SPIEGEL-GESPRÄCH „Obelix im Zaubertrank“ Stefan Schumacher galt als Nachfolger Jan Ullrichs, gewann zwei Etappen bei der . Dann wurde er des Dopings überführt. Er stritt alles ab. Nun spricht der Radprofi erstmals über die Spritzen und sein Leben mit der Lüge.

Athlet Schumacher während der Tour de France 2008 Sport

Schumacher, 31, geht es nicht gut an die - Im Jahr 2000 unterschrieb Schumacher jetzt habe ich mir gedacht, du nimmst sem Tag. Er hat Fieber. Dennoch steht er seinen ersten Vertrag im Jan-Ullrich- das Zeug, und es geht wieder voll ab. in der Lobby des Hotels The Ziba in Pe - Nachwuchsteam beim Team Telekom. Er SPIEGEL: Wie war der Effekt? schiera am Gardasee. Er will reinen verdiente zwischen 1500 und 2000 Mark Schumacher: Ich habe eine Woche lang Tisch machen, öffentlich reden. Schu- im Monat. Gut ein Jahr später wurde das Wachstumshormon genommen. Im Trai - macher trägt den schwarzen Trainings - Nachwuchsteam wieder aufgelöst. Drei ning habe ich gedacht: Ich fliege, das ist anzug seines Radteams Christina Wat - Fahrer, unter ihnen Schumacher, wurden irre, jetzt bin ich Weltklasse. Aber im ches-Onfone, einer drittklassigen Mann - ins Team Telekom übernommen. Rennen war ich dann so schlecht wie vor - schaft aus Dänemark. Schumacher ge - her auch. Im Grunde haben mich die Hor - wann vor fünf Jahren zwei Etappen der SPIEGEL: Sie waren jetzt mit Erik Zabel mone noch weiter in den Keller gezogen. Tour de France und galt als Vertreter ei - und Jan Ullrich in einer Mannschaft – SPIEGEL: Gibt es eine Erklärung dafür? ner neuen, sauberen Profi-Generation. waren Sie am Ziel Ihrer Jugendträume Schumacher: Im Herbst 2003 hat mich ein Im Oktober 2008 kam dann heraus, dass angekommen? Arzt vom Team Telekom aufgeklärt. Die zwei Dopingkontrollen Schumachers von Schumacher: Anfangs war ich fasziniert. Szene war fast wie in einem Film. Ich der Tour de France positiv waren. „Ich Ron Sommer, der damalige Telekom-Chef, habe den Arzt offen auf Doping ange - habe nie gedopt“, beteuerte er damals. und Kanzler Gerhard Schröder haben mir sprochen. Er hat erst ein bisschen rum - Es war gelogen. in Berlin die Hand geschüttelt. Ich bekam gedruckst, doch dann hat er gesagt, er ein Auto gestellt, einen Audi A4 mit Voll - verstehe meine Situation, und hat erzählt SPIEGEL: Herr Schumacher, haben Sie ge - ausstattung, dazu vertraglich 30 000 Euro von Testosteron, Wachstumshormon, dopt? im Jahr. Für einen 20-Jährigen ist das gi - Epo, Kortikosteroiden, Bluttransfusionen. Schumacher: Ja. Ich habe Epo genommen, gantisch. Aber dann bekam ich den Druck Ich habe an diesem Tag meine Jungfräu - auch Wachstumshormon und Kortikoste - zu spüren. Selbst wenn ich gesundheitlich lichkeit verloren. Er hat mir dann auch roide. angeschlagen war, wurde ich angetrieben, erklärt, dass es völliger Quatsch war, was SPIEGEL: Im Februar 2009 sind Sie im ich gemacht habe. Es bringe gar nichts, )

„Sportstudio“ des ZDF aufgetreten. Sie . das Zeug zu nehmen, wenn man körper - R (

A

sagten: „Ich habe noch nie in meinem Le - P lich am Ende sei. D

/ ben gedopt.“ Stattdessen haben Sie über SPIEGEL: Ihre Zeit bei Telekom war nicht K C I L

Verfahrensfehler räsoniert. Warum haben K lang. Sie mussten nach zwei Jahren zu N E

Sie damals nicht die Wahrheit gesagt? G einem drittklassigen Team wechseln. War U A

