprünglich nur Resümierend ist zu sagen, dass die Module der Ausbil- für die ersten und zweiten Klassen vorgesehen war, hat sich dung zu KoKoRu das Potential von Wahrnehmungskompe- in allen Schulstufen letztlich durchgesetzt. Stundenpläne, tenz, Toleranz und Identitätsbildung sowie der Begegnung schwindende SchülerInnenzahlen und manchmal auch das Studierender verschiedener Konfessionen (Dialog, Vorbild- Ausscheiden einer Lehrkraft führen mitunter zur Beendi- wirkung der Lehrenden) bergen, jedoch auch auf Schwierig- gung von KoKoRu an einem Schulstandort. Unter den enga- keiten einerseits externer (wenig Unterstützung der Schu- gierten Beteiligten ist zudem eine spürbare Erschöpfung lämter) und andererseits interner (Organisation von eingetreten, die sich auch auf den erhöhten Planungsauf- KoKoRu) Natur stoßen. Verbesserungsbedarf wird noch im wand zurückführen lässt. Dazu kommt, dass der Tenor Zusammenhang mit der Einstellung Studierender (Unwis- mancher Schulämter allgemein nicht zu einer Ausweitung senheit der Studierenden) und einer ‚interkonfessionellen des Projekts auf ganz Österreich beiträgt. Was als Unterstüt- Unwissenheit‘ der Lehrenden gesehen. Bei den Studierenden zung für die Teams gedacht war: Meldung des Projektes, wird zudem dem Wunsch nach Skripten, mehr Begegnung Unterstützung durch die FachinspektorInnen (Besuche etc.) und Praxisbezug Ausdruck verliehen. Hier werden wichtige und das dazugehörige Ausfüllen der Formulare zur Meldung Eckpfeiler eines konfessionell-kooperativen Unterrichts der Projekte, wird von manchen LehrerInnen als Kontrolle angesprochen, denen in einer Weiterentwicklung der empfungen, weshalb sich immer wieder Teams entschließen, Module unbedingt Rechnung zu tragen ist. Zudem wird der Wunsch nach mehr konfessionell-kooperativen Lehrveran- ihre Projekte wie gehabt durchzuführen, aber nicht zu dekla- staltungen geäußert. Lehrende beschreiben in diesem rieren. Die schulpraktische Realität trägt dazu ebenso bei, Zusammenhang ihre StudentInnen als offener und sehen die denn das eine oder andere Projekt wird kurzfristig geplant kollegiale Beratung als wichtige Erfahrung, wobei die per- und ohne Meldung an das jeweilige Schulamt durchgeführt, sönliche Beziehung die Basis darstellt. was auf der Basis einer gut funktionierenden Zusammenar- „Im Licht unserer Analyse ist in diesem Unterricht beit leicht möglich ist. Die planenden LehrerInnen klären theologisches Wissen als Voraussetzung, Dialog als didakti- die Rahmenbedingungen nur mit den direkt Betroffenen sches Prinzip und Inklusion als Zielperspektive verlangt. Im (Administrator, Klassenvorstände, Eltern etc.) ab, um so den ersten Desiderat geht es um Wissen, im zweiten um das organisatorischen Aufwand so klein wie möglich zu halten. Können und im dritten um das Wollen. […] ginge es um die Das gemeinsame Lernen an Differenzen ist im Laufe der Fähigkeit und Fertigkeit, Religion im Kontext konfessionel- Jahre sukzessive in den Hintergrund getreten, was zur Folge ler Pluralität, Heterogenität und Differenz darstellen und hatte, dass KoKoRu zum Teil sehr assimilierend geworden mitteilen zu können, sowie um die damit verbundene Moti- ist. vation und Handlungsbereitschaft wie Fähigkeit, diese Fer- Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich das tigkeit in variablen Unterrichtssituationen erfolgreich und Modell in jenen Schulen bewährt, in welchen die Direktio- verantwortungsvoll nutzen zu können.“22 nen etc. die nötigen Rahmenbedingungen zur Verfügung Mit dem Jahr 2011 wird die Nachqualifizierung von stellen, genügend christliche SchülerInnen im Religionsun- ReligionslehrerInnen zum Thema KoKoRu mit der Ausbil- terricht angemeldet sind und die ‚Chemie’ der beteiligten dung fusioniert, d.h. es wird kein neuer Lehrgang mehr ReligionslehrerInnen stimmt. Interkonfessioneller Religi- gestartet, sondern die interessierten LehrerInnen besuchen onsunterricht ist zwar erleichtert durch die gemeinsame die Ausbildungsmodule an der KPH Wien/Krems, wo sie Ausbildung der ReligionslehrerInnen an der KPH Wien/ gemeinsam mit den Studierenden unterrichtet werden. Krems, löst jedoch die Probleme in heterogenen Klassen nur zum Teil. 3. KoKoRu – ein Modell mit Zukunft? 2011 wird erneut eine Steuerungsgruppe unter Einbe- Eine Zwischenbilanz der Steuerungsgruppe aus dem ziehung der FachinspektorInnen einberufen, um sich über Jahr 2009 kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: Es wird weitere Formen des Religionsunterrichtes – nicht nur inter-

ÖRF 23 (2015) • 47–53 51 konfessionell, sondern auch interreligiös – Gedanken zu 5 Armstrong, David G.: Team Teaching and academic achievement, machen, denn: „Will die Religionspädagogik in Theorie und Review of Educational Research 47/I (1977) 65–86, 83. 6 Beywl / Zierer 2014 [Anm. 4], 259. Praxis pluralitätsfähig sein, so gilt es, diesen Kontext, d.h. 7 Schweitzer, Friedrich u.a.: Dialogischer Religionsunterricht. Ana- den Wandel von Religion und Religiosität, sensibel wahrzu- lyse und Praxis konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts im nehmen und nachzudenken, wie religiöse Bildungsprozesse Jugendalter, Stuttgart: Herder 2006, 204. unter diesen veränderten Bedingungen ermöglicht werden 8 Pemsel-Maier, Sabine / Weinhardt, Joachim: „Das Bewusstsein für können.“23 Wenn sich auch der konfessionell-kooperative meinen Glauben habe ich erst während des Studiums entwickelt.“ Religionsunterricht in Wien nicht als mögliche Alternative Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht als Herausforderung für das Lehramtsstudium in Deutschland, in: Krobath, Thomas / zum traditionellen konfessionellen RU für alle Schultypen Ritzer, Georg (Hg.): Ausbildung von ReligionslehrerInnen. konfessi- herauskristallisiert hat, so kann man doch sagen, dass er onell – kooperativ – interreligiös – pluralitätsfähig, Wien: LIT-Verlag einen Reflexionsprozess sowohl bei den Verantwortlichen 2014, 107–132, 125. für den Religionsunterricht, als auch bei LehrerInnen und 9 Schweitzer 2009 [Anm. 2], 206f. DirektorInnen initiiert hat. Die Feedbacks in den Lehrgän- 10 „Kompetenz bezeichnet die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven, affektiven und psychomotorischen Fähig- gen und Modulen zur Nachqualifizierung im Sinne von 24 keiten, um mit bestimmten Situationen und Herausforderungen KoKoRu haben gezeigt , dass die LehrerInnen besonders adäquat umzugehen und eigenständige Entscheidungen reflektiert durch die Kooperationen mit KollegInnen anderer Konfessi- und begründet treffen zu können. Ebenso werden die damit verbun- onen ihre eigenen Zugänge zum jeweiligen Thema und des- denen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und sen didaktische Umsetzung hinterfragt haben. Die Auswer- Fähigkeiten verstanden, um die Problemlösungen in variablen Situati- tungen der Hattie-Studie aus den letzten Jahren bekräftigt onen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Ritzer, Georg: Interesse – Wissen - Toleranz – Sinn. Ausgewählte Kompe- dies noch und gibt Anlass auch weiterhin über Formen des tenzbereiche und deren Vermittlung im Religionsunterricht. Eine kooperativen RUs nachzudenken. Längsschnittstudie, Wien: Lit Verlag 2010, 37f. „So betont Hattie in der Studie häufig die Bedeutung 11 Inklusion religionspädagogisch gedacht: „Inklusion geht von der Viel- der Reflexion von Lern- und Lehrprozessen durch die Ler- falt und Egalität aller Menschen aus. Alle Menschen sind verschieden nenden und die Lehrkräfte, die zu einer realistischen Selbst- und wertvoll. Auf die religionspädagogische Debatte um interkonfes- sionelles Lernen bezogen besagt Inklusion, dass es in diesem Unter- einschätzung und Selbstwahrnehmung von Schülerinnen richt normal ist, konfessionell verschieden zu sein und einer anderen und Schülern und Lehrkräften führt. Die Selbsteinschätzung Konfession anzugehören. Diese Unterschiede sind keine Defizite.“ und Selbsterwartung weisen die höchste Effektstärke von Kuld, Lothar: Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Mögli- 1.44 auf. Aus der Reflexion erwächst die Optimierung von che Konsequenzen für die Religionslehrer/innen-Ausbildung, in: Lernprozessen, die vertiefende und komplexe kognitive Ler- Krobath, Thomas / Ritzer, Georg (Hg.): Ausbildung von Religions- nerfolge ermöglichen. Da das Kooperative Lernen und die lehrerInnen. konfessionell – kooperativ – interreligiös – pluralitätsfä- hig, Wien: LIT-Verlag 2014, 243–252, 247. Reflexion von Gruppenprozessen als eines der fünf grundle- 12 „Ebenso leistet das kooperative Lernen einen wichtigen Beitrag zur genden pädagogischen Prinzipien, der sogenannten fünf Demokratieerziehung: Die intensive Kommunikation in Klein-und Basiselemente, besonders hervorhebt, kann davon ausgegan- Großgruppen, der respektvolle Umgang der Teammitglieder mitein- gen werden, dass kooperative Lernformen mit der hohen ander, die Toleranz gegenüber anders denkenden Menschen und Wertschätzung der Reflexion implizit hoch wirksam sind.“25 gegenüber Menschen aus anderen Kulturen, die Notwendigkeit Kom- promisse zu schließen – dies alles sind wichtige demokratische Kom- petenzen, die Lernende nicht abstrakt lernen, sondern im Gruppen- Anmerkungen prozess erfahren.“ Terhart, Ewald (Hg.): Die Hattiestudie in der Dis- 1 Bastel, Heribert u.a. (Hg.): Das Gemeinsame entdecken – Das kussion. Probleme sichtbar machen, Seelze: Klett/Kallmeyer 2014, 81. Unterscheidende anerkennen: Projekt eines konfessionell-kooperati- 13 „Die Genese eines entsprechenden Bewusstseins kann im Zusammen- ven Religionsunterrichts. Einblicke – Hintergründe – Ansätze – For- hang der Schule am besten durch die Verschränkung von „Identität schungsergebnisse, Wien: LIT-Verlag 2006. und Verständigung“ bzw. „Beheimatung und Begegnung“ unterstützt 2 Schweitzer, Friedrich: Einschätzungen-Interpretationen-Perspekti- werden. […] Schülerinnen und Schüler sollen Im Religionsunterricht ven. Konfessionalität-Ökumene-Pluralitätsverarbeitung. Zur rechtli- auch Kompetenzen im Sinne konfessionellen und religiösen Orientie- chen, theologischen und religionspädagogischen Einschätzung des rungswissens und einer entsprechenden Dialogfähigkeit erwerben KRU, in: Kuld, Lothar u.a. (Hg.): Im Religionsunterricht zusammen- können. Dazu gehört auch eine differenzierte Wahrnehmungsfähig- arbeiten. Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunter- keit, wie sie in der Auseinandersetzung mit konfessionellen Profilen richts in Baden-Württemberg, Kohlhammer: Stuttgart 2009, 201–209, ausgeprägt werden kann.“ Schweitzer u.a. 2006 [Anm. 7], 203. 205. 14 Die englische Sprache unterscheidet hier sehr klar: learning religion, 3 Dies geht aus den Protokollen der Steuerungsgruppe KoKoRu hervor. learning about religion und learning from religion. Im Fall von 4 Beywl, Wolfgang / Zierer, Klaus: John Hattie. Lernen sichtbar KoKoRu wären learning about religion und learning from religion machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von Visible Lear- gemeint. „[…] ‘Learning about religion‘ has a significant role to play ning, Hohengehren: Schneider Verlag 2014, 259. in the prevention of religious intolerance. Because it empowers the student with critical skills for interpreting religious phenomena, it

52 Österreichisches Religionspädagogisches Forum tends to release students from unexamined beliefs and helps them to 20 Baur, Katja (Hg.): Zu Gast bei Abraham. Ein Kompendium zur inter- break down the stereotypes of other religious traditions. Schreiner, religiösen Kompetenzbildung, Stuttgart: Calwer 2007, 12. Peter u.a. : Commited to Europe’s Future. Contributions from Educa- 21 Schweitzer u.a. 2006 [Anm. 7], 203f. tion and Religious Education, Münster: Comenius Institut 2002, 109 22 Kuld 2014 [Anm. 11], 248. 15 „Konfessorisch ist zu unterscheiden von ‚konfessionell‘, weil das, was 23 Klutz, Philipp: Skizzierung der religiös pluralen Landschaft Öster- eine Person über sich bekennt, also in einer Kommunikation über reichs. Ein Beitrag zur kontextsensiblen Wahrnehmung, in: Krobath, sich sagen kann, individuell geprägt ist und möglicherweise manches Thomas / Ritzer, Georg (Hg.): Ausbildung von ReligionslehrerInnen. anders formuliert und anders beurteilt als die traditionelle Konfes- konfessionell – kooperativ – interreligiös – pluralitätsfähig, Wien: sion.“ Kuhlmann, Helga: Konfessorische Identität als Gestalt religiö- LIT-Verlag 2014, 47–60, 47. ser Differenz – quer zu den Grenzen von Konfessionalität und Religi- 24 Die Module wurden mit Fragebögen evaluiert, wobei eine der Fragen onszugehörigkeit, in: Weisse, Wolfram / Gutmann, Hans-Martin sich auf die Wirksamkeit der Kooperation bezog. (Hg.): Religiöse Differenz als Chance?, Religionen im Dialog. 3, 25 Terhart 2014 [Anm. 12], 84. Münster: Waxmann-Verlag 2010, 131–144, 137. 16 Schweitzer 2009 [Anm. 2], 208. Autorinneninformation 17 Vgl. Einleitung zu den Modulbeschreibungen des Grundkurses des Mag. Sonja Danner Lehrgangs ‚Ökumene‘ an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule KPH Wien/Krems Wien/Krems 2007. Campus Gersthof 18 Vgl. ebd. Severin Schreiber-Gasse 1-3 19 Zu den Ergebnissen vgl. Ritzer, Georg u.a.: Konfessionell-kooperati- A-1180 Wien ver Unterricht in der ReligionslehrerInnenausbildung auf dem Prüf- e-mail: [email protected] stand. Ergebnisse einer Evaluationsstudie, in: Krobath, Thomas / GND: (DE-588)1076872794 Ritzer, Georg (Hg.): Ausbildung von ReligionslehrerInnen. konfessi- onell – kooperativ – interreligiös – pluralitätsfähig, Wien: LIT-Verlag 2014, 63–105.

ÖRF 23 (2015) • 47–53 53

Thomas Schlager-Weidinger / Renate Hofer

Z.I.M.T. – Würze in der LehrerInnenbildung Grundsätzliche Überlegungen zum neu gegründeten Zentrum für Inter- religiöses Lernen, Migrationspädagogik und MehrsprachigkeiT an der PH der Diözese Linz1 der autor die autorin Mag. Dr. Thomas Schlager-Weidinger, Hochschul- Mag.a Dr.in Renate Hofer, Dipl.-Päd., Lehrende an der professor an der Privaten Pädagogischen Hoch- Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz schule der Diözese Linz (Geschichte, Gedenkpäda- (Erziehungswissenschaften, Migrationspädagogik und gogik und Interreligiöses Lernen); Co-Leiter des Mehrsprachigkeit); Co-Leiterin des Z.I.M.T. Z.I.M.T. und Leiter des Bereichs für Fachwissen- schaft und Fachdidaktik am Institut für Fort- und Weiterbildung.

Abstract In unserer globalisierten und von Mobilität geprägten Gesellschaft finden Lernen und Lehren in einem Umfeld statt, das u.a. durch sprachliche, kulturelle, soziale und religiöse Diversität gekennzeichnet ist; diese gilt es wahrzunehmen und zu unterstüt- zen. Z.I.M.T. nimmt sich der Themenfelder Interreligiosität, Migration und Mehrsprachigkeit in der LehrerInnenbildung an und will PädagogInnen in diesen Feldern sensibilisieren und professionalisieren. Dabei wird den Leitlinien einer Migrationspädagogik gemäß gefragt, wie „Andere“ unter Bedingungen von Migration in Bildungsinstitutionen erzeugt werden und wie im Gegenzug eine „Hochschule der Vielfalt“ gelingen kann. Schlagworte: Religion, Diversität, Religionspädagogik, Pädagogik

Z.I.M.T. – a spicy teachertraining concept Migration not only concerns but indeed forms social reality. Migration pedagogy takes as its theme what form successful peda- gogical action can take in a migrant society. We focus on how the concept of “The Others” comes into being in the context of migration and how pedagogy can make a meaning ful contribution. It is necessary to examine pedagogical principles to deter- mine whether they might cause a divide between “Us” and “The Others”, leading to a sense of not belonging (“othering”). Keywords: Religious diversity, Religious education, Education

1. Ideale Orte der Bildung 1.2 Z.I.M.T.: eine Standortbestimmung Visionen gleichen Fixsternen, die als solche nicht 1.1 Am Anfang: eine Vision erreicht werden können, aber die Richtung weisen. Auch die Wir träumen von Orten der Bildung: eingangs formulierte Vision ist sich dieser Begrenzung wo sich Chancengerechtigkeit in gleichberechtigter Teilhabe bewusst, benennt jedoch jene Inhalte, die für Orte der Bil- verwirklicht, dung von unverzichtbarer Bedeutung sind. Wissend, dass wo Vielfalt sowohl im Sozialen als auch im Individuellen als die Realisierung in ihrer Komplexität eine (zu) große Her- konstruktive Normalität geschätzt wird, ausforderung darstellt, sind wir dennoch davon überzeugt, wo Unterschiede nicht als Zuschreibungen festgemacht werden, dass eine schrittweise Annäherung an die visionierten Ziele wo Anerkennung nicht an Zugehörigkeiten gebunden ist, unumgänglich ist und zugleich Grenzen überschreiten lässt. wo individuelle Bedürfnisse und Begabungen gesehen und Aus diesem Grund wurde im Studienjahr 2012/13 an entwickelt werden, der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz wo Verantwortung für ein gelingendes Zusammenleben wahr- (PH Linz) das Zentrum Z.I.M.T. initiiert, welches sich mit genommen wird und den Themenfeldern Interreligiosität, Migration und Mehr- wo Begegnung als Grundprinzip des Lernens gelebt wird. sprachigkeit auseinandersetzt. Z.I.M.T. will alle Institute, Departments und Zentren in diesen Feldern sensibilisieren

Thomas Schlager-Weidinger / Renate Hofer: Z.I.M.T. – Würze in der LehrerInnenbildung • 55 ÖRF 23 (2015), 55–62 und professionalisieren; damit wird die PH Linz ein Stück „Die mit Heterogenität, mit Vielfalt, mit Diversität und weit ihrem Leitbild gerecht, in dem sie sich „als lebendiger einer Vielzahl bunter Seifenblasenbegriffe bezeichnete Ort von Bildung, Interdisziplinarität und Kooperation [ver- scheinbar neue Bildungslandschaft“7 erweckt den Anschein steht] und versucht, Begegnungsräume zu eröffnen zwi- eines klar definierten pädagogischen Konzepts. Die Leitbe- schen Menschen verschiedener sozialer Welten, Traditionen, griffe im wissenschaftlichen Diskurs sind aber alles andere Generationen, Geschlechter, Kulturen und Weltanschauun- als eindeutig und präsentieren sich kontrovers, vielfältig und gen“ 2. inflationär. Aus diesem Grund ist es notwendig, an dieser Stelle maßgebliche Begriffe – und unser Verständnis davon 1.3 Die PH als Lernort: die Hochschule der Vielfalt – zu definieren, um sie im Weiteren anhand der Migrations- Mecheril/Klingler bezeichnen die Hochschule als Ort, pädagogik und des Interreligiösen Lernens zu konkretisie- „an dem Begriffe und Einsichten beständig neu zu denken ren. sind und gedacht werden können“3, ein Ort, „an dem Sätze Wir nähern uns mit Bukow dem Begriff der Diversität gesprochen und geschrieben werden, die zu ‚irgendwie sinn- kritisch an, indem er als „Produkt einer gesellschaftlichen volleren‘ Welt- und Selbstverständnissen beitragen“4. Eine Operation – der Operation Vielfalt“ 8 deklariert wird. Es las- Hochschule der Vielfalt muss eine Minderung sozialer sen sich unter anderen auch jene Operationen feststellen, Ungleichheit im Sinne einer demokratischen Öffnung die darauf abzielen, Spielräume einzuschränken statt Spiel- gewährleisten und auf „eine systematische Ermöglichung räume zu erzeugen. Sie dienen dazu, Neues hinzuzufügen, einer Teilhabe an der auf eine transgressive Lebensform zie- ebnen jedoch Neues auch ein. Vielfalt wird beispielsweise lenden akademischen Kultur“5 abzielen. bestimmten Alltagspraxen zugeschrieben, um anschließend Einer Kultur der Transgressivität geht es u.a. um die die so attribuierten entsprechenden Bevölkerungsgruppen Überschreitung epistemischer Ordnungen bzw. Zuschrei- ausschließen zu können. So werden häufig besondere bungen. Im Sinne einer demokratischen Gesellschaft muss sprachliche, soziale oder religiöse Merkmale erfunden, den der Zugang zu dieser symbolisierten und aufgehobenen ausgewählten Bevölkerungsgruppen zugeschrieben und Lebensform allen offenstehen und darf nicht über sozial-kul- schließlich aufgrund der ihnen zugewiesenen Eigenschaften turelle Zugehörigkeiten reguliert werden. pädagogisiert, nationalisiert, kulturalisiert, ethnisiert und Eine Hochschule der Vielfalt, die die systematische diskriminiert. „Vielfalt“, so Bukow, „wird postuliert, um eine Ermöglichung einer Teilhabe an der auf eine transgressive Legitimation für gouvernementale Interventionen zu gewin- Lebensform zielenden akademischen Kultur gewährleistet, nen.“9 muss eine Veränderung des Zugangs vornehmen, z.B. Aner- Ein zeitgemäßes Bildungswesen muss von Gleichheit kennung unterschiedlicher Bildungsvoraussetzungen und und Differenz ausgehen und sich der anspruchsvollen Auf- alternative Strukturen in der Lehre und der Betreuung von gabe stellen, adäquate und kompetente Orte der Bildung zu Studierenden gewährleisten, „die die Maxime der Ermögli- gestalten. Lehrende sind – bewusst oder unbewusst – chung sinnvoller akademischer Erfahrungen unter Bedin- (Mit)-Verursacher der Reproduktion sozialer Ungleich- gungen der Vielfalt von Eingangsdispositionen von Studie- heit.10 Aus diesem Grund ist es notwendig, sich mit Diffe- renden ernst nimmt“6, z.B. durch Anwendung eines institu- renzen und einem sensiblen und reflexiven Umgang damit tionellen Monitorings als Selbstdeutungs- und Selbstreflexi- auseinanderzusetzen. onsressource (Angestelltenstruktur, Zahlen von Studieren- Differenzsensible Ansätze sind in einem Spannungsver- den bzgl. Nichtaufnahme, Abbrechquoten etc. mit Blick auf hältnis angesiedelt: Differenz muss zum einen gesehen und Differenzlinien). Damit kann strukturellen Ungleichheiten, beachtet werden, um Benachteiligungen überhaupt wahrzu- die eine gleichberechtigte Teilhabe erschweren bzw. verun- nehmen und beispielsweise der Gleichbehandlung von möglichen, adäquat begegnet werden. Z.I.M.T. fühlt sich für Ungleichen entgegenzuwirken. Andererseits stehen diffe- die schrittweise Realisierung einer Hochschule der Vielfalt renzsensible Ansätze in der Gefahr, Differenzen in unange- am Standort Linz mitverantwortlich. messener Weise zu thematisieren und zu bearbeiten. Dies geschieht, indem bestimmte Differenzen relevant gesetzt 2. Leitbegriffe: eine kritische Sichtung oder andere übersehen werden. Die so Bezeichneten können dadurch scheinbar verstanden – da ein- und zugeordnet – Der vorliegende Artikel fasst einen eineinhalbjährigen werden; der Einzelne bleibt jedoch letztlich verkannt. Einem Prozess der Profilentwicklung des Zentrums und der theo- reflexiven Ansatz im Umgang mit Differenzen geht es daher retischen Grundlagenarbeit zusammen. Die unseren Über- unter anderem darum, „sich systematisch mit der Frage aus- legungen zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und einanderzusetzen, wo das Eintreten für Differenz und für deren zentralen Begriffe sollen nun kurz reflektiert werden. die Pluralität von Differenz Machtverhältnisse als Domi-

56 Österreichisches Religionspädagogisches Forum nanz- und Herrschaftsverhältnisse bestätigt und ermög- mit zwei Naturen: ‚unvermischt‘, also kein ‚Halbgott‘, und licht“11. ‚ungetrennt‘, also kein ‚Schizophrener‘. Intersektionalität beschäftigt sich mit Differenzlinien, In der Trinitätslehre findet sich ebenfalls das Paradoxon die zwischen Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion usw. ent- des Einen und zugleich Vielen wieder, mit der Betonung stehen (können) und relevant werden, wenn es um Entwick- darauf, dass die Personen (≠ Individuen) ‚nicht vermischt‘ lungs- und Bildungschancen geht. Intersektionalitätsfor- und die Wesenheit (Substanz, Hypostase) ‚nicht getrennt‘ schung sucht eindimensionale Denk- und Erklärungsmuster sind.15 Diese Formel kann hilfreich sein, eindimensionale zu überwinden, sie befasst sich mit den Kreuzungspunkten und binäre Denk- und Erklärungsmuster aufzudecken. Jeder von Macht- und Diskriminierungsfaktoren.12 Intersektiona- Mensch hat das Recht, in seinen je eigentümlichen Differen- lität kann verstanden werden als eine bestimmte Art zu den- zen wahrgenommen zu werden (unvermischt), ohne jedoch ken und zu handeln, als Alternative zu binären Strukturen darauf einseitig fixiert und reduziert zu werden (ungeteilt). und einachsigen Modellen. In diesem Zusammenhang muss auch die Theorie der egalitären Differenz13 erwähnt werden, 3. Migrationspädagogik und Interreligiöses Ler- die deutlich macht, dass Unterschiede nicht (mehr) zur nen als ausgewählte Handlungsfelder von Z.I.M.T. Legitimation von Hierarchien herangezogen werden dürfen. Die Pseudologik der Verknüpfung von Differenz und Hier- 3.1 Migrationspädagogik archie gilt es zu durchkreuzen. Die Migrationspädagogik bildet das theoretische Fun- Dem Konzept der Anderen oder der zu Anderen-Ge- dament von Z.I.M.T. und seinen ausgewählten Handlungs- machten, in der Literatur mit Othering bezeichnet, das feldern. Sie widmet sich der Fragestellung, wie pädagogi- ursprünglich aus dem kolonialismuskritischen Kontext sches Handeln in einer Migrationsgesellschaft zu verorten stammt, wird im migrationspolitischen Diskurs eine immer ist – exemplarisch ausgewiesen an den beiden Praxisfeldern bedeutendere Rolle beigemessen, wie ein Blick in die Litera- Interreligiöses Lernen und Mehrsprachigkeit.16 tur zeigt.14 Im 3. Kapitel wird auf dieses Konzept detaillier- ter eingegangen. 3.1.1 Leitlinien einer Migrationspädagogik Der folgende kurze Exkurs in die Dogmengeschichte Für die Migrationsgesellschaft und ihre Bildungszusam- zeigt, dass das paradoxe Phänomen einer pluriellen Identität, menhänge sind Zugehörigkeitsverhältnisse (Unterschiede von welcher (nicht nur) im migrationspädagogischen Kon- und Unterscheidungen) bedeutsam. Diese sind nicht einfach text ausgegangen wird, bereits seit gut 1600 Jahren zu kreati- ‚in natürlicher Weise gegeben‘, sondern werden politisch, ven Theoriebildungen geführt hat. Zunächst ist hierbei das kulturell, juristisch und in Interaktionen (z.B. in pädagogi- ‚inconfuse et indivise‘ (unvermischt und ungetrennt) des schen Kontexten) immer wieder hergestellt. Defizite liegen Konzils von Chalcedon (451) zu erwähnen. Mit dieser Kom- demnach nicht bei den Menschen mit Migrationshinter- promissformel fand die Kirche eine sprachliche Lösung für grund, sondern bei den Institutionen und ihren Normali- einen zum Teil sehr heftig geführten Konflikt, der durchaus tätskonstruktionen.17 mit einem differenzsensiblen Ansatz in Verbindung gebracht Eine zentrale Aufgabe der Migrationspädagogik besteht werden kann. Wenn Jesus, wie die Evangelien verkünden, in der Beschäftigung mit der Frage, wie der/die Andere unter ein wirklicher, d.h. wahrer Mensch und zugleich der unge- Bedingungen von Migration erzeugt wird und welchen Bei- schaffene, d.h. wahre Sohn Gottes ist, wie ist dann die Ein- trag pädagogische Diskurse und pädagogische Praxen hierzu heit von göttlicher und menschlicher Natur in der einen leisten. konkreten Gestalt des Jesus von Nazareth zu sehen? Domi- Migrationspädagogik arbeitet nicht daran, Defizite von niert eine Natur und wird die andere gleichsam absorbiert Menschen mit Migrationshintergrund zu beheben, sondern oder zumindest relativiert? Das Interessante an der oben arbeitet an den Institutionen, die – zum Teil diskriminie- angeführten Formel ist, dass sie beiden Seiten in diesem rend (bewusst oder unbewusst) – Rahmenbedingungen ver- Konflikt teilweise Recht und zugleich Unrecht gibt. Die ändern müssen, um diversitätsoffen, bewusst und kompe- Monophysiten, welche von der einen Natur Jesu ausgehen, tent handeln zu können. in der sich seine Göttlichkeit und Menschlichkeit vermi- Als migrationspädagogisches Werkzeug empfiehlt schen haben Recht, insofern Christus ein und derselbe ist, Mecheril in diesem Zusammenhang18: Unrecht aber, weil sie die Gottheit und Menschheit Jesu ver- • Reflexion der begrifflichen Instrumente: Wer mischen. Die Nestorianer wiederum haben Recht, insofern benutzt wann und mit welchem Effekt ausschlie- es zwei Naturen gibt, Unrecht aber darin, dass sie sie vonei- ßende/zuschreibende Kategorien (Identität, Kultur nander säuberlich trennen. Jesus ist also eine einzige Person etc.)?

ÖRF 23 (2015) • 55–62 57 • Problematisierung von Repräsentationsverhältnis- 3.2.1 Religionssoziologische und gesellschaftspolitische Aus- sen; gangslage • Anerkennung der Anderen und Verschiebung des Religionssoziologisch betrachtet haben zwei Faktoren die Schemas, das zwischen Anderen und Nicht-Ande- gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte stark ren unterscheidet. geprägt: Erstens ist die Säkularisierung mit ihrem Zurück- Er bündelt dies in einer migrationspädagogischen Leit- drängen der einstigen Bedeutung der christlichen Kirchen linie: „Ermöglichung von Handlungsfähigkeit ALLER in der und der traditionellen Religionsformen in Europa von vielsprachigen und multikulturellen, von multiplen Zugehö- einem Erstarken des Religiösen ergänzt worden. Spirituelle 19 rigkeitsformen geprägten Gesellschaft […]“ . Es geht also Bewegungen und Fundamentalismen sind Formen, worin um die Reflexion der vorherrschenden Kultur der Unter- sich das Religiöse identitätsstiftend und sozialrelevant zeigt. scheidung von Menschen, z.B. wie Studierende bei den Auf- Zweitens ist die Völkergemeinschaft dabei, durch die globa- nahmeformalitäten, in Texten, bei (religiösen) Festen, etc. len Entwicklungen im Bereich der Medien, der Wirtschaft zu Anderen gemacht werden. und der Politik zu einer Weltgesellschaft zusammenzuwach- sen. Dabei begegnen sich Menschen verschiedener ‚Kultu- 3.1.2 Konsequenzen für Z.I.M.T. in Bezug auf die Umset- ren‘ und Gläubige verschiedener Religionen: Sie haben sich zung migrationspädagogischer Prämissen in multikulturell und religiös plural gewordenen Gesell- Es ist wichtig, abseits von Zuschreibungsverfestigungen schaften neu zu verorten.20 Gesellschaftlich-kulturell gese- und Fördervorschlägen für Teilgruppen, die pädagogische hen ist Pluralität der Normalfall: Lebensstile, Werte und Professionalität aller Beteiligten in den Mittelpunkt zu stel- Glaubensüberzeugungen lassen sich nicht mehr auf eine len, Kompetenzen und didaktische Methoden für alle Lehr- dominante Weltanschauung oder Religion zurückführen; kräfte in der Migrationsgesellschaft zu thematisieren. Insge- Exklusivitätsansprüchen wird deutlich widersprochen. samt müssen sich Erwartungen zerschlagen, man könne mit Eigene weltanschauliche Positionen und Ansprüche müssen Einzelmaßnahmen – wie mehr Sprachfördereinheiten in gut begründet sein. Die heutige globale, damit multikultu- DaZ (Deutsch als Zweitsprache), mehr Lehrerkräften mit relle und multireligiöse Gesellschaft verlangt von ihren Mit- Migrationshintergrund etc. – dem Thema ‚(migrationsbe- gliedern Pluralitätsfähigkeit21. Je mehr es gelingt, Eigenart dingte) Diversität‘ entsprechend begegnen und die hetero- (d.h. eine der jeweiligen Religion inhärente Differenz) wahr- gene Praxis wieder in gewohnter Weise durchführbar und ernst zu nehmen, umso mehr werden Einmaligkeit und machen, stattdessen, ohne sie als solche in ihrem Norman- Vielfalt positiv bewusst. Das Wahrnehmen von religiöser spruch und ihrem Habitus verändern zu müssen. oder religiös-kulturell geprägter Identität (und damit auch Verantwortungsvolle Aufgabe aller am Bildungssystem von Differenz) bei gleichzeitiger Dialogfähigkeit kann als Beteiligten, vor allem auch der Aus-, Fort- und Weiterbil- Zielrichtung interreligiöser und interkultureller Kompetenz dungsstätten, muss es demnach sein – ganz besonders am angesehen werden. Übergang in Richtung PädagogInnenbildung NEU – eine Der interreligiöse Dialog darf sich aber nicht nur auf diversitätsbewusste und -kompetente Arbeitsweise zu fin- die Begegnung und den Austausch mit Angehörigen religiö- den, die diskriminierende Strukturen bewusst macht, besei- ser Gemeinschaften beschränken, sondern muss auch die tigt und die professionelle Schritte setzt, z.B. ein ver- VertreterInnen eines reflektierten Atheismus mit einbezie- pflichtendes Modul ‚Sprachliche Bildung für alle Lehrer/ hen. So hat Jurgen Habermas in seiner Friedenspreisrede innen‘ vorsieht, ein Lehrveranstaltungsangebot in Migran- ausgefuhrt, dass es von fundamentaler Bedeutung fur die tensprachen setzt und Studienschwerpunkte im Bereich Zukunft unserer Gesellschaft sein wird, die fortschreitende Interreligiöse Bildung und Mehrsprachigkeit anbietet. Sakularisierung in eine Richtung zu steuern, in der eine Z.I.M.T. will dabei professionell unterstützen und im Stile Übersetzung der religiosen Traditionen und Werte in den einer Anerkennung von diversen Identitäten und von hetero- rationalen Diskurs der offenen Gesellschaft noch moglich genen Verhältnissen im Bildungssystem agieren. ist.22 Dies ist insofern bedeutend, als ein religiöses Selbstver- ständnis zum Teil auf großes Unverständnis stoßen kann, 3.2 Interreligiöses Lernen weil es säkular geprägten Menschen schwer fällt, wahrzu- Für das pädagogische Handlungsfeld des Interreligiösen nehmen und zu verstehen, wie Religion das Leben von Men- Lernens leiten sich für Z.I.M.T. aus migrationspädagogi- schen bis in den Alltag hinein prägen kann bzw. das Innerste schen Überlegungen heraus bestimmte Begriffe, Fragestel- des Menschen zu bestimmen vermag. Das Religiöse kann als lungen und hochschuldidaktische Konsequenzen ab. fremd und befremdlich erlebt werden, zum Teil auch als bedrohlich. „Den Plural zum Thema machen zu können,

58 Österreichisches Religionspädagogisches Forum benötigt [nicht nur] bei Lehrer/innen intrareligiöses Lernen, text des Interreligiösen Lernens einer besonderen Sensibili- die Fähigkeit zu religiöser Selbstreflexion sowie die mittler- tät. weile allgemein anerkannte Schlüsselkompetenz‚ Wahrneh- Die Betonung von Religion als ein für die Identität rele- mungsfähigkeit für die Religiosität der Menschen heute.“23 vantes Phänomen ist – so Mecheril und Thomas-Olalde – Selbstverständlich spielen die großen und international eine dominante Subjektivierungspraxis in der Migrationsge- agierenden Religionsgemeinschaften bezüglich gesellschafts- sellschaft, die hierbei mit simplen binären und auch rassisti- politischer und sozialethischer Fragen eine nicht zu unter- schen Zuordnungen operiert. Religion ist in diesem Zusam- schätzende Rolle. Auch wenn der interreligiöse Dialog (und menhang ein weiteres leeres Signifikant, das Kultur und hier vor allem der christlich-muslimische) meist damit schlussendlich Rasse ersetzt bzw. überlagert und mittels dis- begründet und gewürdigt wird, dass dieser zu einer friedli- kursiver Wirkung als ein effektives und akzeptables Diffe- chen Gestaltung des Zusammenlebens in einer pluralen renzierungsmerkmal erscheint.25 Gesellschaft beiträgt, ist es äußerst problematisch, dass reli- Auffällig ist, dass sowohl in der Publizistik als auch im giöse Wertvorstellungen mehr oder weniger utilitaristisch populärwissenschaftlichen Bereich häufig ein einseitiger genutzt werden, um Frieden gewähren zu können. „Es ist und intentionaler Rekurs auf Religion vollzogen wird, um keine Frage“ – so Mouhanad Khorchide – eine Grenze zwischen einer Wir- und einer Nicht-Wir- „dass dies ein wichtiger und wünschenswerter Nebenef- Gruppe zu markieren, die den grundlegenden Unterschied fekt des Dialogs ist. Die alleinige Begründung in seinem zwischen beiden im Wesen der Anderen sehen will; der Ter- Beitrag zum Frieden reduziert jedoch diesen Dialog, aber minus des religiösen Othering versucht dieses Phänomen in auch Religionen auf Funktionalität und Nützlichkeit. Die einen Begriff zu fassen und verständlich zu machen. Anerkennung und Würdigung des ‚Anderen‘ muss viel- Das religiöse Othering findet im Kontext von Globali- mehr als Teil des eigenen religiösen Selbstbewusstseins sierung und Migration statt. Hier zeigt sich eine Figur, in wahrgenommen werden […] und muss also auch dann der der Rückgriff auf Religion mit einer hegemonialen gewährleistet werden, wenn daraus kein Nutzen für die Zuordnungspraxis verbunden ist, in der Exklusion und Gesellschaft erzielt wird. Die Würdigung des ‚Anderen‘ Dominanz jenseits von politischen normativen Paradigmen muss als Wert für sich hochgehalten werden.“24 passieren. So ist man bei Der interreligiöse Dialog kann sich jedoch nicht darin „[...] der Suche nach einer Legitimation für die Behand- erschöpfen, dass die jeweils andere Religion in ihrer Anders- lung des Einwanderers als Fremden [...] nicht ganz zufäl- artigkeit akzeptiert und gewürdigt wird und die daran Betei- lig auf die Religion gestoßen. Der religiöse Blick eröffnet ligten durch Auseinandersetzung und Austausch zu einem eine einmalige Möglichkeit, den als Nicht-EU-Bürger besseren Verständnis gelangen: er soll nicht zu einem egois- verbliebenen ‚Einwanderer-Resten‘ ein eindeutiges Merk- tischen und autistischen Monolog der Glaubensgemein- mal zuzuschreiben, nämlich eine orientalisch-islamische schaften werden. Der interreligiöse Dialog muss und darf Grundeinstellung. Das hat noch dazu den Vorteil, dass seine jeweils ganz spezifischen Fragen und Sichtweisen in die man dann auf ethnische Distinktionen verzichten kann, Gesellschaft tragen: neben den sozialethischen, die im Kon- die sich bislang alle als sehr flüchtig und nicht belastbar text von Würde und dem Wert des Lebens stehen, sind dies erwiesen haben.“26 in erster Linie jene nach Spiritualität und Sinnsuche in der Grundlage des religiösen Otherings ist, dass es nicht (post)modernen Gesellschaft. Das interreligiöse Lernen etwa um soziologische Phänomene oder um historische Ent- dient dazu, sich jene Fähigkeiten anzueignen, die nötig sind, wicklungen des Religiösen geht, sondern um die Kennzeich- um mit dieser Pluralität als Normalfall kompetent umgehen nung einer anderen Religion als solche. Die Andersheit der zu können – (Hoch)-Schulen als Orte der Bildung sind auf- Religion wird hierbei nicht mittels religionswissenschaftli- gerufen, in ihrem alltäglichen Miteinander- Leben und Tun cher Kategorien definiert, sondern in einer grundlegenderen diesem Anspruch vorbildhaft nachzukommen. Operation festgestellt: Religion wird mit einer negativ kon- notierten Andersheit (Otherness) verbunden. Spätestens seit 3.2.2 ‚Die Religion der Anderen‘: ein soziologischer, politik- dem 11. September 2001 ist es ‚im Westen‘ üblich, vom und kultur-wissenschaftlicher Denkanstoß Islam als Religion der Anderen zu sprechen. Mittels Othe- In der gegenwärtigen politischen, medialen und wissen- ring werden Differenzkonstruktionen erschaffen, die eine schaftlichen Behandlung des Migrationsthemas nimmt Reli- radikale Abgrenzung zwischen einem Innen und einem gion einen zentralen Platz ein; zumeist in der Formulierung Außen schaffen und als normal erscheinen lassen. Dieses ‚die Religion der Anderen‘. Die Vergegenständlichung der Außen ermöglicht erst jene Grenzziehungen, die das Innen Anderen als Andere durch die Fokussierung und Thematisie- der Gesellschaft markieren und ein bedeutungsleeres, an rung ihrer religiösen Praxen bedarf vor allem auch im Kon-

ÖRF 23 (2015) • 55–62 59 sich unergründbares, aber scheinbar unhinterfragbares Wir – eine Form von Kommunikation, deren Radius so weit als gesetzt und gegeben erscheinen lassen. reicht, als die Identität des eigenen Zentrums nicht bedroht Das religiöse Othering entfaltet seine besondere Wir- wird. Der Anspruch auf universale Heils- und Wahrheits- kung auch deshalb, weil das Phänomen natio-ethno-kultu- ansprüche gehört zum Selbstverständnis monotheistischer reller Zugehörigkeit in einem engen Verhältnis zum Sakra- Religionen und muss im interreligiösen Austausch nicht len und Religiösen steht; besonders anschaulich wird das verschwiegen werden. Es kommt allerdings darauf an, wie durch die fragwürdige Praxis der FPÖ: Diese Partei hat in dieser Heils- und Wahrheitsanspruch verantwortet und in den letzten Jahren große und regelmäßige Erfolge bei unter- welcher Form er kommunziert wird. Universalität darf schiedlichen Wahlen in Österreich erzielt, auch indem sie weder expansiv aufgenötigt noch integrativ nahegelegt und mit Slogans wie ‚Abendland in Christenhand‘ oder ‚Daham auch nicht separativ verweigert werden; sie muss je neu statt Islam‘ und entsprechenden Visualisierungen in Erschei- gesucht, angestrebt, kritisiert und verteidigt werden.27 Die- nung getreten ist. Religiöse und nationale Semantiken wur- ses versuchsweise Unternehmen eines vielstimmigen, selbst- den und werden hier miteinander verwoben und oft und kritischen und allseitigen Strebens nach Allgemeingültigkeit immer wieder in eine enge, wenn auch diffuse Assoziation nennt Wimmer einen „tentativen Zentrismus“28. gebracht. Es braucht PädagogInnen, die ein Grundverständnis von Religion entwickelt und sich grundsätzliche interreligi- 3.2.3 Interreligiöses Lernen und interreligiöse Kompetenzen öse Kompetenz(en) erworben haben, um Religion in ihrer Aus dem eben Geschilderten ergeben sich für das inter- Vielfalt wahrnehmen und wertschätzen zu können bzw. religiöse Lernen folgende Voraussetzungen: pädagogisch adäquat mit Unterschieden und auch Konflik- 1. Der Gegenstand des Interreligiösen Lernens ist die ten, die sich daraus ergeben, umgehen zu können. Da es in jeweils andere Religion und keinesfalls die Religion der diesem pädagogischen Handlungsfeld auch wesentlich um Anderen, der man sich gnädigerweise, aus Interesse oder Haltungen geht, bedarf es einer persönlichen und subjekt- aus gutem Willen – und sei es auch auf Augenhöhe – zuwen- orientierten Auseinandersetzung.29 det. Jedes Gefälle, das sich in einem Wir und die Anderen Als wesentliche Fähigkeiten beinhaltet der Aufbau manifestiert, schadet und verhindert letztlich den Dialog. interreligiöser Kompetenz in der PädagogInnenbildung: Stereotype Festschreibungen, die anscheinend immer auch • das Wahrnehmen und die Reflexion eigener Hal- religiöse Aspekte berühren (z.B. fundamentalistische, nicht tungen und Einstellungen in religiösen Fragen bzw. aufgeklärte, demokratie- und frauenfeindliche Muslime, …) die differenten Einstellungen und Haltungen ande- bedingen diese Schieflage. Auch eine einseitige Betonung rer Personen, des Religiösen wird der pluriellen Identität von Menschen • die Begegnung mit unterschiedlichen Ausprägun- nicht gerecht. Unterschiede in der Sache gehören jedoch gen von Religionen und dadurch ein Verstehen wesentlich zum Interreligiösen Lernen; das gemeinsame und eine Einübung in Toleranz und Dialogfähig- Ringen um das richtige Verständnis ist Ausdruck einer ega- keit, litären Differenz. • die Entwicklung von Handlungsstrategien für 2. Das Ziel des Interreligiösen Lernens ist die gleichbe- unterschiedliche pädagogische Situationen, in rechtigte Begegnung, in der sowohl ein inhaltlicher und denen Religion eine Rolle spielt, fachspezifischer Austausch stattfindet, der von einem wert- • aber auch Grundwissen über Religion, ihre Bedeu- schätzenden Interesse getragen ist, als auch Konvivenz tung für Menschen und religiöse Haltungen allge- (Wahrnehmung ohne Aneignung, Anerkennung der Diffe- meiner Art. renz, Verstehen des Anderen), die durch Vertrauen und Ver- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Interreligiöses trautheit möglich wird. Die Klärung der eigenen Position – Lernen auf all diesen Ebenen nie aus einer Metaposition und damit verbunden die Fähigkeit und Bereitschaft zu heraus erfolgt, sondern auf Kommunikation und Begegnung Selbstreflexion – ist ein essentieller Bestandteil dieses Lern- – dem Königsweg Interreligiösen Lernens – basiert. Syste- felds. Die Pluralität als Normalfall ist Ausgangspunkt und matisches und exemplarisches Grundwissen über die unter- Ziel des Interreligiösen Lernens. schiedlichen Religionen ist zwar Voraussetzung für Verste- 3. Das geeignete (Kommunikations)-Mittel des Interreli- hen und Dialog, erschöpft sich aber nicht darin. Der Erwerb giösen Lernens ist der ‚Polylog‘, – ein allseitiges, vollständig dieser Kompetenzen muss demnach neben der theoreti- reziprokes und vorbehaltloses Gespräch, das kein absolutes schen Vermittlung auch Phasen der Begegnung mit Men- Zentrum voraussetzt, aber gemeinsame Wahrheitserkennt- schen verschiedener Religionen sowie der persönlichen nis anstrebt, während der Dialog im herkömmlichen Sinn Reflexion enthalten.30 sehr eingeschränkt als ein Gespräch mit Vorbehalt erscheint,

60 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 3.2.4 Konsequenzen für Z.I.M.T. (14.4.2015) oder ‚macht_religion_radikal. Fundamentalis- Z.I.M.T. ist bemüht, auch im Interreligiösen Lernen dis- mus als Herausforderung aus christlicher, muslimischer und kriminierende Denkweisen und Strukturen wahrzunehmen, (alltags-)psychologischer Perspektive‘ (22.4.2015). bewusst zu machen und aufzulösen, indem vor allem Begeg- Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Deradikalisie- nungen als explizite ‚Lern- und Verlernwege‘ initiiert und rungs- und Präventionsangebot im Kontext von Salafismus gefördert werden. Die Fähigkeit zu Pluralität und Dialog bil- und Dschihadismus. In diesem Zusammenhang muss darauf det das Ziel unserer Umsetzungsschritte an der PH Linz. hingewiesen werden, dass sich die PH und mit ihr die Diö- Da in der neuen Hochschul-Curriculaverordnung §9 zese Linz als reale (und nicht nur ideelle) Orte interreligiö- Abs. 6 (2013) interreligiöse Kompetenz für alle Lehramts- ser Praxis erwiesen haben, da der international anerkannte studierenden gefordert wird, unterstützt Z.I.M.T. die expli- muslimische Religionspädagoge und Extremismusforscher zite und implizite Einarbeitung in die zu erstellenden Curri- Moussa Al-Hassan Diaw als Mitarbeiter von Z.I.M.T. geholt cula. Zusätzlich kooperiert Z.I.M.T. mit dem Institut für werden konnte. Mit diesem wurde ein umfangreiches Bera- Ausbildung von Religionskräften und unterstützt dieses tungs- und Workshopangebot (für SchülerInnen, Eltern, bezüglich der Professionalisierung im Interreligiösen Ler- PädagogInnen, SchulleiterInnen) erarbeitet, das reichlich nen. Auch für Studierende der Fort- und Weiterbildung und mit großer Zufriedenheit in Anspruch genommen wird. wird gemeinsam mit dem zuständigen Institut ein innovati- Seiner Expertise ist auch zu verdanken, dass Z.I.M.T. in die- ves Seminarangebot erstellt. ser Thematik als kompetenter Partner zu Fachtagungen im In- und Ausland eingeladen wird (Europarat, OSZE, 4. Step by step: Z.I.M.T. am Weg BM:EIA, BVT, IFÖ, EU-Kommission: RAN, ENOD, Univer- sität Osnabrück, …). Begleitend zu diesem Angebot wurde Im Studienjahr 2014/15 folgten trotz geringster perso- über FFG/KIRAS gemeinsam mit dem Institut fur Politik- neller und finanzieller Ressourcen erste konkrete Umset- wissenschaft der Universität Wien und dem Institut fur Psy- zungsschritte im Sinne unserer theoretischen Grundannah- chologie der Universität Innsbruck das Forschungsprojekt men. Diese setzen bewusst bei einem selbstreflexiven Ansatz ‚Radikalisierungstendenzen von Jugendlichen‘ eingereicht. an, indem sie Möglichkeiten zum Wahrnehmen und Publikationen zu allen Arbeitsfeldern ergänzen und ver- Bewusstmachen von persönlichen und institutionellen Dis- tiefen die inhaltliche Auseinandersetzung.31 Die diesbezüg- kriminierungen (Besonderungen, Ausschlüsse, …) schaffen, liche Dissemination erfolgt u.a. bei Vorträgen (Universitäten für pädagogische Interventionen professionalisieren und Krems und Wien) und bei Teilnahmen an Podiumsdiskussi- gleichberechtigte Teilhabe initiieren. Dazu wurden zu allen onen (Österreichischer Integrationsfonds). Beachtung fand Z.I.M.T.-Arbeitsfeldern ausgewiesene ExpertInnen, die zum der Initiativantrag des oberösterreichischen Landtages vom Beirat des Zentrums gehören, zu einem Gastvortrag für Leh- 16.04.2015, welcher von der Bundesregierung die Finanzie- rende und Studierende sowie zum einem anschließenden rung des Zentrums fordert. Das große mediale Interesse Workshop für Führungskräfte und Interessierte an unsere bedingt zusätzlich viel Aufmerksamkeit und Akzentuierun- PH eingeladen. So ermöglichten Prof. Paul Mecheril (Uni- gen im Sinne unserer Prämissen.32 Die aktuelle Flüchtlings- versität Oldenburg) am 24.03.2014 und Prof. İnci Dirim situation bestimmt zudem unsere Konkretisierungen im (Universität Wien) am 01.12.2014 eine intensive Auseinan- Studienjahr 2015/16. dersetzung mit Migrationspädagogik und Sprachbildung im Dass Z.I.M.T. (auch) in den unterschiedlichen Bil- Kontext der Mehrsprachigkeit. Am 23.01.2015 thematisierte dungseinrichtungen Salz wird (Mt 5,13-16), ist und bleibt und diskutierte Prof. Franz Gmainer-Pranzl (Universität letztlich Motivation und Auftrag für das Mitwirken am Auf- Salzburg) nach seinem Vortrag ‚Ist Allah auch der liebe bau des Reiches Gottes, dessen Bausteine u.a. aus Gerechtig- Gott?‘ die ‚PH als Ort interreligiösen Lebens und Lernens‘. keit, Solidarität, Teilhabe und unbedingter Würde geformt Dem PH-internen Diskurs dient weiters das Format des sind. Z.I.M.T.-Salons, in dem sich Lehrende und Studierende ein- mal pro Semester zu Z.I.M.T.-Arbeitsfeldern positionieren, Anmerkungen wie z.B. bei jenem, der ‚Autobiographische Annäherungen an eigene Migrationserfahrungen‘ thematisierte 1 Dieser Artikel basiert auf: Hofer, Renate / Schlager-Weidinger, Thomas: Interreligiöses Lernen, Migrationspädagogik und Mehrspra- (16.12.2014). Die Veranstaltungsreihe Z.I.M.T.-Aktuell öff- chigkeit als (inklusions)pädagogische Praxisfelder im tertiären net sich auch Interessierten außerhalb der PH und greift Bereich - ein Zentrum am Weg, in: Hollick, Danièle u.a. (Hg.): Hete- tagespolitisch relevante Themen auf, wie ‚Deradikalisierung: rogenität in pädagogischen Handlungsfeldern. Perspektiven. Befunde. Prävention und Beratung. Beispiele aus der angewandten Konzeptionelle Ansätze, Kassel: university press 2015, 195–241. Praxis‘ (4.3.2015), ‚Legitimiert der Koran Gewalt?‘ 2 Leitbild der Pädagogischen Hochschule Linz (o.J.), in: www.phdl.at/ hochschule/organisation/leitbild/ [abgerufen am 21.07.2014].

ÖRF 23 (2015) • 55–62 61 3 Mecheril, Paul / Klingler, Birte: Universität als transgressive 19 Ebd. Lebensform. Anmerkungen, die gesellschaftliche Differenz- und 20 Vgl. Weltethos: Ausschreibungstext zum Lehrgang „Interreligiöse Ungleichheitsverhältnisse berücksichtigen, in: Darowska, Lucyna Kompetenz“. Indigene Religionen, Judentum, Christentum und Islam u.a. (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und (2005), in: http://classic.weltethos.org/pdf_dat/schweiz/lehrgang.pdf Differenz in der Universität, Bielefeld: transcript 2010, 83–116, 84. [abgerufen am 24.07.2014]. 4 Ebd., 85. 21 Vgl. Jäggle, Martin: Pluralitätsfähiger Umgang mit den Anforderun- 5 Mecheril, Paul: Unveröffentlichtes Arbeitspapier im Rahmen des gen an den Religionsunterricht, in: Österreichisches Religionspädago- Studientages zur Grundlagenarbeit von Z.I.M.T. mit Paul Mecheril an gisches Forum 17 (2009) 54–57. der PH Linz am 24.3.2014. 22 Vgl. Habermas, Jürgen: Glaube und Wissen. Rede zur Verleihung des 6 Ebd. Friedenspreises am 14.10.2001, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 7 Feuser, Georg: Inklusion heute = Inklusion morgen?, in: Erziehung & (15.10.2001). Unterricht 164 (2014) 200–203, 201. 23 Jäggle 2009 [Anm. 21], 56. 8 Bukow, Wolf-Dietrich: Zur alltäglichen Vielfalt von Vielfalt – post- 24 Khorchide, Mouhanad: Dialog reicht nicht aus, in: Die Furche (22.9. moderne Arrangements und Inszenierungen, in: Allemann-Ghiona, 2011) 13. Christina / Bukow, Wolf-Dietrich (Hg.): Orte der Diversität. Formate, 25 Vgl. Mecheril / Thomas-Olalde 2011 [Anm. 14], 36. Arrangements und Inszenierungen, Wiesbaden: VS Verlag 2011, 26 Bukow, Wolf-Dietrich / Heimel, Isabel: Der Weg zur qualitativen 35–54, 35. Migrationsforschung, in: Badawia, Tarek u.a. (Hg.): Wider die Ethni- 9 Ebd., 43. sierung einer Generation, Frankfurt: IKO 2003, 13–40, 34. 10 Vgl. Sertl, Michael / Langer, Roman: Zur Einführung in den The- 27 Vgl. Gmainer-Pranzl, Franz: Theorie interkulturell – die diskursive menschwerpunkt „Zur (Re)Produktion sozialer Differenzen im Form von Katholizität, in: KBC (Korrespondenzblatt des Canisia- Unterricht“, in: Erziehung und Unterricht 164/3+4 (2014) 299–300. nums) 143/2 (2011) 16–34. 11 Mecheril / Klingler 2010 [Anm. 3], 110. 28 Wimmer, Franz M.: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, 12 Vgl. Kronberger, Silvia. Vorwort zum Themenschwerpunkt Inter- Wien: UTB 2004, 15–17. sektionalität, in: Erziehung & Unterricht 164/1+2 (2014) 91–92. 29 Vgl. Neuhold, Hans / Ladstätter, Markus: Basiskompetenz Diver- 13 Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen sitätsbereich Interreligiosität – die angstfreie Bewusstheit von Diffe- Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt: Suhrkamp 1992. renz fördern. Interne Handreichung (o.J.) 14 Vgl. Mecheril, Paul / Thomas-Olalde, Oscar: Die Religion der 30 Ebd. Anderen. Anmerkungen zu Subjektivierungspraxen der Gegenwart, 31 Vgl. http://www.phdl.at/institute/zimt/ in: Allenbach, Birgit u.a. (Hg.): Jugend, Migration und Religion. 32 Ebd. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2011, 35–66. AutorInneninformation 15 „Fides autem catholica haec est: ut unum Deum in Trinitate, et Trinita- Mag. Dr. Thomas Schlager-Weidinger tem in unitate veneremur: Neque confundentes personas, neque subs- Pädagogische Hochschule der Diözese Linz tantiam separantes.“ „Dies aber ist der katholische Glaube: Wir vereh- Salesianumweg 5b ren den einen Gott in der Dreifaltigkeit und die Dreifaltigkeit in der A-4020 Linz Einheit, ohne Vermischung der Personen und ohne Trennung der e-mail: [email protected] Wesenheit.“ (Symbolum Athanasianum) GND: (DE-588)133781941 16 Bezügl. Mehrsprachigkeit: Vgl. Hofer / Schlager-Weidinger 2015 [Anm. 1], 207–210. Mag.a Dr.in Renate Hofer, Dipl.-Päd. 17 Vgl. Mecheril, Paul u.a.: Migrationspädagogik, Weinheim und Basel: Pädagogische Hochschule der Diözese Linz Beltz 2010. Salesianumweg 5b 18 Vgl. Mecheril, Paul: Pädagogik in der Migrationsgesellschaft. Vortag A-4020 Linz und Seminar an der PH Linz am 27.04.2012. Unveröffentlichte Skrip- e-mail: [email protected] ten.

62 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Edda Strutzenberger-Reiter / Ingrid Kromer / Doris Lindner

Vielfalt an Schulen

Umgang mit religiöser Diversität im pädagogischen Alltag die autorinnen Mag.a Dr.in Edda Strutzenberger-Reiter, Professorin an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems, lehrt und forscht zu den The- men qualitative Sozialforschung, Interreligiöses Lernen, (religiöse) Di- versität in Schule und Organisationen, Schulentwicklung.

Mag.a Dr.in Ingrid Kromer, Pädagogin und Soziologin, langjährige be- rufliche Tätigkeit in der außerschulischen Jugendarbeit und in der so- zialwissenschaftlichen Kindheits- und Jugendforschung, seit 2010 an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems in Lehre und Forschung tätig.

Mag.a Dr.in Doris Lindner, Professorin an der Kirchlichen Pädago- gischen Hochschule Wien/Krems, lehrt und forscht zu den Themen qualitative Sozialforschung, Sozialisation mit dem Schwerpunkt Mi- gration und interkulturelle Bildung sowie religiöse Diversität.

Abstract In diesem Artikel soll ein laufendes Forschungsprojekt zum Umgang mit religiöser Vielfalt in der Schule, das in Kooperation mit KPH Wien/Krems, IRPA und der Universität Wien durchgeführt wird, vorgestellt werden. Eine interreligiös zusammengesetzte Forschungsgruppe untersucht, wie Religionen und religiöse Vielfalt an Schulen aus der Perspektive unterschiedlicher sozialer AkteurInnen im schulischen Kontext wahrgenommen und gedeutet werden. Zentral ist hier insbesondere die Frage, wie diese Wahrnehmungs- und Deutungsmuster über Religion(en) und religiöse Vielfalt den ‚Alltag’ in Schule und Unterricht beeinflussen. Darüber hinaus interessiert, an welchen Themen Religion und religiöse Vielfalt sichtbar werden und wie darüber kommuniziert wird. In einem weiteren Schritt sollen Methoden und Modelle für einen diversitätssensiblen Umgang mit religiöser Vielfalt erar- beitet und in einem Schulentwicklungsprojekt umgesetzt und evaluiert werden. Neben einer theoretischen Fundierung (Bedeutung und Relevanz von Religion und religiöser Vielfalt in der Schule, Verbindung zu Schulentwicklung, Erwerb von Diversitätskompetenz) soll das Projektdesign (qualitative Fallstudie, Triangulation verschiedener Methoden) dargestellt werden. Eine Besonderheit dieses Projektvorhabens ist die überinstitutionelle und interreligiöse Zusam- menarbeit – Erfahrungen daraus und die Projektstruktur sollen in diesem Artikel ebenfalls reflektiert werden. Schlagworte: Religion, Diversität, Pädagogik, Schule, Erhebung

Diversity in schools - handling of religious diversity in a pedagogical setting This article presents an ongoing research project on the handling of religious diversity in schools which is realized in cooperation with the KPH Wien/Krems, IRPA and University of Vienna. An interreligious research group investigates the perception and inter- pretation of religion and religious diversity in schools from the perspective of different players in the school. The main focus is set on the question how these patterns of perception and interpretation of religion(s) and religious diversity influence the daily life and teaching. Additionally it is of interest, which themes occur in handling this diversity and how people communicate about it. Based on this reasarch, it is aimed to develop methods and models for a diversity-sensitive handling of religious diversity in schools, and to further implement and evaluate these methods and models in a school development project. Besides a theory driven introduction (meaning and relevance of religious diversity in schools, connection to school development, acquisition of competences in religious diversity) this article aims to present the used research design (qualitative case study, tri- angulation of different methods). A strength of this project rests with the comprehensive institutional and interreligious coope- ration – experiences of this cooperation and the project structure can be reflected in the last part of the article. Keywords: Religious diversity, Education, Schools, Survey

Edda Strutzenberger-Reiter / Ingrid Kromer / Doris Lindner: Vielfalt an Schulen – Umgang mit 63 religiöser Diversität im pädagogischen Alltag • ÖRF 23 (2015), 63–71 ielfalt an Schulen – Umgang mit religiöser Diversi- der Option für Schwächere und Benachteiligte,5 denn die tät im pädagogischen Alltag’ ist ein Forschungspro- „Art und Weise des Umgangs mit kulturellen und religiösen Vjekt, das derzeit in Form einer interdisziplinären Verschiedenheiten und den sie repräsentierenden Minder- und institutionenübergreifenden Kooperation der Kirchli- heiten“6 gibt Auskunft darüber, wie „Respekt, Toleranz, chen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems, der Katho- Anerkennung, Menschenwürde, Chancengleichheit u.a.m.“7 lisch-Theologischen und Evangelisch-Theologischen Fakul- als zentrale Werte an der Schule gelebt werden können. tät der Universität Wien sowie der IRPA, Privater Studien- Die Frage nach der Bedeutung religiöser Diversität im gang für das Lehramt für Islamische Religion an Pflicht- pädagogischen Alltag ergibt sich also zum einen aus der ver- schulen in Wien, durchgeführt wird. Im Folgenden stellen mehrten öffentlichen Aufmerksamkeit für dieses Thema, wir Inhalte, Ziele und diskurstheoretische Überlegungen zu zum anderen aber auch aus theoretischen und pädagogi- Religion und religiöser Vielfalt im Kontext von Schule vor schen Befunden und Reflexionen dazu. Wie dieses Thema und formulieren erste, vorläufige Reflexionen unseres inter- erforscht werden soll und welche Struktur wir dafür dem religiösen und interdisziplinären Handelns. Projekt gegeben haben, wird im Folgenden skizziert.

1. Einleitung 1.2 Grundlegendes zum Projektdesign Vor dem Hintergrund oben angeführter Überlegungen 1.1 Diskurstheoretische Beobachtungen: Religiöse Diversität soll das Forschungsprojekt einen differenzierten Einblick in – ein Problemfall? das Zusammenspiel von religiöser Diversität, pädagogi- schem Alltag und Schulentwicklung ermöglichen. Folgende Mit der Frage, wie im pädagogischen Alltag einer Schule Forschungsfragen, die anhand einer qualitativen Schulfall- mit religiöser Diversität umgegangen wird, wird ein The- studie8 beantwortet werden sollen, sind dafür leitend: menkomplex aufgegriffen, der durch die sogenannte ‚Radi- • Wie wird religiöse Diversität an einer Schule von kalisierung’ Jugendlicher wieder vermehrt mediale Auf- den beteiligten Personengruppen wahrgenommen? merksamkeit erfuhr. Die Beziehung zwischen Religion und • Wie beeinflussen diese Wahrnehmungs- und Deu- Schule wurde zuvor mit dem sogenannten ‚Kruzifixurteil’ tungsmuster pädagogisches Handeln und den päd- des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2009 agogischen Alltag? diskutiert1, zudem beschäftigten die Fragen nach Beschnei- • Wie kann ein adäquater pädagogischer Umgang dungen jüdischer und muslimischer Jungen und, ob öffentli- mit religiöser Diversität in der Schule gestaltet wer- che Gebete sowie das Tragen von Kopftüchern an Schulen den? erlaubt sein dürften, die mediale Öffentlichkeit. Dabei Entsprechend der durch die Fragen vorgegebenen wurde vor allem das, religiöser Pluralität innewohnende, unterschiedlichen Schwerpunktsetzung verläuft das Projekt Konfliktpotenzial betont und gelebte, praktizierte Religion in drei Phasen: Die erste Phase der qualitativ empirischen als Störfaktor dargestellt, der das friedliche Zusammenleben Erhebung und Auswertung findet im Schuljahr 2015/16 in der Schule gefährde. Ausgehend von diesen diskurstheo- statt, danach sollen 2016/17 Schulentwicklungsmaßnahmen retischen Beobachtungen soll im hier vorgestellten Projekt mit dem Fokus auf einen adäquaten Umgang mit religiöser die Bedeutung von religiöser Diversität im pädagogischen Diversität erarbeitet und umgesetzt werden, deren Evalua- Handeln, im Schulleben und in der Schulentwicklung tion 2018 stattfinden wird. erforscht werden2. Da Pluralität der kennzeichnende Kon- Mit der Umsetzung dieses Projekts werden verschie- text ist, in dem (religions)pädagogisches Handeln heute dene Ziele verfolgt: stattfindet und gerade religiöser Diversität hier eine zentrale 1. Es gilt zu ergründen, welche Bedeutungszuschrei- Bedeutung zukommt: Es gilt, interreligiöses Lernen3 umzu- bungen an Religion und religiöse Diversität von setzen, Unterschiede und Differenzerfahrungen im religiö- den am Schulleben beteiligten Personen vorge- sen Bereich zu thematisieren und auf Gemeinsames zu ver- nommen werden und wie diese folglich ihr (päda- weisen,4 denn die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft gogisches) Handeln beeinflussen, um ein Verständ- wird sich auch daran entscheiden, wie Menschen mit (religi- nis für die Situation an Schulen zu erwerben. öser) Vielfalt und Differenz umgehen können. Diese Kom- 2. Wird von Diversität gesprochen, müssen auch petenz erwerben SchülerInnen nicht nur im Unterricht, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse thematisiert sondern auch in der Art der Gestaltung von Schulkultur werden. Dementsprechend sollen mögliche Inklu- und -leben. Schulentwicklung, die ihren Kern darin sieht, sions- und Exklusionsmechanismen, deren Ursa- eine menschenwürdige Gestaltung des Lebensraums Schule chen in religiöser Diversität liegen, analysiert wer- zu fördern, nimmt hier auch Bezug auf religiöse Vielfalt in den.

64 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 3. So werden Herausforderungen und Chancen für jedem Lebensentwurf das gleiche Recht auf seine Eigenart pädagogisches Handeln offengelegt, die im Weite- zu und ist so Ausgangspunkt für die Wahrnehmung von ren in Form eines Schulentwicklungsprozesses Differenz als gleichgestellte oder egalitäre Differenz. Dieser bearbeitet werden können. Differenzbegriff wendet sich gegen Hierarchien, die auf- 4. Schließlich soll durch die Umsetzung von Schul- grund von Unterschiedlichkeiten entstehen und konstruiert entwicklungsprojekten das Zusammenleben in der werden und ist verbunden mit dem Auftreten gegen Legiti- Pluralität der Schule aktiv gestaltet und eine religi- mationen von Unterdrückung, Ausbeutung oder Entwer- onssensible9 Schulkultur etabliert werden. tung aufgrund von Verschiedenheit. Die grundlegende Hal- Das Projektteam besteht aus einer Steuerungsgruppe tung dahinter besteht in der Offenheit für Unvorhersehbares von sieben WissenschaftlerInnen aus den eingangs genann- und Inkommensurables und verzichtet auf Konstruktionen ten Institutionen mit verschiedenen, religiösen und diszipli- wie Symmetrie, Polarität oder Komplementarität, denn diese nären Hintergründen (Religionspädagogik, Pädagogik, schaffen binäre Strukturen, die einander bedingen und von- Soziologie). Dieses Team führt die Erhebung und Auswer- einander abhängen. Das wiederum widerspricht dem Prin- tung durch und zeichnet sich für den Projektverlauf verant- zip des Differenzdenkens, das ein Vielfältiges, Anderes, wortlich. Unterstützt wird das Steuerungsteam von einer Unabhängiges von dem ‚Einen’ will.15 ebenfalls interreligiös und interdisziplinär zusammengesetz- Der Differenzbegriff bezieht sich hier sowohl auf Unter- ten Resonanzgruppe, die bei regelmäßigen Treffen reflektie- schiede zwischen dominanten und inferiorisierten gesell- rend und beratend zur Seite steht. Zusätzlich wird der schaftlichen Gruppen, aber auch auf die Verschiedenheiten gesamte Projektverlauf von einem wissenschaftlichen Board innerhalb dieser Gruppen selbst. So wird ein kritischer Blick begleitet, das bei punktuellen Fragestellungen herangezogen darauf ermöglicht, dass Hierarchien durch kollektive werden kann. Das Projekt ist im Bereich der qualitativen Zuschreibungen und Stereotypisierungen hergestellt und Sozialforschung angesiedelt und operiert auf Grundlage der gefestigt werden. Durch den Verweis auf den Konstruktions- Rekonstruktiven Sozialforschung nach Ralf Bohnsack10. Sei- charakter dieser Zuschreibungen wird dieser Konstruktions- ner Methodologie folgend wird vor der Erhebungsphase prozess sichtbar und kann analysiert und verändert werden. eine theoretische Fundierung vorgenommen11, deren wich- Der demokratische Differenzbegriff ist in Bezug auf die tigste Punkte für das Forschungsprojekt nun dargestellt wer- Erforschung von Exklusions-, Inklusions- und Marginalisie- den. rungstendenzen für das Forschungsprojekt von großer Bedeutung. Wir legen unseren Fokus speziell auf religiöse 2. Theoretische Fundierung Vielfalt, die zwar ein Aspekt der kulturell-gesellschaftlichen Pluralität ist, aufgrund ihrer Spezifika aber eigens themati- 16 2.1 Egalitäre Differenz als pädagogische Grundlage siert werden kann , denn es geht in der Frage der Religio- nen möglicherweise stärker um die Frage nach Wahrheit, als Diskurse in der österreichischen Schulentwicklungsde- sie in anderen Zusammenhängen virulent wird: „Religionen batte setzen sich in vielfacher Weise mit dem Bildungsauf- beanspruchen Autorität; sie beanspruchen, wahre Aussagen trag der Schule auseinander. Darin werden übergreifende zu machen über Gott, über den Sinn des Lebens und über Ziele in der Tradition der Aufklärung als Befähigung zur die Regeln des menschlichen Zusammenlebens.“17 Für die Selbstbestimmung, Akzeptanz der Selbstbestimmungs- Forschung wichtige Aspekte religiöser Diversität werden im ansprüche anderer, der Mitverantwortung und der Befähi- Folgenden dargestellt. gung zum gesellschaftlichen Miteinander definiert12. Schu- len haben dementsprechend die Aufgabe, interkulturelle 2.2 Aspekte religiöser Diversität für pädagogisches Handeln Bildung ins Zentrum zu rücken: „In einer Gesellschaft, in Mit dem Blick auf Nord-West-Europa kann festgestellt der aber das Ambivalente oder auch die Pluralität der werden, dass die christliche Religion keine exklusive Stel- Lebensverhältnisse zum Normalfall geworden sind, kommt lung in Bezug auf Sozialintegration oder der Bestimmung es darauf an, dass sich die Schule als größte gesellschaftliche eines individuellen Lebens mehr innehat, sondern in der Bildungsinstitution im Dienst einer Einwanderungs- und segmentär ausdifferenzierten Gesellschaft ein Teil derselben Migrationsgesellschaft stehend begreift und umfassend ist18. Der Wandel des religiösen Feldes hängt strukturell mit interkulturell bildet.“13 Voraussetzung dafür ist die Aner- dem Wandel und den Veränderungen der gegenwärtigen kennung und Wertschätzung von Differenzen. Prengels Päd- Gesellschaft zusammen und ist kein individuelles Phäno- agogik der Vielfalt14, die die Notwendigkeit dieser Anerken- men19. Religiöse Diversität bezieht sich nicht nur auf das nung als eine Grundlage pluralitätsfähiger Schulen aufzeigt, Vorhandensein unterschiedlicher Religionen, sondern auf hat hier grundlegende Bedeutung. Das Konzept gesteht die Vielfalt von Bekenntnissen, von Ausdrucksformen des

ÖRF 23 (2015) • 63–71 65 Religiösen, von säkularen und areligiösen Weltanschauun- frontiert, dass nahezu alle Phänomene, die beliebig als reli- gen. Die Differenziertheit gegenwärtiger Ausdrucksformen giös gedeutet werden können, unter dem Begriff Religion von Religion muss wahrgenommen werden, „um überhaupt subsumiert werden. Diese weite und nicht auf einen gemein- den religiösen Suchbewegungen, die in den religiösen Stilen samen Nenner zu bringende Definition von Religion in unser [sic] Zeit präsent sind, auf die Spur zu kommen und ihrer Begriffsvielfalt ist die Folge öffentlicher Diskurse, die sie verstehen zu lernen.“20. Tatsache ist, dass Religion heute zum einen die subjektive Innerlichkeit religiöser Selbst- als westlicher Begriff nur mehr im Plural der Religionen transzendenz betonen, gleichzeitig aber auch auf die – nach verstanden werden kann – so wie Zeitdiagnosen insgesamt wie vor omnipräsente – Bedeutung von Religion für die die (Post)Moderne als ambivalent, widersprüchlich und Öffentlichkeit verweisen, ungeachtet einer wie auch immer durch Vielfalt gekennzeichnet sehen21. gearteten Begriffsäquivalenz. Wenn der Zusammenhang zwischen Schule und Reli- Religion ist nicht nur Teil der Lebenswelt eines und gion lediglich im Religionsunterricht seine Legitimation einer jeden; Begegnungen mit ihr im Alltag zeigen sich erfährt, wie empirische Befunde nahelegen22, wird Religion zudem in vielfältigen Symbolen, Ritualen und Überzeugun- im öffentlichen Raum reguliert und limitiert und dadurch gen. Religion ist präsent in Begegnungen, Bildern, Gefühlen, zum symbolischen Ort der gesellschaftlichen Reproduktion Atmosphären, heiligen Plätzen und irritierenden Bildern von Vorstellungen über das Eigene und das Fremde. Aber und24 so ist ihre Wirklichkeit nicht einfach als Tatsache aus- allein durch den heterogenen Lehrkörper, weit mehr noch zuweisen und nicht unter konfessions- und religionskundli- durch die SchülerInnenschaft ist Religion in der Schule prä- chen Etiketten wie ‚der’ Islam oder ‚die’ KatholikInnen zu sent. Zweifelsohne müssen sich Schulen im Kontext religiö- fassen, sondern sie bezieht sich auf elementare Phänomene ser Pluralität – nicht nur in Österreich – die Frage stellen, einer Gesellschaft. Einerseits hat Religion hier einen kultur- wie (inter-)religiöse Bildung als eine im doppelten Sinne historischen Faktor im Sinne einer Traditionsablagerung, nicht einfach zu substituierende Dimension eines umfassen- andererseits hat sie als lebendige Religion auch Anteil am den Bildungsbegriffes möglichst allen SchülerInnen, unab- Prozess der gegenwärtigen und zukünftigen Kulturbildung25 hängig ihrer Herkunft und (nicht-)religiösen Zugehörigkeit, und ist somit für die Schule und die zukünftige Gesellschaft zuteilwerden kann, ohne sich dabei den Vorwurf gefallen von Bedeutung: „Religionen sind dem Kulturprozess nicht lassen zu müssen, Schulen durch Kirchen religiös zu verein- nur ausgeliefert, sie wirken in der Bildung von Normen und nahmen. Es geht hier in erster Linie darum, religiöse Plura- Werten zurück auf die Gesellschaft, formen Kriterien huma- lität wahrzunehmen sowie eine damit verbundene Reflexion ner und ökologisch verantwortlicher Kultivierung des voranzutreiben, die Religion nicht primär als Konfliktfall Lebens mit dem Anspruch auf Letztbegründung und mehr entwertet und diese damit aus Angst vor möglichen Konflik- oder weniger universaler Geltung.“26 ten aus dem Schulleben verdrängt. Das Ziel, religiöse Viel- Die Beziehung zwischen Religionen und Gesellschaft ist falt als Thema der Schulentwicklung aufzugreifen und in vital – Religionen stehen im Kontext sowohl von gesell- weiterer Folge eine religionssensible Schulkultur zu fördern, schaftlichen als auch religiösen Transformationsprozessen. sollte daher auch wesentlich den Lehrkörper mit einschlie- In diesem Sinne sind auch Schulen Orte, in denen Religion ßen, ob nun indifferent, bejahend oder der Thematik ableh- in ihren unterschiedlichen Dimensionen eine Rolle spielt. Es nend gegenüberstehend. Religionssensibilität als Teil einer bedarf hier eines offenen Begriffs von Religion, der den umfassenden pädagogischen Kompetenz bedeutet unter Blick auf unterschiedliche Formen, in denen sie in der anderem auch, „dass professionelle Pädagogen in der Lage Schule ihren Ausdruck finden kann, sowie die Wahrneh- und willens sind, auch den Bereich religiösen Erlebens und mung dieser verschiedenen Ausdrucksweisen den Beteilig- Reflektierens der ihnen anvertrauten Heranwachsenden zu ten in der Schule, ermöglicht. Religion und Religiöses wer- fördern […], weil sie ihnen diesen Bereich des Menschseins den dementsprechend als diskursive Tatbestände betrachtet nicht künstlich vorenthalten dürfen“23. Zur pädagogischen und als Such- und Reflexionsbegriffe verstanden27, die sich Professionalität gehören demnach der Umgang mit Religio- einer ständigen kritischen Revision unterziehen müssen28. nen und Religiosität sowie die Wahrnehmung religionspäd- Das ist mit dem Ziel verbunden, „einen kontextuellen Reli- agogischer Aufgaben. gionsbegriff zu entwickeln, der für die Religionspädagogik einen heuristischen Wert hat im Sinne einer angemessenen, 2.3 Ein weiter Religionsbegriff als heuristischer Rahmen differenzierten und unvoreingenommenen Wahrnehmung Die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die derzeit von Religion und Religiosität.“29 Verschiedene Elemente in vielen Religionen stattfinden, fordern dazu heraus, nach eines solchen Religionsbegriffs sind als mögliche Perspekti- einem eingegrenzten Verständnis von Religion zu fragen, ven für die Forschung von Bedeutung: In der anthropologi- denn postmoderne Gesellschaften sind heute damit kon- schen Dimension geht es darum, die Offenheit von Men-

