Polnische Akademie der Wissenschaften Wissenschaftliches Zentrum in Wien

Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien

Band 10: 2019

Wien 2019 Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien Band 10

Redaktionskomitee: Arkadiusz Radwan (Vorsitzender), Agnieszka Kościuszko, Irmgard Nöbauer, Kamila Śniegocka

Redaktion des Bandes: Irmgard Nöbauer

Rezensent: Zdzisław Noga

Satz, Layout und Korrektur: Max Szot

© 2019 Copyright Polnische Akademie der Wissenschaften Wissenschaftliches Zentrum in Wien Für den Inhalt sind allein die Autoren verantwortlich.

ISSN 2520-5714 ISBN 978-3-9504462-4-1 Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...... 5 Veranstaltungsverzeichnis der Polnischen Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien für das Jahr 2019 ...... 9

Neue Staaten – Neue Gesellschaften: Polen und Österreich nach 1918 Von Grenzen zu Völkern Maciej Górny — Von der Nation zur Grenze und zurück ...... 15 Christoph Augustynowicz — Ein Diskussionsbeitrag zu Maciej Górnys Kreślarze ojczyzn ...... 27 Film- und Kinokultur der Zwischenkriegszeit in Polen und Österreich Hanna Krajewska — Über die Anfänge der polnischen Kinematographie ...... 31 Stefan Schmidl — Film als Bekenntnis und Flucht. Zum Kino der österreichischen Zwischenkriegszeit ...... 39 Sport und Politik in der Zwischenkriegszeit in Österreich und Polen Dariusz Wojtaszyn — Im Dienst des Staates. Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit ...... 49 Georg Spitaler — Sport und Politik im Österreich der Zwischenkriegszeit ...... 61 Erfinder und Entdecker aus Polen Krzysztof Dąbrowski — Die Geschichte der RWD-Flugzeuge ...... 71 4 Inhaltsverzeichnis

Geschichte Michał Wardzyński — Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski in Łubnice und Puławy als Exposituren der Kunst der Staaten der Habsburgermonarchie in der Republik Polen-Litauen ...... 91 Jakub Forst-Battaglia — Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918/1921. Vom Kampf um Lemberg bis zum Frieden von Riga ...... 125 Bildende Kunst Lidia Gerc — „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien ...... 153 Jerzy Lisak — Mein Abenteuer mit dem Film Loving Vincent ...... 221 Musikwissenschaft Wagner-Artzt — Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen ...... 231 Michał Piekarski — Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen zwischen beiden Städten ...... 259 Theatergeschichte Tadeusz Krzeszowiak — Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit. 250 Jahre Polnisches Nationaltheater ...... 275 Vorwort

Wir freuen uns, Ihnen den zehnten Band des Jahrbuchs des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien vorlegen zu dürfen, der wie all die Jahre zuvor die vielfältigen Aktivitäten des Zentrums widerspiegelt, wobei Themen, die ausgewählten Aspekte der vielfältigen pol- nisch-österreichischen Geschichte gewidmet sind, stets besondere Aufmerk- samkeit geschenkt wird. Ein Themenschwerpunkt der Aktivitäten des Zentrums sind Konferenzen und Vorträge zu unterschiedlichsten historischen Fragestellungen. So wurde im Vorjahr ein Vortragszyklus mit dem Titel „Neue Staaten, neue Gesellschaf- ten: Polen und Österreich nach 1918“ initiiert, in dessen Zentrum ausgewählte Fragestellungen über die Situation in Österreich und Polen in der Zwischen- kriegszeit stehen. Im Rahmen dieser Vorträge, die von der Translationswissen- schaftlerin Joanna Ziemska moderiert werden, wird das jeweilige Thema des Abends aus österreichischer sowie aus polnischer Sicht vorgestellt. Da die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg von der Entstehung neuer Staaten sowie neuer Grenzziehungen geprägt waren, war ein Vortragsabend dem Thema der neuen Grenzen nach 1918 gewidmet. Die Schaffung neuer Grenzen, neuer staatlicher Strukturen und neuer Gesellschaften stellte im Falle von Polen und Österreich eine besondere Herausforderung dar, zumal der Umfang der Ver- änderungen im wiedererstandenen Polen, dessen Staatsgebiet aus Gebieten der einstigen drei Teilungsmächte bestand, und in Österreich, das nach 1918 nur mehr aus einem kleinen Teil des Staatsgebiets der einstigen Habsburgermonar- chie bestand, wohl besonders groß war. In seinem Buch Kreślarze ojczyzn [Die Zeichner der Vaterländer] schreibt Maciej Górny, einer der beiden Referenten dieses Abends, dass „Grenzen keine objektive Abbildung der Wirklichkeit“ wä- ren. Seine Reflexionen zu diesem Thema, die auf der Grundlage seines Buchs erfolgten, finden Sie ebenso in dieser Publikation wie die Stellungnahme des österreichischen Historikers Christoph Augustynowicz dazu. 6 Vorwort

Mit der Entstehung neuer Staaten und Gesellschaften gingen auch neue kulturelle Phänomene und Entwicklungen einher, die bereits im 19. Jahrhun- dert begonnen hatten und sich während des Ersten Weltkrieges beschleunig- ten. Auch die Erfindung des Kinematographen durch die Gebrüder Lumière, der während des Ersten Weltkriegs zu einem wichtigen Propagandamedium wurde, war ein solches Phänomen. In der Zwischenkriegszeit wurden Film und Kinematographie zu einem wichtigen Phänomen der Massenkultur. Sie durchlebten eine bemerkenswerte technische und künstlerische Entwicklung. So löste der Tonfilm den Stummfilm ab, zahlreiche Kinos wurden auch in klei- neren Ortschaften gegründet, in den einzelnen Ländern entstanden nationale Filmkulturen, die das Bewusstsein der Menschen prägten. In einem der Film- und Kinokultur gewidmeten Vortragsabend setzten sich Hanna Krajewska und Stefan Schmidl mit der Entwicklung der Filmkultur in Polen und Österreich der Zwischenkriegszeit auseinander. Auch der Sport war in den neu entstandenen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg ein wichtiges Phänomen, das nicht nur den sozialen Zusammenhalt förderte, sondern auch politisch instrumentalisiert wurde. Dariusz Wojtaszyn und Georg Spitaler setzen sich in ihren Beiträgen mit diesen Phänomenen aus- einander. Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg stehen auch im Mittelpunkt des Bei- trags von Jakub Forst-Battaglia, der sich mit dem Ringen des wiedererstande- nen Polens um seine Grenzen sowie seinem Platz in der künftigen politischen Landschaft Europas auseinandersetzt. Eine langjährige Tradition am Wissenschaftlichen Zentrum sind die Vor- träge von Krzysztof Dąbrowski, der Techniker und Erfinder polnischer Her- kunft vorstellt. In der heurigen Ausgabe des Jahrbuchs beschäftigt er sich mit den RWD-Flugzeugen der polnischen Flugzeug-Versuchswerkstätten, die als die weltweit bekanntesten polnischen Flugzeugkonstruktionen gelten. Die beiden musikwissenschaftlichen Beiträge in dieser Ausgabe des Jahr- buchs sind ausgewählten Aspekten der musikalischen Beziehungen zwischen Lemberg und Wien gewidmet. Manfred Wagner-Artzt stellt Leben und Wir- ken von Franz Xaver Mozart, dem Sohn von Wolfgang Amadeus Mozart, vor, dessen musikalische Wirkungsstätte viele Jahre seines Lebens Lemberg war. Michał Piekarski wiederum beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den musika- lischen Beziehungen zwischen Wien und Lemberg, die zu Beginn des 20. Jahr- hunderts als „die musikalischste polnische Stadt“ galt, wobei er sich nicht nur mit der Geschichte der Spielstätten in dieser Stadt auseinandersetzt, sondern auch mit Persönlichkeiten des Lemberger Musiklebens, von denen viele auf den bedeutendsten Bühnen der Welt große Erfolge feierten. Vorwort 7

Der Geschichte der Warschauer Oper ist der Beitrag von Tadeusz Krzeszo- wiak gewidmet, wobei er einen Streifzug von deren Gründungsjahren über den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Möglichkeiten der Bühnentechnik im Laufe der Geschichte unternimmt. Im Mittelpunkt des Vortrags von Michał Wardzyński stehen die Kunst- zentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski in Łubnice und Puławy als Exposituren der Kunst der Staaten der Habsburgermonarchie in der Republik Polen-Litauen. Insbesondere stellt der Autor in seinem Beitrag die personel- len und höfisch-diplomatischen Beziehungen vor, die beide Generationen der Besitzer von Puławy zu Wien, zur Umgebung der Kaiser Josef I., Karl VI. und der Kaiserin Maria Theresia sowie zu den Ländern der Habsburgermonarchie pflegten. Eine langjährige Tradition im Leben des Zentrums ist der Tag der Offenen Türe, der am 29. Juni 2019 zum zwölften Mal begangen wurde. Im heurigen Jahr standen die beiden an diesem Tag gehaltenen Vorträge im Zeichen zweier berühmter Künstler. Lidia Gerc setzt sich in ihrem Beitrag mit der Rezeption des polnischen Historienmalers Henryk Siemiradzki in Wien auseinander, der zu seinen Lebzeiten äußerst bekannt war, und analysiert, welche Resonanz die Gemälde des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Malers in Wien fan- den. Ein gänzlich umgekehrtes Schicksal prägte das Leben des Malers Vincent van Gogh. Während zu seinen Lebzeiten nur ein einziges seiner Bilder verkauft wurde, sind die Motive seiner Gemälde und sein charakteristischer Malstil heute weltweit bekannt. Auch der Erfolg des Films Loving Vincent, der 2017 in die Kinos kam, zeugt von der Popularität und vom Interesse an der Biographie des Malers. Er gilt als der erste Animationsfilm in Spielfilmlänge, wobei Bild für Bild im Stile von Gemälden van Goghs nachgemalt wurde. Jerzy Lisak, einer jener Maler, die an diesem Film mitwirkten, beschreibt die Entstehung des Films und seine Mitwirkung daran. Wir hoffen, dass es uns auch in diesem Jahr gelungen ist, auf der Grundlage der in dieser Publikation versammelten Beiträge ein facettenreiches Bild der wissenschaftlichen Aktivitäten des Zentrums zu zeichnen. Schließlich möchten wir auch in diesem Jahr wieder all jenen unseren Dank aussprechen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben: den Verfasserinnen und Verfassern für ihr Engagement und ihre ausgezeichneten Beiträge, ohne die dieses Jahrbuch nicht denkbar wäre, sowie allen Institu- tionen und den dort tätigen Menschen, mit denen wir bei der Organisation und Durchführung der Veranstaltungen des Zentrums und bei der Herausgabe dieses Buches zusammenarbeiten durften. Das Redaktionskomitee

Veranstaltungsverzeichnis der Polnischen Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien für das Jahr 2019

1. Tag der Offenen Türe Zwölfter Tag der Offenen Türe in Zusammenarbeit mit der Wiener Krakauer Kulturgesellschaft Vorträge: Mag. Lidia Gerc: „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien Jerzy Lisak: Mein Abenteuer mit dem Film Loving Vincent Open Air Konzert: Agata Piśko und die Band Klezmer Reloaded (Maciej Gołębiowski – Klarinette, Alexander Shevchenko – Knopfakkordeon) 29. Juni 2019

2. Vortragszyklus „Neue Staaten, neue Gesellschaften: Polen und Österreich nach 1918“ Sport und Politik Vortragende: Dr. Georg Spitaler und Univ.-Prof. Dr. Dariusz Wojtaszyn Moderation: Mag. Joanna Ziemska 25. Juni 2019

3. Konferenzen, Symposien, Seminare und Workshops Konferenz: Netzwerk von Interessen und monarchisches Herrschaftszentrum – Der polnische Hof und die Außenbeziehungen in der Zeit der Wasa-Dynastie 10 Veranstaltungsverzeichnis für das Jahr 2019

Veranstalter: Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießener Zentrum Östliches Europa, Polnische Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien 8. – 9. März 2019

Symposium: Das Jahr 1919 in Polen und der . Geschichte, Sprache, Literatur 7. Mai 2019

Workshop: ERC Mentoring Initiative Veranstalter: Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Polnische Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien 29. Juni 2019

Symposium: 1918 –1919 und das Jahrhundert danach. Der Zerfall Österreich-Ungarns und die Anfänge des heutigen Mitteleuropas Veranstalter: Institut für den Donauraum und Mitteleuropa, Milko Kos His- torisches Institut der Slowenischen Akademie der Wissenschaften, Polnische Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien 25. September 2019

Symposium: Ende und Aufbruch – die politischen Folgen des Ersten Weltkrieges Veranstalter: Heeresgeschichtliches Museum Wien, Polnische Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien Dieses Symposium war die zwölfte Tagung im Rahmen eines Konferenz­ zyklus, der sich mit ausgewählten Themen der polnisch-österreichischen Geschichte befasst. Das Symposium fand im Heeresgeschichtlichen Museum Wien statt. 8. November 2019

Workshop: ERC Mentoring Initiative Veranstalter: Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Polnische Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien, 22. – 23. November 2019 Veranstaltungsverzeichnis für das Jahr 2019 11

Seminar: Justice reform through specialization: experiences of European countries with courts specialized in resolving cases in the field of company law and capital market 26. November 2019

Seminar: From the Union of Lublin to the European Union. A festive symposium on the 450th anniversary of the Union of Lublin 14. Dezember 2019

4. Vorträge

OSTR Prof. Dr. Tadeusz Krzeszowiak: Die technische Revolution an europäischen Theatern vom 18. bis zum 20. Jahrhundert 22. Jänner 2019

Dipl.-Ing. Krzysztof Dąbrowski: Die Flugzeuge der polnischen Flugzeugsversuchswerkstätte RWD sowie deren Konstrukteure 28. Februar 2019

Dr. Jakub Forst-Battaglia: Polen und seine Nachbarn zwischen Brest-Litowsk, Versailles und Riga. Kriege, Bürgerkriege, Grenzziehungen und Friedensschlüsse in Europas Osten 1918 – 1921 12. März 2019

Piotr Burosowski: „Ein Freund und Kenner der Kunst“. Albrecht von Sebisch und seine Breslauer Grafiksammlung 21. März 2019

Dr. habil. Konrad Osajda: Directors’ Liability for an Insolvent Company’s Debts: Comparative Law Remarks 3. September 2019 12 Veranstaltungsverzeichnis für das Jahr 2019

Univ.-Prof. Dr. Jozefa Gadek-Wesierski: Prof. Rudolf Weigl – ein polnischer Wissenschaftler mit österreichischen Wurzeln. Sieger über das Fleckfieber 22. Oktober 2019 Mag. Christian Springer unter Mitwirkung von Alina Mazur (Mezzosopran) und Stefan Donner (Klavier): Stanisław Moniuszko zur 200. Wiederkehr seines Geburtstags 19. November 2019 Dr habil. Marcin Gołaszewski: „Das Vaterland des echten Schriftstellers ist seine Sprache. Ihm allein ist die Gnade zuteil geworden, seine Heimat mit sich zu führen“ – Das Eigene und das Fremde in den Feuilletons von Joseph Roth! 10. Dezember 2019

5. Buchpräsentationen „Disce puer (vel puella)… historiam!“ – Bogusław Dybaś / Igor Kąkolewski, Lehrbücher für den Geschichtsunterricht in Galizien, Wien 2018 16. Mai 2019 Edward Bialek / Krzysztof Huszcza, Zwischen Breslau und Wien. Zu schlesisch-österreichischen Kulturbeziehungen in Geschichte und Gegenwart, Dresden 2017 Veranstalter: Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, Österreich-Bibliotheken im Ausland, Österreichische Akademie der Wissen- schaften, Österreichische Gesellschaft für Literatur, Polnische Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien 5. November 2019

6. Ausstellungen Wortgewalten. Hans von Held. Ein aufgeklärter Staatsdiener zwischen Preußen und Polen Kuratoren der Ausstellung: Univ.-Prof. Dr. Joachim Bahlke und Mag. Anna Joisten Veranstaltungsverzeichnis für das Jahr 2019 13

Veranstalter: Deutsches Kulturforum Östliches Europa, Polnische Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien 19. März – 26. April 2019

7. Gedenkabende Die Heimkehr – Abend zu Ehren von Prälat Univ.-Prof. Dr. Bonifacy Miązek (1935 – 2018) 25. März 2019 Gedenkabend anlässlich des 50. Todesjahres von Franz Theodor Csokor (1885 –1965) Veranstalter: Österreichisch-Polnische Gesellschaft, PEN-Club Austria, Polni- sche Akademie der Wissenschaften – Wissenschaftliches Zentrum in Wien 4. April 2019

8. Buchdiskussionsklub Wir lesen polnischsprachige Neuerscheinungen und diskutieren darüber. Im Rahmen des Buchdiskussionsklubs wurde über folgende Bücher diskutiert: Farba znaczy krew von Zenon Kruczyński 23. Jänner 2019 Pająki pana Roberta von Robert Pucek 27. Februar 2019 Białe. Zimna wyspa Spitsbergen von Ilona Wiśniewska 29. März 2019 Polacos: Chajka płynie do Kostaryki von Anna Pamuła 24. April 2019 Bukareszt. Kurz i krew von Małgorzatą Reimer 22. Mai 2019 Moraliści. Jak Szwedzi uczą się na błędach i inne historie von Katarzyna Tubylewicz 26. Juni 2019 Tam von Natasza Goerke 25. September 2019 14 Veranstaltungsverzeichnis für das Jahr 2019

Kwiaty w pudełku. Japonia oczami kobiet von Karolina Bednarz 23. Oktober 2019 Żeby nie było śladów. Sprawa Grzegorza Przemyka von Cezary Łazarewicz 20. November 2019 Fałszerze pieprzu von Monika Sznajderman 18. Dezember 2019

9. Kultur- und Stadtspaziergänge Erkundungsspaziergang durch die Gemeinde Wiener Neudorf, u.a. Besichtigung des Mahnmals zum Gedenken an das ehemalige KZ-Außenlager Wiener Neudorf, in dem während des Zweiten Weltkriegs auch sehr viele Polen inhaftiert waren Idee und Organisation: DI Barbara Vecer 10. April 2019 Maciej Górny

Von der Nation zur Grenze und zurück

Am 8. Januar 1918 verkündete der Präsident der USA Woodrow Wilson sei- ne berühmten „vierzehn Punkte“. Dabei verwendete er den Begriff der „self determination of peoples“ – anders, als man häufig liest – nicht. Ohne die- sen Grundsatz wären jedoch die meisten der von ihm formulierten Punkte unverständlich, in deren Zentrum u. a. stand, den zahlreichen Minderheiten, die bis dato kein Stimmrecht hatten, eine Stimme oder wenigstens ein Mitbe- stimmungsrecht einzuräumen: „An evident principle runs through the whole program I have outlined. It is the principle of justice to all peoples and natio­ nalities, and their right to live on equal terms of liberty and safety with one another, whether they be strong or weak“.1 Eine weitere Botschaft war Wilsons Plädoyer für eine liberale Demokra- tie. Auch diese Forderung wurde von den politischen Eliten Ostmitteleuropas rezipiert und verinnerlicht, was u. a. bei der Lektüre der litauischen Unabhän- gigkeitserklärung deutlich wird, die dieses „Prinzip der Demokratie“ anspricht. Den Höhepunkt ihrer Popularität erfuhren diese beiden Ideen Wilsons al- lerdings etwas später im Laufe der ersten Wochen der Friedensverhandlungen in . Die Idee, dass es nationale Territorien gibt, die mit den staatlichen Grenzen in Einklang gebracht werden müssen, inspirierte viele Delegationen zu einer ethnischen Argumentation. Sie beriefen sich auf Zensusdaten, die man zur besseren Anschaulichkeit in Form ethnographischer Karten darstellte.

1 https://www.upi.com/Archives/1918/01/08/Wilsons-14-points-for-peace/9173951 304148/ (Zugriff: 6. März 2019). 16 Maciej Górny

In der Theorie ist die Übersetzung einer Statistik in die Sprache der Kar- tographie eine rein technische Angelegenheit. Man nimmt die Zahlen und ordnet ihnen Farben und Farbschattierungen zu, die die jeweilige ethnische Mehrheit repräsentieren. In der Praxis gehört diese Übertragung jedoch zu den schwierigsten und bis heute ungelösten Probleme der Kartographie. Die Wahl der Darstellungstechnik, der Farbe, des Maßstabs etc. – all dies hat einen er- heblichen Einfluss auf die Gestaltung und Wirkung der Karte. Die Gründe da- für, dass Karten lügen, sind so vielfältig wie die kartografischen Werkzeuge und Symbole. Bereits die Projektion, das heißt die Übertragung der Erdkugel auf eine zweidimensionale Fläche, erzwingt an einigen Stellen eine Veränderung der Proportionen. Je nach Art des verwendeten Netzes ziehen sich manche Kontinente zusammen, andere blähen sich auf. Symbole wie Punkte, Linien, Flächen, Pfeile, Farben – insbesondere letztere sind von besonderer Bedeu- tung – dienen der Hervorhebung und es liegt im Ermessen des Kartografen zu entscheiden, was mehr oder was weniger wichtig ist. Die Übertragung statisti- scher Daten auf eine Karte erfordert zahlreiche Vereinfachungen, die die realen Verhältnisse notgedrungen verzerren. Je nachdem, welche Verwaltungseinheit (Gemeinde, Landkreis, Provinz) als Grundlage für die Statistik herangezogen wird, kann sich das Bild diametral verändern. Dies alles geschieht manchmal sogar ohne bewusste Intention der Kartografen. Ist es jedoch das Ziel, nicht nur die Wirklichkeit wiederzugeben, sondern auch die Dynamik der Karten grafisch wiederzugeben, dann sind „Werkzeugkiste“ und zur Verfügung ste- hende Manipulationstechniken fast unerschöpflich.2 Eine der schwierigsten Herausforderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Befreiung der Karte von den bisher geltenden administrativen Gren- zen. Üblicherweise werden Daten wie Konfession und Nationalität von Beam- ten gesammelt, die im Rahmen gewisser administrativer Einheiten agieren. Die Mehrheit kann in einer solchen Einheit, beispielsweise Gemeinde oder Kreis, Unterschiedliches bedeuten. Es kann sein, dass die ländliche Bevölkerung einer anderen Nationalität angehört als die Stadtbewohner. Nicht selten ist die Verteilung der Ethnien mit der administrativen Gliederung nicht oder nur teilweise kongruent. Kurz gesagt: Auf den beiden Seiten einer Grenze leben Menschen gleicher ethnischer Herkunft, die bei einer anderen Grenzziehung ebenso gut gemeinsam die Mehrheit hätten bilden können. Bei diesen Schwie- rigkeiten handelt es sich lediglich um sogenannte „objektive“ Schwierigkeiten.

2 Mark Monmonier, Eins zu einer Million. Die Tricks und Lügen der Kartographen, übers. v. Doris Goestner, Basel 1996, passim. Von der Nation zur Grenze und zurück 17

1918 –1919 gab es noch weitere Schwierigkeiten, die höchst subjektiver Natur waren. Nur selten waren die Zensusdaten glaubwürdig. In Russland waren sie ganz offensichtlich falsch, auch deshalb, weil der Staat einige Nationalitäten (wie z. B. die Ukrainer) nicht anerkannte. Die Fälschungen der österreichi- schen und vor allem der ungarischen Statistik wurden von den Delegationen der Tschechen und Slowaken sowie von den Jugoslawen in Paris scharf kriti- siert: „Man ersieht die Wertlosigkeit der magyarischen Statistik aus der Tatsache, daß die Gemeinden unter verschiedener Gestalt bei den verschiedenen Zählungen erscheinen; bei der einen Zählung gel- ten sie als slowakisch; bei der anderen als magyarisch; dann von neuem als slowakisch und hierauf wiederum als magyarisch usw. In dem Komitat Wesprim [Veszprém] ist die Gemeinde Szapar um die Mitte des vorigen Jahrhunderts als slowakische festgestellt worden. Die magyarische Statistik von 1880, 1890 und 1900 verzeichnet dort keine Slowaken, sondern führt die Bevölkerung als magyarisch. 1910 findet man in einer Gemeinde, die vorher in der magyarischen Statistik als rein magyarisch geführt wurde, plötzlich 344 Slowaken neben 257 Magyaren und 55 Deutschen. In Wirklichkeit hat diese Gemeinde niemals aufgehört, slowa- kisch zu sein. Die magyarische Verwaltung leugnete vorher ihren slowakischen Charakter.“3 Auf dem Balkan produzierte man Unmengen von Daten, die einander wi- dersprachen. Morgane Labbé verglich die Volkszählungen in Bulgarien, Grie- chenland und Jugoslawien im Zeitraum nach 1918. Nur die ersten, durchge- führt jedoch auf dem Staatsgebiet Bulgarien, eines Staates also, der kraft des Vertrags von Neuilly-sur-Seine zugeschnitten wurde, versuchten den Kontakt mit der ethnischen Realität zu behalten. Bei den übrigen stellte sich als do- minierender Wert nicht die Sammlung verlässlicher Daten dar, sondern der Beweis eines ethnisch homogenen Landes. Darauf ist die Angabe bzw. Nicht- angabe von ethnischen Kategorien wie Nationalität oder Sprache zurückzu- führen. Mazedonier wurden in der jugoslawischen Zwischenkriegsstatistik bei- spielsweise zur Bevölkerung gezählt, die die serbokroatische Sprache nutzte, als eigene Kategorie werden sie in den Zählungen erst im Jahr 1948 registriert. Zu jener Zeit gelang es ihnen jedoch bereits aus den Zählungen in Griechenland zu verschwinden, wo sie das letzte Mal 1928 registriert wurden. In Bulgarien

3 Hermann Raschhofer (Hg.), Die tschechoslowakischen Denkschriften für die Friedenskonfe- renz von Paris 1919/1920, 21938, S. 171–173. 18 Maciej Górny markieren sie ihre Anwesenheit nur kurzfristig in den Zählungen der Jahre 1956 und 1965. Solche Manipulationen, denen nicht nur die Mazedonier zum Opfer fielen, beraubten ethnische Statistiken jeglichen Wertes.4 Eine positive Ausnahme bildete u. a. die deutsche Schulstatistik aus der Vorkriegszeit, die man für glaubwürdig hielt, da sie lediglich aus praktischen Gründen angefertigt worden war, damit Lehrer mit Kenntnissen in Minder- heitensprachen an die richtigen Orte geschickt werden konnten. Auf dieser Statistik basierten die isometrischen Karten des polnisch-deutschen Grenzge- biets des polnischen Geographen Eugeniusz Romer. Dabei spielte auch er mit den Farben so, dass die „polnischen“ Gebiete optisch die „deutschen“ domi- nierten. Nichtdestotrotz hielt er sich an die Originaldaten, was etwa von den deutschen Rezensenten oder von den amerikanischen Experten in Paris aner- kennend festgestellt wurde.5 Nicht immer erweckten die polnischen Karten aus Paris Beifall. Aus den Erfahrungen der Plebiszite zogen einige deutsche Geographen und Demogra- phen den Schluss, dass die allgemein anerkannten Nationalitätsmerkmale wie die Umgangssprache für die Bestimmung der nationalen Identität nicht aus- schlaggebend sind. In Kärnten und in Ostpreußen gaben mehrere Hundert- tausend Slowenisch bzw. Polnisch als ihre Umgangssprache an – und litauisch- sprachige Menschen ihre Stimmen für Österreich oder Deutschland. Aus heutiger Sicht scheint es offensichtlich, dass das Individuum seine Identität selbst definieren kann, damals aber war diese Idee revolutionär. In den Volkszählungen blieb das Recht, darüber zu entscheiden, den Beamten vorenthalten. Die Zuordnung erfolgte oft ganz unabhängig von der persönli- chen Deklaration, besonders in Fällen wie Böhmen, wo sich einige Tschechen in einer deutschen Umgebung als Deutsche verstanden. Bei der tschechoslowa- kischen Volkszählung 1921 gab es mehrere Kontroversen, die vor Gericht ge- löst werden mussten. In der Regel gewannen die Beamten, die man als objektiv erachtete. Dagegen galt das persönliche Bekenntnis als nicht vertrauenswürdig. Die Plebiszite nach dem Ersten Weltkrieg lieferten Argumente, die diese Norm in Frage stellen konnten.

4 Morgane Labbé, Les nationalités dans les Balkans: de l’usage des recensements, in: Espace géographique 26/1, 1997, S. 35 – 48. 5 Max Friederichsen, [Rez. von]: Eugenius v. Romer, Geographisch-statistischer Atlas von Polen, in: Geographische Zeitschrift 24/5 – 6, 1918, S. 190 –191; Hugo Hassinger, Neue Me- thoden der Darstellung der Volksdichte auf Karten, in: Kartographische und schulgeographische Zeitschrift 6/3 – 4, 1917, S. 62 – 64. Von der Nation zur Grenze und zurück 19

An dieser Stelle sei eine Randbemerkung gestattet: Nicht nur in dieser Fra- ge haben wir es mit einem Paradox zu tun, nämlich jenem, dass die meisten kritischen Thesen der heutigen kartographischen Dekonstruktivisten bereits damals, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu finden sind. Ja, die Geo- graphen sahen klar und deutlich die Manipulation und die methodologischen Probleme, die mit der ethnischen Kartographie verbunden sind. Allerdings richtete sich ihr Blick stets nur auf ihre ausländischen Kollegen, in ihrer eige- nen Arbeit erkannten sie die aus gleicher Quelle resultierenden Fehler nicht. Nicht nur aus diesen Gründen verloren die ethnischen Karten schon in Pa- ris an Bedeutung. In der Praxis erwiesen sich andere, nicht-ethnische Faktoren als mindestens genauso wichtig für die Gestaltung der Nachkriegsgrenzen wie die idealistischen Ideen Wilsons. Hierher gehörten natürlich die historischen Grenzen sowie die Wirtschaftsregionen, die man nach Möglichkeit nicht zer- stückeln wollte. In Ostmitteleuropa berief man sich besonders gern auf die zivilisatorischen Großtaten der jeweiligen Nationalität, die die Zugehörigkeit der jeweiligen Landesteile zu einem Nationalstaat begründen sollten. So argu- mentierten etwa die Rumänen, um ihren Anspruch auf die Donaumündung zu untermauern. Im Falle Polens benutzte man diese Vorgehensweise im Os- ten, wo man Polen als „treibende Kraft“ des Landes und „Kulturträger“ in der ruthenischen Wildnis stilisierte. In einer Denkschrift an Woodrow Wilson von Oktober 1918 schrieb Roman Dmowski: „Die Polen […] stellen das kultur- schaffende Element sowie die ökonomische Triebkraft der ganzen Ostgebiete dar“.6 In dieselbe Richtung tendierten auch die zahlreichen ungarischen revisi- onistischen Publikationen. Man konnte auch, wie die rumänische Delegation gegenüber Ungarn oder die Jugoslawen gegenüber Österreich, umgekehrt eine Volkskultur als bindende Kraft des Staatsterritoriums hervorheben, die etwa die Zugehörigkeit Siebenbürgens zu Rumänien mit der dortigen Hirtenkul- tur rechtfertigen sollte. Der französische Geograph Emanuel de Martonne, ein großer Rumänienfreund, schrieb dazu: „Niemand, der Gelegenheit hatte, mit den Hirten in den Ber- gen zu leben, konnte die Beobachtung vermeiden, wie sehr das Hirtenleben den Erhalt alter Sitten und besonderer Traditionen begünstigt. Dank dessen ist es einfach zu verstehen, wie es dazu kam, dass die Rumänen ein eigenes Volk blieben, das sich einer

6 Denkschrift, die R. Dmowski gemeinsam mit vier Karten dem Präsidenten der USA W. Wilson am 8. Oktober in Washington vorlegte, in: Akty i dokumenty dotyczące sprawy granic Polski na Konferencji Pokojowej w Paryżu 1918 –1919 zebrane i wydane przez Sekretariat Jeneral- ny Delegacji Polskiej, Bd. I: Program terytorjalny delegacji, Paryż 1920, S. 64 – 65. 20 Maciej Górny

romanischen Sprache bedient, während durch viele Jahrhunderte die Ebenen an dem niederen Fluss der Donau von einer Welle der barbarischen Invasion überrollt wurden.“7 Der Einfallsreichtum der Experten war fast grenzenlos. Für die staatliche Zugehörigkeit der jeweiligen Region spräche sogar die Flora. Noch im Gro- ßen Krieg publizierte der namhafte deutsche Geograph Albrecht Penck eine Studie zur Frage der Südgrenze Österreichs. „Wer nach dem Süden reist, be- grüßt Italien nicht auf dem Alpenkamm, sondern erst viel weiter südwärts“, meinte er und behauptete, Berge seien von Norden relativ leicht zugänglich, und die Aufgabe der von dort herannahenden Siedlung wurde durch die Ähn- lichkeit der Natur in den nördlichen und südlichen Abhängen erleichtert.8 Die Schlussfolgerung, die Penck aus diesen Beobachtungen zog, war die praktische Umsetzung der Idee einer biologischen Grenze – solcherart, dass Österreich so weit wie die mitteleuropäische Natur Richtung Süden reichen sollte. 1919 knüpfte Eugeniusz Romer an diese frühere These von Albrecht Penck über die botanischen Grundlagen der Grenzziehung an, wobei er die Buche als eine genuin westeuropäische Baumart interpretierte, die bis zum Fluss Smotrytsch inmitten der Ukraine anzutreffen sei. „Die Florakarte lässt keinen Zweifel, dass ein großer Teil Podoli- ens hinsichtlich der Pflanzen ein rein polnisches Gebiet ist, und die inselartige Ausdehnung der Buche, dieses so sehr für den Wes- ten Europas typischen Baumes, bei Kamjanez-Podilskyj, verdeut- licht eine verblüffende Übereinstimmung mit der Konzeption der territorialen Grenzen, abgeleitet aus der Natur des Bodens oder auch aus den Lebensprozessen, die sich auf ihm abspielen.“9 Im Allgemeinen machte die Buche, ein weit verbreiteter und keineswegs außergewöhnlicher Baum, unter den Geografen in Ostmitteleuropa eine überraschende Karriere. Polnische Forscher schrieben zum Beispiel vom „Bu- chenklima“, das von der Zusammengehörigkeit Schlesiens mit Polen künden würde.10 Józef Rostafiński fügte hinzu, dass es die Toponymie erlauben würde,

7 Emmanuel de Martonne, The Carpathians: Physiographic Features Controlling Human Geography, in: The Geographical Review 3/6, 1917, S. 417 – 437, Zit. S. 426. 8 Albrecht Penck, Die österreichische Alpengrenze, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erd- kunde zu Berlin 1915, S. 329 – 368 sowie 417 – 448 (als Buch: Stuttgart 1916), Zit. S. 334. 9 Eugeniusz Romer / Stanisław Zakrzewski / Stanisław Pawłowski, W obronie Galicji Wschodniej [Zur Verteidigung von Ostgalizien], Lwów 1919, S. 11. 10 Viktor Nechay, Schlesien als geographischer Bereich, übers. v. Fritz Goehrke, Publikations­ ­ stelle Dahlem 1935, S. 32. Von der Nation zur Grenze und zurück 21 die frühere Verbreitung dieses typisch polnischen Baums zu finden. „Obwohl sogar die ausgedehnten Buchenwälder unter der Axt verschwanden […] – schrieb er – so blieb doch von ihnen hier und andernorts der Name.“11 Simion Mehedinţi, der nach Jahren die Grenze der rumänischen territorialen Ambitio- nen im Osten setzte, behandelte Buchenwälder als Zeichen für die Zugehörig- keit zum westlichen Teil Europas. In der trockenen Steppe, schrieb er, wüchsen keine Buchen, ihre Verbreitung endete am Fuße der Karpaten und am Ufer des Dniestr – und beließ so Bessarabien auf der buchenreichen rumänischen Seite der Grenze.12 Der tschechische Botaniker Karel Domin verband die Zone, in der Buchen wuchsen, wiederum mit dem tschechischen Nationalgebiet, was Teil einer umfassenderen These über die Verbindung der tschechischen Spezi- fik der Flora war: „Das Territorium des tschechischen Volkes – schrieb er – so cha- rakteristisch und eigenartig in jeder Hinsicht, so farbig und ver- schiedenartig hinsichtlich der Zusammensetzung, und doch eine große Einheit herstellend, besitzt demnach eine Flora, sie selbst ist eine der reichsten im Herzen Europas, die sich radikal und sehr deutlich von der Flora in den benachbarten Gebieten unterschei- det. Ein Blick auf die Karte, auf der ich die Vegetationsverhält- nisse des tschechischen Nationalgebiets und der Nachbarländer eingezeichnet habe, reicht aus, um diese Eigentümlichkeit mehr als deutlich zu zeigen.“13 Domins Karte ließ selbstverständlich keinen Zweifel daran, dass die tsche- chische und mährische Vegetation nach einem unabhängigen Staat verlangen würde. Sogar für seinen ukrainischen Universitätskollegen, einen langjährigen Feind von Romer, Stepan Rudnytskyj, markierte das Auftreten der Buche eine quasi natürliche Grenze, diesmal aber markierte der Baum die Nordgrenze des ukrainischen Nationalterritoriums in Abgrenzung zu Russland.14 Die massiven Probleme der ethnischen Kartographie ebneten der Entwick- lung verschiedener Lösungen für die Frage, wie man „natürliche“ Grenzen

11 Józef Rostafiński,Geografia roślin a językoznawstwo[Pflanzengeographie und Sprachwis- senschaft], in: Przegląd Geograficzny 1, 1918, S. 68 – 80. 12 Simion Mehedinţi, Die geopolitische Lage Rumäniens, Bukarest 1941, S. 13. 13 Karel Domin, Odlišnost květeny [Die Verschiedenheit der Flora], in: Viktor Dvorský, Území českého národa [Das Territorium des tschechischen Volks], Praha 1918, S. 19 – 24, Zit. S. 19. 14 Pflanzengeographische Übersichtkarte der Ukraina, in: Stephan Rudnyćkyj, Ukraina. Land und Volk. Eine gemeinfassliche Landeskunde, Wien 1916, o. S. 22 Maciej Górny ziehen kann, den Weg. Floristik oder historische Namensforschung waren vielleicht die interessantesten unter ihnen, diese geographische Subdisziplin entwickelte sich aber sehr rasch und in unterschiedliche Richtungen. Interdis- ziplinarität gehörte zu den charakteristischen Merkmalen der Geographie in der Zwischenkriegszeit, ebenso wie die Grenzfestlegung. Auf dieser Grundlage entwickelte sich sowohl die Geopolitik als auch die sogenannte Ostforschung, die Analogien in Ostmitteleuropa findet, besonders in Jugoslawien und Un- garn. Ethnizität spielte in diesen Konzepten eine wichtige Rolle, allerdings war sie nur eine von vielen Variablen. Ein Beispiel dafür ist das Konzept von Alb- recht Penck aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre bezüglich eines deutschen Volks- und Kulturbodens. Diese beiden Begriffe bezogen sich einerseits auf das deutsche ethnische Territorium, andererseits auf Gebiete wie beispielsweise Böhmen oder Westpolen, die aufgrund ihrer deutschen kulturellen Kolonisie- rung ein „typisch deutsches“ Antlitz erhalten hätten. Darüber hinaus sprach Penck vom „deutschen Schicksalsboden“, einer Region, die aufgrund ihrer Ge- schichte und kulturellen Beziehungen eine Verbindung mit Deutschland hätte, die deren künftige Annexion rechtfertigen würde: „Aber soweit die Durchdringung mit Deutschen reichte oder reicht, herrscht deutscher Kulturboden. Zwar konnte man un- schwer in Polen die sauberen deutschen von den oft recht dürf- tigen polnischen Dörfern unterscheiden; aber die intensive deutsche Bodenkultur und die sie begleitenden guten Wege und Straßen reichten bis zur russischen Grenze. Hier war die große Kulturgrenze, die die deutschen Soldaten nur zu deutlich fühlten, als sie nach Osten marschierten. Sie ist so eindringlich, daß man sie selbst von der Eisenbahn sehen kann. Es hören die schmucken Steinhäußer in den Ortschaften auf. Der Anbau wird weniger sorgfältig, der Wald sichtlich schlecht bewirtschaftet. Dasselbe nahm derjenige gewahr, der die ostpreußische Grenze gegen Li- tauen überschritt.“15 Penck hoffte, dass seine Theorie dazu dienen würde, unter der deutschen Jugend den Nationalstolz herauszubilden. Der beträchtliche Anteil bei der Re- alisierung dieser Ambition hatte die Energie, mit der sich seine Kollegen und er selbst an die organisatorische Arbeit machten. Die Aufgabe der Ausweitung des Konzepts von Penck wurde von einer Stiftung übernommen, deren Name

15 Albrecht Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Karl Christian von Loesch / Ar- nold Hillen Ziegfeld (Hgg.), Volk unter Völkern ( = Bücher des Deutschtums 1), Breslau 1925, S. 65. Von der Nation zur Grenze und zurück 23 sich auf den programmatischen Aufsatz bezog, der deutschen Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung. Mit finanzieller Unterstützung des Innen- ministeriums organisierte sie Vortragsreihen, gab Publikationen heraus und unterstützte auch die wissenschaftliche Forschung, deren Ziel die Entdeckung und Popularisierung der deutschen Vergangenheit in Ostmitteleuropa war. Natürlich gehörten die deutschen Siedlungsinseln außerhalb der in Versailles bestimmten Landesgrenzen zu den Lieblingsthemen dieser Untersuchung. Diese und ähnliche Theorien dienten der diskursiven Verankerung der tatsächlichen oder nur postulierten Grenze in der Natur. Die Ideen Wilsons, jeder Nationalität im Prinzip ihr Territorium zu gewährleisten, erwiesen sich bereits in Paris als nicht realistisch, sie waren auch im wissenschaftlichen Sinne unhaltbar. Geographen, Geologen, Botaniker sowie Wissenschaftler weiterer Disziplinen identifizierten viele andere Faktoren, die es bei der Suche nach „na- türlichen“ Grenzen zu beachten galt. Dieser Weg führte von der starken Beto- nung der ethnischen Komponente am Vorabend der Pariser Friedenskonferenz in eine vollkommen andere, mitunter sogar entgegensetzte Richtung. Diese Dynamik wird von einer Karte von Jerzy Smoleński, die 1934 am Warschauer Geographenkongress vorgestellt hat und die von den Kollegen aus anderen europäischen Staaten sehr positiv aufgenommen wurde, gut veranschaulicht. Die Frage der polnischen Grenzen interessierte Smoleński nicht, nach den Entscheidungen von Paris und den Nachfolgekonflikten des Großen Krieges war sie ohnehin obsolet. Im Rahmen der politischen Grenzen des polnischen Staates analysierte der Geograph gewissermaßen die ethnische Dichte der pol- nischen Bevölkerung. Frappierend dabei ist, dass Karten dieser Art – jene von Smoleński war nicht die einzige, wenngleich eine der ersten, zumal ähnliche Karten u. a. von ukrainischen Geographen veröffentlicht wurden – alle an- deren Nationalitäten programmatisch ignorierten. Der Kartograph interes- sierte sich nur für seine eigene Ethnie. Andererseits bildeten die nationalen Minderheiten den Hintergrund für diese Projektion des Polentums. In jenen Gebieten, wo die Zahl der Polen im Vergleich zu anderen Ethnien am gerings- ten war, waren die Minderheiten in einem begrenzten Gebiet dominierend. In diesem Moment gelangte der polnische Geograf an einen Punkt, an dem der Historiker der Wissenschaft am liebsten die Augen verschließen würde. In seinen Überlegungen bezüglich der Bevölkerungsdichte der Polen überschritt Smoleński nämlich die Grenze zwischen Wissenschaftlichkeit und einer wenn auch politisch engagierten Analyse der Realität sowie einem Projekt des Ein- griffs in das Leben konkreter Menschen. Analysierend die „Übertreffungen“ und Defizite der polnischen Bevölkerung wies er auf jene Kreise hin, in denen 24 Maciej Górny

Abbildung 1. Jerzy Smoleńskis Schätzung relativer Mehrheiten und Minderheiten der ethnischen Polen. (Aus dem Buch: Jerzy Smoleński, Ludność o języku ojczystym polskim na obszarze Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 1934). Von der Nation zur Grenze und zurück 25 die Polen zwar in der Minderheit waren, in denen ihnen jedoch nicht viel bis zur Mehrheit fehlte. Am Ende seiner Überlegungen appellierte er an die staat- liche Macht: „Es ist leicht zu berechnen, dass […] die Übersiedlung von rund 100.000 Polen in 14 Minderheiten-Kreisen dem Übergewicht der nichtpolnischen Bevölkerung im Gebiet von circa 30.000 km2 das Ende bereiten würde, was ca. 20% der Fläche des gesamten Gebietes darstellt, in dem dieses Übergewicht heute existiert.“16 Die Absurdität dieser Forderung wird vielleicht nicht gleich in ihrem vollen Umfang deutlich, daher werde ich Smoleńskis Idee anders formulieren: Der Geograph stellt nämlich fest, dass seine Karten farblich ausgeglichener wären, wenn der Staat eingreifen würde, um das ethnische Gleichgewicht an einigen Schlüsselstellen zu verändern. Dass der polnische Staat nicht in der Lage war, diese Forderung umzusetzen, enttäuschte Smoleński. Leider gab es 1934, als er seine Karte in Warschau vorstellte, einige Staaten, die Operationen dieser Art im großen Stil durchführten. Resümierend sei daran erinnert, dass die neuzeitliche Geschichte von Mas- senumsiedlungen bekanntlich im Gefolge des Großen Kriegs, vor allem in der Türkei, begann. Auch an der Ostfront gab es bereits 1915 Flucht und Vertrei- bung in großem Umfang. Doch in der Debatte der geographischen Experten um 1919 dominierte eine andere, idealistische Perspektive, die auf der Idee des Selbstbestimmungsrechts der Nationalitäten basierte. Dieser Zustand dauerte nicht allzu lange. Schon während der Friedenskonferenz begannen die Geo- graphen die dominierende ethnische Perspektive um weitere grenzbildende Merkmale zu erweitern. Langsam, aber sicher gingen sie in Richtung einer Geographie, die sich mit den demokratischen Prinzipien von Woodrow Wil- son nicht verbinden ließ – von einer Geographie für die Nationalitäten bis zur Unterwerfung ganzer ethnischer Gruppen unter die demographische und geographische Utopie eines ethnisch möglichst homogenen Staates.17

Maciej Górny, Dr. hab., ab 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter (ab 2015 Pro- fessor) am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaf-

16 Jerzy Smoleński, Ludność o języku ojczystym polskim na obszarze Rzeczypospolitej Polskiej [Die Bevölkerung mit polnischer Muttersprache auf dem Territorium der Republik Polen], Warszawa 1934, S. 9. 17 Mehr dazu in: Maciej Górny, Kreślarze ojczyzn. Geografowie i granice międzywojennej Eu- ropy [Vaterlandszeichner. Geographen und die Grenzen des Europas der Zwischenkriegszeit] ( = Metamorfozy społeczne 11), Warszawa 2017. 26 Maciej Górny ten, 2006 – 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau; 2011– 2012 und 2016 – 2017 Fellow am Imre Kertész Kolleg Jena. Forschungs- schwerpunkte: Historiografiegeschichte des 20. Jahrhunderts, Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Christoph Augustynowicz

Ein Diskussionsbeitrag zu Maciej Górnys Kreślarze ojczyzn

Zunächst ist zu fragen, wie Maciej Górnys Monographie Kreślarze ojczyzn, die im Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien unter der Überschrift Von Grenzen und Völkern am 12. Juni 2018 diskutiert wurde, in einen breiteren modernen Forschungskontext einzubetten ist. Sie kann zunächst als eine Transfergeschichte über den Bruch vor allem des Ersten, aber auch des Zweiten Weltkrieges hinweg, dann als Wissenschaftsge- schichte der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufblühenden Dis- ziplin Geographie bezeichnet werden. Der Fokus auf die Regionen Ostmittel- europa und Südosteuropa ist dabei schlüssig gewählt, da die Umgestaltungen der Jahre 1918/19 Geographen in einem ganz hohen Ausmaß als macht- und gesellschaftspolitische Akteure profilierte. ‚Grenze‘ ist im Rahmen der vor- liegenden Arbeit somit kein rein räumlicher Begriff, sondern eben auch ein zeitlicher. Er beschreibt zum einen die Epoche der Jahrhundertwende als Zeit der technischen, industrialisierten Neuerungen und zum anderen die Ereignis- se des Jahres 1918, das den Bruch zwischen den alten Vielvölkerreichen und den – zumindest beanspruchten – neuen Nationalstaaten signalisiert. In methodischer Hinsicht setzt sich das Werk zusammen aus den Feldern Kollektive Biographie, Transfergeschichte von Wissenschaft, konkret von Geo- graphie, sowie einer umfassenden Berücksichtigung des spatial turn in der Geschichtswissenschaft. Hinsichtlich des konkreten methodischen Verständ- nisses seien dazu ein paar ausdrücklich positive Bemerkungen gemacht. Ei- gentlich sehr grundlegend, aber viel zu wenig in einschlägigen Publikationen berücksichtigt erscheint zum Beispiel der Gedanke, Wissenschaftsgeschichte stets als Geschichte des Wissenstransfers zu denken, stets im Fluss und – noch 28 Christoph Augustynowicz wichtiger – stets wechselseitig im Hin- und Rückfluss. Strikte Dichotomien, also Bilder verfestigter, ent-dynamisierter Gegensätze können damit vermieden oder zumindest hin zu Bildern von Zentrum und Peripherie und ihrer geo- graphischen und kartographischen Verortung ausdifferenziert und abgefedert werden. Am deutlichsten macht Górny in seiner Heranführung die konzeptionelle Idee der kollektiven Biographie, die er anhand folgender Faktoren diskutiert: • Generation • Rolle bei der Professionalisierung des Faches (Institutionen, Zeitschrif- ten) • Herkunft aus anderen Fächern (Interdisziplinarität) • Mobilität und Mehr-/Vielsprachigkeit Raum- und Grenzstudien hingegen werden eher implizit diskutiert, sind aber hinsichtlich des berücksichtigten Forschungsstandes freilich in hohem Umfang abgedeckt. Das vorliegende Ergebnis stellt eine dichte Beziehungsgeschichte der ge- samteuropäischen Fachwelt Geographie vor dem Hintergrund globaler Pers- pektiven und Interessen mit allen ihren Höhen und Tiefen rund um die be- sonders im ersten Teil zentrale Figur Albrecht Pencks dar. Die Palette der in der Fachwelt gepflegten Diskurse reicht dabei von den mannigfaltigen Vernet- zungen, Einflussnahmen und Befruchtungen einerseits bis hin zu Plagiatsvor- würfen andererseits, etwa Ivan Rudnyc’kis gegen Eugeniusz Romer in den Jah- ren 1904 –1907. Deutlich wird dabei auch die gelegentliche sprachliche und inhaltliche Ignoranz der deutschsprachigen akademischen Positionen gegen- über den ostmittel- und südosteuropäischen Umständen – seien es mangelnde Sprachkenntnisse sowieso, sei es etwa erstaunlich ausgeprägte Unkenntnis der Lebens- und Rechtsform der zadruga bei einem deutschnationalen Ethnologen wie Arthur Haberlandt. Zentral für Górnys Ergebnisse ist ferner das wechselseitige Verhältnis von Raum und Bevölkerung, welches gerade bei der Untersuchung von Grenzen und ihren Wirkungen allzu gerne vergessen und vereinfacht wird – auch aus diesem Grund war der Titel der Veranstaltung Von Grenzen und Völkern, bei der Kreślarze ojczyzn präsentiert und diskutiert wurde, ja durchaus passend ge- wählt. Gerade im Zusammenhang mit der Rolle der Geographen während des Ersten Weltkriegs ist die vom Autor gestellte Frage zutreffend, ob ein Gewinn an Territorium oder an Bevölkerung im Vordergrund stand. Die deutliche Ant- wort lautet: Es ging um Gebietsgewinn, um Schaffung von Lebensraum. Eine Ein Diskussionsbeitrag zu Maciej Górnys „Kreślarze ojczyzn“ 29 neue, detailliertere, in diesem Sinne präzisere und industrialisiert verbreite- te Wahrnehmung der Welt hatte dabei in der untersuchten Zeit einen enor- men Aufschwung; klare, lineare Grenzen verschwinden zugunsten verwischten Grenzen, Mischgebieten und Bevölkerungsinseln. Es sind dies Umstände, die sich dann bei den Pariser Vororte-Verhandlungen und den dort gefundenen Grenzziehungs-Lösungen als ebenso signifikant wie brisant herausstellen soll- ten, sei es an allen Grenzen der sich auf der politischen Landkarte profilieren- den Tschechoslowakei, sei es in der Bukowina oder in Galizien. Ein weiteres großes Thema spatialer Geschichte, dessen Potential Górny in diesem Zu- sammenhang nutzt, ist dann die Abgrenzung Europas vor allem nach Osten, die übrigens unmittelbar neben der Idee der Unteilbarkeit des Königreiches Ungarn steht. Über das Themenfeld und den DiskursGrenze kommt schließlich die Kar- tographie als Untersuchungsgegenstand deutlich stärker zum Tragen als Górny einleitend beansprucht. Der kartographische Bildduktus wird nämlich durch ein zusehends differenziertes Angebot an entsprechenden Lösungen geprägt, etwa durch Schraffuren bei gemischter Bevölkerung oder durch Punkte bei konzentrierter Bevölkerung; Berge zum Beispiel, etwa die Karpaten, können so über die Ethnie politisch-ideologisch aufgeladen werden. Selbst die modern anmutende Frage, ob Berge verbinden oder trennen – hier sei nur auf Peter Sahlins’ Arbeit zu den Pyrenäen aus den späten 1980er Jahren verwiesen –, ist somit bereits in der von Górny untersuchten Zeit etwa zu den Vogesen ange- legt und wird vom Autor prägnant sichtbar gemacht. Eine ganz zentrale Frage bzw. Fragengruppe, die vom Verfasser dieses Bei- trages in die Diskussion eingebracht wurde, ist die nach dem Verhältnis der Geographie zur Geschichtswissenschaft. Beide Wissenschaften boomen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, beide erleben in dieser Zeit eine institutionel- le Verortung und mediale Verdichtung. Beide arbeiten mit (sub-)regionalen Begriffen zwischen bzw. neben Imperium und Nation. Beide hier definito- risch verwendeten Begriffe (OME, SOE) sind schließlich ähnlich alt; für die Prägung des Begriffs ‚Ostmitteleuropa‘ ist der bei Górny im Vordergrund ste- hende Albert Penck zentral. Gelegentlich wird historische Argumentation in der vorliegenden Arbeit durchaus zumindest deutlich, wenn auch nicht immer plausibel – etwa in der Betonung der Persistenz der Tschechoslowakei als Staat des Mittelalters und der Frühen Neuzeit oder im zeitgenössisch skizzierten Ver- gleich zwischen den slawischsprachigen Treffen der Geographen in der Zwi- schenkriegszeit und dem Prager Slawenkongress von 1848. Zwei konkrete Ak- teure aus der Geschichtswissenschaft wurden in der Diskussion thematisiert: 30 Christoph Augustynowicz

Ganz und gar nicht kommt zum Beispiel Oskar Halecki vor, für den doch eini- ge der von Maciej Górny aufgespürten und festgemachten Definitionskriterien zutreffen, etwa die Vielsprachigkeit, aber auch seine Bedeutung bei den Pariser Verhandlungen. Interessant wäre schließlich, welche Rolle die nach Konstantin Jireček benannte Linie zwischen lateinischer und byzantinischer Einflusszone in geographischen Diskursen spielte.

Christoph Augustynowicz, Univ.-Prof. Dr., geboren 1969 in Wien, Studium der Geschichte und Slawistik. Er arbeitet als außerordentlicher Universitäts- professor am Institut für Ost­euro­päische Geschichte der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen galizisch-polnische­ Grenzraumfor- schung, Sozialgeschichte Polen(-Litauens) unter be­son­derer Berücksichtigung der Juden sowie Bilder und Stereotype des östlichen Europa. Hanna Krajewska

Über die Anfänge der polnischen Kinematographie

Polen war im Jahr 1918, nach der Wiedererlangung seiner staatlichen Un- abhängigkeit, ein Land, in dem zunächst drei verschiedene Rechtssysteme herrschten, eine Folge der unterschiedlichen Rechtssysteme der drei Teilungs- mächte. Infolge der schwierigen wirtschaftlichen Lage nach dem Krieg hatte das Land auch mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Die Zeit zwischen den Kriegen gliedert sich in die Zeit des Stummfilms und des Tonfilms. Nach dem Jahr 1918 gab es viele Kinos in eigenen Ge- bäuden, die elegant eingerichtet waren und mit dem Theater in Konkurrenz standen. In der ersten Zeit nach der Wiedererstehung des freien Polens wa- ren die Kinos Institutionen, die gewissermaßen zahlreiche Musen miteinander verbanden. Filmvorführungen wechselten sich mit Kabarettvorstellungen, Re- vueshows, Chorauftritten und Konzerten ab. Die Filme wurden immer noch von sogenannten Filmerzählern bzw. Filmerklärern erzählt, deren Aufgabe es zum einen war, die Zuschauer dazu anzuregen, bereits während einer laufen- den Filmvorführung das Kino zu besuchen und die oft direkt ins Polnische übersetzten Untertitel zu lesen, zum anderen aber auch zu erzählen, was auf der Leinwand zu sehen war. In den 1920er Jahren lebten in Polen rund 27 Millionen Menschen ver- schiedener Nationalitäten mit unterschiedlichen Umgangssprachen. Als Bei- spiel sei die Stadt Łódź genannt – eine Stadt, in der viele Arbeiter lebten, die in der Textilindustrie arbeiteten. In Łódź lebten viele Juden, deshalb musste der Filmerzähler in der Lage sein, mit den Zusehern in dieser Sprache zu kommuni- zieren und bei Bedarf einen Text vorzulesen. Eine weitere Möglichkeit, sich mit dem Inhalt des Films vertraut zu machen, boten Rezensionen. Sie besprachen 32 Hanna Krajewska

(in der mehrsprachigen Presse) jeden Film und boten im Grunde eine Zu- sammenfassung von dessen Inhalt. In der Epoche des Tonfilms wurde das Verständnis fremdsprachiger Dialogs mittels Gesang oder Tanz, später mittels Synchronisation, gewährleistet. Natürlich wurden die Dialoge auch ins Polni- sche übersetzt, so wie es heute noch gemacht wird.

Abbildung 1. Reklame des Kinos „Luna“ in Łódź aus dem Jahr 1913.

Die Kinos waren meist in Privatbesitz und wurden oft von mehreren Be- sitzern geführt, die sich zu Gesellschaften zusammenschlossen. In den 1920er Über die Anfänge der polnischen Kinematographie 33

Jahren wurden Kinos jedoch auch von unterschiedlichen sozialen Einrichtun- gen, Vereinen oder Gemeinderäten eröffnet und betrieben. Wiederum werde ich dies am Beispiel von Łódź aufzeigen. 1922 wurde ein Kinematograph mit erzieherisch-volksaufklärerischer Funktion eröffnet, der von der Stadt betrie- ben wurde. Die Mitarbeiter des Kinos waren Angestellte des Stadtamts. Das Kino hatte eine Geschäftsführung, die sich um Repertoire und Auswahl der Fil- me kümmerte. Meistens handelte es sich dabei um Filme zu wissenschaftlichen Themen bzw. Lehr- und Reisefilme. Die Vorführungen gingen in der Regel mit einem Vortrag einher. Mit der Zeit unterschied sich das Repertoire immer weniger von jenem in anderen Kinos. Der Unterschied bestand in kostengüns- tigen Vorführungen, die von Schulklassen kostenlos besucht werden konnten, auch Vorträge von Hochschullehrern konnten gratis besucht werden. Dieses Kino agierte bis zum Ende der 1930er Jahre als selbstständige Einrichtung. In Łódź gab es auch ein Kino, das als Volkshaus bezeichnet wurde. Es wur- de von der Christlichen Arbeitervereinigung gegründet. Anfangs war das Re- pertoire von Lehrfilmen und ambitionierten Produktionen dominiert, später wurden auch Filme gezeigt, die auch in anderen Kinos gespielt wurden. Der Eintritt war jedoch immer günstig, Obwohl in diesem Kino keine Filmpremie­ ­ ren stattfanden, war das Kino immer gut besucht. Die Idee von Kinos mit einem speziell ausgewählten Repertoire wurde in ganz Polen populär. Im Jahr 1922 wurden auf Initiative des Ministeriums für religiöse Konfessionen und Volksbildung und eines eigens gegründeten Ins- tituts für Lichtspieltheater Kinos eingerichtet, deren Bezeichnung das Wort „opieka“ (deutsch: Schutz, Pflege) beinhaltete. Das Polnische Rote Kreuz schloss sich dieser Initiative an. In diesen Kinos wurden Bildungs-, Wissen- schafts- und Kunstfilme gezeigt, die einem etwaigen moralischen Verfall ent- gegenwirken sollten. An dieser Stelle stellt sich die Frage, mit der sich in der Zwischenkriegszeit zahlreiche Philosophen, Journalisten, Geistliche und Lehrer befassten. Ist Kino eine Kunst? Filme wurden akzeptiert, aber als Massenkunst, als Kunst von nicht allzu großem kulturellen Wert für die Massen, anders als beispielswei- se Theateraufführungen und Konzerte. Jugendliche durften aus erzieherischen Gründen abends keine Vorführungen besuchen, obwohl sie tagsüber eben die- se Filme sehen durften. Im Rahmen dieser Diskussion über moralische Fragen kam auch die Idee auf, Kinos bei Pfarreien zu gründen. Die Kinos entstanden bei Kirchen, die gezeigten Filme sollten in moralischer Hinsicht untadelig sein. In Łódź befan- den sich diese Kinos an der Peripherie, daher waren sie kostengünstig. Da sie 34 Hanna Krajewska die meisten Filme des allgemeinen Filmrepertoires zeigten, wurden sie gerne besucht. Alle diese Kinos waren auch dazu verpflichtet, Lehrfilme zu zeigen. Es waren meist kurze Produktionen, die vor der Hauptvorführung gezeigt wur- den. Im Laufe der Zeit wurden neben Lehrfilmen auch aktuelle Dokumentar- filme gezeigt.

Abbildung 2. Das Kino „Stylowy“ in Łódź im Jahr 1977 (Quelle: Aus den Beständen des Museums für Kinematographie in Łódź, Foto: Aleksander Kurycki).