/ Schumacher: Für diesen Auftritt schäme das eine Demütigung? H T O

R Schumacher: ich mich. Ich war psychisch so angeschla - Die Schmach und die Ernied - ; ) . L ( gen, dass ich keine klaren Gedanken fas - rigung, bei Telekom nicht ernst genom - A P D sen konnte. Ich war wie in einem Tunnel, men worden zu sein, waren groß. Ich galt /

E lange Zeit nicht in der Lage, zu bedauern, C als eines der größten deutschen Talente, N A I L was ich getan habe. Stattdessen fühlte ich L als die Zukunft des Radsports, und gurkte A - E mich rausgekickt. Das Spiel wurde ein - R in einem drittklassigen Team rum. Und U T C I

fach weitergespielt. Nur ohne mich. Ich P jetzt kam auch das Wissen dazu, was vie -

/

E dachte, ich könnte mich dagegen wehren. R le andere Fahrer machen. Irgendwann ist E G U

Dass der Sport sauber werden könnte, A daraus die Motivation entstanden, es al - F

. habe ich damals für Humbug gehalten. F len zeigen zu wollen. Ich habe trainiert SPIEGEL: Sie hatten gedopt und fühlten Manager Holczer, Fahrer Schumacher 2008 wie ein Verrückter und habe dann auch sich dennoch als Opfer? „Der hat mitbekommen, was passiert ist“ intensiver mit den Dopingsachen ange - Schumacher: Damals schon, ich hatte ja fangen. niemals den Wunsch zu dopen. Ich wollte vorn im Feld zu fahren oder Tempo zu SPIEGEL: Was genau? nur nicht gegenüber den anderen nach - machen. Schumacher: Vor allem Wachstumshor - stehen. Ich habe mich als 20-Jähriger in SPIEGEL: Haben Sie mit Kollegen über Do - mon. ein System eingefügt. Das macht mich ping geredet? SPIEGEL: Schon wieder? nicht stolz, aber es war eben so. Und nun Schumacher: Ich habe gedacht, dass mal Schumacher: Wenn ich das Zeug genom - stellten mich ausgerechnet diejenigen an ein Arzt kommt und mir dann sagt, was men hatte, entstand das Gefühl, dass ich den Pranger, die für dieses System mit - Sache ist. Aber niemand kam. Und von nicht kaputtgehe. Wenn man trainierte verantwortlich waren. Das hat mir ex - den Fahrern hat zu Beginn auch keiner oder ein Rennen zu viel fuhr, war die trem zu schaffen gemacht. etwas erzählt. Trotzdem habe ich einige Leistung trotzdem schnell wieder da. Auf SPIEGEL: In knapp zwei Wochen werden Dinge mitbekommen, auf die ich mir mei - Dauer hat das einen großen Effekt, gera - Sie vor Gericht stehen. Laut der Staats - nen Reim machen konnte. de bei extremen Belastungen wie bei anwaltschaft Stuttgart sollen Sie den da - SPIEGEL: Doping kam damals für Sie noch einer dreiwöchigen Rundfahrt. Die Hor - maligen Rennstallbesitzer des Teams Ge - nicht in Frage? mone verzeihen dir viel. Meist habe ich rolsteiner betrogen haben. Haben Sie Ih - Schumacher: Bis ich reif war zu dopen, Wachstumshormon und Kortikosteroide ren Arbeitgeber Hans-Michael Holczer dauerte es. Es hat Überwindung gekostet, kombiniert. über Ihr Doping belogen? obwohl die eigentliche Handlung ganz SPIEGEL: Haben Sie auch Epo genommen? Schumacher: Ich habe viele Fans betrogen, einfach ist: nur ein kleiner Piks in die Schumacher: Später schon, Epo ist im Aus - auch meine Familie, meine Frau, meine Bauchdecke. Ich hatte mir zwar irgend - dauersport das effektivste Mittel. Ich habe Freunde. Das tut mir wahnsinnig leid. wann Wachstumshormon besorgt, es aber jedoch von Natur aus einen hohen Hä - Aber in dem Prozess geht es um die Fra - zunächst wieder zurückgegeben. Dann matokritwert, ich konnte nur mit Mikro - ge, ob ich Holczer betrogen, angelogen habe ich im zweiten Jahr bei Telekom dosen arbeiten, um bei Kontrollen nicht und getäuscht habe – jemanden, der zu viel Gas gegeben. Aber es stellten sich aufzufallen. Vor allem darf man den Pla - dieser Zeit bei fast allen Rennen dabei keine Erfolge ein. Ich bin in ein Loch ge - cebo-Effekt nicht unterschätzen. Du hast war und auch mit den Ärzten gesprochen fallen und musste wegen Pfeifferschen das Gefühl, dass es jetzt richtig abgeht – hat. Der hat schon mitbekommen, was Drüsenfiebers monatelang pausieren. Ich ohne großartig in die Pedale zu treten. um ihn herum passiert ist. war stolz gewesen, sauber zu sein. Aber Du fühlst dich wie ein Kind, das wie Obe -