66 Österreichisches Religionspädagogisches Forum schen für das Transzendente und für Sinnfragen im Blick zu denen offenen und kommunikativen Methoden kombiniert, haben. Die Funktionen von Religion verweisen auf die sozio- um einen differenzierten Zugang zur sozialen Wirklichkeit logische Dimension von Religion. Und die theologische zu ermöglichen und gleichsam alle für das Untersuchungs- Dimension schließlich bezieht sich auf die Glaubensdimen- objekt relevanten Dimensionen in die Analyse einbeziehen sion, die nicht aus dem Blick geraten darf.30 Konkret heißt zu können33. Dem Ziel der Forschungsarbeit, ein ganzheitli- das: „Religion ist in unterschiedlichster Weise durch die an ches und realistisches Bild der sozialen Lebenswelt Schule der Schule beteiligten Personen, sozialen Gruppen und ihrer zu erwerben und damit auch Erkenntnisse, die über den Bedürfnisse lebendig präsent. Religion ist in den vielfältigen Einzelfall hinaus professionstheoretisch Bedeutung haben, Situationen, Ritualen und Orten des öffentlichen oder teilöf- zu gewinnen, wird mit diesem Zugang entsprochen. fentlichen Schullebens gegenwärtig. Religion hat mit infor- mellen Aspekten des Schullebens zu tun. Religion begleitet 3.2 Methodologie der Rekonstruktiven Sozialforschung viele unvorhergesehene Ereignisse in der Schule und in Die hier vorgestellte Schulfallstudie verortet sich metho- ihrem Umfeld. Schulen sind selbst Orte mit religiöser dologisch in der dokumentarischen Methode nach Ralf Geschichte und Symbolik.“31 Das Interesse des Projekts Bohnsack, die an die Tradition der Kultur- und Wissensso- bezieht sich vor allem auf die gelebte Religion vor Ort, denn ziologie Karl Mannheims und der Ethnomethodologie so können ihre unterschiedlichen Dimensionen in der anknüpft34. Die dokumentarische Methode liegt im Bereich Schule und ihre Bedeutung für pädagogisches Handeln der rekonstruktiv verfahrenden Sozialforschung und hat die erfasst und die daraus folgenden Implikationen für Schule Aufgabe, die „Konstruktion der Wirklichkeit zu rekonstruie- und Schulentwicklung erarbeitet werden. ren, welche Akteure [und Akteurinnen – Anm.] in und mit Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Prämissen ihren Handlungen vollziehen“.35 Grundlegend dafür ist die wurde ein Forschungsdesign entworfen, das möglichst Unterscheidung zwischen kommunikativem und konjunkti- unterschiedliche Perspektiven erheben und die Beteiligten vem Wissen, wobei sich ersteres auf das explizite Wissen der mit ihren Deutungen zu Wort kommen lassen möchte. Die Forschungssubjekte bezieht und zweites auf implizite Wis- Grundlagen dieses Designs werden im nächsten Kapitel dar- sensformen. Unter dem Letztgenanntem wird jenes Wissen gestellt. verstanden, über das die handelnden Personen zwar verfü- gen, welches sie aber schwer explizieren können. Dieses 3. Forschungsdesign der qualitativen Erhebung implizite oder konjunktive Wissen ergibt sich aufgrund und Auswertung einer gemeinsam geteilten Praxis von Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenskontexten und ist demnach mit 3.1 Qualitative Schulfallstudie milieuspezifischen Bedeutungen versehen. In der dokumen- tarischen Methode geht es darum, dieses Wissen und seine Zur Beantwortung der Forschungsfragen wird die Erhe- jeweilige Relevanzsetzung zum Ausdruck zu bringen36. bung in Form einer Schulfallstudie an einer Pflichtschule Dementsprechend sind die Sichtweisen aller Beteiligten für der Sekundarstufe I in Wien durchgeführt. Diese Form der die Deutung und Interpretation der gesellschaftlichen Reali- Forschung ermöglicht es, mit Hilfe systematischer, wissen- tät zentral – ihr Wissen, ihre Interaktionen und ihre schaftlich geleiteter Fragestellungen soziale Wirklichkeit Umgangsweisen sind Basis für die Interpretation, um mehrperspektivisch zu untersuchen. Eine Einzelfallstudie Zusammenhänge im konkreten Umfeld erschließen zu kön- lässt sich dadurch charakterisieren, „dass sie ein einzelnes nen. Die Analyse erfolgt auf der Grundlage von Beobach- soziales Element als Untersuchungsobjekt und -einheit tungen oder Erzählungen, wobei die empirische Basis des wählt. Es geht ihr also nicht um aggregierte Individualmerk- Beteiligtenwissens nicht verlassen wird37. male, sondern vielmehr um die spezifischen und individuel- len Einheiten, die bestehen können aus Personen, Gruppen, 3.3 Methoden der qualitativen Erhebung Kulturen, Organisationen, Verhaltensmustern etc.“32 Einzel- Die dokumentarische Interpretation beruht auf einer fallstudien sind weder ein eigenständiges methodologisches Bandbreite von empirischen Daten, die durch unterschiedli- Paradigma noch erfordern sie eine konkrete Erhebungstech- che Methoden erhoben werden kann. Diese Methodenviel- nik, sie stellen vielmehr einen Zugang und einen spezifi- falt ist insbesondere mit Blick auf die Gesamtheit eines Fal- schen Forschungsansatz in der Sozialforschung dar, der les von großer Bedeutung. So wird die Triangulation mit sozusagen ‚dazwischen’ angesiedelt ist und einen einzelnen ihren unterschiedlichen Anwendungsformen hier als wich- Fall, wie eben die Untersuchungseinheit Schule, genau ana- tige „Strategie auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis lysiert und beschreibt. Damit wird eine multiperspektivische des untersuchten Gegenstandes und damit als Schritt auf Herangehensweise ermöglicht, die eine Vielfalt an verschie- dem Weg zu mehr Erkenntnis“38 gesehen. In der vorliegen-

ÖRF 23 (2015) • 63–71 67 den Einzelfallstudie wurden aus einem Pool von Erhebungs- Methoden und die daraus resultierenden Daten, gewinnt in verfahren in Absprache mit der Schulleitung und aus for- vorliegendem Forschungsprojekt die ‚Investigator-Triangu- schungsökonomischen Überlegungen folgende Methoden lation’ zentrale Bedeutung. Sie bezeichnet die heterogene für die Durchführung am Schulstandort ausgewählt: Zusammensetzung des Forschungsteams mit Blick auf Reli- Die Ethnografische Beobachtung39: Teilnehmende oder gion, Kultur, Gender, Institution, etc.45 Diese Form der Tri- auch ethnografische Beobachtungen sind ein wesentlicher angulation ermöglicht eine Erweiterung der subjektiven Zugang zur sozialwissenschaftlichen Beschreibung von Sichtweisen der Interpretationen und kann damit sowohl als Wirklichkeit. Im Fokus dieser Methode stehen vor allem die „Validierungsstrategie, als Ansatz der Generalisierung der SchülerInnen, die zum einen im Unterricht und zum ande- gefundenen Erkenntnisse und als Weg zu zusätzlicher ren in den Pausen im Schulgebäude von ForscherInnen teil- Erkenntnis“ verstanden werden46. Mithilfe dieser Triangula- nehmend beobachtet werden sollen. Es geht darum, Interak- tionen können die verschiedenen Sichtweisen erfasst und tionen von SchülerInnen untereinander und mit ihren Leh- auch in der Auswertung aufgrund einer Komparation in renden in ihren alltäglichen Vollzügen in der Institution ihrer Verwobenheit analysiert werden. So wird sicherge- Schule zu beobachten. Die Beobachtungen werden anhand stellt, dass die Schule in ihrer Komplexität differenziert und eines Leitfadens mit bestimmten Kriterien und Dimensio- multiperspektivisch erforscht werden kann. nen, wie religiöse Vielfalt wahrgenommen werden könnte, In der Analyse unterteilt Bohnsack die Dokumentari- durchgeführt und protokolliert. Sind zu Beginn der Beob- sche Methode in mehrere Arbeitsschritte: Im ersten Schritt, achtung die Kriterien noch sehr allgemein formuliert, so der ‚formulierenden Interpretation’ soll das, was von den werden diese mit zunehmender Beobachtungserfahrung Beteiligten im „Forschungsfeld bereits interpretiert, also und fortlaufenden Reflexionsgesprächen strukturierter und begrifflich expliziert wurde, noch einmal zusammenfas- fokussierter durchgeführt. send“47 formuliert werden. Im zweiten Schritt, der „reflek- ExpertInneninterviews40: Ganz allgemein kann das tierenden Interpretation“ werden dann „eigene Interpretati- ExpertInneninterview als ein Erhebungsverfahren zur onen in ‚Reflexion’ auf die implizierten Selbstverständlich- Exploration und als Variante des Leitfadeninterviews defi- keiten des Wissens“48 der AkteurInnen eingebracht. Es geht niert werden41. Welche Person als ExpertIn bezeichnet wird, demnach darum, die Frage nach dem Was, also dem einge- ist wesentlich davon abhängig, wessen Expertise als relevant brachten Thema der Beteiligten im Forschungsfeld, von der gilt. „Methodologisch gesehen bestimmt sich der ExpertIn- Frage nach dem Wie, dem zugrunde liegenden Orientie- nenstatus einer Person in Relation zum jeweiligen For- rungsrahmen, zu differenzieren. In einem weiteren Schritt schungsinteresse; eine Person wird zur ExpertIn gemacht.“42 der ‚komparativen Analyse’ wird die Mehrdimensionalität Im vorliegenden Projekt sind das jene Beteiligten, die auf- alltäglicher Handlungspraxen, ihre Überlagerung und die grund ihrer Funktion und Erfahrung in der Schule über wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Erfah- spezifisches Wissen verfügen: LehrerInnen, Personen in der rungsräume, herausgearbeitet49. Beratung (z.B. Job-coachIn, PsychagogIn), der Verwaltung Nachdem hier theoretische Grundlagen für das For- und Reinigung (z. B. SchulwartIn, Reinigungskraft, Buf- schungsprojekt und seine methodologische Verortung dar- fet-MitarbeiterIn) sowie der Direktion in der Partnerschule. gestellt wurden, formulieren wir erste, unabgeschlossene Explorative Erzählungen: Mit der neuen soziologischen Reflexionen bezüglich der Umsetzung des Projekts. Kindheitsforschung43 rücken Kinder mit ihrer Eigenwelt und ihrer Gegenwart zunehmend in den Mittelpunkt der 4. Zusammenfassende Reflexionen Forschung. Es soll nicht mehr nur über Kinder geforscht Die Thematik, die unsere Forschung umreißt, spiegelt werden, sondern die kindliche Sichtweise bzw. die Perspek- in vielerlei Hinsicht Wertungswidersprüche, zeigt Spannun- tive der Kinder selbst sind von Interesse. Dementsprechend gen und Herausforderungen, denen in einer Haltung von werden SchülerInnen „als sprachbegabte Subjekte mit eige- Offenheit begegnet werden muss und die fortlaufende Kom- nen Erfahrungen und Wissensformen“44 in diesem Projekt munikationsprozesse erfordert, sowohl nach ‚innen’ als auch wahrgenommen. Mit der gewählten Methode der Narratio- nach ‚außen’. Das ist vordergründig dem Umstand geschul- nen sollen SchülerInnen in einem Entwurf einer neuen det, dass ein Themenkomplex gewählt wurde, der in der Schule, wie sich der Umgang mit Religion in dieser gestalten öffentlichen Wahrnehmung ambivalent und äußerst prekär würde, beschreiben. Dazu bekommen sie Anregungen, um angesehen wird: Zum einen wird Religion als Privatsache ihre Erzählungen schriftlich zu formulieren. gesehen; ein Gespräch darüber zu führen benötigt einen Neben dieser ‚Daten-Triangulation’, also dieVerwen- vertrauensvollen Rahmen. Zum anderen – bedingt durch dung und das Zusammenspiel von unterschiedlichen die Ereignisse des 11. September 2001, die die religiöse

68 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Sprache jedenfalls in das Licht weltpolitischer Öffentlichkeit erlangt im Zusammenhang mit der speziellen Thematik eine gerückt haben – wird es auch zunehmend schwieriger, ein andere Wertigkeit, kann aber dennoch als Argument nicht öffentliches Gespräch über Religion zu führen50. Das nimmt überstrapaziert werden; vielmehr Einfluss auf die Funkti- die Schule nicht aus: Die Rückmeldungen einzelner Schulen onsweise des Teams als die eigene religiöse Prägung haben hinsichtlich unserer Anfragen als aktive Kooperationspart- in unserem Prozess der berufliche Kontext und Erfahrungen nerinnen lassen auch nicht daran zweifeln, dass sich an die- im Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen und Argu- ser Position vieles verändert hätte. So wurde mehrfach argu- mentationssträngen in einem interdisziplinär ausgerichteten mentiert, der Lehrkörper könne nichts zur Debatte über Team. Religion und Religiosität in der Schule beitragen – gleichzei- Ein wichtiger Punkt, der auch als eines der Ziele im tig wird damit aber die fehlende Wichtigkeit von Religion Projekt ausgewiesen wird, ist die Wichtigkeit einer Sichtbar- im Schulleben unterstellt. Hier wurde für uns ersichtlich, keit – oder besser: das Sichtbarmachen religiöser Vielfalt im dass die Beziehung zwischen Religion und Schule im päda- öffentlichen Raum Schule – als ein Aspekt auf Teamebene, gogischen Diskurs zumeist ausgeblendet und beide als zwei aber auch im Auftreten der Gruppe in ihrer Heterogenität getrennte Sphären betrachtet werden. und damit als Synonym für das selbstverständliche Neben- Dieser vielfach negativen Konnotation und tiefen Skep- und Miteinander von religiöser Vielfalt. So zeigte es durch- sis von Religion und Religiosität auf individueller und kol- aus seine Wirkung, wenn Personen mit unterschiedlicher lektiver Ebene stehen eine Vielzahl an Handlungsoptionen religiöser Zugehörigkeit, sichtbar z.B. durch ein Kreuz um auf Projekt- und Teamebene gegenüber, die wir als wichtig den Hals oder durch ein Kopftuch, öffentliche Termine etwa für die Durchführung des Projektes erachten: Der Umstand, an Schulen oder in Gesprächen mit den zuständigen Schul- dass der Umgang mit Religionen keinem einheitlichen Mus- behörden wahrnahmen, im Sinne eines gleichberechtigten ter unterworfen ist, findet auch seinen Niederschlag in der Diskurses auf Augenhöhe, ohne Andere, Fremde, per se aus- Zusammensetzung des Projektteams. Diese zeichnet sich zuschließen. Immer wieder geht es um das Sichtbarmachen nicht nur durch Interdisziplinarität, sondern auch und vor tragender und verbindender Potentiale sowie um die Beto- allem durch Interreligiosität aus. Eine gut funktionierende nung von Ressourcen, die im Miteinander liegen und nicht Teamarbeit setzt Offenheit und Akzeptanz für die verschie- in Parallelgesellschaften ihr Dasein an den Rändern der denen religiösen Verortungen voraus und muss vom ganzen Peripherie fristen. Team getragen werden. Durch eine wertschätzende Haltung Was bleibt, sind zunächst Eindrücke, sowohl im inter- gegenüber anderen kann religiöse Vielfalt im Team dazu disziplinären Umgang miteinander und in der Auseinander- beitragen, von und mit anderen zu lernen. Lernen bedeutet setzung mit eigenen Bildern über Religion und Religionen, in diesem Zusammenhang nicht nur den Erwerb von Wis- als auch Erfahrungen im Umgang mit religiöser Vielfalt in sen über andere Religionen, sondern betrifft insbesondere Beziehungen, im öffentlichen Raum und auf Ebene gesell- auch den Umgang mit den in der religiösen Sozialisation schaftlicher Einrichtungen, deren (pädagogischer) Alltag erworbenen Bildern, Einstellungen und Prägungen, die religiös geprägt ist. Was vorantreibt, ist die Überzeugung, explizit oder implizit die eigene (nicht)religiöse Lebenspra- dass ein solches Projekt allenfalls der Anfang einer öffentli- xis lenken. Dies beinhaltet vornehmlich auch die Bewusst- chen, schulpolitischen Auseinandersetzung über religiöse werdung möglicher vielleicht stereotyper Antizipation über Vielfalt in Schulen sein kann. Religion und Religionen und eines adäquaten Umgangs damit. Die Reflexion dieser Wahrnehmungen und Deutun- Anmerkungen gen über Religionen ist darüber hinaus insofern bedeutsam, 1 Mit diesem Urteil wurde das Anbringen von Kreuzen an als diese auch unbewusst die Interpretation und Auslegung öffentlichen Schulen in Italien mit der Begründung, sie wür- sensibler Daten beeinflussen können, zumal einem wie auch den die Religionsfreiheit von SchülerInnen verletzen, verbo- immer gearteten Bild gängiger Stereotype ‚aufgesessen‘ wird, ten. 2 Schulentwicklung wird hier verstanden als Entwicklung der das in dieser Form nicht der Realität entspricht. Zu diesem Einzelschule, die alle Bereiche der Schule: Lernen, Arbeiten Zweck wurde das ForscherInnenteam um Resonanzgruppe und Leben – verbessern soll. Dabei unterstützt die Einteilung und Wissenschaftliches Board, eine klare Projekt- und in die Bereiche Unterrichtsentwicklung, Organisationsent- Teamstruktur mit ausgewiesenen und fixen Rollenverteilun- wicklung und Personalentwicklung. Auf jeder dieser Ebenen gen und eine verlässliche Kommunikationsstruktur erwei- kann in den Entwicklungsprozessen angesetzt werden. Vgl. tert. Vor allem letztere ist als Grundlage für konstruktiv-kri- dazu: Holtappels, Heinz Günter / Rolff, Hans-Günter: Ein- führung: Theorien der Schulentwicklung, in: Bohl, Thorsten tische Rückmeldungen für die weiteren Entwicklungsschritte u.a. (Hg.): Handbuch Schulentwicklung, Bad Heilbrunn: im Team unerlässlich. Religionszugehörigkeit als mögliche Klinkhardt 2010, 73–79; Rolff, Hans-Günter: Schulentwick- Determinante einer gut funktionierenden Teamarbeit lung als Trias von Organisations-, Unterrichts- und Personal-

ÖRF 23 (2015) • 63–71 69 entwicklung, in: Ebd., 29–36; Schönig, Wolfgang: Schulent- 22 Vgl. Klutz, Philipp: Religionsunterricht vor den Herausfor- wicklung. Über eine „terminologische Nebelbombe“ und das derungen religiöser Pluralität. Eine qualitativ empirische Stu- „Religiöse“ im Schulkonzept, in: Battke, Achim u.a. (Hg.): die in Wien, Münster: Waxmann 2015. Strutzenberger, Schulentwicklung – Religion – Religionsunterricht. Profil und Edda: „Dass Religion auch hier mitspielt…“. Zur Bedeutung Chance von Religion in der Zukunft der Schule, Freiburg im von Religion in der Schulentwicklung. Eine empirische Studie. Breisgau: Herder 2002, 259–273. Univ.-Diss., Wien: 2012. 3 Vgl. Roebben, Bert: Religionspädagogik der Hoffnung. 23 Schluss, Henning: Religionssensibilität als pädagogische Grundlinien religiöser Bildung in der Spätmoderne, Berlin: Kompetenz, in: http://homepage.univie.ac.at/henning. Lit Verlag 2011. schluss/Publikationen/wissart/B-064-Religionssensible- 4 Jäggle, Martin / Krobath, Thomas / Schelander, Robert: Paedagogik-Kompetenz-manuskript.pdf [abgerufen am Religiöse Dimensionen in der Schule. Vom scheinbaren 09.07.2015], 7. Randthema zu zentralen Fragen der Schulentwicklung, in: 24 Vgl. Heimbrock, Hans-Günter: Religionsunterricht im Kon- Diess. (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in text Europa. Einführung in die kontextuelle Religionsdidaktik Schulkultur und Schulentwicklung, Berlin / Wien: Lit Verlag in Deutschland, Stuttgart: Kohlhammer 2004, 113. 2009, 11–20, 11. 25 Vgl. ebd., 163. 5 Vgl. Strutzenberger, Edda: lebens.werte.schule. Religiöse 26 Ebd., 164. Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, in: Wa r - 27 Vgl. ebd., 193. was, Julia / Sembill, Detlef (Hg.): Schule zwischen Effizienz- 28 Hierzu finden regelmäßige Reflexionstreffen des interreligiös kriterien und Sinnfragen, Hohengehren: Schneider 2010, zusammengesetzten Forschungsteams statt. 71–95, 72. 29 Jakobs, Monika: Religion und Religiosität als diskursive 6 Jäggle / Krobath / Schelander 2009 [Anm. 4], 15. Begriffe in der Religionspädagogik, in: Theo-Web 1 (2002) 80, 7 Ebd., 11. in: http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2002-01jakobs 8 Lamnek, Siegfried: Qualitative Forschung. Lehrbuch, Wein- 02-1.pdf [abgerufen am 10. 07. 2015]. heim / Basel: BeltzPVU 42005, 300. 30 Vgl. ebd., 80. 9 Zum Begriff von Religionssensibilität vgl. Schluss, Henning: 31 Jäggle, Martin / Krobath, Thomas: Schulentwicklung für Religionssensibilität als pädagogische Kompetenz., in: http:// eine Kultur der Anerkennung. Pädagogische, organisations- homepage.univie.ac.at/henning.schluss/Publikationen/wis- ethische und religionspädagogische Akzente, in: Jäggle, Mar- sart/B-064-Religionssensible-Paedagogik-Kompetenz-manu- tin / Krobath, Thomas / Schelander, Robert: lebens.werte. skript.pdf [abgerufen am 09.07.2015]. schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulent- 10 Vgl. Bohnsack, Ralf : Rekonstruktive Sozialforschung. Ein- wicklung, Berlin / Wien: Lit Verlag 2009, 23–60, 52. führung in qualitative Methoden, Opladen: Budrich 62007; 32 Vgl. Lamnek 2005 [Anm. 8], 300. Bohnsack, Ralf / Nentwig-Gesemann, Iris / Nohl, 33 Ebd., 298 f. Arnd-Michael (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre 34 Vgl. Bohnsack, Ralf: Dokumentarische Methode, 40–44, in: Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Bohnsack, Ralf / Marotzki Winfried / Meuser Michael Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 22007. (Hg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung, Opladen: 11 Vgl. ebd., 29. Verlag Barbara Budrich UTB 22006, 40–44, 40. 12 Vgl. Rahm, Sybille: Kooperative Schulentwicklung, in: Bohl 35 Meuser, Michael (2006): Rekonstruktive Sozialforschung, in: u.a. (Hg.): Handbuch Schulentwicklung, Bad Heilbrunn: Bohnsack, Ralf / Marotzki Winfried / Meuser, Michael Klinkhardt 2010, 83–86, 85. (Hg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung, Opladen: 13 Schwendemann, Wilhelm: Religiöser Lernort Schule? Ein Verlag Barbara Budrich UTB 22006, 140–142, 140. Statement, in: Praktische Theologie 2 (2004) 122–128, 122. 36 Bohnsack, Ralf / Nentwig-Gesemann, Iris / Nohl, 14 Vgl. Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt. Verschie- Arnd-Michael: Einleitung: Die dokumentarische Methode denheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministi- und ihre Forschungspraxis, in: Diess. (Hg.), Die dokumenta- scher und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden: VS Verlag für rische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qua- Sozialwissenschaften 32006. litativer Sozialforschung, Wiesbaden 22007, 9–12. 15 Vgl. ebd., 49ff. 37 Vgl. ebd., 1. 16 Vgl. Ziebertz, Hans-Georg / Kalbheim, Boris / Riegel, 38 Flick, Uwe: Triangulation in der qualitativen Forschung, in: Ulrich: Religiöse Signaturen heute. Ein religionspädagogischer Flick, Uwe / von Kardorff, Ernst / Steinke, Ines (Hg.): empirischer Beitrag zur empirischen Jugendforschung, Frei- Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: burg im Breisgau: Herder 2003, 91. Rowohlt Taschenbuch 72009, 309–318, 311. 17 Ebd., 92. 39 Vgl. ebd., 384–401. 18 Vgl.: Helbling, Dominik: Religiöse Herausforderung und 40 Vgl. Bogner, Alexander / Littig, Beate / Menz, Wolfgang religiöse Kompetenz, LIT Verlag 2010. (Hg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwen- 19 Vgl.: ebd., 29. dung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 22005. 20 Ebd., 30. 41 Vgl. ebd., 7f 21 Vgl. Habermas, Jürgen: Religion in der Öffentlichkeit. Kogni- 42 Meuser, Michael / Nagel, Ulrike: Vom Nutzen der Expertise, tive Voraussetzungen für den öffentlichen Vernunftgebrauch in: Bogner, Alexander / Littig, Beate / Menz, Wolfgang religiöser und säkularer Bürger, in: Zwischen Naturalismus (Hg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwen- und Religion, Frankfurt am Main: Verlag Suhrkamp 2005, dung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 22005, 119–154, 121. 257–272, 259.

70 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 43 Vgl. Bründel, Heidrun / Hurrelmann, Klaus (Hg.): Einfüh- Autorinneninformation rung in die Kindheitsforschung, Weinheim / Basel: Beltz Mag.a Dr.in Edda Strutzenberger-Reiter 22003; Hengst, Heinz / Zeiher, Helga (Hg.): Kindheit sozio- Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems logisch, Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften 2005. Mayerweckstraße 1 44 Alanen, Leena: Zur Theorie der Kindheit. Die „Kinderfrage“ A-1210 Wien in den Sozialwissenschaften, Sozialwissenschaftliche Litera- e-mail: [email protected] turrundschau 17/28 (1994) 93–112, 94. GND: (DE-588)1076873855 45 Ebd., 312. 46 Ebd., 318. Mag.a Dr.in Ingrid Kromer 47 Ebd., 8. Kirchliche Pädagogische Hochschule 48 Ebd., 8. Mayerweckstraße 1 49 Vgl. Alanen, Leena: Zur Theorie der Kindheit. Die „Kinder- A-1220 Wien frage“ in den Sozialwissenschaften, Sozialwissenschaftliche e-mail: [email protected] Literaturrundschau 17/28 (1994), 7f. GND: (DE-588)122562518 50 Vgl. Jäggle, Marin: Religiöse Heterogenität als Thema der Forschung in der LehrerInnenbildung, in: Lindner, Doris / Mag.a Dr.in Doris Lindner Krobath, Thomas (Hg.): Vielfalt(en) erforschen. Tag der For- Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems schung 2014, Berlin u.a: Lit Verlag 2015, 28–37, 30f. Mayerweckstraße 1 A-1210 Wien e-mail: [email protected]

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Ednan Aslan / Thomas Weiß unter Mitarbeit von Ranja Ebrahim, Nadire Mustafi, Minela Salkic Joldo, Ahmed al Shafey

Miteinander lernen – Voneinander wissen Dokumentation zum Doktorandenkolleg Islamische Theologie als Wissenschaft in Europa der autor der autor Univ.-Prof. Dr. Ednan Aslan, Universitätsprofessor PD Dr. Thomas Weiß, Universitätsdozent am Institut und Institutsvorstand am Zentrum für LehrerIn- für Religionspädagogik der Evangelisch-Theolo- nenbildung für den Fachbereich Islamische Religi- gischen Fakultät der Universität Wien, Lehrer für onspädagogik und Islamische Studien. Evangelischen Religionsunterricht.

Abstract Eine islamisch-theologische Ausbildung wird von ExpertInnen als eine wichtige Voraussetzung für die Integration von MuslimIn- nen in Österreich eingeschätzt. Vor diesem Hintergrund etablierte sich das Doktorandenkolleg Islamische Theologie als Wissen- schaft in Europa. Es ist am Institut für Islamische Studien der Universität Wien angesiedelt und kooperiert eng mit der Evange- lisch-Theologischen Fakultät, Institut für Religionspädagogik der Universität Wien. Ziel des Kollegs ist die Förderung und Entwick- lung islamischer Theologie im Kontext Europas. Durch die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses im Bereich Islamische Theologie werden perspektivisch die Voraussetzungen geschaffen, in Österreich für eine qualifizierte Ausbildung von Imamen aber auch angehender ReligionslehrerInnen Sorge tragen zu können. Der nachfolgende Beitrag beschreibt die Arbeit des Dokto- randenkollegs und stellt – in kurzer Form – die jeweiligen Dissertationsvorhaben vor. Schlagworte: Doktorand, Lehrveranstaltung, Islamische Theologie, Islam, Dissertation

Learning with each other- knowing about one another. Documentation on the Doctoral College Islamic Theology as a Science in Europe An Islamic-Theological education is rated by experts as a key prerequisite for the integration of Muslims in Austria. Out of this concern the Graduate Program Islamic Theology as a science in Europe was established. The program is located at the Institute of Islamic Studies of the University of Vienna and cooperates with the Protestant Theological Faculty, Department of Religious Education of the University of Vienna. The aim of this program is the promotion and the development of Islamic Theology in the context of Europe. By supporting young scientists in the field of Islamic Theology conditions for a qualified training of Imams and teachers of Islamic Religious Education in Austria are created. The following article describes the work of the Graduate Pro- gram and presents – in short form – the doctoral theses. Keywords: Islamic theology, Islam, Dissertations, Academic, Junior scientists training

uslimInnen in Österreich sind ein fester Gewalt, Terror und Schreckensherrschaft in Verbindung Bestandteil des öffentlichen, kulturellen und gesetzt. Zum anderen ist sich die europäische, christlich Mdamit religiösen Lebens. Gerade Wien kann als geprägte Tradition sehr bewusst, dass Religion und Aufklä- Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen, Religionen und rung in einen wechselseitigen Zusammenhang zu stellen Traditionen angesehen werden. Integration fällt allerdings sind, wenn die Zivilgesellschaft nicht in religiöser Barbarei nicht vom Himmel. Viel eher stehen sich – bei allen politi- untergehen soll. Die heimliche Unterstellung, dass ‚der’ schen Beschwörungsformeln zur pluralistischen Gesellschaft Islam eben nicht durch die Aufklärung gegangen sei und – verschiedene Traditionen gegenüber. Dieses Gegenüber- deshalb Schwierigkeiten habe, sich in Europa zu etablieren, stehen impliziert zwar nicht automatisch eine Freund- ist die eine Seite der Medaille. Die europäische Seite dieser Feind-Haltung, allerdings ist zu beobachten, dass sich zwi- einen Medaille könnte heißen: Sich nicht wirklich einlassen schen Anspruch und Wirklichkeit ein Graben befindet, der auf Fremdes. Diese, vielleicht etwas holzschnittartig, aufge- nicht immer leicht bzw. manchmal auch gar nicht zu über- machte Opposition lässt sich, so die Überzeugung der Ver- brücken ist. Einerseits wird ‚der’ Islam medial zu häufig mit fasserInnen dieses Beitrages, zumindest minimieren, wenn

Ednan Aslan / Thomas Weiß: Miteinander lernen – Voneinander wissen. Dokumentation zum 73 Doktorandenkolleg Islamische Theologie als Wissenschaft in Europa • ÖRF 23 (2015), 73–86 gemeinsam miteinander gelernt wird, um voneinander zu rung sichtbare Repräsentation ihrer Religion in Schule, Aus- wissen. Der vorliegende Beitrag greift diese Problematik auf bildung und Universität. und beschreibt den Prozess des gemeinsamen Lernens am Vor diesem Hintergrund entstand die Idee der Etablie- Beispiel des Doktorandenkollegs Islamische Theologie als rung eines Doktorandenkollegs, welches sich zum Ziel Wissenschaft in Europa. In einem ersten Punkt wird, ausge- setzte, Nachwuchskräften die Möglichkeit zu bieten, „sich hend von prinzipiellen Überlegungen zu einer fundierten intensiv mit den unterschiedlichen islamisch-theologischen muslimisch-theologischen Ausbildung, die Konzeption des Disziplinen auseinanderzusetzen“ sowie „für eine gleichwer- Doktorandenkollegs vorgestellt (1). Anschließend (2) wer- tige Qualifizierung [gleichwertig in Bezug auf andere Wis- den – in Kurzfassungen – vier Dissertationsprojekte präsen- senschaften, TW] der Nachwuchskräfte an der Universität tiert, die im Sommersemester 2015 die entsprechende Wien“ zu sorgen.6 Der bei einer Stiftung eingereichte und öffentliche Präsentation an der Universität Wien erfuhren.1 genehmigte Antrag für das Doktorandenkolleg Islamische In einem dritten Teil (3) wird die dem Projekt inhärente Theologie als Wissenschaft in Europa hat eine Laufzeit von Begleitung (mentoring) beschrieben. Ein Fazit (4) schließt insgesamt drei Jahren und bietet bis zu sechs StipendiatIn- diesen Beitrag ab. nen die Möglichkeit, im Rahmen einer Dissertation vertie- fende Kenntnisse in den folgenden Schwerpunkten zu erlan- 1. Das Doktorandenkolleg Islamische Theologie gen: als Wissenschaft in Europa

Der von Aslan herausgegebene Band Zwischen Moschee 1. Genese und Exegese des Koran und Gesellschaft2 problematisiert die Herausforderungen, 2. Hadithwissenschaften: Genese und Exegese der denen sich eine islamische Theologie im europäischen Kon- Hadithe (Aussagen des Propheten) text gegenübergestellt sieht. MuslimInnen sind größtenteils 3. Islamisches Recht und Integrationstheologie durch Migration geprägt, versuchen durch das Anlehnen an 4. Empirische Theologie und islamische Philosophie bekannte Traditionen ihre kulturelle und religiöse Identität 5. Ideengeschichte des Islams und Islam in Europa 7 zu bewahren und stoßen damit, mehr oder weniger offensiv, 6. Islamische Religionspädagogik und Fachdidaktik an Verständnisgrenzen westeuropäischer Sozialisation. Zugleich ist eine eher „islamunfreundliche Lage in Westeu- Dieses Programm soll die Entwicklung von islamischer ropa“3 zu beobachten. Der Begriff Islamische Theologie selbst Theologie im Kontext Europas fördern helfen und zugleich scheint fragwürdig zu sein, denn welche Theologie ist eine Spezialisierung innerhalb der Forschung ermöglichen. gemeint? Wie die christliche oder die jüdische Theologie ist Das Besondere an diesem Doktorandenkolleg ist, dass die auch die islamische nur als Plural zu begreifen, als Theolo- Durchführung in enger Kooperation mit der Evange- gien. Und je nachdem, aus welcher Rechtsschule LehrerIn- lisch-Theologischen Fakultät, Institut für Religionspädago- nen oder Imame kommen, welche soziokulturellen Hinter- gik an der Universität Wien praktiziert wird. Wissenschaftli- gründe mitgebracht werden, fällt der Umgang zwischen Tra- chen Nachwuchs für das neue Feld Islamische Theologie aus- dition und europäischer Umwelt (hier konkret: Österreich) zubilden und damit perspektivisch die Voraussetzungen zu aus. Dabei bilden in Österreich MuslimInnen mit 6,8 % schaffen, in Österreich für eine qualifizierte Ausbildung von einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Gesamtbevölke- Imamen aber auch angehender ReligionslehrerInnen Sorge rung, denn es handelt sich immerhin um rund 574.000 tragen zu können, ist ein innerislamisches Anliegen. Durch Menschen, die in Österreich leben.4 Diese Bevölkerungs- die Kooperation mit christlicher Theologie ist dieses Anlie- gruppe, welche sich bei näherem Hinsehen in verschie- gen zugleich ein dialogisches. dene Ethnien und damit in die unterschiedlichsten sozio- 2. Vorstellung der Dissertationsvorhaben kulturellen Hintergründe differenziert, in Bezug auf ‚ihre’ Religion – ‚den’ Islam – zu vertreten, ist als solches schon Bisher wurden vier DoktorandInnen gewonnen, die ein nicht zu vollbringendes Unterfangen. Dennoch, so unterschiedliche Dissertationsvorhaben verfolgen. Alle vier zumindest der ExpertInnenrat für Integration in seinem Vorhaben wurden im Frühjahr 2015 in fakultätsöffentlichen Bericht von 2013, ist die Etablierung einer islamisch-theolo- Präsentationen vorgestellt und entsprechend genehmigt. Die gischen Ausbildung eine wichtige Voraussetzung für eine folgenden vier Punkte geben Einblicke in die einzelnen Integration von MuslimInnen in Österreich.5 Es geht dabei Inhalte der Dissertationsvorhaben. um nichts Geringeres als eine für die muslimische Bevölke-

74 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 2.1 SchülerInnen im Diskurs mit dem Qurˈān: Chancen und des sogenannten diskursiven Qurˈāns gegenübergestellt. Die- Grenzen für einen zukunftsorientierten islamischen Religi- ser Gegenüberstellung folgt eine kurze Vorstellung des onsunterricht – Ein Handlungskonzept zum themenzent- Handlungskonzeptes und der Rolle der Offenbarungsan- rierten Arbeiten anhand der Offenbarungsanlässe (asbāb lässe. an-nuzūl) Ranja Ebrahim 2.1.2 Konzeption und Forschungsfrage Mag.a, Universitätsassistentin am Zentrum für LehrerInnenbildung Die erste und meines Erachtens grundlegende Proble- für den Fachbereich Islamische Religionspädagogik der Universität matik hinsichtlich des Qurˈāns als geschlossenes Medium Wien und Doktorandin des Dr.-Studiums der Philosophie an der liegt in den machtpolitischen Verhältnissen, die seine Ideen- Universität Wien (Dissertationsgebiet: Islamische Religionspäda- geschichte prägten. Das Arbeitsfeld textus receptus war von gogik) Beginn an eine Arena harscher intellektueller aber auch politischer Auseinandersetzungen. Zwar brachten diese mit- 2.1.1 Einleitung unter polemischen Kämpfe die Entwicklung und Ausarbei- Die Dissertation problematisiert die Spannungsfelder8 tung relevanter qurˈānisch hermeneutischer Methoden her- in Bezug auf den Qurˈān im Sinne seiner kodifizierten und vor, dennoch stand stets die Motivation, bestimmte Weltan- somit geschlossenen und unveränderbaren Beschaffenheit, schauungen durchzusetzen und ideologische Gegner argu- unter besonderer Berücksichtigung der korrelierenden Kon- mentativ ins wissenschaftliche Abseits zu drängen im Vor- sequenzen im islamischen Religionsunterricht. Darüber dergrund. Die qurˈānischen Verständnisse, welche aus die- hinaus befasst sich die Arbeit mit dem Entwurf eines päda- sem Kontext hervorkamen, behalten bis heute durch die gogischen Handlungskonzeptes, welches die SchülerIn- 11 verschiedenen Rechtschulen Einfluss. Hinsichtlich des nen-Gott-Kommunikation abseits des schwer zugänglichen Ansehens des Islams selbst könnte das Beharren auf mittel- textus receptus auf Basis der Offenbarungsanlässe und mit alterliche Richtlinien zum einen der wissenschaftliche Still- Unterstützung des themenzentrierten Handlungskonzeptes stand und zum anderen die Inkompatibilität mit der nach Ruth Cohn fördern möchte. Die Betonung liegt somit Moderne und den Werten des Westens vorgeworfen werden. auf dem sogenannten diskursiven Qurˈān, also auf der Die Universalität des Qurˈāns, wie sie u.a. in (Qurˈān 2:185, qurˈānischen Offenbarung in seiner lebendigen Natur, wel- 3:4, 6:90) betont wird, könnte durch die Beschränkung der che dem islamischen Glauben nach als Inbegriff trans- und qurˈānischen Verständnisse auf ein bestimmtes historisches aszendenter Kommunikation gilt. Diese Herangehensweise Zeitfenster aberkannt werden. Für jugendliche MuslimIn- knüpft an Arkouns These zum diskursiven Qurˈān9, welcher nen, die im westlich-pluralen Kontext sozialisiert werden, die Unabgeschlossenheit der qurˈānischen Offenbarung könnte dadurch der Anschluss an zeitgenössische Heraus- zugrunde liegt. Der Qurˈān wird somit in dieser Disserta- forderungen und Interessen verfehlt werden. tion als ein Prozess betrachtet, dessen Kommunikationspo- Aus diesem Zusammenhang entsteht für mich der tenzial durch die Wiederaufnahme des Diskurses durch, in zweite Problemkreis. Die heutige Situation der MuslimIn- diesem Falle, SchülerInnen als regenerierfähig gesehen wird. nen als Minderheit innerhalb mehrheitlich christlich-plural Die inhärenten Lehren des Qurˈāns könnten dadurch für geprägter Gesellschaften stellt für die islamische Jurispru- zeitgenössische Herausforderungen fruchtbar gemacht wer- denz eine Neuheit dar. Ihre Fragen und Anliegen finden in den. Das Ziel dahinter ist, SchülerInnen zu Diskursen zu den klassischen Werken keine Anknüpfungspunkte, da sie ermutigen, die an ihre Lebenswelten angepasst sind bzw. zu gegebenen Zeiten kaum relevant waren. Vereinzelte von diesen ausgehen, d.h. welche auf die Förderung von Gelehrte aus dem 20. Jahrhundert versuchten trotz starker Partizipations- und Deutungskompetenz von SchülerInnen Widerstände seitens geistlicher Autoritäten Erneuerungen abzielen. Die angestrebte Konzeption ist also nicht als ein in das islamische Recht einzuarbeiten. Bemühungen dahin- ganzheitliches religionspädagogisches Konzept zu betrach- gehend waren stets mit dem Ziel verbunden, zeitgenössi- ten, welches die Obsoletierung aller anderen Konzepte und schen Bedürfnissen gerecht werden zu können. Jene Bestre- Ansätze intendiert. Das angestrebte Handlungskonzept bungen liefen unter folgendem Banner: „We must not think sollte als eine Erweiterung, eine „Dimension“10 des vorhan- with the heads of our predecessors, because our problems, denen pädagogischen Angebotes für den islamischen Religi- needs and time are different from theirs. We cannot let onsunterrichts verstanden werden sowie Impulse für neue people who died centuries ago think on our behalf.”12 Religionsdidaktiken geben können. Der dritte Problemkreis bezieht sich auf die künstlich Im Folgenden werden die oben erwähnten Spannungs- produzierte Distanzbildung zwischen Mensch und Offenba- felder der Qurˈān als Text und deren Konsequenzen im isla- rung, welche sich durch die Verwissenschaftlichung des mischen Religionsunterricht vorgestellt und dem Konzept Qurˈāns als Text entwickelte. Der „Interpretierende Kor-

ÖRF 23 (2015) • 73–86 75 pus“13 schafft somit eine intellektuelle Zwischenebene, die es eine derartige Kommunikation bedarf es eines effektiven zu überwinden gilt, wenn man sich dem Geist des Qurˈāns Mediums, welches in der Lage ist, die qurˈānischen Lehren und, im weiteren Sinne, auch Gott annähern möchte. Um erfolgreich an die Lebenswelten der SchülerInnen anzu- diese Barriere abzubauen, wäre ein lebenslanges Studium knüpfen. Hier kommen die Offenbarungsanlässe, also die des islamischen Fächerkanons aus Theologie und islami- Auslöser qurˈānischer Offenbarungen, in den Fokus. In die- scher Jurisprudenz notwendig. Eine Bedingung, die weder sen Auslösern wird eine besondere Chance darin gesehen, im Rahmen des gewöhnlichen Religionsunterrichts erfüllbar Jugendlichen einen Zugang zu den qurˈānischen Lehren zu noch hinsichtlich der von der Islamischen Glaubensgemein- ermöglichen, welche die eben postulierte Barriere zwischen schaft (IGGIÖ)14 vorgesehenen Unterrichtsziele förderlich Mensch und Qurˈān umgehen könnte. Die sogenannten wäre. Hier wäre exemplarisch der Umgang mit Vielfalt, historisch-exegetischen Überlieferungen zeichnen sich vor Identitätsförderung oder die „Bewusstmachung der Kompa- allem durch ihren elementarisierenden Charakter aus, der tibilität einer islamischen Lebensweise mit dem Gefühl der den jeweiligen Vers von seiner sprachlichen und inhaltli- Zugehörigkeit zu Österreich und Europa“15 zu nennen. Auf- chen Komplexität löst und ihn auf seinen alltäglichen und grund der genannten Problemkreise kann festgehalten wer- menschlichen Kern herunter bricht. Dadurch kann eine den, dass die Entwicklung von einer lebendigen Tradition zu unendliche Bandbreite an qurˈānischen Themenbereichen einer verstummten und elitären Polemik in eine Art Erstar- wie Neid, Spott oder Enttäuschung, sowie auch Freund- rung des Qurˈāns geführt hat. Diese Erstarrung bezieht sich schaft, Glück und Liebe eröffnet werden, die bei den Lebens- auf den Moment der Umwandlung von einem offenen, welten der SchülerInnen Anknüpfungspunkte finden könn- interpretierfähigen, kommunikativen Medium zu einem ten. Der Vers kann dann durch das Zusammenbringen mit erstarrten Spiegelbild der mittelalterlichen Gelehrsamkeit den jugendlichen Erfahrungswelten, eine persönliche, kon- und deren kontextuell geprägten Weltanschauungen. Der textbezogene, neugedachte Reinterpretation erfahren, die theologische Blick, der sich dadurch gezwungenermaßen der qurˈānischen Lehre eine direkte Verortung in der stets in die Vergangenheit anstatt in die Gegenwart oder gar Gegenwart und in den Lebensrealitäten der Jugendlichen in Richtung Zukunft wendet, hindert den Islam daran, kon- ermöglicht. Als theoretische Grundlage zur Umsetzung die- struktiv am Wandel der Zeit zu partizipieren. Diese künst- ses Ansatzes im islamischen Religionsunterricht bietet sich lich produzierte Kluft zwischen Moderne16 und Qurˈān ein Handlungskonzept an, welches sich bereits seit den könnte somit Ideen und Haltungen, welche die Unverein- 1980er Jahren auch an Schulen als „umfassendes, ganzheitli- barkeit jener beiden Aspekte behaupten, wie es u.a. bereits ches Handlungskonzept“ bewährt „mit dem Ziel Situatio- in puristischen Bewegungen zu beobachten ist, gefördert nen, in denen Menschen miteinander arbeiten, lernen und haben. Eine Ausgangslage, die weder für die Zukunft des leben, bewusst human und humanisierend zu gestalten“.18 Islams in Europa, noch für die Weiterentwicklung des isla- Das theoretische Modell der Themenzentrierten Interaktion mischen Religionsunterrichts in Österreich vielversprechend (TZI) nach Ruth C. Cohn bietet durch seine spezielle Fakto- erscheint. ren-Konzeption19 einen geeigneten Rahmen, welcher die Mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht lässt Interaktionsprozesse zwischen den SchülerInnen und dem sich aus der dargestellten Problematik die folgende For- Verbindungsstück, den Offenbarungsanlässen, zielführend schungsfrage formulieren: Wie könnte der Ansatz des dis- fördert. Diese theoretische Konzeption erweist sich aus fol- kursiven Qurˈāns im Rahmen des islamischen Religionsun- genden Punkten als qualifizierend für die erfolgreiche Ein- terrichts unter Anknüpfung an die Lebenswelten der Schüle- bringung des Ansatzes des qurˈānischen Diskurses im rInnen in Anwendung gebracht werden? Unterricht: Der Ansatz des diskursiven Qurˈāns berücksichtigt die 1. Das theoretische Modell, welches durch diese spe- Historizität des Qurˈāns, was ihn aus seiner reinen Textuali- zifische Faktorenkonstellation eine ausgewogene tät und somit kontextuellen Dependenz löst. Auf diese Korrelation der einzelnen Eckpunkte des Modells Weise wird er durch die stetige Reinterpretation durch den bezweckt, könnte eine Rekonstruktion und Reakti- jeweiligen Kommunikationspartner – in diesem Fall der/die vierung des qurˈānischen Diskurses im Globe ‚Isla- SchülerIn – verpflichtet. Die Offenbarung bleibt somit nicht mischer Religionsunterricht‘ ermöglichen: Die in einem kulturellen oder zeitlichen Vakuum eines bestimm- involvierten AkteurInnen im angestrebten ten interpretativen Korpus des 11. oder 15. Jahrhunderts ste- qurˈānischen Diskurs umfassen die mit der Offen- hen, sondern wandelt sich sowohl räumlich als auch zeitlich barung in Wechselwirkung stehende Gemeinschaft mit seinen Interlokutoren.17 Das zu erarbeitende Hand- (im Sinne des Wir, die Klasse), das fragende Indivi- lungskonzept möchte genau hier anknüpfen und die Tore duum, die/der ProtagonistIn im Offenbarungsan- für fruchtbare SchülerInnen-Qurˈān Diskurse öffnen. Für lass (als Ich, die/der SchülerIn) und den Offenba-

76 Österreichisches Religionspädagogisches Forum rungsanlass (im Sinne des Es als göttliche Reak- 2.2 Der Islamische Staat - Entwicklung einer kontroversen tion). Idee 2. Durch die Einbettung des Modells in den Globe Nadire Mustafi wird nicht nur der Kontext der SchülerInnen in der Dip.-Päd, M.A., Lehrbeauftragte für Sonderpädagogik und Inklu- Unterrichtsplanung und Vorbereitung berücksich- sive Pädagogik für das Lehramt Islamische Religion an Pflicht- tigt, sondern auch der Anknüpfungspunkt Gegen- schulen, AHS-Religionslehrerin und Doktorandin des Dr.-Studiums wart durch diese Voraussetzung gesichert. der Philosophie an der Universität Wien (Dissertationsgebiet: Isla- mische Religionspädagogik) 3. Die Funktion der/des „Gruppenleiter/s/in“20 ist eine, die den anderen TeilnehmerInnen hierar- 2.2.1 Einleitung chisch nicht übergeordnet ist. Sie/er fungiert aber Aktuelle Ereignisse der Gegenwart zeigen, dass es mus- durch ihre/seine fachliche Überlegenheit als Ver- limische Gruppierungen gibt, die hinsichtlich der Regie- mittlungsperson zwischen dem Ich, dem Wir und rungsform der MuslimInnen ein Staatskonstrukt nach klas- dem Es, also so ähnlich wie etwa der/die Offenba- sischem Vorbild des Kalifats fordern und diese Art der rungsempfängerIn im Offenbarungsprozess. Diese Regierung gleichsam als eine dem Islam immanente anse- Option sollte dazu dienen, den Diskurs und die hen. Daher gilt es, dieser Annahme auf den Grund zu gehen Kommunikation zu leiten, sowie offene „Wissens- und sie ideengeschichtlich herauszuarbeiten, um sich anzu- fragen“21 zu klären. sehen, wie man diese Frage in der Vergangenheit löste und 4. Durch die humanistisch geprägte Weltanschauung, wie man diese Lösungen begründete. Durch die Abschaf- welche anhand von formulierten Axiomen und fung des Kalifats im 20. Jahrhundert waren MuslimInnen Postulaten die Grundhaltung der TZI repräsentiert, erstmals gefordert, sich hinsichtlich einer Regierungsform, erfüllt das Konzept eine wesentliche gesellschafts- die sich für MuslimInnen eignet, Gedanken zu machen.26 Es politische sowie persönlichkeitsbildende Erzie- hatte sich vor diesem Zeitpunkt bereits längst die Idee des hungsaufgabe. Das sind Werte und Haltungen22, Nationalstaates in der arabischen Welt gebildet, welche vom die für ein harmonisches Miteinander im pluralen Westen transportiert wurde; daneben hat sich jedoch auch Europa als grundlegend gelten. die Vorstellung einer einheitlichen muslimischen von einem 27 2.1.3 Fazit und Ausblick Kalifen regierten Gemeinschaft erhalten. Erstmalig seit dem Ableben des Propheten waren Mus- Der Mehrwert aus dem angestrebten pädagogischen limInnen mit der Frage von Führung und Herrschaft kon- Konzept für einen zukünftigen islamischen Religionsunter- frontiert, was zu sehr lebendigen, wissenschaftlichen und richt kann auf zwei Ebenen gesehen werden. Durch das durchaus hoch theologischen Diskursen führte28, die bis Handlungskonzept werden sowohl sprachliche Fähigkeiten heute nicht abgeschlossen zu sein scheinen. Einerseits gab es als auch fachliches Wissen miteinander verbunden. Die erste den theologischen Standpunkt, dass das Kalifat die einzig Ebene unterstützt die Förderung der kommunikativen und islamisch legitime Regierungsform ist und andererseits gab argumentativen Fertigkeiten zur Bildung einer persönlichen es bereits Überlegungen zu demokratischen Regierungsfor- und selbstbewussten theologischen Positionierung. Eine men. Qualifikation, die vor allem in Anbetracht der Bestrebungen radikal-islamistischer Bewegungen präventiv wirken kann. 2.2.2 Konzeption und Forschungsfrage Ein weiterer Ertrag könnte durch den Perspektivenwechsel Der Islamgelehrte ‘Alī ‘Abd ar-Rāziq, der als Vater des von der „backward-looking mentality“23 zur Gegenwarts- Islamischen Säkularismus betrachtet werden kann und sein und Zukunftsorientierung gewonnen werden. Diese Umori- Werk Der Islam und die Grundlagen des Regierens bilden den entierung könnte den Islam mitten in der westlich pluralen Ausgangspunkt der Analysen. In dem Werk legt der Autor Gesellschaft ankommen lassen, der Bildung von Parallelge- dar, dass der Islam nicht vorschreibt, welche Regierungs- sellschaften entgegenwirken sowie die Heimischwerdung form zu wählen ist. Zudem wird darauf verwiesen, dass muslimischer Jugendlicher fördern. gerade das Kalifat auch in der Praxis gezeigt hat, dass die Die zweite Ebene schafft Raum für eine intellektuelle Trennung von Religion und Staat die Religion vor Miss- SchülerInnen-Qurˈān-Begegnung, die sich an die Erfah- brauch bewahren kann. Das Buch provozierte heftige Reak- rungswelten der Jugendlichen anlehnt. Diese „Reinterpreta- tionen islamischer Religionsgelehrter, die sich selbst und tion“ 24 bietet die Möglichkeit, den „Qurˈān neu zu den- ihre Stellung aufgrund des Werkes von ‘Alī ‘Abd ar-Rāziq in ken“ 25. SchülerInnen wird dadurch das Partizipieren an und Gefahr sahen und mit eigenen wissenschaftlichen Abhand- Mitgestalten von Deutungsprozessen ermöglicht, ein Privi- lungen darauf reagierten.29 leg, welches bisher lediglich den Ulamā vorbehalten war.

ÖRF 23 (2015) • 73–86 77 Da anscheinend die Frage nach der islamischen Regie- lung geht und das Hauptgewicht der Arbeit nicht auf diesen rungsform bis heute noch nicht geklärt wurde und es heute ersten Teil gelegt wird, soll nur auf die wichtigsten Zeitepo- noch MuslimInnen gibt, die das Kalifat idealisieren und als chen Bezug genommen werden, um einen Überblick über einzige islamisch-legitime Regierungsform ansehen30, ist es Konzeptionen von Herrschaftsformen der MuslimInnen in erforderlich, sich mit dieser Konzeption zu befassen und den genannten Zeitenabschnitten zu erhalten. Die Ergeb- den theologischen Bezug zu dieser genauer zu betrachten. nisse dieses Arbeitsschrittes sollen dahingehend zusammen- Aus dem Erkenntnisinteresse heraus lässt sich folgende gefasst werden, dass letztendlich Aussagen darüber gemacht forschungsrelevante Frage (mit zwei Teilfragen) formulie- werden können, welche dieser Regierungsformen als islami- ren: sche Herrschaftsformen deklariert wurden bzw. welche nicht Ist die Regierungsform Islamischer Staat nach klassi- und mit welcher Begründung dies getan bzw. dies nicht schem Vorbild des Kalifats im Islam verankert und vorge- getan wurde. schrieben? Abū l-Ma‘ālī ‘Abd al-Malik ibn ‘Abdallāh al-Ǧuwainī, ein 1. Welche theologischen Positionen existieren diesbezüg- bedeutender schafiitischer Rechtsgelehrte31 zählt wohl zu lich? den ältesten Klassikern, die das Kalifat befürworten. Ein 2. Durch welche Faktoren wurden die Positionen gegen- weiterer Klassiker, der gleichsam ein Standardwerk hinsicht- über der Konzeption Islamischer Staat beeinflusst? lich der Frage nach einem islamischen Staat schrieb, ist Abū Beide Teilfragen können verdeutlichen, dass den Ein- l-Hasan al-Māwardī, der das Werk Al-Ahkam al-Sultaniyya flussfaktoren hinsichtlich der Entwicklung der Idee Islami- w’al-Wilayat al- Diniyya (The Ordinances of Government) scher Staat in dieser Arbeit großer Wert beigemessen wird, verfasste. In diesem Werk definiert Abū l-Hasan al-Māwardī um einerseits Zusammenhänge besser erkennen zu können die politische Leitung der MuslimInnen durch einen Kalifen und um andererseits die Beantwortung der Forschungsfrage als obligatorisch32. argumentierend zu ermöglichen. Problematisiert werden Zu den anderen Klassikern, die ein Kalifat als Teil der sollen: Religion ansahen und dieses durch die Religion begründe- • Die Entwicklung der Idee Islamischer Staat (histo- ten, zählen Sayyid Abu Al-A’la Maududi33 und Fazlollah rischer/ideengeschichtlicher Kontext). Nuri, ein schiitischer Geistlicher, der vor allem bis heute für • Die Bedeutung/Deutung der für diese Diskussion den Iran eine große Vorbildfunktion hat. zentralen Begriffe wie beispielweise Staat, Kalifat, Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, beeinflusst durch Umma, Daula (begriffsklärender Kontext). den Kolonialismus und der westlichen Idee von National- • Die Wirkungen auf die damaligen wie heutigen staaten, begannen islamische Denker und Gelehrte die The- Gesellschaften (sozialer, politischer, theologischer orie zu einem islamischen Staat im Sinne des Begriffes Staat Kontext). aus dem Islam heraus zu begründen und sahen die Konzep- Die Entwicklung der Idee Islamischer Staat zu beschrei- tion des Kalifats als Regierungsform gescheitert. Bis dahin ben dient dem Ziel, begründet zeigen zu können, was tat- hatte man noch keine konzeptuelle Theorie darüber ausge- sächlich der Religion Islam hinsichtlich Islamischer Staat arbeitet. Panislamische Bestrebungen wurden etwa durch immanent ist und was bezüglich – vor allem der theologi- Dschamal ad-Din al-Afghani oder Muhammad ´Abduh schen Perspektive – als gegenstandslos betrachtet werden beschrieben, die sich auf Ibn Taimiyas Staatsverständnis kann. bezogen.34 Als erster methodischer Schritt des Forschungsvorha- Auch Raschīd Riḍā, ein Schüler von Muhammad bens soll eine Klärung der zentralen Begriffe vorgenommen ´Abduh, galt als Klassiker hinsichtlich der Frage nach einem werden. Die Begriffe sollen vorerst nur vorläufig definiert islamischen Staat, der Schriften gegen Abd ar-Raziqs Werk werden und als Arbeitsdefinitionen dienen, um im darauf- Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft verfasste und folgenden Arbeitsschritt zu erheben, welche dieser Konzep- in der Tradition des Theologen Abd ar-Rahmān al-Kawākibī tionen von Regierungsformen in der Vergangenheit vorka- stand, der auch das Kalifat befürwortete.35 men und wie diese verwendet wurden. In einem zweiten Arbeitsschritt sollen alle Regierungs- 2.2.3 Fazit und Ausblick formen von der Zeit des Propheten bis hin zur Auflösung Bezogen auf den islamischen Religionsunterricht könn- des Kalifats der Osmanen in einem kurzen Abriss historisch ten die Ergebnisse dieser Arbeit konkret an dessen Lehrplä- rekonstruiert werden, um einen Überblick darüber zu nen anknüpfen. So findet sich darin z.B. ein Themenschwer- bekommen, welche Regierungsformen es in den betreffen- punkt, der sich Islam in Österreich und in Europa nennt und den Zeitepochen gegeben hat. Da es nur um eine Darstel- sich mit der Frage der eigenen Verantwortung dem Staat lung der islamischen Tradition hinsichtlich der Fragestel- und der Gesellschaft gegenüber sowie der Identifizierung

78 Österreichisches Religionspädagogisches Forum mit denselben beschäftigt. Dieser Themenschwerpunkt setzt Gotteskonzepte (Gottesverständnis und -beziehung) im an den eigenen islamischen Wurzeln an. So soll etwa über deutschsprachigen Raum und damit auch in der österreichi- den Islam in Spanien zurzeit von Al-Andalus (711-1492) schen Gesellschaft vorhanden sind. gelehrt und über die Demokratieerziehung heutzutage reflektiert werden. Auch dieses Dissertationsvorhaben setzt 2.3.2 Konzeption und Forschungsfrage am Staatsverständnis während der Prophetenzeit an und Das Anliegen dieser Arbeit ist es, ausgehend von führt bis zu den diesbezüglichen aktuellen Entwicklungen. Groms50 Theorie über den Gottesglauben, ein theologisches Durch die Ergebnisse dieser Arbeit und der ausgewählten Modell von Gotteskonzepten aus noch näher zu spezifizie- wissenschaftlichen Methode könnte man Modelle von renden islamisch-theologischen Strömungen zu erheben. Regierungsformen generieren, welche weder mit der eige- Dieses Modell ist der Ausgangspunkt, um – in einem zwei- nen islamischen Tradition brechen, noch im Widerspruch ten Arbeitsschritt – bei SchülerInnen des islamischen Religi- zur Lebenswirklichkeit der SchülerInnen stehen. Daher onsunterrichts vorhandene/nicht vorhandene Gotteskon- könnte der Religionsunterricht Spannungen zwischen der zepte empirisch zu erfassen. Die gewonnenen Daten und das religiösen und nichtreligiösen Mehrheitsgesellschaft und der theologische Modell werden im Anschluss miteinander ver- muslimisch geprägten Bevölkerung, die sich auch innerhalb glichen, um in einem empirisch überprüften Modell die der Mehrheitsgesellschaft befindet, bewusst machen und Schnittmenge zwischen theologischen und SchülerIn- einen verständnisvollen Umgang miteinander unterstützen. nen-Konzepten zu ermitteln und daraus fachdidaktische Konsequenzen ziehen zu können. Unter dem Modell der 2.3 Gotteskonzepte. Eine Studie zur theoretischen Modellie- Gotteskonzepte sind komplexe Gebilde zu verstehen, welche rung und empirischen Erfassung von Gotteskonzepten bei die inneren Beziehungen zwischen Kognitionen und Emoti- muslimischen OberstufenschülerInnen im Raum Wien onen in Bezug auf Gott veranschaulichen können. Bezogen Minela Salkic Joldo auf muslimische SchülerInnen im deutschsprachigen Raum BA, MA, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islami- haben sich bisher nur wenige Studien – und dies auch nur sche Studien der Universität Wien, Fachbereich islamische Religi- am Rande – mit der Frage nach Gottesverständnissen und onspädagogik und Doktorandin des Dr.-Studiums der Philosophie -beziehungen auseinandergesetzt.51 Die Frage nach musli- an der Universität Wien (Dissertationsgebiet: Islamische Religions- mischen Gotteskonzepten, also was muslimische Jugendli- pädagogik) che unter Gott verstehen und welche Gefühle sie dabei ent- 2.3.1 Einleitung wickeln, ist bis heute eher unbeantwortet geblieben. Wenn auch über Gottesvorstellungen geforscht wurde, wird in der Aus Theorien36 geht hervor, dass sich die kognitiven Regel nur auf die kognitive, unter Vernachlässigung der und emotionalen Dimensionen eines Gottesglaubens bei emotionalen Ebene, fokussiert.52 Die Erhebung der kogniti- Erwachsenen aber auch bei Kindern erforschen und nach- ven Ebene von Gotteskonzepten ist allerdings eine einseitige weisen lassen. Durch die Forschungen von Szagun37, Dan- Betrachtung. Daraus ergibt sich als eigentliche Problemstel- nenfeldt38 und Bösefeldt39, die das Gottesverständnis (Kog- lung meiner Arbeit die nicht vorhandene Verknüpfung der nition) und die Gottesbeziehung (Emotion) bei Kindern kognitiven mit der emotionalen Ebene von Gotteskonzepten untersucht haben, wurde die Theorie von Grom40 bestätigt. und deren empirischer Erfassung bei muslimischen Jugend- Laut Grom41 stehen die kognitive und die emotionale lichen. Dimension in einer Wechselwirkung. Verschiedene Studien Diese Problemstellung kann noch dadurch verschärft verwenden für die Gottesthematik unterschiedliche Begriffe, werden, dass Gotteskonzepte neben anderen Ursachen die zum Teil auch synonym. Es ist die Rede von Gottesvorstel- Welt-, Fremd- und Selbstwahrnehmung beeinflussen.53 Von lung, Gottesidee, Gottesbegriff, Gotteslehre, Gottesbild und solchen Beeinflussungen sprechen auch Benson/Spilka54 anderen.42 Szagun43, Dannenfeldt44 und Bösefeldt45 spre- sowie Murken55. Laut deren Forschungsergebnissen56 kön- chen in ihren Studien von Gotteskonzepten und in Anleh- nen sich persönliche Gotteskonzepte sowohl positiv wie nung an Grom46 enthalten die Gotteskonzepte zwei vonein- auch negativ auf die Selbstwahrnehmung von Jugendlichen ander abhängige Dimensionen, die überwiegend kognitive auswirken und diese beeinflussen. Gotteskonzepte könnten und die überwiegend emotionale und motivationale Dimen- somit als eine wertvolle Ressource beim Aufbau und Erhalt sion. Unter der überwiegend kognitiven Dimension versteht einer positiven Selbstwahrnehmung veranschlagt werden, Grom das Gottesverständnis47 und unter der überwiegend was laut Grom57 nur möglich ist, wenn das Gotteskonzept emotionalen und motivationalen die Gottesbeziehung48. Auf- verinnerlicht wird. Entscheidend für die Bildung eines posi- grund solcher Studien bzw. solcher entwickelter Theorien49 tiven Gotteskonzeptes sind die Bezugspersonen – in erster ist anzunehmen, dass auch nicht-konfessionsgebundene Linie Eltern, LehrerInnen und andere Personen aus dem

ÖRF 23 (2015) • 73–86 79 Umfeld – aber auch die religiöse Praxis58 und das Selbst- schen SchülerInnen, die den Religionsunterricht besuchen. wertgefühl der Person. Problematisch bei einer negativen Als Variable wird u.a. der Bildungs- und Migrationshinter- Bildung eines Gotteskonzeptes ist, dass dieses auch die grund erhoben. Selbstwahrnehmung der Person negativ prägen kann, was zu negativen Gefühlen nicht nur gegenüber Gott sondern auch 2.3.3 Fazit und Ausblick gegenüber Mitmenschen bis hin zur negativen Wahrneh- Ziel der angestrebten Arbeit ist es herauszufinden, wie mung demokratischer Strukturen führen kann.59 Trotz der Gotteskonzepte im Rahmen von islamischer Theologie und hier hervorgehobenen Forschungslücke machen Studien wie bei SchülerInnen der gymnasialen Oberstufe aussehen und Dannenfeldt60 sowie Feige/Gennerich61 auf den emotiona- ob sich daraus Kategorien bilden lassen, die sich in einer len Bereich aufmerksam und zeigen, dass eine solche Erhe- Schnittmenge befinden bzw. sich nicht darin befinden. Aus bung bei konfessionslosen, christlichen und muslimischen den theologischen bzw. SchülerInnen-Konzepten heraus Heranwachsenden durchaus möglich ist. Zu meiner zu werden Kategorien abgeleitet und aus diesen Kategorien untersuchenden SchülerInnengruppe mit den Merkmalen: werden das theologische bzw. SchülerInnen Modell gebildet. muslimisch, im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, ein mehr Im Ergebnis soll die Schnittmenge zwischen den theologi- oder weniger ausgeprägter Migrationshintergrund, gibt es schen und SchülerInnen-Konzepten ermittelt werden. Dabei allerdings eine solche Studie noch nicht. gehe ich von einer zu identifizierenden Schnittmenge aus, Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich die folgende aber auch davon, dass sich Teile der jeweiligen Konzepte als Forschungsfrage: Welche Gotteskonzepte lassen sich bei selbständig herausstellen. Die zu vermutenden Unterschiede SchülerInnen der 7. und 8. gymnasialen Oberstufe identifi- zwischen theologischen und SchülerInnen-Konzepten sollen zieren? den Ausgangspunkt für religionsdidaktische Reflexionen Ausgehend von einem theologisch gesicherten Modell bilden, um die Schnittmenge – vermittelt über didaktische der Gotteskonzepte ergeben sich als Unterfragen: Aufgaben – vergrößern zu können. • Welche Vergleiche lassen die theologischen und die Wenn, wie dargestellt, sich persönliche Gotteskonzepte SchülerInnen-Gotteskonzepte zu? positiv auf die Selbstwahrnehmung von Jugendlichen aus- • Ergibt sich auf der kognitiven und der emotionalen wirken können, dann ist der Mehrwert der Arbeit u.a. darin Ebene eine Schnittmenge zwischen theologischen zu sehen, dass solche Konzepte als Ressourcen betrachtet und SchülerInnen-Konzepten? werden können. Gerade in multikulturellen Ländern wie Die Forschungsfrage impliziert schon die zu untersu- Österreich sind stabile Welt-, Fremd- und Selbstwahrneh- chenden SchülerInnen (Sampling): Identifiziert werden sol- mungen auch wegen des Migrationshintergrundes vieler len Gotteskonzepte bei muslimischen OberstufenschülerIn- MuslimInnen von enormer Bedeutung. Dabei sollten nen im Alter der Adoleszenz. Die religiösen Entwicklungs- Bezugspersonen und der islamische Religionsunterricht stufen vom Kindes- bis hin zum Erwachsenenalter sind auch durch die Vermittlung theologisch positiver Gottes- umstritten, vor allem wenn es um Kinder und Jugendliche konzepte die persönlichen Gotteskonzepte der SchülerInnen aus einer multikulturellen Gesellschaft geht. Grom ist der aufbauen und stärken. Meinung, dass es keine „umfassende und allgemeine Theo- rie der kognitiven und emotionalen Entwicklung des Got- 2.4 Die koranischen Erzählungen. Eine Quelle für einen tesglaubens“62 gibt. Dennoch kann sich bei der Auswahl der zeitgemäßen islamischen Religionsunterricht? Dargestellt Altersgruppe auf Nipkow63 und Freudenberger-Lötz64 am Beispiel von Muḥammed Aḥmed Ḫalafallāh gestützt werden. Die Altersphase zwischen 16 und 18 Jahren Ahmed al Shafey eignet sich für meine Studie deswegen, weil Heranwach- BA, MA, Lehrbeauftragter an der Universität Wien, AHS-Religi- sende in dieser Phase kritisch gegenüber Glaubens- und onslehrer und Doktorand des Dr.-Studiums der Philosophie an der Gottesvorstellungen sind, wie Nipkow herausstellen Universität Wien (Dissertationsgebiet: Islamische Religionspäda- gogik) konnte.65 In dieser Phase sind Jugendliche zweifelnder als Kinder und die Sensibilität ist ausgeprägter, wodurch beim 2.4.1 Einleitung Theologisieren religiöse Konzepte entdeckt, erweitert, ver- Es kann davon ausgegangen werden, dass der Koran ändert und auf Handlungen hin durchgearbeitet werden eine wichtige Rolle im islamischen Religionsunterricht an können.66 Auch wenn Nipkow und Freudenberger-Lötz aus der öffentlichen Schule spielt. Zugleich lässt sich vermuten, der evangelischen Perspektive schreiben, dürften muslimi- dass die koranischen Erzählungen im Zentrum des islami- sche Jugendliche bei der Suche nach einem persönlichen schen Religionsunterrichts stehen. Eine koranische Erzäh- Gott, dem sie Vertrauen schenken können67, keine Aus- lung macht nicht nur den Unterricht interessanter, sondern nahme bilden. Das Sampling besteht aus (n=60) muslimi-

80 Österreichisches Religionspädagogisches Forum bleibt auch ein sehr wichtiges pädagogisches Instrument bei Autorität und Tradition in der Regel beanspruchen, der Vermittlung bestimmter Werte und Lehren. die richtige Interpretation zu besitzen.“75 Meine Dissertation befasst sich mit dem Hauptwerk Durch das Ablehnen seiner ursprünglichen Dissertation Ḫalafallāhs al-Fann al- qaṣaṣī fi l-qurˈān al-karīm68 (Die sah sich Ḫalafallāh gezwungen, seinen Doktortitel mit einer Erzählkunst im heiligen Koran). Warum ich mich mit dem Arbeit über Abū al-Faraĝ al-Iṣfahānī und sein Buch der Lie- Buch Ḫalafallāhs auseinandersetzen möchte, kann auf fol- der zu erwerben. Allerdings wurde, interessanterweise, die gende Gründe zurückgeführt werden: Arbeit Ḫalafallāhs über die Erzählkunst im Koran zwischen 1. Ḫalafallāh gehört zu den muslimischen Neuden- 1953 und 1999 fünfmal in Kairo veröffentlicht.76 kern, die anders an den Koran herangegangen sind. Im Gegensatz zu vielen muslimischen Gelehrten 2.4.2 Konzeption und Forschungsfrage und Interpreten, die die koranischen Erzählungen Ḫalafallāh wollte den Koran so modifizieren, dass für in der Regel wie Chroniken einstudiert und wört- den/die MuslimIn der Lehrgehalt der koranischen lich verstanden haben, behandelte Ḫalafallāh sie als Geschichte, nicht mehr das in ihnen üblich gezeichnete Bild literarische und religiöse Dokumente.69 Seine lite- eines Erzählverlaufs im Zentrum steht. Die Schlüsselfrage rarische Herangehensweise an den Koran führte Ḫalafallāhs zum Verständnis der koranischen Erzählungen auch dazu, dass er bei einigen Erzählungen von war nicht die Frage nach dem Ablauf einer koranischen Allegorien ausging, während viele Gelehrte die Geschichte, sondern vielmehr die Frage, warum Gott sie so Problematik dieser Erzählungen übergingen und gestaltete, also die Frage nach der Absicht.77 Die künstleri- sie unter der Bezeichnung „mehrdeutige Verse“ sche Gestaltung von koranischen Erzählungen liegt nach (mutashābihāt) einordneten.70 Ḫalafallāh nicht auf der Ebene der historischen Wahrheit. 2. Anhand seines literarischen Umganges mit dem Vielmehr stellt die koranische Erzählung eine Kunst dar, Koran konnte Ḫalafallāh die gestalterische Freiheit deren Aufgabe es ist, die Seelenlage des Publikums zu beein- des göttlichen Sprechers hervorheben, ohne die flussen, d.h. die Gefühle der Menschen mit künstlerischen Quelle des Korans in Frage zu stellen. Gemäß sei- Mitteln zu lenken, damit sie zur Wahrheit Stellung nehmen ner Methode kann sich ein Exeget vom Gefängnis können. In diesem Zusammenhang spricht Ḫalafallāh von der wörtlichen Lektüre befreien, um das Signifi- einer emotionalen, nicht immer rationalen Sprachlogik, die kant hinter dem Signifikanten erfassen zu kön- den Koran kennzeichnet.78 Seine Theorie der literarischen nen.71 Eine genaue Analyse seines Buches lässt uns Gattungen könnte einen Weg für ein besseres, zeitgemäßes verstehen, inwieweit die Meinungen Ḫalafallāhs Koranverständnis ebnen.79 Mit der von Ḫalafallāh aufge- von denen der Traditionalisten abweichen. stellten Theorie der literarischen Gattungen, die die korani- 3. Ḫalafallāh, der in Unterägypten im Jahre 1916 als schen Erzählungen in drei Kategorien (historisch, gleichnis- Sohn einer sudanesischen Mutter und eines ägypti- haft und auf Legenden beruhend) einteilt, könnten die schen Vaters geboren wurde, war sehr stark von SchülerInnen eines islamischen Religionsunterrichts (IRU) der Herangehensweise al-Ḫulis72 an den Koran verstehen lernen, dass die Intention der Erzählungen im beeinflusst. In seiner von al-Ḫulī betreuten Magis- Koran keineswegs ein Geschichtsunterricht ist, sondern an terarbeit schrieb Ḫalafallāh über Die Dialektik des ihrer Lebenswelt anknüpft. Dass im Zentrum des islami- Korans. In dieser Arbeit folgte er den von seinem schen Religionsunterrichts nicht unbedingt die Erzähl- son- Professor al-Ḫuli entworfenen Prinzipien der lite- dern die historische Dimension steht, muss, um die hier zu raturwissenschaftlichen Methode. Nach dem bearbeitende Problemstellung schärfer herauszuschälen, Magisterabschluss begann Ḫalafallāh Koranexegese ergänzt werden durch die Beobachtung, dass SchülerInnen an der Fuˈād Universität73 zu unterrichten.74 häufig über keinen persönlichen Zugang zum Koran verfü- 4. Da Ḫalafallāh mit den koranischen Erzählungen in gen. Oft stützen sie sich auf eine Interpretation, die den Ort seiner auch von Professor al-Ḫulī betreuten Disser- und die Zeit, in der sie sich befinden, nicht berücksichtigt. tation anders umging, löste er heftige Kritik aus. Stehen also nicht selten nur die historischen Ereignisse einer Ein Satz von Umberto Eco beschreibt hier nicht koranischen Erzählung im Mittelpunkt des IRUs, so muss nur das Schicksal Ḫalafallāhs, sondern auch die auch betont werden, dass die koranischen Erzählungen nicht Bedingungen der Forschung überhaupt, die in der an Alltagsvorstellungen und Lebenswelterfahrungen der islamischen Welt immer noch gelten: „Gegenüber SchülerInnen anknüpfen. Der Beitrag meiner Forschung den wirklich heiligen Texten sind jedoch eigentlich möchte die moralische und religiöse Lehre der koranischen keine großen Freiheiten erlaubt, da eine religiöse Erzählungen ins Zentrum rücken, um zum einen theore- tisch den koranischen Erzählungen mehr (literarisches)

ÖRF 23 (2015) • 73–86 81 Eigenrecht zuzusprechen und zum anderen unterrichtsprak- 2.4.3 Fazit und Ausblick tisch den SchülerInnen einen lebensweltlichen Zugang zu Die literarische Herangehensweise Ḫalafallāhs an die diesen zu ermöglichen. Eine solche neue Herangehensweise koranischen Erzählungen könnte hilfreich sein, über einen an die koranischen Erzählungen kann die SchülerInnen von neuen Zugang zum Koran im islamischen Religionsunter- der Last der historischen Einzelheiten befreien und ihnen richt zu reflektieren. In diesem Rahmen versucht meine For- die Möglichkeit geben, frei und kreativ mit diesen Erzählun- schung, für die literarische Dimension in Bezug auf den gen umzugehen. Dabei kann eine literarische Herangehens- Umgang mit den koranischen Erzählungen mehr Raum zu weise an den Koran diesen als authentisches literarisches schaffen. Die Freiheit, die eine literarische Herangehens- Werk verstehen. Im Fokus der Forschung sind, um eine auf weise an den Koran bietet, könnte die Mündigkeit bzw. die Erfahrung aufbauende Verbindung zwischen SchülerInnen Sprachfähigkeit von SchülerInnen fördern. Somit kann und den koranischen Erzählungen herstellen zu können, die betont werden, dass jeder Mensch in der Lage ist, den Koran folgenden drei Punkte zu problematisieren: zu interpretieren und zu verstehen, ohne sein Verständnis 1. Koranische Erzählungen sind mehr als historische auf eine bestimmte Interpretation zu beschränken. Eine lite- Aussagen; sie sind in der Endkonsequenz Aus- rarische Dimension, die ins Zentrum des IRUs gerückt wer- druck religiöser und moralischer Erfahrung, jen- den soll, sieht einerseits die historische Authentizität einer seits orthodoxer Lehre. koranischen Erzählung als irrelevant an, andererseits fokus- 2. An den koranischen Erzählungen kann gezeigt siert sie sich auf die Lehren, die man daraus ziehen kann. werden, dass der Umgang mit dem Koran nicht als Meine Forschung erachtet es für einen zeitgemäßen IRU als ein geschlossener Prozess verstanden werden darf, notwendig, an der Lebenswelt der SchülerInnen anzuknüp- was nicht gegen die göttliche Quelle spricht. fen. In der Unterscheidung zwischen einer historischen und 3. Mit einer literarischen Herangehensweise an den einer literarischen Dimension in Bezug auf die koranischen Koran, die der Intention und dem Geist des Textes Erzählungen liegt die Möglichkeit einer eigenen, alltagsrele- den Vorzug vor den Buchstaben gibt, kann eine vanten Urteilsfindung durch die SchülerInnen. neue Entwicklung in der Koranauslegung in Bezug auf den islamischen Religionsunterricht eingeleitet 2.5 Zusammenfassung werden. Trotz der unterschiedlichen Themen der hier vorgestellten Aus dieser Problematisierung ergibt sich Folgendes als Dissertationsvorhaben lassen sich Gemeinsamkeiten ausma- Hypothese: chen, welche die Wichtigkeit islamisch-theologischer For- Eine literarische Herangehensweise an den Koran schung besonders hervorheben können: könnte zu einem besseren Koranverständnis führen und 1. Es lässt sich beobachten, dass alle Dissertationsvor- damit die Qualität des IRUs verbessern, ohne die göttliche haben einen historischen Abstand zwischen Koran- Quelle des Korans in Frage zu stellen. und/oder Traditionsauslegung und westlich Aus den oben benannten Problemkreisen und der geprägter Gesellschaft diagnostizieren, den es zu Hypothese ergibt sich die folgende Hauptforschungsfrage: überwinden gilt, um ‚den’ Islam in europäischen Kann der literarische Umgang Ḫalafallāhs mit den kora- Ländern so zu etablieren, dass er als ein selbstver- nischen Erzählungen Eingang in einen zeitgemäßen Islami- ständlicher Teil der Gesellschaft wahrgenommen schen Religionsunterricht finden? wird. Das Hauptanliegen meiner Arbeit ist es, das Hauptwerk 2. Gemeinsam ist allen Forschungsvorhaben zudem, Ḫalafallāhs al-Fann al- qaṣaṣī fi l-quˈrān al-karīm zu analy- dass auf innerislamische Debatten verwiesen wer- sieren. Anhand dieser Buchanalyse können die Gedanken den kann, sodass nicht von dem Islam gesprochen des ägyptischen Neudenkers Muḥamed Aḥmed Ḫalafallāh werden kann und darf. in Bezug auf die koranischen Erzählungen dargestellt und 3. Der europäische Islam ist herausgefordert, Fragen zusammengefasst werden, um zu verstehen, inwieweit er zu beantworten, die er aus seiner eigenen Wissen- von klassischen Verständnissen abweicht. Die Ergebnisse stradition heraus nicht kennt. dieses Vergleiches werden anschließend kategorial struktu- 4. Gezeigt wird, dass die Religionsform Islam Potenti- riert. Anhand der Ergebnisse aus der literarischen Methode ale in sich birgt, die es in Verknüpfung mit den wird der Versuch unternommen, diese für einen lebendigen unterschiedlichen Lebenswelten, in Verbindung islamischen Religionsunterricht fruchtbar zu machen, was zwischen Wissenschaft und Moscheengemeinde eine zeitgemäße Gestaltung einschließt. oder Schule zu fördern gilt, um eine doppelte

82 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Wahrnehmung der je eigenen Lebenswelt80 zumin- halb, weil die jeweiligen Präsentationen durch ein Zeitfens- dest einzudämmen. ter von neun Minuten begrenzt wurden, sodass die Fokus- Solche wissenschaftlichen Forschungsansätze sind sierung auf das Wesentliche trainiert werden konnte. schon deshalb zu fördern, weil sie mit Vorurteilen aufräu- Zusätzlich wurde für alle Studierenden der Islamischen Reli- men und einen Dialog auf Augenhöhe anzubahnen in der gionspädagogik eine Überblicksvorlesung über quantitative Lage sind. und qualitative Forschungsmethoden angeboten. Im Som- mersemester 2015, nachdem die StipendiatInnen ihr jeweili- 3. Betreuung und Begleitung: Mentoring-Semi- ges Forschungsvorhaben präsentiert hatten, lag der Fokus nare der Mentoringseminare auf der Vertiefung einzelner Metho- den. Zur hermeneutischen Methode wurden Texte von Zeigen die hier vorgestellten Dissertationsvorhaben Gadamer83 aber auch Übungen aus Müller et al.84 herange- Lücken aber auch Potentiale einer Islamischen Theologie als zogen, diskutiert und erprobt. Überprüft wurde, inwiefern Wissenschaft in Europa an, so kann dies auch in Bezug auf sich methodische Schritte der neutestamentlichen Exegese das Verständnis von wissenschaftlichem Arbeiten behauptet auf den Koran übertragen lassen. Methodisch vertieft wer- werden. Ohne sich an dieser Stelle auf wissenschaftstheore- den, konnten auch qualitative Forschungsansätze wie bei- tische Debatten einlassen zu können, ist wissenschaftliches spielsweise die Grounded Theory. Exkurse zum rationalen Arbeiten wie folgt kurz zu umreißen: Lesen oder zum wissenschaftlichen Argumentieren runde- 1. Hinterfragen der ‚so-ist-es’ Erfahrung des Alltages ten die Veranstaltungen im Sommersemester ab. Parallel 2. Angabe und Reflexion zur Methodik dazu wurde für alle Studierende der Islamischen Religions- 3. Exakte Bestimmung von Begrifflichkeiten pädagogik offen ein Vertiefungsseminar zu qualitativen 4. Auseinandersetzung mit und das Einbeziehen von sozialwissenschaftlichen Erhebungs- und Auswertungsme- vorhandener Forschung thoden angeboten. 5. Ein, auch in methodischer Hinsicht, offener Dis- kurs 4. Fazit: Was weiß man voneinander, wenn man 6. Wissenschaftliche Forschung selbst als unab- miteinander lernt? schließbaren Prozess reflektieren Im Doktorandenkolleg Islamische Theologie als Wissen- Das hier bewusst gewählte neutrale man soll verhin- schaft in Europa ist eine umfassende Betreuung der Stipen- dern, dass der Eindruck entsteht, jene (MuslimInnen) ler- diatInnen gewährleistet. Die Gruppe traf /trifft sich im nen von diesen (ChristInnen). Viel eher ist zu konstatieren, 14-tägigen Rhythmus. Im Wintersemester 2014/2015 lag der dass der Lernprozess ein wechselseitiger ist. Deutlich zu Schwerpunkt des Mentoringseminares auf der Ausarbeitung Tage getreten sind im Doktorandenkolleg die Schwierigkei- des einzureichenden Exposés, welches anschließend fakul- ten, mit denen islamische Theologie in Europa zu kämpfen tätsoffen zu präsentieren war. Geleitet von einem islami- hat. Die hier gezeigten Dissertationsvorhaben sind für die schen und einem evangelischen Theologen orientierte man Zukunft der Etablierung von islamischer Theologie in sich an den Ausführungen von Hug/Poscheschnik81, die zur Österreich und letztlich Europa entscheidend, denn diese Erstellung einer Projektskizze fünf Arbeitsschritte vorgeben: Form des vertiefenden Studiums schafft Voraussetzungen, 1. Entwicklung einer Idee um islamische Theologie aus der Isolation herauszuholen 2. Von der Idee zum Forschungsthema und eine Kommunikation zu ermöglichen, die Theorie 3. Hypothesenbildung (Wissenschaft) und Praxis (Schule und außerschulische reli- 4. Ableitung der Forschungsfrage giöse Praxen) im Sinne des sapere aude! (Kant) miteinander 5. Erstellen einer Projektskizze82 zu verknüpfen weiß. Ziel muss es dabei sein, einen Islam zu Parallel zu diesen Erarbeitungsschritten waren die Sti- etablieren, der im europäischen Kontext seine eigene Prä- pendiatInnen pro Seminarveranstaltung aufgefordert, ihre gung findet. Dazu sind innerislamische Diskurse nötig aber Teilergebnisse vorzustellen. Damit wurde in spielerischer auch solche, die zwischen den einzelnen Religionsformen Form die Präsentation der eigenen wissenschaftlichen stattfinden. Miteinander lernen heißt dann auch, dass aus Erkenntnisse eingeübt. Spielerisch deshalb, weil die einzel- christlicher Sicht die Formen gelebter Religion in Europa nen TeilnehmerInnen immer wieder die Rolle des advocatus thematisiert werden müssen. Dabei geht es weniger um diaboli oder eben des critical friend übernahmen, sodass der Weltreligionen als vielmehr um die lebensweltlichen Berüh- wissenschaftliche Diskurs schon während der Erarbeitung rungen mit anderen in der Nachbarschaft lebenden religiösen des Exposés eine entscheidende Rolle in der Betreuung/ Formen. Von muslimischen MitbürgerInnen ist in jedem Begleitung der StipendiatInnen spielte. Spielerisch auch des- Fall zu lernen, dass Anpassung an zivilgesellschaftliche

ÖRF 23 (2015) • 73–86 83 Gegebenheiten nicht gleichbedeutend mit einer Aufgabe 10 Schweitzer, Friedrich: Wo also steht die Religionsdidaktik, in: religiöser Identität und Praxis, aber auch nicht mit einem Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (Der evangelische Erzieher) 4 (2014), 387. Umschwenken zu Gewalt ist. Aus christlicher Perspektive 11 Vgl. Black, Antony: The History of Islamic Political Thought. From neu war z.B. die Fragestellung, ob die Idee des Islamischen the Prophet to the present, Scotland: Edinburgh University Press Staates eine dem Islam immanente Idee ist. Gemeinsame 2011. Forschung, gemeinsames Lernen bergen also auch das 12 Helfont, Samuel, Yusuf al- Qaradawi: Islam and Modernity, Tel Potential in sich, um Probleme des jeweils anderen zu wis- Aviv: Tel Aviv University Press 1999, 43 – Ein Zitat von Yusuf al- sen und damit öffentlich gemachte polemische Haltungen Qaradawi aus dem Jahr 2003 (Theologe und Rechtsgelehrter sowie Gründer der Zentristen und Verfasser des fiqh al- aqalliyāt, Jurispru- bzw. Meinungen gegenüber ‚dem’ Islam qualifiziert ableh- denz der [muslimischen] Minderheiten [in pluralen Gesellschaften]). nen zu können. Der muslimischen und der christlichen 13 Vgl. Arkoun 1999 [Anm. 9], 80. Religion immanent ist der Gedanke von Toleranz spätestens 14 Iggiö, in: http://www.schulamt.derislam.at/#&cssid=Religionsunter- seit Lessings Ringparabel. Damit soll 9/11 nicht weggewischt richt&navid=7&par=0 [abgerufen am 23.02.2015]. werden, aber auch nicht die Hexenverbrennungen im 15 Ebd. [abgerufen am 23.02.2015]. 16 Der Begriff Moderne ist im Sinne der Aufklärung als der Übergang Namen von Christus. Innerislamische Diskurse sind letzt- von der griechisch-römischen Vormundschaft zur humanistischen lich – so wie innerchristliche – solche, die um ein Verständ- Kultur, welche rationales Denken als Überwindung fortschrittbehin- nis und eine Vermittlung von heiligen Texten/religiösen dernder Strukturen postuliert, gemeint. Vgl. https://uni-vienna.brock- Praxen und Alltags- bzw. Lebenswelt bemüht sind. Wenn haus-wissensservice.com/brockhaus/moderne [abgerufen am (mit Härle) Theologie eine zeitgemäße Auslegung des Glau- 23.01.2015]. Vgl. Arkoun 1999 [Anm. 9]; Abu Zaid, Nasr Hamed: Mohammed bens ist, dann zeigen die hier vorgestellten Forschungsvor- 17 und die Zeichen Gottes, Freiburg: Herder Verlag 2008; Campanini, haben, dass sich Islamische Theologie als Wissenschaft in Massimo: The Quran. Modern Muslim interpretations, New York: Europa etablieren kann und nicht von einem Wandlungs- Routledge 2008. prozess ausgeschlossen werden darf. Gemeinsame Lernpro- 18 Schneider-Landolf, Mina u.a.: Handbuch Themenzentrierte Interak- zesse könnten hier entscheidende Weichenstellungen vor- tion (TZI), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2009, 15. nehmen. Wünschenswert wäre freilich eine klarere politi- 19 Ebd., 11. 20 Schneider-Landolf, Mina u.a. 2009 [Anm. 18], 172. sche Haltung zu einem Islam europäischer Prägung. Von 21 Büttner, Gerhard u.a.: Theologisieren mit Kindern, Stuttgart / Berlin staatlicher Seite würde sich eine positive Haltung demgegen- / Köln: Kohlhammer 2002, 70. über u.a. darin spiegeln, dass die Ausbildung und Qualifika- 22 Vgl. Grundwerte der EU, in: http://www.parlament.gv.at/PERK/PE/ tion islamischer TheologInnen strukturell (Fakultätsstatus) EU/GrundwerteEU/index.shtml [abgerufen am 28.01.2015]. und damit finanziell unterstützt würde. 23 Vgl. Campanini 2008 [Anm. 17], 50. 24 Vgl. Abu Zaid 2008 [Anm. 17], 160. 25 Ebd., 161. Anmerkungen 26 Werner, Ernst / Markov, Walter: Geschichte der Türken von den 1 Die einzelnen Dissertationsvorhaben werden immer mit der/dem Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin: Akademie Verlag 1978. hauptverantwortlichen AutorIn versehen. 27 Gershoni, Israel / Jankowski, James P.: Egypt, Islam, and the Arabs: 2 Aslan, Ednan (Hg.): Zwischen Moschee und Gesellschaft. Imame in The search for Egyptian nationhood, 1900–1930, New York: N.Y. Österreich, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, 2012. Oxford University Press 1986. 3 Ebd., 34. 28 Vgl. Hatina, Meir: On the margins of consensus: the call to separate 4 Vgl. Rauscher, Hans: Muslime in Österreich. Die Politisierung einer religion and state in modern Egypt. Middle Eastern Studies 36/1 stark wachsenden Glaubensgemeinschaft, in: http://derstandard. (2000) 35–67. doi: 10.1080/00263200008701296; ‘Imāra, Muham- at/2000005451456/Muslime-in-Oesterreich [abgerufen am mad: Al- Islām wa-uṣūl al-ḥukm li-ʿAlī ʿAbd-ar-Rāziq. [Der Islam 07.07.2015]. und die Grundlagen der Herrschaft von ʿAlī ʿAbd-ar-Rāziq; Übers. 5 Vgl. Expertenrat für Integration: Expertenbericht 2013. Perspektiven N.M.]. Bairūt: al-Muʾassasa al-ʿArabīya li-d-Dirāsāt wa an-Našr und Handlungsempfehlungen, in: http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/ 1972. user_upload/Zentrale/Integration/Integrationsbericht_2013/Experten- 29 Ridā, Rašid: „al-Manar.“, in: http://waqfeya.com/book.php?- rat_Integrationsbericht_2013.pdf [abgerufen am 07.07.2015]. bid=7374, 1926, [abgerufen am 10.06.2015]. 6 Vgl. Aslan, Ednan: Antrag auf ein Doktorandenkolleg Islamische 30 Vgl. Al-Nabhani, Taqi al-Din: al-Nizam al-Iqtisadi fi al-Islam, c. VI, Theologie als Wissenschaft in Europa vom 06.11.2013, 2. Beirut: Dar al-Ummah 2004. 7 Vgl. Aslan, Ednan: Antrag auf ein Doktorandenkolleg Islamische 31 Vgl. Nagel, Tilman: Griechenland und Rom, Judentum, Christentum Theologie als Wissenschaft in Europa vom 06.11.2013, 3. und Islam. Götterbilder - Gottesbilder –Weltbilder - Polytheismus 8 In Punkt 2.1.2 wird eine genauere Ausführung der Spannungsfelder und Monotheismus in der Welt der Antike, Tübingen: Mohr Siebeck rund um den quranischen Text dargelegt. 2006. 9 Vgl. Arkoun, Mohammed: Der Islam. Annäherung an eine Religion, 32 Vgl. Māwardī, ʿAlī ibn Muhammad / Wahba, Wafaa Hassan: The Heidelberg: Palmyra 1999, 69. ordinances of government: A translation of al-Aḥkām al-sulṭānīyya w‘ al-wilāyāt al-dīnīyya, Reading: Garnet 11996.