Von Beginn des Kinos an waren bewunderte Filmstars für das Publikum sehr wichtig. Sowohl ausländische als auch polnische Filmstars erfreuten sich großer Beliebtheit und Bewunderung. Die berühmteste Schauspielerin, die ihre Karriere in Warschau begonnen hatte, war zweifellos (1897 –1987). Ihr richtiger Name lautete Apo- lonia Chałupiec. Das Pseudonym, das sie selbst wählte, bezog sich auf die ita- lienische Dichterin Ada Negri. 1908 gab sie ihr Debüt als Balletttänzerin, sie spielte auch im Theater. Im Jahre 1916, während des Ersten Weltkriegs, unter- zeichnete sie einen Vertrag mit dem Filmstudio Sfinks, wo sie ihren ersten Film Niewolnica zmysłów [Sklave der Sinne] drehte. Später machte sie bekanntlich in Deutschland eine große Karriere (Filmstudio ), anschließend – noch Über die Anfänge der polnischen Kinematographie 35 erstaunlicher – in den USA. Als der Tonfilm aufkam, klang ihre Stimme im Englischen jedoch zu hart. So kehrte sie nach Deutschland zurück, wo sie in zahlreichen Filmen mitwirkte. Vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zog sie im Grunde genommen für immer nach Amerika, wo sie 1987 verstarb. Ihr Weltruhm überschattete jenen anderer Schauspielerinnen, einigen von ihnen gelang es jedoch auch, Karriere zu machen. Der größte Star des polnischen Kinos war Jadwiga Smosarska (1898 –1971), die in 26 Filmen mitwirkte. Weitere berühmte Schauspielerinnen waren Mie- czysława Ćwiklińska (1879 –1972), die in 36 Filmen auftrat, und Mira Zi- mińska (1901–1997), die hauptsächlich in Komödien mitwirkte. Nach dem Krieg gründete letztere gemeinsam mit ihrem Ehemann 1948 das Staatliche Tanz- und Gesangsensemble „Mazowsze“. Die Schauspielerin und Sängerin Hanka Ordonówna (1902 –1950) spielte in Polen, aber auch in Wien, Berlin und Kairo. Ihr berühmtester Film ist der Film Szpieg w masce [Spion in der Maske], in dem sie den Hit sang – Miłość ci wszystko wybaczy [Liebe wird dir alles verzeihen]. Sie verstarb 1950 in Beirut, wohin sie in den Kriegswirren gelangt war. Beliebte Schauspieler, die vor allem von den weiblichen Zuseherinnen ver- ehrt und bewundert wurden, waren Eugeniusz Bodo und Adolf Dymsza. Sie spielten in Komödien und Musikfilmen. Etwa 150 Filmstudios entstanden in Polen in der Zwischenkriegszeit. Im Durchschnitt wurden etwa 30 Spielfilme und 100 bis 300 Kurzfilme produ- ziert. Eines der berühmtesten Filmstudios wurde 1909 gegründet, das bereits erwähnte Filmstudio Sfinks. Aleksander Hertz, der Gründer des ersten Filmstudios, arbeitete zunächst in einer Bank. Da er Józef Piłsudski und dessen Parteiaktivisten unterstützt hatte, musste er für ein Jahr ins Exil. Nach seiner Rückkehr nach Warschau konnte er keine Arbeit mehr finden. Also beschloss er, eine Filmgesellschaft zu gründen – und so geschah es auch. Hertz arbeitete u. a. mit dem Pionier der russischen Filmindustrie, dem Produzenten Regisseur und Drehbuchautor Aleksander Chanżonkow, zusammen. Die Filmschaffenden dieser Zeit verfilmten gerne polnische Klassiker, nach dem Ersten Weltkrieg Propagandafilme sowie patriotische Filme, historische Filme, später auch Melodramen und Komödien. Einer der interessantesten Fil- me aus den 1930er Jahren war die Verfilmung des Romans von Pola Gojawi- czyńska Dziewczęta z Nowolipek [Die Mädchen aus Nowolipki]. Der Film wur- de im Studio Parlofilm im Jahr 1937 unter der Regie von Józef Lejtes gedreht. Wie in anderen europäischen Ländern orientierte sich der Film am Realismus 36 Hanna Krajewska und konzentrierte sich auf das Leben von durchschnittlichen Menschen sowie auf soziale und moralische Probleme. Der Film zeigte das Schicksal mehrerer heranwachsender Mädchen in einem Mietshaus in einem Stadtteil von War- schau. Im Zentrum des Films steht die Konfrontation jugendlicher Hoffnun- gen mit der brutalen Realität. Der Hinterhof war sowohl Treffpunkt als auch Symbol für die in sich geschlossene, begrenzte Welt der Helden. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete und wirkte Józef Lejtes in Hollywood. Der originellste Film, der unter den polnischen Filmen der Zwischen- kriegszeit herausragt, ist zweifelsohne der Film Dybuk, einer von zahlreichen Filmen in jiddischer Sprache und wohl der beste seiner Art. Der jüdischen Gemeinde in Polen gehörten bis zum Ausbruch des Zwei- ten Weltkriegs ca. 3,5 Millionen Menschen an. Sie war von einem reichen Kulturleben geprägt, was sich auch in Filmproduktionen in jiddischer Spra- che widerspiegelte. Diese wurden sowohl in jiddischer als auch in polnischer Sprachversion gezeigt. Diese Filme erfreuten sich großer Beliebtheit, was sich in der Verbreitung dieser Filme in vielen europäischen Ländern und in Amerika zeigte. Die polnische Filmproduktion in jiddischer Sprache mit ihrem reichen Erbe ist ein Phänomen auf globaler Ebene. Dabei dominierten Filme morali- schen Inhalts und Komödien. In zwei Fällen, auch im Dybuk, war das Thema jedoch mit jüdischer Mystik und jüdischen Legenden verbunden. Dieser Film erzählt die Geschichte der Besessenheit eines jungen Mädchens, das sich nach ihrem toten Geliebten, dem Dybuk, sehnt, der den Geist eines geliebten Men- schen verkörpert. Regisseur des Films war Michał Waszyński. Die Filme wurden auf unterschiedliche Arten beworben, beispielsweise in den täglich erscheinenden Zeitungen. Auch Plakate luden zum Besuch von Filmvorführungen ein. In den Kinos konnten Flugblätter, Programme und Fo- tos betrachtet werden. In den 1930er Jahren wurden die Darsteller der Haupt- rollen, vor allem polnische Darsteller, zu den Filmvorführungen eingeladen. Dies stieß stets auf großes Interesse. In den Kinos konnte man nach dem Kauf einer Eintrittskarte den Film in mehreren Vorführungen an einem bestimmten Tag sehen. Vor allem wurde darauf geachtet, auf dem jeweils erworbenen Platz zu sitzen. Erschwerend für das Kinogeschäft waren die Steuern. In den 1930er Jahren betrugen sie 75% der Gewinne. Folglich gab es häufig Streiks und Versuche, diese Situation zu ändern. In der Folge wurden die Steuern auf 50% gesenkt, in einigen Städten sogar um einen noch größeren Betrag. Der erste in Polen produzierte Tonfilm war 1930 der Film Moralność Pani Dulskiej [Die Moral der Frau Dulska] von Bolesław Newolin. Die in den Über die Anfänge der polnischen Kinematographie 37

1930er Jahren entstandenen Tonfilme basierten hauptsächlich auf polnischer Literatur. Auch ein Farbfilm wurde gedreht. Im Jahr 1937 drehte der Regisseur Tadeusz Jankowski den Film Piękno Księstwa Łowickiego [Die Schönheit des Fürstentums Łowicz], der sich aufgrund seiner Farbenpracht hervorragend als Farbfilm eignet. Ein weiterer interessanter Film war der Film Malowniczna Polska [Male- risches Polen] (1938 –1939). Er wurde bei der Weltausstellung in New York gezeigt und diente später als Ausgangsmaterial für das bereits im Zweiten Welt- krieg entstandene Filmdokument The Land of my Mother (1943), der von Ro- muald Gantkowski gedreht wurde. Sprecherin war Eve Curie. Kinos wurden zu einem beliebten Unterhaltungsort der Menschen. Im Durchschnitt gingen die Menschen zwölf Mal im Jahr ins Kino, also durch- schnittlich einmal im Monat. Die Filmstudios produzierten immer mehr Fil- me, die Filmverleiher brachten Premieren aus aller Welt nach Polen. In Polen konnte man in der Zwischenkriegszeit alle Filme sehen, die auch das Filmpub- likum in Europa und Amerika zu sehen bekam. Das Interesse an Filmen führte auch zur Entstehung von Filmzeitschriften. Oft erschienen diese in nur weni- gen Ausgaben, doch folgten ihnen andere Zeitschriften. Sie veröffentlichten auch zahlreiche Filmkritiken. Bei jedem Film, der keinen Kunstskandal aus- löste, waren die Rezensenten dazu bereit, enthusiastisch darüber zu berichten und Filme, die gerade einmal durchschnittlich waren, über alles zu loben. Wie bereits erwähnt bestanden die Kritiken hauptsächlich aus einer Zusammenfas- sung des Filminhalts. Filmzeitschriften erschienen in polnischer und jiddischer Sprache, seltener in deutscher Sprache. Da sich die Kinos größtenteils in privater Hand befanden, sind fast keine Dokumente von deren Aktivitäten erhalten geblieben. Vielfach gingen diese in den Kriegswirren verloren. In Polen wurde das Kino hauptsächlich von Juden, wesentlich seltener von Polen betrieben. Spuren von kinematographischen Ak- tivitäten finden sich in Akten staatlicher und lokaler Provenienz. Eine wert- volle Ergänzung zu Archivmaterialien stellen die Presse sowie insbesondere die Filmpresse dar. Abschließend möchte ich noch den Fotografen, Theoretiker der Filmkunst und Kameramann Bolesław Matuszewski erwähnen. Matuszewski drehte haupt- sächlich in Russland, auch war er in Paris aktiv. In einer Zeit, in der das Kino noch eine angemessene Unterhaltung für die Massen darstellte (1897), kämpfte er für die Schaffung von Filmarchiven in Paris und anderen Städten, die für die kommenden Generationen Bilder der Gegenwart sammelten und aufbewahr- ten, die mit der Zeit zu Geschichte würden. In einem seiner Texte schrieb er: 38 Hanna Krajewska

„Zwischen der Lichtquelle und dem Weiß des Bildschirms werden die Toten lebendig und kehren abwesend zurück.“ Dieser Ansatz war seiner Zeit voraus – die erste staatliche Filmbibliothek wurde erst in den 1930er Jahren gegründet. Einer seiner Filme wurde sehr früh zu einem Dokument, das als Propagan- da benutzt wurde. Ein Filmdokument aus dem Jahr 1897 berichtete über den Besuch des französischen Präsidenten Felix Faure in St. Petersburg. Faure wur- de nämlich von Otto von Bismarck beschuldigt, das diplomatische Protokoll nicht eingehalten zu haben, da er seine Hand an den Hut geführt hätte, um den tapferen Soldaten zu salutieren und nicht, wie es das Protokoll verlangte, den Hut vor ihnen gezogen hätte. Die Projektion dieser Filmreportage im Pari- ser Elysée-Palast löste den diplomatischen Skandal. Auf diese Weise erwies sich, dass Bismarck falsch gelegen war. Bolesław Matuszewski war auch der erste Filmtheoretiker. Im Jahr 1898 veröffentlichte er zwei Broschüren Nowe źródło historii [Neue Quelle der Ge- schichte] sowie Ożywiona fotografia, czym jest, czym być powinna [Die belebte Fotografie, was sie ist und was sie sein soll]. Dabei handelt es sich um die ersten wissenschaftlichen Texte über die Besonderheiten des Dokumentarfilms. Ma- tuszewski war auch ein Pionier des Dokumentarfilms und filmte spektakuläre Operationen wie Beinamputationen oder komplizierte Geburten. Er war auch der erste Filmarchivar und schlug die Organisation von Filmarchiven vor, die bis heute fast unverändert weiterlebt.

Hanna Krajewska, Dr. hab., seit 1995 Direktorin des Archivs der Polnischen Akademie der Wissenschaften, seit 2007 Präsidentin der Polnischen Archiv- gesellschaft, seit 2008 Präsidentin der Rapperswil-Gesellschaft, Publikationen (Auswahl): Maria Skłodowska Curie – kobieta uczona [Die Gelehrte Maria Skłodowska-Curie], Protestanci w Łodzi do 1914 r. [Protestanten in Łódź bis zum Jahr 1914], Informator o archiwach i dziejach Polonii w Australii i Nowej Zelandii [Verzeichnis über Archive und Geschichte der polnischen Communi- ty in Australien und in Neuseeland] sowie Verfasserin von rund 200 Artikeln zu archivalischen sowie historischen Themen, Initiatorin des Rappersfesti- vals (2010) sowie von Archivpicknicken (bis dato), 2014 wurde sie als Wissen- schaftspopularisatorin von der Polnischen Presseagentur sowie vom polnischen Wissenschaftsministerium ausgezeichnet. Stefan Schmidl

Film als Bekenntnis und Flucht. Zum Kino der österreichischen Zwischenkriegszeit

Als „Kampfzone“1 ist das österreichische Kino der Zwischenkriegszeit bezeich- net worden. In der Tat sollten die Filme, die in der Ersten Republik produziert wurden, vor allem als spezifisches Produkt, als Echo ihrer von widerstrebenden Ideologien gekennzeichneten Entstehungszeit begriffen werden. Entsprechend waren diese Filme als Propaganda intendiert, fungierten aber auch als eskapisti- sche Gegenwelt. Letztere Konzeption sollte sich langfristig als ein durchgehen- des Charakteristikum des österreichischen Mainstream-Films herausstellen.

1. Monumentale Intentionen Zunächst war es die Orientierung am internationalen Film, die den österrei- chischen Film der Zwischenkriegszeit kennzeichnete. So wurden nach 1918 mehrere Großprojekte produziert, die sich Historienfilme bzw. Literaturver- filmungen wie Cabiria (I 1913, Regie: Giovanni Pastrone) oder Intolerance (USA 1916, Regie: D. W. Griffith) zum Vorbild nahmen, darunter Sodom und Gomorrha (A 1922, Regie: Michael Kertesz), Samson und Delila (A 1922, Regie: Alexander Korda), Die Sklavenkönigin (A 1924, Regie: Kertesz) und Der junge Medardus (A 1923, Regie: Kertesz). Dass mit diesen Produktionen besonders ein bildungsbürgerliches Publikum angesprochen werden sollte2, das dem Medium Film seit dessen Einführung skeptisch gegenüberstand und das

1 Verena Moritz / Karin Moser / Hannes Leidinger, Kampfzone Kino. Film in Österreich 1918 –1938, Wien 2008. 2 Hannes Leidinger, History sells, in: Moritz / Moser / Leidinger, Kampfzone Kino, S. 97 –105. 40 Stefan Schmidl es deswegen mit entsprechenden Attraktionen zu locken galt, zeigt etwa das Beispiel des Rosenkavalier (A 1926, Regie: Robert Wiene), die Adaption der gleichnamigen musikalischen Komödie von Richard Strauss, die dieser höchst- persönlich betreute. Mit ähnlichen Intentionen wartete die unter der Regie von Pierre Marodon als französisch-österreichische Koproduktion realisierte Flaubert-VerfilmungSalammbô (F / A 1924) auf, für dessen Musik der renom- mierte Komponist Florent Schmitt (1870 –1958) gewonnen werden konnte. Anlässlich der Pariser Premiere des Films wurde Schmitt von Berta Zucker- kandl-Szeps für das „Neue Wiener Journal“ interviewt und betonte an dieser Stelle den seiner Ansicht nach völkerversöhnenden Effekt des Kinos: „»Erkennen Sie denn, meine liebe Österreicherin,« sagt Schmitt, »diese phönizische Landschaft nicht? Ich habe mir den Ort, wo Salambo [sic!] gefilmt wurde, aufgeschrieben (Schmitt zieht ein Notizbuch heraus). Dieser Ort heißt Siéveringe.« (…) »Sehen Sie«, sagt Florent Schmitt, »wie der Internationalismus unaufhalt- sam den Nationalismus zu untergraben beginnt. Hier haben wir einen französischen Film, der in Österreich gekurbelt wurde. Die schönen Wienerinnen statieren in der Pariser Oper. Die wieneri- sche Landschaft entzückt das französische Publikum. Lassen Sie mich nun hoffen, dass meine französische Musik bald die Wiener Herzen erobern wird.«“3

2. Krise und Neukonstitution Die Monumentalfilme des österreichischen Kinos konnten allerdings die ehr- geizig in sie gesetzten ökonomischen und ästhetischen Erwartungen kaum er- füllen – im Gegensatz zu Lustspielen. Selbst diese konnte aber nicht verhin- dern, dass die österreichische Filmproduktion Ende der 1920er Jahre wegen der Einführung des Tonfilms, besonders aber 1933 durch die „Machtergreifung“ Hitlers in Deutschland in eine ästhetische wie ökonomische Krise stürzte.4 Die Herausforderungen bestanden demnach darin, sich einerseits mit den neuen technischen Gegebenheiten auseinanderzusetzen und andererseits mit der neu- en politischen Situation in Deutschland – einer Situation, die insofern von höchster Relevanz war, als man auf den Export inländischer Filme angewie- sen war. Das nationalsozialistische Regime nutzte diesen Umstand, um Druck auf die österreichische Filmwirtschaft auszuüben: So musste hingenommen

3 Berta Zuckerkandl-Szeps, Gala in der Pariser Oper, „Neues Wiener Journal“, 1. Novem- ber 1925, S. 18. 4 Armin Loacker, Anschluss im ¾-Takt. Filmproduktion und Filmpolitik in Österreich 1930 –1938, Trier 1999, S. 1– 27. Film als Bekenntnis und Flucht. Zum Kino der österreichischen Zwischenkriegszeit 41 werden, dass die deutsche Reichsfilmkammer Zustimmung oder Vorbehalte aussprach bzw. auf Besetzungs- und Stablisten – vor allem in Bezug auf jüdische Künstler – direkten Einfluss nahm.5 Zunächst blieb jedoch noch ein kleiner Spielraum in Österreich gewahrt6, in dem sich der sog. „Emigrantenfilm“ be- haupten konnte. Dieser Spielraum wurde jedoch zunehmend kleiner. Gerade aber die Zwangssituation führte zur filmischen Auseinandersetzung mit „Öster- reich“. Rückblickend aus dem Jahr 1946 hat der wohl bedeutendste Regisseur der österreichischen Zwischenkriegszeit, Willi Forst, diese Jahre als eigentliche Konstitutionsphase eines eigenständigen „nationalen“ Filmstils bezeichnet: „Erst vom Jahre 1933 an, als Österreich sich geistig und seelisch vom Deutschen Reich bewußt zu distanzieren begann und eini- ge Österreicher sich besonnen hatten, wohin sie gehörten (…) wurden in Wien einige Filme gedreht, denen das Prädikat ‚wie- nerisch‘ oder ‚österreichisch‘, wie ich es mir denke, zusteht. (…) Ich möchte die Zeit von 1933 bis 1938 die zweite Blüte der öster- reichischen Filmproduktion nennen. Sie war ein Erfolg, finanziell und künstlerisch.“7 Mit seinen ersten beiden Regiearbeiten, Leise flehen meine Lieder (A 1933) und Maskerade (A 1934) schuf Forst tatsächlich einen unverwechselbaren Stil – doppelbödig, lakonisch und zutiefst filmisch gedacht. SchonLeise flehen meine Lieder war dabei von vornherein als dezidiert österreichisches Prestigeprojekt geplant. Den Code des Filmes bildete Franz Schubert. Seit Heinrich Bertés Singspiel Das Dreimäderlhaus (1916) waren musiktheatralische bzw. bald auch filmische Bearbeitungen der Biographie und der Musik Schuberts ein konstan- ter Faktor der Identitätsbildung Österreichs, in der Monarchie, in der Ersten Republik und im Austrofaschismus.8 Forst führte diese Tradition fort. Einer- seits brach er sie jedoch ironisch9, andererseits entwickelte er sie weiter, indem er sie mit anderen Konventionen wie jener der Ungarn-Operette verknüpfte.10

5 Armin Loacker, „Viel zu gut für die Bagage, die ins Kino geht“. Paula Wesselys Filmkarriere im Spiegel ihrer Zeit, in: Armin Loacker (Hg.), Im Wechselspiel. Paula Wessely und der Film, Wien 2007, S. 51. 6 Ebd. 7 Willi Forst, Der Wiener Film ist tot – Es lebe der Wiener Film, in: Film, 1946, Nr. 2 (Mai), S. 7. 8 Friederike Jary-Janecka, Franz Schubert am Theater und im ,Film Anif 2000; Ulrike Spring, Der Himmel über Wien. Franz Schubert, sein Körper und Alt-Wien, in: Wolfgang Kos / Christian Rapp (Hgg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien 22005. S. 151–158. 9 Elisabeth Büttner / Christian Dewald, Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österrei- chischen Films von den Anfängen bis 1945, Salzburg – Wien 2002, S. 397. 10 Man vergleiche das für den Film komponierte Lied Sag’ mir’s immer wieder : Cornelia Sza­bo-Knotik, Strategien der Identitätsstiftung im Musikfilm der Ersten Republik – am Beispiel 42 Stefan Schmidl

Auch in Forsts zweitem Film Maskerade, einer interessant erdachten Para- phrase von Artur Schnitzlers Liebelei11, sind Gattungstraditionen, Referenzen und deren Metamorphosen entscheidende Gestaltungskategorien. Maskerade ist jedoch auch hinsichtlich seiner filmmusikalischen Ausgestaltung bemer- kenswert, die von Willy Schmidt-Gentner (1894 –1964), Forsts regulärem Mitarbeiter, komponiert wurde. In einer äußerst konzentrierten Form setz- te Schmidt-Gentner hier die Leitmotivtechnik ein (deutlich verschieden vom Max Steiners im Vorjahr entstandener, ebenfalls mit Leitmotiven operierenden Partitur zu King Kong). So ist dem von Paula Wesselys dargestellten Charak- ter der einfachen Gesellschafterin Leopoldine Dur ein knappes Walzermotiv zugeordnet, das wiederholt im Film eingesetzt wird und entsprechende Modi- fikationen erfährt. Zum ersten Mal erklingt es während des Zooms auf ihre Ar- beitsstätte, das Haus ihrer aristokratischen Auftraggeberin. Besonders prägnant ist Schmidt-Gentners Behandlung des Motivs in der wohl berühmtesten Szene von Maskerade. Leopoldine Dur kehrt beseligt von ihrem Rendezvous mit dem mondänen Maler und (scheinbar unerreichbaren) Frauenhelden Heideneck (Adolf Wohlbrück) zurück und wird vom mürrischen Gärtner Zacharias (Hans Moser) in Empfang genommen. Plötzlicher Selbstzweifel überfällt sie und sie blickt resigniert in ihr Spiegelbild: „Warum soll g’rad ich ihm gefallen?“ Mit diesen Worten verlässt sie den Raum. Dann aber folgt das dramaturgisch Unerwartete: Mit Schwung betritt sie abermals den Raum und revidiert trium- phierend das eben Gesagte: „Warum n i c h t gerade ich!“ Schmidt-Gentners begleitendes Crescendo, aufgebaut auf eben dem mit Poldi Dur assoziierten Walzermotiv, formuliert die entscheidende Kehrtwende von Melancholie zu euphorischem Selbstbewusstsein. Hier zeigt sich anschaulich, in welcher Weise Forst und sein Team versuchten, ein filmisches Österreich-Bewusstsein zu er- schaffen, lässt sich die Szene doch als eine trotzige Anspielung auf die damalige Situation Österreichs lesen: Im „österreichischen Traumreich des Willi Forst“12 (Georg Seeßlen) konnte „Österreich“, verkörpert durch Poldi Dur / Paula Wes- sely, triumphieren. Ermuntert durch den Erfolg von Maskerade versuchten sich einige von Forsts Mitarbeitern ebenfalls im Regiefach, darunter der Drehbuchautor Wal- von „Leise flehen meine Lieder“ und „Opernring“, in: Günter Krenn / Armin Loacker (Hgg.), Zauber der Boheme. Marta Eggerth, Jan Kiepura und der deutschsprachige Musikfilm, Wien 2002, S. 377. 11 Marion Linhardt, Phantasie und Rekonstruktion. Die Filme über Wien, in: Armin Loa- cker (Hg.), Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien, Wien 2003, S. 267 – 277. 12 Georg Seeßlen, Paula Wessely, die magische Biografie, in: Loacker (Hg.), Im Wechselspiel, S. 15. Film als Bekenntnis und Flucht. Zum Kino der österreichischen Zwischenkriegszeit 43 ter Reisch, der mit Episode (A 1935) und Silhouetten (A 1936) hervortrat. Be- merkenswert waren daneben die beiden Filme, für die Forsts „Hauskomponist“ Willy Schmidt-Gentner im Auf- trag der Wiener Mondial-Film als Regisseur verantwortlich zeichnete: Madame Pompadour (A 1935) und Prater (A 1936). Während Madame Pompadour konventioneller Natur war, handelte es sich bei Prater um den Versuch einer realistischen Milieustudie, angesiedelt im titelspendenden Wiener Ver- gnügungsareal. Der durchaus sozialkritische Film war seitens der deutschen Zensur starker Kritik ausgesetzt. Erst nach eineinhalb Jahren durfte er – nach erheblichen Umschnitten – unter dem Titel Der Weg des Herzens im Deutschen Reich 13 gezeigt werden. „Solche öster- Abbildung 1. Willi Forst reichischen Filme blieben besser auf dem Titelblatt von „Mein Film“ ungedreht“14 meinte aber das (Nr. 392, 1933; ANNO / Österreichische deutsche Feuilleton selbst nach Nationalbibliothek, Wien). diesen gravierenden Bearbei- tungen.

3. Avantgarde, Mainstream und Ideologisierung Prater war zwar nur in Ansätzen experimentell, dennoch zeigt sich hier durchaus auch der Wille zum Ausloten neuer Ausdrucksmöglichkeiten. Expressionisti- sches Potential erkannte auch die Avantgarde der Ersten Republik am Film. So spricht Helene Berg in einem Briefentwurf an Alma Mahler am 12. April 1924

13 Christian Dewald, Nicht Kunst, sondern Leben. Der Wiener Prater als Schauplatz des ös- terreichischen Films, in: Christian Dewald / Werner Michael Schwarz (Hgg.), Prater Kino Welt. Der Wiener Prater und die Geschichte des Kinos, Wien 2005, S. 158. 14 Zit. nach Loacker, Anschluss im ¾-Takt, S. 240. 44 Stefan Schmidl davon, dass ihr Mann Alban Musik für eine nicht näher definierte Verfilmung einer Stefan Zweig-Vorlage Musik schreiben will.15 Unmittelbare Anregung dieses Wunsches mag der von der deutschen Universal in Österreich produzier- te Film Brennendes Geheimnis von Robert Siodmak gewesen sein, eine aufse- henerregende Adaption von Zweigs gleichnamiger Novelle, bei der Allan Gray für die Filmmusik verantwortlich zeichnete und Willi Forst die männliche Hauptrolle verkörperte. Obwohl sich Bergs Ansinnen nicht realisierte, konnte er seiner Faszination für die Form zumindest in der Verwandlungsmusik des 2. Aktes seiner letzten, unvollendeten Oper Lulu Raum geben. Zu der Projek- tion eines Stummfilmes, der den Lebensweg der femme fatale Lulu während ei- niger Jahre nachzeichnet, schrieb Berg dann tatsächlich Filmmusik. Mit seiner Begeisterung für Filmmusik stand Berg in der Zweiten Wiener Schule nicht allein. Bekanntermaßen hatte sein Lehrer Arnold Schönberg bereits 1930 seine Begleitmusik zu einer Lichtspielszene verfasst. Das Beispiel von Bergs Lulu bildete selbstverständlich eine Ausnahme. Der Mainstream des österreichischen Films der Zwischenkriegszeit war fest an die Paradigmen der Operette gebunden. Der 1934 nach einem Drehbuch von Ernst Marischka unter der Regie von Geza von Bolváry gedrehten Frühjahrspa- rade brachte das Spiel mit Versatzstücken der Operette großen Erfolg. Die in Bolvárys Film evozierte Welt der untergegangenen Donaumonarchie – Früh- jahrsparade inszeniert die vermeintliche Entstehung des Hoch- und Deutsch- meistermarsches „Wir sind vom k. und k. Infanterierregiment“ – kann als vorzügliches Beispiel der von Friedrich Achleitner definierten Kategorie einer „rückwärts gewandten Utopie“16 bezeichnet werden. Dabei war es vor allem die Musik der Vergangenheit oder auch nur ihr Tonfall, der die intendierte Wirkung erzielte. Robert Stolz, der die Filmmusik zu Frühjahrsparade schrieb, war ein Garant des Gelingens. Für seine Partitur erhielt er sogar die große gol- dene Medaille der Biennale in Venedig.17 Gegenüber der Vielzahl von österreichischen Produktionen mit retrospek- tivem Gestus trugen sehr wenige Filme, sowohl Kultur-18 als auch Spielfilme, der offiziellen ständestaatlichen Ideologie Rechnung. Geza von Bolvárys Ernte (1936; dt. Titel: Die Julika) kann in diesem Zusammenhang als entsprechendes

15 Österreichische Nationalbibliothek. Musiksammlung F 21 Berg 127. 16 Friedrich Achleitner, Die rückwärtsgewandte Utopie. Motor des Fortschritts in der Wiener Architektur, Wien 1994. 17 Attila E. Láng, Melodie aus Wien. Robert Stolz und sein Werk, München 1980, S. 97. 18 Siehe dazu: Wolfgang Walter, „Die Kulturfilme des österreichischen Ständestaates“, Dipl.-arbeit 2008, Universität Wien, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Geschichte, AC07084394. Film als Bekenntnis und Flucht. Zum Kino der österreichischen Zwischenkriegszeit 45

Abbildung 2. Dreharbeiten von Frühjahrsparade („Mein Film“, 1934, Nr. 441; ANNO / Österreichische Nationalbibliothek, Wien). 46 Stefan Schmidl

Abbildung 3. Attila Hörbiger und Paula Wessely in Ernte („Mein Film“, 1937, Nr. 575; ANNO / Österreichische Nationalbibliothek, Wien). Film als Bekenntnis und Flucht. Zum Kino der österreichischen Zwischenkriegszeit 47

Beispiel erwähnt werden. Doch auch die Geschichte einer christlichen Bäuerin (Paula Wessely), die ihren aristokratischen Herrn auf den „rechten“ (d. h. ar- beitsamen, an die Scholle gebundenen, katholischen) Weg führt, entlehnte in Wahrheit wesentliche Handlungs- und Darstellungselemente wiederum aus der Operette, in erster Linie aus Emmerich Kálmáns Gräfin Mariza (1924). Auch Heinz Sandauers Filmmusik zu Ernte rekurrierte auf dieses Vorbild. Unter dem Druck des Deutschen Reiches beschränkten sich Filme mit stän- destaatlicher Ideologie jedoch zunehmend. Welche Konformität der österrei- chische Film mit der filmischen Ideenwelt des Dritten Reichs am Ende der Ersten Republik erreicht hat, lässt sich an Karlheinz Martins Sängerknaben- Film Konzert in Tirol ablesen. Von der Vindobona-Film GmbH im Januar 1938 produziert und von ausführlichen Presseberichten begleitet19, lief der Film im April 1938, also wenige Wochen nach dem erfolgtem „Anschluss“ in den Wie- ner Kinos an. Der Ursprung von Konzert in Tirol in der Ersten Republik ist dem Film nicht anzumerken, im Gegenteil: Das Drehbuch mit seinen propagierten Tugenden der Treue, Opferbereitschaft und Unterordnung unter das Kollektiv stimmt vollkommen mit der Ideologie des Nationalsozialismus überein. Musi- kalisch wird dies durch das Marschlied Lass uns das Lied der Freundschaft singen akzentuiert. In seiner Faktur sind semantisch eindeutig besetzte Vorbilder wie Flieger, grüß mir die Sterne aus F.P.1 antwortet nicht (D 1932) oder Unsre Fahne flattert uns voran aus Hitlerjunge Quex (D 1933) zu erkennen.

4. Wien: Eine Traumfabrik des Dritten Reiches Nach dem „Anschluss“ wurden die österreichischen Filmproduktionsfirmen in die „Wien-Film“ zusammengefasst. Dieses Studio hat während der Folgejahre in der cinematografischen Beeinflussungsmaschinerie des Nationalsozialismus eine besondere Rolle gespielt und einige der kommerziell am erfolgreichsten Filme des Dritten Reichs produziert, darunter Der weiße Traum (D 1943). Der Erfolg der „Wien-Film“ ist sicherlich in erster Linie auf ihre scheinbar unpoliti- schen Produktionen zurückzuführen (so lassen sich nur vier Filme des Studios als dezidiert ideologisch bezeichnen). Mit solcherart „unschuldigen“ Produkti- onen, die vor allem sentimentaler und melodramatischer Natur waren, konnte sich das Studio eine Sonderstellung in der Medienwelt des Nationalsozialismus sichern und zum dritten großen Standbein der Filmindustrie im Dritten Reich

19 „Mein Film. Illustrierte Film- und Kinorundschau“, 14. Jänner 1938, Nr. 629, S. 3 – 4; Ebd., 21. Jänner 1938, S. 3 – 4; „Der Wiener Film. Zentralorgan der Wiener Filmproduktion“, 11. Jänner 1938, Nr. 2, S. 2. 48 Stefan Schmidl werden, eignete sich das vermeintlich apolitische Gebaren ihrer Filme doch zur unauffälligen und damit umso effektiveren Platzierung von Propaganda.20 Stand hinter dem österreichischen Kino der Zwischenkriegszeit die Ent- fremdung nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, der mit audiovisuellen Versprechungen eines idealen, gleichwohl nostalgisch aufgela- denen Österreich-Bildes begegnet wurde, griff die „Wien-Film“ diese filmisch erzeugte Vorstellung auf und determinierte sie endgültig zur Trademark – einer Marke, an die schließlich auch die Zweite Republik anknüpfte.

Stefan Schmidl, Univ.-Prof. Dr., Studium der Musikwissenschaft und Kunst- geschichte an der Universität Wien, Dr. phil. 2004. Seit 2005 wissenschaftli- cher Mitarbeiter des Instituts für kunst- und musikhistorische Forschungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). 2013 Berufung zum Professor für Geschichte und Theorie der Musik an die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK), dort seit 2015 stellvertretender Vor- stand des Instituts für Wissenschaft und Forschung (IWF) und Vorsitzender der fakultätsübergreifenden Studien- und Forschungskommission sowie seit 2018 auch stellvertretender Leiter des Studiengangs Komposition. Forschungs- schwerpunkte: Ideologie und musikalische Repräsentation, Filmmusik in Eu- ropa 1939 –1945, Theorie der Audiovisualität. Internationale Vortrags-, Lehr- und Publikationstätigkeit. Monografien: The Film Scores of Alois Melichar. Studies in the Music of Austro-German Cinema 1933 –1956 (2018), Evokationen der Nation. Europäische Landschaften in symphonischer Musik (2017), Der ver- klärte Herrscher. Leben, Tod und Nachleben Kaiser Franz Josephs I. in seinen Re- präsentationen (zus. mit W. Telesko, 2016) und Jules Massenet. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit (2012).

20 Siehe dazu: Sabine Hake, Popular Cinema of the Third Reich, Austin 2001, S. 149 –171. Dariusz Wojtaszyn

Im Dienst des Staates. Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit

Die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens war nicht nur eine Chance, sondern auch eine große Herausforderung. Sämtliche Bereiche des täglichen Lebens mussten neu geordnet bzw. von Grund auf neu erschaffen werden. Zur Wiederherstellung und Entwicklung der polnischen Wirtschaft, der Armee sowie von Kultur und Wissenschaft kam jedoch ein neuer Aspekt hinzu, der Sport. Die Körperkultur war einer jener Lebensbereiche, in denen die Polen die enorme Rückständigkeit der 123-jährigen Periode der Teilungen Polens aufholen mussten. Ähnlich wie in anderen Lebensbereichen litt der polnische Staat auch im Bereich des Sports an zahlreichen Verzögerungen in seiner Ent- wicklung sowie an infrastrukturellen und technischen Mängeln. Anschaulich beschrieb die Zeitschrift „Przegląd Sportowy“ den Ausgangspunkt des polni- schen Sports: „Wir hatten gar nichts. Die Ergebnisse der Politik der Teilungs- mächte waren mehrere Clubs in Kraków (Krakau), Lwów (Lem- berg), Łódź (Lodz), Warszawa (Warschau) und Poznań (Posen), mehrere Sokół-Verbänden und… Hunderttausende von jungen Menschen mit Skoliosen, die durch ständiges Bücken über Gram- matiken, Geschichten und Goegraphien feindseliger Länder ver- dreht waren.“1 Der Sport wurde jedoch rasch zu einem der wesentlichen Elemente des Wirkens des Staates. Die polnischen Politiker stellten verhältnismäßig rasch

1 1918 –1928. 10 lat sportu w Polsce Niepodległej [1918 –1928. 10 Jahre Sport im Unab- hängigen Polen], „Przegląd Sportowy“, Warszawa, 17. November 1928, S. 1, das polnischspra- chige Originalzitat wurde in einer deutschen Übersetzung wiedergegeben. 50 Dariusz Wojtaszyn fest, dass der Sport einen wesentlich größeren Einfluss auf die Gesellschaft als viele andere Bereiche ausübt und auf diese Weise das breite Publikum erreichen konnte. Sie waren sich dessen bewusst, dass der Sport zu Beginn des 20. Jahr- hunderts sehr rasch zu einem wichtigen Element des Lebens wurde, indem er bestimmte Bereiche, die bisher ausschließlich der Kultur vorbehalten wa- ren, übernommen hat. Aufgrund seines bedeutsamen und stetig zunehmenden gesellschaftlichen Wirkungspotenzials und seines universellen Charakters ver- suchten sie ihn für die Entwicklung des jungen polnischen Staates zu nutzen. Dabei griffen sie auf eine lange Tradition des polnischen Sports zurück. Bereits im 19. Jahrhundert entstand in den von Polen bewohnten Gebieten (und auch in manchen slawischen Territorien) die Turn- und Sport-Bewegung Sokół (deutsch: Falke). Der erste polnische „Sokół“-Verein entstand 1867 in Lemberg2 als dritter Verein weltweit nach dem tschechischen (1862)3 und slo- wenischen („Jużni Sokol“ – 1863)4 Verein. Die Organisation entwickelte sich auch in anderen polnischen Gebieten, im russischen und im preußischen Tei- lungsgebiet, sehr intensiv. Die turnerischen Aktivitäten der Mitglieder des So- kół orientierten sich von Beginn an an slawisch-nationalistischen Zielen. Dazu gehörte neben der körperlichen Ertuchtigung auch die patriotische Erziehung der Polen. Der polnische Sokół übernahm in der Zeit der Teilungen wichtige Funktionen im Streben nach nationaler Selbstbehauptung und Unabhängig- keit. In der Zwischenkriegszeit gefiel die Sokół-Bewegung dem jungen polni- schen Staat in der Demonstration nationaler Stärke und in der konservativen Piłsudski-Ära in der Rolle einer staatstragenden Jugendorganisation.5 Die ersten Jahre der Zweiten Polnischen Republik waren vom Kampf um Grenzen, die Gestaltung des polnischen Staates und dessen Wiederaufbau ge- prägt. Aber bereits damals wurde der Sport nicht vergessen, der oft für poli- tische Zwecke genutzt wurde. Besonders symptomatisch waren die Ereignisse in Oberschlesien. Im Juni 1919 beschloss die Friedenskonferenz von Versailles

2 Jan Snopko, Polskie Towarzystwo Gimnastyczne „Sokół” w Galicji 1867 –1914 [Der Polni- sche Turnverein „Sokół“ in Galizien 1867 –1914], Białystok 1997. 3 Mehr dazu siehe Marek Waic, Die tschechische Sokolbewegung: Schule der Nation, in: Pe- tra Gieß-Stuber / Diethelm Blecking (Hgg.), Sport – Integration – Europa. Neue Horizonte für interkulturelle Bildung, Baltmannsweiler 2008, S. 62 – 71. 4 Mehr dazu siehe Damijana Zelnik / Dušan Gerlovič / Ivan Čuk (Hgg.), 150 let sokolstva v Sloveniji (1863 – 2013) [150 Jahren Sokol in Slowenien], Ljubljana 2014. 5 Przemysław Matusik, Der polnische „Sokół“ zur Zeit der Teilung und in der II. Polnischen Republik, in: Diethelm Blecking (Hg.), Die slawische Sokolbewegung. Beiträge zur Geschichte von Sport und Nationalismus in Osteuropa, Dortmund 1991, S. 104 –135. Im Dienst des Staates. Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit 51 eine Volksabstimmung, die über die Aufteilung der Region zwischen Deutsch- land und Polen entscheiden sollte. Beide Länder führten im Bereich der Volksabstimmung intensive Propagandaaktivitäten durch. Die Kampagne war sehr brutal, wobei sich beide Seiten Fälschungen, Manipulationen und sogar Terrorakte bedienten. Die Aktivitäten der deutschen Verwaltung und die Re- pressionen gegen die polnische Bevölkerung führten zum Ausbruch der schle- sischen Aufstände im August 1919 und August 1920 (sowie nach der Volks- abstimmung von Mai bis Juli 1921). Beide Seiten stellten dabei auch fest, dass der Sport in Volksabstimmungskreisen sehr beliebt war und versuchten ihn zu instrumentalisieren. Im Rahmen des polnischen Volksabstimmungskom- missariats, das die Tätigkeit der polnischen Behörden im Gebiet Oberschlesi- ens koordiniert hatte, wurde die Abteilung für Sporterziehung gegründet, die sich ausschließlich mit sportlichen Aktivitäten befasste. Auf seine Initiative hin wurden im Gebiet, wo die Volksabstimmung durchgeführt wurde, polnische Vereine gegründet, die auf Kosten deutscher Teams junge Menschen anzie- hen und Aktivitäten zur Aufklärung patriotischer Positionen durchführen soll- ten.6 Auf diese Weise entstanden z. B. bekannte polnische Vereine wie Polonia Bytom (Beuthen) und Śląsk Świętochłowice (Schwientochlowitz). Aus diesem Grund reisten auch polnische Sportkräfte aus Lwów, Warszawa und Poznań nach Oberschlesien, um ihren Landsleuten die Situation zu erleichtern. Pogoń Lwów, Polonia Warszawa oder Warta Poznań spielten in mehreren Treffen ge- gen lokale schlesische Teams, vor den Spielen brachten sie Trainern und Spie- lern die Regeln des Fußballs bei und trainierten Schlesier polnischer Ethnie.7 Die Siege der Lemberger Mannschaft gegen die deutschen Fußballvereine Di- ana Kattowitz (Katowice) und Beuthen 09 veranlassten die jungen polnischen Fußballspieler, in großer Zahl von den deutschen zu den neu gegründeten pol- nischen Sportvereinen zu wechseln.8 Einige Athleten engagierten sich auch bei der Veröffentlichung der Wo- chenzeitung „Sportowiec“, der ersten polnischsprachigen Sport-Zeitschrift, die in Oberschlesien erschien. „Sportowiec“ erschien von Februar 1920 bis April

6 Artur Pasko, ZnajZnak – Sport: Historia sportu polskiego 1918 –1945 [Kenn-Zeichen – Sport: Die Geschichte des polnischen Sports 1918 –1945], in: ZnajZnak. Sport [broszura edu- kacyjna], Warszawa 2015, S. 9. 7 Robert Gawkowski, Sport w II Rzeczpospolitej [Sport in der Zweiten Polnischen Repu- blik], Warszawa 2011, S. 11, 18 – 29; Robert Gawkowski, Popularność sportu w II RP [Die Popularität des Sports in der Zweiten Polnischen Republik], https://niepodlegla.gov.pl/ o-niepodleglej/popularnosc-sportu-w-ii-rp/ (Zugriff: 5. September 2019). 8 Pasko, ZnajZnak, S. 10. 52 Dariusz Wojtaszyn

1921, Herausgeber waren die Fußballspieler von Polonia Bytom Tadeusz Gra- bowski, Michał Hamburger, Wacław Gebethner, Marian Strzelecki und Kazi- mierz Biernacki vom Warschauer Klub AZS.9 Alle diese Aktivitäten sollten zur Abstimmung für Polen während der Volksabstimmung beitragen. Auch an den Ostgrenzen Polens fanden sehr wichtige Ereignisse statt. Im Februar 1919 begann der polnisch-bolschewistische Krieg, der im August 1920 während der siegreichen Schlacht bei Warschau seinen Höhepunkt fand. Es sei darauf hingewiesen, dass der Krieg die Teilnahme polnischer Athleten an den Olympischen Sommerspielen 1920 in Antwerpen verhinderte. Die Einladung Polens im Jahr 1919 zur Teilnahme an den Olympischen Spielen war ein wich- tiges internationales Symbol, das die Unabhängigkeit bestätigte, was für den jungen polnischen Staat in politischer Hinsicht von großer Bedeutung war. Für Piłsudski selbst war die Unterstützung der olympischen Bewegung stark propagandistisch. Als ehemaliger Kollaborateur der Mittelmächte betonte er symbolisch das Bündnis mit den siegreichen Alliierten.10 Die überwiegende Mehrheit (90 Prozent) der Mitglieder der Olympia- mannschaft waren aktive Soldaten.11 Ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen konnte – angesichts der Kriegsgefahr – nicht stattfinden. Am 26. Juli 1920 wurde ein Telegramm an das Organisationskomitee der Olympischen Spiele in Antwerpen geschickt: „Die schwierige politische und kriegerische Situation, in der sich unser Heimatland befand, führte zu einer spontanen Bewegung unter allen polnischen Jugendlichen, die an die Front gingen. Unter diesen Jugendlichen befanden sich in erster Linie polni- sche Sportler, die ihre Heimat in einer für Polen so schwierigen Zeit nicht verlassen wollen. Wir haben keinen Zweifel daran, dass Belgien, das im letzten Krieg so wunderbare Zeugnisse von Patriotismus und Tapferkeit abgelegt hat, heute die Position der polnischen Jugend verstehen und unsere Abwesenheit von dieser internationalen Feier des Sports als völlig verständlich erachten wird.“12

9 Gawkowski, Popularność sportu. 10 Dobiesław Dudek, Zwiazki Jozefa Piłsudskiego z kultura fizyczna od odzyskania niepodległosci do przewrotu majowego [Józef Piłsudskis Verbindungen mit der Körperkultur von der Wiedererlangung der Unabhängigkeit bis zum Maiputsch], in: Prace Naukowe Akademii im. Jana Długosza w Czestochowie. Kultura Fizyczna 6, 2005, S. 44. 11 Ebd. 12 Zit. nach: Ebd., S. 46, das polnischsprachige Originalzitat wurde in einer deutschen Übersetzung wiedergegeben. Im Dienst des Staates. Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit 53

70 zukünftige Olympioniken nahmen am Krieg teil, dreizehn von ihnen erhielten die höchste militärische Auszeichnung für ihre Verdienste auf dem Schlachtfeld – den Orden Virtuti Militari.13 Die größte Herausforderung der Nachkriegszeit bestand darin, die drei un- terschiedlichen Strukturen der Leibeserziehung, die bis dato in den drei ver- schiedenen Teilungsgebieten bestanden hatten, zu einer gut funktionierenden Struktur zu vereinen. Mitte 1919 wurde in Kraków der Polnische Leichtathle- tikverband (poln. Polski Związek Lekkiej Atletyki, abgekürzt PZLA) gegrün- det, dann wurde der Sitz nach Lwów verlegt und 1922 schließlich nach War- szawa.14 Er war der erste und ist heute der älteste polnische Sportverband. Im Jahr seiner Gründung wurde der Polnische Leichtathletikverband Mitglied der International Association of Athletics Federations (abgekürzt IAAF). Am 20. und 21. September 1919 entstand in Warszawa der größte Sportverband in Polen – der Polnische Fußballverband (poln. Polski Związek Piłki Nożnej, ab- gekürzt PZPN).15 1920 gab es bereits vier Regionalverbände in Kraków, Lwów, Łódź und Poznań, und der Fußball entwickelte sich allmählich zu einer der be- liebtesten Sportarten. Den Höhepunkt bei der Errichtung der sportlichen In­ fra­struktur war die Gründung des Polnischen Komitees der Olympischen Spiele (poln. Polski Komitet Igrzysk Olimpijskich, abgekürzt PKIO) am 12. Oktober 1919, das die Vorbereitungen der polnischen Athleten für die nächsten Olym- pischen Spiele koordinieren sollte.16 Schirmherr dieses Komitees wurde Józef Piłsudski.17 Im Zuge der Konsolidierung der Organisationsstrukturen des pol- nischen Sports im Jahr 1922 gründeten Vertreter aus sieben im Land aktiven Sportverbänden die Union der Polnischen Sportverbände (poln. Związek Pol- skich Związków Sportowych, abgekürzt ZPZS). Diese war eine Institution, die die Entwicklung des Amateursports steuern, die Aktivitäten der Sportverbän- de koordinieren und mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten sollte. 1925 fusionierte der ZPZS mit dem Polnischen Komitee der Olympischen Spiele, das gleichzeitig in das Polnische Olympische Komitee (poln. Polski

13 Ryszard Wryk, Olimpijczycy Drugiej Rzeczypospolitej [Olympioniken der Zweiten Polni- schen Republik], Poznań 2015, S. 56. 14 Stanisław Zaborniak, Z tradycji lekkoatletyki w Polsce w latach 1919 –1939. T. 2: Powsta- nie i działalność Polskiego Związku Lekkiej Atletyki [Zur Tradition der Leichtathletik in Polen in den Jahren 1919 –1939. Bd. II: Gründung und Tätigkeit des Polnischen Leichtathletikver- bandes], Lublin 2011. 15 Józef Hałys, Piłka nożna w Polsce. T. 2: 1918 –1926 [Fußball in Polen. Bd. II: 1918 –1926], bearb. v. Piotr Dobosz / Leszek Śledziona, Kraków 2017, S. 14. 16 Pasko, ZnajZnak, S. 9. 17 Dudek, Zwiazki, S. 43. 54 Dariusz Wojtaszyn

Komitet Olimpijski, abgekürzt PKOl) umbenannt wurde.18 Ab 1927 wurde die Koordination aller Sport-Verbände durch das eigens eingerichtete Staat- liche Amt für Leibeserziehung und Militärische Ausbildung (poln. Państwo- wy Urząd Wychowania Fizycznego i Przysposobienia Wojskowego, abgekürzt PUWFiPW) übernommen.19 Infolgedessen wurde eine Organisation gegrün- det, die die wichtigste Institution im Rahmen der Strukturen des polnischen Sports war. In wahrhaft militärischem Stil und dabei sehr kompetent und effizi- ent leitete das Staatliche Amt für Leibeserziehung und Militärische Ausbildung den polnischen Sport, entwickelte jedoch auch die sportliche Infrastruktur. Unterkünfte, neue Trainingseinrichtungen, Jugendherbergen, Schwimmbäder, Skisprungschanzen und Fußballstadien wurden in kurzer Zeit errichtet. 1921 wurde in Poznań die Zentrale Militärschule für Gymnastik und Sport (poln. Centralna Wojskowa Szkoła Gimnastyki i Sportów), die einzige Sport- schule des Landes, gegründet.20 Sechs Jahre später, 1927, begann Józef Piłsudski mit der Umsetzung der Idee der Errichtung einer Sportuniversität – das Zen- tralinstitut für Sporterziehung in Warschau (poln. Centralny Instytut Wycho- wania Fizycznego, abgekürzt CIWF). Das Zentralinstitut führte wissenschaft- liche Forschungen auf dem Gebiet einer allgemein verstandenen Körperkultur durch, die vor allem zu mehr Effizienz und Effektivität von Jugendlichen und Sportlern führen sollte. Das Zentralinstitut für Sporterziehung in Warschau wurde zu einem großen Sportzentrum, einem Ort für Wettbewerbe, Training und Vorbereitung der Sportler auf große Sportereignisse und die Olympischen Spiele.21 Die Absolventen des Zentralinstituts für Sporterziehung in Warschau hatten eine wichtige Aufgabe – die Umsetzung des Regierungsprogramms zur Entwicklung von Körperkultur und Profisport im Land. Alle Sport-Verbände wurden verhältnismäßig rasch von internationalen Verbänden beziehungsweise vergleichbaren Institutionen aufgenommen. Auf diese Weise sicherte der Sport die Präsenz Polens im Bewusstsein der inter- nationalen Gemeinschaft. Er spielte deshalb eine wichtige Rolle in der polni- schen Außenpolitik. Sportler und Trainer erfüllten damals gewissermaßen die

18 Pasko, ZnajZnak, S. 10. 19 Robert Gawkowski, Sport w II Rzeczypospolitej [Sport in der Zweiten Polnischen Repu- blik], http://www.dwudziestolecie.muzhp.pl/index.php?dzial=latadwudzieste5 (Zugriff: 10. Sep­ tember 2019). 20 Alojzy Pawełek, Centralna Wojskowa Szkoła Gimnastyki i Sportów w Poznaniu 1921– 1929 [Die Zentrale Militärschule für Gymnastik und Sport in Posen 1921–1929], Warszawa 1929. 21 Historia uczelni [Die Geschichte der Hochschule], https://www.awf.edu.pl/uczelnia/ o-nas/historia-i-tradycja-awf/powolanie-ciwf (Zugriff: 12. September 2019). Im Dienst des Staates. Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit 55

Funktion von Botschaftern ihres Staates, indem sie aktiv in den Sportarenen der Welt für Polen warben. Den Schauplatz für diese Aufgabe bildeten die größten Sportveranstaltun- gen der Welt, vor allem die Olympischen Spiele und die Welt- und Europa- meisterschaften in den populärsten Sportarten, die sich des großen Interesses der Sportfans erfreuten. Polnische Sportler konnten zwar nicht an den Olym- pischen Spielen in Antwerpen 1920 teilnehmen, in der Folge nahmen sie je- doch an den Sommerspielen in Paris 1924, Amsterdam 1928, Los Angeles 1932 und Berlin 1936 teil. Der Sport wurde auch von einzelnen Politikern genutzt, die einerseits die Bedeutung des Sports mit ihrer Präsenz bei Sportveranstaltungen betonten und andererseits versuchten, politisches Kapital daraus zu schlagen. General Kazimierz Sosnkowski, Minister für militärische Angelegenheiten, war elf Jahre Präsident von Polonia Warszawa. Sehr oft war er bei den wichtigsten Spielen auf der Tribüne des Stadions seiner Mannschaft zu sehen. Wenn diese gewann, gratulierte er den Spielern persönlich in der Umkleidekabine. Der spätere Oberbefehlshaber der Heimatarmee General Leopold Okulicki war 1936 Fußballmanager von Legia Warszawa. Die bekanntesten Unterstützer des Sports waren Marschall Józef Piłsudski und Präsident Ignacy Mościcki, die oft an Sportveranstaltungen teilnahmen, vor allem an Fußballspielen, und gerne für Fotos mit Spielern posierten.22 Piłsudski nahm sehr oft an der Eröffnung von Stadien, Rennstrecken und Spielplätzen teil und jubelte den Athleten auf Veranstaltungen – von Meisterschaften bis zu Militär- und Amateurwettbewer- ben – zu.23 Marschall Edward Rydz-Śmigły (der Oberbefehlshaber der polni- schen Armee) hatte sogar einen nach ihm benannten Verein – Śmigły Wilno.24 Im Sinne der Staatsführung sollte der Sport als stabilisierendes Element des politischen Systems auch eine relevante Funktion in der Innenpolitik er- halten. Der wichtigste Auftrag des Sports bestand darin, die Bürger zum er- wünschten patriotischen Verhalten und zur Festigung des politischen Systems zu motivieren. Eine große Rolle spielten in diesem Bereich die Top-Athleten,

22 Am 16. November 1924 fand in Krakau das berühmteste Fußballspiel statt, an dem J. Piłsudski teilgenommen hat. An dem Match nahmen die beiden besten Teams der damaligen Zeit – Wisła Kraków und Pogoń Lwów – teil. Piłsudski erschien auf dem Spielfeld des Stadions und posierte mit den Spielern beider Vereine für Fotos für Zeitungen: „Swiatowid“, „Stadion“ und „Nowosci Ilustrowane“ – vgl. Dudek, Zwiazki, S. 53 – 54. Die propagandistische Bedeu- tung der Veranstaltung war sehr groß – der Marschall wurde als ein großer Förderer des Sports dargestellt, der im Stadion von den Zuschauern begeistert begrüßt wurde. 23 Ebd., S. 41– 56. 24 Gawkowski, Sport w II Rzeczypospolitej (wie Anm. 19). 56 Dariusz Wojtaszyn die der Gesellschaft als Muster sozialen und politischen Verhaltens dienen sollten. „Richtige“ Größen im Sport waren unter anderem Halina Konopac- ka – Leichtathletin, die erste polnische Olympiasiegerin im Diskuswurf (sie trainierte mit Erfolg auch Kugelstoß, Speerwurf, Hochsprung, Weitsprung, Handball, Pferdereiten und Tennis), Dichterin und Malerin25, Stanisława Wa- lasiewiczówna – Leichtathletin, Sprinterin, Olympiasiegerin, mehrfache Welt- rekordhalterin26, Jadwiga Jędrzejowska – die beste Tennisspielerin, die im Fina- le von Wimbledon, US Open und French Open spielte27, Wacław Kuchar – der vielseitigste polnische Sportler (Leichtathlet, Fußballspieler, Schlittschuhläufer, Hockeyspieler), Trainer und Soldat28 sowie Janusz Kusociński – Leichtathlet, Langstreckerläufer, Olympiasieger, der im Zweiten Weltkrieg von der Gesta- po aufgrund seiner Aktivitäten im Widerstand ermordet wurde29 sowie eine Gruppe von populären Fußballspielern. Ein charakteristisches Merkmal des polnischen Sports in der Zwischen- kriegszeit war dessen Militarisierung. Für die politischen und militärischen Eliten sollte der Sport sowohl geistig als auch körperlich der Erneuerung der Nation dienen. Die militärischen Eliten definierten die Ziele des Sporterzie- hung folgendermaßen: „Das Ziel ist es, die Abwehrkräfte und die Gesund- heit der Armee, den allgemeinen Stand der körperlichen Leistungsfähigkeit und der moralischen Stärke der Nation zu erhöhen.“30 Die Armee hatte ihre

25 Maria Rotkiewicz, Mistrzyni dysku, pióra i palety [Die Meisterin des Diskus, der Feder und des Schlägers], in: Maria Rotkiewicz, Światło Olimpii [Das Licht von Olympia], Warsza- wa 2011, S. 188 – 241; Gabriela Jatkowska, Przerwane igrzyska. Niezwykli sportowcy II Rzeczy- pospolitej [Unterbrochene Spiele. Ungewöhnliche Sportler der Zweiten Polnischen Republik], Warszawa 2017, S. 49 – 74. 26 Anna Pawlak, Olimpijczycy. Polscy sportowcy w latach 1924 –1998 [Olympioniken. Pol- nische Sportler in der Zeit von 1924 bis 1998] Kraków 2000, S. 276; Maria Rotkiewicz, Bieg z Polski do Polski [Der Lauf von Polen nach Polen], in: Polski Komitet Olimpijski (Hg.), Naj- lepsi z najlepszych. Polscy złoci medaliści olimpijscy [Die Besten der Besten. Polnische Goldme- daillengewinner der Olympischen Spiele], Warszawa 2001, S. 218 – 223; Jatkowska, Przerwa- ne igrzyska, S. 127 –160. 27 Jadwiga Jędrzejowska / Kazimierz Gryżewski, Urodziłam się na korcie [Ich bin auf dem Tennisplatz geboren], Warszawa 1971; Jatkowska, Przerwane igrzyska, S. 201– 234. 28 Pawlak, Olimpijczycy, S. 140; Jatkowska, Przerwane igrzyska, S. 11– 48; Andrzej Gowa- rzewski, Biało-Czerwoni 1921– 2018. Dzieje piłkarskiej reprezentacji Polski [Die Weiß-Roten 1921– 2018. Die Geschichte der polnischen Fußballnationalmannschaft], Katowice 2017, S. 365. 29 Bogdan Tuszyński, „Kusy”, Warszawa 2000; Jatkowska, Przerwane igrzyska, S. 75 –126. 30 Vermerk der Offiziere der Reservevorbereitungsabteilung der Dritten Abteilung des Generalstabs (Wydział Przysposobienia Rezerw Oddziału III Sztabu Generalnego): Udział stowarzyszen wojskowo-wychowawczych w Głownych Igrzyskach Wojskowych [Die Teilnahme von Militär- und Bildungsvereinen an den Großen Militärischen Spielen], „Przysposobienie Im Dienst des Staates. Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit 57 eigenen Spiele, bei denen sich die Teilnehmer im Fußball, Basketball, Boxen, im sogenannten militärischen Fünfkampf (6 km Marsch, Bajonettfechten, Schießen mit Gewehr, Granatenwurf, Sturmlauf), 4 x 400-Meter-Distanzlauf, athletischem Fünfkampf (Weitsprung, Kugelstoß, 100-Meter-Lauf, 100-Meter- Schwimmen, 800-Meter-Querfeldeinlauf) maßen. Die Gewinner der ersten Spiele dieser Art erhielten im August 1919 von Józef Piłsudski Sonderpreise mit persönlichen Widmungen.31 Nach dem Maiputsch von 1926 verliehen Józef Piłsudski und sein poli- tisches Lager „Sanacja“ („Sanierung“) dem Sport einen praktischen Nutzen. Im November 1926 verabschiedete der Ministerrat eine Resolution über die Unterstützung und Entwicklung der Sporterziehung, die der moralischen und physischen Erneuerung des Landes dienen sollte. Gleichzeitig erklärten sich die Behörden bereit, mit Sportorganisationen zusammenzuarbeiten, die das staatliche Sportprogramm unterstützten.32 Der Sport wurde damals zu einer besonders wichtigen Frage für die Machthaber. Er diente nicht nur breiten Bevölkerungsgruppen zur Unterhaltung, er förderte auch die Umsetzung der Propaganda-Aufgaben der „Sanacja“. Eine Manifestation dieser staatlichen Po- litik war die Organisation bedeutender Sportveranstaltungen. Die Berufssoldaten waren die Sportelite des Landes. Der Reitsport war die Disziplin, die der polnischen Nationalmannschaft viele Erfolge brachte und gleichzeitig fast ausschließlich von Offizieren der polnischen Armee betrieben wurde. Zu den größten Erfolgen polnischer Reiter gehören die Bronzemedail- le von Adam Królikiewicz bei den Olympischen Sommerspielen 1924 sowie die Silbermedaillen der polnischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1928 und 1936. Die zweite, vom Militär dominierte Sportart war das Fechten. Polnische Schwertkämpfer gehörten rasch zur Weltspitze, was sie durch den Gewinn von Bronzemedaillen bei den Olympischen Spielen 1928 und 1932 bewiesen. Polnische Soldaten spezialisierten sich auch auf mehrere nicht-olym- pische Disziplinen. In den Bereichen Luftfahrt, Segelflug und Ballonsport wur- den viele Erfolge erzielt. In der Zwischenkriegszeit waren insgesamt 51 Olym- pioniken (ca. 16 Prozent) professionelle Militärs.33

Rezerw“ 2 – 3, 1922, zit. nach: Dudek, Związki, S. 48, das polnischsprachige Originalzitat wurde in einer deutschen Übersetzung wiedergegeben. 31 Dudek, Związki, S. 43, 49. 32 Pasko, ZnajZnak, S. 14. 33 Wryk, Olimpijczycy, S. 53 – 56; Ryszard Wryk, Sport i wojna [Sport und Krieg], Poznań 2016, S. 17. 58 Dariusz Wojtaszyn

Natürlich bemühten die Funktionäre des Sport-Systems auch gesundheits- politische Argumente – jedoch vorrangig in Verbindung mit der Begründung, damit zur Steigerung der Wehrkraft beizutragen. Das Militär sorgte dafür, dass der Sport nicht nur an den Schulen, sondern auch am Arbeitsplatz eingeführt wurde. Um die Polen zum Training zu ermutigen, führten die Behörden durch die Verordnung des Ministerrates vom 27. Juni 1930 die Nationale Sportpla- kette ein, die am 1. Januar 1931 in Kraft trat und die Anerkennung der Gesell- schaft genoss. Ihr Besitz war in breiten Bevölkerungskreisen sehr populär. Sie wurde für einen Zeitraum von zwei Jahren verliehen, danach war es notwendig, weitere regelmäßige Tests der körperlichen Leistungsfähigkeit durchzuführen. Diese Verpflichtung erlosch erst nach 20 Jahren des Besitzes. Sowohl Männer (ab vierzehn Jahren) als auch Frauen (ab sechzehn Jahren) konnten sie erhal- ten.34 Man muss einräumen, dass umfassend angelegte Sportveranstaltungen für Amateure wie beispielsweise der Marsch auf der historischen Kampfroute der Ersten Kaderkompanie, einer im August 1914 von Piłsudski gegründeten Formation, von Krakau nach Kielce, ein Lauf entlang der Landesgrenzen oder eine Radrallye durch Polen, dem Vorläufer der heutigen Tour de Pologne, in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stießen.35 Spezifisch für die Entwick- lung des Massensports in Polen war die Förderung von sportlichen Aktivitäten mit paramilitärischem Hintergrund, die junge polnische Bürger für den Mili- tärdienst vorbereiten sollten. Die sportinteressierte Jugendliche versuchte man als Nachwuchs für die militärischen Institutionen, vor allem für die Armee, anzuwerben. Eine große Rolle spielte dabei die Nutzung der Beliebtheit des Fußballs, der zu den populärsten Sportarten in Polen gehörte. Durch eine ent- sprechende Steuerung der Erlebnisse, die mit dem Fußballspektakel verbunden sind, sollte er politischen und sozialen Zwecken gerecht werden. Manche Fuß- ballklubs waren mit militärischen Institutionen des Staates verbunden. Als Bei- spiel sei an dieser Stelle die Legia Warszawa genannt, einer der erfolgreichsten und daher beliebtesten und populärsten Klubs, der mit der polnischen Armee, aber auch mit Piłsudskis Partei, verbunden war.36 Militarisierung und patriotische Erziehung, die intensiv in Sportvereinen und Sportklubs betrieben wurde, führten zur Rekrutierung junger Polen: 65 (20 Prozent) der Olympioniken starben an den Fronten des Zweiten Welt- kriegs. Die Mehrheit – 48 Personen – wurde von Deutschen getötet, zwölf

34 Pasko, ZnajZnak, S. 14. 35 1918 –1928. 10 lat sportu, S. 1. 36 Mehr dazu vgl. Przemysław Bator, Legia. 100 lat [Legia. 100 Jahre], Warszawa 2016. Im Dienst des Staates. Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit 59

Sportler wurden von der Roten Armee ermordet, fünf starben als Soldaten der deutschen Wehrmacht.37 Sport verband die gesamte polnische Gesellschaft und wurde von allen aus- geübt, unabhängig von Herkunft, Ausbildung, Nation und Beruf. Jedes Jahr wuchs die Zahl der registrierten Sportler, bis Ende 1938 erreichte sie 521.000, darunter 128.500 Frauen. Die Anzahl der Klubs und Verbände betrug 9.121, die Anzahl der Trainer fast 5.800.38 Darunter entwickelten sich auch die Klubs der nationalen Minderheiten. Eine große Rolle spielten vor allem jüdische, deutsche und ukrainische Klubs.39 Das solcherart errichtete Sportsystem, das von politischen, ideologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren determiniert war, wurde zu einem wichtigen Element der Politik des polnischen Staates. In der Zwischen- kriegszeit gelang es, aus dem Sport ein Medium zur Gestaltung der besonderen Einstellung der Bürger zu machen, das sich auch in der Herausformung des Patriotismus als erfolgreich erwies, zumal es die von den Staatsorganen erwar- teten Ergebnisse brachte. Dariusz Wojtaszyn, Univ.-Prof. Dr., Historiker, Studium der Geschichte an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań/Posen (1993 –1998), Promotion (2007) und Habilitation (2014) an der Universität Wrocław/Breslau. Professor am Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Willy Brandt Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław/Breslau, 2015 – Gastprofessur an der Universität Wien; bis 2012 Mitglied des Präsidiums der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission; Experte des Deutschen Fussball- Bunds (DFB) im Bereich des DDR-Fussballs; Verfasser zahlreicher Publikati- onen zum Thema des osteuropäischen Sports und deutsch-polnischer Bezie- hungen nach dem 2. Weltkrieg. Forschungsschwerpunkte: Deutsch-polnische Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung der imagologischen Aspekte, Sozial- und Kulturgeschichte des Sports, Anthropo- logie des Sports, Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert, internationale Schulbuchforschung. 37 Wryk, Sport, S. 226. 38 Ebd., S. 25. 39 Vgl. Dariusz Wojtaszyn, Fußballstadt Lemberg. Eine österreichisch-polnisch-judisch- ukrainische Verflechtungsgeschichte, in: Matthias Marschik / Agnes Meisinger / Rudolf Mullner / Johann Skocek / Georg Spitaler (Hgg.), Images des Sports in Österreich. Innensichten und Au- ßenwahrnehmungen, Göttingen 2018, S. 117 –118; Diethelm Blecking, Muskeljuden, Ukra- iner und Deutsche. Multikultureller Sport in Polen, in: Gieß-Stuber / Blecking (Hgg.), Sport, S. 54– 61; Thomas Urban, Schwarze Adler, weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik, Göttingen 2011, S. 13 – 27.