# $"  ! 14/2013 95 Sport lix in den Zaubertrank gefallen ist. trainiert bist, überstehst du die Ich habe dann auch prompt meine Strapazen der Tour nicht. erste Etappe eines Profi-Rennens SPIEGEL: Nach der Tour starteten gewonnen. Sie bei der WM in Stuttgart, Sie SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, gewannen Bronze. Es gab Doping - dass die psychische Wirkung grö - verdächtigungen gegen Sie. Wie ßer ist als die physische? haben Sie reagiert? Schumacher: Die Rennen werden Schumacher: Heute ist klar, dass die A P am Ende im Kopf entschieden. D Anschuldigungen falsch waren.

/

E

Die Schmerzen sind dann wahn - C Die Werte haben einfach nicht N A I L

sinnig. Und wenn man im Finale L gestimmt, das war Schluderei. A - E geschlagen wird, ist das wie eine R Objektiv muss man aber sagen, U T C körperliche Erniedrigung. Wenn I dass die Fahnder nicht den Fal - P

/

ich das erlebe, bin ich eher bereit, Y schen getroffen haben. Subjektiv V U O alles zu nehmen, um das nächste B habe ich das damals dennoch als

S A Mal ein bisschen weniger Schmer - L Rufmord betrachtet. Ich hatte bei O C I zen zu haben. Wenn ich Epo sprit - N der WM alles gegeben, was in mir ze, fangen die Beine etwas später Etappensieger Schumacher*: „Alle hatten Schiss“ steckte, wegen meiner Bronze - an zu brennen. Epo gab mir das medaille wurde ich als Held ge - Gefühl von Chancengleichheit. Dadurch SPIEGEL: Haben Sie bei Gerolsteiner Ihr feiert. Und dann war alles weg. Der entstand vor allem eine psychische Ab - Dopingkonzept geändert? Schmerz und die Verwirrung waren un - hängigkeit. Schumacher: Nein, ich habe zwar mal Epo endlich groß. SPIEGEL: Haben die Siege Sie verändert? anderer Hersteller ausprobiert, aber die SPIEGEL: Offenbar so groß, dass Sie nach Schumacher: Wenn man einmal das Ge - Dosierung blieb ziemlich konstant. einer durchzechten Nacht mit Ihrem fühl erlebt hat, will man es immer wieder SPIEGEL: Woher haben Sie die Präparate Auto in einen Gartenzaun gefahren sind. haben. Deshalb habe ich die Spielregeln bekommen? In Ihrer Blutprobe fand die Polizei Spu - akzeptiert. Siege wurden mein Maßstab. Schumacher: Zum Großteil von unseren ren von Ecstasy, einer beliebten Party - Anfangs habe ich wegen der Dopingmit - Teamärzten. droge. tel einen inneren Kampf geführt, aber Schumacher: Für mich war Alkohol eine dieses Zerrüttetsein ist irgendwann weg. 2007 gewann Schumacher seinen ersten Zeitlang ein Allheilmittel, um meine mie - Doping wird zum Alltag, wie der Teller Klassiker, das in Hol - se Stimmung zu vergessen. Auf jeden Fall Nudeln nach dem Training. land, zudem die Bayern-Rundfahrt. Erst - konnte ich nun ehemalige Fahrer verste - SPIEGEL: 2005 unterschrieben Sie einen mals nahm er an der Tour de France teil. hen, die nach Abstürzen zu Drogen ge - Vertrag bei Gerolsteiner. Haben Sie zu griffen hatten. Ich fühlte mich von dem dem Zeitpunkt so gut verdient wie andere SPIEGEL: Wie fährt es sich bei der Tour de System ausgespuckt. Rückblickend