84 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 33 Maududi, Abul A’la: Islamic way of life, Lahore: Islamic Publica- 57 Grom 2000 [Anm. 35], 28. tions 1967; Maududi, Abul A’la: Islamic way of life: ScribeDigital. 58 Vgl. Dörr, Anette: Religiosität und psychische Gesundheit. Zur Com 1997. Zusammenhangsstruktur spezifischer religiöser Konzepte, Hamburg: 34 Hartmann, Martin: Politische Theorie und politische Philosophie ein Verlag Dr. Kovač 2001. Handbuch, München: Beck 2011. 59 Vgl. Murken 1998 [Anm. 53]. 35 Schulze, Reinhard: Islamischer Internationalismus im 20. Jahrhun- 60 Vgl. Dannenfeldt 2009 [Anm. 38]. dert. Untersuchungen zur Geschichte der Islamischen Weltliga, Lei- 61 Vgl. Feige / Gennerich 2008 [Anm. 51]. den: Brill 1990. 62 Grom 2000 [Anm. 36], 16. 36 Vgl. Grom, Bernhard: Religionspädagogische Psychologie des Klein- 63 Vgl. Nipkow, Karl Ernst: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfah- kind-, Schul- und Jugendalters, Düsseldorf: Patmos Verlag 52000. rung im Lebenslauf, München: Kaiser 1987. 37 Vgl. Szagun, Anna-Katharina: Dem Sprachlosen Sprache verleihen: 64 Vgl. Freudenberger-Lötz, Petra: Theologische Gespräche mit Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen, Stuttgart: Cal- von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwach- wer 2012. sen, Jena: Verlag IKS Garamond 2006. 65 Nipkow 1987 [Anm. 63], 65 f. 38 Vgl. Dannenfeldt, Astra: Gotteskonzepte bei Kindern in schwieri- 66 Vgl. Freudenberger-Lötz [Anm. 64]; Freudenberger-Lötz, Petra: gen Lebenslagen: Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professio- Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem nalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Kontext aufwachsen, Jena: Verlag IKS Garamond 2009. Religionsunterricht, Stuttgart: Calwer 2007. 39 Vgl. Bösefeldt, Ina: Männlich - Weiblich - Göttlich: geschlechtsspe- 67 Nipkow 1987 [Anm. 63], 80 f. zifische Betrachtungen von Gottesbeziehungen und Gottesverständnis 68 Das war der Titel der Dissertation Ḫalafallāhs, welche die Universität Heranwachsender aus mehrheitlich konfessionslosem Kontext, Kas- in Kairo wegen angeblicher Nichtvereinbarkeit mit dem Islam abge- sel: Kassel University Press 2010. lehnt hatte. 40 Vgl. Grom 2000 [Anm. 36]. 69 Benzine, Rachid: Islam und Moderne, Berlin: Verlag der Weltreligio- 41 Ebd., 115 f. nen 2012, 149. 42 Vgl. Grom 2000 [Anm. 36]; Schweitzer, Friedrich u.a.: Religions- 70 Vgl. ebd., 149–153. unterricht und Entwicklungspsychologie: Elementarisierung in der 71 Ebd., 154. Praxis, Gütersloh: Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus 1995. 72 Amīn al-Ḫulī wurde am 1. Mai 1895 in Šūšai in Ägypten geboren. Er 43 Vgl. Szagun 2006 [Anm. 37]. bekam eine theologische Ausbildung an der al-Azhar und war auch 44 Vgl. Dannenfeldt 2009 [Anm. 38]. Imām einer angesehenen Moschee in Kairo. Für al-Ḫulī war immer 45 Vgl. Bösefeldt 2010 [Anm. 39]. die Tötung des Alten durch Forschung der erste Schritt zur Erneue- 46 Vgl. Grom 2000 [Anm. 36]. rung. Er war auch von den literarischen Eigenschaften des Korans 47 Vgl. Grom 2000 [Anm. 36], 115 f. überzeugt und strebte nach einer literaturwissenschaftlichen Herange- 48 Ebd., 145 ff. hensweise an den Koran, die alle anderen Herangehensweisen ersetzt, 49 Vgl. ebd.; Szagun 2006 [Anm. 37]. da die literarische Herangehensweise an den Koran dem Leser andere 50 Vgl. Grom 2000 [Anm. 36]. Lesarten (juristische, theologische, ethische usw.) zugänglich machen 51 Vgl. Hirsekorn, Murat Kemal: Īmān und ‘amal im historischen Kon- kann (vgl. ebd., 140–143). text der Denkschulen, Wien 2011 (= Masterarbeit Universität Wien); 73 Heute: Kairo Universität. Feige, Andreas / Gennerich, Carsten: Lebensorientierungen Jugend- 74 Benzine [Anm. 69], 148. licher: Alltagsethik, Moral und Religion in der Wahrnehmung von 75 Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text, München: Carl Hanser Berufsschülerinnen und -schülern in Deutschland. Eine Umfrage 1994, 60. unter 8.000 Christen, Nicht-Christen und Muslimen, Münster u.a: 76 Abū-Zaid, Naṣr Ḥāmid: Gottes Menschenwort. Für ein humanis- Waxmann 2008; Bertenrath, Zita: Muslimische und christliche Got- tisches Verständnis des Koran-Nasr Hamid Abu Zaid. Ausgew., übers. tesvorstellungen im Klassenraum. Eine qualitative Studie mit Schüle- und mit einer Einl. von Thomas Hildebrandt, Freiburg im Breisgau rinnen und Schülern im islamischen und christlichen Religionsunter- u.a.: Herder 2008, 72. richt, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2011. 77 Wielandt, Rotraud: Offenbarung und Geschichte im Denken moder- 52 Vgl. Bertenrath 2011 [Anm. 51]; Hirsekorn 2011 [Anm. 51]. ner Muslime, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1971, 135–136. 53 Vgl. Dannenfeldt 2009 [Anm. 38]; Grom 2000 [Anm. 36]; Mur- 78 Ebd., 137–138. ken, Sebastian: Gottesbeziehung und psychische Gesundheit. Die 79 Nach Ḫalafallāh „bezieht der Koran ein Erzählmaterial aus histori- Entwicklung eines Modells und seine empirische Überprüfung, schen Ereignissen, beschreibt sie aber literarisch und vermittelt sie Münster: Waxmann 1998. mit Mitgefühl, um ihre Bedeutung zu verdeutlichen, ihre Intentionen 54 Benson, Peter / Spilka, Bernard: God Image as a Function of zu unterstützen, und mit ihnen eine Wirkung zu erzeugen, deren Ein- Self-Esteem and Locus of Control. Journal for the Scientific Study of druck auf die Seele so anziehend ist, dass Emotion und Gefühl erfasst Religion 12/3 (1973) 297–310. werden.“ Benzine [Anm. 69], 150. 55 Vgl. Murken 1998 [Anm. 53]. 80 Die doppelte Wahrnehmung der je eigenen Lebenswelt meint hier, 56 Benson und Spilka befragten in ihrer Studie 128 katholische Schüle- dass anscheinend viele MuslimInnen in Österreich mit ihren eigenen rInnen im Durchschnittsalter von 15 Jahren. Im Zusammenhang mit Traditionen konfrontiert sind, an denen aus sinnstiftenden Gründen den Selbstwertgefühlen interessierten sie sich für die Vorstellung von festzuhalten ist und einer Umwelt, die auf diese Traditionen wenig einem Vater-Gott. Murken untersuchte bei 465 PatientInnen im bis gar keinen Wert legt. Diese Spannung, die sich z.B. an Ramadan Durchschnittsalter von 39,8 Jahren den Zusammenhang zwischen und Schule aufzeigen ließe ist natürlich nicht durch Forschung allein psychischer Gesundheit und Gottesbeziehung. aufzuheben, wohl aber kann islamisch-theologische Forschung einen

ÖRF 23 (2015) • 73–86 85 Beitrag zur Reflexion der jeweiligen religiösen und nichtreligiösen Autoreninformation Praxen ermöglichen. Inwiefern solche Ergebnisse dann wirklich in der Praxis Verwendung finden, lässt sich an dieser Stelle natürlich Univ.-Prof. Dr. Ednan Aslan nicht sagen. Zentrum für LehrerInnenbildung Porzellangasse 4 81 Hug, Theo / Poscheschnik, Gerald: Empirisch Forschen. Die Pla- nung und Umsetzung von Projekten im Studium, Wien: Verlag Huter A-1090 Wien & Roth 2010. e-mail: [email protected] 82 Vgl. ebd., 41 ff. PD Dr. Thomas Weiß 83 Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I - Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Sie- Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien beck 1990. Institut für Religionspädagogik Schenkenstraße 8-10 84 Müller, Peter / Dierk, Heidrun / Müller-Friese, Anita: Verstehen lernen. Ein Arbeitsbuch zur Hermeneutik, Stuttgart: Calwer 2005. A-1010 Wien e-mail: [email protected] GND: 1053744919

86 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Silvia Habringer-Hagleitner / Philipp Klutz

Wandelt sich die Vorstellung von einem guten Religionslehrer? Das Linzer Forum Religionspädagogik im Diskurs mit Thesen Rudolf Englerts die autorin der autor HSProf.in Mag.a Dr.in habil. Silvia Habringer-Hag- MMag. Dr. Philipp Klutz, Universitätsassistent am In- leitner, Leiterin des Instituts Ausbildung für Reli- stitut für Katechetik, Religionspädagogik und Päda- gionslehrerInnen der Pädagogischen Hochschule gogik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ka- der Diözese Linz, internationale Lehrbeauftrage tholischen Privat-Universität Linz. des Ruth Cohn Institute for TCI-international.

Abstract Das im Frühjahr 2015 gegründete ‚Linzer Forum Religionspädagogik‘ verfolgt das Anliegen, aktuelle Fragen von Religion und Bildung zu diskutieren und in das öffentliche, allgemeinpädagogische und theologische Bewusstsein zu bringen. Bei der Auftakt- veranstaltung des Forums referierte Rudolf Englert über die gewandelte Vorstellung von einem guten Religionslehrer. Der Beitrag greift zentrale Thesen dieses Referats auf und reflektiert diese vor dem Hintergrund des Studientags. Zunächst diskutiert er das Bild der Religionslehrerin/des Religionslehrers als Glaubenszeugin/-zeuge und zeigt auf, dass dieses durch eine Vielzahl an Span- nungen charakterisiert ist. Außerdem geht der Artikel der Frage nach, welche Theologie (zukünftige) ReligionslehrerInnen benö- tigen, damit Religion als Bildungsfach an der Schule relevant bleibt und als solches wahrgenommen wird. Schlagworte: Religion, Bildung, Religionslehrer, Religionslehrerin, Theologie

Is the job profile of a good RE teacher changing? The association ‘Linzer Forum Religionspädagogik’ in discourse with Rudolf Englert’s theses: The association ‘Linzer Forum Religionspädagogik’ – established in spring 2015 – aims to discuss current issues concerning reli- gion and its education and to promote them in public, educational and theological spheres. At its kick-off event Rudolf Englert gave a lecture on the changed job profile of a good RE teacher. Considering the participants’ contributions to the discussion the article reflects central statements of Englert’s lecture. It initially refers to the metaphor of RE teacher as a ‘witness of faith’ and shows its different perceptions. Furthermore, the article discusses the following question: Which theological approaches do (future) RE teachers need so that RE remains a relevant subject at schools and is also recognized as such? Keywords: Religion, Education, Teacher of religious education, Theology

1. Zur Gründungsidee des Linzer Forums Religi- lediglich unter dem Stichwort ‚interreligiöse Bildung‘ Gehör onspädagogik verschaffen. Die Instituts- bzw. BereichsleiterInnen sowie ihre MitarbeiterInnen der Linzer Aus- und Fortbildungsin- Am 19. März 2015 wurde das Linzer Forum Religions- stitute für Religionspädagogik Ilse Kögler und Philipp Klutz pädagogik im Rahmen eines Studientages mit Rudolf Eng- (KU Linz1), Silvia Habringer-Hagleitner und Gertraud Neu- lert zum Thema ‚Religionslehrer/-in sein in einer pluralen hofer (PH DL,2 Institut Ausbildung Religion) sowie Maria Gesellschaft. Vom Wandel eines Berufsbildes‘ aus der Taufe Trenda und Gerhard Weißhäupl (PH DL, Bereich Fort- und gehoben. Anstoß dazu waren die diversen Diskussionen in Weiterbildung) sahen sich durch diese und ähnliche Pro- Curricularkommissionen im Zuge der ‚PädagogInnenbil- zesse veranlasst, der Religionspädagogik in der Diözese Linz dung NEU‘, welche zeigten, dass die Religionspädagogik (und vielleicht auch darüber hinaus) eine stärkere Präsenz Gefahr läuft, an den Rand der LehrerInnenausbildung zu verleihen. Leitend waren dabei drei Aspekte: eine Her- gedrängt zu werden. Wenn beispielsweise bislang im Rah- ausforderung, eine kommunikative Erfahrung und eine men der human- und erziehungswissenschaftlichen Studien Vision. an den Pädagogischen Hochschulen Religionspädagogik Die Herausforderung besteht in drängenden Fragen: einen festen Platz innehatte, so konnte sie sich nunmehr Wie können wir der Religionspädagogik (als Wissenschaft

Silvia Habringer-Hagleitner / Philipp Klutz: Wandelt sich die Vorstellung von einem guten Religions- lehrer? Das Linzer Forum Religionspädagogik im Diskurs mit Thesen Rudolf Englerts • 87 ÖRF 23 (2015), 87–92 einerseits, als praktisches Handeln vor Ort andererseits) womit eine Veränderung im unterrichtlichen Rollenver- mehr Gewicht verleihen? Wie können wir stärker in das ständnis konstatiert werden könne. 4. Es sei ein Wandel im öffentliche und allgemeinpädagogische sowie theologische religionsunterrichtlichen Aufgabenverständnis festzustellen, Bewusstsein bringen, dass Religionspädagogik eine wichtige der sich darin ausdrücke, dass ReligionslehrerInnen ihre Aufgabe und Funktion für eine plural gewordene schulische Aufgabe nicht (primär) in der Verkündigung des Glaubens Wirklichkeit hat? Wie können wir deutlich machen, dass es sehen, sondern in der Vermittlung von Werten.3 Insgesamt im schulischen religionspädagogischen Handeln um die geht es Englert in seinen „Beobachtungen nicht darum, Ver- Mitarbeit am globalen Projekt der Humanisierung von luste zu beklagen, sondern einen Wandel sichtbar zu Weltwirklichkeit geht? Im Zuge der Entwicklungen um die machen. Es geht nicht in erster Linie darum festzustellen, ‚PädagogInnenbildung NEU‘ haben wir in den diözesanen dass heutige Religionslehrer/innen einem überkommenen Aus-, Fort und Weiterbildungsinstitutionen der PH DL und Anforderungsmodell immer weniger noch entsprechen – der KU Linz erfahren, dass uns die inhaltliche Zusammenar- dass sie dies nicht mehr sind und jenes nicht mehr tun. Es beit bereichert und stärkt. Deshalb soll es zukünftig regel- geht vor allem darum zu erkennen, was an die Stelle des mäßig Tagungen geben, zu denen die Beteiligten aller drei alten Anforderungsmodells an Neuem getreten ist.“4 Dass Institutionen (LehrerInnen aus allen Schulstufen und Schul- derartige Beobachtungen für reichlich Diskussionsstoff sor- typen, Studierende und Lehrende aller religionspädagogi- gen, wurde am Studientag in den Anfragen an den Referen- schen Studienrichtungen sowie darüber hinaus mit Religi- ten sowie in den Workshops ersichtlich. Für eine nicht onsunterricht befasste Interessierte wie InspektorInnen etc.) unbedeutende Zahl an StudientagsteilnehmerInnen sei Eng- zusammenkommen und über die anstehenden Themen im lerts Wahrnehmung, das Selbstverständnis der Religionsleh- Austausch von Praxis und Theorie diskutieren. Voneinander rerin/des Religionslehrers umfasse nicht mehr die Rolle der wissen, voneinander lernen, miteinander Neues entwickeln Glaubenszeugin/des Glaubenszeugen, deutlich zu hinterfra- ist das Anliegen dieses religionspädagogischen Netzwerkes. gen. Durchaus sehen sie sich selbst als Zeugin/Zeuge des Verbunden damit ist die Vision, dass wir als Linzer Forum Glaubens und betrachten diese Dimension im Religionsun- Religionspädagogik zu einer ‚Denk-Werkstatt‘ für die aktu- terricht als essentiell und als ein von anderen Schulfächern ellen Fragen von Religion und Bildung vor Ort werden. Eine unterscheidendes Merkmal. Die Dissonanz zwischen Eng- ‚Denk-Werkstatt‘, welche Praxis und Theorie verbindet, eine lerts These und dem Selbstverständnis der Tagungsteilneh- ‚Denk-Werkstatt‘, die im jesuanischen Sinn immer folgendes merInnen betrachten wir als ein produktives Moment, sich Anliegen verfolgt: die SchülerInnen mit ihrer Lebensrealität, diesem Thema in einer eigenen Reflexion vertiefend – im ihren Herzensfragen, aber auch ihren Erfolgen und Weishei- Rahmen eines solchen Beitrags jedoch nicht in ausschöpfen- ten in den Mittelpunkt zu stellen – und mit ihnen im Hier der Weise – zu widmen. und Jetzt zu leben sowie nach einer guten Zukunft zu Englert stützt seine These mithilfe empirischer Studien suchen. und kommt zu zwei zentralen Befunden: Zum einen nehme die Kirchlichkeit der ReligionslehrerInnen ab, zum anderen 2. ReligionslehrerInnen als GlaubenszeugInnen – gebe es einen Wandel in der religionsunterrichtlichen Pra- ein Spannungsverhältnis xis. Für den ersten Befund spreche, dass eine beachtliche Zahl von ReligionslehrerInnen am kirchlichen Leben nicht Im Rahmen des Studientages referierte Rudolf Englert mehr selbstverständlich teilnehme. Außerdem würden sich über signifikante Veränderungen im Selbst- und Aufgaben- diese nicht länger für eine Glaubenszeugenschaft in verständnis von ReligionslehrerInnen. Diese Veränderungen Anspruch nehmen lassen wollen, eine uneingeschränkte zeigen sich für ihn in vier Bereichen: 1. Die gesellschaftliche Identifikation mit der Kirche sei ihrerseits nicht gegeben Stellung der Religionslehrerin/des Religionslehrers habe sich und ihr Selbstverständnis sei vor allem durch den Lernort derart gewandelt, dass diese nicht länger lokale Autoritäten, Schule geprägt. Englerts zweiter Befund basiert auf den sondern legitimationspflichtige AnimateurInnen seien. Als Ergebnissen der Essener Unterrichtsforschung,5 in der mehr solche haben sie an der öffentlichen Schule ihr Fach unent- als 100 Religionsstunden analysiert wurden. Diese machen wegt zu begründen, indem sie seine allgemeinbildende für Englert deutlich, dass ReligionslehrerInnen in ihrem Bedeutung kommunizieren. 2. Es bestehe ein Wandel im Unterricht vor allem als sachkundige Lehrperson auftreten; religionspädagogischen Selbstverständnis, da die Rolle der ein persönliches Glaubenszeugnis ihrerseits fehle nahezu Glaubenszeugin/des Glaubenszeugen von jener der sach- gänzlich.6 Englerts These gibt zu denken; sie stimmt sogar kundigen Lehrperson abgelöst worden sei. 3. Die theologi- nachdenklich, wenn man sich angesichts der von ihm ange- sche Expertise trete zugunsten der Moderation religiöser führten signifikanten Veränderungen im Selbst- und Aufga- Lernprozesse zurück bzw. diese verschwinde gänzlich, benverständnis von ReligionslehrerInnen die Frage stellt,

88 Österreichisches Religionspädagogisches Forum wie es um die Zukunft des konfessionellen Religionsunter- für den Glauben unter Umständen geradezu Kritik an der richts bestellt ist, wenn die Konfessionalität der Lehrperson Kirche.“13 Mit einer solchen inhaltlichen Schärfung der für die SchülerInnen im Unterricht nicht sichtbar wird und Metapher steht Englert in der Tradition der Würzburger somit für religiöses Lernen auch nicht zur Verfügung steht. Synode, denn diese idealisiere das Bild der Religionslehre- Neben dieser durchaus brisanten Frage ist Englerts These rin/des Religionslehrers in keiner Weise. Die Synode ist sich insofern auch bemerkenswert, als sie ein Beispiel des aktuel- der Differenz zwischen Anspruch des Evangeliums und der len religionsdidaktischen Diskurses darstellt, in dem die konkreten Ausgestaltung der Kirche bewusst, sodass sich Dimension der Glaubenszeugenschaft von Religionslehre- „Liebe zur Kirche und kritische Distanz […] einander nicht rInnen erneut auftaucht und diskutiert wird.7 Diese Dimen- ausschließen [müssen]. Sie stehen zueinander in einem aus- sion hat ihre kirchenamtliche Grundlegung im Beschluss gewogenen Verhältnis, wenn mit der Kritikfähigkeit Hörbe- der Würzburger Synode zum Religionsunterricht in der reitschaft und selbstloses Engagement wachsen.“14 Es bleibt Schule (1974). Mit Blick auf die religiösen Lernprozesse der jedoch die Frage offen – diese wäre in einer eigenen Studie SchülerInnen solle, so der Synodentext, „[e]in Religionsleh- zu klären –, in welcher Weise diese Metapher in außerkirch- rer […] bereit sein, die Sache des Evangeliums zu seiner lichen Kontexten verstanden wird. Denn selbst innerhalb eigenen zu machen und sie – soviel an ihm liegt – glaubwür- des religionspädagogischen Diskurses finde sie – weniger dig zu bezeugen. So hilft er dem Schüler, im Evangelium wegen ihres Bedeutungsgehalts, als vielmehr wegen ihres eine Herausforderung zu erkennen und diese zu beantwor- „empathische[n] Tonfall[s]“15 – keine uneingeschränkte ten.“8 Damit verdeutlicht die Synode eindrücklich, dass das Zustimmung. Besteht z.B. an der öffentlichen Schule nicht Bezeugen des Evangeliums durch die Lehrperson nicht der die Gefahr, dass diese Metapher missverstanden, ja sogar als „kirchlichen Nachwuchssicherung“9 diene, sondern ganz im konträr zu grundlegenden religionsdidaktischen Einsichten Dienst der SchülerInnen stehe, um sie „zu verantwortlichem wie der Subjektorientierung und Aneignungsdidaktik aufge- Denken und Verhalten im Hinblick auf Religion und Glau- fasst werde? Gewinnt diese Gefahr nicht sogar an Brisanz, ben [zu] befähigen“.10 wenn mit ihr Assoziationen wie ‚Überzeugung‘ und ‚jeman- Diese Dimension bzw. Metapher habe – so Burrichter – den überzeugen wollen‘ auftauchen, die dann den Verdacht in der Rezeption jedoch eine in formaler und inhaltlicher schüren, es handle sich beim Religionsunterricht um eine Perspektive neue, teils problematische Akzentuierung erfah- Verlängerung des kirchlichen Arms, obendrein um Indok- ren. Während der Synodenbeschluss sich auf das Evange- trination? Dass diese Metapher im praktisch-theologischen lium beziehe, die Verbform ‚bezeugen‘ verwende und damit Kontext16 all dies nicht intendiert, zeigt bereits der Syno- die „Strukturen des interaktiven und kommunikativen Tuns dentext, der wie bereits angeführt, das Zeugnis der Lehrper- in unterrichtlichen Prozessen“ im Blick habe, werde in der son als bildende Dimension des Religionsunterrichts und im Rezeption diese Dimension/Metapher nominalisiert Dienst junger Menschen betrachtet. (‚Zeuge‘), womit die „Persönlichkeit und individuellen Hal- Insgesamt erscheint uns diese Metapher durch eine tungen und Kompetenzen der Lehrkraft“11 bzw. in den neu- Vielzahl an Spannungen charakterisiert zu sein: Während eren kirchenamtlichen Texten das Bezeugen der kirchlichen für Englert bei ReligionslehrerInnen die Dimension des Gemeinschaft/einer konkreten Konfession in den Fokus Glaubenszeugens verschwinde und kaum noch vorhanden rücke. Burrichter ist Recht zu geben, dass diese Entwicklung sei, sehen sich die TeilnehmerInnen an der Auftaktveran- mit ihrer teilweisen ekklesiozentrischen Ausrichtung trotz staltung des ‚Linzer Forums Religionspädagogik‘ durchaus der nachvollziehbaren Argumentationslogik der Rezipien- auch als ZeugInnen des Glaubens. Dieses spannungsreiche tInnen „angesichts gegenwartsaktueller Fragen zu religiösen Verhältnis zeigt sich ebenso in der kirchenamtlichen Grund- Ausgangslagen von Kindern und Jugendlichen, angesichts legung dieser Metapher in der Würzburger Synode und der Herausforderungen bezüglich konfessioneller und inter- ihrer teilweisen problematischen Rezeption. Schließlich religiöser Kooperation im schulischen Kontext und ange- baue sich eine weitere mögliche Spannung zwischen religi- sichts des pädagogisch-religionspädagogischen Selbstver- onspädagogischem Diskurs und außerkirchlichen Kontexten ständnisses der Lehrkräfte auf den Prüfstand zu stellen“12 auf, insofern diese Metapher in diesen eventuell missver- sei. In einer derartigen Prüfung stellt sich u.E. unweigerlich standen werden könnte. Einen möglichen Ausweg aus dieser die Frage, in welchen außerkirchlichen Kontexten die Meta- Vielzahl an spannungsreichen Geflechten sehen wir in der pher der Glaubenszeugin/des Glaubenszeugen eine ver- Rückbesinnung auf die Würzburger Synode und ihrer klaren ständliche Redeweise darstellt. Für Englert sei sie z.B. im Beschreibung der Religionslehrerin/des Religionslehrers: schulischen Kontext „nur dann sinnvoll, wenn klar wird: „Für den Religionslehrer sind infolgedessen Religiosität und Ein Zeuge des Glaubens ist nicht einfach das gleiche wie ein Glaube nicht nur ein Gegenstand, sondern auch ein Stand- Repräsentant der Kirche. Vielmehr fordert die Zeugenschaft ort. Das hindert ihn nicht, fair mit verschiedenen Stand-

ÖRF 23 (2015) • 87–92 89 punkten und Auffassungen anderer bekannt zu machen. Bei Pädagogik, aber auch erzählend und mit den Kindern fei- ihm wissen Schüler, Eltern und Gesellschaft, woran sie sind. ernd. Wieweit damit allerdings auch ein erstes kritisch-theo- Auf solche Transparenz haben sie einen Anspruch. Erst in logisches Hinterfragen mit den 6- bis 10-Jährigen eingeübt der Begegnung mit einer Person, die sich entschieden und wird, wurde im Rahmen dieser Diskussion nicht angespro- eine Glaubensposition für sich verbindlich gemacht hat, chen. Ob ein früh gefördertes eigenständiges Theologisieren erfährt der Schüler, daß religiöse Fragen den Menschen vor mit Kindern – im Sinne des Konzepts der Kindertheologie die Entscheidung stellen. Ein Lehrer ohne eigene Glaubens- – zu einem nachhaltigen und in der Sekundarstufe spürbar position würde den Schülern nicht das gewähren, was er größeren Interesse an theologischen Deutungsmustern ihnen in diesem Bereich schuldet.“17 führt, wurde an dieser Stelle ebenfalls nicht erörtert. Ent- sprechende empirische Nachhaltigkeitsforschungen könnten 3. Vom theologischen Experten zum Moderator hier wohl Aufschluss geben. religiöser Lernprozesse oder doch zu einer neuen Ein Workshop widmete sich dezidiert der Frage: „Was theologischen Sprachbildung? hilft mir mein theologisches Fachwissen im Religionsunter- richt und in der Schule? Wieviel Theologie braucht es zum In seinem Vortrag vertrat Rudolf Englert des Weiteren Unterrichten?“ Die TeilnehmerInnen dieser Gruppe, die die These, dass im gegenwärtigen Religionsunterricht die sich vorwiegend aus SekundarstufenlehrerInnen sowie Reli- theologische Expertise zugunsten der Moderation religiöser gionspädagogikstudierenden zusammensetzte, arbeiteten im Lernprozesse zurücktrete bzw. gänzlich verschwinde, womit Gegensatz zu der von Englert vertretenen These ein deutli- eine Veränderung im unterrichtlichen Rollenverständnis ches Interesse an theologischen Fragestellungen und Kon- konstatiert werden könne. „Der konfessionelle Religionsun- zepten heraus. Gleichzeitig wurde aber festgestellt, dass die terricht erhebt den Anspruch, die religiösen Suchbewegun- im Studium kennengelernte Theologie mit ihrer Sprache gen der Schülerinnen und Schüler durch eine Fachfrau oder aber auch ihren Inhalten vielfach nicht für die Schule ausrei- einen Fachmann mit hohem Sachverstand zu begleiten. che bzw. gar nicht brauchbar sei. Schlimmer noch, so man- Doch es scheint, als sei mindestens die theologische Exper- ches im Theologiestudium zu Erlernende fände auch bei tenschaft ein Punkt, der im Selbstverständnis heutiger Reli- den Studierenden selber keinen Nachklang, sei lebensprak- gionslehrerinnen und -lehrer keine so große Rolle mehr tisch bedeutungslos. „Wir brauchen mehr persönliche theo- spielt. […] Die älteren Religionslehrerinnen und -lehrer logische Diskussionen und Auseinandersetzungen!“ so der hielten einen gut ausgebildeten theologischen Sachverstand Tenor der TeilnehmerInnen. Diese Gruppe kam mit einer für das Gelingen von Religionsunterricht für erheblich wich- neuen Fragestellung in das Plenum zurück, nämlich: „Wel- tiger als die jüngeren. […] In den letzten Jahren aufgezeich- che Theologie brauchen wir, um wirklich gut unterrichten nete Unterrichtsreihen zeigen Religionslehrerinnen und zu können?“ Im Anschluss daran fragen wir im Rahmen -lehrer, die weitgehend dem derzeit propagierten Lehrer- dieses Beitrages: Welche Theologie benötigen (zukünftige) ideal entsprechen: dem Ideal eines sich im unterrichtlichen ReligionslehrerInnen, damit Religion als Bildungsfach an Prozess stark zurücknehmenden Moderators. Diese Lehre- der Schule relevant bleibt und als solches wahrgenommen rinnen und Lehrer sind vor allem Arrangeure von Lernpro- wird? Damit greifen wir einen Punkt auf, den Englert auch zessen: sie laden die Schüler/innen ein, sich – häufig in For- in seinen Statements bereits anklingen ließ: Es gibt ein Desi- men offener Arbeit – mit verschiedenen Medien, Impulsen, derat der Religionspädagogik in Richtung theologischer Arbeitsaufgaben usw. auseinanderzusetzen. […]. In ihrer/ Fachwissenschaften: „Und wenn die Theologie ihre Deu- seiner Funktion als fachliche und vor allem als theologische/ tungshoheit im Bereich religiöser Fragen verliert und Reli- theologischer Expertin/Experte tritt die Lehrerin/der Lehrer gion zum Spielfeld ‚wilden Denkens‘ wird, verändert dies dabei weitgehend zurück.“18 Im Laufe der anschließenden auch die Situation der Religionslehrerin/des Religionsleh- Diskussionen und Workshops wurde deutlich, dass diese rers. Dass so etwas wie Theologie Heranwachsenden helfen These für jene im Auditorium vertretenen Religionslehr- kann, sich einen Reim auf ihr Leben zu machen, ist dann kräfte sowie auch für die sich auf den Beruf vorbereitenden nicht leicht zu zeigen – erst recht, wenn die Theologie so Studierenden pauschal so nicht zutrifft. Die oberösterreichi- kompliziert daherkommt, wie es häufig der Fall ist.“19 Es schen PrimarstufenlehrerInnen etwa sehen ihre Rolle darin, braucht, so meinen wir auch im Sinne der Tagungsteilneh- für ihre SchülerInnen als BrückenbauerInnen zu fungieren. merInnen des Linzer Forums Religionspädagogik sagen zu D.h. sie wollen mittels biblischer Geschichten und der theo- können – neue theologische Konzepte für religionsunter- logischen Deutung der Feste des Kirchenjahres einen ersten richtliches Handeln. Die Religionspädagogik braucht die Einblick in die christliche Religion geben. Sie tun dies viel- fachwissenschaftliche Unterstützung systematisch-theologi- fach mit Methoden einer ganzheitlichen, sinnenorientierten scher und bibelwissenschaftlicher KollegInnen: KollegIn-

90 Österreichisches Religionspädagogisches Forum nen, die ausgehend von realen Fragen, Ängsten, Hoffnungen Analyse der Welt. Wer Wissenschaft betreiben will, muss der Kinder und Jugendlichen, ausgehend von den Lebens- seine Sinne gebrauchen und die Welt erfahren. […] Aller- welten der SchülerInnen, aber auch ausgehend von deren dings sagt Bacon auch deutlich, dass diese Erfahrung zwei spirituell-theologischen Vorstellungswelten theologisch zu Seiten hat: eine äußere Erfahrung, Sinneserfahrung, die der denken und zu reflektieren beginnen. Es braucht Konzepte, sinnlichen Welt zugewandt ist, und eine innere Erfahrung, welche ermutigen, die diversen, kontextuell höchst unter- die der inneren Welt zugewandt ist. In Letzterer machen wir schiedlichen Schulwirklichkeiten theologisch deuten zu ler- geistliche, spirituelle Erfahrungen, […].“22 Und weiter meint nen. Es braucht neue prophetisch-kritische Konzepte, die er: „Wissenschaft zielt auf die ganze Wirklichkeit ab. Wird sich getrauen Klartext zu reden in Bezug auf Bildungsideo- die Spiritualität aus dieser Wirklichkeit ausgeblendet, wird logien, welche sich vorwiegend marktwirtschaftlichen Inter- die Wissenschaft ihrer eigenen Zielsetzung nicht gerecht.“23 essen beugen. Rudolf Englert greift in diesem Zusammen- Dasselbe lässt sich wohl auch für die Theologie als Wissen- hang in seinem Buch ‚Religion gibt zu denken‘ sehr differen- schaft geltend machen. Wenn wir – wie es Rudolf Englert tut ziert aber doch eine Kritik des Dogmatikers Thomas Ruster – „das lebendige Interesse an religiösen Fragen“ als Anforde- auf, welcher die Erfolglosigkeit des Religionsunterrichts in rungsprofil für ReligionslehrerInnen formulieren, dann den letzten Jahrzehnten nicht den ReligionslehrerInnen son- braucht es in der Aus- und Weiterbildung Bezugsmöglich- dern der systematischen Theologie anlastet: „Gleichwohl keiten auf theologische Konzepte, welche persönliche bleibt bedenkenswert, was Ruster zum Informationsgehalt Lebens- und Glaubenserfahrungen als theologische Orte und zur Auskunftsfähigkeit der Theologie sagt. Denn man ernst nehmen.24 Als Aus-, Fort- und Weiterbildungsinstitu- wird schon fragen müssen, ob die bei Schüler/innen vielfach tionen können wir TheologInnen zu einem neuen Diskurs spürbare Unlust, sich mit theologischen Konzepten ausein- einladen und erste Schritte in Richtung einer intensiveren anderzusetzen, und die oftmals geringe Nachhaltigkeit sol- persönlich-theologischen Auseinandersetzung von und mit cher Auseinandersetzungen nicht tatsächlich auch mit der ReligionslehrerInnen fördern, welche zu einer neuen spiri- Unterscheidungsschwäche der Theologie zusammenhängen. tuell-theologischen Sprachbildung verhelfen. Religionspäda- Ob sie nicht vielleicht auch damit zu tun haben, dass der gogInnen haben sich in der Schule als pädagogische Exper- Klärungs- und Orientierungswert theologischer Konzepte in tInnen zu beweisen und finden ihre Handlungsbezüge in einem mitunter wirklich prekären Verhältnis zu dem Wort- diversen didaktischen und bildungstheoretischen Konzepti- reichtum und der Emphase stehen, mit denen diese präsen- onen. Zeitweise greifen sie allerdings nur mit berechtigtem tiert werden.“20 In den Gesprächen mit Studierenden der Widerstand und zugehörigem Zögern aktuelle Anforderun- Religionspädagogik zeigt sich erfahrungsgemäß immer wie- gen – wie etwa das Konzept der Kompetenzorientierung der eine beklagte Kluft zwischen einer auf kognitiver Ebene oder der standardisierten Reifeprüfung auf. Die theologi- bleibenden fachtheologisch-wissenschaftlichen Auseinan- sche Begründung für dieses Zögern schwebt dabei unausge- dersetzung und der Suche nach einer die persönliche sprochen im Raum, wird nicht laut und produktiv. Zu theo- Lebensgeschichte und Spiritualität reflektierenden Theolo- logischen ExpertInnen können die Religionslehrkräfte wer- gie. Letztere wird ersehnt und wenig gefunden. Hier stoßen den, wenn ihnen die Theologie auch entsprechende neue, wir auf eine Differenzierung, welche die traditionelle dog- gesellschafts- und lebensweltsensible, die pädagogischen matische Theologie über Jahrhunderte weg nicht aufzulösen Diskussionen aufgreifende Klärungshilfen bereitstellt. Tut vermochte, und die wir im Rahmen dieses Artikels nur sie das nicht, bleiben sie auf ‚Eigenbau‘ angewiesen. So etwa andeuten können: die Trennung von Theologie und Spiritu- bräuchte es gegenwärtig eine systematisch-theologische alität, welche sich auf die Trennung von Wissenschaft und Auseinandersetzung mit dem von der UNESCO weltweit Erfahrung zurückführen lässt.21 Interessanterweise wurden ausgerufenen Bildungskonzept der Inklusion, welches etwa in den letzten zehn Jahren vermehrt Stimmen aus anderen grundlegend für die Curricula der PädagogInnenbildung Wissenschaftsbereichen wie Psychologie, Medizin und Neu- NEU in Österreich ist. Aus theologischer Perspektive gäbe robiologie laut, welche für eine Integration spiritueller es gerade angesichts kritischer Stimmen dazu einiges inhalt- Erfahrungen in die Wissenschaft plädieren. Mit Rekurs auf lich Motivierendes beizutragen, was auch eine Inklusive einen der Urväter der experimentellen, empirischen Wis- Religionspädagogik beflügeln könnte.25 senschaften, den Franziskaner Roger Bacon (13. Jh.), zeigt Zusammenfassend können wir sagen, dass der Studien- Harald Walach auf, dass an der Wiege der europäischen tag in Linz die Kontextualität empirischer, religionspädago- Wissenschaft ein doppelter Erfahrungsbegriff leitend war: gischer Erkenntnisse deutlich machte. Dies schmälert nicht „Roger Bacon, am Anfang der abendländischen Wissen- die Bedeutung dieser Studien, sondern kann die Religions- schaft stehend, macht Propaganda für Erfahrungswissen- lehrerInnen vor Ort ermutigen, ihre je konkrete Situation schaft, gegen eine rein intellektuell-rationale philosophische immer wieder neu zu reflektieren, ihren Unterricht in for-

ÖRF 23 (2015) • 87–92 91 schender Haltung zu gestalten und ihre daraus folgenden 18 Englert 2015 [Anm. 3], 297 [Hervorhebungen im Original]. Erkenntnisse auch zur Sprache zu bringen. 19 Ebd., 294. 20 Englert, Rudolf: Religion gibt zu denken. Eine Religionsdidaktik in 19 Lehrstücken, München: Kösel 2013, 25. Anmerkungen 21 Vgl. Walach, Harald: Spiritualität und Wissenschaft, in: Hüther, 1 Katholische Privat-Universität Linz. Gerald / Roth, Wolfgang / von Brück, Michael (Hg): Damit das 2 Pädagogische Hochschule der Diözese Linz. Denken Sinn bekommt. Spiritualität, Vernunft und Selbsterkenntnis, 6 3 Englert, Rudolf: Die Vorstellung von einem guten Religionslehrer Freiburg im Breisgau u.a.: Herder 2013, 77–96. wandelt sich, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 163 (2015) 22 Ebd., 80. 290–300, 293–300. 23 Ebd., 92. 4 Ebd., 296. 24 Ansätze dazu finden sich etwa in der von Jochen Hilberath, Matthias 5 Vgl. Englert, Rudolf / Hennecke, Elisabeth / Kämmerling, Markus: Scharer u.a. konzipierten ‚Kommunikativen Theologie‘. Vgl. dazu Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – grundlegend Scharer, Matthias / Hilberath, Bernd Jochen: Kom- 2 Konsequenzen, München: Kösel 2014. munikative Theologie. Eine Grundlegung, : Grünewald 2003 6 Vgl. Englert 2015 [Anm. 3], 294–297. (= Kommunikative Theologie 1); vgl. Hilberath, Bernd Jochen / 7 Vgl. u.a. Englert, Rudolf: Der Religionslehrer – Zeuge des Glau- Scharer, Matthias (Hg.): Reihe ‚Kommunikative Theologie‘ (Bde bens oder Experte für Religion?, in: Religionspädagogische Beiträge 1–16), Mainz: Grünewald 2002–2012; vgl. Hilberath, Bernd Jochen 68 (2012) 77–88; Burrichter, Rita: „Zeugen bürgten für Brücken- / Hinze, Bradford / Scharer, Matthias (Hg.): Reihe ‚Kommunikative bau“, in: Katechetische Blätter 138 (2013) 8–12; Bucher, Anton A.: Theologie interdisziplinär / Communicative Theology - Interdiscipli- Zuerst beobachten, dann bezeugen. Der Primat der Empirie in der nary Studies‘ (Bde 1–18), Münster: LIT 2004–2015. Religionspädagogik, in: Religionspädagogische Beiträge 71 (2014) 25 Bei dem Ruf nach inklusiver Bildung, nach einer „education for all“ 27–35; Gaus, Edeltraud / Biesinger, Albert: Zeugniskompetenz im (UNESCO, 1990) handelt es sich um eine weltumspannende Vision, Fokus. Vom Primat des Zeugnisgebens im Religionsunterricht, in: die sich gegen Verarmung und für Beteiligungsgerechtigkeit einsetzt. Religionspädagogische Beiträge 71 (2014) 36–44. Es handelt sich um ein friedenspolitisch motiviertes globales Projekt, 8 Bertsch, Ludwig u.a. (Hg.): Gemeinsame Synode der Bistümer in dem die Menschenrechte und die demokratische Idee zugrunde lie- der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. gen. Doch kann mit dem Verweis auf einen allgemeinen Rechtsan- Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg im Breisgau u.a.: Herder 1976, spruch oder ein allgemeines Menschenrecht genug Motivation für 147. inklusives Handeln in Bildungseinrichtungen entstehen? Was moti- 9 Ebd., 141. viert LehrerInnen und PädagogInnen in der Realität tatsächlich inklu- 10 Ebd., 139. siv zu handeln? Was kann aus theologischer Sicht zu inklusiver Päda- 11 Burrichter 2013 [Anm. 7], 10. Burrichter bezieht sich in der Rezep- gogik gesagt werden? Der Beantwortung dieser und weiterer Fragen tion des Begriffs auf Arbeiten von Adolf Exeler, Annette Mönnich könnten PädagogInnen Schubkraft geben und inklusive Religionspäd- sowie auf neuere kirchenamtliche Dokumente zum Religionsunter- agogik zu einem unverzichtbaren Teil inklusiver Bildung werden las- richt der deutschen Bischofskonferenz. Vgl. Exeler, Adolf: Der Reli- sen. Vgl. Wegner, Gerhard: Inklusion braucht tragende Beziehungen gionslehrer als Zeuge, in: Katechetische Blätter 106 (1981) 3–14; – Kirchen als Inklusionsagenten in der Gesellschaft, in: Pithan, Mönnich, Annette: Der Religionslehrer. Glaubenszeuge als persona- Annebelle / Wuckelt, Agnes / Beuers, Christoph (Hg.): „…dass alle les Medium im Religionsunterricht der Sekundarstufe II, Altenberge: eins seien“. Im Spannungsfeld von Exklusion und Inklusion, Müns- Telos (= Münsteraner theologische Abhandlungen 4). ter: Comenius-Institut 2013, 25f (= Forum für Heil- und Religionspä- 12 Burrichter 2013 [Anm. 7], 12. dagogik 7). 13 Englert 2012 [Anm. 7], 83 [im Original kursiv]. 14 Bertsch 1976 [Anm. 8], 148. AutorInneninformation 15 Englert 2012 [Anm. 7], 77. Englert äußert die Vermutung, dass HSProf.in Mag.a Dr.in habil. Silvia Habringer-Hagleitner „man ‚Zeuge des Glaubens‘ in der gegenwärtigen Religionsdidaktik Institut für Ausbildung von ReligionslehrerInnen mehrheitlich wohl nicht als angemessene Beschreibung der Aufgabe Salesianumweg 3 des Religionslehrers betrachtet. „[…] Vielleicht, das wäre zu prüfen, A-4020 Linz ist es ja nur der empathische Tonfall, der den ‚Glaubenszeugen‘ ein e-mail: [email protected] wenig gestrig erscheinen lässt. Denn die Sache selbst, so könnte man GND: 135950082 denken, dass nämlich da einer oder eine bereit ist, einzustehen für die Botschaft des Glaubens, diese Sache könne ja wohl in Anbetracht der MMag. Dr. Philipp Klutz Konfessionalität des Religionsunterrichts gar nicht zweifelhaft sein.“ Katholische Privat-Universität Linz Ebd., 77. Bethlehemstraße 20 16 Vgl. Biesinger, Albert: Art. Zeugnis, Zeugenschaft, IV. Prak- A-4020 Linz tisch-theologisch, in: LThK3 10 (2001) 1444. e-mail: [email protected] 17 Bertsch 1976 [Anm. 8], 147. GND: 105373926

92 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Annegret Reese-Schnitker

Biografie als grundlegende Kategorie religions- pädagogischer Forschung Ein Forschungs- und Literaturbericht die autorin Dr.in Annegret Reese-Schnitker, Professorin für Religionspädagogik an der Universität Kassel.

Abstract Der Beitrag gibt einen Überblick über die in der religionspädagogischen Landschaft vorliegenden Arbeiten zum biografischen Lernen und Forschen. Zunächst wird die Eigenart biografischen Lernens aufgezeigt und historisch verortet. Danach werden religi- onspädagogische Entwürfe vorgestellt, bei denen die biografische Perspektive grundlegend ist. Zentrale Thesen bezüglich des gegenwärtigen Potenzials biografischen Lernens schließen den Beitrag bilanzierend ab. Schlagworte: Biographie, Lernen, Religionspädagogik, Religion

Biography as a fundamental category of research in the field of religious education. A research and literature report The article presents an overview of the current literature about biographical learning and research in the field of religious educa- tion. At first it illustrates the characteristics of biographical learning and their historical context. After that, it introduces relevant concepts for which the biographical perspective is fundamental. The article is concluded by essential theses with regard to the current potential of biographical learning. Keywords: Biography, Learning, Religious education, Religion

as zunehmende religionspädagogische Interesse an -graphie von γράφω, gráphō ‚ritzen, malen, schreiben‘). Bio- einer biografischen Perspektive verdeutlicht, dass der grafie kann erstens das Buch bezeichnen, in dem schriftlich DBlick auf das Individuum und die damit einherge- der Lebenslauf eines Menschen geschildert wird oder zwei- hende Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Vielfalt an tens die mündlich erzählte Lebensgeschichte eines Men- Lebensentwürfen grundlegend für religionspädagogische schen, die eine reflektierte Gestalt des Lebens darstellt. Eine Theoriekonzepte sind. Aktuelle religionspädagogische Kon- Biografie konstituiert sich jedes Mal neu, indem sie münd- zepte basieren auf der Grundannahme, dass heutzutage lich oder schriftlich erzählt wird. jedes sinnvolle (religiöse) Lernen ein biografisches Lernen In biografischen Erzählungen muss streng unterschie- ist. Lernend schreiben die Menschen den gemachten Erleb- nissen Sinn zu, sie deuten das neu Erlebte und verknüpfen den werden zwischen den tatsächlichen Erlebnissen und es mit ihrer Lebensgeschichte. Ohne die lebensgeschichtli- den nachträglich konstruierten Erfahrungen: „Die Biogra- che Relevanz des zu Erlernenden und eine vom Subjekt phie, die ‚man hat‘, die das gelebte Leben selbst meint, ist selbst aktiv herzustellende Einschreibung in die eigene immer schon eine – wie auch immer – reflektierte Gestalt Lebensgeschichte findet somit kein nachhaltig religiöses des Lebens. Die Biographie, die man hat, hat mit der Lernen statt. geschriebenen Biographie dies gemeinsam, dass sie die Unmittelbarkeit gelebten Lebens verlassen und die Ebene 1. Etymologische, theologische und historische der Reflexion über das Leben betreten hat. Denn auch die Verortung Biographie, die ‚man hat‘, ist nicht einfach (mit dem Lebens- ‚Biografie‘ wird in der Regel mit ‚Lebensgeschichte‘ vollzug) gegeben, sondern [...] ‚gemacht‘, hergestellt (Poie- übersetzt (griechisch: βιογραφία, von βίος, bíos ‚Leben‘ und sis), konstruiert – im nichtwörtlichen Sinne: geschrieben.“1

Annegret Reese-Schnitker: Biografie als grundlegende Kategorie religionspädagogischer Forschung. Ein Forschungs- und Literaturbericht • ÖRF 23 (2015), 93–99 93 Inzwischen werden die Begriffe ‚Biografie‘ und ‚biogra- 2. Biografizität als herausfordernde Aufgabe fisches Lernen‘ in verschiedenen Kontexten verwendet, oft Angesicht der Herausforderungen der Moderne, den inflationär und nicht einheitlich. Prozessen zunehmender Ausdifferenzierung, Pluralisierung Ein biografischer Bezug ist der christlichen Theologie und Individualisierung ist das einzelne Individuum aufge- in ihrem Gegenstand schon lange vorgegeben. Die Bibel ent- fordert, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt hält zahlreiche Erzählungen, in denen von den Lebensge- heute keine standardisierten Biografiemuster, an denen sich schichten einzelner Menschen und ihrer Beziehung zu Gott Heranwachsende orientieren könnten. Es ist Zwang und berichtet wird. Die Wertschätzung einzelner Lebensent- Chance zugleich, das eigene Leben selbst zu gestalten, den würfe ist im Zentrum christlicher Lehre verortet: Christus Lebenserfahrungen einen eigenständigen, möglichst homo- selbst hat sich mit seiner befreienden Botschaft dem einzel- genen Sinn zuzuschreiben. In diesem sich ständig wandeln- nen Menschen zugewendet.2 Die Biografie ist dabei das den, spannungsreichen und widersprüchlichen Nebeneinan- Medium, in dem der Einzelne sich als Fragender und Glau- der von Lebenswelten und Weltdeutungen stellt die Aufgabe bender erfährt. Die Biografie des einzelnen kann damit auch der Biografizität einen anspruchsvollen, teilweise belasten- bei gegenwärtigen Menschen im weitesten Sinne die Erzäh- den und überfordernden Lebensauftrag dar. Herausfordernd lung einer Beziehung sein, der konkreten Ausgestaltung der ist die Frage, „wie in solchen zerrissenen Lebenszusammen- Beziehung zu Gott. Der einzelne Mensch mit seinen Fragen hängen ‚identisches‘ Leben gewahrt, wie in ihnen die Ein- und Erfahrungen sollte daher zugleich Ausgangspunkt und heit und Kontinuität einer persönlichen Lebensgeschichte Zielperspektive katechetischen und religionspädagogischen gewonnen werden können.“6 Alheit bezeichnet „Biografizi- Handelns sein. Tatsächlich lassen Hagiographien und christ- tät als Schlüsselkompetenz in der Moderne“7, „die Fähigkeit, liche Autobiografien erkennen, dass die Auseinandersetzung moderne Wissensbestände an biografische Sinnressourcen mit Lebensgeschichten einzelner Menschen eine jahrhun- anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziie- dertalte Tradition in der Theologie hat. ren.“8 Biografie ist damit nicht nur „ein äußerliches Ablauf- Die wissenschaftliche Rede von der Biografie ist aller- muster einer chronologisierten modernen Existenz […], dings kaum 200 Jahre alt. Es gab sicher vorher die Vorstel- sondern […] eine neue soziale Wissensform“9, die unabge- lung, dass Menschen eine Biografie haben, etwa in antiken schlossen und wandelbar, je vom gegenwärtigen Standpunkt Lebensbeschreibungen oder christlichen Heiligengeschich- neu konstruiert werden muss. ten. Allerdings „steht in diesen vormodernen biografischen Schilderungen nicht die Entwicklung konkreter Individuen, 3. Religionspädagogische biografische Entwürfe nicht die Entfaltung subjektiver Einzigartigkeit im Vorder- grund, sondern die Präsentation möglichst idealer Charak- Die ‚biografische Wende‘ in der Religionspädagogik tertypen.“3 Das Neue in der religionspädagogischen Ausein- fußt auf der Grundaussage, dass christlicher Glaube der andersetzung mit der Biografie des einzelnen Menschen ist, Dynamik der menschlichen Lebensgeschichte unterliegt dass der Fokus auf die lebenslange Glaubensentwicklung und dieselbe prägt oder anders: „Der konkrete Glaube hat innerhalb der eigenen Lebensgeschichte gerichtet ist, und eine lebensgeschichtliche Gestalt, die ihm nicht nur äußer- nicht, wie in den ersten christlichen Gemeinden, auf die lich bleibt.“10 Die Lebensgeschichte gerät als zentraler Lern- Glaubensentscheidung. Der Gedanke, dass man immer wie- ort des Glaubens in den Blick und wird in der Folge auch im der neu Christ werden muss, ist dem damaligen Glaubens- Zusammenhang mit religiösen und kognitiven Entwick- verständnis fremd.4 lungstheorien thematisiert. Insgesamt ist die religionspädagogische Aufnahme des Dass ‚Biografie‘ zu einem Strukturbegriff wurde, der Strukturbegriffs ‚Biografie‘ eingebettet in die in den 1970er auch religionspädagogisches Denken und Handeln entschei- Jahren in der Theologie sich vollziehende ‚anthropologische dend prägt, verdankt er maßgeblich der Rezeption zweier Wende‘. Im Anschluss an Karl Rahner wird dieser grundle- praktisch-theologischer Grundlagewerke Anfang der 1990er gende Perspektivwechsel von der Botschaft, dem Inhalt hin Jahre: Im Werk Henning Luthers11 wird erstmals die Lebens- zu den konkreten Menschen theologisch begründet und geschichte als Ort der Religion reflektiert und die Relevanz konkretisiert in einem neuen praktisch-theologischen Inter- für praktisch-theologisches Handeln herausgestellt. Stepha- esse am Einzelfall (‚Wende zum Subjekt‘). Die Religionspäd- nie Klein12 begründet die Bedeutung der Lebensgeschichte agogik greift damit aber auch eine Entwicklung in der für die Theologie. Zudem verdanken wir ihr grundlegende Sozial- und Erziehungswissenschaft auf, die bereits zuvor Übersetzungsarbeiten zur sozialwissenschaftlichen Biogra- die Relevanz der Biografie sowohl für die Planung und fieforschung und zu empirischen Zugängen zur Lebens- und Durchführung konkreter Lernprozesse als auch für die Glaubensgeschichte sowie ihre Fruchtbarmachtung in der Erforschung einzelner Lebensgeschichten5 entdeckt hatte. exemplarischen Durchführung einer Fallanalyse zu einer

94 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Glaubensbiografie. Dieser Forschungsansatz ermöglicht der Unter den Begriffen ‚Vorbildlernen‘ und ‚Lernen an Theologie einen bisher so nicht vorhandenen Zugang zum (fremden) Biografien‘ hat die religionsunterrichtliche Arbeit faktisch gelebten Glauben. Bereits einige Jahre später 1997 mit biografischen Modellen in den letzten 10 Jahren eine erscheint das Buch von Lothar Kuld13, der eine theologische breite Rezeption erfahren. Angestoßen wurde dies durch Rekonstruktion von autobiografischen Glaubensgeschichten Hans Mendl21, der in seiner Monographie22 verschiedene mit Konzepten der (Glaubens-)Entwicklung vorlegt. Knapp Unterrichtsmodelle vorstellt und der Frage nachgeht, welche zehn Jahre später zeigt Angela Kaupp14 in ihrer empirischen attraktiven (religiösen) Vorbilder zur Entwicklung des eige- Studie, dass Biografieforschung sich mit einigen Modifikati- nen Glaubens beitragen können. onen als geeignete Methode erweist, die Identitätsentwick- Ebenso profitiert die religionspädagogische Praxis von lung junger Erwachsener im Kontext von Religiosität und den verschiedenen, oft kirchen­geschichtsdidaktisch spezifi- Geschlecht zu erforschen. zierten Beiträgen von Konstantin Lindner, der zur Arbeit an Die Bedeutung dieses Ansatzes für die Fachdidaktik der eigenen Biografie durch die Arbeit an fremden (meist wurde explizit erstmalig von Peter Biehl herausgestellt mit kirchengeschichtlichen) Biografien anregt.23 Lindner grenzt der Intention, Theologie aus seinem lebens- und zeitge- biografisches Lernen sowohl vom Modell-Lernen als auch schichtlichen Kontext verständlich zu machen.15 Bereits er vom Vorbildlernen ab, da zu adaptierende Vorbilder für die unterscheidet zwischen der didaktischen Relevanz des bio- religiöse Lernentwicklung einengend wirken können.24 In grafischen Ansatzes bei der Konzeption von Unterricht und Anschluss an Mieth/Mieth bringt Lindner eine wichtige der forschungspraktischen Relevanz im Rahmen der empiri- Unterscheidung zwischen Vorbild-Lernen und Modell-Ler- schen Erkundung von Lebensgeschichten. Zehn Jahre später nen in die Diskussion ein: „Vorbilder sagen, was Menschen hat Hans-Georg Ziebertz daran anknüpfend biografisches unter generellen Bedingungen zu tun und zu lassen haben. Lernen zum religionsdidaktischen Prinzip erklärt und es in Modelle dagegen zeigen, wie man in einer bestimmten Situ- seiner einführenden Religionsdidaktik für Generationen ation handeln kann, wie das Mögliche, Richtige und Ange- von Theologiestudierenden als verbindliches Curriculum messene gefunden wird. Man kann auch sagen, ein Modell etabliert.16 ist ein problematisches Vorbild, das zu denken gibt.“25 Ein Innerhalb der Religionspädagogik kann man folgende Modell „wird aber nicht einfach kopiert, sondern auch hin- thematische Schwerpunkte unterscheiden, bei denen die terfragt, manches beobachtete Verhalten wird somit gerade biografische Perspektive programmatisch ist: nicht übernommen, sondern abgelehnt. […] Modell-Lernen ermöglich eine kritische Reflexion, ganz im Gegensatz zur a) Bei der fachdidaktischen Analyse und Planung religiöser Idee des Vorbild-Lernens [...]“.26 Er möchte biografisches Lernprozesse Lernen von beiden Formen abgegrenzt wissen. Biografische Lernen verläuft biografisch unterschiedlich! Bei der Versatzstücke anderer Personen können Bedeutung erlan- konkreten Planung von Unterrichtsprozessen muss die gen, sofern sie Orientierung bei der Erarbeitung des eigenen Heterogenität der Lebensgeschichten der SchülerInnen Lebenskonzeptes bieten.27 grund­legend Berücksichtigung finden, damit Lernprozesse Zu nennen ist hier auch eine interessante Unterrichtsfor- initiiert werden, die an gegenwärtigen oder vergangenen, schungsstudie von Karolin Kuhn28, die empirisch untersucht, lebensgeschichtlich geprägten Erfahrungen anknüpfen. Bio- wie die konkreten Verarbeitungsprozesse bei der Auseinan- grafische Konzentration möchte beim korrelationsdidakti- dersetzung mit fremden biografischen Dilemmata initiiert schen Konzept die sachgemäße Verschränkung von gegen- und ausgeführt werden. wärtigen und überlieferten Lebensgeschichten ermögli- Biografisches Lernen erfolgt meist unbewusst. Deshalb chen.17 Werner Simon hat die lebensweltlich-biografische ist es sinnvoll, die eigene Biografie hin und wieder in den Komponente zu einem grundlegenden „Strukturprinzip des Vordergrund zu stellen und zu explizitem biografischem Ler- Religionsunterricht“18 erklärt. „Gesucht wird dabei eine nen zu ermutigen. Die biografische Methode fordert die erfahrungsbezogene Einsichtigkeit und die praktische Lernenden dazu auf, lebensgeschichtliche Erfahrungen zu Bewährung im eigenen Lebenszusammenhang.“19 Konkrete erinnern, zu artikulieren und zu reflektieren. Lernprozesse Vorschläge für die religionsunterrichtliche Umsetzung sol- als ausdrückliche Arbeit an der Lebens- und Glaubensbio- cher Art des Arbeitens durch autobiografische Reflexion grafie der SchülerInnen zu gestalten, kann heißen, die „bio- etwa von Einstellungen, durch Klärung von Wertorientie- graphische Architektur des eigenen Lebens zu begreifen“29, rungen, durch Anknüpfen an schulische Lerngeschichten um dort Gott aufzuspüren. oder die Arbeit mit Biografien als Medien u.a. wurden von Die biografische Perspektive sensibilisiert dafür, dass ihm zusammengestellt.20 die Bedeutung des Inhalts durch bestimmte Personen ver- mittelt wird. Um als Vorbild authentisch Lernprozesse

ÖRF 23 (2015) • 93–99 95 begleiten zu können, ist dabei auch die biografische Veror- 4. Zum religionspädagogischen Potential tung der Lehrperson von Relevanz. Die Tradierung christli- cher Inhalte bedarf nicht nur einer schriftlichen Fixierung, 4.1 Biografisches Lernen ist zentraler Bestandteil einer sondern auch einer lebendigen Tradition, die in der Person didaktisch zeitgemäßen Religionspädagogik. des Religionslehrers/der Religionslehrerin den SchülerInnen Gerade angesichts steigender Ineffizienz vieler Bemü- entgegentritt. hungen in der Glaubensvermittlung und einer Ungleichzei- b) Bei Untersuchungen zur Geschichte der Religionspädagogik tigkeit von Leben und Glauben werden die Fragen nach dem individual- und zeitgeschichtlichen Horizont der Lernenden „Erkenntnisse theologischer Disziplinen entwickeln und dem Kairos religionspädagogischer Bemühungen dring- sich im Laufe der Geschichte häufig aufgrund der Erfor- lich. „Glaube bleibt nur dann auf der Höhe seiner persona- schung einzelner Biografien.“30 Auch die Erforschung der len Entwicklung, wenn es gelingt, sich auf die wechselnden Geschichte der Religionspädagogik profitiert von der bio- biografischen Herausforderungen des Lebens zu bezie- grafischen Methode, etwa wenn autobiografische Äußerun- hen.“40 Angesichts der Herausforderungen der Moderne ist gen als Quelle zur Rekonstruktion und zur Verdeutlichung eine zentrale Aufgabe der Religionspädagogik, Menschen zu historischer Gegebenheiten und Entwicklungen innerhalb einem biografiefähigen Glauben zu verhelfen. Die Bonner religiöser Erziehung31 oder der Konzeption religionspäda- empirische Studie zur Erwachsenenreligiosität41 belegt, dass gogischer Konzepte genutzt werden.32 Biografische Quellen dies der Fall ist, wenn der Glaube eines Menschen einerseits helfen die zeitliche Distanz zu überwinden, das Vergangene offen genug ist, um sich unter dem Anpassungsdruck bio- zu vergegenwärtigen und kollektive Erfahrungen aufzube- grafischer Erfahrungen zu wandeln, andererseits aber auch reiten. Für Englert sind dies „lebenssatte Wirkungsstudien gehaltvoll und tragfähig genug, um biografische Krisen religionspädagogischen Bemühens.“33 Dabei muss allerdings bestehen zu helfen. bedacht werden, dass die Zugänglichkeit zu biografischen Quellen der Vergangenheit nicht repräsentativen Standards 4.2 Biografisches Lernen begreift sich als Anwalt der Pers- entspricht, sondern eher zufällig ist und meist eine mittel- pektive der Lernenden und erdet korrelationsdidaktische und oberschichtsorientierte Perspektive auf die Geschichte Lernprozesse im Hier und Jetzt. wirft. Biografisches Lernen fordert schülerorientierte, ganz- c) In der empirischen Forschung zur Erschließung religions- heitliche, an den aktuellen Herausforderungen orientierte pädagogisch bedeutsamer Altersgruppen und Lebenswelten individuelle Lernprozesse und eine individualisierte Lernbe- gleitung. Biografisches Lernen grenzt sich von rein kogniti- Wenn die Biografie bzw. biografisches Erleben Gegen- ven Lernprozessen ab und trägt der Einsicht Rechnung, dass stand der Forschung werden, wird die Struktur der subjekti- wir Abschied nehmen müssen von der Vorstellung, dass wir ven Orientierungen, Deutungen und Handlungen SchülerInnen haben, die alle auf die gleiche Weise lernen, erforscht34 und zwar mit vielfältigen qualitativ-empirischen auf die gleiche Weise angesprochen werden. Erhebungsmethoden: Erzählungen, Fotos, Tagebücher, gemalte Bilder. Das Narrative Interview nach Schütz stellt 4.3 Biografisches Lernen als Lernen an (fremden) Biogra- dabei den Klassiker biografischen Forschens dar und wurde fien hat Spiegelungs- und Irritationspotential. von Klein in ihrem Grundlagenwerk35 eingehend für die Das steigende Interesse von Kindern und Jugendlichen Praktische Theologie aufbereitet. Weil der Zusammenhang an den Biografien anderer ist als ein Hinweis für das Fehlen zwischen Individuum und Gesellschaft sich im Medium der von Orientierungsfiguren ernst zu nehmen. Fremde Lebens- Biografie konstituiert, kann man „eine konkrete Gesellschaft geschichten können Lernenden unaufdringlich Orientie- betrachten und studieren, indem man eine einzige Biografie rungshilfen für die eigene Lebensgestaltung anbieten. betrachtet und studiert.“36 Eine einzelne Biografieanalyse Gleichzeitig können diese aber auch Differenzerfahrungen gibt damit Aufschluss über individuelle Lebensgeschichten ermöglichen, den eigenen Lebensentwurf kritisch anfragen und die Gesellschaft.37 und zu neuer Positionierung herausfordern. In der Religionspädagogik ist in den 1990er und 2000er Jahren eine gute Zahl an empirischen Forschungsarbeiten 4.4 Im biografischen Lernen können unaufdringlich (ver- entstanden, die erzählte und berichtete Lebensgeschichten letzliche) Lebensthemen durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichster Personengruppen zum Forschungsge- fremden Biografien bearbeitet werden. genstand haben.38 Auch bei der Analyse der Religionslehrer- Während korrelationsdidaktische Lernprozesse beharr- schaft spielen berufsbiografische Untersuchungen eine lich an die gegenwärtigen Erfahrungen der Lernenden zunehmend größere Rolle.39

96 Österreichisches Religionspädagogisches Forum anknüpfen, ist es für manche Themen von Bedeutung (etwa Die Kategorie ‚Biografie‘ erweist sich deshalb für die bei der Frage im Umgang mit [sexueller] Gewalt), dass diese Zukunft als vielversprechend, weil sie „den Zugang zu sub- nicht unmittelbar lebensbezogen bearbeitet werden. Um jektiven, gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Prozes- diese eigenen biografischen Erlebnisse zu Wort kommen zu sen in ihrer wechselseitigen Verwobenheit und zeitlichen lassen und in die eigene Biografie einsortieren zu können, Aufschichtung ermöglicht“.44 ‚Biografie‘ ist ein soziales Kon- ist es notwendig, diese zunächst aus der Distanz zu betrach- strukt, in dem die Frage nach dem Verhältnis von Indivi- ten; dafür ist die Arbeit an fremden Biografien als indirekte duum und Gesellschaft zentral bearbeitet wird und die sinn- Arbeit an der eigenen Biografie eine große Hilfe. hafte Strukturierung des lebensgeschichtlichen Materials unter dem maßgeblichen Einfluss kulturell verfügbarer 4.5 Biografisches Lernen als explizite Arbeit an der eigenen (auch christlicher) Deutungsmuster erfolgt. Beim biografi- Biografie wird im Rahmen schulischen Unterrichts eine Aus- schen Lernen geht es somit nicht nur bloß um Lebensent- nahme bleiben. würfe einzelner Menschen bzw. um die eigene Biografie, Die Konstruktion der eigenen Biografie ist eine unver- sondern um ein Grundverständnis menschlicher Existenz: fügbare subjektive Leistung, die biografische Erzählungen menschliches Leben zwischen Autonomie und Verbunden- und intensive Reflexionsprozesse verlangt. Es ist ein tiefer, heit, zwischen Gestaltungsfreiheit und Abhängigkeit, um die ganzheitlicher und fortwährender Lernprozess, der Zeit und Glaubensentscheidung angesichts letztendlich rein rational Ruhe benötigt und nur auf dem Hintergrund einer vertrau- nicht ultimativ beantwortbarer Fragen. ensvollen Atmosphäre gedeiht.42 Am Ort der Schule sind die Grenzen biografischen Lernens zu achten. Es ist notwen- 4.8 Religionspädagogische Biografieforschung steckt noch in dig von längerfristiger, komplexerer und meist nur einge- den Kinderschuhen. schränkt planbarer Art und widerständig gegenüber vor- Die empirisch-biografische Erforschung religiöser Ent- schnellen Verwertungsgedanken. Unter Leistungsdruck wicklungsläufe über einen längeren Zeitraum hinweg steht kann es zu gefährlichen Fehlformen führen. Immer wieder weitgehend aus. Ebenso fehlt die Erforschung von männli- sind daher genügend Distanz und eine kritische Reflexion in chen Lebens- und Glaubensbiografien. Zu Ausdifferenzie- der biografischen Arbeit notwendig, um keine vereinnah- rung und Fortführung religionspädagogischer Biografiefor- menden Lernprozesse anzustoßen. ‚Erfolge‘ biografischen schung ist zu ermutigen, damit ein empirisch fundierter Lernens zeigen sich häufig erst mit zeitlichem Abstand zur Zugang zu gelebtem Leben und Glauben nicht eine kurzle- Lernsituation. In einer vorgegebenen, nicht freiwählbaren bige, flüchtige und phlegmatische Strömung innerhalb der Lerngruppe kann nur respektvoll (ohne Veröffentlichungs- Religionspädagogik um die Jahrtausendwende bleibt. zwang!) und vorzugsweise indirekt biografisch in dieser Tiefe gearbeitet werden. Anmerkungen 4.6 Biografisches Lernen als kairologischer Ort bietet gegen- 1 Luther, Henning: Der fiktive Andere. Mutmaßungen über das Reli- wärtig und zukünftig vielfältige Bewährungssituationen für giöse an Biographie, in: Grözinger, Albrecht / Luther, Henning den christlichen Glauben. (Hg.): Religion und Biographie. Perspektiven zur gelebten Religion, Wie ein Leben sich darstellt, hängt von der Perspektive München: Kaiser 1987, 67–78, hier: 67. 2 So das theologische Argument Henning Luthers, welches die enge ab, unter der ich es deute. Hier könnten christliche Deu- Verzahnung von Religion und Biographie begründet (Luther, Hen- tungsmuster ihr Potential zeigen! Christlicher Glaube wird ning: Religion und Alltag, Bausteine zu einer praktischen Theologie im biografischen Lernen ernsthaft herausgefordert. Die von des Subjekts, Stuttgart: Radius 1992, 38–44). Er nennt zwei weitere ihm angebotenen Deutungsmuster werden nach ihrer Argumente: das religionssoziologische Argument: Während früher Lebenstauglichkeit und Bewährung im faktischen Leben der christliche Glaube das gesamte Leben der Bevölkerung bestimmte befragt. Heutige Jugendliche schreiben religiösen Traditio- und prägte, interpretiert heute die Lebensgeschichte des Einzelnen den je eigenen Zugang zum Glauben. Das religionspädagogische nen wenig bis keine Relevanz in ihrer Biografie zu.43 Umso Argument: Während früher das Lernen und die Entwicklung als eine mehr kann biografisches Lernen zu einem gewichtigen und Sache interpretiert wurden, die nur eine Phase der Kindheit und vordringlichen Ort religionspädagogischen Bemühens wer- Jugend betraf, ist man heute davon überzeugt, dass die Entwicklung den. des Glaubens zu keinem Ende kommt und das religiöse Lernen die gesamte Lebensgeschichte prägt. 4.7 Die Konzentration auf die Biografie ermöglicht einen 3 Alheit, Peter: „Biografizität“ als Schlüsselkompetenz in der Zugriff sowohl auf die Person als auch auf gesellschaftliche Moderne, in: Kirchhof, Steffen / Schulz, Wolfgang (Hg.): Biogra- fisch lernen und lehren. Möglichkeiten und Grenzen zu Entwicklung und zeitgeschichtliche Begebenheiten. biografischer Kompetenz, Flensburg: Univ. Press 2008, 15–28, hier 17.

