Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer (Neuburg) Gott und die Welt Atheismus, Metaphysik, Evolution

1. Atheismus die Existenz (eines) Gottes in der Regel Der Atheist glaubt nicht an Gott. Das kann bejaht. Gibt es nach meiner Überzeugung unterschiedliche Gründe haben. Entweder nur einen Gott, so bin ich Monotheist; gibt hat er noch nie etwas von Gott gehört; es mehrere, so bin ich Polytheist. das ist sicher nur selten der Fall. Oder er Im Folgenden gehen wir davon aus, dass ist der Meinung, das Wort ‚Gott’ habe es möglich ist, dem Wort ‚Gott’ eine inter- überhaupt keine mitteilbare Bedeutung, subjektiv annehmbare Bedeutung zu ge- sodass alle Sätze, in denen dieses Wort ben. Danach ist (ein) Gott ein höheres oder wesentlich vorkommt, unverständlich oder höchstes personales Wesen, Urgrund, sinnlos seien. Oder er billigt dem Wort Schöpfer und Erhalter der Welt, mäch- ‚Gott’ durchaus eine Bedeutung zu, ist aber tig, klug, gut, gerecht. In der Regel hat er der Meinung, dass es einen solchen Gott noch viele weitere Eigenschaften, die aber oder Götter nicht gebe. Er wird deshalb nicht in allen Religionen dieselben sein auch keine Anstrengungen unternehmen, müssen. darüber etwas herauszufinden. Selbst die genannten Eigenschaften kom- Der Agnostiker dagegen lässt die Frage men nicht allen Göttern zu. So haben die nach der Existenz (eines) Gottes bewusst altgriechischen Götter, so mächtig sie sein offen. Er traut sich nicht zu, über die Exis- mögen, doch auch sehr menschliche und tenz und die Eigenschaften Gottes Aus- durchaus endliche Eigenschaften: Sie ver- sagen zu machen, die sich durch Argu- lieben sich, sind eifersüchtig, parteiisch, mente stützen ließen. Im Allgemeinen ist listig bis hinterlistig, nachtragend, sogar er darüber hinaus der Ansicht, dass sich rachsüchtig; sie konkurrieren miteinander, an dieser Situation auch nichts ändern arbeiten auch gegeneinander und werden werde, dass es uns Menschen also ver- manchmal erst durch ein Machtwort des sagt sei, über die Existenz und die Eigen- Göttervaters zum Frieden gezwungen. schaften Gottes jemals etwas herauszu- Zeus selbst musste sich seine Stellung erst finden. Genau wie der Atheist wird er es blutig erkämpfen, indem er seinen Vater deshalb auch gar nicht erst versuchen. Kronos entmachtete, der seinerseits sei- Der Theist glaubt an (einen) Gott. Dazu nen Vater Uranos bezwingen musste. Bei muss er sowohl dem Wort ‚Gott’ eine ver- mehreren Göttern ist das auch kein Wun- stehbare Bedeutung zusprechen als auch der: Wären alle Götter gleich, so würde ja die Existenz eines solchen Gottes beja- einer von ihnen genügen. hen. Das Wort ‚glauben’ verstehen wir Der Monotheismus hat diese Schwierig- dabei im Sinne einer starken oder schwa- keiten nicht. Es gibt keine Konkurrenz, chen Überzeugung. Diese Überzeugung und Gott kann im Prinzip alle positiven muss nicht ununterbrochen bestehen und Eigenschaften im höchsten Maße besitzen. braucht nicht über alle Fragen und Zwei- (Solche All-Eigenschaften führen häufig zu fel erhaben zu sein. Es genügt, dass man Paradoxien, etwa zur Allmachts-Parado-

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 7 xie oder zum Theodizee-Problem. Von es, Bücher über Metaphysik hinter die Phy- solchen Schwierigkeiten werden wir hier sikbücher zu stellen? Muss man, biogra- absehen.) fisch gesehen, erst einmal Physik lernen, Der Gott einer monotheistischen Religion um Metaphysik betreiben zu können? Sys- hat allerdings einen so hohen Rang, dass tematisch gesehen, könnte man die Meta- er von den Menschen sehr weit entfernt physik aber durchaus vor die Physik stel- ist. Nach dem christlichen Katechismus len; denn sie untersucht ja gerade das, was ist er ewig und unveränderlich, allmächtig der Physik – allgemeiner der Naturwissen- und allgegenwärtig, allwissend und all- schaft oder sogar aller Erfahrungswissen- weise, größer, gerechter, gütiger, barmher- schaft – vorausliegt. Dazu gehören vor ziger, treuer und wahrhaftiger als alles, was allem Grundbegriffe wie Sein, Zeit, Welt, wir uns vorstellen können. Gott ist trans- Individuum, Objekt, Substanz, Ursache, zendent. Er übersteigt nicht nur alle Natur Leben und Tod. Dieses „nach“ ist also und alle mögliche Erfahrung, sondern nicht sehr hilfreich. Aber Protophysik im auch noch alle Vernunft,1 manchmal so- Sinne von Paul Lorenzen und seiner Er- gar alle Logik. Er steht so weit über uns langer Schule2 ist die Metaphysik auch Menschen, dass wir ihn kaum noch ver- nicht. Was ist sie dann? stehen; wir müssen uns zufrieden geben Für Kant ist Metaphysik die Wissenschaft mit der Überzeugung, dass er in seinem von den Grenzen des menschlichen Ver- Allwissen schon wissen wird, was er tut standes. Damit können wir schon mehr oder geschehen lässt, und dass er in sei- anfangen. Etwas deutlicher sagen wir: Me- ner Allgüte schon alles gut und richtig ma- taphysik untersucht das, was jenseits al- chen wird. ler menschlichen Erfahrung liegt. Liegt Transzendenz ist ein typisch metaphysi- sie damit auch schon jenseits aller Erfah- sches Merkmal; Gott und Götter sind rungswissenschaft? Wir sind geneigt, das metaphysische Instanzen. Naturalisten, anzunehmen, sollten damit aber vorsich- insbesondere Atheisten, lehnen Götter ab. tig sein. Müssen sie auch alle Metaphysik ableh- Im Allgemeinen kann man in der Meta- nen? Um diese Frage beantworten zu kön- physik zwei Anteile unterscheiden: Beim nen, sollten wir genauer sagen, was wir ersten Anteil, der Ontologie, geht es um mit ‚Metaphysik’ meinen. das Seiende, also um alles, was existiert, auch um das, was existieren könnte. (Vie- 2. Was wollen wir unter Metaphysik len geht es angeblich auch um das Sein; verstehen? mir ist aber nie klar geworden, was unter Das Wort Metaphysik hat viele Bedeutun- dem Sein zu verstehen ist. Mit den logi- gen. Als erste Orientierung sagen wir: schen Positivisten hege ich den Verdacht, Metaphysik ist die Lehre von den ersten dass uns hier die Sprache irreführt, weil und den letzten Dingen. Für die Nachfol- sie uns erlaubt, alle Infinitive zu substanti- ger des Aristoteles – er selbst spricht von vieren. Während das beim „Essen“ und der Ersten Philosophie – war sie die Wis- beim „Denken“ sinnvoll ist, hat der Aus- senschaft, die „nach“ der Physik kommt. druck „das Sein“ keinen für mich erkenn- Man kann dieses „nach“ bibliothekarisch baren Sinn.) Den zweiten Bestandteil der auffassen; aber welchen guten Grund gibt Metaphysik bilden die Sinn- und Wert-

