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Bert Solveig Otto

Axel Martin

Zeitschrift des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf e.V. Konzertchor der Landeshauptstadt Düsseldorf 2/122/12 17 Ausgabe eue 2/12 Nr. 17 9. Jahr gang NChorszene - Ausgabe 2/12 August 2012 Themen

Editorial Georg Lauer 3 Benefiz im Musentempel Georg Lauer 4 SingPausen-Konzerte in der Tonhalle Bühnenmusik im Konzertsaal: Peer Gynt Erich Gelf 9 im 2. Düsseldorfer Symphoniekonzert der Saison 2012/13 musica con delicatezza in tobender Ordnung Udo Kasprowicz 19 Eine Werkschau des Komponisten Thomas Blomenkamp Robert Schumanns Zeitzer Verwandte Gerd Nauhaus 22 Neue Funde in Sachsen-Anhalt und Russland Der Intendant Karl Leberecht Immermann Thomas Miller 26 und die Chorkompositionen zu seinen Texten : in Düsseldorf verliebt – Georg Lauer 33 in Wien gefeiert – in und erforscht Der Mann für viele Bühnen Erich Gelf und 45 Düsseldorfs Opern-GMD Axel Kober im Gespräch Georg Lauer Wie Pauker pauken Georg Lauer 49 Professor Flas und seine Schlagzeugschüler Das Bild der Laienchöre Th. Kämpfer u. 52 bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Th. Ostermann Musikverein - on tour! Notizen über die Gastspielreisen Erich Gelf 57 des Chores nach Maastricht und Brüssel 2012 Robert Schneider: Die Offenbarung Udo Kasprowicz 63 Buchrezension Hühnersuppe vor der Prüfung Udo Kasprowicz 65 Ein Rezept für Betroffene Der Chor des Städtischen Musikvereins 66 und sein aktuellles Leitungsteam Termine / Vorschau / Konzerte 2012/13 67 Impressum Anzeigen 68

NC17 Seite 2 Editorial Georg Lauer Der ehemalige Städti- Liebe Leserinnen und Leser! sche Musikdirektor wird MGG - Musik in Geschichte und Ge- 2012 an seinem neuen genwart - ist nach eigenen Angaben die Standort an der Oper größte Musik-Enzyklopädie der Welt. genauso in Erscheinung Für die vorliegende Ausgabe dieser treten wie hier abgebildet. Das zeigt ihn Zeitschrift möchte ich die drei Buchsta- so, wie ihn Clemens Buscher 1901 mo- ben lesen als Musikverein in Geschich- delliert hatte und er bis 1936 in einer te und Gegenwart! Ein Blick nach links Mauernische der alten Oper stand. Sein in das Inhaltsverzeichnis dieser Schicksal schien 1940, als die Bronze Nummer klärt Sie auf: Sie erfah- als „Metallspende“ eingeschmolzen ren Neues aus der Familienge- wurde, endgültig besiegelt, hätte schichte Robert Schumanns, sich nicht 2010 ein „Förderver- lernen den Intendanten Karl ein zur Wiederherstellung des Immermann als Textdichter Mendelssohn-Denkmals“ ge- kennen und lesen Geschichtli- gründet.1 Dank dieser Initiative ches wie Anekdotisches über gelang es, in der Düsseldorfer einen der ganz großen Diri- Bürgerschaft eine solche Spen- genten des 19. Jahrhunderts: denbereitschaft zu wecken, dass Felix Otto Dessoff! es schon nach knapp zwei Jah- Die Gegenwart holt Sie ein, ren möglich wurde, das Denkmal wenn Sie lesen, wer hier in Düs- nach dem alten Vorbild zu rekon- seldorf (nicht nur) 2012 Musik struieren. Die feierliche Enthül- macht: Die Kinder der SingPau- lung erfolgt am 27. September se mit Martin Stadtfeld, Thomas 2012 um 11 Uhr vor der Oper Blomenkamp, ein Pauker mit sei- am Eingang zum Hofgarten. nen Schülern, der Opern-GMD an vie- Eine Abbildung dieses Denkmals hat len Fronten und natürlich der Chor des es bis jetzt nicht in die eingangs erwähn- Städtischen Musikvereins. Der bereitet te MGG-Enzyklopädie geschafft. Auch sich (u.a.) gerade auf Peer Gynt vor und die Redaktion des soeben erschiene- berichtet in einer Rückschau über seine nen neuen Lese- und Bildbandes „Das Gastspiele in Belgien und Holland. Wie Grosse Düsseldorf Lexikon“ hat sich für sich das Leitungsteam des Chores nach ein anderes Mendelssohn-Portrait ent- den Wahlen im Frühjahr zusammen- schieden. Eingang gefunden in dieses setzt, erfahren Sie auf Seite 66. Gleich gewichtige Bildungsbuch haben indes nebenan finden Sie eine Vorschau auf Ereignisse und Persönlichkeiten aus bevorstehende Konzerte. Den beiliegen- Politik, Wirtschaft und Kultur, so auch den neuen Musikvereins-Flyer halten Sie die Städtischen Musikdirektoren und wahrscheinlich schon in Händen! der Musikverein selbst, also MGG im Sollte Sie unser Angebot zum Mitsin- wahrsten Sinne des Wortes in Düssel- gen anregen, dann warten Sie bitte nicht, dorf! Nicht nur deshalb ist diese Neu- bis im Januar die Proben zum Carmina- erscheinung auf dem Büchermarkt er- Burana-Mitsing-Konzert starten. Werden wähnenswert, meint jedenfalls Sie am besten schon im September ak- mit freundlicher tiv und erleben mit, wenn das Mendels- Empfehlung Ihr sohn-Denkmal wieder aufgestellt und mit 1 Wir berichteten darüber einem Konzert eingeweiht wird! ausführlich in unseren Ausgaben Nr. 14 und 15. NC17 Seite 3 Benefiz im Musentempel SingPausen-Konzerte in der Tonhalle Beobachtet von Georg Lauer Seit nunmehr fünf Jahren ist die Tonhalle Düsseldorf jährlich ein regelmäßig frequentierter Hör- und Schauplatz einer besonderen Spezies von Matinée-Kon- zerten. Ihnen gemeinsam eingeprägt ist die genial für sich selbst sprechende Wortschöpfung SingPause: Das Einmalige an diesen Konzerten ist, dass die „Künstler“ so zahlreich sind, dass sie auf dem Podium keinen Platz finden son- dern nur im 1., 2. und 3. Parkett. Hier bilden sie einen buntgemischten Chor von 6- bis 10-jährigen Mädchen und Knaben mit internationaler Ausprägung. Zuhö- rer sind stets willkommen, sie müssen sich allerdings mit den Hinterbänken be- gnügen. In diesem Jahr gab es zusätzlich eine Abendveranstaltung, bei der ein SingPause-Auswahlchor auf einen Starpianisten traf. Bei diesem Benefizkonzert ging es darum, für das Edukation-Programm des Musikvereins nachhaltig zu- sätzliche Sponsorengelder zu erschließen. Das gelang mit vereinten Kräften!

Eintreffen beisammenstehend, Bierfläschchen der Donnerstagabend, 3. Mai 2012, Men- örtlichen Brauerei oder auch Gläser mit schenschlange an der Abendkasse der edlerem Inhalt in der Hand. Tonhalle, jemanden zu finden, der noch Man sieht: - und die fallen in dieser eine Einlasskarte abkauft, ist - nach Abendstunde besonders auf - die vie- kurzem Überdenken von Angebot und len Kinder und Jugendlichen, die das Platz - schnell erledigt. Vorbei geht es Durchschnittsalter der Konzertbesucher an den freundlichen Türstehern, die al- gleich um etliche Jahre absenken! len, die ihre Karte vorzeigen, die Auf- Was ist los heute Abend in der Ton- gänge von A bis G erklären. Aber bis halle Düsseldorf? Müssten nicht we- zum Aufstieg ist noch eine halbe Stun- nigstens die 6-8-jährigen Kinder, die de Zeit, und die zu überbrücken fällt sich durch ihre T-Shirt-Aufschrift als heute ganz und gar nicht schwer. Mädchen und Jungen der Franz-Vaah- Heute Abend ist das sich in der Ro- sen-Grundschule Wittlaer zu erkennen tunde sammelnde Besuchervolk be- geben, nicht längst im Bett sein? sonders bunt gemischt. Die Kreisbewegung gerät ins Stocken, Man sieht: die feine Abendgardero- wer noch keinen braunen Sitzkissen- be - vielleicht angezogen durch die in platz auf den Stufen der Rotunde ergat- Stadt und Land verteilten Plakate, die tert hat, muss sich mit einem Stehplatz mit dem inzwischen weltweit konzer- zwischen den Säulen begnügen: 40 T- tierenden deutschen Pianisten Martin Shirt-Kinder halten Einzug in die Runde Stadtfeld für das Benefizkonzert war- und nehmen im Zentrum Platz auf den ben, das heute Abend zu Gunsten der halbkreisförmig aufgestellten Stühlen SingPause hier stattfindet? gegenüber einer Tafel, die entfernt an Man sieht: die sportliche Jeansvariante vergangene Schultage erinnert. in vielen Altersstufen, kursierend um das Und tatsächlich: ein dunkel gekleide- Zentrum der Rotunde oder in Grüppchen ter Herr tritt vor die Schüler - der Rektor NC17 Seite 4 Minuten an Stimm- und Gehörbildung und rhythmi- scher Schulung nach der „Ward-Methode“ gelernt ha- ben. (Dazu mehr auf http:// www.singpause.de/) Die Theorie kommt auch hier vor der Praxis. Diese erwartet die Konzertbesu- cher, nachdem sie - einem auffordernden Hörzeichen aus Schumanns Früh- lingssinfonie folgend - kurz etwa? Nein, der Vorsitzende des Städti- nach acht ihre Plätze im großen Saal schen Musikvereins Manfred Hill! - und gefunden und eingenommen haben. erhebt seine Stimme: Sie werden schon erwartet: Auf dem „Meine Damen und Herren“, versucht Boden des Podiums hocken und sit- er das Stimmengewimmel auf sich und zen etwa 80 Grundschulkinder, die ih- die Kinder zu konzentrieren, „heute ren großen Gesangsauftritt mit Martin können Sie die SingPause, eine Initia- Stadtfeld herbeisehnen! tive des Musikvereins, live erleben! Sie sehen und hören gleich 40 Kinder der Auftritt: ist Kür! Franz-Vaahsen-Grundschule beim Mu- Zuvor ergreift noch einmal Manfred sikunterricht mit Ihrer Singleiterin Frau Hill das Mikrofon, gilt es doch, jetzt vor Wieslawa Ziola.“ großen Saalpublikum das Projekt Sing- Pause zu erklären, das er zusammen Warmmachen: ist Pflicht mit der Chordirektorin des Städtischen Und da kommt sie schon: Mit ihrer leuchtenden Stimme begrüßt die aus- gebildete Sängerin ihre Schülerinnen und Schüler mit „Guten Abend, liebe Kinder“, und die antworten akkurat in gleicher Tonlage: „Guten Abend, Frau Ziola“! Und schon beginnt die mit einem Zeigestöckchen ausgestattete Lehrerin ihre Kinder zu unterrichten: sie zeigt mit dem grünen Ende auf Buchstaben und Zahlen auf der Tafel, und die Kin- der reproduzieren daraus Töne in den geforderten Höhen und Tiefen. Kommt das rote Ende, stellen sie sich die Töne innerlich vor und sind still! Konzentriert bei der Sache führen sie vor, was sie Wieslawa Ziola beim SingPause-Unterricht in den wöchentlich zweimal zwanzig in der Rotunde der Tonhalle Bild: Musikverein NC17 Seite 5 Musikvereins Marieddy Rossetto 2006 Ergebnis und Siegerehrung 1: zum Leben erweckte. Zugleich nutzt er E-, F- und G-Jugend die Gelegenheit, all denen zu danken, Mit großem Publikumsapplaus be- die mit Rat, Tat und Spenden dazu bei- schenkt verlassen die Kinder Büh- tragen, dass inzwischen 54 Grundschu- ne und Saal, die meisten in Richtung len in Düsseldorf an diesem europa- Heim- und Schlafstatt. weit einmaligen Education-Programm teilnehmen können. Sein abschließen- Der Profi kommt der Hinweis auf die bevorstehenden Nun kann der berühmte Pianist sein 12 Abschlusskonzerte, die die mehr ganzes Können unter Beweis stellen. als 10.000 Schüler der teilnehmenden Dabei wartet er in seinem Programm mit Schulen zum Singen in diesen wun- einer Hommage an die früheren Musik- derbaren Konzertsaal zusammenführt, direktoren Bartholdy wird mit donnerndem Applaus quittiert! und Robert Schumann auf: zunächst Und damit ist der Bogen zum heutigen Benefizkonzert mit Martin Stadtfeld ge- schlagen. Dieses Ereignis ist der Initia- tive von Gisa und Michael Tilmann zu danken, die Konzertbesucher führen es durch ihr Kommen und Spenden (billige Plätze gibt es heute Abend nicht!) zum Erfolg! Und nun kommen alle auf ihre Ko- sten: die Besucher, die Kinder und auch der große Pianist, der endlich die Büh- ne betritt, und groß ist hier wahrlich im hören wir Mendelssohns 17 Variationen doppelten Sinne zu verstehen! Erst der op. 54, die „Variations sérieuse“, spä- auf niedrigster Stufe eingestellte Kla- ter Schumanns 9-teiliges op. 82, seine vierschemel bringt den hochgewach- „Waldszenen“ mit dem bekannten 7. senen Künstler in eine Position, in der Satz: „Vogel als Prophet“. Poesie und Arme und Hände eine optimale Wirkung Virtuosität reichen sich in der Interpretati- auf die weißen und schwarzen Tasten on Martin Stadtfelds genial die Hand. Viel ausüben können. Und in völlig uneitler zu selten sind diese pianistischen Kost- Weise begleitet er die internationalen barkeiten im Konzertsaal zu erleben! Lieder, die die Kinder nun zu Gehör bringen! Das ausgewählte deutsch- Halbzeit sprachige Lied fällt leider dem Veto der Das Publikum dankt es dem sensib- Gema zum Opfer, die glaubte, für das len Tastenakrobaten mit anhaltendem einmalige Singen mehr als 1.000 Euro Applaus und verlässt den Saal zur Pau- in Rechnung stellen zu müssen. Erst se. Diese muss zur Erfrischung, zum am Mittag des Konzertabends – viel Gespräch und zum Umbau der Bühne zu spät für eine adäquate Vorbereitung genutzt werden. – hatte sie dem eingelegten Protest Als die Besucher zum zweiten Mal nachgegeben! ihre Plätze einnehmen, sehen sie die NC17 Seite 6 Bühne voller Notenpulte und dahinter alles gelassen hin, lächeln und genie- die Musiker des Orchesters der Lan- ßen. Die Pause ist kurz, es folgt der desregierung, die sich auf das Haupt- langsame 2. Satz (Andante sostenuto werk des Abends vorbereiten, das noch = nachdrücklich, getragen, gewichtig). seltener zu erleben ist als die Stücke Er beginnt verhalten mit einer schlich- vor der Pause: es ist das 1876 entstan- ten Melodie. Ein Horn-Solo stellt es vor, dene Konzert für Klavier und Orchester das Klavier übernimmt es im zarten Dis- g-moll op.33 von Antonín Dvorák. kant, es bietet Raum, sich darin zu ver- senken, und die Gefahr, sich darin zu Einsatz verlieren (Vorsicht: Sekundenschlaf!). Nachdem die Instrumente sich auf Jemand schaut auf die Uhr, bemerkt einen speziellen Ton verständigt ha- die fortgeschrittene Stunde, stellt fest, ben, betreten Martin Stadtfeld (wieder) dass die letzte Bahn gleich fährt und und Eberhard Bäumler (erstmals) die räumt den Platz. Bühne, der eine findet seinen Platz auf dem ihm bereits vertrauten Hocker, der Endspurt andere besteigt das zentral positionier- Kein Zwischenapplaus, der 3. Satz te Podest, hebt den Taktstock und gibt (Allegro con fuoco = mit Feuer) wird den ersten Einsatz zum 1. Satz (Alleg- unmittelbar in Angriff genommen. Das ro agitato) für dieses spätromantische Orchester präsentiert sich - dem ersten abendfüllende Werk. Thema angemessen - in prägnanter Die Zuhörer lauschen konzentriert- Rhythmik, tritt beim zweiten mit über- geduldig, jüngere schauen auch hin und mütigem „leggiero“ auf und bringt das wieder verstohlen auf ihr Smartphone, dritte, das mit seiner chromatischen einige werden damit am Schluss auch Prägung völlig aus dem Rahmen fällt, auf den Solisten zielen. So vergeht der zu einem grandiosen Abschluss. erste Satz schneller als erwartet und endet mit einem Schlussakkord, der zu Ergebnis und Siegerehrung 2: spontanem Applaus herausfordert, der Profi und Amateure wiederum andere Zuhörer mit mehr Er- Nun braucht das Publikum auch keine fahrung zu leisem Zischeln veranlasst. Zurückhaltung beim Applaus mehr zu Die Musiker auf dem Podium nehmen üben, der will auch nach der Übergabe eines großen Blumenstraußes durch Gisa und Michael Tilmann nicht enden, und so sieht sich Martin Stadtfeld veranlasst, so- gar noch eine Zugabe zu geben. Auch Liszts Paraphrase über Isoldes Liebestod von Wagner verfolgt das Publikum mit ange- haltenem Atem, nochmals gibt es donnernden Applaus, Musi- ker wie Besucher lösen sich auf, der sternenübersäte Saal leert NC17 Seite 7 sich und kommt zur Ruhe. Auch Verant- wortliche für diesen Ereignisabend at- men durch, richtig aufatmen werden sie erst in ein paar Tagen, wenn das Ender- gebnis feststeht.

Ausschüttung der Prämien Es vergehen nur wenige Tage, bis die Tonhalle ein amtliches Ergebnis ver- breiten kann: Dr. Albert M. Tilmann, Eberhard Bäumler und „...Das Benefizkonzert war auch im Martin Stadtfeld Foto: Musikverein Sinne des Förderungszwecks außeror- abschluss, bei dem sie die Hauptrollen dentlich erfolgreich: aus Reinerlös und spielen und öffentlich (insbesondere ih- im Zusammenhang mit dem Konzert ren Eltern, Großeltern und Tante Erna) erhaltenen Spenden fließen der Sing- vorsingen, was sie in den 2 mal 20 ma- Pause Düsseldorf über 15.000 EURO thematikfreien Minuten pro Woche in zu. Damit wird ein wertvoller Beitrag zur der SingPause in ihrer Klasse gelernt Sicherung und Weiterführung der wich- haben. Das alles will gemanagt sein, tigen Arbeit der SingPause in Düssel- und das muss man einfach gehört, ge- dorfer Grundschulen geleistet.“ sehen und erlebt haben! Dabei sein ist da wirklich alles!!!!! Nächste Ziele Die Verantwortlichen können jetzt wieder besser schlafen, aber sich kei- A nja M esut Sascha nesfalls ausruhen; Anfang Juni startet eine Serie von 12 SingPause-Konzerten in der Tonhalle! 10.000 Kinder von 54 J ulia Sonja Düsseldorfer Grundschulen freuen sich auf ihren musikalischen Schuljahres-

NC17 Seite 8 Bühnenmusik im Konzertsaal Peer Gynt im 2. Düsseldorfer Symphoniekonzert der Saison 2012/13 Von Erich Gelf

Auf dem Programm der Abonnementskonzerte der Düsseldorfer Symphoni- ker am 12., 14. und 15. Oktober 2012 in der Tonhalle (Sternzeichen 2) steht: Edvard Grieg: Peer Gynt, Vollständige Bühnenmusik op. 23. Dabei handelt es sich um die Musik zu „dem norwegischen Beitrag zum Welt- und Seelendrama des 19. Jahrhunderts“1 dem Dramatischen Gedicht Peer Gynt in fünf Akten von Henrik Ibsen. Bemerkenswert ist, dass die „vollständige Bühnenmusik“ aufge- führt wird, die wegen der Zeitbedingtheit ihrer Entstehungszeit (1874 bis 1876) heutzutage bei „modernen“ Inszenierungsansätzen auf der Schauspielbühne nicht mehr verwendet wird. Dagegen behaupten sich im Konzertsaal mit Erfolg bis heute die von Grieg aus seiner Bühnenmusik op. 23 in den Jahren 1888 und 1892 erarbeiteten 1. Peer-Gynt-Suite op. 46 und 2. Peer-Gynt-Suite op. 55. Auch in Konzerten anderenorts und in der Schallträgerindustrie wird in letzter Zeit auf die Bühnenmusik op. 23 und nicht auf die Suiten Griegs zurückgegrif- fen. Der folgende Beitrag führt in die in ihren Einzelheiten noch wenig bekannte Aufführung der Bühnenmusik und das Drama selbst ein.