ÖRF 23 (2015) • 93–99 97 4 Vgl. Englert, Rudolf: Lebenslauf und religiöse Entwicklung, in: Modell dann treten die heutigen lebensgeschichtlichen Erfahrungen Adam, Gottfried / Lachmann, Rainer (Hg.): Neues Gemeindepäda- der SchülerInnen in einen gleichberechtigten und kritischen produkti- gogisches Kompendium, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, ven Dialog mit der christlichen Überlieferung. 85–110. 18 Simon, Werner: Die biographisch-lebensweltliche Perspektive als ein 5 Einen guten Überblick über die an Biografie interessierten Wissen- Strukturprinzip des Religionsunterrichts. Didaktische Skizzen und schaften gibt: Schulze, Theodor: Erziehungswissenschaftliche Bio- Impulse, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 46 (2003) 151– graphieforschung. Anfänge, Fortschritte, Ausblick, in: Marotzki, 153. Winfried / Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Erziehungswissenschaftli- 19 Simon 1993 [Anm. 6], 427. che Biographieforschung, Opladen: Leske + Budrich 1995, 10–31, 20 Vgl. Simon 2003 [Anm. 18]. hier: 17. 21 Erstmalig in: Mendl, Hans: An Vorbildern lernen – wozu und wie? 6 Simon, Werner: Biographisch vom Glauben sprechen. Die „Confessi- Ethik lernen an kleinen und großen Vorbildern als Beitrag zur Identi- ones“ des Augustinus als Zeugnis eines lebensgeschichtlich ausgeleg- tätsentwicklung, in: Kontakt. Informationen zum Religionsunterricht ten Glaubens, in: Geist und Leben 66 (1993) 429–442, hier: 429. im Bistum Augsburg 1 (1998) 13–21. 7 Alheit 2008 [Anm. 3], 18. 22 Mendl, Hans: Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien. Religi- 8 Alheit, Peter: Alltag und Biographie. Studien zur gesellschaftlichen onspädagogische Anregungen für die Unterrichtspraxis, Donauwörth: Konstitution biographischer Perspektiven, Bremen: Univ.-Buchh. Auer Verlag 2005. Der Autor hat zu dieser Thematik eine Vielzahl an 1990, 234. Artikeln mit beispielhaftem Praxisbezug vorgelegt, etwa: Mendl, 9 Ebd., 19. Hans: Orientierung an fremden Biografien, in: Loccumer Pelikan 2 10 Simon 1993 [Anm. 6], 429. (2011) 53–57; Mendl, Hans: Lernen an gebrochenen Biografien, in: 11 Luther 1992 [Anm. 2]. Religion Sek I 3 (2014). Mendl, Hans: Vorbilder ethischen Handelns, 12 Klein, Stephanie: Theologie und empirische Biographieforschung. in: KatBl 136 (2011) 268–270. Mendl, Hans: Wer bin ich und durch Methodische Zugänge zur Lebens- und Glaubensgeschichte und ihre wen werde ich? Biografisches Lernen im Religionsunterricht, in: Bedeutung für eine erfahrungsbezogenen Theologie, München: Kohl- Grundschule Religion 50/1 (2015) 4–8. Vgl. auch das gesamte The- hammer 1994. menheft Biographisches Lernen. Grundschule Religion 50/1 (2015). 13 Vgl. Kuld, Lothar: Glaube in Lebensgeschichten. Ein Beitrag zu 23 Vgl. zuletzt: Lindner, Konstantin: Biografisches Lernen. Kleine theologischer Autobiographieforschung, Stuttgart: Kohlhammer Leute und große Gestalten, in: Hilger, Georg u.a. (Hg.): Religionsdi- 1997. Der Autor untersucht an fünf exemplarischen Texten (die ‚Con- daktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und fessiones‘ (397) von Augustinus, die ‘Grace Abounding to the Chief katholischen Religionsunterrichts, München: Kösel 2014, 264–280. of Sinners‘ (1666) von John Bunyan, die ‚Apologia pro vita sua‘ 24 Vgl.ebd, 287. (1864) von John Henry Newman, die ‘Seven Storey Mountain‘ 25 Mieth, Irene / Mieth, Dietmar: Vorbild oder Modell?: Geschichten (1948) von Thomas Mertons und ‚Gottesvergiftung‘ (1976) von Til- und Überlegungen zur narrativen Ethik, in: Katechetische Blätter 102 man Moser) den autobiographischen Charakter der dargestellten (1977) 625–631. Glaubensgeschichten, d.h. die Erzählhaltung und die unterschiedli- 26 Lindner 2014 [Anm. 23], 287. chen Bekenntnis-, Bekehrungs- und Entwicklungskonzepte, um die 27 Vgl. Lindner, Konstantin / Stögbauer, Eva: Was hat das mit mir zu Erfahrung von Heilsgeschichte in der Lebensgeschichte zur Sprache tun? – Biographisches Lernen, in: Bahr, Matthias / Kropač, Ulrich / zu bringen. Schambeck, Mirjam (Hg.): Subjektwerdung und religiöses Lernen, 14 Vgl. Kaupp, Angela: Junge Frauen erzählen ihre Glaubensgeschichte. München: Kösel 2005, 135. Eine qualitativ-empirische Studie zur Rekonstruktion der narrativen 28 Kuhn, Karolin: An fremden Biographien lernen! Ein religionspäda- religiösen Identität katholischer junger Frauen, Ostfildern: Schwa- gogischer Beitrag zur Unterrichtsforschung, Münster: LIT 2010. benverlag 2005. In dieser geht die Autorin der Frage nach, wie sich 29 Englert, Rudolf: Aus Biographien lernen?, in: KatBl 112 (1987) Religiosität in der Lebensgeschichte katholisch sozialisierter junger 239. Frauen entfaltet. Biografieforschung eröffnet der Autorin vier Wege 30 Kaupp, Angela: Biographische Erinnerungen als ein Zugangsweg zur – einen „zur Erforschung der Identität im Jugendalter“, einen zweiten Geschichte, in: Jeggle-Merz, Birgit / Kaupp, Angela / Nothel- „zur Erforschung jugendlicher Religiosität“, einen dritten „zur Erfor- le-Wildfeuer, Ursula (Hg.): „Frauen bewegen Theologie“. Die Prä- schung religiöser Entwicklungsprozesse“ und einen vierten „zur senz von Frauen am Beispiel der Theologischen Fakultät der Erforschung von gender“, 74. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Leipzig: Evangelische Verlags- 15 Vgl. Biehl, Peter: Der biographische Ansatz in der Religionspädago- anstalt 2007, 176. gik, in: Grözinger, Albrecht / Luther, Henning (Hg.): Religion und 31 Vgl. etwa: Pithan, Annebelle (Hg.): Religionspädagoginnen des 20. Biographie. Perspektiven zur gelebten Religion, München: Kaiser Jh., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 1987, 224–246. 32 Vgl. etwa: Rupp, Horst F. / Lachmann, Rainer (Hg.): Lebensweg und 16 Vgl. Ziebertz, Hans-Georg: Biographisches Lernen, in: Hilger, religiöse Erziehung. Religionspädagogik als Autobiographie, Wein- Georg / Leimgruber, Stephan / Ziebertz, Hans-Georg: Religionsdi- heim: Dt. Studien-Verl. 1989 (= Forum zur Pädagogik und Didaktik daktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München: der Religion 1–3). Rupp, Horst F. (Hg.): Lebensweg, religiöse Erzie- 2001, 349–36; 6 München 2010, 374–386. hung und Bildung. Religionspädagogik als Autobiographie, Würz- 17 Bereits im Konzept des Hermeneutischen Religionsunterrichts wird burg: Königshausen & Neumann 2011 (= Forum zur Pädagogik und implizit der biografische Standpunkt der SchülerInnen bei der eigen- Didaktik der Religion 4–5). u. exemplarisch: Boschki, Reinhold u.a.: ständigen Auslegung von biblischen Texten relevant. Im Problemori- Wahrheit ist biographisch. Mit Gabriele Miller im Gespräch, Ostfil- entierten Religionsunterricht sind die lebensgeschichtlich verorteten dern: Schwabenverlag 2002. Fragen und Probleme explizit Ausgangspunkt der Auseinanderset- 33 Englert 1987 [Anm. 29], 238. zung mit der religiösen Überlieferung. Im korrelationsdidaktischen

98 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 34 Vgl. Klein, Stephanie: Art. Biographieforschung, in: Mette, Norbert sche Arbeiten: Wiebel-Fanderl, Oliva: Religion als Heimat. Zur / Rickers, Folkert (Hg.): Lexikon der Religionspädagogik, Neukir- lebensgeschichtlichen Bedeutung katholischer Glaubenstraditionen, chen-Vluyn: Neukirchener 2001, 202 Wien: Böhlau 1993. 35 Klein 1994 [Anm. 12]. 39 Etwa: Feige, Andreas u.a. (Hg.): Religionslehrerin oder Religionsleh- 36 Fischer-Rosenthal 1996 zitiert n. Kaupp 2007 [Anm. 30], 182. rer werden. Zwölf Analysen berufsbiografischer Selbstwahrnehmun- 37 Kaupp hat die Relevanz des Einzelfalls für die Praktische Theologie gen, Ostfildern: Schwabenverlag 2006. Feige, Andreas u.a. (Hg.): überzeugend begründet (vgl. Kaupp 2007 [Anm. 30]). ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvor- 38 Schmid, Hans: Religiosität der Schüler und Religionsunterricht. stellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-sozialen Empirischer Zugang und religionspädagogische Konsequenzen für Zugängen. Berufsbiographische Fallanalysen, Münster u.a.: Lit 2000. die Berufsschule, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1989. Maassen, Dressler, Bernhard: Gelebte und gelehrte Religion - eine produktive Monika: Biographie und Erfahrung. Ein feministisch-theologischer Spannung? - Biografie und Religion bei Religionslehrerinnen und Beitrag zu Relevanz der Biographieforschung für die Wiedergewin- Religionslehrern, in: Kirche und Schule 2 (2002) 7–12. nung der Kategorie Erfahrung, Münster: Morgana Frauenbuchverlag 40 Englert 2008 [Anm. 4], 99 1993. Klein, Stephanie: Theologie und empirische Biographiefor- 41 Vgl. Kläden, Thomas: Zentrale Ergebnisse des Forschungsprojektes schung, Stuttgart: Kohlhammer 1994 (= Praktische Theologie heute ‚Religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter‘ im Überblick, in: 19). Sommer, Regina: Lebensgeschichte und gelebte Religion von Fürst, Walter u.a. (Hg.): ‚Selbst die Senioren sind nicht mehr die Frauen. Eine qualitativ-empirische Studie über den Zusammenhang alten…‘ Praktisch-theologische Beiträge zu einer Kultur des Alterns, von biographischer Struktur und religiöser Orientierung, Stuttgart: Münster: Lit 2003, 67–84. Kohlhammer 1998. Porzelt, Burkard: Jugendliche Intensiverfahrun- gen. Qualitativ-empirischer Zugang und religionspädagogische Rele- 42 Im Vergleich zum schulischen Kontext ist die Gemeinde ein vorzu- vanz, Graz: Manumedia-Verlag 1999. Augst, Kristina: Religion in ziehender Ort biographischen Lernens: Vgl. Kaupp, Angela: Biogra- der Lebenswelt junger Frauen aus sozialen Unterschichten, Stuttgart: phisches Lernen in der Katechese, in: Kaupp, Angela / Leimgruber, Kohlhammer 2000. Könemann, Judith: ‚Ich wünschte, ich wäre gläu- Stephan / Scheidler, Monika (Hg.): Handbuch der Katechese. Für big, glaub` ich‘. Zugänge zu Religion und Religiosität in der Lebens- Studium und Praxis, Freiburg: Herder 2011, 157–172. führung der späten Moderne, Opladen: Leske + Budrich 2000. Güth, 43 Vgl. Lindner / Stögbauer 2005 [Anm. 27], 138. Ralph: „ ... und dann halt mich so damit beschäftigt, wie es halt 44 Klein 2001 [Anm. 34], 201. irgendwo anscheinend von mir erwartet wurde ...“ - Betrachtung einer Studienbiographie aus religionspädagogischer Perspektive, in: Mendl, Hans (Hg.): Netzwerk ReligionslehrerInnen-Bildung, Donau- Autorinneninformation wörth: Auer 2002, 35–46. Oertel, Holger: Gesucht wird Gott? Prof.in Dr.in Annegret Reese-Schnitker Jugend, Identität und Religion in der Spätmoderne, Gütersloh: Universität Kassel Gütersloher Verlagshaus 2004. Kaupp, Angela: Junge Frauen erzäh- Diagonale 9 len ihre Glaubensgeschichte. Eine qualitativ-empirische Studie zur D-34109 Kassel Rekonstruktion der narrativen religiösen Identität katholischer junger e-mail: [email protected] Frauen, Ostfildern: Schwabenverlag 2005. Reese-Schnittker, Anne- GND: (DE-588)115330291 gret: ‚Ich weiß nicht, wo da Religion anfängt und aufhört. Eine empi- rische Studie zum Zusammenhang von Lebenswelt und Religiosität bei Singlefrauen, Gütersloh: Herder 2006. Husmann, Bärbel: Das Eigene finden. Eine qualitative Studie zur Religiosität Jugendlicher, Göttingen: V&R unipress 2008. Vgl. auch relevante pastoraltheologi-

ÖRF 23 (2015) • 93–99 99

Martin Rothgangel

ReligionslehrerInnen im Horizont jüngerer empirischer Studien1 der autor Univ.-Prof. DDr. Martin Rothgangel, Institut für Religionspädagogik an der Evange- lisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Abstract Zu keinem anderen Bereich der Religionspädagogik gibt es ähnlich viele empirische Studien wie bei ReligionslehrerInnen. Im Fol- genden werden die Methodik und Ergebnisse empirischer Studien aus dem jüngeren Zeitraum zwischen 2000-2015 in den Blick genommen. Die nachstehenden Überschriften markieren inhaltliche Schwerpunkte dieser Untersuchungen. Im Vergleich zu frü- heren Bestandsaufnahmen (z.B. Ziebertz 1995) geben die empirischen Studien der letzten 15 Jahre eine quantitative Zunahme wie qualitative Verbesserung zu erkennen. Schlagworte: Religionslehrer, Religionslehrerin, Erhebung, Religionspädagogik, Pädagogik

Religion teachers from the perspective of empirical studies There is no other domain in religious education which so many empirical studies exist as regarding religious teachers. In the fol- lowing methods und results of empirical studies between 2000 and 2015 will be discussed. The following titles represent the core themes of this research. In comparison to former surveys (e.g. Ziebertz 1995) the empirical studies of the last 15 years are more numerous and the quality of the study designs has improved. Keywords: Teacher of religious education, Empirical survey, Religious education, Education

eligionslehrerInnen bilden schon seit längerer Zeit in zukünftigen ReligionslehrerInnen konzentrieren. Dabei theoretischer wie empirischer Hinsicht einen existieren nicht nur interessante lokale Untersuchungen R wesentlichen Fokus religionspädagogischer For- (vgl. überblickshaft Lück6), sondern auch eine Vielzahl von schung: Nach Peter Biehl setzte mit der Integration der ver- Studien, die eine breitere Aufmerksamkeit erhalten haben schiedenen religionspädagogischen Konzeptionen praktisch (z.B. Feige/Friedrichs/Köllmann7; Heller8; Riegel/Mendl9; zeitgleich ein theoretisches Interesse am Beruf der Religi- Riegel/Mendl10). Ungeachtet dessen muss im vorliegenden 2 onslehrperson ein und Hans-Georg Ziebertz stellt in seiner Rahmen eine Beschränkung erfolgen: Ausgewählt werden Bilanzierung empirischer Studien zu ReligionslehrerInnen eine bundesweite Erhebung zum Studium von Religionsleh- 3 eine „annähernde ‚Totalerfassung’“ fest. Umfassende Über- rerInnen (Lück11) und eine der wenigen Erhebungen zum blicke über frühere Studien finden sich in tabellarischer Referendariat (Englert u.a.12). Form bei Ziebertz4 und Christhard Lück5. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf ausgewählte empirische Studien 1.1 Religion studieren (Lück13) der letzten 15 Jahre. Diese geben bestimmte Schwerpunkte und Forschungstendenzen zu erkennen, die sich in der fol- Im Jahr 2009 führte Christhard Lück bundesweit an 16 genden Untergliederung widerspiegeln. Universitäten eine konfessions- und schulformübergreifende Studie durch, bei der insgesamt 1603 Studierende den 1. Studien zur Berufsausbildung von Religions­ 14-seitigen und 312 Items umfassenden Fragebogen ausfüll- lehrerInnen ten14. In methodischer Hinsicht operiert diese quantitative Studie u.a. mit Faktorenanalysen, bivariaten Korrelationsbe- In jüngster Zeit werden vermehrt empirische Untersuchun- rechnungen sowie multiplen Regressionsanalysen. gen vorgenommen, die sich auf die Berufsausbildung von

Martin Rothgangel: ReligionslehrerInnen im Horizont jüngerer empirischer Studien • 101 ÖRF 23 (2015), 101–109 Aus der Fülle der Ergebnisse seien die folgenden her- von SchülerInnen besser diagnostizieren als jüngere Lehre- vorgehoben: Die Studierendenzufriedenheit ist hoch15, die rInnen, genau umgekehrt verhält sich dies jedoch im The- „Studierenden sind besonders mit der sozial-kommunikati- menbereich „Naturwissenschaft und Theologie“29. ven Dimension und der Inhaltsdimension im Theologiestu- Darüber hinaus widmen sich Studien auch eingehender dium zufrieden“16. Optimierungsbedarf wird „vor allem bei dem beruflichen Selbstverständnis von ReligionslehrerIn- der organisatorischen Struktur des Studiums, der metho- nen30,31. Anhand der qualitativen Studie von Liebold zu disch-didaktischen Gestaltung der Lehrveranstaltungen und Religions- und Ethiklehrkräften in Ostdeutschland wird bei den Prüfungsanforderungen gesehen“17, der selbst erfah- deutlich, dass dabei auch stets regionale Faktoren zu beden- rene Religionsunterricht wird sehr ambivalent beurteilt18 ken sind32,33. Im Folgenden konzentriert sich die Aufmerk- und „Theologiestudierende unterscheiden sich in ihrer samkeit auf zwei empirische Studien, in denen die Berufszu- familiären und gemeindlichen religiösen Sozialisation sowie friedenheit sowie die Differenz zwischen gelebter und eigenen religiösen Praxis zum Teil erheblich“19. gelehrter Religion im Vordergrund des Interesses stehen.

1.2 Innenansichten des Referendariats (Englert u.a.20) 2.1 Berufszufriedenheit34,35 Den Fokus dieser Längsschnittstudie bilden Referenda- In der österreichischen Studie von Anton Bucher und rInnen für das Lehramt katholische Religion an Grundschu- Helene Miklas standen vier abhängige Variablen im Vorder- len in Nordrhein-Westfalen. An drei Studienseminaren wur- grund: Berufszufriedenheit, Burnout, Berufswiederwahl sowie den je drei ProbandInnen zu insgesamt vier verschiedenen die im Religionsunterricht verfolgten Ziele36. Dabei konnten Zeitpunkten ihres Referendariats befragt, woraus insgesamt insgesamt 757 Fragebögen von katholischen ReligionslehrerIn- 36 Interviews resultierten. Darüber hinaus wurden zu den nen aus den Diözesen Linz und Salzburg37 sowie von 171 evan- vier Messzeitpunkten insgesamt 473 Fragebögen für die gelischen ReligionslehrerInnen aus ganz Österreich38 u.a. mit quantitative Analyse erhoben. Die Stärke dieser Studie stellt Hilfe von Mittelwert-, Korrelations-, Regressions- und Fakto- die reflektierte Verwendung von qualitativen Methoden renanalysen ausgewertet werden39. In der Replikationsstudie (syntaktisch-semantische Sequenzanalyse; qualitative standen die Fragen nach Berufszufriedenheit, Burnout, Belas- Inhaltsanalyse) und quantitativen Methoden (u.a. Korrelati- tungsfaktoren sowie Copingstrategien im Vordergrund40. onsrechnungen, Regressionsanalysen, Faktoren- und Clus- Neben der quantitativen Erhebung, aus der schließlich 619 aus- teranalysen) einschließlich ihrer Triangulation dar21. wertbare Fragebögen von 195 evangelischen und 424 katholi- Im Anschluss an den zusammenfassenden Beitrag von schen ReligionslehrerInnen resultierten, wurden insgesamt 35 Porzelt22 seien folgende Ergebnisse stichpunktartig hervor- Interviews durchgeführt und „in Anlehnung an die Codierver- gehoben: Den Hintergrund der ReferendarInnen bilden eine fahren der grounded theory strukturiert.“41 Die Triangulation „kirchliche Sozialisation und intrinsische Motivation“23, das der quantitativ und qualitativ erhobenen Daten erfolgte schließ- universitäre Lehramtsstudium erhält schlechte Noten24, reli- lich mit der inhaltlichen Strukturierung nach Philipp Mayring. gionsdidaktische Konzepte besitzen eine geringe Plausibli- Ungeachtet von Differenzen im Detail zeigt die Studie von tät25, die Unterrichtspraxis fungiert „als ‚Energiezentrum’ 2005 eine hohe Berufszufriedenheit: „Das offensichtliche Wohl- der Zweiten Ausbildungsphase“26, die MentorInnen sind die befinden der katholischen und evangelischen Religionslehre- „wichtigste Wegbegleitung in die Berufswirklichkeit“27 und rInnen, ihre Problemfelder, Zielsetzungen und Optionen für Religion stellt ein „schwieriges, aber erfüllendes Unter- die Zukunft werden fast durchwegs kontinuierlich mit gleichen richtsfach“28 dar. Letztgenannter Punkt leitet über zu perso- Mittelwerten belegt. Signifikanzen sind kaum erkennbar.“42 nalen und berufsbiographischen Aspekten und der Frage, Dieser Befund überrascht einerseits in Anbetracht der generel- wie ReligionslehrerInnen ihr Berufsfeld einschätzen. len Verbreitung von Burnout im LehrerInnenberuf, anderer- seits aber auch im Blick auf die evangelischen KollegInnen, die 2. Personale und berufsbiographische Aspekte in der Minderheitensituation Österreichs erschwerte Arbeitsbe- von ReligionslehrerInnen dingungen vorfinden, indem sie in der Regel an mehreren Schulen tätig sind.43 Mehr oder weniger in allen Fragebogenuntersuchungen Ähnliche Ergebnisse weist zehn Jahre später auch die werden personale Aspekte wie Alter, Geschlecht etc. als Hinter- Replikationsstudie auf, deren Befunde auf den folgenden grundvariablen erhoben. Dies kann im Einzelnen zu bemer- kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht werden können: kenswerten Ergebnissen führen. Beispielsweise lässt sich in der „Hohe Berufszufriedenheit und gesunde Verarbeitungsstrate- unten näher dargelegten Studie von Britta Klose zur Diagnose- gien trotz großer Belastungen.“44 kompetenz von ReligionslehrerInnen folgender Alterseffekt Obwohl die Berufszufriedenheit im Kontext Deutschlands beobachten: Ältere LehrerInnen können die Werthaltungen nicht derart ausführlich wie in Österreich untersucht wurde,

102 Österreichisches Religionspädagogisches Forum geben auch die entsprechenden Items u.a. in den Studien von Spezifika getragen“65. Wenn allerdings speziell die personale Englert/Güth45 sowie Lück46 eine vergleichbare Berufszufrie- Identität der ReligionslehrerInnen betrachtet wird, „dann zei- denheit zu erkennen47. gen sich konfessionelle Verwurzelungen, die im Hintergrund bleiben, wenn man sich allein auf die professionelle Selbstkon- 48,49,50 2.2 Gelebte und gelehrte Religion turierung der Lehrenden konzentriert“66. Große religionspädagogische Aufmerksamkeit fanden die Dieser Punkt leitet unmittelbar über zu Studien, die ihren von Feige u.a. durchgeführten Befragungen von evangelischen Schwerpunkt auf die von Religionslehrkräften präferierte bzw. ReligionslehrerInnen in Niedersachsen51 und evangelischen praktizierte Organisationsform des Religionsunterrichts legen. wie katholischen ReligionslehrerInnen in Baden-Württem- berg52,53. Grundlage dieser Studien waren jeweils eine qualita- 3. Organisationsform und Praxis des Religionsun­ tive und quantitative Befragung. Für die qualitative Untersu- terrichts chung wurden 23 Interviews in Niedersachen und 15 in Aus dem quantitativen Teil der obigen Studie von Feige Baden-Württemberg durchgeführt und mit der Objektiven u.a. geht hervor, dass die Mehrheit der ReligionslehrerInnen Hermeneutik sowie der Erzählanalyse ausgewertet54,55. Bei der entschieden und differenziert für eine Öffnung des konfessio- quantitativen Erhebung in Niedersachsen wurden 2109 und in nellen RUs plädiert, „ohne damit zugleich den Religionsunter- Baden-Württemberg 4196 Fragebögen zurückgesandt56,57. richt von allen seinen kirchlichen (und damit konfessionellen) Diese wurden insbesondere mit Mittelwertvergleichen und Bindungen abschneiden zu wollen“67. Dieser Befund lässt sich Faktorenanalyse ausgewertet, die wiederum mit multiplen Prä- auf ähnliche Weise in weiteren Studien beobachten z.B. Eng- ferenz-Skalierungen (MDPREF-Analyse) aufeinander bezogen lert/Güth68, Liebold69. Bedenkt man darüber hinaus die öffent- wurden58. liche und religionspädagogische Diskussion zur Organisations- Ein wesentliches Ergebnis des qualitativen Teils der nieder- form des Religionsunterrichts, dann ist es kein Zufall, dass diese sächsischen ReligionslehrerInnenstudie besteht in der Feststel- Fragestellung auch in den Mittelpunkt von empirischen Studien lung einer reflexiven Distanz zwischen der gelebten und der zu ReligionslehrerInnen rückt. gelehrten Religion von ReligionslehrerInnen59: Damit wird die religionspädagogische These in Frage gestellt, dass Lehrende als 3.1 „Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht wer- Vorbilder möglichst authentisch ihre gelebte Religion im Unter- den“70 richt präsentieren sollen. Gerade die mehr oder weniger ausge- Ein besonderes Potential der Studie von Friedrich Schweit- prägte Distanz zwischen gelebter und gelehrter Religion stellt zer und Albert Biesinger liegt in ihrem multiperspektivischen nämlich eine für religiöse Bildungsprozesse fruchtbare Span- Ansatz: Zur Erforschung der Möglichkeiten eines konfessio- nung dar, weil sich „ein für den Unterricht fruchtbarer Zugriff nell-kooperativen RUs wurden 35 solcher Unterrichtsstunden auf die eigene Biographie […] nicht unvermittelt, sondern – an Grundschulen beobachtet und SchülerInnen, Religionsleh- empirisch mehr oder weniger deutlich ausgeprägt – über indi- rerInnen, Eltern, SchulleiterInnen sowie KlassenlehrerInnen 60 viduelle Reflexionsprozesse“ vollzieht (vgl. dazu die konkre- befragt71. Die Befragungen der Lehrkräfte fanden unmittelbar 61 ten Beispiele in Feige u.a. ). Eine wichtige Rolle kommt dabei im Anschluss an die hospitierten Unterrichtsstunden statt. Des dem Unterrichts-Habitus zu, unter dem „die didaktische Refle- Weiteren wurden zu Beginn und am Ende des Unterrichtsver- 62 xion der reflektierten Religion der ReligionslehrerInnen“ ver- suchs jeweils 14 semistrukturierte Interviews durchgeführt. standen wird. Feige u.a. entwickeln ein Modell des Unterrichts- Ohne die Ergebnisse im Detail anführen zu können, ist bereits habitus, das aus den vier Feldern Lehre, Sprache, Raum und das Resümee der LehrerInnenbefragung aufschlussreich: Ethos besteht und sich ungeachtet bestimmter Differenzen zwi- „Zusammenfassend ist von den Lehrerbefragungen her eindeu- schen evangelischen und katholischen ReligionslehrerInnen tig festzuhalten, dass konfessionelle Kooperation eine gewinn- sowie zwischen Niedersachsen und Baden-Württemberg bringende Herausforderung ist. Wenn sich Lehrerinnen und 63 bewährt . Lehrer auf die konfessionelle Kooperation einlassen, entstehen Auch bestätigt die niedersächsische Studie nicht das Bild Wahrnehmungs- und Diskursebenen, die auch für die eigene „vom zumindest ‚ent-konfessionalisierten’, wenn nicht gar fast Identität und Kompetenz wirksam werden. Die Lehrerinnen 64 ‚unchristlich’ gewordenen Religionsunterricht“ . Detaillierter und Lehrer schätzen diese Art der konfessionellen Kooperation nachgefragt ergab sich in Baden-Württemberg folgendes Resul- als anspruchsvoll und auch für die eigenen Weiterentwicklung tat: „Die für die kath. und ev. RL ausgewiesene unterrichtliche hochinteressant ein.“72 Ziele-Struktur ist in zwar nicht ausschließlicher, aber doch in zuallererst dominanter Form von der Betonung allererst allge- 3.2 Im Religionsunterricht zusammenarbeiten73 mein-christlicher Grundaussagen und zugleich von weit über- Diese Studie schließt insofern an die vorhergehende Studie wiegender Negation bestimmter konfessions-institutioneller an, als es sich dabei um die Evaluation von konfessionell-ko-

ÖRF 23 (2015) • 101–109 103 operativem Religionsunterricht (KRU) in Baden-Württemberg Viertel der Befragten kann von einem nach Konfessionen handelt, der zum Schuljahr 2005/2006 bei Erfüllung bestimm- getrennten RU von der 1. bis zur 4. Klasse berichten86. Höchste ter Qualitätserfordernisse eingeführt wurde74. Auch in metho- Zustimmung erfährt ein „Religionsunterricht in ‚ökumenischer discher Hinsicht wurde wiederum ein vergleichbarer multipers- Gesinnung und Offenheit’ und in ‚interreligiöser Begeg- pektivischer Ansatz realisiert75, wobei bei dieser Untersuchung nung’“87. Dementsprechend plädieren 30,7 % der Befragten für die konfessionelle Kooperation nicht nur an der Grundschule, einen ökumenischen RU sowie 43,5 % für eine Mischform, d.h. sondern auch in der Sekundarstufe I (Haupt- und Realschulen, ökumenischen RU in den Klassen 1 und 2 sowie konfessionel- Gymnasien) untersucht wurde. Des Weiteren wurden am Ende len RU in den Klassen 3 und 4. Dagegen votieren nur 12,3 % der 2. und 6. Klasse Vergleichstests durchgeführt, an denen für einen konfessionellen RU, 6,1 % für einen interreligiösen auch SchülerInnen aus konfessionell getrenntem Religionsun- RU, „den die verschiedenen Religionsgemeinschaften […] terricht teilnahmen. Speziell mit den ReligionslehrerInnen wur- gemeinsam verantworten und durchführen“, und 7,1 % für „die den insgesamt 83 Interviews und 77 Unterrichtsnachgespräche Konzeptionen eines allgemeinen, religions- und lebenskundli- durchgeführt, transkribiert und mit Hilfe des Textanalysesys- chen Unterrichts ohne Anbindung an irgendeine Kirche oder tems MAXqda ausgewertet76. Als Gesamtresümee kann festge- Religionsgemeinschaft“88. Ohne weitere Ergebnisse dieser halten werden: Viele ReligionslehrerInnen „verstehen KRU als quantitativen Studie hier vorstellen zu können, ist in methodi- religionspädagogische Realisation ‚versöhnter Verschiedenheit’. scher Hinsicht positiv hervorzuheben, dass sie sich keineswegs Die Zusammenarbeit im Team wird trotz Mehraufwand prak- nur auf deskriptive Analysen beschränkt, vielmehr u.a. mit Fak- tisch von allen als Bereicherung und Gewinn erlebt; sie vermag torenanalysen sowie multivariaten logistischen Regressionsana- zum Vorbild kollegialer Zusammenarbeit an Schulen, bisweilen lysen operiert. sogar zum Motor von Schulentwicklung zu werden. Die Zusammenarbeit sowie der weitgehende Erhalt des ‚Klassen- 4. Studien zu Kompetenzen von Religionslehrer­ verbandes’ stärkt – aus Sicht der Religionslehrerinnen und Reli- Innen gionslehrer – die Stellung von Religion(slehrkräften) an den Der Kompetenzdiskurs bildet seit etwa zehn Jahren Schulen“77. einen Schwerpunkt religionspädagogischer Theorie und Praxis. Ungeachtet der Notwendigkeit empirischer Studien 3.3 „Religion im Klassenverband unterrichten“78 dominiert in der Religionspädagogik primär der theoreti- In dieser qualitativen Studie wird anhand von Leitfadenin- sche Diskurs über Kompetenzorientierung. Gleichwohl kön- terviews die inoffizielle Praxis, dass Religion im Klassenver- nen im Blick auf die Kompetenzen von ReligionslehrerIn- band erteilt und Lerngruppen nicht nach konfessioneller Zuge- nen zumindest die beiden empirischen Qualifikationsarbei- hörigkeit geteilt werden, an Schulen in Nordrhein-Westfalen ten von Hofmann und Klose vorgestellt werden. untersucht. Die mündlichen Interviews wurden als Einzel- sowie als Gruppeninterviews in ganz verschiedenen Schulfor- 4.1 Religionspädagogische Kompetenz89 men (von Grundschulen bis Kollegs) durchgeführt und mit der Die explorative Habilitationsstudie von Renate Hof- Qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet79. Als Ergebnisse dieser mann könnte gleichermaßen im voran stehenden Abschnitt Studie seien hervorgehoben, dass sich die befragten Religions- behandelt werden, da fünf BerufsanfängerInnen hinsichtlich lehrerInnen gut im Lehrerkollegium integriert fühlen80, kaum ihrer religionspädagogischen Kompetenz evaluiert werden, Kooperationen mit Kirchengemeinden zu bestehen scheinen81 die sie während der ersten und zweiten Phase ihrer Berufs- und die Erteilung des Religionsunterrichts im Klassenverband ausbildung erworben haben90. Die geringe Anzahl der Pro- „keine Einzelfälle mehr sind“82. Für diese ‚illegale’ Praxis wer- bandInnen ist durch das besondere Erkenntnisinteresse die- den eher pädagogische und religionspädagogische Gründe ser Studie bedingt: Der Fokus liegt auf dem Ausbildungs- angeführt, weniger die organisatorische Erleichterung für die standort Göttingen (Studium an der dortigen Theologischen Stundenplanerstellung83. Fakultät sowie in der Regel auch Referendariat in Göttingen) und es werden empirische Methoden zur Evaluation religi- 3.4 ReligionslehrerInnen an Grundschulen in Nord- onspädagogischer Kompetenz erprobt. Das methodische rhein-Westfalen84 Potential dieser Studie besteht insbesondere darin, dass die Die quantitative Befragung von 749 GrundschullehrerIn- Eignung von Erhebensmethoden zur empirischen Testung nen in Nordrhein-Westfahlen durch Christhard Lück doku- eines theoretischen Kompetenzmodells geprüft wird. Dabei mentiert wie die oben stehende Studie von Hütte/Mette, dass in erfolgt im Anschluss an Ewald Terhart die Verwendung von der Praxis des Grundschulunterrichts entgegen offizieller Ver- drei Instrumenten zur Erhebung der Daten: narrative Leitfa- lautbarungen v.a. im 1. und 2. Schuljahr ein konfessionsüber- deninterviews, diagnostische Testverfahren sowie Religions- greifender RU durchgeführt wird85. Nur etwas mehr als ein

104 Österreichisches Religionspädagogisches Forum unterrichtshospitationen mit Videoaufzeichnungen91. Als zungen vornimmt. Für die Ermittlung der Werthaltung Auswertungsmethoden werden die Qualitative Inhaltsana- Jugendlicher stellt der Werthaltungsfragebogen von Feige/ lyse und Grounded Theory verwendet92. Inhaltlich betrach- Gennerich102 einen entscheidenden Bezugspunkt für Klose tet liegt der Schwerpunkt dieser Studie auf der Operationali- dar103, der durch die zwei Achsen Autonomie- und Traditi- sierung des religionspädagogischen Kompetenzmodells der onsorientierung sowie Selbst- und Beziehungsorientierung EKD von 1997 (in einem späteren Stadium auch des gekennzeichnet ist. Neben zwei Pilotstudien zur Erprobung EKD-Kompetenzmodells von 2007), wobei aus forschungs- des methodischen Instrumentariums führte Klose zwei pragmatischen Gründen eine Konzentration auf die fachwis- Hauptstudien durch. An der ersten Hauptstudie nahmen senschaftliche Kompetenz, fachdidaktische sowie herme- 225 SchülerInnen der 7. und 10.-12. Klasse sowie sechs Reli- neutische Kompetenz, Methodenkompetenz und Medien- gionslehrerInnen teil, an der zweiten Hauptstudie 808 Schü- kompetenz erfolgt93. lerInnen der 10.-12. Klasse und 41 ReligionslehrerInnen104. Die Triangulation der drei Erhebungsschritte (Inter- Der Mittelwertsvergleich zwischen SchülerInneneinstel- view, Testverfahren, Videoanalyse) stellt gewissermaßen das lung und LehrerInneneinschätzung zeigt sowohl im Bereich Herzstück dieser Arbeit dar94. Die Verfasserin vergleicht der „Werthaltung Jugendlicher“, als auch im Themenbereich zunächst die Ergebnisse der drei methodischen Erhebungs- „Naturwissenschaft und Theologie“, dass „die gewählte schritte in Bezug auf die einzelnen ProbandInnen und Methodik und Operationalisierung der Studie eine differen- dann im Blick auf die vier Teilkompetenzen. Als ein zent- zierte Erfassung diagnostischer Wahrnehmungskompeten- rales Resümee dieser Studie ist festzuhalten, dass Selbstein- zen im Bereich des schulischen Religionsunterrichts ermög- schätzungen der ProbandInnen durch Interviews wenig licht“105. geeignet erscheinen um Kompetenzausprägungen zu Näher betrachtet gibt es LehrerInnen, die ihre Schüle- bestimmen. Dass dieses Ergebnis nicht nur für die religions- rInnen erstaunlich gut einschätzen können, während andere pädagogische, sondern grundsätzlich für die pädagogische Lehrkräfte ihre SchülerInnen zum Teil sehr unzutreffend Diskussion einen zentralen Stellenwert besitzt, wird daran diagnostizieren.106 Bemerkenswert ist auch, dass SchülerIn- deutlich, dass in zahlreichen bisherigen empirischen Studien nen, deren Werthaltung eine Tendenz zur Beziehungs- und Kompetenzen über Selbsteinschätzungen erhoben werden95. Traditionsorientierung aufweist, am genauesten eingeschätzt Auch zeigen die empirischen Daten – ungeachtet der Beden- werden, während SchülerInnen, deren Werthaltung durch ken der Verfasserin96 – beachtliche Konvergenzen zwischen eine Selbst- und Traditionsorientierung gekennzeichnet ist, Testverfahren und Videoanalysen97. In diesem Sinne legt am schlechtesten diagnostiziert werden107. sich die begründete Vermutung nahe, dass „Testverfahren Im Themenbereich „Naturwissenschaft und Theologie“ eine gute Prognosekraft für die Kompetenzwerte der Video- lässt sich grundsätzlich feststellen, dass im Durchschnitt die analysen und damit der gezeigten Unterrichtsstunden“ 98 Skala zur ethischen Handlungsdimension die wenigsten Dif- besitzen. Dieses Ergebnis ist insofern bedeutungsvoll, als die ferenzen zwischen SchülerInneneinstellungen einerseits und Studie klar zu erkennen gibt, wie aufwändig sich die Durch- LehrerInneneinschätzungen andererseits aufweist, während führung von Videoanalysen darstellt. Letztlich zeigt sich, die mit Abstand größte Differenz zwischen beiden bei der dass jede Methode ihre spezifischen Stärken und Schwächen Skala zum Herrschaftsauftrag besteht108. besitzt99, wobei mittelfristig Testverfahren – gerade in Anbe- Ein zentrales Ergebnis dieser Studie hinsichtlich der tracht des Desiderats an empirischer religionspädagogischer kategorialen diagnostischen Wahrnehmungskompetenzen Kompetenzforschung – aufgrund des günstigen Verhältnis- ist, „dass die Passungsmaße im Bereich der Werthaltung ses von Aufwand und Ertrag eine besondere Aufmerksam- unabhängig sind von den Passungsmaßen im Bereich der keit verdienen100. Einstellungsdiagnostik zum Thema ‚Naturwissenschaft und Theologie‘“109. Das heißt, dass die Diagnosekompetenz von 101 4.2 Diagnosekompetenz Lehrkräften domänenspezifisch ist und von daher nicht nur Klose untersucht im Rahmen einer quantitativen Stu- allgemein etwa mit Methoden Pädagogischer Psychologie die, in der u.a. multivariate Analysen und Regressionsanaly- gefördert werden kann, sondern auch eine themenspezifische sen angewendet werden, die diagnostische Wahrnehmungs- Schulung der Wahrnehmungskompetenzen von Religions- kompetenz von Religionslehrkräften, indem sie anhand von lehrkräften erfordert110. In diesem Sinne verdienen für die zwei ausgewählten inhaltlichen Bereichen (Werthaltung weitere Forschungsarbeit auch themenspezifische empiri- Jugendlicher; Einstellungen im Bereich Naturwissenschaft sche Studien Beachtung, wie diese beispielsweise von Gram- und Theologie) einen Vergleich zwischen den empirisch zow111 hinsichtlich der Gottesvorstellungen von Religions- erhobenen Merkmalsausprägungen der SchülerInnen sowie lehrerInnen durchgeführt wurde. den gleichfalls empirisch erhobenen LehrerInneneinschät-

ÖRF 23 (2015) • 101–109 105 Die Bedeutsamkeit einer guten diagnostischen Kompe- und umgekehrt sich zwischen Ländern mit heterogenen tenz tritt insofern hervor, als dass SchülerInnen umso Organisationsformen des Religionsunterrichts sehr gleichen zufriedener mit dem Religionsunterricht sind, je genauer sie können119. eingeschätzt werden112. Interessant ist schließlich auch, dass die Religionslehrkräfte ihre eigene diagnostische Wahrneh- 5.2 REDCo (2009) mungskompetenz nur unzureichend einschätzen können113. Bei REDCo („Religion in Education. A Contribution to Dialogue or a Factor of Conflict in Transforming Societies 5. International ausgerichtete Vergleichsstudien of European Countries“) handelt es sich um ein von der Europäischen Kommission gefördertes Projekt, das von In den letzten zehn Jahren lässt sich auch in der Religi- 2006 bis 2009 in insgesamt acht Ländern durchgeführt onspädagogik eine zunehmende Tendenz an internationalen wurde120. Die empirische Studie zu den Lehrkräften stellt Kooperationen und Forschungsprojekten feststellen. In einen Teilaspekt von REDCo dar und wurde in sechs Län- deren Zusammenhang wurden auch empirische Studien zu dern (Deutschland, England, Estland, Frankreich, Nieder- Religionslehrkräften durchgeführt. lande, Norwegen) durchgeführt121. In methodischer Hin- 5.1 TRES (2009) sicht wurden pro Land nach bestimmten Kriterien sechs Lehrkräfte ausgewählt, wobei die empirischen Daten mit Im Rahmen des von der Europäischen Kommission semistrukturierten Interviews erhoben und mit close reading geförderten Netzwerks TRES („Teaching Religion in a multi- ausgewertet wurden122. cultural European Society“) wurde das quantitativ ausge- Ein an verschiedenen Stellen hervorgehobenes Resultat richtete empirische Projekt PeTeR („Perspectives on Tea- dieser Studie ist es, dass die Lehrkräfte ihre Ziele und Strate- ching Religion“) durchgeführt. Insgesamt beteiligten sich 16 gien auf eine sehr persönliche Weise formulieren123,124,125. Länder sowie 3409 ReligionslehrerInnen an dieser Studie. Des Weiteren spielt in vielen Ländern die persönliche Bio- Die Daten wurden von 3094 Religionslehrkräften mit Häu- graphie eine größere Rolle als die professionelle Ausbildung, figkeits- und Korrelationsanalysen sowie mit Kreuztabellen was die Bedeutung der eigenen religiösen Haltung nahe- (Kontingenzkoeffizient: Cramérs V) ausgewertet, wobei legt126. Schließlich sei in Anbetracht der Heterogenität der zahlenmäßige Differenzen der Ländersamples in der Aus- teilnehmenden Länder hervorgehoben, dass sich Affinitäten 114,115 wertung zu berücksichtigen sind . Als abhängige Varia- zwischen Deutschland und den Niederlanden feststellen las- beln wurden Erziehungsziele (Teaching in Religion, about sen, die im Unterschied zu den anderen vier Ländern beste- Religion, from Religion) und Methoden (kognitive, affek- hen. Beispielsweise ist die Bildung einer religiösen Identität tive, expressive), als unabhängige Variablen religiöse Orien- ein ausdrücklich genanntes Ziel in beiden Ländern127 und tierung, Wertorientierung, politische Orientierung sowie Religion wird von deren befragten Lehrkräften an oberster Wahrnehmung der Schulsituation operationalisiert, des Stelle hinsichtlich der verschiedenen Faktoren von Diversi- Weiteren wurden auch Hintergrundvariablen (u.a. tät genannt128. Als Gemeinsamkeit zwischen allen unter- Geschlecht, Alter, religiöse Zugehörigkeit, Berufserfahrung) suchten Ländern erweist sich die Zielvorstellung „das Wis- 116 erhoben . sen über, das Verstehen von und den Respekt vor Religionen Die Ergebnisse dieser empirischen Vergleichsstudie zu fördern“129. sind bemerkenswert und vielschichtig.117 So unterscheiden sich die Zielvorstellungen der Religionslehrkräfte bzgl. Tea- 6. Rückblick und Ausblick ching in Religion, about Religion und from Religion keines- Im Vergleich zu der Bilanz von Ziebertz130 geben allein wegs auf die Weise, wie man es aufgrund der Theoriediskus- die empirischen Studien der letzten 15 Jahre eine quantita- sion erwarten könnte. Diese Zielvorstellungen werden von tive Zunahme wie qualitative Verbesserung zu erkennen. der Mehrheit keineswegs als einander ausschließende Alter- Beispielsweise operieren die quantitativen Auswertungen nativen betrachtet, so dass ungeachtet bestimmter Länder- vermehrt mit multivariaten Analysemethoden und differenzen gilt: „the results clearly speak for the assumption beschränken sich nur im Ausnahmefall auf deskriptive Ana- that such goals tend to form a characteristic mix rather than lysen. Positiv zu vermerken ist auch eine kumulative For- forcing the teachers to make a choice.“118 Gleichfalls zeigt schungsarbeit, indem z.B. gezielt in früheren Studien entwi- sich, dass die jeweilige Praxis des Religionsunterrichts in ckelte Items und Skalen erneut eingesetzt werden. Des Wei- den einzelnen Ländern häufig jenseits der Unterscheidung teren sind zunehmend triangulative und mehrperspektivi- in konfessionellen und nicht-konfessionellen Religionsun- sche Studien zu beobachten. Dieses mehr an evidenzbasier- terricht verläuft, da sich Lehrstrategien in Ländern mit kon- tem Wissen zeigt jedoch zugleich, wie viel Forschungsbedarf fessionellem Religionsunterricht erheblich unterscheiden nach wie vor besteht.

106 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Deutlich weisen die empirischen Daten darauf hin, dass bildung zwischen Berufsfeld und Wissenschaftsbezug, Leipzig: Evan- Ergebnisse von LehrerInnenbefragungen mit Testverfahren gelische Verlagsanstalt 2013, 192–213. 11 Vgl. Lück 2012 [Anm. 6]. oder mit SchülerInnenbefragungen etc. abzugleichen sind. 12 Vgl. Englert, Rudolf u.a: Innenansichten des Referendariats. Wie Auffallend ist auch, dass sich zahlreiche Studien auf die erleben angehende Religionslehrer/innen an Grundschulen ihren Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Baden-Württem- Vorbereitungsdienst? Eine empirische Untersuchung zur Entwicklung berg konzentrieren, während vergleichbare Studien in Bay- (religions)pädagogischer Handlungskompetenz, Berlin: LIT Verlag ern oder Hessen ein weitgehendes Desiderat darstellen. 2006 (= Forum Theologie und Pädagogik 14). Auch markieren bestimmte Spannungen in den Ergebnissen 13 Vgl. Lück 2012 [Anm. 6]. 14 Vgl. ebd., 26f. zwischen empirischen Studien weiteren Forschungsbedarf 15 Vgl. ebd., 201. (vgl. etwa zur religiösen Sozialisation von Lehramtsstudie- 16 Ebd., 201. 131 132 renden und ReferendarInnen Lück sowie Englert u.a. ). 17 Ebd., 203. Abschließend sei nochmals hervorgehoben, dass die vorlie- 18 Vgl. Lück 2012 [Anm. 6], 208. gende Darstellung keine Totalerfassung leisten konnte und 19 Ebd., 209. 20 Vgl. Englert u.a. 2006 [Anm. 12]. u.a. empirische Forschungsarbeiten auf muslimischer 21 Vgl. ebd., 32–39. 133 134 Seite sowie aus religionswissenschaftlicher Perspektive 22 Vgl. Porzelt, Burkard: Innenansichten des Referendariats im bilan- nicht eigens diskutiert werden konnten. zierenden Ausblick, in: Englert, Rudolf u.a. (Hg.): Innenansichten des Referendariats, Münster: LIT 2006, 455–477. Anmerkungen 23 Ebd., 456. 24 Vgl. ebd., 457. 1 Vorliegende Version ist weitgehend identisch mit Rothgangel, Mar- 25 Vgl. ebd., 461. tin: Empirische Befunde zur Religionslehrkräften, in: Schreiner, 26 Ebd., 462. Peter / Schweitzer, Friedrich (Hg.): Religiöse Bildung erforschen: 27 Ebd., 464. Empirische Befunde und Perspektiven, Münster: Waxmann Verlag 28 Ebd., 473. 2014, 165–176. Sie ist jedoch um ca. ein Drittel ausführlicher und 29 Klose, Britta: Diagnostische Wahrnehmungskompetenzen von Reli- ergänzt mit der Literatur aus der ersten Jahreshälfte von 2015. gionslehrerInnen, Stuttgart: Verlag Kohlhammer 2014 (= Religions- 2 Vgl. Biehl, Peter: Beruf: Religionslehrer. Schwerpunkte der gegen- pädagogik innovativ 6), 165f. wärtigen Diskussion, in: Jahrbuch der Religionspädagogik. 2, Neu- 30 Vgl. Lück, Christhard: Beruf Religionslehrer. Selbstverständnis – Kir- kirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1985, 162. chenbindung – Zielorientierung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 3 Ziebertz, Hans-Georg: Lehrerforschung in der empirischen Reli- 2003 (= Arbeiten zur Praktischen Theologie 22). gionspädagogik, in: Ziebertz, Hans-Georg / Simon, Werner (Hg.): 31 Vgl. Liebold, Heide: Religions- und Ethiklehrkräfte in Ostdeutsch- Bilanz der Religionspädagogik, Düsseldorf: Patmos-Verlag 1995, 73. land. Eine empirische Studie zum beruflichen Selbstverständnis, 4 Vgl. ebd., 48. Münster u.a.: LIT Verlag 2004. 5 Vgl. Lück, Christhard: Religionsunterricht an der Grundschule. Stu- 32 Vgl. Hahn, Matthias: Wende und Wandlung. Bildungsgeschichten dien zur organisatorischen und didaktischen Gestalt eines umstritte- ostdeutscher ReligionslehrerInnen in Zeiten gesellschaftlicher nen Schulfaches, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002 (= Arbei- Umbrüche, Münster: LIT Verlag 2003 (= Religionspädagogische Kon- ten zur Praktischen Theologie 22), 202f. texte und Konzepte 12). 6 Vgl. Lück, Christhard: Religion studieren. Eine bundesweite 33 Vgl. Münch, Dörte: Wege der Professionalisierung evangelischer empirische Untersuchung zu der Studienzufriedenheit und den Studi- Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen. Eine qualitativ- enmotiven und –belastungen angehender Religionslehrer/innen, Ber- empirische Studie zu ihrer Situation und ihrem Selbstverständnis lin: LIT Verlag 2012 (= Forum Theologie und Pädagogik 22), 11–13. 2008, in: http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/ 7 Vgl. Feige, Andreas / Friedrichs, Nils / Köllmann, Michael: Religi- Derivate-16284/html/front.html [abgerufen am: 07.05.2014]. onsunterricht von morgen? Studienmotivationen und Vorstellungen 34 Vgl. Bucher, Anton / Miklas, Helene: Zwischen Berufung und über die zukünftige Berufspraxis bei Studierenden der ev. und kath. Frust. Die Befindlichkeit von katholischen und evangelischen Religi- Theologie/Religionspädagogik. Eine empirische Studie an Baden- onslehrerInnen in Österreich. Unter Mitarbeit von Sonja Danner u.a., Württembergs Hochschulen, Ostfildern: Schwabenverlag 2007. Wien: LIT Verlag 2005 (= Empirische Theologie 14). 8 Vgl. Heller, Thomas: Studienerfolg im Theologiestudium. Exem- 35 Vgl. Miklas, Helene / Pollitt, Helmar-Ekkehart / Ritzer, Georg: plarische Befunde einer deutschland-weiten Panelstudie zur Identifi- „Ich wünsche mir aufrichtige Anerkennung unserer Arbeit...“. Berufs- zierung und Quantifizierung persönlicher Bedingungsfaktoren des zufriedenheit, Belastungen und Copingstrategien evangelischer Reli- Studienerfolgs bis zum fünften Semester bei Studierenden der Evan- gionslehrerInnen in Österreich, Münster / New York: Waxmann 2015. gelischen Theologie (Pfarr-/Lehramtsstudiengänge), Jena: edition 36 Vgl. Bucher / Miklas 2005 [Anm. 34]. Paideia 2011. 37 Vgl. ebd., 31. 9 Vgl. Riegel, Ulrich / Mendl, Hans: Studienmotive fürs Lehramt Reli- 38 Vgl. ebd., 125. gion, in: ZPT 63/4 (2011) 344–358. 39 Vgl. ebd., 28f. 10 Vgl. Riegel, Ulrich / Mendl, Hans: Fachdidaktische Perspektiven 40 Vgl. Miklas / Pollitt / Ritzer 2015 [Anm. 35], 11, 193. protestantischer Lehramtsstudierender auf den Religionsunterricht, 41 Strauss, Anselm / Corbin, Juliet: Grounded theory: Grundlagen in: Heller, Thomas / Wermke, Michael (Hg.): Universitäre Lehrer- qualitativer Sozialforschung, Landsberg: Beltz 1990, 17. 42 Bucher / Miklas 2005 [Anm. 34], 208f.

ÖRF 23 (2015) • 101–109 107 43 Vgl. ebd., 209. 78 Hütte, Saskia / Mette, Norbert: Religion im Klassenverband unter- 44 Miklas / Pollitt / Ritzer 2015 [Anm. 35], 193. richten. Lehrer und Lehrerinnen berichten von ihren Erfahrungen, 45 Vgl. Englert, Rudolf / Güth, Ralph: ‚Kinder zum Nachdenken brin- Münster u.a.: LIT Verlag 2003. gen’: Eine empirische Untersuchung zu Situation und Profil 79 Vgl. ebd., 6–11. katholischen Religionsunterrichts an Grundschulen, Stuttgart u.a.: 80 Vgl. Hütte, Saskia / Mette, Norbert: Religion im Klassenverband Kohlhammer 1999. unterrichten. Lehrer und Lehrerinnen berichten von ihren Erfahrun- 46 Vgl. Lück 2003 [Anm. 30]. gen, Münster u.a.: LIT Verlag 2003, 229. 47 Vgl. Bucher / Miklas 2005 [Anm. 34], 219. 81 Vgl. ebd., 230. 48 Vgl. Feige, Andreas u.a.: ‚Religion’ bei ReligionslehrerInnen. Religi- 82 Ebd., 230. onspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in 83 Vgl. ebd., 230f. empirisch-soziologischen Zugängen, Münster u.a.: LIT Verlag 2000. 84 Vgl. Lück 2003 [Anm. 30]. 49 Vgl. Feige, Andreas / Tzscheetzsch, Werner: Christlicher Religions- 85 Vgl. ebd., 41ff., 390ff. unterricht im religionsneutralen Staat? Unterrichtliche Zielvorstellun- 86 Vgl. ebd., 42. gen und religiöses Selbstverständnis von ev. und kath. Religionslehre- 87 Ebd., 69. rinnen und – lehrern in Baden-Württemberg. Eine empirisch-reprä- 88 Ebd., 72, ohne die Hervorhebung im Original. sentative Befragung, Stuttgart: Kohlhammer 2005. 89 Vgl. Hofmann, Renate: Religionspädagogische Kompetenz. Eine 50 Vgl. Feige, Andreas / Dressler, Bernhard / Tzscheetzsch, Werner empirisch-explorative Studie zur Evaluation religionspädagogischer (Hg.): Religionslehrer oder Religionslehrerin werden. Zwölf Analysen Kompetenz von ReligionslehrerInnen, Hamburg: Kovač 2008. berufsbiografischer Selbstwahrnehmungen, Ostfildern : Schwabenver- 90 Vgl. ebd., 186f. lag 2006. 91 Vgl. ebd., 172 51 Vgl. Feige u.a. 2000 [Anm. 48]. 92 Vgl. ebd., 173 52 Vgl. Feige / Tzscheetzsch 2005 [Anm. 49]. 93 Vgl. ebd., 148f. 53 Vgl. Feige / Dressler / Tzscheetzsch 2006 [Anm. 50]. 94 Vgl. Hofmann 2008 [Anm. 89], 346–364. 54 Vgl. Feige u.a. 2000 [Anm. 48], 47–52. 95 Vgl. ebd., 363. 55 Vgl. Feige / Dressler / Tzscheetzsch 2006 [Anm. 50], 20–24. 96 Vgl. ebd., 373. 56 Vgl. Feige u.a. 2000 [Anm. 48], 210. 97 Vgl. ebd., 363. 57 Vgl. Feige / Tzscheetzsch 2005 [Anm. 49], 7. 98 Ebd., 363. 58 Vgl. ebd., 137ff. 99 Vgl. ebd., 384f. 59 Vgl. Feige, Andreas: ‚Einzelfall’ und ‚Kollektiv’ – zwei Seiten einer 100 Vgl. ebd., 385. Medaille?, in: Dressler, Bernhard / Feige, Andreas / Schöll, 101 Vgl. Klose 2014 [Anm. 29]. Albrecht (Hg.): Religion – Leben, Lernen, Lehren. Ansichten zur 102 Vgl. Feige, Andreas / Gennerich, Carsten: Lebensorientierungen „’Religion’ bei ReligionslehrerInnen“, Münster u.a.: LIT Verlag 2004, Jugendlicher. Alltagsethik, Moral und Religion in der Wahrnehmung 10–16, bes. 13. von Berufschülerinnen und -schülern in Deutschland. Eine Umfrage 60 Ebd., 13. unter 8.000 Christen, Nicht-Christen und Muslimen, Münster u.a.: 61 Vgl. Feige u.a. 2000 [Anm. 48], 178ff. Waxmann 2008. 62 Feige / Dressler / Tzscheetzsch 2006 [Anm. 50], 378. 103 Vgl. Klose 2014 [Anm. 29], 65–67, 123 u.ö. 63 Vgl. ebd., 378–401. 104 Vgl. ebd., 110f., 128–131. 64 Feige / Tzscheetzsch 2005 [Anm. 49], 83. Dieser Befund richtet 105 Ebd., 116. sich gegen die Hamburger Studie von Langer 1989. 106 Vgl. ebd., 117, 144. 65 Ebd., 88. 107 Vgl. ebd., 120. 66 Ebd., 20. 108 Vgl. ebd., 121. 67 Feige u.a. 2000 [Anm. 48, 46]. 109 Klose 2014 [Anm. 29], 157. 68 Vgl. Englert, / Güth 1999 [Anm. 45]. 110 Vgl. ebd., 213. 69 Vgl. Liebold 2004 [Anm. 31]. 111 Vgl. Gramzow, Christoph: Gottesvorstellungen von Religionslehre- 70 Schweitzer, Friedrich / Biesinger, Albert: Gemeinsamkeiten rinnen und Religionslehrern: eine empirische Untersuchung zu sub- stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspek- jektiven Gottesbildern und Gottesbeziehungen von Lehrenden sowie tiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Unter zum Umgang mit der Gottesthematik im Religionsunterricht, Ham- Mitarbeit von Reinhold Boschki u.a., Freiburg u.a.: Herder / Güterslo- burg: Kovac 2004. her Verlagshaus 2002. 112 Vgl. ebd., 185f. 71 Vgl. ebd., 225–235. 113 Vgl. ebd., 186f. 72 Ebd., 194. 114 Vgl. Riegel, Ulrich / Ziebertz, Hans-Georg: Concepts and methods 73 Vgl. Kuld, Lothar u.a.: Im Religionsunterricht zusammenarbeiten. of the empirical study, in: Ziebertz, Hans-Georg. / Riegel, Ulrich Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in (Hg.): How Teachers in Europe Teach Religion. An International Baden-Württemberg, Stuttgart: Kohlhammer 2009. Empirical Study in 16 Countries, Berlin: LIT Verlag 2009 (= Interna- 74 Vgl. ebd., 16f. tional Practical Theology 12), 10f. 75 Vgl. ebd., 17–22. 115 Schweitzer, Friedrich / Riegel, Ulrich / Ziebertz, Hans-Georg: 76 Vgl. ebd., 134f. Europe in a comparative perspective: religious pluralism and 77 Ebd., 167f. mono-religious claims, in: Ziebertz, Hans-Georg / Riegel, Ulrich (Hg.): How Teachers in Europe Teach Religion. An International

108 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Empirical Study in 16 Countries, Berlin: LIT Verlag 2009 (= Interna- Münster u.a.: Waxmann 2009 (= Religious Diversity and Education in tional Practical Theology 12), 247. Europe 15), 399. 116 Vgl. Riegel / Ziebertz 2009 [Anm. 114], 13–19. 125 Vgl. Kerrutt, Anna / Müller, Christine: Lehrerinnen und Lehrer zu 117 Dies unterstreicht auch die vertiefende empirische Studie zur religiöser Vielfalt im Klassenzimmer. Interreligiöses Lernen als Beit- deutschsprachigen Schweiz (Jakobs u.a. 2009). rag zu religiöser Vielfalt, in: Jozsa, Dan-Paul / Knauth, Thorsten / 118 Schweitzer / Riegel / Ziebertz 2009 [Anm. 115], 255. Weisse, Wolfram (Hg.): Religionsunterricht, Dialog und Konflikt. 119 Vgl. ebd., 255. Analysen im Kontext Europas, Münster u.a.: Waxmann 2009 (= Reli- 120 Vgl. Jozsa, Dan-Paul / Knauth, Thorsten / Weisse, Wolfram (Hg.): gious Diversity and Education in Europe 15), 415. Religionsunterricht, Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Euro- 126 Vgl. Avest / Bakker / Want 2009 [Anm. 123], 114, 126. pas, Münster u.a.: Waxmann 2009 (= Religious Diversity and Educa- 127 Vgl. ebd., 123. tion in Europe 15). 128 Vgl. Kerrutt / Müller 2009 [Anm. 125], 416. 121 Vgl. Want, Anna van der u.a. (Hg.): Teachers Responding to Reli- 129 Ebd., 415. gious Diversity in Europe. Researching Biography and Pedagogy, 130 Vgl. Ziebertz 1995 [Anm. 3], 47–78. Münster u.a.: Waxmann 2009 (= Religious Diversity and Education in 131 Vgl. Lück 2012 [Anm. 6]. Europe 8). 132 Vgl. Englert u.a. 2006 [Anm. 12]. 122 Vgl. Avest, Ina ter / Bakker, Cok (2009): The Voice of the Teacher(s) 133 Vgl. Khorchide, Mouhanad: Der islamische Religionsunterricht zwi- – Researching Biography and Pedagogical Strategies, in: Want, Anna schen Integration und Parallelgesellschaft. Einstellungen der islami- van der u.a. (Hg.): Teachers Responding to Religious Diversity in schen ReligionslehrerInnen an öffentlichen Schulen, Wiesbaden: VS Europe. Researching Biography and Pedagogy, Münster u.a.: Wax- Verlag für Sozialwissenschaften 2009. mann 2009 (= Religious Diversity and Education in Europe 8), 134 Vgl. Frank, Katharina: Schulischer Religionsunterricht. Eine reli- 25–26). gionswissenschaftlich-soziologische Untersuchung, Stuttgart: Kohl- 123 Vgl. Avest, Ina ter / Bakker, Cok / Want, Anna van der: Interna- hammer 2010 (= Religionswissenschaft heute 7). tional Comparison – Commonalities and Differences of 36 Teachers Teaching Religion(s) in Europe, in: Want, Anna van der u.a. (Hg.): Autoreninformation Teachers Responding to Religious Diversity in Europe. Researching Univ.-Prof. DDr. Martin Rothgangel Biography and Pedagogy, Münster u.a.: Waxmann 2009, 123 (= Reli- Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien gious Diversity and Education in Europe 8). Institut für Religionspädagogik 124 Vgl. Avest, Ina ter: Lehrerreaktionen auf religiöse Vielfalt. Eindrücke Schenkenstr. 8-10 aus der Praxis und Empfehlungen für die Lehrerbildung, in: Jozsa, A-1010 Wien Dan-Paul / Knauth, Thorsten / Weisse, Wolfram (Hg.): Reli- e-mail: [email protected] gionsunterricht, Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Europas, GND: (DE-588)114524181

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Christian Feichtinger / Mario Schönhart

Naturalismus als Herausforderung für den Religionsunterricht der autor der autor DDr. Christian Feichtinger ist Univ.-Ass. am Insti- Mag. Mario Schönhart ist Dissertant am Institut für tut für Katechetik und Religionspädagogik an der Philosophie an der Kath.-Theol. Fakultät der Karl-Fran- Karl-Franzens-Universität Graz und Religionsleh- zens-Universität Graz und Religionslehrer an der HAK rer am BG/BRG Bruck a. d. Mur. Mürzzuschlag und am BG/BRG Bruck a. d. Mur.

Abstract Der Beitrag befasst sich mit naturalistischen Aussagen und Einstellungen von SchülerInnen im Religionsunterricht und einer didaktischen Reflexion über den angemessenen Umgang mit ihnen durch die Lehrperson. Es wird dargelegt, was unter Naturalis- mus zu verstehen ist, auf welche Weise er im Unterricht auftauchen kann und welche Fragen davon betroffen sind. Gestützt auf eine theologisch-philosophische Kritik am Naturalismus sehen wir es als Aufgabe des Religionsunterrichts an, naturalistische Ein- stellungen kritisch zu hinterfragen. Hierzu beziehen wir uns auf das Konzept der ‚Kinder-/Jugendtheologie‘ bzw. im Speziellen auf eine ‚Theologie für Kinder/Jugendliche‘. Dabei plädieren wir dafür, die sog. ‚sokratische Methode‘ in ihrem ursprünglichen Sinn, nämlich der Infragestellung von vermeintlichen Gewissheiten (elenchus), zu verwenden. Die sokratische Methode kann und soll auch dafür verwendet werden, (naturalistische) Weltsichten der Schülerinnen und Schüler in Frage zu stellen, nicht um dann autoritär eine ‚richtige‘ Weltsicht vorzugeben, sondern um zu helfen, vermeintliches Wissen zu dekonstruieren und neue Denk- horizonte zu eröffnen. Schlagworte: Naturalismus, Philosophie, Didaktik, Religionsunterricht, Religionslehrer, Religionslehrerin, Österreich

Naturalism: A Challenge for Religious Education This paper reflects on statements and attitudes of pupils in religion classes that represent a perspective of naturalism, and on teachers’ possibilities of reacting to such statements. We define the term ‘naturalism’ and explain, in which way naturalistic atti- tudes may occur and which questions they are related to. Based on a theological and philosophical criticism of naturalism we want to encourage teachers of religion to openly question such worldviews. To do so, we refer to the concept of ‘philosophy/ theology for children/adolescents’. We argue to use the so-called ‘Socratic Method’ in its original sense, namely the challenging of alleged certainties (elenchus). The Socratic Method can and should be used not only to philosophize freely, but also to ques- tion pupils’ (naturalistic) worldviews and attitudes, not with the purpose to then impose a ‘correct’ worldview onto them, but to help deconstructing alleged certainties and opening new horizons of thought. Keywords: Naturalism, Post-activity feedback sessions and reflection, Religious education, Teacher of religious educa- tion, Austria

1. Naturalismus als Problem des Religionsunter- Rückt man im RU die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ ins richts Zentrum der Aufmerksamkeit, dauert es oft nicht lange, bis man sich in einer Diskussion um den Begriff der ‚Seele‘ wie- Es ist eine alltägliche Erfahrung im Religionsunter- derfindet. Für manche SchülerInnen ist die Frage, ‚ob der richt1, dass man als LehrerIn in Dialogprozesse mit Schüle- Mensch eine Seele habe‘, selbstverständlich mit ‚Ja‘ zu beant- rInnen tritt, die eine begriffliche Herausforderung in theolo- worten. Oft wird die ‚Seele‘ dinglich als etwas am oder im gischer und philosophischer Hinsicht darstellen. Eine häufig Körper gedacht: Ein Ding, das notwendig zum Menschen wiederkehrende Erfahrung dabei ist die Begegnung mit gehöre, jedoch unsichtbar und deshalb nur schwer zu lokali- einem als selbstverständlich und alternativlos erachteten sieren sei. Diese diffus gegenständlich gedachte Seele wird weltanschaulichen Naturalismus. Was damit gemeint ist, als Trägerin eines Weiterlebens nach dem Tod vorgestellt: lässt sich an einem Beispiel aus der Unterrichtserfahrung Etwas, das den toten Körper verlasse und daher irgendwie exemplarisch aufzeigen:

Christian Feichtinger / Mario Schönhart: Naturalismus als Herausforderung für den 111 Religionsunterricht • ÖRF 23 (2015), 111–119 für das individuelle Weiterleben nach dem Tod oder die die Grundlagen des Glaubens vernünftig begründen und auf Beziehung zu Gott zuständig sei. Gegen diese Vorstellung eine Weise darlegen, die das offene Gespräch mit anderen werden in der Diskussion oft andere, weniger dinghafte Weltanschauungen nicht scheut. Entscheidend für das in Konzepte ins Feld geführt. Dabei wird die Seele eher als unserem Beitrag fokussierte Problem des Naturalismus ist ‚ganzheitliche‘ Identitätsträgerin oder als ungegenständliche folgender Punkt: Die Synode sieht nicht nur vor, dass Religi- ‚Form‘ bzw. ‚Energie‘ angesehen. Diese überdauere den Tod onslehrerInnen ihre christliche Überzeugung vertreten und und stelle die Summe all dessen dar, was das individuelle begründen, sondern auch, dass sie ausgehend von ihrem Leben und seine Beziehungen ausmache.2 Standpunkt andere Weltanschauungen hinsichtlich ihrer Fast in jeder Unterrichtsgruppe finden sich auch Schü- Voraussetzungen reflektieren und der Kritik unterziehen lerInnen, die sich mit argumentativer Leidenschaft und im sollen – „Religionsunterricht soll Scheinsicherheiten aufbre- Rückgriff auf ihr naturwissenschaftliches Wissen gegen chen, vermeintlichen Glauben ebenso wie gedankenlosen beide hier angeführten Vorstellungen von der Existenz einer Unglauben“ (2.5.1). Seele wenden: Die Vorstellung, dass der Mensch eine Seele Die Synode differenziert hier (ausgehend von einem habe, wird als eine überholte religiöse Vorstellung aufge- religiös verstandenen Glaubensbegriff) zwischen Glauben fasst, die angesichts der modernen naturwissenschaftlichen und Unglauben. Darüber hinaus ist es wichtig zu sehen, dass Erkenntnisse nicht mehr zu halten sei. Am Menschen sei auch bei nicht- oder anti-religiösen Weltsichten immer demnach prinzipiell nichts auffindbar, was über die ‚natürli- metaphysische Annahmen und spezifische ‚Glaubenspro- zesse‘ mit im Spiel sind.3 Der christliche Glaube als Gegen- chen Zusammenhänge‘ hinausweise. Der Mensch sei aus- stand des RUs trifft in diesen Fällen nicht einfach auf Leer- schließlich von der ‚Natur‘ und den ‚natürlichen Prozessen‘ stellen im Denken, sondern auf weltbildformende metaphy- her zu sehen. Für die Erklärung der Natur aber seien die sische Setzungen und nicht-religiöse Glaubensvorstellungen. Naturwissenschaften (Physik, Biologie, Chemie) ausrei- Diese können große Sicherheit und Stabilität aufweisen und chend. Diese könnten deutlich erweisen oder auch beweisen, dabei auch den Möglichkeitsbedingungen eines Offenba- dass z.B. alle unsere subjektiven Vorstellungen und Gefühle rungsglaubens deutlich entgegenstehen. Will der RU die nur Produkte unseres Gehirns seien. Insgesamt würden grundsätzliche Sinnhaftigkeit des Evangeliums argumentativ daher Biochemie und Physiologie ausreichen, um den Men- ausweisen, ist er gegenwärtig herausgefordert, sich kritisch schen hinreichend zu erfassen. Ein über die naturwissen- mit Weltsichten und ‚Glaubensvorstellungen‘ der SchülerIn- schaftlichen Erklärungen hinausgehender möglicher nen zu befassen, die die Möglichkeitsbedingungen einer sol- Transzendenzbezug, eine Gottesbeziehung oder eine chen Sinnhaftigkeit prinzipiell ausschließen. Im Besonderen unsterbliche Seele seien höchst unwahrscheinliche und geht es dabei um die offenkundig „beachtliche Verbreitung zweifelhafte Annahmen, die wissenschaftlich nicht bewiesen 4 szientistischer Einstellungen“ . werden könnten und deshalb heute für die Beschreibung des Was Rothgangel als Szientismus anspricht, markiert die Menschen nicht mehr benötigt würden. Die Annahme eines (häufig auch unter dem Stichwort ‚Positivismus‘ verhan- Lebens nach dem Tod sei zwar eine schöne Hoffnung, die delte) Auffassung, dass Fragen nach dem Menschen und sei- viele Menschen brauchen, um mit dem Leid in der Welt bes- ner Stellung in der Welt ausschließlich durch naturwissen- ser umgehen zu können oder ihre Angst vor dem Tod aus- schaftliche Methoden in Angriff genommen werden sollen. zuhalten. Jedoch sei dies ‚aus wissenschaftlicher Perspektive‘ Darüber hinausgehende (z.B. geisteswissenschaftliche, meta- unhaltbar, da das menschliche Leben wie das Leben jedes physische oder religiöse) Antwortversuche seien jedenfalls anderen biologischen Organismus erfahrungsgemäß mit auf Fragen der Biologie oder Physik zu reduzieren und mit- dem Tod sein Ende finde. Auch wenn einzelne Phänomene tels deren Methodik hinreichend zu beantworten (= Reduk- noch nicht vollständig erklärbar sind, so sei doch zu erwar- tionismus). Ein solcher Szientismus kann als Spielart des ten, dass durch den weiteren Fortschritt alles am Menschen Naturalismus betrachtet und daher vorläufig unter diesem und in der Welt seine hinreichende Erklärung durch die Überbegriff zusammengefasst werden. Naturalismus als wel- Naturwissenschaften finden werde. tanschauliche Position weist allgemein folgende Kennzei- Wie gelangt man als Lehrperson zu einem konstrukti- chen auf: Alle Vorgänge in der Welt werden als ausschließ- ven Umgang mit dieser Anschauung? Der Beschluss der lich naturhafte Ereignisse gesehen und sollen als solche Würzburger Synode (1974) definiert als ein wesentliches durch die Naturwissenschaften hinreichend erklärbar sein. Ziel des RUs: „Er führt in die Wirklichkeit des Glaubens ein, Deren Methodenspektrum mit dem Anspruch auf mathe- hilft sie zu verantworten und macht den Schülern deutlich, matisch-quantitative Exaktheit und Objektivität (‚hard daß man die Welt im Glauben sehen und von daher seine science‘) wird als maßgebend hervorgehoben. Insgesamt Verantwortung in ihr begründen kann.“ (2.5.1) Hier klingt wird eine reduktionistische Erklärung der Wirklichkeit 5 eine fundamentaltheologische Aufgabe des RUs an. Er soll angestrebt.

