Peter Gülke – Du Fay – links vor dem Portativ – und Binchois – rechts, mit der Harfe, Miniatur aus einer um 1451 in Arras angefertigten Kopie des Champion des Dames von Martin le Franc (, Bibliothèque Nationale, fonds français 12476, folio 98 recto Peter Gülke

Guillaume Du Fay

Musik des 15. Jahrhunderts

Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar Bärenreiter Kassel Bibliografi sche Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über abrufbar

ISBN 978-3-476-01883-0 (J.B. Metzler) ISBN 978-3-476-02848-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-02848-8

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© 2003 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprü nglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel GmbH in Stuttgart 2003 www.metzlerverlag.de [email protected] Inhalt

Vorwort ...... VII Zeittafel ...... XIX

I. De presbytero genitus et soluta ...... 1 II. – Konstanz und zurück: Klausur und große Welt ...... 7 III. Zwischen Ländern und Epochen? – Drei Malatesta-Motetten ...... 15 IV. Rimini: Zwei Balladen und die erste Messe ...... 38 V. Chanson I: »Fröhliche Wissenschaft« ...... 56 VI. Pfründen ...... 76 VII. Komponieren ohne Netz: Meßsätze und Satzpaare ...... 80 VIII. Contenance angloise ...... 93 IX. Im Lande Petrarcas ...... 105 X. Im Zeichen des heiligen Jakob: Bologna 1425-28 ...... 117 XI. Fauxbourdon ...... 134 XII. Chanson II: »Qui veult faire ...« ...... 148 XIII. Drei Papstmotetten ...... 153 XIV. Kanonkünste ...... 170 XV. Drei Motetten für Florenz ...... 184 XVI. Modus, Tonalität und Perspektive ...... 210 XVII. Liturgischer Alltag? – Hymnen, Antiphonen, Sequenzen ...... 230 XVIII. Chanson III: Douce Melancholie ...... 245 XIX. Balladen, Dispute, Lamenti: Gelegenheitsmusik ...... 261 XX. Galt ein Musiker überhaupt als Künstler? ...... 280 XXI. Chanson IV: Or pleust a dieu intertextuell ...... 293 XXII. Anonymitäten, Grauzonen und ein »zweiter Stil« ...... 303 XXIII. Antonius von Padua – Patron offener Formen ...... 323 XXIV. Weltlich veranlaßt – die Messen über Se la face ay pale und L’homme armé ...... 344 XXV. Du Fay einstimmig ...... 376 XXVI. Testamente im Zeichen der Gottesmutter ...... 382 XXVII. Ars moriendi und motettisches Bewußtsein ...... 412

Anhang Notenanhang ...... 439 Werkverzeichnis ...... 455 Eigens erwähnte oder eingehender erörterter Werke ...... 469 Glossar ...... 472 Literaturverzeichnis ...... 477 Personenregister ...... 492

