Sucht Nach Mobilität (23/1999) FOTOS: FORD (O
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
VIII. DAS JAHRHUNDERT DES SOZIALEN WANDELS: 1. Flucht in die Stadt (21/1999); 2. Aufstieg durch Bildung (22/1999); 3. Sucht nach Mobilität (23/1999) FOTOS: FORD (o. li.); DAS FOTOARCHIV (u. li.); ACTION PRESS (u. re.) (u. li.); ACTION FOTOARCHIV FORD li.); DAS (o. FOTOS: Henry Ford I. im Ford A-Modell (1924); Porsche, Hitler, Volkswagen-Modell (1936); Highway in Kalifornien; Porsche 911 Das Jahrhundert des sozialen Wandels Sucht nach Mobilität Motor des industriellen Wohlstands, Ikone von Freiheit und Protzsucht – das Automobil veränderte den Alltag wie keine andere Erfindung zuvor. Die Massenmotorisierung hatte ihren Preis: Umweltschäden und Megastaus. Doch das Auto wird weiter geliebt. der spiegel 23/1999 143 Das Jahrhundert des sozialen Wandels: Sucht nach Mobilität Das Ding, das vorwärtsdrängt Von Christian Wüst m frühen Morgen des 5. August Als „sehr unruhiges und ganz und gar 1888 fand der Mannheimer Fabri- unangenehmes Beförderungsmittel“ schalt Akant Carl Benz einen Zettel in der Englands Königin Victoria die junge Erfin- Küche. „Wir sind zur Oma nach Pforzheim dung. Bei der Eröffnung der internationa- gefahren“, grüßten Frau und Kinder. Der len Automobilausstellung 1898 in Paris Wagen war weg. nannte Frankreichs Präsident Félix Faure Bertha Benz reiste, chauffiert von Sohn Autos „ziemlich häßlich und übelrie- Eugen, in dem klapprigen, erst zwei Jahre chend“. Die schwachen Motoren, anfangs zuvor patentierten Dreirad 100 Kilometer meist Einzylinder mit etwa zwei bis drei durch die badische Hügellandschaft. „Tap- PS, kapitulierten bereits an mittleren Stei- fer und mutig“, erinnerte sich der Ehe- gungen (zwei Bauernbuben halfen Bertha mann später, „hißte sie neue Segel der Benz über einen Berg vor Pforzheim) und Hoffnung auf.“ vibrierten so heftig, „daß die Zuschauer Laut Mercedes-Firmenchronik verfügte oft meinten, die Fahrgäste zitterten aus die Fabrikantengattin über beachtlichen Angst“, schreibt Verkehrs-Chronist Max- technischen Sachverstand und reichlich Im- well Lay in seinem Buch „Die Geschichte provisationstalent. Mit der Hutnadel sto- der Straße“. cherte sie die verstopfte Kraftstoffleitung Nichts sprach damals für eine glänzen- frei. Das Strumpfband diente zum Isolieren de Karriere der neuen, bizarr anmuten- Spiegel des 20. Jahrhunderts eines wundgescheuerten Zündkabels. den Transportmittel. Pferdekutschen be- Als Werbeveranstaltung für das gera- herrschten den urbanen Nahverkehr und de erfundene Benzinmobil taugte der welt- verseuchten die Innenstädte.Allein in New weit erste Akt von Automobiltourismus York sammelten sich täglich 1100 Tonnen nicht. Nach zahlreichen Zwangspau- Mist auf den Straßen an. sen, etwa zum Erneuern der ledernen Die Zukunft des Reiseverkehrs, so Bremsbeläge, erreichte Bertha Benz Pforz- schien es damals, lag auf den Schienen und heim. Mit dem Fahrrad wäre sie schneller Ozeanen. Die Vorboten des beginnenden gewesen. Massentourismus, eine betuchte Elite, roll- Die ersten benzingefeuerten Motorwa- ten in Salonwagen in die Ferne oder be- gen waren alles andere als gebrauchstüch- stiegen Ozeanriesen wie die „Titanic“, die tige Fahrzeuge. Sie