112 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen, muss einer Offenbarung Gottes, kategorisch ausschließen. Wir vorab die wichtige Unterscheidung zwischen ‚Naturwissen- möchten dazu ermutigen, selbstbewusst auf solche Anfragen schaft‘ (= eine durch Material- und Formalobjekt bestimmte zuzugehen und diesen nicht nur die Position des Glaubens Partialwissenschaft) und ‚Naturalismus‘ (= eine Auslegung als bloßen Kontrapunkt gegenüberzustellen. Die SchülerIn- der Wirklichkeit in ihrer Ganzheit) hervorgehoben werden. nen sollen gerade im kritisch nachfragenden Dialog zur ver- Wir weisen mit Nachdruck darauf hin, dass gerade nicht das tieften Reflexion ihrer mitgebrachten Weltbilder angeleitet Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie/Glaube/ werden. Als Grundlage dazu werden wir in den folgenden Religion zum Thema dieses Aufsatzes gemacht werden soll. Kapiteln einige Dinge in den Blick rücken: Zunächst sind Die Ergebnisse der Naturwissenschaft auf Basis ihres metho- philosophisch/fundamentaltheologisch das Problem des dischen Zugangs werden hier nicht weiter problematisiert, Naturalismus und Ansätze der Kritik differenzierter zu wenngleich in diesem Bereich „zwei Themenkreise für betrachten (Kap. 2). Anschließend ist die sog. ‚sokratische SchülerInnen entscheidend und bildungsrelevant [bleiben]: Methode‘ in ihrem ursprünglichen Sinn als (philosophisches Erstens das Thema ‚Beweis‘ sowie zweitens das Verhältnis und religionspädagogisches) Mittel zur Erschütterung ver- von biblischen Schöpfungserzählungen und naturwissen- meintlicher Gewissheiten didaktisch zu reflektieren (Kap. 3). schaftlichen Welt- und Lebensentstehungstheorien“6. Die Schließlich ist dieser didaktische Zugang noch einmal kri- religionspädagogische Auseinandersetzung mit diesen Fra- tisch zu hinterfragen, um eine klare Perspektive für den RU gen ist trotz vielfältiger Ansätze in der letzten Zeit keines- aufzuzeigen (Kap. 4). Von besonderer Relevanz ist insgesamt wegs abgeschlossen, sie bleibt eines der Zentralprobleme die Situierung der Thematik im Unterricht – diese muss eines glaubwürdigen RUs im gegenwärtigen Kontext.7 Für explizit hervorgehoben werden: Konflikte zwischen religiö- diesen Beitrag ist dagegen nur der Fall relevant, in dem die ser und naturalistischer (vermeintlich naturwissenschaftli- naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Welt implizit cher) Weltbetrachtung tauchen nicht, wie Ritter annimmt, oder explizit zu einer Ontologie ausgeweitet wird. Dieser erst „geraume Zeit“ nach der Primarstufe auf.11 Entgegen Fall ist dadurch ausgezeichnet, dass zumeist jeder nicht-na- Ritters Annahme begegnen nach unserer Erfahrung natura- turwissenschaftliche Zugang zur Welt abgelehnt und die listische Weltbilder und die damit verbundene Fundamen- Möglichkeit einer vernünftigen Weltdeutung bestritten wird, talkritik an religiösen Grundüberzeugungen schon im ers- die nicht am naturalistischen Paradigma orientiert ist – dar- ten oder zweiten Jahrgang der Sekundarstufe I. Sie können unter fallen auch alle religiösen Weltdeutungen. auch schon in der Primarstufe als Anfrage auftauchen. Es ist nach Hoff eine wesentliche Aufgabe der Theolo- Daher müssen diese Fragen auch unter dem Gesichtspunkt gie, „im Gegenlicht der ‚neuen Atheismen‘ […] gegen die einer Kinder- bzw. Jugendtheologie betrachtet werden. Es weltbildförmigen Implikationen des szientifischen Natura- handelt sich dabei kaum um Konflikte zwischen religiösen lismus zu argumentieren“8. Was Hoff hier über die Theolo- Wissensbeständen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gie generell aussagt, ist auch für den RU relevant. Es gilt, (das naturwissenschaftliche Wissen ist oft nur wenig ausge- nicht nur die eigene Überzeugung zu vertreten, sondern prägt und kaum reflektiert). Es zeigt sich vielmehr das Prob- auch auf Widersprüche, erkenntnistheoretische Grenzen lem eines atmosphärisch dominanten und in der Folge und Aporien derjenigen Überzeugungen9 hinzuweisen, die unreflektiert übernommenen Naturalismus, der von seinen einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Religion, jugendlichen Vertretern oft mit Naturwissenschaft identifi- Glaube und Evangelium auf prinzipieller Ebene entgegenste- ziert wird. Liegt ein hohes naturwissenschaftliches Interesse hen. In den Worten Schimmels: „Diese Grenzen muss auch vor, mündet dies leicht in der Etablierung strikt naturalisti- der Religionsunterricht verdeutlichen, indem er die Frag- scher Einstellungen, wobei die Grenze zwischen Naturwis- würdigkeit des naturalistischen Programms aufweist, aber senschaft und Naturalismus Schritt für Schritt verwischt auch indem er die Komplexität des Rationalitätsbegriffs wird. Daher ist die Differenzierung zwischen Naturwissen- sowie die Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und Glauben schaft und Naturalismus in der didaktischen Herangehens- aufzeigt.“10 weise wie auch in der kritischen Selbstreflexion von höchs- In derselben Stoßrichtung optieren wir nachdrücklich ter Bedeutung, da sie gemäß unserer Erfahrung von den dafür, dass es grundsätzlich möglich ist, einerseits Theologie SchülerInnen in diesem Alter ohne Unterstützung nicht zu treiben und Religion zu unterrichten und andererseits geleistet werden kann. positiv auf Naturwissenschaften Bezug zu nehmen und einen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Der/die Religions- 2. Das Problem des Naturalismus lehrerIn ist herausgefordert, sich v.a. mit jenen Weltdeutun- Am Beginn der Betrachtung einiger Formen des begriff- gen kritisch unterscheidend zu befassen, die einen Grund- lichen Zugangs zu ‚Natur‘ ist auf den langen begriffsge- pfeiler seines/ihres Unterrichts, nämlich die Möglichkeit

ÖRF 23 (2015) • 111–119 113 schichtlichen Hintergrund und die unterschiedlichen Ver- methodologischen Naturalismus ist Natur das (und nur das!), wendungsweisen des Wortes zu verweisen: ‚Natur‘ (gr. phý- was sich dem Zugriff der naturwissenschaftlichen Methodik sis) ist ein Wort, das die Geschichte unseres Denkens von zeigt. Die methodische Vorentscheidung ist hier das Ein- der Zeit der griechischen Philosophie bis heute tiefgreifend schränkungskriterium dafür, was als ‚Natur‘ prinzipiell geprägt hat: „Φύσις haben die Römer mit natura übersetzt; erfahrbar sein soll: Was über die Methodik der Naturwis- natura von nasci geboren werden, entstammen, griech. γεν senschaften nicht aufweisbar (d.h. hier: messbar) ist, das –; natura – was aus sich entstammen läßt. Der Name ‚Natur‘ existiert demnach nicht. Was sich als Natur zeigen kann, ist seitdem jenes Grundwort, das wesentliche Bezüge des wird durch den Filter des naturwissenschaftlichen Metho- abendländischen geschichtlichen Menschen zum Seienden, denkanons bestimmt. das er nicht ist und das er selbst ist, nennt.“12 Die Rede von Um das Feld der Rede über Natur zu strukturieren und der ‚Natur‘ wird in vielen verschiedenen Zusammenhängen deutlicher in den Blick zu rücken, kann man mit Mutschler verwendet, dabei verändern sich jeweils auch Bedeutung vier grundsätzliche „Positionen im Möglichkeitsraum der und Umfang des Begriffs. Folgende grundlegende Verwen- Naturphilosophie“16 unterscheiden.17 Die erste Position dungsweisen lassen sich (ohne Anspruch auf Vollständig- betrachtet Natur als Totalität des Existierenden, die aus- keit) unterscheiden:13 schließlich szientifisch zu erfassen ist. In ihrer härtesten ‚Natur‘ kann die Gesamtheit dessen bezeichnen, was Form tritt diese Position als dogmatischer Physikalismus uns als erfahrbare Wirklichkeit umgibt. In diesem Fall ist mit der Behauptung auf, dass Welt und Mensch hinreichend Natur ein Totalitätsbegriff: Er umschließt den umfassenden mittels der Methoden der Physik zu erklären seien. Umstrit- Gesamtzusammenhang der Dinge, die Totalität des Seien- ten ist die Frage, ob das reduktionistische Programm des den: Alles, was ist, ist unter dem Begriff Natur erfasst. Dane- Physikalismus hinsichtlich der subjektiven Erlebnisgehalte ben ist ein Begriff von Natur in Verwendung, der sich durch des Menschen durchzuhalten sei. Mit guten Gründen wird Abgrenzung von einem Gegenteil ergibt. So wird Natur im die Möglichkeit der Reduktion der subjektiven Innenpers- Gegensatz zu Kunst, Technik, Kultur oder Geschichte begrif- pektive (Erlebnisperspektive) des Menschen auf eine wissen- fen und als spezifischer Erfahrungsbereich abgegrenzt: Mit schaftlich-objektive Außenperspektive bestritten. So hat ‚Natur‘ ist dabei nur ein Teil der Wirklichkeit begrifflich etwa Thomas Nagel mit Geist und Kosmos eine philosophi- erfasst. Eine anders gelagerte, theologische Unterscheidung sche Argumentation gegen die Ansprüche einer strikt liegt in der Gegenüberstellung von Natur und Übernatur reduktionistisch operierenden, materialistisch-neodarwinis- (Gnade, Offenbarung) vor. Hinsichtlich der Frage nach der tischen Konzeption von Natur vorgelegt.18 Er rückt dabei angemessenen Methode der Naturerkenntnis ist mit die ungelösten Fragen rund um das Körper-Geist-Problem Mutschler eine entscheidende Zäsur im 17. Jahrhundert zu ins Zentrum und diagnostiziert ein Scheitern des psycho- sehen, die unser modernes Naturverständnis maßgeblich physischen Reduktionismus.19 Nagel wendet sich damit geformt hat: Mit der Anwendung quantitativer Methoden, gegen eine „naturalistische Weltanschauung [kursiv i. Org.]“, mathematischer Beschreibungsformen und reproduzierba- die er als ein „spekulatives Weltbild“ auffasst, welches rer Experimente verändert sich die Auffassung von Natur „durch Extrapolation aus einigen Entdeckungen der Biolo- grundlegend. Natur wird in der Folge als „das ontologische gie, Chemie und Physik erschlossen werden kann“20. Diese Substrat der mathematischen Naturwissenschaft“14 aufge- Weltanschauung werde aber in der Folge zu einer nicht fasst. Damit ist gesagt, dass nur die quantitativ-mathemati- mehr ausreichend reflektierten Form von Ideologie, die schen Naturwissenschaften für die angemessene Erfassung einen nicht haltbaren Erklärungsanspruch hinsichtlich der und Beschreibung der Natur zuständig seien. Es kommt gesamten Wirklichkeit erhebe. Zu Recht weist Nagel in die- damit zu einer Engführung des Naturverständnisses, das auf sem Zusammenhang auf die häufig verwischte Differenz einen bis heute dominierenden, aber vielfach kritisierten zwischen Naturwissenschaft und naturalistischer Weltan- „engen szientifischen Naturbegriff“15 hinausläuft. schauung hin: „Eine solche Weltanschauung ist keine not- Hinsichtlich des Naturalismus wird häufig eine ontolo- wendige Bedingung für die Ausübung irgendeiner dieser gische von einer methodologischen Form unterschieden: Der Wissenschaften, und ihre Akzeptanz oder Nichtakzeptanz ontologische Naturalismus stellt eine allgemeine Behauptung hätte im Großen und Ganzen keine Auswirkungen auf die auf, die für alles Seiende gilt und daher metaphysischen wissenschaftliche Forschung.“21 Damit ist zutreffend gesagt, Charakter hat: Alles, was ist, entstammt der Natur, darüber dass gute naturwissenschaftliche Forschung keineswegs in hinaus existiert nichts. Dabei wird Natur zumeist als die einer notwendigen Verbindung mit den metaphysischen Gesamtheit des Materiellen und der dazu gehörigen Wech- Implikationen eines strikten Naturalismus stehen muss. selwirkungen verstanden – es ergibt sich die klassische Form Die zweite Position betrachtet Natur ebenfalls als Totali- eines materialistisch-naturalistischen Weltbilds. Für den tät des Existierenden, lässt aber eine nicht reduzierbare Plu-

114 Österreichisches Religionspädagogisches Forum ralität an erschließenden Perspektiven zu. Damit wird zwar philosophisch-fundamentaltheologischen Grundkompetenz an ‚Natur‘ als letztem begrifflichen Bezugspunkt festgehal- ein kritischer Reflexionsort für die Möglichkeiten und Gren- ten, jedoch wird die Möglichkeit der methodischen Vielfalt zen von Methoden sein. Besonders bedeutsam erscheint hier eingeräumt und der methodische Naturalismus im Sinne die Entfaltung der Kompetenz, den Reflexionsraum kritisch des strikten Physikalismus oder Biologismus auf anders zu durchleuchten, der sich zwischen den Ergebnissen der gelagerte (z. B. naturphilosophische) Zugänge hin aufgebro- Naturwissenschaften, weltanschaulichen Voraussetzungen chen. und Extrapolationen, Weltbildern und weitreichenden Die dritte Position nimmt Natur nicht als Totalität, son- metaphysischen Behauptungen aufspannt. Über eine solche dern als eine regionale Größe an und sieht in der naturwis- Kompetenz stärkt der RU seine Position als Dialogpartner senschaftlichen Methodik den einzig angemessen Zugang zu im Kanon der Schulfächer, ebenso leistet er einen unver- dieser. Für Mutschler ist diese Position dadurch ausgezeich- zichtbaren Beitrag zur Stärkung der Reflexions- und Orien- net, „dass sie die unbestreitbare Stärke der Naturwissen- tierungskompetenz der SchülerInnen inmitten der weltan- schaften in ihrem eigentlichen Feld, der Natur, bestätigt, schaulichen Vorstellungsvielfalt eines globalisierten Kom- ohne deshalb den Menschen einem rigiden Naturalisie- munikationsraums. Der RU kann sich als Vertreter einer rungsprogramm zu unterwerfen, das mit kaum lösbaren Reflexion von Natur (und damit auch des Beziehungsfeldes Schwierigkeiten verbunden ist“22. Obwohl hier das Nach- von Mensch und Natur) positionieren, die sich grundsätz- denken über den Menschen auf andere Methoden hin geöff- lich an der vierten oben angeführten Position (nach Mutsch- net wird, führe eine solche Position zu dem Problem, dass ler) orientiert. Als solcher wird er sowohl allgemein aner- „scharfe Schnitte im evolutiven Kontinuum“23 gezogen wer- kannte naturwissenschaftliche Erkenntnisse als Bezugs- den und verschiedene Dimensionen des Menschlichen punkte für einen fruchtbaren Dialog sehen als auch mit (Natur, subjektives Erleben, Kultur, Ethik) eher unvermittelt guten Gründen und nachvollziehbaren Argumenten kritisch nebeneinander bestehen bleiben. Stellung beziehen gegen VertreterInnen v.a. der ersten Posi- Die vierte Position setzt Natur als regionale und plura- tion.26 Diese kritische Stellungnahme dient einerseits dem listisch zu bestimmende Größe an. Eine sinnvolle Entfaltung Aufbrechen von naturalistischen Vorstellungen, die nach dieser Position darf nach Mutschler „nicht als Konkurrenz- unserer Erfahrung im Bewusstsein von SchülerInnen häufig veranstaltung gegenüber der Naturwissenschaft“24 auftre- ‚selbstverständlich‘ präsent und dominierend sind. Diese ten, ebenso wenig dürfe sie in irrationale Formen von Selbstverständlichkeit ist zumeist kaum reflektiert und steht Naturmystik oder Naturästhetik abgleiten. Vielmehr hätte in einem bedenkenswerten Verhältnis zu den ontologischen sie z.B. die Krise unseres technisch-praktischen Naturver- und methodologischen Fragwürdigkeiten, die sich bei nähe- hältnisses im Zusammenhang mit unserer unmittelbaren rer Hinsicht zeigen. Andererseits dient die Stellungnahme leiblichen und wertbezogenen Verwobenheit im Naturpro- auch dem notwendigen Aufweis, dass es sich bei der Streit- zess philosophisch-kritisch zu thematisieren. Der leibliche frage nach der Gültigkeit des Naturalismus in letzter Konse- Selbstvollzug des Menschen könnte dabei zum erkenntnisre- quenz um weitreichende Fragen nach metaphysischen levanten Schnittpunkt zwischen Natur, Kultur und umfas- Grundoptionen dreht, die wesentlich schwieriger zu ent- sender Weltdeutung werden.25 scheiden sind, als viele populärwissenschaftliche Darstellun- Für den RU sind folgende Konsequenzen aus dem hier gen uns glauben machen.27 angeführten Überblick zur Frage nach der Natur von Bedeu- Als Bezugspunkt für die grundlegende These, dass die tung: Man kann mit Bezug auf aktuelle philosophische theistische Position, für die wir im RU einstehen, die Kon- Argumentationen aus guten Gründen behaupten, dass die frontation mit dem vorherrschenden Naturalismus auf der Frage danach, was Natur sei und auf welchem Weg relevan- argumentativen Ebene nicht zu fürchten braucht, dient an tes Wissen über die Natur gewonnen werden kann, keines- dieser Stelle noch die naturalismuskritische Argumentation, falls so eindimensional zu beantworten ist, wie es manche die der Berliner Philosoph Holm Tetens vorgelegt hat.28 reduktionistisch-naturalistischen Darstellungen nahe legen. Tetens beansprucht, „eine komplexe Argumentation [zu] Die Frage nach dem Menschen und nach der Wirklichkeit entfalten, wonach es im Vergleich mit der heute vorherr- insgesamt ist keinesfalls den naturalistischen Reduktions- schenden naturalistischen Sicht auf die Welt und unser programmen zu überlassen, deren Erklärungsansprüche im Leben keineswegs unvernünftig ist, auf Gott zu hoffen“29, Allgemeinen weit über das hinausgehen, was sie auf Basis ohne dass dabei anerkannten Ergebnissen der Wissenschaft ihrer Methodik tatsächlich einzulösen vermögen. Der RU widersprochen würde. Sein ebenso knapper wie argumenta- kann und soll sich daher offen dem seriösen Dialog mit den tiv dichter Entwurf hat einen partiell fundamentaltheologi- allgemein gültigen Erkenntnissen der Naturwissenschaften schen Anspruch: Er will argumentativ ausweisen, dass sich stellen. Gleichzeitig soll und kann er auf Basis einer soliden der Glaube an Gott, wie er in Teilen des apostolischen Glau-

ÖRF 23 (2015) • 111–119 115 bensbekenntnisses ausgesprochen ist, mit ständigem Blick guments bzw. der Widerlegung, nicht zu verzichten. Dabei auf die Ansprüche des Naturalismus als vernünftige Hoff- soll es gerade nicht nur um die Reflexion von religiösen nung rechtfertigen lässt.30 Zentral für Tetens Argumentati- Glaubensvorstellungen gehen, sondern auch um nicht-reli- onsgang (und für eine mögliche Anknüpfung des RUs an giöse ‚Glaubensprozesse‘, wie sie sich am Beispiel des Natu- seine Argumente) sind dabei folgende Punkte:31 ralismus darstellen lassen. Denn in den platonischen Dialo- Der Naturalismus folge niemals notwendig aus Resulta- gen begegnet die sokratische Methode nicht als spiele- ten der einzelnen Wissenschaften. Er stelle offenkundig eine risch-reflexive Auseinandersetzung mit philosophischen gegenwärtig verbreitete metaphysische Position dar, in die (oder gar theologischen) Fragen, sondern zielt auf die Ver- einige zeitgenössische PhilosophInnen, die dem Glauben im unsicherung vermeintlicher Gewissheiten des Gesprächs- Allgemeinen ablehnend gegenüberstehen, auch ein gewisses partners ab: „Socrates’ questions start from his partner‘s ini- Maß an ‚Glaubenskraft‘ investieren (müssen). Die Behaup- tial statement, which usually implies a claim to wisdom or to tungen einer (naturalistischen) Metaphysik über das Ganze knowledge of a subject related to virtue. Sometimes Socrates der Wirklichkeit ließen sich prinzipiell durch Erfahrung seeks clarification of the claim; at other times he proceeds weder beweisen noch widerlegen.32 Der Naturalismus sei directly to elicit his partner’s agreement to premises that will aufgrund der offenkundigen Differenz zwischen seinen turn out to be inconsistent with the initial claim.”35 Umge- Erklärungsansprüchen und seinen tatsächlichen Erklärungs- legt auf die heutige Situation sind solche vermeintlichen leistungen (v.a. in Hinblick auf mentale Sachverhalte bleiben Gewissheiten oft gerade keine religiösen, sondern säkulare, gravierende Erklärungslücken) problematisch. Der Theis- ggf. eben naturalistische Gewissheiten über das Wesen der mus habe explanatorische Stärken, wo der Naturalismus ver- Welt. Bevorzugter Lernanlass sind dabei Äußerungen von sage. Daher könne der Theismus zumindest als eine ebenso SchülerInnen, die – analog zur Situation in den platonischen vernünftig ausweisbare, wie auch erklärungsfähige Alterna- Dialogen – eine Gewissheit über das Wesen einer Sache zum tive zum Naturalismus angesehen werden. Insgesamt kann Ausdruck bringen. Die Diskussion wird also nicht dem/r daher – mit Bezug auf die Argumentation von Tetens – fest- SchülerIn von der Lehrperson aufgedrängt, sondern erst- gehalten werden, dass VertreterInnen einer theistischen ere(r) beginnt den Lernprozess durch eine Stellungnahme, Position mit guten philosophischen Gründen der kritischen die von der Lehrperson aufgegriffen wird: „Gerade für Konfrontation mit dem Naturalismus keineswegs aus dem Schülerinnen und Schüler mit einer skeptischen Haltung Weg zu gehen brauchen. liegt hierin ein großes Lernpotenzial, wird doch die kritische Position als propositionale Position ernstgenommen und 3. Die sokratische Methode als ‚Außenwendung‘ diskutiert.“36 Das verlangt von der Lehrperson die Sicher- der Kinder-/Jugendtheologie zum Naturalismus heit im Umgang mit dem eigenen Wissen und vor allem den Mut, sich ungeplanten Lernsituationen auszuliefern. Es gilt Der geeignetste methodisch-didaktische Zugang zu also, hier seine Erfahrungen und seine argumentativen naturalistischen Anschauungen im RU ist nach unserer Möglichkeiten und Grenzen auszuloten. In Bezug auf die Erfahrung das sog. ‚sokratische Gespräch‘. Die sokratische Frage des Naturalismus sind es z.B. folgende Äußerungen oder ‚mäeutische‘ Methode gehört zu den bevorzugten oder Vorstellungen, die in verschiedenen Unterrichtssitua- Zugängen im reflexiven Gespräch, welches ein Grundele- tionen auftauchen können: ment der Kinder-/Jugendtheologie darstellt. Es geht darum, • ‚Unsere Gedanken sind ja nur Produkte unserer dass die Lehrenden als ‚Geburtshelfer‘ (Mäeuten) die Gehirnzellen.‘ GesprächspartnerInnen durch Fragetechniken zu einer • ‚Das menschliche Bewusstsein ist eine Illusion bestimmten Erkenntnis leiten wollen, ohne diese Erkenntnis unseres Gehirns, die Idee einer Seele ist daher von außen vorzugeben.33 Traditionell wird diese Methodik sinnlos.‘ in der Kinder-/Jugendtheologie auf die Reflexion theologi- • ‚Die Existenz der Welt ist durch die Urknalltheorie scher Fragen angewandt. Die SchülerInnen lernen, christli- erklärt, Gott kann daher die Welt gar nicht geschaf- che Kernthemen und ihre eigenen Vorstellungen davon zu fen haben.‘ reflektieren, auszudrücken, kritisch zu hinterfragen und • ‚Nach dem Tod zerfallen unsere Zellen, wie soll es weiterzudenken.34 Im Hinblick auf die in der Einleitung da ein Weiterleben geben?‘ skizzierte Herausforderung und im Rückblick auf das Im Falle einer geäußerten naturalistischen Gewissheit ursprüngliche Wesen dieser Methode in den platonischen würde es der sokratischen Methode im ursprünglichen Sinn Dialogen plädieren wir dafür, von der sokratischen Methode entsprechen, wenn die Lehrperson die Position mit dem auch fundamentaltheologisch Gebrauch zu machen und auf bewussten Ziel „der Verunsicherung eventuell bestehender ihr ursprüngliches Moment des elenchus, also des Gegenar- naturalistischer Einstellungen“37 hinterfragt. Genau darin

116 Österreichisches Religionspädagogisches Forum besteht die sokratische Strategie des elenchus: „An elenchus 4. Kritische Reflexion des vorgestellten didakti- usually concludes in the discomfiture of the partner, who schen Zugangs now appears unable to support his initial statement.”38 Der pädagogisch fragwürdigste Punkt in der hier vor‑ Der Anspruch einer Kinder-/Jugendtheologie sollte in geschlagenen Methode, naturalistische Überzeugungen ge- diesem Fall ein fundamentaltheologischer sein, der auf Basis zielt zu verunsichern, ist sicherlich die fundamentaltheolo- einer philosophischen Methode die Möglichkeit und gisch begründete Absicht, auf das Weltbild des Schülers/der Begründbarkeit der christlichen Überzeugung mit den Mit- Schülerin Einfluss zu nehmen. Dies geschieht zwar nicht im teln der Vernunft aufzeigt. Dies ist der entscheidende Punkt: Sinne einer Vorgabe des Neuen, aber im Sinne der gezielten Mit dem elenchus wird dem/der SchülerIn nicht eine bestim- In-Frage-Stellung des Alten, und zwar aus der stärkeren mte religiöse Weltsicht vorgelegt oder als wahr präsentiert. Position der Lehrperson heraus. In den Worten Coelens: Es wird nur die vermeintliche Sicherheit des Naturalismus, „Die sokratische Gesprächsführung gerät damit zu einer die religiöse Deutung der Welt als unmöglich zu entlarven, Form der Taktik, einer Strategie, und nicht zu einer ethi- in ihrer Festigkeit erschüttert. Es wird zur Reflexion und schen Haltung der grundsätzlichen Skepsis.“40 Daher gilt es Neupositionierung eingeladen und nur die Möglichkeit der zu hinterfragen, „ob es sich dabei nicht letztlich um zwin- Offenbarung offengehalten, nicht deren Wahrheit direktiv gende Lehrformen handelt, deren Offenheit nur scheinbar dem/der SchülerIn vorgegeben. Damit wird ein wesentlicher besteht“41. Zudem ist zu fragen, inwieweit es sich hier über- Beitrag zur Entwicklung eines ideologiekritischen Potenzials haupt noch um Kinder-/Jugendtheologie handelt. Zunächst geleistet. Die Lehrperson darf dabei ihre Position keinesfalls möchten wir diesbezüglich auf Zimmermann verweisen, dafür benützen, ihre Sicht der Dinge als alleingültig darzu- welche die leitende Rolle und Verantwortung der Lehrenden stellen. im Prozess herausstreicht. Entgegen der Forderung nach Natürlich begegnet die Lehrperson in einem elenchus einer vorwiegend zurückhaltenden Rolle der Lehrenden for- dem/der SchülerIn nicht in einer gleichberechtigten Posi- muliert Zimmermann: „Brauchen nicht gerade Kinder auch tion, da sie durch ihr Wissen und ihre philosophische Anregungen und Grenzverweise von außen, die die Eigenak- Reflexion einen diskursiven Vorsprung hat. Doch dies ent- tivität und Produktivität nicht begrenzen, sondern heraus- spricht dem ursprünglichen Vorbild: Auch Sokrates geht in fordern?“42 Aus unserer Sicht entspricht es dem pädagogi- den platonischen Dialogen nicht als gleichberechtigter schen Prozess, dass die Lehrperson ihr Wissen und ihre Gesprächspartner in den Diskurs, sondern nutzt seine Erfahrung in den Dienst der Bildung stellt, deshalb kann reflexive Überlegenheit aus. Aber er tut dies nicht – und das auch Opposition und Herausforderung ein wesentlicher ist entscheidend, um am Ende autoritär eine richtige Defini- Dienst am Bildungsprozess von Jugendlichen sein. Wie tion des angefragten Begriffs vorzugeben, sondern nur, um Zimmermann zu Recht anführt, ist es aber eine illegitime dem anderen zu helfen, sein vermeintliches Wissen zu Form des Gesprächs, wenn auf die Äußerungen des dekonstruieren und neue Denkhorizonte zu eröffnen. Die Schülers/der Schülerin nicht eingegangen wird bzw. diese Fraglichkeit einer Sache zu steigern bzw. auf ein neues Niveau nicht aufgegriffen werden,43 sondern das Gespräch nur zum zu bringen ist vor diesem Hintergrund ein Dienst am Instrument der Durchsetzung der eigenen Weltsicht wird. grundsätzlichen Bildungsauftrag der Schule, insofern das Die sokratische Argumentation ist eine Bezugnahme auf die Reflexionsniveau der SchülerInnen durch eine solche didak- zuvor geäußerten Stellungnahmen der SchülerInnen und tische Methode gesteigert wird. hat sich im Gespräch stets an deren Antworten zu orien- Im Falle des Naturalismus kann die sokratische Metho- tieren. Dies verlangt von der Lehrperson freilich ein hohes de helfen, aufzuzeigen, dass es sich hier eben nicht um reine Maß an Argumentationsfähigkeit und entsprechende theo- Naturwissenschaft handelt, sondern um eine Weltsicht, die logisch-philosophische Sachkenntnis, etwa hinsichtlich der auf viel weitreichenderen Annahmen und nur vermeintli- Position und der Kritik des Naturalismus.44 In diesem Sinn chen Gewissheiten beruht: „Die Validität der religiösen oder entspricht der Umgang mit dem Naturalismus in der Schule atheistischen Weltsicht hängt dann nicht von der naturwis- eher einer ‚Fundamentaltheologie für Kinder (bzw. Jugendli- senschaftlich niemals direkt verifizierbaren Aufdeckung che)‘, die Wissensvorsprünge der Lehrenden angemessen in dessen ab, wie wir erkennen, sondern von der Wirklichkeit das Gespräch einbringt, dadurch herausfordert, Aussagen des Geglaubten. Auch der Naturalist investiert Glauben, z.B. hinterfragt und ggf. deren Grenzen und Unklarheiten in die Überzeugung, dass sich mentale Prozesse rein natural aufzeigt.45 39 aufklären lassen.“ Dieser Ansatz ‚für‘ Kinder ist freilich immer als Dienst an der Entwicklung des Denkens zu verstehen und nicht als Versuch einer theologischen Bevormundung des Schülers/

ÖRF 23 (2015) • 111–119 117 der Schülerin. Es geht – gut fundamentaltheologisch – um ner Vorstellungen mittels begrifflicher Präzisierung eine besonders das Offenhalten einer religiösen Perspektive und um das wichtige Aufgabe der Religionspädagogik dar. 3 Vgl. hier besonders das Konzept der ‚Creditionen‘ zu religiösen und Aufzeigen einer vernünftigen Begründbarkeit des Glaubens, nicht-religiösen Glaubensprozessen: Angel, Hans-Ferdinand: Die zugleich auch um den Schutz vor einem oberflächlichen creditive Basis wirtschaftlichen Handelns. Zur wirtschaftsanthropolo- Denken, egal aus welchem weltanschaulichen oder religiösen gischen Bedeutung von Glaubensprozessen, in: Dierksmeier, Claus / Bereich es stammt. Gerade im Blick auf den Naturalismus ist Hemel, Ulrich / Manemann, Jürgen (Hg.): Wirtschaftsanthropologie, sogar zu fragen, ob hier die Machtverhältnisse nicht sogar Baden-Baden: Nomos 2015, 167–206; Angel, Hans-Ferdinand: Art. umgekehrt sind: So partizipieren etwa unreflektierte natu- Credition, the Process of Belief, in: Runehov, Anne / Oviedo, Lluis (Hg.): Encyclopedia of Sciences and Religions, Dordrecht: Springer ralistische Aussagen an der starken gesellschaftlichen 2013, 536–539; Angel, Hans-Ferdinand: Ausblendungen. Lebensrele- Akzeptanz naturalistischer Weltsichten, wohingegen die vanz und Glaubensprozesse (Creditionen). Religionspädagogische Lehrperson ihre theistische Anschauung aus einer Positionierungen im Schnittfeld von Naturwissenschaft und Theolo- gesellschaftlich immer schwächeren Verankerung heraus gie, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 8 (2009) 26–41; darlegen muss und in bestimmten sozialen Kontexten gera- Sugiura, Motoaki / Seitz, Rüdiger / Angel, Hans-Ferdinand: Mod- els and Neural Bases of the Believing Process, in: Journal of Behav- dezu aus einer Außenseiterposition der Moderne heraus ioral and Brain Science 5 (2015) 12–23. spricht. 4 Rothgangel, Martin: ‚Naturwissenschaft und Theologie‘ aus der Die hier thematisierte Unterrichtssituation kann insge- Perspektive empirischer Unterrichtsforschung, in: Theo-Web 8/1 samt analog zu Platons Höhlengleichnis aufgefasst werden: (2009) 68–74, 71. Der/die GesprächspartnerIn ist an eine Vorstellung von der 5 Eine weitere Differenzierung hinsichtlich der Frage des ‚Naturalismus‘ Welt gleichsam ‚gefesselt‘, die sokratische Methode ist ein erfolgt in Kapitel 2. 6 Rothgangel 2009 [Anm. 4], 69–70. Weg, das Denken offener zu machen und aus der Höhle der 7 Für eine Übersicht vgl. Rothgangel, Martin: Religionspädagogik im unreflektierten Gewissheiten herauszuführen. Die Rolle der Dialog. I. Disziplinäre und interdisziplinäre Grenzgänge, Stuttgart: Lehrperson entspricht dabei einer Begleiterin, die bewusst Kohlhammer 2014 (= Religionspädagogik innovativ 3,1), 56–73. und absichtsvoll den Weg aus einer unzureichenden Denk- 8 Hoff, Gregor Maria: Positionierung in der Pluralität. Zur theologi- position heraus sucht – „nicht educare, sondern educere – schen Situation des Religionsunterrichts: Wie von Gott reden ange- sichts von Pluralismus, Relativismus, neuen Atheismen und Funda- nicht erziehen, sondern herausführen“46 ist somit die Auf- mentalismus, in: Rendle, Ludwig (Hg.): Standorte finden. Religions- gabe. Die entscheidenden Schritte dabei sind die Einsicht in unterricht in der pluralen Gesellschaft, Donauwörth: Ludwig Auer die Unvollständigkeit des eigenen Wissens und die Reflexi- 2010, 26–45, 39. on des eigenen Weltbildes, aber nicht die unreflektierte 9 An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass (naturalistische) Über- Übernahme einer Fremdposition: Auch wenn sich am Ende zeugungen in unterschiedlicher Komplexität und Verbindlichkeit als des gesamten intendierten Reflexionsprozesses der Schüler/ Weltanschauung, Weltsicht, Wertorientierung, Einstellung oder Mei- nung vorkommen können. Zu dieser Differenzierung vgl. Pickel, die Schülerin bewusst erneut für die Position des Naturalis- Gert: Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenberei- mus entscheidet, ist dies ein Erfolg des Lernprozesses im che, Wiesbaden: VS 2001, 44–47. Vgl. hier auch den Hinweis von RU, weil dadurch das Vertreten einer Position auf einem Schimmel: „Schüler (wie auch Erwachsene) verfügen selten über ein neuen Reflexionsniveau erreicht wurde. Zugleich wird auch konsistentes Überzeugungssystem; sie besitzen vielmehr ein Cluster das Verhältnis zu religiösen Positionen auf eine neue Ebene von Einstellungen, die nicht alle geklärt oder bewusst und zudem untereinander nicht unbedingt widerspruchsfrei vorliegen.“ Schim- gehoben, da sich der Schüler/die Schülerin denkend damit mel, Alexander: Einstellungen gegenüber Glauben als Thema des auseinandersetzen muss und damit eine kritische Distanzi- Religionsunterrichts. Didaktische Überlegungen und Anregungen für erung von allzu schlichten, unreflektierten naturalistischen die gymnasiale Oberstufe, Ostfildern: Schwabenverlag 2011, 297. Denkweisen möglich wird. 10 Ebd., 285–286. 11 Vgl. Ritter, Werner: Kinder und Schöpfung, in: Hilger, Georg / Anmerkungen Ritter, Werner (Hg.): Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, 1 Für ‚Religionsunterricht‘ steht in der Folge (außer in direkten Zitaten München / Stuttgart: Kösel / Calwer 2006, 213–226, 223. und Literaturangaben) das Kürzel ‚RU‘. 12 Heidegger, Martin: Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, 2 Erfahrungsgemäß gibt es bei SchülerInnen sehr unterschiedliche Vor- Physik B, 1, in: Ders.: Wegmarken, Frankfurt a. M.: Klostermann stellungen hinsichtlich der Idee eines ‚Lebens nach dem Tod‘. Nur 2004 (= Klostermann Seminar 12; wort- und seitengleich mit GA 9), wenige bringen von sich aus Vorstellungen ins Spiel, die deutlich auf 239–301, 239. die christliche Idee der ‚Auferstehung‘ verweisen. Häufig werden 13 Die folgende Darstellung orientiert sich an Mutschler, Hans-Dieter: (leibliche) Auferstehung, Reinkarnation und Formen eines ‚immateri- Naturphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer 2002 (= Grundkurs Philo- ellen‘ Weiterlebens miteinander verwechselt, oder sich gegenseitig sophie 12), 7–62. ausschließende Konzepte verschiedener Religionen vermischt. In die- 14 Ebd., 8. sem Zusammenhang stellt die Klärung falscher oder verschwomme- 15 Ebd. 16 Ebd., 18.

118 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 17 Vgl. dazu ebd., 18–62. schen Gegenzug beweisbar falsch wäre“ (ebd., 78.) – was offenkundig 18 Nagel greift in seiner Argumentation nicht auf religiöse Überzeugun- nicht der Fall ist. gen oder Argumente zurück. Vielmehr hält er explizit fest, dass eine 33 Vgl. Hilger, Georg / Ritter, Werner: Kinder und die ‚großen Fra- theistische Weltanschauung aus seiner Sicht ebenso fragwürdig wie gen‘. Nachdenken und Philosophieren im Religionsunterricht, in: Hil- eine materialistische sei. Vgl. dazu Nagel, Thomas: Geist und Kos- ger, Georg u.a. (Hg.): Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für mos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin: Suhrkamp 2013, 39. München / Stuttgart: Kösel / Calwer 2014, 264–280, 268. 19 Vgl. Ebd. 34 Vgl. hier v.a. Schweitzer, Friedrich: Kindertheologie und Elementa- 20 Ebd., 12. risierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, 21 Ebd. Gütersloh: Verlagshaus 2011. 22 Mutschler 2002 [Anm. 13], 45. 35 Woodruff, Paul: Plato’s Shorter Ethical Works, in: Zalta, Edward 23 Ebd., 49. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford. 24 Ebd., 56. edu/archives/win2014/entries/plato-ethics-shorter/ [abgerufen am 25 Vgl. Mutschler 2002 [Anm. 13], 56–62. Vgl. zur Frage nach Leib 15.06.2015]. und Weltbezug Pöltner, Günther: „Homo quodammodo totum ens“. 36 Schimmel 2011 [Anm. 9], 212. Überlegungen zum Methodenproblem einer Anthropologie, in: Nie- 37 Ebd., 288. derbacher, Bruno / Runggaldier, Edmund (Hg.): Was sind 38 Woodruff 2014 [Anm. 35]. Zur Struktur des elenchus (auch: elen- menschliche Personen? Ein akttheoretischer Zugang, Heusenstamm: chos) als ein (in der Unterrichtspraxis gut umsetzbares) argumentati- Ontos Verlag 2008, 37–54. Vgl. zur Frage nach Leib und Zeit Ester- ves Frage- und Antwortspiel zweier PartnerInnen vgl. Erler, Michael: bauer, Reinhold: Meine Zeit. Vorfragen zu einer Phänomenologie Platon, München: C. H. Beck 2006, 103–105. „Der Elenchos kann menschlichen Werdens, in: Esterbauer, Reinhold / Ross, Martin nicht positiv Wahrheit beweisen, sondern nur auf Widersprüche hin- (Hg.): Den Menschen im Blick. Phänomenologische Zugänge, Würz- weisen“ (Ebd., 104). burg: Königshausen & Neumann 2012, 527–546. 39 Hoff 2010 [Anm. 8], 38. 26 Wir gehen auf die zweite und dritte angeführte Position hier aus zwei 40 Coelen, Thomas: Pädagogik als ‚Geständniswissenschaft‘. Zum Ort Gründen nicht weiter ein: Erstens stellt die erste Position die härteste der Erziehung bei Foucault, in: www.kopi.de/coelen/2005_Marburg. Gegenposition zur Möglichkeit einer theologischen Deutung von pdf [abgerufen am 25.06.2015], 28. Mensch und Welt dar. Sie ist damit unserer Erfahrung nach hinsicht- 41 Schimmel 2011 [Anm. 9], 210. lich der kritischen Auseinandersetzungen im RU die relevanteste. 42 Zimmermann, Mirjam: Kindertheologie als theologische Kompetenz Zweitens würde ein differenziertes Eingehen auf die Auseinanderset- von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer zung mit Position zwei und drei den Rahmen dieses Beitrags spren- Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukir- gen. chen-Vluyn: Neukirchener 22012, 195. 27 Zur grundlegenden Frage der Methodenreflexion im interdisziplinä- 43 Vgl. Zimmermann, Mirjam: Theologie für Kinder. Instruktion, ren Dialog vgl. Esterbauer, Reinhold: Methodenbewusstsein. Zu Perturbation, verbindliches Angebot? Klärungshilfen von Seiten der einer wichtigen Voraussetzung für den Dialog zwischen Theologie Systematischen Theologie, in: Bucher, Anton / Schwarz, Elisabeth und Naturwissenschaften, in: Tapp, Christian / Breitsameter, Chris- (Hg.): ‚Darüber denkt man ja nicht von allein nach …‘ Kindertheolo- tof (Hg.): Theologie und Naturwissenschaften, Berlin: de Gruyter gie als Theologie für Kinder, Stuttgart: Calwer 2013 (= Jahrbuch für 2014, 21–37. Zur Analyse der naturwissenschaftlichen Fragehinsicht Kindertheologie 12), 40–56, 51. vgl. Pöltner, Günther: Zur gegenwärtigen Problematik der wissen- 44 Vgl. dazu die Literaturangaben in Kapitel 2 dieses Artikels. schaftlichen Rationalität, in: Reichel, Hans-Christian / Prat de la 45 Vgl. Zimmermann 2013 [Anm. 42], 49–55. Riba, Enrique (Hg.): Naturwissenschaft und Weltbild. Mathematik 46 Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, in: Ders.: Freiheit und und Quantenphysik in unserem Denk- und Wertesystem, Wien: Höl- Selbstsorge. Hg. von Helmut Becker und Wolfgang Hofstetter, Frank- der-Pichler-Tempsky 1992, 177–187. furt: Suhrkamp 1985, 32–60, 42. 28 Vgl. Tetens, Holm: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theolo- gie, Stuttgart: Reclam 2015 (= UB 19295). Eine ergänzende und auf- Autoreninformation schlussreiche Problematisierung möglicher Konsequenzen eines unre- DDr. Christian Feichtinger flektierten Wissenschaftsglaubens findet man in Tetens, Holm: Der Universität Graz Glaube an die Wissenschaften und der methodische Atheismus – Zur Institut für Katechetik und Religionspädagogik religiösen Dialektik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, in: Heinrichstraße 78B/II NZSTh 55/03 (2013) 271–283. A-8010 Graz 29 Ebd., 7. e-mail: [email protected] 30 Tetens beansprucht das auf Basis seiner Argumentation für folgende GND: (DE-588)133517969 Teile des Apostolischen Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Mag. Mario Schönhart […] Ich glaube an den Heiligen Geist, […] Vergebung der Sünden, HAK Mürzzuschlag Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ (Vgl. ebd., 10.) Roseggergasse 10 31 Vgl. zum Folgenden v. a. ebd., 12–28 und 51–54. A-8680 Mürzzuschlag 32 „Zwischen Naturalismus und Theismus können wir von der Sache her e-mail: [email protected] in dieser Erfahrungswelt nicht endgültig entscheiden.“ (ebd., 87.) Die Hoffnung auf Erlösung wäre aber „nur dann rundum unvernünftig, wenn der Naturalismus beweisbar wahr und der Theismus im logi-

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Ingrid Kromer / Michaela Hajszan

Jungschar als zentraler Ort non-formaler Bildung in katholischen Pfarren Österreichs

Ausgewählte Ergebnisse einer umfassenden empirischen Studie die autorin die autorin Mag.a Dr.in Ingrid Kromer, Pädagogin und Sozio- Mag.a Michaela Hajszan, Klinische Psychologin in login, langjährige berufliche Tätigkeit in der au- freier Praxis, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ßerschulischen Jugendarbeit und in der sozialwis- Charlotte Bühler Institut für praxisorientierte Klein- senschaftlichen Kindheits- und Jugendforschung, kindforschung, Trainerin und Autorin im Bereich derzeit an der Kirchlichen Pädagogischen Hoch- non-formaler Bildung. schule Wien/Krems in Lehre und Forschung tätig.

Abstract Jungschar ist in Österreichs Pfarren seit mehr als 65 Jahren als zentraler Ort non-formaler Bildung verankert. Eine aktuelle empi- rische Studie stellt die Situation der Jungschararbeit in den katholischen Pfarren Österreichs unter Berücksichtigung der Sichtwei- sen von GruppenleiterInnen und Pfarrleitungsteams umfassend dar. Dieser Beitrag präsentiert einen Ausschnitt der Studie und fokussiert auf ein datenverankertes Modell, welches die unterschiedlichen Formen von Jungschararbeit in den Pfarren anhand von vier theoretischen Fallskizzen beschreibt. Schlagworte: Jungschar Österreichs, Pfarre, Bildung, Erhebung

Jungschar as centre of non-formal education in Catholic parishes in Austria. Selected results of an extensive empirical study: Jungschar (the Catholic Children’s Movement) has been important for non-formal religious education in Austrian parishes for more than 65 years. A current empirical study pictures the work of Jungschar in Catholic parishes in Austria and considers points of views of group leaders as well as parish executive teams. This article presents an abstract of the study and focuses on a data- based model, which describes different forms of the work of Jungschar in parishes based on four theoretical case studies. Keywords: Church work with children, Education, Survey

ungschararbeit ist ein unverzichtbarer Bestandteil Chancenausgleich. Es stellt sich die Frage, was Kinder und kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit in den katholi- Jugendliche unter den heutigen, veränderten Bedingungen Jschen Pfarren Österreichs und damit seit 1947 ein des Aufwachsens für eine erfolgreiche Bildungsbiografie wichtiges Angebot non-formaler Bildung. In diesem Zeit- benötigen: Wie können sie jene Kompetenzen erwerben, die raum haben sich gesellschaftliche und kirchliche Rahmen- in einer pluralistischen Wissensgesellschaft bedeutsam sind? bedingungen markant und mit großer Geschwindigkeit ver- Wie können sie auf eine Zukunft vorbereitet werden, die ändert. Eine aktuelle empirische Studie1 verfolgt das Ziel, von gesellschaftlichem Wandel und von Anforderungen die Situation der Jungschararbeit in Österreichs Pfarren geprägt ist, die zum aktuellen Zeitpunkt teilweise noch umfassend darzustellen und unter Berücksichtigung der ungewiss sind? Sichtweisen von GruppenleiterInnen und Pfarrleitungs- teams im Kontext von Kirche und Gesellschaft in Österreich 1.1 Das ganzheitliche Bildungsverständnis am Beginn des zu analysieren und zu interpretieren. 21. Jahrhunderts In einem modernen Bildungsverständnis wird Bildung 1. Non-formale Bildung gemäß der UN-Kinderrechtskonvention als umfassende Wissen und Bildung gelten heute als bedeutsame Res- Entfaltung der Persönlichkeit, der Begabungen sowie der sourcen und Voraussetzungen für persönlichen und ökono- geistigen und körperlichen Fähigkeiten eines Kindes bzw. 2 mischen Erfolg sowie für gesellschaftliche Partizipation und Jugendlichen definiert. Bildung bedeutet daher mehr als

Ingrid Kromer / Michaela Hajszan: Jungschar als zentraler Ort non-formaler Bildung in katholischen Pfarren Österreichs - Ausgewählte Ergebnisse einer umfassenden empirischen Studie • ÖRF 23 (2015), 121–129 121 den Erwerb von Wissen. Sie ist das Ergebnis individueller Jungschar schon sehr lange: „Kinder zählen in unserem rei- Aneignungsprozesse, die im Rahmen sozialer Interaktionen chen Land zu der von Armut am meisten gefährdeten mit Erwachsenen und Peers stattfinden, und zielt auf die Gruppe. Jungschararbeit soll gerade für Kinder benachteilig- Entwicklung weitreichender Kompetenzen für eine selbstbe- ter Bevölkerungsgruppen ein Zufluchtsort sein, der Wärme stimmte und verantwortliche Lebensführung ab. und Geborgenheit gibt und Aktivitäten ermöglicht, die nicht Dementsprechend heißt es im Informationsfolder für an besondere finanzielle Bedingungen geknüpft sind.“10 Eltern der Katholischen Jungschar Österreichs: „Schritt für Schritt eignen sich die Mädchen und Buben die Welt an, ler- 1.2 Non-formale Bildung als zentraler Anspruch der kirchli- nen, probieren etwas aus, entwickeln sich. In den Jungschar- chen Kinder- und Jugendarbeit gruppen finden sie den entsprechenden Rahmen, wo sie sich In der Kinder- und Jugendarbeit gibt es eine lange Tra- auch außerhalb von Familie und Schule mit Gleichaltrigen dition, die eigene Arbeit als Bildungsarbeit zu definieren. Zu treffen und ihre Persönlichkeiten weiterentwickeln kön- den Kernaufgaben verbandlicher Kinder- und Jugendarbeit nen.“3 zählt es, junge Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwick- Bildung reicht weit über formale, schulische Bildung lung zu begleiten und Schlüsselkompetenzen für das Zusam- und berufliche Ausbildung hinaus und umfasst auch menleben in der Gesellschaft zu fördern.11 Somit kann auch non-formale und informelle Prozesse: Non-formale Bildung die Katholische Jungschar als traditioneller Kinder- und gewinnt in Wissenschaft und Gesellschaft immer mehr an Jugendverband als bedeutsamer außerschulischer, non-for- Bedeutung4 und bezieht sich auf jede Form organisierter maler Lernort betrachtet werden.12 Bildung, die freiwillig ist und Angebotscharakter hat, aber Der Bildungsanspruch in der Kinder- und Jugendarbeit dennoch spezifische Bildungsziele verfolgt.5 Im Vorder- bezieht sich vorrangig darauf, Kinder und Jugendliche in grund stehen die Förderung sozialer und personaler Kom- ihren personalen und sozialen Kompetenzen zu stärken, wie petenzen sowie die Ermöglichung von Beteiligung und Mit- etwa Selbstbestimmung, Verantwortungsübernahme und gestaltung.6 demokratische Partizipationsfähigkeit.13 In der Katholischen Informelle Bildung läuft ungeplant und beiläufig in Jungschar wird dies besonders im Rahmen regelmäßiger praktischen Lebenszusammenhängen, etwa in der Familie, Gruppenarbeit angestrebt: „Jungschar-Arbeit konzentriert in der Peergroup oder über Medieneinflüsse ab und wird sich darauf, den Kindern eine kontinuierliche Gruppe zu häufig nicht bewusst als Kompetenzerweiterung wahrge- bieten, wo sie im Rahmen eines bewussten Miteinanders nommen. Es handelt sich dabei um zufällig-anlassbezogenes Beziehungen eingehen, gestalten und vertiefen können. [...] Lernen abseits formaler Lernarrangements.7 Das Gruppenleben bietet den Kindern ein vielfältiges Rauschenbach schreibt der non-formalen und infor- Übungsfeld. So können hier in geschütztem außerschuli- mellen Bildung eine zentrale Rolle in Hinblick auf den Bil- schem Rahmen Begabungen und Fähigkeiten entdeckt und dungserfolg von Kindern und Jugendlichen zu: „Nicht die gefördert werden. Die Kinder erlangen soziale Kompeten- formale Bildung, sondern die bislang unbeachteten Formen zen, lernen voneinander, entdecken den Wert und die Wich- der Alltagsbildung erzeugen die eigentliche Kluft zwischen tigkeit ethischer Normen. Dies sind alles Voraussetzungen, den Privilegierten und den sozial Benachteiligten, zwischen um das Leben später als Erwachsener gestalten zu kön- den sozialen Schichten und Milieus, zwischen den Bildungs- nen.“14 gewinnern und Bildungsverlierern.“8 Der Bildungsauftrag kirchlicher Kinder- und Jugend- Professionell konzipierte, gut reflektierte non-formale verbandsarbeit ist aber nicht nur bildungs- und gesell- Bildungsangebote ergänzend zum formalen Bildungssystem schaftspolitisch, sondern auch theologisch begründet. „Die sind daher gerade für benachteiligte Kinder und Jugend­ Kirche ist dazu berufen, sich für den Menschen und die Ent- liche, die neben der Schule über wenig adäquate Zugänge zu faltung seiner Persönlichkeit einzusetzen. Demgemäß sieht Bildungsanregungen verfügen, von besonderer Bedeutung. kirchliche Kinder- und Jugendverbandsarbeit ihren Bil- Sozial schwache, von Armut bedrohte und bildungsferne dungsauftrag darin, junge Menschen zu fordern und zu för- Familien sowie Familien mit Migrationshintergrund, der dern, in der Begegnung mit sich selbst, mit anderen und mit häufig mit den erstgenannten Faktoren verbunden ist, sind Gott ihre unverwechselbare Identität zu finden und so fähig zunehmend weniger in der Lage, ihren Kindern jene Basis- zu werden, als Christinnen und Christen in Kirche und kompetenzen, aber auch emotionale Unterstützung und Gesellschaft zu handeln“.15 Anerkennung mitzugeben, die für einen nachhaltigen Bil- Neben personalen und sozialen Kompetenzen wird dungserfolg Voraussetzung sind.9 daher in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit – ähnlich Der Anspruch, sich auch und besonders für benachtei- wie in elementaren religionspädagogischen Bildungseinrich- ligte Kinder zu engagieren, besteht in der Katholischen tungen – die Entwicklung von Spiritualität angestrebt, die

122 Österreichisches Religionspädagogisches Forum als geistige Verbindung zum Transzendenten, Göttlichen ren die Kontinuität der Jungscharkinder über Volksschulal- beschrieben wird und Orientierung für die individuelle ter und Sekundarstufe I. Anschließend wurde aus dieser Lebensgestaltung geben kann.16 theoretisch ausgewählten und reduzierten Grundgesamtheit Die religiös-spirituelle Bildung ist der Katholischen das Sample von 15 Pfarren entsprechend der angestrebten Jungschar gemäß ihrer Statuten ein zentrales Anliegen: „Das regionalen Verteilung nach Zufall ermittelt. In diesen Pfar- Religiöse ist eine dem Menschen grundgelegte Daseins- ren wurde jeweils eine Gruppendiskussion mit Mitarbeiter­ weise, die Zeit braucht, Raum, Anregungen und die Ausein- Innen in der Kinderpastoral durchgeführt. Dies ergab fol- andersetzung mit anderen Menschen, um sich weiterzuent- gende Aufteilung der 15 Gruppendiskussionen: wickeln. In der Jungschar wollen wir daher nicht so sehr von religiöser Erziehung sprechen als vielmehr davon, den Kin- dern einen Lebensraum zur Verfügung zu stellen, in dem sie ihre religiöse Dimension gut entfalten können.“17

2. Forschungsdesign: Stichprobe, Durchführung, Auswertung

Die Jungschar-Studie 2014 wurde mit fünf zeitlich aufei- nander aufbauenden Modulen18 im Zeitraum von rund zwei Jahren in Österreich durchgeführt. Im vorliegenden Artikel werden ausgewählte Ergebnisse vorwiegend aus Modul 3 Abb. 1 vorgestellt – im Zentrum stehen hier 15 Gruppendiskussio- An den Gruppendiskussionen nahmen insgesamt 16 nen mit Leitungsverantwortlichen in ausgewählten Pfarren. haupt- und 46 ehrenamtliche PfarrmitarbeiterInnen, die in Ziele dieser Erhebung sind einerseits die Darstellung von unterschiedlichen Bereichen der pfarrlichen Kinderpastoral Jungschararbeit mit ihren unterschiedlichen pfarrlichen in Leitungsverantwortung (Jungschararbeit, MinistrantIn- Rahmenbedingungen aus der Sicht der handelnden Perso- nen, Sternsingen, Kinderliturgie, ...) tätig sind, teil. Aufge- nen und andererseits das Aufzeigen von Einflussfaktoren, schlüsselt nach Geschlecht sind es 38 Frauen und 24 Män- die eine gelingende Jungschararbeit bestimmen. ner. 2.1 Auswahl und Beschreibung der Stichprobe für die Grup- 2.2 Durchführung und Auswertung der Gruppendiskussio- pendiskussionen nen Die Auswahl der Stichprobe wurde sowohl nach regio- Gruppendiskussionen haben sich in den letzten 15 Jah- nalen als auch nach theoretischen Aspekten durchgeführt: ren zunehmend zu einem der Standardzugänge qualitativer Die regionale Verteilung des Samples wurde anhand der hie- Forschung etabliert. Sie erweisen sich in der empirischen rarchischen Systematik der Europäischen Union (Nomen- Sozialforschung als besonders nützlich, wenn nicht nur die clature des unités territoriales statistiques, NUTS) zur Klas- subjektiven Meinungen Einzelner von Interesse sind, son- sifizierung räumlicher Bezugseinheiten vorgenommen.19 dern auch etwas über den Aushandlungscharakter von Für die Strukturierung des Samples wurden die Ebenen Standpunkten und Sichtweisen zu einem bestimmten The- NUTS 1 sowie NUTS 3 berücksichtigt, damit wurde sowohl menbereich – konkret geht es um die Sicht auf Jungscharar- eine regionale Verteilung des Samples über die Regionen beit in der jeweiligen Pfarre mit ihren fördernden und hem- OST, SÜD und WEST als auch eine den Gegebenheiten in menden Bedingungen – in Erfahrung gebracht werden Österreich entsprechende Untergliederung in überwiegend möchte. „Viele subjektive Sinnstrukturen sind so stark in städtische, intermediäre und überwiegend ländliche Regio- soziale Kontexte eingebettet, dass sie überhaupt erst in nen ermöglicht. Gruppendiskussionen zum Vorschein kommen.“21 Das all- Die Grundgesamtheit aller Pfarren, die sich an der tagsnahe Diskussionsklima in den Gesprächsgruppen zuvor durchgeführten standardisierten Online-Befragung20 ermöglicht den DiskutantInnen, ihre Meinung zu bilden beteiligt hatten, wurde mittels computergestützter Filterung und zu verändern sowie kollektive Einschätzungen und Ein- reduziert. Die zugrunde gelegten inhaltlichen Kriterien für stellungen zu explorieren. diese Auswahl waren zum einen ein Vorhandensein von Orientierungsrahmen für die Gruppendiskussionen bil- Jungschararbeit in den Pfarren (regelmäßig stattfindende dete ein teilstrukturierter Leitfaden. Der Diskussionseinstieg Kindergruppenarbeit sowie beständige und punktuelle erfolgte über eine offene, erzählgenerierende Einstiegsfrage Jungschar-Aktivitäten während des Jahres) und zum ande- und im weiteren Verlauf wurden thematische Aspekte dieser

ÖRF 23 (2015) • 121–129 123 Erzähl- und Diskussionssequenz aufgenommen, um die scheidbar ist. Die Typenbildung gerät umso valider, je klarer Aussagen in einer Nachfragephase zu detaillieren. Die Grup- am jeweiligen Fall auch andere Typiken aufgewiesen werden pendiskussionen wurden aufgezeichnet und wörtlich trans­ können, je umfassender der Fall innerhalb einer Typologie kribiert. verortet werden kann.“24 Bei dieser Vorgangsweise handelt Die Auswertung erfolgte in Anlehnung an die Methode es sich um eine stufenweise Analyse und Entwicklung von der Themenanalyse22, die sich bei der Aufbereitung von Merkmalskombinationen, die schließlich die Generierung Datenmaterial dazu eignet, Sichtweisen von Personen und eines empirisch begründeten Modells mit Typenbildung Gruppen zu bestimmten Themen zu systematisieren und in ermöglicht. Die Vielfalt an praktizierter Jungschararbeit in ihrer Differenziertheit darzustellen. In einem ersten Schritt österreichischen Pfarren kann somit übersichtlich beschrie- wurden die Transkripte paraphrasiert, anschließend thema- ben und erklärt werden. tisch codiert und mit Analysen auf der Fallebene (= Grup- pendiskussion) fallübergreifend erweitert. Wesentliche 3. Ausgewählte empirische Ergebnisse Strukturmerkmale, auf deren Basis Jungschararbeit in den Gelingende Jungschararbeit präsentiert sich in den jeweiligen Pfarren gelingt und damit erklärbar wird, konn- österreichischen Pfarren sehr unterschiedlich. Sie kennt ten in Interpretationsrunden konsensual generiert werden. vielfältige Ausformungen, die einerseits hohe Gemeinsam- Ebenso wurden hinsichtlich der praktizierten Jungscharar- keiten aufweisen, sich aber andererseits deutlich voneinan- beit in den jeweiligen Pfarren eine Reihe von Typisierungs- der unterscheiden. merkmalen herausgefiltert und mithilfe von Gemeinsamkei- ten mit und Unterschieden zwischen den unterschiedlichen 3.1 Datenverankertes Modell von Jungschararbeit in den 23 Formen der Jungschararbeit eine Typologie konstruiert, Pfarren der dann einzelne Fälle zugeordnet werden konnten. „Der Das vorliegende Modell bildet einen Rahmen für vier Kontrast in der Gemeinsamkeit ist fundamentales Prinzip zentrale theoretische Fallskizzen von Jungschararbeit in der der Generierung einzelner Typiken und zugleich die Struk- Pfarre, wie sie aus den Daten der Gruppendiskussionen mit tur, durch die eine ganze Typologie zusammengehalten den Pfarrleitungsteams entwickelt und analysiert werden wird. Die Eindeutigkeit einer Typik ist davon abhängig, konnten. inwieweit sie von anderen auch möglichen Typiken unter- Abb. 2:

124 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Die einzelnen Felder bewegen sich innerhalb zweier andere kinderpastorale Aktivitäten zu finden sind, gibt es Spannungsdimensionen: Vertikal zwischen Jungschar als entsprechende Kooperationsmodelle. In diesen Fällen über- Bewegung und Jungschar als Methode, sowie horizontal zwi- nehmen Jungschar-MitarbeiterInnen auch andere Leitungs- schen pfarrunterstützt und personenunterstützt. Wie immer aufgaben innerhalb der pfarrlichen Kinderpastoral. bei derartigen Modellen entsteht zwischen den Polen ein Personenunterstützt: Diese gegenüberliegende Dimen- offener Raum, der eine differenzierte Zuordnung der unter- sion betont die hohe Abhängigkeit der Jungschararbeit von schiedlichen Strukturtypen von Jungschararbeit in den Pfar- engagierten Personen und kleinen Personengruppen. ren ermöglicht. Gleichzeitig markiert sie eine sehr ausgeprägte Autonomie Jungschar als Bewegung: Diese Dimension verweist auf und Distanz zur Pfarre, welche nicht in jedem Fall frei ein starkes Gruppen- und Gemeinschaftsgefühl der Jung­ gewählt ist. Hier finden sich Jungschargruppen, die sich schar-MitarbeiterInnen untereinander – wie auch zwischen ganz bewusst von der Pfarre abgrenzen, genauso wie allein- den LeiterInnen und den Mädchen und Buben. Die persön- gelassene AktivistInnen, die sich verpflichtet fühlen, als liche Zugehörigkeit zur Jungschar als einer Gemeinschaft RepräsentantIn der Kirche für die Kinder da zu sein und von FreundInnen und Gleichgesinnten ist dabei ein prägen- etwas anzubieten. Das Engagement dieser Persönlichkeiten der Faktor. Das bedingt einen hohen Grad der Selbstbestim- kann Jungschararbeit über lange Zeit tragen. Wenn diese mung und Selbstorganisation. Ehrenamtliches Engagement allerdings ihre Tätigkeit beenden, bedeutet das oftmals auch hat einen besonderen Stellenwert und der Nachwuchs an das Ende der Jungschararbeit für längere Zeit. LeiterInnen wird fast ausschließlich aus den eigenen Reihen der Jungschar gewonnen, gemäß der Überzeugung, dass 3.2 Fallskizzen Jungschararbeit am besten jemand, der selber als Kind Im Folgenden werden vier konkrete Typen entlang der Jungschar erlebt hat, gestalten kann. Dementsprechend hoch vorgestellten Koordinaten zusammengefasst beschrieben:25 ist auch das Traditionsbewusstsein in diesen Gruppen, das sich sowohl bei der Durchführung von Festen und Feiern als Die bewährte Traditions-Jungschar auch bei Aktionen und Veranstaltungen daran orientiert, Diese Form der Kinderpastoral ist in den Pfarren gut was in der Pfarre immer schon Jungschar war. integriert und lebt aus der Tradition der Jungscharbewe- Jungschar als Methode: Diese gegenüberliegende Dimen- gung. Ehrenamtliche Jugendliche und junge Erwachsene sion verweist in erster Linie auf die inhaltliche und konzep- sind die wichtigsten TrägerInnen und GestalterInnen der tionelle Basis der Jungschararbeit. Hier sind es vor allem an Kindergruppenarbeit. Das wird auch als wichtiger Grund Kinderpastoral interessierte Personen, die etwas für und mit für das gute Gelingen der Jungschar gesehen: „Ja, die Pfarre Kindern in der Pfarre tun möchten, möglichst vielfältig, nie- lebt durch Ehrenamt und wenn die ganzen Ehrenamtlichen derschwellig und nahe an den jeweiligen Bedarfslagen. nicht wären, dann wäre das hier alles nicht.“ (GD12/Z751)26 Dementsprechend sind eigene Erfahrungen als Jungschar- Ehrenamtliches Engagement hat einen hohen Stellen- kind nicht mehr zwingend. Jungschar versteht sich als ein wert und Jungschar-MitarbeiterInnen erleben sich als relativ mögliches Angebot unter vielen und wird vermehrt von autonom bei der Entscheidung, wie und in welcher Form Hauptamtlichen begleitet und gefördert. Die MitarbeiterIn- die Jungschararbeit mit den Kindern in ihren Pfarren nen kooperieren mit anderen in der Kinderpastoral tätigen abläuft. Zentral ist in jeder Traditions-Jungschar, dass Kin- Personen und sehen ihre Tätigkeit auch als (Dienst-)Leis- der im Mittelpunkt stehen. Das wurde von den LeiterInnen tung der Kirche für die Mädchen und Buben – oft im Rah- selbst so erlebt und möchte so weitergegeben werden. Diese men eines kinderpastoralen Konzeptes der Pfarre. Aus der Jungschararbeit ist schon seit mehreren Generationen in der Jungschartradition werden hier vor allem methodisch- Pfarre verwurzelt und ihre GruppenleiterInnen sind zumeist didaktisch die kontinuierliche Gruppenarbeit übernommen selbst bereits als Jungscharkind in die Pfarre eingebunden sowie inhaltliches Material und Behelfe gerne genützt. gewesen. „Ich habe Kinder und bei mir sind alle vier Kinder Pfarrunterstützt: Diese Dimension beschreibt einen bei der Jungschar, einfach aus dem Grund, weil ich auch bei hohen Integrationsgrad von Jungschararbeit in der Pfarre. der Jungschar war und weil mir diese Jungscharzeit auch Kennzeichen dafür sind eine besondere Aufmerksamkeit getaugt hat. Jetzt war es eben mir auch wichtig, dass sie zur und Wertschätzung seitens des Pfarrers und der Pfarrleitung Jungschar gehen.“ (GD4/Z311ff.) sowie die Übertragung von Tätigkeiten, die über die engere Als typisches Merkmal kann die starke Verwurzelung Gruppenarbeit hinausreichen. Selbstverständlich ist auch der Jungschar in den Pfarren genannt werden. Diese drückt eine entsprechende Nutzung pfarrlicher Ressourcen für sich durch eine hohe Wertschätzung und Unterstützung sei- Jungschararbeit: Räume, Budget, Öffentlichkeitsarbeit, per- tens der Pfarre aus und zeigt sich in selbstverständlich zur sonelle Unterstützung. Dort, wo neben der Jungschar auch Verfügung gestellten Ressourcen, wie geeignete Räumlich-

ÖRF 23 (2015) • 121–129 125 keiten, Materialkosten, budgetäre Unterstützung bei Grund- auch die Vermittlung sozialer Kompetenzen. Als jährlicher kurs und Fortbildungen und Zugang zur Pfarrinfrastruktur Höhepunkt wird auch hier häufig ein groß angelegtes Jung­ (Pfarrschlüssel, Kopierer, Küche etc.). Wichtig dabei ist – scharlager veranstaltet. Dabei kann es mitunter auch etwas und das betonen die Pfarrleitungsteams mit Tradi- unkonventionell zugehen, wie ein Gruppenleiter erzählt: tions-Jungschar in den Gruppendiskussionen sehr deutlich „Weil wir eben viel auf das Spielen ausgelegt sind und der reli- – dass sich die Jungschararbeit trotz dieser wohlwollenden giöse Hintergrund vielleicht etwas im Hintergrund steht. [...] Unterstützung durch die Pfarrgemeinde ihre finanzielle Gerade Jungscharlager sind ein sehr heißes Thema. Das läuft Unabhängigkeit und ihre inhaltliche Eigenständigkeit bei uns auch etwas anders als sonst wo ab. Das ist vielleicht bewahrt. zwar der Grund, warum es bei uns so gut angenommen wird, Jungschararbeit stellt in diesen Pfarren die ideale Form aber nicht nach Vorbild der Diözese abläuft.“ (GD2/Z573ff.) der Kinderpastoral dar, es werden auch kaum andere For- Diese Form der Jungschararbeit hat lange Tradition in men der außerschulischen Bildungsarbeit mit Kindern ange- den Pfarren. Der gute Ruf der Jungschar wurde über Jahre boten. Eine Ausnahme sind die MinistrantInnen, wobei die- aufgebaut, die Eltern wissen zumeist, worauf sie sich einlas- ser Dienst oft ebenso von Jungscharkindern geleistet wird, sen, wenn sie ihr Kind in die Jungschar schicken. Die Jung­ was bedeutet, dass die beiden Gruppen weitgehend ident scharkinder haben häufig den Wunsch, mit der Jungschar sind. weiterhin als GruppenleiterInnen verbunden zu bleiben. In diesen Pfarren bestehen klare Strukturen und Regeln Daher wird auch der Nachwuchs an LeiterInnen großteils bezüglich Gruppenleitungskarriere, der Einbindung in aus den eigenen Reihen gewonnen. Eine starke Verbunden- Pfarrgremien, aber auch bezüglich Durchführung und heit von gleichgesinnten GruppenleiterInnen, die innerhalb Reflexion von Aktionen und Veranstaltungen im Jahres- und außerhalb der Pfarre miteinander vernetzt sind, trägt kreis. Am beliebtesten und oft auch der Höhepunkt eines die Kindergruppenarbeit und wird ganz besonders betont, Jungscharjahres ist das große Kinderlager. Gute Zusammen- denn „es ist diese Gemeinschaft, die uns prägt. Dass wir arbeit im Team und hohes Verantwortungsgefühl für die zusammenhalten und uns treffen, nicht nur in der Pfarre, son- Kinder sind wichtig – und das Engagement macht Spaß, wie dern wir haben auch außerpfarrliche Aktivitäten.“ (GD10/ die Gruppendiskussionen zeigen. Gemeinsame Pfarraktio- Z38ff) nen wie Faschingsfest, Kindergottesdienste bzw. eigene Aktivitäten und Feste in und mit der Pfarrgemeinde, die Jungschar-Messen und vor allem die Sternsingeraktion der übers ganze Jahr verteilt sind, zeigen die Jungschar als tradi- Jungschar erweisen sich als starke integrative Faktoren. tionsbewusste Gruppe. Das Anliegen der Pfarrleitung einer Die Traditions-Jungschar ist zumeist von einer großen stärkeren Einbindung der Jungschar-Verantwortlichen – Anzahl von GruppenleiterInnen getragen, die untereinander neben der Teilnahme am PGR – wird von den Gruppenlei- eine gute Gemeinschaft bilden und eine starke Verbunden- terInnen selbst kaum geteilt. Sie sind hochgradig selbstbe- heit aufweisen. Es sind Freundescliquen, die sich – sei es in stimmt, untereinander gut vernetzt und organisiert, vermei- Gruppenleitungssitzungen, bei Pfarrveranstaltungen oder den es aber, in zu vielen Gremien vertreten zu sein: „Nur auch in anderen privaten oder pfarrlichen Kontexten – zum Reflektieren muss ich mich jetzt nicht schon wieder regelmäßig treffen, ihr Engagement reflektieren und durch zusammensetzen.“ (GD15/Z925) teamstärkende Aktionen einen starken Zusammenhalt ent- Die Anerkennung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit ist wickeln. den GruppenleiterInnen wichtig. Diese findet vor allem in Resümierend lässt sich die bewährte Traditions-Jung­ positivem Feedback der Eltern, die der Jungschar ihr Ver- schar als stark in den jeweiligen Pfarren verwurzelt beschrei- trauen schenken und meist selbst der Pfarre nahestehen, ben. Sie lebt aus teilweise bereits generationenübergreifen- Ausdruck. Anerkennung von Seiten der offiziellen Pfarre ist den Traditionen sowie aus der besonderen Bedeutung des mitunter wenig spürbar. Manchmal reicht es einfach, „dass Ehrenamts in der Pfarre. Die Jungschar kann auf unterstüt- die Leute uns unser Ding durchziehen lassen und uns keine zende Strukturen und Rituale zurückgreifen und genießt in Steine in den Weg gelegt werden“. (GD10/Z946) Verläss- hohem Maße Vertrauen und Wertschätzung innerhalb der lich-autarke Jungschararbeit ist sich selbst genug. Die eigene Gemeinde. Autonomie und Unabhängigkeit werden von Jungschar-Ver- antwortlichen ebenso wie von GruppenleiterInnen betont Die verlässlich-autarke Jungschar und meist in Zusammenhang mit der eigenen Überzeugung Die verlässlich-autarke Jungschar zieht viele Kinder und von der hohen Qualität der Jungschararbeit erwähnt, denn GruppenleiterInnen an und gibt ihnen Beheimatung. Im „wenn es funktioniert, dann suchst du dir keine Hilfe“. (GD2/ Vordergrund stehen dabei das Spielen, ungezwungenes Z673) Gelegentliche Kontakte mit anderen Pfarren laufen Gemeinschaftserleben und der Ausgleich zur Schule, aber eher über private Kanäle der GruppenleiterInnen und wer-

126 Österreichisches Religionspädagogisches Forum den nicht systematisch gepflegt aufgrund des verbreiteten Typisch ist ein Pfarrklima, das Kinder in die Mitte stellt, Selbstverständnisses: „Wir sind Einzelgänger.“ (GD2/Z548) „dass Kinder herein dürfen, dass Kinder kommen dürfen, dass Zusammenfassend können die starke Verbundenheit Kinder im Wortgottesdienst etwas gestalten dürfen.“ (GD7/ der GruppenleiterInnen untereinander sowie die hohe Z234ff.) Entsprechend diesem kinderfreundlichen Klima ist Bedeutung von Spiel, Spaß, Gemeinschaft und ungezwunge- Jungschar auch eines von mehreren kinderpastoralen Ange- nem Beisammensein als wichtige Merkmale herausgestri- boten, die neben- und miteinander bestehen. Dazu zählen chen werden. Darüber hinaus vertritt verlässlich-autarke etwa Kinderwortgottesdienste, Spielgruppen für ganz junge Jungschar durchaus kritische Positionen gegenüber der Kir- Kinder, Jugendgruppen, Kinderchor. Ergänzt werden diese che und grenzt sich stark von äußerer Einflussnahme ab. kontinuierlichen Angebote durch zahlreiche, teilweise grup- penübergreifende Aktivitäten und Aktionen übers ganze Die modern-vernetzte Jungschar Jahr. Modern-vernetzte Jungschararbeit ist ein wesentlicher Die einzelnen kinderpastoralen Angebote innerhalb der Bestandteil vielfältiger Kinderpastoral vor allem in heteroge- Pfarre sind stark untereinander vernetzt, ebenso die Jung­ nen, offenen Pfarren mit unterschiedlichen kinder- und schar-MitarbeiterInnen, die immer wieder auch in anderen jugendpastoralen Angeboten. Jungschararbeit ist ein wichti- Funktionen in der Pfarre tätig sind, etwa als Kommunion­ ges Anliegen der Pfarrleitung, die diese auch tatkräftig spenderIn, LektorIn, in der Erstkommunion- oder Firmvor- unterstützt. Daher wird vernetzte Jungschararbeit häufig bereitung etc. Jungschararbeit ist damit gut in die Pfarre auch durch hauptamtliche MitarbeiterInnen organisiert integriert, auch durch die Einbindung von Jungschar-Ver- oder von diesen mitgetragen. Dennoch wird die Bedeutung antwortlichen in den PGR oder in andere Gremien. Typisch des ehrenamtlichen Engagements für das Gelingen von ist eine konstruktive Zusammenarbeit mit Schule und Kin- Jungschararbeit hervorgehoben. Die Teams, die kinder- dergarten, welche den Kindern eine unkomplizierte Beteili- pastorale Angebote verantworten und durchführen, sind gung an pfarrlichen Aktivitäten und Veranstaltungen meist vielfältig zusammengesetzt: Neben Hauptamtlichen ermöglicht. gibt es beispielsweise ehrenamtliche MitarbeiterInnen mit Modern-vernetzte Jungschararbeit ist auch nach außen pädagogischer Ausbildung und/oder ReligionslehrerInnen, hin offen und an Kooperationen interessiert. Da Jungschar- die häufig eine besonders wichtige Rolle spielen. (Zukünf- arbeit zu einem beträchtlichen Teil von Hauptamtlichen tige) GruppenleiterInnen werden gut unterstützt und kön- (mit-)getragen wird, besteht Kontakt zur jeweiligen nen schrittweise in ihre Aufgabe hineinwachsen. „[...] Und Diözesan­stelle bzw. zum Dekanat. Veranstaltungen werden es ist immer ein Team der Hauptamtlichen bei den Ehrenamt- besucht, Angebote werden genutzt und geschätzt, Schulun- lichen dabei und begleitet. Es gibt Betreuer und die Jung­ gen und Weiterbildungen sind der Pfarr- bzw. Jungscharlei- scharstunden, die laufen dann selbstständig und in Selbstver- tung ein großes Anliegen und werden selbstverständlich antwortung.“ (GD9/Z1025ff.) Selbstverständlich ist auch eine bezahlt: „Da steht die ganze Pfarre bis zum Pfarrgemeinderat entsprechende Nutzung pfarrlicher Ressourcen für die dahinter, dass das gewünscht beziehungsweise gewollt ist. Jungschararbeit wie Räume, Budget und Öffentlichkeitsar- Dass diese Fortbildung passiert. Und die passiert auch.“ beit. (GD8/Z909ff.) Der religiöse Bezug bzw. eine kindgerechte, lebensnahe Resümierend kann die modern-vernetzte Jungschar als Vermittlung des Glaubens werden explizit als Aufgaben der eine Form der vielfältigen, teils niederschwelligen Kinder- Jungschar genannt. Religiöse Elemente – „und das nicht ver- pastoral in den Pfarren, die häufig durch Hauptamtliche schämt am Rande, sondern mittendrinnen“ – werden z.B. unterstützt wird, beschrieben werden. Sie legt Wert auf gut auch in den Jungscharalltag eingebaut, liturgische Feiern ausgebildete GruppenleiterInnen, ist bestens nach innen spielen eine wichtige Rolle im Jahreskreis. Es wird aber dar- und außen vernetzt und betont den religiösen Auftrag der auf geachtet, dass die Gemeinschaft der Kinder an erster Jungschar. Stelle steht, eine bestimmte Religiosität oder gar „Katho- lisch-Sein“ sind keine Voraussetzung, um in der Jungschar Die alleingelassene Jungschar willkommen zu sein. Es gibt „kein Anforderungsprofil“ oder Von allem ein bisschen zu wenig, so lässt sich am tref- „keinen Detektor, der bemerkt, ob jemand katholisch ist“, so fendsten die Situation der allein gelassenen PionierInnen in die DiskutantInnen in der Gruppendiskussion. „Gemein- der Jungschararbeit – es handelt sich dabei vor allem um schaft erleben ist wichtig, [...] dass sie miteinander etwas tun erwachsene Frauen – beschreiben: Zu wenig Gruppen­ können, dass sie miteinander beieinander sind. [...] Kinder leiterInnen, zu wenig geeignete Räumlichkeiten, zu wenig sollen das Gefühl haben, dass jeder erwünscht ist. Eben auch Unterstützung durch Pfarrer und Pfarrgemeinde, zu wenig niederschwellig.“ (GD8/Z1124ff.) Kooperation der Eltern und auch zu wenig Kontakt zu ande-

ÖRF 23 (2015) • 121–129 127 ren Pfarren oder gar zur Diözesanleitung der Jungschar. und auf welche die Kinder später zurückgreifen können, Dass es in diesen Pfarren überhaupt geordnete Jungschar- auch wenn sie sich von der Kirche immer weiter entfernen. und MinistrantInnenarbeit gibt, liegt oft daran, dass die ver- Zusammenfassend kann die alleingelassene Jungschar so antwortlichen Personen einen guten Draht zu den Kindern charakterisiert werden, dass es sich um meist einzelne oder haben und selbst gut organisiert sind. Funktionierende kleinste Gruppen engagierter und charismatischer Personen Zusammenarbeit mit der Schule (ReligionslehrerIn) und mit einem guten Draht zu den Kindern und dem Wunsch, Informationsarbeit für die Eltern sind dafür wesentliche Jungschar als individuell angepasstes Angebot für die Mäd- Voraussetzungen. chen und Buben ihrer Pfarre zu gestalten, handelt. Sie brin- Wohl gibt es überall auch – meist sehr junge – Mitarbei- gen sich mit all ihren Ressourcen ein, sind dabei aber weit- terInnen, die sich aber vor allem aus zeitlichen Gründen auf gehend auf sich allein gestellt und arbeiten unter teilweise punktuelle Hilfsdienste zurückziehen und damit wenig Kon- prekären Rahmenbedingungen. tinuität in ihren Beziehungen zu den Mädchen und Buben aufbauen können. Das Mobilisieren verlässlicher ehrenamt- 4. Zusammenfassende Reflexion licher MitarbeiterInnen scheint für die alleingelassene Jung­ Die unterschiedlichen Typen von Jungschararbeit, die schar die größte Herausforderung zu sein. „[...] So 100pro- in den Fallskizzen beschrieben wurden, verweisen auf unter- zentig verpflichten lässt sich keiner. Es sagt jeder: Ich komme schiedliche Traditionen, unterschiedliches Selbstverständnis ein paarmal oder ich helfe dir basteln. Oder: Heute habe ich und dementsprechend unterschiedliche Strukturen und gerade Zeit, dann komme ich einmal.“ (GD6/Z334ff.) Arbeitsweisen in den einzelnen Pfarren. Allen gemeinsam Zumeist sind die Rahmenbedingungen für die Arbeit in sind jedoch das Bemühen der GruppenleiterInnen um hohe der Pfarre schwierig. Fixe Räumlichkeiten, Ausstattung mit Qualität ihrer Arbeit mit den Mädchen und Buben sowie ihr geeignetem Material, Finanzierung von Aktivitäten in und Anspruch, an der Bildung der Kinder mitzuwirken. In erster mit der Gruppe sind nicht selbstverständlich und verlangen Linie fokussieren die befragten GruppenleiterInnen27 auf den MitarbeiterInnen viel Eigeninitiative, Kreativität und soziale Kompetenzen wie gegenseitige Rücksichtnahme, Flexibilität ab. Teilweise macht sich bei allem Engagement Kooperation, Hilfsbereitschaft und Gemeinschaftsbildung. eine gewissen Resignation breit: „Dass man sich ein bisschen Auch Partizipation und Mitsprache der Kinder sowie Orien- entfalten kann und […] ja, Träume sind Schäume.“ (GD6/ tierung an deren spezifischen Bedürfnissen sind für Grup- Z724) Ob Geld für Jungschararbeit in der Pfarre zur Verfü- penleiterInnen bedeutsame Anliegen und Basis ihrer Arbeit. gung steht, scheint Ermessenssache zu sein und bedarf Damit verfolgen die befragten Personen zentrale Ziele gezielter Verhandlungen. Manchmal muss sogar auf private non-formaler Bildung – jedoch oft ohne dies bewusst zu finanzielle Mittel zurückgegriffen werden. Um Geld zu bit- reflektieren. Vorwiegend ältere GruppenleiterInnen sind ten, scheint generell schwierig zu sein, egal, ob man dabei darüber hinaus in hohem Maße religiös motiviert und sehen den Pfarrer fragen muss oder die Gemeindemitglieder. Jungschararbeit als wichtiges Angebot ganzheitlicher religiö- Aus der Erwachsenenperspektive der allein gelassenen ser Bildung. PionierInnen lassen sich auch inhaltliche Ansprüche an Jungschararbeit verfügt über ein hohes Bildungspoten- Kinderpastoral heraushören. Die Arbeit solle „pädagogisch zial – das wird sowohl in den Texten und Positionen der sehr hochwertig“ sein, sodass die Kinder nicht nur spielen Katholischen Jungschar als auch in der Analyse der ver- und Spaß miteinander haben, sondern auch noch etwas ler- schiedenen Datenquellen der Jungschar-Studie 2014 deut- nen „und sie merken es nicht mal“. (GD3/Z897ff.) lich. Die Art und Weise, wie die Gruppenarbeit mit den Insgesamt entsteht der Eindruck, dass diese Jungschar- Mädchen und Buben in den einzelnen Pfarren konkret arbeit nur lückenhaft in die Pfarre eingebunden ist. Aus der gestaltet wird, ergibt ein buntes Bild vielfältigster Zugänge Sicht des Pfarrers bzw. des PGR wird die Arbeit zwar wohl- und Schwerpunkte. wollend zur Kenntnis genommen, die handelnden Personen Der Wert einer breit angelegten Studie, wie sie hier nur sind allerdings weitgehend auf sich allein gestellt und erfah- auszugsweise vorgestellt werden konnte, besteht wohl darin, ren kaum Unterstützung. Dementsprechend groß ist der dass daraus Perspektiven für eine zukunftsfähige Entwick- ausdrückliche Wunsch nach Unterstützung von außen, sei es lung gewonnen werden können. In der Zusammenschau der beim Anwerben der Kinder, bei der Kontaktaufnahme zu Ergebnisse und Analysen kann festgehalten werden, dass die den Eltern, bei auftretenden Problemen oder für die Ausbil- kinderpastorale Arbeit der Katholischen Jungschar in Öster- dung und Begleitung der jungen GruppenleiterInnen. Die reichs Pfarren auf einem tragfähigen Fundament steht. Sie Motivation der Jungschar-MitarbeiterInnen ist die Hoff- ist nicht nur deutlich sichtbar, sondern stellt nach wie vor nung, dass mit Jungschar- oder MinistrantInnenarbeit ein eine unverzichtbare Ressource dar – auf Grundlage ihrer Same gesät wird, eine Beziehung zu Jesus, die weiterwirkt

128 Österreichisches Religionspädagogisches Forum gewachsenen Tradition, ihres solidarischen Einsatzes für die der kirchlichen Jugend(verbands)arbeit in der Erzdiözese Freiburg. Anliegen der Mädchen und Buben und ihres stetigen Bemü- Bildungsverständnis, Bildungsauftrag, Grundsätze, Bildungsstan- dards, in: http://www.bdkj-freiburg.de/html/positionspapiere.html hens um Bildungsqualität in der außerschulischen Kinder- [abgerufen am 24.04.2015], 12. und Jugendarbeit. 16 Vgl. St. Nikolaus-Kindertagesheimstiftung, Wien & Caritas für Kinder und Jugendliche Linz (Hg.): Religionspädagogischer Anmerkungen BildungsRahmenPlan für elementare Bildungseinrichtungen in Öster- reich, Linz: Unsere Kinder 2010, 16. 1 Vgl. Kromer, Ingrid / Hajszan, Michaela: Jungschar-Studie 2014, 17 KJSÖ 1996 [Anm. 10], 94. Kinderpastoral in Österreichs Pfarren. Empirische Befunde und Ana- 18 Diese Studie umfasst qualitative und quantitative Module: Online-Fra- lysen, Wien: KJSÖ 2015. gebogenerhebung in allen katholischen Pfarren Österreichs, Grup- 2 Vgl. Generalversammlung der Vereinten Nationen: Die Rechte pendiskussionen mit Pfarrleitungsverantwortlichen und Gruppenlei- des Kindes, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1989, Artikel 28 terInnen sowie eine Online-GruppenleiterInnenbefragung. und 29. 19 Vgl. Statistik Austria: https://www.statistik.at/web_de/klassifikatio- 3 KJSÖ Katholische Jungschar Österreichs: Jungschargruppe. „… nen/regionale_gliederungen/nuts_einheiten/index.html [aberufen am damit Mädchen und Buben groß und stark werden.“ Informationsfol- 09.05.2015]. der für Eltern, Wien: KJSÖ 2010. 20 An Modul 2 der JS-Studie beteiligten sich 86 % der österreichischen 4 Vgl. Rauschenbach, Thomas: Zukunftschance Bildung. Familie, Pfarren (n=3.026). Jugendhilfe und Schule in neuer Allianz, Weinheim: Juventa 2009. 21 Hug, Theo / Poscheschnik, Gerald: Empirische Forschen, Konstanz: Sting, Stephan / Sturzenhecker, Benedikt: Bildung und Offene UVK Verlagsgesellschaft mbh 2010, 107. Kinder- und Jugendarbeit, in: Deinet, Ulrich / Sturzenhecker, 22 Vgl. Froschauer, Ulrike / Lueger, Manfred: Das qualitative Inter- Benedikt (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, Wiesba- view, Wien: Facultas 2003, 158. 4 den: Springer 2013, 375–388. 23 Froschauer, Ulrike / Lueger, Manfred: Interpretative Sozialfor- 5 Vgl. Bechtel, Mark / Lattke, Susanne / Nuissl, Ekkehard: Glossar schung: Der Prozess, Wien: Facultas 2009, 55f. zur Weiterbildung in der Europäischen Union, in: http://www.die- 24 Vgl. Kelle, Udo / Kluge, Susann: Vom Einzelfall zum Typus. Fallver- bonn.de/esprid/dokumente/doc-2005/bechtel05_01.pdf [abgerufen gleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung, am 24.04.2015], 132. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 22010, 85ff. 6 Vgl. Harring, Marius / Rohlfs, Carsten / Palentien, Christian: 25 Bohnsack, Ralf: Gruppendiskussionen, in: Flick, Ernst / Kardoff, Perspektiven der Bildung. Kinder und Jugendliche in formellen, nicht v. Ernst / Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, formellen und informellen Bildungsprozessen, Wiesbaden: VS Verlag Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2009, 369–384, 383. für Sozialwissenschaften 2007, 9. 26 Eine ausführliche Beschreibung der Fallskizzen mit O-Zitaten kann 7 Vgl. Dohmen, Günther: Das Jahr des lebenslangen Lernens – was hat bei Kromer / Hajszan 2015 [Anm. 1] nachgelesen werden. es gebracht?, in: http://www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc- 27 Alle Gruppendiskussionen (GD) wurden mit fortlaufender Nummer 1997/faulstich-wieland97_02.pdf [abgerufen am 13.07.2015], 11. (GD12 = 12. Gruppendiskussion) und mit Zeilennummerierung 8 Rauschenbach, Thomas: Im Schatten der formalen Bildung. Alltags- (Z751 = Text aus der 751. Zeile) transkribiert; d.h. die Abkürzung ver- bildung als Schlüsselfrage der Zukunft, in: Diskurs Kindheits- und weist auf die Quelle des Zitates. Jugendforschung 4 (2007) 439–453, 447. 28 Die Aussagen in diesem Abschnitt beziehen sich auf Daten aus Modul 9 Vgl. Sturzenhecker, Benedikt: Zum Bildungsanspruch von Jugend- 4 der Jungschar-Studie (Online-Befragung unter 1.689 Gruppenleite- arbeit, in: Mitteilungen LJA WL 153 (2003) 47–61. rInnen) sowie auf qualitative Daten aus Modul 5, die in zwölf Grup- 10 KJSÖ Katholische Jungschar Österreichs: In der Mitte sind die pendiskussionen mit insgesamt 47 GruppenleiterInnen gewonnen Kinder. Handbuch Jungschararbeit, Wien: KJSÖ 1996, 257. wurden. 11 Vgl. BMWFJ Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend (Hg.): 6. Bericht zur Lage der Jugend in Österreich, Wien: BMWFJ 2011, 399. Autorinneninformation 12 Vgl. Schilling, Constanze / Neubauer, Verena / Giacomozzi, Elke: Mag.a Dr.in Ingrid Kromer Auf die Plätze, fertig, los! Beratungsmappe für den Jungschar-Start. Kirchliche Pädagogische Hochschule Manuskript für internen Gebrauch, Wien: KJSÖ 2010, 28. Mayerweckstraße 1 13 Vgl. Scherr, Albert: Der Bildungsauftrag der Jugendarbeit: Aufgaben A-1220 Wien und Selbstverstandnis im Spannungsfeld von sozialpolitischer e-mail: [email protected] Indienstnahme und aktueller Bildungsdebatte, in: Münchmeier, GND: (DE-588)122562518 Richard / Otto, Hans-Uwe / Rabe-Kleberg, Ursula (Hg.): Bildung und Lebenskompetenz: Kinder- und Jugendhilfe vor neuen Aufgaben, Mag.a Michaela Hajszan Opladen: leske + budrich 2002, 93–106. Rosenackerstraße 41a 14 Schilling / Neubauer / Giacomozzi 2010 [Anm. 12], 28. A-1170 Wien 15 Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und Kirch- e-mail: [email protected] liche Jugendarbeit in der Erzdiözese Freiburg (Hg.): Bildung in GND: (DE-588)136877257

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Thomas Benesch

Erzählhäufigkeiten von biblischen Geschichten in der Familie und Allgemeine Religiosität der autor Thomas Benesch, Dr.habil. DDr., Religionspäda- goge und Professor an der Sekundarstufe 2, seit mehr als 15 Jahren Publikationen für Zeit- schriften.