8 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus fragen – und die zugehörigen Antwort- Im Folgenden werden wir uns vor allem versuche. mit „Metaphysik der dritten Art“ befas- Die Frage nach Gott gehört zu beiden Tei- sen, also mit Voraussetzungsmetaphysik, len der Metaphysik: Einerseits können wir kommen aber auch auf die Vermutungs- ontologisch fragen, ob es Gott (den Teu- metaphysik zu sprechen. fel, Engel, Geister) gibt; andererseits wird Gott mindestens von Theisten auch als 3. Wozu Metaphysik? Quell aller Sinngebungen und Werte an- Wozu treiben wir Metaphysik? Hier kön- gesehen. Einige meinen sogar, moralische nen wir Motive und Argumente unterschei- Normen ließen sich nur mit Gott oder mit den. Zwischen ihnen besteht eine merk- Gottes Wort begründen: „Wenn es keinen würdige Kreuz-Symmetrie: Motive sind Gott gibt, ist alles erlaubt.“ (Dostojew- subjektiv stärkere Antriebe als Argumen- ski) Man wird also sagen dürfen, dass alle te; sie sind jedoch nicht intersubjektiv Religionen, mindestens aber die monothei- überzeugend. Argumente dagegen sollen stischen, Metaphysik in Anspruch neh- und können intersubjektiv überzeugen, men. Zwar kann es eine Metaphysik ohne sind aber im Allgemeinen subjektiv-psy- Gott geben, aber keinen Gott ohne Meta- chologisch nicht besonders wirksam. physik. Wir unterscheiden drei Motive: Erkennt- Wir können verschiedene Arten von Me- nis, Orientierung und Sinnsuche. taphysik unterscheiden. So findet etwa – Erkenntnisbedürfnis: Wir sind neu- Stegmüller3 vier Arten: gierig und möchten unser Wissen über – Transzendenzmetaphysik: Sie for- die Welt in gewisser Weise abschließen. muliert nichtempirische Begriffe und So suchen wir nach einem Gesamtbild nichtempirische Sätze. der Welt, nach einem Welt- und Men- – Immanenzmetaphysik: Sie ent- schenbild, das uns durch seine Voll- spricht etwa der üblichen Ontologie und ständigkeit befriedigt. Wir möchten wis- arbeitet dabei mit empirischen Begrif- sen, was es alles gibt. Dazu analysieren fen, formuliert damit aber auch nicht- wir unsere Voraussetzungen so weit wie empirische Sätze. möglich, ziehen Folgerungen, suchen – Voraussetzungsmetaphysik: Immer nach einem Abschluss und nach einer wieder erweist es sich als nützlich oder Einheit der Wissenschaften. sogar als notwendig, die Tätigkeit und – Orientierungsbedürfnis: Wir leben die Ergebnisse der Einzelwissenschaften nach Normen, die wir anerkennen, und zu hinterfragen, insbesondere die Vor- wüssten gern, ob, wie und warum sie aussetzungen aufzusuchen, die dort be- gelten und woher sie ihre Geltung be- wusst oder unbewusst gemacht wer- ziehen. Wir suchen sie zu begründen den. Solche Voraussetzungen können und hoffen auf eine Letztbegründung, sprachlicher oder inhaltlicher Art sein. die einer weiteren Nachfrage nicht be- – Vermutungsmetaphysik: Hier geht darf oder nicht einmal fähig ist. Viele es um heuristische Spekulation. Diese berufen sich dafür auf eine transzen- ist immer erlaubt; sie stellt kein beson- dente Instanz, etwa auf Gott oder Göt- deres Problem dar. ter, auf Heilige Schriften (als auf „Got- tes Wort“), auf absolute Werte.

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 9 – Sinnsuche: Nach Immanuel Kant ge- (1729-1786), nennt ihn sogar den Alles- hört die Frage „Was darf ich hoffen?“ zermalmer. zur Religion, die Religion aber zur Phi- Trotzdem will Heinrich Scholz (1884- losophie. Heute dagegen sehen wir die 1956), Theologe, Logiker und Philosoph, Religion eher nicht als Teil der Philo- 1941 „Metaphysik als strenge Wissen- sophie, sondern als eigenständiges Ge- schaft“ begründen. Dabei gilt ihm eine biet, und zwar als Theologie (Gottes- Wissenschaft als streng, wenn und soweit lehre) einerseits, als Religionswissen- sie mathematisierbar und mathematisiert schaft andererseits. Die Frage nach dem, ist.6 Aber Mathematisierbarkeit reicht na- was wir hoffen dürfen, halten wir je- türlich nicht aus, um eine Disziplin als wis- doch – ganz unabhängig von der Reli- senschaftlich auszuweisen. Durch Forma- gion – durchaus für philosophisch; wir lisierung kann man Widersprüche und lo- ordnen dort vor allem Sinnfragen ein. gische Zirkel entdecken und vielleicht auch „Das kann doch nicht alles gewesen beseitigen; ob jedoch die Sätze der Meta- sein.“ ist ein oft gehörter Einwand ge- physik wahr sind, können Logik und Ma- gen (natur-)wissenschaftliche, allgemein thematik allein nicht entscheiden. Als gegen naturalistische Erklärungen. Es Strukturwissenschaften können sie uns geht dabei um sehr unterschiedliche nämlich nichts über die Welt lehren. Sinnbezüge: um den Sinn des Lebens4, Mario Bunge (*1919) wünscht sich des- des Menschen überhaupt, der Welt im halb eine wissenschaftliche Metaphysik.7 Ganzen, aber auch um das Weiterleben Sie soll nicht nur logisch einwandfrei sein, nach dem Tode und einen möglichen sondern auch verträglich mit der aktuel- Ausgleich für irdische Taten, Vergehen len Erfahrungswissenschaft. Folgerichtig und Leiden. sind von seinem Hauptwerk, dem Treatise8, bestehend aus acht Bänden (einer davon 4. Anhänger und Gegner der Metaphy- sogar ein Doppelband), immerhin zwei sik Bände ausschließlich der Ontologie gewid- Schon immer hat die Metaphysik Anhän- met, die doch traditionell den größten Teil ger und Gegner. Immanuel Kant (1724- der Metaphysik ausmacht. Die beiden 1804) ist eigentlich ihr Freund, will er ihr Bände heißen Das Inventar der Welt und doch sogar helfen, „den sicheren Gang Eine Welt von Systemen.9 Für ihn als Na- einer Wissenschaft einzuschlagen“5. Dazu turalisten – er sieht sich lieber als Mate- muss er jedoch die seinerzeit herrschen- rialisten – ist Ontologie die Lehre von den de Metaphysik zunächst einmal in Frage grundlegenden Eigenschaften der Welt, stellen. So besteht sein Werk aus einem also die allgemeinste Naturwissenschaft, kritischen und einem aufbauenden Teil. Die und da es schon in der Physik speziellere Kritik der Metaphysik ist ihm glänzend und allgemeinere Theorien gibt, so gibt gelungen, ihr systematischer Neuaufbau es für ihn keine scharfe Trennung zwischen dagegen nicht, jedenfalls nicht so, dass Physik und Metaphysik.10 wir ihm auch darin folgen könnten. Manch- Kritiker der Metaphysik sind zunächst ein- mal wird er deshalb als Zerstörer der Me- mal die meisten Empiristen, sogar David taphysik gesehen. Einer seiner Zeitgenos- Hume (1711-1776), der am liebsten alle sen, der Philosoph Moses Mendelssohn Bücher, die weder der Mathematik gewid-

10 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus met sind noch auf Erfahrung beruhende ontologische Realismus eine metaphysi- Erörterungen enthalten, den Flammen über- sche Hypothese ist. Reichenbach selbst geben möchte.11 Gegner der Metaphysik benützt das Wort ‚Metaphysik’ so gut wie sind aber auch die Materialisten, insbe- gar nicht; aber seinen Texten dürfen wir sondere der Arzt und Philosoph Julien wohl entnehmen, dass er der Metaphysik Offray de Lamettrie (1709-1751) und na- feindlich gegenüberstand. Es ergibt sich türlich Karl Marx (1818-1883) und Fried- also das Paradoxon, dass Reichenbach rich Engels (1820-1895), alle Positivisten zwar kein Metaphysiker sein möchte, als im weiteren Sinne, angefangen mit Auguste Realist aber eben doch Metaphysiker ist. Comte (1798-1857) und Ernst Mach (1838- Oft wird auch Karl Raimund Popper (1902- 1916) über Pragmatisten wie William Ja- 1994) als Positivist und damit als Gegner mes (1842-1910) und Charles Sanders der Metaphysik angesehen. Dagegen hat Peirce (1839-1914), Instrumentalisten wie sich Popper jedoch immer gewehrt. Ja, er John Dewey (1859-1952), Operationalisten schreibt sich sogar das Verdienst zu, den wie Percy Williams Bridgman (1882-1961) Positivismus vernichtet zu haben. „Ich bis zum logischen Positivismus des Wie- fürchte, dass ich mich als Täter bekennen ner Kreises, allen voran Moritz Schlick (1882- muss.“15 Auch das von ihm formulierte Pos- 1936) und Rudolf Carnap (1891-1970), der tulat der Falsifizierbarkeit („Eine erfahrungs- den metaphysischen Sätzen Sinnlosigkeit wissenschaftliche Theorie muss an der vorwirft und eine „Überwindung der Me- Erfahrung scheitern können!“) dient ihm taphysik durch logische Analyse der Spra- nur als Abgrenzungskriterium – und nicht che“12 anstrebt. Für ihn ist Metaphysik nicht etwa als Sinnkriterium wie die Verifizier- wahrheitsfähig; sie sei eher mit der Lyrik barkeit im Wiener Kreis. Danach können zu vergleichen: „Metaphysiker sind Lyri- metaphysische Sätze durchaus einen Sinn ker ohne musikalische Fähigkeit.“13 haben; sie gehören nur nicht zu den Er- Eine interessante Sonderstellung nimmt fahrungswissenschaften, weil sie nicht als Hans Reichenbach (1891-1953) ein. 1926 falsch erkannt, nicht widerlegt, nicht fal- bis 1933 war er Leiter der Berliner Gesell- sifiziert werden können. Dieser Auffas- schaft, der mit dem Wiener Kreis eng zu- sung schließen wir uns hier an. sammenarbeitete. Man traf sich zu Vor- trägen, organisierte Kongresse, und zu- Wie stellen sich Naturalisten zur Metaphy- sammen mit Rudolf Carnap war er ab 1930 sik? Auf den ersten Blick könnte man mei- Herausgeber der wissenschaftstheoreti- nen, sie müssten Metaphysik völlig ableh- schen Zeitschrift Erkenntnis. Deshalb nen, sind sie doch nach einer beliebten wird er oft zu den Positivisten gerechnet. Charakterisierung der Meinung, überall in Zu Unrecht! In seinem Buch Experience der Welt gehe es „mit rechten Dingen“ zu, and prediction14 von 1938 (deutsch lei- was bei der Metaphysik nicht immer der der erst 1983) kritisiert er den Positivis- Fall ist. So unbestimmt diese Formulie- mus und argumentiert für den Realismus, rung auch klingen mag, so verweist sie also für die These, dass es eine struktu- doch auf die zwei wichtigsten program- rierte und für uns erkennbare reale Außen- matischen Züge des modernen Naturalis- welt gibt. Man ist sich heute einig, und mus: Universalität und Mittelbeschrän- auch wir werden noch sehen, dass der kung.16 Die Mittelbeschränkung kommt