1. Entstehung und Rezeption welt. Vier Akte spielen im „hohen Nor- der Bühnenmusik zu Peer den“, nur der vierte Akt spielt außerhalb Gynt op. 23 Norwegens. Darin gerät Peer Gynt auf Das dramatische Gedicht in fünf seiner Weltfahrt in exotische Land- Akten Peer Gynt von Henrik Ibsen schaften. Gleichwohl besteht ein Be- Henrik Ibsen (1828-1906) war ein be- zug zu Norwegen. Ibsen zeichnet damit deutender und erfolgreicher norwegi- eine Parodie auf die bürgerlich-kapita- scher Schriftsteller und Dramatiker. Als listische norwegische Gesellschaft im sein 1867 entstandenes, bisher nur als internationalen Vergleich. Lesedrama bekanntes Werk Peer Gynt Die Literaturwissenschaft stellt forma- so erfolgreich war, dass es in kurzer le Bezüge zwischen Ibsens Peer Gynt Zeit mehrmals aufgelegt wurde, folgte und Goethes Faust her, vor allem weil er den Aufforderungen, es als Schau- auch Peer Gynt durch das „Ewig Weib- spiel einzurichten. liche“ gerettet wird. Jedoch ist der mit Das als Dramatisches Gedicht be- der Lüge spielende Peer der sich selbst zeichnete fünfaktige Bühnenwerk Peer genügende, niemals er selbst werden- Gynt ist ein genialer Schauspiel-Koloss de, trotz allem unbefriedigte, „die Erde voller psychologischer Gedankentiefe durchrasende Oberflächenmensch des und sozialkritischer Vielschichtigkeit. 19. Jahrhunderts“12 eine ganz andere Es schöpft formal seinen Stoff aus der Figur als der Wahrheit- und Erkenntnis- norwegischen Märchen- und Sagen- sucher Faust. 1 Reclam Universalbibliothek Nr. 2309, Henrik 2 Felix Emmel, Bertelsmann Schauspielführer, Ibsen; Peer Gynt / Nachwort von Ruprecht Volz; 6. Auflage, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart, 1963, Seite 253 Seite 150 NC17 Seite 9 Edvard Grieg Bild: http://snl.no/Edvard_Grieg Henrik Ibsen (um 1870) Bild: Wikipedia Eine ungekürzte Aufführung dauert vorschlug, dass sie sich die für eine in fünf Stunden, oftmals auf zwei Abende Kristiania (heute Oslo) vorgesehene verteilt. Unzählige Personen treten auf, Uraufführung eingehenden Tantiemen wobei manche Akteure mehrere Rollen je zur Hälfte teilen. Ibsen, der auf eine übernehmen können. Peer Gynt dage- langjährige Erfahrung als Theaterleiter gen, der in dem Stück sein Leben vom in Bergen und Kristiania zurückblicken jungen Mann bis zum Greis durchwan- konnte, machte auch gleich detaillier- dert, muss gelegentlich von mehreren te Vorschläge über den musikalischen Schauspielern dargestellt werden. Anteil an dem Bühnenwerk und die dramaturgische Stellung der einzelnen Henrik Ibsen bittet Edvard Grieg Nummern.3 um die Bühnenmusik für seinen Peer Gynt Grieg schreibt die Bühnenmusik Anfang des Jahres 1874 schrieb Ib- zu Peer Gynt sen einen musikgeschichtlich bedeut- Edvard Grieg nahm den Auftrag sehr samen Brief an den fünfzehn Jahre jün- schnell an. Ein Grund für die schnelle geren aufstrebenden Komponisten und Zusage mögen auch die Anregungen Landsmann Edvard Grieg (1843-1907). Ibsens für die Musiknummern gewesen Darin wird Grieg von Ibsen gefragt, ob sein, die die Arbeit des Komponisten er bereit wäre, die für die szenische sehr erleichterten, wenngleich Grieg Aufführung seines Peer Gynt „erforder- 3 Hella Brock, Griegs Musik zu Ibsens Peer liche Musik“ zu komponieren. Das war Gynt; Hildegard-Junker-Verlag, Altenmedingen ein verlockendes Angebot, zumal Ibsen 2001, Seite 8 NC17 Seite 10 einigen Vorschlägen auch eigene Vor- Uraufführung in Kristiania; weitere stellungen entgegenzusetzen hatte. In Aufführungen in Skandinavien einem zweiten Brief schrieb Ibsen dann, Die Rezeptionsgeschichte des „Dra- es sei Grieg völlig überlassen, wie viel matischen Gedichtes in fünf Akten Peer Musik er komponieren wolle, denn: „Ein Gynt“ von Ibsen mit der Bühnenmusik Komponist muss schließlich darin voll- von Grieg war lange Zeit eine Erfolgsge- kommen freie Hand haben“.4 schichte. Sie beginnt mit der Urauffüh- In der Zeit von Sommer 1874 in Sand- rung am 24. Februar 1876 in Kristiania. viken bei Bergen in Norwegen, über die Dort musste das Stück innerhalb der- Monate Januar bis Mai 1875 in selben Spielzeit sechsunddreißig Mal und dann ab Ende des Sommers 1875 wiederholt werden und nur durch einen im dänischen Fredensburg arbeitete Brand des Theaters wurde die Serie Grieg an der Peer-Gynt-Musik. beendet. Der Autor und der Komponist, Er komponierte insgesamt 26 Num- die beide (vorsichtshalber) bei der Ur- mern. Manche Stücke sind „absolute aufführung nicht anwesend waren, wur- Musik“, die die nachfolgende Handlung den selbst von dem triumphalen Erfolg musikalisch vorbereiten; als Vorspiel überrascht. Der Erfolg wiederholte sich zu einzelnen Akten werden sie bei ge- in Kopenhagen (1886) und wiederum schlossenem Vorhang gespielt. Andere in Kristiania (1892 und 1902). Nummern sind „Melodramen“ als Hin- tergrund eines gesprochenen Textes. „Peer Gynt“-Aufführungen im Wieder andere bestehen aus Texten, europäischen Ausland Liedern und Tänzen, die von den han- Edvard Grieg äußerte die Befürchtung, delnden Personen gesungen oder aus- dass Ibsens Peer Gynt außerhalb des geführt in die Handlung integriert sind.5 skandinavischen Raumes wegen des Formal schöpft Grieg seine Anregung Lokalkolorits und der ausufernden philo- aus der norwegischen Volksmusik. Da- sophischen Monologe und Dialoge nicht durch werden die nationalen norwegischen verstanden werden würde.7 Doch bald Züge des Schauspiels besonders deutlich. stellte sich der Erfolg auch im Ausland ein: Grieg, der in sehr jungen Jahren ein solides Paris (1895), Wien (1902), Berlin (1903). Musikstudium am Leipziger Konservatori- Immer war die Bühnenmusik Griegs ein um absolviert hatte, verband die volksmu- Bestandteil und ein Garant der erfolgrei- sikalischen Anregungen mit den neuesten chen Aufführungen des Schauspiels. kompositorischen Tendenzen seiner Zeit. Aus dieser schöpferischen Verbindung ent- Griegs Weiterarbeit an der Büh- wickelte er einen individuellen Stil, der weit nenmusik zu Peer Gynt in das 20. Jahrhundert weist und den musi- Die Entwicklung der Bühnenmusik zu kalischen Impressionismus einleitete.6 Peer Gynt nahm einen eigenen Verlauf. Grieg musste bei der Komposition die 4 wie 3, Seite 8 geringe Personalstärke und die künst- 5 Beiheft zur CD-Kassette: Edvard Grieg+Henrik Ibsen, Peer Gynt, aeon AECD 0641, 2006, lerische Mittelmäßigkeit des Bühnenor- harmonia mundi distribution, Alain Perroux, chesters am Theater in Kristiania, das Übersetzung Martin Kaltenecker, Seite 9 für die Uraufführung vorgesehen war, 6 wie 3, Seite 35 7 wie 3, Seite 11 NC17 Seite 11 berücksichtigen. Darum griff er schon ab 1986 für die Aufführung in Kopenhagen selbst durch Bearbei- tungen in die ursprüngliche Instru- mentierung ein. Bei wiederholten Inszenierungen in Skandinavien, die unterschiedli- chen neuen dramaturgischen An- sätzen folgten, erbat man sich von Grieg in Anpassung an die Drama- turgie neue musikalische Einlagen. Grieg, der gelegentlich selbst in die Neu-Inszenierungen produktiv einbezogen wurde, lieferte entwe- Edvard Munchs Illustration für eine Peer Gynt- Aufführung Foto: http://jmomusique.skynetblogs.be/ der selbst neue Musikstücke oder beauftragte den Komponisten Johan entgegensetzen, da das Urheberrecht Halvorsen damit, der dafür Griegs nor- zu dieser Zeit noch nicht entsprechend wegische Tänze und Klavierkompositi- ausgeprägt war. Grieg beschwerte sich onen verwendete. auch nur über die Unzulänglichkeit der Bearbeitungen seiner Peer-Gynt-Musik. Die Bühnenmusik löst sich vom Schließlich erarbeitete Grieg selbst in Schauspiel den Jahren 1888 und 1892 aus seiner Mehr und mehr verselbständigte sich Partitur op. 23 zwei viersätzige Orches- die Bühnenmusik. Einzelne Nummern tersuiten: die 1. Peer-Gynt-Suite op. wurden so populär, dass von fremder 46 (17 Minuten) und die 2. Peer-Gynt- Hand Bearbeitungen zu kurzen Musik- Suite op. 55 (18 Minuten). Diese Suiten stücken für die verschiedensten Be- brachten Grieg in seinen beiden letzten setzungen veröffentlicht wurden. Da- Lebensjahrzehnten große Erfolge. Auch von betroffen waren insbesondere Nr. ohne Schauspielbühne war die Musik 8 In der Halle des Bergkönigs, Nr. 13. von großer Aussagekraft. Bis heute ste- Morgenstimmung und Nr. 19 Solveigs hen die Suiten auf den Programmen der Lied, deren musikalisches Material bis Sinfoniekonzerte, während die Bühnen- zum heutigen Tage sogleich wieder- musik bei Aufführungen des Schauspie- erkannt wird, weil es im Laufe der Zeit les kaum noch verwendet wird. durch Konzert, Rundfunk, Schallträger, Film und Werbung in das „musikalische Keine verbindliche Partitur für die Kollektivbewusstsein“8 eingedrungen ist. Bühnenmusik zu Peer Gynt op. 23 Durch die Weiterarbeit an der Büh- Entstehung der beiden Peer-Gynt-Sui- nenmusik bei späteren Inszenierungen ten: das Aus für die Bühnenmusik? entstand die Problematik, dass keine Der Fremdverwertung der Bühnen- verbindliche Partitur für die Bühnenmu- musik konnten der Komponist oder sik zu Peer Gynt zur Verfügung stand.9 der Musikverlag Peters rechtlich nichts 9 Edvard Grieg, dargestellt von Hanspeter Krell- 8 wie 5, Seite 8 mann, rororo Monographie, Rowohlt Taschen- NC17 Seite 12 Zu Griegs Lebzeiten widersetzte dieser eine Rückkehr zu dem Inszenierungs- sich zunächst selbst einer Herausga- stil der Uraufführung ausgeschlossen be, weil er sich nicht auf eine endgül- war, ergab sich keine Notwendigkeit, tige Instrumentierung festlegen wollte. eine andere, werkgetreuere Partitur der Als er etwa 1902 in einem Brief äußer- Bühnenmusik zu erstellen. te: „Wenn ich noch länger lebe, dann werde ich versuchen, dass die Musik Zuverlässige Partitur zu op. 23 in vollständig aufgeführt wird und genau- der Gesamtedition im Jahre 1988 so wie in meiner Vorstellung“10 schien Erst als das 1962 in Oslo gegründe- der Weg für eine Veröffentlichung der te Edvard-Grieg-Komitee bei C. F. Pe- Partitur frei. Doch nun verhinderte der ters, a. M.-New York-London, Peters-Verlag eine Edition, weil dieser eine Gesamtausgabe der Werke Ed- geschäftliche Einbußen bei dem Ver- vard Griegs in 20 Bänden plante, de- trieb der soeben gedruckten Auffüh- ren erster Teil im Jahre 1977 erschien, rungsmaterialien für die beiden Peer- war auch die Zeit für eine zuverlässige Gynt-Suiten befürchtete. Ausgabe der Bühnenmusik op. 23 ge- kommen. Der norwegische Musikwis- Posthume Partitur zu Peer Gynt senschaftler Finn Benestadt legte 1988 op. 23 von 1908: ein Editionsproblem in Band XVIII eine Partitur dazu vor. Bei Nachdem der Peters-Verlag unter seiner Arbeit ging er davon aus, dass neue Leitung kam, beauftragte er gleich die Partitur der Uraufführung von 1876 nach dem Tode Griegs Johan Halvor- den Vorstellungen Griegs am meisten sen mit der Einrichtung einer druckrei- entsprach. Spätere Zusätze und Stri- fen Partitur. Sie kam 1908 heraus. Mit che an dieser Fassung machte er rück- ihren 26 Nummern griff sie auf die Fas- gängig. Die Verbesserungen der Instru- sung der Uraufführung, aber auch auf mentation durch Grieg selbst arbeitete andere Manuskripte zurück. Nach dem er in die Urfassung ein. späteren Urteil der Musikwissenschaft war sie eine „Kompromissfassung“, ein Rückkehr der Bühnenmusik zu „Sammelsurium“ und erwies sich als lü- Peer Gynt op. 23 ... im Konzertsaal ckenhaft. Bislang galten die beiden Orchester- Schauspielmusiken sind „mehr insze- suiten als die beständige Hinterlassen- nierungsabhängig als werkgebunden“.11 schaft der Arbeit Griegs an Peer Gynt. Schon ab dem zweiten Jahrzehnt des Bei dem Studium der nun vorliegen- 20. Jahrhunderts wurde Griegs Mu- den zuverlässigen Partitur von 1988 sik zu Peer Gynt als zu emotional, der entdeckte die Musikszene neue Über- Epoche der Uraufführung zugehörig raschungen in einem vermeintlich be- empfunden und ... weggelassen. Nach kannten Werk. Man wusste, dass Grieg dem 2. Weltkrieg entstanden neue Büh- nicht alle Nummern der Bühnenmusik nenmusiken zu Ibsens Peer Gynt. Da in die beiden Suiten eingearbeitet hatte. buch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999, 2. Aber nun wurde deutlich, wie erstaun- Auflage 2007, Seite 66 lich genau die vollständige Bühnenmu- 10 wie 5, Seite 9 sik Griegs den ursprünglichen drama- 11 wie 9, Seite 64 turgischen Vorstellungen Ibsens folgt. NC17 Seite 13 Durch die Beschäftigung mit der neu- wurde am 8. Juli 2012 in Lübeck zur en Partitur festigte sich die Überzeu- Eröffnung des diesjährigen Schleswig- gung, dass der Wunsch Griegs, die Holstein Musik Festivals dargeboten. vollständige Musik aufzuführen, auch im Konzertsaal authentisch verwirklicht 2. Praktische Hinweise für die werden kann. Die einzelnen Musiknum- Düsseldorfer Konzerte mern müssten dafür mit Texten verbun- den werden, durch die zu erkennen ist, Im Oktober 2012 kommt der bis 2009 wo Grieg die Musik in die Handlung amtierende frühere Generalmusikdi- des Schauspiels von Ibsen eingeordnet rektor von Düsseldorf und ab dann als hat. Dadurch entstünde eine schlüssige Musikdirektor der „Den Norske Opera Kurzfassung des Schauspiels in einzel- und Ballett“ in Oslo (!) tätige John Fiore nen Tableaus, ohne dass die Handlung als Gast an das Pult der Düsseldorfer kontinuierlich fortgeführt werden muss. Symphoniker zurück. Im Gepäck hat Ein solches Vorhaben lässt einerseits er als norwegische Nationalmusik die auch die Teile der Komposition Edvard Gesamte Bühnenmusik op. 23 zu Peer Griegs zu ihrem Recht auf Wahrneh- Gynt von Edvard Grieg. Es wird dann mung kommen, die lange unterschätzt eine Konzertfassung mit gesprochenen waren. Andererseits erlaubt es, alle und gesungenen Texten zu erleben sechsundzwanzig originalen Nummern sein. Wegen der angestrebten Werk- der Partitur auch in der „Konzertfas- treue werden die gesungenen Texte sung“ in Verbindung mit dem Text zu von den Solisten und dem Chor sogar hören, von dem sie angeregt oder für in norwegischer Spreche interpretiert.12 den sie konzipiert waren. Ein Blick in die Listen der drei größten Ein Schauspielführer hilft Online-Anbieter von Klassik-Tonträgern Ob der Zuhörer im Konzertsaal tiefere zeigt, dass neben den beiden Peer- Einblicke in Ibsens dramatisches Gedicht Gynt-Suiten auch eine Anzahl von Auf- gewinnt, hängt maßgeblich davon ab, wie nahmen auf dem Markt sind, die sich intensiv er sich auf das Konzert vorberei- auf Opus 23 direkt beziehen. Vielfach tet. Wer tiefer in die Lebensgeschichte des handelt es sich dabei um Auszüge aus Peer Gynt eindringen und im Konzert fort- der Bühnenmusik, die wiederum nur die schreitend auf dem Laufenden bleiben will, bekanntesten (oder gefälligsten) Stücke der sollte sich anhand eines Schauspiel- aneinanderreihen. Ohne den Anspruch führers mit dem Inhalt vorher beschäftigen. auf Vollständigkeit zu erheben, konnten drei Aufnahmen gefunden werden, die Eindrücke aus der Aufführung die Idee, die Bühnenmusik vollständig beim Schleswig-Holstein Musik mit gesungenen oder gesprochenen Festival 2012 Texten darzubieten, umsetzen. Das Konzert aus Lübeck wurde live Eine Aufführung der „Gesamten Büh- auf 3sat übertragen. So hatte man nenmusik zu Peer Gynt“ mit Einleitun- schon einen interessanten Vor-Eindruck gen, Überleitungen und den zu der Musik für das Düsseldorfer Konzert. Insgesamt gesprochenen oder gesungenen deut- 12 Näheres zu Programm und Besetzung siehe schen Originaltexten des Schauspiels Magazin OTON der Tonhalle Düsseldorf, Seite 72, NC17 Seite 14 agierten die Ausführenden auf höchstem 3. Übersicht über die Einord- Niveau. Gut wahrnehmen konnte man, nung der Bühnenmusik Peer dass die Produktion aus den drei Ele- Gynt op. 23 von Edvard Grieg menten Literatur, Schauspielkunst und in die Handlung des Schau- musikalischer Interpretation bestand. Je- spiels von Henrik Ibsen des dieser Elemente faszinierte den Zu- hörer/Zuschauer gleichermaßen. Zwei- Die Handlung beginnt zu Anfang des felhaft ist, ob die Texte die Einordnung 19. Jahrhunderts und endet in dessen der Musik an den Ort der Schauspiel- letztem Drittel. Sie spielt teils in Guld- handlung so schnell herstellen konnten. branstal (Norwegen) und im Hochgebir- Dadurch wurde das Erlebnis aber we- ge ringsum, teils an der Küste von Ma- der getrübt noch in Frage gestellt. Die rokko, teils in der Wüste Sahara, teils im schauspielerischen Leistungen aller Re- Tollhaus zu Kairo, dann an Bord eines zitierenden (voran Klaus Maria Brandau- Schiffes auf der Nordsee vor der nor- er) und die geniale Musik Edvard Griegs wegischen Küste und schließlich wieder waren auch ohne viel „Verkopfung“ ein in der norwegischen Gebirgsgegend. unvergesslicher Genuss. Erzählt wird das Leben von Peer Gynt, einem Bauernsohn, der mit Lügenge- Vorfreude auf die Konzerte schichten und wilden Phantasien ver- in Düsseldorf sucht der Realität zu entfliehen In unserer Zeitschrift fehlt der Raum für eine eingehendere Interpretation 1. Akt: Die Dorfwelt des Ibsenschen Textes und für eine Peer Gynt, ein stämmiger Bursche von umfassende Analyse der Musik Ed- zwanzig Jahren, tritt mit seiner Mutter vard Griegs. Nach dem Eindruck aus Aase, einer Bauernwitwe, auf. Die ers- der „Vorschau“ aus Lübeck müssen wir ten Worte des Stückes aus Aases Mund solche „Hilfen“ nicht unbedingt veröf- sind das Motto für die ganze Geschich- fentlichen. Wir sind überzeugt, dass die te: „Peer, du lügst!“ Peer erzählt seiner Besucher des Konzertes in jedem Falle Mutter, er sei auf einem Rentierbock an einem einzigartigen eindrücklichen geritten. Danach geht er zu einer Hoch- Erlebnis teilnehmen werden. zeit. Auf einem Hofplatz wird gefeiert Da zu op. 23 von Edvard Grieg aus- und getanzt. Ingrid, die eigentlich für ihn führliche Informationen in den gängigen bestimmt war, muss wegen seiner Ver- Nachschlagewerken (noch) nicht vorlie- säumnisse einen anderen heiraten. Auf gen, drucken wir nachstehend eine Über- dem Fest trifft er Solveig, die aus einem sicht über die Einordnung der Nummern pietistischen Elternhaus stammt. Sie der Bühnenmusik in das Schauspiel ab. erscheint ihm als Urbild aller fraulichen Das Programmheft der Tonhalle wird Würde und Reinheit. Sie wird ein ganzes sicherlich die gesungenen norwegi- Leben auf seine Heimkehr warten. Da schen Texte mit einer deutschen Über- Peer sich bei den Feierlichkeiten miss- setzung veröffentlichen. Wie immer achtet fühlt, entführt er die Braut. dürfen wir darin auch „zweckdienliche Bühnenmusik Angaben“ für eine Nacharbeit des Kon- Nr. 1 Im Hochzeitshof. Vorspiel zum 1. zertes erwarten. Akt NC17 Seite 15 Nr. 2 Halling (auch Hallingsdans/ traditionel- ler norwegischer Volkstanz ursprünglich nur für Männer mit 100 bis 115 Schlägen pro Minute) – Violine/Bratsche solo Nr. 3 Springtanz – Violine/Bratsche solo13

2. Akt: Das Reich des Dovre-Alten Nach einer Nacht verstößt er Ingrid wie- der, weil ihm Solveig nicht aus dem Sinn geht. Im Gebirge, wohin er vor seinen Ver- folgern flieht, gerät er in den Bereich un- gehemmter Sinnlichkeit. Drei Sennerinnen nehmen ihn als ihren Geliebten. Dann lockt ihn die Grüngekleidete in den Berg, in das dunkle Reich ihres Vater, des Nr. 5 Peer Gynt und die Sennerinnen. Königs der Trolle. (Trolle sind mystische Frauenchor, Sprechstimmen und Orchester Zauberwesen aus der Folklore Norwegens.) Nr. 6 Peer Gynt und die Grüngekleidete. Er verführt auch die Trollprinzessin, worauf Orchester ihn die Trolle zu ihrem König machen wollen. Nr. 7 Peer Gynt: „Am Reitzeug erweist sich Durch Anritzen des linken und Herausneh- ein Kerl, ein feiner!“ Kurzes Orchesterstück men des rechten Auges soll er selbst zum Nr. 8 In der Halle des Bergkönigs. Orches- Troll werden. Als er sich wehrt, jagen ihn die ter, Chor, Sprechstimmen Trolle und wollen ihn zerfetzen. Nach lautem Nr. 9 Tanz der Bergkönigstöchter. Orches- Anruf der Mutter ertönen die Kirchenglo- ter cken, die ihn von dem Spuk befreien. Nr. 10 Peer Gynt von den Trollen gejagt. Danach stellt sich ihm Orchester, Chor, Sprechstimmen eine undefinierbare Ge- Nr. 11 Peer Gynt und der Krumme. Orches- stalt, der „Große Krum- ter, Chor, Sprechstimmen me“, in den Weg. Er ist etwas Nebliges, Schleimi- 3. Akt: In den Bergen ges, das sich nicht fassen Allein im Gebirge in einem harten Holzfäl- lässt und mit dem man nicht lerdasein baut sich Peer sein Haus. Solveig kämpfen kann. Peer hält mit hat ihre Familie verlassen und steigt zu ihm ihm eine qualvolle Zwiespra- hinauf. Peer fühlt Momente des Glücks. che, wie mit seinem eigenen Aber da kommt die Trollprinzessin mit ei- zerrissen Ich. Auch diesen nem hässlichen Jungen, den sie als seinen Über-Troll überwinden Glo- Sohn ausgibt, zu Peer in die Hütte. Peer ckengeläut und Choralgesang. fühlt sich Solveigs unwürdig. Er verlässt sie Der Krumme schwindet in Nichts und ruft und heißt sie harren, lang oder kurz. mit keuchender Stimme: „Er war zu stark, Bevor er jedoch auf große Weltfahrt weil ihm Weiber beistanden.“ geht, nimmt er Abschied von seiner ster- Bühnenmusik benskranken Mutter Aase. Während er Nr. 4 Der Brautraub. Ingrids Klage. Vorspiel mit seiner überschäumenden Phantasie zum 2. Akt der Mutter eine gemeinsame Schlittenfahrt 13 Bei der Aufnahme Literaturverzeichnis Nr. 10 zum Himmelstor vorgaukelt, stirb sie sanft. wird eine Hardanger-Fiedel - ein norwegisches Er bleibt nicht bis zu ihrer Beerdigung. Es Saiteninstrument aus der Volksmusik - gespielt. reißt ihn fort „Ans Meer, ans weite“, „und Grieg hat sich mit Kompositionen für dieses Instru- weiter von dort“. ment auseinandergesetzt. NC17 Seite 16 Bühnenmusik Ortswechsel: In einem kurzen Einschub Nr. 12 Aases Tod. Vorspiel zum 3. Akt verlagert sich die Handlung hoch oben in Wiederholung während der Sterbeszene. den Norden. Vor einer Hütte im Hochwald sitzt „ein Weib in mittleren Jahren, licht und 4. Akt: In der Wüste schmuck“ (Solveig) im Sonnenschein und Zeitschnitt An der Küste Marokkos lebt spinnt. Sie singt ein Lied vom Harren (auf Peer Gynt, der durch Sklavenhandel und Peer Gynt). Verkauf von Götterbildern nach China ein Erneuter Ortswechsel: Peer Gynt sucht großes Vermögen gemacht hat, als schmu- die singende Memnonsäule bei Theben cker Herr von mittleren Jahren. und die rätselhafte Sphinx von Gizeh auf. Mit einer illustren Gesellschaft (ein Eng- In Gizeh trifft er den Vorsteher des Kairoer länder, ein Franzose, ein Deutscher und ein Irrenhauses. Der nimmt Peer mit in seine Norweger) plant er zunächst, die Griechen Anstalt, wo er zum Kaiser der „Selbstheit“ im Freiheitskampf gegen die Türkei zu un- gekrönt wird. terstützen, um dort mit Hilfe seines Vermö- Bühnenmusik gens Kaiser zu werden. Er ändert aber sei- 13. Morgenstimmung. Vorspiel zum 4. Akt ne Meinung, weil die Türken die stärkeren 14. Dieb und Hehler. Zwei Bassstimmen sind. Darum will er sein Geld in der Türkei mit Orchester einsetzten. Als er sich von der Gesellschaft 15. Arabischer Tanz. Sopran solo, Frauen- entfernt, empören sich die vier Herren über chor und Orchester den für sie ungünstigen Sinneswandel, steh- 16. Anitras Tanz. Orchester len seine Luxusjacht und dampfen davon. 17. Peer Gynts Serenade. Bariton solo Allein am Strand zurückgeblieben fleht und Orchester Peer Gynt tatsächlich zu Gott, ihm an Bord 18. Peer Gynt und Anitra. Orchester und zu helfen. Da schießt ein Feuerstrahl aus Sprechstimmen der Jacht empor und dicker Rauch qualmt 19. Solveigs Lied. Sopran solo und Orches- heraus. Das Schiff ist verschwunden. Am ter Rande der Wüste ist er nun froh, dem 20. Peer Gynt vor der Memnonsäule. Kur- Schiffsunglück entronnen zu sein. zes Orchesterstück Zufällig kommt er in den Besitz eines ara- bischen Gewandes und eines aufgezäum- 5. Akt: Zurück in die Dorfwelt ten Schimmels, die ein Dieb und ein Hehler Zeitschnitt Peer Gynt, ein kräftiger alter dem Kaiser in seinem Heerlager entwende- Mann mit eisgrauem Haar und Bart, ist auf ten und dann auf der Flucht zurückließen. der Heimkehr an Bord eines Schiffes in der Damit ausgestattet wird er für den Prophe- Nordsee vor der norwegischen Küste. Ein ten gehalten. wilder Sturm zieht auf und das Schiff sinkt. In einer Oase im Zelt eines Araberfürsten Peer und der Schiffskoch können sich auf wird Peer Gynt von einer Schar tanzender die Planken eines Bootes retten, die aber Mädchen und von Anitra, der Häuptlings- nur sicheren Platz für eine Person bieten. tochter, umgarnt. Peer rettet sich, in dem er den Koch in das Der alternde Peer Gynt entflammt für Ani- Meer stößt. Mit knapper Not entkommt er tra. Er singt ihr eine Serenade. Doch Anitra auch dem „fremden Passagier“ (der Todes- verschafft sich durch eine List seinen Gold- angst), der auf seinen Leichnam spekuliert. schatz, seine kostbaren Kleider und seinen Peer gelangt an Land. Der Tod hat ihn nicht Schimmel, mit dem sie in die Wüste davon erreicht. reitet. Peer Gynt legt wieder seine europä- All seinen Reichtum hat er verloren. Der ische Kleidung an und macht sich auf zu Tod aber hat ihn nicht erreicht. neuen Zielen seiner Weltfahrt. NC17 Seite 17 Nun durchstreift Peer die Stätten seiner Literaturverzeichnis wilden Jugend. Er kommt zu seiner alten Werkausgaben: Hütte und hört Solveigs singen, die noch 1. Reclam Universalbibliothek Nr. 2309, Henrik immer in Treue auf ihn wartet. Da erschüt- Ibsen; Peer Gynt / Nachwort von Ruprecht Volz; Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, tert ihn die Erkenntnis: „Mein Kaisertum Stuttgart 1953/2010 war hier!“ 2. Edvard Grieg Gesamtausgabe, III. Drama- Peer eilt in der Nacht über die Heide. tische Musik Band 18 Peer Gynt, Edition Noch einmal greifen die Dämonen nach Peters, C. F. Peters Frankfurt 1988 Literatur: ihm. „Knäuel“ = seine Gedanken, „Verwelk- 3. Edvard Grieg, dargestellt von Hanspeter te Blätter“ = ungesagte Losungen, „Sausen Krellmann, rororo Monographie, Rowohlt in der Luft“ = seine ungesungen Gesänge, Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg „Tautropfen“ = Tränen und „Geknickte Hal- 1999, 2. Auflage 2007 me“ = seine Werke bedrängen ihn. Auch der 4. Hella Brock, Griegs Musik zu Ibsens Peer Gynt; Hildegard-Junker-Verlag, Altenmedin- König der Trolle, „der Dovregreis“, stellt ihm gen 2001 nach. Dreimal begegnet er dem „Knopfgie- Nachschlagewerke: ßer“, der ihn umgießen will, weil er weder 5. Harenberg Kulturführer Konzert, 7., völlig neu für den Himmel noch für die Hölle taugt. bearbeitete Auflage, Meyers Lexikonverlag, Bibliografisches Institut & F. A Brockhaus, Immer kann er dem Spuk entrinnen. „Der Mannheim 2007 Magere“, die Personifizierung des Teufels, 6. Harenberg Chormusikführer, Harenberg Kom- dem Peer sein ganzes Leben in Wahrheit munikation Verlags- und Medien GmbH & erzählt, glaubt dem Lügner nicht und hält Co, KG, Dortmund 1999 7. Felix Emmel, Bertelsmann Schauspielführer, Peers Dasein für zu gering, um seine Seele 6. Auflage, C. Bertelsmann Verlag, Gü- zu fordern. tersloh1963 Peer hört den Pfingstgesang der Kirch- 8. Bertelsmann Schauspielführer, Bertelsmann gänger und rettet sich zu Solveig. Deren Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München Aussage, dass Peer nichts Übles getan 1992 9. Knaurs Großer Schauspielführer, Droemer- habe und in ihrem Glauben ganz „sein sche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., Mün- Selbst“ und „unvergleichlich in Hoffen und chen 1985 Lieben“ war, trifft ihn zutiefst. Erschüttert CD-Aufnahmen: birgt Peer seinen Kopf in ihrem Schoß. Sol- 10. Edvard Grieg + Henrik Ibsen, Peer Gynt, Schauspieler und Sänger: Dietrich Henschel; veig singt ihm ein Wiegenlied, das ihn für Schauspieler/in: Susanne Lothar, Thomas immer vor den Dämonen beschützt. End- Anzenhofer; Sänger/innen: Inger Dam- lich ist Peer angekommen! Jensen, Sophie Koch u. a., Orchestre de la Bühnenmusik Suisse Romande; Ensemble vocal Le Motet 21. Peer Gynts Heimkehr. Stürmischer der Genève; Musikalische Leitung: Guillaume Tourniaire; Aufnahme: (Musik) 2000 Genf Abend auf dem Meer (an der Küste). (Text) 2005 Berlin Aeon Paris 2006 Harmonia Vorspiel zum 5. Akt. Orchester mundi distribution; AECD 0641 22. Der Schiffbruch. Orchester 11. Edvard Grieg, Peer Gynt Suiten Nr. 1 & 2, 23. Solveigs Gesang in der Hütte. Göteborgs Symphoniker, Neeme Järvi, DGG 1986/2009 Sopran solo und Streichorchester 12. Grieg, Peer Gynt Schauspielmusik op.23, 24. Nachtszene. Chor und Orchester Solisten, WDR Rundfunkorchester und 25. Pfingstlied „Velsignede Morgen = Oh –chor, Leitung Helmut Froschauer; Capriccio Morgenstunde“. Psalm der Gläubigen – 2003/2004 13. Edvard Grieg, Peer Gynt op. 23, Solisten, gemischter Chor a cappella Bergen Philharmonic Orchestra, Leitung: Ole Wiederholung der Musik als Melodram mit Kristian Ruud; BIS 2005 Orchester Wikipedia Seiten: 26. Solveigs Wiegenlied. Sopran solo, 14. Henrik Ibsen gemischter Chor und Orchester 15. Peer Gynt NC17 Seite 18 musica con delicatezza in tobender Ordnung Eine Werkschau des Komponisten Thomas Blomenkamp Von Udo Kasprowicz

