Zürcher Journalistenpreis 10

Balz Bruppacher Preis für das Gesamtwerk

Viktor Dammann Skandal im Zürcher Pflegeheim Entlisberg

Mathias Ninck Bericht zu Dr. E. Roduner

Christian Kündig Lukas Messmer Die Endstation Der Zürcher Journalisten- preis

Es gibt nicht wenige Medienpreise in der Preisträger 2010 Schweiz. Kaum einer aber hat eine so lange Tradition wie der Zürcher Journalistenpreis, Balz Bruppacher der vom Zürcher Presseverein (ZPV) ins Leben gerufen und 1981 erstmals verliehen worden Preis für das Gesamtwerk 6 ist. Trägerin ist heute die Stiftung Zürcher Jour- nalistenpreis. Ihr Zweck ist es, über die Aus- Kategorie Zeitung schreibung und Vergabe eines Preises einen Viktor Dammann konkreten Beitrag zur Förderung der journa- listischen Qualität zu leisten. Die Prämierung Skandal im Zürcher von herausragenden Arbeiten soll Journalistin- Pflegeheim Entlisberg 12 nen und Journalisten ermutigen, ihre unter immer anspruchsvolleren Bedingungen zu leistende Aufgabe inhaltlich wie auch stilistisch Kategorie Zeitschrift auf hohem Niveau zu meistern und journalis- Mathias Ninck tische Werke zu schaffen, die über den Tag hin- Bericht zu Dr. E. Roduner 18 aus in Erinnerung bleiben. Die Arbeiten, die in Produkten von Medien- verlagen der Kantone Zürich und Schaffhausen Kategorie Nachwuchs publiziert worden sind oder die von Autorinnen Christian Kündig und Autoren stammen, die hauptsächlich in diesen Kantonen tätig sind, werden von einer Lukas Messmer unabhängigen, sich aus Journalisten und Die Endstation 25 Publizisten zusammensetzenden fünfköpfigen Jury begutachtet. Jährlich gehen über 150 Arbeiten ein, die in einem mehrstufigen Verfah- ren ausgewertet werden. Die Preisgelder stam- men von einer ganzen Reihe von Sponsoren. Bewusst verzichtet die Stiftung auf einen Hauptsponsor, um die Unabhängigkeit des Journalistenpreises auch in dieser Hinsicht zu gewährleisten. Die feierliche Preisverleihung, zu der zahlreiche Persönlichkeiten aus Medien, Politik und Wirtschaft eingeladen werden, wird mit dem Beitrag finanziert, den der ZPV der Stiftung aus dem Erlös des Schweizer Medienballs & Zürcher Presseballs zuspricht. Grussadresse des Stiftungsratspräsidenten

Sehr geehrte Damen und Herren

In diesem Jahr wird der Zürcher Journalistenpreis Weiter im Stiftungsrat zum 30. Mal verliehen. Er wurde 1980 vom Zürcher Presseverein ZPV ins Leben gerufen Dr. Esther Girsberger und ein Jahr später – im Anschluss an die General- freie Journalistin/Publizistin versammlung des ZPV – erstmals verliehen. Zahlreiche bekannte Namen zieren heute die Manuela Nyffenegger Liste der Preisträgerinnen und Preisträger: Hugo Neue Zürcher Zeitung Bütler, Niklaus Meienberg, Beat Kappeler oder Jürg Ramspeck – um nur einige zu nennen. Seit David Strohm der ersten Verleihung hat sich einiges geändert: NZZ am Sonntag 1987 gründete der ZPV die Stiftung Zürcher Journalistenpreis. Später wurde ein eigener feier- licher Anlass geschaffen, an dem jeweils über 150 Geschäftsführung Persönlichkeiten aus Medien, Wirtschaft und Politik teilnehmen und Mitglieder des Bundesrats Monika Menne regelmässig die Gastreferate halten. Die Summe der Preisgelder ist mittlerweile auf 40'000 Franken pro Jahr angewachsen. Jury Eines aber ist geblieben: Das Ziel, mit der Verleihung des Preises die Qualität im Print- Fredy Gsteiger (Präsident) journalismus zu fördern. Ein hochgestecktes Radio DRS Ziel, vor allem im heutigen Umfeld, in der die Qualitätsbemühungen durch Konkurrenzdruck, Andrea Masüger Sparmassnahmen und verändertes Leseverhalten Die Südostschweiz arg drangsaliert werden. Jedoch: Der Zürcher Journalistenpreis gilt als einer der renommier- Marco Meier testen Preise in der Schweiz. Deshalb sind Stif- Radio DRS tungsrat und Jury überzeugt, dass die jährliche Verleihung für die Medienschaffenden einen Susanne Mühlemann wirksamen Anreiz darstellt, sich bei der täglichen Bilanz Arbeit um Qualität zu bemühen. Dass dieser Anreiz durch einen «Bonus» von 10’000 Franken Margrit Sprecher pro Beitrag materiell verstärkt wird, ist ausdrück- Publizistin lich – und mit gutem Gewissen – beabsichtigt.

Dr. Christoph Born Rechtsanwalt Präsident der Stiftung Zürcher Journalistenpreis

Journalistenpreis 2010 3 Die Jury Fredy Gsteiger Andrea Masüger

Fredy Gsteiger wurde 1962 Geboren am 14. März 1957 in geboren. Schon in Chur. Andrea Masüger als 19-jähriger Gymnasiast absolvierte die Schulen und liess er sich mit dem Jour- eine Lehre als Fotograf in nalismus ein, der ihn seither Chur. 1977 trat er als Prak- nicht mehr losliess. Wäh- tikant in die Redaktion rend des Studiums der der «Bündner Zeitung» ein. Wirtschaftswissenschaften Von 1979 bis 1987 arbeitete in St. Gallen und später der Politikwissenschaft er als Bundeshausredaktor für die «Bündner in Lyon und im kanadischen Québec arbeitete Zeitung» in Bern, dabei war er auch für Schweizer Gsteiger als Werkstudent für den Berner «Bund» Radio DRS, die «Berner Zeitung» und andere und für das «St. Galler Tagblatt», in dessen Medien tätig. 1987 wurde er stellvertretender Auslandredaktion er später eintrat. Nach einer Chefredaktor, 1992 dann Chefredaktor der Hospitanz bei der deutschen Wochenzeitung «Bündner Zeitung». 1997 übernahm er die Chef- «Die Zeit» wechselte er nach Hamburg. Dort redaktion der «Südostschweiz». Heute ist war er zuerst viereinhalb Jahre lang für die Nah- Masüger Publizistischer Direktor der Südost- ostberichterstattung zuständig, danach ging er schweiz Medien und Delegierter des Verwal- als Korrespondent nach . 1997 übernahm tungsrates der Südostschweiz Presse und Print Fredy Gsteiger die Chefredaktion der «Weltwo- AG sowie Stellvertreter des Verlegers. Zu che» in Zürich, 2002 wechselte er vom Zeitungs- seinen Hobbys zählen Fotografieren und Wein. zum Radiojournalismus und wurde Produzent des «Echo der Zeit» von Schweizer Radio DRS. Seit vier Jahren kümmert er sich als dessen dip- lomatischer Korrespondent um Themen der internationalen Aussen- und Sicherheitspolitik. Gsteiger ist Vorstandsmitglied des International Press Institute IPI und seit 2005 Präsident der Jury des Zürcher Journalistenpreises.

4 Journalistenpreis 2010 Marco Meier Susanne Mühlemann Margrit Sprecher

Marco Meier, geboren 1953 Susanne Mühlemann, Margrit Sprecher wurde in im luzernischen Sursee, geboren 1968, ist im Kanton Chur geboren und studierte studierte Philosophie und Thurgau am Untersee in München und Wien Theologie an der Universi- aufgewachsen. Nach der Zeitungs- und Theaterwis- tät Fribourg. Er war von Matura und dem Studium senschaft. Bis 1999 leitete 1980 bis 1984 Redaktor bei der Staatswissenschaften an sie das Ressort Leben heute der «Weltwoche» und – der Hochschule St. Gallen bei der «Weltwoche»; seit- nach einer längeren Studi- stieg sie als Wirtschafts- her arbeitet sie als Reporte- enreise durch die USA und Lateinamerika – redaktorin bei der «Bilanz» ein. Es folgten rin für Zeitschriften im In- und Ausland sowie von 1985 bis 1987 Redaktor bei der Zeitschrift Stationen als Wirtschafts- und Medienredaktorin als Buchautorin. Zu ihren Werken gehören «Magma». 1988 bis 1995 war Meier stellvertre- beim «Tages-Anzeiger» und beim «SonntagsBlick». unter anderem: «Leben und Sterben im Todes- tender Chefredaktor der Zeitschrift «du» unter Bei beiden Blättern betreute sie die eigens trakt» (Haffmanns Verlag); «Ungebetene Dieter Bachmann von 1988, danach bis 1998 aufgebauten Medienseiten. 2003 wechselte Besuche», Reportagen und Porträts (Suhrkamp Direktor des Medienausbildungszentrums (MAZ) Mühlemann als Ressortleiterin Wirtschaft und Verlag); «Sich aus der Flut des Gewöhnlichen in Luzern. Als Chefredaktor kehrte er zum «du» Medien zur «AargauerZeitung»/«Mittelland herausheben – die Kunst der grossen Reportage» zurück, das er bis Ende 2002 leitete. Von 2003 Zeitung». Danach war sie von 2005 bis 2007 (Picus Verlag); «Die Mitte des Volkes – Expedi- bis 2008 war Marco Meier Redaktionsleiter der stellvertretende Chefredaktorin beim «Sonntags- tionen in die Welt der SVP» (Edition Patrick «Sternstunden» beim Schweizer Fernsehen. Seit Blick», wo sie auch als Autorin für Wirtschaft Frey) und «Das andere Radio – DRS 2» (NZZ März 2008 ist er Programmleiter von Schweizer und Politik wirkte. Seit September 2008 ist Libro). Radio DRS 2. Marco Meier wohnt mit seiner sie bei der «Bilanz» für das Ressort Trend ver- Margrit Sprecher erhielt etliche Preise, Frau und zwei Kindern in Luzern. antwortlich. darunter den deutschen Kisch-Preis (1992), den Zürcher Journalistenpreis für ihr Gesamt- werk (2003) und den Bündner Literaturpreis (2008). Margrit Sprecher lebt in Zürich und Graubünden.

Journalistenpreis 2010 5 6 Journalistenpreis 2010 Laudatio

Laudatio für das Gesamtwerk von Balz Bruppacher, ehemals Chefredaktor AP

Balz Bruppacher

Es begann Mitte der 1960-er Jahre mit Straf- Auch im Journalismus gibt es die, welche im und sprachlich leicht antiquierte Nachrichten- aufgaben im Geschichtsunterricht an der Licht und jene, die im Schatten stehen. Die tante SDA. Jahrelang profitierten die Zeitungen Mittelschule: Drei A-4-Seiten über ein aktuelles Verleihung des Zürcher Journalistenpreises ist vom Wettbewerb der Agenturen, und unter politisches Thema schreiben! Der 16- oder natürlich eine Licht-Veranstaltung, denn es dem Druck des kleinen, frechen Davids moder- 17-Jährige, den Politik erst am Rande interes- werden Damen und Herren ausgezeichnet, nisierte sich auch der Herr Goliath ein bisschen. sierte, lieh sich vom Grossvater die NZZ aus und die sich öffentlich exponiert haben, die durch Als dann aber im Zuge der Wirtschaftskrise im- kaufte aus dem Taschengeld die «Weltwoche». besondere Arbeiten aufgefallen sind. mer mehr Verlagshäuser die teure SDA raus- Daraus wurde ein Text über die US-Offensive Im Schatten des Journalismus arbeitet eine warfen und mit der fixen AP Vorlieb nahmen, in Vietnam zusammengeschustert, mit eifrigem grosse Zahl fleissiger Arbeitsbienen, die zwar zog Goliath den Knüppel aus dem Sack. Ende Bemühen, die teils schwer verständliche Sprache niemand kennt, ohne die Zeitungsmachen aber letzten Jahres kaufte die SDA die kleine AP auf, der Journalisten ins Deutsch des Gymnasiasten kaum möglich wäre. Es sind die Agenturjour- die inzwischen Besitzern gehörte, denen alles umzuschreiben. nalistinnen und -journalisten, welche nicht nur wurst war. Quasi noch gleichentags wurde die Zehn Jahre später, im Herbst 1977, war die tagtäglich, sondern stündlich und minütlich Agentur aufgelöst, die Redaktion auf die Strasse Berufswahl dann eher ein Zufallsentscheid denn die Zeitungen mit News und Hintergrund be- gestellt. Zur Kenntnis nahm dies kaum jemand, innere Berufung. Nach Abschluss des National- liefern, welche diese entweder abdrucken und/ Agenturjournalisten stehen ja im Schatten… ökonomie-Studiums absolvierte ich bei der oder als Rohstoff für eigene Recherchen benut- Aber Balz Bruppacher bekommt den Preis Nachrichtenagentur ddp in Bern ein Volontariat. zen. Agenturjournalismus ist gewissermassen fürs Gesamtwerk nicht etwa, weil er Opfer dieser Obwohl mir das Tempo der Berichterstattung das Blut im Körper der Zeitung. Aber eben: struben Geschichte wurde. Auch nicht, weil anfänglich ausserordentlich schwer fiel, sollte Unbekanntes Blut. Die anonymen Spender er sich mit seiner Redaktion solidarisch zeigte mich der Agenturjournalismus während mehr heissen SDA (Schweizerische Depeschenagentur), und sich nicht mit einem neuen, nur für ihn als drei Jahrzehnten festhalten. Reuters, AP (Associated Press). bestimmten Angebot ködern liess. Nein, Balz Als Zürcher Korrespondent – zunächst für ddp Balz Bruppacher hat vor fast 30 Jahren den Bruppacher hat auch als schreibender Journalist und ab Frühling 1981 für Associated Press (AP) – Schweizer Dienst der Nachrichtenagentur AP Geschichte geschrieben. Seine AP-Berichte – vor erfuhr ich dank den Jugendunruhen, was es mit aufgebaut und 26 Jahre lang als Chefredaktor allem Analysen im wirtschaftlichen Bereich – heisst, als Reporter zu arbeiten. Ende 1983 lan- geführt. Das Angebot an Auslandsmeldungen, sind Legende. Manche kleinere Zeitungen haben dete ich auf dem Posten des Chefredaktors des die aus Frankfurt kamen, reicherte er gemeinsam dank seinen gut geschriebenen und fundierten Schweizer AP-Dienstes in Bern. Trotz neuen und mit zwei Dutzend Mitarbeitern mit Inlandmel- Texten auch so komplexe Angelegenheiten wie schwierigen Aufgaben blieb im überschaubaren dungen an; aus Zürich, Bern, aus dem Bundes- ein Swissair-Debakel und einen UBS-Skandal Team immer Zeit fürs Schreiben. haus. Die Agentur war schnell für ihre griffigen fundiert an die Leserschaft bringen können. Das ideale Umfeld für seriösen und unabhängi- Texte, ihre schnelle Reaktion und ihre intelli- Balz Bruppacher ist ein Denkmal für alle, die gen Nachrichtenjournalismus sowie das Gefühl, genten Recherchen berühmt. Chefredaktoren im Schatten stehen. Für solche, die im Stillen einen sinnvollen Job zu machen, hielten mich verglichen die Kosten für den Zwerg AP bald grossartigen Journalismus leisten. Aber auch für vom Wechsel zu anderen Medien ab. Über mit jenen für den Koloss SDA, der über den all jene, die man nach Jahren der Treue einfach Selbstzweifel und Misserfolge halfen Treue und zehnfachen Personalbestand verfügte. Die AP auf die Strasse stellt. Beides gehört zusammen, Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen war für einen Bruchteil der SDA-Gebühren beides ist eben ein Gesamtwerk. hinweg und privat der Rückhalt der Familie, zu haben, lieferte oft schneller, aktueller und allen voran jener meiner Frau. einfach besser als die etwas träge, selbstgerechte Andrea Masüger

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Finanzpolitische Revolution rollt an