hätte Weltklasse-Athleten? France, wenn alle Radfahrer unter Gene - ich spätestens zu diesem Zeitpunkt pro - Schumacher: Ich hatte bei Gerolsteiner ei - ralverdacht stehen? fessionelle Hilfe benötigt. Stattdessen be - nen Dreijahresvertrag über 90 000 Euro Schumacher: Es tat mir weh, dass wir uns kam ich von Teamärzten Antidepressi - Jahresgehalt mit der Klausel, dass über wie Verrückte quälten, und die Leute va – und weiter ging’s. die Höhe neu verhandelt wird, wenn ich dachten, die hauen sich Spritzen rein, und SPIEGEL: Wie reagierte Holczer? ein Pro-Tour-Rennen gewinne – also ein alles läuft von allein. Epo kann den Un - Schumacher: Er drohte, mich aus dem Rennen der höchsten Kategorie. Meine terschied zwischen Sieg und Niederlage Team zu werfen. Er bestand darauf, dass beiden Etappensiege beim Giro d’Italia ausmachen. Aber du kannst dir noch so ich ihm eine Strafe bezahlen sollte. Ich zählten aber nicht dazu. Dennoch habe viel reinjagen – wenn du nicht brutal gut wollte das Geld einer karitativen Einrich - ich im Sommer das Gespräch mit Holczer gesucht. Ich habe vorgeschlagen, dass er mein Gehalt auf knapp 300 000 erhöht, Die Schnellmacher Ausgewählte Dopingmethoden im Radsport die Klausel wäre dann hinfällig geworden. Wir haben ewig gefeilscht, ohne Ergebnis. Epo Eigenblut Anabolika Und dann gewinne ich die Benelux- Erythropoietin vermehrt wird dem Sportler abgenom- wie Testosteron und Rundfahrt, mit einer Sekunde Vorsprung. die Zahl der roten Blut- men, konserviert und vor Clenbuterol fördern die Der Zufall wollte es auch noch, dass mein körperchen (Erythrozyten) dem Wettkampf wieder zu- Regeneration und den ärgster Konkurrent kurz vor dem Ende für besseren Sauerstoff- geführt, um die Zahl der Muskelaufbau. stürzte. Also wurde neu verhandelt. Ich transport. Erythrozyten zu erhöhen. habe dann 675 000 Euro bekommen. SPIEGEL: Ein gewaltiger Sprung. Der Einnahme überführte oder geständige Radsportler: Floyd Landis, Schumacher: Lance Armstrong, Jan Ullrich, , Das ist schon krank. Es gibt Davide Rebellin, Tyler , Lance Armstrong u.a. eine riesige Spanne zwischen den Gehäl - Hamilton, Erik Zabel u.a. Lance Armstrong u.a. tern, und oft macht es nur Kleinigkeiten aus, wer am Existenzminimum fährt und wer Millionen kassiert. Ohne eine gute Wachstumshormon Kortikoide Synacthen Mannschaft gewinnst du keinen Blumen - (HGH) wird wegen einer sind in erster Linie Ent- stimuliert die körper- vermuteten anabolen zündungshemmer. eigene Produktion von topf. Die Aufmerksamkeit, den Ruhm, Wirkung genommen. Als Dopingmittel benutzt Kortikoiden. die dicken Verträge bekommen aber nur wegen ihrer euphorisieren- diejenigen, die ganz oben stehen. Das den Wirkung. macht extrem anfällig für Doping. Bernhard Kohl, Lance Armstrong, Patrik Sinkewitz, Michael Rasmussen, Jörg Jaksche, Ludo Dierckxsens, * Nach der Dopingkontrolle bei der Tour de France am 8. Juli 2008 in Cholet. Tyler Hamilton u.a. Bjarne Riis u.a. Jörg Jaksche u.a.