Abstract Eine quantitative Erhebung von 44 Volksschulkindern einer 3. und 4. Klasse wurde mithilfe von zwei Skalen durchgeführt. Analy- siert wurde die ‚Allgemeine Religiosität‘ mittels einer Teilskala aus dem ‚Multidimensionalen Inventar zum religiös-spirituellen Befinden (MI-RSB 48)‘ sowie für die ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im Elternhaus‘, die an jene von Hanisch/Bucher angelehnt wurde. Die ‚Allgemeine Religiosität‘ steht im Zusammenhang mit der religiösen Erziehung und damit, ob gerne in der Heiligen Schrift gelesen wird; die ‚Erzählhäufigkeiten‘ haben eine Korrelation mit der religiösen Erziehung und dem Besitz von biblischen Geschichten in Form von CDs und MP3s. Der Besitz einer Kinderbibel hatte keinen Einfluss. Die Hauptergebnisse der Untersuchung werden nachfolgend beschrieben. Schlagworte: Erhebung, Schuljahr 3-4, Religiosität, Religiöse Erziehung, Kinderbibel, Österreich

Frequency of Narratives of Scriptural Stories in the Family and General Religiousness: A quantitative research on 44 pupils of an elementary school (third and fourth class) was performed. Two scales have been used to analyze the ‘general religiousness’ with a subscale from the ‘multidimensional inventory to the religious-spiritual habit (MI-RSB 48)’ as well as the ‘frequency of narratives for scriptural stories in the parents’ house’, which was based on the scale of Hanisch/ Bucher. The ‘general religiousness’ is in connection with the religious education and the joy of reading in the Holy Bible; the ‘frequency of narratives of scriptural stories in the parents’ house’ shows a correlation with the religious education and the ownership of scriptural stories on cd and mp3 media. The ownership of a Child’s Bible shows no impact. The main results of the research will be described in this article. Keywords: Quantative survey, Primary school, Religiousness, Religious education, Bible Children’s use, Austria

Einleitung und Erhebungsinstrument stellen, dass mit dem Besitz einer Kinderbibel nicht automa- tisch das Interesse der Kinder an dieser steigt. Eher ist fest- Kinder erfinden das Gottesbild nicht aus sich heraus, zustellen, dass für einige Kinder nach dem einmaligen Lesen sondern eignen sich dieses im Prozess der religiösen Soziali- ihrer Kinderbibel kein Grund mehr besteht, diese wieder in sation an. Die Religiosität der Eltern ist der wichtigste Ein- die Hand zu nehmen.2 flussfaktor für die Religiosität der Kinder, besonders dann, Daher ist von Interesse, ob Kindern in der Familie bibli- wenn die Religiosität in der Familie begreifbar beziehungs- sche Geschichten erzählt werden, und wenn ja, von wem. weise sichtbar oder entsprechend hörbar und aktionsrele- Auch der Aspekt, ob sie eine Kinderbibel besitzen oder sich vant wird. Die religiöse Sozialisation ist weiters größer, biblische Geschichten selbst anhören können, ist von ent- wenn beide Eltern in religiösen Fragen übereinstimmen und scheidender Bedeutung. Dieser Aspekt wird in Beziehung häufig mit dem Kind religiöse Themen ansprechen und gebracht mit der Skala der ‚Allgemeinen Religiosität’. ihnen selbst wichtig ist, dass die Kinder religiös erzogen Für jede Generation stellt sich die Aufgabe neu, die Ins- werden.1 titution Schule für Schulkinder und Jugendliche so zu Obwohl zwar bei der empirischen Erhebung von Metz- gestalten, dass sie ihnen zur lebensdienlichen, kind- und ger fast 70 % eine Kinderbibel besitzen, verwenden nur die jugendgerechten Umwelt wird.3 Im folgenden Artikel wird wenigsten diese als regelmäßige Lektüre. Es ist auch festzu- dieser Aspekt aus der Perspektive der ‚Allgemeinen Religio-

Thomas Benesch: Erzählhäufigkeiten von biblischen Geschichten in der Familie und 131 Allgemeine Religiosität • ÖRF 23 (2015), 131–137 sität’ und der Skala der ‚Erzählhäufigkeiten biblischer in Österreich hauptsächlich die Kindheit verbracht haben Geschichten im Elternhaus’ betrachtet. Dazu wurde eine und in der Stadt wohnen. Der Bereich der ‚Allgemeinen quantitative Untersuchung vorgenommen, um mit diesen Religiosität‘ wurde aus dem ‚Multidimensionalen Inventar beiden Skalen den Besitz von Kinderbibeln beziehungsweise zum religiös-spirituellen Befinden (MI-RSB 48)‘8 entnom- die Frage, ob in der Heiligen Schrift gerne gelesen wird, zu men. Dieser wurde in der Erprobungsphase an 100 weibli- untersuchen. chen und 100 männlichen Studierenden im Alter von 18 bis So wird die Kinderbibel als Brücke zwischen familiärer 30 Jahren verwendet. Im Bereich der Validierung wurde die Sozialisation und kirchlicher Erinnerungsarbeit gesehen, Allgemeinbevölkerung mit 132 weiblichen und 131 männli- wenn zum Beispiel bei Familiengottesdiensten oder Taufen chen Personen ausgewählt, wobei sich das durchschnittliche vertraute Geschichten der Bibel wiederholt werden und Alter von 43,54 bei einer Standardabweichung von 16,17 sowohl für Erwachsene als auch für Kinder das Gewohnte Jahren ergab. Die ‚Allgemeine Religiosität‘ hat 8 Items mit überraschend neu und lebensbedeutsam wird.4 einem Cronbach’s Alpha von 0,94. Bei der Prüfung auf Nor- Die Leitfrage diente als Basis für eine quantitative Stu- malverteilung der ‚Allgemeinen Religiosität’ wurde festge- die, die im Mai 2015 an einer Pflichtschule der Primarstufe stellt, dass diese mittels Kolmogorov-Smirnov-Test nicht in Wien durchgeführt wurde. 66 Kinder einer 3. und 4. abgelehnt werden kann.9 Die ‚Allgemeine Religiosität‘ Volksschulklasse wurden nach den Erzählhäufigkeiten bibli- nimmt in Validierungsphase mit dem Alter zu (r=0,23; p < scher Geschichten im familiären Umfeld und zur Thematik 0,01); zudem verfügen die Frauen über ein höheres Ausmaß Kinderbibeln und CDs/MP3s mit biblischen Geschichten an allgemeiner Religiosität. Des Weiteren ergab sich für die befragt. Dieser Teil des Fragebogens ist angelehnt an jenen ‚Allgemeine Religiosität‘ eine sehr hohe und stark signifi- von Hanisch/Bucher5, wurde aktualisiert und in der folgen- kante Korrelation mit der globalen Religiosität. Dieser Test den Form (siehe Tabelle 1) in der Untersuchung aufgenom- wurde von Grabner und Huber am Grazer Institut für Klini- men: sche Psychologie entwickelt.10 Die ‚Allgemeine Religiosität’ wurde noch nie bei Kin- Fragen zu biblischen Geschichten / Bibel dern oder Jugendlichen angewandt. Der Fragebogen für die ‚Allgemeine Religiosität‘ wurde dennoch direkt übernom- men. Als Methode wurde eine quantitative Erhebung gewählt, bei der Kinder aus einer 3. und 4. Volkschule befragt wur- den. Die quantitative Erhebung untersucht somit eine mög- liche wechselseitige Verflechtung zwischen der ‚Allgemei- nen Religiosität‘, den ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im Elternhaus‘ und demographischen Fragen und liefert dadurch Erklärungsansätze und Folgebedarf für die Zukunft.

Tabelle 1: Religionsfragebogen – Fragen zu biblischen Geschich- Methodik ten/Bibel Um aus der Untersuchung entsprechend aussagekräftige Kinder im Grundschulalter haben noch in geringem Rückschlüsse ziehen zu können, wurden verschiedene Ausmaß religiöse Vorkenntnisse oder Vorprägungen, jedoch Methoden angewendet. Bei metrischen Merkmalen (wie z.B. lassen sie sich anregen und entwickeln eine eigene Gedan- Geschwisteranzahl, Alter) werden das arithmetische Mittel kenwelt, die auch einen theologischen Charakter haben und die Standardabweichung angegeben; bei ordinalen kann, wenn es entsprechende Angebote in diesem Bereich Merkmalen die Häufigkeitstabelle und der Median (Zentral- gibt und Kinder gute Voraussetzungen für einen theologisie- wert); bei nominalen Merkmalen (wie z.B. Religion) die renden Religionsunterricht mitbringen.6 Häufigkeitstabelle. Der Kolmogorov-Smirnov-Test dient zur Die demographischen Fragen des Fragebogens orientie- Entscheidung, ob die ‚Allgemeine Religiosität‘ in Anlehnung ren sich an jenen von Benesch7. Diese demographischen an die Validierungsphase normalverteilt ist. Bei der Skala Fragen dienen hauptsächlich dazu, dass die Kinder, die der ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im Eltern- befragt werden, direkt auf eine bestimmte Gruppe fokussiert haus‘ werden die Analyseschritte in Anlehnung an Hanisch/ sind. Bei dieser Studie handelt es sich um römisch-katholi- Bucher übernommen. sche Kinder, die sowohl in Österreich geboren sind als auch

132 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Der Exakte Test nach Fisher wird verwendet, um den Deskriptive und bivariate Ergebnisse der Unter- Zusammenhang zweier dichotomer Merkmale zu testen. suchung Stattdessen dient der Chi-Quadrat-Test dazu, die Kontin- In Anlehnung an Hanisch/Bucher12 wurde gefragt, in genz zweier polytomer Merkmale festzustellen. Der Korrela- welchem Ausmaß Kindern biblische Geschichten in der tionskoeffizient nach Pearson r dient zur Entscheidung, ob Familie begegnen und ob und wie oft ihnen die Eltern und ein linearer Zusammenhang zwischen den beiden Skalen Großeltern biblische Geschichten erzählen beziehungsweise und den demographischen metrischen Variablen vorliegt. erzählt haben. Diese Fragen liefern das folgende Ergebnis, Um den Zusammenhang zwischen dichotomen und metri- wobei die graue Hinterlegung sowohl den Modus als auch schen Merkmalen zu quantifizieren, wird die punktbiseriale den Median angibt: Korrelation rpb verwendet. Der unabhängige t-Test ent- spricht dem punktbiserialen Korrelationstest, dem in diesem einmal einmal jeden 11 Item pro pro selten nie Artikel der Vorrang gegeben wurde. Die ‚Allgemeine Reli- Tag Woche Monat giosität‘ wird mittels einer schrittweisen multiplen Regres- Mein Vater sion vorhergesagt. P-Werte kleiner als 0,05 werden als signi- oder meine fikant bezeichnet. Alle statistischen Auswertungen wurden Mutter 0 / 0 / 0 / 12 / 32 / erzählen mir 0,0% 0,0% 0,0% 27,3% 72,7% mit SPSS Version 19.0 durchgeführt. biblische Da das Hauptinteresse an römisch-katholischen Kin- Geschichten Früher haben dern lag, wurden drei evangelische, ein altkatholisches, ein mir mein Vater oder weiters Kind einer anderen christlichen Religion sowie 10 2 / 2 / 2 / 11 / 27 / meine Mutter 2,5% 4,5% 4,5% 25,0% 61,4% Kinder ohne religiösem Bekenntnis von der Analyse ausge- biblische schlossen, wodurch von den ursprünglich 66 noch 51 Kin- Geschichten erzählt der übrig blieben. Um eine homogene Stichprobe zu erlan- Meine gen, wurden nur jene analysiert, die den größten Teil des Grußmutter oder mein 1 / 1 / 3 / 15 / 24 / Lebens in einer Stadt verbracht haben. Aufgrund dieser Ein- Großvater 2,3% 2,3% 6,8% 34,1% 54,5% schränkung ergibt sich ein Stichprobenumfang von 46. Um erzählen mir biblische die Variabilität weiter einzuschränken, werden nur jene Kin- Geschichten der weiter untersucht, die sowohl in Österreich geboren als Früher haben mir meine auch hauptsächlich in Österreich ihre Kindheit verbracht Großmutter haben, daraus ergibt sich schließlich eine Stichprobe von 44. oder mein 1 / 2 / 2 / 14 / 25 / Großvater 2,3% 4,5% 4,5% 31,8% 56,8% biblische Beschreibung der Stichprobe Geschichten erzählt Die 2x4-Kontingenztabelle zwischen Alter und Tabelle 3: Häufigkeiten bei den einzelnen Items der ‚Erzählhäu- Geschlecht hat folgende Form (siehe Tabelle 2): figkeiten biblischer Geschichten im Elternhaus‘

Wie alt bist du? Gesamt Die Kodierung erfolgt wie bei Hanisch/Bucher in der Geschlecht 8 J. 9 J. 10 J. 11 J. Form, dass jeden Tag mit 1, einmal pro Woche mit 2, einmal Mädchen 0 9 9 1 19 Junge 2 9 10 4 25 pro Monat mit 3, selten mit 4 und nie mit 5 kodiert wird. Gesamt 2 18 19 5 44 Beim Vergleich mit den Ergebnissen von Hanisch/ Tabelle 2: Kreuztabelle von Geschlecht und Alter Bucher13 ist festzustellen, dass bei den Eltern der Prozent- satz für jene, die ‚nie erzählen oder erzählt haben‘, sogar Die durchschnittliche Geschwisterzahl liegt bei 0,98 bei zugenommen hat: bei der Studie von Hanisch/Bucher lag einer Standardabweichung von 0,792. Wird jedoch die dieser Prozentsatz noch knapp unter 50 %. Sehr drastisch ist Anzahl der Personen im Haushalt betrachtet, ergibt sich ein auch der gänzliche Verlust der Erzählung, diese war bei arithmetisches Mittel von 3,55 bei einer Standardabwei- Hanisch/Bucher noch bei 13 % angesiedelt. Bei den Großel- chung von 0,951. tern ist im Vergleich mit Hanisch/Bucher festzustellen, dass Die Kinder gaben an, dass 2 (4,5 %) der Mütter und 7 der Prozentsatz bei ‚nie‘ nahezu gleich geblieben ist, jedoch (15,9 %) der Väter eine andere Religion haben. Es ist hier zu jener von ‚selten‘ sich um mehr als 6 Prozentpunkte erhöht erkennen, dass zwar die Mütter jeweils die gleiche Religion hat, sodass für die Bereiche ‚jeden Tag‘, ‚einmal pro Woche‘, aufweisen, jedoch bei den Vätern doch eine größere Diskre- ‚einmal pro Monat‘ insgesamt nur mehr 10 % biblische panz besteht. Geschichten erzählt bekommen und erzählt bekommen

ÖRF 23 (2015) • 131–137 133 haben; bei Hanisch/Bucher lag der Prozentsatz noch annä- Kinderbibeln oder CDs und MP3s mit biblischen Geschich- hernd bei 20 %. ten. Von den befragten Kindern besaßen 30 (68,2 %) eine Die vier Items interkorrelieren signifikant: Eltern heute Kinderbibel und 13 (29,5 %) keine, 1 (2,3 %) Kind gab keine – Großeltern heute mit einem Korrelationskoeffizienten Auskunft. 80 % der Jungen und nur 55 % der Mädchen nen- nach Pearson von 0,368, Eltern heute – Großeltern früher nen eine Kinderbibel ihr Eigen. Es ergibt sich aber kein sig- mit einem Korrelationskoeffizienten nach Pearson von nifikanter Unterschied aufgrund des Chi-Quadrat-Tests 0,349. Da Hanisch/Bucher bei der Analyse den Korrelations- (p=0,085). koeffizienten nach Pearson verwendeten, wurde auch in die- Von den 30 Kindern, die eine Kinderbibel besitzen, sem Artikel auf diesen verwiesen. Der Rangkorrelations- gaben 28 Auskunft über die Häufigkeit der Nutzung: koeffizient nach Spearman liefert jedoch die gleiche Grö- 3 (10,7 %) verwenden sie einmal pro Monat, 10 (35,7 ßenordnung. %) selten und 15 (53,6 %) nie. Damit liegt der Prozentsatz Dies heißt, dass je häufiger Großeltern die Praxis der jener Kinder, die die eigene Bibel selten oder nie lesen, bei biblischen Narration gepflegt haben, desto häufiger dies fast 90 % und ist somit um 40 Prozentpunkte im Vergleich auch die Eltern tun. Daher ergibt eine biblische Erzähltradi- zur Studie von Hanisch/Bucher (2002: 65) gestiegen. Diese tion in der Familie, dass die Eltern selbst bereits über ent- Tendenz zeigt sich auch bei der Beantwortung der Frage, ob sprechende Erfahrungen aus ihrer Kindheit verfügen. Ähn- die Kinder gerne in der Heiligen Schrift lesen. Dies haben liche, jedoch stärkere Korrelationen ergaben sich auch bei 10 (25 %) bejaht, jedoch 75 % verneint. Hanisch/Bucher14. Die Interkorrelation aller vier Items Von den 10 Kindern, die gerne in der Heiligen Schrift rechtfertigt es, sie zu einer Skala der ‚Erzählhäufigkeiten lesen, haben 8 (80 %) eine eigene Kinderbibel, von den rest- biblischer Geschichten im Elternhaus‘ zusammenzustellen, lichen 29, die nicht gerne in der Heiligen Schrift lesen, deren Reliabilität (Cronbach’s Alpha 0,818) ausgezeichnet haben 18 (62,1 %) eine eigene Kinderbibel. Der Phi-Koeffi- ist. zient ist 0,166 und nicht signifikant, da der ‚Exakte Test‘ Kenntnisse von biblischen Geschichten entstammen nach Fisher einen p-Wert von 0,445 liefert. 15 nicht nur dem Elternhaus, sondern eigener Lektüre von Bei Hanisch/Bucher gaben 24 % der Kinder an, dass sie biblische Geschichten auf einem Tonbandgerät besitzen.

Tabelle 4: Allgemeine Religiosität – Auswertung

134 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigt, dass nur mehr 5 Geschichten im Elternhaus‘ Y geschieht also in der folgen- (11,6 %) CDs oder MP3s mit biblischen Geschichten besit- den Form: zen, wobei ein Kind angab, diese früher jeden Tag angehört zu haben und heute nur mehr einmal pro Woche; die ande- In weiterer Folge wird mit der Transformation der ren Kindern gaben jedoch ‚selten damals‘ und jeweils 2 Kin- ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im Elternhaus‘ der ‚selten‘ beziehungsweise ‚nie heute‘ an. Die ‚Allgemeine gearbeitet. Religiosität‘ hat das folgende Ergebnis in Tabelle geliefert: Zwischen diesen beiden Summenscores ergibt sich eine Die Skalierung der einzelnen Items erfolgt rangerhal- signifikante Korrelation (p=0,01; r=–0,486). Dies könnte tend für die Ordinalskala beginnend mit 1 für ‚trifft gar inhaltlich bedeuten, dass je eher biblische Geschichten im nicht zu‘ bis 6 für ‚trifft sehr zu‘. Elternhaus tradiert werden, desto größer die ‚Allgemeine Wird das Item ‚Mein Glaube gibt mir ein Gefühl von Religiosität‘ ist (und umgekehrt). Es besteht eine positive Sicherheit‘ dichotom betrachtet, so stimmen 54,6 % dem zu Korrelation (r=0,203; p=0,187) zwischen ‚Allgemeine Reli- während 46,4 % dem nicht zustimmen, wobei die Häufung giosität‘ und ‚Alter‘ in der Stichprobe, jedoch ist diese nicht eher bei der knappen Nichtzustimmung beziehungsweise signifikant. Zwischen ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Zustimmung ist. Bei dem Item ‚Es ist für mich möglich, Geschichten im Elternhaus‘ und ‚Alter‘ konnte keine Korre- Zufriedenheit im vertraulichen Gespräch mit Gott zu fin- lation festgestellt werden (r=0,031; p=0,841). den‘, ergibt sich, dass 51,3 % dieser Aussage zustimmen, Sowohl die ‚Allgemeine Religiosität‘ als auch ‚Erzähl- jedoch im Gegensatz 27,3 % dem gar nicht zustimmen kön- häufigkeiten biblischer Geschichten im Elternhaus‘ sind nen. Dem Item ‚Ich werde mit Gottes Hilfe alle Probleme unabhängig von der Anzahl der Geschwister und der Perso- bewältigen können‘ stimmen nur 35,4 % der Kinder zu. Bei nen, die zuhause leben (der Korrelationskoeffizient ist dem Item ‚In gewissen Momenten in meinem Leben fühle jeweils vom Betrag her immer kleiner als 0,12 und der ich mich Gott ganz nah‘ stimmen 54,6 % der Kinder zu, p-Wert größer als 0,45). wobei im Gegensatz hier 22,7 % der Kinder dem gar nicht Die ‚Allgemeine Religiosität‘ ist im Gegensatz zur Vali- zustimmen können. ‚Ich werde mit Gottes Hilfe noch ein- dierung bei Jungen größer als bei Mädchen, aber dieser mal glücklich sein‘ findet mit 68,2 % Zustimmung; eine Effekt ist nicht signifikant (p=0,212; rpb=0,166). Es ergibt noch größere Zustimmung findet ‚Ich weiß, dass Gott barm- sich, dass ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im herzig ist‘, nämlich 84 %. Das Item ‚In der freien Natur spüre Elternhaus‘ nicht in Zusammenhang steht mit der Frage, ob ich die Gegenwart Gottes‘ findet ebenso Zustimmung mit die Kinder eine Kinderbibel besitzen (rpb=0,030; p=0,846), 61,3 %. ob die Mutter der gleichen Religion angehört (rpb=0,030; Cronbach’s Alpha beträgt 0,843 und ist somit ein wenig p=0,866) oder ob der Vater der gleichen Religion angehört geringer als bei der Validierung, bei der dieser 0,94 ergab. (rpb=–0,024; p=0,9). Jedoch steht das Empfinden, dass die Bei der ‚Allgemeinen Religiosität‘ wird eine explorative Fak- Kinder religiös erzogen wurden, gemessen als dichotomes torenanalyse mit der Methode der Hauptkomponentenana- Item ‚Findest du, dass du religiös erzogen wirst?‘ mit den lyse verwendet, wobei für die Extraktion der Anzahl der ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im Elternhaus‘

Faktoren die Parallelanalyse angewendet wurde, da diese die in einem mittleren signifikanten Zusammenhang (rpb= wirkliche Anzahl nur in wenigen Fällen überschätzt. Die –0,423; p=0,007). Daraus könnte sich ergeben, dass Kinder Parallelanalyse ergibt eine 1-faktorielle Lösung, wobei 49,1 in den Fällen, in denen sie religiös erzogen werden, ihnen % der Varianz erklärt werden. häufiger biblische Geschichten von den Eltern beziehungs- weise von den Großeltern erzählt werden beziehungsweise Bivariate Erkenntnisse aus den Summenscores wurden und umgekehrt. Ein ähnliches Ergebnis findet sich Es werden die Summenscores ‚Erzählhäufigkeiten bibli- im Zusammenhang mit der Frage, ob CDs oder MP3s mit scher Geschichten im Elternhaus‘ und ‚Allgemeine Religio- biblischen Geschichten vorhanden sind. sität‘ gebildet. Nach dem Kolmogorov-Smirnov-Test kann Die ‚Allgemeine Religiosität‘ hängt nicht mit der Frage die Annahme der Normalverteilung bei der ‚Allgemeinen zusammen, ob die Mutter der gleichen Religion angehört Religiosität‘ nicht verworfen werden (p=0,529). Da ‚Erzähl- (rpb=0,032; p=0,859), der Vater der gleichen Religion ange- häufigkeiten biblischer Geschichten im Elternhaus‘ nicht hört (rpb=–0,041; p=0,832), ob eine Kinderbibel vorhanden normalverteilt ist, wird eine Box-Cox-Transformation ver- ist (rpb=0,119; p=0,447) oder ob CDs oder MP3s mit bibli- wendet und das optimale Lambda ergibt sich zu 5,45. 16 Die schen Texten in ihrem Besitz sind (rpb=–0,263; p=0,089). Es Transformation T der ‚Erzählhäufigkeiten biblischer konnten jedoch signifikante mittlere Zusammenhänge zwi- schen dem Item ‚Allgemeine Religiosität‘ mit der Angabe,

ÖRF 23 (2015) • 131–137 135 dass gerne in einer Heiligen Schrift gelesen wird (rpb=0,413; giös erzogen zu werden und dem Aspekt, ob die Heilige p=0,008) und der persönlichen Beurteilung, ob die Kinder Schrift gerne gelesen wird. Daher erscheint es von Bedeu- finden, dass sie religiös erzogen wurden, festgestellt werden tung, dass vonseiten der Lehrkraft versucht wird, die Welt

(rpb=0,312; p=0,5). mit den Augen der SchülerInnen zu betrachten und wahrzu- nehmen. Dazu kann eine Filmsequenz, ein Liedtext, Zei- Multivariate Analyse tungsartikel oder Bildmaterial verwendet werden, um dar- aus Herausforderungen anzunehmen, denen sie nur begeg- Es stellt sich heraus, dass neben den beiden Summen- nen können, wenn sie religiös gebildet sind. 17 scores ‚Allgemeine Religiosität‘ und ‚Erzählhäufigkeiten bib- Dieser Zusammenhang ist erfreulich, da die Skala der lischer Geschichten im Elternhaus‘ auch die Merkmale ‚Fin- ‚Allgemeinen Religiosität‘ hier auch mit dem Aspekt religiös dest du, dass du religiös erzogen wirst?‘, ‚Liest du gerne in erzogen zu werden, korreliert und dies als möglicher Aus- der Heiligen Schrift‘ und ‚Besitzt du CDs / MP3s mit bibli- gangspunkt für ein Surrogat betrachtet werden könnte. Die schen Geschichten’ einen Einfluss darstellen. Daher wird ein Skala ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im Eltern- multiples Regressionsmodell für die ‚Allgemeine Religiosi- haus‘ hängt ebenso mit der Tatsache der religiösen Erzie- tät‘ erstellt, der neben den soziodemographischen Fragen hung zusammen und weiters damit, ob biblische Geschich- (Geschlecht, Alter) auch diese Merkmale berücksichtigt und ten in Form von CDs und MP3s vorhanden sind. Die mit Hilfe der schrittweisen Regression das folgende Ergebnis Erkenntnis von Schlange18, dass religiös geprägte Kinder liefert: nicht zwingend in Kinderbibeln lesen, sondern das Lesen ‚Allgemeine Religiosität‘ = -1,364 ‚Erzählhäufigkeiten von Kinderbibeln unter anderem abhängig ist vom Interesse biblischer Geschichten im Elternhaus‘ + 8,154 ‚Liest du am Thema, konnte aufgrund des nicht vorhandenen Zusam- gerne in der Heiligen Schrift‘. menhangs zwischen Kinderbibel besitzen und der Angabe, Für die Vorhersage der ‚Allgemeinen Religiosität‘ wer- ob in der Heiligen Schrift gelesen wird, durch die empiri- den die Ergebnisse in Tabelle 5 zusammengefasst : sche Untersuchung zumindest untermauert werden.

2 Die Erkenntnis des multiplen Regressionsmodells spie- Prädiktoren B SE ß R 19 Erzählhäufigkeiten -1,364 0,476 -0,389* 0,567* gelt die Idee der Entwicklung der Religiosität nach Klein biblischer wider, da die Religiosität verstanden wird als die Art und Geschichten im Weise, sich mit Religion, wie sie in religiösen Bildungspro- Elternhaus Liest du gerne in 8,154 2,863 0,387* zessen vermittelt wird (im Sinne der ‚Erzählhäufigkeiten der Heiligen Schrift biblischer Geschichten im Elternhaus‘ oder in anderen reli- Tabelle 5: Multiple Regressionsanalyse zur Vorhersage der ‚All- giösen Wissensbeständen, hier ausgedrückt im Item ‚Liest gemeinen Religiosität‘ (Anmerkung: * p<0,005) du gerne in der Heiligen Schrift‘) und in Relation zur eige- nen Erfahrung gesehen wird. Ein Aspekt, der zukünftig Die ‚Allgemeine Religiosität‘ wird alleine im Mittel um berücksichtigt werden sollte, ist, wie der Religionsunterricht 8,154 größer, wenn die Kinder gerne in der Heiligen Schrift sich direkt oder indirekt auf die ‚Allgemeine Religiosität‘ lesen und ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im auswirkt. Es wäre notwendig, eine Skala für den Religions- Elternhaus‘ konstant bleibt. Ebenso ergibt sich, dass sich bei unterricht oder für den Einfluss der Religionslehrkraft zu Erhöhung der ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten erstellen, um dadurch – ähnlich wie die ‚Erzählhäufigkeiten im Elternhaus‘ um einen Punkt, sich die ‚Allgemeine Reli- biblischer Geschichten im Elternhaus‘ – den Erklärungswert giosität‘ im Mittel um 1,364 senkt. Das Bestimmtheitsmaß der multiplen Regression zu erhöhen. ist jedoch nur 32,1 % beziehungsweise liegt das adjustierte Domsgen / Lütze untersuchten die persönliche Wichtig- Bestimmtheitsmaß bei 28,4 %. Dies bedeutet inhaltlich, dass keit auf der Seite von Jugendlichen zu Themen im Religions- die Variabilität der ‚Allgemeinen Religiosität‘ zu 28,4 % 20 unterricht, dies könnte als Skala verwendet werden. Die durch die ‚Erzählhäufigkeiten biblischer Geschichten im Religionslehrkraft könnte mit einer Skala für Persönlich- Elternhaus‘ und ‚Liest du gerne in der Heiligen Schrift‘ keitsmerkmale erfasst werden, bei der zusätzliche religiöse erklärt wird. Dies lässt gleichzeitig darauf schließen, dass es Eigenschaften berücksichtigt werden. noch weitere – andere – Merkmale gibt, die den Erklärungs- Aufgrund dessen, dass die Kinderbibel als Brücke zwi- wert erhöhen würden. schen familiärer Sozialisation und kirchlicher Erinnerungs- arbeit gesehen wird, liegt die Vermutung nahe, dass der Schlussfolgerung Besitz einer Kinderbibel zumindest die ‚Allgemeine Religio- Es hat sich gezeigt, dass die ‚Allgemeine Religiosität‘ im sität‘ beeinflusst; dies konnte jedoch nicht bestätigt werden. Zusammenhang steht mit der Einschätzung der Kinder, reli- Es wäre hier aber denkbar, dass die Kinder andere Medien

136 Österreichisches Religionspädagogisches Forum benützen, um von biblischen Geschichten mehr zu erfahren, onen von Religionsunterricht, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2012, dies wäre sicherlich ein weiteres zukünftiges Forschungsfeld. 353f. 7 Vgl. Benesch, Thomas: Religiöses Lernen und religiöse Sozialisation Besonders erfreulich war die Tatsache, dass die Skala in der Sekundarstufe 1, in: Österreichisches Religionspädagogisches der ‚Allgemeinen Religiosität‘, die zum ersten Mal bei Kin- Forum 22 (2014) 181–187. dern im Alter von 8 bis 11 Jahren angewendet wurde, eben- 8 Vgl. Unterrainer, Human-Friedrich: Seelenfinsternis? Empirische falls ein Cronbach’s Alpha von 0,843 ergibt und zusätzlich Studie zu Struktur und Inhalt der Gottesbeziehung im klinisch-psych- auch noch nach der Parallelanalyse ein 1-faktorielles Ergeb- iatrischen Feld, Medizinische Universität Graz: Dissertation 2008. nis festzustellen war. Im Vergleich zu Hanisch/Bucher und 9 Vgl. Unterrainer, Human-Friedrich: Seelenfinsternis? Struktur und Inhalt der Gottesbeziehung im klinisch-psychiatrischen Feld, Müns- der einzelnen Items der ‚Erzählhäufigkeiten biblischer ter: Waxmann Verlag 2010, 119. Geschichten im Elternhaus‘ hat deren Häufigkeit stark nach- 10 Vgl. Unterrainer, Human-Friedrich u.a.: MI-RSB 48. Die Entwick- gelassen und zeigt sich auch darin, dass von den Eltern und lung eines multidimensionalen Inventars zum religiös-spirituellen Großeltern nie biblische Geschichten vorgelesen werden, bei Befinden, in: Diagnostica 56/2 (2010) 84–89. mehr als 50 % liegt. 11 Vgl. Benesch, Thomas: Schlüsselkonzepte zur Statistik: die wichtigs- ten Methoden, Verteilungen, Tests anschaulich erklärt, Berlin / Hei- Die Tatsache, dass die Religionszugehörigkeit der Mut- delberg: Springer Spektrum 2013, 222. ter und die des Vaters keine Auswirkung auf die ‚Allgemeine 12 Vgl. Hanisch / Bucher 2002 [Anm. 5] 9, 63. Religiosität‘ und die ‘Erzählhäufigkeiten biblischer 13 Vgl. ebd., 63. Geschichten im Elternhaus’ haben, bedarf sicherlich einer 14 Ebd. weiteren und intensiveren Analyse. Da die Religiosität der 15 Vgl. ebd., 67. eigenen Eltern, die das heranwachsende Kind an deren Ver- 16 Vgl. Wessa, Patrick: Box-Cox Normalyty Plot (v1.1.10) in Free Statis- tics Software (v1.1.23-r7), Office for Research Development and Edu- halten abliest, für die Religiosität der Kinder eine entschei- cation, in: http://www.wessa.net/rwasp_boxcoxnorm.wasp/ [abge- dende Rolle spielt, sind speziell soziale Lernprozesse wie rufen am 26.08.2015]. ‚Lernen am Modell‘ oder ‚Lernen durch Fremdverstärkung‘ 17 Vgl. Rupp, Hartmut: Verarbeiten, Vernetzen, Wiederholen, Üben: Ein als wichtig zu nennen. Durch den religiösen Stil, den die Beitrag zum kompetenzorientierten Lernen, in: Feindt, Andreas u.a. Eltern beziehungsweise das engere Umfeld praktizieren, (Hg.): Kompetenzorientierung im Religionsunterricht: Befunde und Perspektiven, Münster / New York / Berlin: Waxmann 2009, 211–221. ergibt sich in weiterer Folge, dass diese religiöse Inhalte ent- 18 Vgl. Schlange, Christina: Die Entwicklung von Gottesbildern bei 21 sprechend weitergeben. Kindern unter Berücksichtigung ihrer religiösen Sozialisation, eine Untersuchung im Blick auf Schülerinnen und Schüler der dritten und Anmerkungen vierten Jahrgangsstufe, Münster: Verlagshaus Monsenstein und Van- nerdat 2011 (= Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe 1 Vgl. Forschungsgruppe ‚Religion und Gesellschaft’: Werte - XXV Impulse zur evangelischen Religionspädagogik, Band 3), 9. Religion - Glaubenskommunikation: eine Evaluationsstudie zur Erst- 19 Vgl. Klein, Stephanie: Gottesbilder von Mädchen. Bilder und Gesprä- kommunionkatechese, Wiesbaden: Springer VS 2015, 25. che als Zugänge zur kindlichen religiösen Vorstellungswelt, Stuttgart / 2 Vgl. Metzger, Nicole: ‚Geschichten sind doch dazu da, weitererzählt Berlin / Köln: Kohlhammer 2000. zu werden’: Eine empirische Untersuchung zu Sinn, Relevanz und 20 Vgl. Domsgen, Michael / Lütze, Franz Michael: Schülerperspektiven Realisierbarkeit einer Kinderbibel von Kindern, Kassel: kassel univer- zum Religionsunterricht: empirische Untersuchung in Sachsen-An- sity press 2012, 88f. halt, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 3 Vgl. Bargheer, Friedrich-Wilhelm: Art. Diakonisches Lernen, in: 21 Vgl. Hoof, Matthias: Freiwilligenarbeit und Religiosität: Der Zusam- Mette, Norbert / Rickers, Folkert (Hg.): Lexikon der Religionspäda- menhang von religiösen Einstellungen und ehrenamtlichen Engage- gogik 1, Neukirchen-Vluyn: Neukirchner 2001, 331. ment, Berlin: Lit Verlag 2010, 90. 4 Vgl. Erne, Thomas: Die Kinderbibel als Medium religiöser Überliefe- rung, in: Adam, Gottfried / Lachmann, Rainer (Hg.): Kinderbibeln, Autoreninformation Wien: Lit Verlag, 30. 5 Vgl. Hanisch, Helmut / Bucher, Anton: Da waren die Netze rand- Dr.habil. DDr. Thomas Benesch voll: was Kinder von der Bibel wissen, Göttingen / Zürich: Vanden- Baumgasse 16/7 hoeck 2002, 63–69. A-1030 Wien 6 Vgl. Hennecke, Elisabeth: Was lernen Kinder im Religionsunter- e-mail: [email protected] richt? Eine fallbezogene und thematische Analyse kindlicher Rezepti- GND: (DE-588)129550205

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Ursula Fatima Kowanda-Yassin / Alfred Garcia Sobreira-Majer

Interreligiöse Beratung und Extremismus-Prävention Erfahrungen aus der Praxis des Beratungszentrums für interreligiöse und interkulturelle Fragen der KPH Wien/Krems und der IRPA1 die autorin der autor Dr.in Ursula Fatima Kowanda-Yassin, Lehrende der Mag. Dr. Alfred Garcia Sobreira-Majer, evange- IRPA in Fachdidaktik und Mediation, Co-Leiterin lischer Theologe und Religionspädagoge, KPH des Beratungszentrums für interreligiöse und in- Wien/Krems, Co-Leiter des Beratungszentrums für terkulturelle Fragen. interreligiöse und interkulturelle Fragen.

Abstract Das Beratungszentrum für interreligiöse und interkulturelle Fragen ist ein Kooperationsprojekt der IRPA und der KPH Wien/ Krems. Es orientiert sich an einer umfassenden Vision von Schule, in der Vielfalt in ihren verschiedenen Dimensionen wahrge- nommen und wertgeschätzt wird. Es unterstützt SchulleiterInnen, Lehrende, Studierende, Eltern und SchülerInnen mit dem Angebot von Beratung und Fortbildung im interreligiösen und interkulturellen Bereich. Zur Veranschaulichung der Problemstel- lungen und der Beratungsarbeit werden Konfliktfälle aus der Schule vorgestellt und analysiert. Fallbeispiele zu extremistischer Ideologisierung zeigen die Chancen und Grenzen der Arbeit und die Notwendigkeit, mit dem Thema differenziert umzugehen. Schlagworte: Interreligiosität, Beratung, Extremismus, Prävention, Beratungsstelle, Konflikt, Schule, Österreich

Interreligious Counselling and Prevention of Extremism. Practical Experiences of the Counselling Centre for Interreligious and Intercultural Issues of the KPH Wien/Krems and the IRPA: The Counselling Centre for Interreligious and Intercultural Issues (iiB) is a cooperation between IRPA and KPH Wien/Krems. It is guided by a comprehensive vision of school, where diversity in its various dimensions is acknowledged and valued. The iiB sup- ports headmasters, teachers, students, parents and pupils by offering counselling as well as continuing education in interreligi- ous and intercultural issues. Towards a better understanding of the Centre’s work, we discuss various examples of conflicts that were matter of counselling activities. Case histories of extremist ideologization show the opportunities and boundaries of iiB’s work as well as the necessity to deal with this topic in a highly differentiated manner. Keywords: Inter-religiousness, Extremism Prevention, Information centre, Conflict, School, Austria

1. Das Beratungszentrum für interreligiöse und pädagogisch umzugehen auf eine mitunter harte Probe interkulturelle Fragen (iiB) stellt. Vor diesem Hintergrund wurde 2013 das iiB gegrün‑ det. Es ist ein Kooperationsprojekt der KPH Wien/Krems2 „Unsere Kinder sprechen 40 verschiedene Sprachen und und der IRPA3, die beide Religionslehrende ausbilden. Das gehören zu mindestens 10 verschiedenen Religionen.“ Die‑ iiB versteht sich als Anlaufstelle für Fragen zu interreligiö‑ ser mit Stolz ausgesprochene Satz einer Wiener Volksschul‑ sen und interkulturellen Themen und unterstützt Schul‑ direktorin beleuchtet sehr deutlich die multikulturelle und ­lei­terInnen, PädagogInnen, Lehramtsstudierende, Erzie‑ multireligiöse Situation an österreichischen Schulen, wie sie hungsberechtigte und SchülerInnen dabei, mit Herausforde‑ vor allem im städtischen Bereich zu finden ist. Er drückt rungen in diesen Bereichen kompetent umgehen zu können. auch aus, dass diese Vielfalt als Wert und Reichtum geschätzt Seine Aufgabe sieht das iiB in diesem Zusammenhang in werden kann, der die Schulwirklichkeit belebt und den einer präventiven, unterstützenden und begleitenden Arbeit, Horizont weitet. Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass die die ihren Fokus auf interreligiöser und interkultureller Bera‑ bestehende Diversität auch eine tägliche Herausforderung tung im Kontext Schule hat. Es ist eine pädagogische Bera‑ für LehrerInnen ist und ihre Fähigkeit damit professionell tung, die sich von psychologischer Beratung abgrenzt.

Ursula Fatima Kowanda-Yassin / Alfred Garcia Sobreira-Majer: Interreligiöse Beratung und Extremis- mus-Prävention. Erfahrungen aus der Praxis des Beratungszentrums für interreligiöse und interkultu- 139 relle Fragen der KPH Wien/Krems und der IRPA • ÖRF 23 (2015), 139–147 1.1 Das Konzept des Beratungszentrums bestimmten sensiblen Situation verhalten sollte, oft erweist Die MitarbeiterInnen des iiB kommen aus der KPH sich das Gespräch mit einer externen Person für sie als hilf‑ 5 Wien/Krems und der IRPA, von der Universität Wien und reich und bereits ausreichend . Oftmals sind es Anfragen von verschiedenen NGOs. Die IRPA und die KPH Wien/ von LehrerInnen­ oder auch der Schulleitung, die sich mit Krems sehen das Beratungszentrum in ihrem Verantwor‑ einer Sorge um einen Schüler oder eine Schülerin an das iiB tungsbereich als eine Einrichtung zur Förderung des besse‑ wenden. Manchmal treten auch Eltern an das iiB heran, ren gegenseitigen Verständnisses zwischen Angehörigen wenn sie einen interkulturellen oder interreligiösen Konflikt unterschiedlicher Religionen und Kulturen im Bereich der zwischen Schülern und Schülerinnen oder auch mit einer Schule und darüber hinaus in der Gesellschaft. Lehrkraft vermuten. Das iiB weiß sich zentralen Werten und Einstellungen Lehrkräfte werden darauf hingewiesen, ihre Direktio‑ verpflichtet, die seine Arbeit leiten und sich in folgenden nen über die Kontaktaufnahme zu informieren. Ohne Ein‑ Stichworten kurz zusammenfassen lassen4: verständnis der Schulleitung kann das iiB nicht in der Schule Es pflegt eine Kultur der Anerkennung, in der unter‑ tätig werden, da seine MitarbeiterInnen schulfremde Perso‑ schiedliche religiöse und kulturelle Identitäten und Her‑ nen sind. Je nach Anlass und Fragestellung werden Lehr‑ künfte in der Schule wahrgenommen und wertgeschätzt kräfte, SchülerInnen und wenn nötig Eltern eingebunden. werden. Den ReligionslehrerInnen kann eine integrative Rolle Es zeigt seine Religions- und Kultursensibilität darin, zukommen, da sie die Schule, die SchülerInnen und auch dass kulturelle und religiöse Deutungsmuster in ihrer wech‑ die Ausgangslage oft besonders gut kennen. selseitigen Bezogenheit Beachtung finden. Bei Anfragen zu Fortbildungen, in denen interreligiöse und interkulturelle Kompetenzen vermittelt werden sollen, Es vertritt eine dialogische Grundhaltung, die sich um wird gemeinsam mit der Schulleitung eine SCHILF-Veran‑ einen Dialog aller Beteiligten auf ‚Augenhöhe‘ bemüht und staltung6 entwickelt, ein Referentinnen- und Referen‑ in Konfliktfällen eine möglichst von allen akzeptierte ten-Team zusammengestellt, das die Fortbildungsveranstal‑ Lösung herbeiführen will. tung in Absprache mit den AuftraggeberInnen plant. Sie Es sieht religiöse und kulturelle Heterogenität als Poten- erfolgt in der Regel im Team-Teaching von je einem Exper‑ tial, das das Schulleben bereichern kann, und möchte gelebte ten/einer Expertin der KPH Wien/Krems und der IRPA, Pluralität fördern. sodass sich das dialogische Grundprinzip schon im Veran‑ Alle Anliegen, die an das iiB herangetragen werden, staltungsdesign abbildet. Ebenso werden SCHÜLFs7 ent‑ werden grundsätzlich vertraulich behandelt, sofern nicht worfen, die in das allgemeine Fortbildungsprogramm der gesetzliche Melde- oder Anzeigepflichten entgegenstehen. KPH Wien/Krems und der IRPA aufgenommen werden. Die Beratung erfolgt auf der Grundlage des österreichischen Im Schuljahr 2014/15 wurden verstärkt Anfragen zu Schulrechts und unter Berücksichtigung der Richtlinien von Extremismus (‚Radikalisierung‘) an das iiB herangetragen. kirchlichen und religionsgesellschaftlichen Schulämtern. Dazu wurden mehrere SCHILF-Veranstaltungen durchge‑ 1.2 Die Arbeit im Beratungszentrum – Beratung und Fort- führt. Außerdem wurden Lehrveranstaltungen zu Interkul- bildung turalität und Konfliktlösung im Schulalltag sowie Interreligi‑ öses Lernen mit einem eigens dafür konzipierten Literatur- Das iiB ist sowohl in der Beratung als auch in der Fort‑ und Filmkoffer angeboten. bildung tätig. Beides erfolgt in der Regel durch Fachleute aus unterschiedlichen Konfessionen und Hintergründen. 1.3 Die Ausgangslage – Konfliktlösung in der Schule Durch die kulturelle und religiöse Vielfalt der Beratenden Die Schule ist ein öffentlicher Raum, in dem Menschen bzw. ReferentInnen wird ermöglicht, dass die Anfragenden unterschiedlichster Herkunft und Kulturen miteinander in sich durch sie in ihrem Anliegen vertreten und verstanden ein System integriert sind und in engem Kontakt zueinander sehen und Einseitigkeit möglichst vermieden wird. stehen. Wenn für die Klärung von Konflikten wenige Res‑ Anfragende wenden sich – in der Regel telefonisch – sourcen in Form von Zeit, Personal und Räumlichkeiten zur mit Fragen zu interkulturellen und interreligiösen Themen Verfügung stehen, werden diese Konflikte möglicherweise oder wegen Fragen eines konkreten Einzelfalles in der nicht gelöst oder nicht als solche erkannt und durch hierar‑ Schule an das iiB. Nähere Umstände und Ziele der Beratung chische Strukturen und Regeln gelöst. Peermediation8 stellt werden dabei geklärt und das weitere Vorgehen gemeinsam eine Möglichkeit für SchülerInnen dar, auf gleicher Augen‑ überlegt. Ein Gespräch in der Schule ist eine Option und höhe untereinander in Konflikten zu vermitteln und soziale wird je nach Situation mit den Beteiligten geführt. Manch‑ Kompetenzen zu fördern und kann das Klima in der Schule mal bittet eine Lehrkraft um Rat, wie sie sich in einer positiv beeinflussen.

140 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Als das iiB im Herbst 2013 seine Tätigkeit aufnahm, Dem Thema haben sich in den letzten Jahren mehrere war das Phänomen, dass junge Menschen aus Europa sich religionspädagogische Veröffentlichungen zur Schulent‑ einer extremistischen Gruppe anschließen würden, noch wicklung gewidmet10. Dabei hat sich gezeigt, dass das nicht in Erscheinung getreten. Thema Religion in den einschlägigen – allgemein pädagogi‑ Durch ein konfliktfreundliches Klima, das Lösungen schen – Publikationen zum Schulentwicklungsdiskurs nicht und einen wertschätzenden Umgang miteinander anstrebt, vorkommt. Sie erweisen sich als ‚religionsblind‘, weil sie kann in der Schule Präventivarbeit – auch gegen Extremis‑ offensichtlich von dem Diktum „Religion ist Privatsache“ mus – geleistet werden. geleitet sind11. Nicht einmal im Zusammenhang mit der viel diskutier‑ 1.4 Grenzen und Möglichkeiten des iiB ten sprachlichen und kulturellen Pluralität und Diversität in Das iiB stellt ein externes Zusatzangebot für Schulen den Schulen wird es behandelt und reflektiert. „Die Blind‑ dar. Es ist als Kooperationsprojekt an der IRPA und KPH heit für religiöse Differenz im Kontext kultureller Differenz Wien/Krems angesiedelt und versteht sich als ‚dritter Ort‘, ist besonders merkwürdig angesichts der Nähe von Religion da es weder Schule bzw. Schulbehörde noch konfessionelles und Kultur.“12 Ein Grund, weshalb religiöse Differenz Schulamt ist. Dadurch bietet es einen besonderen Freiraum Anlass für Konflikte ist, liegt schon darin, dass Religion in für Beratung und Gespräch. Bei Anfragen wird abgeklärt, ob der Schule vielfach ausgeblendet wird und in vielen Fällen das Anliegen in den Verantwortungsbereich des iiB fällt auch ausgeblendet bleiben soll. Das ist aber unter den gegen‑ oder an eine andere zuständige Stelle zu verweisen ist wie wärtigen Bedingungen nicht mehr möglich. Unterschiedli‑ z.B. an den Stadtschulrat bzw. Landesschulrat oder an das che Überzeugungen und Vorstellungen prallen aufeinander jeweilige kirchliche oder religionsgesellschaftliche Schulamt. und verlangen nach einem reflektierten und sensiblen Ebenso gilt das für Fälle, die eine (schul)psychologische Umgang. Beratung nötig erscheinen lassen. Wünscht die anfragende Person anonym zu bleiben und sucht nur einen Rat, so wird 2.1 Religion – Anlass für Konfliktfälle im Schulalltag der entsprechende Fall durch das iiB zur Dokumentation Konflikte in der Schule sollten als eine Chance betrach‑ aufgenommen, aber keine weiteren Schritte veranlasst. In tet13 werden, gesellschaftlich vorhandene Gegensätze sicht‑ jedem Fall ist zu klären, wer eigentlich der oder die Ratsu‑ bar zu machen, Missverständnisse zu klären und Vorurteile chende bzw. der Auftraggeber oder die Auftraggeberin ist. zu erkennen. Schule kann einen Raum darstellen, in dem Dabei sind viele Aspekte wie die Wahrnehmung von Reli‑ Begegnung und Differenzsensibilität geübt und gelebt wer‑ gion oder der größere Zusammenhang im System Schule zu den14. Dass an einem Ort, an dem verschiedene Menschen bedenken. viel Zeit miteinander verbringen, Konflikte alltäglich sind, ist Realität15. Grundsätzlich spielen hier die Aspekte der 2. Religion – Schule – Schulentwicklung Anerkennung der Differenz, des Respektes und des gegen‑ seitigen Verständnisses eine große Rolle, ja man kann inter‑ Religion wird in der Schule gleichsam automatisch mit religiöse und interkulturelle Konflikte auch unter dem dem Religionsunterricht gleichgesetzt. Dass Religion in grundsätzlichen Aspekt eines ‚Kampfes um Anerkennung einem viel größeren Umfang in der Schule eine Rolle spielt, und Teilhabe‘ verstehen. Wenn SchülerInnen, die sowohl wird vielfach übersehen. Religion kommt schon durch die aufgrund ihres Alters und ihrer noch in Entwicklung befind‑ SchülerInnen und LehrerInnen mit ihren verschiedenen lichen Reife als auch aufgrund der in der Schule bestehen‑ religiösen Prägungen und Einstellungen ins Spiel. Wer also den Hierarchie benachteiligt werden und sich Diskriminie‑ SchülerInnen umfassend wahrnehmen will, darf auch ihre rungen ausgesetzt sehen, nehmen sie Schaden an ihrer Psy‑ Religion nicht ausblenden. Dietlind Fischer hat neben dem che und Persönlichkeitsentwicklung. Das gilt es auch im RU weitere wichtige religiöse Dimensionen in der Schule Zusammenhang mit einer Extremismus-Prävention zu und Schulkultur herausgearbeitet: Sie zeigen sich in beachten. bestimmten pädagogischen Situationen ( z.B. Morgenkreis Konflikte in der Schule entstehen unter anderem durch oder Anfangsritual im Unterricht), im Umgang mit Krisen ein unterschiedliches Verständnis von Religion im öffentli‑ und Kontingenzen (z.B. Todesfälle), in der Kommunikation chen Raum und das Recht auf rituelle Ausübung der Reli‑ im LehrerInnen-Kollegium (z.B. Formulierung von pädago‑ gion im Rahmen der Religionsfreiheit. Dieses unterschiedli‑ gischen Leitmotiven und Leitbildern; Reflexion des Lern- che Verständnis spiegelt umstrittene gesellschaftliche Fragen und Leistungsverständnisses) und in der Feierkultur einer wider. Es besteht eine klare gesetzliche Grundlage16, die das Schule (Gottesdienst, gemeinsame religiöse Feiern)9. Ausüben von Religion im öffentlichen Raum ermöglicht. Dies bedeutet beispielsweise für SchülerInnen muslimischen

ÖRF 23 (2015) • 139–147 141 Glaubens, dass – ausgehend von dem islamischen Gebot, wortliche Entscheidung der Interessentin zu respektieren das Gebet zu vorgegebenen Zeiten zu verrichten17–, wäh‑ sei, ohne diese beeinflussen zu wollen. Gleichzeitig müsste rend des Schultages anfallende Gebete außerhalb der Unter‑ geklärt sein, dass sie für ihre Entscheidung mit negativen richtszeit im Schulgebäude verrichtet werden dürfen. Wenn Reaktionen auf ihren Gesichtsschleier in der Schule rechnen Regeln dafür in der Schule fehlen bzw. nicht ausreichend müsse. Der Direktor, als Verantwortlicher für die Schule, geklärt sind, kann dies zu Missverständnissen und Konflik‑ würde dann seinerseits eine Entscheidung treffen, die im ten führen. gemeinsamen Einvernehmen von allen getragen werden Die folgenden Fallbeispiele verdeutlichen, welche Kon‑ müsse20. flikte vorfallen und wie sie verlaufen können, wenn ein Die Interessentin entschied sich bei Abschluss des gewisses Maß an Konfliktfähigkeit besteht bzw. nicht Gespräches gegen die Schule. Einige Wochen später jedoch besteht. Es sind Fälle, in denen das iiB beratend tätig wurde meldete sie sich wieder. Dieses Mal verzichtete sie auf die bzw. informiert wurde, ohne dass dann eine explizite Bera‑ Gesichtsverhüllung mit der Begründung, sie habe erkannt, tung stattfand. Teilweise wurden diese Fallbeispiele in den dass dies keine Pflicht sei und die Ausbildung für sie derzeit Lehrveranstaltungen zu Mediation & Konfliktlösung in der vorrangig wäre. Schule, die im Rahmen der Schulpraktischen Studien an der IRPA stattfinden, analysiert und für Rollenspiele eingesetzt. 2.1.2 Konflikt ‚Rituelles Gebet im Klassenzimmer‘ Die Auswahl mag einseitig erscheinen, da immer muslimi‑ Im Islamunterricht wurde an einer öffentlichen Schule sche SchülerInnen involviert sind. Es sind aber im Schuljahr das Thema Gebet durchgenommen und zwei Schüler der 2014/15 nur solche Fälle an das iiB herangetragen worden. Klasse wollten das neu Erlernte am nächsten Tag in der Schule auch praktizieren. Sie verrichteten das Gebet in einer 2.1.1 Konflikt ‚Gesichtsschleier in der Schule‘ Pause in der hinteren Ecke des Klassenraumes. Eine Lehr‑ Der Direktor einer weiterführenden höheren Schule kraft betrat zufälligerweise in diesem Moment die Klasse kontaktierte das iiB aufgrund einer Bewerberin, die einen und war durch das Gebet der Schüler irritiert. Sie wies die Gesichtsschleier trug und sich an seiner Schule anmelden Kinder zurecht, dass sie dies zuhause machen könnten, aber wollte. Da der Direktor in Sorge war, dass das Klima an der nicht hier in der Schule. Die Schüler waren naturgemäß Schule durch die Vollverhüllung leiden könnte, er ihr aber ‚durcheinander‘, da sie hier einen Widerspruch erlebten: nicht den Eintritt in die Schule verwehren wollte, wandte er Einerseits hatten sie gelernt, dass sie als Muslime das Gebet sich an das iiB. Er erbat Informationen über religiöse Vorga‑ zu bestimmten Zeiten verrichten mussten, andererseits ben im Zusammenhang mit der Verhüllung von Frauen im wurde es ihnen von einer anderen Autoritätsperson unter‑ Islam. sagt. Der Direktor wurde darüber aufgeklärt, dass es keine An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, dass sich eine islamische Vorgabe18 ist, dass Frauen sich vollverschleiern gute Konfliktlösung21 nicht auf die Umsetzung des Rechtes und dass es sogar die Empfehlung gibt, sich den Gepflogen‑ auf Religions- und Religionsausübungsfreiheit beschränken heiten der jeweiligen Umgebung anzupassen, wenn diese kann, die den Schülern die Verrichtung des rituellen Gebe‑ mit den Grundsätzen des Islams vereinbar sind. Gleichzeitig tes gewährleistet. Dieser Konflikt sollte mit der Direktion wurde darauf hingewiesen, dass die Selbstbestimmung der und unter Einbindung des Religionspädagogen, der Schüler Frau ein wichtiges Merkmal der Religion sei und durch die und der betroffenen Lehrkraft geklärt werden und zu einer bestehende Religionsfreiheit und die Anerkennung19 des klaren Regelung für die Zukunft führen22. Anschließend Islams in Österreich ihre Entscheidung zur Vollverschleie‑ sollten die Schüler über die Ursachen und Ergebnisse aufge‑ rung zu respektieren sei. Ebenso wurde dem Direktor bestä‑ klärt werden, um sie nicht in dem für sie bestehenden tigt, dass seine Bedenken im Zusammenhang mit den Reak‑ Widerspruch zu belassen, den sie auch als Angriff auf ihre tionen in der Umgebung der Schülerin im Alltag gerechtfer‑ Identität interpretieren könnten. tigt seien. Sie deuteten auf den Weitblick des Direktors hin, Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, der sachlich und gleichzeitig empathisch war. dass eine unzureichende Konfliktlösung in mehrere Rich‑ Als Weg zu einer Lösung stellte sich in der Beratung ein tungen unangenehme Folgen und weitreichende Konse‑ Gespräch mit der Bewerberin, dem Direktor und dem an quenzen23 haben würde. der Schule unterrichtenden Islamlehrer heraus. Dabei sollte Die Schüler könnten die Lehrkraft, die das Gebet in der die Schülerin mit dem Religionslehrer aus islamischer Sicht Schule unterbinden wollte, als ‚Gegnerin‘ wahrnehmen und über die Sachlage sprechen können und aus der Sicht des sich ihrer Rechte beraubt fühlen. Diese und andere negative Direktors über seine Bedenken informiert werden. Die Erfahrungen könnten dazu führen, dass sie sich verschlie‑ Empfehlung von Seiten des iiB war, dass die eigenverant‑ ßen und ein ablehnendes Verhältnis zur Gesellschaft und

142 Österreichisches Religionspädagogisches Forum zum Staat entwickeln. Auch die Lehrkraft muss in ihrer tik. Auch wenn der Geschichtelehrer die eskalierte Situation Reaktion in gleichem Ausmaß ernstgenommen und mit nur durch seine ‚Flucht‘ – durch das Verlassen des Raumes ihren Bedürfnissen oder Befürchtungen24 gehört werden. – lösen konnte und damit die weitere Auseinandersetzung Sie könnte ‚die‘ Muslime, die ihre Rechte um ‚jeden Preis‘ verweigerte, sollte das Gespräch mit den beiden Lehrern einfordern, als eine Bedrohung sehen und sich in ihrer erneut aufgenommen werden. Ebenso wichtig ist ein klären‑ Autorität beeinträchtigt fühlen. Der Zwischenfall zeigt des Gespräch mit den betroffenen SchülerInnen. Es muss sowohl Lernchancen, die er enthält, als auch, wie wachsen‑ allerdings bedacht werden, dass die Vorstellung von der des gegenseitiges Verständnis und Respekt auch verunmög‑ Ausbreitung des Islams mit ‚Feuer und Schwert‘ zu den ste‑ licht werden können25. reotypen Vorurteilen über die Geschichte des Islams zählt30, die sich nicht leicht ausräumen lassen, auch wenn das heute 2.1.3 Konflikt: Arbeitsblatt ‚…mit Feuer und Schwert‘ in Geschichtsbüchern revidiert ist und zwischen der Bot‑ Die SchülerInnen einer Klasse beschwerten sich beim schaft des Islam und machtpolitischen Interessen seit dem 7. Islamlehrer über ein Arbeitsblatt, das sie kürzlich von ihrem Jahrhundert unterschieden wird. Geschichtelehrer als Arbeitsauftrag erhalten hatten. Auf dem Blatt sollten die SchülerInnen einen Lückentext ausfül‑ 3. Religion und Extremismus – real und vermeint- len, auf dem stand: „Mohamed verbreitete den Islam mit lich: Fallbeispiele aus dem Schulalltag ______und ______.“ Die Begriffe, die vom Lehrer Seit Herbst 2014 gibt es im iiB Anfragen zum Thema gefordert waren und eingetragen werden mussten, waren Extremismus (‚De-Radikalisierung‘). Durch das Bekannt‑ Feuer und Schwert. Die Kinder waren sehr aufgebracht dar‑ werden einiger Fälle, in denen junge Menschen aus Öster‑ über, dass diese Formulierung im Zusammenhang mit reich in den Krieg nach Syrien oder in den Irak zogen und ihrem geliebten Propheten von einem Lehrer verbreitet manche dort sogar getötet wurden, wurde der Schule und wurde. Viel mehr wühlte sie jedoch auf, dass sie gezwungen den Lehrkräften eine besonders wichtige Rolle im Zusam‑ waren, diese Begriffe auf ihrem Arbeitsblatt einzutragen und menhang mit Früherkennung von verändertem Verhalten somit die Aussage zu bestätigen. Sie kannten ihren Prophe‑ zugeschrieben. LehrerInnen sollten auffälliges Verhalten ten, den sie ehrten und als Vorbild hatten, nicht als einen von SchülerInnen beobachten und gegebenenfalls den gewaltbereiten Menschen, sondern hatten über ihn gelernt, zuständigen Behörden melden. Dies führte unter den Lehr‑ dass er ein sanftmütiger, friedlicher und hilfsbereiter kräften zu einer Verunsicherung. Einige fragten daher im Mensch gewesen war26. Die Situation stellte für sie eine Ver‑ iiB nach, ob es sich bei einer bestimmten Verhaltensverän‑ letzung ihrer Identität und ihres Glaubens dar. Im Anschluss derung ihrer SchülerInnen schon um eine extremistische an die Unterrichtsstunde suchten sie daher ihren Islamleh‑ Ideologisierung handeln könnte. Sie fühlten sich unsicher rer auf, um ihm davon zu berichten und ihren Ärger zu bei der Unterscheidung zwischen schlicht verstärkter sicht‑ äußern. Der Islamlehrer erkannte die Ernsthaftigkeit der barer Religiosität, die sich an gewissen Normen und Vorga‑ Lage und suchte das Gespräch mit dem Geschichtelehrer. ben orientiert, und eindeutig fanatischer Ideologisierung, Dieser betonte, dass er den Inhalt nur von einem anderen die auch zu Gewaltbereitschaft führen könnte. Geschichtebuch übernommen habe und keinerlei Bedenken Drastische Veränderungen bei SchülerInnen können damit hatte, diese Information zu übernehmen. Das allerdings auch einen Hilferuf bedeuten. Gleichzeitig sollte Gespräch verschärfte sich und die Stimmen wurden lauter, nicht außer Acht gelassen werden, dass es geschehen kann, bis der Schulleiter die Aufregung wahrnahm und in die dass SchülerInnen ungerechtfertigt verdächtigt und gemel‑ Klasse eilte, um die Ursache für den Konflikt zu erfahren. det werden. Bei diesen führt diese Unterstellung, staats‑ Die prompte Antwort des Geschichtelehrers war: „Wir feindlich zu sein oder zu offener, brutaler Gewalt bereit zu haben hier einen Glaubenskrieg!“ und er verließ wutent‑ sein, zu einer Verstörung. Auffällig war, dass es im Schuljahr brannt die Klasse. Der Direktor versuchte die Lage zu beru‑ 2014/15 vermehrt Meldungen von Diskriminierungsfällen higen und riet dem Islamlehrer, die falschen Angaben zu und islamophoben Äußerungen gegenüber muslimischen korrigieren und das Arbeitsblatt ihm dann zu übergeben. SchülerInnen gab. Abgesehen davon, dass dies grobes Auch wenn das Problem hier durch eine autoritäre Ent‑ Unrecht ihnen gegenüber war, gilt zu bedenken: Jugendli‑ scheidung27 gelöst wird – Anweisung des Schulleiters –, sind che, die am Rande der Gesellschaft stehen und laufend mit weitere deeskalierende Methoden28 wichtig. Anderenfalls Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer Herkunft, wird der Streit mit großer Wahrscheinlichkeit bei einer Hautfarbe oder Religion zu kämpfen haben, sind den anderen Gelegenheit wieder aufflammen29; möglicherweise Erwachsenen ausgeliefert und können sich oft nicht für ihre nicht zwischen den beiden Lehrern, wahrscheinlich aber eigenen Bedürfnisse stark machen. Diese verzwickte Lage unter den SchülerInnen und wegen einer ähnlichen Thema‑

ÖRF 23 (2015) • 139–147 143 kann die Entwicklung extremer Einstellungen fördern31 und mit Ritualen und Handlungen verbunden ist, die entspre‑ die Jugendlichen in extremistische Gruppen bringen. chend gewisser Vorgaben durchgeführt werden und der ex‑ Es wird betont, dass es hier in der Darstellung nicht um tremistischen, antidemokratischen, gewaltbereiten Ideologi‑ Parteiergreifung oder Schuldzuweisungen geht, sondern sierung junger Menschen, die von extremistischen Gruppen darum, aufzuzeigen, welche Anliegen es gibt, und die allge‑ beeinflusst und instrumentalisiert werden, zu unterschei‑ meine Lage sichtbar zu machen. Es wird hervorgehoben, den. dass zumeist alle Beteiligten in den Fällen bemüht sind, eine Es wurde bei dieser Anfrage bewusst kein Gespräch mit konstruktive Lösung zu finden. Gleichzeitig besteht die dem Jugendlichen organisiert, da dies einen Verdacht gegen Sorge vor einer weiteren Beeinflussung von anderen den Jungen und sein Verhalten als auch gegen praktizie‑ Schüler­Innen, wenn Jugendliche eine gewisse Ebene der ext‑ rende Muslime generell dargestellt hätte. Es blieb bei der remistischen Ideologisierung erreicht haben, auf der Gesprä‑ individuellen Beratung des Direktors. Dieser zeigte sich che keine Wirkung mehr zeigen und Konsequenzen gezogen nach dem Gespräch zufrieden und dankbar für die Möglich‑ werden müssen. keit eines gemeinsamen Austausches und der Information. Es folgen nun drei Fallbeispiele, welche die große Band‑ breite und Komplexität der Situation erkennen lassen. 3.2 Fallbeispiel ‚Irgendwann ziehe ich in den Krieg‘ Im folgenden Fall wurde ein 11-jähriger Schüler bei der 3.1 Fallbeispiel ‚Radikaler Muslim?‘ zuständigen Schulbehörde angezeigt, weil eine Lehrkraft Der Fall kann als Paradebeispiel für die Verunsicherung den Verdacht hatte, er bewege sich in extremistischen Krei‑ der PädagogInnen bei der Entscheidung gelten, ob ein sen. Es bestand die Sorge, seine Familie hätte extreme Ein‑ Jugendlicher als extrem einzustufen sei und gemeldet wer‑ stellungen und er sei in seiner Entwicklung extremistischen den müsse. Diese Unsicherheit ist zurückzuführen auf die Ideologien durch seine Umgebung ausgesetzt. Entstanden mangelhafte Informationslage und den unsachlich geführ‑ war der Verdacht dadurch, dass eine Lehrerin in einem sei‑ ten öffentlichen Diskurs im Zusammenhang mit Islam und ner Bücher folgenden handgeschriebenen Satz entdeckte Extremismus. hatte: ‚Irgendwann ziehe ich in den Krieg.‘ Eine Lehrerin wandte sich an die Direktion mit der Es stellte sich heraus, dass das Kind sich derzeit in einer Sorge, dass ein Schüler sich in eine extreme Richtung schwierigen familiären Lage befand und eine kritische Phase bewege. Sie hatte auf seinem Handy ein Bild mit den Worten durchlief. Die Eltern wurden zu einer Beratungsstelle des ‚Ich liebe meinen Propheten‘ gesehen. Ebenso hatte sie Bundesministeriums für Jugend und Familie mit dem beobachtet, dass der Junge vermehrt über seine Religion Schwerpunkt Extremismus geschickt und es erfolgten klä‑ sprach und die vorgeschriebenen islamischen Gebetszeiten32 rende Gespräche, die von beiden Seiten durchaus positiv einzuhalten versuchte. Sie war durch den öffentlichen Dis‑ aufgenommen wurden. Durch einen sachlichen und kompe‑ kurs und das Extremisten-Thema verunsichert, ob es sich tenten Umgang mit dem Vorfall konnte die Situation rasch hier um eine ideologisch bedingte Verhaltensveränderung geklärt werden. Der Junge hatte voller Wut auf die Erwach‑ handelte und berichtete daher dem Direktor ihre Beobach‑ senenwelt diesen Satz in sein Buch geschrieben, um zu scho‑ tungen. Dieser wandte sich an das iiB mit der Überzeugung, ckieren34. Die Trennung der Eltern und familiäre Probleme es sei nicht weiter bedenklich, doch wollte er von offizieller hatten ihn überfordert. Bei dem Gespräch in der Beratungs‑ Stelle eine Einschätzung einholen. In einem Gespräch des stelle des BMFJ wurde ihm der Druck genommen und durch Direktors mit einer Mitarbeiterin des iiB konnte geklärt die Möglichkeit der Aussprache und die Beratung für die werden, dass es sich um eine ganz natürliche, bewusstere Eltern konnten die Probleme besprochen werden. Die Fami‑ Auseinandersetzung des Jugendlichen mit seiner Religion lie wurde in dieser Phase weiter betreut, bis sich die Lage handelte. Offensichtlich hatte er dies vorher nicht in der stabilisiert hatte. Form praktiziert. Die Beraterin des iiB sah keinerlei Beden‑ Auch in diesem Fall ist erkennbar, wie einflussreich der ken bei den Entwicklungen und klärte den Direktor zusätz‑ Umgang mit der Situation auf den weiteren Verlauf ist. lich über die Bedeutung des Propheten Muhammad33 für Durch die professionelle und wertschätzende Beratung Muslime auf. erfuhren die Eltern, die die engsten Bezugspersonen für den Allgemein ist zu sagen, dass Jugendliche gerne Bilder, Jungen darstellen, Unterstützung, die sie ihrem Kind weiter‑ Symbole und Sprüche verwenden, um sich selbst darzustel‑ geben konnten35. Gleichzeitig stellte sich für das Beratungs‑ len und ihre Einstellung oder die Zugehörigkeit zu einer zentrum heraus, dass hier keinerlei Extremismus-Tendenz bestimmten Gruppe zu demonstrieren. Dieser Fall zeigt, wie in der Familie bestand und die Familie sich aufgrund ande‑ groß die allgemeine Verunsicherung ist und wie wichtig es rer Umstände in einer herausfordernden Lebenslage befand. ist, aufzuklären und zwischen islamischer Religiosität, die

144 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 3.3 Fallbeispiel ‚Dramatische Verhaltensveränderung‘ zum weiteren Vorgehen unterstützt werden konnte. Dabei Im Dezember 2013 erreichte das iiB die Anfrage eines konnte im Fall ‚Gesichtsschleier‘ ein Gesprächssetting mit Lehrers, der sich Sorgen um einen Jugendlichen machte. der Aufnahmewerberin gefunden werden, bei dem die Res‑ Der Bursche hatte sein Verhalten dramatisch geändert und source des Islamlehrers an der Schule als Experte in Fragen tätigte feindselige Aussagen gegenüber der Lehrerschaft und islamischer Bekleidungsvorschriften genützt wurde. Die der Schule. Er nahm das Kruzifix in der Klasse ab und wollte Rolle des Experten hätte hier – wenn gewünscht – auch eine keiner Frau mehr die Hand reichen, was bis vor kurzem kein Person aus dem Kreis der muslimischen MitarbeiterInnen Thema für ihn war. Das bewährte Vorgehen, den Religions‑ des iiB übernehmen können. Im Sinne einer Ressourcenori‑ lehrer bzw. die Religionslehrerin hinzuzuziehen, war zweck‑ entierung war es hier aber sinnvoll, die bestehende Expertise los, denn der Jugendliche betrachtete auch den islamischen des Islamlehrers vor Ort zu nützen, und das hat sich auch als und den katholischen Religionslehrer als unglaubwürdig hilfreich erwiesen. und respektierte keinen der beiden. Er besuchte den Religi‑ Ganz anders stellt sich der Fall ‚Geschichte-Arbeitsblatt‘ onsunterricht nicht mehr mit der Begründung, dass in die‑ dar. In ihm geht es um die von dem jeweiligen Lehrer zu sem ohnehin nicht der ‚richtige‘ Glaube gelehrt werde und verantwortende Unterrichtsarbeit und -gestaltung, die es sich bei allen nur um ‚Ungläubige‘ handle. Zu diesem sowohl dem Lehrplan als auch dem Stand der Wissenschaft Zeitpunkt kontaktierte der katholische Religionslehrer das entsprechend zu erfolgen hätte (§ 17 SchUG). Dem ent‑ iiB. spricht die Rede von der Ausbreitung des Islams ‚mit Feuer Auch für die Beratung des iiB war der Bursche nicht und Schwert‘ in keiner Weise, auch wenn dies noch immer mehr erreichbar, da er der Anwesenheitspflicht an der in (hoffentlich wenigen) Geschichtsbüchern vertreten wer‑ Schule nur mehr eingeschränkt nachkam und zu keinen den sollte. Ein Beratungszentrum wie das iiB kann hier Gesprächen bereit war. Die Lehrkräfte waren höchst begleitend zur Verfügung stehen und bei persönlicher alarmiert über die Entwicklung des Burschen und waren in Betroffenheit die Lehrkräfte dabei unterstützen, mit der Sorge, dass seine Aussagen auch andere Jugendliche beein‑ Situation umzugehen (was auch erfolgt ist). Im Hinblick auf flussen könnten. Für die Lehrerschaft konnte eine Fortbil‑ die oben genannte Verantwortung der Schule wird die dung des iiB organisiert werden, die auf großes Interesse Schulleitung hier jedenfalls tätig werden müssen, da es sich stieß und bei der der Informationsbedarf zu grundsätzlichen offensichtlich um die Auseinandersetzung mit einem tief sit‑ Themen des Extremismus gedeckt wurde. In diesem Zusam‑ zenden Vorurteil handelt. Die Arbeit an der Überwindung menhang wurden auch grundlegende Fragen zum Islam von Vorurteilen zählt wohl zu einer der größten pädagogi‑ geklärt und zwischen Religion und extremistischen Strö‑ schen Herausforderungen, vor allem in Zeiten eines wach‑ mungen differenziert. senden Antisemitismus und einer zunehmenden Islam‑ An diesem Fall wird ersichtlich, dass es ab einer feindlichkeit. Aufklärung, differenzierte Darstellungen und bestimmten Ebene der extremistischen Ideologisierung mit Aufarbeitung belastender Geschichte tun hier not. Bera‑ gewöhnlichen kommunikativen Mitteln nicht mehr möglich tungsarbeit ist deswegen durch Fortbildungsarbeit zu unter‑ ist, den/die Jugendliche/n zu erreichen und eine solide sozi‑ stützen bzw. weiterzuführen. Dafür legen sich SCHILF-Ver‑ alpädagogische und psychologische Betreuung nötig ist. anstaltungen nahe, wie sie das iiB schon entwickelt hat. Hier hätte eventuell ein Eingreifen zu einem früheren Zeit‑ Sie haben sich auch im Zusammenhang mit dem Thema punkt die extremistische Entwicklung verhindern können. Extremismus bewährt. Dieser Problemkomplex ist eine In jedem Fall – wie auch in diesem Fall geschehen – ist es gesamtgesellschaftliche, soziale und pädagogische Heraus‑ jedoch sinnvoll, mit dem betroffenen LehrerInnen-Kolle‑ forderung. Es stellt die PädagogInnen vor die große Auf‑ gium an der Schule die Angelegenheit aufzuarbeiten, um gabe, klug und verantwortungsvoll damit umzugehen. Informationen zu geben, Ängste abzubauen, Vorurteilen Ex­tremismus ist kein neues Phänomen, ist aber im Zusam‑ vorzubeugen und somit präventiv zu wirken. menhang mit dem IS-Terror medial besonders präsent und besonders Angst machend. Für LehrerInnen erweist sich ein 4. Conclusio Gespräch mit Fachleuten als sinnvoll, um Verhaltensverän‑ derungen richtig einschätzen zu können und nicht Schüler­ Die dargestellten Fallbeispiele weisen einen unter‑ Innen vorschnell eines extremistischen Gedankenguts zu schiedlichen Grad von Komplexität auf und sind auch dem‑ verdächtigen. Verdächtigungen können Extremismus entsprechend in unterschiedlicher Weise behandelt worden. begünstigen oder fördern, zumindest bringen sie die Erfah‑ In den Fällen ‚Gesichtsschleier‘ bzw. ‚radikaler Muslim?‘ rung von Diskriminierung und Kränkungm mit sich. Jedes ging es jeweils um eine Einzelberatung des Schulleiters, der Anliegen muss ernst genommen werden und sollte gründ‑ mit konkreten Sachinformationen bzw. auch Vorschlägen lich untersucht werden. Konkrete Fälle, in denen Jugendli‑

ÖRF 23 (2015) • 139–147 145 che nicht mehr gesprächsbereit sind oder eindeutige Indi‑ 4 Vgl. Folder des iiB, in: http://www.kphvie.ac.at/fileadmin/Dateien_ zien für eine mögliche extremistische Einstellung bestehen, KPH/Kompetenzzentren/iiB/iib-Folder-Nov-2013-online-3.pdf [abgerufen am 21.7.2015]. werden im Vorgespräch geklärt und gegebenenfalls – so wie 5 Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache auch bei (sexueller) Gewalt und psychologischen Problemen des Lebens, Paderborn: Junfermann-Verlag 2013, 133, 165. – an spezialisierte Beratungsstellen übergeben. Was das iiB 6 Schulinterne LehrerInnenfortbildung. in der Prävention gut einbringen kann, ist die Expertise von 7 Schulübergreifende LehrerInnenfortbildungen. islamischen PädagogInnen, die im Gespräch mit ideologisch 8 Vgl. Herzog, Beate: Unsere Schule streitet mit Gewinn. Alltagskon‑ gefährdeten Jugendlichen die Unvereinbarkeit von Islam flikte und ihre Mediation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Hagedorn, Ortrud: Mediation – durch Konflikte lotsen. 58 schüler- und extremistischer Gewalt aufzeigen können. und handlungsorientierte Unterrichtsmethoden, Stuttgart / Leipzig: Trotzdem ist es zu eng gefasst, wenn man die Tätigkeit Klett Verlag 2009. Faller, Kurt u.a.: Konflikte selber lösen. Trainings‑ des iiB auf Prävention fokussiert sehen wollte. Über die handbuch für Mediation und Konfliktmanagement in Schule und genannten Beratungsanlässe hinaus ist die Arbeit des Bera‑ Jugendarbeit, Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr 2009. tungszentrums im Zusammenhang einer umfassenden 9 Vgl. Fischer, Dietlind: Religion im Haus der Lernens – wahrnehmen, erfahren, erarbeiten, zeigen, in: DAS WORT 3 (2008) 6–9. Vision von Schule zu verstehen, in der Vielfalt in ihren ver‑ 10 Vgl. Jäggle, Martin / Krobath, Thomas / Schelander, Robert schiedenen Dimensionen wahrgenommen, akzeptiert und (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und wertgeschätzt wird und wo sie zum Anlass wird, daran zu Schulentwicklung, Wien-Berlin: LIT 2009; Jäggle, Martin / Kro‑ lernen36. Dazu ist eine ganz klare Bejahung des Pluralismus bath, Thomas / Stockinger, Helena / Schelander, Robert (Hg.): nötig, auch des religiösen und kulturellen. Wünschenswert Kultur der Anerkennung. Würde – Gerechtigkeit – Partizipation für ist eine ‚gesunde‘ Neugier auf die Sicht des Anderen, auf die Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013. Lebensweise des Gegenübers, auf die Gedankenwelt, die auf 11 Jäggle, Martin / Krobath, Thomas: Schulentwicklung für eine Kul‑ Offenheit stößt und letztendlich zu einem besseren Ver‑ tur der Anerkennung. Pädagogische , organisationethische und religi‑ ständnis führt. Die Schule ist ein Ort, der entsprechende onspädagogische Akzente, in: Jäggle, Martin / Krobath, Thomas / Fähigkeiten bei jungen Menschen fördern und unterstützen Schelander, Robert (Hg.): lebens.werte.schule. Religiöse Dimensio‑ muss. Sie sollte die Chance nützen, die die in ihr bestehende nen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien-Berlin: LIT 2009, 51. 12 Jäggle, Martin: Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz religiöse und kulturelle Vielfalt birgt, miteinander und von‑ wahr? Grundsätzliche Vorbemerkungen und Einblick in ein For‑ einander zu lernen und damit Muster von Diskriminierung schungsprojekt in Wien, in: Porzelt, Burkhard / Güth, Ralph (Hg.): und Ausgrenzung zu durchbrechen und sich in Empathie Empirische Religionspädagogik. Grundlagen - Zugänge - Aktuelle und Solidarität einzuüben. Dazu gehört auch ein offener Projekte, Münster: LIT Verlag 2000, 120. Umgang mit Konflikten, die aus verschiedensten Gründen 13 Vgl. Rosenberg 2013 [Anm. 5], 161. unvermeidlich sind, und eine Förderung der Konfliktfähig‑ 14 Vgl. Herzog 2007[Anm. 8], 18. 15 Vgl. ebd., 16. keit und Lösungskompetenz. 16 Vgl. Öhlinger, Theo / Eberhard, Harald: Verfassungsrecht, Wien: Der religions- und kultursensible Ansatz, den das iiB Facultas Verlag 102014. vertritt, wird erst dann innerhalb einer Schule nachhaltig 17 Vgl. Koran: 4/103 und Zaidan, Amir: Fiqhul-´ibaadaat. Einführung wirksam werden, wenn er von möglichst vielen an einer in die Modalitäten der rituellen Handlungen (Gebet, Fasten, Zakaah 2 Schule Tätigen mitgetragen wird. Das lässt sich am besten in und Pilgerfahrten), Wien: Islamologisches Institut 2009, 86. 18 Zaidan 2009 [Anm. 17], 97–99. einem Prozess der Schulentwicklung umsetzen, der von 19 Seit 1912. außen zwar angeregt und begleitet werden kann, aber von 20 Hagedorn 2009 [Anm. 8], 125. 37 der Schule selbst erarbeitet werden muss . Auch wenn sich 21 Vgl. Herzog 2007 [Anm. 8], 29. die Qualität der Arbeit des iiB an jeder einzelnen konkreten 22 Vgl. Hagedorn 2009 [Anm. 8], 127. Beratung oder Durchführung einer Fortbildungsveranstal‑ 23 Vgl. Rosenberg 2013 [Anm. 5], 55. 24 Vgl. Dulabaum, Nina L.: Mediation: Das ABC, Weinheim & Basel: tung erweisen sollte, darf dieser größere Zusammenhang Beltz Verlag 2009, 87. Hagedorn 2009 [Anm. 8], 48. Faller (u.a.) nicht aus dem Auge gelassen werden. 2009 [Anm. 8], 58. 25 Vgl. Dulabaum 2009 [Anm. 24], 32. Anmerkungen 26 „Und Wir entsandten dich nur aus Barmherzigkeit für alle Welten“ (Koran 21/ 107), „Und du verfügst wahrlich über großartige Tugend‑ 1 Dieser Text ist eine umgearbeitete Fassung eines Beitrages, der in eigenschaften“ (Koran 68/ 4). Siehe auch Schimmel: Und Muhammad einer Publikation der IRPA zum Thema Extremismus im Herbst 2015 ist Sein Prophet, 21–51. erscheinen wird. 27 Vgl. Rosenberg 2013 [Anm. 5], 179. 2 Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems (KPH). 28 Vgl. Hagedorn 2009 [Anm. 8], 33–40, 43–47. 3 Hochschulstudiengang für das Lehramt für Islamische Religion an 29 Vgl. Anm. 23 und 24. Pflichtschulen (IRPA).