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 11 darin zum Ausdruck, dass zur Beschrei- viel erklären, so viel begründen! Der Fan- bung und Erklärung der Welt nur natürli- tasie sind dabei allenfalls logische Gren- che Instanzen herangezogen werden sol- zen gesetzt, manchmal nicht einmal das. len. Dabei ist nicht von vornherein klar, Fragt man, wo die Grenzen möglicher Me- welche Substanzen, Kräfte, Prinzipien als taphysik liegen, so wird man allenfalls dort natürlich zu gelten haben. So ist die jahr- welche finden, wo die Grenzen des Den- hundertealte Lebenskraft oder vis vitalis kens überhaupt liegen, und auch diese Gren- im 20. Jahrhundert aus der Menge der zu- zen sind nur sehr schwer zu benennen. lässigen Instanzen verschwunden, wäh- So gilt Metaphysik nicht nur Aristoteles rend elektrische, magnetische und viele als „Erste Philosophie“, manchen sogar andere Felder durch die Erfolge der Max- als Königin der Wissenschaften. wellschen Elektrodynamik schließlich Auf- Die Metaphysik hat freilich auch Nachtei- nahme fanden. Eine scharfe und endgülti- le: Wenn es zur Wahrheitsfrage kommt, ge Grenze gibt es also nicht; insofern hat also zu der Frage, ob denn die verwende- der Naturalismus durchaus programmati- ten Begriffe sinnvoll, die aufgestellten Be- schen Charakter und ist bereit, aus neuen hauptungen wahr und die gewonnenen Erkenntnissen der Einzelwissenschaften Folgerungen prüfbar sind, dann schnei- zu lernen. det die Metaphysik eher schlecht ab; dann Klar ist aber, dass alle Religionen über- wird sie von der Königin der Wissenschaf- natürliche Instanzen kennen. Der Gott der ten zum Aschenputtel. Dann wird sie ver- monotheistischen Religionen übersteigt lacht, für entbehrlich gehalten, ausgegrenzt. jede Natur, auch wenn er sich seinen An- hängern gelegentlich irgendwie bemerkbar Wie viel Metaphysik wollen wir? Der Na- macht, „offenbart“, wie es heißt. Gott und turalist hat auf diese Frage eine einfache Götter kann der Naturalist also nicht ak- Antwort: Nur so viel Metaphysik wie nö- zeptieren. Aber wird er alle Metaphysik tig! Nötig wofür? Metaphysik wird ge- verwerfen? Nein. Er sieht ein, dass wir braucht, sie ist notwendig im Sinne von sowohl im Alltag als auch in der Wissen- erforderlich, nicht von notwendig wahr schaft metaphysische Annahmen machen (und deshalb eben nicht a priori im Sinne und diese auch brauchen. Schon die An- von Kant). Wir befassen uns hier also mit nahme, dass es eine reale Welt gibt, die in Voraussetzungsmetaphysik. ihrer Existenz und in ihren Eigenschaften Und wie viel Metaphysik müssen wir vor- unabhängig von uns ist, lässt sich nicht aussetzen, wie viel Metaphysik brauchen nur nicht beweisen, sondern auch nicht wir wirklich? Und welche Art von Meta- streng widerlegen, ist also – jedenfalls nach physik sind wir bereit anzuerkennen? dem Popperschen Abgrenzungskriterium – metaphysisch. 6. Gute und schlechte Metaphysik Der Wissenschaftsjournalist John Horgan 5. Wie viel Metaphysik brauchen wir? hat sich für ein Gespräch mit Popper eine Metaphysik ist ein faszinierendes Gebiet. vermeintlich raffinierte Frage ausgedacht. Man kann darin so viele interessante Fra- Er selbst berichtet darüber sinngemäß: gen formulieren, so viele Antworten ken- nen lernen, so ungehemmt spekulieren, so

12 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus „Sir Karl, Sie sagen doch, eine wis- Horgan hätte also fragen können: „Sir senschaftliche Theorie müsse falsifi- Karl, Sie sagen doch, eine gute wissen- zierbar sein. Ist Ihre Falsifizierbarkeits- schaftliche Theorie müsse kritisierbar sein. theorie falsifizierbar?“ Da legt Popper Ist Ihre Falsifizierbarkeitstheorie kritisier- seine Hand auf meine und durchbohrt bar?“ Darauf hätte Popper zweifellos ge- mich mit einem strahlenden Lächeln. antwortet: „Ich will Ihnen nicht schmei- „Ich möchte Sie nicht verletzen,“ sagt cheln; aber das ist eine kluge Frage.“ Und er mit sanfter Stimme, „aber das ist er hätte die Bedingungen, insbesondere die eine dumme Frage.“17 Kritikpunkte nennen können, unter denen er bereit gewesen wäre, seine Falsifizier- Was könnte an dieser Frage dumm sein? barkeitstheorie aufzugeben, obwohl sie Wie alle Wissenschaftstheorie ist Poppers nicht falsifizierbar und erst recht nicht fal- Theorie keine erfahrungswissenschaft- sifiziert war. liche, sondern eine metawissenschaftliche Mit Hilfe der Kritisierbarkeitsforderung Theorie. Sie unterliegt deshalb nicht den sind wir nun in der Lage, verschiedene Forderungen, die wir an erfahrungswis- Arten von Metaphysik zu unterscheiden. senschaftliche Theorien stellen; insbeson- Wir nennen sie gute und schlechte Meta- dere muss sie nicht falsifizierbar sein. Dass physik. Gute Metaphysik ist kritisierbar, sie es nicht ist, ist also kein Kritikpunkt. etwa über Erfolg und Misserfolg von Hy- Viele andere Aussagen sind ebenfalls nicht pothesen, Theorien, Methoden, Normen falsifizierbar: Fragen und Ausrufe, Nor- oder Moralsystemen, die wesentlich auf men (also Gebote, Verbote und Erlaub- ihr beruhen. Sie sollte dann auch revidier- nisse), Wertungen, Regeln, etwa Spielre- bar, also aufgrund von Argumenten er- geln, Sprachregeln (insbesondere Defini- setzbar sein. Schlechte Metaphysik ist da- tionen). Auch bei ihnen ist es kein Ein- gegen nicht kritisierbar und deshalb auch wand, dass sie nicht falsifizierbar sind. nicht revidierbar; sie ist dogmatisch. Gleich- Horgans Frage ist keineswegs dumm; sie wohl kann auch schlechte Metaphysik zeigt aber, dass er Popper nicht gründlich verschwinden; sie weicht damit aber nicht gelesen oder eben nicht ganz verstanden besseren Argumenten oder besserer Ein- hat – aber wer hat das schon? sicht; vielmehr geht die Zeit über sie hin- Allerdings hat Popper sein Instrumentari- weg. Die Idee einer kritisierbaren und er- um längst erweitert. Wissenschaftstheorie setzbaren Metaphysik ist nicht neu; so ist zwar kein erfahrungswissenschaftliches spricht der Philosoph Peter Frederic Straw- Unternehmen, wohl aber ein wissenschaft- son (1919-2006) von einer revisionsfähi- liches, allgemeiner noch: ein rationales gen (revisionary) Metaphysik, die Verbes- Unternehmen. Und ein rationales Unter- serungen erlaubt und anstrebt.18 Auch der nehmen sollte (zwar nicht unbedingt fal- Philosoph Hans Poser wünscht sich eine sifizierbar, wohl aber) kritisierbar sein. Es solche revidierbare Metaphysik.19 muss sich also der Kritik aussetzen. Es Eine analoges Begriffspaar wählt Helmut sollte somit möglich sein, dass jemand sei- Walther.20 Er unterscheidet richtige und ne Position aufgibt, nicht weil sie falsifiziert falsche Metaphysik. Von der Absicht her wäre, sondern weil sie rationaler Kritik ist das nichts anderes als unser Paar gut nicht standhält. und schlecht. Wir folgen diesem Vor-