Am 18. Juni stellte der Komponist Thomas Blomenkamp im Buch und Kunst- kabinett Konrad Mönter in seinem Wohnort Meerbusch ein CD-Album vor, des- sen Titel „ Orchesterwerke - Kammermusik - Klaviermusik“ die Bandbreite sei- nes instrumentalen Schaffens beschreibt und zugleich auch repräsentiert. Die frühere Musikdramaturgin der Tonhalle, Elisabeth von Leliwa hatte mit dem Pianisten Stefan Irmer, dem Solocellisten der Düsseldorfer Symphoniker, Nikolaus Trieb, dem Maler Viktor Nono und dem Tonmeister Christian Zimmerli Wegbegleiter des Komponisten, die sich um sein Werk verdient gemacht und die CD mitproduziert haben, zu einem Gespräch eingeladen. „Es gibt in Europa eine Schule von mas Blomenkamp für sich zurück. Auf die Geistern - der deutsche Erkenntnislyri- Frage, ob es ihn dränge, große Themen ker Friedrich Nietzsche hat sie geschaf- der Menschheit musikalisch zu gestalten, fen - , in welcher man sich gewöhnt hat, antwortet er bescheiden. „Das Leiden an den Begriff des Künstlers mit dem des der Weltgeschichte habe ich hinter mir. Erkennenden zusammenfließen zu las- Ein großes Requiem steht noch aus. sen. (…) der Künstler dieser Art nämlich Das kommt vielleicht noch. Mir liegt an - und es ist vielleicht keine schlechte Art einer Musik, die auf das Melodische und - will erkennen und gestalten: tief erken- Rhythmische konzentriert ist, stark moti- nen und schön gestalten; und das gedul- visch arbeitet, die lebendig ist.“ dige und stolze Ertragen von Schmer- Seiner Barkarole liegt die Idee der Stei- zen, die von beiden unzertrennlich sind, gerung zugrunde. Die Musik wird immer gibt seinem Leben die sittliche Weihe. schneller, immer lauter und expandiert Weiß man um diese Schmerzen?“ schließlich, so dass sie die Klaviatur mit beiden Händen in einem irrsinnigen Tem- An dieses Bekenntnis Thomas Manns po ausfüllt. Nach Stefan Irmer, dem Pia- fühlt man sich erinnert, wenn Thomas nisten, der das Stück für die CD einge- Blomenkamp Einblick in sein komposi- spielt hat, sind die rhythmischen Abläufe, torisches Schaffen gewährt. „Es ist eine die entstehen, damit das Stück immer Quälerei, das kann ich Ihnen sagen. Sie schneller wird, unter anderem deshalb sitzen lange vor dem leeren Blatt oder Sie so kompliziert, weil jede Hand jeweils nur haben viele gefüllte Blätter vor sich liegen einen Ton spielt. Diese Barkarole ist kein und fangen dennoch zum 70. Mal an. Das sanft ruhendes Gondellied mehr, son- kann mir keiner abnehmen, das ist bei dern - so der Komponist - ein Strudel, der meinen Kollegen möglicherweise ganz sich entwickelt, ein Sog. Dieses bewuss- anders, bei mir aber ist es eine Qual.“ te Anknüpfen an Traditionen, das auch in Die Verbindung zwischen Kunst und Titeln wie „Nocturne“ und „Toccata“ zum Daseinsdeutung, die bei Thomas Mann Ausdruck kommt, geht über das Zitieren die Sonderstellung des Künstlers bedingt hinaus und schneidert der alten Form mit und sein Leiden rechtfertigt, weist Tho- traditionellen Mitteln ein neues Gewand. NC17 Seite 19 Bei dem Auftrag für die „Fünf Stücke „Animato, Adagio und Agitato“ spielt er für großes Orchester“, erzählt Blomen- selbst mit. Die Erfahrungen daraus für kamp, habe ihm der damalige General- seine Komponistentätigkeit verdichten musikdirektor John Fiore alle Freiheiten sich zu der Erkenntnis: „Ich bin auf die- gelassen. „Machen Sie, was sie wollen!“ jenigen angewiesen, die mir Rat ge- lautete seine Anweisung. „Ich hatte im ben und, wenn ich dann mit Stücken Auge“, fährt Blomenkamp fort, „dass ankomme, sagen, das geht so besser, nach der Pause Bruckners 9. Sinfonie wenn man das etwas anders notieren gespielt wird, und dass ist natürlich ein würde. Diese Vorschläge umzusetzen Obligo, dem nicht so leicht beizukom- bedeutet, ein optimales Ergebnis für men ist. Aber es gibt durchaus Bezüge die Spieler zu erzielen. Ich habe gern zu meinem Scherzo, wenn man an die Vorgaben, die ganz klar sind.“ Aller- blechgepanzerten Scherzi Bruckners dings erfordert das von den Interpre- denkt. Dann hat meine Musik sehr viel ten, sich der Idee des Komponisten zu Bezug zur Tradition.“ nähern. Im Unterschied zum Maler und Von Nikolaus Trieb, dem Cellisten, Schriftsteller ist der Komponist nicht auf die lakonische Formel gebracht: fertig, wenn die Partitur vorliegt. Bevor „Wir haben als Interpreten den Job zu sein Werk die Hörer erreicht, muss er verstehen, was wir da tun.“ „Verste- jemanden finden, der es zum Klingen hen“ ist für Trieb ein aktiver Prozess. bringt. Da er sich selbst nach vielen „Er schreibt da etwas und ich versuche Jahren Erfahrung in einem Klavier- zu verstehen, was er damit erzeugen trio und durch seine Mitwirkung im möchte. Und bei keinem Stück ist das Lambertus Quintett als ausübender so geblieben, wie es ursprünglich ge- Musiker versteht, lässt er die Interpre- schrieben war. Das Stück auf der CD ten mit seinen Stücken nicht allein. In ist ein Kompromiss.“

Thomas Blomenkamp (*1955) Orchestral Works – Chamber Music – Piano Music Düsseldorfer Symphoniker · John Fiore, Dirigent Bläserquintett der Düsseldorfer Symphoniker Nordwestdeutsche Philharmonie · Frank Beermann, Dirigent Rivinius KlavierQuartett · Trio Opus 8 · Lambertus-Klavierquintett Stefan Irmer, Klavier · Nikolaus Trieb, Violoncello NEOS 11205-06 (2 CD) Veröffentlichung: Mai 2012 Gesamtzeit CD1: 72:46 Gesamtzeit CD2: 64:10

NC17 Seite 20 Bei der CD erweitert sich die Zwiespra- serungsvorschläge in die Partitur eintrug, che zwischen Komponist und Künstler die er zurücksandte. Auf dieser Grundla- um den Tonmeister, der im solistischen ge arbeitete der Tonmeister weiter. und kammermusikalischen Bereich seine Nun wirbt die Aufnahme als künstlerisch Erfahrungen mit geeigneten Aufnahme- gestaltetes CD Album mit anspruchsvol- orten mitbringt. Christian Zimmerli geht lem Booklet um die Gunst des Publikums. es nicht vorrangig um Dokumentation Wenn Komponieren so anstrengend, einer klanglichen Fassung der Partitur, Spielen so schwierig und Aufnehmen so sondern er will ein Erlebnis vermitteln. einfühlsam ist, welche Anforderungen Da ein Mikrofon kein motivierendes, er- stellt die Musik an den Hörer? wartungsvolles und bewegtes Publikum Viktor Nono, dessen Bild das Cover ersetzt, muss er den Künstler zu mehr ziert, nimmt die Berührungsängste. „Es bringen, als er vor dem toten Gegen- ist vielleicht nicht gut, zu viel über ein stand von sich aus leisten würde. Das Werk zu wissen. Hinderlich daran ist gelingt in kleinen Ensembles durch die es, den emotionalen Zugang und damit unmittelbare Begegnung mit den Musi- die Lust am Kunstwerk zu verlieren.“ kern und ihrer Beteiligung an allen wir- Auch Thomas Blomenkamp warnt in kungsbeeinflussenden Entscheidungen seinem Schlusswort vor einem akade- auch nach der Aufnahme. Bei Orches- mischen Zugang. „Mir ist wichtig, dass teraufnahmen sucht er das Gespräch man die CD zunächst emotional hört. mit dem Dirigenten. Im vorliegenden Fall Mir ist wichtig, eine Musik zu schrei- lagen vier Jahre zwischen dem Lifemit- ben, die keinen Hörer gleichgültig lässt. schnitt des Konzertes in Düsseldorf und Ich will nichts Glattes und Fertiges ma- der Neuabmischung für die CD, so dass chen, sondern Musik, die emotionale John Fiore klangliche Zwischenergebnis- Tiefe hat und das soll auch beim Hörer se in Oslo begutachtete und die Verbes- ankommen.“

Fünf Stücke für großes Orchester (2007) Sept Desserts Rythmiques für Bläserquintett (2006) Toccata, Tombeau und Torso für Klavierquartett (2009) Barkarole für Klavier (1988) Nocturne für Klavier (1998) Musik für Violine, Violoncello, Klavier und Orchester (2003) Suite für Violoncello solo (2010) Animato, Adagio und Agitato für Klavierquintett (2010) Thomas Blomenkamp (Komponist und Pianist) ist ein exemplarisches Beispiel dafür, dass Neue Musik nicht nur in Kooperation mit den immer noch dominierenden Institutionen wie Donaueschingen oder Darmstadt entsteht. Hier haben wir einen Komponisten, der längst intensiv auf dem Schallplattenmarkt vertreten sein sollte, der unbeirrt von Mode-Erscheinungen einen zielstrebig eigenen Weg geht und dabei auch noch Erfolg beim Publikum hat – keine Selbstverständlichkeit bei einem zeitgenössischen Komponisten! Darum auch eine Doppel-CD: Sie zeigt ein weites Spektrum von Blomenkamps Werk, das inzwischen rund 70 Kompositionen umfasst – vom Solostück bis zur abendfüllenden Oper (Der Idiot, Premiere 2001) – fassliche Musik, die sich nicht anbiedert!

NC17 Seite 21 Robert Schumanns Zeitzer Verwandte Neue Funde in Sachsen-Anhalt und Russland Von Gerd Nauhaus In der Ausgabe 12 dieser Zeitschrift im Schumannjahr 2010 veröffentlichte der frühere Direktor des Robert-Schumann-Hauses Zwickau Dr. phil. Gerd Nauhaus einen ausführlichen Beitrag zu Schumanns Leben, Werk und Wirken. Auch seit 2006, als er die Aufgaben des Vorsitzenden der Robert-Schumann-Gesellschaft Zwickau e.V. übernahm, ist Dr. Nauhaus unermüdlich auf der Suche nach Spu- ren, die Schumanns Vorfahren - väterlicher- wie mütterlicherseits - an mehr und weniger geschichtsträchtigen Orten in Archiven und Taufbüchern hinterlassen haben. Von den jüngsten Funden berichtet er in folgendem Beitrag.

Entdeckungsreisen dienst, zwei Jahre später hatte er die In den Jahren 2011 und 2012, jeweils Lockerung der strengen Heiratsbestim- „im wunderschönen Monat Mai“, un- mungen für Soldaten genutzt und sich ternahm die Zwickauer Robert-Schu- in der heute nicht mehr existierenden mann-Gesellschaft Entdeckungsreisen Zeitzer Nicolaikirche vermählt. Fast auf den Spuren der Schumann-Vorfah- auf den Tag genau neun Monate spä- ren ins östliche Thüringen und südliche ter wurde, wie wir inzwischen wissen, Sachsen-Anhalt. Johanna Christiana Schnabel geboren Robert Schumanns Großvater vä- – aber wo geschah das? terlicherseits war evangelischer Pfar- War es schon kompliziert, den Haupt- rer im Dorf Endschütz - dort kam 1774 standort des Kursächsischen Karabi- Roberts Vater August Schumann zur nierregiments festzustellen (es war da- Welt - und in der Kleinstadt Weida, bei- mals Weißenfels), so erschien es fast des malerische Orte, ebenso wie die unmöglich, die Einquartierungsorte der alte Bischofs- und Herzogsstadt Zeitz. einzelnen Truppenteile zu ermitteln. Hier wuchs Roberts Mutter Johanna Auf Grund von Akten im Sächsischen Christiana Schnabel auf. Ein „weißer Hauptstaatsarchiv Dresden konnte Fleck“ in der von Theo Molberg in Düs- schließlich die Suche nach Schnabels seldorf erstellten Internet-Ahnentafel Eskadron (Kompanie), die von einem der Schumanns war bisher der mütter- Major Bodt geführt wurde, auf fünf Dör- liche Geburtsort und das Jahr der Ge- fer im heutigen sachsen-anhaltinischen burt. Als sich ihre Eltern, der Feldscher Burgenlandkreis konzentriert werden. (Militärchirurg) und spätere Amts- und Davon stellte sich Karsdorf an der Ratschirurg Abraham Gottlob Schna- Unstrut als Ort der Geburt und Tau- bel und seine mit dem Dichter Gotthold fe (28. bzw. 30. November 1767) von Ephraim Lessing entfernt verwandte Johanna Christiana Schnabel heraus, Ehefrau Johanne Sophie Lessing, im was seit dem 12. Mai 2012 durch eine Sommer 1768 in Zeitz niederließen, bronzene Gedenktafel an der Karsdor- war die älteste Tochter, der 10 weitere fer St.-Laurentius-Kirche für die Nach- Kinder (5 Töchter und 5 Söhne) folgen welt festgehalten ist. Heute macht das sollten, bereits am Leben. Seit 1765 Dorf von sich reden durch ein großes war Schnabel im sächsischen Militär- Zementwerk der Weltfirma Lafarge und NC17 Seite 22 Enthüllung der Gedenktafel an der Karsdorfer St. Laurentiuskirche durch Pfarrer Michael te sich August Schumann, der in Zeitz Röpke (li) und Dr. Gerd Nauhaus Buchhandelsgehilfe wurde, als Unter- Foto: I. Knechtges-Obrecht mieter einquartiert. Er verheiratete sich die geradezu riesige Bogenbrücke für 1795 in dem (heute eingemeindeten) die ICE-Strecke Erfurt-Leipzig/Halle, Dorf Geußnitz bei Zeitz mit der 7 Jahre die das Tal oberhalb des kleinen Ortes älteren Johanna Christiana Schnabel überspannt. und zog mit ihr nach dem thüringischen Ronneburg, wo die vier Geschwister Die Familie Schnabel in Zeitz Robert Schumanns – Emilie, Eduard, Johanna Christiana Schnabel sah als Carl und Julius – geboren wurden. ältestes Kind ihrer Eltern in deren statt- Als die Familie Schumann dann 1807 lichem Haus am Zeitzer Altmarkt die nach Zwickau umgezogen war, kam er zahlreichen Geschwister aufwachsen, dort als jüngstes und letztes Kind zur teilweise aber auch wieder sterben, Welt. Die Großmutter Schnabel zog als denn nur drei davon erreichten außer Witwe, nachdem das Zeitzer Haus ver- ihr das Erwachsenenalter: der älteste, kauft worden war, mit zu Tochter und sieben Jahre nach ihr geborene Bruder Schwiegersohn nach Zwickau und war Carl Gottlob, dessen Lebensgang uns somit die einzige der ganzen vorange- noch interessieren wird, die Schwester henden Generation, die Robert als Kind Dorothea Wilhelmina und der jüng- kennenlernte. ste Bruder Friedrich Gottlob. Carl und Seinem Onkel Carl Gottlob Schnabel Friedrich wurden wie der Vater Militär- sollte Robert Schumann erst spät be- ärzte, Dorothea heiratete einen sol- gegnen, doch wusste er seit langem chen, starb aber wie Friedrich schon von dessen Existenz, war er doch der mit 30 Jahren. Der Vater Abraham Lieblingsbruder der Mutter, mit dem Schnabel lebte, ebenso wie übrigens sie in ständigem Briefwechsel stand. Pfarrer Johann Friedrich Schumann in Gesehen haben sie sich wohl im Er- Weida, bis 1809. In seinem Haus hat- wachsenenalter nicht mehr, war doch NC17 Seite 23 R. Schumanns Mutter J. Ch. Schnabel; Das Elternhaus von Schumanns Mutter in Zeitz Gemälde von L. Glaeser, 1810 Robert-Schumann-Haus Zwickau Foto: Julia M. Nauhaus Carl Schnabel dem Gesichtskreis der Kreisarzt im Range eines Titularrats Zeitzer und Zwickauer Familie längst amtierte und sich u.a. durch Einführung entschwunden. Erst vor kurzem wur- einer Pockenschutzimpfung verdient de bekannt, dass er nach der üblichen machte. Den kleinen Sohn hatte er mit- Ausbildung an der Medizinisch-chirurgi- genommen oder nachkommen lassen; schen Akademie in Dresden eine erste die verlassene Ehefrau blieb in ihrem Anstellung als Berg- und praktischer Heimatort, wo sie 1831 verstarb. Arzt im erzgebirgischen Johanngeor- genstadt an der böhmischen Grenze Auf der Reise nach Moskau annahm. Dort verheiratete er sich 1799 Von Oesel wurde Carl Gottlob Schna- mit der Tochter eines Bergbeamten, bel im Mai 1811 ins zentralrussische Auguste Concordia Scheidhauer, und Twer berufen, zunächst als Inspektor dort wurde zwei Jahre später sein einzi- des Gesundheitsamts. Beim Einfall der ger Sohn Carl August geboren. Als Pa- napoleonischen Truppen 1812 organi- ten für ihn erkor er sich den Schwager sierte er das Volksaufgebot im Gouver- August Schumann, und dieser bat ihn nement Twer, das – wie er später sei- um dasselbe Amt bei seinem ebenfalls ner Schwester nach Zwickau schrieb 1801 geborenen zweiten Sohn Carl. – größer war als das ganze Königreich Carl Gottlobs Ehe scheint ein totaler Sachsen. Im Laufe der Zeit stieg er zum Fehlschlag gewesen zu sein, so dass obersten medizinischen Beamten des er nach wenigen Jahren buchstäblich gesamten Gebiets auf, wofür er ein zu- die Flucht ergriff und, angeregt durch sätzliches Examen in Moskau ablegen den damaligen russischen Botschafter musste. Er wurde mit hohen russischen am sächsischen Hof, in russische Dien- Orden ausgezeichnet, erhielt den Titel ste trat. Es verschlug ihn, nach kurzer eines Hofrats und wurde schließlich in Militärzeit bei einem Jägerregiment, auf den erblichen Adelsstand erhoben. Er die heute zu Estland gehörende Ost- heiratete auch ein zweites Mal, wobei seeinsel Oesel (Saarema), wo er als wir nicht wissen, ob ihm die Scheidung NC17 Seite 24 seiner ersten Ehe gelang oder ob er den Tod der Frau abwarten musste. Sein Sohn Carl August schlug die mi- litärische Laufbahn ein, diente bei der berittenen Gendarmerie in Twer und brachte es bis zum Major. Die Familie lebte teils in der Gouvernementsstadt, teils auf dem Landgut Sosnowitzy, das dem Hofrat Schnabel „mit 200 Seelen“ vom Zarenhof verliehen worden war. Als Robert und Clara Schumann Anfang 1844 ihre große Konzertreise nach Russland antraten, nahmen sie Stadthaus der Familie von C.G. Schnabel in bereits auf der ersten Station St. Pe- Twer’, Troickaja-Straße 45/16 Foto: Nina Kostantinovna Drozdeckaja - aus ihrer tersburg Kontakt mit den Verwandten in Buchveröffentlichung 2008 „Das Musikleben in Twer auf. Der inzwischen fast 70-jähri- Twer’ und im Gouvernement Twer’ vor 1917” ge Onkel schrieb persönlich und lud sie herzlich zu sich ein. Nach beschwerli- men nicht halt machte. In jüngster Zeit cher Reise erreichten sie Twer und fuh- wurde das Leben und Wirken Carl von ren am nächsten Tag auf das Landgut, Schnabels durch die russische Musik- wo sie den Geburtstag des Onkels und forscherin Nina Drosdezkaja erforscht das russische Osterfest mit begehen und im gerade erschienenen Band 10 konnten. Während des folgenden Auf- der Zwickauer Schumann-Studien ge- enthalts bei den „jungen Schnabels“, nauestens dokumentiert. die im Gebäude des Gendarmeriekom- NC gratuliert mandos in Twer wohnten, gab Clara dem Autor des Beitrags Schumann sogar eine Soirée vor gela- Dr. Gerd Nauhaus denen Gästen. Ein nach der Rückkehr herzlich zum Ehrenvorsitz! von Moskau geplantes öffentliches Bei der Mitgliederversamm- Konzert kam indes nicht zustande, lung der Robert-Schumann- doch machten sie auch da kurze Sta- Gesellschaft Zwickau am 23.6.2012 tion bei den Verwandten, frühstückten wurde der noch bis Ende Juli 2012 am- mit ihnen und wurden von Cousin Carl tierende Vorsitzende Dr. Gerd Nauhaus zur “Diligence“ begleitet, die auf dem zum Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit anderen Wolga-Ufer abfuhr. Im Jahr gewählt. Der Musikwissenschaftler und darauf erhielten sie die Nachricht vom Schumann-Forscher, langjähriger Direktor Ableben des Onkels, das man schon des Robert-Schumann-Hauses Zwickau, während ihres Besuchs auf Grund sei- seit mehr als 40 Jahren Mitglied, seit ner geschwächten Gesundheit erwartet 1989 Vorstandsmitglied und seit 2006 hatte, und damit endete auch die Ver- Vorsitzender der Robert-Schumann- bindung nach Russland. Gesellschaft Zwickau, hat das Amt des Vorsitzenden mit Erreichen des 70. Die Spuren der Familie Schnabel Lebensjahres Ende Juli 2012 an den kann man dort aber noch bis in die Leipziger Pianisten und Professor an der Mitte des 20. Jahrhunderts verfolgen; Hochschule für Musik und Theater „Felix dann verlieren sie sich, vermutlich Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, Dietmar auf Grund der Stalin’schen Russifizie- Nawroth abgegeben. rungspolitik, die auch vor Familienna- NC17 Seite 25 Der Intendant Karl Leberecht Immermann und die Chorkompositionen zu seinen Texten Von Thomas Miller In früheren Ausgaben dieser Zeitschrift wurden die Musikdirektoren des Städ- tischen Musikvereins zu Düsseldorf Mendelssohn, Schumann, Hiller und Rietz in unterschiedlichen Facetten beschrieben. In diesem Beitrag stellen wir eine weitere Düsseldorfer Persönlichkeit mit Bezug zum Musikverein vor: den Juris- ten, Dichter und Intendanten Karl Leberecht Immermann (1796-1840). Im Fol- genden stehen Texte Immermanns im Vordergrund, die in Chorkompositionen vertont wurden.