96 # $"  ! 14/2013 tung spenden. Das hat er abgelehnt. Erst als ich ihm 40 000 Euro gezahlt habe, war wieder alles in Ordnung. Ich wurde sogar Kapitän. Mich erinnert das an den Ab - lasshandel im Mittelalter. SPIEGEL: Holczer hat die „Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport“ mitge - gründet. Womöglich lag ihm viel daran, die Moral im Radsport zu verbessern. Schumacher: Als Anti-Doping-Kämpfer stand er im Rampenlicht, das gefiel ihm. Dass er nichts vom Doping in seinem Team wusste, wie er behauptet, stimmt nicht. Davide Rebellin, Levi Leipheimer, Schumacher, Bernhard Kohl – fast alle seine Spitzenfahrer waren irgendwann in Dopingfälle verstrickt. Und Holczer hat nie etwas davon mitbekommen? SPIEGEL: Was veranlasste ihn, davon aus - zugehen, dass Sie sauber sind? Schumacher: Ich glaube nicht, dass er das wirklich gedacht hat. Nachdem ich 2007 das Amstel Gold Race gewonnen hatte, fragte er: Schumi, du hast nichts mit Fuentes zu tun, oder? Er meinte den spa - nischen Dopingarzt. Ich habe ihm geant - wortet, dass ich mit dem nichts zu tun habe, was ja auch der Wahrheit ent - sprach. Er hat noch gesagt, er glaube ja, dass ich für einen Weltklassefahrer relativ sauber sei. Aber unsere Teamärzte wuss - ten doch Bescheid. Sie haben zum Teil aktiv beim Dopen mitgemischt. Und Holczer hat ständig mit den Ärzten ge - redet, die er ja auch eingestellt hat. Er hat nach außen den großen Mahner ge - geben, intern änderte sich nie etwas. Das war russisches Roulette. SPIEGEL: Was hätte er denn konkret tun können? Schumacher: Eine ganze Menge: profes - sionelle Strukturen aufbauen mit Psycho - logen, Ernährungsberatern, Trainingswis - senschaftlern, wie das zum Teil bei an - deren Teams der Fall war. Stattdessen waren immer Teamärzte dabei – und jede Menge Medikamente im Mannschaftsbus. Angefangen von Koffein- und Schlafta - bletten bis zu den dicksten Hämmern von Schmerzmitteln wie Tramadol. Auch das Potenzmittel Viagra war im Koffer, das sollte die Atmung verbessern. Die meis - ten Sachen konnte sich jeder aus der Me - dikamentenbox nehmen. Das war völlig verrückt. Zudem spritzten die Ärzte vor und nach Rennen Aminosäuren, Minera - lien, Säureblocker und gefäßerweiternde Mittel wie Actovegin. Heute sind Infusio - nen ohne medizinische Indikation grund - sätzlich verboten. Es wurden falsche Re - zepte für Kortisonpräparate ausgestellt. Und es wurde das Multiple-Sklerose-Prä - parat Synacthen, das auf der Dopingliste steht, herausgegeben. Einen so laxen Um - gang mit Medikamenten habe ich nur bei Gerolsteiner erlebt, und Holczer war darüber bestens im Bilde. SPIEGEL: Schon vor der Tour de France 2008 war klar, dass Gerolsteiner aus dem