V Vorwort

Guillaume Du Fay, zu seiner Zeit in seinem Fach eine Jahrhundertfi gur, stellt sich heute im Bewußtsein der musikalischen Öffentlichkeit als nebulöse bis legendäre Größe dar, nahezu als Geheimtip für Spezialisten und Eingeweihte. Die Gründe hierfür sind zu vielfältig, zu tief mit der Strukturierung des Musiklebens, mit der Art und Weise unseres Musikhörens und -erle- bens verbunden, als daß einer, der über ihn zu schreiben unternimmt, versuchen dürfte, sie geradenwegs zu entkräften oder auf einen Akt ausgleichender Gerechtigkeit auszugehen. Wichtiger und angemessener wäre anhand unterschiedlicher Stücke und von verschiedenen Seiten her immer neu zu fragen, weshalb und inwiefern diese Musik sich uns entzieht und dennoch eine Vorstellung vermittelt von dem, was sich da entzieht. Weil sich unter dem Gegendruck dieser Fragestellung tragfähige Verständnisbrücken am ehesten bauen lassen, hat der Rekurs auf sie mit Resignation nichts zu tun. Würden wir nicht so fragen, hätten wir mehr Anlaß zu Resignation – beispielsweise ange- sichts der Nachbarschaft von Hochschätzung und raschem Vergessen nach Du Fays Tod, noch mehr angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der fast alle kulturgeschichtlichen Darstellun- gen seiner Zeit Musik vernachlässigen und sich ersparen, dieses anhand der Quellen leicht überführbare Defi zit zu refl ektieren. Wenn schon nicht hierüber, müßten wir uns wenigstens darüber wundern, daß eine musikalische »Achsenzeit«1, in der die wichtigsten Weichen für die Entwicklung des mehrstimmigen Komponierens gestellt und Maßstäbe etabliert wurden, bei denen spätere Generationen oft nur mit Mühe mithalten konnten – nicht zufällig trägt deren ambitionierteste Darstellung aus jüngerer Zeit den Titel The Rise of European Music 2 – , so wenig Aufmerksamkeit fi ndet. Freilich hätten wir die Gegenfrage zu gewärtigen, weshalb wunderbare Musik komponiert, wunderbar aufgeführt und kompetent über Musik geschrie- ben werden konnte von Leuten, die von Du Fay, Ockeghem oder Josquin des Prés keine Ahnung hatten. Sie wären, sofern sie sich zu verteidigen nötig fänden, kaum widerlegbar mit der Argumentation, deren Schöpfungen hätten nur eine winzige Enklave in der Gesamtmasse des seinerzeit Gesungenen bzw. Musizierten gebildet, und die Art und Weise, in der wir Zutritt zu dieser Enklave suchten, hätte mit dem originaliter zugehörigen, vermutlich enttäuschend pragmatischen, viel weniger ästhetischen Verständnis wenig gemein. Wer immer wieder auf die Situation der entfernten, schwer zugänglichen Musik rekur- riert, bekommt, weil er einen weiten Problemhorizont offenhalten muß, mit einem metho- dischen Dilemma zu tun: Sauberes Nacheinander im Abhandeln aller auf Grundsätzliches zielenden Fragestellungen muß er sich versagen, Verfl echtungen von Werk und Biographie, Wiederholungen, wie immer aufs jeweilige Detail zuspitzend, kann er nicht vermeiden. Im vorliegenden Buch betrifft das die Problematik der Epochengrenze ebenso wie die eines angemes senen Hörens, diejenige adäquater ästhetischer Kategorien ebenso wie die soziologi- sche der jeweils gemeinten Adressaten, diejenige des Verhältnisses der notierten, komponierten zur nicht notierten, vornehmlich usuell geprägten Musik ebenso wie die der Aufführungswei- sen, es betrifft das Spannungsverhältnis zwischen der Dynamik der in den Werken initiierten

1 Eine Prägung von Karl Jaspers, vgl. ders.: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt am Main/Hamburg 1955, S. 58 ff. 2 Strohm 1993