Georg Spitaler

Sport und Politik im Österreich der Zwischenkriegszeit

Die Jahre nach 1918 waren im neuen Kleinstaat (Deutsch-)Österreich eine Phase der Popularisierung des Sports, sowohl im Rahmen breiter sportlicher Praxis als auch im Hinblick auf den Zuschauersport.1 Diese zunehmende Be- deutung bildete die Grundlage für zahlreiche Phänomene des Politischen – von klassischer institutioneller Sportpolitik bis zu kulturellen und sozialen Praxen, die mit Fragen der Identitätspolitik in Verbindung standen. Der folgende kur- ze Beitrag wirft einige Schlaglichter auf diese Zusammenhänge – mit einem Schwerpunkt auf den Arbeitersport und – gegen Ende – einigen Querverwei- sen auf polnisch-österreichische Sportbeziehungen.

Massenkultur und nationaler Sportraum Zeitgenössisch wurde der Boom des Sports nach dem Ersten Weltkrieg an- schaulich von dem renommierten Wiener Sportjournalisten Willy Meisl (1895 –1968) beschrieben.2 Er bezeichnete den Sport als „Zeitphänomen“ nach den Schrecken des Kriegs, befeuert durch die ökomische Spekulations-

1 Dieser Beitrag beruht auf früheren Arbeiten des Autors, u. a. Georg Spitaler, Ein Match um den Sport. Politische Bewegungskultur vs. populäre Massenkultur, in: Werner Michael Schwarz / Georg Spitaler / Elke Wikidal (Hgg.), Das Rote Wien 1919 –1934. Ideen, Debatten, Praxis, Ausstellungskatalog Wien Museum, Basel 2019, S. 358 – 365; Georg Spitaler, Ein Spuk- Bild des linken Sports: „Nie schiesst der Fascismus im roten Wien ein Goal!“, in: Matthias Mar- schik / Agnes Meisinger / Rudolf Müllner / Johann Skocek / Georg Spitaler (Hgg.), Images des Sports in Österreich. Innensichten und Außenwahrnehmungen, Wien 2018, S. 189 – 200. 2 Willy Meisl, Der Sport am Scheidewege, Heidelberg 1928. 62 Georg Spitaler phase der frühen 1920er Jahre: „Der Leib war der Schlager der Stunde“3, so Meisl, der selbst erfolgreicher Allroundsportler und Trainer war, Bruder des Fußball-Wunderteam-Verbandskapitäns Hugo Meisl. „Viele, die jahrelang in Stuben, Lazaretten oder Schützengräben gelegen hatten, viele, die der Druck der Kriegsjahre weniger vertieft als platt geschlagen hatte, sie erkannten viel- leicht zum ersten Male, wie schön die Sonne schien, sie spürten im krassen Kontraste besonders kräftig, was Luft und Leben, Wasser und Sichbewegen bedeutet, bedeuten kann, sie fühlten: Freiheit.“4 ,Politisch‘ wurde der Sport dabei in vielerlei Hinsicht: So diente gerade der Zuschauersport einer sich etablierenden Massenkultur als Bühne für un- terschiedliche Muster von Identitätspolitik und lokaler Identifikation: Das gilt nicht zuletzt für die Verbindung von Männlichkeitsmodellen und Sport, die durch die Popularisierung sportlicher Praxen – etwa des Fußballs – durch Sol- daten im Ersten Weltkrieg befördert wurde. Nach 1918 gab es erste Schritte zur Etablierung eines „nationalen Sportraums“ in Österreich, also des Wech- selspiels der Institutionalisierung von Vereinen und Verbänden, sportlicher Praxis und ZuschauerInnenkulturen, der Ausbreitung von Sportmedien und der damit einhergehenden Zuschreibung kultureller Bedeutung an einzelne Sportarten. Der Sportraum wurde von Sportarten wie Fußball und Skisport besetzt, die mit lokaler und – ansatzweise – nationaler Identifikation verbun- den wurden, wobei dieser Prozess der Verbindung von Stadt und Land, analog zur Herausbildung eines österreichischen Nationsbewusstsein, erst nach 1945, in der Zweiten Republik, voll einsetzen sollte.5 Nach 1918 nahm zunächst der Fußball in Wien einen besonderen Auf- schwung.6 So nannte der bekannte Sportfeuilletonist Emil Reich Wien 1924 die „Fußballstadt Europas“.7 Keine andere Metropole auf dem europäischen Festland verfüge über eine größere Anzahl an Fußballklubs oder höhere Zu- schauerzahlen, nirgends sei das allgemeine Interesse an den Spielen stärker.

3 Ebd., S. 22. 4 Ebd., S. 20. 5 Vgl. dazu z. B. Roman Horak / Georg Spitaler, Sport Space and National Identity. Soccer and Skiing as Formative Forces: on the Austrian Example, in: American Behavioral Scientist 11, July 2003, S. 1506 –1518. 6 Zur populären Massenkultur des Fußballs im Wien der Zwischenkriegszeit vgl. z. B. Roman Horak / Wolfgang Maderthaner, Mehr als ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne, Wien 1997 bzw. Wolfgang Maderthaner / Alfred Pfoser / Roman Horak (Hgg.), Die Eleganz des runden Leders. Wiener Fußball 1920 –1965, Wien 2008. 7 Emil Reich, Die Fußballstadt Europas, in: Neues Wiener Journal, 15. November 1924, S. 17. Vgl. Maderthaner / Pfoser / Horak (Hgg.), Eleganz des runden Leders, S. 16. Sport und Politik im Österreich der Zwischenkriegszeit 63

„In dieser Beziehung hat Wien allen europäischen Städten den Rang abgelau- fen, mag man das nun als einen Vorteil oder einen Nachteil betrachten“.8 Die oberste Fußballliga setzte sich bis in die Jahre des Nationalsozialismus aus- schließlich aus Wiener Teams zusammen, nicht zuletzt aufgrund der Spielstär- ke dieser Klubs. In den frühen 1930er Jahren erlangte das sog. ‚Wunderteam‘, die erfolgreiche Auswahl des Österreichischen Fußball-Bunds, enorme Popu- larität. Auch wenn das Team fast ausschließlich aus Wiener Spielern bestand, galt es als eines der wenigen positiven nationalen Identifikationsangebote über die politischen und regionalen Trennlinien eines gespaltenen Landes hinweg.9

Politische Lager Politische Lager existierten auch auf der Ebene der Sportvereine und -verbän- de. 1918/1919 waren etwa die Arbeiter- und Soldatenräte in den industriel- len Zentren, v.a. in Wien, auch in den Sportvereinen stark vertreten. So war zum Beispiel der Österreichische Fußball-Verband in den frühen 1920er Jah- ren sozialdemokratisch dominiert. Ab 1918 wurde der Sport auch generell zu einer wichtigen Säule der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Das gilt einerseits für die Organisierung großer Teile der Arbeiter(-jugend) in den Vereinen des Arbeitersports, andererseits für breitere pädagogische und körper- kulturelle Konzepte, wie sie im Begriff des ,Neuen Menschen‘ ihren Ausdruck fanden.10 Nach dem Ende des revolutionären Schwungs der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem Scheitern, wichtige staatliche bzw. zivilgesellschaftli- che Institutionen nachhaltig zu erobern, setzte die Sozialdemokratie im Sport auf die Bildung autonomer Vereins- und Verbandsstrukturen und den Ab- bruch der Wettkampfbeziehungen mit den bürgerlichen Gegnern. Das galt auch für den Fußball, wo es 1926 zu einer Verbandsspaltung kam, die sich am Professionalismus entzündete – also der Frage, ob die Spieler offiziell bezahlt und die Klubs nach kapitalistischen Kriterien geführt werden sollten: Dem neu gegründeten bürgerlichen Allgemeinen Österreichischen Fußballbund (später: Österreichischer Fußballbund, ÖFB) stand der Verband der Amateur-Fußball-

8 Reich, Die Fußballstadt Europas, S. 17. 9 Vgl. dazu Werner Michael Schwarz, Stamford Bridge. Das Wunderteam in London, in: Peter Eppel / Bernhard Hachleitner / Werner Michael Schwarz / Georg Spitaler (Hgg.), Wo die Wuchtel fliegt. Legendäre Orte des Wiener Fußballs, Ausstellungskatalog Wien Museum, Wien 2008, S. 124 –128. 10 Zum österreichischen Arbeitersport vgl. z. B. Reinhard Krammer, Arbeitersport in Ös- terreich, Wien 1981; Matthias Marschik, „Wir spielen nicht zum Vergnügen“. Arbeiterfußball in der Ersten Republik, Wien 1994. 64 Georg Spitaler vereine Österreichs (VAFÖ) gegenüber, der zunächst Rechtsnachfolger des bis- herigen Fußballverbands war. Das ‚Wunderteam‘ setzte sich aus Professionals zusammen und war die Auswahl des bürgerlichen Fußballbunds. Der angesprochene bürgerliche Sport umfasste durchaus unterschiedliche Klubs, von „unpolitischen“ regionalen Bezirksvereinen bis hin zu explizit po- litischen und konfessionellen Vereinigungen, etwa den deutschnationalen und antisemitischen Turnern und Sektionen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins.11 Diese deutschnationale Ausrichtung vieler Wintersportler war ein Grund, warum der alpine Skisport in der Zwischenkriegszeit nur bedingt für die Feier eines österreichischen Nationalbewusstseins taugte.12 Die Idee des unpolitischen Sports wurde vom Arbeitersport dezidiert in Zweifel gezogen: Beispielsweise beschrieb der sozialdemokratische Spitzen- politiker Julius Deutsch, u. a. Obmann des Republikanischen Schutzbunds und Vorsitzender des Arbeiterbunds für Sport und Körperkultur (ASKÖ), in seiner 1928 erschienenen programmatischen Schrift Sport und Politik den bürgerlichen Sportbetrieb, wie er sich etwa im angesprochenen Professiona- lismus zeige, einerseits als „Ausdruck kapitalistischen Wesens“.13 Er sei „ein Stück jener Gesellschaftsordnung und Kulturauffassung, die zu zerstören die historische Aufgabe und die sittliche Pflicht des Proletariats ist“.14 Ein solcher Sportbetrieb, so Deutsch, lenke „die Arbeiter von ihren Klasseninteressen ab“. Er mache sie „zu Gladiatoren für fremde Zwecke, die dem Streben der eigenen Klasse verständnislos, wenn nicht gar feindlich gegenüberstehen“.15 Für den Schutzbund-Obmann Deutsch hatte der Arbeitersport auch eine wichtige pa- ramilitärische Rolle zu erfüllen: Er förderte die Aufstellung von ,Wehrturner‘- Verbänden und erklärte sie zu Verteidigern gegen die Gefahr des europäischen Faschismus. Die „Predigten der Lauen“, der Sport sei neutral, verkenne die po- litische Realität des gewaltsamen Angriffs von Rechts, der sich auch im Sport zeige: Die bürgerlichen Turnvereine etwa hätten „stets eine sehr ausgeprägte

11 Zur politischen Geschichte des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins in den Jahren 1918 –1945 vgl. Deutscher Alpenverein / Österreichischer Alpenverein / Alpenverein Südtirol (Hgg.): Berg Heil! Alpenverein und Bergsteigen 1918 –1945, Köln 2011. 12 Vgl. dazu z. B. Andreas Praher, „Skifahren ist für uns Deutsche in den Alpenländern mehr als nur ein Sport.“ Der österreichische Skisport als politische Kampfzone der 1930er-Jahre, in: Marschik / Meisinger / Müllner / Skocek / Spitaler (Hgg.), Images des Sports in Österreich, S. 201– 217. 13 Julius Deutsch, Sport und Politik. Im Auftrage der sozialistischen Arbeiter-Sport-Interna­ tionale, Berlin 1928, S. 24. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 25. Sport und Politik im Österreich der Zwischenkriegszeit 65 politische Einstellung gehabt. […] Ohne die nationalistischen Turner und Sportler wären die nationalistischen Parteien gar nicht denkbar. Dort finden sie die Mannen, […] dort sind ihre politischen Stoßtruppen“16 Die Frage ob es einen neutralen Sport gebe, die Deutsch in seinem Buch rhetorisch stellte17, wurde von ihm so explizit verneint. Der hohe Organisationsgrad im Sport, der sich etwa im Arbeitersport ma- nifestierte, verweist auf das kollektive Moment sportlicher Bewegungskultur in der Zwischenkriegszeit, wobei ,Bewegung‘ hier sowohl im politischen wie im körperlichen Sinn verstanden werden kann. Sportgroßveranstaltungen zählten z. B. im Roten Wien der Jahre 1919 bis 1934 zu den wichtigsten Ereignissen der politischen Selbstrepräsentation. Selbstbewusst wurden dabei zentrale Orte der Stadt in Besitz genommen, vom Rathausplatz bis zum imperialen Hel- denplatz, der erstmals 1926 beim 1. Arbeiter-Turn- und Sportfest mit einem Massenchorkonzert bespielt wurde. Ihren Höhepunkt fanden solche Praxen in der 2. Arbeiterolympiade der Sozialistischen Arbeiter-Sport-Internationale (SASI), die 1931 in Mürzzu- schlag und Wien abgehalten wurde. Sie umfasste zahlreiche Wettkampf- und kollektive Schaubewerbe, dazu Elemente zivilreligiöser Feiern (u. a. ein ‚Mas- senfestspiel‘ zur Heldengeschichte des Proletariats). Wichtiger Schauplatz war das neu eröffnete Wiener Praterstadion. Die vom deutschen Architekten Otto Ernst Schweizer geplante Sportstätte sollte zum stilbildenden internationalen Vorbild werden.

Feld der Emanzipation Identitätspolitik im Sport beschränkte sich aber nicht auf die Konflikte zwi- schen Sozialdemokratie und ihren bürgerlichen Gegnern, obwohl diese auch im Sport eine bestimmende Trennlinie bis 1934 waren. Unterschiedliche poli- tische Gruppen setzten auf Sport und Körperkultur: So stieg der 1909 gegrün- dete Sportclub Hakoah in der Zwischenkriegszeit zu einem wichtigen Aushän- geschild der zionistischen Bewegung auf, der Verein errang 1925 den Titel der ersten Fußball-Profimeisterschaft.18

16 Julius Deutsch, Sport und Wehrhaftigkeit, in: Erstes österreichisches Arbeiter-Turn- und Sportfest Wien (Juli 1926, Nummer 2), S. 1. 17 Deutsch, Sport und Politik, S. 20. 18 Einen guten Überblick zur Geschichte des SC Hakoah bietet: Susanne Helene Betz / Monika Löscher / Pia Schölnberger (Hgg.), „…mehr als ein Sportverein.“ 100 Jahre Hakoah Wien 1909 – 2009, Innsbruck – Wien – Bozen 2009. 66 Georg Spitaler

Generell bildete der Sport ein prominentes Feld der Emanzipation. Das ‚Sportsgirl‘ – „die sonnengebräunten beweglichen Gestalten von Frauen und Mädchen“19 wurde zum Inbegriff neuer Weiblichkeitsmodelle. Gerade im Ar- beitersport gab es einige prominente feministische Aktivistinnen und Päda- goginnen, die sich für die Gleichberechtigung von Frauen im Sport und der Politik einsetzten. So beschrieb etwa die Politikerin und ASKÖ-Funktionärin Marie Deutsch-Kramer anlässlich der Arbeiterolympiade 1931 in Wien den politischen und gesellschaftlichen Aufstieg der Frau, deren sichtbarer Ausdruck die weibliche Beteiligung an der Olympiade sei: „Vor einer Generation: die Frauen, ausgeschlossen von allen öf- fentlichen Rechten, ausgeschlossen von jeder öffentlichen Wirk- samkeit, ausgeschlossen von fast allen Lern- und Studienmög- lichkeiten, gebannt ins Haus, geistig gehemmt durch einen Wust sinnloser Vorurteile und uralter Gesetze, unfrei und Sklavinnen, körperlich im Zwange einer lächerlichen, den Körper verunstal- tenden und seine Entwicklung hemmenden Mode. Heute: Befreit durch die Revolution, vorwärts stürmend auf der Bahn der Freiheit, geistig und politisch den Männern ebenbürtig, rechtlich um ihre Gleichstellung ringend, siegreich eine neue Zeit erkämpfend […]. Und förmlich als äußerliches Sinnbild dieser Errungenschaften des weiblichen Geschlechts sehen wir die Frau- en als gleichwertige Kämpferinnen neben den Männern bei der Arbeiterolympiade.“20

Internationale Vernetzung Der Sport spielte in der Zwischenkriegszeit einerseits eine wichtige Rolle bei der Konstruktion lokaler, politischer und ansatzweise auch nationaler Vorstel- lungen in Österreich. Wie das Beispiel der Arbeiterolympiade zeigt, bildete er gleichzeitig auch eine Bühne für internationale Vernetzung und transnationale Beziehungen. Dies lässt sich auch mit Bezug zu den österreichisch-polnischen Beziehungen kurz darstellen: So führte etwa der SC Hakoah in den 1920er Jahren zahlreiche Tourneen in Mittel- und Osteuropa durch, um für die jüdische Idee zu werben. Zwi- schen 1922 und 1926 reiste man zu Sommergastspielen in Polen, wobei die

19 Steffi Endres, Körperkultur und Lebensgestaltung, in: Oesterreichische Arbeiter-Turn- und Sport-Zeitung 10 (Jänner 1933) 1, S. 1– 2, hier S. 1. 20 Maria [Marie] Deutsch-Kramer, Aufstieg, in: Arbeiter-Zeitung, 19. Juli 1931, S. 8. Sport und Politik im Österreich der Zwischenkriegszeit 67

Wiener Hakoah Vorbild für lokale zionistische Sportvereine in Städten wie Lodz, Krakau oder Kielce wurde.21 Im professionellen Fußball wurden in der Zwischenkriegszeit z. B. mit dem Mitropa Cup mehrere Wettbewerbe geschaffen, die die Städte Mittel- und Osteuropas in diesen Jahren verbanden – der ‚Donaufußball‘ wurde zu einem Markenzeichen.22 Wurden die Olympischen Spiele zur Bühne natio- naler Selbstdarstellung – verbunden mit zahlreichen politischen Konflikten, nicht zuletzt bei den Spielen 1936 im nationalsozialistischen Deutschland –, so boten alternative Großereignisse wie die Arbeitersport-Olympiade 1931 auch Möglichkeiten für die Feier von Internationalismus und Sozialismus. So nah- men an der sozialdemokratischen Veranstaltung in Wien offiziell auch knapp 1.000 TeilnehmerInnen aus Polen teil23, das Plakatsujet des Grafikers Victor Slama existiert auch in polnischer Sprache.24 Als einer der Präsidenten der Sozialistischen Arbeiter-Sport-Internationale (SASI) hielt der Wiener Politiker Julius Deutsch auch Kontakte zu unterschied- lichen polnischen Sportvereinigungen. So etwa mit der Arbeitersportorgani- sation des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes „Morgnsthern“ (Jutrznia), die ihre Anfänge 1909 im habsburgischen Krakau gehabt hatte und bis 1939 eine Massenorganisation in Polen darstellte.25 Für den Morgnsthern galt Julius Deutschs Broschüre Sport und Politik als „Leitmedium“26, die mehrfach ins Jiddische übersetzt wurde.27 Solche Netzwerke wurden mit der Niederlage des Roten Wien 1934 stark geschwächt und sie endeten spätestens mit dem nationalsozialistischen Ter-

21 Vgl. Bernhard Hachleitner, Bannerträger jüdischer Stärke. Die Wiener Hakoah als Vorbild für hunderte Vereine in aller Welt, in: Betz / Löscher / Schölnberger (Hgg.), „…mehr als ein Sportverein“, S. 131–149, hier 132 –133. 22 Vgl. dazu z. B. Matthias Marschik / Doris Sottopietra, Erbfeinde und Hasslieben. Kon- zept und Realität Mitteleuropas im Sport, Münster – Hamburg – London 2000. 23 2. Arbeiter-Olympiade in Bild und Wort mit 187 Illustrationen, Presse- und Propagan- daausschuß der 2. Arbeiter-Olympiade 1931, Wien 1931. 24 Vgl. die Abbildung in: Schwarz / Spitaler / Wikidal (Hgg.), Das Rote Wien 1919 –1934, S. 422. 25 Diethelm Blecking, Zwischen „doikeyt“ und Klassenkampf – Zur Rolle der linksradika- len Sportorganisation „Jutrznia/Jutrzenka“ (Morgnshtern) im Sport der polnischen Juden, https:// www.researchgate.net/publication/292642204_Zwischen_doikeyt_und_Klassenkampf_-_ Zur_Rolle_der_linksradikalen_Sportorganisation_JutrzniaJutrzenka_Morgnshtern_im_ Sport_der_polnischen_Juden. 26 Ebd., S. 7. 27 Ebd., bzw. Stow. Robotnicze Wychowania Fizycznego „Jutrznia“ w Polsce an Deutsch, 22. Juli 1930, in: Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA), Parteiarchiv vor 1934, Mappe 75/4. 68 Georg Spitaler

Abbildung 1. Schreiben der jüdischen Arbeitersportorganisation „Jutrznia“ an SASI-Präsident Julius Deutsch vor der Arbeiterolympiade 1931 (Quelle: Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung). Sport und Politik im Österreich der Zwischenkriegszeit 69 ror ab 1938/39. Als im Februar 1939 im polnischen Zakopane die nordische Ski-Weltmeisterschaft stattfand, feierte dort der Salzburger Weltrekordspringer Sepp Bradl bereits einen Sieg für Großdeutschland, wie in den NS-Medien ausführlich dargestellt wurde.28 Auch im Nationalsozialismus erfüllte der Sport zahlreiche politische Funktionen, er gehörte zu den „Pausenräumen“ des Drit- ten Reichs29, war ein Feld der politischen Selbstdarstellung wie der Resistenz.30 Nach 1945 schienen in Österreich politisierte Konzepte des Sports durch die totalitäre Erfahrung diskreditiert, die nun dominierende Rede vom unpoli- tischen Sport ermöglichte gleichzeitig aber auch die Tabuisierung von Täter- schaft und Mitläufertum. Dezidiert linke Sportkonzepte, wie sie von Julius Deutsch und seinen GenossInnen vertreten worden waren, gerieten durch den Bruch, den Austrofaschismus und Nationalsozialismus dargestellt hatten, in Vergessenheit – und spuken heute nur noch als Phantome einer nicht eingetre- tenen Zukunft durch unsere Gegenwart.31

Georg Spitaler, Dr., Politologe und Historiker am Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA) in Wien. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Cultural Studies, ArbeiterInnengeschichte, Fragen des Politischen im Sport.

28 Vgl. dazu z. B. Minas Dimitriou, „Sepp Bradl – der Welt bester Sprungläufer“. Zur The- atralisierung des sportlichen Erfolges im Dienste der NS-Propaganda, in: Marschik / Meisinger / Müllner / Skocek / Spitaler (Hgg.), Images des Sports in Österreich, S. 219 – 232. 29 Vgl. dazu Carsten Würmann / Ansgar Warner (Hgg.), Im Pausenraum des „Dritten Rei- ches“. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutschland, Bern u. a. 2008. 30 Vgl. dazu Matthias Marschik, Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialisti- schen Österreich, Wien 2008. 31 Vgl. dazu Spitaler, Spuk-Bild des linken Sports.

Krzysztof Dąbrowski

Die Geschichte der RWD-Flugzeuge

Die RWD-Flugzeuge waren und sind wahrscheinlich die weltweit bekanntes- ten polnischen Flugzeugkonstruktionen, wobei die Abkürzung RWD auf die Initialen der Nachnamen der drei polnischen Konstrukteure Stanisław Ro­ galski, Stanisław Wigura und Jerzy Drzewiecki zurückgeht. Neben den Flug- zeug-Versuchswerkstätten (poln. Doświadczalne Warsztaty Lotnicze), die die RWD-Flugzeuge produzierten, gab es in Polen in der Zwischenkriegszeit auch die Staatlichen Flugzeugwerke (poln. Państwowe Zakłady Lotnicze, abgekürzt PZL), die Podlasie-Flugzeug-Werke (poln. Podlaska Wytwórnia Samolotów, abgekürzt PWS), die Lublin-Flugzeug-Werke (poln. Lubelska Wytwórnia Sa- molotów, abgekürzt LWS), die zunächst unter der Bezeichnung „Lubliner Me- chanische Werke Emil Plage und Teofil Laśkiewicz“ bekannt waren, sowie eine Reihe weiterer Flugzeug-Werkstätten.

1. Konstrukteure

1. 1. Stanisław Wojciech Rogalski Der Ingenieur und Flugzeugentwickler Stanisław Wojciech Rogalski (1904 – 1976) wurde in Olmütz in Mähren als Sohn von Wojciech, einem Militärarzt und späteren General, geboren. Rogalski studierte an der Fakultät für Mecha- nik an der Technischen Hochschule in Warschau. Im Jahre 1924 unterbrach er sein Studium, um eine Pilotenausbildung an der Pilotenschule in zu absolvieren, anschließend kehrte er an die Technische Hochschule zurück, um 1929 sein Studium mit dem Titel eines Diplom-Ingenieurs der Mechanik ab- zuschließen. In der Folge wurde er am Lehrstuhl für Flugzeugbau an der Tech- 72 Krzysztof Dąbrowski nischen Hochschule in Warschau bei Prof. Gustaw Mokrzycki Oberassistent. Von 1931 bis 1934 war er Vortragender für Flugzeugbau an der Technischen Hochschule in Lemberg. 1936 absolvierte er Praktika an Flugzeugwerkstätten und Versuchsinstituten in den USA, 1938 habilitierte er sich an der Techni- schen Hochschule in Warschau. Stanisław Wojciech Rogalski war eng mit dem polnischen Flugzeugin- genieur Stanisław Wigura befreundet, gemeinsam konstruierten sie in den Werkstätten der Flugsektion der Studenten der Technischen Hochschule in Warschau das Sportflugzeug WR-1. Später begann er mit Jerzy Drzewiecki zusammenzuarbeiten, noch später stieß Jerzy Wędrychowski dazu. 1933 war er einer der Mitbegründer der bereits erwähnten Flugzeug-Versuchswerkstätten (poln. Doświadczalne Warsztaty Lotnicze). Er konstruierte einen Großteil der RWD-Modelle. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges emigrierte Rogalski über Ru- mänien nach Frankreich und danach nach England. In England war er daran beteiligt, Waffen in die Flugzeuge der Firma Westland einzubauen. 1941 über- siedelte er aufgrund eines Vorschlags von Jerzy Wędrychowski in die Türkei, wo dieser Flugzeugbau-Werkstätten errichtete. In der Zeit von 1943 bis 1947 wurden dort das Einpersonen-Kunstflugtrainerflugzeug THK-2, das Segel- flugzeug für Transportzwecke THK-1, das zweimotorige­ Passagier- und Sani- tärflugzeug THK-5 sowie das Sportflugzeug THK-11 entwickelt und gebaut. Rogalski hielt auch Vorlesungen an der Technischen Hochschule in Istanbul. In der Nachkriegszeit, im Jahr 1948, emigrierte Rogalski in die USA und war dort in der Flugzeugindustrie beschäftigt, in den Unternehmen Lord Company, Chase Aircraft und Grumman Aircraft Engeneering. Ab 1956 hielt er auch Vorlesungen an der Universität Princeton. Kurz vor seiner Pensionie- rung im Jahr 1971 entwarf er eine Überland-Luftkissenbahn, deren Betriebs- geschwindigkeit 480 km/h erreichen sollte. Bereits im Pensionsalter arbeitete er bei der Firma Grumman als Konsulent bei der Entwicklung eines Transport- Luftkissenfahrzeugs sowie mit der NASA bei der Entwicklung von Lunarfahr- zeugen zusammen. Rogalski wurde vielfach ausgezeichnet, so wurde ihm das Goldene Ver- dienstkreuz, das Kavalierskreuz des Ordens Polonia Restituta, der Orden der Krone von Italien, der Orden Cruzeiro de Sol sowie zahlreiche weitere Orden verliehen. Rogalski war mit Halszka Antonina Rychter verheiratet, die Ehe blieb kin- derlos. Stanisław Rogalski starb 1976 in den USA, seine sterblichen Überreste wurden nach Polen überführt und auf dem Powązki-Friedhof beigesetzt. Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 73

1. 2. Stanisław Wigura Stanisław Wigura (1901–1932) wurde in Warschau geboren. Er war ein polni- scher Flugzeugingenieur und begabter Konstrukteur von Sport- und Rekord- flugzeugen sowie Pilot. Im Jahr 1920 nahm er aktiv am polnisch-russischen Krieg teil, anschließend studierte er an der Fakultät für Mechanik an der Technischen Hochschule in Warschau und erhielt 1929 sein Diplom als Diplom-Ingenieur der Mechanik. 1925 war er Mitbegründer der Werkstätten der Flugsek- tion der Studenten der Me- chanik an der Tech­nischen Hochschule in Warschau. Sein erstes Flugzeug, das er gemeinsam mit Ro­galski im Jahr 1926 entwickelte, war das Kleinflugzeug WR-1. Er war auch einer der Begründer der RWD-Konstruktionen im Jahr 1927, wobei er haupt- sächlich für die Konstrukti- onsberechnungen der Reihe RWD-1 bis RWD-7 sowie der RWD-6 verantwortlich war. 1929 erhielt er den Sport-Pilotenschein des Aka- demischen Aeroklubs. Zu diesem Zeitpunkt freunde- te er sich mit dem um sechs Jahre älteren Leutnant Pilot Abbildung 1. Stanisław Wigura Franciszek Żwirko an und und Franciszek Żwirko (Quelle: Wikipedia). flog gemeinsam mit ihm als Bordmechaniker. Wigura nahm an polnischen und internationalen Flugver- anstaltungen teil, u. a. auch an der Challenge im Jahr 1930. Gemeinsam mit Franciszek Żwirko ging er beim Internationalen Flugwettbewerb Challenge im Jahr 1932 als Sieger hervor. Wigura war auch Vortragender an der Staatlichen Flug- und Fahrzeugschule in Warschau. Er wurde mit dem Kavalierskreuz des Ordens Polonia Restituta und mit dem Goldenen Verdienstkreuz ausgezeich- 74 Krzysztof Dąbrowski net. 1932 kam er bei einem Flugzeugunglück bei Cierlicko Górne in Tsche- chisch-Schlesien ums Leben 1. 3. Jerzy Jan Drzewiecki Jerzy Jan Drzewiecki (1902 –1990) war Flugzeugkonstrukteur und Testpilot. Auch er nahm am polnisch-russischen Krieg des Jahres 1920 teil und freundete sich wie bereits erwähnt zu dieser Zeit mit Stanisław Wigura an.

Abbildung 2. Jerzy Jan Drzewiecki und Jerzy Wędrychowski sowie das Flugzeug RWD-7 (Quelle: https://commons.wikimedia.org).

Drzewiecki konstruierte eine Reihe von Flugzeugen, die Segelflugzeuge SL-1 und SL-2, JD-2 (ein Projekt aus den Jahren 1924–25), anschließend die RWD-Serie. Zunächst war er in der Flugsektion der Mechanik-Studenten der Warschauer Technischen Hochschule tätig, später in den Flugzeug-Ver- suchswerkstätten. Seine Pilotenausbildung absolvierte er an der Militärschule in Dęblin im Jahr 1926, anderen Quellen zufolge jedoch im Jahr 1925 beim zentralen Ausbildungsgeschwader des 1. Flugregiments in Warschau – als Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 75

Zivilschüler mit Ausnahmegenehmigung. In der Zeit von Mitte 1925 bis Mit- te 1926 war er bei der militärischen Forschungszentralstelle­ für Flugwesen in Warschau als stellvertretender Leiter des Konstruktionsbüros beschäftigt. Wigura projektierte u. a. 1925 einen dann nicht gebauten Doppeldecker, das Jagdflugzeug DK. Beim nächsten Projekt, dem Flugzeug WR-1, arbeiteten Wigura und Ro- galski zusammen. Die WR-1 hatte jedoch Startschwierigkeiten. Das Klein- flugzeug RWD-1 entstand 1927 für die neu gegründeten Akademischen Ae- roklubs. Im Oktober 1927 errang Drzewiecki den ersten Platz beim Ersten Landeswettbewerb der Kleinflugzeuge. 1929 erhielt Rogalski ein Diplom an der Fakultät für Mechanik an der Technischen Hochschule in Warschau. Ab 1929 war er Mitglied des Akademi- schen Aeroklubs in Warschau, der später in Warschauer Aeroklub umbenannt wurde. Drzewiecki war auch Mitglied des Verbandes der polnischen Flugzeug­ ingenieure. Er war Entwickler beziehungsweise Mitentwickler von fast allen RWD-Modellen, die zunächst in den Werkstätten der Flugsektion und später in den Flugzeug-Versuchswerkstätten gebaut wurden. Er testete die Modelle JD-2, RWD-1 bis RWD-7. Nach einem schweren Unfall mit einer RWD-6 verzichtete er auf weitere Testflüge, betrieb aber weiter Flugsport. Er flog u. a. gemeinsam mit Leszek Dulęba und Jerzy Wędrychowski. Von allen in den Werkstätten beschäftigten Konstrukteuren war Drze- wiecki der einfallsreichste. Während des Zweiten Weltkrieges, nachdem die Flugzeugwerkstätten nach Bukarest evakuiert worden waren, sowie nach seiner Emigration nach England, diente er dort bei der Air Transport Auxiliary. Seine Versuche, eine interessante Arbeit zu finden, scheiterten, da die Engländer kei- ne ausländischen Ingenieure beschäftigen wollten, sondern nur Hilfspersonal. Im Rahmen seiner Arbeit bei der Air Transport Auxiliary überstellte er Kampf- flugzeuge von Militäreinheiten zu Reparaturbetrieben und wieder zurück. Den Vorschlag von Wędrychowski, in die Türkei zu übersiedeln, nahm er zum Unterschied von Rogalski nicht an. In der Nachkriegszeit konnte er leider nur zweitrangige Posten in der Flugzeugindustrie in England finden. Daher übersiedelte er 1947 nach Kanada, wo er zunächst als technischer Zeichner arbeitete. Später entwickelte und konstruierte er Antennen für Radar, für Ra- dioteleskope und Interferometer (für Radioastronomie). Seine Hobbies waren Schifahren und Blumenzucht. Drzewiecki wurde zwei Mal mit dem Goldenen Verdienstkreuz, weiters mit dem Silbernen Verdienstkreuz und mit dem Orden Member of the Order of the British Empire ausgezeichnet. 76 Krzysztof Dąbrowski

Er war seit 1950 mit Józefa Śmiałowska verheiratet und hatte drei Töchter. Er verstarb am 15. Mai 1990 in . 1. 4. Antoni Kocjan Antoni Kocjan (1902 –1944) war Segelflugzeugkonstrukteur und arbeitete während der deutschen Besatzung mit der polnischen Heimatarmee zusam- men, bei der Aufklärungstruppe der Musketiere (poln. Muszkie­terzy). Er be- teiligte sich an der Erkundung des Raketenzentrums in Peenemünde sowie der Analyse von V-2-Raketen. Auch Kocjan nahm am polnisch-sowjetischen Krieg 1920 teil, anschlie- ßend studierte er an der Technischen Hochschule in Warschau. Da er sich bereits damals intensiv mit Flugzeugkonstruktionen beschäftigte, verabsäumte er es, sein Studium mit einem Diplom abzuschließen. Sein Diplom erhielt er später als Anerkennung für seine Konstruktionen. Kocjan überwachte die Entstehung der Sportflugzeuge JD-2, WR-1 und SP-1 bei der Flugsektion der Technischen Hochschule. Anschließend beteiligte er sich an der Entwicklung und am Bau der RWD-Serie. Ab 1932 war Kocjan auch Chefkonstrukteur der Segelflugzeug-Werkstätte auf dem Mokotów-Feld (poln. Pole Mokotowskie) in Warschau. Er konstruierte dort Ausbildungs-, Transport- und Sport-Segelflug- zeuge und projektierte auch ein Motor-Segelflugzeug. Die Serienproduktion dieser Segelflugzeuge erfolgte sowohl in Polen als auch im Ausland. Es handelte sich um die Modelle „Wrona“ [Krähe], „Czajka“ [Kiebitz], „Komar“ [Mücke], „Sokół“ [Falke], „Mewa“ [Möwe], „Orlik“ [Adler] und das Motor-Segelflug- zeug „Bąk“ [Hummel]. Im Zweiten Weltkrieg wurde Kocjan von den Deutschen inhaftiert, gefol- tert und im August 1944 ermordet. 1. 5. Tadeusz Chyliński Tadeusz Chyliński (1911–1978) war ein polnischer Flugzeugkonstrukteur und lange Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Flugwesen sowie Ex- perte für die Festigkeit von Flugzeugkonstruktionen.­ Sein Studium absolvierte er an der Fakultät für Mechanik an der Technischen Hochschule in Warschau, ab 1937 war er Mitarbeiter der Flugzeug-Versuchswerkstätten. Chyliński be- schäftigte sich mit den Konstruktionen und der Dokumentation von Model- len ab der RWD-14 aufwärts. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Chyliński bei der EKD-Lokal- bahn Warschau – Grodzisk Mazowiecki, ab 1942 war er Soldat der polnischen Heimatarmee. Chyliński widmete sich u. a. der Konstruktion von Bahnminen. Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 77

In der Nachkriegszeit beschäftigte er sich zunächst mit den Konstruktio- nen von Segelflugzeugen, später war er Entwickler am Technischen Institut für Flugwesen, dem späteren Zentralinstitut für Flugwesen. Chyliński beschäftigte sich auch mit Hubschrauber-Konstruktionen, mit dem Bau von Sanitär- und Sonderflugzeugen, mit Turbo-Prop-Flugzeugen, Flugzeugen für die Landwirt- schaft, für Kunstflüge etc. Er wurde mit dem Kavalierskreuz des Ordens Polonia Restituta und ande- ren hohen staatlichen Auszeichnungen ausgezeichnet. Chyliński schrieb u. a. für die Zeitschriften „Skrzydlata Polska“ [Geflügel- tes Polen], „Technika Lotnicza i Astro­nautyczna“ [Flugzeug und Astronauti- sche Technik] sowie „Berichte des Instituts für Flugwesen“. Viele Jahre war er Mitglied des Wissenschaftlichen Rates des Instituts für Flugwesen. Chyliński war mit Alina Dąbkowska verheiratet und hatte zwei Kinder, Lidia und Rafał. Er wurde auf dem Powązki-Friedhof beigesetzt. 1. 6. Bronisław Żurakowski Bronisław Żurakowski (1911– 2009) wurde in Maciejówka am Don geboren und verstarb fast hundertjährig 2009 in Warschau. Żurakowski war Entwickler von Flugzeugen und Hubschrauber, Experte für Konstruktionsberechnungen und Segelflug-Pilot. Das Studium an der Flugabteilung der Mechanischen Fakultät schloss er 1936 an der Technischen Hochschule in Warschau ab. Danach arbeitete er an der Entwicklung ab dem Modell RWD-14 „Czapla“ [Reiher] mit, ab dem Mo- dell RWD-17 arbeitete er selbstständig. Während des Zweiten Weltkriegs blieb er in Polen. Nach dem Krieg arbeitete er am Zentralinstitut für Flugwesen als Flugzeug-Entwickler. Gemeinsam mit Tadeusz Chyliński und Zbigniew Brzos- ka konstruierte Żurakowski den ersten polnischen Hubschrauber BŻ-1 GIL [Gimpel]. Später kamen noch u. a. das Flugzeug „Wilga“ [Pirol] und der Hub- schrauber „Sokół“ [Falke] hinzu. Żurakowski hielt Vorlesungen für Hubschrau- berbau an der Fakultät für Mechanik und Flugzeugwesen an der Technischen Hochschule. Von allen Konstrukteuren der Flugzeug-Versuchswerkstätten lebte er am längsten. Żurakowski wurde in Warschau auf dem Wawrzyszewski-Fried- hof beigesetzt. Sein Bruder Janusz Żurakowski war Test- und Jagdpilot. 1. 7. Leszek Mieczysław Dulęba Leszek Mieczysław Dulęba (1907 –1987) war Flugzeugkonstrukteur, Mitschöp- fer von RWD-Flugzeugen sowie von Maschinen des Typs CSS-11, CSS-1 und MD-12. 78 Krzysztof Dąbrowski

Dulęba war ab 1932 bei den Flugzeug-Versuchswerkstätten beschäftigt, gleichzeitig war er bei Prof. Gustaw Mokrzycki am Lehrstuhl für Flugzeugbau und Flugmechanik an der Technischen Hochschule in Warschau Oberassistent. 1932 verfasste er ein Vorlesungsskriptum über Flugstatik auf der Grundlage der Vorlesungen von Prof. M. Huber. Während des Krieges lebte er in Großbritan- nien, später in der Türkei als Leiter der Projekt-Abteilung der TKH-Flugwerke. Nach dem Krieg kehrte er nach Polen zurück und war in der polnischen Flugindustrie beschäftigt. Gleichzeitig war Dulęba wissenschaftlicher Mitar- beiter an der Technischen Hochschule in Warschau, und seit 1958 Professor an der Technischen Hochschule. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

2. Die Flugzeug-Versuchswerkstätten Die Flugzeug-Versuchswerkstätten (poln. Doświadczalne Warsztaty Lotnicze, abgekürzt DWL) sind aus den Werkstätten der Flugsektion der Studenten für Mechanik an der Warschauer Technischen Hochschule hervorgegangen. Die Sektion war zunächst im sogenannten Neuen Zeichner-Haus untergebracht, was den Bau der Flugzeuge sehr erschwerte und zur Entwicklung zerlegbarer Konstruktionen zwang. 1930 wurden die Werkstätten nach Okęcie verlegt. Zu den Konstrukteuren gehörten die bereits vorgestellten Stanisław Rogal- ski, Stanisław Wigura, Roman Drzewiecki, Stanisław Prauss, Antoni Kocjan, Tadeusz Chyliński, Bronisław Żurakowski (seit 1936) sowie weitere. Das ers- te in Okęcie konstruierte Flugzeug war die aufgrund des Atlantiküberflugs von Stanisław Skarżyński bekannte RWD-5. Die Werkstatt beschäftigte sich mit der Entwicklung und der Konstruktion von leichten, hauptsächlich ein- ­ motorigen Flugzeugen für Ausbildungszwecke sowie für sportliche und touris- tische Aktivitäten. Zunächst konstruierte Drzewiecki das Sportflugzeug JD-2 (SL-4) und da- nach die Segelflugzeuge SL-1 und SL-2. Nachfolgemodelle waren die WR-1 von Wigura und Rogalski sowie die PS-1 (die auch unter der Bezeichnung SP-1 bekannt ist) aus dem Jahre 1928 von Stanisław Prauss. Das erste gemein- sam von Rogalski, Wigura und Drzewiecki entwickelte Modell, die RWD-1, entstand im Jahre 1927. Stanisław Rogalski war der Leiter der Konstruktionsgruppe und beschäf- tigte sich hauptsächlich mit Aerodynamik. Stanisław Wigura beschäftigte sich mit Konstruktionsberechnungen sowie mit Belastungs- und Festigkeits- berechnungen. Er flog auch als Bordmechaniker bei der Challenge im Jahr 1932. Jerzy Drzewiecki war der einfallsreichste Konstrukteur, hatte die meisten Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 79

Konstruktionsideen und vermochte aerodynamische Konzepte in konkrete Lösungen umzusetzen. Er kannte sich auch in Produktionsverfahren sehr gut aus. Rogalski, Wigura und Drzewiecki waren auch Piloten und flogen sehr viel mit Sportmaschinen. 1933 wurden die Flugzeug-Versuchswerkstätten in eine Gesellschaft umge- wandelt. Gesellschafter waren Jerzy Wędrychowski, Jerzy Drzewiecki und Sta- nisław Rogalski, Vorsitzender war Jerzy Wędrychowski. Die Flugzeug-Versuchswerkstätten produzierten die RWD-Flugzeuge und bestanden bis zum Kriegs­ausbruch im September 1939. Insgesamt wurden in den Werkstätten der Flugsektion und in den Flugzeug-Versuchswerkstätten in der Zeit von 1926 bis 1939 ca. 314 RWD-Flugzeuge gebaut, weitere 540 entstan- den in anderen polnischen Flugzeugbetrieben, in den Podlasie-Flugzeug-Werken (PWS) sowie in den Lublin-Flugzeug-Werken (LWS). Sie wurden auch in Est- land und Jugoslawien gebaut. Insgesamt entstanden also ca. 850 Exemplare. Die Versuchswerkstätten wurden im September 1939 über Świdnik und Stanisławów nach Bukarest evakuiert. 2. 1. Die ersten Maschinen Das Projekt für das Sportflugzeug D1 von Jerzy Drzewiecki geht in das Jahr 1924 zurück, der Bau wurde im Februar 1925 beendet. Es handelte sich um ein kleines Einpersonenflugzeug, der Pilot saß nur zur Hälfte in der Kabine. Die D1 war mit einem 16 PS (12 kW) starken Verbrennungsmotor ausge- rüstet. Es wurden ca. 40 kurze Flüge getätigt, aufgrund des schlecht funkti- onierenden Motors war die D1 für längere Flüge jedoch ungeeignet. Es war dies das erste Sportflugzeug, das nach Kriegsende in Warschau gebaut wurde, ein Doppeldecker mit Holzkonstruktion, die Tragflächen wurden teilweise mit Leinen und teilweise mit Sperrholzplatten gedeckt. Die Flügeltragweite betrug 5 m, und die Tragfläche 8,12 2m . Das von Jerzy Drzewiecki projektierte Flugzeug JD-2 entstand 1926 und verunglückte während der Testflüge. Seine Bezeichnung SL-4 stammte von der Bezeichnung Flug-Sektion (poln. Sekcja Lotnicza), das Nachfolgemodell trug die Bezeichnung SL-6 und wurde später privat von einem Piloten des Warschauer Aeroklubs bis 1935 genutzt. Es war ein Zweipersonensportflug- zeug mit einem 45 oder 80 PS starken Motor. In der Zeit von 1929 bis 1930 wurden drei modifizierte Exemplare JD-2 bis gebaut, gemeinsam mit den Vor- gängern entstanden also sieben Stück. Die Flügeltragweite betrug 9,7 m, die Fläche – 13,5 m2. Die Holzflügel wurden teilweise mit Sperrholz und teilweise mit Leinen bedeckt, der Rumpf wurde zur Gänze aus Sperrholz gebaut. 80 Krzysztof Dąbrowski

Im Jahre 1924 konstruierte Drzewiecki die Segelflugzeuge SL-1 „Akar“ und SL-2 „Czarny kot“ [Schwarze Katze]. 2. 2. Die RWD-Reihe Die RWD-Flugzeuge waren größtenteils Ausbildungs- und Sportmaschinen sowie touristische Maschinen, hauptsächlich waren sie mit einem Motor an- getrieben. Später, in der Zeit von 1927 bis 1939, entstanden auch Projekte und Prototypen von Passagier- und Jagdflugzeugen. Die Rümpfe von einigen der ersten Modelle hatten die Gestalt eines Fisches, der Blick nach vorne war verdeckt – der Pilot musste sich zur Seite lehnen. Einige Projekte wurden nie umgesetzt, auch die Nummerierung erfolgte nicht durchgängig. Es wurden hauptsächlich kurze Serien oder Einzelstücke für besondere Zwecke gebaut – für Versuche, Rekorde, die Teilnahme an Wettbewerben wie die Challenge usw. In größeren Serien wurden die Modelle RWD-8 (ca. 550 Stück), RWD- 13(S) (ca. 100 Stück) und RWD-14 „Czapla“ [Reiher] (ca. 65 Stück) gebaut. Von den RWD-10- und RWD-17-Maschinen gab es über 20 Stück, von der RWD-5-Maschine 20 Stück, von allen weiteren je eines beziehungsweise einige wenige Exemplare. Von der RWD-1 wurde nur ein Exemplar gebaut, 1928 wurde es getestet. Deren Konstruktion war von den touristischen Flugzeugen von Messerschmidt inspiriert. Seine Vorteile waren die Einfachheit des Aufbaus, das geringe Ge- wicht, niedrige Betriebskosten und gute Flugeigenschaften. Zusammenbau und Zerlegung dauerten nur 7 Minuten. Die Flügeltragweite betrug 9,8 m, die Fläche 13,6 m2, die Masse 190 kg, die Gesamtmasse 370 kg. Von der RWD-2 wurden 4 Exemplare gebaut, die Maschine hatte ähnliche Eigenschaften wie die RWD-1 und war für sportliche und touristische Zwecke bestimmt, die erreichbare Geschwindigkeit betrug 65 –155 km/h (Betriebsge- schwindigkeit 130 km/h). An der Challenge des Jahres 1930 nahmen je drei Mannschaften auf RWD-2 und RWD-4 Maschinen teil, unter anderem auch Żwirko und Wigura. Aufgrund eines Motorschadens mussten die beiden leider den Flug abbrechen. Polnische Mannschaften belegten die Plätze in der 2-er bis 4-er Zehnergruppe. Hauptziel dieser Wettbewerbe war es, die Entwicklung neuer technischer Ideen zu fördern. Die besten Plätze erreichten die speziell für diesen Zweck gebauten Maschinen. 1929 absolvierte Drzewiecki auf einer RWD-2 einen Polenrundflug. Von der RWD-3, die für Sport- und Tourismus bestimmt war, wurden nur 2 Stück gebaut, sie waren mit einem 80 PS starken Motor ausgerüstet und waren etwas schneller als die vorherigen Modelle. Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 81

Abbildung 3. Modell RWD-10 (Quelle: https://commons.wikimedia.org).

Abbildung 4. Das Modell RWD-3 (Quelle: https://commons.wikimedia.org). 82 Krzysztof Dąbrowski

Die Konstruktion der RWD-4 stammt aus dem Jahr 1929. Es wurden 9 oder 10 Stück gebaut. Es war das erste, in Serie gebaute polnische Flugzeug. Die RWD-4 wurde von den Mitgliedern polnischer Aeroklubs geflogen und nahm an der Challenge im Jahr 1930 teil. Im selben Jahr flog Drzewiecki mit einer RWD-4 nach London und zurück – eine Strecke von 2400 km. Die RWD-4 war eine gelungene Konstruktion und ein wichtiger Entwicklungs- schritt des polnischen Flugwesens. Die RWD-5 war eine Weiterentwicklung der Modelle RWD-1 – RWD-4 und RWD-7. Sie wurde in zwei Versionen, „Standard“ sowie „bis“ gebaut. Die Maschine erreichte Geschwindigkeiten bis 170 km/h (175 für das Modell RWD-5 bis), die Maximalgeschwindigkeit betrug 202 (210) km/h. In der Aus- führung „bis“ mit einem 130 PS starken Motor betrug die maximale Reichwei- te 5000 km, die Flugdauer 28,9 Stunden. Aufgrund ihres Panoramafensters wirkte die Maschine modern. Sie wurde als die beste polnische Sportmaschine bezeichnet, sie wurde jedoch in geringer Stückzahl gebaut. Insgesamt wurden von beiden Ausführungen nur 21 Stück gebaut. Die RWD-5 nahm an mehreren polnischen und ausländischen Flug- veranstaltungen teil und wurde auch für Ausbildungszwecke bei Aeroklubs eingesetzt. Später wurde sie bei sportlichem Einsatz durch die RWD-13 er- setzt. Sie war die kleinste Maschine, die damals (und dies galt für längere Zeit) den Atlantik überquert hatte. Während der Verteidigung Polens im September 1939 diente mindestens eine Maschine dieses Typs als Verbindungsflugzeug zwischen Warschau und Rumänien. Die Atlantiküberquerung von Kapitän Stanisław Skarżyński auf einer spe- ziell ausgerüsteten RWD-5 bis erfolgte am 8. Mai 1933. Die Streckenlänge von St. Louis in Senegal nach Maceió in Brasilien betrug 3582 km. Er brach damals den Weltrekord der Streckenlänge für die Flugzeuge der II. Klasse (mit einer Gesamtmasse bis zu 450 kg). Der erste Südatlantik-Überflug in der Flug- geschichte dauerte 20 Stunden, davon 17 Stunden über den Ozean. Für diese Leistung erhielt Skarżyński 1936 von der Internationalen Flugföderation (FAI) die Louis-Blériot-Medaille. Der Flug war eine Etappe auf der (von Skarżyński zwischen 27. April und 24. Juni 1933 zurückgelegten) Strecke Warschau – Rio de Janeiro (insgesamt 17.855 km). Skarżyński besuchte damals auch andere, besonders von Aus- landspolen bewohnte Städte in Brasilien, später Buenos Aires in Argentinien. Im Rahmen der Modifikationen der RWD-5 bis wurden zusätzliche Treib- stoffbehälter mit einem Fassungsvermögen von 500 Liter eingebaut. Aufgrund der Gewichtsbeschränkungen verzichtete Skarżyński sogar auf die Funkausrüs- Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 83 tung. Die Maschine wurde anschließend auf einem Schiff zurück nach Polen transportiert und auf die Standardausführung rückgebaut. Die RWD-6 war eine Sport- und Rekordmaschine aus dem Jahre 1931. Der 160 PS starke Motor erlaubte Überfluggeschwindigkeiten von 190 km/h sowie eine Maximalgeschwindigkeit von 216 km/h. Für die Teilnahme an der Challenge im Jahr 1932 wurden drei Maschinen gebaut – in die Entwicklung flossen die Erfahrungen von der Konstruktion der RWD-7 ein. In diesem Fall sowie auch bei der RWD-5 wurden die Modelle nicht der Reihe nach num- meriert. Nach dem Unglück von Żwirko und Wigura wurden die Flügelbefes- tigungen modifiziert und die Nummerierung wurde auf RWD-6 bis geändert. Die bei dem Bau von RWD-6 gewonnenen Erfahrungen flossen in die Kon­ struktion von RWD-9, RWD-13 und RWD-15 ein. Die RWD-7 war ein leichtes Rekordflugzeug aus dem Jahre 1931. Es wur- de nur ein Stück gebaut. Die RWD-7 war eine modifizierte Ausführung der RWD-2, bei den Modifikationen berücksichtigte man die Erfahrungen der Konstruktion der RWD-4. Die Masse der RWD-7 betrug 246 kg. Die so ge- wonnenen Erfahrungen wurden bei der Konstruktion der RWD-5 und der RWD-6 genutzt. Die Entwicklung der RWD-7 wurde vom Ministerium für Transport subventioniert. Nach der Challenge im Jahr 1932 wurde die Ma- schine dem Warschauer Aeroklub geschenkt. Dort wurde sie unter anderem für die Kunstflugausbildung verwendet. Der Versuch, den Flughöherekord von Żwirko und Prauss zu brechen, ist fast gelungen, der Geschwindigkeitsrekord der touristischen Flugzeuge der II. Klasse wurde von Drzewiecki und Wędrychowski mit 178 km/h erreicht. Außerdem nahm er an mehreren Landesflugveranstaltungen teil, beispielswei- se am Flug des südwestlichen Polens und am Landeswettbewerb touristischer Flugzeuge. Die RWD-8 aus dem Jahre 1933 war ein Schulungsflugzeug für die Armee. Es war die größte Flug­zeugserie, die in der Zwischenkriegszeit (sowie nach dem Krieg bis 1970) gebaut wurde. Es wurden insgesamt über 500 Flugzeu- ge produziert, davon 79 in den Flugzeug-Versuchswerkstätten. Die maximale Flugdauer betrug bis 3,7 Stunden. Ein Teil der Maschinen wurde im September 1939 nach Rumänien evaku- iert, und von dort auch weiter überstellt. Sie waren noch in den ersten Nach- kriegsjahren im Einsatz. Das viersitzige Sport- und Rekordflugzeug RWD-9 wurde nach dem Tod von Wigura von Rogalski und Drzewiecki bis 1933 weiterentwickelt. Von die- sem Nachfolger der RWD-6 wurden 9 Stück gebaut. 84 Krzysztof Dąbrowski

Bei der Challenge im Jahr 1934 starteten 11 polnische Mannschaften, sechs davon auf einer RWD-9 und fünf auf einer PZL26. Die Teilnehmer stammten nur aus vier Ländern, Polen, Deutschland, Italien und der Tschechoslowakei. Das akrobatische Kleinflugzeug RWD-10 sollte dem Militärpiloten kos- tengünstige Flugschulungen ermöglichen. Die Maschine wurde von Drze- wiecki allein konstruiert (mit der Hilfe von Berechnungsspezialisten­ und eines Zeichners). Das Projekt entstand 1933, mit der Serienproduktion wurde je- doch erst 1937 begonnen. Die erste Maschine wurde mit einem Fotogewehr K-28 ausgerüstet, die nächsten konnten nachgerüstet werden. Es waren mit dieser Maschine auch Kampfübungen möglich, die Armee zeigte jedoch kein Interesse daran. Es wurden lediglich Schaukämpfe veranstaltet. Die RWD-10 wurde beim Warschauer Aeroklub und bei anderen Aero- klubs eingesetzt, u. a. bei der Balkan-Rallye und der Ostsee-Rallye. Ein Groß- teil der Maschinen wurde im September 1939 zerstört. Die solcherart gewon- nenen Erfahrungen halfen bei der Entwicklung der RWD-25. Die RWD-11 war die einzige zweimotorige Maschine der DWL-Versuchs- werkstätten. Sie war ein Prototyp des Passagierflugzeugs für sechs Personen und wurde vom Ministerium für Transport bestellt. Aufgrund des Konkur- renzkampfes zwischen privaten und staatlichen Unternehmen wurde sie aber von der polnischen Fluglinie LOT nicht gekauft. Auch die Konzepte der Ver- wendung für die Schulungen der Militärpiloten auf zweimotorigen Maschinen scheiterten. Die wichtigsten Eigenschaften der RWD-11 waren: Flügelspannweite 16,20 m, Länge 10,65 m, Höhe 3,30 m, Tragfläche 25 2m , Eigenmasse 1740 kg, Gesamtmasse 2650 kg, maximale Geschwindigkeit 305 km/h, Flughöhe 4100 m, Reichweite 800 km. Das Projekt von Stanisław Rogalski und Jerzy Drzewiecki entstand 1934, die letzten Modifikationen stammten aus dem Jahre 1937. Es wurden vier Aus- führungen gebaut, die sich hinsichtlich Frontteil, Leitflossen usw. voneinander unterschieden. Der Prototyp wurde nur für Test- oder Forschungsflüge verwen- det. Nach der Übernahme der Maschine und der Fahrgestellreparatur von den Deutschen wurde sie für Dispositionsflüge eingesetzt. Es gab auch nicht reali- sierte Projekte der Sanitärausführung und der Schulmaschine für die Armee. Die populäre touristische Maschine RWD-13, konstruiert von Stanisław Rogalski, Leszek Dulęba und Jerzy Drzewiecki, entstand als Weiterentwicklung der RWD-8 sowie der RWD-6 und RWD-9. Dabei handelte es sich um eine einmotorige dreisitzige Maschine. Sie war leicht zu fliegen, bis zum Kriegs- ausbruch wurden 100 Exemplare gebaut. Die RWD-13 gewann als Haupt- Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 85 flugzeug für touristische Zwecke bei polnischen Aeroklubs an Bedeutung, sie wurde auch von einigen Unternehmen wie LOT, Philips und E. Wedel sowie auch von der Präsidentschaftskanzlei verwendet. Fast 20 Exemplare wurden nach Brasilien exportiert. Seit 1937 gab es auch das Sanitärflugzeug RWD-13S. Der Konstrukteur der Sanitärausführung war Ing. Bronisław Żurakowski. Seit 1938 gab es auch eine gemischte Version für sanitäre Zwecke sowie für touristische Zwecke mit Austauschausrüstung RWD-13TS. Die RWD-13 nahm an polnischen und internationalen Veranstaltungen wie am Internationalen Pfadfindertreffen in Holland teil. Im September 1939 wurden fast 30 Maschinen dieses Typs in Rumänien konfisziert und waren dort während des Krieges im Einsatz, einige auch in Schweden. Einige Exemplare kehrten in der Nachkriegszeit nach Polen zurück. Die RWD-14 „Czapla“ [Reiher] war ein Aufklärungsflugzeug und wurde später auch von den Lubliner Flugzeugwerken erzeugt, nur die ersten Proto- typexemplare stammen aus den Versuchswerkstätten. Die RWD-14 wurde im Krieg als Aufklärungsflugzeug verwendet. Es wurden 65 Exemplare gebaut. Die von Stanisław Rogalski entwickelte Konstruktion war eine Weiterentwicklung einer nie gebauten RWD-12. Die Maschine konnte mit Funkgerät N2L/T und Fotoapparat ausgerüstet werden. Während des Krieges wurden 22 Maschinen nach Rumänien evakuiert, wo sie konfisziert wurden. Einige wurden auch von der Sowjetunion beschlag- nahmt. 35 Stück wurden im September 1939 zerstört. Insgesamt wurden 65 oder 69 Exemplare gebaut, die Quellen machen hier unterschiedliche Angaben. Die RWD-15 war als touristisches Flugzeug konzipiert. Dessen unter der Leitung von Stanisław Rogalski entwickelte Konstruktion aus den Jahren 1935 –1936 basierte auf einer RWD-13. Produziert wurden sieben oder mög- licherweise auch mehr Stück. Der erste Prototyp wurde in ein Sanitärflugzeug 15S umgebaut. Ein Exemplar wurde von der Präsidentschaftskanzlei gekauft, ein weiteres wurde von polnischen Juden für Palästina gekauft. Die israeli- sche setzte auch noch in den Nachkriegsjahren die Typen RWD-8, RWD-13 und RWD-15 ein. Das Sportflugzeug RWD-16 von Andrzej Anczutin wurde 1936 getestet. Nach der Modifizierung entstand eine kostengünstige Touristikversion 16 bis, auf sie geht auch die RWD-21 zurück. Die Realisierung der weiteren Bestel- lungen wurde durch den Kriegsausbruch unterbrochen. Die von Bronisław Żurakowski entwickelte RWD-17 aus dem Jahre 1937 war ein Flugzeug für Schul- und Kunstflugzwecke. Es wurden auch Wasser- 86 Krzysztof Dąbrowski flugzeuge gebaut, bei denen die Schwimmer durch Räder ersetzt werden konn- ten. Insgesamt entstanden etwa 30 Stück dieses Typs. Die spätere Bestellung von 120 Exemplaren für die Armee konnte nicht mehr realisiert werden.

