„Kalevala“ Und „Nibelungenlied“ Als Nationalepen Im 19
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HUMANIORA: GERMANISTICA 5 HUMANIORA: GERMANISTICA 5 Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen Beiträge zum komparatistischen Symposium 6. bis 8. Mai 2010 Tartu herausgegeben von Heinrich Detering Torsten Hoffmann Silke Pasewalck Eve Pormeister Reihe HUMANIORA: GERMANISTICA der Universität Tartu Wissenschaftlicher Beirat: Anne Arold (Universität Tartu), Dieter Cherubim (Georg-August- Universität Göttingen), Heinrich Detering (Georg-August-Universität Göttingen), Hans Graubner (Georg-August-Universität Göttingen), Reet Liimets (Universität Tartu), Klaus-Dieter Ludwig (Humboldt- Universität zu Berlin), Albert Meier (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Dagmar Neuendorff (Ǻbo Akademie Finnland), Henrik Nikula (Universität Turku), Eve Pormeister (Universität Tartu), Mari Tarvas (Universität Tallinn), Winfried Ulrich (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Carl Wege (Universität Bremen). Umschlaggestaltung: Kalle Paalits unter Verwendung des Fotos „Kalevipoegs Stein am Saadjärv“ von Dieter Neidlinger Layout: Aive Maasalu ISSN 1736–4345 ISBN 978–9949–19–911–2 Urheberrecht: Alle Rechte an den Beiträgen verbleiben bei den Autoren, 2011 Tartu University Press www.tyk.ee Für die Unterstützung danken die HerausgeberInnen dem Deutschen Akademischen Austauschdienst INHALTSVERZEICHNIS Heinrich Detering, Torsten Hoffmann, Silke Pasewalck, Eve Pormeister. Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen. Zur Einführung ... 9 Thomas Taterka (Riga). Die Nation erzählt sich selbst. Zum europäischen Nationalepos des 19. Jahrhunderts .................. 20 Hans Graubner (Göttingen). Epos, Volksepos, Menschheitsepos – zum Epos-Konzept bei Herder ........................................................ 73 Barbara Schaff (Göttingen). Vom vielgelesenen zum ungelesenen Text: Ossians Vermächtnis in der schottischen Kultur ................... 93 Heinrich Detering (Göttingen). Das Nationalepos im Kinderzimmer: Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm ............................................................................................... 114 Silke Pasewalck (Tartu). Schillers „Wilhelm Tell“ – ein Schweizer Nationalepos? .................................................................................... 127 Karin Hoff (Göttingen). Erzählung als Erinnerung: Die Bedeutung der Isländersagas für das nation building (nicht nur) in Island .......................................................................... 150 Esbjörn Nyström (Tartu/Stockholm). „Frit(h)iofs saga“ – ein schwedisches Nationalepos zwischen Esaias Tegnér und Selma Lagerlöf ................................................................................... 169 Zuzana Stolz-Hladká (Göttingen/Konstanz). Identitäts- konstruktionen in der tschechischen Literatur des 19. Jahr- hunderts. Der Entwurf einer nationalen Identität durch Sprache und Literatur ..................................................................................... 191 8 Inhaltsverzeichnis Christian Niedling (Helsinki). Helden wie wir? Die Rezeption von „Kalevala“ und „Nibelungenlied“ als Nationalepen im 19. Jahr- hundert .............................................................................................. 212 Torsten Hoffmann (Frankfurt a. M.). Letzte Tage der Männlichkeit. Die Nibelungen in Heiner Müllers „GERMANIA“-Dramen ........... 232 Eve Pormeister (Tartu). Das estnische Epos „Kalevipoeg“ in der Spannung zwischen Nationalepos und Menschheitsepos. Eine Interpretation der Höllenfahrtszenen .............................................. 256 Mari-Ann Palm (Tartu). Fr. R. Kreutzwald als zeitkritischer Beobachter. Anhand seiner Beiträge in der Wochenschrift „Das Inland“ ...................................................................................... 280 Marin Laak und Piret Viires (Tartu/Tallinn). Das estnische Epos „Kalevipoeg“ und seine Rezeption in Kultur und Literatur ........... 295 Angaben zur Person .......................................................................... 319 Heinrich Detering, Torsten Hoffmann, Silke Pasewalck, Eve Pormeister Detering, Hoffmann, Pasewalck, Pormeister Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen. Zur Einführung Das 18. und 19. Jahrhundert bringen im Zuge der proto-nationalen und nationalen Bewegungen in Europa ein neuartiges Interesse an tatsächlich oder vermeintlich autochthonen literarischen Überlieferun- gen des „Volkes“ hervor. In der Folge der entsprechenden Sammlun- gen (von Percys „Reliques of Ancient Poetry“ bis zu Herders „Stimmen der Völker in Liedern“) und jeweils im Kontext eines spezifischen na- tion building entstehen im Zusammenhang damit oft umfangreiche epi- sche Dichtungen, die als Rekonstruktion teils oder ganz verlorener „nationaler“ Epen aufgefasst werden. Dabei