VII Entwicklung und deren Abbremsung in konsistenten Strukturen ebenso wie dasjenige einer zunehmend prätendierten ästhetischen, wo nicht gar personenbezogenen Unverwechselbar- keit und der anonymisierenden Einbindung in Anlässe, Funktionen, Rituale, transzendierende Bezüge. Der eingangs behauptete, auf legendäre Größe reduzierte Du Fay scheint im Widerspruch zu stehen zu hochachtbaren, vielfältigen musikwissenschaftlichen Bemühungen und zur Arbeit von Spezialensembles, welche dem Interessierten kompetente Höreindrücke vermitteln, im Widerspruch auch zum interessierten, sachkundigen Verhältnis zu Du Fay bei etlichen Kom- ponisten unserer Zeit. Wir verfügen über eine, wie immer umstrittene, mittlerweile ergänzte und weiter ergänzungsbedürftige Gesamtausgabe, eine den Lebensweg nahezu lückenlos erhellende Dokumentation und können Aufführungen erleben, deren Überzeugungskraft uns das Gefühl vermittelt, dieser Musik nahe zu sein – und betreten damit das Glatteis einer waghalsigen, geschichtsbedingten Dialektik: Denn unsere Vorstellungen von musikalischer Plausibilität und Wirkung, von musikalischem Ausdruck und Erleben – das betrifft auch die Musizierenden – sind fast ausschließlich geprägt durch Erfahrungen mit jüngerer Musik, und derlei tief in unsere Emotionalität gebettete Erfahrungen und Prägungen können und dürfen wir nicht leichthin gegen andere austauschen. Der Du Fay, der uns günstigstenfalls erreicht, ist ein widergespiegelter Du Fay; nur die gröbsten Brechungen des Spiegels sind unserer Rechenschaft zugänglich, und pedantische Rechenschaften sollten wir nicht unbedingt wün- schen – sie gefährden die risikofreudig-unvermittelte Spontaneität des Zugangs, weil zu oft in Auskünfte darüber mündend, was wir mit dieser Musik nicht tun dürfen. Diese heutzutage in der Spielweise von Spezialensembles oft überzeugend entschärfte, weil integrierte Problematik zu erinnern erscheint nicht überfl üssig, weil sie beim Anhören jener Musik ungefragt mitarbeitet – beispielsweise, wenn wir Reglements von Kirchenton- arten auf die uns geläufi gere Dur-Moll-Polarität bezogen, also reduziert erleben; wenn später »dominantisch« genannte Harmoniefolgen oder periodische Stimmigkeiten allzu anheimelnd hervorleuchten, ein Stück wie Se la face ay pale uns vertraut und »modern« entgegenspringt und zu entsprechenden Schlußfolgerungen einlädt, obwohl es in jeder Hinsicht eine Aus- nahmelösung darstellt 3; wenn Doppelleittonkadenzen unserer diatonisch eingeschworenen Wahrnehmung fremder entgegenklingen als den Ohren damals, weil z.B. bei einem dem schließenden d – a – d’- Klang vorausgehenden e – gis – cis’ die Assoziation cis-Moll stärker ins Gewicht fällt als die Zwangsläufi gkeit der melodischen Fortschreitungen von e nach d, gis nach a, cis’ nach d’; oder wenn uns ein Quint-Oktavklang »hohl« erscheint und nicht, wie dem damaligen Verständnis entspräche, stärker schließend als ein durch die »unvollkommene« Terz getrübter. Solcher Verschiebungen sich erwehren zu wollen erscheint nicht nur sinnlos, weil man sich gar nicht wehren kann, sondern auch, weil es die Bandbreite der rezeptiven Möglichkeiten verengen und bestimmte Berührungen ausschließen, mithin Vorurteile prak- tizieren hieße, bevor eine ungeschützte Begegnung mit der Andersartigkeit dieser Musik stattgefunden hat. Selbstverständlich bleibt beispielsweise die unten4 angebotene Deutung für den Doppelleittonklang in der Motette Supremum est dem Verdacht ausgesetzt, allzu sehr von den angesprochenen Verschiebungen inspiriert zu sein; ihretwegen empfi nden wir gewiß auch die doppelleittönigen Kadenzfl oskeln u.a. bei Motettenschlüssen der zwanziger und dreißi- ger Jahre stärker als formelhaft angehängt als die Menschen damals. Wiederum sollte uns vor