© AP 15.02.1996, 09:24 In dem Grundsatzpapier wird erstmals Ressourcenindex statt Finanzkraftindex deutlich, wie diese Ziele konkret erreicht Weitere Eckpfeiler der Reform betreffen die Bund und Kantone einigen sich auf Grundzüge werden sollen. Politisch brisant sind vor allem zwingend vorgeschriebene interkantonale der Reform des Finanzausgleichs – Tiefgreifende die Vorschläge zur Aufgabenentflechtung. Die Zusammenarbeit mit Lastenausgleich, die Ein- Aufgabenentflechtung geplant – Sparvolumen von Projektorganisation untersuchte alle Bereiche, führung von Global- und Pauschalbeiträgen mindestens drei Milliarden erhofft in denen zwischen Bund und Kantonen Ver- des Bundes anstelle der bisherigen prozentualen flechtungen bestehen. Davon sollen neu 21 voll- Kostenbeteiligungen sowie die grundlegende Von AP-Korrespondent Balz Bruppacher umfänglich den Kantonen und acht vollständig Neugestaltung für das Ausgleichssystem unter dem Bund zugeordnet werden. Diese getrennten den Kantonen. Konkrete Folgen hätte die Aufgaben umfassen 40 Prozent des gesamten Kompetenzentflechtung zum Beispiel im öffent- Bern (AP) Im Schatten der Sanierungsdebatte Transfervolumens oder knapp elf Milliarden lichen Regionalverkehr, wo sich der Bund rollt eine finanzpolitische Revolution an. Aus Franken. In den verbleibenden Bereichen ist weitgehend aus der Finanzierung zurückziehen einem der AP vorliegenden Papier wird erstmals geplant, Kompetenzen und Rollen der beiden würde. deutlich, wo Bund und Kantone bei der Reform Partner neu zu definieren und klar abzugrenzen. Beim Ausgleichssystem soll der heutige des Finanzausgleichs den Hebel ansetzen wollen. Finanzkraftindex durch einen Ressourcenindex Unter anderem sollen rund 50 Aufgabenbereiche Brisante Folgen ersetzt werden, der keine Lastenelemente mehr umgekrempelt werden. Ein Blick auf die Liste der von der Entflechtung enthält, sondern sich im wesentlichen auf die Nach Vorarbeiten der kantonalen Finanz- betroffenen Aufgaben macht die Tragweite des harmonisierten Bemessungsgrundlagen der direktoren unter Leitung des Schwyzer Finanz- Vorhabens deutlich. So wird zum Beispiel die direkten Bundessteuer stützt. Die Projektorga- direktors Franz Marty hatte der Bundesrat im Volksabstimmung vom kommenden 10. März nisation verspricht sich davon eine Vereinfa- Sommer 1994 den Startschuss zur Reform des über die Aufhebung der kantonalen Kompetenz chung und eine politische Steuerung. Um auch Finanzausgleichs gegeben. Unter der Koordina- für die Beschaffung der persönlichen Ausrüs- die finanzschwachen Kantone mit den für tion eines Leitungsorgans mit je vier Vertretern tung von Armeeangehörigen zu einem eigentli- die Aufgabenerfüllung nötigen Ressourcen aus- von Bund und Kantonen haben seither vier chen Testlauf für das Finanzausgleichsprojekt, zustatten, ist geplant, dass die Mittel dieser Projektgruppen die Grundzüge der Jahrhun- soll doch das Militär gemäss den Plänen aus- Kantone durch den Bund auf ein politisch fest- dertreform erarbeitet. Sie beschlägt ein Trans- schliessliche Bundessache werden. Ebenfalls zulegendes Mindestniveau aufgestockt werden. fervolumen von jährlich 27 Milliarden Franken, beim Bund sollen die Leistungen der Kranken- das nicht nur völlig unübersichtlich, sondern versicherung zentralisiert werden. Das würde Ende auch wenig effizient und teilweise gar kontrapro- also bedeuten, dass die zurzeit heiss umstrittenen duktiv ist. Prämienverbilligungsmassnahmen von den Gemäss dem kürzlich von der gemeinsamen Kantonen an den Bund gingen. Umgekehrt Projektorganisation des Eidgenössischen Finanz- sollen die Kantone zur Übernahme der Ergän- departements (EFD) und der Konferenz der zungsleistungen zu AHV und IV verpflichtet kantonalen Finanzdirektoren (FDK) verab- werden. schiedeten Grundsatzpapier verfolgt die Neu- Die Durchsetzung der Pläne erfordert auch ordnung des Finanzausgleichs folgende drei deshalb gewaltige Anstrengungen, weil für Stossrichtungen: Erstens soll das Zusammen- verschiedene Ämter auf beiden Ebenen der spiel zwischen Bund und Kantonen verbessert Abschied vom Besitzstanddenken angesagt ist. werden, indem Aufgaben, Kompetenzen und Auf Bundesebene würde bei Verwirklichung Finanzströme entwirrt werden. Zweitens soll der Pläne zum Beispiel die Rolle des Bundesamts dem Subsidiaritätsprinzip – also dem Grund- für Umwelt, Wald und Landschaft wesentlich satz wonach die höhere Ebene nur dann zum eingeschränkt. Wegen geplanter Kantonalisie- Zug kommt, wenn die untere Ebene eine Auf- rung der Bereiche Wohnbauförderung und gabe nicht selbständig erfüllen kann – wieder Berufsbildung wären das Bundesamt für Woh- zum Durchbruch verholfen und damit dem nungswesen und die Abteilung für Berufsbildung Föderalismus neues Leben eingehaucht werden. im Biga praktisch überflüssig. Die Zuständigkeit Und drittens verspricht man sich einen Spar- der Kantone für Jugend und Sport erforderte beitrag von mindestens drei Milliarden Franken eine neue Trägerschaft der Sportschule Magg- pro Jahr. Der letzte Punkt erhielt im Vergleich lingen. zu früheren Verlautbarungen stärkeres Gewicht. Bundesrat Kaspar Villiger stellte denn die Neuordnung des Finanzausgleichs in seinen jüngsten Stellungnahmen auch klar als Teil seines Sanierungskonzepts dar.

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«Wir sagen natürlich Ja, aber Ja zum Gegenteil»

© AP 09.05.1999, 09:44 Da sind die träfen Sprüche des Präsidenten. Blocher fährt dem Bundesrat an den Karren, Blochers Auns im Kampf gegen die «Verlotterung» weil er es versäumt habe, 1999 das Jubiläum der Aussenpolitik «500 Jahre Loslösung vom Kaiserreich» zu bege- hen. «Vielleicht können wir aber froh sein. Von AP-Korrespondent Balz Bruppacher Sonst hätte sich der Bundesrat vor der ausländi- schen Prominenz noch für den siegreichen Schwabenkrieg entschuldigt», fügt er hinzu. Bern (AP) Christoph Blocher schwimmt auf Der Hinweis auf die «gemeinen Erpressungs- einer Erfolgswelle. Seiner SVP rennen die versuche amerikanischer Kreise» in den letzten Wähler die Türen ein. Seiner Auns strömen die Jahren fehlt ebenso wenig wie der Vorwurf der Mitglieder in Scharen zu. Die 14. Mitglieder- «Verlotterung der schweizerischen Aussenpoli- versammlung der einst von den siegreichen tik». Wohin die «classe politique» eigentlich UN-Gegnern gegründeten Organisation vom gehört, macht Blocher seinen Anhängern ganz Samstag in Bern erlaubte einige Rückschlüsse am Schluss deutlich. Er liest ihnen Artikel 185 auf die Erfolgsrezepte. der Verfassung und Artikel 266 des Strafgesetz- Als Organisation mit besonders vielen buchs vor, auf die ihn angeblich ein erfahrener Dummen und Alten aus der Deutschschweiz Professor kürzlich aufmerksam gemacht hat. werde die Aktion für eine unabhängige und Die Verfassung schreibt dem Bundesrat Mass- neutrale Schweiz (Auns) in den Medien verteu- nahmen zur Wahrung von Unabhängigkeit und felt, sagt Blocher und verweist stolz auf eine Neutralität vor; das Strafgesetz bedroht Hand- 92jährige Dame unter den über 1200 Anwesen- lungen gegen die Unabhängigkeit der Eidge- den, die von Genf nach Bern gereist sei. «Wer nossenschaft mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus. Neider hat, hat Brot; wer keine hat, hat Not», Bei aller Polemik weiss Blocher aber ganz ruft er seinen Anhängern zu. Und zum Image genau, wann er seine Anhänger bremsen muss. des Nein-Sagers bemerkt er: «Wir sagen natür- Als Botschafter Philipp Welti aus dem Departe- lich Ja, aber Ja zum Gegenteil.» ment Ogi den hoffnungslosen Versuch unter- 35’000 Mitglieder oder 5000 mehr als ein nimmt, die Auns-Mitglieder vom Projekt für Jahr zuvor zählt die Auns. Allein in den Monaten bewaffnete Auslandseinsätze der Armee zur März und April seien wieder 1660 dazugekom- Friedensförderung zu überzeugen, lässt der Prä- men, darunter besonders viele Romands und sident die Zwischenrufe und Pfiffe zunächst zunehmend Junge, sagte Blocher. Den anderen einige Minuten lachend gewähren, bevor er voraus sei die Auns vor allem deshalb, weil sich zum Mikrophon greift und mahnt, auch der jedes Mitglied an seinem Ort voll einsetze. In Vertreter der Gegenposition solle angehört der Sache lautet das Erfolgsrezept: «Wir befassen werden. Persönlich Angriffe auf Bundesrat Ogi uns mit den Staatssäulen und rennen nicht den vermeidet Blocher und geisselt nur die nebulöse Tagesfragen nach.» internationalistische Verteidigungsdoktrin. Das Engagement der Auns-Mitglieder ist Eine Partei will Blocher aus der Auns nicht auch im Kleinen erkennbar: Die Junge SVP machen. Denn die Volksbewegung habe Mit- Bern garantieret zusammen mit einem Dutzend glieder aus allen Parteien, darunter «zahlreiche Securitas-Wächtern den reibungslosen Anlauf Grüne». Eine Verzettelung der Kräfte wäre des Grossanlasses. Vor dem 25 Quadratmeter gleichbedeutend mit dem Misserfolg. «Mass- grossen Alpenpanorama auf dem Podium hängen gebliche Unterstützung ohne Federführung» eine Schweizer Fahne und das Auns-Transparent. seitens der Auns ist Blocher aber dennoch bei Eine Schwyzerörgeli-Gruppe verbreitet Heimat- verschiedenen Anliegen willkommen. Sei es stimmung. Zopf und Kaffee sind gratis. Für die beim Kampf gegen die Parlaments- und Regie- Westschweizer gibt es eine Simultanübersetzung. rungsreform in der Vergangenheit, sei es für Die «bösen» Medien werden mit dreisprachigen die SVP-Asylinitiative oder den Kampf gegen Pressedossiers bedient, in denen der Beschluss die Solidaritätsstiftung in der Zukunft. zum Haupttraktandum schon vorweggenommen ist. Und Blochers Rede ist um 12.00 Uhr auf Ende der Auns-Homepage im Internet. Hinter scheinbar einfachen Rezepten ver- birgt sich viel Kalkül und geschickte Strategie.

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Ein Staatsmann, wie er heute vermisst wird

© AP 24.07.2008, 17:05 Botschaft in Bern. Vor laufenden Kameras und Mikrofonen der Weltpresse verkündete der Kurt Furgler prägte den Bundesrat während an- Justizminister in mehreren Sprachen das un- derthalb Jahrzehnten – St. Galler Jurist bewun- blutige Ende der Geiselnahme. Noch grössere dert und beneidet Beachtung fand Furgler in seinem dritten Präsi- dialjahr 1985, als er Ronald Reagan und Michail Von Balz Bruppacher Gorbatschow zum Gipfel in Genf empfing. Während der letzten vier Jahre als Chef des Volkswirtschaftsdepartements blies dem Christ- Bern (AP) Als Kurt Furgler am 22. Oktober 1986 lichdemokraten auch der Wind der liberalen überraschend seinen Rücktritt aus dem Bundes- Ordnungspolitiker entgegen. Ihnen war der rat ankündigte, sagten viele dem 62-Jährigen Kurs Furglers zu interventionistisch. Mit dem höhere Ambitionen auf internationaler Ebene Projekt der Innovationsrisikogarantie erlitt er nach. Der CVP-Politiker hielt aber Wort, zog in seinem letzten Amtsjahr an der Urne Schiff- sich in die St. Galler Heimat zurück und übte bruch. Musse, statt sich ins politische Tagesgeschehen Charisma und Führungsqualitäten kamen einzumischen. dem eher unscheinbar wirkenden Juristen, der Sei es in der Politik, im Sport oder im Mili- wegen seines spitzen Mundes in der Studenten- tär – der am 24. Juni 1924 geborene Furgler er- verbindung «Müüli» getauft wurde, auch in brachte überall Spitzenleistungen. Damit waren Sport und Militär zu Gute. Furgler gründete dem quirligen St. Galler stets auch die Neider den Handballverein St. Otmar St. Gallen und und Kritiker sicher. «Furgler-Witze» waren in führte den Verein als Kapitän und später als seiner Amtszeit von 1972 bis 1986 ein abendfül- Coach von der dritten Liga in die Nationalliga lendes Programm. A. Auch als Bundesrat und im Ruhestand war Dennoch: Über die Parteigrenzen hinweg Furgler regelmässiger Matchbesucher bei den wurde anerkannt, dass Furgler das Format des «Otmärlern». Im Militär stieg er bis in den Staatsmanns hatte. Hinzu kamen rhetorische Rang eines Brigadiers auf, den höchsten Rang Brillanz und hervorragende Kenntnisse des für einen Nichtberufsoffizier, und leitete eine Französischen, Italienischen und Englischen. Panzerbrigade. Zusammen mit dem gleichaltrigen damaligen Das «Phänomen Furgler» beschäftigte auch Notenbankpräsidenten Fritz Leutwiler war Schriftsteller wie , , Furgler einer der wenigen Schweizer, die sich Peter Bichsel und Niklaus Meienberg. Muschg auch auf der Weltbühne Beachtung und Aner- schrieb 1985, als Furgler zum dritten Mal Bun- kennung zu verschaffen verstanden. Innerhalb despräsident wurde im «Tages-Anzeiger»: «Hät- der Regierung übernahm er eine informelle te er sich im 16. Jahrhundert entfalten können, Führungsfunktion, wie sie in jüngerer Zeit zu- Marignano hätte gar nicht stattgefunden, denn nehmend vermisst wurde. er hätte es gar nicht dazu kommen lassen.» Als Nationalrat leitete Furgler 1964 die erste Der Vater von zwei Söhnen und vier Töch- parlamentarische Untersuchungskommission. tern forderte alles von sich selber und viel von Sie untersuchte die Kreditüberschreitungen bei seinem Umfeld, wie Mitarbeiter sich erinnern. der Beschaffung der französischen Mirage- Dennoch fehlte es nie an Anteilnahme und Kampflugzeuge. Mit 47 Jahren folgte die Wahl Hilfsbereitschaft. Ein Händedruck hatte der in den Bundesrat. Als Vorsteher des Eidgenössi- Magistrat für jeden und jede bereit, die ihm auf schen Justiz- und Polizeidepartements leistete der Schwelle des Bundeshaus begegneten, meist Furgler Geburtshilfe für den Kanton Jura, setzte mit der Bemerkung: «Än Gruess dä Familie!» Marken im Familienrecht und stiess die Total- revision der Bundesverfassung an. Sie nahm Ende dann allerdings einen weniger kühnen Weg, als sich die Expertenkommission unter Leitung Furglers vorgenommen hatte. Gescheitert ist Furgler auch mit seinen Plänen zur Schaffung einer Bundessicherheitspolizei. Als Krisenmanager bewährte sich der EJPD- Chef 1982 bei der Besetzung der polnischen