Abbildung 5. Modell RWD-17 (Quelle: https://commons.wikimedia.org).

Ein Teil der Flugzeuge wurde nach Rumänien evakuiert und bei der rumä- nischen Luftwaffe eingesetzt. Bei der RWD-17 bis wurde die Konstruktion der Flügel leicht modifiziert. Das Rekordflugzeug RWD-19 von Jerzy Drzewiecki und Tadeusz Chyliński entstand im Jahre 1938. Es sollte dabei helfen, Erfahrungen mit größeren Flug- geschwindigkeiten zu gewinnen und war dafür bestimmt, Reichweitenrekorde zu erreichen. Da die Konstruktion nicht allzu erfolgreich war, verzichtete man auf Rekordversuche. Die RWD-20 aus dem Jahre 1937 von Bronisław Żurakowski war ein Ver- suchsflugzeug auf der Basis der RWD-9. Gebaut wurde nur ein Exemplar, das im Zuge des Überfalls der Deutschen auf Polen im September 1939 zerstört wurde. Von dem auf der RWD-16 basierenden Sportflugzeug RWD-21 wurden 7 Exemplare gebaut. Dessen Konstruktion von Andrzej Anczutin stammt aus dem Jahre 1939. Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 87

Außerdem entstanden im Jahre 1939 unter der Leitung von Leszek Dulęba und Andrzej Anczutin Projekte des modernen Jagdflugzeugs RWD-25 und des zweimotorigen und dreisitzigen Wasserflugzeugs RWD-22. Von der RWD-25 wurde vor dem Krieg nur ein aerodynamisches Modell erstellt. Zu den Kon­ strukteuren von RWD-25 gehörten auch Jerzy Drzewiecki, Henryk Milicer, Jan Idźkowski und Tadeusz Chyliński. Das zweisitzige Ausbildungsflugzeug RWD-23 von Andrzej Anczutin konn- te vor dem Krieg nur in einem Exemplar gebaut werden. Es sollte die RWD-8 ersetzen, die Bestellung von weiteren zehn Stück konnte jedoch nicht mehr re- alisiert werden. Das einzige Exemplar verbrannte während der Bombardierung im September 1939. Geplant war auch noch die Konstruktion des Bomben- flugzeugs RWD-24.

3. Prominente Piloten Stanisław Skarżyński (geboren 1899 in Warta bei Sieradz, verunglückt 1942 in der Nordsee) war Militär- und Sportpilot, Mitglied des Warschauer Aeroklubs und Oberst der Polnischen Armee. Bereits als Kind interessierte er sich für Fliegerei und Modellbau. Skarżyński war Mitglied der Polnischen Militärorga- nisation (poln. Polska Organizacja Wojskowa, abgekürzt POW) während des Ersten Weltkrieges sowie nach der Wiederherstellung der polnischen Eigen- staatlichkeit. 1918 meldete er sich freiwillig zur polnischen Armee. Während des polnisch-sowjetischen Krieges nahm er an den Kampfhandlungen teil, wo- für ihm das Silberne Virtuti-Militari-Kreuz wurde. 1925 schloss er die Piloten- schule in Bydgoszcz ab. 1931 flog Skarżyński rund um Afrika auf einer Strecke von 25.000 km, woraufhin er 1936 vom Weltluftsportverband mit der Louis-Blériot-Medaille ausgezeichnet wurde. Während der Verteidigung Polens im September 1939 war Skarżyński Chef des Stabs der Luftwaffe der Armee „Toruń“, anschließend war er Bomberpilot in Großbritannien. Nach der Bombardierung von Bremen verunglückte er während des Rückfluges. Insgesamt erhielt er über zehn mili- tärische Auszeichnungen sowie Flugauszeichnungen. Franciszek Żwirko (1895 –1932) war Leutnant und Pilot der Polnischen Armee und Sportpilot. Er wurde in Święciany unweit von Wilno geboren, ab- solvierte die Offiziersschule in Irkutsk in Sibirien und nahm als Angehöriger der russischen Armee im Ersten Weltkrieg teil. Ab 1922 diente er im Regiment der Ersten Flugwaffe der Polnischen Ar- mee und schloss die Pilotenschule in Bydgoszcz 1923 ab. Von 1925 bis 1926 88 Krzysztof Dąbrowski war er Fluglehrer in der Unterstufen-Pilotenschule in Bydgoszcz, ab 1929 war er Verbindungsoffizier im Akademischen Aeroklub. Er war mit seinem Bord- mechaniker Stanisław Wigura befreundet. Ab 1929 arbeitete er mit den Kon- strukteuren der RWD-Flugzeuge zusammen. Im Jahre 1929 absolvierten sie einen Europarundflug auf einer Strecke von 5000 km. Er nahm an den Landes- wettbewerben für Kleinflugzeuge teil und versuchte mehrmals den bisherigen Flughöhen-Rekord mit einer RWD-2 und einer RWD-7 zu brechen. Ab 1931 war er Befehlshaber des Ausbildungsgeschwaders im Ausbildungszentrum­ für Flugoffiziere in Dęblin. Er wurde mit dem Kavalierskreuz des Ordens Polonia Restituta, dem Goldenen und Silbernen Verdienstkreuz sowie mit dem russi- schen Orden der Hl. Anna IV. Klasse ausgezeichnet. Seit 1928 war er mit Agnieszka Kirska verheiratet. Ihr gemeinsamer Sohn Henryk Żwirko, geboren 1930, arbeitete später in der zivilen Luftfahrt und im Flugwesen. Am 11. September 1932 verunglückten Żwirko und Wigura bei Cierlicko im tschechischen Teil von Teschen Schlesien, kaum zwei Wo- chen nach dem Sieg bei der Challenge. Nach der Überführung der sterblichen Überreste der beiden nach Polen wurden sie in der Allee der ums Vaterland Verdienten auf dem Powązki-Friedhof beigesetzt.

4. Die „Challenge“-Wettbewerbe Internationale Wettbewerbe der Touristischen Flugzeuge (Challenge Interna- tional de Tourisme) waren Veranstaltungen der Internationalen Flugföderation in der Zwischenkriegszeit. Zu den Fixpunkten gehörten ein Europarundflug, die Bewertung des technischen Niveaus der Konstruktionen, die Bewertung des Treibstoffverbrauchs, die Bewertung der minimalen und maximalen Flug- geschwindigkeit, die Geschwindigkeit des Motoranlasses, ein Test von kurzen Starts und Landungen sowie die Zeit für den Zusammenbau und die Zerle- gung der Flügel. 1932 nahmen 43 Mannschaften aus sechs Ländern teil. Die Mannschaften wurden von nationalen Aeroklubs nominiert. Teilgenommen haben einmoto- rige und meistens zweisitzige Maschinen. Der Wettbewerb wurde vier Mal veranstaltet, in den Jahren 1929, 1930, 1932 und 1934. 1934 wurde er von Polen als dem Gewinner des Wettbewerbs des Jahres 1932 organisiert. Zwei RWD-6 und drei PZL-19 Maschinen nah- men daran teil, als Sieger ging neuerlich ein polnisches Team, der Pilot Franci- szek Żwirko (Pilot) und der Mechaniker Stanisław Wigura, hervor, die ein gut eingespieltes Team waren. Aufgrund der hohen Kosten verzichtete Polen im Die Geschichte der RWD-Flugzeuge 89

Jahre 1936 auf die Organisation der Challenge und kein anderes Land erklärte sich dazu bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Darüber hinaus verlagerte sich das Interesse aufgrund der immer größeren Gefahr eines Krieges auf die Ent- wicklung von Militärflugzeugen.

5. Resümee Möchte man die RWD-Flugzeuge abschließend beurteilen, so waren diese klein und hauptsächlich für Sport und Touristik bestimmt. Größtenteils waren sie mit zwei oder vier Sitzen ausgestattet. Die meisten von ihnen wurden als Einzelstücke oder in kurzen Serien gebaut, teilweise gab es nur Prototypen. Trotz zahlreicher verschiedener Projekte und Konzepte erlangten sie weder im Transport von Passagieren noch für militärische Zwecke besondere Bedeutung. Die verhältnismäßig große Zahl von Flugzeugproduzenten in der Zwischen- kriegszeit in Polen hatte eine übermäßige Differenzierung der Typen und Mo- delle und die Produktion in zu kurzen Serien zur Folge, so dass sie nicht die erwartete Bedeutung erlangten. Die Zahl aller in polnischen Betrieben produ- zierter Kampfflugzeuge war trotz interessanter und moderner Ansätze zu gering für die Bedürfnisse der Verteidigung. Die große Zahl an Typen erschwerte die Versorgung und ein rationales Wirtschaften mit Ersatzteilen. Militärflugzeuge wurden insbesondere von den Staatlichen Flugzeugwerken (PZL), den Lublin- Flugzeug-Werken (LWS) und den Flugzeug-Versuchswerkstätten hergestellt.

Bibliographie: Dulęba Leszek / Glass Andrzej, Samoloty RWD, Warszawa 1983 Glass Andrzej, Samoloty i szybowce do 1939 roku [Flugzeuge und Segelflugzeuge bis zum Jahr 1939], Warszawa 1985 Glass Andrzej, Polskie konstrukcje lotnicze 1893 –1939 [Polnische Flugzeugkon- struktionen 1893 –1939], Warszawa 1976 Glass Andrzej, Polskie konstrukcje lotnicze do 1939. T. 2 [Polnische Flugzeug- konstruktionen bis zum Jahr 1939. Bd. 2], Sandomierz 2007 Internetquellen: rwd-dwl.net – Internetseite zur Geschichte der Flugzeug-Versuchswerkstätten in der Zeit von 1922 –1947 (Zugriff: September 2018) www.samolotypolskie.pl – Internetseite über polnische Flugzeuge (Zugriff: September 2018) 90 Krzysztof Dąbrowski

Prace Instytutu Lotnictwa nr 93-2/1983: Mgr. inż. Bronisław Żurakowski, Eli- minacja drgań przegubowego wirnika śmigłowca [Die Elimination von Ge- lenksschwingungen des Hubschrauberrotors]. Biographie von Dipl.-Ing. Bronisław Żurakowski. Verfasser der Biographie: Dipl.-Ing. Andrzej Glass

Krzysztof Dąbrowski, Dipl.-Ing. der Nachrichtentechnik (Studienabschluss an der TU in Warschau), und lebt seit 1974 in Österreich. Bis zu seiner Pensi- onierung war er beruflich als Programmierer tätig. Seine Interessen gelten dem Amateurfunk, der Funktechnik und der Geschichte der polnischen Technik. Er ist Autor mehrerer Publikationen für Funkamateure sowie Mitglied des Vereins Polnischer Ingenieure in Österreich und des Österreichischen Versuchssender- Verbandes. An der Polnischen Akademie der Wissenschaften – Wissenschaft- liches Zentrum in Wien hielt er bereits zahlreiche Vorträge über Technikge- schichte und Biographien polnischer Wissenschaftler, Techniker und Erfinder, die in den Jahrbüchern des Zentrums nachgelesen werden können. Michał Wardzyński

Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski in Łubnice und Puławy als Exposituren der Kunst der Staaten der Habsburgermonarchie in der Republik Polen-Litauen

Forschungen zu den europäischen Konnotationen und der Bedeutung des gro- ßen Kunstzentrums, das von der Fürstin Elżbieta Helena Sieniawska geb. Lu- bomirska, Gemahlin des Krongroßhetmans Adam Mikołaj Sieniawski, sowie ihrer Tochter Maria Zofia geb. Sieniawska und deren zweitem Ehemann Au- gust Alexander Fürst Czartoryski an ihrer Residenz in Puławy an der Weichsel im großen Stil aufgebaut wurde, gehören zu den wichtigsten Themen, mit denen man sich in Studien zur künstlerischen Kultur und Kunst des 18. Jh. in der Republik Polen-Litauen auseinandersetzt. Von den Autoren, die sich auf diesem Gebiet besonders verdient gemacht haben, seien genannt: Jerzy Kowal- czyk und Tadeusz J. Jaroszewski sowie Piotr Bohdziewicz, Irena M. Laskow- ska, Jacek Gajewski und Mariusz Karpowicz1, neulich auch Bożena Popiołek,

1 Tadeusz S. Jaroszewski / Jerzy Kowalczyk, Artyści w Puławach w XVIII wieku [Die Künst- ler in Puławy im 18. Jahrhundert], in: Biuletyn Historii Sztuki 21/2, 1959, S. 213 – 221; Piotr Bohdziewicz, Korespondencja artystyczna Elżbiety Sieniawskiej z lat 1700 –1729 w zbio- rach Czartoryskich w Krakowie, [Korrespondenz über Kunst von Elżbieta Sieniawska der Jahre 1700 –1729 in der Czartoryski-Bibliothek in Krakau], Lublin 1964; Irena Laskowska, Osiem- nastowieczny warsztat rzeźbiarski w Puławach i jego twórcy [Die Bildhauerwerkstatt im 18. Jahr- hundert in Puławy und ihr Schöpfer], in: Stanisław Lorentz (Hg.), Puławy: praca zbiorowa [Puławy: Sammelband], Warszawa 1962, S. 47 – 58; Jacek Gajewski, Elżbieta Sieniawska i jej artyści: z zagadnień organizacji pracy artystycznej i odbioru w XVIII w. w Polsce [Elżbieta Sie- niawska und ihre Künstler: Fragen zur Organisation der künstlerischen Arbeit und Rezeption im Polen des 18. Jahrhunderts], in: Teresa Hrankowska (Hg.), Mecenas, kolekcjoner, odbiorca. Materiały Sesji Stowarzyszenia Historyków Sztuki, Katowice, listopad 1981. Mieczysławowi Gę- barowiczowi w 90. rocznicę urodzin [Mäzen, Sammler, Empfänger. Materialien der Sitzung der Gesellschaft Polnischer Kunsthistoriker, Katowice, November 1981. Mieczysław Gębarowicz zum 90. Geburtstag], Warszawa 1984, S. 281– 302; Jacek Gajewski, Architekci w służbie i na usługach hetmanowej Elżbiety Sieniawskiej [Architekten im Dienste und zu Diensten der 92 Michał Wardzyński

Agnieszka Słaby, Urszula Kicińska, Dariusz Bąkowski-Kois, Janusz Nowak so- wie Rafał Nestorow, Jakub Sito, Roman Zwierzchowski, Paulina Kluz und der Autor dieses Artikels2.

Hetmansgattin Elżbieta Sieniawska], in: Zbigniew Bania (Hg.), Podług nieba i zwyczaju pol- skiego: studia z historii architektury, sztuki i kultury ofiarowane Adamowi Miłobędzkiemu [Dem Himmel nach und nach polnischem Brauch: Studien über Architektur, Kunst und Kultur, Adam Miłobędzki gewidmet], Warszawa 1988, S. 378 – 390; Mariusz Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia nella prima metà del’700 [Tessiner Künstler in Polen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts], Bellinzona 1997, S. 45 – 76. 2 Bożena Popiołek, Królowa bez korony. Studium z życia i działalności Elżbiety z Lubomir- skich Sieniawskiej ok. 1669 –1729 [Eine Königin ohne Krone. Studie über Leben und Wirken von Elżbieta Sieniawska, geb. Lubomirska, um 1669 –1729]; Kraków 1996; Janusz Nowak, Dobra wilanowskie za Elżbiety Sieniawskiej 1720 –1729 w świetle archiwaliów biblioteki Czar- toryskich w Krakowie [Die Güter von Wilanów zur Zeit von Elżbieta Sieniawska 1720 –1729 in Lichte von Archivquellen in der Czartoryski-Bibliothek zu Krakau], in: Studia Wilanow- skie 14, 2003, S. 53 – 89; Dariusz Bąkowski-Kois, Zarządcy dóbr Elżbiety Sieniawskiej – stu- dium historii mentalności 1704 –1726 [Der Vermögensverwalter im Dienst Elżbieta Sieniaw- skas – eine Studie zur Mentalitätsgeschichte in den Jahren 1704 –1726], Kraków 2005; Roman Zwierzchowski, Działalność Elżbiety Sieniawskiej na Lubelszczyźnie. Relacje i fundacje [Das Wir- ken von Elżbieta Sieniawska im Lubliner Land. Beziehungen und Stiftungen], in: Jerzy Liley- ko / Irena Rolska-Boruch (Hgg.), Studia nad sztuką renesansu i baroku. T. 6 [Studien zur Kunst der Renaissance und des Barocks. Bd. 6], Lublin 2005, S. 93 –141; Rafał Nestorow, Magna pompa et splendido apparatu. Ceremonia pogrzebowa Adama Mikołaja Sieniawskiego we Lwo- wie i Brzeżanach w r. 1726 [Magna pompa et splendido aparatu. Die feierliche Bestattung von Adam Mikołaj Sieniawski in Lemberg und Brzeżany im Jahre 1726], in: Andrzej Betlej / Piotr Krasny (Hgg.), Sztuka kresów wschodnich. T. 7 [Kunst an den Ostgrenzen der Adelsrepublik. Bd. 7], Kraków 2006, S. 225 – 241; Janusz Nowak, Pałac na Wesołej w Krakowie w czasach Sieniawskich i Czartoryskich (1681–1752) [Der Palast in der Wesoła-Vorstadt zu Krakau in der Zeit der Sieniawskis und Czartoryskis (1681–1752)], in: Arma Virumque cano. Profesorowi Zdzisławowi Żygulskiemu jun. w osiemdziesięciopięciolecie urodzin [Arma Virumque cano. Fest- schrift für Professor Zdzisław Żygulski jun. anlässlich seines 85. Geburtstags], Kraków 2006, S. 95 –111; Rafał Nestorow, Between art and politics: Wilanów in the time of Elżbieta Sieniaw- ska neé Lubomirska (1720 –1729) [Zwischen Kunst und Politik: Wilanów in der Zeit von Elż- bieta Sieniawska geb. Lubomirska (1720 –1729)], in: Barbara Arciszewska (Hg.), The baroque Villa. Suburban and Country Residences c. 1600 –1800 [Die barocke Villa. Vorstadthäuser und Landhäuser um 1600 –1800], 2009, S. 155 –166; Jakub Sito, „Od czasów Augustów szczególniej liczba niemieckich artystów wzrosła…”. O roli nacji niemieckiej w przedsięwzięciach budowlano-artystycznych Warszawy okresu saskiego [„Seit der Zeit der Könige des Namen August ist die Zahl deutscher Künstler ungewöhnlich gestiegen…“ Über die Rolle der Deutschen Nation in baulichen und künstlerischen Projekten in Warschau während der Sachsenzeit], in: Zbigniew Michalczyk / Andrzej Pieńkos / Michał Wardzyński (Hgg.), Kultura artystyczna War- szawy XVII – XXI w. [Die künstlerische Kultur in Warschau vom 17. bis zum 21. Jahrhundert], Warszawa 2010, S. 164, 166, 167 –172, 175; Rafał Nestorow, Sieniawscy w Warszawie czasów Augusta II. Kilka uwag o wzajemnych relacjach artystycznych [Die Sieniawskis in Warschau in der Zeit von August II. dem Starken. Einige Anmerkungen über die wechselseitigen künst- lerischen Beziehungen], in: Michalczyk / Pieńkos / Wardzyński (Hgg.), Kultura artystyczna Warszawy XVII – XXI w., S. 149 –161; Rafał Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monarchii Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 93

Gründlich analysiert worden ist bisher vor allem der Briefwechsel der Stif- ter zu den Kunstfragen, der in der Handschriftensammlung der Bibliothek der Fürsten Czartoryski, einer Abteilung des Nationalmuseums Krakau3, so-

Habsburskiej w służbie Elżbiety z Lubomirskich Sieniawskiej [Künstler und Kunsthandwerker aus den Ländern der Habsburgermonarchie im Dienste von Elżbieta Sieniawska geb. Lubo- mirska], in: Andrzej Betlej / Katarzyna Brzezina / Piotr Oszczanowski (Hgg.), Między Wro- cławiem a Lwowem. Sztuka na Śląsku, w Małopolsce i na Rusi Koronnej od XVI do XVIII wie- ku. Materiały z ogólnopolskiej konferencji naukowej [Zwischen Breslau und Lemberg. Kunst in Schlesien, Kleinpolen und Kronruthenien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Materialien einer gesamtpolnischen wissenschaftlichen Konferenz], Wrocław – Kraków 2011, S. 275 – 289; Jakub Sito, Debiut Johanna Georga Plerscha w „fabryce” pałacowej w Wilanowie [Das Debüt von Johann Georg Plersch beim Palastbau zu Wilanów], in: Studia Wilanowskie 18, 2011, S. 76 – 84; Paulina Kluz, Sculptor Sebastian Zeisel and his works for the Dominican and Jesuit Orders in Lublin, [Der Bildhauer Sebastian Zeisel und seine Werke für die Dominikaner und Jesuiten in Lublin], in: Ars 46/2, 2013, S. 242 – 258; Jakub Sito, Wielkie warsztaty rzeźbiar- skie Warszawy doby saskiej. Modele kariery – formacja artystyczna – organizacja produkcji [Große Bildhauerwerkstätten in Warschau in der sächsischen Epoche. Karrieremodelle – künstleri- sche Ausbildung – Werkorganisation], Warszawa 2013; Agnieszka Słaby, Rzędziocha oleszycka. Dwór Elżbiety z Lubomirskich Sieniawskiej jako przykład patronatu kobiecego w czasach saskich [„Rzędziocha“ aus Oleszyce. Der Hof von Elżbieta Sieniawska geb. Lubomirska als Beispiel eines weiblichen Patronats in der sächsischen Epoche], Kraków 2014; Urszula Kicińska, Kore- spondencja jako źródło do badań aktywności gospodarczej kobiet w epoce saskiej [Die Korrespon- denz als eine Quelle für Forschungen zu den wirtschaftlichen Aktivitäten der Frauen in der Sachsenzeit], in: Bożena Popiołek / Urszula Kicińska / Agnieszka Słaby (Hgg.), Kobiece krę- gi korespondencyjne w XVII – XIX wieku [Weibliche Korrespondenzkreise vom 17. bis zum 19. Jahrhundert], Warszawa 2016, S. 45 – 56; Rafał Nestorow, Pro domo et nomine suo. Fundacje i inicjatywy artystyczne Adama Mikołaja i Elżbiety Sieniawskich [Pro domo et nomine suo. Stif- tungen und künstlerische Initiativen von Adam Mikołaj und Elżbieta Sieniawski], Warszawa 2016; Michał Wardzyński, Wystrój kamieniarsko-rzeźbiarski kościoła eremu kamedułów Złotego Lasu w Rytwianach [Die steinerne und bildhauerische Ausschmückung der Kirche der Kamal- dulenser-Einsiedelei des Goldenes Waldes in Rytwiany], in: Tomasz Moskal (Hg.), 400 lat Pu- stelni Złotego Lasu 1617 – 2017 [Vierhundert Jahre Kamaldulenser-Einsiedelei des Goldenes Waldes 1617 – 2017], Lublin – Rytwiany 2019 (im Druck); Michał Wardzyński, Johann Elias i Heinrich Hoffmanowie na służbie księżnej hetmanowej Sieniawskiej a rzeźba późnobarokowa w Małopolsce 1. połowy XVIII w. [Johann Elias und Heinrich Hoffman im Dienste der Fürstin Hetmanin Sieniawska und die spätbarocke Skulptur in Kleinpolen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts], in: Konrad Morawski (Hg.), Działalność Elżbiety Sieniawskiej. Polityka – go- spodarka – kultura [Die Aktivitäten von Elżbieta Sieniawska. Politik – Wirtschaft – Kultur], Warszawa 2019 (im Druck); Michał Wardzyński, O rzeźbie rokokowej w północno-wschodniej Małopolsce [Über die Rokokoskulptur im nordöstlichen Kleinpolen], in: Andrzej Baranowski / Paweł Migasiewicz / Jakub Sito (Hgg.), Splendor i fantazja II. Architektura i rzeźba rokokowa ziem Rzeczypospolitej i krajów ościennych [Pracht und Phantasie II. Architektur und Skulptur aus der Zeit des Rokoko in der Republik Polen-Litauen und in den Nachbarländern], Warsza- wa 2019 (im Druck). 3 Bohdziewicz, Korespondencja artystyczna Elżbiety Sieniawskiej, passim; Rafał Nestorow / Jakub Sito (Hgg.), Rezydencja i dobra wilanowskie w świetle materiałów archiwalnych z Bi- blioteki Czartoryskich w Krakowie (Rkps 11318 i 11358) [Die Residenz und die Landgüter in 94 Michał Wardzyński wie in mehreren anderen Bibliotheks- und Archivsammlungen in Polen sowie in Weißrussland, der Ukraine und Russland aufbewahrt wird. Historiker und Forscher der künstlerischen Kultur und Kunst haben bereits die ökonomischen Fragen und die administrative Struktur dieses hochadligen Kunstzentrums – des ersten in der ganzen Republik nach dem königlichen in Dresden und War- schau unter den Wettinern – rekonstruiert. Ausführlich behandelt worden sind auch einzelne residenzielle und sakrale Bauvorhaben, die dort zur Ausführung gelangten4. Zurzeit wird an Monographien der einzelnen Schöpfer gearbei- tet. Zu den am besten erforschten Künstlern gehören die im Kreise der Ar- chitektur der Länder der Habsburgermonarchie, in Böhmen und Österreich, ausgebildeten Giovanni Spazzio aus Lanzo d’Intelvi oder Linz, vielleicht Prag (1714 engagiert – gest. 1726)5 und Franz Anton Mayer aus Gmünd am Tegern- see in Oberbayern (1717 –1736 verzeichnet)6, die mit den Wiener und Prager

Wilanów im Licht der Archivalien aus der Czartoryski-Bibliothek in Krakau (Handschriften Nr. 11318 und 11358)], Warszawa 2010; Jakub Sito (Hg.), Warszawskie inicjatywy budowla- no-artystyczne Augusta Aleksandra Czartoryskiego w świetle materiałów archiwalnych z Biblioteki Czartoryskich w Krakowie (Rpks 11318 i 11320) [Die Warschauer Bau- und Kunstinitiativen von August Alexander Czartoryski im Lichte der Archivalien aus der Czartoryski-Bibliothek zu Krakau (Handschriften no. 111318 und 11320)], Warszawa 2010; Bożena Popiołek / Ur- szula Kicińska / Agnieszka Słaby (Hgg.), Korespondencja Elżbiety z Lubomirskich Sieniawskiej, kasztelanowej krakowskiej. T. 2: Jaśnie Oświecona Mościa Księżno Dobrodziejko. Informatorzy i urzędnicy [Die Korrespondenz von Elżbieta Sieniawska geb. Lubomirska, Kastellanin von Krakau. Bd. 2: Ihre Majestät Fürstin Wohltäterin. Informanten und Beamte], Warszawa – Bellrive-sur-Allier 2016, S. 261– 270, 381– 520. 4 Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 147 –164, 196 – 204, 233 – 242, 300 – 379. 5 Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 45 – 56, Abb. 35 – 47; Rafał Róg, Spazzio (Spacy, Spatz) Giovanni (Jan) (zm. 1726) [Spazzio (Spacy, Spatz) Giovanni (Jan) (gest. 1726)], in: Polski Słownik Biograficzny [Polnisches Biografisches Lexikon; im Folgenden: PSB], Bd. 41/1(168), Warszawa – Kraków 2002, S. 62 – 64; Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monarchii Habs- burskiej, S. 281– 284, Abb. 1– 5; Rafał Nestorow, Spazzio (Spazio, Spacy, Spatz) Giovanni (Jan) (zm. 1726), in: Paweł Migasiewicz / Hanna Osiecka-Samsonowicz / Jakub Sito (Hgg.), Słow- nik architektów i budowniczych środowiska warszawskiego XV – XVIII wieku [Lexikon der Archi- tekten und Baumeister aus dem Warschauer Kunstzentrum vom 15. bis zum 18. Jahrhundert], Warszawa 2016, S. 444 – 449; Rafał Nestorow, Spazzio (Spacy: Spatz; Spazio) Giovanni (Jan), in: Allgemeines Künstlerlexikon: die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. 105, Berlin – Boston 2019, S. 214. 6 Gajewski, Architekci w służbie i na usługach hetmanowej Elżbiety Sieniawskiej, passim; Je- rzy Kowalczyk, Architektura sakralna między Wisłą a Bugiem w okresie późnego baroku [Sakral- architektur zwischen Weichsel und Bug in der Zeit des Spätbarocks], in: Dzieje Lubelszczyzny. T. 6: Między wschodem a zachodem. Cz. 3: Kultura artystyczna [Geschichte des Lubliner Lands. Bd. 6: Zwischen Osten und Westen, Tl. 3: Künstlerische Kultur], hg. v. Tadeusz Chrzanow- ski, Lublin 1992, S. 53, 64 – 65, 108, 111, Abb. 21– 24; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 103 –105 insbesondere. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 95

Abbildung 1. Elżbieta Helena Sieniawska geb. Lubomirska, um 1715 –1718, Maler: Ádám Mányoki, Öl auf Leinwand, Budapest, Ungarische Nationalgalerie, Public Domain. 96 Michał Wardzyński

Abbildung 2. Zofia Maria Fürstin Czartoryska geb. Sieniawska, um 1730, unbekannter Maler, Öl auf Leinwand, Museum des Palasts von König Johann III. zu Wilanów, Public Domain. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 97

Abbildung 3. Aleksander August Fürst Czartoryski, um 1730, unbekannter sächsischer Hofmaler, Öl auf Leinwand, Museum des Palasts von König Johann III. zu Wilanów, Public Domain. 98 Michał Wardzyński

Kreisen verbundenen Bildhauer Johann Elias Hoffmann (1721 angereist – gest. 1751) und sein jüngerer Brüder Heinrich7 sowie Johann Ferdinand Kärger (gest. 1785)8, Sebastian Zeisel (1745 –1772 erwähnt)9 und Johann Praxell, die Stu­cka­teure Frantz (Francesco) Fumo (1717 –1736 in Polen, gest. nach 1749) und Pietro Innocente Comparetti (ab 1725 anwesend, gest. 1735) aus Nieder- österreich oder Böhmen10 sowie der aus dem Kanton Tessin stammender Maler Carlo di Prevo (in Polen ab 1691, 1704 engagiert – gest. 1737)11. Offenkun- dige morphologische Gemeinsamkeiten mit der niederösterreichischen und mährischen Plastik weisen auch die Arbeiten des regelmäßig von den Fürsten

7 Laskowska, Osiemnastowieczny warsztat rzeźbiarski, S. 48 – 49; Zuznana Prószyńska, Hof- fmann (Offman), rodzina rzeźbiarzy[Hoffmann (Offman), Bildhauerfamilie], in: Jolanta Mau- rin-Białostocka / Janusz Derwojed (Hgg.), Słownik artystów polskich i obcych w Polsce działają- cych. Malarze – rzeźbiarze – graficy. T. 3 [Lexikon polnischer und ausländischer Künstler, die in Polen wirkten. Maler – Bildhauer – Grafiker. Bd. 3], Wrocław – Warszawa – Kraków – Gdańsk 1979, S. 87 – 88; Jacek Gajewski, Z Wiednia i Pragi (?) przez Łubnice do Puław. Działalność Jana Eliasza Hoffmana i jego warsztatu w Lubelskiem oraz nurt hoffmanowski w rzeźbie póź- nobarokowej między Wisłą a Bugiem [Von Wien und Prag (?) über Łubince nach Puławy. Das Wirken von Johann Elias Hoffman und seiner Werkstatt im Lubliner Land und die Hoffmaner Strömung in der spätbarocken Skulptur zwischen Weichsel und Bug], in: Dzieje Lubelszczy- zny, T. 6. Cz. 3, hg. v. Chrzanowski, passim; Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monar- chii Habsburskiej, S. 285, Abb. 9; Jakub Sito, Hoffmann, Bildhauer-Familie, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 74, Boston – Berlin 2012, S. 85 – 87; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 17 –18, 107 –108, 111, 141, 144, 260 – 263, Abb. 108, 168, 177; Wardzyński, Johann Elias i Heinrich Hoffmanowie(im Druck); Wardzyński, O rzeźbie rokokowej (im Druck). 8 Jaroszewski / Kowalczyk, Artyści w Puławach, S. 216; Laskowska, Osiemnastowieczny warsztat rzeźbiarski, S. 48 – 49; [ohne VerfasserIn], Kargier (Cangier, Karge, Karger, Targe, Tar- gie) Jan Ferdynand, in: Maurin-Białostocka / Derwojed (Hgg.), Słownik artystów polskich i ob- cych w Polsce działających. T. 3, S. 363. 9 Irena M. Laskowska, Rzeźba figuralna ołtarzy rokokowych w kościele dominikanów w Lu- blinie [Die Figuralskulptur der Rokokoaltäre in der Dominikanerkirche zu Lublin], in: Rocz- niki Humanistyczne Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego 6, 1957, S. 151–167; Laskowska, Osiemnastowieczny warsztat rzeźbiarski, S. 48 – 49, 52 – 53; Kluz, Sculptor Sebastian Zeisel, S. 242 – 245 insbesondere. 10 Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 58 – 71, Abb. 43, 45, 47 – 66; Aleksandra Ber- natowicz, Comparetti (Comparety; Komparety) Pietro Innocente, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 20, München – Leipzig – London 1998, S. 468; Sito, Fumo (Fiemo, Fomin, Fum, Fu- mio) Giovanni Francesco, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 45, München – Leipzig – Lon- don 2005, S. 310 – 311; Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monarchii Habsburskiej, S. 283 – 285, Abb. 5 – 8; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 18, 107, 138 –144, 272 – 274, Abb. 19 – 32, 119, 120, 127, 133 –149, 154, 159 –161, 190 –193. 11 Aleksandra Bernatowicz / Janusz Zbudniewek, Prevo (Prevot, de Prevo, Prevot) Carlo (Ka- rol) de, in: Urszula Makowska / Katarzyna Mikocka-Rachubowa (Hgg.), Słownik artystow pol- skich i obcych w Polsce działajacych: malarze, rzezbiarze, graficy. T. 8 [Lexikon in Polen tätiger polnischer und ausländischer Künstler: Maler, Bildhauer, Grafiker. Bd. 8], Warszawa 2007, S. 15 –16; Nestorow, Pro domo et nomine suo, insbesondere S. 98 – 99, 111, 120 –123. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 99

Czartoryski beschäftigten berühmten Warschauer Rokoko-Bildhauers Johann Chrisostomus Redtler12 auf. Im vorliegenden Beitrag werden die personellen und höfisch-diplomati- schen Beziehungen dargestellt, die beide Generationen der Besitzer von Pu- ławy zu Wien, zur Umgebung der Kaiser Josef I., Karl VI. und der Kaiserin Maria Theresia sowie zu den Ländern der Habsburgermonarchie pflegten. Das dient als Ausgangspunkt dazu, die Gründe für die Beauftragung der oben ge- nannten Gruppe der Hofkünstler und ihre Wege in die Republik Polen-Litau- en zu ergründen sowie die mutmaßlichen formalen und stilistischen Wurzeln der wichtigsten Werke der Architektur, der Bildhauerei und der Malerei in Puławy, Warschau mit Wilanów, auf den Gütern dieser Familie in ganz Polen- Litauen, zu erforschen.

Das politische Projekt Fürstin Elżbieta Helena Lubomirska (geb. 1669 oder 1670, gest. 1729), die älteste Tochter des bedeutenden barocken Dichters und Philosophen, eines Schirmherrn von Kultur und Kunst, Stanisław Herakliusz Lubomirski und der aus einer ebenso auf diesen Gebieten verdienten Familie Opaliński stammen- den Zofia (gest. 1675), wuchs in den 80er Jahren des 17. Jh. als Hoffräulein beim Königspaar Johannes III. Sobieski und Marie Casimire d’Arquien de la Grange in Warschau und Wilanów auf. Ähnlich wie ihr Vater und die Sobieskis verehrte sie die französische Kultur und wurde bereits 1687 zu einem wichtigen Faktor beim Generalprojekt des politischen Aufbaus einer profranzösischen Partei in Polen-Litauen. Sie heiratete Adam Mikołaj Sieniawski (1666 –1726), Sohn des Krongroßhetmans Mikołaj Hieronim Sieniawski. 1702 wurde ihr Mann zum Feldhetman der polnischen Krone und 1706 zum Oberbefehlsha- ber der polnischen Armee ernannt, darüber hinaus erhielt er 1710 den ehren­ vollen Titel des Kastellans von Krakau – des ersten Senators der Republik. Die Ehe erwies sich zwar als misslungen, doch die Stellung des Ehemannes

12 Anna Oleńska, Jan Klemens Branicki „sarmata nowoczesny“: kreowanie wizerunku poprzez sztukę [Jan Klemens Branicki „ein moderner Sarmate: Öffentlichkeitsarbeit durch Kunst], Warszawa 2011, S. 107 –109, 121–125, 138 –139, 146 –152, 204 – 205, 227 – 230, 239 – 244, 310 – 314, Abb.; Jakub Sito, Fenomen rzeźb Johanna Chrisostoma Redlera [Das Phänomen der Skulpturen von Johann Chrisostomus Redler], in: Grażyna Michalska / Dominika Leszczyńska (Hgg.), Radzyń Podlaski. Miasto i rezydencja [Radzyń Podlaski. Stadt und Residenz], Radzyń Podlaski 2011, S. 101–119, Katarzyna Mikocka-Rachubowa, Redler (Radler, Regler, Reydler, Reygier, Rödler, Rydler) Johann Chrisostomus (Jan Chryzostom), in: Makowska / Mikocka-Ra- chubowa (Hgg.), Słownik artystow polskich i obcych w Polsce działajacych: malarze, rzezbiarze, graficy. T. ,8 S. 265 – 272. 100 Michał Wardzyński sowie ihre eigene hohe Position im politischen Leben des Landes, an der Sie- niawska wie ihr Vorbild Marie Casimire unablässig arbeitete, garantierten ihr bedeutende Erfolge bei ihrem Vorhaben. Die Krise des Staates nach dem Tode Johann III. Sobieskis, die Niederlage der profranzösischen Partei bei der Kö- nigswahl 1697 und der in politischer, internationaler Hinsicht komplizierte, letztendlich für das ganze Land fatale Verlauf der Kampfhandlungen während des III. Nordischen Krieges (1702 –1710 auf dem polnischem Kriegsschau- platz ausgetragen) bewogen die mächtigsten Adelsgeschlechter dazu, mit Un- terstützung der Nachbarstaaten Ansprüche auf den Königsthron zu erheben. Für den Loyalisten Hetman Sieniawski waren es ab 1706 das Russland unter Zar Peter I. und der von ihm ab 1709 abhängige August II. der Starke, für die Hetmansfrau dagegen wie immer das Frankreich Ludwigs XIV. In den Jahren 1701–1703 nahm sie in Warschau Franz II. Rákóczi auf, den profranzösischen Anführer der ungarischen Opposition und des Kuruzzenaufstandes und in den Jahren 1704 –1711 Fürst von Siebenbürgen, und unterstützte ihn großzügig finanziell. Nachdem 1704 der von Karl XII. von Schweden geförderte Sta- nislaus Leszczyński zum König von Polen gewählt wurde und der Wettiner 1706 abdankte, strebte die Hetmansfrau im Einvernehmen mit Frankreich und Russland konsequent danach, die Kandidatur Rákóczis bzw. ihres eigenen Ehemanns durchzusetzen. Als dies nicht gelang und August II. 1709 erneut den polnischen Thron bestieg, konzentrierte sie sich darauf, ihre einzige Toch- ter Maria Zofia (1699 –1771) auf diese Rolle vorzubereiten. Deren Trauung mit dem Feldhetman von Litauen Stanisław Ernest Denhoff (um 1673 –1728) krönte diese Bemühungen. Die Fürstin führte in der Hauptstadt einen poli- tischen Salon, war an der Vergabe der wichtigsten Posten im Lande beteiligt, bemühte sich um neue Anhänger für die französische Option und nicht zuletzt für das eigene dynastische Projekt. Ihrem aktiven Leben setzte der plötzliche Tod am 21. März 1729 ein Ende.13 Eine Fortsetzung fanden die Ambitionen der Fürstin im neuen politischen und dynastischen Unterfangen des Fürstengeschlechts Czartoryski auf Klewan (Klewań) und Korez (Korzec) in Wolhynien. Die Heirat der Maria Zofia geb. Sieniawska, der Erbin der größten Landbesitzes in der ganzen Republik14, mit

13 Andrzej K. Link-Lenczowski / Bożena Popiołek, Sieniawska z Lubomirskich Elżbieta Helena (1669 –1729) [Sieniawska geb. Lubomirska Elżbieta Helena (1669 –1729)], in: PSB, Bd. 37/1(152), Warszawa – Kraków 1996, S. 90 – 96; Popiołek, Królowa bez korony, passim; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 29 – 45, Abb. 3, 6, 7. 14 Urszula Kicińska, Zofia Maria z Sieniawskich Czartoryska: życie w cieniu matki i męża? [Zofia Maria Czartoryska geb. Sieniawska: ein Leben im Schatten von Mutter und Ehemann?], Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 101 dem viel weniger vermögenden, aber von großem militärischen und politischen Ehrgeiz getriebenen Fürst Aleksander August Czartoryski (1697 –1782)15 eröff- nete 1731 ein neues Kapitel in der Geschichte der öffentlichen Tätigkeit der Landeseliten. Die Allianz von Sieniawska, den Czartoryskis, den Poniatowskis und den Flemmings16, von den Zeitgenossen als die „Familie“ bezeichnet, hatte zum Ziel, auf parlamentarischem Wege die Gesellschaftsordnung der Republik zu reformieren. In den Jahren 1743 –1752 arbeitete die „Familie“ einvernehm- lich mit dem sächsischen Hof zusammen17, nach 1756 setzte sie auf ein offenes Bündnis mit Russland unter Zarin Katharina II. gegen die landesfeindliche preußische Politik Friedrichs II. des Großen. Den Kandidaten dieser Partei auf den polnischen Thron zu bringen – das sollte das Werk der „Familie“ krönen. 1764 war es soweit, denn Stanisław August Poniatowski gewann die Königs- wahl, auch wenn durch einen Staatsstreich unter Einsatz russischer Truppen.18 Das Reformwerk scheiterte bereits in den Jahren 1766 –1767 an der russischen Politik, die „Familie“ ging in die Opposition; Adam Kazimierz Czartoryski (1734 –1823), Sohn des oben genannten Fürstenpaars, Generalstarost der ru- thenischen Länder der Krone, ein hervorragender Literat und Staatsmann, sowie angeheiratete Familienmitglieder verstärkten die Reihen der fortschritt- lichen Patriotischen Partei19. 1761 heiratete Adam Kazimierz Czartoryski Izabela Dorota geb. Flemming (1746 –1835), eine nahe Verwandte mütter- licherseits.20 Das demonstrative Verlassen der Hauptstadt hatte zur Folge, in: Magdalena Górska (Hg.), Słynne kobiety w Rzeczypospolitej XVIII wieku [Berühmte Frauen in der Republik Polen-Litauen des 18. Jahrhunderts], Kraków 2017, S. 59 – 76. 15 Władysław Konopczyński, Czartoryski Aleksander August, książę (1697 –1782) [Czar- toryski Aleksander August, Fürst (1697 –1782)], in: PSB, Bd. 4, Kraków 1938, S. 272 – 275. 16 Katarzyna Kuras, Współpracownicy i klienci Augusta A. Czartoryskiego w czasach saskich [Mitarbeiter und Klienten von August A. Czartoryski in der sächsischen Zeit], Kraków 2010, insbesondere S. 108 –116. 17 Zofia Zielińska,Walka „Familii” o reformę Rzeczypospolitej 1743 –1752 [Der Kampf der „Fa- milie“ um die Reform der Republik Polen-Litauen in den Jahren 1743 –1752], Warszawa 1983. 18 Jerzy Michalski, Stanisław August Poniatowski h. Ciołek (1732 –1798), król polski [Sta- nisław August Ciołek Poniatowski (1732 –1798), polnischer König], in: PSB, Bd. 27/3(114), Wrocław – Warszawa – Kraków – Gdańsk – Łódź 1983, S. 616 – 617; Zofia Zielińska, Polska w okowach „systemu północnego” 1763 –1766 [Polen unter der Knechtschaft des „nordischen Systems“ in den Jahren 1763 –1766], Kraków 2012; Andrzej Haratym, Suffragia na Stanisława Poniatowskiego z 6 września 1764 r. [Die freie Wahl für Stanisław Poniatowski am 6. September 1764], in: Rocznik Polskiego Towarzystwa Heraldycznego 15, 2016, S. 85 – 91. 19 Helena Waniczkówna, Czartoryski Adam Kazimierz Joachim Ambroży Marek, książę (11734 –1823), in: PSB, Bd. 4, Kraków 1938, S. 250 – 254. 20 Helena Waniczkówna, Czartoryska (Izabela) Elżbieta z hr. Flemmngów (1746 –1835) [Czartoryski (Izabela) Elżbieta geb. Gräfin Flemming (1746 –1835)], in: PSB, Bd. 4, Kraków 1938, S. 241– 243. 102 Michał Wardzyński dass 1785 zusammen mit ihnen das gesamte kulturelle und künstlerische Le- ben der „Familie“ den neuen Mittelpunkt in Puławy fand, das im 4. Viertel des 18. Jh. den ehrenvollen Titel „Polnisches Athen“ trug.21 Die Plünderung und die offizielle Enteignung all ihrer Besitzungen durch die russische Obrigkeit im Jahre 1794, im Vorfeld der dritten und letzten Teilung Polens, bedeuteten ein trauriges Ende der Partei. Der Gründer und unbestrittene Anführer der „Familie“ war der wohl be- gabteste polnische Politiker des 18. Jh., der Großkanzler von Litauen Fryde- ryk Michał Czartoryski, privat Schwager der Fürstin Maria Zofia geb. Sie­ niaw­ska22; ein ebenso talentierter Mitarbeiter der Partei war der Schwager der beiden Czartoryski-Brüder, Stanisław Poniatowski, Vater des Königs und künftiger Kastellan von Krakau23. Eng verwandt mit der „Familie“ waren auch Angehörige hochadliger litauischer und polnischer Geschlechter: die Massal- skis und Ogińskis, die Lubomirskis, die Szeptyckis und der Primas Antoni Kazimierz Ostrowski. Da August Aleksander, der eine gründliche Ausbildung erhielt, viele Jahre lang im Johanniterorden auf Malta sowie in den österreichi- schen See- und Landstreitkräften (1713 –1720) Militärdienst leistete, und Sta- nisław Poniatowski unter Prinz Eugen von Savoyen und Karl XII. (bis 1709) diente24, galt der „Familie“ die militärische Laufbahn genauso viel wie die politische und diplomatische Karriere. Angesichts der sich vertiefenden Krise der Hetman-Ämter und als Opposition gegenüber der konservativen Partei, die von den Familien Potocki, Branicki und Radziwiłł gesteuert wurde, über- nahmen Angehörige der „Familie“ hohe Funktionen als Gardeobersten und Generalleutnants der Kronarmee und trugen so zum Aufbau eines neuen Of- fizierkorps bei. Der wichtigste Erfolg der Reformen der „Familie“ auf diesem Gebiet war die Proklamation der berühmten Ritterschule im Jahre 1766, deren Kommandant Fürst Adam Kazimierz Czartoryski, Generalleutnant der litaui- schen Armee wurde25. Dieselbe Laufbahn schlugen auch die Söhne Poniatow-

21 Ebd., S. 243 – 246. 22 Władysław Konopczyński, Czartoryski Michał Fryderyk, książę książę (1696 –1775) [Czar­ toryski Michał Fryderyk, Fürst (1696 –1775)], in: PSB, Bd. 4, Kraków 1938, S. 290 – 293. 23 Andrzej K. Link-Lenczowski, Poniatowski (Ciołek Poniatowski) Stanisław (1676 –1762), in: PSB, Bd. 27/3(114), Wrocław 1983, S. 475 – 480. 24 Konopczyński, Czartoryski Aleksander August, S. 272; Link-Lenczowski, Poniatowski (Ciołek Poniatowski) Stanisław, S. 471– 474. 25 Waldemar Bednaruk, Narodziny Szkoły Rycerskiej [Die Entstehung der Ritterschule], in: Waldemar Bednaruk / Kamil Jaszczuk (Hgg.), Szkoła Rycerska Kadetów Jego Królewskiej Mości i Rzeczypospolitej [Die Ritterschule der Kadetten Ihrer Königlichen Majestät und der Republik Polen-Litauen], Lublin 2016, S. 23 – 33. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 103 skis, Kazimierz und Andrzej, ein, der Letztgenannte im damals höchsten Rang des Feldzeugmeisters der österreichischen Armee26. Die Ehefrau Andrzejs war Maria Theresa Gräfin Kinsky von Weichnitz und Tettau, und die gesellschaft- lichen Kontakte reichten bis zum Staatskanzler des Kaiserreichs, Reichsfürst Wenzel Anton von Kaunitz. Dem auf dem Wiener Hof so frei verkehrenden Poniatowski vertraute der König 1765 mit Zustimmung von Kaunitz’ die prestigeträchtige Stellung eines inoffiziellen Gesandten Polen-Litauens in der Hauptstadt des Kaiserreichs an. Seinem diplomatischen Dienst setzte die Tu- berkuloseerkrankung 1773 ein Ende.27

Die ökonomische Basis Die materielle Grundlage der beiden dargestellten politisch-dynastischen Un- ternehmungen bildete sowohl für die Fürstin Elżbieta Helena Sieniawska als auch für Maria Zofia und August Aleksander Czartoryski der riesige Land- besitz der Lubomirskis und Sieniawskis mit den beträchtlichen Erbanteilen, die ihnen von den Familien Tęczyński, Koniecpolski und Opaliński zufielen. Hinzu kamen die gepachteten Krongüter: im ganzen Land verstreute Staros- teien und Ökonomien. Allein die Privatgüter umfassten 18 Dorfkomplexe, 13 Städte und mehrere Dutzend einzelne Ortschaften und Vorwerke, von de- nen die wichtigsten in Ruthenien und Wolhynien sowie im Großfürstentum Litauen lagen. Die Domäne der Fürstin in Kleinpolen setzte sich aus den von ihrem Vater und ihren Verwandten vererbten Rytwiany-Gütern im ehemaligen Sendomirer Land mit den Ortschaften Rytwiany, Staszów und Łubnice, die sog. Grafschaft Tenczyn mit Tenczyn und Nowa Góra westlich von Krakau sowie Końskowola bei Lublin mit der Sommerresidenz Lubomirskis in dem malerisch auf der hohen Weichselböschung gelegenen Puławy zusammen.28 Nachdem Puławy 1706 von den Schweden niedergebrannt worden war, wurde das an der Weichsel gelegene Łubnice zum Hauptsitz der Fürstin Sie- niawska, an dessen Einrichtung man in den 10er und 20er Jahren des 18. Jh. Arbeitete.29 1720 erwarb die Fürstin von den Söhnen König Sobieskis den Wi- lanower Güterkomplex bei Warschau und ließ die berühmte Villa von Johann III.

26 Emanuel Rostworowski, Poniatowski Andrzej h. Ciołek (1734 –1773) [Poniatowski Andrzej Ciołek (1734 –1773)], in: PSB, Bd. 27/3(114), Wrocław 1983, S. 412 – 413; Zo- fia Zielińska, Poniatowski Kazimierz h. Ciołek (1721–1800) [Poniatowski Kazimierz Ciołek (1721–1800)], in: ebd., S. 445, 447, 448. 27 Rostworowski, Poniatowski Andrzej, S. 412, 414, 416 – 419. 28 Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 50 – 64, 159 –165, Taf. VIII. 29 Ebd., S. 95 –115, 130 –139, 331– 343. 104 Michał Wardzyński gründlich renovieren und um neue Seitenflügel erweitern. Die Hetmansfrau Sieniawska errichtete sich dort eine eigene Vorstadtresidenz, deren Programm, das eindeutig dynastischer Propaganda diente, an das große historische Erbe des berühmten König und Kriegers anknüpfte.30 In Puławy investierte die Fürstin viel weniger und schön nach 1721, dafür errichtete sie um 1713 in Międzyrzec Podlaski eine hölzerne Sommerresidenz.31 Die Situation änderte sich erst in den Jahren 1730 –1733, als König August II. Wilanów aus Prestigegründen gepachtet hatte32 und Puławy zum unbestrittenen Zentrum des höfischen Le-

Abbildung 4. Polen, Łubnice and der Weichsel, Palast von Elżbieta Helena Sieniawska geb. Lubomirska, 1704 –1729, Architekten: Tileman van Gameren, Giacomo Solari und Giovanni Spazzio, Aufnahme bevor der Demolierung i. J. 1945, Public Domain.

30 Nestorow, Sieniawscy w Warszawie czasów Augusta II, S. 156 –161; Rafał Nestorow, Po- między sztuką a polityką. Fundacje i inicjatywy artystyczne Elżbiety z Lubomirskich Sieniawskiej jako przykład magnackiego patronatu za panowania Augusta II [Zwischen Kunst und Politik. Stiftungen und künstlerische Initiativen von Elżbieta Sieniawska geb. Lubomirska als ein Bei- spiel für magnatisches Patronat zur Herrschaftszeit von August dem Starken], in: Morawski (Hg.), Działalność Elżbiety Sieniawskiej (im Druck); Jakub Sito, Elżbieta Sieniawska i August Mocny jako stołeczni dysponenci sztuki. Między rywalizacją a symbiozą [Elżbieta Sienawski und August der Starke als Kunstdisponenten der Hauptstadt. Zwischen Wettbewerb und Symbio- se], in: ebd. (im Druck). 31 Zwierzchowski, Działalność Elżbiety Sieniawskiej na Lubelszczyźnie, S. 96 – 99, 121–124, Abb. 1, 2; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 183, 185, Abb. 60, 63. 32 Nestorow, Between art and politics, S. 166; Sito, Elżbieta Sieniawska i August Mocny jako stołeczni dysponenci sztuki (im Druck). Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 105 bens der Czartoryskis wurde. Die dortige Sommervilla der Lubomirskis, nach einem Entwurf Tielman van Gamerens errichtet, ließ man gründlich im spätba- rocken Stil erweitern; in den darauf folgenden 60 Jahren erlebte sie zwei große Mo- dernisierungen, bei denen ihre Innenräume und die Ausstattung im Geiste des Rokoko und des Frühklas- sizismus umgestaltet wur-­ den.33 Die Familie besaß auch zwei Straßen-Palais in Warschau, ein stattliches ge- mauertes Herrenhaus in der Warschauer Vorstadt in Lub­ lin sowie mehrere kleinere hölzerne Herrenhöfe34. Sieniawska war eine vor- bildliche Administratorin der Güter, sie verfügte über eine Gruppe treu ergebener Ver- walter, Ökonomen und Kanz- listen, die sich aus der adligen Klientel rekrutierten. Die Abbildung 5. Polen, Łubnice an der Weichsel, Palast erhalten gebliebene Korres- von Elżbieta Helena Sieniawska geb. Lubomirska, pondenz mit den Verwaltern Großer Saal, 1704 –1729, Architekt Giovanni Spazzio, der einzelnen Güterkomplexe Stuckateure: Franz Fumo, Pietro Innocente Compa- retii und Maler Carlo de Prevo, Aufnahme bevor der und Residenzen – den Burg- Demolierung i. J. 1945, Public Domain. grafen und Proventschreibern der Fabriken, denen auch die Investitions-, Bau- und Kunstfragen oblagen – lässt darauf schließen, dass die Stifterin eine strenge Kontrolle über die Organisation

33 Irena Malinowska, Przebudowa pałacu w Puławach przez architekta Jana Zygmunta Dey- bla [Der Umbau des Palastes in Puławy durch den Architekten Johann Sigmund Deybel], in: Lorentz (Hg.), Puławy: praca zbiorowa, S. 28 – 39, Abb. 13 – 24; Tadeusz S. Jaroszewski, Joachim i Jakub Hemplowie [Joachim und Jakob Hempel], in: Biuletyn Historii Sztuki 17/3, 1955, S. 291– 293, Abb. 1– 3. 34 Zwierzchowski, Działalność Elżbiety Sieniawskiej na Lubelszczyźnie, S. 103 –109, 121–127, Abb. 5, 6, 16, 17; Sito, Warszawskie inicjatywy budowlano-artystyczne Augusta Aleksandra Czar- toryskiego, S. 5 –13. 106 Michał Wardzyński und die Finanzen ausübte. Zur regelmäßigen Berichterstattung über das Fort- schreiten der Arbeiten, die aktuellen Bedürfnisse und die laufenden Probleme waren die Künstler und die Handwerker selbst verpflichtet. Ihre Freiheit war dadurch eingeschränkt, dass sie ausschließlich für die Fürstin arbeiten durf- ten, durch präzise formulierte Finanzverträge gebunden und in persönliche Abhängigkeit geraten waren, so dass sie immer wieder von einem der parallel laufenden Projekte zu einem anderen wechseln mussten. Vom Standpunkt der Fürstin aus gesehen, erlaubte der Vergleich der Inhalte der von verschiedenen Personen verfassten Briefe, die oft voll von gegenseitigen Vorwürfen oder gar Denunziationen der Ökonomen wie auch Konkurrenten auf dem Gebiet der Kunst waren, solche Bedingungen der Zusammenarbeit zu diktieren, die vor allem für sie selbst günstig waren. Eine derart in einer Hand zentralisierte Ver- waltung aller Unternehmungen war in jener Epoche etwas ganz Neues. Zu jener Zeit hatte der kunstsinnige Hof seinen Sitz in Łubnice. Vor dem Hinter- grund dieser Epoche kann man der Sieniawska ihr einmaliges organisatorisches Talent nicht absprechen, das mit brillanter Gelehrsamkeit und künstlerischem Geschmack einherging, wovon die von ihr gestifteten Werke das beste Zeugnis ablegen. Sie gelten allgemein als maßgebend für das erste Drittel des 18. Jh. in der gesamten Republik.35 Zwischen 1730 und 1733 verlegten Maria Zofia und August Aleksander Czartoryski das Verwaltungszentrum und die Hofwerkstätten nach Końskowola und Puławy, die näher an Warschau lagen.36 Die neue, nach westeuropäischem Vorbild organisierte Kanzlei der Ökonomien der Güter des Fürstenpaars setzte sich hauptsächlich aus deutschsprachigen Fachleuten zusammen und eben in dieser Sprache wurden vorbildlich auch die Bücher und die Korrespondenz geführt – ausgenommen die diplomatischen und privaten Briefe, die man tra- ditionell auf Französisch verfasste.37 Die Czartoryskis versammelten Künstler und Handwerker in Puławy, weil sie eine Modernisierung und beträchtliche

35 Bohdziewicz, Korespondencja artystyczna Elżbiety Sieniawskiej, S. 302 – 316, 318 – 319; Gajewski, Elżbieta Sieniawska i jej artyści, passim; Gajewski, Architekci w służbie i na usłu- gach hetmanowej Elżbiety Sieniawskiej, S. 381– 388; Bąkowski-Kois, Zarządcy dóbr Elżbiety Sieniawskiej, S. 52 – 70, 99 –109, 128 –147 insbesondere; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 130 –139, 142 –146, 258 – 273; Popiołek / Kicińska / Słaby (Hgg.), Korespondencja Elżbiety z Lubomirskich Sieniawskiej, kasztelanowej krakowskiej. T. 2, S. 261– 263, 381– 383, insbeson- dere. 36 Jaroszewski / Kowalczyk, Artyści w Puławach, S. 214 – 217, Anhang; Laskowska, Osiem- nastowieczny warsztat rzeźbiarski, S. 47 – 49; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 140 –141; Wardzyński, Johann Elias i Heinrich Hoffmanowie (im Druck). 37 Kuras, Współpracownicy i klienci Augusta A. Czartoryskiego, S. 48 – 51, 86. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 107

Erweiterung der Residenz vorhatten. Anders als Fürstin Sieniawska ließ das Ehepaar Czartoryski ihre Hofkünstler frei darüber entscheiden, welche Au- ßenaufträge sie nach der Erfüllung der laufenden Pflichten annahmen. Das ist besonders in Bildhauerkreisen sichtbar, da die Arbeiten mehrerer Künstler – Johann Elias und Thomas Hoffmann, Kärger, Zeisel und Praxell – nicht nur in der gesamten Region des nordöstlichen Kleinpolens mit Lublin an der Spitze dominierten und Erzeugnisse anderer Zunftwerkstätten verdrängten, sondern in der Konsequenz langfristiger Aufträge für die Ausstattung von Sakralbau- ten der Bernhardiner- und Piaristenorden auch viel weiter verbreitet waren.38 Eine deutliche Zäsur in der Geschichte des Kunstzentrums setzten erst die Teilungen Polens und die Verwüstung der Residenz und höfischen Siedlung im Jahre 1794; trotzdem waren einige dortige Werkstätten noch in den ersten Jahren des 19. Jh. tätig.

