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Gegenwartsliteratur

Rückert-Preisträgerin Sara Rai Im Interview

Johanna Hahn

Sara Rai ist Autorin, Übersetzerin und Publizistin und lebt in (Bundesstaat ). Kürzlich erschien der Band „Im Labyrinth“ mit Erzählungen und einem Essay in deutscher Übersetzung. Sara Rai ist Gewinnerin des Coburger Rückert-Preises 2019. Das Gespräch ist eine gekürzte Fassung des auf geführten schriftlichen Interviews, das zur Veröffentlichung auf der Online-Plattform Rekhta vorgesehen ist.

Johanna Hahn: Frau Rai, leben Sie seit Oktober 2018 in Al- sehr mochte, las ich sonst nur wenig von ihm. Daheim lahabad oder in Prayagraj?1 war er ständig Thema: Dass er die meiste Zeit mit Schrei- Sara Rai: Ich lebe nach wie vor in Allahabad. Genauso, ben beschäftigt war, manchmal bis spät in die Nacht oder wie eine Stadt im Hier und Jetzt existiert, existiert sie schon in aller Frühe, dass er nicht nur seit Kindertagen Bü- auch in der Vergangenheit. Es vergehen hunderte von Jah- cher verschlang, sondern dass er auch ausländische Auto- ren, in denen sich alle Schichten einer Gesellschaft und ren übersetzte. Diese ganzen Dinge haben mich unbewusst Kultur setzen und sich eine Stadtidentität herausbildet. geprägt. Auch mein Vater las und schrieb leidenschaftlich Allahabad und Prayag sind die Namen von zwei unter- gerne. Bei uns zu Hause gab es Bücher in allen möglichen schiedlichen Orten. Prayagraj ist eigentlich ein Zug, der Sprachen. Wenn mein Vater verreiste, kam er immer mit zwischen Delhi und Allahabad verkehrt. Büchern zurück. Deshalb entwickelte ich sehr früh eine Neigung fürs Lesen und Schreiben. Das, was ich früher In You will be the Katherine Mansfield of Hindi, das als er- an Einflüssen von meinem Großvater und meinen Eltern stes Kapitel Ihrer Autobiografie geplant ist, erzählen Sie von mitbekommen habe, war auf meiner künstlerischen Reise der vielsprachigen und multikulturellen Umgebung, die Ihr sehr hilfreich und in keiner Weise hinderlich. Aufwachsen in Allahabad und Ihren Umgang mit Sprache ge- prägt haben. Inwiefern ändert die Umbenennung in Prayagraj Was waren die Gründe dafür, You will be the Katherine den Blick auf Ihre Heimatstadt? Mansfield auf Englisch statt auf Hindi zu schreiben? Meine Berührungspunkte mit Allahabad sind vor allem mei- Dafür gab es mehrere Gründe. Die Wahl der Sprache war ne persönliche Lebenswelt. Jeder Schriftsteller lebt ja in ei- für mich nie eine leichte Entscheidung. In einer vielspra- ner solchen eigenen Welt, und das ist auch unerlässlich. Der chigen Gesellschaft wie der indischen wächst man damit Boden, auf dem wir stehen, setzt sich aus vielen Dingen zu- auf, mehrere Sprachen zu hören, zu verstehen und zu ler- sammen. Für mich spielten Bücher schon immer eine wich- nen. Wenn ich fiktionale Texte schrieb, fühlte ich mich tige Rolle. Was ich sagen will: Egal, in welcher Stadt man dem Hindi näher, weil alles, was um mich herum pas- lebt, lebt man doch vor allem in seiner ganz persönlichen sierte, in Hindi und Awadhi2 gesprochen wurde. Da lag Einstellung zu dieser Stadt. Das Allahabad, das ich wahr- es nahe, darüber auf Hindi zu schreiben. Den Gang und nehme und erlebe, mag sich aus vielen Gründen verändern, Rhythmus der Ereignisse in einer anderen Sprache abzu- aber ein äußerlicher Grund wie eine Namensänderung tan- bilden, wäre mir unpassend vorgekommen. Dieses Kapi- giert meine Wahrnehmung von dieser Stadt nicht. tel [meiner Autobiografie, JH] ist jedoch nicht-fiktional. Ich habe darin meinen eigenen Schaffensweg beschrieben, Sie reflektieren in You will be the Katherine Mansfield of wofür ganz automatisch eine gewisse Distanz vonnöten Hindi Ihren Weg zum Schreiben und auch, welchen Einfluss war. Englisch schien mir diesen Abstand und die nöti- Ihre Eltern und Ihr berühmter Großvater Munshi ge Perspektive bieten zu können. Es hat auch etwas mit auf Ihre Entscheidung hatten, selber zu schreiben. War Prem- Sensibilität zu tun. Weil ich seit meiner Kindheit Bücher chand eher hinderlich oder eher förderlich für Ihre Entschei- auf Englisch gelesen habe, hat sich ein besonderes Spra- dung, auch Schriftstellerin zu werden? chempfinden ausgebildet, das mir bei meiner Selbstrefle- Wie ich darin berichte, habe ich die Werke meines Großva- xion als Spiegel dient. Beim Gedanken, über mich selbst ters erst als Erwachsene gelesen. Bis auf die Kurzgeschich- zu schreiben, kam nur Englisch in Frage. Mein Verhält- ten aus den Lesebüchern für den Hindi-Unterricht, die ich nis zur Sprache ist vertrackt.