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Der Mythos bröckelt weiter

© AP 19.02.2009, 10:08 vom löchrigen Schweizer Käse benutzen. Dies Präsidenten der Bankiervereinigung und Gen- hängt damit zusammen, dass das Bankgeheimnis fer Privatbankier Pierre Mirabaud zur Aussage Abwehrschlacht ums Bankgeheimnis mit Straftäter nicht schützt und ihre Bankunterlagen verleiten liess, das Bankgeheimnis sei für min- ungewissem Ende auf dem Weg der Amts- und Rechtshilfe auch destens 15 Jahre «betoniert». zur Strafverfolgung im Ausland zur Verfügung Der nun erfolgte «Sündenfall» in der UBS- Von Balz Bruppacher gestellt werden. Affäre, der Druck der OECD sowie der Nach- Seit den 1980-er Jahren führte die Schweiz barländer Deutschland und Frankreich auf eine Reihe von neuen Straftatbeständen ein, die als «Steueroase» angeprangerte Schweiz, Bern (AP) Die Herausgabe von Kundendaten um zu verhindern, dass sich dubiose Akteure machen deutlich, dass die Finanzkrise einen der UBS an den US-Fiskus ist der vorerst letzte auf dem Finanzplatz hinter dem Bankgeheimnis dicken Strich durch diese Prognose machen Akt einer jahrzehntelangen Abwehrschlacht, verstecken können. Dabei reagierte die Schweiz könnte. Hinter vorgehaltener Hand werden die die Schweiz um ihr Bankgeheimnis führt. fast ausnahmslos auf ausländischen Druck. So auch in Behördenkreisen und auf dem Finanz- Auf ausländischen Druck hat das Land immer wurde in den 1980-er Jahren eine Strafnorm platz Alternativen zur Bankgeheimnis-Durch- wieder Konzessionen gemacht. Die Finanzkrise gegen den Insiderhandel an der Börse erlassen, halteparole erörtert. Kosten-/Nutzen-Über‑ droht den Mythos Bankgeheimnis nun ganz nachdem die USA Schweizer Banken in der legungen werden angestellt und die Forderung vom Sockel zu stossen. Insideraffäre Santa Fe mit einem Geschäftsver- erhoben, es gelte in internationalen Verhand- Das Bankgeheimnis sei unantastbar wie eine bot gedroht hatten. Unter dem Eindruck der lungen für die Lockerung des Bankgeheimnisses Klosterfrau, stellte der sozialdemokratische Skandale um die Gelder von korrupten Dritt- möglichst viel herauszuholen. Finanzminister Willi Ritschard in den 1980-er Welt-Potentaten folgte in den 1990-er Jahren Jahren fest. Zwei Jahrzehnte später gab einer eine Kaskade von Geldwäscherei-Erlassen. Ende seiner Nachfolger, Kaspar Villiger, die Maxime Parallel zur Erweiterung des Strafrechts heraus, die auf dem Finanzplatz offiziell heute wurden auch die Mechanismen der Amts- und noch gilt: «Das Bankgeheimnis ist unverhan- Rechtshilfe ausgebaut. Versuche der politischen delbar.» Linken, die internationale Zusammenarbeit Das Entsetzen auf dem Finanzplatz war auch auf Fälle von Steuerhinterziehung auszu- 2004 deshalb gross, als der Doyen der Schweizer dehnen, wurden von der bürgerlichen Mehrheit Privatbankiers, Hans J. Bär, es wagte, das Bank- des Parlaments aber stets abgeblockt – zuletzt geheimnis in seinem Kerngehalt in Frage zu im Frühling 2007 im Nationalrat. stellen. Das Bankgeheimnis mache fett, aber Ausnahmen machte die Schweiz besonders impotent, stellte der Doyen der Schweizer im Falle der USA aber immer wieder. So leistet Privatbankiers in seiner Autobiografie fest. Die sie seit Jahrzehnten Rechtshilfe an die USA, Schweizer Besonderheit, wonach zwischen wenn die Steuerhinterziehung in Verbindung Steuerhinterziehung als blosse Übertretung und mit dem organisierten Verbrechen steht. Die Steuerbetrug als Strafdelikt unterschieden wird, Amtshilfe wurde 2003 nach langem Ringen in bezeichnete Bär als unethisch. einem Zusatzprotokoll samt Fallbeispielen er- Das Bankgeheimnis ist seit 1934 unverän- weitert, die gemäss Kritikern darauf hinauslau- dert im Bankengesetz verankert. Ein Versuch, fen, dass die Schweiz den USA auch Informa‑ historische Relikte wie die Bestrafung der fahr- tionen liefert, die im Schweizer Recht als blosse lässigen Verletzung und des Anstiftungsver- Steuerhinterziehung gelten. Heftig umstritten suchs fallen zu lassen, wurde vom Bundesrat waren auch die Konzessionen der Schweiz an begraben, nachdem das Volk die weitergehende den US-Krieg gegen den Terrorismus nach dem SP-Bankeninitiative im Mai 1984 mit 73 Prozent 11. September 2001. Und in Erinnerung ist die Nein bachab geschickt hatte. Rund vier Fünftel Publikation von Tausenden von Bankkunden- der Bevölkerung bestätigen in Umfragen im daten aus der Nazizeit, zu der sich die Schweiz Auftrag der Bankiervereinigung Jahr für Jahr, im Zug der Untersuchung des Volcker-Komitees dass sie am Bankgeheimnis festhalten wollen. bereit erklärte. Dass auch Steuerflüchtlinge den Schutz des Im Falle der indirekten Steuern machte die Bankgeheimnisses geniessen sollen, wird in Schweiz auch bei den bilateralen Verhandlungen anderen Umfragen allerdings nur von einer mit der EU eine heiss umstrittene Konzession. Minderheit befürwortet. Im 2004 abgeschlossenen Betrugsabkommen Auch wenn am Bankgeheimnis selber bisher wurde die Amts- und Rechtshilfe unter gewissen nicht gerüttelt wurde, hat die Schweiz dessen Bedingungen auf die Hinterziehung von indi- Schutz in den vergangenen Jahrzehnten bereits rekten Steuern ausgedehnt. Im Gegenzug lenkte so stark eingeschränkt, dass Kritiker das Bild die EU bei der Zinsbesteuerung ein, was den

Journalistenpreis 2010 11 12 Journalistenpreis 2010 Laudatio

Laudatio für die Artikelreihe Skandal im Zürcher Pflegeheim Entlisberg von Viktor Dammann erschienen im Blick Februar und Juli 2009

Viktor Dammann

Das Detektivische hat mich bereits als Schüler in Seine Welt ist die des Verbrechens, der Gesetzes- in der Tonalität die Sachlichkeit und nicht die seinen Bann gezogen. Als Jerry-Cotton-Fan trat brecher, der Betrüger, der Kinderschänder oder helle Empörung. Drastisch wirken die Bilder ich dem sogenannten «Späher-Club» bei. Löste Mörder. Seit 30 Jahren berichtet der Gerichts- der hilflosen nackten Patientinnen, doch zur man alle Fernaufgaben korrekt, durfte man und Kriminalreporter Viktor Dammann für Verdeutlichung sind sie wichtig. Die Blattma- sich mit einer Anstecknadel mit dem grossen den «Blick». Sein Know-how und Engagement cher haben zudem mit der Bildbearbeitung die Späher-Auge brüsten. Der Weg zum schreiben- in diesem Spezialgebiet haben ihm den Titel Würde der Opfer gewahrt. den «Ermittler» führte mich zuerst über die eines Boulevard-Kommissars eingetragen. Und Wir möchten Viktor Dammann für die Gastronomie, wo ich bereits als Kochlehrling sein grosses Beziehungsnetz sowie sein Ruf als Enthüllung und Aufarbeitung eines Themas, übte, in trüben Suppen zu fischen. Nach einem seriöser Vetrauensmann haben ihm immer wie- das auch über den Fall Entlisberg hinaus gesell- zehnjährigen Abstecher in die Pressefotografie der zu spektakulären Enthüllungen verholfen. schaftliche Relevanz hat, mit dem Zürcher landete ich dort, wo ich nach 30 Jahren noch So auch im vergangenen Jahr, als Dammann Journalistenpreis auszeichnen. immer bin: beim «Blick». Anfangs begegnete über den Skandal im grössten Zürcher Pflege- Chefredaktor Peter Übersax meinen Recherchen zentrum Entlisberg berichtete, in dem das Susanne Mühlemann mit Skepsis. Als ich zum Beispiel herausfand, Pflegepersonal Patientinnen demütigte, quälte dass Schweizer Abfangjäger im Berner Oberland und dabei filmte. ein russisches Frachtflugzeug auf den Boden Eigentlich gebührt ihm dafür der Stempel gezwungen hatten, recherchierte er selber heim- des Primeurs, obwohl andere Medien gleichzeitig lich nach. Zum Glück stimmte alles... damit herauskamen, weil die Staatsanwaltschaft Ab und zu gilt es auch unkonventionelle Wege ein Mediencommuniqué versandt hatte. Doch zu gehen. Bei der Zürcher Polizeiaffäre – die mit Dammann recherchierte die Vorfälle bereits dem Peilflugzeug – waren ein «Tagi»-Kollege seit Monaten. Angehörige hatten den «Blick»- und ich in etwa gleich auf. Um die Strafunter- Reporter mit dem schockierenden Bildmaterial suchung nicht zu gefährden, teilten wir den aufgesucht und um Rat gefragt. Der Journalist Primeur brüderlich – sehr zum Ärger einer an- wies die Betroffenen darauf hin, dass die Vor- deren grossen Zürcher Zeitung. gänge justiziabel seien und schickte sie mit dem Manchmal kommt man als Rechercheur selber Material zu den Behörden. Er selber verzichtete mit der Justiz in den Clinch. Die Anfrage nach in der Folge auf die Ausschlachtung der Ge- den verhafteten Fraumünsterposträubern bei schichte, um die Strafuntersuchung nicht zu der Staatsanwaltschaft wurde als Anstiftung zur gefährden. Der «Blick» berichtete erst anlässlich Amtsgeheimnisverletzung sanktioniert. Nach der Verhaftung einer Pflegerin, in Absprache zehn Jahren hat Strassbourg dieses seltsame mit der Staatsanwaltschaft. Für einen Vollblut- Journalistenverständnis korrigiert. Nachteile Journalisten braucht dies angesichts eines sol- entstanden mir keine – im Gegenteil: von vielen chen Skandals ein gerütteltes Mass an Disziplin. Exponenten der Zürcher Justiz erfuhr ich gar Die Umsetzung der Geschichte verrät den einen «Opferbonus». Journalismus bedeutet für Boulevard-Profi, der sich der Sache und den mich übrigens auch, sich an guten Geschichten Opfern verpflichtet fühlt. In der Berichterstat- von Kollegen zu freuen – mindestens heimlich. tung über die Vorgänge dominieren die Fakten,

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Skandal im Pflegeheim

Blick 25.02.2009 Die junge Frau mit Rossschwanz ist noch völlig Die Behörden waren aufgrund einer Straf- verdattert, als sie um 7.45 Uhr von Polizisten anzeige von Angehörigen der malträtierten Anna Um 7.45 Uhr wird Schwester Gordana abgeführt aus einem Wohnblock in Adliswil ZH geführt Meier tätig geworden. Ihr Anwalt Matthias Erne wird. Schwester Gordana (33), diplomierte zeigte Gordana und die Mitbeschuldigten wegen Von Viktor Dammann Pflegerin im Pflegeheim Entlisberg, ist vorläufig «verbotenen Aufnahmen aus dem Privatbereich festgenommen. und strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Um 6.01 Uhr hatten die Beamten bei ihr Integrität und Vernachlässigung der Pflege» an. Es ist ein ungeheuerlicher Skandal! Patientinnen geklingelt, danach ihre Wohnung eindreiviertel BLICK war dabei, als sich die Schwester der des grössten Zürcher Pflegezentrums, nackt gefilmt Stunden durchsucht. Sie sind offenbar fündig 88-Jährigen den widerlichen Film anschaute. und gedemütigt. Vom Personal, das für sie sorgen geworden. Ein Beamter trägt einen Plastiksack Immer wieder schüttelte sie den Kopf: «Anna soll. Gestern hat die Polizei dem Spuk ein Ende mit CDs zum Auto. hätte sich sicherlich dagegen gewehrt, wenn ihr gesetzt. Zur selben Zeit nehmen drei Beamte in dies möglich gewesen wäre. Wie kann man nur Zürich-Höngg Pflegeassistentin Marianna (24) so was tun? Das hat doch nichts mit Überforde- fest. Sie soll zumindest eines der Schock-Videos rung des Personals zu tun!» (siehe unten) gefilmt haben. Die Beamten Rechtsanwalt Erne schreibt dazu in der An- müssen zehn Minuten lang Sturm läuten, bevor zeige: «Dies war kein zufälliges Filmen, sondern die Wohnungstüre endlich geöffnet wird. Die ein regiemässig geplanter Film. Dies ergibt sich Polizei-Aktion gegen Mitarbeiter des Pflegezen- daraus, dass die Kameraführung mit einem trums Entlisberg in Zürich-Wollishofen – alles höhnisch zynischen Einleitungskommentar be- hatte mit einem 60-sekündigen Video begonnen, reits vor der geschlossenen Tür beginnt.» Es gebe das mit einer Handy-Kamera gedreht wurde. Hinweise, dass die involvierten Pflegerinnen Zu Beginn des Filmes hört man nur diesen Film beim Ausgang herumzeigten. Denn eine lachende Frauenstimme: «So. Herzlich es gibt mehr als einen solchen Film! willkommen an der Paradiesstrasse.» An der Den Angehörigen von Anna war zudem Paradiesstrasse 45 steht das Pflegezentrum aufgefallen, dass bei Besuchen in den letzten Entlisberg, mit 336 Betten Zürichs grösste Monaten im Zimmer der alten Frau ein uner- Pflegeeinrichtung. Dort sind in der Abteilung träglicher Gestank herrschte. Zudem hatte sich B2 Demenzkranke untergebracht. Alte Men- bei Anrufen im Pflegeheim Entlisberg – im schen, die aufgrund ihres geistigen Zustands Gegensatz zu früher – niemand mehr für Anna Hilfe brauchen, sich nicht wehren können. Meier richtig zuständig erklärt. BLICK weiss, wer die 88-Jährige im Video Mit dem Leitbild des städtischen Pflegezen- ist. Um ihre wahre Identität zu schützen, trums hat dies nicht viel gemein. «Sie bieten nennen wir sie Anna Meier. Sie wird auf perverse unseren Bewohnerinnen und Bewohnern ein Art und Weise von ihren Pflegerinnen gedemü- behagliches Zuhause und kompetente Pflege tigt. Sie filmen die nackt am Boden liegende und Betreuung nach modernsten Konzepten Seniorin mit einer Handy-Kamera und machen und Erkenntnissen», schreibt das zuständige sich lustig über sie. Zürcher Gesundheits-und Umweltdepartement Es sind Szenen, die an die Schockbilder der auf seiner Homepage. Amerikaner aus dem Gefängnis in Abu Ghraib Möglicherweise wurden im Entlisberg Pati- erinnern. enten nicht nur nackt gefilmt, sondern auch Der zuständige Staatsanwalt Alexander geschlagen – und bestohlen! In der Anzeige von Knauss von der kantonalen Staatsanwaltschaft Erne werden verschiedene Vorfälle aufgeführt. IV für Gewaltdelikte bestätigt BLICK gestern So soll der Schmuck einer verstorbenen Frau Nachmittag: «Drei Pflegerinnen und ein Pfleger teilweise vom Pflegepersonal aufgeteilt worden wurden vorübergehend festgenommen. Sie sind sein. Dazu Staatsanwalt Knauss: «Dies wird teilweise geständig und inzwischen wieder auf natürlich ebenfalls untersucht.» freiem Fuss.» Stadtrat Robert Neukomm, Vorsteher des Datenträger wie Handys und Computer Zürcher Gesundheits- und Umweltdeparte- wurden am Wohn-und Arbeitsort beschlag- ments, hat den Fall zur Chefsache erklärt. Er nahmt. Sie werden zurzeit ausgewertet. Der liess sich von BLICK über den genauen Inhalt Staatsanwalt fuhr persönlich beim Entlisberg des Filmes orientieren. «Ich bin absolut scho- vor und informierte die Leitung des Heimes. ckiert. Das ist völlig würdelos und unter jedem Hund. Solche Leute kann man nicht brauchen.»

