Tangenten oder »Die Geschichte dampft noch« (Erich Loest) Deutsche Literatur 1950 –1989 und 1989–2009

Tagung aus Anlass der Ehrenpromotion von Erich Loest an der Justus-Liebig-Universität Gießen

23.–25. November 2009 ausgerichtet von Prof. Dr. Carsten Gansel (Universität Gießen) und Prof. Dr. Joachim Jacob (Universität Gießen) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) der Universität Gießen und Prof. Dr. Pawel Zimniak (Universität Zielona Góra) Tangenten oder „Die Geschichte dampft noch“ tagungsprogramm

Montag, 23.11.09 14:00 – 14:15 eröffnung 14:15 – 15:00 prof. Dr. Lutz Hagestedt (Universität Rostock) Auch Geschriebenes ist erlebt, »Aber ich kenne verschiedene Seiten der deutschen auch Gedachtes gewesen. Wirklichkeit, verschiedene Möglichkeiten, sie zu Zum Verhältnis von Biographie beurteilen oder sie zu untersuchen, und ich halte und Autobiographie es für einen Vorteil, wenn man die andere Seite bei Erich Loest mit ihren eigenen Augen sehen kann.« 15:00 – 15:45 pD Peter Braun () (Universität Konstanz) Erich Loests autobiographische Schriften und sein biographischer Roman über Karl May

Eine Tagung aus Anlass der Ehrenpromotion von Erich 15:45 – 16:15 Kaffeepause Loest an der Universität Gießen motiviert zu einer neu- 16:15 – 17:00 Dr. Anja Oesterhelt en Beschäftigung mit dem Werk eines Autors, der seit (Universität Gießen) 1950 in der deutschen Literatur präsent ist. Gleichwohl »Heimatkunst« bei Erich Loest kann nicht davon gesprochen werden, dass sich die Literaturwissenschaft mit Werk und Wirkung von Erich 17:00 – 17:45 prof. Dr. Manuel Maldonado Alemán Loest bislang umfassend beschäftigt hat. Es hängt dies (Universidad de Sevilla) nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass Erich Topographie der Erinnerung. Loest wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor Die Auseinandersetzung mit der in die gesellschaftlich-politischen Konflikte nach 1945 Vergangenheit in Erich Loests hineingezogen worden war: Loest, Jahrgang 1926, Roman »Löwenstadt« gehört zu jener Generation, die noch am Ende des 17:45 – 18:30 Werner Liersch () Zweiten Weltkrieges von der Oberschule weg als Hitlers letztes Aufgebot einberufen wurde. Nach der Rückkehr Erich Loest und Hans Fallada aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft holte er das 19:00 abendessen Abitur nach und war von 1947 bis 1950 als Journalist bei der Leipziger Volkszeitung tätig. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans »Jungen die übrigblieben« (1950), der ihn schlagartig bekannt machte und bis heute zu den bedeutendsten deutschen Kriegsromanen zählt, arbeitete Erich Loest als freischaffender Autor. Hatte er als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und SED-Mitglied zunächst die DDR-Politik unterstützt, nahm Loest im Anschluss an die Ereignisse um den 17. Juni 1953 eine zunehmend kritische Haltung gegenüber

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Dienstag, 24.11.09 Mittwoch, 25.11.09 9:00 – 9:45 prof. Dr. Carsten Gansel 8:00 – 10:00 Lesung Ingo Schulze (Universität Gießen) 10:00 – 10:15 Kaffeepause »Ihr habt keine Ahnung, Kinder« – 10:15 – 11:00 prof. Dr. Joachim Jacob Erich Loest im Kontext der Literatur (Universität Gießen) in der DDR Erich Loests Fühmann-Vorlesungen 9:45 – 10:30 hidde van der Wall (University of Nottingham) 11:00 – 11:45 Dr. Monika Hernik (Universität Zielona Góra) Konsens und Dissenz – drei Publikatio- nen Erich Loests aus dem Jahre 1953 Dokument der Agonie oder Im Wartesaal der Geschichte – 10:30 – 10:45 Kaffeepause Erich Loests »Zwiebelmuster« 10:45 – 11:30 prof. Dr. Dirk van Laak 11:45 – 13:15 mittagspause (Universität Gießen) 13:15 – 14:00 prof. Dr. Werner Nell Erich Loests Roman »Es geht seinen (Universität ) Gang« und die DDR der 1970er Jahre Dissidenten als literarische Vermittler. 11:30 – 12:15 Dr. Jörg Wesche Zum zeitgenössischen Kontext von (Universität Augsburg) Erich Loests ›Polen-Plan‹ Am Ohr der Staatsmacht. und darüber hinaus Über das Ab-, Ver- und Zuhören 14:00 – 14:45 michael Hametner von Schriftstellern in Literatur und Film (MDR/Leipzig) 12:15 – 13:15 mittagspause Erich Loest als Hörspielautor 13:15 – 14:00 Dr. Matthias Braun 14:45 – 15:30 prof. Dr. Wolfgang Gast (Birthler-Behörde/Berlin) (Universität Gießen) »Gegen 7.00 schreibt Lauf auf der Zu Erich Loests Verfilmung Schreibmaschine etwa 1,10 Minuten« von »Nikolaikirche« 14:00 – 14:45 prof. Dr. Pawel Zimniak 15:30 abschlussdiskussion (Universität Zielona Góra) Zeit zu sterben. Ideologische Indoktri- nierung und Generationengedächtnis in Erich Loests »Der Abhang« 14:45 – 15:30 Dr. Jan Strümpel (Steidl Verlag/Göttingen) Erich Loest lektorieren 15:30 – 16:00 Kaffeepause 16:00 – 18.00 Verleihung der Ehrenpromotion an Erich Loest