kann es sich um der Hel- denepik nahestehende Texte handeln wie im Fall von Macphersons „Ossian“, aber auch um Corpora vorgeblich „nationaler“ Volksdichtung wie Arnims und Brentanos „Des Knaben Wunderhorn“ oder die „Kin- der- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Die spätesten und in vie- ler Hinsicht interessanten dieser zugleich neuen und vorgeblich uralten nationalen Epen sind das finnische „Kalevala“ des Elias Lönnrot und das in seiner Folge und nach seinem Vorbild entstandene estnische „Kalevipoeg“ von Friedrich Reinhold Kreutzwald. Anders als die meis- ten ihrer Vorgänger geben diese beiden nationalromantischen Epen sich offen als philologisch-poetische Konstruktionen zu erkennen, in denen sich Dokumentation und Fiktion mischen – freilich mit dem Ziel, aus Dokumenten und Imagination ein Verlorenes zu rekonstruieren, das als Ursprung der gegenwärtigen (oder in naher Zukunft wieder- herzustellenden) Nation geltend gemacht und damit, einer romanti- schen Analogie folgend, zugleich als Ausdruck ihres eigentlichen Wesens, ihrer kollektiven Identität erscheinen soll. Solche Beobachtungen gaben den Anlass zu einem komparatistischen Symposion, das aus der vom DAAD geförderten „Germanistischen In- stitutspartnerschaft“ zwischen der Tartuer und der Göttinger Germa- nistik hervorging, das vom 6. bis zum 8. Mai 2010 an der Universität Tartu stattfand und an dem Wissenschaftler aus Estland, Lettland, Finnland und Deutschland teilnahmen. Ziel war es, die explizite und 10 DETERING, HOFFMANN, PASEWALCK, PORMEISTER implizite Poetik einiger dieser Texte exemplarisch herauszuarbeiten. Dabei sollten historische und systematische Analogien und Differenzen sichtbar gemacht und ebenso langlebige wie unangemessene Klischees („Authentizität“ vs. „Fälschung“) wenn nicht überwunden, so doch we- nigstens kritisch reflektiert werden. Rasch erwies es sich als notwendig, einen weiten Eposbegriff zugrunde zu legen. Die leitende Frage nach Formen der Funktionalisierung vor- geblich oder tatsächlich alter und anonymer epischer Überlieferungen im Kontext eines nation building und der Konstruktion eines dafür kon- stitutiven kulturellen Gedächtnisses erforderte es, neben Epen im enge- ren Sinne auch solche Texte in den Blick zu nehmen, die im strengen Sinne nicht in die literarische Gattung des Epos fallen, aber in signifi- kant ähnlicher Weise instrumentalisiert, konzipiert und kanonisiert wurden, etwa die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm oder die „Wilhelm Tell“-Überlieferungen einschließlich ihrer Trans- formation in Schillers Geschichtsdrama. Schon Jacob Grimm legt diesen weiten Begriff nahe: „ich behaupte folgende sätze und ihre identität: die älteste geschichte jedweden volks ist volkssage, jede volkssage ist episch. das epos ist alte geschichte. alte geschichte und alte poesie fallen nothwendig zusammen.“ Im Vergleich der unter dieser Voraussetzung erörterten Texte und ihrer Rezeptionsformen zeichneten sich wiederkehrende Merkmale und Spannungsverhältnisse ab, die in aller Vorläufigkeit und Unvoll- ständigkeit festgehalten zu werden verdienen: 1. Alter und künstliche Alterung: Wo ein Text nicht wie das „Nibelun- genlied“ nachweislich alter Überlieferung entstammt, muss er (in der Stilisierung durch den Autor oder in der Rezeption) älter gemacht werden, als er tatsächlich ist. Deshalb muss beispiels- weise das – überwiegend doch von Kreutzwald selbst neu ge- schriebene – „Kalevipoeg“ in Figurenkonstellation, Handlungs- verläufen und metrischen Merkmalen dieselbe Dichte an archai- scher Überlieferung suggerieren wie das von Lönnrot u.a. aus – wenn auch heterogenem – altem Material zusammengesetzte „Kalevala“; deshalb müssen auch die Grimm’schen Märchen, ih- rer Vorrede zufolge, von einer alten Bäuerin erzählt worden sein und nicht von einer jungen, französisch gebildeten Stadt- Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen. Zur Einführung 11 bürgerin. Ist aber die Behauptung hohen Alters wesentlich für die Wirkungsmöglichkeit des Textes, so wird doch seine vor- gebliche oder tatsächliche Wiederentdeckung in der Gegenwart als Zeichen eines hier und jetzt neu erwachenden Nationalgeis- tes gelesen. Der neu entdeckte oder jedenfalls neu gelesene Text muss uralt sein; der uralte Text aber muss neu vergegen- wärtigt werden. 2. Anonymisierung und Autorschaft: Der Autor tritt einerseits hinter das Nationalepos zurück; er erscheint nur im Gestus des Sammlers, Redaktors, Übersetzers. Andererseits kann er auf diesem Umweg in der Wirkungsgeschichte der Texte doch wie- der einen überaus starken Autorstatus gewinnen, der ihn etwa zum Wiedererwecker der Nation stilisiert. Für den Fall etwa, dass der Fälschungsvorwurf gegenüber dem „Ossian“ sich be- stätigen und Macpherson also doch nicht bloß der bescheidene Herausgeber dieser Dichtungen gewesen sein sollte, zieht der erste deutsche Übersetzer Michael Denis