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Drei Pflegerinnen werden fristlos entlassen. Tisch hat es zwei Stühle. Die Stimme fährt fort: Zum Fall Entlisberg Neukomm: «Personalrechtliche Massnahmen «Im Hotel, im 5-Sterne-Hotel. So sehen unsere BLICK wusste seit vergangenem Dezember von gegen weitere Mitarbeitende werden eingeleitet, Gäste aus. Wie sie Tag für Tag...» Sie beendet diesen Vorgängen im Zürcher Pflegezentrum sobald eine weitere Klärung durch die Staatsan- den Satz nicht, sondern beginnt zu kichern. Entlisberg. Um die Strafuntersuchung nicht waltschaft erfolgt ist.» Kamera schwenkt auf die nackte alte Frau am zu gefährden und um Tatbeteiligte nicht zu Boden. Sie versucht sich mit einem Tuch, das warnen, hielt er sich mit einer Publikation neben ihr liegt, zuzudecken. Die Frau mit der des Falles zurück. Erst in Absprache mit der Kamera: «Sie fühlen sich sehr wohl, wie Sie Staatsanwaltschaft berichten wir jetzt über sehen...» «Dass sie ihren A ... versch ... hi, hi, hi. diesen unglaublichen Skandal. Hier wird eine Patientin Schauen Sie da. Und ihre Einlagen ... sind noch vor der Kamera schlimmer. Und das ist Madame Anna» (Kamera schwenkt voll auf das Gesicht der wehrlos am gedemütigt Boden liegenden Frau). «Anna, sag mal etwas.» Die Frau am Boden sagt mit schwacher Stimme: Das schockierende Protokoll des 60 Sekunden langen «Abfahre, abfahre...» Dann schwenkt die Handy- Skandal-Films, aufgenommen mit einer Handy- Kamera zur Pflege-Kollegin imschwarz-weissen Kamera. T-Shirt. «Und das ist Schwester Gordana.» Diese hält sich vor Lachen eine Hand vors Gesicht. Zuerst ist nur eine lachende Frauenstimme zu Die Frau mit der Handy-Kamera sagt: «Sie wird vernehmen: Freude haben, ihren A.... Sie hat in die Hosen «So, herzlich willkommen an der Paradiesstrasse.» gemacht. Das heisst, ich muss Anni parat ma- Acht Sekunden sieht man nur schwarz, dann chen.» Zu sehen ist, wie Schwester Gordana der kommt ein Zimmer ins Bild. Eine alte Frau alten Frau das Tuch wegzieht. Stimme: «Adieu liegt nackt am Boden neben dem Bett. Rechts mitenand, bis später...». von ihr steht Pflegerin Gordana. Sie trägt eine schwarze Hose, Turnschuhe, ein schwarzweiss gestreiftes, schulterfreies T-Shirt. Ihr BH-Träger ist zu sehen, sie trägt blaue Gummi-Handschuhe. Rechts steht ein Tisch mit gelber Tischdecke. Darauf verschiedene kleine Bilderrahmen. Eines zeigt das Foto eines Mannes. Neben dem

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Weiteres Schock-Video aufgetaucht zvg

Blick, 27.2.2009 Ada hatte bei der Verhaftungsaktion der Zürcher Polizei letzten Dienstag Glück (im Skandal im Pflegeheim BLICK). Sie war in den Ferien. Doch wie die Quälschwestern Gordana und Marianna wird Von Viktor Dammann sie nie mehr ins Pflegeheim Entlisberg zurück- kehren. Fristlos entlassen. BLICK erreichte gestern nur ihre Schwester – doch die legte Skandal im Stadtzürcher Pflegeheim Entlisberg: sogleich das Telefon auf. Nicht mal unter der Dusche waren die Betagten Auch Filmerin Marianna hat keine Lust, vor ihren Quälschwestern sicher. ihre sadistischen Neigungen zu erklären. «Ich will nicht mit Ihnen sprechen», tönte es aus der Eine alte Frau steht in der Duschkabine. Sie Gegensprechanlage an ihrem Wohnort Zürich- ist nackt. Eine Frauenstimme befiehlt. «Tanzen, Höngg. Frau Meier*, tanzen.» Die demente Frau beginnt, Noch ist unklar, wie viele solcher Filme sich hin und her zu wiegen. «La, la, la», singt sie gedreht und ob sie weiterverbreitet wurden. traurig in die Handy-Kamera. Die Polizei arbeitet zurzeit mit Hochdruck Sprecherin und Filmerin ist Pflegeassistentin daran, die bei den Pflegerinnen beschlagnahmten Marianna (24). Sie hat schon den unsäglichen Computer und Handys zu untersuchen. Film mit der am Boden liegenden 88-jährigen Vielleicht stossen die Beamten dann auch Patientin gedreht. Und sie kann sich auch hier auf einen seltsamen Klingelton. Denn wie kaum mehr vor Lachen halten: «Schau, wie sie eine Insiderin verrät, soll eine der Schwestern macht, Scheiss, lueg.» die schimpfende Stimme einer dementen Frau Vorgeführt wie ein Tanzbär, bewegt sich die aufgenommen und als Klingelton auf ihrem alte Frau auf und ab. Sie summt. Marianna lacht Handy installiert haben. *Namen geändert laut heraus, kann sich kaum mehr beruhigen. «Lueg si a...» Die demente Frau bückt sich nach einem Tuch. Dann kommt eine zweite Person ins Bild. Es ist die junge Pflegeassistentin Ada*. Sie grinst in die Kamera – dann ist der demütigende Streifen zu Ende.

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«Mein Hirn war einfach Noch mehr kranke Alte ausgeschaltet» gefilmt

Blick 20.07.2009 Und was noch? Blick 20.07.2009 Es gab auch Bilder eines Pflegers, der eine Der Skandal im Pflegeheim Entlisberg schlafende Frau fotografierte. Die Quälschwestern vom Zürcher Pflegezentrum Zum ersten Mal spricht Quälschwester Marianna Entlisberg: Vor fünf Monaten schockte Weshalb denn dies? der Skandal um entwürdigende Nacktbilder Von Viktor Dammann Ihre Prothese war verrutscht. Das sah einfach demenzkranker Patienten die Schweiz. Jetzt ist komisch aus. weiteres Film- und Fotomaterial aufgetaucht.

Sie ist Hauptbeschuldigte des Entlisberg- Was würden Sie sagen, wenn Ihre Mutter wie Diese Bilder beschämten das Land: Pflegerin Skandals: Marianna (24) filmte Demente. die 88-jährige Frau gefilmt würde? Marianna (24) filmte mit ihrem Handy eine Sie wurde gefeuert, das Strafverfahren läuft. Natürlich würde ich total verrückt. Als mir am Boden liegende Patientin (88). Pflegerin Im BLICK bricht sie ihr Schweigen. die Polizei meinen Kommentar vorspielte, habe Gordana (33) steht daneben und lacht sich über ich mich nur noch geschämt. ihre hilflos am Boden liegende Patientin Blick: Wie konnte es zu den besonders widerli- beinahe krumm. In einem zweiten Film zeigt chen Bildern mit der 88-Jährigen kommen? Waren Sie überfordert? Marianna eine nackte alte Frau unter der Dusche. Marianna: Es war spontan, nicht programmiert. Nein, nein. Ich habe gerne alte Menschen Mit auf dem Film war eine weitere Pflegerin. Schwester Gordana rief mich ins Zimmer, wo gepflegt. BLICK und ein Anwalt hatten den die Bewohnerin am Boden lag. Gordi sagte, unglaublichen Skandal damals aufgedeckt, die «chum go luege» und lachte. Wir dachten, das Wie sehen Sie Ihre Zukunft? Staatsanwaltschaft informiert. Am 24. Februar nehmen wir auf, das wird sicher lustig. Wer Zurzeit habe ich keinen Job. Ich werde wohl wurden die Quälschwestern festgenommen. die Idee hatte, weiss ich nicht mehr. Ich holte etwas völlig anderes machen. In der Pflege will Marianna gestand im Gegensatz zu den anderen dann das Handy und filmte. mich ohnehin niemand mehr. Ich habe einen Quälschwestern schnell. Sie gab gemäss grossen Fehler gemacht und muss dafür bestraft BLICK-Recherchen noch mehr zu: «Es gab noch Und Ihre höhnischen Kommentare? werden. weitere Filme und auch Fotos von Patienten.» Ich meinte es nicht bösartig. Mein Hirn war So habe sie mit einer anderen Pflegeassistentin einfach ausgeschaltet. Wie ist Ihre familiäre Situation? einen Patienten mit dem Handy gefilmt. Er Ich bin alleinerziehende Mutter eines sieben- habe abwechselnd geschimpft und gelacht. Um Schwester Gordana sagt, sie habe vom Filmen jährigen Buben. Aufgewachsen bin ich mit drei dies zu erreichen, provozierten sie den Greis nichts bemerkt. Geschwistern in Zürich-Höngg. Als ich 15 Jahre mit Schimpfwörtern. Ein weiterer Film zeigt Was? Natürlich wusste sie Bescheid. Sie lacht ja alt war, nahm sich mein Vater wegen Depres‑ einen ebenfalls aufgebrachten Insassen. in die Kamera. sionen das Leben. Staatsanwalt Alexander Knauss sagt zu den BLICK-Recherchen: «Ich kann bestätigen, dass Und der Film in der Dusche, wo Sie die nackte, es drei weitere Filme gab. Zwei davon haben demente Frau zum Tanzen aufforderten? wir beschlagnahmen können. Doch über den Sie hat oft getanzt und gesungen. Wir wollten genauen Inhalt der Filme möchte ich derzeit einfach etwas zum Lachen haben. noch keine genauen Angaben machen.» Ein Pfleger entblödete sich nicht, eine Was geschah darauf mit den Filmen? demente Patientin in einer entwürdigenden Ich zeigte sie nur einigen auf der Abteilung. Situation per Handy festzuhalten. Der Frau war im Schlaf das Gebiss halb aus dem Mund Machten auch andere Mitarbeiter solche Filme? gerutscht. Der Staatsanwalt: «Sowohl dieser Ja. Eine Pflegekollegin machte zwei Filme. Pfleger als auch diese Pflegeassistentin sind Einmal mit einem schimpfenden Bewohner. geständig.» Beide seien nicht mehr im Entlisberg Das andere Mal waren wir, glaube ich, tätig. Den Beschuldigten drohen wegen der beide mit einem alten Mann auf dem Film. «unerlaubten Bild- und Tonaufnahmen aus Möglich, dass wir beide gefilmt haben. Der dem Privatbereich» Haft- oder Geldstrafen. Bewohner hat abwechselnd geschimpft und Es gab weitere Vorwürfe: Eine Patientin soll gelacht. Die Männer waren jedoch bekleidet. misshandelt, eine weitere demente Frau bestohlen worden sein. Die Untersuchung läuft noch. Staatsanwalt Knauss hofft, sie bald abschliessen zu können.

Viktor Dammann

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Laudatio für den Artikel Bericht zu Dr. E. Roduner von Mathias Ninck erschienen in Das Magazin, 27. Juni 2009

Mathias Ninck

Die biografischen Marksteine sind schnell Es müssen ja nicht gleich Idole sein. Aber hie Die Recherchen von Mathias Ninck zeigen, gesetzt. In Zweisimmen, Kanton Bern, bin ich und da ein Vorbild hätten wir schon gern. dass es sich lohnt, auch hier genauer hinzu- vor 42 Jahren geboren, auf dem Hasliberg und Bloss: woher nehmen? schauen. Nicht weil es Sauställe auszumisten im Toggenburg aufgewachsen, daselbst eine Die Politiker haben wir zwar selber gewählt – gälte. Aber weil eben auch in der Justiz nur Matur gemacht. Als Teenager erste freie Mitarbeit: aber so richtig zufrieden mit ihnen sind wir Menschen tätig sind. Menschen wie Ernst Beim «Toggenburger», damals ein eigenständiges nicht. Bei den Wirtschaftsführern, besonders Roduner, die mit Angelpatenten betrügen, die Lokalblatt, durfte ich für zwanzig Franken jenen aus der Finanzbranche, ist auch irgendwie drohen und ihre Macht missbrauchen, deren pro Stück Artikel abliefern über Vereinsanlässe. der Lack ab. Und bei den Medienschaffenden – Umgang mit Mitarbeitern fragwürdig ist. Hundslausige Prosa war es. Aber: Zwenzg da wollen wir bei diesem Anlass wegen Befangen- Menschen auch, die Menschen in Ämter hieven, Hämmer! Ich fühlte mich reich – und heute heit besser schweigen. die dafür ungeeignet sind. Wie eben Dr. Ernst glaube ich, dass es mich damals gepackt hat. Schaut man sich die Statistiken über die Roduner, der sich am Ende selber einen Droh- Schreiben also. Ich studierte zuerst aber einmal Glaubwürdigkeit von Institutionen und Berufs- brief schrieb. Der darin sich selber und seiner etwas Seriöses, an der ETH Zürich Naturwissen- gruppen an, dann schwingt – durchaus nicht Familie drohte wegen seiner Ermittlungen im schaften, und dann, ein Jahr lang, an der nur in der Schweiz – eine ganz klar obenauf: Fall des Bankiers Oskar Holenweger. Uni Hamburg Journalismus. Schrieb für die ZS, die Richter. Während die Regierungen, die Dr. Ernst Roduner, ein strenger Richter, der die Studentenzeitung, bis mich ihr radikaler Parlamente und die vierte Gewalt, die Medien, aber bisweilen über die Stränge haut. Der im Sprachfeminismus in die Flucht trieb; schrieb hochumstritten sind, hat das Ansehen der dritten Fall Holenweger nicht weiterkommt, aber nicht für «Leben und Glauben», das Heft, das bei Gewalt, der Justiz, bisher kaum gelitten. Die loslassen kann. Der das menschliche Mass ver- uns zu Hause auf dem Salontisch gelegen hatte. «unbestechliche Justiz» ist ein festes Begriffspaar. loren hat und der DAS RECHT, in Grossbuch- Dann der Lottotreffer: Ein Volontariat beim Und nun gab es da also einen Richter, und staben, als abstraktes und absolutes Prinzip «Tages Anzeiger» unter Chefredaktor Roger de nicht irgendeinen, vielmehr einen eidgenössi- sieht – auch wenn er es in eigener Sache damit Weck, der ein harter Hund war, aber uns Jungen schen Untersuchungsrichter, der zudem noch nicht so genau nimmt. gegenüber voller Wohlwollen. Polizei- und mit einem heiklen Fall betraut war: Dr. Ernst Mathias Ninck nimmt uns mit auf seinem Gerichtsreporter, Inlandredaktor, Hintergrund- Roduner. Und der will diesem Bild vom unab- erhellenden Gang hinter die Kulissen der Justiz. redaktor. Dann der Wechsel zur neu gegründeten hängigen, unbefangenen, objektiven, ja weisen Er beweist damit, dass es da durchaus etwas «NZZ am Sonntag», nach sieben Jahren zurück Richter einfach nicht entsprechen. zu sehen gäbe. Die Gerichts- und Justizbericht‑ zu Tamedia, zum «Magazin». Das ist vor einein- Mathias Nincks Verdienst ist es, hineinge- erstattung wird in der Schweiz wenig gepflegt – halb Jahren gewesen, und ich staune seither leuchtet zu haben in den Schweizer Justizapparat. schade eigentlich. Und schön, wenn unsere jeden Tag darüber, dass ich hier Zeit und Geld In einen Apparat, der gerne diskret operiert, Preisverleihung an Ninck als Ermunterung habe für richtige Recherchen. Ja, doch, der in dem man sich ungern in die Karten blicken verstanden würde, auf diesem journalistisch Journalismus lebt. In meiner Freizeit würde ich lässt und wo man empfindlich reagiert auf brachliegenden Feld mehr zu recherchieren. gerne (mehr) lesen, schwimmen, nichts tun. Kritik. Regierungsentscheidungen darf man Denn der Rechtsstaat ist zu wichtig, als dass Geht nur selten. Ich lebe mit Frau und drei nach Herzenslust kritisieren, Parlamentsbe- wir ihn allein der Justiz überlassen sollten. Kindern in Zürich (und mit vier Katzen). schlüsse in der Luft zerreissen – aber Justizurteile zu hinterfragen, ihnen gar zu widersprechen, Fredy Gsteiger das gehört sich nicht.