146 Österreichisches Religionspädagogisches Forum 30 Vgl. Heine, Susanne (Hg.): Islam zwischen Selbstbild und Klischee. AutorInneninformation Eine Religion im österreichischen Schulbuch, Köln / Weimar / Wien: Dr.in Ursula Fatima Kowanda-Yassin Böhlau 1995, 219. Eitnergasse 6 31 Vgl. Hagedorn 2009 [Anm. 8], 125. A-1230 Wien 32 Vgl. Zaidan 2009 [Anm. 17], 97–99 und Koran: 4/103. e-mail: : [email protected] 33 Vgl. Anm. 25. 34 Vgl. Rogge, Jan-Uwe: Pubertät. Loslassen und Haltgeben, Reinbek Mag. Dr. Alfred Garcia Sobreira-Majer bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008, 188–199. Institut für Ausbildung von ReligionslehrerInnen 35 Vgl. Ebd. 23, 36. Mayerweckstraße 1 36 Dem Thema der religiösen Vielfalt widmet sich derzeit das For‑ A-1210 Wien schungsprojekt der KPH Wien/Krems ‚Vielfalt an Schulen – Umgang e-mail: [email protected] mit religiöser Diversität im pädagogischen Alltag‘ in Kooperation mit GND: (DE-588)1046479407 der IRPA und der Universität Wien. Vgl. den Beitrag von Strutzen‑ berger, Edda / Lindner, Doris in dieser Ausgabe des ÖRFs. 37 Vgl. Anm. 10 und 11.

ÖRF 23 (2015) • 139–147 147

Matthias Scharer

Der österreichische Religionspädagoge im Übergang Nachruf auf em. o. Univ.-Prof. Dr. phil. Edgar Josef Korherr der autor Dr. Matthias Scharer, Jg. 1946, o. Univ.-Prof. für Katechetik/Religions- pädagogik und Religionsdidaktik an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck (Emeritierung mit 30.9.2014). Graduierter Lehr- beauftragter des Ruth Cohn Institute International, Gestaltpädagogik, Supervision.

m 14. März 2015 verstarb der Katechetiker und Verantwortlichen, die bis in das Zentrum der katholischen (Religions-)pädagoge Edgar Josef Korherr (1928- Kirche nach Rom reichten, repräsentierte Korherr u.a. als A2015) im Kreis seiner Familie. Mit seinem Einsatz Mitglied des Spezialsekretariats der IV. Weltbischofssynode für eine Katechese in „der Treue zu Gott und der Treue zum 1977 (vgl. CPB 1978, 2–10, 94)5 und als Mitglied des Inter- Menschen“1, wie das Johannes Paul II. in seinem Apostoli- nationalen Katechetischen Rates der Kleruskongregation die schen Schreiben Catechesi Tradendae2 formuliert hatte, österreichische Religionspädagogik mit seinem spezifischen prägte er vor allem die südost- und südösterreichische kate- katechetisch-religionspädagogischen Verständnis. Er war chetische Landschaft über Jahrzehnte. Korherr war weit auf europäischer Ebene präsent, indem er über das Europat- über die Landesgrenzen hinaus, vorzugsweise im südosteu- reffen für Katechese 1975 (CPB 1976, 36–41) oder über den ropäischen Raum, als katechetischer Lehrer und Forscher Katechetischen Kongress (CPB 1986, 100–102) berichtete. hoch angesehen. Davon zeugen auch Übersetzungen wichti- Er reflektierte auf die „Verantwortung für die Katechese in ger Publikationen, die nicht nur im Englischen, Italieni- den frei gewordenen bzw. frei werdenden europäischen Län- schen, Französischen oder Niederländischen vorliegen, son- dern“ (CPB 1990, 155–157), stellte „Die österreichische dern auch in den Landessprachen Polens, der Slowakei, Jugend- Wertestudie“ (CPB 1992, 99–101) dar oder reflek- Ungarns, Kroatiens und Sloweniens. Mehrfache kirchliche tiert auf die Frage nach einem (Welt-)katechismus (CPB und staatliche Auszeichnungen dokumentieren die große 1984, 139–148; 1992, 306–309). öffentliche Anerkennung, die Korherrs Wirken erfuhr: Der Korherr war leider nicht in derselben Intensität, wie er Kardinal-Innitzer-Preis 1962, das Ehrenzeichen der Heiligen kirchlich verortet war, mit seinen österreichischen KollegIn- Rupert und Virgil in Gold der Erzdiözese Salzburg und das nen im Fachbereich verbunden. Über Jahre nahm er nicht Konturkreuz des Silversterordens und des Gregoriusordens mehr an den jährlichen Tagungen der Arbeitsgemeinschaft wie auch das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft der ReligionspädagogInnen in Österreich teil. Er war auch und Kunst I. Klasse, das Große Silberne Ehrenzeichen für nicht im Österreichischen Religionspädagogischen Forum Verdienste um die Republik Österreich, das Große Goldene (ÖRF) verankert. Dass für seinen fachlichen Austausch Ver- Ehrenzeichen des Landes Steiermark und das große Ehren- bindungen außerhalb Österreichs, vor allem im südosteuro- zeichen für Verdienste um das Bundesland Niederösterreich. päischen Raum, den Vorrang hatten, hing mit der geogra- Mit E. J. Korherrs Tod geht eine Generation österreichi- phischen Lage ‚seines‘ Instituts an der theologischen Fakul- scher Katechetiker und Religionspädagogen zu Ende, die im tät der Universität Graz zusammen; möglicherweise hatte es Übergang von einer die neuscholastische Glaubensdoktrin aber auch mit seiner spezifisch katechetisch-pädagogischen methodisch-didaktisch umsetzenden Theorie und Praxis Ausrichtung des Faches zu tun. der Glaubensunterweisung zu einer durch das Zweite Vati- Als Edgar Josef Korherr als Professor für Pädagogik und kanum, speziell durch Gaudium et Spes3, inspirierten und Katechetik an die theologische Fakultät der Universität Graz im Würzburger Synodentext4 konkretisierten Glaubenser- berufen wurde, konnte er auf eine gediegene philoso- schließung für alle steht. Fest in der katholischen Kirche phisch-pädagogische Ausbildung an der Universität Wien verankert und mit vielfältigen Beziehungen zu kirchlich verweisen, die er mit dem philosophischen Doktorat abge-

Matthias Scharer: Der österreichische Religionspädagoge im Übergang. Nachruf auf 149 em. o. Univ.-Prof. Dr. phil. Edgar Josef Korherr • ÖRF 23 (2015), 149–152 schlossen hatte. Für seine Berufung auf die Professur, mit ihrer Spezifizierung auf ‚Zielfelder‘ sollte zunächst der Reli- der er dem bekannten Theologen Hansemann nachfolgte, gionsunterricht bei 10-14jährigen neu strukturiert werden. war vermutlich ebenso wichtig, dass er das Lehramt für Bis zu Lehrplan- und Schulbuchdetails wurden die neuen katholische Religion für alle Schultypen besaß und auf eine Konzepte vorgestellt (u.a. CPB 1974, 291–312; 1975, 44–59. lange Praxiserfahrung als Religionslehrer (1949-1962), als 90–104), die sich ab 1981 auch auf die AHS Oberstufe (u.a. Fachinspektor (1962-1968), als Leiter des Katechetischen CPB 1981, 28–36) und später auf die BHS ausweiteten. Instituts Wien (1968-1976), als Lehrbeauftragter an der Erläuterungen etwa zur Elternarbeit (CPB 1975, 203–218), Theologischen Hochschule St. Gabriel-Mödling (1966-1972) Vorschläge zur Notengebung (CPB 1976, 160–164) und vor und als Gründungsdirektor der Religionspädagogischen allem zahlreiche mediale Vorschläge begleiteten die Einfüh- Akademie Wien (1971-1976) verweisen konnte. Zeitlebens rungen. blieb Korherr in Graz und in Wien bzw. Mödling verankert, Parallel zu den Lehrplänen, bzw. im Falle der Sekundar- was ihm eine enge Verbindung zur Wiener Diözesanleitung stufe I bereits vor ihnen, entstanden die sogenannten und zum Wiener Schulamt ermöglichte. In den über Jahre ‚Arbeitsbücher Religion‘, die zunächst für die AHS-Unter- vor allem in Lehrplan- und Schulbuchfragen schwelenden stufe konzipiert waren, in den östlichen und südlichen Bun- Konflikten zwischen Wien und den meisten übrigen Diöze- desländern aber z.T. auch an Hauptschulen Verwendung sen Österreichs war Korherr in unterschiedlicher Weise fanden. Damit geschah ein ähnlicher Vorgang, wie er umge- involviert. kehrt in den meisten westlichen Bundesländern bereits mit Aus einer tiefen Verankerung in der katechetischen Tra- den von Univ.-Prof. Dr. Albert Höfer und seinem Team dition der katholischen Kirche in Verbindung mit einer Päd- erstellten ‚Glaubensbüchern‘ im Gange war: Die für die agogik/Didaktik, die diese umzusetzen versprach, verstand Hauptschule vorgesehenen ‚Glaubensbücher‘ wurden auch Korherr auch weitgehend den Religionsunterricht. Darauf in der AHS-Unterstufe verwendet, bevor eine entsprechende kann man aus den zahlreichen Veröffentlichungen und vor Lehrplanangleichung erfolgte. allem aus dem Lehrplan- und Schulbuchwerk schließen, das Kurz bevor die Reihe der ‚Arbeitsbücher Religion‘ einer von ihm angeregt und nachhaltig geprägt wurde. Die bereits grundlegenden Revision unterzogen wurde, legte ein ‚Grazer in den Beschluss der Würzburger Synode zum Religionsun- Team‘ um RPA-Direktor Dr. Kurt Zisler, dem späteren terricht6 eingegangene Terminologie der Curricularen Hauptschriftleiter der Christlich Pädagogischen Blätter, ein Didaktik wurde von Korherr speziell in der Form der von H. alternatives Schulbuchkonzept vor. Es orientierte sich am Blankertz entwickelten Zielfeldertheorie7 in die österreichi- inzwischen entwickelten ‚Lehrplan 99‘ bzw. ‚Lehrplan sche Religionspädagogik implementiert. 2000‘9. Dieser verstand sich als explizit korrelativer Lehr- Besonders gut kann man Korherrs katechetisch-religi- plan, der die Zielfelderkonzeption überschritten hatte und onspädagogische und pädagogische Anliegen in ‚seiner‘ ein theologisch integratives Konzept zu realisieren ver- Zeitschrift, den ‚Christlich Pädagogischen Blättern‘, in der suchte, das auch dem Methodisch-Didaktischen theologi- Zeit verfolgen, da er Hauptschriftleiter war (1968/69-1993)8. sche Relevanz beimaß. Beeinflusst wurde diese Konzeption Korherrs Hauptschriftleitung begann mit einer Umstruktu- durch das in meiner Dissertation religionsdidaktisch rierung der traditionsreichen, damals im 81. Jahrgang begründete korrelative Religionsbuchkonzept „auf dem erscheinenden Zeitschrift. Die Christlich Pädagogischen Hintergrund themen-(R.C. Cohn)/symbolzentrierter Inter- Blätter wurden unter ihm zur ‚katechetischen‘ Zweimonats- aktion unter Einbezug gestaltpädagogischer Elemente“10. zeitschrift mit einem klar festgelegten Umfang (336 Seiten Neu konzipierte ‚Glaubensbuch‘-Reihen für die Hauptschule pro Jahr), einem neuen Profil und einem Berater- und Mit- und für die AHS-Unterstufe sollten die bisherigen ‚Glau- arbeiterstab. Die Zeitschrift stellte bis zu ihrer Einstellung bensbücher‘ von A. Höfer und seinem Team ablösen. Damit das österreichische Pendant zu den ‚Katechetischen Blättern‘ flammte der Konflikt, der zwischen der ‚Korherr-Schule‘ in Deutschland dar. Gemäß Korherr sollte die Änderung des und der ‚Höfer-Schule‘ im Grunde seit der Berufung Kor- Untertitels von bisher ‚Zeitschrift für Kinder- und Jugend- herrs nach Graz latent bestanden hatte, erneut auf. Als lang- seelsorge‘ auf ‚Zeitschrift für den katechetischen Dienst‘, jähriger Direktor der Religionspädagogischen Akademie „die angestrebte Erneuerung zum Ausdruck bringen“ (CPB und als Gründer eines christlich orientierten Gestalttrai- 1978, 314). nings hatte A. Höfer vor allem auf die ReligionslehrerInnen Mit dem Jahrgang 1974 begann Korherr mit detailrei- an Grundschulen entsprechenden Einfluss und wurde als chen Darstellungen des ‚Wiener Arbeitsplans für die Sekun- Konkurrent gesehen. Zu einem fruchtbaren Dialog der bei- darstufe‘, die sich über mehrere Jahre hinzogen. Auf der den ‚Schulen‘ kam es leider nicht.11 Das Wiener Schulamt Grundlage der seit der Würzburger Synode auch in der Reli- spielte in all diesen Konflikten eine zwielichtige Rolle. gionspädagogik breit diskutierten Curriculumtheorie mit

150 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Fragt man nach den konzeptionellen Unterschieden der Firmkatechese (CPB 1972, 142–157) oder Beiträge zum Lehrpläne und Schulbuchreihen, die neben den viel domi- Bußverständnis (CPB 1991, 161–164) zeigen. nanteren kirchenpolitischen Aspekten eine eher marginale Mit dem Tod von Edgar Josef Korherr hat einer der pro- Rolle gespielt hatten, dann zeigt sich als wesentliche Charak- filiertesten und konfliktivsten Katechetiker und Pädagogen teristik das katechetisch-pädagogisch bestimmte Denken der österreichischen Nachkriegsgeschichte das religionspäd- von Korherr. Für ihn war die Vernetzung theologisch und agogische Feld verlassen und ist in Gottes ewiges Licht und kirchlich relevanter Glaubensgehalte (Treue zu Gott) mit in Seinen Frieden eingegangen. Die religionspädagogische den anthropologischen Voraussetzungen der AdressatInnen Scientific Community hat mit Edgar Josef Korherr einen (Treue zum Menschen), die im spezifischen Kontext von bedeutenden und engagierten Vertreter ihres Faches verlo- Schule und Unterricht zielfelderorientiert stattfand, das ren. Qualitätskriterium für gelingende Katechese und gelingen- den Religionsunterricht. Detaillierte Anweisungen für Leh- Anmerkungen rerInnen und u.a. durch Lückentexte programmierte Schul- 1 Vgl. Schnider, Andreas (Hg.): Treue zu Gott – Treue zum Menschen: bücher sollten die ziel- und qualifikationsorientierten Lern- Diakonia Liturgia Martyria. Festgabe zum 60. Geburtstag von Edgar prozesse sichern und evaluierbar machen. ‚Das Theologi- Josef Korherr, Graz: Styria 1988. sche‘ lag ausschließlich in den Inhalten bzw. Zielen; das 2 Apostolisches Schreiben Catechesi Tradendae Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. über die Katechese in unserer Zeit, Bonn: Sekreta- Methodisch-Didaktische konnte daher eher pragmatisch riat der Deutschen Bischofskonferenz 1979 (12), 55. und theologisch relativ unbedacht entwickelt werden. Eine 3 Zweites Vatikanum: Die pastorale Konstitution über die Kirche in der (fundamental-) theologische Perspektive des unentschränk- Welt von heute ‚Gaudium et spes‘ 1965 (= GS). baren Ineinanders von fides qua und fides quae creditur, wie 4 Der Religionsunterricht in der Schule, in: Bertsch, Ludwig (Hg.): sie u.a. der Religionspädagoge und spätere Fundamental- Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg: Herder 41978, 123–152. theologe Jürgen Werbick in ‚Glaubenlernen aus Erfahrung‘12 5 Bei den Beiträgen aus den Christlich-pädagogischen Blättern (CPB) im Text handelt es sich ausschließlich um Beiträge von Edgar Josef entwickelt hatte, war Korherr eher fremd. Korherr. Korherrs Werk wäre verkürzt dargestellt, würde man es 6 Bertsch 1978 [Anm. 4]. auf die Schulbuch- und Lehrplanarbeit oder auf den Religi- 7 Vgl. Blankertz, Herwig: Theorien und Modelle der Didaktik, Mün- onsunterricht reduzieren. Grundlegende Werke finden sich chen: Juventa Verlag 1969. auf drei Ebenen: 8 Je länger Korherrs Herausgeberschaft währte, umso zahlreicher und umfangreicher wurden seine eigenen Beiträge. Aus eigener Erfahrung • einer allgemein (religions-)pädagogischen, weiß ich, dass man in Ungnade des Schriftleiters fallen konnte und • einer theologisch-katechetischen und dann nur auf Druck des Beirats weiter in diesem Organ publizieren • einer theologisch-liturgischen. durfte. Zum ersteren Bereich zählt vor allem das ‚Österreichi- 9 Die Konfliktgeschichte um diese Lehrpläne kann hier aus Platzgrün- sche Katechetische Direktorium für Kinder- und Jugendar- den nicht ausgeführt werden. Vgl. Scharer, Matthias: Korrelation als beit‘13, das von der Österreichischen Kommission für Bil- Verschleierung: Zur theologischen Auseinandersetzung um das Kon- zept des Lehrplanes für den katholischen Religionsunterricht auf der dung und Erziehung der Österreichischen Bischofskonfe- Sekundarstufe I (Lehrplan 99), in: Österreichisches Religionspädago- renz unter Korherrs Leitung 1991 erstellt wurde. Dazu zäh- gisches Forum 8 (1998) 8–11. len aber auch sein ‚Praktisches Wörterbuch der Religionspä- 10 Scharer, Matthias: Thema, Symbol, Gestalt: Religionsdidaktische dagogik und Katechetik‘14 mit dem er bereits frühzeitig Begründung eines korrelativen Religionsbuchkonzeptes auf dem Hin- Grundlagen für die Klärung zentraler katechetisch-religi- tergrund themen-(R. C. Cohn)/symbolzentrierter Interaktion unter Einbezug gestaltpädagogischer Elemente, Graz: Styria 1987. onspädagogischer Begrifflichkeiten legte. Schließlich befas- 11 Von A. Höfer persönlich weiß ich allerdings, dass er seine Berufung in sen sich auch eine Reihe von ‚Studienbehelfen für Lehramts- die europäische Akademie der Wissenschaft, der Korherr schon vor- kandidaten‘ wie ‚Ideengeschichtliche und schulgeschichtli- her angehört hatte, auf die Intervention Korherrs zurückführte, was che Wurzeln des österreichischen Bildungswesens‘15 oder ihn überaus freute. die ‚Pädagogische Psychologie‘16 mit pädagogischen und 12 Werbick, Jürgen: Glaubenlernen aus Erfahrung: Grundbegriffe einer religionspädagogischen Basics, die er vor allem an Lehr- Didaktik des Glaubens, München: Kösel 1989. 13 Österreichische Kommission für Bildung und Erziehung des Sekreta- amtsstudierende weitergeben wollte. riats der Österreichischen Bischofskonferenz (Hg.): Österreichisches Im theologisch-katechetischen Bereich schrieb Korherr Katechetisches Direktorium für Kinder- und Jugendarbeit, Wien: Erz- 17 einen ‚Grundkurs der Gebetspädagogik‘ , auf den – das diözese Wien 1981. kann ich aus eigener Erfahrung sagen – DiplomandInnen 14 Korherr, Edgar Josef: Praktisches Wörterbuch der Religionspädago- bis heute zurückgreifen. Darüber hinaus hatte Korherr ein gik und Katechetik, Wien: Herder 1984. 15 Korherr, Edgar Josef: Ideengeschichtliche und schulgeschichtliche starkes Interesse an der Sakramentenkatechese, wie u.a. ein Wurzeln des österreichischen Bildungswesens. Studienbehelfe für früher Beitrag zu Geschichte, Theologie und Praxis der

ÖRF 23 (2015) • 149–152 151 Lehramtskandidaten, Graz: Institut für Katechetik und Religionspäda- Autoreninformation gogik 1988. em. o. Univ.-Prof. Dr. Matthias Scharer 16 Korherr, Edgar Josef: Pädagogische Psychologie für Theologen: ent- Sillgasse 5 wicklungspsychologische Grundlagen, Graz: Institut für Katechetik A-6020 Innsbruck und Religionspädagogik 1990. e-mail: [email protected] 17 Korherr, Edgar Josef: Beten lehren, beten lernen. Grundkurs der GND: 121127524 Gebetspädagogik, Graz: Styria 1991.

152 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Ednan Aslan / Martin Rothgangel

Facetten der Kooperation von christlicher und muslimischer Theologie an der Universität Wien der autor der autor Prof. Dr. Ednan Aslan, Universitätsprofessor und Univ.-Prof. DDr. Martin Rothgangel, Institut für Reli- Institutsvorstand am Zentrum für LehrerInnenbil- gionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen dung für den Fachbereich Islamische Religionspä- Fakultät der Universität Wien. dagogik und Islamische Studien.

Abstract Die Islamische Religionspädagogik (IRP) an der Universität Wien war das erste entsprechende Institut an einer europäischen Uni- versität. Mit der Gründung trat die IRP in das Rampenlicht von Politik und Medien. In ihren Anfängen war die IRP den sehr hohen Erwartungen fachlich wie personell kaum gewachsen. In dieser schwierigen Phase spielte die Zusammenarbeit mit der Katho- lisch-Theologischen (KTF) sowie der Evangelisch-Theologischen Fakultät (ETF) eine wichtige Rolle, weil die IRP von den fachlichen Erfahrungen der etablierten christlichen Religionspädagogiken lernen konnte. Dieser Lernprozess bezog sich insbesondere auf Lehre, Forschung und interreligiöse Begegnung. Schlagworte: Islamische Religionspädagogik, Universität, Interreligiöse Begegnung, Theologie, Europa

Facets of cooperation between Christian and Muslim theology at the University of Vienna The Islamic Religious Pedagogy programme at the University of Vienna was the first one of its kind at a European university. With its establishment it became centre stage in politics and media. At the beginning the programme could not meet the high expectations it was subjected to due to a lack of professional staff. At this difficult phase the programme benefited greatly from the cooperation with the faculties of Catholic and Protestant Theology as the programme was able to learn from the established Christian religious educationalists. This learning process was particularly geared towards teaching, research and interreligious encounters. Keywords: Islamic religious education, University, Interfaith dialogue, Theology, Europe

1. Gesellschaftliche Hintergründe und Bedeutung sive Diskussion, da es in diesem Zusammenhang vor allem der Kooperation darum gehen muss, dass die MuslimInnen die Stellung ihrer Religion im Dialog mit den anderen Religionen und Weltan- Es stellt für die islamische Theologie eine neuartige schauungen in ihrem Leben neu einordnen. Herausforderung dar, dass MuslimInnen in einer pluralis- Unter den besonderen Bedingungen von Europa kommt tisch-christlich geprägten Gesellschaft auf Dauer bleiben der islamischen Religionspädagogik und Theologie an den und diese als ihre Heimat ansehen. Die klassische islamische europäischen Universitäten im Prozess der Beheimatung der Jurisprudenz sah hierin vor allem die Gefahr der Assimila- MuslimInnen eine besondere Bedeutung zu, damit die hier tion, welche die Zukunft der MuslimInnen gefährde, und heranwachsenden MuslimInnen sich mit dieser neuen Hei- empfahl die Auswanderung in ein islamisches Land. mat identifizieren können. Gleichwohl leben gegenwärtig zahlreiche MuslimInnen Auch aus diesen Gründen war die Etablierung der Isla- in einer Gesellschaft, die größtenteils ihre Regeln weniger mischen Religionspädagogik (IRP) an der Universität Wien aus religiösem Glauben, sondern primär aus der Aufklärung als erste IRP an einer europäischen Universität für die bezieht. Zukunft der MuslimInnen von großer Relevanz. Mit der Die Präsenz des Islam in Europa fordert die MuslimIn- Gründung trat die IRP in das Rampenlicht von Politik und nen also heraus, ihre Religion in diesen Gesellschaften neu Medien, zugleich waren die Erwartungen an sie sehr hoch: zu definieren. Diese Herausforderung impliziert eine inten-

Ednan Aslan / Martin Rothgangel: Facetten der Kooperation von christlicher und muslimischer 153 Theologie an der Universität Wien • ÖRF 23 (2015), 153–155 IRP sollte die islamische Theologie reformieren, Radikalisie- ziert werden, weil die IRP aus ihren eigenen Ressourcen rung verhindern und möglichst schnell die MuslimInnen in heraus die Lehre zu bestreiten vermag. die Gesellschaft integrieren, bzw. die Widersprüche zwi- In regelmäßigen Abständen werden auch gemeinsame schen Gesellschaft und islamischer Theologie klären. Lehrveranstaltungen abgehalten. Beispiele dafür sind die Jedoch wurden unzureichend die eigene Dynamik und Ringvorlesungen zum Thema „Religion und Gemeinschaft. die bestehenden Defizite der IRP berücksichtigt, welche Integration aus christlicher und muslimischer Perspektive“ nahezu zwingend in Aufbau- und Anfangsphasen auftreten. (Ednan Aslan, Martin Jäggle, Martin Rothgangel) sowie zum So war die IRP dieser Herausforderung weder fachlich noch Thema „Religionen im urbanen Alltag Wiens” (Ednan personell gewachsen. In dieser schwierigen Phase spielte die Aslan, Martin Rothgangel, Brigitta Schmidt-Lauber). Zusammenarbeit mit der Katholisch-Theologischen (KTF) Gleichfalls gibt es gemeinsame Lehrveranstaltungen wie z.B. sowie der Evangelisch-Theologischen Fakultät (ETF) eine das Masterarbeit-Begleitseminar für Studierende islamischer entscheidende Rolle zur Etablierung der IRP, weil sie als ein Religionspädagogik (Ednan Aslan, Martin Rothgangel). noch junges Fach aus ihren fachlichen Erfahrungen und Darüber hinaus besucht seit 2010 ein Teil der muslimi- administrativen Ratschlägen der etablierten christlichen schen DoktorandInnen regelmäßig die religionspädagogi- Theologie viel lernen konnte. Dieser Lernprozess bezog sich sche Sozietät von Martin Rothgangel und Robert Schelander insbesondere auf die Lehre und Forschung. an der ETF, wo die jeweiligen religionspädagogischen For- schungsprojekte vorgestellt und diskutiert werden. Gleich- 2. Kooperation in der Lehre falls betreut Thomas Weiß (ETF) durch Drittmittel finan- ziert DoktorandInnen der muslimischen Religionspädago- Die erste Hilfestellung zeigte sich in der Entwicklung gik. des Curriculums für das Masterstudium IRP, an dem sich Neben dieser Zusammenarbeit in der Lehre sind auch auch KollegInnen der ETF und KTF als Mitglieder der Cur- die gemeinsamen Betreuungstätigkeiten bei Master- und ricular-AG beteiligten. Hier erfolgte unter Beachtung des Dissertationsarbeiten zu erwähnen. Verschiedene Master- eigenen islamischen Profils auch eine Orientierung an den sowie Promotionsarbeiten muslimischer Studierender wer- religionspädagogischen Curricula der ETF und KTF, um u.a. den von WissenschaftlerInnen anderer Fakultäten übernom- mögliche Synergieeffekte in der Lehre zu erzielen. So wird men und gleichzeitig stehen die muslimischen Wissen- z.B. im Curriculum des Masterstudiums IRP vergleichbar zu schaftlerInnen beratend für die Fragen der nichtmuslimi- dem der ETF eine Lehrveranstaltung angeboten, in der für schen Studierenden zur Verfügung. Daraus sind auch ver- ReligionslehrerInnen grundlegende Kenntnisse und Fähig- schiedene studentische Arbeitsgruppen entstanden, die keiten hinsichtlich empirischer Methoden vermittelt wer- unabhängig von Lehrenden ihre eigenen Veranstaltungen den. Grundsätzlich war und ist ein regelmäßiger kollegialer organisieren. und freundschaftlicher Austausch mit beiden Fakultäten für Bei diesen gemeinsamen Lehrveranstaltungen setzen die Etablierung der IRP an der Universität Wien eine wich- die Studierenden islamischer Religionspädagogik sich mit tige Grundlage für die Weiterentwicklung dieses Faches. wissenschaftlichen Fragen und Herangehensweisen ausein- Dementsprechend nimmt das interreligiöse Lernen eine ander, die sie aus ihrer eigenen theologischen Tradition besondere Stellung im neuen Curriculum der IRP ein, so nicht kennen. Daraus entstand für die islamische Theologie dass die Studierenden den interreligiösen Dialog und das und Religionspädagogik die Chance sich in der europäi- interreligiöse Lernen als Teil ihrer fachlichen Qualifikation schen Universitätstradition zu beheimaten und sich neuen betrachten. Die entsprechende Kompetenzformulierung lau- Herausforderungen zu stellen. Umgekehrt ist diese Begeg- tet: „Fähigkeit, den interreligiösen Dialog theologisch zu nung auch für die Lehrenden der beiden theologischen begründen und argumentieren, vertiefte Kenntnisse über Fakultäten eine neue Herausforderung, weil sie ihre eigene christliche Theologien, Fähigkeit, den Islam aus der theologi- Lehre unter diesen besonderen Voraussetzungen und auf- schen Perspektive anderer Religionen zu betrachten”.1 grund der Rückfragen der muslimischen Studierenden her- Blickt man auf die Lehre der IRP in den Anfangsjahren aus neu überdenken. der Universität Wien zurück, erkennt man, dass die ETF und die KTF zur Sicherstellung der Lehre im Bereich der 3. Kooperation in der Forschung IRP nicht nur beratend tätig waren, sondern auch in der Lehre mitwirkten. Ohne diese personelle Unterstützung Zum Teil gehen gemeinsame Forschungsarbeiten aus wäre die Lehre nicht gewährleistet gewesen. Gegenwärtig den Lehrveranstaltungen hervor. So entstand die Publika- konnte jedoch diese Unterstützung auf einige wenige Lehr- tion „Religion und Gemeinschaft. Die Frage der Integration veranstaltungen wie das empirische Methodenseminar redu- aus christlicher und muslimischer Sicht, Göttingen 2013“

154 Österreichisches Religionspädagogisches Forum (hrsg. von Martin Rothgangel, Ednan Aslan und Martin Jäg- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der interreligi- gle) aus der oben genannten Ringvorlesung. öse Dialog an der Universität Wien für die Zukunft der IRP Als inspirierend für die gemeinsame Forschungstätig- und islamischen Theologie von großer Bedeutung ist und keit erweisen sich auch die jährlichen Konferenzen muslimi- eine entscheidende Rolle für die Weiterentwicklung und scher TheologInnen in Sarajewo (2010), Pristina (2011), Beheimatung islamischer Theologie spielt. Kiew (2012), Tirana (2013), Podgorica (2014) sowie Skopje (2015), die von Ednan Aslan organisiert werden. Religions- Anmerkungen pädagogische und bildungswissenschaftliche KollegInnen der Universität Wien sind dazu eingeladen, partizipieren am 1 Curriculum der IRP, in: https://studentpoint.univie.ac.at/fileadmin/ user_upload/studentpoint_2011/Curricula/Master/MA_Islami- interreligiösen Forschungsdialog und publizieren in den sche_Religionsp_C3_A4dagogik__Version_2012_.pdf [abgerufen 2 entsprechenden Tagungsbänden. am 06.06.2015] Umgekehrt wirkt Ednan Aslan bei dem Projekt „Religi- 2 Vgl. Aslan, Ednan / Hermansen, Marcia (Hg.): Islam and Citizen- ous Education at Schools in Europe“ (s. www.rel-edu.eu) ship Education, Wiesbaden: Springer 2015. von Martin Jäggle und Martin Rothgangel mit, indem er bei Aslan, Ednan / Rausch, Margaret (Hg): Islamic Education in Secular Societies, Frankfurt a.M: Peter Lang 2013. den entsprechenden Tagungen teilnimmt und bei dem Teil- Aslan, Ednan / Windisch, Zsofia (Hg.): The Training of Imams and band zu Südosteuropa als Mitherausgeber fungiert. Teachers for Islamic Education in Europe, Frankfurt a.M.: Peter Lang Darüber hinaus wurden gemeinsam mit den Bildungs- 2012. wissenschaften unter Federführung von Henning Schluss – Für weitere Publikationen aus d. Reihe: http://www.islamische-religi- leider ohne Erfolg – auch Drittmittelanträge zum Themen- onspaedagogik.at/forschung/publikationenmedien/publikationen. komplex „Religiöse Bildung und Kompetenz (ReBiKo)” ver- html. 3 Aus dem unveröffentlichten Antrag der FP (2013). fasst. Durch den lebendigen Dialog in der Forschung gelang Autoreninformation es den TeilnehmerInnen unterschiedliche Fragen aus ande- ren Perspektiven zu betrachten und die Relevanz dieser Univ.-Prof. Dr. Ednan Aslan Zentrum für LehrerInnenbildung / ZLB Zusammenarbeit für die Gesellschaft sichtbar zu machen. Zimmer: 322 Exemplarisch kann dies anhand eines Antrags zur Grün- Porzellangasse 4 dung einer interreligiösen Forschungsplattform verdeutlich A-1090 Wien werden, in dem auf die gesellschaftliche Bedeutung der e-mail: [email protected] interreligiösen Arbeit folgendermaßen hingewiesen wird: Univ.-Prof. Dr. Martin Rothgangel „Religion has played a paradoxical role over the last decades Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien in western societies. On the one hand, nation-states have Institut für Religionspädagogik become increasingly secularized in the context of new cultural Schenkenstr. 8-10 and religious demographic shifts. On the other hand, this shift A-1010 Wien from a society dominated by one or two religious-cultural e-mail: [email protected] GND: (DE-588)114524181 groups to a society facing growing religious and cultural plu- ralism has necessitated the State’s attention to religious aware- ness and religious tolerance, as essential to a stable democ- racy”.3

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Matthias Scharer

Zur Eröffnung der Islamischen Religionspädagogik an der Universität Innsbruck Festakt am 6. Oktober 2014 der autor Dr. Matthias Scharer, Jg. 1946, o. Univ.-Prof. für Katechetik/Religions- pädagogik und Religionsdidaktik an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck (Emeritierung mit 30.9.2014). Graduierter Lehr- beauftragter des Ruth Cohn Institute International, Gestaltpädagogik, Supervision.

Abstract Das neue Studium der Islamischen Religionspädagogik an der Universität Innsbruck hat seine spezielle Geschichte. Der Bericht erinnert an einige Erfahrungen auf dem Weg der Errichtung dieser Studien, Störungen eingeschlossen. Der Text entspricht einem Kurzreferat bei der Eröffnungsfeier, zu der der Autor eingeladen war. Schlagworte: Islamische Religionspädagogik, Religionspädagogik, Theologie, Pädagogik

Stumbling blocks on the way to Islamic Religious Education The new Study of Islamic Religious Education at the University of Innsbruck has its special history. The report mentions some experiences on the way to establish these studies including disturbances. The text is similar to an abstract for the opening event to which the author was invited. Keywords: Islamic religious education, Religious education, Theology, Education

assen Sie mich ein wenig hinter die Kulissen bei der Kooperationen mit muslimischen Fakultäten, ich nenne vor Errichtung der Islamischen Religionspädagogik (IRP) allem Qom, bevor auch einige andere Fakultäten auf die L an der Universität schauen und auch die Stolpersteine interreligiöse Thematik aufgesprungen sind. auf dem Weg dorthin nicht vergessen. Ich habe die mehr als tausend E-Mails kursorisch durchgesehen, die ich in mei- 2. ‚Heilig - Tabu‘ – Muslime und Christen wagen nem Mailordner unter ‚Islamische Religionspädagogik‘ Begegnung abgelegt habe. Deren wissenschaftliche Auswertung würde Einen Meilenstein im Hinblick auf das Bewusstsein für ein interessantes Beispiel für eine multiperspektivische Aus- die Notwendigkeit einer IRP im Westen Österreichs bildete einandersetzung an der Universität Innsbruck darstellen. zweifellos der dritte Kongress Kommunikativer Theologie Hier kann ich nur auf die wichtigsten Etappen verweisen. „‚Heilig - Tabu‘ – Muslime und Christen wagen Begegnung“ und dessen Vor- und Nachbereitung. Von muslimischer 1. Die Weitsicht Pater Schwagers Seite nahmen daran u.a. Ednan Aslan und Hamideh Mohag- Zumindest was das Engagement der Theologischen heghi als ExpertInnen teil. Ich erinnere mich noch genau an Fakultät für die Errichtung einer IRP betrifft, ist an die das Gespräch mit Ednan Aslan, das wir auf dem Weg zum Weitsicht des ehemaligen Dekans P. Raymund Schwager zu Bahnhof geführt haben. Ednan sagte damals: „Matthias! So erinnern, der sich als Nachfolgeprofil für seine dogmatische viele muslimische ReligionslehrerInnen im Westen Öster- Professur islamische Kompetenz gewünscht hat. Kaum reichs brauchen eine theologisch-religionspädagogische jemand an der Fakultät konnte das verstehen und er ist mit Qualifikation; für sie ist Wien zu weit. Was können wir in seinem Vorschlag, wie man so schön sagt, ‚baden gegangen‘. Innsbruck tun?“ Diese Frage hat nicht nur mich, sondern Gleichzeitig gab es aber an der Theologischen Fakultät auch meine MitarbeiterInnen, speziell Martina Kraml, das schon seit längerer Zeit – vor allem in der Philosophie – Forschungszentrum ‚Religion-Gewalt-Kommunikation-

Matthias Scharer: Zur Eröffnung der Islamischen Religionspädagogik an der 157 Universität Innsbruck. Festakt am 6. Oktober 2014 • ÖRF 23 (2015), 157–159 Weltordnung‘ (RGKW) und schließlich die Fakultät nicht schaft in Österreich in das Vorhaben einzubinden. So mehr losgelassen. Die Katholisch-Theologische Fakultät besuchte ich den Präsidenten Fuat Sanaç, der dann in der stellte einen diesbezüglichen Antrag an das Rektorat Töch- Folge auch dem Rektorat einen Besuch abstattete. Ohne die terle; Rektor Töchterle ist damals allerdings beim Wissen- große Unterstützung des Projekts durch die beiden Vizerek- schaftsministerium ‚abgeblitzt‘. toren Psenner und Meixner im Rektorat wäre die Sache aber nie spruchreif geworden. 3. Vizerektorin Margret Friedrich als treibende Ich kann mich auch an die – speziell bei Stadt und Land Kraft wenig erfolgreichen – Bettelzüge mit Roland Psenner um Geld für dieses Studium gut erinnern. Schließlich hat aber Es gab eine Person im damaligen Rektorat, welche den doch die Universitätsleitung grünes Licht dafür gegeben, Gedanken einer IRP an der Universität Innsbruck von sodass wir – zunächst informell – einen Studienplan für das Anfang an unterstützt hatte: Die damalige Vizerektorin für Bachelorstudium entwerfen konnten. Bei der Einreichung Lehre und Studierende, Margret Friedrich. Sie ist im WS und Genehmigung des Studienplans hat der damalige Vor- 2010, zu einem Zeitpunkt, da wir keine Hoffnung auf die sitzende der Curriculumkommission Lehramt, Franz Pauer, Errichtung einer IRP mehr hatten, an unseren Fachbereich, eine wichtige Rolle gespielt. Der Kampf um die Stunden des konkret an Martina Kraml (ich war damals schwer krank), bereits fertiggestellten Curriculums war einer der Stolper- mit der Frage herangetreten, ob wir „die Sache“ nicht doch steine, die das Projekt im letzten Augenblick fast zu Fall irgendwie vorantreiben könnten. In diesem Zusammenhang gebracht hätten. kam der Gedanke auf, das Wiener Masterstudium ‚Islami- sche Religionspädagogik‘ in Innsbruck zu übernehmen und 5. Zuordnung und Beheimatung des Studiums hier durchzuführen. Eine Besonderheit des Innsbrucker und Errichtung der Professur Zweiges war, dass von Anfang auch alevitische Studierende aufgenommen und für sie auch einige spezielle Lehrveran- Bereits Margret Friedrich legte in den ersten Verhand- staltungen angeboten wurden, was speziell Vizerektor Wolf- lungen darauf Wert, dass das Studium organisatorisch der gang Meixner ein besonderes Anliegen war. Ich könnte damals noch in der Planung befindlichen School of Educa- Ihnen jetzt lange über die Schwierigkeiten berichten, welche tion zugeordnet werden solle. Damit war auch die Errich- die im SS 2011 rasch vorbereitete Einführung des Wiener tung der Professur dort angesiedelt. Die KollegInnen an der Masterstudiums bereitete. Letztlich gelang es aber doch – School of Education stellten sich, nach einiger Überzeu- durch große Unterstützung der Vizerektorin und der Inns- gungsarbeit, eindeutig hinter das Projekt. Dekan Schratz brucker Studienabteilung unter Leitung von Herrn Hlavac – betrieb die Besetzung der Professur mit großer Energie, das Masterstudium durchzuführen. sodass – nach vielen Diskussionen – Zekirija Sejdini schließ- lich als Professor berufen wurde. Ich denke, dass inzwischen 4. Ein Bachelorstudium ist vordringlich und wird nicht nur die Berufungskommission, sondern viele inner- errichtet halb und außerhalb der Universität davon überzeugt sind, dass mit Sejdini ein kompetenter und in hohem Maße Bereits bei der Anmeldung zum Masterstudium zeigte gesprächs- und kooperationswilliger Kollege an die Univer- sich, dass ein Bachelorstudium ‚Islamische Religionspädago- sität Innsbruck berufen werden konnte. gik‘ noch dringender wäre als ein Masterstudium. Nicht Mein Ordner weist noch eine Reihe von E-Mails auf, wenige StudienanwärterInnen erfüllten die Voraussetzungen welche die räumliche Zuordnung der IRP betreffen. Nur für das Masterstudium nicht. Damals konfrontierte ich das weil an der School of Education größte Raumnot besteht, inzwischen neue Rektorat Märk und den Senat, dem ich hat das Rektorat nach längeren Debatten dem Angebot von angehörte, erstmals mit der Idee, an der Universität Inns- Dekan Wolfgang Palaver, der das Projekt von Anfang an mit bruck einen eigenen Bachelor IRP mit einer islamischen großer Überzeugung unterstützt hatte, zugestimmt, in den Professur und entsprechender Ausstattung an der Universi- Räumen des ehemaligen Karl-Rahner-Archivs die Islami- tät Innsbruck einzurichten. Die große Schwierigkeit war sche Religionspädagogik unterzubringen, was sich inzwi- selbstverständlich die Finanzierung dieses Studiums und der schen im Hinblick auf die Kooperation sehr bewährt hat. Professur. Schließlich ist mit der seit Jahren in der Sache hochenga- Bei einer Vorsprache von Kollegen Aslan und mir bei gierten Kollegin Martina Kraml eine Theologin Studienbe- Wissenschaftsminister Töchterle erreichten wir großes Ver- auftragte für die IRP. ständnis für die Sache und vage finanzielle Zusagen, hinter Unter dem Eindruck der zahlreichen E-Mails und der die sich anschließend das Rektorat geklemmt hatte. Mir war vielen Gespräche im Zusammenhang mit der IRP an der von Anfang an wichtig, die Islamische Glaubensgemein-

158 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Universität Innsbruck und der großen Hürden, die zu über- Autoreninformation winden waren, empfinde ich große Dankbarkeit gegenüber em. o. Univ.-Prof. Dr. Matthias Scharer allen handelnden Personen. Mein Dank richtet sich in dieser Sillgasse 5 Feierstunde aber auch an den einen und einzigen Gott, dem A-6020 Innsbruck Allerbarmer, der Juden, Muslime und Christen verbindet e-mail: [email protected] und in dessen unvorhersehbaren und uneinsehbaren Plänen GND: 121127524 die Innsbrucker IRP immer schon war.

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Maria Jedliczka

Die Kunst des Theologisierens und Philosophierens mit Jugendlichen und der kompetenzorientierte Religionsunterricht – Widerspruch oder Ergänzung?

Diplomarbeit am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien die autorin Mag.a Maria Jedliczka, Lehramtsstudium in den Un- terrichtsfächern Katholische Theologie und An- glistik, Religions- und Englischlehrerin am BG/BRG Schwechat.

n der vorzustellenden Diplomarbeit wird auf der Basis es das Anliegen der Kompetenzorientierung SchülerInnen einer sorgfältigen Literaturrecherche die Frage erörtert, dabei zu unterstützen, religiös kompetent zu werden. Das Iob Jugendtheologie und Kompetenzorientierung als Anwendenkönnen von theologischem und religiösem Wis- widersprüchliche oder sich gegenseitig ergänzende Ansätze sen ist das Hauptziel dieses ergebniszentrierten Ansatzes. verstanden werden können. „Pluralismusfähgkeit“8 und interreligiöse Kompetenz wer- Der Religionsunterricht des 21. Jahrhunderts bringt den in einer multikulturellen Gesellschaft, an dieser Stelle Herausforderungen mit sich, die auf mangelnde religiöse besonders von Gabriele Obst, als unbedingt notwendig Sozialisierung von Jugendlichen1 gekoppelt mit Modernisie- erachtet.9 Hier werden auf den ersten Blick Widersprüche rungsprozessen2 zurückgeführt werden können. Der Ruf ersichtlich, da auf der einen Seite Lernprozesse individuell nach alternativen religionspädagogischen Ansätzen wird verlaufen, während auf der anderen Seite die Definitionen immer lauter. Das Ziel der Religionspädagogik ist es, die konkreter Fähigkeiten am Ende der Schullaufbahn für alle Lernenden darin zu fördern, sich zu religiös eigenständig Lernenden gleich sein sollen. Dennoch wird im Laufe der Denkenden zu entwickeln, die sich nicht nur Wissen aneig- Arbeit klar, dass beide Annäherungen religiös kompetente nen, sondern auch fähig sind, dieses Wissen im Alltag anzu- SchülerInnen zum Ziel haben, wenngleich dieses Ziel in wenden und zu vernetzen. Gleichzeitig soll der Religionsun- unterschiedlicher Weise verfolgt wird. terricht aber nicht zu einem bloßen „religionskundlichen“3 Zum besseren Vergleich wird im nächsten Abschnitt Unterricht werden, da sonst die Gefahr einer Aushöhlung das Programm „Theologisieren mit, für und von Jugendli- besteht.4 Das Theologisieren und Philosophieren mit chen“ 10 vorgestellt, wobei entwicklungspsychologische Etap- Jugendlichen einerseits sowie der kompetenzorientierte pen des Jugendalters näher beleuchtet werden. Auf die (Religions-) unterricht andererseits sind zwei methodische zurückhaltende, skeptische und kritische Haltung von Ansätze, die sich den neuen Aufgaben auf unterschiedliche Jugendlichen wird besondere Rücksicht genommen.11 Damit Weise stellen wollen. eng verbunden ist die adäquate Themenwahl im Religions- Zunächst wird die Diplomarbeit mit der Frage nach den unterricht, deshalb versuchen sowohl Jugendtheologie als heutigen Voraussetzungen für den konfessionellen Religi- auch Kompetenzorientierung von der aktuellen Lebenswelt onsunterricht eingeleitet und auf Lernchancen hingewiesen. der Jugendlichen auszugehen. Die Rollen der Lernenden Bereits hier wird deutlich, dass sich die Ziele der Jugendt- und der Lehrperson ergänzen sich in den untersuchten heologie mit den Zielen des kompetenzorientierten Religi- Ansätzen ebenfalls, da sich das aktive Lernen der SchülerIn- onsunterrichts decken: Allgemeinbildung, Teamfähigkeit, nen durch schülerzentrierte Aufgabenstellungen und fach- Glaubensreflexion und Unterstützung in schwierigen lich kompetente Lernbegleitung ertragreich überschneiden. Lebenssituationen werden vom Besuch des konfessionellen Ein übersichtlicher Leitfaden für das Theologisieren Religionsunterrichts erwartet.5 schließt das Kapitel ab. Während aber das Theologisieren und Philosophieren Darauf folgt eine genaue Analyse der Verbindung des den Fokus auf Lernprozesse legen6 und das Fragenstellen Theologisierens mit der geforderten Kompetenzorientie- und kritische Denken besonders zu fördern vermögen7, ist rung, wobei Thomas Schlag und Friedrich Schweitzer von

Maria Jedliczka: Diplomarbeit: Die Kunst des Theologisierens und Philosophierens mit Jugendlichen und der kompetenzorientierte Religionsunterricht – Widerspruch oder Ergänzung? • ÖRF 23 (2015), 161–163 161 der Kompetenzorientierung für die Jugendtheologie Sub- higkeiten in bestimmten Situationen im Blick hat, anstatt jektbezogenheit, lebensweltliche Relevanz und entwick- ihn auf Leistungslisten zu reduzieren.24 lungspsychologische Entsprechung fordern.12 Die Aneig- Die Forschungsfrage kann nach der vorgestellten nung der „religiösen Kompetenz“13 (U. Hemel), der „theolo- Recherche positiv beantwortet werden: Jugendtheologie und gischen Kompetenz“14 (M. Zimmermann) durch SchülerIn- Kompetenzorientierung sind zwei religionspädagogische nen und die Entwicklung der übergeordneten „Reflexions- Ansätze, die religiös verantwortliche Jugendliche zum Ziel kompetenz“15 (T. Schlag/F. Schweitzer), die m.E. mit der haben und eine gegenseitige Bereicherung darstellen. „Differenzkompetenz“16 (B. Dressler) Hand in Hand geht, werden vom kompetenzorientierten Religionsunterricht Anmerkungen erwartet und von der Jugendtheologie unterstützt bezie- 1 Vgl. WILKE, Annette: Säkularisierung oder Individualisierung von hungsweise gefördert. Zudem bringt die Jugendtheologie Religion, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 21/1 (2013) 29. Deutungs- und Urteilskompetenz, Kommunikations- und 2 Vgl. PORZELT, Burkard: Grundlegung religiöses Lernen. Eine proble- Partizipationskompetenz sowie die Fähigkeit theologische morientierte Einführung in die Religionspädagogik, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag 2009, 148. Erkenntnisse zu erschließen mit sich.17 Aufgrund dieser 3 Grethlein, Christian: Religionspädagogik, Berlin: de Gruyter 1998, weiteren Überschneidungen kann an dieser Stelle wieder 169. von gegenseitigen Ergänzungen gesprochen werden. Wie 4 Vgl. Zimmermann, Mirjam: Kindertheologie als theologische Kom- diese Kompetenzen erworben werden können, wird anhand petenz von Kindern. Kindertheologie im Horizont der Bildungsstan- des Modells der Kompetenzentwicklung von Oliver Reis darddebatte, in: Zimmermann, Mirjam (Hg.): Kindertheologie als aufgezeigt.18 theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Aus den gewonnenen Einsichten lässt sich folgern, dass Todes Jesu, Göttingen: Neukirchener Verlag 2010, 156. zwangsläufig eine kompetenzorientierte LehrerInnenbil- 5 Vgl. Veit-Jakobus, Dietrich (Hg.): Theologisieren mit Jugendlichen. dung angeboten werden muss, damit die Lehrpersonen den Ein Programm für die Schule und Kirche, Stuttgart: Calwer: 2012, 12. wachsenden Ansprüchen gerecht werden können. Fähigkei- 6 Vgl. Zimmermann 2010 [Anm. 4], 140. ten wie die Lebenswelt der Lernenden zu eruieren, Lernvor- 7 Vgl. Freudenberger-Lötz, Petra: Theologische Gespräche mit Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen. Ein Werkstatt- aussetzungen zu erkennen, wissenschaftliche Inhalte aufzu- buch für die Sekundarstufe, München: Kösel 2012 (= Jahrbuch der bereiten, didaktische Umsetzungen zu planen, Lernwege Religionspädagogik 27), 13. vorzubereiten, Kompetenzen von Lernenden zu beurteilen 8 Naurath, Elisabeth: Lernchancen religiöser Bildung. Ein perspektivi- und die Spannung zwischen Theorie und Praxis des Glau- sches Resümee, in: Englert, Rudolf u.a. (Hg.): Was sollen Kinder und bens auszuhalten, sind Schlüsselkompetenzen der Lehrper- Jugendliche im Religionsunterricht lernen?, Göttingen: Neukirchener son in der Kompetenzorientierung.19 Sie können für die Verlagsgesellschaft 2011, 228. 9 Vgl. Obst, Gabriele: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Jugendtheologie fruchtbar gemacht werden, da dort ähnli- Religionsunterricht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 140. che Anforderungen zu erwarten sind. Dem wird in der 10 Vgl. Veit-Jakobus, Dietrich (Hg.): Theologisieren mit Jugendlichen. Abschlussarbeit ebenfalls nachgegangen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart: Calwer 2012, 47. Weiters stellt die adäquate Leistungsbeurteilung in der 11 Vgl. Böhm, Uwe / Schnitzler, Manfred, Theologisieren mit Jugend- Jugendtheologie und in der Kompetenzorientierung im lichen im Pubertätsalter, in: Veit-Jakobus, Dietrich (Hg.), Theologi- sieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stutt- Sinne der „Kultur der Wertschätzung“20 eine große Heraus- gart: Calwer 2012, 171–190. forderung dar, wobei die Arbeit einige mögliche Arten vor- 12 Vgl. Schlag, Thomas / Schweitzer, Friedrich: Theologische Kom- stellt, die sowohl mit der Jugendtheologie als auch mit Kom- petenzen Jugendlicher, in: Ebd. (Hg.): Brauchen Jugendliche Theolo- petenzorientierung kompatibel sind. Zu beachten gilt für gie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspek- beide, dass nicht alles Erlernte im Religionsunterricht mess- tive, Göttingen: Neukirchener 2011, 145. bar ist.21 Zudem soll der individuelle Fortschritt hervorge- 13 Hemel, Ulrich: Ziele religiöser Erziehung. Beiträge zu einer integrati- ven Theorie, Frankfurt a.M.: Lang 1988 (= Regensburger Studien zur hoben werden22, und die Leistungsrückmeldung muss für Theologie 38), 674. 23 die SchülerInnen transparent sein . 14 Zimmermann 2010 [Anm. 4], 156. Letztlich wird versucht, das „Mehr“ des Religionsunter- 15 Schlag / Schweitzer 2011 [Anm. 12], 139. richts, das unter anderem aus Glaubenserkenntnis und indi- 16 Dressler, Bernhard: Religiös gebildet – kompetent religiös? Über die vidueller Entwicklung besteht, welches von der Jugendtheo- Möglichkeiten und Grenzen der Standardisierung des Religionsunter- richts, in: Sajak, Clauß Peter: Bildungsstandards für den Religionsun- logie deutlich unterstützt wird, mit der Kompetenzorientie- terricht. Perspektiven für ein neues Instrument im Religionsunter- rung zu vereinbaren. Hier muss man eingestehen, dass nicht richt, Berlin: LIT-Verlag 2007, 178. alle Fähigkeiten standardisierbar sind und ein gemeinsamer 17 Vgl. ebd. Nenner gefunden werden kann, wenn das Ziel der Kompe- 18 Vgl. Reis, Oliver: Systematische Theologie für eine kompetenzorien- tenzorientierung den Menschen mit seinen Handlungsfä- tierte Religionslehrer/innenausbildung. Ein Lehrmodell und seine

162 Österreichisches Religionspädagogisches Forum kompetenzdiagnostische Auswertung im Rahmen der Studienreform, 22 Vgl. ebd. Münster: LIT 2014, 121. 23 Vgl. Michalke-Leicht 2013 [Anm. 20], 72. 19 Vgl. Sajak, Clauß Peter: Religion unterrichten. Voraussetzungen, 24 Vgl. Reis 2014 [Anm. 18], 87. Prinzipien, Kompetenzen. Mit einem Beitrag zur kompetenzorientier- ten Unterrichtsvorbereitung von Wolfgang Michalke-Leicht, Seelze: Autorinneninformation Klett/Kallmeyer 2013, 54–135. Mag.a Maria Jedliczka 20 Michalke-Leicht, Wolfgang: Kompetenzorientiert unterrichten. Das e-mail: [email protected] Praxisbuch für den Religionsunterricht, München: Kösel ²2013, 67. 21 Vgl. Sajak 2013 [Anm. 19], 126.

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Viktoria Winkler

Trauer und perimortale Trauerbegleitung Diplomarbeit am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien die autorin Mag.a Viktoria Winkler, Lehramtsstudium in den Un- terrichtsfächern Spanisch und Katholische Religion an der Universität Wien; BHS-Lehrerin in Eisenstadt.

erlusterlebnisse können Erschütterung und Traurig- explikatorische Modelle, bei denen nach Ursachen, Erklä- keit auslösen. Vor allem der Tod eines nahestehen- rungen und dem Hintergrund, also warum es zur Trauer Vden Menschen – vermutlich der schmerzhafteste kommt, wodurch diese ausgelöst und was diese bewirkt, Verlust im Leben – wird oft von tiefer Trauer begleitet, die durchleuchtet. Genauer wird dabei auf Sigmund Freuds durchlebt und verarbeitet werden muss. Wie kann man Trauermodell und seinen herausgearbeiteten Begriff der jemandem in solch einer schwierigen Situation helfen und ‚Trauerarbeit‘ eingegangen; ebenso wird John Bowlbys Bin- was kann getan werden, um das Leid der Trauernden erträg- dungstheorie und ihr Einfluss auf die Trauer und Trauerre- licher zu machen? Diese Fragen weckten in mir großes Inte- aktionen reflektiert als auch Margaret und Wolfgang Stro- resse, weshalb ich mich zur Erarbeitung dieses Thema ent- ebes Konzept der Trauer, welches auf der kognitiven Stress- schloss. Da ich zukünftig als Lehrerin in einer Schule tätig Theorie von R. S. Lazarus und seinen MitarbeiterInnen sein werde, empfinde ich es als enorm wichtig, sich mit die- beruht, erörtert. sen Fragen auseinanderzusetzen, um im Ernstfall gewappnet Anschließend werden deskriptive Modelle, die ihren zu sein und nicht völlig hilflos dazustehen. Fokus auf die phänomenologische Erfassung von Trauerre- Meine Diplomarbeit ‚Trauer und perimortale Trauerbe- aktionen richten, thematisiert. Dabei wird auf Erich Linde- gleitung‘ geht der Frage nach, welche Erkenntnisse die der- manns Trauersymptomatologie sowie auf den Nutzen symp- zeitige Trauerforschung zur perimortalen Trauerbegleitung tomatologischer Forschung eingegangen. Danach erfolgt liefert und welche Konsequenzen sich daraus für einen eine kritische Auseinandersetzung mit den Phasen- oder Trauerfall in der Schule mit Jugendlichen ergeben. Der Verlaufsmodellen und auch die Aufgabenmodelle werden Begriff ‚perimortal‘ schließt den Zeitraum der Todesstunde unter die Lupe genommen. Außerdem wird der Frage nach- und die Stunden unmittelbar davor und danach mit ein. gegangen, wie lange Trauer dauert und wie das Verhältnis Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Zuerst erfolgt eine zwischen Trauer und Krankheit ist. Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Trauer im All- Im dritten Teil geht es um die perimortale Trauerbeglei- gemeinen. Da es speziell um Trauer anlässlich eines Todes- tung, die im Hinblick auf die Praxis untersucht wird. falls eines nahestehenden Menschen geht, wird ebenfalls Zunächst wird erläutert, welche Kompetenzen und Voraus- erörtert, was Sterben und Tod für den Menschen bedeuten. setzungen TrauerbegleiterInnen mitzubringen haben. Dann wird der Begriff der Trauer in ‚bereavement‘, ‚grief‘ Danach wird aus dem Erkenntnisgewinn des vorherigen und ‚mourning‘ ausdifferenziert, um die verschiedenen Teils ein Aufgabenmodell der perimortalen Trauerbeglei- Aspekte der Trauer hervorzuheben, bevor die Entwicklung tung von Kerstin Lammer vorgestellt und gezeigt, was Trau- von Sterben, Tod und Trauer unter den Bedingungen der erbegleiterInnen in der perimortalen Phase beachten müs- Spätmoderne wie auch deren Konsequenzen für den heuti- sen und wie sie Trauernden helfen können, ihren Trauerpro- gen Zugang zur Trauer untersucht werden. zess zu initiieren und mögliche Fehlleitungen zu verhindern. Im zweiten Teil der Arbeit werden wichtige Modelle der Auch auf den Umgang mit Schuld in der Trauer und auf die Trauerforschung und deren Erkenntnisgewinn für die peri- Richtlinien in der perimortalen Trauerbegleitung wird hin- mortale Trauerbegleitung reflektiert. Zunächst werden gewiesen. Außerdem erfolgt eine Auseinandersetzung mit

Viktoria Winkler: Diplomarbeit: Trauer und perimortale Trauerbegleitung • 165 ÖRF 23 (2015), 165–166 angemessenen Ritualen und Methoden und deren Wirksam- Bewusstsein der Menschen rufen und zu einer persönlichen keit hinsichtlich Trauer, bevor das Verhältnis zwischen Auseinandersetzung ermutigen. Insbesondere soll auf die Trauer und Glaube erörtert wird. Bedürfnisse Trauernder aufmerksam gemacht werden und Abschließend werden im letzten Teil der Arbeit die dabei vor allem auch auf die perimortale Trauerphase, die in Ergebnisse präsentiert und Konsequenzen für den schuli- der Literatur oft nur mit dem Stichwort ‚Schock‘ beschrie- schen Kontext gezogen. Es wird dabei reflektiert, wie bei ben und nicht näher erläutert wird, hingewiesen und gezeigt einem Trauerfall mit Jugendlichen in der Schule umgegan- werden, wie wichtig eine perimortale Trauerbegleitung gen werden sollte und wie diese in der perimortalen Trauer- generell als auch speziell in der Schule ist. zeit bestmöglich unterstützt werden können. Das Ziel der Arbeit ist es, anhand der Erkenntnisse der Autorinneninformation derzeitigen Trauerforschung zur perimortalen Trauerbeglei- Mag.a Viktoria Winkler tung Hilfestellungen für LehrerInnen bei einem Trauerfall in Reitschulgasse 13 der Schule mit Jugendlichen zu geben. Des Weiteren soll das A - 7041 Wulkaprodersdorf Lesen der Arbeit die Themen Sterben, Tod und Trauer ins e-mail: [email protected]

166 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Ranja Ebrahim

Rezension zu:

Ednan Aslan / Marcia Hermansen (Hg.): Islam and Citizenship Education die autorin Mag.a Ranja Ebrahim ist Universitätsassistentin am Zentrum für LehrerInnenbildung, Fachbereich Isla- mische Religionspädagogik der Universität Wien.

Ednan Aslan / Marcia Hermansen (Hg.): Islam and Citi- historischen Zusammenhängen vor dem Hintergrund viel- zenship Education, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2015 fältiger politischer und sozialer Konstellationen, die auch (= Wiener Beiträge zur Islamforschung 5). über die Thematik der MuslimInnen und islamische Bil- dung hinaus gehen und Einblicke in Fallstudien weiterer slam and Citizenship Education ist die fünfte Publika- Migrations- und Religionsgruppen in Europa ermöglichen. tion des Erfolgsformats Wiener Beiträge zur Islamfor- Exemplarisch sei an dieser Stelle Doron Kiesels Beitrag über I schung unter der redaktionellen Leitung des Universi- die neuen russisch jüdischen Einwanderer in Deutschland tätsprofessor Dr. Ednan Aslan, Vorstand der islamischen genannt. Darüber hinaus umfasst die Publikation auch theo- Religionspädagogik der Universität Wien und Leiter des In-­ retische und theologische Beiträge zum Thema, wie etwa stituts für islamische Studien, sowie unter Professorin Mar- Matthias Scharers katholische Vertiefung von ‚Citizenship‘ cia Hermansen, Leiterin des Instituts für Islamic World Stu- am Beispiel Österreichs oder Hanan Alexanders theoreti- dies, Loyola University in Chicago. scher Beitrag, der zu erhellen sucht, wie die Begegnung der Das Buch „Islam and Citizenship Education“ präsentiert vielfältigen Traditionen, Spiritualitäten, Religionen und die Ergebnisse der gleichnamigen Konferenz, die organisiert Moralen mit Säkularität zum politischen und gesellschaftli- von den Universitäten Tirana und Wien in Albaniens chen Balanceakt wird. Hauptstadt, Tirana, im Jahr 2013 stattfand und namhaften Das Buch ist zur einfachen Zurechtfindung grob in zwei WissenschaftlerInnen aus über zwanzig Nationen Europas, Sektionen organisiert. Der erste und größere Teil des Buches Nordamerikas und des Nahen Ostens die Gelegenheit bot, widmet sich in erster Linie dem Islam, den MuslimInnen ihre Zugänge zum Thema zu präsentierten. und Citizenship Education und ist der inhaltlichen Orien- Der thematische Radius der Publikation umfasst das tierung der Fallstudien entsprechend in vier geografischen interessante Spannungsfeld bestehend aus Religion und Citi- Regionen unterteilt: 1. Westeuropa, 2. Balkan und Naher zenship, das in die unterschiedlichsten kulturellen und reli- Osten, 3. Osteuropa und Russland und 4. Nordamerika. Der giösen Kontexte eingebettet ist. Die kritisch konstruktiven zweite Teil des Buches umfasst jene Beiträge, welche sich Elaborationen beleuchten nicht nur potentielle Konflikte, dem Thema vornehmlich theoretisch oder theologisch die aus dem Aufeinandertreffen von muslimisch-religiösen annähern. Identitäten mit westlichen Gesellschaften erwachsen kön- Diese Ausgabe der Buchreihe Wiener Beiträge zur nen, sondern untersuchen zudem, inwieweit Religionen im Islamforschung stellt somit auch heuer wieder eine anre- Allgemeinen und der Islam im Besonderen das Potential gende Zusammenstellung von internationalen Beiträgen haben, zur Förderung von Citizenship Education, verstan- sowohl für die allgemein interessierte als auch akademische den als konstruktive Partizipationsfähigkeit im Sinne eines Leserschaft bereit, ohne dabei auf Wissenschaftlichkeit und besseren Miteinanders innerhalb pluraler Gesellschaften in Aktualität zu verzichten. Europa, beizutragen. Durch die große interdisziplinäre Spannbreite der ein- Die Beiträge bieten wertvolle und wissenschaftlich fun- zelnen AutorInnen gewinnt der Band tiefgreifende Dimensi- dierte Analysen zu zeitgenössischen Situationen und deren onen, welche die Haltungen und Entwicklungen muslimi-

Ranja Ebrahim: Rezension zu: Ednan Aslan / Marcia Hermansen (Hg.): Islam and Citizenship Education • ÖRF 23 (2015), 167–168 167 scher Communities in Europa im Umgang mit ihren neuen Autorinneninformation:

Identitäten im Angesicht des Anderen aus den unterschied- Mag.a Ranja Ebrahim lichen Forschungsfeldern reflektieren. Somit liefert das Buch Universität Wien nicht nur ein Update zu den einzelnen Entwicklungen der Islamic religious education Muslimischen Communities in den unterschiedlichen euro- Porzellangasse 4 päischen Ländern, sondern gewährt darüber hinaus einen A-1090 Vienna e-mail: [email protected] Einblick in wissenschaftliche Diskurse zum Thema aus päd- GND: (DE-588)1076873162 agogischer, politikwissenschaftlicher, philosophischer, theo- logischer, soziologischer etc. Perspektive.

168 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Silvia Arzt

Rezension zu:

Carla Amina Baghajati: Muslimin sein. 25 Fragen – 25 Orientierungen die autorin Dr.in Silvia Arzt, Ass.Prof.in für Religionspädagogik am Fachbereich Praktische Theologie der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Salzburg. Arbeits- und For- schungsschwerpunkte: Fachdidaktik Religion, Inter- religiöses Lernen, Familie und Religion, Theologische Frauen- und Geschlechterforschung.

Carla Amina Baghajati: Muslimin sein. 25 Fragen – 25 Ori- mich Gott weiter nahe fühlen, auch wenn ich während der entierungen, Innsbruck / Wien: Tyrolia Verlag 2015. Periode nicht bete und faste? Gibt es eine Kopftuchpflicht – ISBN 978-3-7022-3429-4 auch beim Schlafen? (2) Rollenbilder: Bin ich als gute Muslimin vor allem arla Amina Baghajati ist Medienreferentin und Frau- auf die Rolle als Hausfrau und Mutter festgelegt? Müssen enbeauftragte der Islamischen Glaubensgemein- Musliminnen die Männer ihrer Familie bedienen? Gilt die C schaft Österreich und hat die Initiative muslimischer Zeugenaussage einer Frau wirklich nur halb so viel wie die Österreicherinnen und Österreicher mitbegründet (s. www. Aussage ihres Mannes? Kann eine Frau nach islamischer islaminitiative.at/). Sie ist Religionslehrerin und Fachinspek- Vorstellung eine Führungsrolle einnehmen – auch im Staat? torin in Wien und seit Jahren im interreligiösen und inter- (3) Zusammenleben: Wie können Musliminnen islami- kulturellen Dialog tätig. sche Argumente in Richtung Frauenmitsprache nutzen? Ihrem Buch stellt sie die Sure 5:48 voran, die Lessing zu Dürfen muslimische Frauen arbeiten gehen? Was soll ich seiner Ringparabel inspirierte: „Für jeden von euch haben machen, wenn ich Kopftuch tragen möchte, aber das wegen wir ein Gesetz und einen Lebensweg aufgezeigt. Und wenn meiner Arbeit nicht geht? Sind Sportunterricht oder Klas- Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer Gemeinschaft senfahrten für muslimische Mädchen ein Problem? Wie soll gemacht. Doch Er wollte euch prüfen in dem, was Er euch ich reagieren, wenn mir ein fremder Mann die Hand schüt- gegeben hat. Darum wetteifert miteinander in guten Wer- teln möchte? Kann ich als Frau an einer Beerdigung teilneh- ken. Zu Allah werdet ihr alle zurückkehren. Damit wird er men? Was hat es mit dem Gesichtsschleier auf sich? euch Kunde geben davon, worüber ihr zu streiten pflegtet.“ (4) Ehe und Familie: Gilt ein Bub mehr als ein Mäd- (S. 5) chen? Darf ein Muslim mit bis zu vier Frauen gleichzeitig Wenn es ein Thema gibt, das sich in beinahe jeder verheiratet sein? Worauf ist beim Abschluss des islamischen Unterrichtsreihe über den Islam im katholischen Religions- Ehevertrags zu achten? Ist Sex nur zum Kinderkriegen da? unterricht findet, dann ist das neben „Die fünf Säulen des Sind Verhütungsmittel erlaubt? Ist ein Schwangerschaftsab- Islam“ die „Kopftuchfrage“ – bzw. „Die Stellung der Frau im bruch haram, also islamisch verboten? Haben muslimische Islam“. Je nach Umsetzung wird mehr oder weniger dazu Männer eine Art „Züchtigungsrecht“ über die Frau? beigetragen, dass SchülerInnen Toleranz und vor allem (5) Im Namen der Ehre: Mit welchen Argumenten lässt Wertschätzung von MuslimInnen einüben können. Musli- sich eine Zwangsehe beziehungsweise Kinderhochzeit ver- mische Binnenperspektiven, die fundiert und differenziert hindern? Was tun gegen Verbrechen im Namen der Ehre? Auskunft geben, sind hier gefragt und notwendig. Wie lässt sich FGM bekämpfen? Zu fünf großen Themenbereichen bündelt Baghajati 25 In ihrer Argumentation stützt sich Baghajati auf den Fragen: Koran als erste Referenz und bezieht immer auch die Sunna (1) Gottesdienst: Wie stehen Mann und Frau in ihrem und den Hadith mit ein, die Hinweise auf die religiöse Pra- Menschsein zueinander? Gibt es Unterschiede in der religiö- xis und konkrete Umsetzung geben. In ihrem Text bezieht sen Praxis zwischen Männern und Frauen? Wie kann ich sie sich häufig auch auf den in Österreich-Ungarn (Lem-

Silvia Arzt: Rezension zu: Carla Amina Baghajati. Muslimin sein. 25 Fragen – 25 Orientierungen • ÖRF 23 (2015), 169–170 169 berg) geborenen, liberalen islamischen Gelehrten Muham- auch Frauen sollten als Theologinnen arbeiten können und mad Assad (1900-1992), der eine englischsprachige Koran- in muslimischen Organisationen gleichberechtigt mitwirken übertragung mit umfangreichem Kommentar verfasst hat, können. die seit 2009 auch in deutscher Übersetzung zugänglich ist. Traditionellen ‚Handbüchern für die muslimische Frau‘, Ihre Grundanliegen fasst sie am Ende ihres Buches in die vor allem detaillierte Handlungsanweisungen geben, einer ‚Checkliste‘ zusammen, die Wege zu mehr Geschlech- steht die Autorin skeptisch gegenüber, denn: „Die Spirituali- tergerechtigkeit in der islamischen Glaubensgemeinschaft tät des Islams bleibt dabei ebenso zurück wie ein ganzheitli- beschreibt: Biologische Unterschiede zwischen Frau und ches Verständnis der Religion für mündige und selbständig Mann sollten nicht geleugnet, zugleich aber Geschlechter­ denkende Menschen gleich welchem Geschlecht.“ (199) In stereotype vermieden werden und ein kritischer Blick sei ihrem „Handbuch“ gibt Baghati keine Antworten, sondern notwendig auf islamische Gesellschaftsmodelle, die einen „Orientierungen“, denn: jede und jeder muss und darf in der ‚reinen Islam‘ herstellen wollen und in einem antiwestlichen Auseinandersetzung mit den religiösen Grundlagentexen Reflex klare Geschlechterrollen zuweisen. Das Selbstbestim- die Antwort in je spezifischen (Lebens-)Kontexten selbst mungsrecht von Mädchen und Frauen soll respektiert wer- finden. den: weder für Männer noch für Frauen gebe es einen fest- Dieses „neue Handbuch für muslimische Frauen“ ist gut gelegten Lebensentwurf und in der Spannung zwischen lesbar und verständlich geschrieben und eignet sich auch für Schutz und Bevormundung sollten Frauen und Mädchen den Einsatz im Religionsunterricht und anderen Orten reli- Auslegungen, die ihren Aktionsradius einschränken, auf giöser Bildung. Ein umfangreiches Glossar (S. 207–218) ihre Berechtigung ‚abklopfen‘: „Der Koran will gelesen wer- erklärt wichtige Begriffe und Personen und das Sachregister den, wobei nachdenken ausdrücklich erlaubt ist.“ (197) (S. 219–223) erleichtert das rasche Nachschlagen spezifi- Auch die ‚Laien‘ sollten den Koran lesen (können) und sich scher Themen. nicht nur auf die Auslegungen anderer verlassen müssen, und brauchen dazu ein Wissen grundlegender Methoden Autorinneninformation eines erweiterten Koranverständnisses durch religiöse Bil- Dr.in Silvia Arzt dung, die auch den „Missbrauch von Hadithmaterial“ auf- Kath.-Theol. Fakultät der Universität Salzburg zeigt, wenn extremistische Positionen dieses willkürlich Universitätsplatz 1 interpretieren und selektiv auswählen. Weitere Forschung A-5020 Salzburg e-mail: [email protected] sei auch nötig, die die großen Diskrepanzen zwischen Aus- GND: (DE-588)124856977 sagen in den Hadithen und im Koran bearbeitet – vor allem

170 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Christian Feichtinger

Rezension zu: Susanne Heine / Rüdiger Lohlker / Richard Potz: Muslime in Österreich. Geschichte, Lebenswelt, Religion. Grundlagen für den Dialog der autor DDr. Christian Feichtinger ist Univ.-Ass. am Insti- tut für Katechetik und Religionspädagogik an der Karl-Franzens-Universität Graz und Religi- onslehrer am BG/BRG Bruck a. d. Mur.