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 13 schlag jedoch nicht, weil richtig und keine prüfbare wissenschaftliche Theorie falsch uns zu sehr an die Wahrheitswerte ist, sondern lediglich ein metaphysisches wahr und falsch erinnern und damit nahe Forschungsprogramm – ein möglicher legen, dass man in der Metaphysik eini- Rahmen für empirisch prüfbare Theori- germaßen zuverlässig zwischen wahr und en.“22 Viele Autoren, sogar zahlreiche Bio- falsch – nicht nur unterscheiden, sondern logen, haben diese Einschätzung mit ei- – entscheiden könne. Das ist aber, wie wir nem voreiligen „Na und?“ übernommen. gesehen haben, ganz und gar nicht der Dass ein Satz nicht analytisch-tautologisch Fall. und zugleich metaphysisch sein kann, las- sen wir hier unerörtert. 7. Der Evolutionsgedanke und die na- Aber Popper hat sich geirrt. Wenn man das türliche Auslese Selektionsprinzip sorgfältig formuliert, er- Eines der Grundprinzipien der Evolutions- kennt man, dass es kein analytisches Ur- biologie ist das Selektionsprinzip, genau- teil darstellt. Es ist nämlich durchaus mög- er das Prinzip der natürlichen Auslese: lich, Fitness zu definieren, ohne dabei auf Lebewesen vermehren sich unterschied- das langfristige Überleben zurückzugrei- lich aufgrund unterschiedlicher Tauglich- fen.23 Manfred Eigens „Wertfunktion“ keit.21 Etwas vornehmer sprechen wir auch W: = AQ – D liefert sogar ein quantitati- von „differentieller Reproduktion in Kor- ves Maß für Fitness.24 Dabei werden Ver- relation mit der Gesamtfitness“. Es ist das mehrungsfaktor A, Qualitätsfaktor Q und wichtigste Prinzip, das Charles Darwin den Zerfallsanteil D unabhängig vom langfris- bereits existierenden Ansätzen zu einer tigen Überleben definiert, erlauben es aber Evolutionstheorie hinzugefügt hat. Des- durchaus, letzteres vorauszusagen. halb nennt man diesen theoretischen Ent- Fitness unabhängig vom langfristigen Fort- wurf auch Darwinismus. pflanzungserfolg zu messen, ist allerdings Wie definiert und wie misst man ‚Taug- sehr schwierig. Trotzdem ist es möglich, lichkeit’ oder ‚Fitness’? Häufig hört man, die Evolutionstheorie empirisch zu testen. die Fitness eines Organismus werde über Ja, es gibt falsifizierbare Voraussagen der das Überleben oder über die Zahl der Nach- Evolutionstheorie! Eine Arbeit trägt sogar kommen definiert. Wenn aber die Fitness den Titel Falsifiable predictions of evolu- definitorisch an das langfristige Überleben tionary theory25 , eine Arbeit, die Popper gebunden ist, dann scheint das Selektions- offenbar nie zur Kenntnis genommen hat. prinzip nicht mehr zu behaupten als das Als eine prüfbare und insbesondere falsifi- Überleben des Überlebenden, also nur ein zierbare Behauptung der Evolutionstheo- survival of the survivor. Dann wäre es zir- rie nennen wir hier nur ein Beispiel: Sichel- kulär, letztlich sogar analytisch, und würde zellenanämie ist eine gefährliche Krankheit. nicht viel sagen. Es wäre dann auch nicht Weil jedoch Sichelzellenanämie teilweise prüfbar, insbesondere nicht falsifizierbar. vor Malaria schützt, gibt es in Malaria-ver- Nach Poppers Falsifizierbarkeitsforderung seuchten Gebieten im Durchschnitt mehr wäre die Theorie der natürlichen Auslese Menschen, die an Sichelzellenanämie lei- also gar keine erfahrungswissenschaftliche den, als in anderen Gegenden. Wird die Theorie. Er selbst meint: „Ich bin zu dem Malaria dort ausgerottet oder kommen die Schluss gelangt, dass der Darwinismus Betroffenen in eine Gegend, in der es kei-

14 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus ne Malaria gibt, so bietet Sichelzellenanä- man das Ordnungsschema „Evolution“ an mie keinen Vorteil mehr, sondern nur noch die Beobachtungstatsachen heran. Ist also Nachteile. Man wird deshalb erwarten, wenigstens das Evolutionsschema, ange- dass die Zahl der Sichelzellen-Kranken wandt auf die Welt als Ganzes, ein meta- dort allmählich abnimmt. Man kann sogar physisches Modell? So sehen es jeden- voraussagen, wie schnell die Sichelzellen- falls manche Philosophen.27 anämie dort zurückgehen wird. Und die- Aber was ist an diesem allgemeinen Evolu- se Prognose kann man testen! tionsmodell nun eigentlich metaphysisch? Popper selbst hat das schließlich auch ein- Jede Phase der universellen Evolution be- gesehen und hat seine These 1978 wider- zieht sich auf ganz bestimmte Objekte: auf rufen: „Meine Meinung über die Prüfbar- den Kosmos als Ganzes, auf Galaxien, keit und den logischen Status der Theorie Sterne, Planeten, Moleküle, Lebewesen, der natürlichen Auslese habe ich geändert; Menschen. Und für jede Objektklasse gel- und ich bin froh, Gelegenheit zu einem ten ganz bestimmte Gesetzmäßigkeiten. Widerruf zu haben.“26 Dies ist einer der Ob und wie diese Gesetze empirisch prüf- wenigen Fälle, in denen Popper eine Mei- bar sind, wird man im Einzelfall heraus- nungsänderung auch zugibt, allerdings an finden müssen; dass sie unprüfbar wären, einer Stelle, die kaum jemand kennt. ist jedenfalls nicht von vornherein bekannt Das Prinzip der natürlichen Auslese ist also oder gar offensichtlich. weder eine metaphysische Hypothese Dass alle realen Systeme veränderlich noch ein analytischer Satz, und die Evo- sind, ist jedenfalls eine Vermutung, die lutionstheorie ist kein metaphysisches For- sich bisher vielfach bewährt hat. Man wird schungsprogramm. Die Frage, ob es sich deshalb auch bei neu ins Blickfeld rücken- dabei um gute oder um schlechte Meta- den Systemen mit dieser Vermutung ar- physik handelt, wird damit gegenstands- beiten. Als heuristisches Prinzip ist sie je- los. denfalls äußerst fruchtbar und deshalb le- gitim. Metaphysisch ist sie damit nicht. In 8. Ist wenigstens der allgemeine Evo- Kapitel 12 zeigen wir sogar, dass nicht lutionsgedanke metaphysisch? alles in Evolution ist; damit ist der allge- Nun gut, könnte man sagen, die Theorie meine Evolutionsgedanke sogar widerleg- der biologischen Evolution, also Darwins bar und nach den üblichen Kriterien so- Theorie oder die jüngere Synthetische Theo- gar widerlegt! rie oder eine ihrer moderneren Varianten, Die entscheidende Frage wird sein, wann mag empirisch prüfbar sein. Von Evoluti- wir eine Veränderung Evolution bzw. on spricht man aber auch in ganz anderen wann wir eine Theorie evolutionär nen- Zusammenhängen: Da gibt es die kultu- nen wollen. Muss es dabei so etwas wie relle Evolution, die Evolution des Verhal- Selbstreproduktion geben? Muss der Zu- tens, die Evolution der Sprache, eine che- fall im Spiel sein? Muss es so etwas wie mische und eine molekulare Evolution, die natürliche Auslese geben? Muss es dabei Evolution von Sternen und Galaxien, so- evolutiven Fortschritt geben? Merkwürdi- gar eine kosmische Evolution. Hier aber gerweise gibt es nur wenige ernsthafte – so lautet der Einwand – finden sich nicht Versuche, diese Frage zu beantworten. immer prüfbare Hypothesen. Vielmehr trägt Auch wir können hier nicht ausführlich