3 Vgl. S. 57 ff., 345 ff. 4 S. 168/169

VIII übertriebenem Mißtrauen in unsere Eindrücke und Empfi ndungsweisen u. a. die Beobach- tung bewahren, daß eine doppelleittönig ausmündende, modern gesprochen: von G nach cis führende kleine Wendung in der Resvellies vous und in der nach ihr benannten Messe5 Du Fay charakteristisch genug erschien, um als auffällige Kennmarke zu dienen, und daß er in dem vieldiskutierten Rondeau Hélas, ma dame, par amours 6 die Besonderheit einer ähnlich fremd einfallenden Harmonie benutzt, indem er sie als Zielpunkt eines dreimal nahezu iden- tischen Melodiegangs erst beim dritten Mal einsetzt, nachdem er bei beiden vorangegangenen Malen die Erwartungen auf einen anderen, »natürlicheren« Auslauf eingeschworen hat. Für die Handhabung des Abstandes zwischen dem auf legendäre Größe reduzierten Du Fay und vermehrten Kenntnissen, zwischen der Aura des Entlegenen und einer oftmals unmit- telbar sich mitteilenden Klangrede bietet sich die von seinem Zeitgenossen Nikolaus von Kues defi nierte Denkfi gur der docta ignorantia an: Je mehr wir wissen, desto genauer wissen oder ahnen wir, was wir nicht wissen, desto genauer kennen wir Art und Weise unseres Nicht wissens und die Richtung, in der die unerreichbaren, unwißbaren Dinge liegen. »Les œuvres cessent d’amuser, d’exciter. – Elles peuvent avoir une seconde vie pendant laquelle on les consulte, à titre d’enseignement – et une troisième, – à titre d’enseignement … Joie d’abord. – Puis, leçon technique. – Enfi n, document.«7. So zutreffend dies immer erscheinen mag – vielleicht sind »Freude ... Unterweisung ... Dokument« in Bezug auf die Werke doch nicht so säuberlich scheidbar, vielleicht können wir uns vom »Dokument« über die »Unter- weisung« zu mancher »Freude« zurücktasten. So eindringlich bei dem Versuch vor falscher Vertraulichkeit mit anheimelnden Details gewarnt werden muß, welche uns ähnlich trügerisch entgegenkommen wie in nah verwand- ten Sprachen verständlich erscheinende Worte mit andersartigen Bedeutungen, so einseitig wäre es, unsere Rezeption für unbelehrbar zu halten und Annäherungen keine Chance zu geben. Jede neue, gründlich erfahrene, erlebte und refl ektierte Musik, welcher Art auch immer, verändert unsere Begriffe von Musik, unsere Rezeption, uns selbst; keineswegs arbeiten die rationalen Momente der musikalischen Wahrnehmung so autonom an den emotiven vorbei – im Gegenteil: Musik ist die hohe Schule ihrer Kooperation –, als daß intime Kenntnisse von Strukturen, Aufführungsumständen etc. nicht auch das vermeintlich naive Hören mitformen würden. Nicht zufällig sprechen wir von »Einhören«, wenn bei mehrmaliger Beschäftigung die Außenansicht einer vordem unvertrauten Musik, die zunächst deren Besonderes darzu- stellen schien, durchlässig wird und innerwärts die Details zu reden beginnen. Genau darum geht es bei alter Musik. Ihre Stilistik, jenes heute Besondere, einstmals das fast unter der Wahr- nehmungsschwelle liegende Selbstverständliche, stellt für uns, angefangen bei der Aura von Entlegenheit, von verlorener Einfalt oder einer von fernher tönenden frommen Botschaft, als Firnis und Patina einen eigenen ästhetischen Reiz dar, sie könnte unsere Aufmerksamkeit so sehr binden, daß wir die Sprache der darunter, dahinter befi ndlichen Details nicht vernehmen. Um diese jedoch war es den Komponierenden zu tun. Im Übrigen machen die generalisie- renden Wirkungen dessen, was hier summarisch »Patina« genannt wird, nicht nur der Musik zu schaffen: Wie schwer tut sich mancher, der die sakrale Großartigkeit mittelalterlicher Kir-