Der Weg nach Düsseldorf Anschließend durchlief Immermann eine juristische Laufbahn, erst als Aus- Karl Leberecht Immermann wurde als kultator in Oschersleben (1818), dann Sohn des königlich-preußischen Kriegs- als Referendar in Magdeburg (1819), und Domänenrats Gottlieb Leberecht Im- Auditeur in Münster (1819 - 24), Krimi- mermann 1796 in Magdeburg geboren. nalrichter in Magdeburg (1824 - 27) und Dort besuchte er von 1807 bis 1813 das schließlich als Landgerichtsrat in Düs- Gymnasium des Klosters „Unser Lieben seldorf (1827 - 40), wo er bis zu seinem Frauen“, das er - nach einigen Proble- Tod lebte. men - mit der „zweiten Schulprämie für besondere Leistungen“ abschloss. In Immermann und Düsseldorf der Zeit der Besatzung durch Napoleon nahm Immermann von 1813 bis 1817 1822 besprach Immermann im an der Universität Halle ein Jurastudium Rheinisch-Westfälischen Anzeiger die auf, unterbrach dieses allerdings 1815, Gedichte Heinrich Heines. Aus die- um dem Ruf Friedrich Wilhelms III. „An ser Besprechung entwickelte sich ein mein Volk“ zu folgen und als Freiwilliger reger Briefwechsel mit Heine, der zu am Krieg gegen Napoléon Bonaparte einem Besuch Heines vom 1. bis 5. teilzunehmen. Als Zwischenstation auf April 1824 in Magdeburg führte, des- dem Weg nach Paris kreuzte er dabei sen Freundschaft zu Immermann le- zum ersten Mal Düsseldorf. benslang bestehen blieb.1 Neben die- Erstmals literarisch aktiv wurde Im- sem ersten kulturellen Anker fasste mermann 1817, als er die schlagende Immermann nach seiner Versetzung Verbindung „Teutonia“ in Halle im Zu- nach Düsseldorf schnell im kulturellen sammenhang mit studentischen Aus- Leben Fuß und freundete sich mit Wil- einandersetzungen bis hin zum preu- helm Schadow und anderen Künstlern ßischen Thron moralisch und juristisch der Kunstakademie wie Karl Friedrich attackierte. Seine in diesem Zusam- Lessing und Johann Wilhelm Schirmer menhang entstandene Schrift „Ein Wort 1 Vgl. Kruse, Joseph A.: Immermann und Heine. zur Beherzigung“ (1817) wurde auf dem In: Karl Immermann 1796-1840. Ein Dichter Wartburgfest ein Opfer der Bücherver- zwischen Poesie und sozialer Wirklichkeit. Aus- stellung des Heinrich-Heine-Instituts, Düsseldorf brennung. 1990, S. 41-47. NC17 Seite 26 an. Immermanns Haus in Derendorf wurde bald zu einem Treffpunkt für Künstler und Intellektu- elle. 1829 zählte er zu den Gründungsmitglie- dern des „Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen“ und verfasst die „Andeutungen über den Zweck des Kunst- Vereins für die Rhein- lande und Westphalen“. 1831 fand eine ers- Marktplatz Düsseldorf um 1840 mit Rathaus rechts, in der Mitte das Jan-Wellem-Denkmal und links das erste Immermanntheater te Begegnung mit Felix Mendelssohn Bartholdy statt. Nur ein anderem auch Schumann und Tausch Jahr später gründete Immermann den Texte von Immermann. Im Folgenden „Theaterverein“ und übernahm die Di- sollen nun vor allem die Chorkomposi- rektion des Stadttheaters, das nun in tionen vorgestellt werden, denen Texte Trägerschaft des Theatervereins stand. Immermanns zugrunde liegen, ergänzt Seine Pläne zur Reform des Thea- durch Vertonungen, die einen besonde- ters konnte er ab 1834 umsetzen, als ren Bezug zu Düsseldorf aufweisen.2 er sich vom Staatsdienst beurlauben ließ, um die Intendanz des Theaters zu Kompositionen zu Texten übernehmen. Als Intendant des Thea- Immermanns: ters schuf er zwischen 1834 und 1837 Lieder und kleine Besetzung die sogenannte Musterbühne, indem er die heute an Theatern üblichen Vorgän- Schon vor 1827 sind einzelne Texte ge wie z. B. regelmäßige Probezeiten Immermanns vertont worden und als einführte. musikalische Beilagen zu seinem ers- Die Musterbühne war ein Zweispar- ten Gedichtband von 1822 erschienen, tentheater und verfügte neben dem aber diese sind durchweg trivial, darun- Schauspiel auch über eine Oper. Für ter zwei kleine freimaurerische Stücke die Musik zuständig war zunächst Felix von Johann Joachim Wachsmann3 für Mendelssohn Bartholdy und nach des- Männerchor in der Besetzung mit zwei sen Weggang , der auch Tenören und Bass. über die Schließung des Theaters hin- 2 Ein Verzeichnis der Vertonungen zu Immer- aus Düsseldorfer Musikdirektor blieb. mann ist als Aufsatz im Immermann-Jahrbuch 7, Neben der rein organisatorischen Zu- 2006, S. 35-60 unter dem Titel „Die musikalische sammenarbeit gab es auch auf künst- Rezeption der Texte Carl Leberecht Immer- lerischer Ebene Berührungspunkte mit manns“ erschienen. 3 Johann Joachim Wachsmann (1787-1853), den Direktoren des Städtischen Musik- deutscher Chordirigent und Komponist, ab 1818 vereins. Neben Rietz vertonten unter Musikdirektor in Magdeburg. NC17 Seite 27 Nach 1827 standen die Vertonungen Julius Rietz ist durch seine vielfälti- zu Texten Immermanns unter keinem gen Kontakte auch im Rahmen seiner guten Stern. Die allererste ist gar nicht Publikation der Musik Schumanns und zustande gekommen, weil Mendels- vor allem Mendelssohns zu einer Art sohn sich nach langem Hin und Her Schlüsselfigur bezüglich der Komposi- weigerte, das von Immermann aus- tionen zu Texten Immermanns gewor- drücklich für ihn, den designierten Ge- den. Er selbst hat dessen Gedicht „Am neralmusikdirektor, 1831 angefertigte Baume“ als Lied vertont. Von dem ihm Libretto zu Shakespeares „Sturm“ zu in Düsseldorf als Musikdirektor nachfol- komponieren. Mendelssohn hielt das genden Ferdinand Hiller ist zwar keine Libretto schlicht für ungeeignet. Die Vertonung bekannt, wohl aber existiert Argumentation Mendelssohns ist 1921 von Robert Schumann die Liedkompo- von Deetjen in einem Aufsatz darge- sition „Auf dem Rhein“. Und auch des- stellt worden4, wobei das komplette sen Nachfolger Julius Tausch hat den Libretto, auf das sich Mendelssohn Gedichttext „Meine Liebe“ aus Immer- bezog, schon damals als verschollen manns „Münchhausen“ vertont, wobei galt. Der zweite und dritte Akt des Li- die beiden letztgenannten Stücke aber brettos haben sich allerdings im Nach- erst nach Immermanns Tod entstanden lass Immermann erhalten, genauere sind. wissenschaftliche Untersuchen zur Das einstimmige „Todeslied der Boja- Stichhaltigkeit der Argumentation Men- ren“ aus Immermanns „Alexis“ erschien delssohns liegen jedoch nicht vor. hingegen schon in der Ausgabe des In die Zeit vor Mendelsohns Amtsan- Textes 1832, freilich mit Klavierbeglei- tritt fällt die Komposition von Norbert tung7. In Wien hat sich hingegen auch Burgmüller zu Immermanns „Epilog eine (handschriftliche) Fassung mit be- zu Goethes Trauerfeier“, die aber ver- gleitenden Holzbläsern erhalten sowie schollen ist, ebenso wie die von Burg- in München ein für die Aufführungspra- müller ein Jahr später angefertigte Mu- xis unisono komponierter Stimmensatz sik zu Immermanns Festspiel „Albrecht für Männerchor. Dürers Traum“5 und die von Julius Rietz Erwähnenswert von den vertonten angefertigte Musik zu Immermanns Texten Immermanns ist noch das Lied Festspiel „Das Mädchen aus der Frem- „Abschied“ von Louis Dahmen. Weil de“ von 1836.6 es im Katalog der Russischen Natio- nalbibliothek verzeichnet ist, schien es 4 Werner Deetjen, Immermann’s Bearbeitung bis vor kurzem in Moskau greifbar, war des „Sturm“ als Operntext, in: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 57, 1921, 7 Greifbar über die freie Notendatenbank http:// S. 65 - 76. imslp.org unter Mendelssohn und „2 Songs WoO 18“, allerdings mit falscher Jahresangabe. Siehe 5 Siehe hierzu die Aufstellung der einzelnen hierzu auch die Münchener Dissertation von Aufführungen bei Volker Frech: Lebende Bilder Rebecca Rosenthal, Felix Mendelssohn Barthol- und Musik am Beispiel Düsseldorfer Kultur (Ma- dys Schauspielmusiken, Frankfurt et. al. 2008 gisterarbeit Köln 1999). (besonders Kapitel 3: Frühe Schauspielmusik in 6 Iim Januar 2012 hat der Autor in Düsseldorf Düsseldorf und Leipzig, S. 85-146 und die Ana- ein vollständiges Text-Exemplar hierzu entdeckt, lyse des „Todesliedes“ auf S. 128-129) und die das der Immermannforschung bisher unbekannt Rezension des Autors im Immermann-Jahrbuch war. 2012. NC17 Seite 28 aber dort leider nicht auffindbar. Ein existiert nach bisherigen Recherchen Exemplar von Julius Schneiders „Wie- keine Vorlage von Immermann. Vermut- genlied“ hingegen hat sich in London lich beruht die Zuschreibung an Immer- erhalten. mann auf einem Irrtum, da dieser 1828 Die Wirkung von Julius Rietz im Hin- „Das Trauerspiel in Tyrol“ dichtete, das blick auf Vertonungen von Texten Im- später zum „Andreas Hofer“ umgearbei- mermanns ging über dessen Tod hin- tet wurde, in dem allerdings keine sol- aus, weil er dazu viele Kompositionen che Zeile vorkommt. Musikalisch sind anregte, so z. B. die Vertonung von sowohl Melodie als auch Chorbearbei- „Sängers Glück“ durch Niels W. Gade. tung ein Unikum, denn die Vertonung Wie so oft hat Gade auch diese Vorlage steht dem Volkslied (in heutiger Bedeu- für vierstimmigen Männerchor gesetzt.8 tung) sehr nahe – und in der Tat gibt es Zwei im Kompositionsverzeichnis diverse Aufnahmen von sogenannten noch nicht erfasste Chormusiken sind „Stars der Volksmusik“. Erwähnens- sehr unterschiedlich zu werten. Für das wert unter den kleineren Kompositio- von Julius Cornet angeblich 1827 nach nen für Chor nach Immermannvorlagen Vorlage Immermanns komponierte und ist noch die Vertonung des Textes „Die von Herbert Walles als Chorsatz aus- Geschwister“ von einem Komponisten geführte Stück „Ein Tiroler wollte jagen“ namens Julius Maier. Diese ist jedoch 8 Nr. 2 der „5 Gesänge für Männerchor“, greifbar qualitativ - textlich wie musikalisch - über „Gade“ ebenfalls in http://imslp.org. nicht wirklich interessant. NC17 Seite 29 Eine weitere musikalisch weitaus in- helm von Merckel, der den Namen „Im- teressantere Komposition nach Immer- mermann“ gelegentlich als Pseudonym mann für Chor ist „Die schönste Rose, benutzte. die da blüht“ von Robert Fuchs9. Robert Unter den neu aufgefundenen grö- Fuchs war Professor in Wien, und un- ßeren Werken zu Texten Immermanns ter seinen Schülern waren so bedeu- ist das achtzigminütige Singspiel „Die tende Komponisten wie Hugo Wolf, schelmische Gräfin“ von Albert Ziegler- Franz Schreker, , Franz Strohecker, das anscheinend nur in Schmidt und Jean Sibelius. zwei Klavierauszügen in Basel überlebt Eine Lied-Neuentdeckung, die im hat, eindeutig das bedeutendste, leider Vertonungsverzeichnis nachzutragen enthält es keinen Chor, sondern wird wäre, findet sich eine Vertonung von von fünf Solisten gesungen. Dies ist Gustav Müller-Brah (op. 39, Nr. 3), die die einzige Vertonung eines Lustspiels sich ebenfalls dem Text „Die schönste von Immermann10 und trotz seiner stim- Rose, die da blüht“ widmet. Das einzi- mungsvollen, durchkomponierten, also ge bekannte Exemplar befindet sich in opernhaften Anlage bisher noch nicht der Zentralbibliothek Zürich. Als zweite zur Aufführung gelangt, obwohl das Neuentdeckung ist eine Komposition Stück diese sicher verdient hätte. von Max Linienau des Textes „Wer hat 10 Die im Verzeichnis als Vertonungen von Recht?“ (op. 116, Nr. 2) zu nennen. Hier Immermanns „Tulifäntchen“ angegebenen allerdings muss betont werden, dass Werke haben sich leider als Irrtümer erwiesen. dieser Text zwar unter dem Namen „Im- Sie beziehen sich zwar auf Immermann, schon durch die Namensgebung sowie auch etwa mermann“ veröffentlicht wurde, aber durch die Komposition eines Holzpuppenbal- nicht von ihm stammt, sondern von Wil- letts, welches sich wiederum auf Immermanns „hölzerne Gesellschaft“ aus dem frühen Roman 9 Ein Schüler von Otto Dessoff - siehe den Bei- „Die Papierfenster eines Eremiten“ bezieht, aber trag ab Seite 33 dieser Zeitschrift. diese Zusammenhänge sind lose und sehr vage. NC17 Seite 30 Musik zu „Andreas Hofer“ Gebrauchs einer das Lokalkolorit kenn- zeichnenden Zither. Das Oratorium Schon zu Immermanns Lebzei- dauert laut Angabe ca. 75 Minuten und ten entstanden noch Mendelssohns besteht aus 3 Akten (I. Die Schlacht am Schauspielmusiken zu Immermanns Berge Isel, II. Die Gefangennahme, III. „Andreas Hofer“ und zu Immermanns In Mantua) mit 14 Nummern (Nr. 7-10 „Alexis“. Die Musik zu „Andreas Hofer“ bilden den zweiten Akt). ist in Auszügen erst vor kurzem erst- Der Beginn ist durch eine ziemlich mals veröffentlicht und überhaupt be- düstere Einleitungsmusik gekennzeich- kannt geworden. Außer der Erwähnung net, in die dann der Chor der Tiroler ein- der Ouvertüre von Mendelssohn zu fällt: „Nächtlich düstre Schatten ringen Immermanns „Kurfürst Johann Wilhelm schwankend mit des Morgens Licht“, um im Theater“ ist in der Dissertation von danach den Freiheitswillen der Tiroler zu Rebecca Rosenthal erstmals das „Lied bekunden. Dann plötzlich hellt die Musik des Andreas Hofer“ abgedruckt (hand- auf, es wird Tag, und ein Mariengebet schriftlich auf den Seiten 122-123). Die erbittet den Sieg. Diese Nummer allein gesamte Musik soll demnächst im Rah- ist schon so großartig, dass man an men der Mendelssohn-Gesamtausga- eine separate Aufführung denken soll- be erscheinen. Ebenfalls interessant te. Abgeschlossen wird die Nr. 1 durch ist auch die Nummer 1 des Singspiels ein Gebet, das an den Pilgerchor aus „Andreas Hofer“ von Albert Lortzing Wagners Tannhäuser erinnert, ebenfalls „Zur Arbeit ruft der Morgen“ (LoWV 27). weitgehend a capella, ad libitum be- Das Singspiel ist als Vaudeville gekenn- gleitbar durch eine Orgel. Nr. 2 und Nr. zeichnet, so dass es nicht verwunder- 3 sind dem Kampfesaufruf Andreas Ho- lich ist, dass mindestens fünf der zehn fers an das Volk gewidmet, vom Aufbau Nummern plus Ouvertüre von anderen her eher einem Rezitativ ähnlich, durch- Komponisten stammen. Aber die Nr. 1 brochen von einigen Choreinwürfen. stammt tatsächlich von Lortzing und In Nr. 4 tritt nun erstmals die Zither in ist, da sie 1833 entstanden ist, sogar Erscheinung und unterstützt den hellen eine Komposition zu Lebzeiten Immer- Sopran des Anderl (bis zum hohen H!), manns. Leider ist sie ungedruckt, aber der in Jodelklänge des Chores mündet, in Coburg existiert eine Handschrift. was strophenmäßig wiederholt wird. Ein Am interessantesten aber für eine Tiroler meldet einen Hilferuf, Hofer ruft Neuaufführung ist ohne Zweifel das zu gemeinsamem Handeln auf, worauf- Oratorium „Andreas Hofer“ von Rudolf hin Anderl, nun deutlich das Tempo an- Werner aus dem Jahr 1910, wobei ziehend, noch zweimal und wieder vom durch kriegsbedingten Verlust nur der Chor unterstützt das Wort ergreift. Dem Klavierauszug greifbar ist. folgt der Aufbruch, eingeleitet durch Das Oratorium ist für Männerchor ge- die Trompeten der Franzosen, und es schrieben und verlangt neben einem kommt zur zunächst rein orchestral Baritonsolisten und zwei Sopranen geführten Schlacht (Nr. 5), aus der die (die Söhne der Widerständler Hofer Tiroler siegreich, die Franzosen als Ver- und Speckbacher) eine normale Or- lierer hervorgehen. Mit einem Jubelchor chesterbesetzung mit Ausnahme des auf Hofer (Nr. 6) endet der erste Akt. NC17 Seite 31 Akt 2 beginnt mit einer (harmonisch und für das Recht den Tod erlitten. Deß sehr interessanten) reflektierenden preiset dich, o starker Held, in Ewigkeit Arie Hofers vor der Alpenhütte, in die die Alpenwelt.“ sich Hofer nach der zweiten und dieses Überblickt man die sehr vielfältigen Mal verlustreichen Schlacht geflüch- Kompositionen zu Texten Immermanns tet hat. Dem schließt sich mit Nr. 8 ein im Ganzen, so ist dieses Oratorium tröstendes Duett zwischen Vater Hofer ohne Zweifel der Höhepunkt der hier und Sohn Hofer an. In Nr. 9 wird unter vorgestellten Vertonungen. Die Musik ist Zuhilfenahme eines alten frisch, aber nicht schräg, Textes, der von einem schon gar nicht rück- Unbekannten unter ein wärts gewendet, sondern Hofer-Gemälde geschrie- schlicht angemessen, ben wurde, das Heimat- zeitlos und eingängig, gefühl der beiden ge- ohne sich anzubiedern. festigt, aber am Schluss Es muss betont werden, durch die eindringenden dass es sich bei dieser Franzosen unterbrochen, Komposition trotz augen- die ankündigen, Hofer fälliger Nähe nicht um ein nach Mantua zu bringen Schlachtgemälde handelt. (Nr. 10 und Ende des 2. Vielmehr geht es um den Aktes). Ruf nach Freiheit und den Zu Beginn des dritten Kampf um Selbstbestim- Aktes halten wir inne, ein mung, zudem in historisie- orchestrales Vorspiel (Nr. render Form. Den einzi- Karl Leberecht Immermann 11) stimmt auf den in Nr. 1901/1940, gen Vorwurf, den man der 12 folgenden Chor der Bronze von Clemens Buscher, Vertonung machen könn- gefangenen Tiroler ein, Standort an der sog. Goltstein- te, ist der des stellenwei- die der Hinrichtung Ho- parterre im Hofgarten se übertriebenen Pathos, fers beiwohnen. Hofer gibt sich stolz aber diese Stellen finden immer inhalt- (er lässt sich nicht die Augen verbin- lich eine Rechtfertigung. Wenn also ein den) und befiehlt am Schluss scheinbar Chor einmal ein wirklich glanzvolles selbst die Gewehrsalven der Franzo- Stück aufführen möchte, dann kann ihm sen, die ihn töten. dieses weltliche Oratorium, von denen Den Abschluss des Oratoriums bil- es sowieso immer zu wenig geben wird, den zwei Chöre, die strukturell ähnlich nur ans Herz gelegt werden. sind und eigentlich zusammengehören. Der erste beweint Hofers Tod, zunächst Zum Autor: Dr. Thomas Miller ist in Bremen ge- unisono, dann leicht fugiert, aber immer boren und studierte in den achtziger leise, am Schluss sogar mit drei p. Der Jahren in Münster Philosophie und Schlusschor hingegen besingt laut den Musikwissenschaft. Seit 1996 ist er Stolz und die Hoffnung der Tiroler, um in Magdeburg tätig und Mitglied im mit den an Hofer gerichteten Worten zu Vorstand der hier 1990 gegründeten enden: „Du hast um deiner Heimat Hüt- „Immermann-Gesellschaft e. V.“. ten, ein Löwenherz, im Kampf erstritten NC17 Seite 32 * Felix Otto Dessoff : in Düsseldorf verliebt – in Wien gefeiert – in Chemnitz und Karlsruhe erforscht Zusammengetragen von Georg Lauer Die Chronik des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf - vom Vorsitzenden Manfred Hill unter dem Leitgedanken: Lebenslauf: Geschichte - Daten – Episoden in jahrelanger akribischer Recherche zusammengestellt - ist in vieler Hinsicht eine Fundgrube. Die Einträge sind je nach Quellenlage sehr ausführlich oder auch kurz und bündig: Wer sie auf der Internetpräsentation des Musikvereins unter www.musikverein-duesseldorf.de – durch Eingabe von Jahreszahlen oder Stichworten – suchend und lesend erschließt, entdeckt mitunter Verbindungen zur eigenen Chronik. Die Geschichte von Felix Otto Dessoff ist so eine. 1833 an seine Eltern schreibt, schließt In Düsseldorf verliebt... den Chronikeintrag vom 19.12.1833 Chronikeintrag: ausführlich ... wie folgt ab: Der 24-jährige Felix Mendelssohn Bartholdy hatte im Mai 1833 das tra- „Nachdem also der grand scandale ditionsreiche dreitägige Niederrheini- angefangen hatte, der Vorhang drei- sche Musikfest u.a. mit der deutschen mal gefallen und wieder aufgezogen Erstaufführung von Händels „Israel in worden war, nachdem sie das erste Ägypten“ überaus erfolgreich geleitet Duett des 2ten Acts durchgesungen und danach die Stelle des Städtischen hatten, ohne vor Pfeifen, Trommeln Musikdirektors angenommen. Damit und Brüllen gehört worden zu sein, oblag ihm die Leitung der Konzerte im nachdem sie dem Regisseur die Zei- Beckerschen (vormals: Jansenschen) tung aufs Theater geworfen hatten, Gartensaal, die Gestaltung der Kir- damit er sie vorlesen solle, und der chenmusik an St. Lambertus und St. darauf sehr piquirt weggegangen Max sowie die Aufführung von Opern war, und der Vorhang zum 4ten male am Stadttheater, das unter der Direkti- fiel, wollte ich meinen Stock hinlegen, on von Karl Immermann stand. oder ihn wahrhaftig lieber den Kerls Im Dezember 1833 leitete Mendels- an den Kopf schmeißen - FMB". sohn hier Mozarts „", die Regie hatte Georg Meisinger. … oder kurz Der ausführliche Chronikeintrag zu 26.4.1834 Das Düsseldorfer Stadt- diesem Tag hält fest, dass dieses Opern- theater erlebte mal wieder einen engagement Anfang und Ende der Zu- Theaterabend unter der musikali- sammenarbeit mit Immermann war. schen Leitung von Felix Mendels- Trotz des Skandals wurde die Auffüh- sohn Bartholdy: rung am 23.12.1833 wiederholt. Karl Leberecht Immermann: „And- Der Brief, den Felix am 28. und 29.12. reas Hofer" - Musik zum Stück von Felix Mendelssohn Bartholdy * Im Folgenden wie in anderen Veröffentlichungen meist nur Otto Dessoff, in Familienchroniken auch … oder mit Details aus einem ... Felix Otto Dessoff genannt. NC17 Seite 33 12.5.1834 Felix Der Geiger und Komponist Mendelssohn Hubertus Ries war der Bartholdy Veranstalter eines Konzertes im Kasinosaal unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy mit folgendem Konzertprogramm Programm: zum o.g. Chroniktag. Hubertus Ries: Sinfonie c-Moll Sopranarie aus der Oper „Sargino ossia Zur Jahreszahl 1818 mit dem Stich- L'allievo dell'amore“ von Ferdinando Paër wort „Stadtgeschichte/Vereinsle- (1803) ben“ findet man folgenden Eintrag: Hubertus Ries: Violinkonzert (Bild): Potpourri für die Violine Der Staat Preußen übergab das (auf Themen aus „Jessonda") Lieder mit Klavier-Begleitung und obligater 1747 eröffnete kurfürstliche Ko- Klarinette für Sopran mödienhaus an die Stadt zur Ludwig van Beethoven: Sonate A-Dur op. 47 Verwendung als Stadttheater und für Pianoforte und Violine („Kreutzer-Sonate") somit auch zur Nutzung als einer Juliette Meisinger, Sopran der Aufführungsorte für die ersten Hubertus Ries, Violine Konzerte des Musikvereins. Nach Felix Mendelssohn Bartholdy, Klavier Derossi betrieb in diesem Theater in den Jahren 1834-1837 Karl Le- Le Gaye3, der am Hof von Jérôme Bona- berecht Immermann seine deutsche parte in als Kapellmeister diente. Musterbühne, und es war eine der Ihre jüngere Schwester Constanze4 debü- Wirkungsstätten von Felix Mendels- tiert bereits 1821 am Düsseldorfer Thea- sohn Bartholdy in Düsseldorf. ter in der Rolle des „Donauweibchens“5. Neben diesen großen Namen der 1828 sitzt sie Wil- damaligen Musik- und Theaterwelt helm von Schadow möchten wir an dieser Stelle auf Modell, als er die die Familie Meisinger hinweisen, berühmte Illustra- die eine nicht unbedeutende Rolle tion „Mignon“ zu über Jahrzehnte in der Düsseldorfer Goethes Roman- Musik- und Theaterszene spielte. figur aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ Die Familien Meisinger/Le Gaye schafft. Georg Meisinger1 ist von 1833- 1835 an der Immermannschen Mus- 3 *1765, †1813 in Kassel, erliegt einem Herzanfall, terbühne in Düsseldorf als Tenorbuffo als nach der Niederlage Napoleons in der Leipziger für komische Opern engagiert, seine Völkerschlacht die Hofoper aufgelöst wird und er Ehefrau Juliette2 tritt hier - mitunter Kassel fluchtartig verlassen muss. von Felix Mendelssohn Bartholdy am 4 *12.6.1814 in Kassel, †26.3.1894 in München Klavier begleitet - auch als Sängerin 5 Romantisch-komisches Volksmärchen (1798) von auf; sie ist die Tochter von Charles Karl Friedrich Hensler, Direktor am Theater an der Wien, Quelle: http://othes.univie.ac.at/10407/1/2010 1 * 1802 in Regensburg, †1866 -06-23_9310905.pdf - Diplomarbeit Anita Aichinger 2 * 1809, heiratet 1830 Georg Meisinger (Mag.phil.). NC17 Seite 34 Nach Jahren der Wanderschaft kehrt der Regisseur, Schauspieler und Chor- direktor Georg Meisinger 1855 zusam- men mit seiner Frau Juliette, seinem Bruder Joseph und seiner Tochter Friederike6 nach Düsseldorf zurück. Als Direktor des Stadttheaters holt er 1856 den Julius-Rietz-Schüler und Absolventen des Leipziger Konserva- toriums Otto Dessoff nach Düsseldorf, der hier die Leitung der Opernsparte des Hauses übernimmt und Opern von Wagner, Mozart und Weber dirigiert.