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 15 darauf eingehen.28 Was immer wir als Min- trieben. Die Biologie hat den Evolutions- destbedingungen für Evolution ansehen – begriff nicht gepachtet; er bedeutete schon in den meisten Fällen kann doch auch ge- vor Darwin etwas anderes; und er wird prüft werden, ob diese Bedingungen er- längst in einem allgemeineren als dem bio- füllt sind oder nicht. logischen Sinne gebraucht. Wir sind so- Was wir allerdings für alle Evolutionsmo- gar froh, von universeller Evolution spre- delle voraussetzen, ist die Zeit als funda- chen zu können: So können wir den evo- mentaler Parameter. Denn zur Evolution lutionären Charakter unseres gesamten gehört Veränderung, und Veränderung gibt Universums und seiner Teile zum Aus- es immer nur in der Zeit. Eine zeitlose druck bringen. Und die Biologen können Theorie der Evolution ist undenkbar. Es stolz sein, eine so fruchtbare Idee gelie- wäre also zu diskutieren, ob der Grund- fert bzw. hoffähig gemacht zu haben. parameter Zeit eine metaphysische Vor- aussetzung unserer evolutionären Welt- 9. Gibt es eine Evolutionäre Metaphy- modelle ist. Ist sie es, so ist doch immer- sik? hin denkbar, dass man eines Tages mit Typische Themen der Metaphysik sind – einer zeitlos arbeitenden Theorie erfolg- wie wir betont haben – Gott, Freiheit, Un- reicher wäre. Zeit wäre darin kein Grundbe- sterblichkeit, der Ursprung alles Seienden griff mehr, sondern ein abgeleitetes Konzept, oder sogar allen Seins, Anfang und Ende so wie der Druck eines Gases sich nach der Welt, der Sinn der Welt, das Wesen der statistischen Thermodynamik von Lud- aller Dinge. Die Metaphysik ist zwar eine wig Boltzmann (1844-1906) als Mittelwert Wirklichkeitswissenschaft, aber keine Er- aus den Geschwindigkeiten bzw. dem Im- fahrungswissenschaft. pulsübertrag der einzelnen Moleküle auf- Evolution dagegen, ganz gleich, ob bio- fassen lässt. Dann würde die Zeit wenig- logische oder universelle Evolution, ist stens zur guten Metaphysik gehören. Das zwar keine Tatsache, wie manchmal be- ist jedenfalls eine zulässige Überlegung. hauptet wird, wohl aber ein Geschehen, Werden wir lange genug leben, diese Über- das in mehreren Erfahrungswissenschaf- legung bestätigt oder widerlegt zu sehen? ten beschrieben wird. Sie ist der Erfah- Warten wir’s ab! rung also durchaus zugänglich. Kann es Wir könnten weiterfragen: Gibt es – au- dann eine Evolutionäre Metaphysik über- ßer der Zeitabhängigkeit – Merkmale, die haupt geben? Ist der Ausdruck ‚Evolutio- alle Abschnitte der kosmischen Entwick- näre Metaphysik’ nicht ein Widerspruch lung gemeinsam haben? Und sind diese in sich? Züge substanziell genug, dass wir in allen Nicht unbedingt. Erstens kann es eine Fällen von Evolution sprechen wollen? Man- Entwicklung oder Evolution der Metaphy- che Biologen wollen den Evolutionsbegriff sik als einer philosophischen Disziplin auf die Biologie beschränkt sehen, etwa geben. Das ist allerdings nicht unser The- der angesehene Wiener Zoologe Friedrich ma. Zweitens kann man untersuchen, ob Schaller (*1920).29 Er möchte weder von der Evolutionsgedanke selbst schon ein chemischer Evolution noch von kosmi- Stück Metaphysik ist. Diese Frage haben scher Evolution sprechen, auch nicht von wir bereits diskutiert und mit Nein beant- Kulturevolution. Dieser Purismus ist über- wortet. Drittens kann eine metaphysische

16 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus Theorie durchaus evolutionäre Elemente det: Kann die Welt in dieser Weise gedacht enthalten. Zeitliche oder evolutionäre Ele- werden oder ist sie tatsächlich so aufge- mente könnten sogar den Grund unserer baut und muss sie, wenn wir sie korrekt Welt ausmachen. Diese Möglichkeit wol- beschreiben wollen, auch so beschrieben len wir im Folgenden diskutieren. Viertens werden? Diese Frage ist nicht a priori ent- kann man fragen, ob unsere Neigung oder scheidbar. Selbst der Hinweis, dass un- Fähigkeit, Metaphysik zu betreiben, evo- sere Sprache oder unsere Logik Objekt- lutionäre Wurzeln hat. Auf diese Frage orientiert seien, reicht hierfür nicht aus; kommen wir in Kapitel 11 zurück. denn wir könnten ja eine neue Sprache Die Frage nach den Grundbausteinen der oder eine neue Logik erfinden oder ver- Welt ist alt. Sind es Demokrits Atome, sehr einbaren. Üblicherweise schreiben wir der kleine, aber doch materielle Körper? Sind Welt da draußen eben jene Eigenschaften es die Leibnizschen Monaden, merkwür- zu, mit denen wir am erfolgreichsten sind. dige Gebilde, die irgendwie körperliche Sind wir mit einer Prozess-Metaphysik und geistig-seelische Merkmale vereini- erfolgreicher als mit einer Teilchen-Meta- gen? Sind es, entsprechend dem Stan- physik, so werden wir sagen, die Welt sei dardmodell der heutigen Mikrophysik, Ele- nicht aus Teilchen, sondern aus Prozes- mentarteilchen, also Quarks, Leptonen, sen aufgebaut. Es bleibt uns deshalb nur, Gluonen, Higgs-Teilchen und vielleicht versuchsweise eine Ontologie oder Meta- noch einige weitere? Oder sind es, wie jün- physik auf Ereignissen oder Prozessen auf- gere Ansätze vorschlagen, sogar nur Strings, zubauen und zu prüfen, wie weit wir mit ei- Branen oder Loops? Sind es, wie Ludwig nem solchen Versuch kommen. Solche Ver- Wittgenstein zu Beginn seines Tractatus suche sind mehrfach unternommen wor- erklärt, die Tatsachen, also alle bestehen- den. Wir wollen einige davon diskutieren. den Sachverhalte? Oder sind es, wie Ru- dolf Carnap meint, eher die Elementar- 10. Kandidaten für eine Evolutionäre erlebnisse?30 Sind es, wie die Sprache na- Metaphysik: Whitehead, Popper, Pri- helegt und wie Mario Bunge in seiner On- gogine tologie ausführt, ganz allgemein Dinge mit Whiteheads Prozess-Ontologie ihren Eigenschaften?31 Ist es, wie Carl Eine Prozess-Metaphysik entwirft etwa Friedrich von Weizsäcker vermutet, gera- Alfred North Whitehead (1861-1947), Ma- de nicht Materie und Energie, sondern thematiker und Philosoph, in seinem um- Information? Oder sind – so fragen wir fangreichen Werk Prozess und Realität.32 nun weiter – die Grundbausteine der Welt Man wird nicht behaupten können, er sei vielleicht Ereignisse, Ereignisketten, Vor- damit besonders erfolgreich gewesen. Ob gänge, Prozesse, die von vornherein ei- er seine Metaphysik als Evolutionäre Me- nen zeitlichen Aspekt mitbringen? Hier taphysik charakterisiert sehen möchte, be- könnte eine Evolutionäre Metaphysik an- dürfte einer genaueren Untersuchung. In setzen. jüngerer Zeit scheint das Interesse an White- Bei der Frage, ob die Welt aus Elementen head und seiner Prozess-Philosophie wie- mit zeitlichem Aspekt aufgebaut ist, gibt der zu wachsen.33 es eine wichtige Alternative, die zwischen Es gibt aber auch neuere Versuche zu einer Möglichkeit und Wirklichkeit unterschei- Ereignis-Ontologie, die sich auf Russell,

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 17 Quine, Sellars, Strawson, Chisholm, be- se können sie fortbestehen, auch wenn wir sonders aber auf Davidson stützen.34 Auf selbst nicht mehr an sie denken oder so- sie gehen wir hier nicht ein. Dagegen wid- gar tot sind. Popper vergleicht seine Welt men wir uns Poppers Welt 3 und Prigo- 3 mit Platons Ideenwelt, mit Bolzanos gines Theorie des Werdens. Welt der Wahrheiten oder der Sätze an sich und mit Freges Welt der Gedanken. Er Poppers evolvierende Welt 3 als meta- sieht jedoch einen Unterschied, den er be- physisches Modell sonders betont: Platons und Freges Wel- Ein anderer Kandidat für eine Evolutionä- ten seien statisch, seine Welt 3 sei dage- re Metaphysik ist Karl Popper (1902-1994) gen dynamisch oder, wie er noch lieber mit seiner Drei-Welten-Lehre. Wie wir schon sagt, evolutionär.35 Sie ist evolutionär, wissen, zieht Popper eine scharfe Trenn- weil wir Menschen kreativ sind, weil wir linie zwischen Erfahrungswissenschaft und immer neue Ideen entwickeln, die wir der Metaphysik: Eine erfahrungswissenschaftli- Welt 3 hinzufügen. Irgendwann haben wir che Theorie muss an der Erfahrung schei- Zahlen erfunden, irgendwann auch die tern können. Es müssen also Beobachtun- Multiplikation, den Begriff der Teilbarkeit gen denkbar sein, welche die Theorie wi- und den der Primzahl. Danach sahen wir derlegen würden. Aussagen, die nicht in die- unsere Aufgabe darin, zu erkunden, wie ser Weise dem Risiko der Widerlegung viele Primzahlen es gibt. Dass es unend- ausgesetzt sind, sind für Popper metaphy- lich viele sind, hat spätestens Euklid be- sisch. Das heißt jedoch nicht, dass Popper wiesen. Er hat das aber nicht erfunden, Metaphysik ablehnt. Er betont vielmehr, sondern entdeckt. Wir können also so- dass wir – gerade als Realisten – auf me- wohl in der Welt 3 umherreisen und Sach- taphysische Annahmen angewiesen sind. verhalte entdecken als auch neue Objekte Die Realität der Welt ist selbst so eine me- erfinden und der Welt 3 hinzufügen. taphysische These, die wir weder bewei- Die Dinge der Welt 3 sind zwar – wie Pop- sen noch widerlegen können – selbst wenn per mehrfach betont – durchaus objektiv, sie falsch ist! aber Poppers Theorie der Welt 3 ist me- Popper unterscheidet nun drei Welten: taphysisch. Auch hier könnte man also Welt 1 umfasst alle physischen Systeme. durchaus von einer Evolutionären Metaphy- Welt 2 umfasst alle psychischen Zustän- sik sprechen. Es geht dabei allerdings nicht de und Prozesse, also solche, zu denen um die Evolution realer, aber leider empi- wir auch einen inneren Zugang haben. Welt risch unzugänglicher Systeme, sondern um 3 enthält die Erzeugnisse des menschli- die Evolution unserer geistigen Erzeugnisse, chen Geistes, also Ideen, Gedanken, Ver- also unserer Ideen, Begriffe und Theorien. mutungen, wahre und falsche Theorien, (Für Platon sind auch unsere Ideen real, rea- Probleme, Argumente, Baupläne, Werk- ler noch als die Sinnesdinge; aber selbst ein zeuge, soziale Einrichtungen, Kunstwer- Anhänger dieser Lehre – ein Platonist – wird ke, Gedichte, Sinfonien. Von den Elemen- zugeben, dass es sich dabei um eine andere ten aus Welt 2 unterscheiden sie sich da- Art von Realität handelt.) Ob Popper die durch, dass sie objektiv sind, dass wir sie Deutung seiner Drei-Welten-Theorie als ei- formulieren, aufschreiben, aufzeichnen und ner Evolutionären Metaphysik begrüßen anderen mitteilen können. Auf diese Wei- würde, wäre ebenfalls zu untersuchen.