5 Vgl. Kap. IV 6 S. 64 und 214 7 Paul Valéry, Autres rhumbs, in: ders., Œuvres, Édition de la Pléiade, Paris 1960, Band II, S. 679; »DieWerke hören auf anzuregen, zu ergötzen. – Vielleicht leben sie ein zweites Mal, wenn man sie um der Belehrung willen befragt – und ein drittes Mal, wenn es wegen der Tatsachen geschieht ... Erst sind sie zur Freude da, dann zur Unterweisung, zuletzt als Dokument.« Paul Valéry, Werke, Frankfurter Ausgabe, Band 5, Frankfurt 1991, S. 262

IX chenräume zuerst im Zusammenhang mit deren Monochromie, mindestens stark verblaßter Farben, erfahren hat, mit farbenfrohen, fraglos authentischen Restaurationen; welchen gera- dehin orientalischen Farbenprunk müßte er mit seinen bisherigen Vorstellungen überein- bringen, wenn er in eine gemäß den Erkenntnissen der Kunsthistoriker wiederhergestellte gotische Kathedrale8 eintreten oder der in ihrer ursprünglichen Polychromie erstrahlenden Goldenen Pforte in Freiberg9 ansichtig würde! Patina außen und Strukturen innen strikt auseinanderzuhalten wäre indessen nicht nur ent mutigend, sondern falsch; es zöge eine Scheidung von Mittel und Intention nach sich, in deren Konsequenz beispielsweise verminderte Septakkorde bei Mozart, Moll-Dur-Wechsel oder mediantische Übergänge bei Schubert durch massenhafte Verwendung im späteren 19. Jahr hunderts um ihre Wirkung und Leuchtkraft gebracht sein müßten. Sie sind es nicht; ihnen bleibt, als Überschuß über ihre materielle Konfi guration und nicht von ihr ablösbar, der syntaktische Zusammenhang erhalten, die Art und Weise, wie, und die Begründungen, warum sie so eingesetzt sind, wie der Verlauf auf sie zukommt und sich von ihnen entfernt, und viele andere Momente, die den originalen Stellenwert refl ektieren und mindestens teilweise reaktivieren. Es gehört zu den Wundern großer Musik, daß sie den Hörenden anzusaugen, an den ihr eigenen Regelkreis heranzuziehen vermag – kaum fühlbar, wenn sie vertraut, und deutlicher fühlbar, wenn sie weit entfernt ist. Dennoch bedarf es besonderer Aufmerksamkeit, um etwa die katastrophischen Dimensionen bei Schubert oder Mozart, Bachs waghalsige Grenzgänge oder die »Lieder ... jenseits der Menschen« (Celan) beim späten Beethoven nachzuvollziehen – auch deren Musik altert bzw. hat, gewiß weniger wahrnehmbar, Patina. So könnte man sagen, daß Du Fay nur handgreifl ich vorführt, was jenen eines, hoffentlich fernen, Tages auch bevorsteht, vielleicht auch, daß die Beschäftigung mit seiner Musik jenen Tag hinausschieben hilft. Und umgekehrt. Patina, oder was wir als Notbehelf so nennen, ist nicht nur ein Hinzuge- kommenes, nicht nur Staubschicht der Jahrhunderte, sie wirkt auch als Optik und Dolmetsch, sie sickert in die Strukturen ein und macht als Kontrastmittel sichtbar, was früher Lebende nicht sahen. Wir brauchen nur Erfahrungen mit heutiger Musik zu vergegenwärtigen, um zu wissen, daß nicht ausschließlich das Verhältnis der Zeitgenossen zum jeweils neu Kompo- nierten als authentisch zu gelten braucht und jede spätere Wahrnehmung als durch Abstand neutralisiert, gemildert, beschönigt oder gar verfälscht. Musik realisiert sich allein in der Summe aller, auch peripherer Arten und Weisen, in denen sie gespielt, gehört, erlebt worden ist; sie braucht Zeit, möglicherweise viel Zeit, welche erst endet, wenn keiner mehr zuhört. Wenn wir, eigenen Eindrücken mißtrauend, von Patina und aus der Ferne herübertönenden Botschaften sprechen, meinen wir, meist unausgesprochen, mehr – die so gelassene wie ein- dringliche Klangrede einer Musik, die sich nicht, wie heutige, gegen die Überspülung durch den Geräuschpegel des täglichen Lebens und gegen andere Musik wehren muß und klingend Segmente jener größeren Stille umschreibt, aus der sie herkommt; die nicht, wie die heutige, die Last immerwährenden Einspruchs gegen unerträgliche Beschleunigungen trägt; die im all- mählichen, nahezu rituellen Vorantasten der Linien im Tonraum die Behutsamkeit aufbewahrt, mit der man mit dem jungen Wunder artifi zieller Mehrstimmigkeit umging, und im Formel- wesen der Kadenzierungen das Wissen, daß polyphone Gespinste zerbrechliche Gebilde sind, die markierender Stützungen bedürfen.