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Bericht zu Dr. E. Roduner

Das Magazin 26.06.2009

Er ist Richter im Aargau und steigt auf zum Straf- verfolger des Bundes. Dann verschickt er einen Fax, in dem er sich selber bedroht. Hintergründe einer bizarren Tat.

Von Mathias Ninck

Wie muss man sich die inneren Abläufe vorstel- len? Das, was an jenem Vormittag des 24. Juni 2008 im Kopf von Ernst Roduner geschehen ist? «Le taureau se meurt», sagt Katharina Kerr, die frühere SP-Fraktionschefin im Aargauer Grossen Rat, in Anspielung auf ein Stierkampf- Gemälde. Sie sehe dieses eine Bild, sagt sie. Der Stier, stark und angriffig, gibt auf. Am Dienstagmittag, den 24. Juni 2008, läuft beim Eidgenössischen Untersuchungs- zvg richteramt in Bern ein Fax übers Gerät, es ist Dr. E. Roduner. 13.30 Uhr, Absender: unbekannt, aufgegeben in der Poststelle Zürich-Seebach. Zwei Sätze Der Drohfax ohnehin schon harzig; ihren Ursprung haben stehen darauf, eine Drohung, beinah höflich im Was für ein Täuschungsmanöver! Welch drama- sie im Ungefähren, in einer unpräzisen Behaup- Ton: «Hören Sie mit Ihren Ermittlungen gegen tischer Moment für die Behörde. Was geschieht tung eines mehrfach verurteilten Verbrechers, den Banker Holenweger auf. Denken Sie an jetzt? Nichts. Der Untersuchungsrichter mar- dem Drogenbaron José Manuel Ramos, und sie Ihre Familie.» Wenig später kehrt Ernst Roduner schiert in sein Büro zurück, seine Mitarbeiter sind auch sonst voller Ungereimtheiten und aus der Mittagspause zurück in sein Büro halten sich an die Vorgabe, dass der Amtsleiter längst hochpolitisiert. Die Auswüchse dieser an der Werdstrasse in Zürich, draussen das in Bern nichts davon erfahren soll. Man arbeitet Untersuchung haben im Sommer 2007 zu einer unablässige Wummern der Autos, das Seufzen also weiter, zwei Wochen lang. Gleichzeitig landesweiten und anhaltenden Erregung geführt der Lastwagenbremsen, das Telefon klingelt, setzt die ungezielte Diffusion ein. Ein Kollege und mit grosser Wahrscheinlichkeit auch Roduners Mitarbeiter in Bern ist dran, es sei ein erzählts einem Kollegen. eine Rolle gespielt bei der Abwahl von Bundesrat ungewöhnlicher Fax eingegangen. «Eine Dro- Am 8. Juli 2008 ist die Drohfax-Geschichte Christoph Blocher. hung gegen Sie, Herr Roduner.» Roduner sagt, in Bern angelangt, im Bundesamt für Polizei, Also, ohne Medien. Nur nicht in die Me‑ er solle den Fax nach Zürich weiterschicken dort informiert jemand die Bundesanwaltschaft. dien damit. Was für ein Licht würde das auf die und weist seinen Untergebenen gleichzeitig an, Am Abend des gleichen Tages erfährt Bundes- Strafverfolgungsbehörden des Bundes werfen? niemandem etwas von dem Fax zu sagen, anwalt Erwin Beyeler davon, telefoniert mit Jetzt muss man nur noch eine Begründung fin- insbesondere dem Amtsleiter nicht. Dann das Alex Staub, dem Präsidenten des Bundesstraf- den, die den wahren Grund verdeckt. Vielleicht Knirschen des Faxgeräts in der Zweigstelle gerichts in Bellinzona und Mitglied der fachli- eine angeschlagene Gesundheit? Der Öffent- Zürich. Ernst Roduner nimmt das Blatt, zeigt chen Aufsichtsbehörde. Jetzt ist Strom in der lichkeit wird am 9. Juli also mitgeteilt, der es zwei Bundeskriminalpolizisten. Ermittlungen Leitung. Staub reist nach Bern. eidgenössische Untersuchungsrichter Ernst werden aufgenommen. Ein paar Stunden ver- Am nächsten Morgen, um 8.10 Uhr, ruft Roduner, federführend in den Fällen Hells streichen. Dann heisst es: «Abbruch der Übung. Alex Staub Jürg Zinglé an, den Leiter des Eid- Angels und Holenweger, verzichte «aus gesund- Der Fax ist von mir.» Es ist der Untersuchungs- genössischen Untersuchungsrichteramtes: «Ich heitlichen Gründen ab sofort auf die Weiter- richter, der das sagt. Er fügt an, er wolle nicht, bin in fünf Minuten in deinem Büro.» Zinglé führung der pendenten Verfahren». Kein Wort dass andere davon erführen. Die Polizisten, wird mit dem Sachverhalt konfrontiert. Er sagt, vom Drohfax. Bundesanwalt Erwin Beyeler ungläubig, ermitteln weiter. Sie erhalten schliess- er höre das zum ersten Mal. Kurz darauf: zwei rechtfertigt den Winkelzug später gegenüber lich das Band aus der Videoüberwachung der Chefs im Zug. Staub, Zinglé, unterwegs nach seinen Leuten mit einer angeblichen Suizid‑ Poststelle in Seebach, reiben sich verblüfft die Zürich, jeder weiss, was der andere weiss: Die gefahr; er sagt, er wolle den Roduner nicht aus Augen. Da, tatsächlich: Roduner. In der Post. Sache hat Skandalpotenzial. Eidgenössischer der Limmat fischen (und schreibt später, von Dienstag, 13.30 Uhr. Es ist nicht zu fassen. Untersuchungsrichter versucht, mit fingiertem diesem Blatt auf das Vertuschungsmanöver Drohfax Banker anzuschwärzen, gegen den er angesprochen, in einem Mail: dass «zu jeder Zeit ermittelt. Die Geldwäscherei-Ermittlungen ge- dem Gesundheitszustand des Beschuldigten gen den Privatbanker Oskar Holenweger laufen Rechnung getragen werden musste»). Natürlich

20 Journalistenpreis 2010 setzt nun das ein, was immer passiert, wenn gericht Baden, drei Jahre später ans Obergericht Natürlich hat auch Ernst Roduner Fehler. brisante Fakten von einer Behörde unterdrückt in Aarau. Ernst Roduner wird turnusgemäss Er begeht sogar Delikte, wie fast jeder. Weil das werden: das Herausdrängen, die gezielte Indis- Präsident des Obergerichts. Eine imposante aber nicht sein darf, auf keinen Fall (schwarz- kretion. Sie findet ihren Weg in die Redaktion Karriere. Dann die Krise. Ein unbekannter weiss!), steckt er einen Teil seiner Lebenskraft in des «SonntagsBlicks». Anwalt aus Aarau stellt die These auf, der Präsi- den Akt des Ausblendens. «Weil nicht ist, was dent des Obergerichts habe seine fünf Sinne nicht sein darf» – als wäre das seine (un)heimliche Die Vertuschung nicht beisammen. Dafür gebe es Beweise. Das Lebensformel. Furchtbar anstrengend für ihn Ernst Roduner sagt den Medien, als die Sache publik ist, er habe die Drohung nicht erfunden. «Mit ihm in Kontakt zu treten, ist wohl chancenlos. Nein, er sei am Telefon tatsächlich bedroht worden. «Es waren genau diese Worte, die mir Und über mich an ihn heranzukommen, ist der dieselbe Männerstimme mehrmals auf den pri- vaten Anrufbeantworter sprach.» Das heisst: Er, falsche Weg.» Roduner, hat eigentlich gar nichts getan, er hat mit dem Fax nur sichtbar gemacht, was schon ist im Frühling 2001. «Ich war wie vom Blitz (die Verbissenheit steht ihm ins Gesicht ge- da war. Was die Öffentlichkeit nicht erfährt: getroffen», wird Ernst Roduner bei der ersten schrieben). Und ungemütlich für die Menschen Die Bundesanwaltschaft, die später ein Straf- Einvernahme sagen. (Heute sagt er gar nichts in seiner Nähe (es gibt Leute, die noch nach verfahren wegen Irreführung der Rechtspflege mehr, Anfragen bleiben unbeantwortet. Seine Jahren am Telefon in Tränen ausbrechen, gegen Roduner eröffnen wird, glaubt ihm kein Frau sagt am Telefon: «Mit ihm in Kontakt zu spricht man sie auf Roduner an). Es liegt auf Wort. Nie habe Roduner einem Kollegen oder treten, ist wohl chancenlos. Und über mich an der Hand: Wer sich über die anderen erhebt, einem Vorgesetzten oder irgendwem von dieser ihn heranzukommen, ist der falsche Weg.») der braucht diktatorische Härte, gegen sich und zdenn davon, bedroht zu werden, sagt jemand, gegen die anderen, um nicht abzustürzen. der gut informiert ist. Juristisch wird die Telefon- Der Mensch Roduner Im Alltag sieht das dann so aus (harmlose Vari- sache gar nicht abgeklärt. Sie sei unerheblich, Es ist leicht, die Spur zurückzuverfolgen. ante): Ernst Roduner, Oberrichter in Aarau, sagt Christine Braunschweig, Staatsanwältin in Roduner hat tiefe Eindrücke hinterlassen. Die sitzt in der Kaffeepause im Aufenthaltsraum. Es Zürich, die von der Bundesanwaltschaft mit Leute erinnern sich, viele reden heute abschätzig ist ein Tag im Jahr 1997. Er nimmt den «Blick», der Ermittlung betraut wird. Sie belegt Roduner über ihn. Der Faxmann, ha. Der Spott liegt schiebt ihn in die NZZ, und geht damit in am 30. März 2009 wegen des Drohfax per Straf- auf der Strasse, man muss ihn nur einsammeln. sein Büro. Ein Richter kommt in den Aufent- befehl mit einer bedingten Geldstrafe. Der Grund dafür ist ein Makel, den er nicht haltsraum, sucht den «Blick», jemand sagt: Ernst Roduner, eidgenössischer Untersu- verbergen kann. Ernst Roduner hat eine Auffäl- Der Roduner hat ihn. Der Richter geht also zu chungsrichter, Jahresgehalt 170 000 Franken, ligkeit, die alle ein wenig verstört hat, immer Roduner. Ernst Roduner aber streitet ab, den von Amtes wegen den Fakten verpflichtet, hat wieder, auch jene, die ihn als guten Kollegen «Blick» zu haben, und das in hochfahrendem sich als Mann der Inszenierung entlarvt. Wobei bezeichnen oder gar als Freund. Er hat eine Mo- Ton. Was fällt dem Richter ein, das Schmuddel- es eigentlich keine Entlarvung ist. Man hätte es no-Intelligenz. Er klammert sich mit absoluter blatt bei ihm zu vermuten! wissen können. Fiktion ist ein wiederkehrendes Beharrlichkeit an eine Idee, und zwar an die Idee, Oder so (schwerwiegende Variante): ein Element in seiner Biografie.Geboren ist Ernst dass die Welt aus Gut und Böse besteht. Und Sonntagmorgen, an der Limmat in Baden, Roduner am 7. Oktober 1947. Sohn des Roduner dass man das Böse bekämpfen muss. Er denkt 2. Dezember 1990, um 9.20 Uhr. Ernst Roduner Ernst, Bä­cker und Sieger beim Frauenfelder in Schwarzweiss, die Grauschattierungen des fischt mit zwei Ruten. Erlaubt wäre eine Rute. Waffenlauf, 1944, Kategorie «Landwehr», Lauf- Lebens sind ihm fremd. Mit dem Richterberuf Und er fischt ohne Fischerpatent. Der Fische- zeit 4:09:41. Privatschule, Matur, Studium der hatte er etwas gefunden, das ihm entgegenkam. reiaufseher kontrolliert Roduner, bittet ihn, die Jurisprudenz. 1974 erste Anstellung als Sekretär Als Richter war er derjenige, der von Amtes Fischerkarte vorzuweisen, sich auszuweisen, am Bezirksgericht Affoltern am Albis. Ein ehe- wegen recht hat, er hatte also das Recht, recht und Roduner sagt: «Wissen Sie eigentlich, wer maliger Richter erinnert sich: «Ernst Roduner zu haben, die anderen zu belehren, er operierte, ich bin?» Natürlich weiss der Aufseher, dass er hat geschuftet, ein tüchtiger Kerl. Er war aufbrau- wenn er sich hinunterbeugte zu den Angeklag- den Oberrichter Roduner vor sich hat, er hat send, aber immer im Rahmen.» Heirat mit einer ten, ganz im Bewusstsein, die Wahrheit zu spre- ihn schliesslich vor ein paar Monaten schon Arzttochter aus Baden, Geburt eines Sohnes, ei- chen (und das funktionierte gut, denn Richter einmal erwischt, fischend im Schongebiet, direkt ner Tochter. Nach fünf Jahren in Affoltern wird haben immer einen Informationsvorsprung). neben der Verbotstafel (dafür erhielt Roduner er Gerichtsschreiber am Zürcher Obergericht, Ja, Ernst Roduner hatte das seltene und schöne eine Ermahnung). Sie müssen sich ausweisen, Entlassung während der Probezeit. Der damalige Recht, der Gute zu sein. sagt also der Aufseher, aber Roduner packt Aargauer Regierungsrat Louis Lang kennt den Der Haken war nur, dass er nicht der wortlos seine Sachen zusammen und geht weg. jungen, draufgängerischen Juristen aus der Sozi- Gute war. Der Fischereiaufseher ruft um 9.40 Uhr den aldemokratischen Partei in Baden, er holt ihn am Fischereiaufseher-Obmann an, dieser wiederum 1. September 1979 ins Sekretariat des Departe- telefoniert um 10 Uhr ins Hotel Zwyssighof ments des Innern. Ende 1980 Wahl ans Bezirks- in Wettingen, wo die Tagespatente ausgegeben