4 5 Tangenten oder „Die Geschichte dampft noch“ Deutsche Literatur 1950–1989 und 1989–2009 der DDR-Politik ein. Seine Opposition führte 1957 zur Erinnerungsarbeit eine öffentliche Debatte ausgelöst hat. Verurteilung wegen angeblicher »konterrevolutionärer Da Erich Loest seit 1950 in der deutschen Literatur in Gruppenbildung« und zu acht Jahren Haft mit striktem vielfältigen Rollen agiert hat, erscheint es angeraten, Schreibverbot im Zuchthaus Bautzen II. Nach der Haft- dabei von einem Ansatz auszugehen, der Literatur als entlassung 1964 begann Loest als Autor von vorn. Doch ›Handlungs- und Symbolsystem‹ modelliert. Insofern sind bereits ab Anfang der 1970er Jahre geriet er erneut in neben den Texten auch die Handlungsrollen und die ent- Konflikt mit demSE D-Apparat. Nachdem die zweite Auf- sprechenden Institutionen in den Blick zu nehmen. Dies lage seines Romans »Es geht seinen Gang oder Mühen um so mehr, da es um Entwicklungen in der DDR, in der in unserer Ebene« (1978), der zu den wichtigen Texten BRD und um deutsch-deutsche Literatur- bzw. Kulturbezie- aus der Literatur in der DDR gehört, eingezogen worden hungen geht. Vor diesem Hintergrund sollen Leben und war, trat Loest aus Protest gegen die Zensurmaßnahmen Werk Erich Loest unter folgenden Aspekten untersucht aus dem Schriftstellerverband aus. Die 1981 erfolgte und diskutiert werden: Übersiedlung in die Bundesrepublik war für den Autor schließlich die einzige Chance, sich weiteren Repressa- lien zu entziehen. Sie bedeutete aber den wiederholten 1. Loest und die Literatursysteme Neuanfang, denn als Autor musste sich Erich Loest im westdeutschen Literaturbetrieb erst durchsetzen. Erich Loest trat und tritt als Akteur in vier verschiede- Wenn im Jahre 2009 in einer Reihe von Veranstal- nen Literatursystemen auf. Seine Anfänge als Autor und tungen an das Jahr 1989 erinnert wird und an den politischer Intellektueller reichen zurück in die Nach- Umstand, dass seit der Wende in der DDR und der kriegszeit, wo er zu jener »jungen Generation« zu deutschen Wiedervereinigung zwanzig Jahre vergan- rechnen ist, die sich in einem relativ offenen kulturel- gen sind, dann erscheint es einmal mehr dringlich, sich len Feld gegenüber den etablierten Dichtern aus Exil einem Autor zuzuwenden, der sich in vielfältiger Weise und innerer Emigration zu positionieren beginnt und für den demokratischen Erneuerungsprozess und für die nach neuen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten für kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten deutsch- das Generationenerlebnis Krieg sucht. 1950, an der deutschen Geschichte eingesetzt hat. Erich Loest war Schwelle zur vollständigen Ausdifferenzierung zweier als Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller deutscher Literatursysteme, in der DDR erschienen, kann entscheidend daran beteiligt, die Geschichte der beiden sein Roman »Jungen die übrigblieben« als End- und Verbände in Ost und West aufzuarbeiten. Seit Ende der Höhepunkt dieser Frühphase eingeordnet werden. Das 1980er Jahre hat sich der Autor zudem in einer Reihe literarische wie politische Schaffen Loests in der DDR von erfolgreichen Romanen vor allem mit der deutschen ist sodann wesentlich geprägt von den Konflikten eines Teilung und der Wiedervereinigung auseinandergesetzt. kritischen Autors im gelenkten Literaturbetrieb einer ge- Sein Drehbuch (später Roman) »Nikolaikirche« wurde als schlossenen Gesellschaft. Loest hat zwar in der ersten erfolgreicher TV-Mehrteiler unter der Regie von Frank Hälfte der 1950er Jahre zunächst ästhetische Positio- Beyer verfilmt. nen bzw. ›Vereinbarungen‹ der frühen DDR-Literatur mit Die Tagung zielt darauf, das literarische wie intel- getragen. Gleichwohl hat er mit seinem literarischen lektuelle Profil von Erich Loest zu bestimmen, dessen wie politischen Engagement das Literatursystem in der Aufschlusskraft für die deutsch-deutsche (Literatur-) Ge- DDR frühzeitig aufgestört. Dieses Überschreiten der eng schichte zu diskutieren und ihn nicht zuletzt auch in den gezogenen institutionellen Toleranzgrenzen wurde von Kontext jener Autoren-Generation zu stellen, die in den den politischen Instanzen in der DDR als Störung von letzten Jahren vor allem durch ihre spezifische literarische Normalität und Destabilisierung bewertet [vgl. auch 2]