Die Kunst im Dienste einer bewussten Selbstdarstellung des Adelsgeschlechts Die von beiden Generationen der Besitzer von Puławy ergriffenen landwirt- schaftlichen und später auch industriellen Initiativen dienten der finanziellen Unterstützung der wichtigsten politischen Projekte. Die künstlerische Kultur, die sowohl in architektonischen Stiftungen als auch in den Werken der Bild- hauerei und luxuriösen Handwerkserzeugnissen zum Ausdruck kam, wurde für eines der wichtigsten Instrumente gehalten, um das eigene Geschlecht sowie die politische und gesellschaftliche Stellung der Entscheidungsträger zu propa- gieren – ihrer bewusster Selbstdarstellung im Hinblick auf die angestrebte Kö- nigskrone der Republik. Sie war schließlich ein Instrument, um die ausländi- schen Partner (Diplomaten, Besucher), andere Vertreter des engen Kreises des polnischen und litauischen Hochadels sowie die Klientel – die breiten Massen der in ihren Diensten oder ihrem Sold stehenden Adligen – zu beeindrucken und in ihrem Sinne zu beeinflussen.39 Ähnlich wie in anderen west- und mit- teleuropäischen Staaten bildete sich in Polen-Litauen im Laufe des 16. –18. Jh. allmählich ein den königlichen Stiftungen nacheiferndes allgemeines Modell

38 Gajewski, Z Wiednia i Pragi (?) przez Łubnice do Puław, S. 228 – 245, Abb. 32 – 34, 37 – 41; Wardzyński, Johann Elias i Heinrich Hoffmanowie (im Druck); Wardzyński, O rzeźbie rokokowej (im Druck). 39 Popiołek, Królowa bez korony, insbesondere S. 118 –120; Kuras, Współpracownicy i klien- ci Augusta A. Czartoryskiego, insbesondere S. 116 –136; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 300 – 306, 400 – 403. 108 Michał Wardzyński grundlegender baulicher und künstlerischer Initiativen heraus, die die Größe des Stifters und seine politischen Ansprüche hervorheben sollten. An vorderster Stelle stand die offizielle Residenz mit Palast, Garten und Vorwerk, die als Verwaltungszentrum der Landgüter architektonische Rahmen des zeremoniellen Raums für höfische Feste fungierte. Dazu gehörte eine Ah- nengalerie und das Paradeappartement mit dem Assambleesaal, dessen ent- sprechendes malerisch-bildhauerisches Programm von Ruhm und Gloria des Besitzers oder des gesamten Geschlechts kündete. Angesichts der Besonderheit des politischen Lebens im Lande war ein Straßen-Palais in der königlichen und Sejmstadt Warschau eine notwendige Ergänzung des Komplexes von Sitzen, genauso wie kleinere Palais und Herrenhöfe, die als Stationen in verschiede- nen Teilen des riesigen Landes dienten. Solche Hauptresidenzen waren für Sieniawska Łubnice und das Palais an der Krakowskie-Przedmieście Straße in Warschau (gekauft 1712) sowie gegen Ende ihres Lebens das von Sobieskis Ruhmesglanz umstrahlte Wilanów (1720 –1729)40. Die Czartoryskis konzen- trierten sich darauf, neben Wilanów als Prestigeobjekt und den zwei großen Warschauer Palais ihren Sitz in Puławy weiterzuentwickeln41. Das zweite Element war eine entsprechend hochrangige sakrale Stiftung mit einem Mausoleum des Geschlechts, auf die sich das religiöse Leben der Familie konzentrierte und in der offizielle Feierlichkeiten, bei denen zahlrei- che Bedienstete und die Klientel anwesend waren, organisiert wurden: Taufen, Trauungen und Beerdigungen. Wegen der Spezifik der polnischen gegenrefor- matorischen Religiosität und der Vorliebe für pompöses Zeremoniell erhielten die Letztgenannten eine eigene lateinische Bezeichnung: pompa funebris.42 In- teressanterweise waren die Leistungen der Fürsten Sieniawski auf diesem Ge-

40 Nestorow, Sieniawscy w Warszawie czasów Augusta II, passim, Abb. 1– 6; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 147 –158, 183 –195, 205 – 232 insbesondere. Vergleichen mit Jolanta Putkowska, Jak mieszkał magnat, kiedy przyjeżdżał do Warszwy [Wie der Magnat wohnte, wenn er nach Warschau gekommen ist], in: Michalczyk / Pieńkos / Wardzyński (Hgg.), Kultura ar- tystyczna Warszawy XVII – XXI w., S. 137 –148. 41 Sito, Warszawskie inicjatywy budowlano-artystyczne Augusta Aleksandra Czartoryskiego, passim, Anhänge. 42 Juliusz A. Chrościcki, Pompa funebris: z dziejów kultury staropolskiej [Pompa funebris: Aus der Geschichte der altpolnischen Kultur], Warszawa 1974, passim; Artur Badach, Pogrzeby serc na ziemiach wschodnich Rzeczypospolitej w XVIII w. Wprowadzenie do zagadnienia i postu- laty badawcze [Begräbnisse von Herzen in den östlichen Gebieten der Polen-Litauen im 18. Jahrhundert. Einführung in das Thema sowie Forschungsvorschläge], in: Jerzy Lileyko (Hg.), Sztuka ziem wschodnich Rzeczypospolitej XVI – XVIII w. Materiały z sesji naukowej [Die Kunst der östlichen Gebiete von Polen-Litauen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Materialien einer wissenschaftliche Konferenz], Lublin 2000, S. 640 – 654. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 109 biet unspektakulär, und deren Grabstätten in der Schlosskirche in Brzeżany und in der Kirche der Dominikanerobservanten in Sieniawa erhielten letzten Endes, trotz der durchaus ehrgeizigen Pläne der Fürstin, nicht einmal Grabmä- ler.43 Dafür hat sie sich eine gebührende künstlerische Verewigung ihrer Eltern (in Czerniaków und Końskowola) sowie des letzten des Opaliński-Geschlechts, des Onkels Stanisław Łukasz (in Rytwiany), angelegen sein lassen.44 Die Czar- toryskis wählten für ihre Grablege die Warschauer Kirche der französischen Lazaristen vom Heiligen Kreuz, wo sie in den Katakomben in der öffentlichen Krypta, Magnaten-Krypta genannt, in der Unterkirche beigesetzt wurden. Die Kommemoration beschränkte sich auf einfache Inschriftentafeln aus schwar- zem Marmor, die die Nischen mit den Särgen verdecken.45 Der dritte, bereits mit den Strömungen der europäischen Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts zusammenhängende Pfeiler der Kultur- und Kunstförde- rung waren öffentliche Projekte. In diesem Bereich spielten die Czartoryskis eine unvergessliche Rolle, indem sie allmählich die Armee nach österreichi- schem Vorbild modernisierten und einen entscheidenden Beitrag zur Grün- dung der elitären Ritterschule leisteten.46 Sie unterstützen auch das moderne piaristische Schulwesen und das Aufklärungswerk der Kommission für Natio- nale Bildung, subventionierten außerdem zahlreiche Krankenhäuser, Armen- häuser und andere karitative Werke.47 Bedenkt man die schwierigen Realien

43 Nestorow, Magna pompa et splendido aparatu, passim; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 355 – 359, Abb. 180. 44 Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 346 – 349, 351– 354, Abb. 172 –175, 178; Mi- chał Wardzyński mit Beiträgen von Hubert A. Kowalski und Piotr J. Jamski, Lapidarium war- szawskie. Szlachetne materiały kamieniarskie w XVI i XVII wieku [Das Warschauer Lapidarium. Kostbare Bild- und Steinmetzmaterialien vom 16. bis zum 17. Jahhundert], Warszawa 2013, S. 127 –128, Abb. 189; Wardzyński, Wystrój kamieniarsko-rzeźbiarski kościoła eremu kamedu- łów Złotego Lasu w Rytwianach (im Druck). 45 Iwona Dacka-Górzyńska, Pamięć zaklęta w kamieniach – epitafia w kościele św. Krzy- ża w Warszawie [Gedächtnis in Steine verzauberte – Grabinschriften in Hl. Kreuz-Kirche zu Warschau], in: Kazimierz Sztarbałło / Michał Wardzyński (Hgg.), Serce miasta – Kościół Świę- tego Krzyża w Warszawie [Herz der Stadt – Hl. Kreuz-Kirche zu Warschau], Warszawa 2010, S. 241, 246, Abb. 15, 16; Wardzyński, Monuments, Epitaphs and Commemorative Plaques in the Lower and Upper Church, 17th – 20th century [Grabmonumenten, Epitaphien und Grabin- schrifttafeln in unteren und oberen Kirche vom 17. bis zum 20. Jahrhundert], in: Kazimierz Sztar- bałło / Michał Wardzyński (Hgg.), Heart of the City. The Church of the Holy Cross in Warsaw, War­saw 2011, S. 246, Abb. 6. 46 Bednaruk, Narodziny Szkoły Rycerskiej, S. 23 – 26, 30, 33. 47 Aldona Bartczakowa, Jakub Fontana: architekt warszawski XVIII wieku [Jakub Fontana: ein Warschauer Architekt des 18. Jahrhunderts], Warszawa 1970, S. 182 –195, Abb. 165 –182; Monika Wyszomirska, Fontana (Fontanna, Fontani) Jakub (Giacomo), in: Migasiewicz / Osiec- ka-Samsonowicz / Sito (Hgg.), Słownik architektów i budowniczych środowiska warszawskiego, 110 Michał Wardzyński der Gesellschaftsordnung der Republik im 18. Jh., war das nicht gerade wenig, und die „Familie“ zählte zum engen, ähnlichen Ehrgeiz an den Tag legenden Kreis von Geschlechtern wie die Zamoyskis, die Załuskis, die Bielińskis und die Sułkowskis in der polnischen Krone oder die Platers in Livland. In allen drei Bereichen der stifterischen Aktivität haben sich die Besitzer von Puławy hervorgetan, und den künstlerischen Hof, den sie dort führten, um die ge- nannten Initiativen umzusetzen, kann man als den größten in der gesamten Republik ansehen.

Von der Hofwerkstatt zum Hof der Künste Eine Analyse der Quellen und der erhalten gebliebenen Kunstdenkmäler lässt uns davon ausgehen, dass Fürstin Sieniawska die ersten Künstler für ihre eige- nen Initiativen durch ihren Vater vermittelt bekam, der einer der wichtigsten Kultur- und Kunstmäzene zur Zeit des Hochbarock in der polnischen Krone war. Die Forscher haben auch festgestellt, dass die Fürstin wegen ihrer schwie- rigen Ehe und der eigenen Ambitionen ab Ende des 17. Jh. eine separate Hof- werkstatt führte und nur gelegentlich Dienste der von ihrem Gemahl, dem Hetman, engagierten Personen, hauptsächlich Militäringenieure, in Anspruch nahm. Die seltenen gemeinsamen Projekte, wie etwa der Umbau der Palais in Warschau und Lublin, wurden meist den von Sieniawska ausgewählten Künst- lern anvertraut48. Stanisław Herakliusz Lubomirski war bis zu seinem Tode im Jahre 1702 der Hauptauftraggeber des herausragenden Architekten Tielman van Game- ren, außerdem verfügte er über eigene Maurer-Architekten aus den Tessiner Familien Affaita, Fontana und Solari, über Freskanten und Maler aus derselben Region sowie die begabtesten Stuckateure aus den Dynastien Colomba, Gior- gioli und Perti aus Mendrisiotto bei Lugano. Früher waren sie bei seinen statt- lichsten, im ganzen Land berühmten Residenzen in Ujazdów und Czerniaków bei Warschau und der palladianischen Villa in Puławy beschäftigt gewesen.49 Van Gameren, Giacomo Solari sowie Antonio und Filippo Perti kamen nach 1704 nach Łubnice, wo die Fürstin eine erste hierarchisierte Struktur ins Leben

S. 139, 140, 143, 144; Michał Wardzyński, Szpital św. Rocha przy Krakowskim Przedmieściu i jego architektoniczne przemiany w XVIII – XX wieku [Krankenhaus Hl. Rochus in der Krakauer Vorstadt in Warschau und seine architektonische Veränderungen vom 18. bis zum 20. Jahr- hundert], in: Almanach Warszawy 12, 2018, S. 200 – 204, Abb. 3 – 9. 48 Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 73 – 76, 83, 184 –187, Abb. 8, 10, 61, 62. 49 Mariusz Karpowicz, Książę Stanisław Herakliusz Lubomirski i artyści, Warszawa 2012, passim. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 111 rief, um ihre Arbeit zu verwalten. Die erste Periode der Tätigkeit der Werkstatt umfasst die Jahre 1704 –1714, wobei sie in den letzten zwei Jahren von dem Entwerfer und Stuckateur Filip Enrykson, der zu dem Warschauer Kunstzent- rum gute Beziehungen hatte, geleitet wurde. Zu einer wichtigen Position stieg damals auch der Maler und Freskant Carlo de Prevo auf 50; nach 1720 ließ die Hetmansfrau Sieniawska wieder aus Warschau Vertreter dieses Metiers kom- men: Giuseppe Rossi und den Sachsen Johann Samuel Mock. In Łubnice ar- beitete für sie auch ein gewisser Bartholomeo Santini (gest. 1716), der früher bei den Lubomirskis in Rzeszów beschäftigt war51. Ebenfalls in Warschau betraute die Fürstin im Jahre 1714 auf Empfehlung einer nicht näher identifizierten Person den aus Lanzo Intelvi im Kanton Tessin stammenden Giovanni Spazzio (gest. 1726), einen der interessantesten Künst- ler, die in der Republik im 1. Viertel des 18. Jh. tätig waren, mit dem Posten des Hofarchitekten. Sein Jahrgeld betrug 4000 polnische Złoty. Spazzio, früher in Neiße, der Stadt der Breslauer Bischöfe, nachgewiesen, hatte eine gründliche Ausbildung in den Ländern der Habsburgermonarchie erhalten, was er wohl den familiären Beziehungen zu den in Linz und Prag ansässigen Verwand- ten zu verdanken hatte, von denen mehrere unter den Namen Spatz/Spatze und Spezza Ende des 17., Anfang des 18. Jh. arbeiteten.52 Die archivalische Recherche von Mariusz Karpowicz und Rafał Nestorow in der tschechischen Hauptstadt ergab, dass der bekannte Architekt Giovanni Antonio Lurago sein Mitarbeiter war, und eine andere Spur, die auf seine Prager und österreichi- schen beruflichen Konnexionen hinweist, ist die Tatsache, dass man später in Wilanów den talentierten Steinmetzen Bernardo Pietro Aglio beschäftigte, der aus einer weit verzweigten Tessiner Familie stammte, die hauptsächlich auf ös- terreichischem Boden tätig war.53 Spazzios Werke heben sich deutlich von der damaligen, noch posttielmanschen, klassizisierenden Architektur Warschaus, Masowiens und Podlachiens ab: Kennzeichnend für sie sind ein weitgehender

50 Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monarchii Habsburskiej, S. 278 – 281; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 95, 97 – 99, 101, 116 –118. 51 Bohdziewicz, Korespondencja artystyczna Elżbiety Sieniawskiej, S. 24 – 26, 36 – 42, 64 – 69, 112 –114, 182 –184, 270 – 273, 315 – 317; Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 72 – 76, Abb. 68 – 73; Bernatowicz, Santini (Sactini, Sanctyni) Bartholommeo, in: Urszula Makowska (Hg.), Słownik artystow polskich i obcych w Polsce działajacych: malarze, rzezbiarze, graficy. T. 10 [Le- xikon in Polen tätiger polnischer und ausländischer Künstler: Maler, Bildhauer, Grafiker. Bd. 10], , Warszawa 2016, S. 71. 52 Gajewski, Architekci w służbie i na usługach hetmanowej Elżbiety Sieniawskiej, passim; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 102 –104, 130 –132. 53 Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 46 – 47; Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monarchii Habsburskiej, insbesondere S. 282 – 283. 112 Michał Wardzyński

Vertikalismus, verbunden mit einer Übereinanderhäufung von Ordnungen, sowie die Einführung von Halbsäulen und Mauervorsprüngen, die die Arti- kulation und die Linie der Wände dynamisieren.54 In Łubnice entwarf er das Wiener Konzepten nachempfundene Große Vestibül, das in der Eingangsachse in einer durch drei Arkaden geöffneten Kapelle schließt, darüber hinaus reich marmorierte Stuckgliederungen und figürliche Wanddekorationen der Säle des Paradeappartements.55

Abbildung 6. Böhmen, Prag, Palais Troja, 1679 –1691, Architekt Jean-Baptiste Mathey, Foto Michał Wardzyński, 2011.

Zu Spazzios Pflichten gehörte es auch, in den Ländern der Habsburger- monarchie die Anstellung von Künstlern zu organisieren und eine allgemeine Aufsicht über sie im Rahmen seines Dienstes bei der Fürstin auszuüben. Bald konnte er seinen Neffen Francesco Fumo, einen Stuckateur und Entwerfer von

54 Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 52 – 56; Nestorow, Spazzio (Spazio, Spacy, Spatz) Gio­vanni, S. 444, 447. 55 Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 48 – 49, 53, 55, Abb. 35 – 45; Nestorow, Pro do­ mo et nomine suo, S. 331, 334 – 342, Abb. 86, 88, 100, 101, 105 –107. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 113

Kleinarchitekturen, der mit der neuesten spätbarocken Formgebung genauso gut vertraut war, aus Wien nach Łubnice kommen lassen. Sein Verdienst war es auch, dass 1725 Pietro Innocente Comparetti, ein Stuckateur, Ornament- zeichner und Marmorierer, engagiert wurde, den ihm ein nicht näher identi- fizierbarer Architekt des Pfalzgrafes von Neuburg empfohlen haben soll. Ein anderer Łubnicer Spezialist wurde der Polier Francesco Lombardini aus Prag (geb. 1704 in Chrudim bei Pardubitz). Spazzio und Fumo waren der Fürstin auch für den Ankauf von Materialien und Werken in Wien (Gemälde von Martin Hohenberg / Martino Altomonte für Wilanów, 1722) rechenschafts- pflichtig und trugen entschieden dazu bei, dass Sieniawska eine Gruppe ta- lentierter deutschsprachiger Schöpfer aus Wien, Prag und generell Böhmen in ihren Dienst nahm.56 Ihre Reihe eröffnet Franz Anton Mayer, zunächst Stellvertreter und Polier Spazzios, und in den 20er Jahren des 18. Jh. der zweite nach Spazzio selbst- ständige Architekt der Fürstin, der über eine eigene Maurerwerkstatt verfügte, die hauptsächlich bei den Kirchenfabriken im Güterkomplex Końskowola und Puławy sowie im Raum Lublin beschäftigt war. In seinen eigenen Entwürfen führte er erstmalig in diesen Gebieten einen Zentralbau in Form des lateini- schen Kreuzes sowie reich gestaltete, habsburgisch in ihrer Genese Umrah- mungen von Nischen und Fenstern wie auch phantasievolle architektonische Ordnungen mit Kapitellen aus erhärtetem Stuck und in den Räumen eine ver- einheitlichte Artikulierung ein. Seit 1717 stand ihm als Maurer-Architekt und Stuckdekorateur sein Bruder Karl zur Seite, der spätere Burggraf in Puławy.57 Im Jahre 1720 sind die Brüder Johann Elias und Heinrich Hoffmann, Stein- und Holzbildhauer, zum ersten Mal in Łubnice erwähnt; beide werden bis zu ihrem Tode – der eine starb 1751, der andere nach 1742 – in Polen bleiben, und der Sohn des Erstgenannten, Thomas (gest. 1789), wird bis Ende der 70er Jahre des 18. Jh. seine Tätigkeit in Puławy fortsetzen.58 Unabhängig von ih-

56 Bohdziewicz, Korespondencja artystyczna Elżbiety Sieniawskiej, S. 158; Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monarchii Habsburskiej, S. 283 – 284, 286 – 287; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 103 –105, 107, 108, 111. 57 Piotr Krasny, Kościół Misjonarzy w Lublinie. Geneza form architektonicznych i problem autorstwa [Die Lazaristenkirche zu Lublin. Die Entstehung der architektonischen Formen und die Frage der Urheberschaft], in: Kwartalnik Architektury i Urbanistyki 41/1, 1996, S. 63 – 66 insbesondere; Zwierzchowski, Działalność Elżbiety Sieniawskiej na Lubelszczyźnie, S. 99, 105, 111–126, Abb. 13 –17; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 103 –105, 107. 58 Jaroszewski / Kowalczyk, Artyści w Puławach, S. 216, 219, Anhang; Laskowska, Osiem- nastowieczny warsztat rzeźbiarski, S. 48 – 49; Gajewski, Z Wiednia i Pragi (?) przez Łubnice do Puław, S. 174, 184 –190, 197 – 200, Abb. 3 – 9; Wardzyński, Johann Elias i Heinrich Hoffma- nowie (im Druck). 114 Michał Wardzyński rer Herkunft, wahrscheinlich aus Prag oder generell Böhmen, klingt in ihrem Schaffen – wie Jacek Gajewski nachgewiesen hat – deutlich die klassizisierende Wiener Kunst Giovanni Giulianis nach. Die nur aus Fotoaufnahmen bekann- ten Figurengruppen vor der Fassade und im Garten in Łubnice sowie die heute in Puławy erhalten gebliebenen mythologischen Statuen lassen sich direkt von den ausgezeichneten, dynamischen Kompositionen Lorenzo Mattiellis im Pa- lais Schwarzenberg herleiten.59

Abbildung 7 (links). Österreich, Wien, Palais Schwarzenberg, Garten, Raptusgruppe, 1719 –1724, Bildhauer Lorenzo Mattielli, Zogelsdorfer Kalkstein, Foto Jakub Sito, 2011. Abbildung 8 (rechts). Polen, Puławy, Palais Czartoryski, Depot, Jupiter, um 1733 –1748, Bildhauer Johann Elias Hoffmann (zugeschrieben), Pińczów Kalkstein, Foto Wiktor Lach, 2016

Im Jahre 1722 zogen zwei hochqualifizierte Fachleute nach Polen: der Tisch- ler und Ebenist Konrad Kotschenräutter und der Schlosser Gordyan Mayer.

59 Gajewski, Z Wiednia i Pragi (?) przez Łubnice do Puław, S. 176 –178; Sito, Hoffmann, Bildhauer-familie, S. 87; Nestorow, Pro domo et nomine suo, S. 261, 263 – 265, 334, 336, Abb. 108, 109, 168, 169. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 115

Ersterer wurde – nachdem er sich in den 30er Jahren selbstständig gemacht hatte – durch seine im österreichischen Geist gehaltenen Entwürfe von Altar- architekturen in Lemberg und dem zur Polnischen Adelsrepublik gehörenden Rotruthenien berühmt.60 Für Wilanów gewann Sieniawska aus dem königli- chen Kreise durch Vermittlung des Architekten Giuseppe Giacomo Fontana, der als lokaler Helfer Spazzios beschäftigt war, den hevorragenden Bildhauer Johann Georg Plersch (1722 –1729), seinen späteren Schwiegersohn. Mit sei- ner fundierten Kenntnis der neuesten Tendenzen in der römischen und Prager Bildhauerei wurde er in Wilanów zum Hauptschöpfer der figürlichen Plastik und der Gartenskulpturen aus Stein und Holz.61

Abbildung 9. Polen, Puławy, Palais Czartoryski, 1824, Maler Konstanty Fürst Czartoryski, Aquarell auf Papier, Krakau, Nationalmuseum, Public Domain.

60 Nestorow, Artyści i rzemieślnicy z krajów Monarchii Habsburskiej, S. 285; Rafał Nesto- row / Jakub Sito, Stolarz czy architekt? Przypadek Konrada Kotschenträuttera [Tischler oder Ar- chitekt? Der Fall Konrad Kotschenräutter], in: Betlej / Brzezina / Oszczanowski (Hgg.), Mię- dzy Wrocławiem a Lwowem, S. 293 – 300, Abb. 5, 7, 8. 61 Sito, Wielkie warsztaty rzeźbiarskie Warszawy doby saskiej, S. 156 –163, 303, Abb. 98, 99, 167. 116 Michał Wardzyński

Nach dem plötzlichen Tod Spazzios 1726 übernahm Fumo als Wilanower Burggraf für kurze Zeit die Pflichten des entwerfenden Architekten62, und ein Jahr später wurde schließlich der früher beim sächsischen Bauamt August II. des Starken beschäftigte Architekt und Militäringenieur Johann Siegmund Deybel von Hammerau (1688/1690 –1752) angestellt. Bis Mitte der 30er Jah- re des 18. Jh. sollte er mit Beteiligung eines früher zusammengestellten Teams die Erweiterung Wilanóws leiten. In den Jahren 1730 –1736 beaufsichtigte er die nach seinem Entwurf vorgenommene, genauso spektakuläre Modernisie-

Abbildung 10. Polen, Puławy, Palais Czartoryski, Purpursaal, 1730 –1735, Architekt Johann Sigmund Deybel von Hammerau, Stuckateur Pietro Innocente Comparetti, Public Domain.

62 Nestorow, Between art and politics, S. 160 –161. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 117 rung der Villa in Puławy, die die Form eines volldimensionalen, mit Seitenflü- geln versehenen Palastes vom Typ entre cour et jardin erhielt63. In den Jahren 1730 –1731 kamen all die wichtigsten Schöpfer, die früher in Łubnice beschäftigt waren, wo die Fürstin Maria Zofia Czartoryska alle Ar- beiten eingestellt hatte, nach Końskowola und Puławy. Seitdem konzentrier- ten sich alle Anstrengungen auf den Hauptsitz des Geschlechts in Puławy mit seinen ausgedehnten Gärten und auf die Hilfsresidenzen in dem nahe gelege- nen Przybysławice und in Lublin. Die erwähnten Fabriken und Kirchenbau- ten in den benachbarten Ortschaften Końskowola und Włostowice übernahm Mayer.64 Zu den Aufgaben der Brüder Hoffmann gehörte jetzt sowohl die Ausstattung der Gebäude und des Gartens mit spätbarocken mythologischen und allegorischen Figuren als auch die Ausführung der immer zahlreicheren Aufträge für Steinmetz- und Schnitzarbeiten für die Ausgestaltung der Altäre in den unter dem Patronat der Czartoryskis stehenden Sakralbauten.65 Für die Stuckarbeiten zeichneten weiterhin Fumo und Comparetti verantwortlich (der berühmte Purpursaal)66, viel weniger weiß man dagegen über die in jener Zeit beschäftigten Freskanten und Maler. Aus den Archivalien geht lediglich hervor, dass das Fürstenpaar 1730 den Vertrag mit Carlo di Prevo auflöste, der 1737 in Armut in Sandomierz starb.67 Die spätbarocke, den Wiener und böhmischen Entwürfen nachempfunde- ne dekorative Ausgestaltung der Fassaden und Räume des Palastes in Puławy wich bereits 1743 einer neuen. Die Czartoryskis hatten 1748 in Paris durch Vermittlung des Fürsten Mathurine-Antoine Allaire beim Hofprojektanten Lud­wigs XIV., Juste-Aurèle Meissonnier, aus Holztäfelungen und Malereien be- stehende Einrichtung für den großen Salon bestellt, der später Goldener Salon genannt wurde. An der Ausführung dieses Auftrags im Wert von etwa zwölftau- send Livre arbeiteten bis 1752 Versailler Elitehandwerker: die Maler Charles- Michel-Ange Challe und François Huting sowie der Vergolder Le Guey68.

63 Jakub Sito, Deybel (Teubel, Teuble, Teubler, Deibler) Johann Sigmund (Jan Zygmunt) von Hammerau (ok. 1700 –1751), in: Migasiewicz / Osiecka-Samsonowicz / Sito (Hgg.), Słownik architektów i budowniczych środowiska warszawskiego XV – XVIII wieku, S. 117 –118. 64 Zwierzchowski, Działalność Elżbiety Sieniawskiej na Lubelszczyźnie, passim. 65 Gajewski, Z Wiednia i Pragi (?) przez Łubnice do Puław, S. 184 –190, 197 – 201, Abb. 3 – 9, 10, 11, 13 –16. 66 Malinowska, Przebudowa pałacu w Puławach, S. 33, 37; Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 71; Bernatowicz, Comparetti (Comparety: Komparety) Pietro Innocente, S. 468. 67 Bernatowicz / Zbudniewek, Prevo (Prevot, de Prevo, Prevot) Carlo (Karol) de, S. 15, 16. 68 Stanisław Lorentz, Projekty J. A. Meissoniera dla Puław [Die Entwürfe von Juste-Aurèle Meissonier für Puławy], in: Lorentz (Hg.), Puławy: praca zbiorowa, S. 42 – 46, Abb. 1– 6; Jakub Sito, „Złoty Salon” Juste-Aurèle Meissonier w Puławach w świetle nieznanych materiałów archi- 118 Michał Wardzyński

Abbildung 11. Polen, Puławy, Palais Czartoryski, Goldener Salon, Westwand, 1748 –1751, 1794 gebrannt, Entwurf von Juste-Aurèle Meissonier, Stich aus Ouvre de Juste Aurèle Meisso- nier peintre, sculpteur, architect & (…), Paris 1748, fol. 84, Public Domain.

In Paris wurden damals auch zahlreiche Möbel und Elemente der Innenaus- stattung gekauft, die man dann in Puławy in größerer Anzahl durch Hof- schnitzer und -tischler kopieren ließ. Parallel dazu entwarf Deybel in den Jah- ren 1745 –1750 eine neue, im Stil des Rokoko und im französisch-sächsischen Geist gehaltene Dekoration der der Fassade vorgelegten Paradetreppe und be- traute mit der Ausführung der Plastiken den zur gleichen Zeit in Wilanów ar- beitenden berühmten Warschauer Bildhauer österreichischer Herkunft Johann Chrisostom Redler (nachgewiesen 1737 –1773).69 In seinen Arbeiten lassen sich Einflüsse der Wiener Werke Mattiellis und der niedermährischen Bild- hauerei (der Weilheimer Ignaz Anton Lengelacher, geb. 1698 – gest. 1780,

walnych [Der „Goldene Salon“ von Juste-Aurèle Meissonier in Puławy im Lichte unbekannter Archivquellen], in: Tadeusz Bernatowicz u. a. (Hgg.), Polska i Europa w dobie nowożytnej / L’Europe moderne: nouveau monde, nouvelle civilisation? / Modern Europe – New World, New Civilisation? Prace naukowe dedykowane Profesorowi Juliuszowi A. Chrościckiemu [Polen und Europa in der Neuzeit: eine neue Welt, eine neue Zivilisation? Wissenschaftliche Arbeiten, Professor Juliusz A. Chrościcki gewidmet], Warszawa 2009, S. 571– 578, Abb. 1– 9. 69 Gajewski, Z Wiednia i Pragi (?) przez Łubnice do Puław, S. 200 – 208, Abb. 16 –18; Mi- kocka-Rachubowa, Redler (Radler, Regler, Reydler, Reygier, Rödler, Rydler) Johann Chrisostomus, S. 265, 270. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 119 in Austerlitz und Nikolsburg bei Brünn) des 2. Viertels des 18. Jh. Feststellen.70 Alle Arbeiten waren 1752 vollendet, und der französische Goût wurde seitdem richtungweisend in der Kunstförderung der Czartoryskis. Eine Bestätigung dafür liefern die späteren Engagements, u. a. des hervorragenden Malers und Zeichners Jean-Pierre Norblin de La Gourdaine (1774 –1804).71

Abbildung 12. Polen, Puławy, Palais Czartoryski, Paradetreppe, 1745 –1748, Architekt Johann Sigmund Deybel von Hammerau, Bildhauer Johann Chrisostomus Redler, Foto Michał Wardzyński, 2018.

Zur gleichen Zeit änderte sich infolge des sprunghaften Anstiegs der Be- stellungen für kirchliche Einrichtungen im Umkreis von 100 –150 Kilometern

70 Richard Melling, Der Karlsruher Hofbildhauer Ignaz Lengelacher (1698 –1780), in: Badi- sche Heimat 34, 1954, S. 18 – 22, Abb. 2 – 5; Miloš Stehlík, Das Schaffen des Bildhauers Ignatz Lengelacher in Mikulov, in: Sborník prací Filozofické Fakulty Brněnské Univerzity. F, Řada uměnovědná, 18, 1969, 25 – 41; Miloš Stehlík, Der Bildhauer Ignaz Lengelacher und sein Werk in Mähren, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 18, 1981, S. 59 – 78. 71 Alicja Kępińska, Jan Piotr Norblin, Wrocław – Warszawa – Kraków – Gdańsk 1978, S. 10 –15, 31– 39 insbesondere, Abb. 73 – 79. 120 Michał Wardzyński das Profil der Puławer Werkstatt der Hoffmanns, die zu Beginn der 50er Jahre des 18. Jh. Vertreter der neuen Generation verstärkten: Thomas Hoffmann, der Nachfolger von Johann Elias Sebastian Zeisel (erwähnt 1745 –1765) und Johann Ferdinand Kärger (nachgewiesen ab 1743, gest. 1785/1787), dem spä- ter der Geselle Johann Praxell (nachgewiesen 1762 –1768) zur Seite stand. In den zwei nächsten Jahrzehnten stieg die Zahl der Schnitzer und Tischler-De- korateure in Puławy auf etwa ein Dutzend, was im ganzen Land einmalig war. Mitten unter ihnen wurden viele deutsche Namen erwähnt: Johann „Germa- nus“ (1733 aufgezeichnet), Matthaues Barkart (1736 –1737), Thaddaeus Gab- riel (1736 –1739), Elias Esman (1738) und Heinrich Lombach (1749) alle die Bildhauer genannt, dann die Marmor- und Steinmetze: Martin Josef Selier alias Klier (1735), Johann Georg Deringer (1737 –1739, der Hofmeister) und Peter Konietz (1738 als Vicemeister), sowie Johann Christof Akerman (1745 –1747). Ihre Mitarbeiter waren die Hoftischler Johann Herbt (1753), Wenzel Andre- as Krysnes „Germanus“, und Christof Aygner (beide 1755 erwähnt)72. Das Fehlen von Zunftrahmen, die die Größe der Werkstätten und die Produkti- onsskala einschränkten, zog eine fast absolute Dominanz der Puławer Bild- hauerei in der Wojewodschaft Lublin, im Raum Stężyca und Łuków sowie im südlichen Podlachien nach sich.73 Die Dienste der Werkstatt Kärgers wurden lange Zeit von den kleinpolnischen Bernhardinern und Piaristen in Anspruch genommen, deren zahlreiche Sakralbauten mit unifizierten Ensembles von Al- tären, Kanzeln, Taufbecken und kirchlichem Mobiliar mit charakteristischen Merkmalen des mitteleuropäischen Rokoko nach dem Vorbild der Habsburger Kunst und den grafischen Vorlagen aus Augsburg und München ausgestattet wurden. Während sich Kärger und Praxell fast ausschließlich auf diese Art Tä- tigkeit konzentrierten74, wurde der in Stein und Holz arbeitende Zeisel von den Czartoryskis für den führenden Figuralisten und Dekorateur ihrer Residenzen in Puławy und Warschau gehalten. Nachdem er die wichtigsten Arbeiten für das Fürstenpaar vollendet hatte, arbeitete er für andere hochadlige Familien: die Tarłos in Opole Lubelskie oder die Dembińskis und Wodzickis in Krakau und Szczekociny. Er spezialisierte sich auf mythologische und allegorische Plas- tik und verzierte die Fassaden und die Innenräume der Paläste und die Gärten mit zahlreichen Statuen von eleganten, schlanken Proportionen und studierten

72 Laskowska, Osiemnastowieczny warsztat rzeźbiarski, S. 48 – 49. 73 Gajewski, Z Wiednia i Pragi (?) przez Łubnice do Puław, S. 228 – 245, Abb. 37 – 41; War- dzyński, Johann Elias i Heinrich Hoffmanowie (im Druck); Wardzyński, O rzeźbie rokokowej (im Druck). 74 Wardzyński, O rzeźbie rokokowej (im Druck). Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 121

Posen und mit fein ausgearbeiteten Ornamenten.75 Die ersten Anzeichen der neuen, frühklassizistischen Formeln der Architektur und der Bildhauerei schie- nen im Puławer Zentrum schnell auf, bereits Ende der 70er-, Anfang der 80er Jahre. Wegen fehlender Quellenstudien und vergleichender Studien kann man den eventuellen Einfluss der österreichischen Kunst der josephinischen Epoche auf das letzte Kapitel in der Geschichte des neuzeitlichen Puławer Zentrums schwer einschätzen. Im Jahre 1785 leitete das Fürstenpaar einen weiteren, be- reits frühklassizistischen Umbau des Puławer Palastes nach dem Entwurf von Architekt Christian Peter Aigner (geb. 1756 in Puławy, gest. 1841 in Florenz) ein und übertrug die Leitung der Arbeiten dem neuen Hofbaumeister und Mi- litäringenieur Joachim Rochus Hempel (1745 –1810) aus Allenstein (Olsztyn) im Ermland.76 *** Die Kunstförderung durch Elżbieta Helena Sieniawska geb. Lubomirska und ihre Nachkommen Maria Zofia und August Aleksander Czartoryski in Łub- nice, Wilanów und Puławy kann man als modellhaft für die Erforschung der künstlerischen und kulturellen Initiativen polnischer Magnaten und Aristokra- ten im 18. Jh. betrachten. Ohne Zweifel konnte der generell habsburgische, mitteleuropäische Stilcha- rakter der Łubnicer Werkstatt darauf zurückzuführen sein, dass die Stellung des Architekten und Entrepreneurs der Hofwerkstatt Giovanni Spazzio übertragen wurde, der bei der Wahl der Mitarbeiter und Fachleute aus verschiedenen Ge- bieten die ihm am besten aus eigener Erfahrung bekannten Schöpfer aus Wien, Prag und generell Böhmen bevorzugte. Beim gegenwärtigen Forschungsstand können wir nicht nachweisen, wer in Warschau eben diesen Architekten der Fürstin empfohlen haben könnte und ob die Wahl der Region, aus der die Inspirationen stammten, von ihrer eigenen Erkenntnis oder ihrem künstleri- schen Geschmack diktiert worden war. Die Wiener Richtung entsprach ganz sicher nicht den diplomatisch-politischen Sympathien der Stifterin, die sich noch einige Jahre zuvor erfolgreich im Lande und auf internationalem Forum für die Person von Fürst Franz II. Rákóczi einsetzte. Trotz dieser Bedenken muss man zugeben, dass sich vor dem Hintergrund des damaligen Bauwesens und der bildenden Kunst die Werkstatt in Łubnice in den Jahren 1714 –1729

75 Laskowska, Rzeźba figuralna ołtarzy rokokowych, S. 151–154, 165 –167; Laskowska, Osiemnastowieczny warsztat rzeźbiarski, S. 48 – 49, 52 – 53; Kluz, Sculptor Sebastian Zeisel, S. 242 – 245. 76 Jaroszewski, Joachim i Jakub Hemplowie, S. 291– 293, Abb. 2 – 3. 122 Michał Wardzyński und die in Wilanów ab 1722 durch das höchste Niveau an Kompetenz und der Qualität der Ausführung sowie durch ein kohärentes, fortschrittliches sti- listisches und formales Antlitz auszeichneten, das in der österreichischen und böhmischen künstlerischen Kultur des ersten Viertels des 18. Jh. seinen Ur- sprung hatte. Dieser internationale Charakter der Stiftungen der Fürstin in den genannten Ortschaften unterschied sich entschieden von den an der Kunst des barocken Roms orientierten sakralen und residenziellen Bauvorhaben in Krakau und Kleinpolen sowie in Großpolen, wo die Leitung der Arbeiten in den Händen von Kacper Bażanka und Pompeo Ferrari lag, die die entspre- chende Ausbildung in der Ewigen Stadt erhalten hatten.77 Der auf Wien, Prag und das böhmische Schlesien schauende Spazzio überragte die zeitgenössischen italienischen Architekten zu Warschau78, vielleicht mit Ausnahme des auf die Konzepte von Padre Andrea Pozzo und Carlo Fontana anknüpfenden Tessi- ners, Carlo Antonio Bay.79 Eine reale Konkurrenz für die Fürstin stellte das offizielle Mäzenatentum des sächsischen Hofes dar, an dem sich französische und italienische Einflüsse vermischten. Am deutlichsten äußerte sich der Ehr- geiz der Fürstin, die sich unablässig auf dem Gebiet der Kunst mit dem König messen wollte oder ihn sogar zu übertreffen versuchte, in der Anstellung von Künstlern, die früher von dem Wettiner beschäftigt worden waren: Giuseppe Rossi, Jan Samuel Mock oder Johann Georg Plersch. So geschah es bei der gleichzeitigen wiederholten Absage, die ehemalige königliche Residenz der So- bieskis in Wilanów für Propagandazwecke an den Monarchen zu verpachten. Etwas anders kann man die habsburgischen Einflüsse auf die Kunstförde- rung durch August Aleksander Czartoryski und seine Gemahlin Maria Zo- fia interpretieren. Für den Fürsten, der etwa ein Dutzend Jahre im elitären, kosmopolitischen Kreis der österreichischen Aristokratie und Generalität ver- kehrt hatte, können Wien und der kaiserliche Hof noch durch die lange Zeit der späteren politischen Karriere seit 1720 in der Republik Polen-Litauen der

77 Vgl. Olgierd Zagórowski, Architekt Kacper Bażanka, około 1680 –1726 [Der Architekt Kacper Bażanka, geb. um 1680 – verst. um 1726], in: Biuletyn Historii Sztuki 18/1, 1956, S. 84 –122; Gil R. Smith, Pompeo Ferrari, a disciple of Carlo Fontana in [Pompeo Ferrari, ein Schüler von Carlo Fontana in Polen], in: An architectural progress in the Renaissance and baroque [Der architektonische Fortschritt zur Zeit der Renaissance und des Barocks] 2, 1992, S. 764 – 799. 78 Karpowicz, Artisti ticinesi in Polonia, S. 37 – 42, 112 –114, 144 –145. 79 Gajewski, Bay Carlo Antonio Maria (Carlo: Karol: Karol Antoni), in: Allgemeines Künst- lerlexikon, Bd. 7, München – Leipzig 1993, S. 657; Sito, Wielkie warsztaty rzeźbiarskie War- szawy doby saskiej, S. 89 –106, Abb. 14, 23, 27, 28, 49, 56; Jakub Sito, Bay (Bai, Baia, Baio, Bay, Baya) Carlo Antonio Maria, in: Migasiewicz / Osiecka-Samsonowicz / Sito (Hgg.), Słow- nik architektów i budowniczych środowiska warszawskiego XV – XVIII wieku, S. 37, 38, 41, 42. Die Kunstzentren der Fürsten Sieniawski und Czartoryski… 123 wichtigste Bezugspunkt und die Quelle der Kontakte und Inspirationen auch auf dem Gebiet der Kunst gewesen sein. Die Bedeutung dieser zahlreichen ge- sellschaftlichen und politisch-diplomatischen Beziehungen zu Österreichern, Böhmen, Mährern und Ungarn verstärkten noch ähnliche berufliche Erfah- rungen der Mitglieder der „Familie“: Stanisław und Andrzej Poniatowski oder Jerzy Dettloff Flemming. Die ersten Entscheidungen des Fürstenpaars auf dem Gebiet der Kunst zeigen jedoch ihren Pragmatismus und den Willen zu neu- en Investitionen, für die sie das bisherige Team der Mitarbeiter von Spazzio, Fumo und Deybel aus Łubnice und Wilanów heranzogen. Erst die 40er Jahre des 18. Jh. und die klare politische und kulturell-künstlerische Hinwendung zu Frankreich Ludwigs XIV. führten dazu, dass die wichtigsten Aufträge di- rekt in Paris, im Zentrum der höfischen Kultur des Rokoko, erteilt wurden. Ein Gebiet, auf dem die Czartoryskis weiterhin für den Habsburger Künst- lerkreis standen, waren die figürliche Plastik und andere Spezialbereiche der Dekorationskunst. Dank der Präsenz von etwa einem Dutzend hochqualifi- zierter Bildhauer in Puławy in den 40er bis 80er Jahren des 18. Jh. strahlte das höfische Kunstzentrum auf die weite Umgebung aus, nivellierte den Einfluss potenzieller Konkurrenz und nahm den Großteil der prestigeträchtigsten und einträglichsten Aufträge für Ausstattungen von Kirchen und Palästen an sich. In Anbetracht des großen Umfang dieses Phänomens kann man sogar sagen, dass die Bildhauerei in Lublin und Umgebung sowie im südlichen Podlachien im 2. Drittel des 18. Jh. geradezu identisch mit der Bildhauerei der Puławer Werkstätten war. Einer eigenständigen Untersuchung bedarf noch die Frage, wie die Werkstätten von Malern und Handwerker an dieser Residenz funktio- nierten und welche Kontakte sie zu auswärtigen Auftraggebern pflegten.

Michał Wardzyński, Univ.-Prof. Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter (Assistenz- professor) am Institut für Kunstgeschichte an der Universität Warschau. Schüler von Prof. Mariusz Karpowicz und Juliusz A. Chrościcki, Mitarbeiter bei zahlrei- chen internationalen Forschungsprogrammen in den USA, in der EU sowie in Polen, die unter anderem von der Harvard Universität und The Getty Foundati- on organisiert wurden, Verfasser von vier Monographien und sechs Sammelbän- den sowie von ca. 90 Aufsätzen, die in Polen, Deutschland, Österreich, Frank- reich, Belgien und anderen Staaten veröffentlicht wurden. Forschungsinteressen: Skulptur und Kleinarchitektur der frühen Neuzeit in Mitteleuropa, vor allem aber die kulturellen und künstlerischen Beziehungen zwischen der ehemaligen Republik Polen-Litauen und den Niederlanden und die Staaten der einstigen Habsburgermonarchie (Schlesien, Böhmen, Mähren und Ungarn).

Jakub Forst-Battaglia

Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921. Vom Kampf um Lemberg bis zum Frieden von Riga

1. Voraussetzungen: ein neuer Staat, wiedererstanden aus weit in die Vergangenheit zurückreichenden Wurzeln. Piłsudski und Dmowski – Föderation oder Inkorporation Das Land zwischen Warschau, Lublin und Krakau, das in den Novemberta- gen des Jahres 1918 im Begriff war zusammenzuwachsen und vom Chaos und Elend, das der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte, gezeichnet war, verfügte zu- nächst über ein Kerngebiet aus Kongresspolen und Westgalizien. Trotz materi- eller Not herrschte Aufbruchsstimmung und Euphorie über die wiedergewon- nene Freiheit – verglichen mit der verzweifelten Katerstimmung, wie sie zur selben Zeit etwa für Wien charakteristisch war, wo sie aus einem Gefühl der Niederlage und Demütigung resultierte. Klar war nur, dass die siegreichen Ententemächte entschlossen schienen, gemäß dem von Präsident Wilson deklarierten Selbstbestimmungsrecht der Völker einen unabhängigen polnischen Staat zuzulassen – welche Gebiete die- ses Land umfassen sollte, war angesichts fehlender natürlicher Grenzen – sieht man vom Karpatensaum im Süden und der ethnischen Gemengelage im östli- chen Europa ab – alles andere als sicher. Der Wind der Revolution wehte heftig von mehreren Seiten: im Osten von Seiten der Bolschewiken, die nach Maß- gabe des Rückzugs der deutschen Truppen des Kommandos OberOst nach Westen vorrückten, von Deutschland seitens der Spartakisten und von Ungarn im Frühjahr 1919 in Form der Räterepublik Bela Kuns. Auch in Polen gab es zunächst radikale Linke und rote Garden, aber die Sozialisten mit ihrer Volks- miliz erwiesen sich ähnlich wie in Berlin als überzeugte „Sozialpatrioten“, die 126 Jakub Forst-Battaglia einen Umsturz wie in Petrograd verhindern konnten. Die entschlossene Hal- tung der polnischen Arbeiterschaft und der Kleinbauern sollte sich noch 1920 im entscheidenden Moment manifestieren, als es um das nackte Überleben des Staates angesichts der Moskauer Invasion ging. Bald war man sich über die Aufteilung der wichtigsten Führungspositio- nen einig: Józef Piłsudski wurde Staatslenker (Naczelnik Państwa), der inter- national allseits bekannte Pianist Ignacy Paderewski, ein Künstler mit besten Kontakten zu Präsident Wilson, bekleidete das Amt des Ministerpräsidenten, während Roman Dmowski die polnische Delegation bei den Friedensverhand- lungen in Paris leitete.1 Zwei Männer und zwei politische Richtungen – zwischen ihnen stand ihm Jahr 1919 Paderewski als Mittler, zunächst auch als offizieller Außenminister – bestimmten nun die Außenpolitik des neuen Polen. Beide waren im Zarenreich aufgewachsen. Dmowski, der Theoretiker und Praktiker der Nationaldemokra- tie, einer rechtsbürgerlichen, nationalistischen und antisemitischen Bewegung, war in Warschau aufgewachsen. Er wollte zunächst noch vor 1914 die Polen im konstitutionellen Russland der neuen Duma zu einem wichtigen Faktor ma- chen, sah in Deutschland den Hauptgegner der Polen und wünschte nach 1918 einen unitarischen Staat, gut abgesichert gegen Deutschland, im Osten mit einer Ausdehnung, die gerade noch die Assimilierung der ostslawischen Bevöl- kerungsteile ermöglicht hätte. Es sollte kein „ethnographisches“ Polen werden, beschränkt auf das Kongresskönigreich mit seiner polnischen Bevölkerung, sondern ein „zivilisatorisches“, was auch Gebiete im Osten mit polnischer Min- derheit, die aber kulturell, sozial und wirtschaftlich bestimmend war, umfasst hätte. Während des Weltkriegs war Dmowski Wortführer der ententefreundli- chen Polen und des Polnischen Nationalkomitees in Paris gewesen. Nach dem Sturz des Zaren 1917 konnten die Westmächte es den Deutschen und Öster- reichern endlich gleichtun und offen für die Unabhängigkeit Polens eintreten.2

1 Zur Ausgangslage 1918/19 und Gesamtentwicklung bis 1921: Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 97 –124, Norman Davies, Serce Eu- ropy. Krótka historia Polski [Das Herz Europas. Eine kurze Geschichte Polens], Londyn 1995, S. 118 –122 (deutsche Ausgabe: Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000), Ma- rian Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe 1795 –1921 [Polens Geschichte nach den Teilungen 1795 –1921], London 21968, S. 622 – 648, Marek Rezler, Polska niepodległość 1918 [Die polni- sche Unabhängigkeit 1918], Poznań 2018, S. 227 – 326, Hans Roos, Geschichte der polnischen Nation 1918 –1978.Von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1979, S. 52 – 99. 2 Roman Dmowski, Polityka polska i odbudowanie państwa [Die polnische Politik und der Wiederaufbau des Staates], Warszawa 21988, S. 108 –180; Andrzej Garlicki, Józef Piłsudski 1867 –1935, Warszawa 1989, S. 212. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 127

Piłsudski war hingegen in einer Kleinadelsfamilie bei Wilna aufgewach- sen, die von der patriotischen Aufstandstradition von 1794, 1830 und 1863 geprägt war und von der kompromisslosen Gegnerschaft gegenüber dem re- pressiven russischen Staatswesen erfüllt war. Diese Abscheu gegenüber dem Zarismus teilte er mit den sozialen und nationalen Revolutionären aller Schat- tierungen und Sprachgruppen, die vor dem Ersten Weltkrieg die Grundlagen des Riesenreichs zu erschüttern versuchten, deren Wege sich nach 1917 jedoch radikal voneinander trennten. Gewissermaßen als eine Art Mischung von Ro- mantiker und Realist wollte Piłsudski die einstige Größe der multinationalen polnisch-litauischen Rzeczpospolita wiederherstellen, indem er eine Föderation aus Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine, de facto unter polnischer Vorherrschaft, anstrebte. Es galt, einen breiten Ring von freien Randstaaten zwischen Polen und Russland zu schaffen, eine Absicherung gegen den russi- schen Expansionsdrang. Er strebte nach Assoziation, nicht nach Assimilation. Ethnische oder rassistische Vorurteile waren Piłsudski dezidiert fremd, sodass er auch viele Polen jüdischer Herkunft auf seiner Seite wusste, bekannte er sich doch zum Sozialismus, dem aber der klassenkämpferische Marxismus fremd blieb. Während des Ersten Weltkriegs hatte Piłsudski mit seinen Legionen bis zum Jahr 1917 entschieden auf die Mittelmächte gesetzt, mit den Deutschen aber gebrochen, als der gemeinsame russische Gegner weggefallen war und Berlin die Polen in immer größere Abhängigkeit zu bringen versuchte.3 Für die allermeisten Polen, welcher Orientierung auch immer, waren die Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts ein schreiendes Unrecht gewesen, des- sen Gründe man verschiedenartig beurteilen konnte – innere Schwäche, Stän- deegoismus und Unvermögen oder nur bösartige Eroberungssucht der perfi- den Nachbarn, die von Anfang an auf einem Gewaltakt basierten. Die jeweilige Zustimmung des Sejm, des polnischen Reichstags, war ihm 1772 und 1793 erpresserisch abgetrotzt worden, 1795 verschwand der Staat einfach, sodass einzig die Grenzen von vor 1772 als legitim anzusehen waren. Die Unabhän- gigkeit galt es wiederherzustellen. Die Bestimmungen des Wiener Kongresses von 1815 und innere Grenzen betrachtete man lediglich als Demarkationsli- nien zwischen geraubten Besatzungszonen. Man war sich der tiefgreifenden

3 Garlicki, Józef Piłsudski, S. 212 – 215; Tadeusz A. Kisielewski, Piłsudski, Dmowski i nie- podległość. Osobno, ale razem [Piłsudski, Dmowski und die Unabhängigkeit. Getrennt, jedoch gemeinsam], Poznań 2018, S. 135 –150; Włodzimierz Suleja, Józef Piłsudski, Wrocław 1995, S. 198 – 218. Wie Suleja (S. 198) schreibt „diente die Ostpolitik Piłsudskis nicht so sehr in der Abwendung, sondern in der völligen Ausschaltung der russischen Gefahr“. 128 Jakub Forst-Battaglia gesellschaftlichen Veränderungen bewusst, die inzwischen vor sich gegangen waren, und wollte trotzdem an ein Idealbild der untergegangenen Adelsrepu­ blik anknüpfen. Die modernen Nationalbewegungen der Ukrainer und Litau- er lehnten zwar die russische Oberhoheit mit ihrer imperialen Russifizierungs- politik ab, aber eben sosehr die lokale Vorherrschaft der polnischen Gutsherren und Städtebewohner, die ungeachtet der Teilungen weite Gebiete des histori- schen Litauen, Wolhyniens und Podoliens umfasste, die legendären Grenzmar- ken. Am wenigsten ausgeprägt war das Nationalbewusstsein der Weißrussen. Das Rad der Geschichte ließ sich jedenfalls nirgends mehr in eine vornationale Zeit zurückdrehen, als die Unterschiede nur in Glauben und Ritus beruhten.4 Für Piłsudski schien klar, dass Polens Grenzen im Westen von der Entente in Versailles bestimmt würden. Um die Ostgrenzen müsste man erst mit der Waffe ringen, sie wären nicht im Voraus genau bestimmbar, den neuen natio- nalpolitischen Gegebenheiten wäre jedoch Rechnung zu tragen.5 Im Westen stießen die polnischen Interessen auf die deutschen Interessen. Der moderne preußische Staat hatte im Osten nur auf Kosten des alten Polen expandieren können. Der polnische Zugang zum Meer, wie ihn die Alliierten den Polen versprochen hatten, bedeutete automatisch territoriale Einbußen. Ein funktionierender polnischer Staat benötigte jedoch einen Hafen an der Ostsee ebenso wie die Kohlegruben Oberschlesiens. Die deutschen Bürger von Danzig, Thorn oder Bromberg waren vor 1772 treue Untertanen der polni- schen Krone gewesen, inzwischen aber überzeugte Preußen geworden. Moch- ten Städte wie Toruń und Bydgoszcz nun auch einen stattlichen polnischen Bevölkerungsanteil haben – in Gdańsk lebte nur eine kleine polnische Min- derheit, es war eine eindeutig deutsche Stadt. Die protestantischen Masuren sprachen zwar polnisch, betrachteten sich aber mehrheitlich als Preußen. Ähn- liches galt für die katholischen Ermländer. In Oberschlesien war die Industrie- bevölkerung gemischt, die Fabrikanten und Akademiker waren Deutsche, die Arbeiter mehrheitlich Polen oder ‚Schlonsaken‘. In Posen gab es eine polnische Mehrheit und eine deutsche Minderheit, die Landbezirke blieben trotz der nachhaltigen Germanisierungsversuche seitens der preußischen Verwaltung und Ansiedlungskommission vor 1914 eindeutig polnisch. Ein großpolnischer

4 Marian Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe 1795 –1921 [Polens Geschichte nach den Teilun- gen 1795 –1921], London 21968, S. 556 – 559; Roos, Geschichte der polnischen Nation, S. 9 – 20. 5 Andrzej Nowak, Polska a trzy Rosje. Studium polityki wschodniej Józefa Piłsudskiego (do kwietnia 1920 roku) [Polen und die drei Russlands. Eine Studie zur Ostpolitik von Józef Pił- sudski (bis April 1920)], Kraków 42017, S. 192 – 225. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 129

Aufstand brach Ende Dezember 1918 in Posen aus, dessen militärische Lei- tung General Józef Dowbor-Muśnicki unterstand. Der Kampf endete im Feb- ruar 1919 mit einem Waffenstillstand auf Druck der Alliierten, der einer for- mellen Abtretung der gesamten Wartheregion um Poznań durch Deutschland im Versailler Friedensvertrag vorausgegangen war.6 In Ostgalizien, österreichisch von 1772 bis 1918, waren die größeren Städte, allen voran die Landeshauptstadt Lemberg, überwiegend von Polen bewohnt, mit starkem jüdischen und schwächerem, im Durchschnitt um die 10% lie- genden ukrainischen Anteil, während die Kleinstädte jüdisch-polnisch-ruthe- nisch, die Dörfer aber ruthenisch, also ukrainisch waren, mit zahlreichen pol- nischen und etlichen deutschen Streusiedlungen. Lemberg galt als Hochburg des Polentums, mit seinem Bürgertum, den Adelspalais, den Hochschulen und Kultureinrichtungen. Den Polen fast aller Schattierungen erschien der Besitz ihres „ewig treuen“ Lwów (Leopolis semper fidelis) unverzichtbar. Für die Ukra- iner wiederum war ihr dank der unierten St. Georgskathedrale wie auch der aktiven Kultur- und Nationalvereine ein Herzensanliegen. Hier begann folglich das bewaffnete Ringen um den nationalen Besitzstand.7 Piłsudski und Dmowski waren sich darin einig, dass nur ein starkes Po- len mit sicheren Grenzen und einer überlebensfähigen Wirtschaft eine aus- sichtsreiche Zukunft besäße, aber kein kleiner Pufferstaat, erdrückt zwischen Deutschland und Russland, ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Für die Westmächte wollte man attraktiv sein, sei es als Bollwerk gegen ein wiederer- starktes Deutschland, sei es als Bollwerk gegen den expansiven Bolschewismus, ersteres war den Franzosen wichtig, letzteres gleichermaßen Franzosen und Briten. Die Haltung von Paris und London entsprach aber nicht unbedingt den Vorstellungen und Wünschen, wie sie in Warschau geäußert wurden, als Europas Schutzschild gegen den Osten gebraucht zu werden, sondern beruhte auf teilweise ganz anderen Interessenslagen und Ansichten.8