Journalistenpreis 2010 21 werden. «Nein, für den 2.12. ist keine Karte Das Sündenregister Anzeige mache, lasse ich sie laufen. Immer. auf den Namen Roduner ausgestellt», lautet die Roduner hat Erfolg mit seiner Geschichte. Am Und wenn es der Gerichtspräsident höchstper- Antwort dort. 30. Januar 1991 schreibt der Badener Bezirks‑ sönlich ist.» Die Pachtvereinigung, die für den fraglichen amtmann in seinem Bericht, die angehobene Ernst Roduners Büro am Obergericht: immer Abschnitt der Limmat die Fischereirechte be- Strafuntersuchung sei einzustellen, da der verdunkelt, eine Lampe wirft einen Lichtkegel sitzt, reicht Strafanzeige ein wegen Widerhand- Beschuldigte Roduner die Tatbestände bestreite aufs Pult. Darunter ein Mann in weissem Hemd, lung gegen das Fischereigesetz. Ernst Roduner und es keine Zeugen gebe. Am 22.2.1991 verfügt dunkler Krawatte, Sakko, sportlich (er fährt jeden Morgen mit dem Velo zur Arbeit), durch- «Er war ein guter Richter. Nicht immer und nicht aus in die Kategorie «gut aussehend» passend, sieht man einmal von dem grellen Furor ab, den in jeder Hinsicht, aber er lag in der Bandbreite er ausstrahlt mit seinem harten Blick und dem kräftigen Schwarz von Augenbrauen und dessen, was man an einem Obergericht antrifft.» Schnauz. An der Wand überall Fotos der Kinder. Ein Einzelgänger. Verschlossen, zurückgezogen. muss in Untersiggenthal, seinem Wohnort, auf die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau die Dem belanglosen Geplauder weicht er aus; den Polizeiposten, und dort sagt er zu Wacht- Einstellung. Smalltalk im Kaffeeraum, beim Seitenwechsel meister Amsler: «Es trifft nicht zu, dass ich mit Keine Zeugen? Was für eine schlampige im Tennis, nach einer Sitzung: nichts für ihn. zwei Ruten gleichzeitig gefischt habe. Die Rute Untersuchung, findet der Präsident der Pacht- Nach einer Tagung noch einen heben gehen, mit dem lebenden Köder befand sich am Boden, vereinigung und setzt eine Beschwerde auf das findet immer ohne Roduner statt. Lieber wobei der Köder im Wasser war. Die zweite gegen die Einstellungsverfügung der Staatsan- konzentriert er sich. Ein Fischerkollege sagt: Rute hatte ich in den Händen und machte daran waltschaft. Darin weist er auf den Umstand hin, «Man kann nichts mit ihm reden.» Manipulationen. Es trifft nicht zu, dass ich mit dass der Beschuldigte Roduner an jenem Sonn- Roduner ist juristisch beschlagen. Und er ist dieser Rute gefischt habe.» Und weiter gibt tag, dem 2.2.1990, zwischen 11 und 11.30 Uhr im effizient, bei ihm ist alles geordnet, systematisch, er zu Protokoll: «Ich hatte die Fischerkarte vor Hotel Zwyssighof in Wettingen ein Tagespatent strukturiert, dogmatisch. Das hat ihm geholfen dieser Kontrolle gelöst. Um 9 Uhr. Meiner gelöst hat, also zwei Stunden nach der Kontrolle im Beruf, und wie!, sagen mehrere Richterkol- Ansicht nach will sich der Aufseher nur an durch den Fischereiaufseher. Dafür gibt es legen: «Er war ein guter Richter. Nicht immer mir rächen. Ich werde zu dieser Angelegenheit Zeugen und schriftliche Belege. Und damit ist und nicht in jeder Hinsicht, aber er lag in der eine persönliche Stellungnahme abgeben.» alles klar. Die Beschwerde geht am 18. März Bandbreite dessen, was man an einem Ober‑ Am 11. 1. 1991 reicht Roduner die angekündigte beim Obergericht ein. Roduners Richterkollegen gericht antrifft.» Stellungnahme ans Bezirksamt Baden nach. sind entsetzt. Einer geht zu ihm ins Büro, sagt Um Roduner herum Berge von Büchern, Darin führt er aus, dass es eine Vorgeschichte (sinngemäss): Was soll das? Was ziehst du hier Fachliteratur, es sind immer die neusten Bücher gebe zwischen ihm, Roduner, und dem Fische- für eine gottverdammte Show ab? Schluss damit! der besten Autoren. Roduner liest und schreibt, reiaufseher. Der Fischereiaufseher hat im Jahr Das Obergericht heisst die Beschwerde gut, er ist ein Arbeitstier, diszipliniert, beharrlich, er 1988 einen Fischer ohne Patent kontrolliert, hat Roduner bezahlt 100 Franken Busse, 40 Franken hat nie Pendenzen. «Diese Bücher waren mass- Anzeige erstattet, die Staatsanwaltschaft stellte Staatsgebühr, 15 Franken Kanzleigebühr. gebend für ihn, er hat sich an den Bücherturm das Verfahren aber ein. Gegen die Einstellungs- So viel zum Thema Fischen. Wobei, etwas geklammert», erinnert sich ein Richterkollege verfügung hat der Aufseher Beschwerde ein- ist noch anzumerken. Ernst Roduner ist nicht von damals. Ein Freund sagt, der Ernst habe gereicht, jedoch vor Obergericht verloren. Der nur gut darin, seine Verstösse gegen die gesell- eigentlich immer den Anschein erweckt, er sei Richter, der damals urteilte, war er: Roduner schaftlichen und rechtlichen Normen auszu- in Bedrängnis. «Er ist herrisch aufgetreten, Ernst. «Dieser Entscheid des Obergerichts erregte blenden, er ist ein wahrer Meister in diesem ruppig, jähzornig, klar. Aber das war ein Schutz. den Zorn des Fischereiaufsehers», behauptet Fach. Anders lässt sich nicht erklären, dass er Letztlich hatte er immer das Gefühl, er stehe Roduner nun in seiner Stellungnahme und sug- wenig später wieder erwischt wird, er fischt mit dem Rücken zur Wand.» Jemand anderer geriert damit ein Motiv, weshalb der Fischerei- während der Schonzeit in einem Zuchtbach. formuliert es ähnlich: «Ich glaube nicht, dass aufseher ihn «tatsachenwidrig bezichtigen» wolle. Der Fischereiaufseher (diesmal ein anderer) Roduner hinterhältig sein will. Er ist unaufrichtig Und er legt, quasi als Beweis, den Sitzungs‑ wird herbeigerufen, er macht Anzeige beim gegen sich selber, und deshalb hintergeht er bericht des Obergerichts vom 28. 4. 1988 bei Bezirksamt Zurzach. Roduner kennt den die anderen. Er ist ein Gefangener seiner selbst.» (dies erfüllt, Roduner weiss es, den Tatbestand Bezirksamtmann, ruft ihn an und sagt, man Einmal passiert einem Gerichtsschreiber ein der Amtsgeheimnisverletzung: Ein Richter solle das bleiben lassen. Wegen Geringfügigkeit Fehler. Er, der Gerichtsschreiber, hat ein fertiges ist nicht berechtigt, für private Zwecke über der Tatfolgen oder so ähnlich (er hat nur einen Urteil von Roduner auf dem Bildschirm und Gerichtsentscheide zu verfügen). kleinen, nichtigen Fisch gefangen). Der Bezirk- kopiert einen Textabschnitt heraus, weil er den samtmann in Zurzach telefoniert daraufhin mit gerade gut brauchen kann für einen anderen, dem Fischereiaufseher: Ob er die Anzeige nicht ähnlichen Fall. Er markiert den Textblock, zurückziehen könne? «Nein», sagt der Aufseher. drückt aber versehentlich auf «Ausschneiden» «Ich bin staatlich vereidigt. Wenn ich eine statt «Kopieren». Saublöd, aber nicht wirklich

22 Journalistenpreis 2010 schlimm, weil reversibel. Etwas, das man zu den Vorwürfe abklärt. Nach fünf Wochen, am Richter jeden Tag Konflikte, gegen innen haben Grauschattierungen des Lebens zählen würde, 22. Juni 2001, veröffentlicht die Justizkommission sie keine Streitkultur. Die Diskrepanz ist bemer- gäbe es sie denn. Wie gesagt, bei Ernst Roduner des Aargauer Grossen Rats dann ihren kenswert.» gibt es sie nicht. Also ist dieser Lapsus ein Akt Unter-suchungsbericht: «(01.147) Bericht zum Was jetzt? Würde es irgendwo weitergehen? der Böswilligkeit, entsprechend erschrickt der Beschwerdeverfahren gegen Oberrichter Tatsächlich. Kaum ist Ernst Roduner wegen Oberrichter. «Sie haben hinter meinem Rücken Dr. E. Roduner». Darin wird sein Verhalten in seiner Überspanntheit im Aargau ausgeschieden, ein Urteil gefälscht», sagt Roduner. «Wenn mehreren Fällen als «unkorrekt» bezeichnet, sitzt er schon im Kader des Bundes. Sie das noch einmal machen, setze ich Sie auf und es heisst: «Ein Richter muss ganz allgemein November 2001: Das Bundesgericht wählt die Strasse.» Für Roduner ist klar: Der Gerichts- über einen einwandfreien Charakter verfügen. ihn zum eidgenössischen Untersuchungsrichter. schreiber hat ihm eins reinbrennen wollen. So wird heute für alle Personen, die wichtige Roduner, immer bereit, das Böse zu bekämpfen, Funktionen ausüben, soziale Kompetenz ver- Der Appell bekämpft also den Gerichtsschreiber, vermutlich langt (…), ein Richter muss menschliche Der Bundesrat hatte ein paar Jahre zuvor eine auch dann noch, als dieser längst nicht mehr Qualitäten haben, Menschenkenntnis auch sogenannte Effizienzvorlage beschlossen. Die am Gericht arbeitet. Der Gerichtsschreiber geht bezüglich der eigenen Person, Diskursfähigkeit Strafverfolgung auf Bundesebene sollte verstärkt nämlich eines Tages an die Notariatsprüfung, im Sinne einer Befähigung, auch von eigenen werden. Bundesanwaltschaft, Eidgenössisches fällt durch, ein halber Punkt fehlt. In der Nota- Positionen abzurücken.» Die Kommission Untersuchungsrichteramt und Bundesamt für riatsprüfungskommission sitzt Ernst Roduner, beantragt mit 7:4 Stimmen, «von einer Wieder- Polizei würden also mehr Personal erhalten. und als die Kommission die Prüfung des Ge- wahl von Dr. Roduner abzusehen». Am 6. Juli Im Bundesblatt und in grossen Tageszeitungen richtsschreibers beurteilt, tut er nicht, was jetzt gibt Ernst Roduner der «Aargauer Zeitung» werden deshalb im Herbst 2001 vier Stellen zwingend nötig wäre: in den Ausstand treten. ein Interview, in dem er die von dem Aarauer als eidgenössische Untersuchungsrichter ausge- Der Gerichtsschreiber (der von diesem Form- Anwalt ausgelösten Vorgänge als Kampagne schrieben, Bewerbungsfrist: 14. September 2001. fehler nichts weiss) macht eine Beschwerde, bezeichnet und selbstbewusst ankündigt, Beim Bundesgericht in Lausanne gehen fristge- kommt damit durch. Man entdeckt, dass bei er trete als Richter wieder zur Wahl an. Zwei recht dreiundzwanzig Bewerbungen ein, darun- seiner Prüfung eine Seite verschwunden ist. Wochen später dann der Rückzieher: «Aus ter die von Ernst Roduner, wie Sabina Motta Ein Aarauer Anwalt, jung und idealistisch, hört gesundheitlichen Gründen». Er spielt allerdings sagt, die Sprecherin des Gerichts. Der damalige davon und empört sich: ein solcher Typ an Tennis wie zuvor, er fischt, geht an Sitzungen. Personalchef und der Generalsekretär des unserem Obergericht? Das darf nicht sein. Er Der wahre Grund ist vielmehr, dass ihm ein Bundesgerichts treffen eine Vorauswahl, sie laden nimmt sich nichts Geringeres vor, als diesen Vertrauter klargemacht hat, seine Kandidatur zwischen dem 29. Oktober und dem 1. November Richter aus dem Amt zu entfernen. Er telefo- sei chancenlos. Und Roduner ist darauf hinge- sechs Kandidaten zu einem Vorstellungsgespräch niert. Er führt eine Liste. Er sucht Zeugen. wiesen worden, dass die Justizkommission ein. «Die Parteizugehörigkeit war kein relevantes Innert Wochen hat er beisammen, was man ohne weitere Details veröffentlichen könnte, sollte er Kriterium», sagt Motta. Das Gericht hat sich Übertreibung ein Sündenregister nennen kann. sich nicht zurückziehen. Im September 2001 aus dem Kanton Aargau vorgängig den «Bericht Die rodunerschen Verfehlungen. Er schickt die scheidet er schliesslich, dem Druck weichend, der Justizkommission zum Beschwerdeverfahren Liste an die heutigen Nationalräte Lieni Füglis- aus. gegen Oberrichter Dr. E. Roduner» schicken taller (SVP) und Corina Eichenberger (FDP), die «Es war eigentlich ein Zufall, dass Roduner lassen. Da steht zwar allerhand drin, aber vieles damals im Grossen Rat ihre jeweilige Fraktion gehen musste», sagt ein Aargauer Richter rück- ist vage gehalten, und es gelingt Roduner in präsidieren. Es ist April 2001, kurz vor den Bestä- blickend. «Hätte sich dieser junge Anwalt nicht dem Gespräch, das Gericht davon zu überzeugen, tigungswahlen der Richter durch das Parlament. so hartnäckig eingemischt, wäre Roduner heute die Angelegenheit sei ein politisch motivierter Am 14. Mai 2001, morgens um 9 Uhr, klingelt wohl noch in Amt und Würden. An den oberen Rachefeldzug gewesen. Nach dem Vorstellungs- bei Ernst Roduner, Präsident des Obergerichts Gerichten findet kaum Kontrolle statt. Sie ist gespräch wird die «persönliche Eignung der des Kantons Aargau, das Telefon. Am Apparat: erschwert, weil sie an eine politische Behörde Kandidaten im Rahmen eines Assessments durch Hans Bürge, Grossratspräsident. Er sagt: «Du, übertragen ist. Vorfälle an die politische Auf- ein externes Unternehmen» geprüft (so das Ernst, es gibt Vorwürfe gegen dich. Deine sichtsbehörde zu melden, würde bedeuten, dass Bundesgericht), was übersetzt in die Normal- Wiederwahl morgen ist nicht gesichert. Wir man sie öffentlich macht. Leider gelangt das sprache heisst: Die Kandidaten füllen einen machen eine Sitzung, heute Abend um Viertel meiste, was in der Politik landet, an die Öffent- Multiple-Choice-Fragebogen aus, gestrickt nach nach fünf im Grossratsgebäude.» Später, als lichkeit. Darum werden interne Probleme, auch dem Muster: Wie würden Sie sich verhalten, eine Subkommission der parlamentarischen schwere Fälle, oft ausgesessen. Manchmal über wenn… Man habe dafür etwa zwei Stunden Zeit Justizkommission gegen ihn ermittelt, wird Jahre hinweg.» gehabt, erinnert sich einer der Kandidaten. Roduner über diesen Anruf sagen: «Ich war wie Das hat im Übrigen mit dem Aargau nichts Der Generalsekretär und der Personalchef des vom Blitz getroffen.» zu tun. An vielen Schweizer Gerichten werden Bundesgerichts schreiben am 2. November einen Am nächsten Tag beschliesst das Parlament auf innerbetriebliche Konflikte nicht gelöst. Der Bericht zu Händen der Anklagekammer. In dem Antrag von Herbert Scholl (FDP) aus Zofingen, St.Galler Kantonsrichter Niklaus Oberholzer, Bericht kommentieren sie alle sechs Kandidaten. die Wahl von Ernst Roduner zu verschieben. der mit klarem Blick über den eigenen Tellerrand Die Anklagekammer des Bundesgerichts (die es Und eine Kommission einzusetzen, welche die hinaussieht, sagt: «Gegen aussen entscheiden heute nicht mehr gibt; sie ist 2004 in der ersten

Journalistenpreis 2010 23 Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts in geradeaus, lässt sich nicht unterkriegen, das ist Bellinzona aufgegangen) bereitet nun die eine gute Eigenschaft für einen Untersuchungs- eigentliche Wahl vor. Das heisst, ihre Mitglieder richter. Insofern hat er einen guten Job gemacht. prüfen die sechs Dossiers, jemand fragt bei Er ist als Untersuchungsrichter aber trotzdem Bundesrichter Franz Nyffeler nach, der früher gescheitert. An seinem Charakter. Wenn man Präsident des Aargauer Handelsgerichts gewesen als Untersuchungsrichter nichts findet, muss ist und Roduner kennt. man die Gnade haben, einzustellen. Das hat Nyffeler rät von einer Wahl Roduners ab, Ernst einfach nicht geschafft. Der Drohfax war wie er sagt. Vier Kandidaten werden am Ausdruck dieses Dilemmas: Er fand nichts und 14. November zu einem zweiten Gespräch, konnte auch nicht einstellen.» einer «Anhörung», eingeladen, eine Woche Ernst Roduner, stark und angriffig, kämpfte, später formuliert die Anklagekammer ihren kämpfte weiter, nur nicht aufgeben. Und dann: Antrag an das Gesamtgericht: Zwei Kandidaturen le taureau se meurt. Der Banker Holenweger betrachte man als geeignet, jene von Zinglé hatte sich als Mann der Grautöne entpuppt, und Jürg und die von Roduner Ernst, und man mit den Grautönen war Ernst Roduner nicht schlage die beiden deshalb dem Plenum zur fertig geworden, ist es noch nie geworden; es Wahl vor. ist sein ewiges Lebensproblem, und also geht er Am 27. November 2001 werfen die Bundes- hin und inszeniert das Problem. Ein Drohfax. richter ihren Wahlzettel in die bereitgestellte Was für ein Appell. Der Absender: ein Ratloser. Urne. Ernst Roduner wird gewählt, mit einem Stimmenverhältnis, das vom Bundesgericht nicht bekannt gegeben wird. Ein erfahrener Bundesrichter sagt rückblickend: «Ich habe Roduners Wahl befürwortet damals. Ich habe nicht viel gewusst über ihn. Und das wenige sah ich eher positiv, nämlich, dass er ein Krampfer war, ein beharrlicher Einzelkämpfer, er hatte einen guten Ruf. Wer sechzehn Jahre lang Ober- richter war, ist jemand. Natürlich wusste ich, dass er nicht fröhlich dreinschaut, und mir war auch bekannt, dass er ein Jagdvergehen begangen hatte. Aber ich finde: Jeder macht mal einen Fehler.» Als eidgenössischer Untersuchungsrichter leitet Ernst Roduner dann zwei Verfahren, die schweizweit für Aufsehen sorgen. Den Fall Holenweger (Geldwäscherei) und den Fall Hells Angels (organisierte Kriminalität). Beide bringt er auch nach Jahren nicht zu einem Ende, es gibt Verzögerungen, Ungereimtheiten – und gleichzeitig steht er im Schaufenster der Nation. «Es wird kein Flop», sagt Roduner den Zeitungen – das klingt schon recht verzweifelt. Bei dem Verfahren gegen siebzehn Mitglieder der Rocker-Organisation Hells Angels deutet heute alles darauf hin, dass die zwar durchaus Delikte begehen, typische Halbweltdelikte wie Drogenhandel oder Körperverletzung, aber nicht die organisierte kriminelle Gruppe darstellen, die eine Ermittlung auf Bundesebene rechtfertigen würde. Ein ehemaliger Strafver- folger, der sich mit Roduner bis heute «wohl- wollend verbunden» fühlt, erklärt: «Roduner ist hartnäckig,