18 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus Vom Sein zum Werden – vertritt Prigo- tion der Erkenntnisfähigkeit, so können gine eine Evolutionäre Metaphysik? wir auch unterscheiden zwischen einer Auch Ilya Prigogine (1917-2003), Physi- Metaphysik als Ergebnis unseres Nach- kochemiker und Nobelpreisträger 1977, denkens und einer Fähigkeit oder Veran- hat versucht, den Weg von einer Physik lagung, vielleicht einem Bedürfnis, Meta- des Seins zu einer Physik des Werdens zu physik zu betreiben. Dass es Metaphysik weisen bzw. selbst zu gehen, insbeson- gibt, daran besteht kein Zweifel. Gibt es dere die Prozesse der Thermodynamik, aber auch ein menschliches Grundbedürf- der Selbstorganisation, des Nichtgleich- nis nach Metaphysik? Oder ist Metaphy- gewichts, der Irreversibilität und der Struk- sik nur eine Beschäftigung für einige? turbildung angemessen zu beschreiben.36 Schon Immanuel Kant (1724-1804) spricht Ein typisches Beispiel ist der Entropiesatz: in seiner Kritik der reinen Vernunft von In einem energetisch abgeschlossenen Metaphysik als einer Naturanlage. Die System kann die Entropie immer nur zu- menschliche Vernunft habe ein „eigenes nehmen. Dieser Satz zwingt dem Gesche- Bedürfnis“, über die Erfahrung hinauszu- hen eine bestimmte Richtung auf; hier gehen, „und so ist wirklich in allen Men- spielt also die Zeitrichtung eine wesentli- schen, sobald Vernunft sich in ihnen bis che Rolle. Hier nun besteht ein enger Zu- zur Spekulation erweitert, irgendeine Me- sammenhang mit dem Evolutionsbegriff.37 taphysik zu aller Zeit gewesen, und wird Dabei wird zwar der Blick von den stati- auch immer darin bleiben“.38 – Auch Ar- schen oder stationären Strukturen auf die thur Schopenhauer (1788-1860) schreibt Prozesse gelenkt; doch geht Prigogine in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille nicht so weit, den Prozessen ontische oder und Vorstellung ein ganzes Kapitel Über auch nur epistemische Priorität einzuräu- das metaphysische Bedürfnis des Men- men. Schließlich spricht er ja auch nicht schen, das den Menschen von allen Tie- von einer Metaphysik des Werdens, son- ren unterscheidet, sodass er ihn ein animal dern von einer Physik des Werdens. Eine metaphysicum nennt. Auslöser für dieses Prozess-Ontologie oder eine Evolutionä- Bedürfnis sei – wie schon bei Platon und re Metaphysik wird man ihm deshalb eher Aristoteles – das Sich-Wundern, vor al- nicht unterstellen. lem aber die Begegnung mit Tod, Leiden Wir kommen damit von einer evolutionä- und Not. Dieses Bedürfnis führe dann zu ren Ontologie zu einer evolutionären Epis- Religionen und zur Philosophie.39 – Da- temologie. Allerdings geht es uns dabei gegen sieht Friedrich Nietzsche (1844- nicht um unser Erkenntnisvermögen im 1900) kein Bedürfnis nach Metaphysik, Allgemeinen, sondern um unser Bedürf- sondern nur ein natürliches Fragen und nis nach Metaphysik. ein ungestümes Verlangen nach Gewiss- heit; er diagnostiziert sogar einen „Instinkt 11. Hat der Mensch eine metaphysi- der Schwäche, welcher Religionen, Me- sche Veranlagung und ist sie ein Evo- taphysiken, Überzeugungen aller Art zwar lutionsprodukt? nicht schafft, aber – konserviert“.40 Wie wir bei der Evolutionären Erkennt- Gibt es evolutionäre, also letztlich sogar nistheorie unterscheiden zwischen der biologisch-genetische Ursprünge der Me- Evolution der Erkenntnis und der Evolu- taphysik? Da wir bei der Religiosität ei-

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 19 nen solchen evolutionären Ursprung im- Gravitationskonstante, welche die Stärke merhin für möglich halten, müssen wir das – oder eher die Schwäche – der Gravita- auch der Metaphysik zubilligen. So spre- tion bestimmt, im Laufe der Zeit abnimmt. chen manche von einem metaphysischen Be- Wäre das so, dann wären alle Himmels- dürfnis41, von einem metaphysischen Trieb42, körper, die durch die Schwerkraft zusam- von einer Art Instinkt43. Nun spricht nichts mengehalten werden, früher kleiner gewe- dagegen, für den Hang zur Metaphysik sen, auch Sonne, Erde und Mond. Und eine genetische Anlage zu vermuten. Es alle Abstände zwischen Himmelskörpern, dürfte aber sehr schwer sein, eine solche die einander spürbar anziehen, wären eben- Anlage auch nachzuweisen. Denn sicher falls kleiner gewesen, der Mond also nä- sind metaphysische Überzeugungen an her bei der Erde, die Erde und alle ande- Sprache gebunden. Hat man aber die Spra- ren Planeten näher bei der Sonne. che, dann können metaphysische Über- Der Physiker Pascual Jordan (1902-1980) zeugungen auch sprachlich formuliert und meinte sogar, einen überzeugenden Beleg weitergegeben werden; einer genetischen dafür zu haben, dass die Erde einst klei- Anlage bedarf es dazu nicht. Nicht viel ner war: Die Erdkruste habe sich gebil- besser steht es mit entwicklungspsycho- det, als der Durchmesser der Erde nicht logischen Untersuchungen. Wie nämlich 13 000 Kilometer betrug, sondern nur gut will man bei einem Kind eine angeborene die Hälfte. Die Kontinente hätten damals Anlage zur Metaphysik erkennen? Sobald die ganze Erde bedeckt, seien aber durch es uns auf Fragen antworten kann, könn- die Expansion der Erde (so der Titel sei- te jeder vermeintliche Hinweis auf seine nes Buches44 ) auseinander gerissen wor- Metaphysik-Fähigkeit schon wieder sprach- den, weshalb sie heute – neben den Ozea- lich vermittelt sein. Wie also ließe sich die nen – nur noch ein Drittel der Erdoberflä- These widerlegen, dass Metaphysik ins- che bedecken. Diese Vermutung hat sich gesamt ein Kulturprodukt ist und von je- nicht bestätigt. dem Einzelnen individuell erworben wird? Aber der Mond entfernt sich, wie man Die Frage nach biologisch-evolutionären durch Laufzeitmessungen von Radar- Ursprüngen der Metaphysik muss wohl signalen herausgefunden hat, tatsächlich vorerst offen bleiben. von der Erde! Dies jedoch nicht deshalb, weil die Gravitationskonstante und damit 12. Ist wirklich alles in Evolution? die Anziehung zwischen Erde und Mond Nein! abnähme, sondern weil die Erde durch die Der Evolutionsgedanke, ob metaphysisch Gezeitenreibung in ihrer Drehung gebremst oder nicht, ist eine Leitidee, die sich in wird, dadurch an Drehimpuls verliert, den überraschend vielen Fällen als äußerst nütz- wiederum der Mond durch Vergrößerung lich erwiesen hat. Daraus folgt allerdings des Abstandes übernimmt, sodass der Ge- nicht, dass sie auf alles anwendbar sein samtdrehimpuls des Erde-Mond-Systems müsse. erhalten bleibt – wie es sein muss. Zwar könnte es sein, dass einige Naturge- Auch für andere Naturkonstanten hat man setze oder Naturkonstanten – im Prinzip geprüft, ob sie sich im Laufe der Zeit ver- auch alle – sich in der Zeit ändern. So ändern. Zum Teil ist das dadurch mög- wurde schon mehrfach erwogen, ob die lich, dass man ja bei der Beobachtung fer-