Eine Romanze bahnt sich an, der Beginn einer Karriere Die 15-jährige Friederike Meisinger tritt als Schauspielerin am Stadttheater wie ihre Mutter eine künstlerische Lauf- Foto: Friederike Rosalie Dessoff, geb. Meisinger bahn an. Sie spielt jugendliche Liebha- Quelle: http://www.edmundbrownless2.de/ berinnen in Stücken von Lessing und margaretedessoff2.html Schiller und tritt in komischen Opern und des Theaters übernimmt. Felix zieht auf Singspielen auf. Der 21-jährige Kapell- der Suche nach einer Anstellung, die es meister Felix Otto Dessoff begegnet ihr ihm gestattet, einen Hausstand zu grün- nicht nur auf der Bühne, sondern auch den, schon nach der Sommerspielzeit im Hause seines Direktors Meisinger, im Herbst 1858 nach Magdeburg weiter. wo man den zurückhaltenden Sach- Die Verhältnisse am dortigen Theater sen jederzeit gerne willkommen heißt stellen ihn musikalisch nicht zufrieden, und umsorgt. Die jungen Leute finden und nach einem Jahr wechselt er als Gefallen aneinander und verlieben sich, zweiter Kapellmeister an den kurfürstli- auch die Eltern Meisinger begleiten die chen Hof von Kassel, wo ihn der rege sich anbahnende Verbindung mit Wohl- Opernbetrieb zur Entfaltung kommen wollen. Im Februar 1858 wird Verlobung lässt. gefeiert, der jugendliche Komponist wid- Unerwartet erhält der erst 24jährige met seiner noch nicht ganz 17jährigen 1859 die Einladung zu einem Probedi- Braut die „Drei Clavierstücke“ op 27. rigat an die Wiener Hofoper, wo er aus- Das Ensemble Meisinger-Dessoff wendig (!) die fünfstündige (!) Fassung bleibt zusammen, als es 1858 nach drei von Rossinis „Wilhelm Tell“ leitet. Das Spielzeiten weiter nach Aachen zieht bringt ihm an diesem renommierten und Vater Meisinger dort die Direktion Haus das Amt des Kapellmeisters ein, das er zum 1. Januar 1860 antritt. Noch 6 *16.5.1841 Wiesbaden, †27.12.1907 Frankfurt im gleichen Jahr wird er auch zum stän- 7 Erschienen auf CD „Klaviermusik Karlsruher digen Abonnementdirigenten der Phil- Komponisten“ mit Sontraud Speidel, Antes harmonischen Konzerte gewählt. Edition BM-CD 14.9001 (SDR) (2 CDs) NC17 Seite 35 seiner Hochzeit mit Emma Herzfeld, in der Thomas-Kirche zu Leipzig evange- lisch-lutherisch taufen. Ihm gelingt es, als Geschäftsführer mit seiner Frau auf dem Brühl8 einen Tuchhandel mit gleichen Rechten und Privilegien zu betreiben wie die Geschäftsleute in seiner Umgebung. 1833 wird Tochter Clara, zwei Jahre später Sohn Felix Otto geboren. Der wird an seinen Vater kaum Erinnerungen haben, stirbt dieser doch schon drei Jahre später. Der Ein- fluss auf die musikalische Entwicklung des Knaben wird um so stärker von der Mutter als passionierter Pianistin aus- gegangen sein, die auch regen Anteil am Kunst-, Theater- und Musikleben der Stadt nahm. Wahrscheinlich zählte sie auch zu den Gästen im Hause von Otto Dessoff, unbezeichnete Fotografie, Ge- Carl Voigt, der mit seiner Frau Henri- schenk des Dirigenten an Graf Victor Wimpffen ette musikalische Soireen und Haus- für dessen Autografensammlung, Wien 1873. (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) konzerte arrangierte, bei denen ihre Freunde Robert Schumann, Ludwig Ein Jahr später heiratet er seine nun Schuncke9 und Felix Mendelssohn 20jährige Verlobte Friederike. Das Paar Bartholdy auftraten. wird fünf Kinder und zahlreiche Uren- Ersten Musikunterricht erhält Felix kel haben, einer von ihnen wird eines Otto von seiner Mutter, und mit 14 Tages die Geschichte seines Urgroß- Jahren ist der musikbegeisterte und vaters Otto Stück für Stück erforschen, begabte Knabe entschlossen, Musi- publizieren und auch nach Düsseldorf ker zu werden. Bei einem Besuch in weitertransportieren... Weimar spielt er vor, der diese Entscheidung mit der überliefer- ten Empfehlung an die Mutter so aus- In Wien gefeiert... drückt: „Madame, lassen Sie diesen da nur Die Anfänge ruhig Musiker werden, wir werden es Felix Otto Dessoff wird am 14. Januar alle drei nicht bereuen.“10 1835 in Leipzig als drittes Kind einer 8 Der Brühl, eine der ältesten und bedeutend- jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, sten Straßen in Leipzig, trug wesentlich zum es ist das Jahr, in dem der 26jährige Weltruf als Handelsmetropole bei. Felix Mendelssohn Bartholdy Gewand- 9 Gründete 1834 mit Schumann die „Neue Zeitschrift für Musik“. hauskapellmeister wird. Der Vater, Jahr- 10 im Briefwechsel mit Otto gang 1796 und Tuchhändler aus Bres- Dessoff, hrsg. von Carl Krebs, Berlin 1922, lau, lässt sich 1832, zwei Jahre nach Reprint: Tutzing 1974, S.113/114 NC17 Seite 36 Dessoff ist 16 Jahre, als er 1851 Schüler des Leipziger Kon- servatoriums wird. Seine Lehrer in Komposition, Klavierspiel und Dirigieren sind der Thomas- kantor , der Komponist und Pianist sowie der Kompo- nist, Cellist und Dirigent Julius Rietz. Nach nur dreijähriger Ausbildung tritt er 1854 als The- aterkapellmeister in Altenburg, Staatsoper Wien Foto: Wikipedia Chemnitz, Düsseldorf, Aachen und Magdeburg in die musikalische Idee“ bewahrt hat: nur ein im Orchester Praxis ein, ehe er 1859 in Kassel diese der Wiener Hofoper (heute Staatsoper) Theaterwanderjahre beenden kann. Hier engagierter Künstler kann Mitglied der erreicht ihn die Einladung nach Wien. Wiener Philharmoniker werden! Mit seinem sensationellen „Wilhelm- Das Orchester der Wiener Hofoper Tell“-Probedirigat am 23. September Die Wiener Philharmoniker 1859 hat Dessoff die Stelle des Hof- Bis 1842 besitzt auch Wien kein aus opernkapellmeisters erobert. Dass er - Berufsmusikern bestehendes Konzert- obwohl erst 26 Jahre alt und Ausländer orchester. Der Bedarf an Aufführungen - nur ein Jahr später am 26. September symphonischer Werke wird durch jeweils 1860 gegen den als Favorit angesehe- eigens zusammengestellte Ensembles nen langjährigen Konzertmeister Joseph gedeckt. Orchester, die ausschließlich Helmesberger mit 62 gegen 14 Stimmen aus Berufsmusikern bestehen, gibt es auch die Wahl zum neuen Leiter der Phil- damals nur in den Theatern. harmonischen Konzerte gewinnt, kommt Im Jahre 1841 wird (1810 - ebenso überraschend. Helmesberger 1849) als Kapellmeister an das Kärnter- verlässt das Orchester, kehrt jedoch tortheater, dem Vorgängerbau der 1869 schon 1861 nach einem Kammerkon- eingeweihten Wiener Hofoper berufen. zert mit Dessoff auf seinen alten Posten Gedrängt von führenden Persönlichkei- zurück: er erlebt den jungen Dirigenten ten aus dem Musikleben Wiens, greift er auch als vorzüglichen Pianisten, Kam- die Idee Lachners11 auf und dirigiert am mermusiker und Liedbegleiter! 28. März 1842 im Großen Redoutensaal Nachdem Otto Nicolai Wien 1847 ver- ein „Großes Concert“, das vom Orches- lassen hat, finden bis 1860 nur zehn Kon- terpersonal des k.k. Hofoperntheaters zerte statt. Das ändert sich mit der Wahl veranstaltet wird. Diese „Philharmoni- Otto Dessoffs, sein erstes Abonnement- sche Academie“ gilt als die Geburts- konzert leitet er am 4. November 1860 stunde des Orchesters, das bis heute mit Werken von Mendelssohn Bartholdy, sein Prinzip der „Philharmonischen Mozart, Schumann und Spohr mit größ- tem Erfolg, mehr als 120 weitere werden 11 Franz Paul Lachner (1803 bis 1890), Kompo- nist und Dirigent. in den nächsten 15 Jahren folgen. NC17 Seite 37 Dreimal stand der Chor des „Mu- sikvereins“, wie die Gesellschaft der Musikfreunde ihren wunderbaren Konzertsaal, aber auch sich selbst bezeichnen, zusammen mit den Philharmonikern bei der Darbietung von Beethovens 9. Sinfonie unter der Leitung von Otto Dessoff: zum ersten Mal am 17.12.1870 zum 100. Geburtstag des Komponisten, dann zur Jahreswende am 29.12.1872 und auch beim Konzert zur Welt- Musikverein Wien Foto: privat ausstellung in Wien am 11.05.1873. Neben den Wiener Klassikern Mit den beiden Positionen im Rücken Haydn, Mozart und Beethoven setzt er kann Dessoff am 12. Oktober 1861 sich auch für den hier noch unbekann- nach dreijähriger Wartezeit seine ten Schumann ein und bringt - oft erst- Verlobte Friederike Meisinger heira- mals - Werke lebender Komponisten wie ten. Noch im gleichen Jahr kommt Brahms, Gade, Goldmark, Liszt, Reine- eine dritte Aufgabe auf ihn zu: er wird cke, Rubinstein oder Wagner zur Auffüh- Professor für Kompositionslehre am rung. 1871 dirigiert er die „Meistersinger“ Konservatorium der Gesellschaft der und besucht 1876 die ersten Bayreuther Musikfreunde Wien. Zu seinen Schü- Festspiele. lern gehören dort u.a. die Komponisten Während dieser Zeit lernt Dessoff auch Ignaz Brüll, , Heinrich von Brahms kennen, schon 1853 waren sich Herzogenberg und Richard Heuberger die beiden flüchtig in Leipzig begegnet. sowie die Dirigenten , Arthur Auch für dessen noch keineswegs aner- Nikisch und . Anton kannte Werke setzt er sich tatkräftig ein, Bruckner legt am 21. November 1861 als erstes bringt er am 8. März 1863 die 2. seine Orgelprüfung vor ihm ab. Serenade A-Dur op. 16 zu Gehör. Sechs Zwischen 1860 und 1875 erweitert Jahre später lehnen die Philharmoniker Otto Dessoff das Repertoire und sorgt bei einer Probe die 1. Serenade D-Dur op. für administrative Änderungen, dar- 11 von Brahms ab, worüber Dessoff so in unter für den Umzug des Orchesters Wut gerät, dass er mit dem Taktstock die in den „Goldenen Saal“. Diesen hatte Partitur durchbohrt und davonläuft. Den- die 1812 gegründete Gesellschaft der noch kommt es am 12. Dezember 1869 Musikfreunde in Wien als neuen Kon- zu einer Aufführung unter der Leitung zertsaal errichtet und 1869 eingeweiht. des Komponisten, weil Dessoff mit seiner Bis heute ist das Haus die wichtigste Demission droht. Am 22. Januar 1871 Wirkungsstätte für die Wiener Philhar- spielt Brahms sein Klavierkonzert d-moll moniker und seinen 1858 gegründe- op. 15 unter Dessoffs Leitung. ten Zweigverein, den Wiener Singver- Nach Misshelligkeiten mit seinem ein.12. ehrgeizigen, aber beim Publikum sehr 12 http://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Philharmoniker NC17 Seite 38 beliebten Kollegen Johann Herbeck13 sche Konzerte und viele weitere, dar- wechselt Dessoff 1875 als Hofkapell- unter am 13. November 1870 auch das meister nach Karlsruhe. In den Jahren erste Abonnementkonzert überhaupt seines Dirigats hat Dessoff die Wiener im Goldenen Saal des 1870 fertigge- Philharmoniker zum ersten Orchester bauten Musikvereinsgebäudes.... der Welt geformt. Unter Dessoffs Leitung brachten die Sein letztes Philharmonisches Kon- Wiener Philharmoniker 265 Werke, zert dirigiert er am 4. April 1875, ihm zu dabei über 200 Neuheiten und einige Ehren wird am 11. April ein Sonderkon- Uraufführungen zu Gehör, z. B. Hän- zert angesetzt, in dem er u.a. Beetho- dels „Wassermusik“, Raffs Klavier- und vens 9. Symphonie leitet. Bruchs Violinkonzert, Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre C-Dur und die In Chemnitz und Karlsruhe 14 erforscht... Ouvertüren „Medea“ von Bargiel und „Sakuntala“ von Goldmark, Rubinsteins Januar 2010: 2. Sinfonie, Reineckes Sinfonie A-Dur; 175 Jahre Otto Dessoff unvergessen auch „Tasso“ von Liszt Die Wiener Philharmoniker erinnern und die Serenade Nr.1 op. 11 und Nr. in ihrem 5. Abonnementkonzert am 9. 2 op. 16 von Brahms. Ein besonderer und 10. Januar 2010 an Otto Dessoff, Höhepunkt war auch die Uraufführung der vor 175 Jahren geboren wurde. der „Haydn-Variationen“ op. 56a von Daniel Barenboim dirigiert Beethovens Brahms, die der Komponist in Dessoffs 6. Sinfonie, op. 68 und Schönbergs Fünf erstem Abonnementkonzert der Saison Orchesterstücke, op. 16 sowie die Vari- 1873/74 selbst dirigierte. ationen für Orchester, op. 31. Im Pro- grammheft veröffentlicht der in Chem- Ehrenstab zum 100. und das nitz lebende Nachfahre Dessoffs, Ger- Erste Salzburger Musikfest hard Albert Jahn, die Geschichte seines ...Dessoff leitete vom 17. zum 19. Juli Urgroßvaters, aus der wir nachstehend 1877 mit dem denkwürdigen Ersten einige Passagen wiedergeben dürfen, Salzburger Musikfest das erste Gast- im Folgenden kursiv angelegt: spiel der Wiener Philharmoniker außer- halb Wiens. Dieses gilt heute als der Architekt der Philharmoniker Vorläufer der Salzburger Festspiele, die Dessoff, der in die Geschichte der sich erst 43 Jahre später etablierten. Wiener Philharmoniker als „der Archi- Dessoff wurde dafür vom Mozarteum tekt ihres künstlerischen Aufstiegs bis Salzburg zum Ehrenmitglied ernannt. zur Weltspitze“ einging, führte das Or- ... chester als ihr erster langjähriger Di- Mit großem Weitblick führte er die rigent. Er dirigierte ab 1860 innerhalb künstlerische und organisatorische von 15 Jahren über 120 Philharmoni- Aufbauarbeit des Orchesters. So ge- hen auf ihn auch u. a. die Weiterent- 13 Begründet 1858 im Auftrag der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien den Wiener Singver- wicklung der Geschäftsordnung und ein, 1863 wird er Mitglied der Hofmusikkapelle der Aufbau des Notenarchivs zurück. und ist ab 1866 Hofkapellmeister, von 1869 bis 1875 ist er Kapellmeister der Wiener Hofoper 14 Woldemar Bargiel (1828 bis 1897), deutscher beziehungsweise von 1870 bis 1875 ihr Direktor. Komponist und Stiefbruder von Clara Schumann. NC17 Seite 39 Er war es, der damit den Grund- 1862 Gounods „Margarethe“, 1865 stock zu dem großen Archiv legte, Langerts „Des Sängers Fluch“, das heute im Museum der Wiener Lortzings „Waffenschmied“ und Philharmoniker im Haus der Musik Meyerbeers „Dinorah“ und 1874 Wien seinen Sitz hat. Schumanns „Genoveva“. Am 29. Dezember 1873 über- Besonders trat er z. B. mit Au- reichten ihm die Philharmoniker bers „Die Stumme von Portici“, zu seinem 100. Philharmonischen Halévys „Jüdin“ und Cherubinis Konzert einen Ehrenstab aus „Wasserträger“ als Dirigent des schwarzem Ebenholz, um den sich französischen Faches in Wien in ein Silberband mit den eingravier- Erscheinung. Aber auch für Wag- ten Worten schlang „Dem genialen ners „Tannhäuser“ und „Meister- Dirigenten“... singer“, Webers „Euryanthe“ oder Als Dessoff Wien verließ um nach Rossinis „Italienerin in Algier“ und Karlsruhe zu wechseln, verab- „Wilhelm Tell“ erhielt er vom Publi- schiedeten ihn „seine“ Philharmo- kum viel Beifall und Anerkennung niker am 11. April 1875 im Großen und konnte in den Zeitungen sehr Musikvereinssaal mit einem Son- viel Lob ernten. ... derkonzert und Beethovens Neun- Häufig verlegte Dessoff seine ter, das ein extra gebildetes Fest- Gespräche mit den Komponisten, komitee organisiert hatte, bei dem die extra zur ersten Aufführung ih- es hinterher Kränze, minutenlange res Werkes angereist waren, in die Ovationen und Ehrengeschenke Privaträume seiner Wohnung. Mein gab. Das Morgenblatt der Neuen Großvater erzählte meiner Mutter, Freien Presse berichtete darüber, wie er als Kind dabei sogar manch- dass das „wohl die herzlichste und mal am Türspalt lauschen konnte, imposanteste Demonstration [war], wenn sich z. B. Clara Schumann, die je ein Capellmeister in Wien er- Johannes Brahms, Franz Liszt lebt hat.“ oder Charles Gounod mit seinem Vater Otto Dessoff über die Auffüh- Die Ära Dessoff an der rungspraxis unterhielten, manchmal so- Wiener Hofoper gar erregt stritten, bestimmte Stellen am Auch an der Wiener Hofoper, sowohl Klavier ertönen, „aber immer das Gute am Kärtnertortheater, als auch ab 1869 siegen“ ließen. Insbesondere war mein im neuen Haus am Ring, leitete er als Großvater beeindruckt über die ehrwür- Kapellmeister erfolgreich mit „seltener dige Gestalt von Franz Liszt und dessen Routine, Geistesgegenwart und Aus- Spiel auf Dessoffs Klavier, sowie über dauer“ (Eduard Hanslick) fünfzehn Jah- die liebevolle, lustige Art von Johannes re lang ungezählte Opern-Vorstellun- Brahms gegenüber den Kindern. gen, darunter einige Uraufführungen, z. Besonders verbunden war Dessoff B. 1861 Rubinsteins „Kinder der Haide“, mit Charles Gounod. So studierte 1864 Offenbachs „Rhein-Nixen“ und Dessoff zusammen mit dem Komponis- 1875 Goldmarks „Königin von Saba“, ten die Wiener Erstaufführungen seiner sowie mehrere Erstaufführungen, z. B. Faust-Oper „Margarethe“ 1862 in der NC17 Seite 40 Erst- und 1870 in der Zweitfassung mu- Dessoff - ein Weggefährte von sikalisch ein und dirigierte deren Premi- Johannes Brahms eren, wobei ein Großteil der künstleri- ... schen Gespräche dazu noch nach den Brahms schätzte an Dessoff seine Proben in der Oper weiter in Dessoffs außerordentliche Tüchtigkeit und stilis- Haus geführt wurden. So auch 1868 tische Sicherheit und bewunderte die bei der Erarbeitung der viel gespielten Sorgfalt und Werktreue bei allen ihm Gounod-Oper „Roméo et Juliette“, bei anvertrauten Partituren. Bald entspann der der Tonsetzer ebenfalls während sich zwischen beiden ein freundschaft- der Proben in Wien weilte. Von der Pre- lich-privates Verhältnis. miere bis zu Dessoffs Wechsel 1875 Wenn der wortkarge, sich in seinen nach Karlsruhe wurden von „Roméo et innersten Gefühlen wenig nach außen Juliette“ 86 und von beiden Fassungen öffnende Brahms in schlechter Stim- der „Margarethe“ 176 Aufführungen in mung war, besuchte er die Familie Wien gegeben, die Mehrzahl davon mit von Otto Dessoff, die für ihn an jedem Dessoff am Pult. Sonntag nach dem Philharmonischen Konzert ein Gedeck bereithielt. Er toll- Dessoffs Wiener te mit den Kindern und freute sich über „Nebenbeschäftigungen“ die familiäre Wärme, die ihm entgegen- Dessoff war in Wien immens beschäf- strömte. Jedes Mal, wenn ich in den tigt. Neben seinem Opern- und philhar- handschriftlichen Erinnerungen von monischen Schaffen gab Dessoff auch Dessoffs Schwägerin Emma Meisinger Unterricht, sowohl am Konservatorium, blättere, die das Geschehen beobach- ..., als auch privat. tet hatte, kann ich mir die heitere Situ- Nur ein Jahr nach seinem Debüt berief ation bildlich gut vorstellen, wenn ich ihn 1861 der neue Direktor der Hofoper lese, dass „der blonde Johannes auf al- Matteo Salvi in sein Direktionskomitee, len Vieren als Pferd durch das Zimmer das den Chef des Hauses in künstleri- kroch.“ Mein Großvater Albert, im zarten schen Fragen beraten sollte. 1864 wur- Alter von vier Jahren, sei auf den Rü- de Dessoff der neue Mann am Pult der cken von Brahms geklettert, und sein Wiener Singakademie, gab die Leitung zwei Jahre älterer Bruder Felix wäre mit aber wegen Zeitnot bald wieder ab. der Peitsche und der Leine in der Hand 1865 wurde er Mitglied eines Beirats, in der Kutscher gewesen. „Nun ging die dem er sich z. B. 1872 mit Johannes wilde Jagd los. Alle Flügeltüren wurden Brahms für ein staatliches Stipendium geöffnet. Durch sämtliche Zimmer ging für Antonin Dvořák einsetzte. ... der fröhliche Zug. Und Brahms selbst Beim Bau des neuen Opernhauses war der Fröhlichste.“... am Ring, das 1869 feierlich eröffnet wurde, unterbreitete er mehrere kon- Dessoff geht von Wien nach krete bauliche Vorschläge für eine Karlsruhe Verbesserung der Akustik, für bessere ... Arbeitsbedingungen der Orchestermit- In Karlsruhe setzte Otto Dessoff glieder und für eine fachgemäßere Be- seine erfolgreiche künstlerische Tä- leuchtung des neuen Hauses. ... tigkeit fort. An der Hofbühne und im NC17 Seite 41 Konzert dirigierte er innerhalb von nur mir befreundete Karlsruher Musikwis- fünf Jahren über dreißig Ur- und Erst- senschaftler Joachim Draheim als sehr aufführungen, z.B. 1879 Weißheimers beachtlich wiederentdeckte und sich Oper „Meister Martin und seine Gesel- deshalb für ihre Veröffentlichung und len“, die Dessoff im Druck gewidmet CD-Einspielungen einsetzte, kann man ist, oder die Oper „Adam de la Halle“ sie in den Konzertsälen wieder hören, von Ernst Frank, sowie für Karlsruhe neuerdings auch im Radio.15 erstmalig Haydns „Oxford-Sinfonie“, Mozarts „Prager Sinfonie“ sowie die Dessoff - Brahms, nicht nur eine Opern „Der Widerspenstigen Zäh- Künstlerfreundschaft mung“ von Goetz oder „Die Folkunger“ In Karlsruhe wurde die freundschaft- von Kretschmar. Bei der Uraufführung lich-künstlerische Verbindung zwischen der „Neuen Liebeslieder-Walzer“ op. 65 Brahms und Dessoff noch enger. Bei- von Johannes Brahms begleitete er mit de gaben sich gegenseitig Rat, z. B. dem Komponisten zusammen vierhän- bei der Veröffentlichung von Liedern, dig vier Sänger der Karlsruhr Hofoper. tauschten ihre Anschauungen in per- In die Musikgeschichte ist Dessoffs sönlichen Gesprächen und in einem Karlsruher fünfjähriges Wirken jedoch intensiven Briefwechsel aus und boten eingegangen mit der Uraufführung der sich das „Du“ an. Krönung dieser Ge- 1. Brahmssinfonie durch ihn. meinsamkeit war die Uraufführung der Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Johan- Dessoff als Komponist nes Brahms am 4. November 1876, die Endlich blieb Dessoff in Karlsruhe der Komponist Dessoff mit den Worten auch wieder mehr Zeit für eigenes kom- anvertraut hatte: „Es war mir nämlich positorisches Schaffen. Dessoff hat nur immer ein heimlich lieber Gedanke, das wenige Werke komponiert, aber alle Ding zuerst in der kleinen Stadt, die ei- geprägt von feinem Geschmack und nen guten Freund, guten Capellmeister erstklassiger Musikalität: eine Sinfonie, und gutes Orchester hat, zu hören.“ In eine Violinsonate, zwei Klavierwerke, den Tagen der Einstudierung mit dem zwei Streichquartette, ein Streichquin- Orchester, bei der Dessoff auf die end- tett, 33 Lieder und ein Heft Chöre. Viel gültige Gestalt der Sinfonie nicht ge- davon entstand in Karlsruhe und wurde ringen Einfluss nahm, wohnte Brahms dort uraufgeführt, so z. B. sein Streich- bei Dessoff und genoss, wie schon in quartett op. 7, dass er Johannes Brahms Wien, die angenehme häusliche Stim- widmete, sein Streichquintett op. 10 mung in der Dessoffschen Familie. Un- und mehrere Lieder. Die Zuhörer waren ter Dessoffs Leitung gestaltete sich die von seiner Musik begeistert. Man urteil- Uraufführung zu einem grandiosen mu- te, dass sie in ihrem Klang, dem Ide- sikalischen Ereignis, das weit über die enreichtum und ihrer handwerklichen Stadtgrenzen hinaus strahlte. Virtuosität den Vergleich mit Schumann oder Brahms nicht zu scheuen braucht. 15 zuletzt am 1.12.2011 im Klassikforum von WDR 3 bei der Ausstrahlung des Brahms gewid- Trotzdem gerieten seine Werke im 20. meten Streichquartetts op. 7 mit dem Mandelring Jahrhundert völlig in Vergessenheit. Quartett, erschienen auf CD „Brahms und Zeit- Erst neuerdings, nachdem sie der mit genossen III“ bei AUDITE 97.505. NC17 Seite 42 Dessoff eröffnet das Frankfurter Opernhaus Mit Mozarts „Don Giovanni“ dirigierte Dessoff am 20. Oktober 1880 zur Eröff- nung des neuen Frankfurter Opernhau- ses das Festkonzert. Damit gelang ihm in Frankfurt am Main etwas, wohin man ihn aus Karlsruhe als Ersten Kapell- meister des neuen Hauses inzwischen berufen hatte, was ihm in Wien bei der Einweihung der neuen Oper am Ring verwehrt war. Die Presse charakteri- Frankfurt Foto: Stadt Frankfurt sierte sein Debüt mit den Worten: „Ein des Theaterorchesters, bei denen er Feldherr, der einem Heer von Tönen sich auch als brillanter Konzertdirigent gebietet und des Sieges sich gewiss vorstellen konnte, eingefahrene Glei- ist.“ se zu verlassen, Konzerttraditionen zu In Frankfurt, Dessoffs letzter Wir- durchbrechen und den Frankfurtern zu kungsstätte, widmete er sich mit der neuen konzertanten Musikaufführun- ganzen Gewissenhaftigkeit seines ihm gen zu verhelfen. Sein erstes Abon- eigenen künstlerischen und mensch- nementkonzert am 7. Oktober 1891 lichen Wesens seinen neuen großen mit Beethovens Leonoren-Ouvertüre, Aufgaben. Unentwegt belebte er auch Spohrs Violinkonzert Nr. 9, Vieuxtemps hier das Repertoire mit mehreren Ur- Adagio und Rondo, einer Ouvertüre aufführungen, z. B. der Opern „Das Kä- von Berlioz und der 6. Sinfonie von thchen von Heilbronn“ von Reinthaler Schubert war total ausverkauft und oder „Alona“ von Hill, und mit über 20 erhielt, wie erwartet, in allen Punkten Erstaufführungen von Bühnenwerken, außerordentlich gute Kritiken. Jedoch so von Beethoven, Goldmark, Verdi, Bi- folgten nur vier solche Konzerte unter zet, Massenet, Mozart, Offenbach und seiner Leitung. vielen anderen, darunter für die Main- Unerwartet riss ihn am 28. Oktober stadt erstmals den kompletten „Ring“ 1892 - erst 57jährig - der Tod mitten von Wagner und die deutschen Erstauf- aus seiner Arbeit. An seinem Begräb- führungen der Opern „Lakmé“ von De- nis erwiesen ihm Musikfreunde von libes und „Freund Fritz“ von Mascagni. nah und fern die letzte Ehre. Johannes In unermüdlichem Schaffen – wozu ihm Brahms schrieb an Clara Schumann, nur zwölf Jahre Zeit blieben – gelang die, wie auch Engelbert Humperdinck, es ihm, die großen künstlerischen He- in der Nähe von Dessoffs Wohnung ihr rausforderungen zu meistern, was ihm Domizil hatte: auch hier hohes öffentliches Ansehen „An Dessoff habt Ihr viel verloren - das einbrachte, und die Frankfurter Oper in weiß ich [ ... ]. Er ist uns nicht ersetzt. Deutschlands erste Häuser seiner Zeit Das merkt man an allem möglichen. Er einzureihen. Ebenfalls brachte er es war ein vortrefflicher Mensch und ein fertig, mit seiner Aufsehen erregenden lebhaft empfindender, fein gebildeter Einführung von Abonnementkonzerten Musiker.“ NC17 Seite 43 Nachgetragen sei noch, dass Dessoff eine schenkt bekommen hat wie Emma Dessoff, Familie gründete, aus der zwischen 1862 und geb. Herzfeld, die Schwiegermutter ihrer 1876 vier Buben und ein Mädchen entspran- Tochter Friederike? Wir wissen ja aus dem gen, darunter mein Großvater Albert und Düsseldorfer Generalanzeiger vom 30. Ap- dessen Schwester Margarete, die als einzige ril 1916, dass Mendelssohn ihr „einst“ in Leipzig „ein Rubinglas mit schönen Rese- in die musikalischen Fußstapfen ihres Vaters den gefüllt nach dem Vortrage seiner Lieder trat. Sie wurde Chorleiterin in Frankfurt und schenkte.““ gründete dort Anfang des 20. Jahrhunderts einen großen Frauenchor, sowie 25 Jahre Ebenfalls noch nachzutragen ist, dass später in New York „The Dessoff Choirs“, die Dr. Joachim Draheim aus Karlsruhe, heute - über 65 Jahre nach ihrem Tod - im- geboren 1950 in Berlin, Altphilologe, Mu- mer noch von Dessoffs Namen künden und sikwissenschaftler und Pianist, Dessoff vielbeachtete Konzerte geben, z. B. im Som- als vergessenen Komponisten entdeckte, noch bevor G. A. Jahn seinen Großvater mer 2009 zusammen mit den New Yorker als Dirigenten erkannte. Nachdem Dra- Philharmonikern unter Lorin Maazel Mahlers heim und Jahn sich über ihre „Entdeckun- 8. Sinfonie und Brittens „War Requiem“. gen“ austauschten, kam es nach weiteren intensiven Forschungen zur nachstehen- Der Anfang der Geschichte: den Veröffentlichung, in der Dessoffs Le- Gerhard Albert Jahn aus Chemnitz ben, Werke und Wirken als bedeutender nimmt Kontakt mit Manfred Hill auf Dirigent ausführlicher gewürdigt werden, „Heute1 habe ich Kontakt bekommen zum als es in diesem Beitrag möglich war: Gründer der „SingPause“ Manfred Hill. Bei Literatur: Otto Dessoff (1835-1892). Ein dem seit fünf Jahren erfolgreich durchge- Dirigent, Komponist und Weggefährte von führtem Düsseldorfer Projekt „SingPause“, Johannes Brahms: München 2001, Katz- das bald auf alle Grundschulen in Deutsch- bichler - herausgegeben von Joachim land ausstrahlen soll, singen die Kinder von Draheim und Gerhard A. Jahn. der ersten bis zur vierten Klasse Lieder und Gerhard Albert Jahn, geb 1937 in Dres- erarbeiten sich unter Anleitung von ausge- den, lebt heute in Chemnitz. Nach einem bildeten Sängerinnen und Sängern nach Pädagogikstudium an der Leipziger Uni- der sogenannten Ward-Methode vormittags versität unterrichtete er an allgemein- und zweimal wöchentlich 20 Minuten in ihrem berufsbildenden Schulen sowie Einrich- Klassenraum musikalische Grundkenntnis- tungen der Erwachsenenbildung in den se und ein breites Liederrepertoire. Ich habe Fächern Elektrotechnik, Mathematik, Psy- heute von diesem Projekt das erste Mal et- chologie und Physik. Seit seiner Pensionie- was gehört, finde es sehr bemerkenswert rung 1992 widmet er sich intensiv der wis- und werde mithelfen, es bekannt zu machen. senschaftlichen Erforschung des Lebens Erster Schritt von mir ist diese E-Mail hier.“ und der Taten seiner Vorfahren. Besonders „Manfred Hill weiß von der Düsseldorfer beeindruckten ihn nach dem zufälligen Musikgeschichte unwahrscheinlich viele Ein- Auffinden einer C-moll-Phantasie, die als zelheiten, teilweise bis ins Detail gehend. Er Schulmädchen in Frankfurt am Main seine machte mich darauf aufmerksam, dass am 1954 verstorbene Mutter komponiert hatte, 12. Mai 1834 unsere Ur-Ur-Großmutter Ju- das Leben und Werk ihres Großvaters Otto liette Meisinger, geb. Le Gaye, in Düsseldorf Dessoff. Jahn ist Gründungsmitglied der bei einem Konzert Lieder vortrug, bei denen Albert-Lortzing-Gesellschaft, Mitglied der sie von Felix Mendelssohn Bartholdy am Robert-Schumann Gesellschaft Zwickau, Klavier begleitet wurde. ...Ist das nicht auch des Schuncke Archivs Baden-Baden sowie bemerkenswert?“ ... des Chemnitzer Musikverein, der 2012 sein „Ich fragte mich sofort: Ob Julie Meisinger 175jähriges Bestehen feiert. Dem Mitglied von ihm auch so eine hübsche Vase ge- des Magischen Zirkels von Deutschland 1 G.A. Jahn in einer E-Mail vom 18.3.2011 an e.V. bleibt da nur noch selten Zeit, Klein seine Großkusine Ingeborg Dessoff-Hahn und Groß gelegentlich zu verzaubern. NC17 Seite 44 Ein Mann für viele Bühnen Düsseldorfs Opern-GMD Axel Kober Im Gespräch mit Erich Gelf und Georg Lauer