24 Journalistenpreis 2010 Journalistenpreis 2010 25 Preisträger

Christian Kündig Lukas Messmer

Gerne würde ich hier analog den anderen Wahrscheinlich brutzelte ich gerade Hamburger Preisträgern die Stationen meiner Laufbahn über einem Feuer irgendwo in der kanadischen beschreiben. Aber trotz nun gut zwei Jahren bei Wildnis, als ich den Entschluss fasste einmal der «Zürcher Studierendenzeitung» verstand schreiben zu wollen. Das war vor fünf Jahren, in ich mich nie auch nur entfernt als Journalist – meinen ersten Semesterferien an der Universität mein Studium der Wirtschaftsinformatik bot Zürich. Zurück in der Schweiz rief ich den Chef- schliesslich auch jede Menge näherliegende redaktor der brandneuen Regionalausgabe des Karrieren als den professionellen Journalismus. «Tages-Anzeigers» an. Er gab sich trotz meiner Als dessen Aussenseiter beschränkte sich meine Unwissenheit – «Nein, eigentlich habe ich noch bisherige Erfahrung auf das Verfassen einiger nie geschrieben...» – freundlich und versprach, Kolumnen in der ZS und die obligatorischen mich auf die Liste der Freien zu setzen. Wahr- akademischen Machwerke (und das Erschleichen scheinlich fehlte es an Personal. Zwei Tage später einer Presseakkredition für das Zürcher Filmfesti- jedenfalls schrieb ich über eine stinklangweilige val). Feuerwehrübung in einem Provinzdörfchen Ums trotzdem zu versuchen: Nachdem ich mich im Zürcher Oberland. Der Text war so richtig mies. im Herbst 2007 zu einer semi-regelmässigen Auf der Liste der freien Mitarbeiter blieb ich Wirtschaftskolumne in der ZS überreden liess wohl nur wegen dem Foto, das war gut, wie der (wo ich bis heute der einzige Vertreter der Wirt- Redaktor mehrmals betonte. Den Artikel selbst schaftsfakultät blieb) und mir diese bald auch erwähnte er mit keiner Silbe. Seither habe ich wieder gleichermassen anstrengend und lang- mich als freier Mitarbeiter für verschiedene weilig wurde, schrieb ich lieber unregelmässig Zeitungen verdingt. Ein interessanter und durch- über Studium, Bands, Alkoholkonsum und alles, aus lohnender Nebenjob. was Studenten sonst noch interessieren könnte. Richtig gerne und viel geschrieben habe ich Öfter als selber zu schreiben, gebe ich genussvoll erst bei der «Zürcher Studierendenzeitung». den jungen Pressekonsumenten, vor dessen Irgendwie bin ich während meinem Geschichts- Aussterben sich Redaktionen auf der ganzen Welt studium in die Redaktion gerutscht. Dort, im fürchten – generationsunkonform auch gerne dritten Stock einer hübschen alten Villa an der gedruckt. Aber selbst wenn sich mit dem Studium Rämistrasse, konnten wir tun und lassen, was nun auch meine Zeit bei der ZS zu Ende neigt, wir wollten. In einem alten Ordner fanden wir hoffe ich trotzdem, gelegentlich mehr als nur eines Abends das Credo unserer Vorgänger‑ Postkarten oder Geschäftskorrespondenz ver- redaktion: «Lieber drucken wir den Arsch des fassen zu dürfen. Chefredaktors als etwas Langweiliges.» Soweit kam es nie, aber wir alle in der Redaktion genossen und geniessen noch heute die Freiheit, eine Zeitung von A bis Z durchzugestalten.

26 Journalistenpreis 2010 Laudatio

Laudatio für den Artikel Die Endstation von Christian Kündig und Lukas Messmer erschienen in der Zürcher Studierendenzeitung, 27. November 2009

Die Begründung für diesen Preis ist so simpel Rotweinglas und Aschenbecher liegen. Unser wie selten: pure Leselust. Das erstaunt umso Reporterteam dagegen umschifft instinktsicher mehr, als die Reportage in die Gräbli-Bar führt, die Klippen der wohlfeilen Gefühle und Clichés. in einen verrauchten, stinkenden Schlund, der Ihr Text ist grundiert vom wohlwollenden Inte- die Gäste – Randständige kurz vor dem end- resse an allen Ausformungen des Lebens, und gültigen Absturz zumeist – verschluckt und erst die Spelunke erscheint als einer der letzten Orte nach Stunden wieder ausspuckt. «Du gahsch Zürichs, wo man sofort mit allen im Gespräch jetzt hei, alti Guggere», herrscht Barkeeper ist. Hier kann man sich selbst bleiben, hier Günther die Greisin an. Doch sie wird noch herrscht absolute Demokratie. Die Barmänner gute weitere acht Stunden sitzen bleiben, und knallen das Bier allen Gästen auf gleiche Weise die beiden Autoren, ganz Reporter der guten, auf den Tisch – egal ob sie im Hawaiihemd, alten Schule, damit. Mal fährt der schwule Businessanzug oder Strip-Outfit hereinspazieren. Ibrahim seinen Rollstuhl an ihren Tisch. Mal Wir gratulieren unsern beiden jungen Kolle- bietet ihnen einer Gras an und erzählt, wie gen von Herzen und wünschen ihnen, dass seine Chüngel «zickzack laufen», wenn er ihnen sie die Gabe, die Dinge anders zu sehen, auch das Zeug verfüttert. Morgens um sechs teilt ein dann nicht verlieren, wenn die Reportage zu Reporter seinen Stuhl mit einer tschechischen Routine wird und sich statt Gräbli Schluchten Stripperin, und als sie um zehn Uhr vormittags vor ihnen auftun. endlich aus der Gräbli-Bar taumeln, waren sie 24 Stunden im einzigen Niederdorf-Lokal, das Margrit Sprecher am Wochenende rund um die Uhr geöffnet hat. Lukas Messmer und Christian Kündig haben sich mit ihrem Beitrag in der «Zürcher Studie- rendenzeitung» in der Kategorie Nachwuchs beworben. Das erklärt die Frische ihres Blicks und ihrer Sprache und die Freude am Erleben. Die lottrige Klimaanlage hängt über ihren Köpfen wie das Schwert des Damokles. Die Barhocker haben «rekordverdächtiges Gewicht, wobei unklar bleibt, ob durch Zufall, als Dieb- stahlsicherung oder zwecks Gleichgewichtshilfe». Nützlich ist dies, folgert das Team, auf jeden Fall. Doch die überraschenden Zusammenhänge und Bilder sind nicht alles. Es ist auch die Hal- tung. Andere Journalisten – was heisst andere: die meisten! – würden sich voller Mitleid über die Köpfe der Gestrandeten beugen, die zwischen

Journalistenpreis 2010 27

Die Endstation

Zürcher Studierendenzeitung 27.11.2009 Auf der Strasse verzieht sich der Nebel, bezie- Ein Höllenschlund hungsweise der Zigarettendunst. Der Geist Ein Schlund ist sie, die Gräbli-Bar. Ein brauner, Manch lange Nacht endet in der Gräbli-Bar. Für wird klarer, die ersten Spatzen pfeifen von den dunstiger, stinkender Schlund, der Menschen viele ist die Bar eine Art Zuhause. Auch für uns, Dächern. Es ist 10 Uhr. Seit 14 Stunden hat verschluckt und nicht allzu bald wieder aus- zumindest für 24 Stunden. niemand die Bar gelüftet, der Rauch tausender spuckt. Willkürliche Figürlein und Schildchen Zigaretten wabert noch aus der offenen Türe, zieren den Tresen, eine Bilderserie vom Zirkus Von Christian Kündig und Lukas Messmer die hinter uns ins Schloss fällt. Zur selben Zeit Knie klebt an den Wänden. Direkt über unseren vor einem Tag standen wir an der gleichen Stelle, Köpfen hängt eine lotterige Klimaanlage an gingen jedoch in die umgekehrte Richtung. der Decke, wie das Schwert des Damokles. Die Wir betraten die Bar, um für 24 Stunden nicht Barhocker haben rekordverdächtiges Gewicht, mehr hinaus zu kommen. Das ist lange her. ob durch Zufall, als Diebstahlsicherung oder zwecks Gleichgewichtshilfe, nützlich ist es auf Prügeleien am Vormittag jeden Fall. Mitten im Raum steht ein Automat Es ist 10 Uhr, als ich im Niederdorf ankomme. mit Studentenfutter, Pistazien und Trocken- Alleine. Messmer hat verschlafen und nimmt früchten. Für zwei Franken gibts eine kleine einen späteren Zug. Ich geselle mich also an die Konservendose davon. Bar und bestelle einen Kaffee, als offensichtlicher Es ist Schichtwechsel, Barkeeper Alex rechnet Fremdkörper in dieser Szene. Den Espresso ab und verabschiedet sich. Seine Ablösung kriege ich trotzdem, sogar ungefragt mit einem Günther wischt den Boden und rückt die Hocker Glas Wasser. Während ich im Dämmerlicht zurecht. Er versucht, die Bar in Ordnung zu erfolglos versuche, einige Zeilen der NZZ zu bringen und von Altlasten zu entrümpeln. «Du entziffern, entsteht links am Tresen plötzlich gahsch jetzt hei, alti Guggere», herrscht er die Radau. Ein deutscher Gast muss Faustschläge weisshaarige, alte Frau an. Es nützt nichts, sie von seinem Nachbarn, nennen wir ihn Rudolph, wird noch gute acht Stunden hier sein. «Es wird einstecken. Bier wird ausgeschüttet, Barkeeper nicht geschlafen am Tresen, ist das klar?!», brüllt Alex sowie ein Kasten von einem Mann mit Günther durch den Raum. Er schlägt den «Security»-Bomberjacke trennen die beiden Schlafenden auf den Rücken, keine Reaktion. Streithähne. Ich habe verschlafen. Als ich die Bar betrete, Becherovka ist privat sitzt Kündig bereits am Tresen und schlürft Gegen Mittag wird das Ambiente angenehmer, Kaffee. Der Boden ist voller Bierflecken und Günther stellt das Licht schrittweise heller. Ein zerbrochenem Glas. Eine weisshaarige, alte einzelner Mann möchte Becherovka bestellen. Frau sitzt in der Ecke, brabbelt Worte wie «Haben wir nicht!», herrscht ihn Günther an. «Scheisse», «Arschloch» und «Hölle» und be- «Doch, da steht er ja!» – «Der ist nicht im Ange- ginnt plötzlich zu weinen. Vor ihr stehen zwei bot, das ist meine Privatflasche!», stellt er klar. Aschenbecher mit drei angerauchten Zigaretten, Dass die Gräbli-Bar kein harmloses Pflaster ist, die alle noch brennen. Ich bestelle ebenfalls verrät eine kurze Recherche. Es existiert ein Kaffee. mittlerweile gut zehn Jahre altes Obergerichts- urteil gegen die Gerantin der Bar. Ein Kübel mit Eiswürfeln und Wasser flog in Richtung einer ungeliebten Gästin mit Hausverbot, es floss Blut. Was genau passierte, konnte auch das Gericht nicht klären, die NZZ schrieb darauf von einem «zwiespältigen» und «finsteren» Ort. Gegen 13 Uhr knurren unsere Mägen. Draussen kündigt die Gräbli-Bar in grossen Lettern an, dass sie auch warmes Essen anbiete. Also bestellen wir die Speisekarte, Messmer ordert Weisswürste, Kündig entscheidet sich für Siedfleisch mit Salzkartoffeln und Bohnen. In der Wartezeit stellt Nella Martinetti die noch untrainierten Musik-Nerven auf die Probe und Günther wagt einen nächsten Versuch, Rudolph zu wecken. «Lueg mer id Auge!» Keine Chance. «Entweder

28 Journalistenpreis 2010 Bild: Lukas MessmerLukas Bild:

Im Dämmerlicht der Bar ist es dunstig. Kündig (rechts) ist langsam müde.

du gahsch oder mir holed en Krankewage oder und kaum zurück, da sei der Kollege schon du gahsch det ufd Bank go schlafe», droht ihm am «Hobeln» gewesen. «Dann hatten wir drei Günther. Es hat keinen Zweck. Die weisshaarige Stunden heftigsten Schwulensex, so richtig Frau ist unterdessen weggetreten, ihren Kopf durchgenudelt habe ich ihn», erzählt er. Eigent- «Du gahsch jetzt hei, hat sie zwischen Aschenbecher und Rotweinglas lich mache er aber keine Heteros an. gelegt. Im Hintergrund ertönt Ballermannmusik. Nach zwei Stunden Flirterei findet Ibrahim, alti Guggere», herrscht Messmer sei der Schönste am Tisch, Kündig er die weisshaarige, Einen Hetero durchgenudelt der Zweitschönste. «Man muss nur mit der Die frühen Nachmittagsstunden verlaufen Brille, der Frisur und vor allem den Kleidern alte Frau an. Es nützt gemächlich, dank dem nun ganz angeschalteten was machen, dann ist er aber auch schön», sagt nichts, sie wird noch Licht kann Kündig wenigstens gut Zeitung er. Seine Plauderei hat ein Ende, als er ein SMS lesen. Messmer büffelt spanische Vokabeln. Aus vom Freund empfängt, dass der sich beim gute acht Stunden hier den Lautsprechern schallt die «Pure Lust am Abwasch die halbe Hand aufgeschnitten habe. Leben» von Geier Sturzflug. Wir bemerken Mit schockiertem Gesicht will er zurückschrei- sein. davon nicht viel. Bis wir Ibrahim treffen. Er ist ben, kann das SMS aber nicht senden und schwul und sitzt im Rollstuhl. Zu viert sitzen bittet uns um Hilfe. Der Freund ist als «Schatzi- wir am Tisch, zwei Kollegen, die uns besuchen, bümsi» gespeichert. Ibrahim ist 47 Jahre alt. Im und wir – alles junge Männer. Ibrahim setzt Hintergrund spielt Mani Matter seine Balladen. sich zu uns. Er ist fröhlich, offen und herzlich. Es scheint ihm zu gefallen, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Einmal sei ein Heterokollege bei ihm zuhause gewesen und habe die Nummer des Pornokanals von seinem Fernseher wissen wollen. Nur kurz sei er in der Küche gewesen