20 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus ner Himmelskörper, insbesondere der ist, also metaphysisch, sondern sie ist Quasare, nicht nur in große Entfernungen nicht einmal bestätigungsfähig (verifizier- blickt, sondern auch weit in die Vergan- bar), auch wenn sie richtig ist. Sie ist also genheit unseres Kosmos. Die Strahlung in keiner Weise prüfbar und deshalb eher dieser Objekte ist also vor langer Zeit aus- ein Beispiel für schlechte Metaphysik! Sie gesandt worden. Hätten sich Naturkon- wird wohl auch nicht verbessert oder er- stanten geändert, so müsste die Strahlung setzt, sondern einfach vergessen. jener fernen Objekte, soweit sie von die- Bisher jedenfalls haben sich alle Versuche, sen Naturkonstanten abhängt, andere Ei- eine Veränderung der Naturkonstanten genschaften zeigen als bei uns heute. Da- nachzuweisen, als vergeblich erwiesen. für gibt es jedoch bisher keinerlei Hinwei- Das beweist nicht, dass es solche Verän- se. derungen nicht gibt; sie müssten aber, da Und die Naturgesetze? Der Nobelpreis- die Messungen immer genauer werden, trägers Gerd Binnig (*1947) vermutet, die äußerst klein sein. Auch wenn fast alles in Naturgesetze seien Ergebnisse eines evo- Evolution ist, die Naturkonstanten und die lutionären, ja sogar darwinistischen Aus- Naturgesetze, in denen sie eine wesentli- leseprozesses.45 Diese Vermutung ist at- che Rolle spielen, sind es unserem heuti- traktiv, weil sie die bisher offene Frage gen Wissen nach nicht! Etwas vereinfa- beantworten würde, warum gerade die Na- chend können wir sagen: Alles ist in Evo- turgesetze gelten, die wir vorfinden; sie lution – außer den Naturgesetzen, nach ließ sich aber bisher noch nicht so weit denen diese Evolutionen ablaufen. Oder präzisieren, dass wir sie anhand ihres Er- noch einfacher: Alles ist in Evolution – klärungswertes oder gar ihrer prognosti- außer den Evolutionsgesetzen! Und das schen Kraft beurteilen könnten. wiederum zeigt, dass die Idee einer allge- Noch schlimmer ergeht es uns mit der meinen Evolution zwar nicht streng wider- These von Lee Smolin (*1957), unser ge- legbar, aber doch wirksam kritisierbar ist. samtes Universum mit allen seinen Geset- Wir dürfen sie somit zur guten Metaphy- zen sei ein Kind eines Prozesses, in dem sik rechnen! Universen Nachkommen haben können und in dem bestimmte Universen, näm- 13. Sind metaphysische Spekulationen lich solche mit Schwarzen Löchern, die erlaubt? meisten Nachkommen haben. So entstün- Die zuletzt vorgetragenen Modelle von den Universen mit Schwarzen Löchern Binnig oder von Smolin lassen uns die besonders häufig; deshalb habe auch un- Frage aufwerfen, ob solche Spekulatio- ser Universum gerade jene Eigenschaften, nen überhaupt erlaubt sein sollten. Vor- die Schwarze Löcher erlauben, und eben weg möchten wir betonen, dass es hier deshalb enthalte es eben auch Schwarze nicht um eine moralische Beurteilung geht, Löcher.46 Evolution gäbe es dann also nicht sondern um eine Frage des wissenschaft- nur innerhalb unseren Universums, son- lichen Fortschritts bzw. der wissenschaft- dern auch noch auf der Ebene ganzer Uni- lichen Nützlichkeit. Bringt schlechte Me- versen. Auch diese Spekulation ist natürlich taphysik die Wissenschaft weiter? erlaubt; aber sie ist nicht nur nicht wider- Hier ist unsere Antwort ganz klar. Die Me- legbar (falsifizierbar), auch wenn sie falsch thode der Wissenschaft lässt sich sehr

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 21 knapp charakterisieren: Es geht um küh- waren, das Weltall sei statisch, so darf man ne Vermutungen und strenge Kritik. Wäh- wohl doch annehmen, dass Lemaître sei- rend das Kritisieren stark reglementiert ist, ne Idee gerade deshalb attraktiv fand, weil gibt es für das Vermuten so gut wie keine sie mit dem biblischen Schöpfungsbericht Einschränkung. Hier sind Fantasie und so schön übereinstimmte.47 Intuition gefragt. Und es spielt keine Rol- Auch wenn es nicht um den Anfang, son- le, woher unsere Ideen kommen. Die zahl- dern um das Ende des Universums geht, reichen Anekdoten, wie große Wissen- macht man – mindestens terminologisch schaftler ihre großen Ideen gewonnen ha- – gern Anleihen bei der Theologie und ben, belegen das bestens. Gerade deshalb spricht von physikalischer oder kosmi- lässt sich wissenschaftliche Kreativität so scher Eschatologie.48 In diesem Fall ist schlecht steuern. man jedoch auf den theologischen Begriff Deshalb können auch aus wilden Speku- in keiner Weise angewiesen. Vielmehr kann lationen, auch aus Elementen guter und man fast ebenso gut auch vom Ende des schlechter Metaphysik, aus theologischen Universums sprechen. Allerdings nur fast: Konstruktionen und Bildern, aus bibli- Das Wort Ende suggeriert, dass es sich schen Schöpfungsberichten und Eschato- um einen Zeitpunkt in endlicher Zukunft logien, aus Märchen und Sagen, aus para- handle. Nach dem heutigen Stand der und pseudowissenschaftlichem Unsinn Kosmologie sieht geht man jedoch eher fruchtbare Ideen erwachsen. Wie gut eine davon aus, dass sich das Universum im- Idee ist, zeigt sich nicht an ihrer Herkunft, mer weiter ausdehnt. Es wäre dann zwar sondern erst im Feuer der strengen Kri- „bald“ nicht mehr bewohnbar, wäre aber tik. zu keinem Zeitpunkt wirklich am Ende. Ein schönes Beispiel ist die Urknalltheorie. So ziemlich der Erste, der eine solche 14. Und was lernen wir nun aus unse- Theorie aufstellte, war Georges Lemaître ren Überlegungen? (1894-1966), ein belgischer Theologe, – Wir lernen erstens, dass die Gren- Physiker und Astronom. Schon 1927 for- ze zwischen Erfahrungswissenschaft mulierte Lemaître die Hypothese, unser und Metaphysik nicht so scharf und Universum sei aus einem „Ur-Atom“ eindeutig ist, wie sich das mancher vor- (französisch „atome primitif“) durch Ex- gestellt oder gewünscht haben mag. plosion und fortdauernde Expansion ent- – Wir lernen zweitens und insbeson- standen. In diesem Modell hat das Weltall dere, dass auch in der Erfahrungswis- erstmals ein endliches Alter, was der bib- senschaft metaphysische Vorausset- lischen Vorstellung von einem Weltanfang zungen stecken, die für unser Weltbild sehr entgegenkommt. Hat Lemaître die- konstitutiv sind, insbesondere der so ses Modell der Bibel entnommen? Man genannte metaphysische Realismus. könnte einwenden, dass Lemaître ja nicht – Wir lernen drittens, dass es mög- nur Theologe, sondern auch Physiker war lich ist, zwischen guter und schlechter und als solcher ganz fachbezogen nach Lö- Metaphysik zu unterscheiden: Gute sungen für die Einsteinschen Gleichungen Metaphysik ist kritisierbar und aufgrund suchte. Bedenkt man jedoch, dass die Kos- der Kritik ersetzbar, schlechte nicht. mologen damals mit Einstein der Meinung