8 | Südasien 1/2019 Gegenwartsliteratur

In Ihren Geschichten begegnen uns ganz unterschiedliche fürsorglichen Mutter und Ehefrau, wie Sita sie verkörpert. Typen. Oft sind es „normale“ Menschen, nicht selten aber Wird die Bedeutung (häuslicher) weiblicher Gewalt in den auch gesellschaftliche Außenseiter oder Angehörige einer so- jüngsten Debatten um MeToo unterschätzt? zialen, sexuellen oder religiösen Minderheit, etwa ein schwu- In dem Milieu, in dem die Geschichte angesiedelt ist, ist ler Künstler, ein Moslem oder ein jugendlicher Vergewalti- das Mädchen das alleinige Opfer der Vergewaltigung. Der ger. Woher holen Sie die Anregungen für solche Charaktere? Vergewaltiger und seine Mutter sind aber auf ihre Art auch Wie nähern Sie sich ihren Lebensumständen und Geistes- Opfer. Die Mutter, die unter sozialer Ausbeutung und Ar- haltungen an? mut leidet, kennt keine Mutterliebe. Ihr Mann sitzt wegen Mich interessieren Menschen, die am Rande der Gesell- irgendeiner Straftat im Gefängnis. Ihren Sohn und sich schaft leben. Ich finde, ihre Geschichten müssen erzählt selbst über die Runden zu bringen, ist die reinste Tortur. werden. Jede Geschichte ist aus einer ganz eigenen Mo- In der Hölle nackter Armut gibt es keinen Platz für Lie- tivation heraus entstanden. „An der Kante“ ging aus der be und ähnliche Gefühle. In ihren Augen ist das Luxus. Aussage eines homosexuellen Freundes hervor, der mein- Ihren Jungen hat sie mit Prügel und Schlägen großgezo- te, er fühle sich wie eine Frau, die im Körper eines Mannes gen. Dieses Umfeld hat den Sohn abgestumpft. Mutter gefangen sei. Diese Bemerkung ist an sich nicht außerge- und Sohn sind also auch beide Opfer ihrer Umstände. wöhnlich. Das wird oft über Homosexuelle gesagt. Aber für mich war damit die Idee für eine Geschichte geboren. „Alte Freunde“ erzählt von der Freundschaft zwischen ei- nem Hindu und einem Moslem im Zeichen der Pogrome Ein anderes Thema: Was das Zusammenleben von Hin- nach der gewaltsamen Stürmung der Babri-Moschee 1992. dus und Muslimen betrifft, hat sich das Klima im Land Würden Sie sich als politische Autorin bezeichnen? in den letzten Jahren verschlechtert. Muslime leben in Nicht direkt, weil es mich nicht interessiert, über politi- Angst, ganz besonders nach gewaltsamen Auseinander- sche Entwicklungen zu schreiben. Allerdings bin ich da- setzungen. Nach den Pogromen in Gujarat 2002 fürchten von überzeugt, dass hinter allem, was in unserem Leben Muslime, dass man sie wegen ihrer Bärte, ihrer Kopfbe- passiert, in der einen oder anderen Form das Politische deckung und anderem als Muslime erkennt. Schon ein steckt, gerade in Ländern wie Indien. Mit irgendeinem muslimischer Name sorgt für Unsicherheit. Auf Zugrei- Thema müssen wir uns jeden Tag herumschlagen, jedes sen oder in anderen Situationen, in denen sie anhand ihres Ereignis hat das Potential, zu einem politischen Streit Namens als Muslime identifiziert werden können, benut- auszuwachsen. Ich habe meine eigene Meinung zu die- zen manche sogar einen falschen Namen. Der Protago- sen Themen und lasse sie manchmal auch in mein Werk nist Altaf in „Ein anderer Himmel“ ist so ein Moslem. Als einfließen. ich mir erste Gedanken zu dieser Geschichte machte, er- zählte mir jemand von einem Eisfabrikanten, der seinem Wann können wir mit einem neuen Band von Ihnen rechnen? Freund einen Eisklotz schickte, als Geschenk. In den Eis- Ich arbeite derzeit an einem Erzählband, der so gut wie block war der Name des Freundes eingraviert. Ich brach- fertig ist! te diese beiden Dinge gedanklich zusammen: Auf der ei- nen Seite die Angst, seinen Namen zu nennen, und auf der anderen die öffentliche Bekundung dieses Namens. So entstand diese Geschichte.