6 Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 626 – 640; Roos, Geschichte der polnischen Nation, S. 52 – 61. 7 Jakub Forst-Battaglia, Galizien und sein Osten-Land der Begegnungen. Ukrainer, Polen und Juden im alten Österreich, in: Österreichisch-ukrainische Begegnungen, Kiev – Charkiv – Lviv 2013, S. 105 –128; Jaroslaw Hrycak, Historia Ukrainy 1772 –1991. Narodziny nowoczesnego narodu [Die Geschichte der Ukraine 1772 –1991. Die Geburt einer modernen Nation], Lu- blin 2000, S. 57 – 71, 90 – 99. 8 Andrzej Nowak, Pierwsza zdrada Zachodu. 1920 – zapomniany appeasement [Der erste Verrat des Westens. 1920 – das vergessene Appeasement], Kraków 2015, S. 27 – 204. 130 Jakub Forst-Battaglia

2. Die Entente und Polen: Frankreich, Großbritannien und die USA in den Entscheidungsjahren 1919 und 1920 Grundsätzlich hing das Verhältnis der Westmächte zu Polen, seinen Grenzen und der Rolle, die ihm zugedacht war, wesentlich von ihrer Politik gegenüber dem besiegten Deutschen Reich einerseits und dem in Bürgerkriegswirren ver- sunkenen Russland andererseits ab, woraus sich zögerliche und widersprüch- liche Vorgangsweisen ergaben, erschwert durch die latenten Spannungen zwi- schen englischen und französischen Interessenslagen in Mittel- und Osteuropa. Bei den Pariser Vororteverträgen versuchten die Ententemächte Selbstbestim- mungsrecht und Gleichgewichtspolitik inhaltlich zu kombinieren, was vielfach auf eine Quadratur des Kreises hinauslief. Russland, ob weiß oder rot, blieb von diesem Vertragswerk ausgeschlossen. Generell standen die Franzosen den Polen positiver gegenüber als die Bri- ten, wobei sich bei letzteren auch noch Unterschiede zwischen Premierminister David Lloyd George, einem linksliberalen Methodisten aus Wales, dem mehr konservativen Foreign Office unter Arthur Balfour, dann George Curzon oder gar dem streng antibolschewistischen Kriegsminister Winston Churchill erga- ben. Frankreichs Ministerpräsident Georges Clémenceau, bürgerlicher Radi- kalsozialist, wollte vor allem Polen als östlichen Verbündeten gegen Deutsch- land haben und zugleich sicherstellen, dass die Polen eine schlagkräftige Abwehrfront gegen den Bolschewismus bieten konnten. In Frankreich weinte man den verlorengegangenen „emprunts russes“ nach, den massiven Anleihen, die französische Kreditgeber noch der Regierung des Zaren gewährt hatten. Zudem fürchtete man den Export der Revolution, die auch in Paris ihre An- hänger hatte, sowie die Gefahr einer „Ansteckung“ für Deutschland ebenso sehr wie ein Bündnis zwischen Deutschen und Sowjetrussen. Das Reich stellte auch als geschlagener Gegner eine potenzielle Gefahr dar, ob nun von reakti- onären Junkern oder von roten Ideologen regiert. Mit den Sozialdemokraten und Zentristen konnte man sich zwar arrangieren, aber Verlass war auf die Deutschen keiner. Was die Russen betraf, so hoffte man auf einen Sieg der Weißgardisten im Bürgerkrieg, war aber nach den immensen Opfern des Welt- kriegs zu erschöpft und friedenshungrig, um selbst massiv intervenieren zu wollen. Das sollten nun andere erledigen. Hätten die Weißen gesiegt und ein starkes Russland wiedererrichtet, war mit ihnen als Verbündeten im Osten zu rechnen. Was nun aber, wenn die reaktionären Generäle sich als zu deutsch- freundlich erwiesen? Ihnen konnte man auch nicht zumuten, auf zu große Gebiete des Zarenreiches zu verzichten.9

9 Nowak, Pierwsza zdrada Zachodu, S. 35 – 67. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 131

Für Anton Denikin etwa, der 1919 im Süden Russlands und der Ukraine große Erfolge gegen die Bolschewiken verzeichnete, waren die neuen westli- chen Randstaaten nur abtrünnige Gebiete, lächerliche Rebellen, die man als- bald heimholen würde. Den Polen wollte er, wenn überhaupt, nur das Kon- gresskönigreich gewähren, und Appetit auf Ostgalizien hatten die Weißen auch, da es „russisches Land“ sei. Admiral Koltschak im Westen Sibiriens war um Nuancen gemäßigter, aber auch ein Anhänger des dreieinigen, unteilbaren Russland. Am liebsten wäre den Parisern ebenso wie den liberalen Londonern wohl die demokratische russische Linke gewesen, Leute vom Schlage des Fürs- ten Lwow, Alexander Kerenskijs oder Boris Sawinkows. Von denen ging aber keine chancenreiche Macht mehr aus. So hielt man sich am Quai d’Orsay den Polen gegenüber eher bedeckt, was deren Ostgrenzen betraf, unterstützte sie aber deutlich, was die Grenze zu Deutschland im Westen betraf. Auf jeden Fall wäre für Frankreich ein antikommunistisches Russland als möglicher Verbün- deter wichtiger gewesen. So konnte Polen nur als „allié de remplacement“, als Ersatzverbündeter, dienen. Die Amerikaner mit Woodrow Wilson vertraten eher eine Mittellinie zwi- schen der britischen und französischen Haltung. Am vordringlichsten erschien dem Präsidenten die Idee des Völkerbunds, der eine nachhaltige möglichst ge- rechte Friedenslösung überwachen und die kleineren Staaten vor Übergriffen der Großen schützen sollte, eine, wie die Zukunft bewies, idealistische Vorstel- lung von einer neuen Weltordnung ohne reale Durchsetzungskraft im macht- politischen Sinn. Von einer klassischen Gleichgewichtspolitik der Großmäch- te, wie sie den Briten teuer war, hielt er wenig. Freilich spielten in Frankreich alte Sympathien eine Rolle, Erinnerungen an die Große Emigration der Polen im Paris des 19. Jahrhunderts mit dem Hotel Lambert des Fürsten Czartoryski und den Dichtern der Romantik, allen voran , eine lange Tradition der Polenfreundschaft, die von vielen Polen schwärmerisch erwidert wurde. Schon Napoleon hatte die Polen glauben gemacht, er würde ihren Staat wiederherstellen, woraus wenigstens das Herzogtum Warschau entstand. Russland aber blieb mit dem Nimbus der Größe und des einstmals glanzvollen Zarenhofes umgeben, ein treuer Bundes- genosse bis 1917, dessen Literatur Weltgeltung besaß.10 Die Briten wollten eindeutig, solange dies möglich schien, einen Sturz der Bolschewiken in Petrograd herbeiführen und ein erstarktes Russland, höchs- tens gebremst um seine imperialen Bestrebungen in Vorderasien, als Partner wiederfinden. Für den Liberalen Lloyd George waren die Polen ein Störfaktor,

10 Nowak, Pierwsza zdrada Zachodu, S. 68 – 204. 132 Jakub Forst-Battaglia sofern sie sich nicht als bescheidenes und dankbares Instrument in der Abwehr der Roten ohne eigene Ambitionen genau auf Linie bringen ließen, die über die Ausmaße eines braven Kleinstaates hinausgingen. Er hielt sie für feudal, klerikal, nationalistisch und anmaßend, irgendwie aus der Zeit gefallen, im Grunde auch nur ein reaktionärer Haufen von unverantwortlichen Abenteu- rern, sozial vergleichbar mit jenen konservativen Kreisen in Wien und Berlin die man soeben in die Knie gezwungen hatte. Er betrachtete sie zudem als Ma- rionetten Frankreichs, dessen Vormachtabsichten am Kontinent man tunlichst zu beschränken versuchte. Die staatsbildenden Fähigkeiten der Polen schätzte er nicht allzu hoch ein. Noch schlechter beurteilte er nur die Ukrainer, die man trotzdem zeitweise gegen die Bolschewiken unterstützt hatte. Für die Tories, mit denen Lloyd George in einer Koalitionsregierung stand, erschienen die Polen zwar nützlicher, aber da gab man allemal einem zukünf- tigen weißen Russland den Vorzug. Aus London kam ja auch 1920 der Begriff der „Curzon-Linie“, also Polens ethnographische Ostgrenze am Bug, die auch Ostgalizien einem russischen Staat zu überlassen hätte. Quod licet Jovi non licet bovi – wenn man den Russen zubilligte, über andere zu herrschen, so war man gleichzeitig nicht bereit, es den angeblich ‚imperialistischen‘ Polen zu vergön- nen, deren Großmachtrolle schon lange zurücklag. Da hatte das neue, recht schwammige Selbstbestimmungsrecht zu gelten und wurde im Zweifelsfall je- weils gegen die Polen ausgelegt. Deutschland gegenüber wollten die Briten den Polen deutlich weniger ge- währen als die Franzosen, die ihnen Danzig rundweg überlassen hätten, sowie ganz Oberschlesien mit seinem Industrie- und Kohlenrevier. Das sollte sich 1919 in Versailles zeigen, wo eine Gebietskommission unter Botschafter Jules Cambon eine weitgehend polenfreundliche Position eingenommen hatte.11 Vor dem Alliierten Rat hatte Dmowski weitgehende polnische Gebietsfor- derungen präsentiert, wonach ganz Pommerellen mit Danzig, also das West- preußen der Deutschen, die Provinz Posen in der Ausdehnung von 1772, ganz Oberschlesien, das Ermland und Masuren an Polen kommen sollten, Ostpreu- ßen teilweise an Polen, teilweise an Litauen angeschlossen, der Rest als eigenes Staatsgebilde, getrennt vom Deutschen Reich, gestaltet werden sollte.

11 Dmowski, Polityka polska, S. 103 –195; Nowak, Pierwsza zdrada Zachodu, S. 115 – 445. In seiner ebenso akribischen wie polemischen Abhandlung unterzieht der Krakauer Historiker die Politik von Lloyd George Polen und Russland gegenüber einer vernichtenden Kritik als Ausdruck eines zynisch-berechnenden Appeasements gegenüber den Bolschewiken nach dem Motto „if you cannot beat them join them“ spätestens seit der Jahreswende 1919/20. Polen immerfort zu schaden sei sein Hauptziel gewesen zwecks Befriedigung egoistischer britischer Handels- und Machtinteressen. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 133

Einen polnischen Korridor zwischen deutschen Territorien, wie er dann durch die Belassung von Ostpreußen beim Reich geschaffen wurde, wollte er unbedingt vermeiden. Die Intervention Lloyd Georges, der gerade dies herbei- führte, dazu noch Volksabstimmungen in strittigen Grenzgebieten durchsetzte, bewirkte eine Korrektur zugunsten Deutschlands. Tatsächlich blieben auch die slawischen Masuren lieber bei Berlin als bei Warschau. Noch dazu fanden die Abstimmungen 1920 während der bolschewistischen Invasion Polens statt.12 Komplizierter erwies sich der Fall in Oberschlesien, wo es zwischen Au- gust 1919 und Mai 1921 zu drei polnischen Aufständen kam. Eine Interalliierte Kommission samt kleineren Ententetruppen überwachte die Volksabstimmung im März 1921, die für das gesamte, gemischtsprachige Abstimmungsgebiet 706.000 Stimmen für Deutschland und 479.000 Stimmen für Polen ergab, wobei manche der deutschen Stimmen von gebürtigen Oberschlesiern aus an- deren Reichsteilen stammten. Da kam es zum dritten polnischen Aufstand unter dem früheren Reichstagsabgeordneten Wojciech Korfanty, auf Grund dessen die Botschafterkonferenz die überwiegend polnischsprachigen Gebiete mit Kattowitz Polen zusprach, wodurch das Industrierevier zwischen beiden Nachbarn aufgeteilt wurde. Die Schlacht am Annaberg steht symbolisch für die bittere Auseinandersetzung. Politisch gesehen hatten die Franzosen ein- deutig die polnische Seite favorisiert, während Engländer und Italiener zu den Deutschen neigten. Mit dem Argument, sie könnten sonst keine Reparations- leistungen erbringen, gelang es den Deutschen, einen beträchtlichen Teil des Industriereviers zu behalten.13 Ein zunächst unerwarteter Konflikt entbrannte zwischen Warschau und Prag um das Gebiet des vormals österreichischen Herzogtums Teschen, ei- ner national gemischten, polnisch-tschechisch-deutschen Region, die 1910 164.000 Polen, 37.000 Tschechen und 25.000 Deutsche zählte. Im November 1918 hatten die polnische Rada Narodowa und der tschechische Národní Vý- bor eine für die Polen günstige provisorische Demarkationslinie vereinbart, die aber Anfang 1919 von der Prager Regierung annulliert wurde. Tschechische Verbände besetzten Oderberg/Bohumín und rückten weiter nach Osten vor. Nach Zusammenstößen mit polnischen Truppen wurde eine für die Tschechen weitaus günstigere Waffenstillstandslinie gezogen. Ein zunächst vorgesehenes

12 Dmowski, Polityka polska, S. 118 –160; Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 636 – 640; Rezler, Polska niepodległość 1918, S. 245 – 275. 13 Jochen Böhler, Wojna domowa. Nowe spojrzenie na odrodzenie Polski [Der Bürgerkrieg. Ein neuer Blick auf die Wiedergeburt Polens], Kraków 2018, S. 138 –163; Kukiel, Dzieje Pol- ski porozbiorowe, S. 626 – 629; Rezler, Polska niepodległość 1918, S. 264 – 275 134 Jakub Forst-Battaglia

Plebiszit unterblieb. Im Juli 1920 teilte eine Botschafterkonferenz das Gebiet entlang des Olsa-Flusses, so dass die Altstadt von Teschen als Cieszyn zu Polen kam, das wertvolle Kohlenrevier und die Bahnlinie von Schlesien in die Slo- wakei bei der ČSR verblieb, was zwar den tschechischen Wirtschaftsinteressen, aber nicht der ethnischen Verteilung entsprach. Eine starke polnische Volks- gruppe lebte nun in der Tschechoslowakei. Frankreich hatte in diesem Fall die Partei Prags ergriffen, das allgemein im Westen auf mehr Gegenliebe stieß als Warschau.14 Im Anschluss an den Frieden von Versailles mussten die neugegründeten Staaten Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien Minderheiten- schutzverträge abschließen. In Polen war man empört darüber, dass dem be- siegten Deutschland kein solcher Vertrag vorgeschrieben wurde, gab es doch im Reich weiterhin eine kleinere polnische Volksgruppe. Dies, so Lloyd Geor- ge, könne man den Deutschen nicht zumuten.15

3. Der Kampf um Lemberg und Ostgalizien Der innere Zerfallsprozess der Habsburgermonarchie, noch beschleunigt durch das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, hatte unmittelbare Auswirkungen auf die angespannte Lage in Galizien. Im Gebiet östlich von Przemyśl zählten 1910 die Ukrainer über 71% der Bevölkerung, vor allem am Lande, gegenüber 14,4% Polen und mehr als 12% Juden. In Lemberg selbst waren die Polen mit ca. 105.000 Einwohnern deutlich in der Überzahl, bei 57.000 Juden und 39.000 Ukrainern. Ähnlich sah es in den größeren Städten wie Stanislau oder Tarnopol aus. In kleineren Orten bildeten Juden oft die Mehrheit. Der am 18. Oktober gebildete Ukrainische Nationalrat (Ukrajinska Na- cijonalna Rada) unter Jewhen Petruszewycz und Kost Lewyckyj strebte nach Vereinigung aller ruthenischsprachigen Landstriche der Monarchie, zunächst noch unter Habsburgs Zepter, und erklärte am 9. November die Gründung ei- ner Westukrainischen Volksrepublik. Ein geheimes Ukrainisches Militärkom- missariat riss in der Nacht vom 31. Oktober auf 1. November handstreichartig in Lemberg mithilfe ukrainischer Truppenverbände der k.u.k. Armee unter Dmytro Witowskyj die Macht an sich. Die Polen hatten nur wenig verlässliche

14 Kisielewski, Piłsudski, Dmowski i niepodległość, S. 229 – 235; Kukiel, Dzieje Polski poroz- biorowe, S. 635 – 636. 15 Borodziej, Geschichte Polens, S. 107 –109; Roos, Geschichte der polnischen Nation 1918 – 1978, S. 61 Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 135

Einheiten in der Stadt und wurden völlig überrascht, da sie die politischen Sig- nale unterschätzt hatten und fest mit einer Zugehörigkeit ihrer Stadt zu einem neuen Polen rechneten. Unter dem Kommando eines Hauptmanns Czesław Mączyński formierte sich alsbald spontaner Widerstand der örtlichen Polen, dem zahlreiche Freiwillige, Studenten und Gymnasiasten, angehörten, den bald legendenumwobenen „Lemberger Adlern“. An vielen Stellen der Stadt kam es zu dreiwöchigen Kämpfen, die immer erbitterter geführt wurden und über dreitausend Tote gekostet hatten, bis es den herangezogenen polnischen Einheiten gelang, Lemberg am 22. November zu entsetzen und die Ukrainer aus der Stadt zu verdrängen.16 An diesem Tag kam es zu hässlichen Pogromen durch marodierende Solda- ten und Straßenmob, die den Juden Kollaboration mit den Ukrainern vorwar- fen. Eine offizielle polnische Untersuchungskommission stellte dann 71 nach- weisliche Opfer fest. Schätzungen sprachen von bis zu 150 Toten, ein Schock für die jüdische Bevölkerung, deren assimilierte Angehörige zu den Polen ge- halten hatten, deren Mehrheit sich aber bis auf wenige Ausnahmen möglichst neutral verhielt. In der westlichen, zumal angelsächsischen Presse wurden die Opferzahlen noch spekulativ erhöht, ja der ganze unglückselige Vorgang, an- gesichts des deklarierten Antisemitismus der polnischen Nationaldemokraten, schadete dem Ansehen der Polen im Westen empfindlich. Ebenso verhielt es sich bei weiteren Pogromen wie etwa jenem von 1919 im weißrussischen Pinsk. Die Übergriffe gingen vor allem auf das Konto von Freiwilligen, die dem Lager der Nationaldemokraten nahestanden und widersprachen dem Willen der mi- litärischen Führung die aber außerstande schien, sie wirksam zu unterbinden.17 Der Entsatz Lembergs, das weiterhin von drei Seiten durch die Ukrainische Galizische Armee bedrängt wurde, bedeutete noch lange nicht ein Ende des Ringens um Ostgalizien. Mehrere polnische Kommandanten, wie Oberst Mi-

16 Boje lwowskie 1918 –1919. Katalog wystawy. Luty – marzec 2009 [Die Lemberger Kämp- fe 1918 –1919. Ausstellungskatalog. Februar – März 2009], Wrocław 2009, S. 7 –11; Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 631– 635; Damian Markowski, Dwa powstania. Bitwa o Lwów 1918 [Zwei Aufstände. Die Schlacht um Lemberg 1918], Kraków 2019; Stanisław Sławomir Nicieja, Lwowskie Orlęta. Czyn i legenda [Die Lemberger Adler. Tat und Legende], Warszawa 2009, passim. 17 Böhler, Wojna domowa, S. 221– 231; Borodziej, Geschichte Polens, S. 106 –109; Zofia Kossak(-Szczucka), Pożoga. Wspomnienia z Wołynia 1917 –1920 [Der Feuersturm. Erinnerun- gen aus Wolhynien], Warszawa 2015, S. 255 – 260, die bekannte polnische Schriftstellerin aus wolhynischer Gutsbesitzerfamilie schildert das von Petljuras Leuten 1919 planmäßig durch- geführte, barbarische Massaker von Ploskirow. Stephan Lehnstaedt, Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919 –1921 und die Entstehung des modernen Osteuropa, München 2019, S. 98 –113 berichtet von Pogromen in Ostpolen während der Kriegshandlungen. 136 Jakub Forst-Battaglia chał Karasiewicz-Tokarzewski, die meist altösterreichischen Generäle Bolesław Roja, Jan Romer, Tadeusz Rozwadowski und Władysław Sikorski, führten an verschiedenen Stellen den Feldzug, der sich bis Mitte Juli 1919 hinzog. Den Ausschlag zugunsten Polens ergab die Offensive frischer polnischer Truppen unter General Józef Haller, die im Frühjahr 1919 aus Frankreich in die Heimat zurückkehrten, dann die persönliche Intervention Józef Piłsudskis, schließlich die Waffenhilfe der Rumänen, die den Südosten Galiziens mit Kolomea besetz- ten. Der zum Diktator ernannte Petruszewycz musste seine Hauptstadt Sta- nislau räumen, die ukrainische Armee wechselte über den Zbrucz auf vormals russisches Territorium über. Inzwischen hatten sich die Ententemächte intensiv mit der Lösung des Konflikts beschäftigt, der ihre Pläne einer militärischen Einheitsfront gegen den Bolschewismus erschwert hatte. Nacheinander versuchten mehrere Schlich- tungsmissionen ein Ende der Kämpfe zu erreichen. Die erste derartige Mission leitete im Februar 1919 der französische General Joseph Barthélémy. Er schlug eine Waffenstillstandslinie vor, die Lemberg und das Erdölbecken um Bory- sław bei Polen belassen und den größten Teil Ostgaliziens, also Pokutien und Podolien, den Ukrainern überantwortet hätte. Davon ließ sich im April 1919 eine sorgfältig arbeitende Kommission unter dem Diplomaten Jules Cambon inspirieren, die zwei mögliche Teilungslinien für die politische Zukunft vorsah, eine von den Briten bevorzugte, für die Ukrainer günstigere Linie A und eine mehr polenfreundliche Linie B, wie sie auch Barthélémy vertrat. Ohne sich auf eine Variante festzulegen, nannte man fünf denkbare Lösungen vorbehaltlich einer Entscheidung der Großmächte: eine unabhängige Westukraine, Entschei- dung aufgrund einer Volksabstimmung, Ostgalizien als Völkerbundmandat für die Tschechoslowakei oder Rumänien, eine Föderation Ostgaliziens mit Polen, oder Ostgalizien als Völkerbundmandat für Polen, unter Wahrung einer terri- torialen Autonomie und eines Plebiszits nach 25 Jahren. Das ukrainische Oberkommando unter General Omelanowycz-Pawlenko wollte freilich von Barthélemys Vorschlag nichts wissen, da er Lemberg den Po- len überlassen hätte, und wählten eine Entscheidung „durch Blut und Eisen“. Moderne ukrainische Historiker, allen voran Jaroslaw Hrycak, werfen dem Ge- neral Realitätsferne vor, da er besser die Gelegenheit zu einer Vereinigung mit Armeen des ostukrainischen Direktoriums zur Bekämpfung der Bolschewiken ergriffen hätte, so aber auf unhaltbaren Positionen bestand, anstatt sich mit den Polen zu einigen. Auch eine andere, durch General Joseph Noulens geführte Mission, brachte nur eine kurze Waffenruhe zustande. Anfang April unterbrei- tete eine weitere, vom Südafrikaner Louis Botha geleitete Kommission einen Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 137 anderen Teilungsplan vor, der zwar Lemberg den Polen, aber das Erdölrevier und das ganze übrige Gebiet den Ukrainern zugesprochen hätte. Ukrainische Vertreter in Paris wären bereit gewesen, den Vorschlag zu akzeptieren, der aber von den Polen unter Roman Dmowski brüsk zurückgewiesen wurde. Dmow- ski argumentierte, dass Ostgalizien unbedingt polnisch werden müsse, mit direkter Grenze zu Rumänien, da es sonst eine leicht überwindbare Einflug- schneise für die Bolschewiken nach Ungarn und über den Donauraum nach Westeuropa bieten würde. Piłsudski wäre wohl ursprünglich bereit gewesen, den Ukrainern den größten Teil Ostgaliziens, mit Ausnahme Lembergs und Borysławs, zu überlassen, falls die Föderation mit einer polenfreundlichen Uk- raine möglich gewesen wäre. Die Briten hofften sichtlich noch auf einen Sieg der Weißgardisten und eine Niederlage Bela Kuns, was Dmowskis Argument entkräftet hätte. Da London von Paris nicht unterstützt wurde – die Franzosen wollten die Erdölfelder lieber in polnischer Hand wissen – gaben die Briten ungern nach. Am 25. Juni 1919 übertrugen die Großmächte die Besatzung und Verwaltung ganz Ostgaliziens an Polen. Durch den Vertrag von St. Germain am 10. September 1919 musste die kleine Republik Österreich formell als Rechtsnachfolger des Kaiserreichs auf Galizien verzichten. Am 15. März 1923 anerkannten die Alliierten schließlich die volle Souveränität Polens über Ostgalizien mit der Auflage der Gewährung einer Autonomie, wozu es niemals gekommen ist. Versuche der Polen, mit Pe- truszewycz über einen Sonderstatus für das Gebiet zu verhandeln, scheiterten, da die ukrainische Seite auf ihrer Eigenstaatlichkeit beharrte und die Polen als Besatzer betrachtete. Der tragische Konflikt kostete rund 10.000 Polen und 15.000 Ukrainern das Leben.18

4. Die Wilna-Frage und das Verhältnis Polen-Litauen Sowohl für Piłsudski wie für Dmowski waren der Besitz von Wilna und das Verhältnis zu Litauen äußerst wichtig. Für Piłsudski, der sich seiner Herkunft nach als „Litauer“ im historischen Sinne verstand, ebenso wie es lange vor ihm der Nationaldichter Mickiewicz geäußert hatte, war die Wilnafrage eine

18 Böhler, Wojna domowa, S. 115 –123; Bogdan Musiał, Die Ukrainepolitik Polens 1918 – 1922, in: Wolfram Dornik / Georgiy Kasianov / Hannes Leidinger / Peter Lieb / Alexey Mil- ler / Bogdan Musial / Vasyl’ Rasevyč, Die Ukraine zwischen Selbstbestimmung und Fremdherr- schaft 1917 –1922, Graz – Wien – Klagenfurt 2011, S. 449 – 460; Hrycak, Historia Ukrainy, S. 140 –147; Kisielewski, Piłsudski, Dmowski i niepodległość, S. 155 –157, 161–162, 181–193; Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 631– 635, 640 – 642. 138 Jakub Forst-Battaglia

Herzensangelegenheit. Die Stadt verfügte über eine deutliche polnische Mehr- heit, eine starke jüdische Minderheit (das „Jerusalem des Nordens“, bzw. das „polnische“ oder „litauische Jerusalem“) sowie eine bedeutsame weißrussische und eine kleine litauische Minorität (kaum 2%), weiters lebten Karäer, Tataren und Deutsche in der Stadt. Trotzdem reklamierte die junge litauische Natio- nalbewegung ihr Vilnius als natürliche Hauptstadt, indem sie das historische Großfürstentum mit dem ethnischen Siedlungsgebiet der Litauer gleichsetz- te. Piłsudski hätte das Problem am liebsten in der Wiederherstellung dieses alten, multinationalen Gebildes in enger Föderation mit Polen gelöst, wobei ihm Wilna als übernationale Hauptstadt erschienen wäre. Autor eines theore- tischen Gebildes zu dieser Föderationspolitik war sein enger Mitstreiter Leon Wasilewski.19 Dmowski hingegen war, ähnlich seinem Berater Stanisław Grabski, ein strikter Gegner des „historischen“ Litauen. Er konnte sich aber ein ethnisches Litauen vorstellen, das „konstruktiv“ mit Polen verbunden gewesen wäre. Wil- na und sein Umland sollten integrierender Teil des polnischen Staates werden.20 Als unmittelbare Folge des Rückzugs der deutschen Truppen des Komman- dos Ober Ost unter General Hoffmann stießen Einheiten der Roten Armee auf Wilna vor und besetzten es Anfang Februar 1919. Die Besatzer gründeten eine prekäre Litauisch-Belorussische Sowjetrepublik/Lit-Bel unter einem litauischen Kommunisten namens Vincas Mickevičius-Kapsukas. Piłsudski dachte nicht daran, das Land den bedrohlich nahen Bolschewiken zu überlassen. Mitte Ap- ril 1919 eroberten die Polen unter General Edward Śmigły-Rydz und Oberst Władysław Belina-Prażmowski die Gegend um Wilna zurück. Die litauische Nationalregierung in Kaunas, der die Roten noch lieber waren als die Polen, fühlte sich dadurch provoziert, umso mehr, als am 22. April Piłsudski einen Appell an die „Einwohner des einstigen Großfürstentums Litauen“ richtete, wonach die polnischen Truppen allen die Freiheit brächten, ohne Unterschied von Glauben und Sprache. Ein polnisch-litauischer Krieg konnte dank alliier- ter, zumal französischer, Vermittlung verhindert werden. Die nach dem mäch- tigen französischen Marschall Ferdinand Foch genannte Linie beließ Wilna, vorbehaltlich einer noch zu treffenden Dauerlösung, in polnischen Händen. Ein von Polen initiierter Putschversuch in Kaunas, um eine polonophile Grup- pe an die Macht zu bringen, scheiterte. Während des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920 eroberten die Bolschewiken Wilna und überließen es den

19 Kisielewski, Piłsudski, Dmowski i niepodległość, S. 177 –180; Kukiel, Dzieje Polski po- rozbiorowe, S. 642 – 645, 669 – 671; Suleja, Józef Piłsudski, S. 198 – 204, 248 – 250, 256 – 257. 20 Dmowski, Polityka polska, S. 174 –177. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 139

Litauern, die von einer allfälligen Kulturautonomie für das Wilnagebiet nichts hören wollten. Als der Krieg im Osten beendet war, beauftragte Piłsudski Ge- neral Lucjan Żeligowski, mittels eines fiktiven Militärputschs das Gebiet ohne offizielle Unterstützung aus Warschau zu okkupieren. Im März 1922 beschloss ein lokal einberufener Sejm den direkten Anschluss an Polen, eine Maßnahme, die bis 1938 von Kaunas nicht anerkannt wurde.21

5. Polen, die Ukraine und Sowjetrussland Zweifellos lag in den Weiten des Ostens der härteste Brocken für Polens Zu- kunft. Das Jahr 1919 war durch eine Ambivalenz an Kämpfen und Verhand- lungen zwischen Warschau und Moskau gekennzeichnet, genährt durch tiefe Abneigung und Misstrauen, aber auch durch Versuche, einen größeren Krieg zu vermeiden. Das lag vor allem am unentschiedenen Kräftemessen im russi- schen Bürgerkrieg. Die Bolschewiken waren von mehreren Seiten durch weiß- gardistische Generäle bedroht und konnten sich nur in Zentralrussland einiger- maßen unangefochten behaupten. Judenitsch stand vor Petrograd, Koltschak beherrschte weite Teile Sibiriens und im Süden zeitigte Denikin bedeutende Erfolge bis tief in die Ukraine hinein. Da war kein Platz für eine entscheidende Auseinandersetzung mit Polen, dessen Armeen die Hälfte Weißrusslands, Po- doliens und Wolhyniens eingenommen hatten.22 Der internationale Bolschewik Julian Marchlewski, halb Pole, halb Deut- scher, fungierte als Mittelsmann zwischen Warschau und Moskau, der noch aus der gemeinsamen Kampfzeit gegen das Zarenregime vor 1914 über gute Kontakte zu sozialistischen Weggefährten Piłsudskis verfügte. Nach Gesprä- chen mit dem polnischen Verhandler, dem Grafen Michał Kossakowski, erhielt er die Zusicherung eines polnischen Stillhaltens im Gegenzug für territoriale Konzessionen der Sowjets und einen Gefangenenaustausch. Wenig später er- gaben sich Gespräche zwischen Vertretern Polens und Anton Denikins, der jedoch nur zu geringfügigem Entgegenkommen an die Adresse Polens bereit war, aber erwartete, dass Piłsudski eine breit angelegte Offensive gegen die Ro- ten starten würde, um den Weißen den Rücken freizuhalten. Trotz englischen Drucks war Piłsudski zu keiner Unterstützung Denikins bereit, da er von der Restauration eines konservativen Regimes in Russland schwerwiegende Nach-

21 Norman Davies, White Eagle, Red Star. The Polish-Soviet War 1919 –1920 and “the mira- cle on the Vistula”, London 2003, S. 52 – 53; Garlicki, Józef Piłsudski, S. 212 – 214. 22 Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, passim; Evan Mawsdley, The Russian Civil War, Edinburgh 2005, passim. 140 Jakub Forst-Battaglia teile für Polen befürchtete. Im weißrussischen Mikaszewice begannen im Okto- ber Gespräche, offiziell zwischen den Rotkreuzorganisationen Sowjetrusslands und Polens. Über einen vertrauten Offizier, Ignacy Boerner, ließ Piłsudski den Russen ausrichten, dass er, wenn sie eine neutrale Zone von 10 km zwischen den Fronten und die lettischen Ansprüche auf Dünaburg akzeptieren, auf bol- schewistische Agitation in den polnischen Reihen verzichten und sich mit der Präsenz des Atamans Symon Petljura in Teilen der Ukraine abfinden sollten, zu vertieften Gesprächen mit Lenin bereit wäre. Dieser erklärte sich zur Annahme der polnischen Forderungen bereit. Nun hielt sich Piłsudski jedoch zurück. Da inzwischen den Bolschewiken entscheidende Erfolge gegen Denikin gelungen waren – Denikin beschuldigte dann die Polen, seine Niederlage mitverursacht zu haben – sah der „Naczelnik“ die Roten in einer weit stärkeren Position als zuvor und traute ihnen baldige Aggressionsabsichten zu. Dies tat er ungeachtet offizieller Noten seitens Außenkommissar Tschitscherins, ja einer öffentlichen Erklärung des Rats der Volkskommissare unter Lenin und Trotzki, wonach Moskau die Unabhängigkeit Polens und die faktisch existierende Demarkati- onslinie entlang der weißrussischen Front anerkennen würde.23 Inzwischen war auch die Lage Koltschaks in Omsk aussichtslos geworden und Premierminister Lloyd George erklärte, Großbritannien werde sich für- derhin aus dem Bürgerkrieg völlig heraushalten. Im Jänner 1920 hob London die Wirtschaftssanktionen gegen Sowjetrussland auf, ja Lloyd George begann, an einem Handelsabkommen mit Moskau zu arbeiten und auf eine frühe Tak- tik des „Wandels durch Annäherung“ zu setzen, alle Meldungen über den re- pressiven wie expansiven und subversiven Charakter des Bolschewismus in den Wind schlagend.24 Da blieb nur Frankreich als konsequenter Partner im Antibolschewismus übrig. Clémenceau hoffte, gleich seinem Nachfolger Alexandre Millerand noch auf den nächsten russischen General, den Balten Petr Wrangel, der die Krim und die Südukraine kontrollierte. Sollten die Bolschewiken auf breiter Front siegen, wollte Paris zumindest einen „cordon sanitaire“ zuverlässiger Ost- staaten, zumal aus Polen und Rumänien, schaffen, um den Kommunismus von Kerneuropa fernzuhalten. Polens Nationaldemokraten unter Dmowski, die nächsten Partner Frankreichs, das im Grunde dem einstigen „Deutschen- freund“ Piłsudski misstraute – eine Antipathie, die auf Gegenseitigkeit beruh- te – gedachten unbedingt die Unabhängigkeit der Ukraine zu verhindern, da

23 Garlicki, Józef Piłsudski, S. 220 – 225; Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 645 – 648; Nowak, Polska i trzy Rosje, S. 371– 410; Suleja, Józef Piłsudski, S. 211– 212. 24 Zur britischen Haltung vgl. Nowak, Pierwsza zdrada Zachodu, S. 75 – 209. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 141 ihnen die Ukraine als späteres Nest deutscher Intrigen und territorialer An- sprüche gegen Polen erschien. Die Franzosen hielten ebenso wenig von einem solchen als instabil und unzuverlässig betrachteten Staat an der Südostflanke Polens, den sie nicht als widerstandsfähige „barrière de l’Est“ betrachteten.25 Nun bildete die Ukraine ein wesentliches Element im Denken Piłsudskis, der das Russische Reich immer schon „entlang seiner nationalen Bruchlinien“ zu zerteilen beabsichtigte. So schloss er mit Ataman Symon Petljura, der zu schwach gewesen war, um den Roten und den Weißen zugleich zu widerstehen, im April 1920 ein Abkommen, in dem Polen das ihm unterstehende Direktori- um als legitime Regierung der Ukrainischen Volksrepublik anerkannte.26 Auf Grund zuverlässiger Informationen des polnischen Generalstabs hatte Piłsudski tatsächlich allen Grund, Lenin zu misstrauen, denn insgeheim be- reitete das erstarkte Moskau einen revolutionären Krieg gegen die „polnischen Feudalherren“ vor, um über Warschau nach Westen vorzudringen und Verbin- dung zum radikalen deutschen Proletariat herzustellen. Die vorübergehende, fast willige Aufgabe ganzer Gebiete gehörte ja auch zur Leninschen Taktik, um Zeit zu gewinnen und sich innerlich zu konsolidieren.27 Als die polnische Offensive, unterstützt von ukrainischen Verbänden, ge- gen die Bolschewiken am 25. April 1920 begann, wichen die roten Truppen zurück und überließen den Polen Kiew, die dort am 7. Mai triumphierend einzogen, zum ersten Mal seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Lange konnten sie sich nicht ihrer Präsenz in der Dnjepr-Metropole erfreuen, denn schon am 26. Mai startete die Rote Armee ihre Gegenoffensive. Am 11. Juni mussten die Polen Kiew räumen. Trotz eines flammenden Appells Piłsudskis an die Ukrai- ner nach dem Einzug in Kiew, indem er ihnen die Freiheit von fremder – also russischer – Unterjochung verkündete, blieb die Bevölkerung passiv. Die Bau- ernmassen, die seit 1917 ständig wechselnde Regime und Armeen erlebt hat- ten, wollten vor allem Frieden und lehnten jeden Besatzer ab, von dem sie die Rückkehr der vertriebenen Gutsbesitzer oder die Kollektivierung der Land- wirtschaft befürchteten. Die Bolschewiken, daneben auch ihr Widersacher, der grüne Anarchist Nestor Machno, konnten dank ihrer Geschicklichkeit mehr Bauern für sich gewinnen als dies 1918 die Deutschen, dann Petljura, De- nikin oder gar die Polen vermocht hätten. Auch die Juden litten unter den gegnerischen Armeen sowohl Denikins als auch Petljuras, die jeweils Pogrome

25 Zur französischen Haltung vgl. Nowak, Pierwsza zdrada Zachodu, S. 345 – 348. 26 Garlicki, Józef Piłsudski, S. 225 – 228; Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 649 – 654; Suleja, Józef Piłsudski, S. 205 – 208, 220 – 229. 27 Nowak, Polska i trzy Rosje, S. 562 – 568. 142 Jakub Forst-Battaglia in eroberten Städten veranstalteten, wovon sich allerdings die offizielle Füh- rung des Direktoriums unter Petljura distanzierte. Man rechnet mit 30.000 bis 50.000 jüdischen Opfern dieser Gewaltorgien in der Ukraine zwischen 1917 und 1920. Die Truppen der Roten umwarben zwar das jüdische Proletariat, verfolgten aber die besitzenden Kreise.28 Die Bolschewiken drangen mit der gefürchteten Reiterarmee des Kosaken- generals Semjon Budjonnyj rasch bis weit nach Westen vor und standen schon am 1. August in Brest-Litowsk. Die Offensive, beschrieben von Isaak Babel, kam den Polen wie ein Vorstoß wilder asiatischer Horden vor, die alles am Wege niedermachten. Weiter nördlich marschierte die rote Infanterie unter dem jungen, vordem zaristischen Offizier Michail Tuchatschewskij in breiter Front gegen die „Weißpolen“, die Bjelopoljaki. „Auf nach Wilna, Minsk und Warschau!“ lautete der Tagesbefehl des 2. Juli 1920. Die Sowjetpropaganda sprach im Nachhinein vom dritten Angriff der Entente auf die russische Hei- mat, den es zurückzuschlagen gegolten hätte. In Polen ertönte der Ruf „Das Vaterland ist in Gefahr“, ähnlich dem im Frankreich des Jahres 1792. Man rief zur Verteidigung des Christentums auf. Ein eigener Staatsverteidigungsrat ko- ordinierte die Abwehrmaßnahmen und richtete einen Aufruf an die Alliierten Mächte, die gerade im belgischen Spa bei einer Konferenz tagten. In der polnischen Note vom 6. Juli hieß es, dass Polen um seine Unabhän- gigkeit kämpfe und um den Anschluss jener Gebiete, deren Bevölkerung „dem Mutterland nicht entrissen werden“ wolle. Man sei jederzeit zu Gesprächen über einen Frieden bereit, der „das Selbstbestimmungsrecht der zwischen Po- len und Russland lebenden Nationalitäten gewährleisten“ würde. Es wurde um Unterstützung des Westens gebeten. Ministerpräsident Władysław Grab- ski reiste nach Spa und traf am 10. Juli eine Vereinbarung mit den Entente- mächten, wonach Polen bereit wäre, sich an den Bug, also an die sogenannte Curzon-Linie, zurückzuziehen und Wilna den Litauern zu überlassen. Eine geplante Friedenskonferenz in London hätte Vertreter Polens, Sowjetrusslands, Finnlands, Lettlands, Litauen und Ostgaliziens umfassen sollen. Grabski muss- te sich schwere Vorwürfe des britischen Premiers gefallen lassen. Die Vorschläge wurden von den Briten an die Sowjets übermittelt, die sie prompt zurückwie- sen, aber Direktgespräche mit Warschau anboten, die nur auf eine Kapitula- tion Polens hinauslaufen konnten. Im Ergebnis trat Grabski zurück und eine Volksregierung mit zwei populären Politikern aus Altösterreich, dem Bauern-

28 Garlicki, Józef Piłsudski, S. 225 – 229; Hrycak, Historia Ukrainy, S. 147 –168; Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 651– 654; Suleja, Józef Piłsudski, S. 216 – 230. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 143 führer Wincenty Witos und dem Sozialistenchef Ignacy Daszyński, nebst dem konservativen Fürsten Eustachy Sapieha als diplomatisch erfahrenem Außen- minister, übernahmen die Regierung. Piłsudskis Ruf war zwar angeschlagen, doch bekam er als Staatschef das Vertrauen des Parlaments.29 Inzwischen bildeten die Kommunisten im besetzten Białystok ein Provi- sorisches Revolutionskomitee Polens, dem die führenden polnischen Genos- sen angehörten, so Julian Marchlewski und der Begründer der Tscheka, Feliks Dzierżyński, beides keine Arbeiter, sondern der Herkunft nach radikale Klein­ adelige, letzterer fast ein einstiger Gutsnachbar Piłsudskis. Die Rote Armee überschritt den Bug und drang tief ins polnische Kernland ein. Der Verein- barung zwischen den Westmächten und Polen gemäß sollte der Westen aktive Hilfe leisten, falls die Bolschewiken diese Linie überschritten. Nun wurden Pläne für eine Gegenoffensive überlegt, präsentiert von zwei Generälen, dem Polen Tadeusz Rozwadowski und dem Franzosen Maxime Weygand, den Paris als Berater beigestellt hatte. Von drei möglichen Varian- ten, einem Angriff nach Nordosten hin, einem nach Osten zur Verteidigung Warschaus oder einem Vorstoß in der Mitte, genau in die Lücke zwischen den sowjetischen Einheiten im Norden und im Süden, wählte Piłsudski die dritte, wagemutige Vorgangsweise, die sich als erfolgreich erweisen sollte. Als Vertreter des Alliierten Rates kamen auch Lord d’Abernon und der französische Diplo- mat Jusserand samt einer größeren Militärmission, die bei der Anlieferung von Waffen und Munition an Polen mithelfen sollten. Da türmten sich nämlich neue Schwierigkeiten auf, denn ausgehend von den englischen Gewerkschaf- ten mit ihrem Ruf „Hands off Russia“ bestreikten die Arbeiter einiger Länder die für Polen bestimmten Hilfstransporte. Die Regierungen in Berlin und Prag verweigerten den Polen jeglichen Beistand. So konnte auch Hilfe aus dem Un- garn von Reichsverweser Horthy nicht eintreffen, doch erwies sich zumindest Rumänien als kooperativ.30 Die Sowjets hatten im Laufe des Jahres 1920 eilig Friedensschlüsse mit den drei baltischen Ländern vereinbart, so konnten sie diese Flanke freihalten. Die Bemühungen der Warschauer Regierung, einen größeren Baltischen Staatsverband zu schaffen, wollte schon zuvor trotz einiger Ansätze nicht gelingen, zumal Litauen sich querlegte. Lettland stand Polen am nächsten, doch waren die Balten insgesamt nach zwei aufreibenden Bürger-

29 Davies, White Eagle, Red Star, S. 130 –188, gibt die bis jetzt beste Zusammenfassung des sowjetischen Angriffs auf Polen. Kukiel,Dzieje Polski porozbiorowe, S. 651– 661; Suleja, Jó- zef Piłsudski, S. 228 – 239 30 Davies, White Eagle, Red Star, S. 188 – 225; Garlicki, Józef Piłsudski, S. 228 – 233; Lehn- staedt, Der vergessene Sieg, S. 115 –126; Suleja, Józef Piłsudski, S. 228 – 246. 144 Jakub Forst-Battaglia kriegsjahren mit einem Zweifrontenkrieg gegen die Bolschewiken und gegen deutsche, von weißrussischen Verbänden unterstützte Freikorps unter General Rüdiger von der Goltz und Oberst Bermondt-Awalow entkräftet und mussten sich erst konsolidieren. Sie waren auch nicht bereit, untereinander eine Union abzuschließen, in der Polen im Süden und Finnland im Norden eine starke Abwehrfront gegen den Bolschewismus gebildet hätten.31 Nun entschied sich aber das Schicksal Polens und Mitteleuropas im wei- ten Umkreis von Warschau zwischen dem 15. und 17. August 1920, für Lord d’Abernon eine der wichtigsten Schlachten der Weltgeschichte. Der richtigen Eingebung Piłsudskis und der Fehlentscheidung Tuchatschewskijs, der die Kräfte der Polen unterschätzt und den Moment zum Frontalangriff auf War- schau versäumt hatte, war es zu verdanken, dass die Armeen der Roten von- einander getrennt und jeweils in östlicher Richtung zurückgeschlagen werden konnten. Geboren war das Schlagwort vom „Wunder an der Weichsel“, einem Sieg genau zum Hochfest der Jungfrau Maria. Piłsudskis Gegner wollten da- durch die Verdienste des Marschalls als Heerführer mindern, doch räumte auch Weygand ein, dass der „Naczelnik“ die einzig richtige Entscheidung getroffen hätte. Sogar der deutsche General Hans v. Seeckt, wahrlich kein Freund der Polen, lobte noch in der Dreißigerjahren Piłsudski als genialen Strategen und verglich ihn mit Friedrich dem Großen, der ebenfalls in scheinbar aussichts- loser Lage eine drohende Niederlage Preußens in einen Sieg zu verwandeln vermochte. „Die unbedingte, leidenschaftliche Hingabe und Opferbereitschaft aller Polen nahm grandiose Züge an“, wie der deutsche Historiker Hans Roos es ausdrückte.32 An einem wichtigen Nebenschauplatz, in Zadwórze bei Lemberg, konnte eine Handvoll Verteidiger, die ihren Opferwillen mit dem Leben bezahlten, am 17. August Budjonnys Konarmija von der Einnahme der galizischen Metropo- le abhalten. Budjonnyj musste jetzt, einem Hilferuf Tuchatschewskijs folgend, nach Nordwesten in Richtung Zamość abdrehen, schon zu spät, um eine Wen-

31 Andrzej Skrzypek, Związek Bałtycki. Litwa, Łotwa, i Finlandia w polityce Polski i ZSRR w latach 1919 –1925 [Die Baltische Union. Litauen, Lettland, Estland und Finnland in der Politik Polens und der UdSSR in den Jahren 1919 –1925], Warszawa 1962. 32 Davies, White Eagle, Red Star, S. 207 – 225 beschreibt den Ausgang der Schlacht bei Warschau als Mischung der militärischen Instinktsicherheit von Piłsudski mit taktischen Feh- lern Tuchatschewskys und Budjonnys. Garlicki, Józef Piłsudski, S. 231– 233; Kukiel, Dzieje Pol- ski porozbiorowe, S. 661– 669; Lehnstaedt, Der vergessene Sieg, S. 115 –136; Roos, Geschichte der polnischen Nation 1918 –1978, S. 86 – 88; Suleja, Józef Piłsudski, S. 237 – 247. Nowak, Pierwsza zdrada Zachodu, S. 6, zitiert den britischen Premier am 22. Juli 1920 mit folgenden Worten an MP Grabski: „You have the right to go to hell in your own way“. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 145 dung herbeizuführen. Bei Komarow wurde er geschlagen und zog sich nach Osten zurück Der Begriff der „polnischen Thermopylen“ als Vergleich mit dem Heldenmut der dreihundert Spartaner der Antike wurde dann bis 1939 hochgehalten.33 Die Sowjettruppen sahen sich jetzt auf der ganzen Front zum Rückzug gezwungen. Vergeblich hatten schon vor Beginn des Feldzugs polni- sche Kommunisten wie Karl Radek Lenin vor einer Invasion Polens gewarnt, da die tief katholischen Volksmassen nicht reif für eine Revolution wären und Patriotismus über Klassenkampf stellten, mithin dem Ruf der Bolschewiken nach einem Aufstand nicht folgen würden.34 Nach einer Reihe schwerer Gefechte in Weißrussland schloss man am 18. Oktober 1920 einen Waffenstillstand, dem nach zähen Verhandlungen am 18. März 1921 der Friedensvertrag von Riga folgte. Polen bekam im Osten Grenzen, die bis zu 250 km weit über die restriktive Curzon-Linie der Briten hinausragte, und verzichtete, mehr unter innerem Druck der Nationaldemo- kraten denn aufgrund des Beharrens der Sowjets, auf die weißrussischen Städte Minsk und Lida ebenso wie auf die ukrainischen Orte Ploskirow, das heu- tige Chmelnitzkyj, und Kamieniec Podolski. Piłsudskis Gegner wollten sich nicht noch mehr mit überwiegend ostslawisch-jüdisch geprägten Orten be- lasten. Seine Föderationspläne im Rahmen einer tiefgreifenden Neuordnung Osteuropas musste Marschall Piłsudski begraben und Petljura fallenlassen. Er hatte die Kapazitäten des Atamans überschätzt ebenso wie die Bereitschaft der ukrainischen Gesellschaft zur völligen Loslösung von Russland. Von seinen Hoffnungen, Petljura werde sich in Kiew behaupten, er selbst werde dauer- haft Wilna besitzen, der Linksdemokrat Sawinkow aber letztlich in Moskau an die Macht kommen, blieb einstweilen nur Wilna für Polen übrig. Die Ukra- ine und Weißrussland fielen zum größten Teil als Sowjetrepubliken unter die Herrschaft Moskaus.35 Die Westmächte hatten Polen 1920 nur widerwillig un- terstützt, Frankreich half noch eher als England. Wie der britische Historiker Norman Davies schreibt, „In the period of the war before July 1920, the policy of the En- tente was one, not of neutrality, but of official disinterest… In the period after July 1920, the Entente expressed continual and uninterrupted disapproval of Pilsudski, of the Polish government,

33 Nicieja, Lwowskie orlęta, S. 199 – 217. 34 Davies, White Eagle, Red Star, S. 136 –137, 141 35 Davies, White Eagle, Red Star, S. 251– 278; Garlicki, Józef Piłsudski, S. 235 – 237, No- wak, Polska a trzy Rosje, S. 581– 607. 146 Jakub Forst-Battaglia

and of Polish aspirations, to the extent that they sought to remove the first, repudiate the second, and sabotage the third.“36

Schlussbemerkung Polen war fortan ein Vielvölkerstaat mit polnischer Mehrheit und einem guten Drittel nicht polnischer, vielfach dem Staat zumindest gleichgültig, wenn nicht ablehnend gegenüberstehender Minderheiten, der sich jedoch trotz mancher Probleme und einem ab 1926 halbautoritären, halbparlamentarischen Regime bis 1939 durchaus stabil halten konnte. Die Polen selbst waren stolz auf ihren wiedergewonnenen Staat, an dessen Dauerhaftigkeit und Stärke sie glaubten. Sie blieben in der Region freilich weitgehend auf sich selbst angewiesen. Das Integrationsprogramm der Nationaldemokraten siegte zwar nach außen hin, trotzdem war die geplante Assimilation der Nichtpolen von Anfang an zum Scheitern verurteilt.37 Piłsudski versuchte, um mit der späteren Sprache des Kalten Krieges zu sprechen, Moskau gegenüber eine Politik des roll back. Herausgekommen ist nur die eines containment auf Zeit. In Riga war Osteuropa in zwei Einfluss- sphären zwischen Polen und Sowjetrussland aufgeteilt worden. Der für knap- pe achtzehn Jahre folgende Friede kehrte ziemlich rasch nach dem Rückzug der Roten Armee ein, da beide Gegner zu erschöpft waren um weiterzukämp- fen und unbedingt Ruhe benötigten. Die vom sowjetischen Delegationsleiter Adolf Joffe 1921 an die Adresse seines polnischen Kollegen, des Vizeaußen- ministers Jan Dąbski in Riga, geäußerten Worte, der Friede werde nachhaltig zum Wohle beider Nachbarn andauern38, hatten nur solange Gültigkeit, bis die erstarkte Sowjetunion unter Stalin 1939 die Gelegenheit ergriff, sich im Bund mit dem nationalsozialistischen Deutschland ganz Ostpolen trotz eines 1932 mit Warschau geschlossenen Nichtangriffspakts zurückzuholen. Mit dem Berlin der Weimarer Republik blieben die Beziehungen Polens unterkühlt, da die Deutschen sich mit dem Verlust der östlichen Gebiete im Sinne ihrer Revisionspolitik nicht abfinden wollten. Das Verhältnis besserte sich zum Schein nach Hitlers Machtergreifung 1933. 1934 wurde ein Nicht- angriffspakt unterzeichnet.

36 Davies, White Eagle, Red Star, S. 245 – 246. 37 Davies, Serce Europy, S. 118 –129. 38 Borodziej, Geschichte Polens, S. 97 –188; Kukiel, Dzieje Polski porozbiorowe, S. 672 – 673, Roos, Geschichte der polnischen Nation, S. 99 –170. Polen, seine Nachbarn und seine Grenzen 1918 / 1921… 147

Die Fragen von Polens Westgrenze, seiner deutschen Minderheit und des Status des Freistaats Danzig mündeten aber letztlich in die Septemberkatastro- phe und den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten, für dessen Auslösung sie als Vorwand gedient hatten.

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Jakub Forst-Battaglia, Dr., geb. 1950 in Wien, Studium der Geschichte, Sla- wistik und Philosophie an der Univ. Wien, Promotion im Jahr 1975 (Neue- re und Osteuropäische Geschichte) mit einer Dissertation zum Thema „Die polnischen Konservativen Galiziens und die Slawen“; Lehrbeauftragter an der Univ. Wien 1978 – 82, freier Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften / Kommission für Geschichte Österreich-Ungarns und des ORF/Hörfunk und Fernsehen; Höherer Auswärtiger Dienst der Republik Österreich 1981– 2015, diplomatische Auslandsposten in Moskau, Madrid, Prag, Tallinn und Kiew: österreichischer Botschafter in Estland 2001– 2006, Direktor des Österreichischen Kulturforums in der Ukraine / Gesandter an der Österreichischen Botschaft Kiew 2011– 2015; im Ruhestand seit 2015, For- schungs- und Vortragstätigkeit über Mittel- und Osteuropa in der Neuzeit bis zur Gegenwart, insbesondere betreffend Polen und die Habsburgermonarchie.

Lidia Gerc

„Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien*

Henryk Siemiradzki feierte als einer der populärsten Maler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine größten Triumphe. Zwar hatte er in Russland das Licht der Welt erblickt, er fühlte sich jedoch als Pole und liebte Rom, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte. In Rom ließ er seine Villa errichten, dort befand sich auch sein Atelier. Siemiradzki wurde 1843 in Nowobiełgorod auf – infolge der Teilungen Polens – damals russischem Territorium geboren. Sein Vater Hipolit war ein hoher Offizier in der russischen Armee, seine Mutter hieß Michalina und war eine geborene Pruszyński. Auf Wunsch seines Vaters studierte Henryk an der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität Charkiw, anschließend begann er an der Akademie für Schöne Künste in St. Petersburg Malerei zu studieren. Aufgrund seines hervorragenden Studienerfolgs erhielt er nach der Beendigung seines Studiums im Jahr 1871 ein sechsjähriges Stipendi- um, das ihm eine Europareise ermöglichte. Im Rahmen dieser Reise besuchte er erstmals Krakau, München und Italien. Bereits im Jahr 1873 wurde eines seiner Gemälde Christus und die Sünderin (poln. Chrystus i jawnogrzesznica) anlässlich der Weltausstellung in Wien (in der Abteilung für russische Kunst) gezeigt, drei Jahre später wurde er mit einem weiteren monumentalen Werk,

* Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Der Gemäldekorpus von Henryk Siemiradzki“ verfasst, das vom Minister für Wissenschaft und Hochschulwesen der Republik Polen im Rahmen des Nationalen Programms zur Entwicklung der Geisteswissen- schaften finanziert wurde. An diesem Projekt nehmen das Polnische Institut für Studien der Kunst der Welt, das Nationalmuseum Warschau, das Nationalmuseum Krakau sowie die Staat- liche Tretjakow-Galerie in Moskau teil. 154 Lidia Gerc w 1904). esznica ), z arszawa – Krakó ystus i jawnogr W adzki , iemir yk S enr ünderin (poln. Chr wski, H wando tanisław Le bbildung 1. Christus und die S A uelle: S (Q „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 155 dem Gemälde Lebende Fackeln Neros (poln. Pochodnie Nerona oder Świeczniki chrześcijaństwa), weithin bekannt. Der Ruhm, dessen er sich seit der Vorstellung dieses Gemäldes erfreute, hinderte ihn nicht daran, ein ruhiges, harmonisches Privatleben zu führen, er war verheiratet und hatte vier Kinder. Neben der Malerei interessierte er sich auch für Okkultismus und Entomologie. Er war einer der wenigen polnischen Künstler, die zu ihren Lebzeiten weltweit bekannt waren. Ein Beweis für sei- ne Bekanntheit mag seine stete Präsenz in der Wiener Presse sein – von der Vorstellung seines ersten Werks in Wien bis zur Zeit nach seinem Tod. Auch noch nach seinem Tod ist sein Name hin und wieder in der Wiener Presse zu finden, beispielsweise anlässlich des Verkaufs eines seiner Werke oder ihm zugeschriebener Werke. Er malte, an die Kunst der Antike anknüpfend, ide- alisierte Figuren, für das Hintergrundszenario entschied er sich häufig für die Darstellung italienischer Landschaften. Sein Malstil wurde später als Akade- mismus bezeichnet – ein Umstand, dessen sich der Maler selbst zu seinen Leb- zeiten freilich nicht bewusst war. Dieser Malstil beruhte auf der Bezugnahme auf die Prinzipien und Ideale der Kunst der Antike sowie der Renaissance und bediente sich bevorzugt historischer, religiöser und mythologischer Themen. Diese Art zu malen wurde zur damaligen Zeit an den anerkannten Kunst- akademien propagiert, worauf auch die Bezeichnung Akademismus zurück- zuführen ist. Zu den bekanntesten Vertretern des Akademismus gehörten in Österreich Hans Makart, in Deutschland Viktor Tilgner und Karl von Piloty, in England Lawrence Alma-Tadema. In Polen, das zur damaligen Zeit ja nicht als eigenständiger Staat existierte, galt Siemiradzki als Vertreter dieser Kunst- richtung, aufgrund seines Geburts- und Studienortes wurde er häufig als Russe betrachtet. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die neue Kunstströmungen mit sich brachte, wandelte sich die Verehrung für die idealisierte akademische Ma- lerei in starke Ablehnung. Trotz seiner großen Popularität war auch Siemiradzki von dieser Ablehnung des Akademismus betroffen und geriet in Vergessenheit. In diesem Beitrag werden in Wien erschienene Pressemeldungen über Siemiradzki vorgestellt – vor allem solche, die während seiner Lebens- und Schaffenszeit veröffentlicht wurden, aber auch zu einem späteren Zeitpunkt publizierte Artikel, deren Zahl wesentlich kleiner war. Auf der Grundlage die- ser Pressemitteilungen wird die Rezeption Siemiradzkis in Wien analysiert und gezeigt, welch großer Popularität er sich in internationalen Kreisen erfreute. Die Präsenz von Siemiradzki und seinen Werken in Wien, einer interna- tionalen Metropole im 19. Jahrhundert, wird nicht überraschen. Die Stadt 156 Lidia Gerc war eine der wichtigsten europäischen Hauptstädte. In Wien fanden Welt- ausstellungen statt, hier gab es viele berühmte Galerien. Viele Künstler lebten einige Zeit in Wien und hinterließen dabei freilich fast keine Spuren in den in Wien erscheinenden Zeitungen. Ganz anders verhält es sich im Falle der Besuche von Henryk Siemiradzki in Wien sowie seinen Werken, zumal sich die Presseberichte natürlich nicht nur auf Siemiradzki selbst, sondern auch auf sein Schaffen bezogen. Informiert wurde auch über Siemiradzkis Rezeption weltweit, vor allem aber in Europa. Das Interesse galt auch seinen weiteren Ge- mälden und deren Reisen durch Europa, wo sie in Ausstellungen, u. a. oftmals auch in Wien, Station machten.1 Der Name Siemiradzki2 ist in der Wiener Presse sowie in Publikationen zum Thema Kunst häufig zu finden, er wird in nahezu 500 Artikeln erwähnt. Vorgestellt wird in diesem Beitrag eine Auswahl von ihnen. Diese werden chronologisch gereiht, um zu zeigen, zu welcher Zeit und zu welchen Themen das Hauptinteresse an Siemiradzki und seinem Schaf- fen zu verzeichnen ist. Die wachsende Popularität Siemiradzkis spiegelte sich in der Zahl der über ihn publizierten Artikel und Informationen wider, sie zeigen das Ausmaß des Interesses, das sein Schaffen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorrief. Siemiradzki wurde im letzten Viertel des 19. Jahr- hunderts zu einem der populärsten Künstler seiner Zeit, sein Ruhm währte über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren. Erstmals in der Wiener Presse erwähnt wird Siemiradzki im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt im Hotel Ross in der Leopoldstadt, im zweiten Bezirk von Wien.3 Damals wurde ge- schrieben: „Henryk Siemiradzki (Warschau) meldete sich am 20. März [1873] im Hotel an.“ Dies wäre an sich nichts Ungewöhnliches, wenn dies nicht, wie sich später herausstellen sollte, der Beginn seiner Weltkarriere gewesen wäre. Eben in diesem Jahr – 1873 – wurde das erste Werk von Siemiradzki in Wien anlässlich der Wiener Weltausstellung gezeigt. Wie wir im Offizielle[n] Kunst- Katalog 4 lesen können, wurde von „Semiradsky Heinrich J., St. Petersburg 417 das Werk »Christus und die Sünderin«5 in der zentralen Kunsthalle gezeigt, wo es unter einer Vielzahl weiterer herausragender Werke einer Reihe europäischer

1 Siemiradzki zeigte seine Arbeiten in den wichtigsten europäischen Städten sowie in Städ- ten außerhalb Europas, oftmals verreiste er gemeinsam mit seinen Werken, Wien war häufig eine Station solcher Reisen. 2 Mitunter wurde auch Semiradzki oder Simradsky geschieben. 3 „Neues Fremden-Blatt“, 21. März 1873, S. 12. 4 Offizieller Kunst-Catalog. Welt-Ausstellung 1873 in Wien, Wien 1873, S. 186. 5 Das Bild wurde unterschiedlich bezeichnet, am häufigsten als Die Sünderin. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 157

Künstler besondere Aufmerksamkeit erregte.6 Betont wurde sein neuer, frischer Zugang zu einem biblischen Thema.7 Das Werk machte ihn bekannt, wenn- gleich dieser Bekanntheitsgrad noch nicht mit dem Ausmaß jener Bekannt- heit vergleichbar war, die ihm drei Jahre später aufgrund eines weiteren Werks zuteil wurde. Noch bevor Siemiradzkis Gemälde Lebende Fackeln Neros 8, das Siemiradzkis Ruhm begründete, in Wien gezeigt wurde, schrieb die „Illustrier- te Zeitung“: „In den Münchener Kunstkreisen macht ein großes figurenreiches Bild des in Rom lebenden Malers Siemiradzki Aufsehen. Dasselbe ist 5 Mtr. hoch und 7 Mtr. lang und stellt die »Lebenden Fackeln Roms« dar, hoch gebundene, mit Stoffen umwickelte Christen, an deren martervollem Feuertod sich Nero inmitten einer üp- pigen, vertierten Umgebung weidet. Es ist in der permanenten Gemäldeausstellung der Fleischmann’schen Kunsthandlung zu sehen. In Rom hat das Gemälde große Bewunderung erregt; die dortige Akademie zeichnete seinen Urheber durch Überreichung eines goldenen Lorbeerkranzes aus, und König Viktor Emanuel verlieh ihm den Orden der italienischen Krone.“9 Die lebenden Fackeln Neros wurden 1876 im Wiener Künstlerhaus in der Lothringerstraße Nr. 9 ausgestellt.10 Zwar wurden dort zahlreiche weitere Wer- ke von Siemiradzkis Zeitgenossen gezeigt, doch von seinem Bild wurden die

6 Ernst Lehmann, Bildende Kunst in der Gegenwart. Gedenkbuch an die Kunsthalle der Wiener Weltausstellung, Wien 21873, S. 152 „da lobe ich mir den Russen Semiradski. (…) der noch junge russische Maler hat in seiner »Sünderin« nicht nur eine Arbeit geliefert, welcher uns einen großen Coloristen verräth, sondern die Art und Weise, in welcher er den biblischen Stoff behandelt, ist in jeder Beziehung neu und vielleicht heutzutage die für Heiligenbilder die einzig angemessene.“ 7 Ebd. 8 Das Gemälde Die Fackeln Neros wurde als Lebende Fackeln Neros und Leuchter des Chris- tentums bezeichnet. 9 Malerei und vervielfältigende Künste, „Illustrierte Zeitung“, 23. September 1876, S. 11. 10 Wladimir Aichelburg, 150 Jahre Künstlerhaus Wien 1861– 2011, unter dem Datum 1. November 1876 bis 31. Dezember 1876 finden wir den Eintrag: „Kunst-Ausstellung im Künstlerhause. Heinrich von Siemiradzki: »Die lebenden Fackeln Neros.« Veranstalter: Genos- senschaft. Eröffnung: 1.11.1876. Großer Saal im ersten Stock. Katalog: 22 x 14 cm, 16 Sei- ten. Monumentalgemälde. Gleichzeitig mit der Permanenten Ausstellung und der Kollektion J. Holzer. jedoch im Katalog der Permanenten-Ausstellung vom 1.11.1876: Siemiradzki Hein- rich von, in Rom: Ölgemälde. Die lebenden Fackeln Neros. Ohne Kat. Nr., mit Begleittext nach Tacitus. Kolossalgemälde im grossen Saal (Permanente 1.11.1876, 16.11.1876). Kat. Nr. 1 (Permanente 1.12.1876, 15.12.1876).“ 158 Lidia Gerc 9).

ona ), –

er ochodnie N os (poln. P er eitung“, 1 Bd., 1877, S. 8 te Z ackeln N llustrier eue I uelle: „N (Q bbildung 2. Lebende F A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 159

Besuchermassen regelrecht angezogen.11 Die feierliche Eröffnung der Ausstel- lung fand am 1. November statt, Hauptanziehungspunkt war, wie in Zeitungs- annoncen verheißungsvoll angekündigt wurde, „das große Gemälde: Die le- benden Fackeln Neros.“12 Das umfassende Interesse, das dem Werk nicht nur seitens Kunstkennern zuteil wurde, spiegelte sich auch in Mitteilungen wider, die nicht immer der Wahrheit entsprachen, etwa jene in der Presse: „Siemi- radzkis Gemälde, »Neros lebende Fackeln«, das gegenwärtig im Künstlerhause

Abbildung 3. Detail aus dem Gemälde Lebende Fackeln Neros, auch Leuchter des Christentums (poln. Świeczniki chrześcijaństwa) genannt (Quelle: Lewandowski, Henryk Siemiradzki).