6 7 Tangenten oder „Die Geschichte dampft noch“ Deutsche Literatur 1950–1989 und 1989–2009 und zog drastische Sanktionen nach sich: Erich Loest 1956, 1959, 1961, 1965, 1968). Das gesellschaftskri- wurde zu einer hohen Zuchthausstrafe verurteilt, erhielt tische Engagement von Autoren wie Erich Loest führte Schreibverbot und wurde in der Folge flächendeckend zu einer permanenten Aufstörung in einem zunehmend überwacht. In der Bundesrepublik erfolgte Loests dritter geschlossenen System. Dabei zeigt sich: In dem Maße, Start als Autor und Kulturpolitiker. Als stellvertretender wie sich die gesellschaftlichen Toleranzgrenzen veren- Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller ge- gen, reagieren totalitäre Systeme auf offensichtliche hörte er bald zu den führenden Instanzen im westdeut- Störungen mit Mitteln der Repression. Insofern machen schen Kulturbetrieb. Das erworbene Renommee machte Werk wie Biographie von Erich Loest exemplarisch an- es Erich Loest möglich, ab 1989 einen entscheidenden schaulich, auf welche Weise Literatur aufstörend wir- Beitrag zur (literarischen) Auseinandersetzung mit der ken kann und wie spezifische Systeme mit derartigen deutsch-deutschen Geschichte zu leisten. Erich Loest Irritationen umgehen. Mit dem Autor Erich Loest steht hat zudem maßgeblich dazu beigetragen, dass die damit einerseits die Frage nach der Wirkungskraft von Geschichte der beiden Schriftstellerverbände untersucht Literatur im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Stabi- und zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion wurde. lisierungsprozessen und Störung im Raum. Andererseits Sein Vorschlag, mit einem ›Polen-Plan‹ die Förderung geht es in diachroner Perspektive jeweils um spezifische polnischer Literatur in Deutschland und deutscher Lite- ›Einschnitte‹ im Literaturprozess, die nur deshalb im kollek- ratur in Polen zu unterstützen, stellte ein wesentliches tiven Gedächtnis erinnert werden, weil sie aufstörende Moment seines Engagements für die Literaturen in Mittel- Wirkungen hatten. und Osteuropa dar. In diesem Rahmen ist grundsätzlich zu fragen nach dem Verhältnis zwischen dem Autor als Akteur und den (literatur)politischen Institutionen in 3. Deutsche Vergangenheitsbewältigung unterschiedlich geprägten kulturellen Feldern. Loest als und Unterhaltungsindustrie Grenzgänger lädt zur synchronen Perspektive auf lite- ratursoziologische Prozesse in den beiden disparaten Loest und die Populärliteratur. Ein Teil von Erich Loests Literatursystemen in Ost und West ein. literarischem Werk lässt sich unterhaltenden Genres wie dem Kriminalroman zuordnen. Diesem Aspekt der Werk- geschichte wurde bislang kaum Beachtung gezollt. Doch 2. Zwischen Stabilisierung und Störung auch Loests späte Geschichtsromane (»Nikolaikirche«, 1995; »Reichsgericht«, 2001) spielen mit Elementen der Loest und die DDR-Kulturpolitik. Loests Roman »Jungen Unterhaltungsliteratur und wurden – im Fall von »Nikolai- die übrigblieben« setzte einen Anfangspunkt bei der kirche« nicht zuletzt auch aufgrund seiner Verfilmung – zu dann für die 1950er Jahre gewichtigen Debatte um die Bestsellern. Das Übertreten nur scheinbar festgezogener »harte Schreibweise« im Kriegsroman. Der kulturpoliti- Genregrenzen gehört zu den wesentlichen wirkungsäs- sche Schlagabtausch um die Texte der jungen ostdeut- thetischen Mitteln, deren sich Loest bedient. Der (affir- schen Autorengeneration, mithin um den künstlerischen mative) Gebrauch publikumswirksamer Erzählmuster im Umgang mit der jüngsten Vergangenheit, war nur ein Zusammenhang mit der literarischen Aufarbeitung von Schauplatz des Ringens des SED-Apparates um eine Sta- Geschichte erlaubt es, den Autor als Vorreiter einer Ent- bilisierung der Gesellschaft. Welch zentrale Bedeutung wicklung im medialen Umgang mit der Vergangenheit dem kulturellen Feld für den geistigen Wiederaufbau zu verorten, die sich nach 1989 als eine bedeutende beigemessen wurde, zeigen die zahlreichen weiteren Facette des deutschen Kulturbetriebs etablierte. Die Aus- Kontroversen in den 1950er und 1960er Jahren (1953, schöpfung des Unterhaltungswerts von Vergangenheit