Nach einem Konzert in der Tonhalle hatten wir im April den Termin für ein Gespräch mit dem Ge- neralmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg Axel Kober vereinbart. Als wir uns Ende Juni in seinem Büro trafen, hatte die Presse soeben berichten können, die „Opern-Ehe ist gerettet“. Nur eine Woche später lautete die Überschrift: „Rheinoper: Ende der Generalinten- danz Christoph Meyer?“ In diesen unruhigen Zeiten vermittelte uns der Musikchef des Hauses Ruhe und Gelassenheit, als wir uns in seinem Arbeits- zimmer, das nur einen eingeschränkten Blick in den Hofgarten gestattet, zu einem Gedankenaustausch zusammensetzten. Dabei war uns weniger die (Opern-)Ehe als der (Opern-)Kopf des Hauses wichtig.

Der Leiter des künstlerischen Ensem- Gelegenheit, sein Können in den Ju- bles des Dreisparten- und Zweispiel- gendorchestern der Region und im Bay- stättenhauses kam uns im langen Gang reuther Musikschulorchester zu bewei- des im Erdgeschoss gelegenen Verwal- sen. Gerne hätte er - als einziger seines tungstraktes der Oper an der Heinrich- Jahrgangs - in den letzten beiden Klas- Heine-Allee entgegen und geleitete uns sen seiner Gymnasialzeit einen Leis- durch das gerade nicht besetzte Vor- tungskurs Musik belegt. Da dieser nicht zimmer in sein Büro. Das sah nach viel zu Stande kam, empfahl ihm der damali- unerledigter Arbeit aus: Der Schreib- ge Leiter des Jugendsymphonieorches- tisch voll, am Boden stapelweise Noten, ters Oberfranken Prof. Günther Weiß, Computer und Lautsprecher auf Emp- sich für ein Stipendium bei einer interna- fang, aber mittendrin jemand, der die tionalen Schule zu bewerben. Dies hatte Ruhe selbst war, uns Zeit schenkte und Erfolg, und so wechselte der 17-Jährige Dinge verriet, die üblicherweise nicht in nach der 11. Klasse in die USA und be- Programmheften stehen. suchte in New Mexico für zwei Jahre das Zum Beispiel liest man da nicht, dass dortige United World College1. die Eltern ihren Sprössling mit vier Jah- 1 Die United World Colleges (UWC) sind eine ren zum Klavier- und mit sieben Jahren Gruppe von weltweit derzeit 13 internationalen zum Geigenunterricht führten. Beide Schulen, an denen Schüler aus über 120 Ländern Instrumente hat er später studiert und für zwei Jahre gemeinsam lernen, zusammenleben und ihre Schulausbildung mit einem internationalen spielt sie noch heute! Abschluss beenden. Das von Kurt Hahn entwor- Der 1970 in der oberfränkischen Kreis- fene Schulkonzept der UWC hat das erklärte Ziel, stadt Kronach geborene musisch früh- junge Menschen durch internationale Erziehung, begabte junge Mann bekam schon bald gemeinsames Erleben und soziales Engagement zu mehr Toleranz und Verantwortung zu erziehen. NC17 Seite 45 Diese Schule vermittelte ihm weiter das Gewandhausorchester auch in Sym- den angestrebten Instrumentalunterricht phoniekonzerten. sowie Kontakte zum Sinfonieorchester 2009 erging dann der Ruf aus Düssel- der anderthalb Autostunden entfernten dorf, als GMD an den Rhein zu kommen Hauptstadt Santa Fe. Kober beschreibt und musikalischer Chef der Deutschen sie als Stadt der Künstler mit unglaub- Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg zu lich prickelnder Atmosphäre. Zwei Jah- werden Hier galt - und gilt! - es, zwei Or- re gehörte er dem Santa Fe Symphony chester, einen Chor, ein Sängerensem- Orchestra an und hatte bei einer Gei- ble und eine Balletttruppe an zwei Spiel- genlehrerin Unterricht, die mit Itzhak stätten zum Einsatz zu bringen. Perlman im Quartett spielte. Auch gab Gleich zu Beginn dieser Spielzeit hatte es Dirigierkurse und erste praktische Er- der Chor des Städtischen Musikvereins fahrungen, wenn er Chor und Orchester Gelegenheit, den neuen Opernchef unter seiner Schule leiten konnte. seinem Dirigat von Mendelssohn Barthol- Nach dem internationalen Schulab- dys Lobgesang-Sinfonie in der Tonhalle schluss bewarb sich Kober an der Juilli- zu erleben, eine schöne Zusammenar- ard School (New York), spielte auch am beit, deren Fortsetzung weiterhin auf dem Oberlin College (Cleveland) und am Cur- Wunschzettel des Musikvereins steht. tis Institute (Washington) vor und hätte dort Klavier und Geige studieren können. Der GMD der beiden Opernhäuser am Beim angehenden Musikstudenten hatte Rhein mit ihren beiden Klangkörpern sich aber inzwischen der Berufswunsch folgt gerne den Einladungen, die Düs- Dirigent gefestigt, und so entschied er seldorfer Symphoniker bzw. Duisburger sich für die Aufnahme eines Dirigierstudi- Philharmoniker bei deren Orchesterkon- ums, das an der Hochschule für Musik in zerten in der Tonhalle bzw. in der Philhar- Würzburg angeboten wird. Auch schien monie Mercatorhalle zu leiten, wenn dort ihm der sich anbahnende Berufseinstieg die Chefdirigenten GMD Andrey Boreyko als Dirigent an einem deutschen Theater bzw. GMD Jonathan Darlington2 andere sicherer als der Weg über Dirigierwettbe- Verpflichtungen eingegangen sind. werbe in den USA. Zur Bewältigung der zahlreichen Kon- Zielstrebig absolvierte Axel Kober sein zert- und Operndirigate stehen dem Studium, nahm neben ersten Orchester- Opern-GMD von Düsseldorf und Duis- einsätzen als Dirigent auch an der Zü- burg die Kapellmeister Christoph Alt- richer Musikhochschule bei Irvin Gage staedt und Wen-Pin Chien sowie sein an einer zweijährigen Meisterklasse für Assistent Ralf Lange zur Seite. Liedbegleitung teil und bekam 1994 sei- Die in diesem Zusammenhang gefal- ne erste Anstellung am Mecklenburgi- lenen Begriffe GMD, Kapellmeister und schen Staatstheater in Schwerin. Weitere Chefdirigent erläutert Kober so: Kapellmeisterverpflichtungen schlossen „Es ist eine bißchen eine Terminologie- sich an: 1998 am Theater Dortmund, frage: Ein Chefdirigent ist eigentlich ver- 2003 als erster Kapellmeister am Natio- antwortlich für das Künstlerische und das naltheater Mannheim, 2007 als Musikdi- Dirigieren und alles, was unmittelbar da- rektor und stellvertretender GMD an der mit zu tun hat, also Programmplanung, Oper Leipzig, wo er schon 2003 mit dem Proben und die Gestaltung der Konzerte. Freischütz debütiert hatte. Hier leitete er 2 ab 2012 Giordano Bellincampi NC17 Seite 46 Als GMD hat man da schon einen erheb- lich größeren Verwaltungsaufwand. Ich bin z.B. mitverantwortlich für das Sänge- rensemble, für die Auswahl der Sänger, für die Betreuung der Sänger nicht nur in künstlerischen sondern auch in diszi- plinarischen Angelegenheiten, und ich bin im Leitungsteam, das den großen Spielplan des ganzen Institutes zusam- menstellt. Das ist schon eine wesentlich höhere organisatorische Arbeit, verbun- den mit einer wesentlich größeren Ver- antwortung...“ Das fällt dann wie gesagt in meine Ver- ... oder - wie der Verwaltungsfach- antwortung, aber manchmal haben Regis- mann ergänzt - eine umfassendere Zu- seure auch eine bestimmte Type für ihre ständigkeit. Wie um diese akustisch zu Rollenbesetzung im Hinterkopf, die dann untermalen, tönt in diesem Moment vom im Ensemble eingebunden werden muss. Schreibtisch her der Empfangs-Pling Wenn sich Teams aus unterschiedlichen für eine gerade eingehende elektroni- Richtungen kommend hier treffen, dann ist sche Botschaft, während eine neuerliche ein Konzept meistens schon fertig, und der Lautsprecheransage: „Ein Mitarbeiter Dirigent kann mit Beginn der Probenarbeit des Reinigungspersonals bitte auf die nicht mehr so viel Einfluss nehmen.“ Bühne...“ im allseits heiter-ungläubigen Dem fragenden Einwand, dass die Ignorieren untergeht. Gestaltung eines Sinfoniekonzertes da doch wesentlich größere Freiheiten zur Da weckt doch die Frage, wie sehr künstlerischen Selbstverwirklichung ein Regisseur mit seinen Ideen für eine zulasse, stimmt Kober im Prinzip zu, bevorstehende Inszenierung die musi- aber ... kalischen Intentionen eines Dirigenten „...Das Gesamtprodukt auf einer Kon- beeinflusst oder gar beeinträchtigt, ein zertbühne hat eine Dimension weniger! wesentlich höheres Interesse. Kober Natürlich kann ich dort alles selbst be- geht wie folgt darauf ein: stimmen, was mir so vorschwebt, und „Im Idealfall ist die Vorbereitung einer ich habe dort oft ein wesentlich besseres Produktion eine Teamarbeit, und wir stim- akustisches Ergebnis als auf der Opern- men die Konzepte, die jeder im Kopf hat, bühne, aber: Nehmen wir mal als Beispiel miteinander ab. Solche Gespräche zwi- die sehr erfolgreiche Ballett-Produktion schen Intendanz bzw. Regisseur und Mu- des Brahmsrequiems mit Martin Schläp- sikleitung müssen allerdings sehr weit im fer. Da habe ich die Situation, dass das Vorfeld stattfinden, da hakt es manchmal Orchester im Graben sitzt und der Chor zwischen Regiearbeit und musikalischer 20 Meter darüber weit weg auf einer Em- Vorstellung. Ein Regisseur macht sein pore steht und darunter getanzt wird: da Konzept ja spätestens ein Jahr vor der kämpfe ich mit akustischen und Koordi- Premiere, denn da muss ja ein Bühnen- nationsproblemen, die ich im Konzertsaal bild gebaut werden, da müssen Kostüme nicht habe, aber: dieses Stück zusammen gefertigt und Sänger verpflichtet werden. mit Tanz aufzuführen und dadurch von NC17 Seite 47 verschiedenen Seiten zu beleuchten, im des romantischen und für große Chöre Prinzip drei Ebenen zu haben - den Chor, komponierten Musikrepertoires des 19. den Tanz in der Mitte und dann das Or- und 20. Jahrhunderts ermöglicht wird. chester im Graben - das ist im Ergebnis ein völlig anderes Kunstwerk als z.B. die Axel Kober bestätigt, dass er als GMD Aufführung in einem akustisch perfekten der Stadt es auch als seine Aufgabe Kirchenraum. Dabei ist diese Arbeit sehr ansieht, die durch Profi- wie durch Laie- spannend und im Ergebnis eine enorme nensembles geprägte kulturelle Vielfalt künstlerische Erfahrung, zumal, wenn zu erhalten und zu fördern. Gerade das das ganze Haus mit seinen verschiede- Chorwesen sei ein wertvoller Schatz und nen Möglichkeiten ein solches Werk dar- wichtiger Bestandteil der Gesellschaft bietet. Ich möchte das eine wie das an- und Tradition; Berührungsängste habe dere nicht missen, und deshalb mache er da überhaupt keine, wie die Erfahrun- ich gerne beides: Oper und Konzert!“ gen aus dem Lobgesangkonzert ja ge- Zur Frage der Programmgestaltung zeigt hätten. und -besetzung bekannte sich Axel Ko- ber dazu, dass es ihm bei den Konzerten Bei der Durchsicht des gerade ver- in Düsseldorf wichtig ist, mit Künstlern öffentlichten Opernspielplans 2012/13 zusammenzuarbeiten, die aus der Stadt wollten wir gerne noch eine Empfehlung kommen, also mit Solisten aus dem Or- für einen besonders schönen Opern- chester oder dem SängerInnenensemb- abend mitnehmen. Das Zögern bei der le oder auch - wie beim „Lobgesang“ - Antwort auf diese Frage verriet das mit dem Musikvereinschor: Herzblut, dann gab es doch zwei Tipps: „Ich finde es wichtig, dass die Instituti- Gerade Chorsängern wolle er auf jeden onen aus dieser Stadt zusammenwach- Fall das getanzte Brahmsrequiem emp- sen, da muss ich mir nicht die Solisten fehlen! Spannend werde aber auch die von irgendwo herholen, sondern fördere Uraufführung der Oper „SehnSuchtMEER lieber, was hier an tollem Potential vor- oder Vom Fliegenden Holländer“ von Hel- handen ist. Auch mit dem Chor würde mut Oehring. Dieser hat in Zusammen- ich gerne wieder was machen, aber das arbeit mit dem Regisseur Claus Guth ein Programm der Tonhalle hängt stark von Stück konzipiert, das die Thematiken des den Planungen des Intendanten ab, bei Fliegenden Holländers, von Andersens welchen Konzerten der Chor dabei ist kleiner Meerjungfrau und verschiedenen und bei welchen nicht.“ Heinetexten aufgreift.

Diese Einlassung gibt den Vertretern Mit diesem Ausblick auf die Kulturland- des Chores die Gelegenheit, in aller ge- schaft am Rhein verabschiedeten wir botenen Kürze die Wirkungsgeschichte uns vom vielbeschäftigten Opern- und des Musikvereins in der Stadt zu referie- Konzertdirigenten. Es blieb die Hoffnung ren und bei den Kulturverantwortlichen auf ein Wiedersehn in der Tonhalle und die Notwendigkeit anzumahnen, dafür unser Wunsch, der Dirigent möge auch Sorge zu tragen, dass dieser seit bald zukünftig Zeit fürs Klavier haben, um 200 Jahren bestehende bürgerliche Kul- wieder im Foyer der Oper als Begleiter turträger in seiner Existenz auch dadurch der Solisten vom Sängerensemble und gesichert wird, dass ihm die Darbietung Orchester auftreten zu können. NC17 Seite 48 Wie Pauker pauken Professor Flas und seine Schlagzeugschüler Von Georg Lauer

Hubert-Theo Flas - im Orchester der Düsseldorfer Sympho- niker kurz Bert gerufen - bedient im Graben der Oper oder auf dem Podium der Tonhalle die Pauken. Seit 1998 ist er hier als 1. Solo-Pauker engagiert. Seit 2005 ist Bert Flas an der Ro- bert Schumann Hochschule (RSH) als Dozent und dort seit 2008 als Professor für Schlagzeug tätig. Wenn man ihn nach den Symphoniekonzerten am Freitagabend am Tresen im Grünen Gewölbe der Tonhalle bei einem Glas Altbier trifft, ist der gebürtige Niederländer stets gut gelaunt und gesprächs- bereit. Dabei wollten wir nur wissen, wie ein Pauker seinen Part einstudiert. Um das mitzuerleben, lud er uns in seine Unterrichtsklasse an der RSH ein. Eher zufällig kam es am 12. Mai 2012 längeren Umbau auf der Bühne boten im WDR Funkhaus in Köln zu einer Be- sie dem Publikum ihre hochvirtuose In- gegnung, die helfen sollte, den geplan- terpretation des Stückes „Gyro“ an, das ten Gesprächstermin vorzubereiten. Der der israelische Percussionist Tomer Ya- Sender hatte aus Anlass des 25jährigen riv für ein Schlagzeugduo notiert hat: Bestehens seiner werktäglichen Sen- Da auch der ansonsten fachkundige dereihe „Klassikforum im WDR 3“ zum Moderator dem Publikum nicht erklären Tag der offenen Tür an den Wallrafplatz konnte, wie die jungen Künstler die auf eingeladen. Nach dem Ende der Klas- ihren Pulten platzierten Noten so rasant sikübertragung aus dem großen Sen- lesen und synchron in Klang und Rhyth- desaal konnte man in den kleinen Sen- mus umsetzen konnten, wollten wir das desaal umziehen und an einer anderen bei unserem Gespräch mit Bert Flas in Premiere teilhaben: Erstmals wurden ab Düsseldorf für unsere Leser klären. Als 13 Uhr die öffentlichen „Open Auditions“1 wir uns einige Wochen später in der live im Radio übertragen. RSH trafen, ergab es sich, dass wir dort Der Moderator Xaver Frühbeis kün- auch Rafael Sars wieder trafen, der sich digte zu Beginn zwei Schlagzeugstu- in einer Probestunde bei seinem Lehrer denten aus Düsseldorf an, Rafael Sars Prof. Flas den letzten Rat für sein bevor- und Kevin Anderwaldt von der Robert stehendes Examen holte. Schumann Hochschule. Zunächst spiel- Die Übungsräume der RSH, in denen ten sie zwei Werke für Marimbas - von die Studentinnen und -studenten ihr so Adi Morag: „Octabones“ sowie zwei sehr verschiedenes Schlagzeuginstru- Sätze aus Johann Sebastian Bachs Französischer Suite Nr. 2. Nach einem 1 Die „Open Auditions“ sind ein Projekt des Kulturradios WDR 3 in Kooperation mit den Mu- sikhochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen und der Initiative Hören. Dabei erhalten talentierte NachwuchmusikerInnen der NRW-Musikhoch- schulen Gelegenheit, sich unter professionellen Bedingungen vor Fachredakteuren, Hochschul- vertretern, Konzertveranstaltern und interessier- tem Publikum zu präsentieren und in WDR 3 (live) vorgestellt zu werden. Rafael Sars und Kevin Anderwaldt Foto: WDR NC17 Seite 49 mentarium studieren, lie- gen schallgedämmt im Souterrain des Hauses. In den Fluren dorthin trifft man auf Geige, Flöte oder Oboe spielende junge Menschen, die der Ka- kophonie zum Trotz die schwierigsten Passagen aus bekannten Werken einüben, die so eigentlich nicht zusammenpassen. An den Pauken saß gerade eine chinesi- „Drum key“ für Gyro: sche Studentin aus 1. 22 ″Bassdrum der Klasse Flas, und 2. 14 ″Tom so hatten wir etwas 3. 13 ″Tom 4. 10 ″Tom Zeit, uns von Rafa- 5. 8 ″Tom el Sars erklären zu 6. Bongos 7. Hi-Hat lassen, wie er das 8. Splash cymbal Stück „Gyro“ in 9. Cow bell Köln „vom Blatt 10. Wood block gespielt“ hat. Zu- set up legend: nächst erläutert er ganz allgemein, dass sich auf- grund der Vielzahl an Mög- lichkeiten, die verschiedenen Schlaginstrumente zu kom- Standardaufbau: binieren und aufzubauen, 7 6 keine verbindliche Notation 1 Bassdrum 2 Snaredrum durchgesetzt hat. Dies führt 3 Tom Tom 3 dazu, dass am Anfang von 4 Stand Tom 5 Schlagzeugnoten die Notati- 5 HiHat 4 2 on in einem sog. „drum key“ 6 Crash Becken erläutert werden muss. 7 Ride Becken Da viele Schlaginstrumente nicht auf 1 eine Tonhöhe gestimmt sind, wird An- stelle der gängigen Notenschlüssel ein so genannter neutraler Notenschlüssel verrät, dass man ein Stück wie „Gyros“ verwendet. Im Notenbild sind die Instru- nur dann präsentieren kann, wenn man mente in ihrer relativen Tonhöhen zuein- den Notentext komplett im Kopf hat und ander angeordnet, die tiefen (mit großem das Stück auswendig spielt. Durchmesser) liegen also unten. Beim Als Professor Flas seinen Unterricht Lesen kommt es nun darauf an, aus der beginnt, wissen wir, wie man Noten liest, Lage des Notenkopfes das zugehörige und dass ein Pauker außer Schlagzeug Instrument anzuschlagen. Rafael Sars auch noch Marimbaphon, Vibraphon und NC17 Seite 50 Xylophon spielen lernen muss, wenn er ein, das ihm ermöglicht, bei den ersten im Orchester was werden will! Schlagzeugern des New York Philharmo- Auch wenn man Bert Flas heute aus- nic Orchestra und des Boston Sympho- schließlich als „1. Pauker“ erlebt, so hat nie Orchestra zu hospitieren. Seine erste auch er einmal „klein“ angefangen, er berufliche Spielzeit verbringt Flas beim erzählt uns, wie: Nordholländischen Philharmonischen 1966 wird er in Vaals, der holländi- Orchester, doch schon ein Jahr später schen Grenzstadt zu Aachen, geradezu wechselt er als 1. Solopauker mit Schlag- in eine Kapelle hineingeboren. Sein Va- zeugverpflichtung zum Sinfonie Orches- ter war Akkordeonist und oft unterwegs. ter Aachen. Hier bleibt er bis 1998 und Viele Instrumente standen zu Hause im kommt dann nach Düsseldorf, wo er bei Flur, die der Kleine nicht anrühren durf- den Symphonikern eine Anstellung als 1. te. Vielleicht hat gerade das den unwi- koordinierter Solo-Pauker erhält. Schon derstehlichen Reiz ausgelöst, auf alles bald bekommt er Einladungen, in ande- zu schlagen, was wie Trommel oder Xy- ren renommierten Orchestern mit zuspie- lophon aussah. len. So ist er u.a. seit 2002 gern gesehe- Jedenfalls offenbart der Knabe dabei ner Gast im Bayreuther Festspielorches- ganz eindringlich seine rhythmischen ter und kennt die Symphonieorchester Talente und erhält den fördernden Unter- von WDR, NDR, HR und BR ebenso wie richt durch seine Eltern. Auch die weite- die Spitzenorchester aus Rotterdam und re Begabung, anderen Menschen seine Amsterdam, Luzern oder Berlin. Gerade Profession zu vermitteln, entwickelt sich an das Hauptstadtorchester sind seine bereits, als er selbst noch Unterricht er- akustischen Erinnerungen so intensiv, hält. Gerne erinnert er sich daran, dass dass er darüber ins Schwärmen gerät. er - selbst erst zwölf! - Erwachsenen die Das könnte auch der Beobachter im Grundzüge des Schlagzeugspielens bei- Probenraum, wenn er die vertrauensvoll- brachte, und er damit sein Taschengeld freundschaftlichen Unterweisungen des aufbessern konnte. Lehrers an seine Schü- Zum Studium geht ler erlebt. Die nehmen er ins nahegelegene seine Schlagzeugbe- Maastricht, wo er 1990 geisterung auf und tra- am Konservatorium sein gen sie weiter, wenn sie Diplom mit Auszeich- z.B. beim Sternschnup- nung absolviert und den pentag in der Tonhalle „Edmond-Hustinx-Preis“ die nächste Generation erhält. Der bringt ihm anstecken oder in Köln ein Stipendium der hol- beim WDR eine Livevor- ländischen Regierung stellung geben. NC17 Seite 51 Das Bild der Laienchöre bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Von Thomas Kämpfer und Thomas Ostermann