Susanne Heine / Rüdiger Lohlker / Richard Potz: wendung analysieren. Davon ausgehend folgt eine histori- Muslime in Österreich. Geschichte, Lebenswelt, Religion. sche Darstellung des Islams in Österreich und ein Portrait Grundlagen für den Dialog, Innsbruck / Wien: Tyrolia 2012. der IGGiÖ, wobei auch den Auseinandersetzungen um ISBN 978-3-7022-3025-8. deren Kompetenzen oder die Formen der Mitgliedschaft Rechnung getragen wird. Gemäß dem Anspruch, von ‚Mus- ie Diskussionen um ‚den Islam‘ sind in Österreich limInnen‘ und nicht von ‚dem‘ Islam auszugehen, werden mittlerweile zu einem fixen Bestandteil politischer, danach Vielfalt, unterschiedliche Strömungen und Vereine D medialer, religiöser und auch (religions-)pädagogi- der MuslimInnen in Österreich vorgestellt. scher Diskurse geworden. Umso wichtiger ist die Aufgabe, Danach widmet sich das Buch ausführlich den gesell- diese Debatten auf die Basis seriöser Informationen und schaftlichen Fragen, die wohl den Hauptstoff vieler Diskus- gewissenhaft erarbeiteter Daten zu stellen. Das von der sionen um den Islam in Österreich darstellen: Demokratie- evangelischen Theologin Susanne Heine, dem Islamwissen- verständnis, Bildung, Ehe und Familie, Speise- und Klei- schaftler Rüdiger Lohlker und dem Rechtswissenschaftler dungsvorschriften. Hier bietet das Buch wichtige Erstinfor- Richard Potz bereits im Jahr 2012 publizierte Werk ‚Mus- mationen und Orientierungen sowie Zahlenmaterial, die lime in Österreich‘ löst diesen Anspruch schon im Titel ein: eine Einschätzung der Lebenswelt der MuslimInnen in Entgegen einer essentialistisch-monolithischen Bestimmung Österreich erlauben. Bemerkenswert ist hier, dass sich die ‚des Islams‘ wird hier von MuslimInnen als konkreten Gläu- AutorInnen in aufklärerischer Absicht auch öffentlich bigen in ihrer Vielschichtigkeit gesprochen. Das Erschei- besonders heiklen Themen wie ‚Ehrenmorden‘, ‚Zwangshei- nungsjahr ist dabei kein zufälliges: Am 15. Juli 2012 jährte raten‘ oder ‚weibliche Genitalverstümmelung‘ widmen und sich die Anerkennung des Islams als Religionsgemeinschaft diese sachlich und gestützt durch Statistiken aufarbeiten. in Österreich zum hundertsten Mal, es ist also daran zu Gerade durch diese Herangehensweise tritt man einer politi- erinnern, dass Muslime in Österreich jenseits der bekannten schen Instrumentalisierung solcher Phänomene entgegen, Gastarbeiter- und Migrationsnarrative Teil der österreichi- ohne deswegen deren tatsächliches Vorkommen zu negieren schen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts sind. oder zu relativieren. Dabei wird auch auf die Differenzie- Heine, Lohlker und Potz sind dabei um große Sachlich- rung von religiösen und sozio-kulturellen Einflüssen großer keit bemüht und thematisieren die politische Instrumentali- Wert gelegt: Einstellungen und Traditionen werden nicht sierung durch die FPÖ ebenso wie die in vielen Diskursen einfach an der Religion festgemacht, sondern sind auch im als kritisch angesehenen Fragen von Bevölkerungsentwick- Hinblick auf Bildungsgrad, kulturellen Hintergrund, Migra- lung, Geschlechterrollen oder Radikalisierung. Konflikte tionssituation, Alter u.v.m. zu unterscheiden und zu verglei- werden dargestellt und Positionen diskutiert. Exemplarisch chen. dafür ist der Beginn des Buches, in dem sich die AutorInnen Eine Darstellung des Islams als religiöser Tradition mit zwei konträren Schlüsselbegriffen der Kontroversen – ‚Par- seiner Geschichte, seinen Lehren und in seinem Verhältnis allelgesellschaft‘ einerseits und ‚Islamophobie‘ andererseits zum Christentum und anderen Religionen rundet das Werk – nähern und deren Hintergründe, Bezugspunkte und Ver- ab. Damit entspricht der Aufbau des Buches dem im Titel

Christian Feichtinger: Rezension zu: Susanne Heine / Rüdiger Lohlker / Richard Potz: Muslime in Österreich. Geschichte, Lebenswelt, Religion. Grundlagen für den Dialog • ÖRF 23 (2015), 171–172 171 genannten Schema von ‚Geschichte‘, ‚Lebenswelt‘ und ‚Reli- sche Bemühungen um mehr Kooperation und Austausch gion‘. Dass diese Gesamtdarstellung zum Schluss in eine zur Verfügung, und auch die Situation und Entwicklung des Reflexion zum Thema ‚Dialog‘ mündet, unterstreicht die islamischen Religionsunterrichts sowie von islamischen Pri- Absicht des Buches, eine sachliche Grundlage für ein offenes vat- und Hochschulen bzw. Instituten werden auf zehn Sei- Zugehen auf MitbürgerInnen muslimischen Glaubens zu ten skizziert. sein. Im Anhang findet sich neben den Literaturangaben In dem Maße, in dem die österreichische Schülerschaft auch eine Liste mit nützlichen Links zu offiziellen Websites konfessionell und religiös differenzierter wird (inkl. vieler von Organisationen und im Internet verfügbaren Artikeln. SchülerInnen ohne Bekenntnis), wird die Legitimität des Es liegt auf der Hand, dass eine so umfassende Darstel- Religionsunterrichts wesentlich von einem professionellen lung so vieler Themenbereiche nicht gänzlich durch eigens Austausch und einer angemessenen Kooperation zwischen durchgeführte oder schon vorhandene Studien abgedeckt den christlichen Konfessionen (hier ist auf den Bund der werden kann. In einigen Bereichen sind die AutorInnen auf Freikirchen hinzuweisen, der sich gerade sehr um eine Etab- (dann auch klar so bezeichnete) Schätzungen angewiesen lierung seines Religionsunterrichts bemüht) einerseits und oder es liegen nur Studien aus Deutschland vor, deren anderen Religionen, besonders des Islams, andererseits Ergebnisse auf die Situation in Österreich übertragen wer- abhängen. Ebenso notwendig sind auch eine gute didakti- den müssen. Dies macht freilich zugleich Desiderate für sche Ausrichtung des Unterrichts und ein entsprechender zukünftige sozial- und religionswissenschaftliche For- wissenschaftlicher Austausch auf dieser Ebene. Bücher wie schungsarbeiten in Österreich sichtbar. ‚Muslime in Österreich‘ können dank ihrer sachlichen und Aus spezifisch religionspädagogischer Sicht ist das Buch informativen Struktur dazu beitragen, dass ein solches Auf- zunächst eine wichtige Grundinformation für den Religi- einander-Zugehen, ohne das spezifisch Eigene aufgeben zu onsunterricht und die Aus- und Weiterbildung von Religi- müssen, gelingen kann. onspädagogInnen, damit nicht nur von ‚dem Islam‘ als reli- giöser Tradition, sondern von MuslimInnen als Teil der Autoreninformation österreichischen Gesellschaft gesprochen werden kann. So DDr. Christian Feichtinger ist es möglich, medial und sozial vermittelte Bilder, Stereo- Universität Graz type, Anfragen und Kritikpunkte, die SchülerInnen im Institut für Katechetik und Religionspädagogik Unterricht äußern, adäquat anzusprechen und, wo notwen- Heinrichstraße 78B/II A-8010 Graz dig, zu kritisieren oder zu korrigieren. Darüber hinaus stel- e-mail: [email protected] len die AutorInnen eine Grundlage für religionspädagogi- GND: (DE-588)133517969

172 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Wolfgang Weirer

Rezension zu: Andrea Lehner-Hartmann: Religiöses Lernen. Subjektive Theorien von ReligionslehrerInnen der autor Wolfgang Weirer, Dr., A.o. Univ.-Prof. für Religionspädagogik und Vizedekan an der Katholisch-Theologischen Universität Graz.

Andrea Lehner-Hartmann: Religiöses Lernen. Subjektive Bildungsprozesse bei den LehrerInnen anstoßen?“ sowie Theorien von ReligionslehrerInnen, Stuttgart: Kohlhammer „Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für den religionspä- 2014 (= Praktische Theologie heute 133). dagogischen Diskurs und zukünftige Konzepte zur Religi- ISBN 978-3-17-023399-7. onslehrerInnenbildung ableiten?“ (11f) Die Arbeit gliedert sich übersichtlich in zwei große eligiöses Lernen‘ ist wohl einer der meist gebrauch- Teile: Im ersten Abschnitt werden die Bedingungen religiö- ten und zugleich schillerndsten Begriffe, die von sen Lernens im Kontext Schule dargestellt, wobei die Auto- RReligionspädagogInnen verwendet werden. Eine rin vor allem die Beziehungsfelder Lernen – Bildung sowie exakte Definition oder auch nur eine einigermaßen fun- Religion – Bildung beleuchtet und auf dieser Grundlage ver- dierte Abgrenzung, was denn genau unter ‚religiösem Ler- schiedene Dimensionen ‚religiösen Lernens‘ herausschält. nen‘ zu verstehen ist, ist nicht einfach zu finden. In der Regel Dabei nimmt sie Argumentationsstränge aus verschiedenen wird implizit vorausgesetzt, dass klar ist, was mit dieser Bezugswissenschaften und religionspädagogischen Diskur- Begrifflichkeit gemeint ist. sen auf. Der zweite Abschnitt widmet sich nach einer einge- Andrea Lehner-Hartmann stellt sich in ihrer Habilitati- henden Darstellung des Konzeptes bzw. ‚Forschungspro- onsschrift nicht nur dieser offenen Frage des ‚religiösen Ler- grammes Subjektiver Theorien‘ den Ergebnissen aus der nens‘, sondern zeigt an der konkreten Praxis von Betreu- empirischen Studie, die Andrea Lehner-Hartmann in Form ungslehrerInnen im Schulpraktikum auf, wie sehr ‚subjek- von ‚diskursiven Interviews‘ (Christel Hopf) und Gruppen- tive Theorien‘ auch ein implizites Verständnis von ‚religiö- diskussionen mit BetreuungslehrerInnen angelegt hat. sem Lernen‘ prägen und damit auch wieder unmittelbar Gleich einleitend nimmt die Autorin Begriffsbestim- Praxis generieren. Die Problematik eines bedeutungsoffenen mungen von ‚religiöser Bildung‘ und ‚religiösem Lernen‘ vor Begriffes von ‚religiösem Lernen‘ thematisiert die Autorin (15–26), die Entscheidung, ‚religiöses Lernen‘ in den Blick gleich von vorneherein: „Wenngleich der alltagssprachliche der Arbeit zu nehmen, wird in einem späteren Abschnitt Umgang mit Lernen und dem Reden über Lernen sugge- detaillierter und nachvollziehbar begründet: „Das Begriffs- riert, dass wir es hier mit einem konsensualen Verständnis konstrukt ‚religiöses Lernen‘, welches im Unterschied zu zu tun haben, erhält der Begriff doch wesentlich seine unter- religiöser Bildung in der Alltagskommunikation von Religi- schiedlichen Prägungen von seinem Kontext her, ob er nun onslehrerInnen zwar wenig gebräuchlich ist, wird deswegen im Bereich der Psychologie, Pädagogik, Theologie oder Bio- eingeführt, weil es den schulischen Kontext sowohl anklin- logie ausgebildet wird. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den gen lässt als auch transzendiert. ‚Religiöses Lernen‘ kann im unterschiedlichen Welt- und Menschenbildern.“ (10) Unterschied zu Lernen in Religion […] anzeigen, dass es Lehner-Hartmann verfolgt in ihrer Arbeit drei aufein- nicht nur um bestimmte Inhalte, sondern um eine Denk- ander aufbauende Forschungsfragen, und zwar: „Welche und Handlungsweise in der Perspektive eines bestimmten subjektiven Theorien legen die befragten ReligionslehrerIn- Weltzugangs geht, welche auch spezielle Weisen des Verste- nen ihrem religionsunterrichtlichen Handeln zugrunde?“; hens und Denkens umfasst.“ (168) „Lassen sich durch das Erheben von subjektiven Theorien

Wolfgang Weirer: Rezension zu: Andrea Lehner-Hartmann: Religiöses Lernen. Subjektive Theorien von ReligionslehrerInnen • ÖRF 23 (2015), 173–175 173 Einen zentralen Teil der Arbeit stellt die umfangreiche pondiert, dass die Themen ‚Subjekt-‘ bzw. ‚SchülerInnenori- und multiperspektivische Auseinandersetzung mit ‚religiö- entierung‘ für die befragten ReligionslehrerInnen eine zent- sem Lernen‘ dar: Die Autorin unterscheidet u.a. bildungs- rale Rolle spielen, dass ‚religiöses Lernen‘ viel mit ‚Bezie- theoretische, bildungspolitische, soziale, politische, hungslernen‘ zu tun hat und dass sie versuchen, diese Lern- zeit-räumliche, aber auch „experimentelle“ Dimensionen, prozesse „auf Augenhöhe“ (295) zu gestalten. und legt damit ein Fundament in der Auseinandersetzung Erstaunlich ist ein auffälliger Unterschied zwischen wis- mit dem schillernden Begriff von ‚religiösem Lernen‘, auf senschaftlicher Theoriebildung und subjektiver Theorie in das sich aufbauende religionspädagogische Studien beziehen Bezug auf das Thema ‚religiöse Pluralität‘. Die Autorin stellt werden können (51–132). selbst fest: „Ein bewusstes Wahrnehmen religiöser Vielfalt, Nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem wie sie den Großteil Wiener Schulen charakterisiert, Hin- „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ (Groeben / weise auf eine Zusammenarbeit oder Absprache mit Kolle- Scheele), das einen Wendepunkt im Wissenschaftsverständ- gInnen anderer Religionen finden sich in den subjektiven nis, vor allem in Bezug auf qualitative Forschung, darstellt Theorien nicht […].“ (293) Das bedeutet: „Religiöse Plurali- und sich bewusst von einem ‚objektiven‘ Wissenschaftsver- tät ist aller Wahrscheinlichkeit nach in anderen Fächern ständnis abhebt, fokussiert die Autorin auf die subjektiven deutlich präsenter als in Religion. […] So paradox dies klin- Theorien von ReligionslehrerInnen. Besonders in den Blick gen mag, religiöse Vielfalt wird im konfessionellen Religi- nimmt sie dabei die subjektiven Theorien von Betreuungs- onsunterricht nur sichtbar, wenn sie bewusst hereingeholt lehrerInnen im Schulpraktikum in Bezug auf ihr Verständ- wird.“ (293) nis von ‚religiösem Lernen‘, vor allem auch in Relation zu Die Bedeutung der Lehrperson spielt in den subjektiven einem elaborierten wissenschaftlichen Verständnis davon: Theorien zum ‚religiösen Lernen‘ erwartungsgemäß eine „Das Untersuchungsinteresse liegt in der Erkenntnis, welche wichtige Rolle, wobei diese unterschiedlich gedeutet wird. konzeptuellen Vorstellungen die befragten Religionslehre- Die Autorin bezeichnet die zu beobachtende Spannung als rInnen zu religiösem Lernen haben und welche für sie in die zwischen ‚Vor-Leben‘ oder ‚Mit-Gehen‘ (296). In etwa Schule und Religionsunterricht handlungsleitend sind.“ diese beiden Pole kennzeichnen auch eine Debatte, die in (168) den letzten Jahren unter dem Stichwort ‚ReligionslehrerIn- Methodisch setzt die Studie dabei auf Leitfadeninter- nen als GlaubenszeugInnen oder als ExpertInnen für Reli- views (‚diskursive Interviews‘, s.o.). Insgesamt wurden 6 gion‘ geführt wird. Bei den befragten BetreuungslehrerInnen BetreuungslehrerInnen, sowohl aus dem AHS- als auch dem in Religion finden sich Hinweise in genau dieser Spann- BHS-Bereich befragt, 3 Frauen und 3 Männer, sämtliche aus weite. dem Großraum Wien. Alle weisen eine mehrjährige Unter- Gegenstand der Reflexion im Rahmen der subjektiven richtspraxis auf. Im Anschluss an die Interviewphase wur- Theorien ist auch der Religionsunterricht als Ort religiösen den die 6 LehrerInnen zu einer gemeinsamen Gruppendis- Lernens. Zum einen wird deutlich, dass religiöses Lernen kussion eingeladen, im Rahmen derer sie mit einer verfrem- nicht nur im Religionsunterricht stattfindet, aber dort auch deten Perspektive konfrontiert wurden und somit auch ermöglicht werden kann. Zum anderen wird die Eigenart einen neuen Blick auf ihre bisherigen subjektiven Überzeu- des konfessionellen Religionsunterrichtes als ein besonderes gungen gewinnen konnten. Unterrichtsfach, das sich dennoch in den schulischen Kanon Auf die in der Studie detailliert vorgestellten Einzeler- einfügen muss, deutlich. gebnisse aus den Interviews und den Gruppendiskussionen Ziel der Studie war auch, bei den beteiligten Religions- kann im Rahmen einer Rezension nicht eingegangen wer- lehrerInnen durch die Auseinandersetzung mit ihren eige- den. In Bezug auf das Gesamtthema der Studie erscheinen nen und zugleich mit anderen subjektiven Theorien Bil- mir folgende Aspekte besonders relevant zu sein: dungsprozesse auszulösen. Die Frage, ob dieses Ziel durch Die befragten ReligionslehrerInnen ordnen ‚religiöses die Studie auch eingelöst wurde, konnte von der Autorin Lernen‘ primär dem Erwerb von Orientierungswissen zu. nicht eindeutig beantwortet werden, dennoch: „Es gibt aber Der Umgang mit Verfügungswissen spielt zwar auch eine einzelne Indizien, die darauf hinweisen, dass Transformati- wichtige Rolle, hat aber gegenüber der stärker existentiellen onsprozesse in Gang gesetzt werden konnten, indem sich Ausprägung von Orientierungswissen eher eine Dienstfunk- den ForschungspartnerInnen neue Perspektiven auf ihr tion. Dieses Ergebnis steht in einer Linie mit einer ganzen Selbstverständnis, auf ihre SchülerInnen und auf ihre Sicht- Reihe von anderen Studien zum Religionsunterricht. Das weise vom Gegenstand Religion und dem, was religiöses Lernen und die Person der betroffenen SchülerInnen stehen Lernen sein könnte, eröffneten.“ (287) im Mittelpunkt dessen, was die LehrerInnen unter ‚religiö- Die Arbeit von Andrea Lehner-Hartmann ist in mehre- sem Lernen‘ subsumieren. Mit dieser Beobachtung korres- rer Hinsicht für die Religionspädagogik bedeutsam: Zum

174 Österreichisches Religionspädagogisches Forum einen eröffnet sie viele Einblicke in ein bislang noch kaum ckeln wären. Auch aus dieser Perspektive birgt die Studie erforschtes Feld, nämlich die Theorien von Religionslehrer- eine Fülle von inspirierenden Anregungen zur Weiterarbeit Innen in Bezug auf ihre eigene Domäne. Diese Ergebnisse der Religionspädagogik. ergeben wichtige Bausteine für das Berufsbild und Profil von ReligionslehrerInnen in der österreichischen Schulwirk- Autoreninformation lichkeit, über die wir gegenwärtig noch wenige fundierte A.o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Weirer empirische Daten haben. Zugleich macht die Autorin in Universität Graz wiederkehrenden Abschnitten der Metareflexion deutlich, Institut für Katechetik und Religionspädagogik welche Chancen und zugleich welche Grenzen empirisches Heinrichstraße 78B A-8010 Graz Forschen mit (Religions-)Lehrkräften mit sich bringt, an e-mail: [email protected] welchen Stellen noch weitergeforscht werden müsste, und GND: (DE-588)129028924 wie künftige Szenarien der Unterrichtsforschung zu entwi-

ÖRF 23 (2015) • 173–175 175

Dominik Helbling

Rezension zu: Philipp Klutz: Religionsunterricht vor den Herausforderungen religiöser Plu- ralität. Eine qualitativ-empirische Studie in Wien der autor Dr. Dominik Helbling, Fachleiter und Do- zent Fachwissenschaft und Fachdidaktik Ethik und Religionen, Pädagogische Hoch- schule Luzern (Schweiz).

Philipp Klutz: Religionsunterricht vor den Herausforderun- Umgang mit religiöser Differenz mit einzubeziehen. Die gen religiöser Pluralität. Eine qualitativ-empirische Studie geraffte und dennoch präzise Darstellung des Ist-Zustandes in Wien, Münster / New York: Waxmann 2015 (= Religious in Österreich in europäischer Perspektive mit seinen rechtli- Diversity and Education in Europe 28). chen, bildungstheoretischen und empirischen Implikationen ist insbesondere für weniger österreichkundige lesenswert. lickt man auf eine religionspädagogische Europa- Dabei wird allerdings deutlich, dass die Studie nicht offen karte, so stechen einem die Vielfalt der religionsun- nach möglichen Modellen fragt, sondern das bereits B terrichtlichen Modelle und die virulente Diskussion erwähnte Modell im Blick hat, ohne dass diese Vorentschei- darüber seit Beginn der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts ins dung näher begründet oder die Fragestellungen erläutert Auge. Diese fand in Österreich insbesondere Beachtung werden. durch ein Positionspapier1 des Österreichischen Religions- Der methodologische Hintergrund sowie das for- pädagogischen Forums, das sich für die Entwicklung kon- schungspraktische Vorgehen werden im zweiten Kapitel aus- textsensibler Modelle des Religionsunterrichts ausspricht, gefaltet und begründet. Die Gruppendiskussionen mit Real- um auf die Anforderungen der religiösen Pluralisierung zu gruppen wurden in einem Oberstufenrealgymnasium sowie antworten, welche die konfessionelle Organisationsform des in einer Handelsschule/Handelsakademie mit den Religions- Religionsunterrichts an seine Grenzen bringt. In diesem lehrpersonen einerseits, mit dem jeweiligen Schulgemein- Kontext rekonstruiert die Dissertation von Philipp Klutz schaftsausschuss andererseits geführt, wobei die Studie das anhand von vier Gesprächen an zwei höheren Schulen in Prinzip der Nicht-Beteiligung am Gespräch verfolgt (in der Stadt Wien schulinterne Diskurse zu Religion und religi- einem Fall wurde das Gespräch durch eine andere Person öser Pluralität an der jeweiligen Schule, zur aktuellen kon- geführt). Die vier Gespräche wurden entlang der dokumen- fessionellen Form des Religionsunterrichts und zur Akzep- tarischen Methode in vier Schritten ausgewertet und in den tanz eines von Martin Jäggle2 eingebrachten ‚Religionsun- anschließenden Kapiteln 3 und 4 als Diskursbeschreibung terrichts für alle’ in gemeinsamer Verantwortung der Kir- zugänglich gemacht. Daraus werden zahlreiche Schlüssel- chen und Religionsgemeinschaften mit dem Zweck, die passagen umfassend und mit großer Sensibilität für das gewonnenen Erkenntnisse für die allfällige Implementie- Kommunikationsgeschehen rekonstruiert, wobei viel Text rung solcher kontextsensibler Religionsunterrichtsmodelle für die Paraphrase aufgewendet wird. zu nutzen. Zum Schluss werden die empirischen Befunde gebün- Im ersten der insgesamt fünf Kapitel wird der kontextu- delt und in den Kontext anderer empirischer Studien elle Bogen aufgespannt, in dem die Untersuchung verortet gestellt, daraus Plädoyers mit weiterführenden Fragen for- ist: Steigende Abmeldezahlen, die Verdrängung des Unter- muliert, die für die Entwicklung situationsangepasster richts an Randzeiten und außerhalb der Schule sowie der Modelle des Religionsunterrichts planerisch hilfreich sein umstrittene Status des Faches lassen es notwendig erschei- könnten, insbesondere um die Abstützung an der unter- nen, über die künftige Legitimation und Organisationsform richtlichen Basis zu erhöhen. Klutz konstatiert, dass es kaum des Religionsunterrichts nachzudenken und dabei den Strategien im Umgang mit der zunehmenden religiösen Plu-

Dominik Helbling: Rezension zu: Philipp Klutz: Religionsunterricht vor den Herausforderungen religiöser Pluralität. Eine qualitativ-empirische Studie in Wien • ÖRF 23 (2015), 177–178 177 ralisierung an den Schulen gebe, was ihn erstens schließen unterrichts das Image eines verlängerten Arms der Kirche lässt, man müsse das Thema stärker auf die Agenda von hat und gleichzeitig die konfessionsgetrennte Form des Reli- Schulentwicklung und der Lehrpersonenbildung bringen. gionsunterrichts die stärkste Akzeptanz bei Lehrpersonen Der Religionsunterricht als Fach könne dabei die Rolle eines aufweist, jene zu einem ‚Religionsunterricht für alle’ hinge- Katalysators einnehmen. Angesichts der umstrittenen Stel- gen disparat ausfällt, spräche für dieses Vorgehen und es lung, der fragilen Strukturen, der Gefahr kirchlicher Verein- wäre interessant, mehr über die Gründe dafür zu erfahren. nahmung und der mangelnden Sozialisation der Lernenden Ein solches Vorgehen wäre auch deshalb angezeigt, weil die soll der Religionsunterricht zweitens strukturell gestärkt immer wieder zitierte Grimmit’sche Unterscheidung von werden durch die Einführung des Ethikunterrichts als Alter- ‚learning in, about, from Religion’ (23) zunehmend holz- nativfach, stärkere Kooperation der Lehrkräfte und inhaltli- schnittartig wirkt und die Interpretation von Religionskunde che Profilierung. Drittens empfiehlt der Autor, die einzelne als reine Informationsvermittlung und deren angenommene Schule bei der Einführung kontextsensibler Modelle konse- aber nicht näher definierte Neutralität (39) aus schweizeri- quent miteinzubeziehen und die institutionellen Leitungen scher Perspektive dem didaktischen Stand und der unter- der Religionsgemeinschaften trotz ihrer Partikularinteressen richtlichen Realität nicht gerecht werden. Selbstverständlich und ihrer gelegentlichen Rolle als ‚Hemmschuh’ in Pflicht zu ist die Frage, welche Organisationsform und Zielperspektive nehmen. jeglicher Unterricht hat, nicht aufgrund empirischer Die Studie besticht durch die sorgfältige Einbettung in Befunde entscheidbar, sondern ist eine bildungspolitische den religionspädagogischen Diskurs um verschiedene Aufgabe, die normierenden Charakter hat, was dem gesell- Modelle des Religionsunterrichts und den hierfür relevanten schaftlichen Auftrag der Schule geschuldet ist. So gesehen empirischen Indizien. Einige forschungsmethodische Ent- wäre eine etwas offenere Bedarfserhebung erhellend gewe- scheidungen scheinen hingegen wenig nachvollziehbar. So sen. Was die Arbeit von Klutz jedenfalls leistet, ist ein Vade- wurde die ‚Eisbrecherfrage’ („Bitte beschreiben Sie mir mecum an hilfreichen Fragen bei der Implementierung jeg- Ihren Traum von Schule“, 73) nicht mit ausgewertet, was licher neuer Unterrichtsmodelle oder generell bei der unter Nutzung einer alternativen Einstiegsfrage wie z.B. ‚Wie Bewältigung von Schulentwicklungsprozessen, die doch sähe Ihr idealer Religionsunterricht aus?’ gewinnbringend allzu häufig ‚top down’ diktiert werden. hätte sein können. Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit ist eingeschränkt, da die vier Schritte der Auswertung nicht Anmerkungen dokumentiert sind, auch fehlt ein wünschenswerter Hinweis 1 Österreichisches Religionspädagogisches Forum: Positionspapier des darauf, dass das Datenmaterial eingesehen und allenfalls für ÖRF 2009 zum konfessionellen Religionsunterricht, in: Österreichi- weitere Forschung genutzt werden kann. Angesichts des Lis- sches Religionspädagogisches Forum 18 (2010), 62. tencharakters der quantitativen Daten ist m.E. der Anspruch 2 Jäggle, Martin: Pluralitätsfähiger Umgang mit den Anforderungen an den Religionsunterricht, in: Österreichisches Religionspädagogi- an Triangulation weder zutreffend noch für die Arbeit aus- sches Forum 17, 54–57. schlaggebend. Zentral erscheint jedoch vor allem, warum nicht nach verschiedenen Formen oder nach dem subjektiv Autoreninformation idealen Modell von Religionsunterricht für die jeweilige Schule gefragt worden ist, was im Blick auf Kontextsensibili- Dr. Dominik Helbling PH Luzern tät ein ertragreiches Unternehmen hätte sein können. Wäre Fachleitung Ethik und Religionen es nicht sinnvoll, neben den Wahrnehmungen und Bewer- Löwengraben 14 tungen des Ist-Zustandes auch die Bedürfnisse mit Blick auf CH-6004 Luzern einen Soll-Zustand zu erfragen, bevor man nach Lösungen e-mail: [email protected] sucht? Auch der empirische Befund, wonach der Religions- GND: (DE-588)128786116

178 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Hans Mendl

Rezension zu: Claudia Gärtner: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule der autor Prof. Dr. Hans Mendl, Lehrstuhl für Religionspä- dagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Passau.

Claudia Gärtner: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? öffentlichen Bildungswesen – hier wird dann auch die Fra- Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der gestellung des Titels nach der konfessionellen oder einer Schule, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015 (= Religions- alternativen Gestalt eines Religionsunterrichts diskutiert; die pädagogik in pluraler Gesellschaft 19). Verfasserin tendiert zu einem vorsichtigen Plädoyer für ISBN 978-3-506-78098-0 übergreifende Formen einer Kooperation, die aber die Stan- dards eines anspruchsvollen interreligiös-kooperativen Kon- laudia Gärtner hat eine äußerst innovative und anre- zepts erfüllen müssten. gende Monographie vorgelegt, die in der Komplexi- Wie kann religiöse Bildung heute öffentlich begründet C tät weit über die Erwartungen hinausgeht, die man werden? Wenn Gärtner im dritten Hauptkapitel die Dimen- vom Titel her entwickelt. Denn die provozierende Ausgangs- sionen der Anthropologie, Kulturgeschichte, Funktionalität frage, ob denn der Religionsunterricht ein Auslaufmodell und Theologie bemüht, so werden hier gleichermaßen das sei, wird nicht, wie man vielleicht befürchten könnte, rein Andocken am Konvergenzmodell der Würzburger Synode bildungspolitisch im Kontext der organisatorischen Prob- und dessen Weiterschreibung evident. lemstellungen (Nord-Süd-Gefälle in der aktuellen Realisie- Nach so viel Systematik dürfen auch abschließende rung eines konfessionellen Religionsunterrichts nach dem „Skizzen“ als bildungspragmatische Fingerübungen erlaubt Grundgesetz; kritische Anfragen an die Pluralitätsfähigkeit sein: Visionäres Denken und Handeln in christlicher Pers- eines ausschließlich konfessionellen Modells …) gestellt, pektive, die Frage nach dem Menschen, Kontingenzbewälti- sondern tatsächlich eher grundsätzlich phänomenologisch gung im christlichen Horizont und eschatologisches erhoben, bildungstheoretisch begründet und religionspäda- Gerichtsverständnis sind die vier Fallstudien, an denen gogisch entfaltet angegangen. Gärtner den Eigenwert religiöser Bildung aufzeigen will. In einem ersten Hauptteil arbeitet Gärtner zentrale Als besonders gelungen erscheint die Binnengliederung Dimensionen einer religiösen Bildung heraus, welche gleich- jedes Kapitels, die gemäß dem praktisch-theologischen zeitig auch als Ziel religiösen Lernens gekennzeichnet wird: Dreischritt „sehen – urteilen – handeln“ angelegt ist. An Wer religiös gebildet ist, muss mit der philosophischen, her- exemplarischen Fallstudien sollen die Wahrnehmungsfähig- meneutischen, ethischen, spirituellen, symbolisch-ästheti- keit und die Urteilsbildung geschult werden; die abschlie- schen, liturgischen und communialen Dimension religiöser ßende Handlungsperspektive mündet in ein jeweils the- Bildung vertraut sein. menspezifisch bedeutsames Prinzip der Religionsdidaktik: Im folgenden Hauptkapitel werden vor dem Hinter- konstruktivistisches, biblisches, ethisches, spirituelles, ästhe- grund von Heterogenität als zentraler Herausforderung tisches, liturgisches, performatives, traditions- und (kir- Rahmenbedingungen religiöser Bildung skizziert, wobei chen-)geschichtsbewusstes, biografisches, milieusensibles, einleitend die Zeitbedingtheit jeglichen religiösen Lernens inklusives, konfessionell-kooperatives, korrelatives, gender- betont wird: das Nachdenken über die Folgen von religiö- sensibles, politisch orientiertes und interreligiöses Lernen. sem Pluralismus, heterogenen Lebenswelten und Begabun- Die Fallstudien entstammen Phänomenen der Gegenwarts- gen und religionspsychologischen Reflexionen mündet in kultur – Literatur, Kinderbuch, Werbeanzeige, Kunstwerk, die Frage nach der Bedeutung von religiöser Bildung im Gedicht, Zeichentrickfilm, Popmusik, Religionsbuch, Inter-

Hand Mendl: Rezension zu: Claudia Gärtner: Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule • ÖRF 23 (2015), 179–180 179 view, Erfahrungsbericht, Autobiografie, Karikatur, Fotogra- Autoreninformation fie. Diese hermeneutische Anlage ermöglicht einen phäno- Prof. Dr. Hans Mendl menologisch begründeten und kriteriengeleiteten kritischen Universität Passau Blick auf die Standards der Religionspädagogik, die auf diese Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religions- Weise eine aktualisierende Neukonturierung erfahren. unterrichts Durch diese Anlage und thematische Breite erhält das Michaeligasse 13 D-94032 Passau Buch tatsächlich eher einen Handbuchcharakter – also weit e-mail: [email protected] mehr, als der Titel verspricht! GND: (DE-588)129686786

180 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Christian Feichtinger

Rezension zu:

Burkard Porzelt / Alexander Schimmel (Hg.): Strukturbegriffe der Religionspädagogik der autor DDr. Christian Feichtinger ist Univ.-Ass. am Insti- tut für Katechetik und Religionspädagogik an der Karl-Franzens-Universität Graz und Religi- onslehrer am BG/BRG Bruck a. d. Mur.

Burkard Porzelt / Alexander Schimmel (Hg.): Strukturbe- höchst lobenswert. Wichtig ist dabei, dass es sich um das griffe der Religionspädagogik, Bad Heilbrunn: Julius Klink- religionspädagogische Handeln strukturierende Begriffe hardt 2015. ISBN 978-3-7815-2027-1. handelt, während inhaltliche, methodische oder kontextu- elle Begriffe des religiösen Lernens und Lehrens, wie ‚Bibel‘, n Douglas Adams‘ Science-Fiction-Klassiker ‚Per Anhal- Gott‘ oder ‚Unterricht‘, bewusst nicht aufgenommen wurden ter durch die Galaxis‘ ist ‚42‘ die Antwort des Supercom- (vgl. 8). Vielmehr geht es um Begriffe, welche die Religions- I puters ‚Deep Thought‘ auf die von seinen Erfindern pädagogik strukturieren und ihre Reflexion, ihre Entwick- gestellte Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem lung und ihr Selbstverständnis anleiten, etwa ‚Religiosität‘, ganzen Rest“. Die Protagonisten müssen so erkennen, dass ‚Identität‘, ‚Bildung‘, ‚Empirie‘, ‚Tradition‘, ‚Lernen‘ und viele sie nun zwar eine Antwort haben, sich aber über die kon- mehr. Die 42 ausgewählten Begriffe werden dabei in die krete Fragestellung eigentlich nicht im Klaren waren. Ähn- Subbereiche ‚Subjekt‘ (anthropologisch), ‚Begegnung‘ (rela- lich mag es dem Religionspädagogen/der Religionspädago- tional), ‚Welt und Wirklichkeit (kontextuell), ‚Christlichkeit‘ gin gehen, wenn er/sie sich leidenschaftlich der Beantwor- (theologisch), Religiöses‘ (dimensionierend) und ‚Lerner- tung einer Frage widmet, dann aber feststellt, dass die zu möglichung‘ (didaktisch) aufgeteilt und so ihrerseits struk- Grunde liegenden Begriffe unklar definiert oder in ihren turiert. Dimensionen unzureichend reflektiert worden sind und die Eine Grundanfrage an ein solches Projekt ist natürlich Frage daher noch einmal präziser gestellt werden muss. jene nach der Auswahl und Ordnung der Begriffe. Ob die Diese vom Mainzer Religionspädagogen Werner Simon Zahl ‚42‘ dabei Anspruch auf Adams’sche Vollständigkeit angeregte Sensibilität und Sorgfalt im Umgang mit Begrif- erhebt oder ob weitere Begriffe für eine zweite Auflage rele- fen, veranlasste dessen Schüler Burkard Porzelt und Alexan- vant werden könnten, bleibt offen. So könnte man sich der Schimmel zur Herausgabe des Simon als Festgabe zum sicherlich einen zusätzlichen Artikel von Martin Rothgangel 65. Geburtstag und zur Pensionierung gewidmeten Sammel- zu ‚Interdisziplinarität‘2 oder eine Reflexion des prägenden bandes ‚Strukturbegriffe der Religionspädagogik‘. Darin ver- Begriffs ‚Vermittlung‘ ebenso vorstellen wie eine Zuordnung suchen 42 namhafte AutorInnen der deutschsprachigen des vorhandenen Eintrags ‚Glaube(n)‘ nicht zu den christli- Religionspädagogik 42 Strukturbegriffe, „die dem religions- chen, sondern den anthropologischen Strukturbegriffen, pädagogischen Nachdenken eine übergreifende Ordnung zu ebenso auch weitere Hinweise oder Gedanken zu je einzel- geben suchten und suchen“ (7), zu definieren und im Hin- nen Begriffen. Dass solche Auswahlen und Zuordnungen blick auf deren religionspädagogische Rezeptionen und aber nach unterschiedlichen Kriterien vorgenommen wer- Potenziale zu beschreiben. den können, versteht sich von selbst, und eine vollständige Wer Schimmels Werk „Einstellungen gegenüber Glau- Abdeckung aller Interessen und Zugänge in einem solchen ben als Thema des Religionsunterrichts“1 gelesen hat, weiß Projekt wäre illusorisch. um dessen Anliegen einer klaren begrifflichen Definition Der Vielfalt der Begriffe ist eine Verknappung der forschungsleitender Termini. Dieses Anliegen noch einmal Länge der Einträge geschuldet. So haben die einzelnen Bei- auf die Religionspädagogik als Ganze umzulegen, ist daher träge eine Länge von 4–8 Seiten, die aber ausreichen, um

Christian Feichtinger: Rezension zu: Burkard Porzelt / Alexander Schimmel (Hg.): Strukturbegriffe der Religionspädagogik • ÖRF 23 (2015), 181–182 181 eine Sensibilität für den jeweiligen Begriff zu erzeugen, und Anmerkungen dies vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes. 1 Schimmel, Alexander: Einstellungen gegenüber Glauben als Thema Besonders hilfreich ist der Verweis auf die Rezeption des des Religionsunterrichts. Didaktische Überlegungen und Anregungen jeweiligen Begriffs in der Religionspädagogik und eine aus- für die gymnasiale Oberstufe, Ostfildern: Schwabenverlag 2011 (= führliche Literaturliste am Ende jedes Beitrags ermöglicht Zeitzeichen 28). 2 Vgl. Rothgangel, Martin: Religionspädagogik im Dialog. I. Diszipli- eine weiterführende und tiefergehende Auseinandersetzung näre und interdisziplinäre Grenzgänge, Stuttgart: Kohlhammer 2014 mit einzelnen, für die eigene konkrete Forschungsarbeit (= Religionspädagogik innovativ 3,1). bedeutsamen Begriffen. So erweist sich der Sammelband als Übersicht über den Autoreninformation gegenwärtigen Stand religionspädagogischer Begrifflichkei- DDr. Christian Feichtinger ten und Reflexionen und regt zur begrifflichen Präzisierung Universität Graz und zur Reflexion darüber an, wie das eigene Denken durch Institut für Katechetik und Religionspädagogik Heinrichstraße 78B/II zu Grunde liegende Begriffe und Konzepte strukturiert A-8010 Graz wird. e-mail: [email protected] GND: (DE-588)133517969

182 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Renate Wieser

Rezension zu: Ulrich Kropač / Uto Meier / Klaus König (Hg.): Zwischen Religion und Religiosi- tät. Ungebundene Religionskulturen in Religionsunterricht und kirchlicher Jugendarbeit – Erkundungen und Praxis die autorin Dr.in MMag.a Renate Wieser MA; Lehrende an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Graz und wis- senschaftliche Projektmitarbeiterin am Institut für Ka- techetik und Religionspädagogik der Universität Graz („Narratologische Exegese und subjektorientierte Bi- beldidaktik“).

Ulrich Kropač / Uto Meier / Klaus König (Hg.): Zwischen religiösen Bildungsprozessen als Orte, „die die Religionskul- Religion und Religiosität. Ungebundene Religionskulturen tur als Ganzes unter bildenden Vorzeichen in den Blick neh- in Religionsunterricht und kirchlicher Jugendarbeit – Erkun- men“ (16). Ihre Beiträge als „Suchbewegung“ (8) verstehend, dungen und Praxis, Würzburg: Echter 2015. tasten sich die AutorInnen in neue Gegenden vor – bloße ISBN 978-3-429-03757-4 Verlängerungen des Bisherigen sind dabei nicht gewollt, vielmehr braucht es völlig neue Ansätze … er vorliegende Sammelband dokumentiert die Die Beiträge in Kapitel 1 präsentieren empirische interkonfessionelle Tagung „Zwischen Religion Erkenntnisse zu (un-)gebundenen Religionskulturen: Hans D und Religiosität. Herausforderungen für Religions- Streib analysiert die Differenz zwischen Religion und Reli- unterricht und kirchliche Jugendarbeit durch ungebundene giosität als „Grundsignatur“ (post)moderner Gesellschaften Religionskulturen“, welche 2013 an der Katholischen Uni- und bietet empirische Erkenntnisse zur Spiritualität Jugend- versität Eichstätt-Ingolstadt stattgefunden hat. ‚Religion‘, licher als „Label für individualistische, erfahrungsorientierte ‚Religiosität‘ und ‚Religionskultur‘ stellen damit auch den ,gelebte‘ Religiosität“ (37). Über die religiöse Selbstsozialisa- begrifflichen Rahmen der Tagung und des Bandes dar: tion Jugendlicher in Jugendkulturen schreibt Manfred Denn wiewohl kirchlich-institutionalisierte bzw. konfessio- Pirner und wirft resümierend „die doppelte Frage auf, wie nelle Religion derzeit massiv erodiert, ist Religiosität bei jun- den in den Jugendkulturen deutlich werdenden Bedürfnis- gen Menschen durchaus kein marginales Phänomen – aller- sen, Sehnsüchten und vor allem auch Potentialen der dings bildet sie ein komplexes, nicht eindeutiges Gebilde, Jugendlichen in kirchlichen bzw. religionspädagogischen welches von den Herausgebern des Bandes wie folgt Angeboten mehr Raum gegeben werden kann und wie sie in beschrieben wird: „Sie löst sich von inhaltlichen Geltungs- religiösen Bildungsprozessen im Sinne einer lebenshelfen- ansprüchen ab, schenkt der Wahrheitsfrage so gut wie keine den, kritisch-konstruktiven Begleitung aufgegriffen werden Bedeutung und tendiert zu einem freien Arrangement reli- können“ (50). Jugendliche leben in einer medial geprägten giöser Elemente in hochindividualisierter Gestalt.“ (7) Welt, in der Computerspiele in hohem Ausmaß ihre Soziali- Gleichzeitig kommt die profane Gegenwartskultur als eine sation bestimmen. Deswegen beschäftigen sich Ines Sura religionsproduktive in den Blick: Religiöses, Religionsanalo- und Roland Rosenstock mit impliziten religiösen Inhalten in ges oder Quasireligiöses sind in ihr vielfältig verbreitet, sie der Computerspielkultur und unterziehen sie einer religi- generiert eine eigene Religionskultur. onspädagogischen Reflexion. Die facettenreiche Religiosität Vor diesem Hintergrund widmete sich also der vorlie- muslimischer Jugendlicher sowie die Herausforderungen gende Band dem Zwischen-Raum zwischen ‚objektiver‘ interreligiöser Bildung werden von Martin Jäggle beschrie- Religion und ‚subjektiver‘ Religiosität und diskutiert kon- ben und gipfeln in der Forderung nach einer pluralitätssen- zeptionelle wie praktische Fragen, die sich aus dem Ineinan- siblen „Kultur der Anerkennung“. der von Religion, Religiosität und Religionskultur für den Das zweite Kapitel blickt unter dem Titel „Religion und Religionsunterricht und die kirchliche Jugendarbeit ergeben. Religiosität in religiöser Bildung“ auf Religionskulturen in Dabei plädieren die Herausgeber für ein Verständnis von der Praxis religiöser Bildung in Schule und in der kirchli-

Renate Wieser: Rezension zu: Ulrich Kropač / Uto Meier / Klaus König (Hg.): Zwischen Religion und Religiosität. Ungebundene Religionskulturen in Religionsunterricht und kirchlicher Jugendarbeit – Erkundungen und Praxis • ÖRF 23 (2015), 183–185 183 chen Jugendarbeit. Diesbezüglich analysiert Helga Koh- enliturgie und Schulreligion: Ausdrucks- und Beteiligungs- ler-Spiegel das Verständnis und Verhältnis von Religion und formen, Sprache und Themen nehmen das (Schul-)Leben Religiosität im schulischen Religionsunterricht und reflek- der Kinder und Jugendlichen „ins Gebet“, die Passgenauig- tiert darüber, wie Lernprozesse gestaltet werden müssen, die keit zwischen Alltags- und Gottesdienstgemeinde wird ein- beides – individuelle religiöse Erfahrungen und religiöse geholt, Alltag und Liturgie können sich am Handlungsort Traditionen – in den Blick nehmen und kreativ-konstruktiv Schule berühren. miteinander in Beziehung setzen. Aus protestantischer Pers- Kapitel 4 umfasst Beiträge, welche die theologische pektive und aus der Erfahrung mit dem Konzept des ‚Ham- Relevanz von sowie religionspädagogische Zugänge zu burger Weges‘ heraus – ‚Religiöse Bildung für alle – ungebundener Religionskultur erschließen: Computerspiele Bekenntnis später!‘ – erinnert Bärbel Husmann an „ressenti- (Clemens Bohrer), die Zeichentrickserie „Die Simpsons“ mentfreies Urteilen über Religion“ als Bildungsziel des Reli- (Roland Rosenstock), Songs der Rock- und Popmusik (Mar- gionsunterrichts und plädiert dafür, im „Religionsunterricht cus Minten), populäre Spielfilme (Martin Ostermann) sowie für alle“ besonders auch den Suchenden einen geschützten Fantasyfilme (Ulrich Kumher) werden im Rahmen einer Raum zur Auseinandersetzung mit ihrer religiösen Biografie theologischen Kulturhermeneutik analysiert. zur Verfügung zu stellen. Carsten Gennerich wirbt für eine In Kapitel 5 ziehen die HerausgeberInnen konzeptio- emotionsorientierte Religionsdidaktik und sieht in der ver- nelle, unterrichtspraktische und katechetische Konsequen- stärkten Beachtung von Emotionen in der religiösen Bil- zen aus den vielfältigen, ein breites Spektrum umfassenden dung eine Chance, in einer säkularen Gesellschaft den Beiträgen. „Mehrwert“ religiöser Deutungsperspektiven für Sinnkonst- Zusammenfassend liegt ein analytisch aufmerksamer ruktionsprozesse aufzuzeigen. sowie materialreicher Band vor, der Religion und Religiosi- Die Polarität von Religion und Religiosität in konkre- tät junger Menschen differenziert und als theologisch rele- ten, liturgisch-rituellen Handlungssegmenten konstruktiv vant wahrnimmt, wichtige Fragen für eine zukunftsfähige überwinden, wollen die Beiträge des dritten Kapitels. Dafür religiöse Bildung stellt, diesbezüglich anregende Diskussi- nimmt Ruprecht Mattig die Popkultur als Teil des modernen onsbeiträge liefert sowie Lust auf weiteres Spurensuchen – Heiligen Kosmos, als Ort, an dem die Sehnsucht moderner wahlweise das Durchbuchstabieren der präsentierten Menschen nach rituell-religiöser Erfahrung gestillt wird, in Zugänge und Erkenntnisse hinsichtlich weiterer religionspä- den Blick. Peter Hahnen sieht es als Aufgabe der Liturgie, dagogischer Handlungsfelder – macht. Gerungen wird um Jugendlichen den Transit in das liturgische Handeln und ein neues Verständnis von religiöser Bildung, welches die Erleben anzubieten. Reduktion und Authentizität hinsicht- Signaturen der Gegenwart – im Rahmen einer theologischen lich der „Ästhetik“ liturgischer Handlungen sowie eine lie- Kulturhermeneutik – ernst nimmt und als „Zeichen der bevolle Gestaltung sollen junge Menschen einladen, vom Zeit“ zu deuten weiß. Radikal wird in Bezug auf formale BesucherInnen- zum TeilnehmerInnenstatus zu wechseln. Orte religiöser Bildung (z. B. Schule) Abschied genommen Patrik C. Höring beschäftigt sich mit der Firmkatechese und von allen kirchlich-religiösen Dominanzansprüchen wie betont die Relevanz der sakramentalen Doppelstruktur – auch von der Annahme einer in den Familien vorgängig anamnetisch-retrospektive Vergewisserung des Geistes Got- stattfindenden ‚klassischen‘ kirchlich-religiösen Sozialisa- tes und epikletisch-prosektive Bitte um den Heiligen Geist tion von Kindern und Jugendlichen. Jugendkulturelle, für das weitere Leben als ChristIn – für die Katechese: Firm- non-formale Orte religiöser Bildung, an welchen aktuell katechese wird – auf Basis der in Jesus greifbar und konkret religiöse Selbstsozialisation von jungen Menschen geschieht, erfahrbar gewordenen Gottesliebe – als „Liebesschule“ nach werden in dialogischer Grundhaltung aufgesucht und religi- 1 Kor 13 konzipiert und gestaltet. Jugendkirchen in ihrer onspädagogisch reflektiert. Dies alles geschieht in anspre- „Brückenfunktion“ zwischen den Polen von Religion und chend konstruktiv-differenzierter Weise, niemals kulturpes- Religiosität stellt Hans Hobelsberger in das Zentrum: In simistisch oder vereinnahmend, aber eben auch nicht prob- theologischer Ernstnahme der „Sprachen“ und Themen jun- lemverleugnend oder nivellierend. ger Menschen möchte das Evangelium – u. a. durch ästhe- Hohe Aufmerksamkeit verlangt dabei sicherlich noch tisch-symbolische Kommunikation und emotional-existen- die im Band aufgeworfene Frage nach dem konfessionellen zielles Erleben des Kirchenraumes – so ins Spiel gebracht Religionsunterricht, der – den Herausgebern zufolge – vom werden, dass für Jugendliche eine kreative Aneignung der Konzeptionellen her am Vorrang gebundener tradierter christlichen Narrative möglich wird. Da gemeindliche Got- Religion festhält und damit das Verhältnis von tradierter, tesdienste zumeist in völliger Distanz zu den Ausdruckssti- gebundener Religion und ungebundenen Religionskulturen len und Lebensgewohnheiten von Jugendlichen stehen, ver- zum Thema macht. Wie beide Ausprägungen von Religion weist Hans Mendl auf die Stärken und den Charme von Lai- in ihrer Eigenständigkeit und Differenziertheit, aber auch in

184 Österreichisches Religionspädagogisches Forum ihren Wechselwirkungen und in ihrem Aufeinander-Verwie- Autorinneninformation sensein in Konzeption, Struktur und Gestaltung des Religi- Dr.in MMag.a Renate Wieser onsunterrichts zur Geltung gebracht werden können, ist Universität Graz eine Frage, die weiterer analytischer Differenzierung und Institut für Katechetik und Religionspädagogik Heinrichstraße 78B fachwissenschaftlicher Diskussion sowie unterrichtsprakti- A-8010 Graz scher Überlegungen bedarf. e-mail: [email protected] GND: (DE-588)1032633158

ÖRF 23 (2015) • 183–185 185

Monika Prettenthaler

Rezension zu: Angela Kaupp / Gabriele Bußmann / Brigitte Lob / Beate Thalheimer (Hg.): Handbuch Schulpastoral. Für Studium und Praxis die autorin Monika Prettenthaler, Dr.in, Assistentin am In- stitut für Katechetik und Religionspädagogik der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Graz, AHS-Religionslehrerin und Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision.

Angela Kaupp / Gabriele Bußmann / Brigitte Lob / Beate kriterien für Schulpastoral beschreibt Brigitte Lob Adressa- Thalheimer (Hg.): Handbuch Schulpastoral. Für Studium ten- und Situationsorientierung, die Fähigkeit zu wertschät- und Praxis (Grundlagen Theologie), Freiburg im Breisgau: zender Kommunikation, ökumenisches, religionssensibles Herder 2015. und gastfreundliches Engagement, Kooperation und Vernet- zung, sowie Freiwilligkeit, Ressourcen-, Konzept- und Syste- it dem Handbuch Schulpastoral haben die Her- morientierung und politisches Bewusstsein (98–107). ausgeberinnen ein – in mehrfacher Hinsicht – Wie (katholische) Schulpastoral historisch bzw. im Mäußerst vielfältiges Werk auf den Markt evangelischen Kontext entwickelt wurde und wie sie sich aus gebracht: Im Band werden nicht nur StudentInnen, Lehren- islamischer Perspektive darstellt, wird im dritten Teil des den und in der schulpastoralen Praxis Stehenden grundle- Handbuches thematisiert. gende Zugänge geboten, sondern auch zentrale Fragen zur Schulpastoral orientiert sich idealerweise entlang der Schulpastoral aus verschiedenen Perspektiven und in unter- Erfordernisse des jeweiligen Umfeldes und bildet daher sehr schiedlichen Kontexten und Realitäten thematisiert. unterschiedliche Profile aus. Im vierten Kapitel des Hand- Im Bewusstsein, dass Schule durch pädagogische und buchs werden ein systemischer, ein ignatianischer, ein myst- soziologische Entwicklungen für immer mehr SchülerInnen agogischer sowie ein pluralitätssensibler Ansatz vorgestellt. nicht nur Lern- sondern auch Lebensraum ist bzw. sein Angela Kaupp gibt in ihrem Beitrag einen zusammenfassen- möchte, haben sich Schulpastoral oder dahingehende Initia- den „Überblick über theoretische Entwürfe […], die auf der tiven und Projekte in vielen Diözesen des deutschsprachigen Grundlage des Schreibens der deutschen Bischöfe zur Schul- Raumes als „Dienst der Kirche an den Menschen im Hand- pastoral (1996) theologisch bzw. pädagogisch unterschiedli- lungsfeld Schule“ (vgl. das gleichnamige Schreiben der che Schwerpunkte setzen“ (199). deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1996) etabliert. Für die Unter dem Titel Strukturen und Rahmenbedingungen Herausgeberinnen ist das die Motivation, „eine grundsätzli- sammelt der letzte Teil des Buches verschiedene Beiträge, in che theoretische Standortbestimmung der Schulpastoral“ denen die Bedeutung von Schulpastoral im Zusammenhang vorzunehmen „und sie systematisch darzustellen“ (11). mit öffentlichen und kirchlichen Schulen oder dem Religi- Aufgrund der gebotenen Fülle und angesichts des onsunterricht genauso reflektiert werden, wie rechtliche begrenzten Umfangs einer Rezension werden die Beiträge Aspekte oder Fragen der Personal- und Organisationsent- hier nicht einzeln, sondern im Überblick vorgestellt: wicklung. Beate Thalheimer reagiert mit ihrem diesbezügli- Im Grundlagenteil werden Basics der Schulpastoral aus chen Artikel (292–305) auf die heterogene Schulpastoral- theologischer und pädagogischer Sicht dargelegt und in landschaft und stellt hier sowohl jenen, die ihre Praxis wei- einem Resümee von Gabriele Bußmann (Bildungsallianz terentwickeln möchten als auch anderen, die Schulpastoral von Schule und Kirche, 77–79) zusammengeschaut. neu planen und institutionalisieren wollen, relevante und Das zweite Kapitel beleuchtet Spiritualität, Rolle und hilfreiche Tools zur Verfügung. Weil für professionelle Identität sowie Haltung und Qualität im Blick auf die Person Gestaltung und Qualitätssicherung von schulpastoralen Ini- und das Handeln von SchulseelsorgerInnen. Als Qualitäts- tiativen Fort- und Weiterbildung unabdingbar sind, findet

Monika Prettenthaler: Rezension zu: Angela Kaupp / Gabriele Bußmann / Brigitte Lob / Beate Thalheimer (Hg.): Handbuch Schulpastoral. Für Studium und Praxis • ÖRF 23 (2015), 187–188 187 auch diese Thematik im Handbuch eine grundsätzliche und „Lasst euch finden exemplarische Darstellung. Zum Abschluss werden aus unterschiedlichen diözesanen Konzepten drei ausgewählt Geht in euren Tag hinaus ohne vorgefasste Ideen, und hinsichtlich des Verständnisses von Schulpastoral in der ohne die Erwartung von Müdigkeit, jeweiligen Diözese in Theorie und Praxis beschrieben und ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, analysiert. ohne Enthusiasmus, Hier sei eine Anmerkung aus österreichischer Perspek- ohne Bibliothek – tive gestattet: Auch wenn das Handbuch im praktischen geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Bereich den bundesdeutschen Raum im Blick hat, bieten viele Beiträge – nicht zuletzt auch aufgrund der unterschied- Brecht auf ohne Landkarte – lichen Kontexte und Entwicklungen – motivierende Impulse und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und willkommene Anknüpfungspunkte für die (Weiter-) und nicht erst am Ziel. Entwicklung der Schulpastoral in Österreich und anderen Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, Ländern. sondern lasst euch von ihm finden Insgesamt wird das Handbuch Schulpastoral seiner Ziel- in der Armut des banalen Lebens.“ setzung, Studierenden, Lehrenden und in der Schulpastoral Tätigen eine umfassende Einführung geben zu wollen, in Autorinneninformation großem Umfang gerecht. Es bleibt zu hoffen, dass darüber Mag.a Dr.in Monika Prettenthaler hinaus auch jene, die Schulpastoral zu verantworten haben Universität Graz (oder hätten), durch dieses Buch zum Aufbau oder zur Wei- Institut für Katechetik und Religionspädagogik terentwicklung dieses kirchlichen Handlungsfelds angeregt Heinrichstraße 78B A-8010 Graz werden. Nicht nur ihnen, sondern allen, die für Kirche, Reli- e-mail: [email protected] gion und Glauben im Kontext und Umfeld von Schule ‚(ein) GND: (DE-588)1053740352 stehen‘, sei der Text von Madeleine Delbrêl (zitiert nach 347), den die Herausgeberinnen anstelle eines Nachwortes an den Schluss des Buches stellen, ans Herz gelegt:

188 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Martina Kraml

Rezension zu: Forschungsgruppe „Religion und Gesellschaft“: Werte – Religion – Glaubenskom- munikation. Eine Evaluationsstudie zur Erstkommunionkatechese die autorin Dr.in Martina Kraml, assoziierte Professorin am In- stitut für Praktische Theologie der Universität Inns- bruck, Fachbereiche Katechetik/Religionspädago- gik und Religionsdidaktik.

Forschungsgruppe „Religion und Gesellschaft“: Werte – Reli- gungswellen wurden von 2010-2012 quantitative und quali- gion – Glaubenskommunikation. Eine Evaluationsstudie zur tative Daten von Kindern, für die religiöse Erziehung ver- Erstkommunionkatechese, Wiesbaden: Springer 2015. antwortlichen Elternteilen und pfarrlichen MitarbeiterIn- nen bzw. Pfarrern erhoben. n den letzten Jahren ist im Bereich Gemeindekatechese Forschungsfragen und -hypothesen waren u.a. an fol- eine Vielzahl von Spannungsfeldern sichtbar geworden. genden thematischen Schwerpunkten ausgerichtet: I Schon allein der Blick auf die Milieustudien lässt viele • den Einflussfaktoren für die Entscheidung zur offene Fragen, Ambivalenzen und Widersprüche erkennen: Erstkommunionkatechese (53), Bruchstellen und Widersprüche zwischen unterschiedlichen • Umsetzung der Erstkommunionkatechese und Milieu-Gemengelagen, zwischen dem kirchlichen und dem Bewertung (53), gesellschaftlich-säkularen Feld, Spannungen zwischen kirch- • der Wirkung der Erstkommunionkatechese (54– lichem Anspruch und Lebensvorstellungen der Menschen, 55), Widersprüche zwischen Normativität, Idealität und Realität. • Theorie der religiösen Sozialisation von Kindern Auch im Hinblick auf die Ausrichtung der Katechese (spezi- (55–56). ell Sakramentenkatechese) gab und gibt es Spannungen: Leitend für die quantitative Untersuchung waren neun Entgegen einer starken Methodenausrichtung wurden in Hypothesen. Im Folgenden seien exemplarisch zwei heraus- den letzten Jahren verstärkt wissenschaftlich reflektierte und gegriffen. (Daneben gab es noch Hypothesen zur Konzipie- theologisch fundierte Konzepte eingefordert. Neue Zugänge rung und Durchführung der Katechese sowie zur Werteori- zur Glaubenshinführung und -vertiefung wie etwa mystago- entierung in anderen Bereichen als den religiösen.) gische Ansätze wurden entwickelt. Fragen der Kompeten- • Die Teilnahme des Kindes an der Erstkommuni- zorientierung sowie der Professionalisierung von Kateche- onkatechese hängt von den Eltern und ihren Über- tinnen und Katecheten als Ehrenamtliche ‚schwappten‘ aus zeugungen im Hinblick auf den christlichen Glau- der Religionsunterrichtsdebatte auf die Gemeindekatechese ben bzw. ihrem Vertrauen in die katholische Kirche über. Gleichzeitig beschäftigt sich die Pastoraltheologie ab (56). ebenfalls schon seit geraumer Zeit mit der Ausbildung und • Bei Kindern, die an der Erstkommunionkatechese Begleitung von Ehrenamtlichen. teilnehmen, nimmt die religiöse Sozialisation eine Bislang hat es in der Gemeinde- und Sakramentenkate- andere Richtung als bei den anderen Kindern, auch chese wenig evidenzbasierte Weiterentwicklungen gegeben. lassen sich nachhaltige Zuwächse an Wissen und Die Forschungsgruppe „Religion und Gesellschaft“ hat nun Partizipation erkennen (57). für den Bereich der Erstkommunionkatechese eine Studie Bei Durchsicht der Fragebogenfragen zeigt sich das vorgelegt. Dies stellt ohne Zweifel einen großen Gewinn dar. Potential der quantitativen Untersuchung, das einen breit Im Zentrum der Studie steht die Wirkung der Erstkommu- gestreuten Überblick ermöglicht und Phänomene besser nionkatechese, die primär an der Veränderung der Religiosi- einordnen lässt. Gleichzeitig werden aber auch deren Gren- tät von Kindern und Eltern festgemacht wird. In drei Befra- zen deutlich: Das quantitative Design ist dort von Vorteil,

Martina Kraml: Rezension zu: Forschungsgruppe „Religion und Gesellschaft“: Werte – Religion – Glaubens- kommunikation. Eine Evaluationsstudie zur Erstkommunionkatechese • ÖRF 23 (2015), 189–191 189 wo klar abgrenzbare Sachverhalte abgefragt werden können Kirchliche Angebote haben laut Studie einen günstigen Ein- wie beispielsweise der Ausbildungsstand der KatechetInnen, fluss auf die Entwicklung der Religiosität, mehr als der Reli- die gendermäßige Verteilung etc. Bei der Wirkung der Erst- gionsunterricht. Möglicherweise spielt hier die noch größere kommunionkatechese, bei Fragen der Religiosität, auch bei Heterogenität der Gruppen im Religionsunterricht eine Fragen des Gelingens bzw. Erfolgs wird es schwieriger. Hier Rolle; die Studie hat ja gezeigt, dass eines der Selektions- verliert sich – naturgemäß – die inhaltliche Aussagekraft. Im merkmale zur Teilnahme an der Erstkommunionvorberei- Vergleich zur möglichen Perspektive der Befragten werden tung die positive Haltung zur Erstkommunion als kirchliche Items in ‚fremder‘ Sprache und ‚fremder‘ Logik entwickelt. Tradition ist. Sie bleiben formal, widerspiegeln mehr die Gedankenwelt Was die qualitative Untersuchung betrifft, sind zunächst der FragebogenkonstrukteurInnen als jene der befragten Anmerkungen zur Interview- und Auswertungsmethode zu Personen. Dazu kommt, dass die ‚Grammatik‘ des quantita- machen. Die Auswahl der Methode des „Persönlichen tiven Designs die Erfassung explizit beobachtbarer – ‚kon- Gesprächs“ von Inghard Langer, die für sich genommen, der servativer‘ im Sinne von ‚gewöhnlicher‘ – Formen von Reli- Untersuchung angemessen ist, wurde negativ – durch giosität oder Katechesedidaktik aufdrängt [wie die schon Abgrenzung von anderen Methoden – begründet. Dem bekannten Fragen nach Kirchenbesuch o.Ä. oder Fragen, ob muss entgegengehalten werden: „Wertschätzung und Ach- der Kommunionunterricht langweilig oder interessant war, tung der Person, mit der wir sprechen“ (76), dürfte mittler- die Katechetin/der Katechet gut oder schlecht erklären weile in der qualitativen Forschung Standard sein. Was (warum eigentlich „erklären“?) konnte, freundlich, streng, immer man unter einem „klassische[n] Interview“ verstehen gerecht, lustig war etc.] Die Leistungsfähigkeit der Ergeb- mag: Die Kritik am „[…] Vorgehen vom klassischen Inter- nisse der quantitativen Studie liegt im grobkörnigen Über- view mit seiner Subjekt-Objekt-Aufteilung“ (76) kann ein blick, die ‚griffigeren‘ Ergebnisse liefert die qualitative Denkanstoß sein, erscheint insgesamt aber zu pauschal. Untersuchung. Insofern sie diese Blickrichtungen kombi- Nicht nur Nähe und Augenhöhe, sondern auch Rollenklar- niert hat, ist die vorliegende Studie ein sehr gelungenes Bei- heit müssten hier diskutiert werden, ebenso wie die Frage spiel für Triangulation. der Abstinenz von Interpretation und Modellierung. Ein Blick auf die Ergebnisse der quantitativen Studie In der Präsentation der qualitativen Ergebnisse hält die zeigt: Beim Entschluss für die Teilnahme an der Erstkom- Studie eine positive Weiterentwicklung der Religiosität und munion spielen die Elternzugänge (und vermittelt auch die Wertebildung sowie des Gottesbildes, des Symbolverständ- der Kinder) zu Religion und Kirche eine große Rolle (siehe nisses und der rituellen Handlungsfähigkeit und stärkeren die erste der o.g. Hypothesen). (148) Im Hinblick auf den Partizipation an Gemeinde durch die Erstkommunionkate- Prozess der Durchführung zeigt sich: Die Dauer der Kate- chese fest. Diese vermittelt sich in einer Intensivierung der chese ist meist zwischen elf und zwanzig Stunden (150). In Jesus-Beziehung, durch die Teilnahme an Gottesdiensten, der Regel (36 %) sind die KatechetInnen alleine mit der durch die Begegnung mit biblischen Geschichten und durch Erstkommunionvorbereitung betraut, in knapp 16 % der die Entdeckung der menschlichen Seite Jesu. Dabei lässt sich Fälle ist die Gemeindereferentin/der Gemeindereferent und auch ein gewisses Maß an Nachhaltigkeit beobachten (287). der Pfarrer mitbeteiligt, selten (in 5,3 %) der Pfarrer alleine. Der letzte, interpretative Teil der Studie deutet auf der Aufschlussreich sind die Zahlen über den Ausbildungsstand Basis der empirischen Erkenntnisse religionspädagogische der KatechetInnen: So beträgt die Anzahl derjenigen Kate- Grundzüge für die Erstkommunionkatechese an. Als leitend chetInnen, die keine Ausbildung oder eine Ausbildung im für die (erstkommunion-) katechetische Tätigkeit wird der Ausmaß zwischen 1 und 10 Stunden haben, knapp über Begriff der „Kommunikation des Evangeliums“ (331) her- 75 %. (Hier stellt sich die Frage nach der Professionalisie- ausgestellt. Diesem Anspruch dient, so die Studie, aus- rung von Ehrenamtlichen.) Im Hinblick auf die Wirkungs- schließlich ein mehrperspektivischer, „umfassender“ Bil- evaluation, die auf Veränderungen der Religiosität (mit den dungsbegriff, dessen Merkmale Subjektorientierung, Bezie- Dimensionen christlich-religiöse Werte, christlich-instituti- hungsorientierung als „Fähigkeit zur Gotteskommunika- onelles Sozialkapital, affektives Gottesbild, affektive Bindung tion“ sowie „Pluralitätsfähigkeit“ (332–333) sind. Mit Blick zum Christentum, kognitives Gottesbild, religiöses Wissen, auf die aktuelle Gemengelage – so das Fazit – ist nur eine religiöse Praxis, Normakzeptanz) abzielt, zeigt sich, dass die differenzierte Katechese mit einem differenzierten Familien- Teilnahme an der Erstkommunionkatechese alle Dimensio- begriff und -bild vertretbar. nen von Religiosität bei den Kindern positiv beeinflusst Dieser letzte Teil (331–340) schließt an bisherige For- (siehe die zweite der o. g. Hypothesen). Gleichzeitig gibt es schungen der Autoren an (vgl. Beziehungsorientierung, auch positive Effekte bei den Eltern. (168) Ein ähnlicher Familienkatechese u.a.). Die einzelnen Gesichtspunkte (Kin- Befund ergibt sich auch aus den qualitativen Interviews. der als Subjekte in ihren Beziehungen, Kommunionweg als

190 Österreichisches Religionspädagogisches Forum Lebens-, Lern-, Beziehungsraum, Eucharistie als Kommuni- angemerkt), dem Druck auf und in Familien beispielsweise kation leben, Werte leben, Inklusion u.a.) sind sehr kurz was die Ausbildung der Kinder betrifft u.a. gefasst und bleiben allgemein. Es fehlt u.a. der Gedanke Unter dem Thema „Inklusion“ ist es angeklungen: Erst- einer qualitätsvollen Eucharistietheologie, die durchaus im kommunion beinhaltet nicht nur den Blick auf die liebliche Rahmen der angesprochenen Kindertheologie (336) einge- Feier, das Miteinander, die Freundschaft mit Jesus, sondern führt werden könnte. Dabei sollte die Brisanz der Eucharis- auch den Blick auf die Schattenseiten. Konfliktbewusstsein tie als ‚gefährliches Ereignis‘ mitten im spannenden und und Konfliktfähigkeit sind Kompetenzen, die in einer neu spannungsreichen Alltag (auch von Kindern) nicht zuguns- konzipierten Erstkommunionkatechese zu erlernen wären. ten einer harmonischen Jesus-Freund-Geschichte verkom- Ein weites katechetisches Arbeitsfeld hat sich durch und men. Dass die Feier in der Kirche den Geist des eigenen All- über die Studie hinaus aufgetan! tags prägen könnte, dass das alltägliche Miteinander, Gegen- einander, Ohneeinander eucharistierelevant ist, sollte stärker Autorinneninformation bewusst werden. Diese Brisanz der Eucharistie ist beispiels- Dr.in Martina Kraml weise der in der Studie angezielten Familienorientierung Universität Innsbruck inhärent. Die Erstkommunionkatechese darf nicht die Institut für Praktische Theologie Karl-Rahner-Platz 1 Augen verschließen vor der Armut in den Familien, der ext- A-6020 Innsbruck remen Spannung zwischen idealen Familienvorstellungen e-mail: [email protected] der Kirche und realem Familienleben (dass die Kateche- GND: (DE-588)130623482 sethemen abgehoben seien, hat ja eine Interviewpartnerin

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Philipp Klutz

Rezension zu: Kromer, Ingrid / Hajszan, Michaela: Jungschar-Studie 2014. Kinderpastoral in Österreichs Pfarren. Empirische Befunde und Analysen der autor MMag. Dr. Philipp Klutz, Universitätsassistent am Institut für Katechetik, Religionspädagogik und Pä- dagogik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Katholischen Privat-Universität Linz.

Kromer, Ingrid / Hajszan, Michaela: Jungschar-Studie 2014. chen Gruppenleiterinnen und -leitern betreut und begleitet, Kinderpastoral in Österreichs Pfarren. Empirische Befunde die zum großen Teil selbst eine eigene Erfahrung als Jung- und Analysen, Wien: Katholische Jungschar 2015.1 scharkind und/oder MinistrantIn haben. Für diese ehren- amtliche Tätigkeit spielen drei Faktoren eine Rolle: Mehr als ie Katholische Jungschar zählt in Österreich zu den 80 % hat Freude, mit Kindern zusammen zu sein (Kinder- größten (kirchlichen) Organisationen, die sich im orientierung). Deutlich weniger Zustimmung finden religiös D non-formalen Bildungsbereich engagiert. Als 1947 konnotierte Motive (unter 50 %). Ca. die Hälfte der Befragt- gegründete Teilorganisation der Katholischen Aktion macht en engagiert sich, weil u.a. Freundinnen und Freunde sie sich zum Ziel, die personalen, sozialen und spirituellen ebenso als GruppenleiterInnen tätig sind. Die Studie führt Kompetenzen von Kindern in vielerlei Weise zu fördern. Da ein buntes Bild der Katholischen Jungschar vor Augen. So sich in den letzten Jahrzehnten die „gesellschaftliche[n] und werden bspw. anhand von Gruppendiskussionen mit Pfarr- kirchliche[n] Rahmenbedingungen markant und mit großer leitungsteams vier Jungschar-Typen skizziert, die „auf unter- Geschwindigkeit verändert“ (5) haben, sei es für die Katho- schiedliche Traditionen, unterschiedliches Selbstverständnis lische Jungschar notwendig, empirische Erkenntnisse zu und dementsprechend unterschiedliche Strukturen in den generieren, damit Bildungsprozesse mit und für Kinder/n in einzelnen Pfarren“ (146) verweisen: 1. Die in den Pfarren Pfarren angesichts gegenwärtiger Herausforderungen gelin- stark verwurzelte ‚Traditions-Jungschar‘, 2. die ‚verlässlichen gen. Die vorliegende empirische Studie, in der Online-Fra- Autarken‘ mit einer starken Bindung der GruppenleiterIn- gebögen und Gruppendiskussionen zum Einsatz kamen, nen untereinander bei gleichzeitiger kritischen Distanzie- verschafft einen aktuellen Überblick über die Situation der rung zur Pfarre, 3. die ‚modernen Vernetzten‘, die sich durch Katholischen Jungschar in Österreich. Insgesamt umfasst die einen hohen Grad innerer und äußerer Vernetzung sowie Studie vier Kapitel: In einem ersten Schritt wird beleuchtet, mannigfacher Jungscharangebote charakterisieren, und 4. was es bedeutet, heute als Kind in Kirche und Gesellschaft die ‚allein gelassenen PionierInnen‘, die sich trotz schwieri- zu leben (9–36). Daran anschließend wird das Forschungs- ger Rahmenbedingungen oft alleine in der Jungschar enga- design der Untersuchung dargestellt (37–48), gefolgt vom gieren. Insgesamt beeindrucken die Ergebnisse; sie zeugen umfangreichsten Kapitel, in dem die empirischen Befunde vom großen Einsatz der Katholischen Jungschar in Öster- präsentiert werden (49–142). Die Studie schließt mit einer reichs Pfarren. Einige Befunde stimmen jedoch auch nach- Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse und formuliert denklich: So ist beinahe die Hälfte der GruppenleiterInnen thesenartige Schlussfolgerungen (143–159). ohne einschlägige Ausbildung tätig (Grund- und Aufbau- Im Großen und Ganzen macht die Studie auf das kurs für JungscharleiterInnen u. dgl.). Zwar werden diese beachtliche Engagement der Katholischen Jungschar auf- Ausbildungsformate mehrheitlich geschätzt, gleichzeitig merksam: Beinahe 13 % aller katholischen Mädchen und werden Teilnahmehindernisse ins Treffen gebracht. Den Buben zwischen 5 und 14 Jahren sind als Jungscharkinder Studienautorinnen drängt sich der „Eindruck [auf], dass und/oder Ministrantinnen und Ministranten in Österreichs Jungschararbeit im allgemeinen Bewusstsein eher wenig for- Pfarren aktiv. Dabei werden sie von ca. 13.000 ehrenamtli- male Qualifikationen voraussetzt, sondern sich wesentlich

Philipp Klutz: Rezension zu: Ingrid Kromer / Michaela Hajszan: Jungschar-Studie 2014. Kinderpastoral in Österreichs Pfarren. Empirische Befunde und Analysen • ÖRF 23 (2015), 193–194 193 aus eigenem Erleben und aus der Anschauung dessen, was Neuaufbrüche zu wagen (Innovation). Die beiden Studien- andere tun, qualifiziert.“ (156) Von daher sei die Diözesan- autorinnen bieten auf Basis ihrer Untersuchung neun poin- leitung herausgefordert, bei den Gruppenleiterinnen und tierte und diskussionswürdige Thesen (153–159), die sich -leitern dahingehend Bewusstseinsbildung zu betreiben, für diese Weiterarbeit in den Gremien anbieten. Wer die „dass die zielgerichtete Reflexion der eigenen Praxis [als] ein Katholische Jungschar kennt, sieht den weiteren Schritten notwendiges Qualitätsmerkmal pädagogischer Arbeit“ (157) der Selbstreflexion im Dienst junger Menschen zuversicht- wahrgenommen wird. lich entgegen und hofft, dass auch andere kirchliche Organi- Mit der vorliegenden Studie beweist die Katholische sationen ihrem Beispiel folgen. Jungschar erneut, dass sie die notwendige Bereitschaft zur Selbstreflexion besitzt, die für kirchliche Organisationen Anmerkung und für die Kirche insgesamt angesichts der gesellschaft- 1 Eine Kurzversion dieser Rezension ist zudem in der Theolo- lichen Transformationsprozesse notwendig ist, um die Zei- gisch-praktischen Quartalschrift (ThPQ) veröffentlicht worden. chen der Zeit (GS 4) kontextsensibel wahrzunehmen und im KLUTZ, Philipp: Rez. zu: KROMER, Ingrid / HAJSZAN, Michaela: Dienst junger Menschen zu deuten. Gewiss bildet aus der Jungschar-Studie 2014. Kinderpastoral in Österreichs Pfarren. Empi- rische Befunde und Analysen, Wien: Katholische Jungschar 2015, in: Perspektive der Organisationsentwicklung diese umfassende Theologisch-praktische Quartalschrift 163 (2015), 426–427. und sorgfältig durchgeführte empirische Studie erst einen, jedoch grundlegenden Beitrag, damit selbstreflexive Pro- Autoreninformation zesse gelingen und ggf. Weichenstellungen vorgenommen MMag. Dr. Philipp Klutz werden können. Die Gremien der Katholischen Jungschar Katholische Privat-Universität Linz sind nun herausgefordert, die empirischen Befunde dieser Bethlehemstraße 20 Untersuchung zu bedenken und Konsequenzen für ihre A-4020 Linz Arbeit zu ziehen. Dabei stehen sie vor der spannungsreichen e-mail: [email protected] Aufgabe, einerseits dem Grundauftrag der Katholischen GND: 1053739265 Jungschar treu zu bleiben (Tradition), andererseits aber auch

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