„Den Abszess Zum Platzen Bringen“

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„Den Abszess Zum Platzen Bringen“ LIZENZIATSARBEIT DER PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH DEUTSCHES SEMINAR PROF. DR. MICHAEL BÖHLER „Den Abszess zum Platzen bringen“ Zugänge zu Niklaus Meienbergs Geschichtsschreibung PHILIPP METZLER, ZÜRICH JUNI 2001 Seul importe le livre, tel qu’il est, loin des genres, en dehors des rubriques, prose, poésie, roman, témoignage, sous lesquelles il refuse de se ranger et auxquelles il dénie le pouvoir de fixer sa place et de déterminer sa forme. (Maurice Blanchot) 1 1. Einleitung Sein Name hat noch immer Gewicht. Acht Jahre nach Niklaus Meienbergs (1940-1993) Tod liegen eine Biografie, ein Dokumentarfilm und ein Theaterstück vor, die alle diesen Namen mit einer gewissen ehrfürchtigen Schwere im Titel führen: „Meienberg“, „Der Meienberg“, „Meienbergs Tod“. 1 Mit diesem Namen verbunden ist die Evokation eines widersprüchlichen, schillernden, tragisch endenden Lebens, das die Kulturschaffenden inspiriert und die populäre Rezeption bisher in erstaunlicher Weise dominiert hat. Während seine Vita weitgehend er- forscht ist, hat das Nachdenken über sein Werk erst sehr zögerlich eingesetzt. An einer Hand ist die Anzahl neuerer wissenschaftlicher Arbeiten über seine Texte abzuzählen; die Gesamt- heit seiner Schriften hat noch niemand zu strukturieren versucht; es gibt Texte, die neu aufge- legt werden, andere wiederum sind vergriffen. 2 Zeit also, dieses Werk zu entdecken! Es ist das Ziel dieser Arbeit, Zugänge zu Meienbergs Schreiben und Denken zu entwerfen und einen Teil seiner Prosa, die historischen Arbeiten, näher zu untersuchen. Als ‚historische Ar- beiten‘ sollen die drei Texte Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. (1975), Es ist kalt in Brandenburg. Ein Hitler-Attentat (1980) und Die Welt als Wille und Wahn. Elemente zur Naturgeschichte eines Clans (1987) bezeichnet und als eigener, wichtiger Teil des Gesamt- werks neben den Reportagen, der Publizistik und der Lyrik identifiziert werden. 3 Mit der Be- zeichnung ‚historische Arbeiten‘ wurde absichtlich ein etwas vager Terminus gewählt. Es wä- re nicht falsch, von einem Verlegenheitsausdruck zu sprechen, hinter dem sich freilich ein grundsätzliches Dilemma bei der Diskussion dieser drei Texte verbirgt. 4 Einerseits können sie nämlich nicht ohne weiteres der Geschichtsschreibung als Gattung zugeordnet werden, ande- rerseits stellen die Geschichte, die Geschichtsbilder und die Geschichtsschreibung die zentrale Thematik dieser heterogenen Prosa dar. Die historischen Arbeiten, die den Gegenstand dieser Arbeit bilden, können auf verschiedene Arten gelesen werden – als Geschichtsschreibung, die Informationen über die schweizerische Zeitgeschichte vermittelt; als ästhetische Kunstwerke, deren Lektüre Genuss und Unterhal- tung bietet; als intellektuelle Interventionen, welche die selbstgerechte kollektive Identität der Schweiz in den 70er und 80er Jahren durch gezielte Attacken zu erschüttern suchten. 5 Immer handelt es sich dabei aber um eine spezifische Form des kritischen Erinnerns und des Erzäh- 1 Fehr, Marianne 1999: „Meienberg. Lebensgeschichte des Schweizer Journalisten und Schriftstellers“, Zü- rich; „Der Meienberg“, Dokumentarfilm von Tobias Wyss, Schweiz 1999; „Meienbergs Tod. Eine Grotes- ke“, Theaterstück von Lukas Bärfuss und Samuel Schwarz, uraufgeführt am Theater Basel, 27.4.2001. 2 Meienberg, Niklaus: „Reportagen“, hg. von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, [2 Bände], Zürich 2000. Unter dem behelfsmässigen Titel „Reportagen“ werden in diesem Doppelband aber auch Re- den, offene Briefe, literarische, historiografische und politische Essays, Pamphlete, autobiografische Texte usw. versammelt. Die Herausgeber betonen in einer editorischen Notiz, dass Kategorisierungen vermieden werden sollten. Dennoch wird es notwendig sein, Meienbergs Werk systematisch zu strukturieren, damit die ganze Bandbreite seines Schaffens sichtbar wird. Wichtig, aber derzeit vergriffen ist Es ist kalt in Branden- burg. Ein Hitler-Attentat. 3 Die genauen bibliografischen Angaben der verwendeten Textausgaben finden sich am Ende der Einleitung im Verzeichnis der Siglen. 4 Je nach Aspekt, der im Vordergrund steht, werden die historischen Arbeiten deshalb ab und an auch mit an- deren Begriffen belegt wie etwa „essayistische Prosa“ oder „Reportage-Prosa“. 5 Der letzte Punkt gilt für Es ist kalt in Brandenburg. Ein Hitler-Attentat nur sehr eingeschränkt. Dieser Text wird inskünftig mit der Sigle B bzw. mit der Abkürzung Bavaud gekennzeichnet. 2 lens von „Gegengeschichten“. 6 In Wille und Wahn fragt Meienberg programmatisch: „Und wem gehören die Erinnerungen?