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iam Reportagen über Reporter II Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation Zweites Studienjahr 2003 Herausgegeben von Roger W. Müller Farguell Zürcher Hochschule Winterthur, 2003 © Zürcher Hochschule Winterthur,!2003 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbe- sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Switzerland Reportagen über Reporter II Inhalt Editorial 7 Johann Gottfried Seume Thomas Baur „Ich bin niemals Dichter gewesen.“ Johann Gottfried Seume (1763 – 1810) 11 Bettine von Arnim Maria Luisa Leanza Bettine von Arnim Hoffnung auf den Volkskönig 31 Egon Erwin Kisch Florian Maag „Eingebetteter“ Reporter Ein Schlagwort der Gegenwart oder Das Leben des Egon Erwin Kisch 51 Joseph Roth Valeska Beck Joseph Roth Zwischen Heimweh und Heimatlosigkeit 63 Samuel Gerber Joseph Roth „Ein nicht zu rächender Mord“ 81 Ernest Hemingway Martin Mächler Tod in Madrid Ernest Hemingway: Reporter aus Leidenschaft 101 4 Maria Leitner Beatrice Henes Ihrer Berufung treu Eine Reportage über Maria Leitner (1892-1941?) 121 Harry Mulisch Romeo Hutter Unkonventionelle Betrachtung Harry Mulisch und der Eichmann-Prozess 135 Marion Gräfin Dönhoff Raffaela Moresi Marion Gräfin Dönhoff Flucht in den Journalismus 153 Max Frisch Rahel Koerfgen Max Frisch Die Zeit des Experimentierens 173 Margrit Sprecher Gabriela Hübscher Nicht nur im Zweifel für den Angeklagten Margrit Sprechers Reportagen 191 Niklaus Meienberg Patrik Berger Es ist still geworden ohne Meienberg 209 Manuel Martin Das „Ich“: Ein fester Bestandteil in Niklaus Meienbergs Reportagen 227 Tobias Stahel Der James Joyce der Schweiz 241 5 Hugo Loetscher Simona Borsari Hugo Loetscher – clavis helvetica 259 Irena Brezná Bettina Tonet Irena Brezná und Tschetschenien 275 Adrian Haut Irena Brezná Die Mutter aller Wölfinnen 287 Max Küng Nicola Brusa Max Küng the King! Eine Reportage 301 Editorial Dieser zweite Band in der Reihe „Reportagen über Repor- ter“ ist das Werk der Studierenden am Institut für Ange- wandte Medienforschung (IAM) der ZHW. Gut zweihun- dert Jahre aus der Geschichte des Journalismus sind in die- sem Buch am Beispiel markanter Exponenten besprochen. Entdeckungslust und errungene Schreibfertigkeiten wirkten bei den Recherchen, Interviews sowie beim Redigieren zusammen, um schliesslich den Ertrag der vorliegenden Reportagen einzubringen. Von der Weltsicht anderer zu berichten, ist gewiss eine edle Seite unserer schreibenden Zunft. In der Auseinander- setzung mit Leben und Werk von Journalisten wird hier insbesondere die Kern-Erfahrung erschlossen, sich ein Stück der eigenen Berufs-Geschichte förmlich erschreiben zu können. So bringen diese Texte eine Vielzahl von Le- bens- und Schreiberfahrungen jener Menschen zu Gehör, die sich das Berichten zur Profession gemacht, aber damit nicht immer ein leichtes Los hatten. Schreiben für den Tag – das wird in den vorliegenden Reportagen kenntlich – wirkt stilbildend weit übers Tagesgeschäft hinaus. Und doch ist es nur die Spitze des Eisbergs, die hier ans Licht tritt. Dies gilt für die noch ungehobenen Schätze an le- senswerten Reportagen ebenso wie für diejenigen „Repor- tagen über Reporter“, die zwar mit Herzblut geschrieben, jedoch an dieser Stelle nicht gedruckt werden konnten. Möge jedenfalls dieses Buch einen Meilenstein auf dem Weg zu künftigen Reportagen bilden. Walter Joos Roger W. Müller Farguell Armin Züger Johann Gottfried Seume Thomas Baur „Ich bin niemals Dichter gewesen.“ 1 Johann Gottfried Seume (1763 – 1810) „Alles, was ich gesagt habe, ist im- mer die Wahrheit gewesen: und dadurch haben meine Werke eini- ges Verdienst.“2 Das Zeitalter der Aufklärung geht zu Ende, das 19. Jahrhundert bricht gerade an. Napoleon beherrscht weite Teile Europas. Das gemeine Volk ist bitter arm. In dieser Zeit lebt auch der rastlose Spät-Aufklärer Johann Gottfried Seume. Dieser kauzige Sonderling wandert durch halb Europa und verfasst Reiseberich- te. Mit schnörkelloser Sprache und einem ausgepräg- ten Sinn für Gerechtigkeit, Wahrheit und Moral ana- lysiert und kritisiert er die Ungerechtigkeiten und Missstände, die Obrigkeit und die Kirche. Seine Schriften sind so politisch und gesellschaftskritisch, dass sie teilweise verboten werden. „Ich schnallte [...] meinen Tornister, und wir gingen.