8 Hierüber u.a. Sedlmayr 1950, S. 26 ff. 9 Manfred Hübner/Manfred Lohse, Dom St. Marien Freiberg/Sachsen, 4. Aufl . Rostock 2001, S. 84

X Dennoch tut eine Darstellung gut daran, den Aufenthalt bei der Außenansicht zu ver- kürzen, es von vornherein möglichst genau machen zu wollen und mit Pauschalierungen sparsam umzugehen – deshalb im vorliegenden Buch analytische Betrachtungen, welche dem auf rasche Summierungen oder Lese-Kurzweil Ausgehenden nicht gefallen mögen und trotz beigegebener Hilfsmittel die Paradoxie riskieren, sich auf Einzelheiten einer in jedem Sinne schwer erreichbaren Musik einzulassen, die der Leser nicht sogleich vergegenwärtigen kann. In dieser Richtung hat den Autor nicht zuletzt die Erfahrung bestärkt, daß schon pedantische, lediglich bewußtmachende Beschreibungen von Details und Zusammenhängen bekann- tester Bilder, vertrautester Gedichte die Intensität der Wahrnehmung, die – auch emotio- nelle – Nähe befördern. Angesichts der besonderen Schwierigkeiten der Vergegenwärtigung der Musik auf eingehende Analysen zu verzichten hieße von vornherein Annäherungen und Ansprüche verlorenzugeben, welche bei anderen, mit Literatur und Kunst befaßten Wissen- schaften selbstverständlich sind. Die Verfolgung einer melodischen Linie, welche allmählich vorgegebene Tonräume erschließt, Spitzentöne sorgsam setzt, innerhalb einer Zeileneinheit von einer prägnanten Wendung zu freiem melismatischem Fluß und endlich zu kleinglied- riger Bewegung fortgeht, in deren Führung immerfort und bei wechselnden Gewichtungen der Bezug auf eine der anderen Stimmen fühlbar bleibt, mit denen sie bald mehr, bald weni- ger deutlich dialogisiert; die Beobachtung meist diskret gehandhabter rhetorischer Momente oder symbolischer Kontexte von An- oder Abstiegen, des Ausdruckswertes auffälliger Inter- valle wie der verminderten Quart oder des fein dosierten Gewichtes von Zeilenschlüssen etwa im Rondeau, die für verschiedenartige Fortführungen taugen müssen – derlei Aufmerk- samkeit schult eine »sich innigst identisch machende« Sensibilität, an der alle wahrnehmenden Instanzen teilhaben und die Unterscheidung intellektueller und emotiver Momente abprallt. Deshalb hat den Autor die Erwartung nicht entmutigt, daß nicht jeder Leser sich durch das Nadelöhr detaillierter Analysen hindurchzwängen wird. Im Übrigen bewegt die die Strukturen analytisch abtastende »zarte Empirie«10 sich auf den Spuren der, auch aus der Form der Aufzeichnung ersichtlichen, seinerzeit geforderten Art und Weise der Wahrnehmung – nicht zufällig taucht bei dem am stärksten auf Du Fay bezo- genen Theoretiker, Johannes Tinctoris, erstmals der Gesichtspunkt der »eruditio aureum«, der Schulung der Ohren auf 11. Diese von Sängern für Sänger komponierte Musik ist zu deutlich als prozessuale Entfaltung konzipiert, als daß man simpel unterscheiden dürfte zwischen der Wahrnehmung durch den sie von innen her aufschließenden Sänger bzw. Instrumentisten und derjenigen des von außen erlebenden Hörers; anders als in der uns geläufi gen Darbietungssi- tuation meint sie nicht in erster Linie den Hörer, die Maßgaben einer unmittelbar sich mittei- lenden Plausibilität sind ihr fremd, mithin auch diejenigen einer gerundeten, sich selbst genü- genden Vollendung. Sie braucht, eine Musik der Spezialisten und der Eingeweihten, nicht zu überzeugen, zu überreden, zu überwältigen – Heinrich Besselers suggestiver Brückenschlag zwischen varietas und Mystik12 z.B. erscheint zu stark einer ihr fremden Wirkungsästhetik geschuldet. Ihr wichtigster Adressat, die Transzendenz, mit der sie durch die Nabelschnur des Cantus fi rmus verbunden ist, dispensiert sie von allzu direkten Verpfl ichtungen und Zurich- tungen auf den irdischen Adressaten – vergleichbar u.a. den nach oben geklappten, von oben- her zu lesenden, mithin Gott zugewendeten Spruchbändern auf altniederländischen Bildern,