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Radsport aussteigt. Sie standen unter Dinge machen würden. 2006 hat mir mei - Druck, einen neuen Rennstall zu finden. ne Mutter intensiv ins Gewissen geredet. Haben Sie deshalb zu Cera, einem neuen Ich wollte sie da nicht reinreißen und Epo-Mittel, gegriffen? habe gesagt, dass ich nichts mache. Es ist Schumacher: Nach den negativen Erfah - so anstrengend, überzeugend zu lügen, rungen bei der Tour 2007 wollte ich ei - das ist furchtbar. Aber ich habe diesen gentlich 2008 gar nichts nehmen. Dann Weg selbst gewählt, deshalb darf ich mich habe ich mich anders entschieden. Cera auch nicht beschweren. war plötzlich sehr verbreitet. Sogar in SPIEGEL: Haben Sie das Verhältnis zu Ihrer Fachzeitungen konnte man darüber lesen. Freundin in Ordnung bringen können? Es hieß immer, auch von den Ärzten, kein Schumacher: Das ist jetzt fast fünf Jahre Dopingtest könne Cera finden. Mein Ver - her, aber mich lässt es nicht los. Ina und trag lief aus, das Frühjahr lief verkorkst ich haben geheiratet. Aber ich habe im - für mich. Da kam wieder das Gefühl mer noch Flashbacks, muss an die Um - hoch: Du musst es allen zeigen – zur Not stände meiner Beichte denken. Meine mit Cera. Frau ist kein zartes Püppchen, sondern eine starke Persönlichkeit, aber bei die - Schumacher gewann 2008 bei der Tour sem Thema reagiert sie weiterhin sehr beide Einzel-Zeitfahren. Zwei Tage lang emotional. Unsere Hochzeit 2010 war für trug er das Gelbe Trikot des Spitzen- uns auch wie ein symbolischer Neuan - reiters. Für die „Bild“-Zeitung war er der fang. Dass Ina zu mir gehalten hat, ist „Rad-Schumi“, Deutschland hatte wieder das große Glück meines Lebens. Doping einen Tour-Helden. hat mich irgendwann auch psychisch zer - mürbt, weil du ständig Angst hast: Angst SPIEGEL: Als Etappensieger mussten Sie vor den Lügen gegenüber deinen Freun - jedes Mal zur Dopingkontrolle, hatten Sie den und deiner Familie, Angst vor der nicht Angst, aufzufallen? Enttarnung, Angst vor der Öffentlichkeit, Schumacher: Ich habe mich zu Beginn völ - die dich ausgrenzt, sobald du erwischt lig sicher gefühlt. Außerdem wurde die wirst. Angst von der Euphorie überdeckt. Ich SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, dass Sie war auf einmal wieder der Allertollste. nicht auch selbst an dieser Situation Holczer fiel mir vor den Fernsehkameras Schuld hatten? in die Arme. Erst als dann der Italiener Schumacher: Natürlich nicht, das wäre ab - Riccardo Riccò während der Tour mit surd. Aber, auch wenn es krank klingt: Cera erwischt wurde, hatten alle Schiss. Moralisch fühlte ich mich damals im Wenn ich über die Ziellinie gefahren bin, Recht, so hatte ich meinen Job als Profi- habe ich geguckt, ob irgendwo Polizisten Radsportler gelernt. Ich gebe Ihnen ein stehen, die mich abholen. Beispiel: Als ich das Amstel Gold Race gewann, landeten hinter mir in dieser Gut zwei Monate nach der Tour gab der Reihenfolge: Davide Rebellin, Danilo Di Bund Deutscher Radfahrer bekannt, dass Luca, Matthias Kessler, Michael Boogerd, Schumacher aufgrund eines neuen Test - Alejandro Valverde. Alle sind inzwischen verfahrens bei nachträglichen Blutpro - des Dopings überführt oder haben Do - benanalysen positiv auf Cera getestet ping zugegeben. Habe ich einen von de - worden war. nen betrogen? Und glauben Sie, dass auf den Plätzen dahinter alle sauber waren? SPIEGEL: Wann haben Sie erfahren, dass SPIEGEL: Ihr Teamkollege Sebastian Lang Dopingtests von Ihnen positiv waren? hat erzählt, er habe bei Ihnen schon im - Schumacher: Ich saß zu Hause beim mer ein schlechtes Gefühl gehabt, weil Abendbrot. Da rief ein Journalist vom Sie als Einziger nicht gejubelt hätten, als Sport-Informations-Dienst an und fragte, während der Tour im Bus bekanntgege - was ich zu meinen positiven Tests sagen ben wurde, dass Cera nachweisbar sei. würde, darüber habe die französische Schumacher: Ich kann mich nicht erinnern, Sportzeitung „L’Équipe“ berichtet. Ich dass bei der Bekanntgabe Partystimmung bin erst mal rausgerannt und habe tele - im Bus ausgebrochen wäre. Ich war ja foniert. Ich bin dann wieder ins Haus zu - nicht der Einzige, dem das Herz in die rück, und dann kam der bisher schlimms - te Moment meines Lebens. Ich musste al - les meiner Freundin Ina beichten, die ich L E

über dieses Thema bis dahin auch belo - G E I P S

gen hatte. Ich sah in ihren Augen, wie R E D

sich ihr Leben komplett veränderte. Ich /

L E

habe die Enttäuschung gespürt, von mir D E I

hintergangen worden zu sein. M H C S SPIEGEL: Wie haben Ihre Eltern reagiert? S A I