“3 1801 bricht Johann Gottfried Seume zu seiner grossen Ita- lienreise auf. In seinem Tornister aus Seehundsfell sind einige Bücher seiner liebsten griechischen und lateinischen Autoren, auf seinem Kopf trägt er eine Jakobinermütze und in der Hand hält er einen respekteinflössenden Knoten- stock. Seumes Titel für seinen Gewaltmarsch von knapp 6'000 Kilometer, der ihn von Sachsen über Prag und Rom nach Syrakus auf Sizilien bringt, ist eine ironische Unter- treibung: „Spaziergang nach Syrakus“. Der Rückweg, wie- der durch teilweise gefährliches Gebiet, führt den kleinge- wachsenen Sonderling über die Schweiz und mit einem Abstecher nach Paris – er wollte Napoleon sehen – zurück nach Sachsen. Seume macht Eilmärsche. An manchen Ta- 12 Thomas Baur gen bringt er 50 bis 70 Kilometer hinter sich. Nach neun Monaten ist Seume wieder zurück und beginnt, seinen Rei- sebericht zu schreiben. „Ich muss mich ein wenig auslaufen.“ Seume reist nicht, wie Goethe vor ihm, nach Süden, um einer schöpferischen Krise Herr zu werden. Auch das A- benteuer an sich reizt ihn nicht. Sein Leben ist bisher be- reits abenteuerlich genug verlaufen. So wurde er zweimal gegen seinen Willen zur Armee eingezogen und einmal über das Meer nach Amerika verfrachtet. Seume will auch keine Beiträge zur Kunst der Antike schaffen. Wenn er einmal als Grund für seine Reise nach Syrakus angibt, er wolle Theokrit, einen alten griechischen Schriftsteller Sizi- liens, in dessen Heimatstadt lesen, so ist das nur eine Kostprobe von Seumes speziellem Witz. Der eigentliche Grund für seine erste grosse Reise – ne- ben einer unglücklichen Liebesgeschichte, die er vergessen will – hat Seume selbst auf seine typisch einfache Art aus- gesprochen. Als er nämlich seine Stelle als Korrektor beim Leipziger Verlagsbuchhändler Göschen antritt, sagt er sei- nem Brotherrn: „Zwei Jahre will ich bei Ihnen sitzen, dann muss ich mich aber wieder ein wenig auslaufen.“4 Der Weg wird zum Ziel. So geht er nach Syrakus aus keinem anderen Grund, als um wieder unterwegs zu sein. Sein „Spaziergang“ beginnt mit einem unmissverständli- chen Hinweis auf seine Einstellung: Der Himmel möge ihn nämlich behüten „vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker [...].“5 Durch den ganzen Bericht hindurch prangert er die schlechte Verfassung der Bevölkerung, die Kirche, den Adel und – gegen Ende – auch Napoleon an. Dieser habe nämlich der Französischen Revolution ein Ende gemacht: „An der Seine erschien vor einigen Jahren eine Morgenröte, die sie [die Gerechtigkeit] hervorzuführen versprach. Aber die Morgenröte ver- „Ich bin niemals Dichter gewesen.“ 13 schwand, es folgten Ungewitter, dann dicke Wolken und endlich Nebeltage. Es war ein Phantom.“6 Welche Enttäu- schung für Seume, dass sich der erhoffte Held doch nur als genialer Praktiker der Macht erweist: „Jeder Schritt, den er tat, war mit herrlich berechneter Klugheit vorwärts für ihn, und für die Republik rückwärts. [...] Das Schicksal hatte ihm die Macht in die Hände gelegt, der grösste Mann der Weltgeschichte zu werden; er hatte aber dazu nicht die Erhabenheit genug und setzte sich herab mit den übrigen Grossen auf gleichen Fuss.“7 Erneut zieht es ihn fort: „Mein Sommer 1805“ Seume plagt eine Unruhe und ein Gefühl der Unzuläng- lichkeiten des bisher Erreichten. Er spürt zudem den eige- nen körperlichen Verfall: „Ich war Willens, noch ein Werk zu schreiben, das mir noch einige Zeit nach meinem Tode sollte leben helfen.“8 Wie schon einige Jahre zuvor war sein – erneut – gebrochenes Herz ein zusätzlicher Grund für seine zweite grosse Reise. Seume will weg. So macht er sich 1805 auf den Weg, um St. Petersburg, Moskau und anschliessend die skandinavischen Staaten zu besuchen. Während Goethe eineinhalb Jahrzehnte vor ihm per Kut- sche und Pferd gereist war, ist Seume vom Gehen über- zeugt: „Wer geht, sieht im Durchschnitt [...] mehr, als wer fährt. [...] Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstständigste im Manne. [...] Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“9 Kleinlaut gibt er zu, dass er „diesmahl [sic] nur den kleinsten Teil zu Fusse gemacht“10 hat. Das erste Stück fährt er als Lehrbeauftragter mit seinem Zögling mit, später machen ihm Fussprobleme zu schaffen. Wohl oder übel muss sich Seume deshalb zeitweise kutschieren las- sen. „1805“ beginnt dort, wo der „Spaziergang“ aufgehört hat: Alle Beobachtungen und Erkenntnisse, die Seume in Italien und Frankreich gewonnen hat, stehen ihm als Hin- 14 Thomas Baur tergrundwissen zur Verfügung. Noch stärker als im „Spa- ziergang“ kritisiert er kompromisslos die politischen Ver- hältnisse. Die Übermacht des Politischen, das die Existenz der Menschen am stärksten beeinflusst, ist Seume schmerzlich klar. Um dagegen zu halten, benutzt er das Politische für seine eigene Zwecke: „Wenn man mir vor- wirft, dass dieses Buch zu politisch ist, so ist meine Ant- wort, dass ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, das dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht.“11 Seumes Bericht ist eine durchgehende