Einleitung Kollektiv Schon Eckhardt1 musste 1977 fest- Insgesamt wurden 116 Jugendliche stellen, dass es nicht möglich ist, Aus- und junge Erwachsene (59 weiblich und sagen über Laienchöre (in seinem Fall 57 männlich) an einer Schule in Ostfries- Männerchöre) für ganz Deutschland zu land befragt und durch Personen aus treffen, da kaum statistische Materialien dem persönlichen Umfeld ergänzt, um vorliegen. Aus dem wenigen Material einen möglichst breiten Querschnitt der lässt sich aber ablesen, dass die Situa- Zielgruppe zu erreichen. 46 Personen tionen der Laienchöre in den Regionen gaben an, in einem Verein aktiv zu sein. Deutschlands ganz verschieden sind. Insgesamt beträgt die Dauer der Ver- Die hier vorgestellte Untersuchung einsmitgliedschaft im Durchschnitt 8,8 bezieht sich nur auf den Einflussbe- Jahre. Es werden im Durchschnitt ca. reich des Ostfriesisichen Sängerbun- 5,5 Stunden in der Woche für den Verein des (OSB) und auf den angrenzenden aufgewendet. Bis auf wenige Ausnah- ammerländisch-stadtoldenburgischen men beziehen sich die Mitgliedschaften Raum. Die untersuchte Gruppe be- jedoch auf Vereine, deren Hauptbetäti- stand aus Jugendlichen und jungen Er- gungsfeld der Sport oder sportähnliche wachsenen (bis 45 Jahre), da der OSB Beschäftigungen sind. Nur 6 Personen sich nicht nur Gedanken um den Nach- (5%) gaben an, in einem Chor aktiv zu wuchs in den Chören macht, sondern sein, obwohl 75 Personen (63%) anga- auch um das Alter des Nachwuchses. ben, gerne zu singen. Hier waren mit 55 Antworten die Mädchen/Frauen in Fragestellung der deutlichen Mehrheit, während in der Das Bild der Laienchöre bei Jugend- Gruppe der 41 Personen, die nicht ger- lichen ist bisher nicht Gegenstand von ne singen, die Männer mit 34 Antworten wissenschaftlichen Untersuchungen dominierten. Es zeigt sich, dass in der oder Forschungsprojekten geworden. Gruppe der gerne Singenden der Anteil Es gibt auch keine größere Arbeit zur derjenigen, die ein überwiegend posi- Klärung der Frage, wie die Chöre, tives Verhältnis zu Chorsingen und zu insbesondere die Laienchöre, in der Laienchören haben, überwiegt (72,8%). Öffentlichkeit wahrgenommen und be- Ein entsprechend hoher Anteil von wertet werden. Die Frage, die dieser 73,5% hat in der Gruppe der nicht ger- Untersuchung zu Grunde liegt, ist da- ne singenden ein negatives Verhältnis her, welches Bild junge Menschen von zu Laienchören. Ein Einfluss der Men- Laienchören haben, und wie sich das ge des Musikunterrichts in der Schule auf die Nachwuchssituation und -ent- konnte dabei nicht nachgewiesen wer- wicklung auswirkt. den. Die Konkrete Einstellung zu ver- 1 Eckhardt, Andreas 1977: Männerchor - Organi- schiedenen Musikrichtungen ist in Abb. sation und Chorliteratur nach 1945 1 dargestellt. NC17 Seite 52 sehr noch weni- gar unent- Musikart gerne gerne ger nicht schieden 1. Deutsche Volksmusik 2. Deutscher Schlager 3. Blasmusik 4. Popmusik 5. Liedermacher 6. Disco 7. Rockmusik 8. Musicals 9. Chormusik 10. Folksongs 11. Klassische Musik 12. Oper 13. Reggae 14. Geistliche Musik 15. Jazz 16. Punk 17. Techno/Tekkno/House 18. Dance

singt gerne singt nicht gerne

Abb. 1: Musikvorlieben der Befragten (Markiert ist jeweils der Bereich mit den meisten Antworten) Dabei zeigten sich zwei Trends: Zum Andererseits werden „Deutsche einen unterscheiden sich die gerne Sin- Volksmusik", „Deutscher Schlager" und genden nicht im Wesentlichen von der Blasmusik, sowie Chormusik, geistliche Gruppe der nicht gerne Singenden, was Musik, Folksongs und (erstaunlicher- die beliebtesten Musikrichtungen an- weise) Techno und Dancemusik mehr- geht: In beiden Gruppen herrscht zum heitlich abgelehnt. Lediglich „Klassische einen große Übereinstimmung darüber, Musik" und Jazz erhalten bei den gerne welche Arten von Musik gerne gehört, Singenden noch etwas bessere Werte. bzw. abgelehnt werden. Rock- und Pop- Schlüsselt man aber die Daten nach musik in ihren verschiedenen Erschei- den Untergruppen (pos./neg./neutr. Ein- nungsformen werden in beiden Grup- stellung zu Laienchören), so wird das pen mehrheitlich sehr gerne gehört. Bild differenzierter: Auch in der Gruppe NC17 Seite 53 der gerne Singenden mit überwiegend mit überwiegend sakralem / geistlichen positiver Einstellung zu Laienchören Programm, dessen Niveau relativ gering stehen Rock- und Popmusik an der ist und in dem der Spaß und die Gesellig- Spitze der Beliebtheitsskala der Mu- keit einen hohen Stellenwert haben. sikarten, und "Deutsche Volksmusik", In Bezug auf die Frage, ob die Befrag- "Deutscher Schlager" und Blasmusik ten schon einmal ein Chorkonzert be- werden auch hier eindeutig negativ be- sucht haben, geben nur 38,1% der ger- wertet. Allerdings bekommen "Musical" ne Singenden und positiv Eingestellten und "Klassische Musik" wesentlich bes- an, schon einmal ein Konzert oder eine sere Werte. Im Ganzen zeigt sich, dass Choraufführung besucht zu haben. In diese Gruppe in der Bewertung der der Gruppe der nicht gerne Singenden einzelnen Musikrichtungen ein ausge- mit negativer Einstellung sind es, nach wogeneres Verhältnis von Zustimmung Angaben der Befragten, nur 14,3%. und Ablehnung aufweist. Diese Zahlen müssen aber kritisch ge- Sowohl in der Gruppe der gerne Sin- würdigt werden, da ein Teil derjenigen, genden, als auch in der Gruppe der die schon einmal ein Chorkonzert oder nicht gerne Singenden gibt es ein ein- einen Chorveranstaltung besucht ha- deutiges Bild davon, was in Laienchö- ben, dieses in Form eines Pflichtbesu- ren gesungen wird: In beiden Gruppen ches (Schulaufführung) getan haben. nimmt das "Volkslied" die erste Stelle in Rund 57% der Befragten können der Rangfolge der Musikarten, die nach sich nicht vorstellen, jemals in einen Meinung der Befragten in den Chören Chor einzutreten. In der Gruppe der gepflegt wird, ein, gefolgt von kirchli- nicht gerne Singenden mit einer über- cher/geistlicher Musik. Um zu erfahren, wiegend negativen Einstellung zu Lai- welche Assoziationen die Zielgruppe bei enchören gaben 78% an, sich nicht dem Begriff Laienchor hat, wurden die vorstellen zu können, jemals in einem Befragten gebeten, aus einer Liste von Chor zu singen. Bei den gerne singen- Schlagwörtern diejenigen anzukreuzen, den mit überwiegend negativer Einstel- die sie mit diesem Begriff verbinden. Die lung liegt dieser Wert mit rund 73% fast Schlagworte waren so gewählt, dass ebenso hoch, die persönliche Einstel- möglichst immer ein Gegensatzpaar lung zum eigenen Singen scheint auf vorhanden war (Dorf/Stadt; junge Men- die Beantwortung der Frage keinen schen/hohes Durchschnittsalter etc.). nennenswerten Einfluss zu haben. Nur An erster Stelle steht der Begriff „ge- in der Gruppe der gerne Singenden mischter Chor“ mit 71 Nennungen. Damit mit einer überwiegend positiven Ein- stimmen die Befragten mit der Realität stellung zu Laienchören überwiegt die überein, denn über 50% der im OSB or- Zahl derjenigen, die es sich vorstellen ganisierten Chöre sind gemischte Chöre. können, einmal in einem Chor zu sin- Auf den Plätzen zwei bis sieben stehen gen, mit 73,5% gegenüber 26,5% der die Begriffe „Spaß“, „gesellige Veranstal- betreffenden Gruppe, die es sich nicht tungen“, „niedriges Niveau“, „Dorf“, „Ge- vorstellen können. meinschaft“ und „kirchliche Musik“. Der ty- Befragt nach den Gründen, warum pische Laienchor ist demnach für die Be- sie es sich nicht vorstellen könnten, in fragten ein gemischter Chor auf dem Dorf einem Chor mit zu singen, wurde die NC17 Seite 54 Ablehnung mit Eigenschaften der Chöre das Laienchorwesen tragen, so gut begründet. Entweder sagt das Liedgut, wie keine Berührungspunkte hat. Man welches nach Meinung der Befragten in kann also eher von einem Bild, bzw. den Chören gepflegt wird, nicht zu, oder einem Klischee von Chören sprechen, die typische Struktur eines Vereins mit welches bei den untersuchten Jugend- seinen Hierarchien und Traditionen wird lichen und jungen Menschen existiert, von den jungen Menschen abgelehnt. als von einem Verhältnis zu Laienchö- Zum zweiten wird das Argument der ren, denn ein Verhältnis setzt voraus, Freizeit und der freien Zeit angeführt. dass man sich miteinander beschäftigt. Viele gaben an, für Chorsingen keine Um dennoch junge Menschen als Zeit zu haben oder aufwenden zu Mitsänger zu gewinnen, müssten die wollen, da ihre Freizeit nach eigenen Chöre bewusst und konsequent auf die Angaben knapp bemessen sei. Das Bedürfnisse der Zielgruppe eingehen dritte Hauptargument, was für die und ein Angebot schaffen, welches der Befragten gegen eine Mitarbeit in Nachfrage entspricht. Über die aktive Chören spricht, ist eine überwiegend Mitarbeit in solchen Angeboten kann negative Selbsteinschätzung der versucht werden, die jungen Menschen Qualität der eigenen Stimme, bzw. auch zur aktiven Mitarbeit in den be- der eigenen technischen Fähigkeiten. stehenden Chören zu bewegen. Auch Dieses Argument ist das Hauptargument wenn der Musikunterricht in dieser Be- der Gruppe der gerne Singenden mit fragung keinen deutlichen Einfluss auf überwiegend positiver Einstellung die Einstellung zur Chormusik hat, soll- zu Laienchören gegen eine Mitarbeit te die Frage der schulischen Initiativen in Chören. Diese Personen sind der nicht unterschätzt werden. Neben dem Meinung, dass sie entweder "keine gute ausreichenden Angebot an Kinderchö- Stimme" hätten, oder dass das Niveau ren sollten die Chorverbände gezielt in Chören sie überfordern würde. Es ist die Zusammenarbeit mit Erziehern und also eine latente Bereitschaft zum Singen Lehrern suchen, um diese musikalisch in einem Chor vorhanden, allerdings aus- und fortzubilden. Daneben könnte sind die entsprechenden Befragten für die Eltern einen Art "Liedunterricht" der Ansicht, dass ihre Fähigkeiten zum angeboten werden. Chorsingen nicht ausreichen. Auf der anderen Seite müssen die Chöre auch an sich selbst, ihrem Er- Diskussion: scheinungsbild und ihrem Selbstver- Aus den erhobenen Daten lässt sich ständnis arbeiten, um der wachsenden ableiten, dass es weder von der Seite Unlust der Jugend, in einem Chor zu der Chöre, noch von Seiten der jun- singen, zu begegnen. Die Konzentra- gen Menschen Kontakt, Interaktion tion der Chöre auf sich selbst und die oder Kommunikation mit dem anderen Isolation von der (noch) nicht im Chor gibt, bzw., dass diese Zusammenarbeit singenden Außenwelt muss konse- oder die Interaktion auch nicht gesucht quent überwunden werden, soll sich werden. Es scheint, dass die Welt der die Kluft zwischen den Chören und den Jugendlichen und jungen Erwachse- jungen Menschen nicht noch weiter nen mit der Welt derjenigen, die bisher vergrößern. NC17 Seite 55 Der Autor Thomas Kämpfer absolvierte an der Carl-von-Ossietzky-Univerität Oldenburg ein Studium für das Lehramt Gymnasium mit den Fächern Musik und Englisch. In dieser Zeit war er aktives Mitglied des uniChores Oldenburg, da- nach Leiter eines traditionellen Männerchores auf dem Dorf (1995 - 2005). Seit 2003 ist er Gymnasiallehrer für die Fächer Musik, Englisch, (und inzwischen) Niederländisch und kath. Religion, Sänger in einer geistlichen Kantorei und Lei- ter eines Projektchores.

Literatur: Allen, Heribert: Chorwesen in Deutschland. Statistik Entwicklung Bedeutung. 1. Auflage Viersen: Eigen- verlag Verband Deutscher Konzertchöre 1995 Bundesverband der Zeitungsverleger:Die deut- schen Zeitungen in Zahlen und Daten. http://www.bdzv.de/pressem/marktdaten/pics Dollase, Rainer/Rüsenberg, Michael/Stollenwerk, Hans J.: Demoskopie im Konzertsaal. Mainz: B. Schott‘s Söhne 1986 - Deutsche Gesellschaft für Freizeit: Freizeit in Deutschland – Aktuelle Daten – Fakten – Aufsätze, Bd. 2 des DGF-Jahrbuches. Erkrath 1994 Deutscher Sängerbund (Hrsg.): Jahrbuch des Deutschen Sängerbundes 1999. Köln: Eigenverlag Deutscher Sängerbund 1999 Deutscher Sängerbund (Hrsg.):LIED und CHOR – Zeitschrift für das Chorwesen. Köln: Verlags- und Vertriebsgesellschaft für Chorbedarf m.b.H. Eckhardt, Andreas: Männerchor: Organisation und Chorliteratur nach 1945. Mainz/London/New York/ Tokyo: B. Schott‘s Söhne 1977 Fuchs, Mechthild/ Hoffmann, Freia/ James, Barbara: Deutsches Volkslied. Das allzu bekannte Unbekannte. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlags- buchhandlung 1983 Kämpfer, Thomas: Chorsingen heute - Eine Untersuchung über das Bild von Laienchören bei Jugend- lichen und jungen Erwachsenen; Grin Verlag; München, 2010. Klausmeier,F.: Mut zum Singen. In: Musik und Bildung. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Musiker- ziehung, Heft 4, 71. Jg., Mainz 1980, s.206 ff. Klusen, Ernst: Singen. Materialien zu einer Theorie. Regensburg: Gustav Bosse Verlag 1989 Klusen, Ernst: Zur Situation des Singens in der Bundesrepublik Deutschland. 1.Band Der Umgang mit dem Lied. Köln: Musikverlag Hans Gerig 1974 (= Musikalische Volkskunde, Band IV) Klemm, Marianne: Das Volkslied in Schule und Öffentlichkeit, dargestellt an der Entwicklung von Lehr- plänen und Unterrichtswerken Baden-Württembergs und am Programm des Süddeutschen Rundfunks. Freiburg, Pädagogische Hochschule Freiburg, Fachbereich Erziehungswissen- schaften, Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Erziehungswissenschaften 1987 Kötzschke, Richard: Geschichte des deutschen Männergesangs, hauptsächlich des Vereinswesens. Dresden: Wilhelm Limpert-Verlag 1927 Kultusministerium des Landes Niedersachsen: Rah- menrichtlinien für das Gymnasium (Fach Musik) Lamprecht, Peter: „Unendliche Geschichte?“ in: LIED und CHOR 3/94, pp.3 ff. (siehe Deutscher Sängerbund) Niedersächsisches Landesamt für Statistik: Bevölkerung im Regierungsbezirk Weser-Ems, Stand 31.12.1998. http://www.nls.diedersachsen.de/Tabellen/Bevoelkerung/ K10001114.html Projekt Comenius: Jugend und Medienverhalten. Projekt am Gymnasium Wildeshausen. http://www-pluto.informatik.uni-o...hs/comenius/pw2_9899/medienyh.htm Troge, Thomas Alexander: Gesangvereine-Ohne Zukunft? Eine empirische Untersuchung über die Nachwuchssituation der Gesangvereine am Beispiel des Enzkreises und seiner Umgebung. Stuttgart: Theiss Verlag 1988 Troge, Thomas Alexander: Zwischen Gesangverein und Musikcomputer: Strukturen und Entwick- lungstendenzen des Musiklebens in Mitteleuropa. Frankfurt/Main: Verlag Peter Lang 1993 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 22, Soziologie; Bd. 246) Züghart, M.: „Stimmumfang und Schulsingen“, zitiert in: Klausmeier,F.: Mut zum Singen. In: Musik und Bildung. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Musikerziehung, Heft 4, 71. Jg., Mainz 1980, s.206 ff.

NC17 Seite 56 Musikverein - on tour! Notizen über die Gastspielreisen des Chores nach Maastricht im Januar 2012 und nach Brüssel im April 2012 Von Erich Gelf Nachdem im Jahre 2011 keine Kon- zertreise durchgeführt werden konnte, war es fast eine Besonderheit, dass der Chor Anfang des Jahres 2012 gleich zweimal in das benachbarte Ausland reiste: im Januar mit dem „Stabat mater“ op. 58 von Antonin Dvorák nach Maastricht und im April zur Aufführung der Sinfonischen Dich- tung „Psyché“ von César Franck nach Brüssel. Da an unsere Zeitschrift öfter einmal der Wunsch herangetragen wird, mehr aus dem „Vereinsleben“ zu berichten, nehmen wir diesen besonderen Um- stand zum Anlass, einige „Notizen“ zu den Konzertreisen zu veröffentlichen. Zur Erinnerung Zu den letzten Fernzielen – Cincinna- Der Chor des „Städtischen Musikver- ti/Ohio und La Cote St.-André/Region eins zu Düsseldorf e. V." ist der Konzert- Rhone-Alpes – wurde 2000 bzw. 2001 chor der Landeshauptstadt Düsseldorf. aufgebrochen. Danach bewegte man Als solcher hat er primär die Aufgabe, sich bei Gastspielen in Krefeld, Lever- die Chorpartien in den Konzerten des kusen oder Mönchengladbach im Nah- Düsseldorfer städtischen Orchesters, bereich. Große Pläne für Reisen nach den „DüsseIdorfer Symphonikern", zu Israel, USA oder gar China konnten singen. (noch) nicht realisiert werden. Seit Jahrzehnten ist dieser Chor aber auch ein Botschafter der reichen Was sind die Gründe? Musiktradition und Musikkultur Düssel- Die Einschränkungen bei den finan- dorfs durch seine Engagements auf be- ziellen Rahmenbedingungen für Kultur deutenden Konzertpodien des In- und allgemein, aber auch der an sich er- Auslandes. freuliche Aufbau leistungsfähiger Chöre bei den Sinfonieorchestern der Städte Die Reisetätigkeiten des Chores in den benachbarten Ländern (z.B. Lüt- Nach einer „Hochkonjunktur" der tich, Amsterdam, Lille, Paris, Bordeaux, Gastspielreisen bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts sind die Ein- ten in Düsseldorf wurden in elf verschiedenen ladungen an den Chor, Konzertver- Konzertsälen (Amsterdam, Berlin 2 x, Dresden, Gent, Frankfurt, Höchst, Hamburg, Köln, Leip- pflichtungen außerhalb Düsseldorfs zu zig, Paris und Saarbrücken) an weiteren 20 übernehmen, in den letzten zehn bis Konzertabenden sieben verschiedene Werke fünfzehn Jahren drastisch zurückge- (Berlioz, Damnation de Faust, Requiem und gangen.1 Te Deum; Mahler, Klagendes Lied und Sinfonie Nr. 2; Mendelssohn, Lobgesangsinfonie und 1 Statistiker und die, die selbst daran beteiligt Schumann, Missa sacra) unter fünf Dirigenten waren, erinnern sich noch an das absolute (Albrecht, Chailly, Maazel, Shallon und Tchaka- Ausnahmejahr 1989: zusätzlich zu zehn Konzer- rov) aufgeführt. NC17 Seite 57 Avignon, um nur einige zu nennen) ha- und Sänger am Proben- oder Auffüh- ben zu diesem Umstand geführt. Eine rungstag mit Bussen hin und zurück fuh- Analyse der wenigen noch eingehen- ren (ein Verbleib am Aufführungsort auf den Gastspielanfragen zeigt, dass sich eigene Kosten blieb selbstverständlich die Veranstalter nur noch bei besonde- unbenommen). Für die Probe und die ren Anlässen (wie z. B. Orchesterjubilä- Aufführung in Maastricht mietete sogar en oder als Höhepunkt spezieller hoch der Veranstalter selbst bei örtlichen Un- angesiedelter Veranstaltungsreihen) ternehmen die Busse an. In Brüssel war das Engagement eines Gastchores eine Übernachtung zwischen dem Tag leisten wollen oder können. der Proben und dem Tag der Aufführung an einem Freitag unumgänglich. Da das Der aktuelle Reiseablauf nächste Konzert am Sonntag stattfand, Bei einer Konzertreise gelten für die wurde eine zwischenzeitliche Rückkehr Sängerinnen und Sänger folgende in der Freitagnacht und eine neue An- Rahmenbedingungen: der Städtische reise am Sonntagmorgen vorgesehen. Musikverein übernimmt die Organisa- Aus logistischen und verkehrstech- tion und die Kosten der gemeinsamen nischen Unzulänglichkeiten kam es Hin- und Rückfahrt ab Düsseldorf und beim Transfer nach und von Brüssel (falls unumgänglich erforderlich) auch zu Verspätungen bei einigen Abfahrten den Preis für die Übernachtung im und Ankünften. Hier wird ein sorgfälti- Doppelzimmer einschließlich des Früh- ges Feedback künftig für Verbesserung stücks in einem vom Musikverein aus- sorgen. Sehr späte Ankünfte nach der gesuchten angemessenen Hotel.2 Alle Heimfahrt in Düsseldorf, z. T. weit nach übrigen Kosten während der Reise (z. Mitternacht, waren aber bei beiden Rei- B. weitere Verpflegung, Kosten eines sen auf keinen Fall zu verhindern. Einzelzimmers, privat organisierte An- Vielleicht ergibt sich künftig doch reise) tragen die Chormitglieder selbst. wieder eine Möglichkeit, die äußeren Vorbei sind aber die Zeiten, in denen Bedingungen etwas komfortabler zu aus den Leistungen der auswärtigen gestalten. Bei so nahen Zielen ist aber Konzertveranstalter oder aus sonsti- auch die Kehrseite der Medaille zu be- gen Zuschüssen, möglicherweise über denken: das Problem der Abwesenheit eine „Gemischtkalkulation“ zwischen von Beruf und Familie bei längerer Ver- verschiedenen Reisen, auch ein wün- weildauer am Gastspielort. Die Diskus- schenswerter, aber nicht unumgäng- sion ist eröffnet. licher Verbleib am Aufführungsort an Brückentagen zwischen den Proben Teil 1 der Notizen: Januar 2012 und/oder Aufführungen und nach dem Das Konzert in Maastricht Konzertabend von dem Musikverein entsprechend den Rahmenbedingun- Der Veranstalter gen finanziert werden konnte. Bei den Maastricht mit über 120 000 Einwoh- relativ nahegelegenen Aufführungsor- ner ist die Hauptstadt der niederlän- ten Maastricht und Brüssel musste der dischen Provinz Limburg. Dort ist das Vorstand jetzt darum den Reiseablauf „Limburgs Symfonie Orkest (LSO)“ be- so organisieren, dass die Sängerinnen heimatet. 1883 als „Maastricht Stedelijk 2 Unvergessliche und einmalige Highlights Orkest (MSO)“ gegründet und 1995 als waren das Rotterdamer Hilton und das Hotel LSO in eine selbständige Stiftung über- Metropol in Monte Carlo, die von den Veranstal- führt, ist es eines der ältesten Orches- tern zur Verfügung gestellt wurden. ter der Niederlande. Nebenbei bemer- NC17 Seite 58 kenswert ist, dass Andries Antonie Rieu (der Vater des populären Orchesterlei- ters und Geigers André Rieu) von 1949 bis 1980 - also 31 Jahre lang - „fester Dirigent“ und damit ein prägender Lei- ter des MSO/LSO war. (Der Sohn And- ré Rieu selbst spielte 1989 als Violinist in dem Orchester. Er ist heute ein Bot- schafter - ambassadeur - des LSO). Von 1988 bis 1994 stand das Orches- ter unter der Leitung des späteren Düs- seldorfer Generalmusikdirektors Salva- dor Mas Conde. Seit August 2001 ist der Niederländer Ed Spanjaard Chef- dirigent des LSO, der schon seit 1982 als Dirigent mit dem Orchester regel- Bläserserenade. Für den Abschluss um mäßig arbeitete. Spanjaard beendete 20.30 Uhr war als Höhepunkt des Tages mit der Saison 2011/2012 seine feste die Aufführung des Stabat mater op. 58 Anstellung bei dem Orchester. Das Di- vorgesehen, für die Chorpartie hatte rektorium des LSO ernannte ihn zum das LSO den Chor des Städtischen Mu- „Honorair dirigent voor het leven (Eh- sikvereins zu Düsseldorf verpflichtet. rendirigent auf Lebenszeit). Antonin Dvorák (1841 – 1904) ist wohl Das „Limburgs Symfonie Orkest“ tritt der berühmteste tschechische Kompo- mehr als einhundert Mal pro Saison in nist. Als frommer Katholik lag ihm u. a. Maastricht, in den größeren Städten der die Erneuerung der nationalen Kirchen- Provinz Limburg (Heerlen, Sittard), in musik am Herzen. Schon mit seinem Hasselt in der belgischen Provinz Lim- ersten 1876/77 komponierten größeren burg und in weiteren Städten der Nieder- geistlichen Chorwerk, dem Stabat ma- lande wie z.B. Amsterdam, Den Haag, ter op. 58, gelang ihm der internatio- Roermond und Venlo mit einem sinfoni- nale Durchbruch. Das Werk entstand, schen Programm auf. Daneben begleitet nachdem Dvorák schwere Schicksals- das Orchester auch die Aufführungen schläge getroffen hatten. 1875 verstarb der niederländischen „Opera Zuid“. eine Tochter Dvoráks bald nach ihrer Geburt und 1877 verlor er auch noch Anlass der Einladung, seine Kinder Ruzena und Otakar auf das Werk und die Aufführung tragische Weise. Trost und Zuflucht Das „Limburgs Symfonie Orkest“ und suchte Dvorák in seinem Glauben. Dar- das „Theater aan het Vrijthof“ veranstal- um stellt er in seinem Stabat mater den ten alljährlich gemeinschaftlich einen Schmerz Marias, der Mutter Jesu, bei „Komponistentag“. An einem solchen der Hinrichtung des Sohnes am Kreuz Tag werden die Hauptwerke aller Gat- in den Mittelpunkt. Das Mitleid mit tungen des ausgewählten Komponis- der Mutter und Momente der Tröstung ten aufgeführt. Am 14. Januar 2012 war durchziehen das Werk. Mehr und mehr der „Componistendag Dvorák“ geplant. tritt der christliche Erlösungsgedanke Er wurde um 15 Uhr mit dem Cello- gesteigert hervor. Nach einem strah- konzert in b-moll op. 104 eingeleitet. lenden Satz „Paradisi gloria“ schließt Darauf folgte ein Streichquartett, ein das Werk mit ruhigen tröstenden Dur- Klavierquintett, ein Liedrecital und eine Akkorden. NC17 Seite 59 Für die Mitsängerinnen und –sänger sowie für die künstlerische und admi- nistrative Leitung ging ein arbeitsrei- ches Projekt mit einem beglückenden Ergebnis zu Ende. Das „Theater am Vrijthof“ stattete alle Teilnehmenden für die Heimfahrt zu später Stunde mit „Speis und Trank“ in einem allseits dankbar willkommenen Lunchpaket aus.