Kurz bevor ich „Tatverdächtiger flüchtig“ schrieb, war Zur Autorin auf dem Gelände der Shakti Mills in Bombay ein Mäd- Johanna Hahn hat am Südasieninstitut Hei- chen vergewaltigt worden. Täglich las man davon in der delberg über moderne Hindi-Stadtliteratur Zeitung. Was mochte nach diesem abscheulichen Verbre- promoviert und war zwischen 2016 und 2018 chen im Kopf des Beschuldigten vorgegangen sein? Ob als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Ab- er irgendeine Art von Reue verspürte? Ich dachte mir, teilung für Südasienstudien an der Universität dass ihm Reuegefühle wohl fern lagen, aber sich irgend- Bonn tätig. wie unbewusst bemerkbar machen müssten. Der Haupt- protagonist der Geschichte bereut sein Verbrechen nicht, aber es gräbt sich körperlich in ihm ein. Endnoten 1 Allahabad (: Stadt Gottes) wurde im Oktober 2018 unter der Die Darstellung der Ereignisse in „Tatverdächtiger flüch- hindu-nationalistischen BJP-Regierung von Uttar Pradesh offiziell in tig“ (mujrim faraar, 2014) ist stark von der subjektiven Prayagraj bzw. Prayag (Sanskrit: Opferplatz) umbenannt. Wahrnehmung der Hauptfigur geprägt. Der Vergewaltiger 2 eine dem Hindi verwandte nordindische Sprache, die in der Gegend ist nicht nur Täter, sondern auch Opfer einer gewalttätigen um Lucknow und Allahabad (dem ehemaligen Fürstentum Awadh, Frau, seiner Mutter. Damit dekonstruieren Sie das Ideal der engl. Oudh) gesprochen wird.

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