Schumacher: H Ich hatte früher mal beiläufig T T A

erwähnt, dass manche Profis schon einige M Schumacher beim SPIEGEL-Gespräch* * Mit dem Redakteur Udo Ludwig in Nürtingen. „Lernen, mich wieder selbst zu mögen“

98 # $"  ! 14/2013 Hose gerutscht ist. Es war schon traurig zu lesen, wie sich einige über mich aus - gekotzt haben, mit denen ich zuvor noch auf dem Zimmer lag. Es gab viele Heuch - ler und Lügner, die vermutlich aus Angst gehandelt haben. Denn ich wusste ja ziemlich genau, was viele andere ge - macht haben.

Schumacher wurde für zwei Jahre ge - sperrt. Der belgische Rennstall Quick Step hob einen Vertrag auf, der ihm in - S I B klusive Prämien und Sponsorengeldern R O C

/ rund eine Million Euro Gehalt im folgen - E L E den Jahr gebracht hätte. Schumacher leg - A W

E

te Einspruch gegen seine Sperre vor dem D

M I

Internationalen Sportgerichtshof CAS T ein. Sein Anwalt Michael Lehner sagt, bei Radprofi Schumacher 2007: „Habe ich einen von denen betrogen?“ vielen Profis der Tour 2008 seien auffälli - ge Befunde festgestellt worden: „In den Schumacher: Ich war zunächst aufbrau - pingprobe musste, sei er „der Einzige ge - mir zugängigen Unterlagen bin ich auf send, unsicher, arrogant und habe mich wesen, der nervös war“, sagte Holczer eine Liste von 45 Fahrern gestoßen.“ An - sehr schwergetan, mir einzugestehen, auf dem Podium. Kann ein Rennstallbe - kündigungen des damaligen Chefs der dass ich Fehler gemacht habe. Ich habe sitzer betrogen werden, der selbst mit der französischen Anti-Doping-Agentur, Pier- trotzig gefragt, warum ausgerechnet ich Dopingeinnahme seiner Fahrer rechnet? re Bordry, es werde viele weitere Doping - jetzt sauber sein soll. Der Staatsanwalt hat Schumacher einen fälle geben, erfüllten sich nicht. SPIEGEL: Womit hat Ihr Mentaltrainer Sie Deal vorgeschlagen. Er solle zugeben, überzeugt? dass er betrogen habe, und er solle eine SPIEGEL: Fühlen Sie sich als Opfer, weil Schumacher: Er hat mir gesagt, der Rad - Geldstrafe bezahlen. Aber zugeben, dass Sie einer der wenigen waren, die öffent - sport werde sauberer, und ich müsse auch er den Rennstallbesitzer betrogen habe, lich enttarnt wurden? wegen meiner Vergangenheit Teil davon könne er nicht, sagt Schumacher, „da Schumacher: Ich weiß ja, wie viele Fahrer sein. Vielleicht ist es naiv, aber ich glaube, müsste ich ja schon wieder lügen“. Cera genommen haben. Aber ich will nie - dass sich gerade wirklich etwas verändert. manden öffentlich denunzieren. Und ich In kaum einer anderen Sportart wird so SPIEGEL: Glauben Sie ernsthaft an die bin bereit, mein Wissen mit den relevan - viel gegen Doping getan. Rückkehr ins große Radgeschäft? ten Organisationen wie Wada, Nada, UCI Schumacher: Das liegt leider nicht nur an zu teilen – wenn es gewünscht ist. In mei - Nach dem Ablauf seiner Dopingsperre mir, sondern auch daran, ob mir jemand nem Fall bleibt klar: Ich habe das Zeug stieg Schumacher im September 2010 beim eine neue Chance gibt. Ich fahre jetzt genommen. Dafür bin ich verantwortlich. italienischen Team Miche-Guerciotti ein. seit zweieinhalb Jahren in einer kleinen, SPIEGEL: Wie haben Sie die zwei Jahre Für das drittklassige Team gewann er 2011 ambitionierten Mannschaft. Ich verdiene Sperre überstanden? bei der Asturien- und der Aserbaidschan- nicht viel Geld, aber ich fahre jedes Schumacher: Ich bin in ein tiefes Loch ge - Rundfahrt. 