Teil 2 der Notizen: April 2012 Das Konzert in Brüssel Ed Spanjaards Foto: Musikverein Der Veranstalter Zur Vorbereitung der Aufführung Eingeladen zu dem Gastspiel in reiste der Chefdirigent des LSO, Ed Brüssel hatte das „Orchestre natio- Spanjaard, für eine Klavierprobe nach nal de Belgique – ONB“ (fanzösischer Düsseldorf an. Er führte eine intensive, Name) bzw. das „Nationaal orkest van fruchtbare und doch entspannte Chor- Belgie – NOB (flämischer Name). Die- probe durch. Spanjaard hatte die Parti- ses Orchester ist seit 75 Jahren ein tur für sich umfassend erschlossen. Er renommierter Klangkörper Belgiens. konnte seine Vorstellung von der Dar- Es ging Ende 1936 aus dem „Orchest- bietung der Passagen des Werkes, die re Symphonique de Bruxelles“ hervor gelegentlich von der gängigen Interpre- und wurde in gesamtstaatliche Träger- tation abwichen, klar und nachvollzieh- schaft übernommen. Zu seinen ersten bar erklären. Der Chor konnte sie leicht Dirigenten zählten Erich Kleiber, Willem und unmittelbar umsetzen. Mengelberg, Hans Knappertsbusch, Jeweils am 12. und am 13. Januar Herbert von Karajan, George Szell. 2012 reiste der Chor mit dem Bus zur Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Orchester- bzw. Generalprobe nach Konzertbetrieb unter schwierigen finan- Maastricht. Er wurde überaus freund- ziellen Bedingungen fortgeführt, die erst lich aufgenommen und erlebte eine 1958 durch ein neues Orchesterstatut Fortsetzung der effektiven Probenar- grundlegend beendet werden konn- beit Ed Spanjaards, nun zusammen mit ten. Nun begann eine Zeit des rasan- dem Orchester und den Solisten. ten Aufbaus, die die Orchesterchronik Nach der dritten Anreise am 14. Ja- die „Aera Cluytens“ und eine „Goldene nuar 2012 konnte der Chor bei einer Epoche“ nennt. ausgezeichneten, musikalisch und sti- André Cluytens (1905 –1967) war von listisch höchst differenzierten Auffüh- 1960 bis zu seinem plötzlichen Tode im rung mitwirken. Das Publikum spen- Jahre1967 Musikdirektor des ONB/NOB. dete langen, herzlichen Applaus. Der Als Nachfolger in der Leitung des Or- Dirigent und das Direktorium des LSO chesters konnten in der Folge stets gro- fanden gegenüber dem Musikvereins- ße Musikerpersönlichkeiten gewonnen vorsitzenden Manfred Hill anerkennen- werden. Das Orchester konnte so bis de Worte für die Leistung des Chores heute sein hohes Niveau erhalten und und stellten eine weitere Zusammenar- sich seinen Platz in der belgischen und beit in Aussicht. internationalen Musikszene sichern. NC17 Seite 60 Anlass der Einladung, César Franck schrieb seine SInfoni- das Werk und die Aufführung sche Dichtung „Psyché“ 1887/88 in Pa- Das Orchestre national de Belgique ris, das er übrigens seit 1844 endgültig / Nationaal Orkest van Belgie arbeitete zu seinem Lebensmittelpunkt gewählt seit 1977 in zehn Konzerten mit großen hatte. Die Aufführungsdauer beträgt zeitlichen Unterbrechungen mit dem 50 Minuten. Ausführende sind: ein gro- Chor des Städtischen Musikvereins zu- ßes romantisches Orchester und ein sammen. Zuletzt hatte es 2004 gleich gemischter dreistimmiger Chor (ohne zweimal eine Zusammenarbeit gege- Bassstimmen). Die Chorbesetzung war ben, als unter der Leitung von Mikko für den Musikverein nicht sonderlich Franck im April Verdis Requiem und günstig, weil eine gesamte Stimmgrup- im Oktober Beethovens Neunte erklan- pe von der Teilnahme an der Gastspiel- gen. reise sozusagen „ausgeschlossen“ war. In der Saison 2011/12 kann das Or- Dadurch musste auch die vorlaufende chester ONB/NOB (wie oben ausge- Probenzeit anders als üblich eingeteilt führt) seine 75. Spielzeit feiern. Dieses werden. Diese Chorkonstellation ist Jubiläum beging es mit einem Kon- jedoch in der französischen Musik der zert unter seinem designierten neuen damaligen Zeit öfter anzutreffen, da die Musikdirektor ab der Saison 2012/13, tiefen Stimmen (mal der Männer, mal Andrey Boreyko. Auf dem Programm der Frauen) für die Besetzung fehlten. standen im ersten Teil : Nikolai Rimski- Die Uraufführung von „Psyché“ am Korsakow, Ouvertüre „Großes russi- 18. März 1888 in der Société National sches Ostern“ und Maurice Ravel, Kla- de Musique in Paris unter der Leitung vierkonzert in G-Dur; sowie im zweiten des Komponisten konnte wahrschein- Teil: César Franck, „Psyché, Poème lich nur deshalb stattfinden, weil Franck symphonique pour orchestre et cho- diese Gesellschaft selbst mitgegründet eurs“ mit dem Chor des Städtischen hatte und er inzwischen deren Präsident Musikvereins zu Düsseldorf. war. Wie alle sinfonischen Kompositio- Über die nationale Identität Francks nen Francks kam das Werk später sel- streiten sich französische und belgische ten in die Konzertprogramme. Franck und gelegentlich auch deutsche Musik- versuchte für „Psyché“ dem entgegen- wissenschaftler. Jedenfalls ist César zusteuern, in dem er eine „Reduction“ Franck 1822 in dem heute belgischen für Klavier zu vier Händen, auch in eng- Lüttich geboren und so sehen viele Bel- lischer und deutscher Sprache, erstell- gier ihn als einen der Ihren an. Zu seinen te. Da aber der vorgesehen Chor meist Ehren wurde in dem Jubiläumskonzert das größte Hindernis für die Aufführung auf die sehr selten zu hörende Erstfas- war, fasste Franck schließlich seine sung von „Psyché“ zurückgegriffen, für Sinfonische Dichtung „Psyché“ zu einer deren Aufführung ein gemischter Chor viersätzigen Suite nur für Orchester mit erforderlich ist. Dass die Wahl für den einer Dauer von 25 Minuten zusam- ausführenden Chor auf den Düsseldor- men. In dieser Fassung wird „Psyché“ fer Musikverein fiel, hängt sicher auch fast ausschließlich dargeboten. damit zusammen, dass Andrey Boreyko In Brüssel (wie auch demnächst in Generalmusikdirektor in Düsseldorf ist Düsseldorf) stand und steht endlich und er das Werk in dieser Form eben- einmal die vollständige Erstfassung mit falls im Düsseldorfer Sinfonie- (Stern- Chor in französischer Sprache auf dem zeichen-) Konzert am 12./ 14. und 15. Programm. Die französische Sprache Juli 2013 aufführen wird. des ausgehenden 19. Jahrhunderts NC17 Seite 61 ter in allen Instrumentalgruppen und den Chor zu Höchstleistungen. Das Pu- blikum dankte durch langen und herzli- chen Applaus. Beim Einsteigen zur Heimfahrt in die vor dem BOZAR wartenden Busse sprachen heimwärtsstrebende Konzert- besucherinnen und –besucher einzelne Chormitglieder an, um ihnen ihre Aner- kennung zum Ausdruck zu bringen. Be- sonders lobten einige die Textverständ- Der Saal des Brüsseler Konzerthauses BOZAR lichkeit wegen der guten französischen Bild: Internet Aussprache des Chores. Alle hofften wurde in der Vorbereitungsphase des auf ein baldiges weiteres Gastspiel. Chores auf das Konzert zu einer be- Der Düsseldorfer Chef, Andrey Borey- sonderen Herausforderung. Da das ko, äußerte sich gegenüber der Chordi- Brüsseler Publikum französischspra- rektorin Marieddy Rossetto sehr zufrie- chig ist oder doch insgesamt die fran- den über den Beitrag des Chores. zösische Sprache beherrscht, war die Erarbeitung einer korrekten Aussprache Zusammenfassung oberste Pflicht. Bei der Generalprobe Erfreulich war die zahlenmäßige Be- war eine Abordnung des Veranstalters teiligung der Sängerinnen und Sänger zugegen, die dann auch mit der Text- an den Konzertreisen, auch wenn we- verständlichkeit sehr zufrieden war. der entfernte touristische Orte ange- Wegen der verspäteten Ankunft der fahren noch spektakuläre Ausführende Busse konnten die Proben nicht wie mitwirkten oder große Glanzpunkte der zeitlich geplant ablaufen. Andrey Bo- Chormusikliteratur auf dem Programm reyko leitete mit aller Ruhe und größter standen. Das zeigt, dass die aktiven Konzentration eine verkürzte Klavier- Mitglieder in ihrer heutigen Zusam- probe und anschließend eine zeitver- mensetzung ebenso hinter der Aufga- schobene Orchesterprobe. be des Musikvereins als musikalischer Diese Proben waren auch deshalb Botschafter Düsseldorfs stehen wie die so effektiv, weil neben dem Dirigenten Chorgemeinschaft eh und je. Dies ist auch die Orchestermitglieder und die auch darum so positiv, weil die heutigen Vertreter des Veranstalters mit Ver- logistischen Probleme bei der Beteili- ständnis auf die Verspätung reagierten. gung an dem „Erlebnis Musikverein“ im Nicht zuletzt war die Verspätung der allgemeinen und bei dessen Konzert- beiden Busse auf chaotische Verkehrs- reisen im besonderen vielleicht noch verhältnisse in ganz Brüssel zurückzu- schwieriger zu lösen sind als früher. führen. Zum Schluss kam es auf einer Nicht wenige Sängerinnen und Sän- Kreuzung kurz vor dem Ziel auch noch ger haben die Brückentage zwischen zu einem Zusammenstoß zweier Tou- Proben und Aufführungen auf eigene ristenbusse, so dass der gesamte Chor Kosten an den Ausführungsorten ver- die letzten paar hundert Meter zu Fuß bracht. Alle wurden durch die Erfahrung gehen musste. belohnt, dass aus einer guten Chorleis- Die beiden Konzerte waren für den tung unterstützt von der eigenen Be- Chor ein besonderes Erlebnis. Andrey geisterung und durch den „genius locci“ Boreyko in Hochform führte das Orches- eine mitreißende Darbietung wird. NC17 Seite 62 Robert Schneider: Die Offenbarung Buchrezension Von Udo Kasprowicz

„Im Don Quijote haben wir es mit Nachfolge man ihm zu erbärmlichen einem Menschen zu tun, der die Wirk- Bedingungen anträgt, als der Organist lichkeit umgestalten will. (Es gibt) Men- über Nacht republikflüchtig wird. schen, die entschlossen sind, sich mit Der mit Musikerbiographien vertraute der Wirklichkeit nicht abzufinden. Sie Leser ahnt es: jetzt gelingt der Durch- dringen darauf, dass die Dinge einen bruch, ein neuer Händel kündigt sich an! anderen Verlauf nehmen, sie weigern Tatsächlich, der Plan ist eines Hän- sich, Verhaltensweisen nachzuvollzie- dels würdig: das Dach der Kirche ist un- hen, die der Brauch, die Tradition(…) dicht, die Orgel leidet unter der Feuch- ihnen aufnötigen möchten. Solche tigkeit. Zur Sanierung des Daches und Menschen nennen wir Helden.“ zur Rettung der Orgel plant Kemper Jo s é Or t e g a y Ga s s e t generalstabsmäßig die Aufführung der Matthäus Passion von Johann Sebasti- Ist Jakob Kemper ein moderner Don an Bach - immerhin war der als Orgel- Quijote und Robert Schneider, der sachverständiger in Naumburg, um zu- Chronist seines Lebens, der Cervantes sammen mit Gottfried Silbermann die unserer Zeit? fertige Orgel von Zacharias Hildebrandt Wir wissen es nicht, immerhin spricht zu begutachten, ein Ereignis, das histo- einiges dafür. risch belegt ist1. Der Autor, der sich in „Schlafes Bru- Nichts demonstriert das Scheitern der“ mit der dekonstruktiven Lebensge- des Benefizkonzertes so augenfällig schichte eines musikalischen Wunder- wie sein Ertrag: Er reichte gerade dazu, kindes aus einem Dorf in Voralberg ei- dem Dachdecker eine Plastikplane ab- nen Namen machte, verlegt den Schau- zuschwatzen, mit der Kemper den Or- platz seines Romans ins beschauliche gelprospekt einhüllen kann. Naumburg an der Saale. Dort war der Aber Kemper, der Stümper, gibt nicht Lebensweg seines (Anti-?)Helden, der auf. Er bildet sich unbemerkt von der Öf- dort zu DDR Zeiten als Sohn eines li- fentlichkeit zum Bach-Spezialisten her- nientreuen Bürstenmachers geboren an, und als er nach der Wende glaubt, wurde, eigentlich vorherbestimmt. We- seine Stunde sei gekommen, bietet er gen seines Interesses an der Musik der Bach-Gesellschaft an, sein Fachwis- verspottet, als Schulversager mit dem sen und seine Erfahrung in den Dienst Titel „Kemper, der Stümper“ gedemü- der Orgelrestauration stellen zu dürfen. tigt, lernt er unter dem Druck seines Natürlich wird er abgelehnt. Vaters Bürstenmacher, tritt in den elter- Kurz bevor er den internationalen Gut- lichen Betrieb ein und bindet tagsüber achtern den Schlüssel zur Orgel überge- Bürsten. Nachts aber paukt er Musik- theorie und übt auf einem Klavier, das 1 Vom 24. bis 28. September 1746 treffen sich auf verschlungenen Wegen aus dem und Gottfried Silber- Besitze Tschaikowskis in den Besitz der mann in Naumburg zur Abnahme der Zacharias Familie gelangt ist. Insgeheim nimmt Hildebrandt Orgel in der St. Wenzels Kirche: Fr a n k - Ha r a l d Gr e s s : Die Orgeln Gottfried Sil- er Klavier- und Orgelunterricht beim bermanns. Dresden 2001. 177. Veröffentlichung Kantor der St. Wenzel Kirche, dessen der Gesellschaft der Orgelfreunde, S. 171. NC17 Seite 63 ben muss, entdeckt er im Orgelgehäuse Jedoch versprechen wir eine vergnüg- - wie er sofort vermutet - eine Partitur von liche Lektüre, zumal da unser moderner Bach´scher Hand, wohl verwahrt in ei- Don Quijote natürlich auch eine Dulcinea ner alten Reisetasche, die Bach - anders von Toboso in Person einer Lucia von kann es nicht gewesen sein - bei der Ab- Naumburg verehrt und bei seinen Nieder- nahme des Instrumentes so unglücklich lagen von einem unerschrockenen San- abgestellt hatte, dass sie unter die Dielen cho Pansa, seinem um 30 Jahre jüngeren eines Zwischenbodens gerutscht war. Die Stiefbruder Leo getröstet wird. Dadurch Schriftzüge und der geplante bleibt Kemper, unser Don Aufführungsort lassen Bachs Quijote, durch seine Erfah- Urheberschaft immer wahr- rungen unheilbar, denn die scheinlicher werden; die erbärmliche Realität kommt Komposition aber weist über gegen seinen Glauben an die Musik der Bach´schen die Größe seiner Bestim- Zeit hinaus, sie ist revolutio- mung nicht an. när. Das Manuskript wird die Im Original lässt Cervan- Bach-Forschung zum Um- tes ihn sagen: „Sancho, denken zwingen, das Bild mein Freund, du musst Johann Sebastian Bachs wissen, dass ich durch des nachhaltig verändern. Aber Himmels Verfügung in die- er weiß auch: durch ihn, sem eisernen Zeitalter zur Kemper, den Stümper, wird Welt kam, um in ihm das der Fund entwertet. Weil er Robert Schneider: goldene zur Auferstehung es ist, der den Fund präsen- Die Offenbarung zu wecken. Ich bin der, tiert, wird die Fachwelt mit Roman, für den die Gefahren, die Umfang: 285 Seiten Gelächter reagieren. Wie es Aufbau Taschenbuch Großtaten, die Werke des ausgeht, verraten wir an die- Verlag 02/2009 Heldentums aufgespart ser Stelle nicht. ISBN-13: 783746624815 sind.“ (Buch 1,Kap20) Hühnersuppe vor der Prüfung Ein Rezept für Betroffene Von Udo Kasprowicz rüfungen gehören im Leben dazu, ja für manche bedauernswerte PMenschen ist das ganze Leben eine Prüfung. Es geht schon früh los: Mit acht oder neun Jahren kommt die Fahrradprüfung. Unter Anleitung eines gestrengen Polizisten mit Trillerpfei- fe und roter Kelle, begleitet von seiner milde lächelnden Kollegin mit blondem Pferdeschwanz bewegen sich die plas- tikbehelmten Ritter der Pedale hochkon- NC17 Seite 64 zentriert in langer Reihe durch die Anlie- ber um endlich zum Thema zu gerstraßen rund um die Grundschule. Akommen: In Düsseldorf gibt es Obwohl die Aufnahmeprüfung für eine kleine, musikbegeisterte Minder- die weiterführenden Schulen seit 1964 heit, die unterwirft sich freiwillig Prüfun- weggefallen ist, steht man doch in der gen, um 80mal pro Jahr zur Chorprobe zweijährigen Orientierungsstufe unter gehen und 12 Konzerte singen zu dür- dauernder Beobachtung. Ist die ge- fen. Mit einem flauen Gefühl im Magen wählte Schule die richtige? betritt man den Gral des Düsseldorfer Die Konfirmandenprüfung gehört Musiklebens, die Tonhalle, wartet im auch der Vergangenheit an, dafür aber Foyer vor der Doppelflügeltür, die sich auch häufen sich inzwischen zentrale zum Termin sekundengenau öffnet, und Lernstandprüfungen, die die Lehrer ver- tritt zögerlich in den dämmrigen, leeren wirren, die Schüler aber verstören und Probensaal, in dessen Mitte, einem die Kultusbehörden zur Beweihräuche- Sarg nicht unähnlich, der Steinway der rung benutzen. Vor das Abitur schiebt Exekution einiger Zeilen aus einem sich die Fahrprüfung, danach die Ge- Chorwerk vergangener Zeiten entge- sellen- oder Kaufmannsprüfung; ande- gen sieht, Die Begrüßung ist freundlich, re unterwerfen sich nach unzähligen der Hinweis auf den Platz neben dem Einzelprüfungen einer Staatsprüfung; Flügel eindeutig, während das eigene nur Doktor wird man nicht durch eine Unbewusste sich verselbständigt und Prüfung, sondern nach allen Prüfungen elegische Kapriolen schlägt. Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge vor seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Jede Prüfung ist schrecklich Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens.1 1 bis auf das Wort Prüfung: Rainer Maria Rilke. Duineser Elegie, Verse 1 - 9 durch die feierliche Promotion. aum ist Rilkes gedacht, erklingt Danach prüfe man sich selbst, bevor KMusik und die Sekunden der Wahr- man sich ewig bindet. Welche Folgen heit nahen. es hat, wenn man darauf verzichtet, ist Ob ich in Zukunft den Mund halten statistisch offenkundig. muss oder allenfalls im Keller oder ne- Irgendwann endet dieser Prüfungs- ben der Autobahn singen darf? marathon und die meisten Mitmen- Doch, oh Wunder, was geschieht? schen atmen auf. Es soll aber nicht Statt eines Urteils kommt man ins Ge- verschwiegen werden, dass es genug spräch über musikalische Vorlieben, Zeitgenossen gibt, die demütig der Prü- über Tonräume, in denen man sich am fungen des Herrn harren und deshalb wohlsten fühlt, über Ängste vor Tonhö- nie richtig entspannt sind. hen, bis hin zu Vorlieben über die Sit- NC17 Seite 65 zumgebung. Und zu allem und jedem stimmliche Indisposition gefährdeten hatte Frau Rossetto einen Rat, einen Konzertes empfehlen wir eine Hühner- Tipp, einen hilfreichen Vorschlag. suppe mit den Gewürzen der Hildegard Stimmprüfung? Eher Stimmberatung, von Bingen, in der besonders an Ysop, Gesangsmotivation, Auftrittscoaching! dem Josephskraut, nicht gespart wer- Für den Chorsänger ist es sicher- den so ll. Hühnerfleisch sorgt nach al- lich ein ermutigender, individueller Zu- ten Überlieferungen für eine klare helle spruch der Chorleitung, den man sich Stimme, Ysop wirkt lindernd bei Stimm- während der Vorbereitung schwieriger bandreizungen. Stücke gerne wünschte, wenn man ver- Ein geeignetes Rezept fanden wir zagt, weil berufliche Zwänge, Proben- unter http://www.kochbaeren.de/08-01- pflichten und der Anspruch gegen sich Gefluegelgerichte/029-Huehnersuppe- selbst offenbar nicht zur Deckung zu bei-Erkaeltung.php bringen sind. Die Betreiber der Website wünschen So hat der Zeitgeist, dem die Stimm- guten Appetit, bitten aber darum, Ihr prüfung als Ausleseinstrument nicht Rezept nicht in anderen Medien zu mehr entspricht, durch die Stimmbe- veröffentlichen. Wir wollen das ger- ratung eine positive Wirkung auf den ne respektieren, haben wir doch mit Chor ausgeübt. diesem Hinweis unserer Pflicht und ur Vorbereitung einer Stimmbera- Schuldigkeit gegenüber den geprüften Ztung oder zur Rettung eines durch Sängerinnen und Sängern genügt. Der Chor des Städtischen Musikvereins

Künstlerische Leitung: Medienreferent: Georg Lauer Chordirektorin: Marieddy Rossetto Tel: 02159.59 12 Tel: 0202.27 50 132 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Archivar: Dr. Martin Schlemmer Korrepetitor: Reinhard Kaufmann Tel: 0178.44 78 155 Tel: 02307.74 504 E-Mail: [email protected] Vorstand: Stimmvertreter: Vorsitzender: Manfred Hill Sopran: Sabine Dahm Tel: 02103.94 48 15 Tel: 0211.70 72 77 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Schriftführerin: Jutta Bellen Alt: Rita Schwindt Tel: 0211.31 80 557 Tel: 02131.17 69 595 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Schatzmeister I: Ernst-Dieter Schmidt Tenor: Hans-Peter Hill Tel: 02102.2 34 34 Tel: 02104.31 566 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Schatzmeister II: Ingeborg Kupferschmidt Bass: Lutz-Uwe Köbernick Tel: 0211.49 81 783 Tel: 0211.31 45 31 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected]

NC17 Seite 66 Termine / Vorschau / Konzerte 2012/13 mit den Düsseldorfer Symphonikern und dem Chor des Städtischen Musikvereins Wiederaufstellung Mendelssohn-Denkmal Donnerstag 27.9.2012 PROBENZEITEN 11 Uhr Festakt vor der Oper Gemeinschaftsproben 20 Uhr Konzert mit Werken von Felix Mendelssohn Bartholdy: finden i.d.R. dienstags u.a. Hör mein Bitten, Herr. von 19.25 Uhr bis 21.25 Uhr Hymne für Sopran, Chor und Orchester statt. Stamatia Karampini, Dirigentin Proben mit chorischer 12.10.2012 Freitag 20 Uhr Stimmbildung werden Sternzeichen 02 um 19 Uhr angeboten: Grieg, Peer Gynt. Bühnenmusik op. 23 montags für Herren und Johann von Bülow, Peer Gynt donnerstags für Damen. John Fiore, Dirigent 26.10.2012 Freitag 20 Uhr Sternzeichen 03 PROBENORT Fauré, Requiem op. 48 Die Proben finden im (Fassung mit kleinem Orchester, 1889) Helmut-Hentrich-Saal der GMD Andrey Boreyko, Dirigent Tonhalle statt, Ehrenhof 1, 1.1.2013 Dienstag 11 Uhr Eingang Rheinseite. Neujahrskonzert Opernchöre - Wiener Walzer Bei Ihrem ersten Besuch sollten Joji Hattori, Dirigent Sie gegen 19.00 Uhr dort sein! 4.4.2013 Donnerstag 20 Uhr Sonderkonzert Musikverein Achtung: Die Proben für

"Sing along" - Carmina burana dieses Mit-Sing-Konzert “Düsseldorf singt!" beginnen Anfang Januar 2013! Ein Konzert zum Mitsingen und Zuhören Leslie Suganandarajah, Dirigent Bitte melden Sie sich an!

Impressum / Städtischer Musikverein zu Düsseldorf e.V. Herausgeber: Geschäftsstelle Ehrenhof 1 - 40479 Düsseldorf E-Mail: [email protected] Internet: www.neue-chorszene.de www.musikverein-duesseldorf.de Bankver- Stadtsparkasse Düsseldorf bindung: BLZ 300 501 10 - Kt.Nr. 140 004 42 V.i.S.d.P.: Georg Lauer - [email protected] Redaktion: Jens D. Billerbeck, Erich Gelf, Georg Lauer, Udo Kasprowicz, Thomas Ostermann, Titelbild: Tonhalle Düsseldorf - Benefizkonzert mit Martin Stadtfeld zu Gunsten der Singause Textbilder: ungekennzeichnet: Städtischer Musikverein ISSN-Nr.: 1861-261X / Erscheineinungsweise: halbjährlich Druck: Druckerei Preuß GmbH - Ratingen Hinweis: Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion wieder. Nachdruck - auch auszugsweise - oder sonstige Vervielfältigung nur mit schriftl. Genehmigung der Redaktion.

NC17 Seite 67 „Geballte Informationen und großformatige Bilder zu allen Bereichen des Lebens in Düsseldorf.“ (Westdeutsche Zeitung) Clemens von Looz-Corswarem, Benedikt Mauer (Hg.) Das große Düsseldorf-Lexikon 856 Seiten mit 640 Abbildungen Format 21 x 27 cm Leinen mit Schutzumschlag 68 € bis zum 31. Januar 2013; danach: ca. 88 € ISBN 978-3-7743-0485-7 - www.greven-verlag.de

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Singen an Düsseldorfer Grundschulen

Home Die SingPause ist seit 2006 das Education-Programm des Städtischen Musikvereins für etwa 11.000 Kinder an Konzept Düsseldorfer Grundschulen. Es wird vom Kulturamt und Ward-Methode Schulverwaltungsamt der Landeshauptstadt sowie von Erfahrungen zahlreichen Sponsoren unterstützt. Kommentieren Standorte Die SingPause ist Teil des schulischen Programms. Zwei- Förderer mal wöchentlich für jeweils 20 Minuten unterrichten aus- gebildete Sängerinnen und Sänger die Kinder nach der Teilnehmer Ward-Methode. Dabei lernen sie neben Gehörbildung und Presse rhythmischer Schulung zahlreiche deutsche und interna- Kontakt tionaler Lieder. Termine/News Diese werden am Ende des Schuljahres bei den Spenden! Abschlusskonzerten in der Tonhalle präsentiert.

Hermann Weber Feuerlöscher GmbH Feuerlöscherfabrik Marie-Colinet-Straße 14 40721 Hilden Ruf: +49 (0)2103-9448-0 Fax: +49 (0)2103-32272 E-Mail: [email protected] ISSN-Nr. 1861-261X