erschienen kaum als schwimmende Grand-Hotels zwischen zweckmäßiger als die bereits über 100 Jah- den Kontinenten pendelten. re zuvor eingeführten Dampfmobile, die Den Motorwagen trauten nicht einmal vereinzelt mit ihren gigantischen Heizkes- ihre Erfinder eine große Zukunft zu. Der seln über die Feldwege zuckelten. Weltmarkt für Automobile, prognostizier- ten die Daimler-Werke um die Jahrhundertwen- de, werde eine Million Start bei einem Autorennen um 1910: „Eine Wagen nie überschreiten, da nur ein kleiner Pro- auf eine halbe Milliarde Automobile. Täg- zentsatz der Arbeiter lich kommen 100000 neue hinzu. zum Chauffeur ausgebil- Keine andere Erfindung veränderte das det werden könne. Bild der Erde und den Alltag der Menschen Beginnend mit dieser so schnell und so nachhaltig. Jahrtausen- grandiosen Fehleinschät- dealte Siedlungsstrukturen, in denen kaum zung in eigener Sache, er- jemand weiter als zehn Kilometer vom Ar- hoben sich die Automo- beitsplatz entfernt wohnte, verschwanden. bilbauer binnen weniger Weitverzweigte Wohngebiete und Vor- Jahrzehnte zur Schlüssel- städte breiteten sich aus. industrie der Weltwirt- Der Siegeszug des Automobils gipfelt in schaft. Wie ein Virus mit der täglichen Apokalypse von Lärm, Ab- unerschöpflicher Repro- gasen, Energieverschwendung und kilo- duktionsenergie bevöl- meterlangen Staus. Das Instrument der Be- kerte das Kraftfahrzeug freiung und Mobilmachung wurde zum B. BOSTELMANN / ARGUM den Planeten Erde. Der Alptraum des Jahrhunderts, was seiner all- Porsche-Stand auf der IAA 1997: Lust am Überfluß Bestand wuchs bis heute gemeinen Beliebtheit jedoch nicht den ge- 144 der spiegel 23/1999 fachte er den Spiritusbrenner der um- ständlichen Glührohrzündung und steck- te unversehens seinen benzingetränkten Monteursanzug in Brand. Geistesgegenwärtig warf der Kunde den lodernden Ingenieur in einen nahe gelege- nen Gartenteich. Mit schweren Verbren- nungen überlebte der bedeutendste Pio- nier der beginnenden Motorisierung. Maybach, knebelbärtig und gottesfürch- tig wie ein Protagonist aus der Romanwelt Heinrich Manns, legte den Grundstein des modernen Automobilbaus. Die Vollwaise, im Reutlinger Bruderhaus zum Ingenieur ausgebildet und dort durch den begüterten Unternehmer Gottlieb Daimler entdeckt, befreite das Kraftfahrzeug von den Fes- seln des altertümlichen Karossenprinzips. Die hochbeinigen Kutschen, nachträglich mit Motoren versehen, waren rasch an die Grenzen der Fahrphysik gestoßen. Sie ge- rieten ins Schleudern, kippten in Kurven um und wurden, als die Motorleistungen stiegen, zu tödlichen Katapulten. Daimler-Werksfahrer Wilhelm Bauer verunglückte im März 1900 auf einer Wett- fahrt in Südfrankreich. Bei etwa 60 km/h verlor er in der Kurve die Kontrolle über das Gefährt, wurde gegen eine Wand ge- schleudert und starb am Tag darauf im Hospital an den Folgen eines Schädel- bruchs. Maybach untersuchte den Unfallwagen, erkannte, daß die Ursache im Konstruk- tionsprinzip begründet lag, und schuf ein völlig neues Fahrzeug. Im Jahr darauf er- schien der erste Mercedes, benannt nach der Tochter des österreichischen Ge- schäftsmanns Emil Jellinek, der die Daim- ler-Wagen in Frankreich vertrieb. Mit einer gänzlich vom Kutschenbau ab- gekehrten