22 Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus – Wir lernen viertens, dass oft nicht am Schluss seiner „Untersuchung über den mensch- von vornherein klar ist, welche meta- lichen Verstand“ (englisch 1748, deutsch 1755). 12 physischen Annahmen denn nun kriti- Rudolf Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. Erkenntnis sierbar sind, weil sich dieser Prozess 2 (1931) 219-241; auch in Hubert Schleichert (Hg.): sehr lange hinziehen kann. Logischer Empirismus – der Wiener Kreis. – Wir lernen fünftens, dass deshalb München: Fink 1975, 149-172 gegen alle Annahmen Toleranz ange- 13 Ebd. 240 bzw. 170 bracht ist – und Toleranz können wir 14 Hans Reichenbach: Experience and prediction. nie genug aufbringen. An analysis of the foundations and the structure of knowledge. Chicago: Chicago University Press 1938, 71970 (deutsch: Erfahrung und Prognose. Anmerkungen: Gesammelte Werke, Band 4. Wiesbaden: Vieweg 1 So sagt Paulus im Brief an die Philipper 4.7: „Der 1983) Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, be- 15 Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intel- wahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!“ Wo- lektuelle Entwicklung. : Hoffmann und bei man (sich) noch etwas befremdet fragen könn- Campe 1979, 121 (englisch 1974) te: Wenn schon sein Friede höher ist als alle Ver- 16 Gerhard Vollmer: Was ist Naturalismus? Eine nunft – wie viel höher muss dann erst Gott selbst sein? Begriffsverschärfung in zwölf Thesen. In ders.: 2 Zur Einführung eignet sich Gernot Böhme (Hg.): Auf der Suche nach der Ordnung. Beiträge zu Protophysik. Frankfurt: Suhrkamp 1976. einem naturalistischen Welt- und Menschenbild. 3 Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Stuttgart: Hirzel 1995, 21-42 Wissenschaft. : Springer 1954, 21969, Kap. 17 John Horgan: The intellectual warrior. Scientific I.5 American, Nov. 1992, 20-21 – Ähnlich John Hor- 4 Mit 570 DIN A4-Seiten wohl eines der umfang- gan: An den Grenzen des Wissens. München: Luch- reichsten „Taschenbücher“, die es überhaupt gibt, terhand 1997, 69-70 (englisch 1996) ist Christoph Fehige, Georg Meggle, Ulla Wessels 18 Peter Frederick Strawson: Individuals. An essay (Hg.): Der Sinn des Lebens. Philosophische und in descriptive metaphysics. London: Methuen andere Texte. München: dtv 2000. 1959; Taylor & Francis 1964 (deutsch: Einzelding 5 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. und logisches Subjekt. Stuttgart: Reclam 1972) Vorrede zur zweiten Auflage 1787, B XIV 19 Hans Poser: Metaphysik und die Einheit der 6 Heinrich Scholz: Metaphysik als strenge Wis- Wissenschaften. In: Willi Oelmüller (Hg.): Meta- senschaft. Köln: Staufen 1941; Darmstadt: Wissen- physik heute? Paderborn: Schöningh 1987, 202- schaftliche Buchgesellschaft 1965 220, dort 218-220. Den Ausdruck revidierbare 7 Mario Bunge: Is scientific metaphysics possible? Metaphysik schreibt Poser – leider ohne Quellen- Journal of 68 (1971) 507-520, auch in angabe – Stephan Körner zu. Mario Bunge: Method, model and matter. Dord- 20 Helmuth Walther: Metaphysik und Evolution. recht: Reidel 1973, 145-159 Aufklärung und Kritik 17 (1/2010) 119-131, S. 129 8 Mario Bunge: Treatise on basic philosophy. Dord- 21 Natürlich gibt es noch viele andere Prinzipien der recht: Reidel 1974-1989 Evolutionsbiologie. In dem Buch Gerhard Vollmer: 9 Mario Bunge: Treatise on basic philosophy. Vol. Biophilosophie. Stuttgart: Reclam 1995, 94-99 sind 3: Ontology I: The furniture of the world. Dord- 17 solche Prinzipien zusammengestellt. recht: Reidel 1977; Vol. 4: Ontology II: A world 22 Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intel- of systems. Dordrecht: Reidel 1979 lektuelle Entwicklung. Hamburg: Hoffmann und 10 Mario Bunge, Martin Mahner: Über die Natur Campe 1979, 244, 249 (englisch 1974) der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. 23 Dazu etwa Michael Ruse: Karl Popper’s philo- Stuttgart: Hirzel 2004, Kap. 1 sophy of biology. 44 (1977) 11 Diese uns doch eher erschreckende Forderung 638-661, p.647 – Michael Ruse: Darwinism defen- erhebt ausgerechnet der sonst so tolerante David ded. A guide to the evolution controversies. Rea- Hume, dazu noch an prominenter Stelle, nämlich ganz ding: Addison-Wesley 1982, 138-140

Aufklärung und Kritik 3/2010, Schwerpunkt Atheismus 23 24 Manfred Eigen: Selforganization of matter and 37 Ilya Prigogine: Zeit, Entropie und der Evolu- the evolution of biological macromolecules. Na- tionsbegriff. in der Physik. Mannheimer Forum turwissenschaften 58 (1971) 465-523, p. 477 80/81, 9-44 25 Mary B. Williams: Falsifiable predictions of 38 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. evolutionary theory. Philosophy of Science 40 Auflage 1787, B 21-22 (1973) 518-537 39 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und 26 Karl R. Popper: Natural selection and the Vorstellung. Ergänzungen zum ersten Buch emergence of mind. Dialectica 32 (1978) 339- 31859, Kap. 17 355, dort 345; deutsch gekürzt in Karl R. Popper: 40 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Lesebuch. Ausgewählte Texte. Tübingen: Mohr 1882, Abschnitt 347 1995, 225-233, dort 229 41 Franz M. Wuketits: Evolutionäre Ursprünge der 27 Hans Poser: Metaphysik und die Einheit der Metaphysik. In Rupert Riedl, Franz M. Wuketits Wissenschaften. In Wilhelm Oelmüller (Hg.): (Hg.): Die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Bedin- Metaphysik heute? Paderborn: Schöningh 1987, gungen, Lösungen, Kontroversen. Berlin: Parey UTB 1471, 202-220, Diskussion bis 242 1987, 220-229 28 Dazu aber Gerhard Vollmer: Kritischer Ratio- 42 Edgar Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. nalismus und Evolutionäre Erkenntnistheorie. In Berlin: Deutsche Rundschau 1929, 21929, 31930. Ingo Pies, Martin Leschke (Hg.): Karl Poppers Jung spricht nicht nur von der Unvergänglichkeit kritischer Rationalismus. Tübingen: Mohr 1999, des metaphysischen Triebes (S. 28), sondern sogar 115-134, S. 129-133. von der Rache des misshandelten metaphysischen 29 Friedrich Schaller: Evolution. Entgrenzung eines Triebes (S. 31). Begriffs. Naturwissenschaftliche Rundschau 49 (4/ 43 Hoimar von Ditfurth: Wir sind nicht nur von 1996) 136-139 dieser Welt. Naturwissenschaft, Religion und die 30 Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt Zukunft des Menschen. Hamburg: Hoffmann und (1928). Hamburg: Meiner 1961; Frankfurt: Ullstein Campe 1981, auch München: dtv, Kap. II.5. Hoimar 1969, Kap. 67 von Ditfurth spricht allerdings nicht von Metaphysik, 31 Mario Bunge: Treatise on basic philosophy, Vol. sondern vom Jenseits, womit eine transzendente, 3, Ontology 1. Dordrecht: Reidel 1977, Chapter 3 also alle menschliche Erfahrung überschreitende 32 Alfred North Whitehead: Prozess und Realität. Wirklichkeit gemeint ist (S. 207). Im Glauben an Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt: Suhrkamp ein solches Jenseits sieht er einen „offensichtlich 1987, 2008 (engl. Process and reality, 1929, 21949) konstitutiven Zug menschlichen Wesens“ (S. 211), 33 Über Whitehead und seine Prozessmetaphysik den der Affe noch nicht hat, weil er den Selbstzweifel Nicholas Rescher: Process metaphysics: an intro- nicht kennt (S. 225). duction to process philosophy. State University of 44 Pascual Jordan: Die Expansion der Erde. Braun- New York Press 1996 – Michael Hampe: Alfred schweig: Vieweg 1966 North Whitehead. München: Beck 1998 – Michel 45 Gerd Binnig: Aus dem Nichts. Über die Kreativi- Weber (ed.): After Whitehead. Rescher on process tät von Natur und Mensch. München: Piper 1989, metaphysics. Heusenstamm: Ontos 2005 181, 256 – Ders.: Die Geheimnisse der Krea- 34 Günter Abel: Einzelding- und Ereignis-Ontolo- tivität. Bild der Wissenschaft, März 1990, 96-104, gie. In Hans Poser, Hans-Werner Schütt (Hg.): S. 104: Alles in der Welt entstand durch Evolution Ontologie und Wissenschaft. Philosophische und 46 Lee Smolin: Warum gibt es die Welt? Die Evolu- wissenschaftshistorische Untersuchungen zur tion des Kosmos. München: Beck 1999 (englisch Frage der Objektkonstitution. Technische Univer- 1997) sität Berlin 1984, 21-50 47 Mehr über Lemaître findet man in Simon Singh: 35 Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intel- Big Bang. Der Ursprung des Kosmos und die lektuelle Entwicklung. Hamburg: Hoffmann und Erfindung der modernen Naturwissenschaft. Campe 1979, Kap. 38 (engl. 1974) München: Hanser 2005 (englisch 2004); München: 36 Ilya Prigogine: Vom Sein zum Werden. Zeit und dtv 2007, 166-171, 284-287. Komplexität in den Naturwissenschaften. Piper: 48 Etwa Bernulf Kanitscheider. Kosmologie. Stutt- München 1979 gart: Reclam 32002, 328-335

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