Journalistenpreis 2010 29 Im Tageslicht sieht die Gräbli-Bar aus wie DJ Jukebox legt auf eine Dorfbeiz vom Lande, miniaturisiert, vom Bald schon ist Mitternacht, ab sofort gilt das Jassvolk entrümpelt und mit städtischen Origi- draussen ausgeschilderte Hundeverbot. So nalen aufgefüllt. Daneben sitzen Sozialfälle und erschliessen sich uns hier die Bedienregeln: Bier alte Herren, die alleine ein Glas Wein schlürfen gibts nur in Flaschen, Frauen bekommen dazu und auf die Tischplatte starren. Gesprochen ein Glas. Männer nicht. Wer Wasser bestellen wird nicht viel, über dem Tresen gehangen schon. will, der muss das selbst am Tresen holen. Alkohol Die Kundschaft ändert ständig: Tagsüber wird gebracht. Das ist gut so, denn nach sitzen Rentner einsam an den Tischlein, Ge- 14 Stunden Bar werden wir gerne bedient. Es ist schäftsmänner in Anzügen kippen über Mittag mitten in der Nacht. Der Qualm wird langsam einen Gin Tonic, einzelne Gwundernasen trin- unerträglich, die Augen brennen, der Hals «Etzt hanis gässe», sagt ken etwas. Beim Eindunkeln trinken sich einige kratzt, wie wenn der Barkeeper uns die vollen er grinsend. «Uh. Hm. Cliquen für den Ausgang ein, dann leert sich Aschenbecher in die Hälse gekippt hätte. An die Bar wieder. Doch die Kernkompetenz der den Pissoirs trifft Messmer auf Rudolph, dieser Nöd so guet. Das söttmer Bar liegt im frühen Morgengrauen: Als einzige sagt, er sei seit zwei Tagen da und offeriert ihm glaub nöd ässe. Weisch, im Dörfli hat sie an Wochenenden durchgehend ein Bier. Dem Kündig nicht. So langsam sind offen. Die Bar ist um 5 Uhr zum Bersten gefüllt. alle betrunken. Zu dritt, mit unserem ehemaligen rauche chanis nöd.» Das Publikum setzt sich dann überwiegend Chefredaktor, schlagen wir uns die Nacht um aus gestrandetem oder nimmermüdem Party- die Ohren. So gegen 3 Uhr hat Messmer die Aber er mache damit volk zusammen, die üblichen Stammgäste gehen grosse Krise, während Kündig munter weiter manchmal Tee, und den unter. So geht das schon lange: Seit 1965 bewirtet trinkt. Die Müdigkeit siegt, ein Powernap die Gräbli-Bar gleich beim Central ihre Gäste, bringt wieder Energie und dazu Günther die Rest der Stauden gebe vorher hiess der Spunten «Zum Türken». passenden Getränke: einen Vodka Red Bull, einen Kaffee und ein weiteres Sternbräu. Das er seinen Chüngeln. Marihuana zum Zvieri muss für die restlichen sieben Stunden reichen. Peter, auch seit dem Morgen da, setzt sich grin- Das Musikgedudel macht uns auch nicht wächer: send an den Tisch. Er trägt eine Strickmütze «Hotel California» hören wir zum dritten Mal, und eine blaue Helly-Hansen-Jacke. Er sieht «Morning Has Broken» zum zweiten Mal. ein wenig aus wie ein Waldarbeiter. Ibrahim Dank DJ Jukebox dröhnt bald etwas Moder- begrüsst ihn als «den, mit dem ich letzte Nacht neres aus den Lautsprechern: Rise Up – Yves rumgemacht habe». Peter grinst weiterhin und LaRock. Dann Peter Fox, dann drei Stücke von sagt nichts. «Ich hab Mittelohrentzündung, Scooter. Das scheint aber auch kein Schwein zu höre nur mono», erklärt er und packt eine Blüte interessieren. ZZ-Top singt auf Wunsch von Gras aus: «Hät mer öppert es Bier defür?» Als unserem früheren Chefredaktor «Viva Las Vegas». niemand reagiert, schiebt er sich den ansehnli- Irgendwann gegen 6 Uhr gesellen sich drei chen Happen in den Mund. «Etzt hanis gässe», Stripperinnen aus der gleich daneben liegenden sagt er grinsend. «Uh. Hm. Nöd so guet. Das Calypso-Bar zu uns. Sie können sich nur mässig söttmer glaub nöd ässe. Weisch, rauche chanis für unsere Artikel-Idee begeistern und reissen nöd.» Aber er mache damit manchmal Tee, und Kündig die Seite aus dem Notizblock, als er das den Rest der Stauden gebe er seinen Chüngeln. Erzählte notieren will. Anscheinend haben Die würden dann Zickzack laufen. sie einige Minuten früher Feierabend gemacht, Wir fragen, wie lange er schon da sei? «Frög davon soll der Chef auf keinen Fall erfahren. mi doch nöd so Sache!» Was ihn in diese Bar Die tschechische Blondine, mit der Kündig nun bringe? «Ja, mein Velo!» Er sei ein angefressener einen Stuhl teilt, erzählt, dass sie bereits am Biker! «Mit meinem Damenvelo häng ich noch Nachmittag hier war und dass einige der Gäste viele ab!» Der Rosthaufen steht gleich hinter manchmal tagelang hier verweilen. Die Frauen uns ausserhalb der Gräbli-Bar, am Lenker steckt gehen ohne auszutrinken nach gut 20 Minuten eine Papageienfeder. Es läuft «Griechischer Richtung Bahnhof. Auch unsere treue Seele, Wein» und Peter zeigt die Narbe von seinem die uns seit Mitternacht die Stange gehalten hat, Muskelriss, der das Ende seiner Rennvelo-Karri- kippt langsam. «Es genügelet», lallt er, lässt ere markiert. «Bin mal mit einem 54er-Schnitt sein Bier stehen und verschwindet in die frische um den Zürichsee gefahren!», prahlt er mit einem Morgenluft. stolzen Lächeln im Gesicht.

30 Journalistenpreis 2010 Bild: Christian KündigChristianBild:

Um 3 Uhr hat Messmer (links) die grosse Krise.

Vom Türken zur Gräbli Wir stehen draussen, die Luft ist wunderbar Die Bar ist ein Relikt in einer modernen Stadt- frisch, der Kater schleicht sich bereits in die welt: Wo heute neue Trinkstuben aufmachen, Stirnhöhlen. Peter steht neben uns, purlimunter. sind sie modern, fancy, gehen mit der Zeit. «Weisch, das han ich bim Fernfahre trainiert», Diese ist in der Gräbli-Bar stehen geblieben. erklärt er, schwingt sich auf sein Damenvelo Hier finden seit Jahren Charaktere wie Rudolph, und radelt davon. Rudolph sitzt drinnen noch Peter und Ibrahim einen Ort, wo sie plaudern, am Tresen. Er hat uns überdauert. Um wie viele feiern und vor allem sein können. Es kommt Stunden, das bleibt sein Geheimnis. Sympathie auf für diese Bar und ihre Gestalten. Aber im selben Moment wird uns wieder klar, dass all die fröhlichen und lustigen Gespräche unter Drogeneinfluss entstehen. Aber trotzdem: Hier in der Gräbli-Bar musst du kein Blatt vor den Mund nehmen. Du kannst in Hawaiihemd und kurzen Hosen rein- spazieren, im Anzug oder als Striptänzerin, Günther, Alex & Co. knallen dir das «Hürlimann Sternbräu» genau gleich auf den Tisch. Setzt du dich zu jemandem hin, entwickeln sich sofort Gespräche. Mal lallend, mal ernst, aber meistens lustig, offen und ehrlich. Gut, vielleicht tendie- ren wir nach 20 Stunden Sternbräu auch dazu, das braune Loch zu glorifizieren.

Journalistenpreis 2010 31 Bisherige Preisträgerinnen und Preisträger

1981 1990 Hugo Bütler, Peter Frey, Urs P. Gasche Ursula Binggeli, Colomba Feuerstein, Urs Haldimann, Toni Lanzendörfer, 1982 Josef Rennhard, Al Imfeld, Stefan Keller Caroline Ratz, Jonn Häberli, Wilfried Maurer, Hedi Wyss, Hanspeter Bundi Hans Moser, Edmund Ziegler 1991 1983 Peter Hufschmid, Christoph Keller, Andreas Kohlschütter, Gisela Blau, Christina Karrer, Ernst Hunziker, Gottlieb F. Höpli, Peter Meier Guerino Mazzola, Isolde Schaad

1984 1992 Dieter Bachmann, Georg Gerster, Hans Caprez, Christine Fivian-Isliker, Anna-Christina Gabathuler Erwin Koch, Patrik Landolt, Linus Reichlin, Mix Weiss, Nadia Bindellam, Regula Heusser, 1985 (Swissairpreis) Margrit Sprecher, Herbert Cerutti, Arthur K. Vogel 1993 Thomas Burla, Antonio Cortesi, Sepp Moser, 1986 Kaspar Schnetzler, Walter Sturzenegger, Markus Mäder, Verena Eggmann, Hans Caprez Barbara Suter, Edith Zweifel, Peter Pfrunder Klaus Vieli, Benedikt Loderer (Swissairpreis)

1987 1994 Christian Speich, Jürg Frischknecht, Herbert Fischer, Peter Haffner, Stefan Keller, Martin Born Willi Wottreng, Brigitte Hürlimann (Swissair- preis), Giorgio von Arb (Swissairpreis) 1988 Werner Catrina, Barbara Vonarburg, 1995 Christoph Neidhart Erwin Haas, Erwin Koch, Herbert Cerutti, Regula Heusser-Markun, Richard Stoffel, 1989 Martin Frischknecht (Swissairpreis) Beat Allenbach, Hansjörg Utz, Rolf Wespe Alois Bischof, Niklaus Meienberg, Jürg Rohrer 1996 Irène Dietschi, Lukas Lessing (Text), Ute Mahler (Bild), Bernard Senn, Ronald Sonderegger, Peer Teuwsen (Text), Reto Klink (Bild), Peter Sidler (Text) Swissair- preis, Daniel Schwartz (Bild) Swissairpreis

32 Journalistenpreis 2010 1997 2004 Pia Horlacher, Thomas Meister, Bruno Ziauddin, NZZ Auslandredaktion (Gesamtwerk), Finn Canonica (Swissairpreis) Daniele Muscionico (Alltag/Kleine Form), Bruno Vanoni, Andreas Schürer, 1998 Markus Schneider, Jean-Martin Büttner Fredi Lerch, Christoph Keller, Christoph Neidhart, Alfred Schlienger, 2005 Peter Haffner (Swissairpreis) Manfred Papst (Alltag/Kleine Form), Thomas Angeli, Daniel Benz, Rico Czerwinski, 1999 Nico Renner, Meinrad Ballmer, Marco Zanchi Daniel Ganzfried, Brigitte Hürlimann, Beat Kappeler, Bernhard Raos, Urs Rauber 2006 Werner Lüdi (Swissairpreis) Peter Baumgartner (Gesamtwerk), René Brunner (Alltag/Kleine Form), 2000 Peer Teuwsen, Karin Wenger, Beat Kraushaar, Martin Meier, Irena Brezná, Christoph Scheuring, Hansi Voigt, ­Nicole Müller, Richard Reich, Miklós Gimes Ursula Gabathuler (Swissairpreis) 2007 2001 Karl Lüönd (Gesamtwerk), Martin Beglinger, Alexej Djomin, Andri Bryner, Charlotte Jacquemart, Daniel Hug, Lisbeth Herger, Rahel Stauber, Urs Rauber, Bruno Ziauddin, Christian Schmidt, ­Oswald Iten (Swissairpreis) Gabrielle Kleinert, Marcel Hänggi

2002 2008 Jürg Ramspeck (Gesamtwerk), Jürg Rohrer Rainer Stadler (Gesamtwerk), Anja Jardine (Alltag/Kleine Form), Arthur Rutishauser, (Zeitschrift), Constantin Seibt (Zeitung), Patrik Landolt, Stephan Ramming, Daniel Ryser (Nachwuchs) Anna Schindler, Georg Seesslen, Ursula von Arx, Peter Ackermann 2009 Bernard Imhasly (Gesamtwerk), Catherine Boss, 2003 Martin Stoll, Karl Wild (Zeitung), Roland Bingisser Margrit Sprecher (Gesamtwerk), (Zeitschrift), Dinu Gautier (Nachwuchs) Daniel Germann (Alltag/Kleine Form), Michael Marti, Bernhard Odehnal, 2010 Cornelia Kazis, René Staubli Balz Bruppacher (Gesamtwerk), Viktor Dammann (Zeitung), Mathias Ninck (Zeitschrift), Christian Kündig und Lukas Messmer (Nachwuchs)

Journalistenpreis 2010 33 Der Schweizer Medienball unterstützt den Zürcher Journalistenpreis

Der Schweizer Medienball und Zürcher Presseball Der Schweizer Medienball hat eine lange Tradi- wird daher die Ballnacht prägen: Die Dekoration ist ein Wohltätigkeitsanlass mit landesweiter tion und hat auch unter den Medienschaffenden nimmt dezent Besonderheiten des Nordostens Ausstrahlung. Er erwirtschaftet für den Zürcher aus der ganzen Schweiz viele Freunde. Er bietet Deutschlands auf und beim Dinner können Journalistenpreis und die Menschenrechtsorgani- ihnen eine ausgezeichnete Gelegenheit für einen Ballgäste lokale Spezialitäten kosten. An der sation Reporter ohne Grenzen seit langer Zeit jedes interessanten Austausch zwischen Berufskollegen. hochkarätigen Tombola gibt es mit ein wenig Jahr einen substanziellen Beitrag. Mit dem Erlös der Veranstaltung werden der Glück luxuriöse Preise zu gewinnen. Karten Zürcher Journalistenpreis und die Menschen- für den Ball können über die Homepage rechtsorganisation Reporter ohne Grenzen www.medienball.ch bestellt werden. Medien- unterstützt. Der Zürcher Presseverein als Veran- schaffende erhalten Karten zu einem Journa- stalter will auf diese Weise die Berufsgruppe listen-Preis. der Medienschaffenden sowie die Meinungs- und Pressefreiheit fördern und stärken. Dr. Daniel Frey, Geschäftsführer Dirtje Hüttmann, Stv. Geschäftsführerin Deutschland ist Gastland am Ball 2010

Daniel Frey und Dirtje Hüttmann organisieren zusammen Der Schweizer Medienball findet dieses Jahr mit dem Team von Frey Communications SA seit am 30. Oktober im Dolder Grand in Zürich 2005 den Schweizer Medienball & Zürcher Presseball. statt. Auch diesmal erwartet die Ballgäste ein fulminantes Abendprogramm. In diesem Jahr ist Deutschland Gastland am Schweizer Medienball, vertreten durch das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Die Ostseeregion

34 Journalistenpreis 2010 Dank für Unterstützung und Spenden

Wir danken ganz herzlich Folgende Firmen und Organisationen (gestaffelt nach Höhe der Beiträge) haben die Ausrichtung dem Zürcher Presseverein ZPV für seine der diesjährigen Preisgelder in verdankenswerter grosszügige Unterstützung Weise ermöglicht:

der Druckerei Robert Hürlimann AG, Zürich, - Tamedia AG für den Druck dieser Broschüre - Orange Communications SA

dem Hotel Schweizerhof Zürich für die stilvolle - Schweizer Verband der Raiffeisenbanken Beherbergung des Gastreferenten - Neue Zürcher Zeitung AG - Nobel Biocare Holding AG - Ringier AG

- Schindler Management AG - UBS AG

- Adolf und Mary Mil-Stiftung - Chocoladefabriken Lindt und Sprüngli AG - Coop - Credit Suisse - Elektrizitätswerke des Kantons Zürich - Helsana Versicherungen

- Swiss Life AG

- Bank Vontobel AG - F. Hoffmann-La Roche AG - IBM Schweiz - Jelmoli Service AG - Johann Jacob Rieter-Stiftung - Migros-Genossenschafts-Bund - Novartis International AG - Syngenta International AG - Verband Schweizer Presse - Zürcher Kantonalbank Impressum - Xanthippe Verlag Herausgeberin Stiftung Zürcher Journalistenpreis Kirchweg 61 - Dr. Bjørn Johansson Associates 8102 Oberengstringen T 044 750 29 68 F 044 750 29 43 - Electrolux AG [email protected] www.zh-journalistenpreis.ch - Zürich Versicherungsgesellschaft Bankverbindung UBS AG Postfach - Victorinox AG 8098 Zürich Konto-Nr. 230-208.241.40J

Redaktion Manuela Nyffenegger, Buchs

Gestaltung TGG Hafen Senn Stieger, St.Gallen

Druck Druckerei Robert Hürlimann AG, Zürich

Journalistenpreis 2010 35 Stiftung Zürcher Journalistenpreis Kirchweg 61 8102 Oberengstringen T 044 750 29 68 F 044 750 29 43 [email protected] www.zh-journalistenpreis.ch