2012 wechselte er zum däni - Rennen, als wäre es mein letztes. Das ist fallen. Ich bin jeden Abend mit Kumpels schen Team Christina Watches-Onfone. wie in einer Beziehung zwischen Mann unterwegs gewesen. Und wenn ich nicht Siege bei Rundfahrten in Serbien und Chi - und Frau, die viele Male am Ende ist; ein intaktes Umfeld hätte, wäre ich wohl na folgten. Kurz nach Bekanntwerden sei - aber die Liebe bleibt. Mein klares Ziel zum Alkoholiker geworden. Ich konnte ner Cera-Befunde hatte ihn die Nationale ist es, mich noch einmal auch bei großen kaum schlafen. Mit jeder Form der Ruhe Anti-Doping-Agentur angezeigt. Nun ist Rennen mit den Besten der Welt zu mes - konnte ich nicht umgehen. Es dauerte er angeklagt wegen Betrugs gegen den sen. Ich gebe nicht so schnell auf. Ich eine Zeit, bis ich mich wieder aufs Rad Rennstallbesitzer Holczer, ab 10. April weiß, dass ich das noch drauf habe. setzen konnte. Das Wichtigste war die wird vor dem Landgericht Stuttgart ver - SPIEGEL: Ist es nicht naiv, zu glauben, der Arbeit mit meinem Mentaltrainer Holger handelt. Es ist ein Pilotverfahren – nie - Radsport könne dopingfrei sein? Fischer. mals zuvor stand in Deutschland ein Schumacher: Auch wenn man noch immer SPIEGEL: Wie hat er Ihnen geholfen? Sportler als Dopingbetrüger vor Gericht. große Zweifel über die Leistungen einzel - Schumacher: Wir haben viele Gespräche Schumachers Anwalt Dieter Rössner, eme - ner Fahrer haben muss, ist die Branche geführt. Ich musste den Schmerz verar - ritierter Professor für Strafrecht und Kri - doch wesentlich sauberer geworden – es beiten. Ich musste lernen, mich wieder minologie der Universität Marburg, hatte ist heute deutlich schwieriger, zu betrügen. selbst zu mögen, auch wenn ich nicht sie - versucht, eine Einstellung zu erwirken. Vielleicht sind wir gerade an einem Wen - ge. Bis dahin hatte ich ja mein Selbstbe - Schumacher habe seine Sperre abgeses - depunkt. Ich weiß ja mittlerweile, dass es wusstsein fast allein aus den Erfolgen im sen, das vermeintliche Delikt sei nunmehr ohne Doping geht. Ich will unbedingt Ren - Radsport gezogen. Ich musste lernen, dass fast fünf Jahre her. „Er ist genug gestraft“, nen fahren. Ich hatte in den vergangenen ich aus der Rolle des Opfers herausmuss. sagt Rössner. Es ist ein eigenartiges Ver - beiden Jahren viel Pech mit Stürzen und Mir war ja lange Zeit gar nicht klar, dass fahren. Auf einer Podiumsdiskussion Ende Defekten – und habe trotzdem einige Ren - ich nach der Sperre sauber bleiben will. März in Stuttgart schilderte Holczer, wie nen gewonnen. Auf jeden Fall fahre ich Irgendwann hat es klick gemacht. Ich habe er 2005 zu seinem damaligen Fahrer Levi jetzt sauber. Denn ich kann und will ein - verstanden, dass es nicht richtig ist, das Leipheimer gesagt habe: „Du bist nicht fach nicht mehr lügen. Ich traue mir zu, falsche Spiel wieder mitzuspielen – nur sauber, das ist nicht okay, sag mir, was auch große Rennen völlig sauber zu ge - weil Doping Teil des Systems ist. du gemacht hast.“ Dennoch stellte Holczer winnen, wenn alles passt. Wenn es nicht SPIEGEL: Sie haben erkennen müssen, dass ihn 2006 wieder als Kapitän auf. Und als so wäre, hätte es für mich keinen Sinn. nicht nur der Radsport ein Problem war, sein damaliger Fahrer Bernhard Kohl 2008 SPIEGEL: Herr Schumacher, wir danken Ih - sondern auch Sie selbst? kurz vor dem Tour-Sieg stand und zur Do - nen für dieses Gespräch.

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