11 Das bedeutet jedoch nicht, dass Henryk Siemiradzki bis zu diesem Datum ein erfolglo- ser Künstler gewesen wäre. Er hatte zahlreiche Preise erhalten, u. a. auch ein Stipendium, mit dem er durch Europa reiste, mehr dazu u. a. Jerzy Miziołek, Dirke chrześcijańska i inne tema- ty all’antica w twórczości Henryka Siemiradzkiego. Uwagi i rozważania [Die christliche Dirke und antike Themen im Schaffen von Henryk Siemiradzki. Anmerkungen und Überlegungen], in: Jerzy Malinowski / Irina Gavrash / Katarzyna Maleszko (Hgg.), Henryk Siemiradzki i aka- demizm [Henryk Siemiradzki und der Akademismus], Warszawa – Toruń 2016, S. 23 – 54; Tatiana Karpowa, Henryk Siemiradzki, Sankt-Petersburg 2008. 12 Vgl. u. a. eine Reklame in der Zeitung „Die Presse“, 31. Oktober 1876, S. 8. 160 Lidia Gerc ausgestellt ist, soll, wie die »Gaz. Narodowa« mittheilt, von einem Hollaender um 150.000 Mark angekauft worden sein.“13 Die Zahl von Artikeln über Siemiradzki und Reproduktionen seiner Werke (Reproduktionen des Gemäldes Lebende Fackeln Neros waren naturgemäß am zahlreichsten) wuchs. In einem Artikel von Ennio Ranzoni in der Neuen Frei- en Presse war zu lesen: „Freilich aber ist der Sprung, den der Meister von seinem Erst- lingswerke zu den »Lebenden Fackeln« gewagt hat, ein so unge- heurer, dass man nicht glaubt, nur zwei Jahre, sondern ein ganzes Dezennium liege zwischen jenem Versuche und dieser Leistung. Allen jenen aber, welche der Meinung sind, man müsste hervorra- genden Talenten goldene Brücken bauen, will ich offen gestehen, dass ich der Ansicht bin, man könne diese gar nicht besser ehren, als indem man an ihre Werke den größten Maßstab anlege, und dies habe ich Siemiradzki gegenüber gethan. (…).“14 Die „Neue Freie Presse“ veröffentlichte auf ihrer Titelseite einen Artikel mit dem Titel Siemiradzkis Nero, in dem über qualitativ schlechtere Gemälde deutscher und französischer Künstler zu Themen aus der Zeit Neros berichtet wird. Sie verglich diese mit dem „jungen Polen Siemiradzki“, der – wie wir wei- ter lesen – „in die kosmopolitische Welt der Kunst eintrat und darin eine hohe Position erlangte.“15 Siemiradzki malte Rom – wie der Verfasser des Feuilletons feststellt – mit neuem, frischen Blick – und ließ sich von der Pracht, dieser Stadt mit ihren Bauwerken, Denkmälern, Treppen – all jenem, was das Flair dieser Stadt ausmacht – inspirieren. Was er wahrnahm und beobachtete, ließ er in seine Bildkomposition einfließen. Das Rom der Zeit von Kaiser Nero gab es jedoch nicht mehr, wie der Verfasser betont, eigenständig schuf der Künstler ein Bild dieser Zeit. Wie der Verfasser, sich auf Tacitus berufend, ausführt, hätte Nero befohlen, lebendige, menschliche Fackeln im Garten seines Hauses anzuzünden. Eben dieses Ereignis wurden, wie der Verfasser ausführt, vom Künstler dargestellt. Der Verfasser, der das Bild durchaus kritisch analysiert, stellt resümierend fest, dass die technischen Fertigkeiten seines Schöpfers seine besondere Bewunderung hervorgerufen hätten: „(…) Unbedingte Bewunderung hat uns Siemiradzki doch nur als Techniker, als Maler im engeren Sinne eingeflößt. Wer so Marmor und Gold, so ein Basrelief oder den grünen Anflug am

13 Theater und Kunst, „Die Presse“ 2. November 1876 , S. 7. 14 Ennio Ranzoni, Kunstblatt, „Neue Freie Presse“, 2. November 1876, S. 4. 15 Siemiradzkis Nero. Aus dem Künstlerhaus, „Neue Freie Presse“, 4. November 1876, S. 5. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 161

Brunnen oder den braunen Roststreifen an der Basis des golde- nen Colosses, von dem nur eine Zehe sichtbar ist, wer so Feuer und jegliche Gewandung malen kann, dem ist nichts unmöglich in coloristischer Beziehung. Willig bekennen wir auch, dass uns noch kein Nero-Bild mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung abgenötigt hat als Siemiradzkis lebende Fackeln Neros.“16 Bereits einige Tage nach diesem Artikel erschien ein weiterer Artikel, dies- mal im „Neuigkeits-Welt-Blatt“, das zu berichten wusste: „Im großen Saale des Künstlerhauses in Wien befindet sich der- malen ein wandgroßes Gemälde, dem schon von der Münchner Ausstellung her ein ungewöhnlicher Ruf vorausgegangen war. »Die lebenden Fackeln Neros«, so heißt das Bild, sind gemalt von einem jungen polnischen Künstler namens Heinrich v. Sie- miradzki und erregten ihrer grandiosen Konzeption halber allge- mein Sensation.“17 Karl von Vincenti schrieb in der „Wiener Zeitung“: „Die Bilderhalle in der Lothringerstrasse hat ihr Zugbild gefunden: Heinrich von Siemiradzkis »Lebende Fackeln Nero«, welche ganz Wien gesehen haben will.“18 Er schildert den Lebenslauf von Siemiradzki und weist darauf hin, dass er Absolvent der Petersburger Akademie wäre, wo er eine Medaille und ein Stipendium für seine weitere Ausbildung erhalten hätte. Er erinnert auch daran, dass München und Rom Stationen seines künstlerischen Entwicklungswegs gewesen wären und den Fackeln Neros weitere Werke, u. a. Die Schöne Sünderin19 und Römische Orgie (poln. Orgia rzymska) vorangegangen wären, die vom russischen Thron- folger erworben worden wären.20 Während der gesamten Ausstellungsdauer im Künstlerhaus rief das Werk Siemiradzkis großes Interesse hervor und be- herrschte unumschränkt die Wiener Ausstellung.21 Das Thema des Gemäldes von Siemiradzki war ein häufiges Thema in Artikeln, die sich mit aktuellen Ausstellungen in Wien befassten.22 Das Publikum und Kunstexperten interes- sierten sich lebhaft für Leben und Werk von Siemiradzki, was sich in der Wie- dergabe von Informationen über ihn widerspiegelte. In den Zeitungen wurde auch über weitere Werke des Künstlers berichtet, u. a. über sein neuestes Werk

16 Siemiradzkis Nero. Aus dem Künstlerhaus, „Neue Freie Presse“, 4. November 1876, S. 5. 17 Theater, Kunst, Musik, Literatur, „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 15. November 1876, S. 9. 18 Karl von Vincenti, Bildende Kunst, „Wiener Zeitung“, 21. November 1876, S. 6. 19 Gemeint ist das Gemälde Christus und die Sünderin. 20 „Wiener Zeitung“, 21. November 1876, S. 5. 21 Vgl. „Die Presse“, 24. November 1876, S. 2. 22 „Wiener Sonn- und Montags-Zeitung“, 27. November 1876. 162 Lidia Gerc

Elegie (poln. Elegia), das in der Warschauer Gesellschaft für Kunst gezeigt wur- de.23 In der „Neue[n] Illustrierte[n] Zeitung“, einer Kunstzeitschrift, wurde ein Artikel über Siemiradzki publiziert, der – nicht weiter überraschend – unter dem Titel Die Fackeln Neros erschien: Geschrieben wurde damals: „Siemiradzkis Technik ist nicht so aufdringlich virtuos wie die Matejkos, und nicht so verblasen und nicht so von genialer Flüs- sigkeit wie die Makarts. Alles in allen genommen ist die Welt berechtigt, von Siemiradzki, dem in vollster aufstrebender Ju- gendkraft stehenden Künstler, der noch nicht lange seine künstle- rischen Lehrjahre auf der Petersburger Akademie hinter sich hat, das Höchste zu erwarten.“24 Über das Gemälde Die lebenden Fackeln Neros wurde noch lange nach- dem geschrieben, als es Wien verlassen hatte.25 Eine weitere Folge der außer- ordentlichen Popularität dieses Gemäldes war die Darstellung von Ereignissen aus der Herrschaftszeit Neros durch andere Kunstgattungen wie beispielsweise Literatur. Der Grund für das plötzliche Interesse an dieser Thematik war of- fensichtlich. Noch zu Beginn des Folgejahres, anlässlich der Besprechung von Ereignissen aus der Welt der Kunst in Wien, wurde an den Erfolg und den Eindruck erinnert, den die Lebenden Fackeln Neros auf das Publikum vor Ort gemacht hätten.26 Bei der Besprechung von Ausstellungen war die Ankündi- gung von weiteren, im Entstehen begriffenen Arbeiten von Siemiradzki ein wichtiger Punkt.27 Besonderes Interesse erweckte ein Werk, das, wie betont wurde, gerade aus Philadelphia zurückgekehrt war und in der Österreichischen Gesellschaft für Kunst gezeigt werden sollte. Es trug den Titel Der Amuletten- Verkäufer (poln. Sprzedawca amuletów).28 In der Zeitung „Die Presse“ wurde geschrieben: „Der österreichische Kunstverein eröffnet morgen (Freitag) seine Februar-Ausstellung, (…) [mit] drei interessanten Gemälden von Henri Sie- miradzki, darunter die orientalische Scene: »Die Rast am Brunnen.«“29 Diese

23 „Neue Freie Presse“, 10. Dezember 1876, S. 6. 24 „Neue Illustrirte Zeitung“, 1. Jänner 1877, S. 6 – 7, Illustrationen S. 8 – 9. 25 U. a. „Neues Wiener Tagblatt“ (Tages-Ausgabe), 15. Jänner 1877, S. 11. Informiert wurde auch darüber, dass das Bild nun in Berlin gezeigt würde. 26 „Wiener Sonn- und Montags-Zeitung“, 29. Jänner 1877, S. 2. 27 Ausstellung des Österreichischen Kunstvereins, „Neue Freie Presse“, 31. Jänner 1877, S. 6. 28 „Neue Freie Presse“, 31. Jänner 1877, S. 6; Theater, Kunst und Literatur, „Neues Wie- ner Tagblatt“ (Tages-Ausgabe), 31. Jänner 1877, S. 4 – 5; „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 2. Februar 1877, S. 5; „Auch Siemiradzki in Rom, der Maler der »Lebenden Fackeln Neros«, hat dem Kunstvereine drei Gemälde eingesendet und überdies sein großes Bild: »Der Amuletten-Ver- käufer«, welches eben aus Philadelphia zurückgekommen, zur Ausstellung angemeldet“. 29 „Die Presse“, 9. Februar 1877, S. 11. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 163

Abbildung 4. Der Amuletten-Verkäufer (poln. Sprzedawca amuletów), (Quelle: Lewandowski, Henryk Siemiradzki). 164 Lidia Gerc

Abbildung 5. Vor dem Bade (poln. Przed kąpielą) (Nationalmuseum Warschau). „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 165 riefen nicht mehr so große Begeisterung hervor wie Die Fackeln Neros. In der Zeitung „Neue Freie Presse“ wurde über Siemiradzkis Talent geschrieben, je- doch wurde ihm auch so mancher Fehler vorgehalten: „In der »Rast am Brun- nen« ist der Effect des grellen Sonnenlichtes mit verkehrten Mitteln zu erzielen versucht, die ganz hübschen Studienköpfe kommen nicht voll zur Wirkung, weil ihnen der Maler eine bunte Tapete als Hintergrund gegeben hat; ein sol- ches Kunststück versucht man nicht ungestraft.“30 In einer wenige Tage zuvor in einer in der Zeitung „Die Presse“ erschiene- nen Notiz wurde sogar eine gewisse Enttäuschung nicht verborgen: „Drei Bil- der von Siemiradzki, darunter zwei weibliche Studienköpfe auf dem blumigem Hintergrund, stellen sich nach den lebenden Fackeln Neros wie schwacher Wein auf starker ein.“31 Ganz anders hingegen wurde in der „Morgen-Post“ geschrieben: „Von Heinrich Siemiradzki in Rom finden sich zwei weibliche Studienköpfe, Pendants, sowie ein Genrebild, »Die Rast am Brunnen«, welche die Aufmerksamkeit umfassend mehr auf sich lenken, als der Name dieses Künstlers durch dessen Gemälde »Die Fackeln Neros« noch in allgemeinster Erinnerung ist. Die emi- nente Gestaltungskraft Siemiradzkis tritt natürlich in den klei- nen Dimensionen dieser Bildchen keineswegs zu Tage, höchstens frappiert die eigentümliche Tapete, von welcher die Studienköpfe sich abheben und bei dem Genrebild der feurige, südliche Ton.“32 In ähnlichem Tonfall gehalten ist eine Rezension über die Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Kunst von Karl Vincenti in der „Wiener Zeitung.“33 Die Zeitung „Die Presse“ bezeichnet die bereits erwähnte Ausstel- lung als wertvolle Sammlung berühmter Maler34 und reiht die Arbeiten von Siemiradzki an erster Stelle.35 Ähnlich schreibt auch die „Morgen-Post“ auf ihrer Titelseite über das Bild Der Amulettenverkäufer, das als würdiger Nach- folger des Gemäldes Lebende Fackeln Neros betrachtet wird.36 Noch unter dem

30 Kunstblatt. Oesterreichischer Kunstverein, „Die Presse“, 11. Februar 1877, S. 13 –14. 31 „Die Presse“, 11. Februar 1877, S. 13 –14. 32 Kunstverein, „Morgen-Post“, 21. Februar 1877, S. 3. 33 Karl Vincenti, Schöne Kunste, „Wiener Zeitung“, 27. Februar 1877, S. 23. 34 „Die Presse“, 14. April 1877, S. 8. 35 „Die Presse“, 14. April 1877, S. 8, ähnlich wird im Beitrag Cafehaus Plauderei, erschienen in der „Wiener Sonn- und Montags-Zeitung“, 15. April 1877, S. 2 berichtet; in den Werbe­ anzeigen der Zeitungen für diese Ausstellung wird Siemiradzkis Gemälde Der Amulettenverkäu- fer besonders erwähnt, vgl. „Neues Wiener Tagblatt“ (Tages-Ausgabe), 15. Mai 1877, S. 16. 36 Friedrich Bernett, Die todte Saison, „Morgen-Post“, 28. Juli 1877, ohne Titel: „Darauf aber scheint für’s Erste noch nicht zu hoffen und so treten wir mit einem leisen Seufzer vor 166 Lidia Gerc

Eindruck des aus Philadelphia eingetroffenen und in Wien vorgestellten Ge- mäldes Der Amulettenverkäufer auf der Titelseite des „Neuen Wiener Tagblatts“ erschien ein umfangreicher Artikel von Viktor Karl Schembera, in dem sich dieser u. a. auf die plötzliche Popularität bezieht, die Siemiradzki, wie der Ver- fasser schreibt, „von einem Tag auf den anderen“ aufgrund seines Gemäldes Die Fackeln Neros erlangt hätte: „Der Maler der »Lebenden Fackeln des Nero« ist zur Stunde ein berühmter Mann. Man kennt ihn auch dort, wo sein Bild auf dem Rundgange durch Europa noch nicht ausgestellt war, sein Ruf verbreitete sich von Wien und Berlin aus nach allen Seiten, der Eindruck seines Werkes war hier wie dort ein großer und die verständige Kunstkritik sprach ohne krittelndes Mäkeln ihr volles Lob aus. Auch in Russland brachte das Bild gewaltiges Aufsehen und die Herren Russen beeilten sich, den polnischen Maler, sowie ihm die deutsche Öffentlichkeit das Patent eines großen Künstlers ausgestellt hatte, für sich zu reklamieren und angelten nach ihm mit dem Angebote einer Professur an der Pe- tersburger Akademie.“37 Schembera weist auch neuerlich darauf hin, dass der junge Maler erst vor Kurzem dank eines ihm zuerkannten Stipendiums eine Europareise unternom- men hätte und als „genialer Künstler nun der Zukunft sorgenlos entgegenblicken kann, der Verkauf des Nero-Bildes sichert ihm die Existenz auf Jahre hinaus und einen guten Nachschub leisten der eben perfekt gewordene Verkauf eines zweiten Bildes seiner Hand, eben des Bildes, das seit einigen Tagen im Kunstvereine unter der Tuchlau- ben ausgestellt ist.“38 Schembera erinnert auch an ein früher entstandenes Gemälde Siemiradz- kis, das 1873 anlässlich der Weltausstellung in Wien gezeigt wurde, das Werk Die Sünderin, das äußerst gelungen wäre. Die folgenden Zeilen spiegeln die Bewunderung für die Begabung Siemiradzkis in der Wiedergabe von Gegen- ständen, Architektur, Marmor und Kleidung wider:

Siemiradzkis »Amulettenverkäufer«, ein großes Gemälde, das sich auf den ersten Blick als die Arbeit eines bedeutenden Talentes offenbart (…) das Bild ist der beachtenswerte Vorläufer der »Fackeln Neros«, die im Künstlerhause ausgestellt worden sind.“ 37 Viktor Karl Schembera, Neues von Siemiradzki, „Neues Wiener Tagblatt“ (Tages-Ausga- be), 18. Mai 1877, Siemiradzki hätte dieses Angebot jedoch abgelehnt. 38 Ebd. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 167

„Jedes Stück des Bildes für sich ist eine gute Gelegenheit für den Maler, seine Kunst und seine Bravour anzubringen. Es sei gleich vorwegs bemerkt, daß diese Kunst und diese Bravour noch nicht so herausgearbeitet sind, wie sie sich an den Details des Nero- Bildes geäußert haben; so ausgezeichnet der Marmor, der Stufen namentlich, gemalt ist, so erreicht er doch nicht die frappante Naturwahrheit der Treppenwangen auf dem Nero-Bilde.“39 begeistert sich Schembera weiter. Er vergleicht Siemiradzki mit Alma Tade- ma40, weist jedoch auf die Überlegenheit von zweiterem hin. In der zweiten Hälfte des Jahres 1878 rief das Gemälde Der Schwerter- tanz (poln. Taniec wśród mieczów) die Aufmerksamkeit der Medien hervor. So schrieb die „Deutsche Musik-Zeitung“ darüber und verglich es mit den Ge- mälden Matejkos. Beiden Gemälden wurde die zu große Anhäufung von Fi- guren vorgehalten. Die Darstellung des Körpers einer nackten Tänzerin wurde hingegen gelobt, wenngleich auch hier Fehler festgehalten wurden, so wurden die zu hagere Gestalt der Tänzerin und ihre zu kurz geratenen Hände kritisiert. Dennoch wird festgestellt, dass die Darstellung des menschlichen Körpers, wie Siemiradzki dies vermag, großes Talent verrät. Bemerkt wurde auch die schöne Komposition und die gut wiedergegebene Gruppe von Nachtschwärmern, die die Tänzerin beobachten, und die hervorragende Darstellung der Landschaft.41 Dieses Bild wurde von Simiradzki [!] dem Grafen Orlowski für einen Betrag von 20.000 Franken verkauft.42 Informiert wurde auch über die Vorbereitun- gen für die internationale Ausstellung in München, zu der Siemiradzki aus Rom zwei seiner Arbeiten schicken sollte.43 Die Vorbereitungen für die Ausstellungen und die Teilnahme Siemiradzkis an dieser Ausstellung wurden von einem besonderen Ereignis in den Schat- ten gestellt, das fünfzigjährige Schaffensjubiläum des polnischen Dichters

39 Schembera, Neues von Siemiradzki. 40 Lawrence Alma-Tadema (eigentlich Lourens Tadema 1836 –1912), holländischer Maler, der in England lebte und arbeitete, er wurde als der herausragendste Vertreter der viktoria- nischen Malerei betrachtet, am häufigsten malte er mit der Antike verbundene Szenen, er erlangte großen Erfolg und erfreute sich großer Popularität, mehr über ihn u. a. in Rosmary J. Barrow, Lawrence Alma-Tadema, London 2003. 41 Joseph Prosl, Die Weihnachtsausstellung im Kunstverein, „Deutsche Kunst & Musik-Zei- tung. Central-Organ für Musik Theater, Bildende Künste & Literatur“, 24. November 1879, S. 193. 42 Theater, Kunst und Musik. Polnische Malerei, in: „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 15. Februar 1879, S. 7. 43 Schöne Künste. Vorbereitungen für eine internationale Ausstellung, in: „Neue Illustrierte Zeitung“, 6. Juni 1879, S. 14; vermerkt wurde auch, dass das Bild zum Zeitpunkt des Erschei- nens des Artikels in Paris gezeigt wurde. 168 Lidia Gerc w ), ó ód miecz adzki ). iemir aniec wśr yk S enr tanz (poln. T wski, H ter er wando er Schw uelle: Le (Q bbildung 6. D A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 169

Kraszewski.44 Zu dieser Feierlichkeit in Krakau wurde Siemiradzki als Ehren- gast eingeladen. In seiner Festansprache gab er eine großzügige Schenkung bekannt. „Ich möchte mich mit einer kleinen Geste bedanken. Da der Bürgermeister der Stadt so liebenswürdig war, mir eine Wand in den Tuchhallen zu überlassen, möchte ich sie nutzen, um mein Gemälde »Die lebenden Fackeln Neros« daran anzubringen. Ich möchte dieses Gemälde dem Land schenken, damit es in den Tuchhallen seinen Bestimmungsort findet!“45 Nicht nur die Feierlichkeiten selbst, die nota bene mit großem Gepränge begangen wurden, sondern auch die großzügige Schenkung Siemiradzkis be- wegte die Menschen. Die Schenkung lag in der Folge der Idee der Gründung eines Nationalmuseums in den Tuchhallen zugrunde und rief eine Welle der Verehrung für Siemiradzki hervor. Ihm zu Ehren wurde ein besonderer Fackel- zug organisiert, der von seiner Wohnung in ein Krakauer Hotel führte. Wäh- rend des Fackelzugs sang ein Ensemble aus Wieliczka polnische Lieder, Tausen- de Menschen nahmen an diesem Ereignis teil. Als sich Siemiradzki am Balkon zeigte, wurde er mit Ovationen begrüßt und mit Danksagungen überhäuft, wie das „Neuigkeits-Welt-Blatt“ berichtete. Geschrieben wurde auch, dass sein Geschenk weitere polnische Künstler dazu anregen würde, ihre Gemälde dem künftigen Museum in den Tuchhallen zu schenken.46 Siemiradzki, der nach diesem Ereignis gemeinsam mit Kraszewski nach Wien gekommen war, wurde mit einer außergewöhnlichen Einladung geehrt. „Die Presse“ schrieb: „Der polnische Dichter J. I. Kraszewski und der hier wei- lende Maler Siemiradzki werden morgen gemeinschaftlich um 10 Uhr vormit- tags von Sr. Majestät dem Kaiser in Audienz empfangen werden.“47 Dies war damals eine außergewöhnliche Auszeichnung.

44 Der polnische Dichter Józef Ignacy Kraszewski (1812 –1887) feierte 1879 sein fünfzig- jähriges Schaffensjubiläum. Feierlichkeiten fanden in zahlreichen Städten des heutigen Eu- ropas statt, u. a. in Dresden, Wien und Berlin, die größten Feierlichkeiten fanden jedoch in Krakau statt, worüber die Presse ausführlich berichtete, vgl. u. a. „Die Presse“, 4. Oktober 1879, S. 4; „Neue Freie Presse“, 6. Oktober 1879, S. 7. 45 Księga pamiątkowa Jubileuszu J. I. Kraszewskiego 1879 roku [Festschrift anlässlich des Ju- biläums von J. I. Kraszewski im Jahr 1879], Kraków 1881, S. 75. Das Originalzitat wurde aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt. 46 Gründung eines National-Museums, „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 9. Oktober 1879, S. 3. 47 Kleine Chronik, Wien, 12. Oktober, „Die Presse“, 13. Oktober 1879. 170 Lidia Gerc

Der Polenklub in Wien48 organisierte ein feierliches Bankett zu Ehren von Kraszewski und Siemiradzki.49 Eine weitere Zeitung berichtete, dass sich der Maler einen Tag nach der Audienz nach Dresden und von dort nach Lemberg begeben hätte, wo ein eigenes Komitee mit Bürgermeister Jasiński50 an der Spitze auf ihn gewartet hätte.51 Lemberg wollte nicht hinter Krakau zurückste- hen und organisierte ein großes Fest, unter anderem auch einen Fackelumzug, wie die Zeitungen berichteten.52 Wie in den Zeitungen häufig betont wurde, hätte Siemiradzki mit seiner großzügigen Geste den Grundstein für die Er- richtung eines Nationalmuseums gelegt.53 Die Umzüge wurden in der „Neuen Freien Presse“ und im „Welt-Blatt“ genau beschrieben.54 Auch in der Folge wurde weiterhin über Siemiradzki berichtet. In Dres- den kam es zu einem Skandal, da eine Reproduktion seines Gemäldes Das Weib oder die Vase (poln. Wazon czy kobieta) beziehungsweise ein Detail da- von, nämlich die schöne Gestalt einer nackten Sklavin, in einem Schaufens- ter gezeigt wurde. Diese Angelegenheit geriet jedoch schnell in Vergessenheit und noch im selben Jahr [1879] wurde berichtet, dass Kaiser Wilhelm I. nach der Berliner Kunstausstellung Siemiradzki mit der Goldenen Künstlermedaille ausgezeichnet hätte.55 Mit diesem Ereignis war das schaffensreiche Arbeitsjahr

48 Der Polenklub war die Vertretung polnischen Abgeordneter im österreichischen Parla- ment. Die Polen des Klubs hatten hohe Positionen inne, bis hin zur Position von Minister- präsidenten und Minister, vgl. u. a. Władysław S. Kucharski (Hg.), Polacy w austriackim par- lamencie. W 130. rocznicę Koła Polskiego [Polen im österreichischen Parlament. 130. Jubiläum des Polenklubs], Lublin 1997. 49 Kleine Chronik, „Neue Freie Presse“, 14. Oktober 1879, S. 11; „Das Vaterland“, 15. Ok­ tober 1879, S. 3. 50 Aleksander Florenty Jasiński (1823 –1897), Stadtpräsident von Lemberg von 1873 bis 1880, u. a. [Nekrolog] Aleksander Jasiński, „Kurier Lwowski“, 22. Februar 1897, S. 2. 51 Kleine Chronik, Wien, 12. Oktober, „Neue Freie Presse“, 13. Oktober 1879; „Neuigkeits- Welt-Blatt“, 15. Oktober 1879, S. 4. 52 Lemberg (Lwów), „Die Presse“, 14. Oktober 1879, S. 4; Nationalmuseum, „Die Presse“, 14. Oktober 1879, S. 9; „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 15. Oktober 1879, S. 4; „Neue Freie Presse“, 21. Oktober 1879, S. 5; „Das Vaterland“, 21. Oktober 1879, S. 3; „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 22. Oktober 1879, S. 4. 53 Vgl. u. a. das „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 15. Oktober 1879, S. 4; „Neue Freie Presse“, 23. Oktober 1879, S. 3. 54 Vgl. ebd. 55 Kleine Chronik, Wien 6. November, „Neue Freie Presse“, 7. November 1879, S. 4; „Ös- terreichische Kunst-Chronik“, 15. November 1879, S. 48, unter den Ausgezeichneten finden sich: I. Große Goldmedaille: 1. Der Tier- und Landschaftsmaler Christian Kroner aus Düssel- dorf, 2. der Genremaler L. Bokelmann aus Düsseldorf, II. Kleine Goldmedaille 1. der Maler Otto Kirberg aus Düsseldorf, 2. Der Maler Prof. Leon Pohle aus Dresden, 4. der Historienma- ler Henryk Siemiradzki aus Rom 5. der Landschaftsmaler aus Berlin, 6. der Maler Prof. Paul Thumann aus Berlin und 7. der Bildhauer Prof. Carl Kundmann aus Wien. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 171 obieta czy waza? ) ase (poln. K V atbesitz). riv (P eib oder die W as bbildung 7. D A 172 Lidia Gerc

1879 für Siemiradzki noch nicht zu Ende. Sein Bild Der Schwertertanz wurde im Rahmen einer Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Kunst ge- zeigt56 und rief großes Interesse hervor, wie die Organisatoren freudig in den entsprechenden Anzeigen in den Zeitungen vermerkten.57 Der Verfasser eines Artikels in der Zeitung „Neue Freie Presse“ widmete dem Gemälde viel Aufmerksamkeit und schrieb, dass „(…) die diesmonatliche Ausstellung überhaupt reich an Bil- dern ist, welche bereits anderswo Aufsehen erregt haben und hier gleichfalls wohlverdienter Teilnahme begegnen. Da lockt vor allem Siemiradzkis »Der Schwertertanz«, ein Gemälde, das, wo immer es bisher erschien, im Norden wie im Süden enthusias- tisch begrüßt wurde und auch in der That einen erheblichen Fort- schritt, verglichen mit den »Fackeln des Nero«, bedeutet. Es ist sowohl in geistiger als in coloristischer Stimmung ganz aus dem Hellen gearbeitet; das Leben erscheint da als ein sonniger Festtag, den die Einen damit zubringen, dass sie in göttlicher Nacktheit tanzen oder rosenbekränzt musizieren, die Anderen aber, dass sie behaglich zusehen und zuhören, Schönheit der Form und die Töne schlürfend, mit Aug’ und Ohr genießend.“58 Ebenso enthusiastisch schrieb „Die Presse“, dass das für das Auge des Betrachters angenehm anzusehende Werk die antike Welt der Unterhaltung zeigt.59 Das in dieser Ausstellung gezeigte Gemälde Siemiradzkis zog die Be- suchermassen an, was zur Folge hatte, dass Siemiradzki der Ausstellung ein weiteres Gemälde, Der schiffbrüchige Bettler (poln. Żebrzący rozbitek), zur Ver- fügung stellte.60 In einem weiteren Artikel über diese Ausstellung stellt dessen Autor fest, dass nur das Gemälde Der Schwertertanz die Aufmerksamkeit des Betrachters verdie- nen würde. Dabei analysiert er vor allem die Gestalt der nackten Tänzerin.61 Das bereits erwähnte und etwas später in einer Ausstellung gezeigte Gemäl- de Der schiffbrüchige Bettler rief auch die Aufmerksamkeit der Kritiker hervor. In der „Neue[n] Freie[n] Presse“ wurde der Realismus der Darstellung festge-

56 Österreichischer Kunstverein, „Die Presse“, 6. Dezember 1879, S. 11. 57 Vgl. u. a. die Bewerbung in „Neue Freie Presse“, 11. Dezember 1879, S. 11 und spätere Nummern. 58 Kunstblatt. Malerei, „Neue Freie Presse“, 12. Dezember 1879. 59 Feuilleton. Aus Schönbrunnerhause, „Die Presse“, 13. Dezember 1879. 60 „Die Presse“, 13. Dezember 1879, S. 11; „Das Vaterland“, 13. Dezember 1879, S. 5; „Wiener Zeitung“, 13. Dezember 1879, S. 4; „Neue Illustrierte Zeitung“, 21. Dezember 1879, S. 15. 61 Wiener Spaziergänge, „Neue Freie Presse“, 14. Dezember 1879, S. 6. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 173 halten, wobei ihm gleichzeitig das Fehlen an Tiefe im Vergleich zu den Werken von Tizian, Leonardo da Vinci und Veronese vorgeworfen wurde.62

Abbildung 8. Der schiffbrüchige Bettler(poln. Żebrzący rozbitek), (Quelle: Lewandowski, Henryk Siemiradzki).

Der österreichische Kunstkritiker und Journalist Carl Erasmus Kleinert63 widmete in der „Illustrierte[n] Sport-Zeitung64 „dem jungen polnischen Künst- ler Henryk Siemiradzki“65 viel Aufmerksamkeit, der – wie er unterstrich – nach dem großen Welterfolg von Die Fackeln Neros mit seinen neuesten Werken noch größere Aufmerksamkeit verdienen würde. Kleinert bezog sich auf die in der Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Kunst gezeigten Werke,

62 Allein der Vergleich mit diesen Künstlern zeigt, wie sehr die Gemälde Siemiradzkis zu dieser Zeit geschätzt wurden, Kunstnotizen, „Neue Freie Presse“, 13. Jänner 1880, S. 20. 63 Carl Erasmus Kleinert (1857 –1933) war Schriftsteller, Journalist sowie Kunsthistoriker, vgl. u. a. Franz Planer (Hg.), vgl. Das Jahrbuch der Wiener Gesellschaft. Biographische Beiträ- ge zur Wiener Zeitgeschichte 1929; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 –1950; Maria Stona (Hg.), Ein Alt-Oesterreicher. Karl Erasmus Kleinert: sein Leben und Werke, Troppau 1933. 64 Carl Erasmus Kleinert, Wiener Kunstbriefe, „Illustrierte Sport-Zeitung“, 25. Jänner 1880, S. 10. 65 Ebd. 174 Lidia Gerc insbesondere auf Der Schwertertanz und Der schiffbrüchige Bettler. Das Gemäl- de Der Schwertertanz erachtete der Kritiker als die beste Arbeit, die der Künst- ler bisher geschaffen hätte.66 „Freuen wir uns daher rückhaltlos an dem anmuthig-schönen »Schwerttanz« und wünschen wir nur, dass der Künstler in Zu- kunft Gegenstände in seinen Werken zur Darstellung bringe, wel- che sich diesem Gemälde würdig anschließen. Die sonnig-heitere Landschaft, mit dem blauen Meer und dem frisch-grünen Laub- dache, unter welchem die der Schönheit Trunkenen, glücklichen Zecher sitzen, die sich an dieser tanzenden Sklavin wunderbaren Körpers, der in leichten Bewegungen, zwischen den längs eines Teppichs in den Boden gesteckten Schwertern, sich bewegt, er- götzen (…). Brauche ich noch zu sagen, dass das Bild mit allen Mitteln vollendetster Technik gemalt, in seine Einzelheiten virtu- os behandelt, studiert und empfunden ist?“67 Es ist erwähnenswert, dass diese Gemälde neben Werken von zahlreichen Zeitgenossen Siemiradzkis gezeigt wurden, u. a. Gemälde von Carl Piloty, Mo- ritz von Schwind68 und Jan Matejko. Trotz dieser großen Konkurrenz riefen sie allgemeines Interesse hervor und stellten die anderen Bilder in den Schatten. Im darauffolgenden Jahr, 1880, wurde über weitere Werke des Künstlers berichtet. „Das Vaterland“ informierte über ein Porträt, das Graf Ludwik Wo- dzicki in Auftrag gegeben hatte69, weswegen er sich eigens nach Rom begeben hatte. Die Zeitung „Die Presse“ wiederum berichtete über Arbeiten am Gemäl- de Orgie zu Zeiten des Tiberius (poln. Za Tyberiusza na Capri).70 Besondere Aufmerksamkeit rief auch das Bild Er und Sie (poln. On i ona) hervor, das in einer Ausstellung in Miethkes permanenter Kunstausstellung, Neuer Markt 13, gezeigt wurde. In der Zeitung „Neue Freie Presse“ wurde die- ses Werk ausführlich besprochen, wobei u. a. „reizvolles Colorit und virtuose

66 Carl Erasmus Kleinert, Wiener Kunstbriefe, „Illustrierte Sport-Zeitung“, 25. Jänner 1880, S. 10. 67 Ebd. 68 Moritz von Schwind (1804 –1871), österreichischer Maler und Grafiker, vgl. u.a Micha- el Dirrigl, Moritz von Schwind. Maler in München, Nürnberg 2001. 69 Ludwik Wodzicki (1834 –1894) studierte Recht und Wirtschaft in Wien, anschließend in England, Aufständischer im Jänneraufstand, konservativer galizischer Politiker, Abgeordne- ter des Landessejms in Galizien, 1877 wurde er Mitglied des Herrenhauses. Vgl. Wodzicki Lu- dwik, in: S. Orgelbranda Encyklopedja powszechna z ilustracjami i mapami, t. 15: Od litery U do Yvon [Allgemeine Enzyklopädie mit Illustrationen und Karten, Bd. 15, von U bis Yvon], War- szawa 1903, s. 452. 70 Theater- und Kunstnachrichten, „Die Presse“, 18. März 1880, S. 14. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 175 apri ), yberiusza na C adzki ). T a iemir yk S enr iberius (poln. Z T wski, H wando eiten des uelle: Le rgie zu Z (Q bbildung 9. O A 176 Lidia Gerc

Behandlung“71 gelobt wurden. In der „Illustrierte[n] Sport-Zeitung“ widmete Carl Erasmus Kleinert diesem Bild einen ganzen Artikel.72 Er begeisterte sich für das Motiv der Liebenden und wie dieses vom „polnischen Maler Henryk Siemiradzki“73 dargestellt wurde: „(…) »Er und Sie« ist die Bezeichnung des neuesten Bildes des polnischen Malers Henryk Siemiradzki, das in Miethkes Salon vor Kurzem zur Ausstellung gelangte. Ein hübsches Bild wie die Geschichte, die es darstellt. Zwei Liebende, eben »Er und Sie«, am Rande eines Brunnens sitzend, umspielt von hellem Sonnen- gold und lieblichem Quellgerinsel. Im Hintergrunde das Meer und die Berge. In einer glücklicheren Erdenzone. ‚Er‘ hält ‚Sie‘ umfasst und blickt nur auf ‚Sie‘, während ‚Sie‘, mit einem Lor- beerzweige spielend, sinnend vor sich hinblickt. »Er und Sie«, man kennt die Geschichte! – Das Bild ist in hellen, freudigen Farben, dem stimmungsfrohen Tone gehalten, der uns an dessel- ben Künstlers »Schwerttanze« so angenehm berührte; auch hier herrliche Lichteffekte, das Spiel der Sonne in den Blättern der Bäume und Sträucher. Es weht eine warme, aber erquickende Luft hier, keine schwüle, beklemmende Atmosphäre umgibt uns. Ein ausgezeichnetes Genrebild, das sich den früheren Leistungen des Malers würdig anreiht.“74 In einem weiteren Artikel, in dem Kleinert seine Eindrücke von einer wei- teren Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Kunst im Jänner 1880 beschreibt75, erkannte er Ähnlichkeiten zwischen dem Gemälde Der Schwerter- tanz von Siemiradzki und dem Gemälde Spanische Tänzerin von Adrien Mo- reau.76 Bereits Anfang April 1880 berichtete „Die Presse“ über Siemiradzkis großes, soeben fertiggestelltes Gemälde Piratenhöhle (poln. Jaskinia piratów)77. Alle diese Informationen über das Schaffen Siemiradzkis wurden von den Folgeereignissen in den Schatten gestellt. Held und Protagonist dieser Ereig- nisse war Kaiser Franz Joseph beziehungsweise dessen Besuch in Galizien. Die Hauptfeierlichkeiten fanden in den Tuchhallen in Krakau statt. Für die Stadt

71 Bildende Kunst. In Miethkes permanenter Kunstausstellung, „Neue Freie Presse“, 24. März 1880, S. 6; „Neue Illustrirte Zeitung“, 4. April 1880, S. 14. 72 Carl Erasmus Kleinert, Wiener Kunstbriefe, „Illustrierte Sport-Zeitung“, 11. April 1880, S. 235 – 238. 73 Ebd, S. 238. 74 Ebd. 75 Kleinert, Wiener Kunstbriefe, [„Illustrierte Sport-Zeitung“, 25. Jänner 1880], S. 11. 76 Adrien Moreau (1843 –1906), französischer Maler, Bildhauer und Illustrator. Gérald Schurr, Les Petits maîtres de la peinture, valeur de demain, 1820 –1920, Bd. 3, Paris 1985, S. 73. 77 Theater und Kunstnachrichten, „Die Presse“, 6. April 1880, S. 11. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 177 w ), zykładem bogó a pr ötter (poln. Z eispiel der G unstgalerie Lemberg). (K ach dem B bbildung 10. N A 178 Lidia Gerc w ), ató askinia pir kiw). atenhöhle (poln. J ir unstmuseum Char (K bbildung 11. P A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 179 war das ein wichtiges Ereignis, an dem die gesamte polnische Elite teilnahm. Die Wiener Zeitungen nannten unter den Familien, die den Kaiser willkom- men hießen, die Familien Czartoryski, Potocki, Wodzicki, polnische Gelehrte sowie die Maler Jan Matejko und Henryk Siemiradzki78: „Es ist bekannt, dass die Sukiennice vor kaum einem Jahre gele- gentlich der Kraszewski-Feier eröffnet wurden, dass dem Beispiele des berühmten Malers Heinrich Siemiradzki, der für das neures- taurirte Gebäude sein Bild »Nero’s Leuchtfackeln« schenkte, die anderen polnischen Künstler folgten, und dass auf diese Weise die Stadt Krakau ohne jegliche Kosten in den Besitz einer schönen Bildergalerie gelangte, die sich in den Tuchlauben befindet und die auch Se. Majestät mit Interesse besichtigte.“79 Anlässlich einer weiteren Reise – diesmal führte sie den Kaiser nach Lem- berg – besuchte er Pressemeldungen zufolge das Rathaus, in dessen großen Saal er Gemälde von Jan Matejko, Henryk Rodakowski und Henryk Siemiradzki sowie Porträts von Leo Sapieha80, Alfred Potocki81, Włodzimierz Dzieduszyc- ki82, Ludwik Wodzicki und weiteren Künstlern bewunderte.83 Im Jänner berichteten die Zeitungen über die Aufnahme Siemiradzkis in die Accademia di San Lucca in Rom.84 Sie berichteten auch über die Repro- duktion des Gemäldes Er und Sie, das fast ebenso populär wie Die lebenden Fackeln Neros sowie Der Schwertertanz geworden war. Das Gemälde Die le- benden Fackeln Neros wurde u. a. im Heft „Hellas und Rom“ gedruckt, in dem neben klassischen Meisterwerken „Gemälde moderner Meister in vorzüglichen Holzschnitten nachgebildet“ gezeigt wurden sowie auch eine Lithographie des „vielbesprochenen Bildes »Die Fackeln Neros«.“85

78 „Wiener Zeitung“, 3. September 1880, S. 5. 79 Reise Sr. Majestät des Kaisers, „Wiener Zeitung“, 10. September 1880, Nr. 209, S. 11. 80 (1803 –1878), Fürst, Marschall des galizischen Sejms, sein Porträt mal- te 1878 Henryk Rodakowski. Stefan Kieniewicz, Leon Sapieha, in: Polski Słownik Biograficz- ny [Polnisches Biographisches Lexikon; im Folgenden: PSB], Bd. 35/1, Warszawa – Kraków 1994, S. 81. 81 Alfred Józef Potocki (1822 –1889), Minister und österreichischer Ministerpräsident, Landesmarschall, Statthalter von Galizien – Porträt von Jan Matejko aus dem Jahr 1879. 82 Włodzimierz Dzieduszycki (1825 –1899), polnischer Naturforscher, Wissenschaftsmä- zen, Folkorist sowie Politiker – Porträt von Henryk Rodakowski aus dem Jahr 1880, Marian Tyrowicz, Dzieduszycki Włodzimierz, in: PSB, Bd. 6, Kraków 1947, S. 123. 83 Kaisers Reise, Lemberg, 13. September, „Neue Freie Presse“, 14. September 1880, S. 7. 84 Außer Siemiradzki wurden auch Cesare Maccasi und Gustav Müller nominiert, Aus der Kunstwelt, „Österreichische Kunst-Chronik“, 11. November 1880, S. 7. 85 Hellas und Rom: eine Culturgeschichte des classischen Alterthums, von Jakob von Falke, Stuttgart 1880. Kleine Mittheilungen, „Wiener Zeitung“, 4. Dezember 1880, S. 5. 180 Lidia Gerc

Im darauffolgenden Jahr 1881 wurden Informationen über ein weiteres Werk, Siemiradzkis Jagd nach einem Schmetterling (poln. Gonitwa za motylem), publiziert, wobei insbesondere dessen Farbgebung gelobt wurde.86 Diese Arbeit geriet jedoch bald in Vergessenheit, zumal neuerlich über die Fackeln Neros berichtet wurde. „Das von Siemiradzki dem dortigen Nationalmuseum geschenkte Gemälde »Die lebende Fackeln Neros« ist in einem so beklagens- werthen Zustande angekommen, dass es restauriert werden muss. Die Restaurationsarbeit soll über Anraten Siemiradzkis dem War- schauer Maler Kolasiński87 übertragen werden und der Gemein- derath von Krakau hat für diesen Zweck bereits einen außeror- dentlichen Credit angewiesen.“88 Das ungebrochen weiterbestehende Interesse an den neuesten Gemälden Siemiradzkis zeigt auch ein weiteres Feuilleton der „Morgen-Post“, in dem un- ter Berufung auf Berichten aus Rom darüber informiert wurde, dass Siemiradz- ki an zwei Werken gleichzeitig arbeiten würde. Eines davon war ein Gemälde, das kurz vor der Fertigstellung stünde und Christus, das Meer beruhigend, darstellte. Bestimmt war es für die evangelische Kirche in Krakau. Betont wur- de die besondere Komposition des Werks und die außergewöhnliche Darstel- lung des Antlitzes Jesu. Das zweite Gemälde trug den Titel Der farnesische Stier (poln. Dirce chrześcijańska). Die Bilder wurden folgendermaßen beschrieben: „Der berühmte Maler Siemiradzki arbeitet derzeit an zwei be- deutenden Gemälden. Das eine derselben, für die evangelische Kirche in Krakau bestimmt, stellt Christus am Meere, den Sturm beschwörend, dar und ist fast vollendet (…) Weit ungewöhnli- cher, dem Stoffe wie der Anlage nach, ist eine vorerst nur in einer Farbenskizze vorhandene Composition »Der farnesische Stier«. Nero hat – so nimmt der Künstler an – diese berühmte plastische Gruppe als »lebendes Bild« im Circus stellen lassen; den Stier ha- ben Gladiatoren bereits erlegt, das an seine Hörner gebundene schöne Christenmädchen hat den Märtyrertod bereits erduldet. Der Kaiser ist in den Circus hinabgeschritten und betrachtet mit dem Entzücken eines echten Kunstenthusiasten das »lebende« Bild, welches die Abendsonne in ein goldenes Licht taucht. Ken- ner versichern, dass dieses neueste Werk Siemiradzkis eines der in-

86 Kunstblatt. Österreichischer Kunstverein, „Neue Freie Presse“, 23. April 1881, S. 20. 87 Wojciech Kolasiński (1852 –1916), Maler und Gemälderestaurator, vgl. Róża Jodłow- ska, Wojciech Kolasiński, in: PSB, Bd. 13/1– 4, Wrocław 1967 –1968, S. 295. 88 Theater, Kunst und Literatur, „Morgen-Post“, 19. September 1881, S. 4. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 181 zymskiej ), uiny willi r illa (poln. R V ömischen ationalmuseum in Krakau). (N uinen einer r bbildung 12. R A 182 Lidia Gerc eścijańska ), z ce chr arschau). W tier (poln. Dir nesische S ationalmuseum er far (N bbildung 13. D A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 183

teressantesten Bilder der Neuzeit sein werde, falls die Ausführung nicht hinter der Skizze zurückbleibt.“89 Bei der Eröffnung einer weiteren Ausstellung der Österreichischen Gesell- schaft für Kunst am 23. Mai 1882 stieß ein weiteres Gemälde, Siemiradzkis Die Piratenhöhle, auf großes Interesse. Neuerlich wurde dieses Gemälde zu ei- nem Publikumsmagneten.90 Im Kulturteil der „Neue[n] Freie[n] Presse“ war ihm ein ausführlicher Artikel gewidmet. „Das Hauptbild der diesmaligen Ausstellung im Schönbrunner- hause ist H. Siemiradzkis großes Gemälde »Die Piratenhöhle«. Der Künstler hat sich den Entwurf aus classischer Zeit geholt. Die cilcichen oder vielmehr isaurischen Seeräuber, welche bekannt- lich den Römern so viel zu schaffen machten, und deren diese doch eigentlich nie vollständig Herr wurden, haben ihn dazu angeregt, ein geschichtliches Genrebild oder vielleicht richtiger Costümbild zu malen, wobei er die ihm eigentümlichen Qualitä- ten vorteilhaft verwerten konnte. Alles Gegenständliche weiß ja dieser Künstler virtuos darzustellen; in der Wiedergabe von Waf- fen, Kleiderstoffen, Gold- und Silbergefäßen wetteifert er sogar mit Alma-Tadema. Wenn er in seinen früheren Arbeiten hie und da forciert und manchmal schwach in der Charakteristik war, so hat er sich diesmal bei dem genannten, auf der internationalen Ausstellung in Melbourne mit der goldenen Medaille ausgezeich- neten Gemälde gerade in diesem Punkte mehr vertieft und ist da- rin auch einheitlicher geworden. Der Zusammenklang der Farben ist wie immer so auch diesmal zu loben, ebenso die Führung der Linien; der Ausblick aus der Höhle, welche den Schlupfwinkel der Seeräuber bildet, ist reizvoll geraten. Unter den Figuren sind energisch und vornehm charakterisiert der alte Händler, welcher gekommen ist, um eine Sklavin zu kaufen; das schöne, junge Paar im Boote, ein prächtiger Jüngling und ein anmutiges Mädchen, welche gleichfalls Verkaufsobjekte sind, und die Ruderknechte, welche eben gelandet sind, um neue Beute aus dem Piratenschiffe zu bringen.“91 Von Kleinigkeiten abgesehen wurde das Werk sogar als atemberaubend er- achtet.92 160 Gemälde waren in dieser Ausstellung zu besichtigen, näher ausge-

89 Theater, Kunst, Literatur, „Morgen-Post“, 16. Mai 1882, S. 4. 90 Sämtliche Werbeanzeigen für diese Ausstellung in den Zeitungen bezeichnen das Ge- mälde Die Piratenhöhle als das wichtigste Werk, vgl. u. a. die Ausgaben der Zeitung „Die Presse“ in der Zeit von 20. Mai bis 27. Juli sowie der Zeitung „Neue Freie Presse“ im selben Zeitraum. 91 Kunstblatt. Österreichische Kunstverein, „Neue Freie Presse“, 2. Juni 1882, S. 4. 92 Ebd., S. 20. 184 Lidia Gerc führt wurden diese im Artikel eines unbekannten Verfassers folgendermaßen: „wahre Perlen der Kunst, wie z. B. des Polen Heinrich Siemiradzki Piraten- höhle mit ihrer lebensvollen Gruppierung, ihrem brillanten Colorit und ihrem wunderbaren Lichteffekte, welche das Hereinleuchten des hellen Tageslichtes durch eine obere Öffnung in die dunkle Felsenhöhle hervorbringt, in welcher die Piraten ihre Beute bergen.“93 Der Aufmerksamkeit der Wiener Kritiker entging auch nicht die große Ausstellung russischer Kunst der letzten 30 Jahre94, in der, wie Leo von Fialka schrieb, zahlreiche Bilder betrachtet werden konnten: „Merkwürdig genug, dass man wohl große Talente, auch große Künstler in nicht geringer Zahl vorfindet, doch im Allgemeinen nicht unter den Großrussen. (…) Da wir hier unmöglich in Details eingehen und etwa sechshundert große Bilder besprechen kön- nen, wollen wir einen Vergleich der drei Gruppen ziehen, indem wir das von verschiedenen Künstlern behandelte Sujet: »Christus und die Sünderin« in der Auffassung je eines Vertreters der drei Richtungen betrachten. Siemiradzkis Bild dieses Sujets ist allge- mein bekannt; es hat den Ruf des Künstlers in Europa begründen geholfen, und Jedermann kennt es, sei es im Original oder in Re- produktion. Hier ist das Zusammentreffen der Gegensätze ganz menschlich und göttlich aufgefasst; in beiden Hauptpersonen spitzt sich der Contrast zu und gleicht sich aus, während er in dem beiderseitigen Gefolge, welches discret zurückgeschoben ist, gleichsam ausklingt. Christi betrübter, strafender und doch mil- der Blick trifft die Sünderin, die unter einer Terrasse steht, auf der eben ein wüstes Gelage stattfindet; Reue, Scham, Entsetzen über die eigene Beklommenheit ergreift die arme Thorin unter dem Einfluss dieses Blickes; sie reißt an den prächtigen Gewändern – der Beschauer ist beruhigt; sie ist bekehrt, gebessert. Das ist das Werk eines selbständiges Talentes, das in keine »Schule« gepfercht wird, weil es frei aus seiner Seele malt, aus der Natur bloß das physisch Schöne nimmt.“95

93 Theater und Kunst, „Das Vaterland“, 27. Juli 1882, S. 5. 94 Allrussische Ausstellung in Moskau im Jahr 1882. Begleitend zur Ausstellung wurde ein mehrteiliger Katalog publiziert. Иллюстрированный каталог Художественного отдела Всероссийской выставки в Москве [Illustrierter Katalog der Kunstabteilung der Allrussischen Ausstellung in Moskau], 1882 г. Cz. 1, Auf den Seiten 98 und 99 dieses Katalogs werden zwei Gemälde Siemiradzkis gezeigt: Aleksander Macedoński i lekarz jego Filip [Alexanders Vertrauen zu seinem Arzt Philippus] und Pochodnie Nerona. 95 Leo von Fialka, Die Moskauer Ausstellung. II. Erste Gruppe: Bildende Künste, „Neue Illu- strierte Zeitung“, 23. Juni 1882, , S. 3. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 185

Die Einzigartigkeit der Werke von Siemiradzki betont auch der Verfasser eines Artikels in der „Morgen-Post“ über Jan Matejko. Er vergleicht ihn mit weiteren polnischen Malern der Epoche (vor allem mit Matejko und Artur Grottger96) und konstatiert: „Wenn Siemiradzki auch andere Bahnen wandelt und der Politik ferne bleibt, ist doch auch er ein polnischer Künstler von Be- deutung, den man nicht übergehen darf.“97 Auch entging der Presse die Übergabe des Gemäldes von Siemiradzki Christus beruhigt den Sturm (poln. Chrystus uciszający burzę) an seinen Bestim- mungsort, die evangelische Kirche in Krakau, nicht.98 U. a. berichtet die „Neue Freie Presse“ detailliert darüber: „Aus Krakau wird uns geschrieben: In der hiesigen evangelischen Kirche ist zu den Weihnachtsfeiertagen das Altarbild aufgestellt worden, welches die Administration der Krakauer evangelischen Gemeinde durch den Maler Heinrich Siemiradzki ausführen ließ. Das Bild stellt nach der Erzählung des Evangeliums dar. Da Sie- miradzki, seit er seine »Fackeln des Nero« dem künftigen Nati- onal-Museum in Krakau geschenkt, hier sehr populär ist, wird auch sein neues Werk allgemein bewundert, obwohl das düstere Colorit desselben einigermaßen befremdend wirkt. Man behaup- tet sogar, Siemiradzki habe in dem Bilde durch eine tiefinnige Al- legorie anschaulich machen wollen, wie die wilden Leidenschaf- ten und zügellosen Triebe, welche gegenwärtig die Gesellschaft bedrohen, nur durch die Macht des Glaubens und der Religion beängstigt werden können. Andere Personen, welche die persön- lichen Anschauungen und künstlerischen Tendenzen Siemiradz- kis näher kennen, versichern aber, dass ihm solche Ideen ziem- lich fernerliegen und dass er jedem seiner Stoffe zunächst und hauptsächlich die stärksten äußeren Effekte abzugewinnen suche. Zu diesem Zwecke scheint er auch auf dem neuen Altarbilde die licht­umflossene Gestalt Christi in Gegensatz zu dem dunklen Himmel, zu wildbewegten Wellen und zu den ihn umgebenden vier Aposteln gebracht zu haben. Das Bild ist in Rom gemalt wor- den, wo bekanntlich Siemiradzki schon seit einer Reihe von Jah- ren lebt.“99

96 Artur Grottger (1837 –1867), polnischer Maler, einer der führenden Vertreter der Ro- mantik in der polnischen Malerei, Illustrator, Grafiker sowie Schöpfer eines Zyklus über den Jänneraufstand; vgl. u. a. Antoni Potocki, Grottger, Lwów 1907; Jadwiga Puciata-Pawłowska, Artur Grottger, Toruń 1962. 97 TT, Matejko Votivbild, „Morgen-Post“, 15. Oktober 1882. 98 Theater, Kunst und Musik, „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 12. Dezember 1882, S. 7. 99 Theater- und Kunstnachrichten, „Neue Freie Presse“, 28. Dezember 1882, S. 7. 186 Lidia Gerc

Das Interesse an den Werken von Siemiradzki, die sich so großer Popu- larität erfreuten, war sehr groß. Die Originale waren für die Menschen un- erschwinglich, Reproduktionen wurden zunehmend populärer. Daher wurde auch seitens der Zeitungen versucht, auf diese Nachfrage zu reagieren, indem sie Reproduktionen der Gemälde Siemiradzkis beziehungsweise ausgewählte Bildausschnitte drucken ließen. Mitunter stieß dies auf Kritik oder sogar auf Verbote. Über den Verkauf von Bildern wurde folgendermaßen berichtet: „Die Associazione degli Artisti, die bisher in Vicolo di Alibert zu Gaste war, ist nun emsig daran, sich ein eigenes Heim zu grün- den. Die Mittel hierzu sollen theils durch die Beiträge der Mit- glieder, theils durch Spenden großzügiger Gönner aufgebracht werden. (…) Es war hier Gelegenheit geboten, um mäßiges Geld ganz artige Kunstwerke zu acquiriren; so wurde unter anderen ein reizendes Bildchen von Siemiradzki, das Brustbild einer Römerin im antiken Gewande darstellend, um die Summe von 360 Lire preisgegeben.“100 Noch im Jahr 1883 erinnerte man sich an den großzügigen Schenker des Gemäldes Die Fackeln Neros. In diesem Jahr wurde in Wien auch der 200. Jah- restag der Befreiung der Stadt von den Türken gefeiert, in Krakau wiederum wurde dieser Tag als Feiertag Sobieskis begangen. Neben den Feierlichkeiten auf dem Wawel, der Ehrenwacht für Sobieski, folgte die Eröffnung und die durch Kardinal Dunajewski vollzogene Einweihung des Nationalmuseums für Kunst101, zu dessen Entstehung Siemiradzki den Impuls gab, in dem er diesem sein großes Werk Lebende Fackeln Neros schenkte, wie sich die Zeitungen er- innerten.102 Bereits im Jänner wurde unter Berufung auf den „Moniteur de “ über neue Werke von Siemiradzki informiert, die dieser soeben in seiner Villa in der Via Gaetano [in Rom] fertiggestellt hätte: „Siemiradzki, der bekanntlich in Rom lebt, hat soeben, wie ein Berichterstatter des Moniteur de Rome, der den Künstler in seiner Villa in der Via Gaetano besucht hat, meldet, zwei neue Arbeiten vollendet. Das eine dieser Gemälde stellt das Begräb- nis eines slavischen Fürsten im ersten Jahrhundert vor, während

100 Briefe aus Rom, „Wiener Salonblatt“, 29. April 1883, S. 7. 101 Albin Dunajewski – Bischof der Diözese Krakau in der Zeit von 1879 –1894, Kardinal ab 1890, Bruder von Julian Dunajewski, der u. a. österreichischer Finanzminister war. Tade- usz Glemma / Marian Tyrowicz, Dunajewski Albin, in: PSB, Bd. 5, Kraków 1946, S. 462 – 465. 102 Vom Tage, „Morgen-Post“, 12. September 1883, S. 4; „Das Vaterland“, 12. September 1883, S. 7. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 187

das andere eine Aurora, welche das Pferdegespann am Wagen des Apollo beim Zügel führt, zum Inhalt hat. In einer Ecke dieses Bildes sieht man auch eine aus den Schlafe erwachende Frau, die den Schleier lüftet, während in einer andern Ecke zwei Löwen sanft schlummern.“103

Abbildung 14. Morgendämmerung (poln. Aurora oder Jutrzenka), (Quelle: Lewandowski, Henryk Siemiradzki).