10 Goethe, Betrachtungen im Sinne der Wanderer, 126, Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe, München 1988, Bd. 8, S. 302 11 Wegman 2003 12 S. 428 ff. und Gülke 2001

XI z. B. dem Genter Altar der Brüder van Eyck. Sie darf und will, keineswegs im Widerspruch zu dem ihr eigenen »Realismus«, nicht ganz von dieser Welt sein und will nicht einfach erlebt, sondern erschlossen, im übertragenen Sinne aufgeblättert, gelesen, buchstabiert werden mit je nach Zugangsweise variablem Resultat. Wer sich musizierend in sie hineinbewegt wie ins Längsschiff einer Kathedrale, nimmt sie angemessener wahr als, wer zunächst den Grundriß anschaut – wobei der in die Musik Hineingehende seine »Kathedrale«, wie immer nach vor- gegebenem Plan, im Hineingehen überhaupt erst erbaut. Zu solchem Hineingehen zwingt auch die Notierungsweise. Die eigene Stimme fungiert dabei als eigener Weg neben anderen Wegen, deren Verlauf ebenfalls verfolgt werden muß – so wird u.a. eine ungeduldig vorwegnehmende Überschau über das Ganze verhindert, welche dem Herstellungsprozeß vorgriffe. Indem die Notierung den Musizierenden auf seinem Wege und auf dessen jeweiliger Station festhält, stellt sie eine spezifi sche Nähe zum Kompositions- prozeß her, abgesehen davon, daß ein beträchtliches Mindestmaß an strukturellem Verständnis vonnöten ist – nicht erst bei Stimmen, insbesondere Cantus fi rmi, welche dieselben Noten in verschiedenen Mensuren zu lesen erfordern. Eben hier, wo dem Ausführenden in Mensurvor- schriften wichtige strukturelle Maßgaben vor Augen stehen, zeigt sich, inwiefern auch rigoros vorausfi xierende Dispositionen wie die isorhythmische, wenn in erster Linie als klingende Architekturen, Korrespondenz- oder Symmetrieverhältnisse aufgefaßt, mißverstanden wären; zunächst und in erster Linie sind isorhythmische Vorgaben Spielanweisungen. Übertragung