8 9 Tangenten oder „Die Geschichte dampft noch“ Deutsche Literatur 1950–1989 und 1989–2009 schlug sich insbesondere im letzten Jahrzehnt im »His- 5. Modernität und Traditionalität totainment« von TV-Formaten wie Dokufiktionen sowie in einer Vielzahl von Historienfilmen nieder. Die Lösung Loests Poetik. Zu bestimmen ist schließlich auch der der Literaturwissenschaft von überholten Wertkategorien literaturgeschichtliche Ort von Erich Loests Schreiben wie »E-« und »U-Literatur« ermöglicht einen neuen Blick insbesondere im Kontext der Entwicklungen innerhalb auf diesen Aspekt von Loests Werk. Gerade vor dem der Literatur in der DDR. Loests Realismus verweigert sich Hintergrund aktueller Tendenzen im Umgang mit der formalen Experimenten und wirkt in seinen Dialog- und jüngeren deutschen Vergangenheit erscheint eine Be- Erzähltechniken herkömmlich. Vor diesem Hintergrund schäftigung mit genuin literarischen Vermittlungsformen steht die Bestimmung von Loests Literaturbegriff zwischen von Geschichte in Abgrenzung zu den neuen Leitmedien Kontinuität und Innovation im Spannungsfeld zwischen vonnöten. eigenem Schreiben und literaturpolitischer Programmatik aus. Auch seine essayistischen Arbeiten verdienen in diesem Zusammenhang eine eigene Würdigung. 4. Das ›Prinzip Erinnerung‹

Autobiographisches Schreiben und regionaler Bezug Carsten Gansel und Joachim Jacob, bei Loest. In Loests Texten spielt das ›Prinzip Erinnerung‹ Gießen im Mai 2009 auch für den Autor selbst eine gewichtige Rolle. Der Übersiedlung in die Bundesrepublik folgte eine verstärkte Hinwendung zu autobiographisch geprägten und regi- onal fest in Loests verlorenem sächsischem Lebens- und Wirkungsbereich verankerten Texten als einem bestän- digen »Rückzugspunkt« (Günter Kunert) des literarischen Schaffens. Seine Autobiographien »Durch die Erde ein Riß« (1981) und »Der Zorn des Schafes« (1990), aber auch Romane wie »Völkerschlachtdenkmal« (1984) oder »Reichsgericht« machen deutlich, welche Relevanz er der regionalen wie autobiographischen Verankerung seiner Erzähltexte beimisst. Die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur erfolgt wesentlich über autobiographische Erinnerungsliteratur. Ein weiterer fester Bezugspunkt ist der Zweite Weltkrieg. Auch in der Auseinandersetzung mit dem Kriegserlebnis wendet sich Loest verstärkt einer autobiographischen Schreibweise zu (»Stille Rückkehr eines Werwolfs«, 1986). Es ist zu fragen, inwieweit sich aus Loests Umgang mit Kriegserlebnis und Totalitarismus eine spezifische R» hetorik der Erinnerung« ablesen lässt, und welchem Wandel diese Rhetorik in der diachronen Perspektive von 60 Jahren und unter verschiedenen Lite- ratursystemen unterliegt. Zudem steht die Rekonstruktion einer regionalen Topographie seines Werks aus.

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