“ 7 Diese Frage führt zum Kern seines intellektuellen Selbst- verständnisses, das hinter diesen Texten steht. Sie stehen im Zeichen eines Kampfes um das historische Gedächtnis und die damit verbundene Selbstbeschreibung und -vergewisserung der Schweiz. Doch Meienberg erinnerte nicht nur an eine andere Schweiz, er schuf sich auch andere Formen der Erinnerung – eine vollständig neue Erzählweise, die Historiografie, Repor- tage, Literatur, Essay, Pamphlet und Autobiografie vereinte. Meienbergs historische Prosa in die etablierten Gattungen der Geschichtsschreibung, Journalistik und Literatur aufzubrechen hiesse, ihre zentrale Leistung zu verkennen, die gerade in der Transgression generischer Grenzen und in der Synthese des scheinbar Unvereinbaren besteht. Nicht, dass die Existenz von Genres geleugnet werden sollte – gerade die Überschreitung von Grenzen setzt diese zwingend voraus. 8 Aber das System der Gattungen ist in ständiger Transformation begriffen, und Meienberg hat sich in diesem Sinn sein eigenes Genre geschaffen, für das zur Zeit noch keine prägnante Bezeichnung zur Verfügung steht. Eine Konsequenz aus dieser Einsicht be- steht darin, dass in dieser Arbeit nicht versucht werden soll, nach dem alten, autonomieästhe- tischen Paradigma das ‚bleibende‘ Literarische vom ‚vergänglichen‘ Politischen zu trennen, wie es bei politisch engagierten Autoren häufig geschieht. Gerade bei Meienberg ist das Äs- thetische nämlich besonders eng mit dem Politischen verknüpft. Seine politische Durch- schlagskraft beruhte wesentlich auf der Macht und dem Witz seiner Sprache, und für die Macht und den Witz seiner Sprache benötigte er klar definierte politische Gegner. Literatur entstand bei ihm nicht, weil er Literatur machen wollte. Sie entstand unterwegs, auf dem Weg zu seinen gesellschaftspolitischen Wirkungsabsichten. Das schmälert ihre Qualität nicht. Es ist im Gegenteil sehr bemerkenswert, welche Vielfalt der historiografischen Methoden und der literarischen Techniken er sozusagen en passant entwickelt hat. Soviel zur allgemeinen Problemstellung. Die spezifische Fragestellung dieser Arbeit umfasst drei Bereiche: 1) In einem ersten Zugriff soll der grössere gesellschaftspolitische und literarische Kontext der drei Werke skizziert werden: Welches sind die gesellschaftspolitischen Rahmenbedin- gungen in der Schweiz, in welche Meienbergs Texte in den 70er und 80er Jahren fallen? Wo ist der Ort Meienbergs in der zähflüssigen Kontroverse um die helvetischen Ge- schichtsbilder der Nachkriegszeit, in welcher ein echter Durchbruch erst 1996, also drei Jahre nach seinem Tod erzielt wurde? Die Erörterung des literarischen Kontextes erfolgt in zwei verschiedene Richtungen. Einerseits: Welchen Strömungen innerhalb der deutsch- sprachigen Schweizer Literatur der Nachkriegszeit rechnet die aktuelle Literaturgeschich- te Meienbergs Werk zu? Andererseits sollen mit der Dokumentarliteratur und dem ‚New Journalism‘ zwei literarische Konzepte aus den 60er Jahren vorgestellt werden, die wich- tige Aspekte von Meienbergs Prosa vorprägen. 6 Der Begriff der „Gegengeschichte“ wird vom Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen zur Charakterisierung des Modus‘ der kritischen historischen Sinnbildung verwendet. (Rüsen, Jörn 1994: „Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden“, Köln etc., 18). Näheres dazu in Kap. 3.1. 7 Die Welt als Wille und Wahn , 92. Dieser Text wird inskünftig mit der Sigle W bzw. mit der Abkürzung Wil- le und Wahn gekennzeichnet. 8 Siehe hierzu: Todorov, Tzvetan 1978: „Les genres du discours“, Paris, 45-46. Französische Titel werden nach Möglichkeit mit Ortsangabe vermerkt. Wo eine solche fehlt, wird nach französischer Sitte der Verlag angegeben. 3 2) In einem zweiten Zugriff soll eine Annäherung an Meienbergs Denken versucht werden, welches nicht nur hinter seinen historischen Arbeiten, sondern hinter seinem Schaffen im Allgemeinen steht: Wie lässt sich sein grundlegendes intellektuelles Selbstverständnis be- schreiben? Welches sind die Paradigmen und Methoden, die seine Forschungen als Histo- riker und Journalist determinierten? Welche epistemologischen und sprachlichen Konzep- te steuerten sein Schreiben? Wie lässt sich sein Literaturverständnis charakterisieren? 3) Der letzte Zugriff besteht in der empirischen Textanalyse der drei historischen Arbeiten. Wie erzählt Meienberg? Wie funktioniert seine „logische Fantasie“? Welches sind die wichtigsten Merkmale seiner Sprache? Wie tritt seine spezifische Subjektivität zutage? Schliesslich: Wie lassen sich die gesammelten Erkenntnisse über sein Denken und die Strukturen seiner Texte synthetisieren? Die Breite des Fragenkomplexes bringt es mit sich, dass in keinem dieser drei Bereiche ein Anspruch auf erschöpfende Abhandlung geltend gemacht werden kann. Diese Arbeit hat ten- tativen Charakter: Es geht darum, in zunächst breiten, dann immer enger werdenden Kreisen Zugänge zu schaffen zu einem – mutmasslich – noch weitgehend unbekannten
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