Rahmenkonstruktion senkte Maybach den Schwerpunkt deutlich ab, verlängerte den Radstand und verlegte den Motor nach vorne. Der Fahrer saß nun zwi- schen und nicht über den Rädern. Neun Jahrzehnte behielt Mercedes diese „Stan- dardbauweise“ bei und verließ sie erstmals mit dem vor zwei Jahren präsentierten HERBERT / ARCHIVE PHOTOS HERBERT Kleinwagen der A-Klasse und dem Stadt- archetypische Gewalt, völlig immun gegen Aufklärung“ mobil Smart – beide hochbeinig und mit kurzem Radstand. Prompt fielen sie ringsten Abbruch tat. Als „archetypische Schon bevor es ernstzunehmende Ge- wieder um. Gewalt“ definiert der Philosoph Peter Slo- schwindigkeiten erreichte, war das Auto- Maybachs Wagen begründeten den terdijk das Automobil, „die völlig immun mobil ein lebensbedrohliches Gerät, allein Ruhm der Marke Mercedes. Dank seiner gegen Aufklärung ist“. wegen der leichten Entflammbarkeit seines damals einzigartigen Straßenlage vertrug Keine einzige Errungenschaft der zivilen Kraftstoffs. Wilhelm Maybach, Chefkon- er Motorleistungen bis zu 90 PS, erreichte Technikgeschichte entwickelte eine ver- strukteur der Daimler-Motorenwerke in über 130 Stundenkilometer und war in gleichbare Zerstörungskraft. Jede Minute Cannstatt, wurde 1892 beinahe das erste Rennen schier unbesiegbar. Sämtliche Kon- stirbt auf der Welt ein Mensch im Straßen- Feueropfer der Automobilgeschichte. kurrenten übernahmen bald Maybachs verkehr.Weltweit fallen eine halbe Million Vor der Übergabe einer Motorkutsche Konstruktionsprinzip. „Deutschland hat Menschen pro Jahr dem blechernen Göt- an einen Kunden reparierte er deren de- den Beweis erbracht, daß es technisch an zen zum Opfer. fekte Kraftstoffleitung. Kurz darauf ent- der Spitze der automobilistischen Bewe- „Der Kraftwagen ist neben dem Flugzeug zum genialst durchkonstruierten Verkehrsmittel der Menschheit geworden.“ Adolf Hitler, 1933 der spiegel 23/1999 145 Das Jahrhundert des sozialen Wandels: Sucht nach Mobilität gung steht“, schrieb das „Neue Wiener Ta- geblatt“ 1903. „Der geniale Maybach ist der Konstrukteur des Mercedes-Wagens. Ihm Preis und Ehr!“ Zuteil wurde ihm letztlich Undank. Das Mercedes-Management – Gottlieb Daimler war 1900 verstorben – mobbte den Visionär bald aus dem Unternehmen. Anlaß der Querelen war seine beharrliche Forderung, Zündkerzen und obenliegende Nocken- wellen einzuführen – Bauteile, die schon bald darauf zum Standard modernen Mo- torenbaus zählten. Die Leistung der Aggregate stieg nach 1901 gewaltig an und überreizte rasch aufs neue die Stabilitätsreserven der verbesser- ten Fahrwerke. Im Blitzen-Benz von 1909 erreichte die PS-Spirale einen vorläufigen Höhepunkt. 1911 stellte der rammbockar- tige Rennwagen, dessen Karosserie zu drei Vierteln der Motorraum ausfüllte, in den USA den Weltrekord von 228,1 km/h über eine Meile auf. Die Bestleistung blieb bis 1924 unangetastet. An der Überlegenheit des Automobils gegenüber dem Pferdefuhrwerk bestanden keine Zweifel mehr. Rasch entwickelte es sich zum elitären Prestigeobjekt und eben- so geschwind zum allgemeinen Ärgernis. Die Landbevölkerung grollte dem knat- DPA ternden Luxusspielzeug, weil es die beste- Baustelle am Frankfurter Kreuz: Jahrtausendealte Siedlungsstrukturen verschwanden henden Verkehrswege