Beiden Arbeiten sowie einem Besuch im Atelier Siemiradzkis Meister wid- mete ein anonymer Verfasser einen Artikel in der „Montags-Revue“104:

103 Es handelt sich hier um die Werke Begräbnis eines russischen Heerführers (poln. Pogrzeb wodza Rusów) sowie Morgendämmerung (poln. Aurora), das für das Nieczajew-Malcew-Palais in Petersburg geplant war; vgl. die Information in der Rubrik Theater und Kunstnachrichten, „Neue Freie Presse“, 18. Jänner 1884, S. 7. 104 Das Atelier Siemiradzkis wurde oft beschrieben, mindestens einmal pro Woche war es für Besucher geöffnet, es wurde sogar im Baedeker als ein Ort beschrieben, den man unbedingt besuchen sollte. 188 Lidia Gerc

„Im Atelier des polnischen Malers Siemiradzki in Rom üben zwei neue große Gemälde besondere Anziehungskraft aus. Das erste, welches mit enkaustischer Malerei ausgeführt wurde und nicht weniger als 4 Meter Breite und circa 2 Meter Höhe hat, stellt das Begräbnis eines heidnisch-slavischen Häuptlings dar, wie es von einem arabischen Reisenden Ibu Forzlan aus dem zehnten Jahrhundert geschildert wurde. Die Szene spielt sich im Dorfe Bolgarn ab, im Uralgebiete. Auf einem großem Scheiterhaufen ruht eine Barke, in deren Hinterteil der verstorbene Häuptling mit allen Ehrenzeichen seiner kriegerischer Herrscherwürde in sitzender Stellung sichtbar ist. Auf den Stufen des Scheiterhau- fens ruht das als Opfer erstochene Schlachtpferd des Königs und andere ebenfalls geopferte Thiere. Im Hintergrunde der linken Seite ragt ein Götzenbild empor. In der Barke selbst weilen ein Henker und eine Megäre, welche mit der einen Hand drohend einen Dolch schwingt, während die andere einem schönen jun- gen auf dem Rande der Barke sitzenden Weibe den Giftbecher reicht. Das junge Weib des Verstorbenen, welches mitsterben muss, ist ergreifend dargestellt, zwei junge Frauen schmiegen sich verzweifelnd an ihre schöne Figur. Im rechten Vordergrunde tief unten sitzt eine zweite herrlich componierte Dreiweibergruppe, die schmerzergriffen zu dem unglücklichen Opfer des Herkom- mens hinausschauen. In der Mitte des Bildes erblickt man einen knieenden Barden, der in die Saiten greift, neben ihm schlagen Krieger auf ihre Schilde, um das Jammern der dem Tode Geweih- ten zu übertönen. In der linken Ecke lodert ein Feuer, daneben steht nackt der nächste Verwandte der Todten mit der Fackel in der Hand, welche den Scheiterhaufen anzünden soll. Composi- tion, Zeichnung, und Farbe sind gleich meisterhaft behandelt in dem großen Bilde, welches für das Museum in Moskau bestimmt ist. Das zweite neue Werk von Siemiradzki ist ein von Kaiser Ale- xander bestelltes und nach St. Petersburg bestimmtes großes De- ckengemälde »Die Aurora« darstellend.“105 Über dieses so anschaulich beschriebene Gemälde, das eine historische Be- stattung zeigt, wurde auch in der Zeitung „Die Presse“ geschrieben: „Siemiradzki stellt eine in Ibu Foszlan’s Reisebericht genau be- schriebene Totenverbrennung dar. Oder wenigstens die Vorbe- reitungen dazu, übrigens ist fast das ganze »Arsenal des Todes« aufgeboten: Gift, Messer, Strick und Feuer. – Auf einer großen, grotesk geschnäbelten, ans Land gezogenen Barke ist aus Baum- stämmen u. dgl. ein Todtenthron aufgezimmert, auf welchem der

105 Theater und Kunst, „Montags-Revue aus Böhmen“, 28. Jänner 1884, S. 7. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 189 w ), usó eb wodza R z ogr oskau). ers (poln. P führ useum in M eer istorisches M ussischen H taatliches H äbnis eines r (S egr bbildung 15. B A 190 Lidia Gerc

Leichnam des greisen moskowitischen Helden, in einem Gala­ kleid aus gelbem Brokat, hoch aufgebahrt ruht, und zwar in einer Verkürzung, die wenigstens an das Kunststück jenes alten Malers erinnert, der einen auf dem Seciertisch liegenden nackten Leich- nam im Horizonte des Beschauers so malte, dass man nur die Fußsohlen und dazwischen das Gesicht des Todten sah.“106 Wie der Verfasser festhält, gelang es Siemiradzki die Stimmung wiederzu- geben, indem er die gesamte Szene in Nebel hüllt: „Kalte Dämmerung, der »slavische Nebel«, breitet sich über das Bild aus, eine wahre Begräbnisstim- mung, und das bißchen blauer Himmel nimmt sich aus wie das Innere eines blaugestrichenen Berliner Küchenschranks.“107 Weiter beschreibt er die dar- gestellten Personengruppen und bewundert die auf dem Bild zum Ausdruck kommende Stimmung. Er zitiert ein Lied, das mit der Darstellung auf dem Bild in Einklang steht, „dicht neben knienden Klageweiber türmen sich die blutenden Cadaver der hingeschlachteten Lieblingsthiere des Todten (…)“. Schoenthan ist der Ansicht, dass die gesamte Darstellung der Vorstellungswelt und Zeit und Kultur, in der der Maler lebt, fern ist. Umso mehr lobt er die Ver- dienste und Bemühungen des Malers, diese vergangene Zeit und Kultur darzu- stellen und schreibt „der Maler hatte hier versuchen müssen, durch seine Kunst eine Brücke zu unserem Verständnis zu bauen“.108 Der Verfasser unterstreicht die Virtuosität, mit der Siemiradzki Details, Gegenstände und Kleidung wie- dergibt, seine Aufmerksamkeit ruft hingegen die mangelnde Ausdruckstiefe der Figuren hervor. So schreibt er: „Die Russen werden ihre Freude an diesen bunten Gräuel haben (…)“.109 Detailliert wird auch über das Schicksal des Bildes informiert – am 26. April 1884 berichtete die „Österreichische Kunst-Chronik“, dass das Bild vom His- torischen Museum in Moskau gekauft worden wäre.110 Weiters informierten die Zeitungen auch darüber, dass dieses Bild beziehungsweise dessen Repro- duktionen in der Auslage der Lechner’schen Hof-und Universitäts-Buchhand- lung111 besichtigt werden kann.

106 Paul v. Schoenthan, Neues von Siemiradzki und Boecklin, „Die Presse“, 6. April 1884, ohne Titel. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Ebd. Vgl. auch in: Kunstnotizen, „Neue Freie Presse“, 26. April 1884, S. 20, diese äußerst sich weniger positiv über das Gemälde und konstatiert, dass es nicht zu den besten Werken des Malers gehören würde. 110 Kunstnachrichten, „Österreichische Kunst-Chronik“, 26. April 1884, S. 340. 111 Zu dieser Zeit wurde das Unternehmen vom Sohn von Michael Lechner, Rudolf Lech- ner (geboren 1822), geführt. Es war dies eine der ersten Adressen in Wien. 1874 wurde der „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 191

Die „Neue Illustrierte Zeitung“ propagierte die von Franz Bondy in Leip- zig herausgegebene Publikation „Internationale Künstlermappe: Kunstblät- ter in Heliogravur“, die Folgendes berichtete: „(…) Es will eine Sammlung charakteristisch ausgewählter Meisterwerke der modernen Malerei werden, in möglichst getreuer Reproduktion, wozu sich nach dem heutigen Stande der re- productiven Kunst die Heliogravüre besonders empfiehlt. Wie schon der Titel besagt, ist das Werk international (…)“.112 Im ersten Heft finden wir zwei wertvolle Bilder: Siemiradzkis bekanntes altrömisches Genrebild und Rossowskis Bild Die Beurtheilte113, das bewegende Bild eines jungen Künstlers.114 Ende April 1885 informierten die Zeitungen über ein weiteres Bild: Siemi- radzki hatte ein neues Gemälde im Auftrag von Graf Alexander Przeździecki fertiggestellt.115 Dieses Gemälde zeigt den Märtyrertod des Hl. Timotheus und seiner Gattin Maura.116 Über ein weiteres monumentales Bild berichtete die „Neue Freie Presse“ Ende Februar 1886: „Siemiradzki vollendete jüngst ein neues Gemälde größe- rer Dimensionen, welches Christus im Hause Marias dargestellt. Das Colossal- bild geht demnächst nach Berlin ab und wird hierauf auch in Wien ausgestellt werden.“117 Der Name Siemiradzki ist auch in einem Feuilleton über Rom in

Sitz von der Wollzeile in die Kärntnerstraße 10 verlegt, von da an befasste sich Lechner vor allem mit dem Verlag. Die Buchhandlung verkaufte er an die Buchhändler Eduard Müller und Alfred Werner, die sie unter der Bezeichnung „R. Lechner Universitätsbuchhandlung (Müller und Werner)“ weiterführten, ab 1876 befand sie sich am Graben 13 / Ecke Stephansplatz. 112 Bildende Kunst. Internationale Künstlermappe, „Neue Illustrirte Zeitung“, Bd. 2, 4. Mai 1884, S. 518. 113 Der Maler Władysław Rossowski (1857 –1923) studierte an der Krakauer Akademie für Schöne Künste bei Jan Matejko sowie auch in München, Dresden und Paris, vgl. Róża Bier- nacka, Władysław Rossowski, in: PSB, Bd. 32, Wrocław u. a. 1989 –1991, S. 144 –145 http:// ipsb.nina.gov.pl/a/biografia/wladyslaw-rossowski (Zugriff: 10. April 2018). 114 Bildende Kunst. Internationale Künstlermappe, „Neue Illustrirte Zeitung“, Bd. 2, 4. Mai 1884, S. 518. Diese Publikation ist auch das erste Heft der Reihe „Internationale Künstler- mappe: Kunstblätter in Heliogravur“, Leipzig 1884. 115 Aleksander Narcyz Przeździecki (1814 –1871), Historiker, Literat, Herausgeber von Quel- len, Reisender, Verfasser von u. a. des Werks Podole, Wołyń, Ukraina. Obrazy miejsc i czasów [Po- dolien, Wolhynien, Ukraine. Bilder von Orten und Zeiten], Bd. I – II, Wilno 1841; vgl. Andrzej Biernacki, Aleksander Narcyz Karol Przeździecki, in: PSB, Bd. 29, Wrocław u. a. 1986, http:// www.ipsb.nina.gov.pl/a/biografia/aleksander-narcyz-karol-przezdziecki (Zugriff: Mai 2018). 116 Wissenschaft, Kunst und Literatur – Heinrich Siemiradzki, „Wiener Allgemeine Zei- tung“, 25. April 1885, S. 6. 117 Vereins- und Kunstnachrichten, „Neue Freie Presse“, 25. Februar 1886, S. 5. Dieses Gemälde war eines der am häufigsten reproduzierten Gemälde von Siemiradzki und erfreute sich großer Popularität. 192 Lidia Gerc y ), aur ony M ymoteusza i jego ż T . tyrium św ar arschau). W a (poln. M aur ationalmuseum (N imotheus und M T tyrium des Hl. ar as M bbildung 16. D A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 193 ty ), ar ariii i M ystus w domu M etersburg). ta (poln. Chr ar useum in P aria und M ussisches M on M ten v ar taatliches R (S bbildung 17. Christus im G A 194 Lidia Gerc der „Österreichischen Kunst-Chronik“ zu finden: „(…) hier hat Siemiradzki sein wunderherrliches Gemälde: Christus mit Maria und Martha (poln. Chry- stus w domu Marii i Marty) geschaffen. „Ein schönes Bild ist Heinrich Siemiradzki »Christus bei Maria und Martha«, wo das gelungene südländische Licht mit der schö- nen Landschaft, dann die Veranda mit den zwei Hauptfiguren im Hintergrunde charakteristisch gemalt sind; der feste Glaube strahlt aus dem Gesicht der Zuhörerin, die den Heiland gewis- senhaft anhört.“118 Anlässlich eines Besuchs in Krakau im Zusammenhang mit der dort orga- nisierten Landesausstellung erinnert der Korrespondent der „Wiener Zeitung“ neben einer Beschreibung der Stadt und Informationen über die Ausstellung daran, wer Ideengeber und Begründer der Krakauer Sammlung war: „Es lag nahe, in die Lokalitäten der Kunstaustellung auch jene des Kunstmuseums einzubeziehen, welche daran stoßen und eine wertwolle Sammlung erhalten, die, vor wenigen Jahren durch die Opferwilligkeit der polnischer Künstler entstanden, (…) und Sie- miradzkis »Die Fackeln des Nero«, enthält und seiner Reichhal- tigkeit ein Denkmal echt patriotischer Gesinnung ist und stets bleiben wird.“119 Moritz Nierenstein, der auch über die Krakauer Ausstellung berichtete, nannte unter der Reihe der besten dort zu besichtigenden Werke neben jenen von Matejko und Rodakowski auch Siemiradzki, dessen Gemälde der „Kunst- welt bekannt sind“, wie er schreibt.120 Wilhelm Erner wiederum berichtet, dass „(…) in den Sukiennice (Tuchhalle) zur Ergänzung der dort bleibend aus- gestellten Meisterwerke polnischer Malerkunst wie Matejkos »Huldigung der Preußen vor Sigmund I.« und Siemiradzkis »Lebende Fackeln Neros« weitere Werke gezeigt werden.“121 Im März fand die Eröffnung der Internationalen Jubiläums-Kunstausstel- lung (Künstlerhaus, Lothringerstrasse 9, Wien) statt, über die zahlreiche Zei- tungen berichteten:

118 Alexander Nyari, Die Jubilaeums-Ausstellung in Berlin, „Österreichische Kunst-Chro- nik“, 31. Juni 1886, S. 4. 119 E.R., Die Landesausstellung in Krakau, „Neue Freie Presse“, 24. September 1887, S. 2 –3. 120 Moritz Nierenstein, Kunst-Brief. Erste große polnische Kunstausstellung, „Österreichische Kunst-Chronik“, 8. Oktober 1887, S. 3. 121 Wilhelm Erner, Feuilleton. Ausstellungen in Bregenz, Bozen und Krakau 1887, „Wiener Zeitung“, 10. Jänner 1888, S. 2 – 4. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 195

„Theils mit italienischen, teils aber auch mit Bildern aus anderen Ländern ist der anstoßende Raum gefüllt, dessen Besprechung hier aus Gründen der Nachbarschaft angeschlossen werden möge, da es bei der etwas stark zersplitterten Eintheilung der Exposition ja doch schwer ist, einem festem System zu folgen. Das bedeu- tendste Werk in dem kleinen Saale darf wohl Siemiradzkis erns- te Scene in einer mächtigen, antiken Graeberstrasse heißen, wo sich ein Liebespaar zu den Todten geflüchtet hat und nun ein Glühwürmchen betrachtet, dessen Schein durch die tiefen Schat- ten leuchtet. In der Composition ist große Stimmung und tiefe Poesie; die feierliche Landschaft, die antiken Monumente liefern einen gewaltigen Rahmen zu dem Gegenstand, der frei von aller Sentimentalität aufgefasst ist. Das Bild ließ uns abermals bedau- ern, dass von dem genialen Meister so wenig in unsere Breiten gelangt.“122 Gänzlich unerwartet brachten die Zeitungen eines Tages auch eine beun- ruhigende Nachricht, die nichts mit dem künstlerischen Schaffen von Siemi- radzki zu tun hatte, sondern mit der Sorge um dessen Gesundheitszustand. Als die Gerüchte über eine Erkrankung Siemiradzkis auch in Wien laut wurden, wurde in der „Neue[n] Freie[n] Presse“ dessen Stellungnahme dazu veröffent- licht: „Meine Hand ist durchaus nicht gelähmt; das örtliche Leiden ist wahr- scheinlich ein vorübergehendes. Ich danke für die Teilnahme. Siemiradzki.“123 Das Werk Glühwürmchen (poln. Noc w Pompei oder Świętojański robaczek) wurde bereits früher, anlässlich der Jubiläumsausstellung in Wien, gezeigt und auch im Rahmen der Ausstellung in München wohlwollend aufgenommen und als außergewöhnlich poetisch beurteilt.124 Die „Österreichische Kunst-Chronik“ wiederum berichtete über eine In- ternationale Ausstellung in Prag folgendermaßen: „Der eine dieser beiden Duettisten, der auch als Solokraft bei Ausstellungen sehr geschätzte geniale Schöpfer der »Fackeln Ne- ros« – Siemiradzki – scheint bei der Schöpfung seiner letzten Bil- der es entschieden aufgegeben zu haben, zu denken wie ein Dante und Farben aufzutragen wie ein Boccaccio. Er ist ein Anakreon125

122 Feuilleton. Jubiläums-Kunst-Ausstellung. IV. Italien-England-Belgien, „Die Presse“, 7. Ap- ril 1888, S. 1– 4. 123 Kleine Chronik, „Neue Freie Presse“, 26. Mai 1888, S. 5. 124 Ludwig Ganghofer, Die internationale Kunstausstellung in München, Neue Illustrirte Zeitung, 23. September 1888, S. 5. 125 Anakreon (570 bis 485 v. Chr.), griechischer Dichter aus Teos, http://web.archive. org/web/20051217212806/http://www.ancientlibrary.com:80/smith-bio/0166.html (Zugriff: 12. April 2018). 196 Lidia Gerc ek świętojański ), obacz adzki ). iemir yk S ompei oder R enr oc w P wski, H wando mchen (poln. N uelle: Le (Q lühwür bbildung 18. G A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 197

unter den Malern geworden und hat es zu Wege gebracht, unter fünf Gemälden nicht weniger als vier reizende, lyrisch angehauch- te und jeder Effecthascherei bare Genrebilder (…) zu schaffen.“126 Von den von Siemiradzki gezeigten Werken rief das Werk Nach dem Bei- spiel der Götter (poln. Za przykładem bogów) die größte Aufmerksamkeit her- vor, „welches sowohl seiner Zeichnung als auch seiner Durchführung und sei- nem Colorit nach so fein, so zart und anmutsvoll ist, dass sich selbst Catullus,

Abbildung 19. Chopin im Salon des Fürsten Radziwiłł (poln. Chopin w salonie księcia Radziwiłła), (Quelle: Lewandowski, Henryk Siemiradzki). falls er Redakteur einer illustrierten Zeitung wäre, nicht schämen müsste, es als Illustration mit den begleitenden Versen zu versehen.“127 Ende 1888 wurde in Wien in der Österreichischen Gesellschaft für Kunst Siemiradzkis großes Gemälde Chopin im Salon des Fürsten Radziwiłł gezeigt.128 Die „Wiener Presse“ schrieb: „Die »Weihnachts-Ausstellung« des Österreichischen Kunstver- eins erfreut sich in Folge der zahlreichen sehenswürdigen Gemäl-

126 Kunst-Brief, Prag, 20. Oktober, „Österreichische Kunst-Chronik“, 27. Oktober 1888, S. 1077. 127 Ebd. 128 „Neue Freie Presse“, 2. Dezember 1888, S. 12; „Die Presse“, 5. Dezember 1888, S. 12. 198 Lidia Gerc

de eines sehr guten Besuches. Unter den großen Hauptbildern der Ausstellung ist zuvorderst das Gemälde von Heinrich Siemi- radzki in Rom »Der junge Chopin im Berliner Salon des Fürsten Radziwill« zu erwähnen“.129 Zu Beginn des Jahres 1889 wurde ein weiteres Werk von Siemiradzki begeis- tert aufgenommen. In der Zeitung „Die Presse“ wurde geschrieben, dass „der bekannte russische Maler Siemiradzki“130 um Weihnachten in seinem Atelier in der Via Gaeta 1 ein großformatiges Gemälde vollendet hätte, das sich bereits auf dem Weg nach St. Petersburg befände. Anschließend würde das Gemälde Phryne beim Fest des Poseidon in Eleusis (poln. Fryne na święcie Posejdona w Eleu- sis) in den wichtigsten Städten Europas gezeigt werden. In diesem Artikel wird das Bild detailliert beschrieben, die Komposition wird ebenso genau analysiert wie die Farbgebung. Bewundert wird auch die Schönheit der Hauptheldin des Bildes, die sich am Ufer entkleidet und sich auf ein Bad im Meer vorbereitet. „(…) „Die Composition dieser Frauengruppe ist meisterhaft“131, stellte der Verfasser resümierend fest. Der Erfolg dieses Gemäldes weckte unter den Wiener Journalisten neuer- lich das Interesse an dessen Schöpfer, die ihren Lesern Folgendes mitteilten: „Henrik Siemiradzki. Der berühmte Maler H. Siemiradzki, wel- cher vorgestern aus Petersburg hier eintraf, hat heute Früh wieder Wien verlassen, um nach Rom zurückzukehren, wo er bekanntlich seit Jahren seinen ständigen Aufenthalt hat. Der Künstler weil- te durch mehrere Monate in der russischen Hauptstadt, um die Ausstellung seines Collosal-Gemäldes »Phryne« zu überwachen, das nun vom Czar für die Summe von 150.000 Francs für die kaiserliche Sammlung moderner Gemälde erworben wurde. Dem Meister wurde zugleich das Recht eingeräumt, sein Bild, bevor es in die kaiserliche Galerie eingereiht wird, auf einer Rundreise dem kunstsinnigen Publikum der europäischen Großstädte vor- zuführen; es geht zunächst nach Moskau, dann nach Warschau, Berlin und Wien und durfte bei uns zur diesjährigen Herbstsai- son zur Ausstellung gelangen. Siemiradzki ist den Wienern zuerst

129 Theater, Kunst und Literatur, (Die Weihnachts-Ausstellung des Österreichischen Kunstverei- nes), „Wiener Presse“, 17. Dezember 1888, S. 3. 130 Obwohl sich Siemiradzki selbst als polnischer Maler bezeichnete, wurde über ihn häu- fig als russischer Maler geschrieben, dies änderte sich auch nicht nach einer Richtigstellung in der Correspondenz der Redaction, „Die Presse“, 19. Januar 1889, S. 12: „Ein Pole: Ihrem Wunsche entsprechend, stellen wir hiermit richtig, dass der Maler Siemiradzki nicht Russe, sondern Pole ist.“ 131 Ein neues Bild von Siemiradzki, „Die Presse“, (Lokal-Anzeiger der Presse), 11. Jänner 1889, Nr. 11, 42. Jahr., S. 9 sowie „Deutsches Volksblatt“, 23. Jänner 1889, Nr. 21, S. 7. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 199 leusis ), osejdona w E adzki ). yne na święcie P r iemir yk S enr leusis (poln. F wski, H wando oseidon in E uelle: Le est des P (Q yne beim F hr bbildung 20. P A 200 Lidia Gerc

bei Gelegenheit der Weltausstellung im Jahre 1873 durch sein im Centralsaale der Kunsthalle exponiertes Bild »Christus und die Sünderin« bekannt geworden und machte sich seither durch das Gemälde »Die lebenden Fackeln Neros«, das hier im Künst- lerhause, und »Fackeltanz«, das im Österreichischen Kunstverein aufgestellt war, einen internationalen Namen.“132 Im Mai 1889 wurde in der Kleinen Chronik in der „Neue[n] Freie[n] Presse“ berichtet, dass „der Maler Henryk Siemiradzki zum Mitgliede der Pe- tersburger Kaiserlichen Akademie der Schönen Künste ernannt worden wäre. Gleichzeitig erwarb Kaiser Alexander III. von Siemiradzki das Gemälde »Nach dem Beispiel der Götter«, der Kaufpreis betrug 70.000 Francs. Dasselbe war jüngst in Petersburg ausgestellt.“133 In der Publikation Arcydzieła sztuki Chrześcijańskiej [Meisterwerke christli- cher Kunst] mit 21 Werken, u. a. von Correggio, Murillo, Rubens, Guido Reni und Paolo Veronese, werden auch zeitgenössische Künstler wie Ernst Zimmer- mann134 genannt, auch Siemiradzki fehlt nicht in dieser Ausstellung135, was eindrucksvoll zeigt, welche Popularität seine Werke erlangt haben. Mit dem Gemälde Phryne beim Fest des Poseidon in Eleusis, das anlässlich der Ausstellung in Wien gezeigt wurde, befassten sich neuerlich zahlreiche Artikel. In den „Kunstbriefe[n]“, die sich auf die „Allgemeine Kunst-Chro- nik“ beriefen, wurde über das „Siemiradzki’sche Kolossalgemälde“ Phryne in Eleusis geschrieben, „ein Werk, aus des Künstlers ureigenster Natur heraus geschaffen“136, worauf noch größere Worte der Bewunderung, ja Verehrung für Siemiradzki folgten: „Siemiradzki gehört zu den Leuten, die eine heisslodernde Sub- jektivität mit umfassendem Wissen verbinden, die innere Si- cherheit oder richtiger das Gefühl davon übt bei solchen leicht einen verderblichen Einfluss auf die Selbstkritik aus, wir haben dann die Erscheinung, dass solche Künstlernaturen, welche zu Höchstem innerhalb gewisser Grenzen berufen sind, fortwährend die Schranken ihrer Begabung zu durchbrechen suchen, so Sie-

132 Kleine Chronik. Henryk Siemiradzki, „Neue Freie Presse“, 12. April 1889, S. 6. 133 Kleine Chronik, Wien 8. Mai, „Neue Freie Presse“, 9. Mai 1889, S. 5. 134 Ernst Zimmermann (1815 –1893) war ein deutscher Maler und Absolvent der Münch- ner Akademie, vgl. Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 16, Leipzig – Wien 41885 –1892, S. 909. 135 Kunst, Literatur und Theater, „Wiener Zeitung“, 27. März 1890 (Meisterwerke der christlichen Kunst, 2. Sammlung, Verlag J. J. Weber in Leipzig 1890). 136 Kunstbriefe. Bartels, Siemiradzki und Andere, „Österreichische Kunst-Chronik“, 15. Ap- ril 1890, S. 245. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 201

miradzki mit seiner Kolossalmalerei epischen und dramatischen Charakters.“137 Am Ende lesen wir in einem Resümee: „Konnten die herrlich gelungenen Einzelheiten, an denen die »Fackeln des Nero«, mehr aber noch die »Phryne« reich waren, uns auf die Spur der Siemiradzki’schen Künstleranlage bringen, so muss angesichts dieser kleinen Tafel »Vasenhändler am Brunnen« jeder Zweifel schwinden, dass wir einer rein lyrischen Künstler- natur gegenüber stehen. Eine Reihe von Perlen früherer Jahre wie die »pompejanische Christusnacht« und die beiden Christusmo- tive bestätigen das. Dass er die Elemente der Hellmalerei in sich aufgenommen hat, ist bei seiner naturwissenschaftlichen Vorbil- dung nicht verwunderlich, so sehr er, dem das sogenannte ‚Poeti- sche‘ immer das Wesentliche ist, jedem ‚Raisonnement‘ fernsteht; er verquickt in sehr feiner und geistreicher Weise das Modernste in Technik und Darstellung mit der Antike und schafft dadurch in seine Sachen ein echt künstlerisches Leben hinein.“138 Im Publikationsverzeichnis wird sogar ein Sonderheft genannt, das aus An- lass des 75. Geburtstags von Reichskanzler Bismarck erschien. Mit der Zeit wurden neben begeisterten Stimmen auch kritische Meinun- gen laut wie im Fall des Verfassers der Rubrik Theater und Kunstnachrichten in der Zeitung „Neue Freie Presse“, der über die Ausstellung in München schrieb: „Siemiradzkis außergewöhnlich effektvolles Bild »Phryne« ist nichts weiters als ein aufdringliches Bild, das die Wand verdeckt (…)“.139 Die sich verändernde Rezeption der Werke Siemiradzkis zeigt auch ein weiterer Artikel von Ranzoni, der u. a. über das Bild Phryne schreibt. Zwar betont er die außergewöhnliche Schönheit des Bildes, das an die Geschichte einer griechischen Hetäre erinnert, er hält dem Bild jedoch vor, dass es, von der technischen Perfektion des Werks abgesehen, der Phryne an Tiefe fehlt, und stellt fest, wie einförmig diese der Schönheit beraubten, antiken Statuen nachempfundene [Darstellungen] sind.140 An dieser Stelle wird einem Werk von Siemiradzki erstmals vorgehalten, im Stile des akademischen Realismus gemalt worden zu sein. Trotz so mancher kritischer Kommentare war er einer der wichtigsten Künstler, die in der Ausstellung in München gezeigt wurden, wovon auch

137 Kunstbriefe. Bartels, Siemiradzki und Andere. 138 Ebd. 139 Theater und Kunstnachrichten, „Neue Freie Presse“, 25. Juli 1890, S. 6. 140 Ennio Ranzoni, Münchner Jahresausstellung, „Neue Freie Presse“, 5. August 1890, S. 1– 3. 202 Lidia Gerc der Ausstellungskatalog zeugt, in der auch das Werk Die Versuchung des Hl. Hie­ronymus (poln. Kuszenie św. Hieronima) „eine ganzseitige, wunderbare Reproduktion“141 von Siemiradzki aufgenommen wurde.142 Über den Katalog wurde geschrieben: „Mit dieser Lieferung schließt der erste Jahrgang dieser, der Mün- chener Ausstellung des Jahres 1889 ihre Entstehung verdankende Zeitschrift, welche sowohl durch die Gediegenheit ihres literari- schen Theiles, wie durch Fülle, vorzügliche Auswahl und ausge- zeichnete Ausführung Kunstblätter und der in Texte eingedruck- ten Reproduktionen sich in Wahrheit zu einer sowohl für den Künstler als auch den Kunstfreund unentbehrlichen Chronik der Kunst unserer Zeit ausgestaltet hat.“143 Interessanterweise findet sich im vierten, in dieser Reihe herausgegebenen Heft auch Siemiradzkis Werk Wegzehrung (poln. Z wiatykiem). Im Dezember 1891 informierte die Presse über die Fertigstellung eines weiteren Werks von Siemiradzki. Das „Wiener Montags-Journal“ berichtete: „Seit gestern pilgert die ganze Intelligenz Roms in die Villina des berühmten Malers Siemiradzki, wo dessen neues großes religiö- ses Bild »Die Himmelfahrt Christi«, ausgestellt ist. Das Bild ist bestimmt für die Auferstehungskirche144. Christus erscheint auf einer Wolke unter Engeln, unten sind die Mutter Gottes und die Apostel in zerstreuten Gruppen. Das Bild soll eine Runde durch Europa machen. Die römische Presse ist voll Lob über das Meisterwerk.“145 Anlässlich einer internationalen Ausstellung in Berlin finden wir folgende Beschreibung der Werke Siemiradzkis: „In erster Linie steht ein duftiger Poet, Siemiradzki, der mit un- endlich zartem Farbenflimmer liebliche Gedichte gibt, die sich le- sen lassen in ihrer goldenen Traumhaftigkeit wie eine Novelle von Heyse. Da ist die »Versuchung eines heiligen Hieronimus« mit

141 Die Kunst unsere Zeit, „Wiener Presse“, 2. Februar 1891, S. 3. 142 G. E. v. Berlepsch, Die Kunst unsere Zeit, München 1891. 143 Die Kunst unserer Zeit, „Wiener Presse“, 2. Februar 1891, S. 3. 144 Jerzy Miziołek, „Wniebowstąpienie Chrystusa” Henryka H. Siemiradzkiego w kościele przy via San Sebastianello w Rzymie: kilka uwag o Zgromadzeniu Zmartwychwstańców i Mikoła- ju Gogolu [„Die Himmelfahrt Christi“ von Henryk Siemiradzki in der Kirche in der via San Sebastianello in Rom: einige Anmerkungen über die Versammlung von Auferstandenen und Nikolai Gogol], in: Biuletyn Historii Sztuki 69/3 – 4, 2007, S. 249 – 258. 145 Theater, Kunst, Literatur, „Wiener Montags-Journal“, 14. Dezember 1891. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 203 onima ), ier . H enie św usz adzki ). iemir yk S enr onymus (poln. K ier wski, H wando uelle: Le ersuchung des Hl. H V (Q bbildung 21. Die A 204 Lidia Gerc arschau). W ung (poln. Z wiatykiem ), ehr egz ationalmuseum (N bbildung 22. W A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 205

verführerischer Frauenschönheit und fern lockendem Redner- ruhm, da ist ein toll ausgelassenes »Bacchanal« im italienischen Sommerabend und auch das bekannte reizende Idyll vom Liebes- paar, das »nach dem Vorbild der Götter« auf dem Steinpostament Kosen und Küssen treibt.“146 Über die fortdauernde Popularität der Arbeiten von Siemiradzki berichtete auch die „Montags-Zeitung“ in ihrer Serie Die Kunst unserer Zeit, in der sie auch Reproduktionen von Werken von „Zimmermann, Kaulbach147, Alma Ta- dema, Michetti148, Pradilla149, Siemiradzki“ (…) abdruckte.150 Unter den Artikeln über das Schaffen Siemiradzkis ragt ein Bericht in „Das Vaterland“ heraus, der sich nicht mit dessen künstlerischem Schaffen befasst, sondern mit dessen Freundschaft mit dem italienischen Medium Eusapia Pal- ladino. Palladino war häufig bei ihm zu Gast und sorgte zur damaligen Zeit für zahlreiche Emotionen.151 Siemiradzki interessierte sich auch für den zur da- maligen Zeit populären Spiritismus und publizierte in polnischen Zeitungen Artikel über den Mediumismus.152 Über die bekanntesten Künstler seiner Zeit schrieb Alfred Nossig153 an- lässlich des Besuchs des Künstlers in Krakau im Atelier von Jan Matejko:

146 Die internationale Kunstausstellung zu Berlin, „Österreichische Kunst-Chronik“, 20. Au- gust 1891, S. 5 – 6. 147 Hermann Kaulbach (1846 –1909) war ein deutscher Maler und ein Vertreter der Münchner Schule, vgl. Hans Vollmer (Hg.), Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker, Bd. 20: Kaufmann – Knilling, Leipzig 1927. 148 Francesco Paolo Michetti (1851–1929) war ein italienischer Maler, der für seine Gen- rebilder und Gartenszenen berühmt ist, vgl. Angelo de Gubernatis / Ugo Matini, Dizionario degli artisti italiani viventi, pittori, scultori e architetti, Tipi dei successori, Le Monnier 1889, S. 298. 149 Francisco Pradilla y Ortiz (1848 –1921) war ein spanischer Maler, der in Rom studier- te, vgl. Meyers Konversations-Lexikon, 41888 bis 1890. 150 Theater, Kunst und Literatur, „Montags Zeitung“, 25. I 1892, S. 2. 151 Cesare Lombroso (1835 –1909) war ein italienischer Psychiater, Anthropologe, Krimi- nologe und Hypnotiseur, er publizierte einen Artikel, der sich mit den Trick eines italienischen Betrügers befasste. Diesen konnte man mit Hilfe eines damals anerkannten Mediums, Eusabia Paladino, die oft bei Siemiradzki zu Gast war, des Betrugs überführen, Eusabia Paladino, Ein entlarvtes Medium, „Das Vaterland“, 5. März 1892, S. 4 152 Siemiradzki Henryk: Warszawa – Rzym (w sprawie mediumizmu) [Warschau – Rom (in der Angelegenheit des Mediumismus)], „Kurier Warszawski“, Nr. 62, 1894. 153 Alfred Nossig (1864 –1943), Bildhauer, Dramatiker, Librettist und politischer Aktivist jüdischer Herkunft. Er wurde im jüdischen Ghetto ermordet, vgl. Jan Jagielski, Przewodnik po cmentarzu żydowskim w Warszawie przy ul. Okopowej 49/51. Z. 1, Kwatery przy Alei Głów- nej [Führer durch den jüdischen Friedhof in Warschau in der ul. Okopowa 49/51. Z. 1. Die Gräber bei der Hauptallee], Warszawa 1996, S. 78. 206 Lidia Gerc

„In Krakau sein und Meister Matejko nicht besuchen ist in der That: in Rom sein und den Papst nicht sehen!“.154 Er erwähnte einen Grundbesitzer aus der Ukraine, der bereits eine bedeutende Sammlung mit aktuellen Gemälden der polnischen Schule besäße und beschlossen hätte, sich auf die wichtigsten Meis- ter zu beschränken. Nossig führte weiter aus, dass „Pan Milewski155 – dies war der Name des Kunstsammlers, der sich um die Kunst seiner Heimat so verdient gemacht hatte – Porträts bekannter polnischer Maler und von ihnen gemalte Porträts erwerben wollte. [Kazimierz] Pochwalski malt nun in Wien, [Józef] Brandt156 in München, Siemiradzki in Rom und Jan Matejko in Krakau. An- schließend finden sich alle Gemälde in einem romantischen Schloss inder Ukraine wieder.“157 Nossig war nicht der einzige Besucher Krakaus zu dieser Zeit – im Mai war der Kaiser selbst in Krakau zu Gast! Er wurde von einem Begrüßungskomitee empfangen, dem Graf Ludwig Wodzicki, Vizepräsident Karl Graf Lanckoroński158, Minister Zaleski159, Graf Roman Potocki160, Graf Cieszkowski161, A. Szczepański und der Maler Rybkowski angehörten.162

154 Alfred Nossig, In der Werkstaette Jan Matejkos, „Österreichische Kunst-Chronik“, 1. Mai 1892, S. 1 [Titelseite]. 155 Ignacy Karol Milewski (Korwin-Milewski) (1846 –1926), Sammler, politischer Schrift- steller, Reisender. Es gelang ihm, 200 Arbeiten polnischer Künstler zu sammeln. Diese Samm- lung befand sich bis 1893 in Wilna, später in Lemberg und in Wien. Ab 1897 befand sie sich in Gieranony, anschließend auf der Katharina-Insel, ab 1915 wieder in Wien. Erst nach dem Ersten Weltkrieg zerstreute sich die Sammlung, vgl. Andrzej Ryszkiewicz, Ignacy Karol Mi- lewski, in: PSB, Bd. 21, Wrocław u. a. 1976, S. 208 – 210 http://ipsb.nina.gov.pl/a/biografia/ ignacy-karol-milewski (Zugriff: 20. Dezember 2017). 156 Józef Brandt (1841–1915) war ein polnischer Maler sowie ein Vertreter der Münchner Schule, vgl. u. a. Wacław Husarski, Brandt Józef, in: PSB, Bd. 2, Kraków 1936, S. 388 – 391. 157 Nossig, In der Werkstaette Jan Matejkos. 158 Karol Lanckoroński (1848 –1883) war ein polnischer Kunsthistoriker und Sammler sowie Mitglied des Österreichischen Herrenhauses, vgl. u. a. Joanna Winiewicz-Wolska, Ka- rol Lanckoroński i jego wiedeńskie zbiory [Karol Lanckoroński und seine Wiener Sammlungen], Kraków 2011, Janusz Ostrowski, Karol Lanckoronski (1848 –1933) – Archäologe, Kunsthistori- ker und Sammler, Jena 1985. 159 Filip Krzysztof Artur Zaleski (1836 –1911), polnischer Aristokrat und konservativer Politiker, von 1888 bis 1893 sowie 1911 war er Minister ohne Portefeuille in der österreichi- schen Regierung, vgl. Wielka Ilustrowana Encyklopedia Powszechna [Große Illustrierte Enzy­ klopädie], Kraków 1932, S. 250. 160 Roman Alfred Maria Potocki (1851–1915), Abgeordneter zum Galizischen Landes- sejm. 161 Vermutlich handelt es sich um August Cieszkowski (1814 –1894), einen polnischen Gutsbesitzer, Ökonomen sowie gesellschaftlichen und politischen Aktivisten. 162 Tadeusz Rybkowski (1848 –1926), polnischer Maler und Illustrator, Absolvent der Kra- kauer und Wiener Akademie für Schöne Künste, vgl. Koń w malarstwie polskim XIX i począt- ków XX wieku ze zbiorów Muzeum Narodowego w Warszawie: informator wystawy [Das Pferd in „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 207

„Se. Majestät der Kaiser (…) besichtigte (…) die Spezial-Exposi- tion. Mit besonderem Interesse besichtigte der Monarch die Por- träts polnischer Künstler und Künstlerinnen, die Sammlungen des Fürstens Czartoryskischen Museums und die in der Univer- sität-Bibliothek in Krakau (…). Kurze Zeit verblieb Se. Majestät vor dem Gemälde »Chopin beim Fürsten Radziwill« von Siemi­ radzki.“163 Wie die Zeitung berichtete, war dieses Bild in dem Musik und Theater ge- widmeten Ausstellungsteil zu finden. „In der polnischen Abteilung fehlt noch vieles. Das Chopin-Zimmer enthält zahlreiche auf das Leben und Wirken des berühmten Tondichters bezügliche Reliquien. An der Wand hängt das Siemi- radzki’sche Bild »Chopin im Salon des Fürsten Radziwiłł«.“164 Ende des Jahres berichtete die „Österreichische Kunstchronik“ über eine weitere Publikation, in der das Gemälde von Siemiradzki Der Triumphzug der Aurora (poln. Tryumfalny pochód Jutrzenki oder Jutrzenka) publiziert wurde, weiters das Gemälde Gebet in einem Franziskanerkloster in Assisi von Gallego165, Spazierfahrt von Milesi166 sowie Madonna mit Diadem von Raphael Santi.167 Die Zeitschrift „Listy o sztuce ze Lwowa“ [Briefe über die Kunst aus Lem- berg] berichtete über eine Ausstellung, die aus Anlass des Zusammenschlus- ses der Lemberger Gesellschaft der Freunde der Kunst mit der Krakauer Ge- sellschaft der Freunde der Kunst organisiert wurde, wie Karl Nitmann in der „Österreichische[n] Kunst-Chronik“ berichtete. Gezeigt wurde u. a. ein Bild, dem großes Lob zuteil wurde, nämlich „[Leon] Fortuński unter dem Titel: »Beim Mäcen«. Die Arbeit erinnert einigermaßen des Malers Siemiradzki und zeichnet sich insbesondere durch gelungene Plastik der Figuren und vorzügli- che Perspektive aus.“168 Von ganz anderem Charakter war ein Pressebericht aus dem Juli 1893 des Inhalts, dass das bereits erwähnte italienische Medium Eusapia Palladino nach der polnischen Malerei im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Sammlungen des Nationalmuseums in Warschau: Ausstellungsführer], Malbork 2002, S. 47. 163 Der Rundgang des Kaisers, „Deutsches Volksblatt“, 8. Mai 1892, S. 6. 164 Musik- und Theater-Ausstellung, „Österreichische Kunst-Chronik“, 1. Juni 1892, S. 278. 165 Fernando Gallego (ca. 1440 –1507), spanischer Maler der Spätgotik und der Frühre- naissance. 166 Alessandro Milesi (1856 –1945), italienischer Maler, spezialisierte sich auf Genrema- lerei. 167 Rafael Santi (1483 –1520), italienischer Maler und Architekt, einer der bedeutendsten Vertreter der italienischen Renaissance. 168 Karl J. Nitman, Kunstbrief aus Lemberg, „Österreichische Kunst-Chronik“, 15. Dezem- ber 1892, S. 647f. 208 Lidia Gerc

Warschau kam.169 Sie war zu einem Treffen mit Dr. Julian Ochorowicz170 ange- reist und besuchte Siemiradzki, bei dem sie in Rom häufig zu Gast war.171 Auf diesen Besuch bezog sich auch Henryk Monat172, ein bekannter Aktivist der polnischen Community in Wien, der den Verlauf der Séance und die anwesen- den „vertrauenswürdigen Personen“ beschrieb.173 In der „Österreichische[n] Kunstchronik“ beschrieb deren Korrespondent auch die Eindrücke seines Besuchs im römischen Atelier von Siemiradzki. Ne- ben einer ausführlichen Beschreibung des Ateliers selbst wurde auch den darin entstehenden Werken viel Aufmerksamkeit geschenkt: „In der sehr bequem und geschmackvoll eingerichteten Villa sind zwei Arbeitsgemächer, das eine, elegant, das eigentliche Atelier höher gelegen. Im ersten eine schöne Farbenskizze des Vorhangs zum neuen Krakauer Theater, im zweiten der Vorhang selbst, wo- ran der Meister eben arbeitet und dessen Vollendung wenigstens noch einige Wochen dauern wird“.174 Nicht dem Atelier schenkt der Verfasser jedoch seine Aufmerksamkeit, son- dern einem im Entstehen begriffenen Gemälde, nämlich dem Vorhang für das im Bau befindliche Theater in Krakau, den der Verfasser des Artikels detail- liert beschrieb: „Die Idee zum Vorhang ist schön, echt künstlerisch, ein neuer Sonnenstrahl des Siemiradzkischen Pinsels“.175 Neben dem bereits erwähnten Vorhang wurden im Atelier noch weitere Gemälde gezeigt: „Siemiradzki erfasste hier einen der wunderbaren Lichteffekte, denen wir im Süden begegnen, indem die letzten Strahlen der sin- kenden Sonne noch die Gipfel der felsigen Uferränder des Meeres vergolden. (…) weiter eines von jenen Werken, welche dem Ma- ler europäischen Ruhm schenkten: »Römische Villa von Barbaren

169 Eusapia Palladino oder Paladino (1854 –1913) war ein italienisches spiritistisches Me- dium, vgl. u. a. Charles Richet, Thirty years of psychical Research, New York 1923, S. 416 – 417. 170 Julian Ochorowicz (1850 –1917) war ein polnischer Psychologe, Philosoph, Erfinder, Dichter, Publizist und Fotograf. Er befasste sich mit Experimentalpsychologie im Bereich me- diumistischer Phänomen und schuf die Grundlagen der Theorie der Ideoplastie. Er gilt als polnischer Pionier der Experimentalpsychologie und Hypnologie. 171 Ein interessantes Medium, „Neues Wiener Journal“, 2. Dezember 1893, S. 2. 172 Henryk Monat (1860 –1936 oder 1937), Anwalt, Literatur- und Kunstkritiker, Über- setzer, er wurde auch als Aktivist der polnischen Community in Wien berühmt, vgl. in: PSB, Bd. 21, Wrocław u. a. 1976, S. 641. 173 Henryk Monat, Feuilleton. Aus der Welt der Wunder, „Neues Wiener Journal“, 19. De- zember 1893, S. 1– 3. 174 „Österreichische Kunst-Chronik“, 20. Dezember 1893, S. 771. 175 Ebd. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 209

beraubt«. (…) Dies traurige Bild zeichnet sich auf dem melancho- lischen Grunde der römischen Campagna, mit einer Rabenschar auf herbstlichem Himmel. Einige Skizze an den Wänden, das be- kannte Bild »Die Piraten«; der erste Entwurf zum Plafond für den Palast des Grafen Zawisza in Warschau, Kartons zu älteren Bildern erinnern an die allbekannten Arbeiten des Künstlers.“176 Der Beginn des Jahres 1894 brachte die erwartete erste Präsentation des Krakauer Vorhangs – in der Rubrik Theater und Kunst der „Wiener Zeitung“ wurde geschrieben, dass Sienkiewicz seinen Vorhang für das Krakauer Natio- naltheater in Rom präsentiert hätte. Der Verfasser lobt die Komposition und die Gestaltung des Vorhangs.177 Weiters beschreibt der Verfasser das Werk de- tailliert und stellt fest: „Diese Composition bringt eine Fülle von Figuren, an denen das Auge mit Wohlgefallen verweilt. Der Künstler ist auch in der Farb- gebung äußerst glücklich gewesen.“178 Der Vorhang rief die Begeisterung des Publikums hervor, wie die Zeitungen berichteten: „Der Vorhang für das Krakauer Theater, welcher von dem polni- schen Maler Heinrich Siemiradzki in Rom gemalt wurde, gelang- te letzter Tage (…) in der Ewigen Stadt zur allgemeinen Ausstel- lung, die Tausende von Personen nach dem »Aquario Romano« lockte. Zur Eröffnung dieser Ausstellung erschien die Königin Margherita179, eine große Liebhaberin und Kennerin der Künste, persönlich und sprach sich sehr schmeichelhaft über das Werk des Meisters aus. Angeregt durch das Gesehene, ließ es die Königin nicht bei diesem Besuche bewenden, sondern suchte den Künstler auch in seinem Atelier auf und verbrachte daselbst mit dem An- schauen seiner Werke eine ganze Stunde, zu wiederholten Malen dem Meister Lob und Anerkennung spendend.“180 Die Informationen aus Rom fanden aus Anlass der Lemberger Landeskunst- ausstellung im Sommer 1894 ihren Weg in diese Stadt. Im Rahmen dieser Ausstellung sollten nicht nur die Gemälde der größten polnischen Meister ge- zeigt werden, die für diese Ausstellung ihre neuesten Werke geschaffen hatten. Der Verfasser schreibt, dass „besonders die polnische Malerei hervorzuheben

176 „Österreichische Kunst-Chronik“, 20. Dezember 1893, S. 771. 177 Theater und Kunst, „Wiener Zeitung“, 20. Februar 1894, S. 20. 178 Ebd. 179 Margherita Maria Teresa Giovanna von Savoyen (1851–1926), Königin Italiens von 1878 bis 1900, Gattin von König Humbert I. 180 Der Vorhang für das Krakauer Theater, „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 14. März 1894, S. 7 und 15. 210 Lidia Gerc wska), ako adzki ). tyna kr iemir ur yk S enr hang ( K or V wski, H akauer wando uelle: Le (Q bbildung 23. Kr A „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 211 ist. (…) in der ganzen Welt kennt und schätzt man die Reihe glänzender Na- men. (…)“181 Später wurde über die Ausstellung geschrieben: “Die polnische Kunst zählt neben den Meistern von Weltruf wie Matejko, Brandt und Siemiradzki eine stattliche Anzahl großer Künstler, deren Werke hier zum ersten Male zusammengestellt und chronologisch geordnet dem Publikum vorgeführt werden. Viele Meister, darunter auch Matejko, Siemiradzki und Brandt, bringen Werke zur Ausstellung, welche, eigens zu diesem Zwecke gemalt, bis jetzt noch nirgends ausgestellt wurden.“182 Ebenso wohlwollend über die Leistungen der polnischen Kunst äußerte sich „Die Presse“: „Über die Anziehung, welche die Ausstellung der polnischen Kunst auszuüben berufen ist, braucht man wohl nicht viele Worte zu verlieren. Namen wie Matejko, Brandt, Siemiradzki, Grottger, Pochwalski, Kowalski183 und so viele andere sind längst der ganzen Welt geläufig.“184 Stellvertretend für zahlreiche vergleichbare Stimmen kann die Feststellung in der Zeitung „Die Presse“ bezeichnet werden: „Ohne dem hier wie allerwärts unvermeidlichen und in einem gewissen Sinne auch berechtigten nationalen Chauvinismus zu schmeicheln, kann man die Lemberger Ausstellung als eine ganz gelungene bezeichnen (…).“185 Über die Ausstellung wurde in der Wiener Presse noch im Herbst geschrie- ben. Damals schrieb Professor Wilhelm Exner, dass „ich auf einer temporären Bilderausstellung in einer Provinzstadt noch niemals so wundersam angeregt, entzückt, gefesselt oder durch Kunstwerke erschüttert worden bin, wie dies in Lemberg der Fall war. Werke von Matejko, Grottger, Siemiradzki, Brandt, Chodowiecki, Pochwalski, Kowalski, Sidorowicz, Ajdukiewicz, Löffler, Grabowsky, Kossak, u.s.w. sind hier in einer so großen Zahl vereinigt wie meines Wissens nie zuvor, (…).“186 Im Herbst besuchte der Kaiser selbst die Ausstellung, über seinen Aufent- halt berichtete die Presse folgendermaßen:

181 Die allgemeine Landes-Ausstellung, „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 13. Januar 1894, S. 9. 182 Theater und Kunstnachrichten, „Die Presse“, 20. März 1894, S. 9 sowie „Das Vater- land“, 21. März 1894, S. 6. 183 Alfred Wierusz-Kowalski (1849 –1915) war einer der herausragendsten Maler der soge- nannten Münchner Schule. 184 Der Fortschritt Galiziens, in: „Die Presse“, 22. März 1894, S.4. 185 Galizische Landesaustellung, „Die Presse“, 6. Juli 1894, S. 14. 186 Wilhelm Exner, Die allgemeine Landes-Ausstellung in Lwów 1894, „Wiener Zeitung“, 1. September 1894, S. 2 – 3. 212 Lidia Gerc

„Im Kunstpavillon wurden Se. Majestät der Kaiser von den ver- sammelten Künstlern Galiziens mit begeisterten »Niech Żyje!« begrüßt. (…) Besonders eingehend betrachtete Se. Majestät (…) die Landschaften von Falat, Genrebilder von Siemiradzki, ein Werk der verstorbenen Malerin Bilińska (…). (…) Allerhöchst- derselbe hatte in der Kunsthalle so lange verweilt, daß der Besuch anderer Objecte heute nicht mehr stattfinden konnte. (…)“187 Das Interesse am Krakauer Vorhang dauerte fort, was ein Besuch von Fi- nanzminister Plener188 in Krakau in Begleitung von Vertretern der Stadt des „aus diesem Anlasse glänzend beleuchteten National-Theaters [zeigte]. Der Mi- nister zollte dem vom Architekten Mieczysław Zawiejski geplanten Prachtbau seine Anerkennung und bewunderte die von Siemiradzki gemalte Courtine.“189 Die „Österreichische Kunstchronik“ widmete der Kunst von 1840 bis in die Gegenwart in einer ihrer Ausgaben ein eigenes Kapitel, in dem die einzel- nen europäischen Länder, die wichtigsten Künstler und die wichtigsten Kunst- phänomene dieser Zeit vorgestellt wurden. Ein Unterkapitel war Ungarn und Polen gewidmet: „Die bedeutendsten ungarischen und polnischen Maler der neueren Zeit sind der in Paris lebende Munkacsy, Matejko (gest. 1893) und Siemiradzki in Rom.“190 „Das Vaterland“ schrieb anlässlich der Veröffentlichung einer Erzählung von Teodor Jeske-Choiński191, dessen Handlung in der frühchristlichen Epo- che angesiedelt war, dass diese „die mildere Antonische Epoche ganz nach Art des polnischen Malers Siemiradzki sehr effektvoll zu illustrieren“192 weiß. Fünf Jahre nach der Fertigstellung des Stadttheaters in Krakau erschien in der Zeitschrift „Der Architekt“ ein Artikel, der sich ausschließlich mit diesem Gebäude auseinandersetzt: Über technische Details und allgemeine Informati- onen hinaus erfahren wir:

187 Se. Majestät der Kaiser in Galizien, „Wiener Zeitung“, 8. September 1894, S. 7 – 9. 188 Ignaz von Plener (1810 –1908) war ein österreichischer Politiker, vgl. Helmut Rumpler, Plener, Ignaz Freiherr von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 529. 189 Krakau, 27 September, „Neue Freie Presse“, 27. August 1894, S. 3, der gleiche Text wur- de auch im „Das Vaterland“, 28. August 1894, S. 4 und in der „Wiener Zeitung“, 28. August 1894, S. 3 sowie im „Neuigkeits-Welt- Blatt“, 29. August 1894, S. 2 publiziert 190 Achte Periode (1840 bis auf Gegenwart). Malerei, „Österreichische Kunst-Chronik“, 15. März 1896, S. 139. 191 Teodor Józef Fryderyk Jeske-Choiński, Pseudonyme: M. Bogdanowicz, Pancerny, Hab- dank, T. J. Orlicz. (1854 –1920) war Romancier, Publizist, Kritiker, Historiker und Drama- turg, vgl. u. a. Jacek Kloczkowski / Michał Szułdrzyński (Hgg.), Drogi do nowoczesności. Idea modernizacji w polskiej myśli politycznej [Wege zur Moderne. Die Idee der Moderne im polni- schen politischen Denken], Kraków 2006, S. 160. 192 „Das Vaterland“, 13. März 1897, S. 9. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 213

„Unstreitig bildet eine große Sehenswürdigkeit der Hauptvor- hang, welcher von dem berühmten polnischen Maler Henryk Sie- miradzki in Rom gemalt wurde. Dieser Vorhang ist eigentlich ein farbenprächtiges Kolossalgemälde von 100 m2 Fläche und ist ein eigenhändiges Werk des Meisters; folglich ist es für jeden Kunst- kenner und auch für jeden Laien von großem Interesse. Kein Fremder wird versäumen, dieses Werk polnischer Kunst, falls sich ihm nicht die Gelegenheit bietet, einer Theatervorstellung beizu- wohnen, wenigstens bei Tage durch Vermittlung des Hausinspec- tors zu besichtigen.“193 Anlässlich Berichten aus Rom über einen Kongress der Künstlervereini- gung wurden am zweiten Tag Journalisten eingeladen, die ihre Leser über den Verlauf des Treffens informierten: „Nach dem Congresse (…) legten die pol- nischen Congressmitglieder in Anwesenheit des Sindaco Fürsten Ruspoli und des Malers Siemiradzki auf dem Capitol einen prachtvollen Lorbeerkranz vor der Büste des Dichters Mickiewicz nieder.“194 Auch über einen kleinen Skandal erfahren wir aus den Zeitungen. In Ber- lin wurde die Präsentation bestimmter Gemälde beziehungsweise insbesondere von Gemäldeausschnitten in den Schaufenstern von Galerien untersagt, um kein öffentliches Ärgernis zu erregen. Ein Gesetzeshüter befahl, aus einer Gale- rie Reproduktionen bekannter Kunstwerke zu entfernen: „Unter den Bildern, die das sittliche Gefühl verletzt hatten, be- fand sich Böcklins berühmtes Gemälde aus der Schack-Galerie »Nereïden«; ferner wurden zwei Reproduktionen nach Werken Siemiradzkis (…) beanstandet. (…) Als der Schutzmann darauf aufmerksam gemacht wurde, dass sich das Original des Bildes in der Schack-Galerie befinde, soll er geantwortet haben: »Das ist mir ganz gleich; ins Schaufenster gehört so was nicht!«“195 „Das Vaterland“ kommentierte seinen Bericht über das Geschehnis folgen- dermaßen: „Der Schutzmann hat ganz Recht gehabt. Nicht alles, was in einer nicht jedermann zugänglichen Galerie zu sehen ist, gehört ins Schaufenster, wo es auch von jungen Leuten und Kindern gesehen werden muss!“196 Bereits ein paar Jahre früher, im Jahr 1879, war es wie bereits erwähnt zu einem vergleich- baren Ereignis gekommen. Damals wurde die Präsentation einer Reproduktion des Gemäldes Das Weib oder die Vase bzw. eines Gemäldeausschnittes kritisiert.

193 Das Stadttheater in Krakau vom Architekten k.k. Prof. Jan Zawiejski, „Der Architekt“, 1898, S. 9. 194 Der Sechste Internationale Pressekongress, „Neue Freie Presse“, 8. April 1899, S. 7. 195 Armer Böcklin!, „Arbeiter Zeitung“, 22. Jänner 1900, S. 8. 196 Böcklin polizeilich beanstandet, „Das Vaterland“, 23. Jänner 1900, S. 5. 214 Lidia Gerc

Zu Beginn eines neuen Jahres sowie des neuen Jahrhunderts entstand auch ein weiteres großes Gemälde von Siemiradzki: „Der berühmte polnische Maler Heinrich Siemiradzki ist in Rom mit der Finalisierung der für die neue Lemberger Bühne be- stimmten Courtine beschäftigt. Nach vollständiger Fertigstellung wird dieselbe nach Warschau zur Inauguration der Ausstellung der schönen Künste gesendet werden und von dort gelangt sie dann nach Lemberg.“197 Im Juli informierte die „Neue Freie Presse“ über das weitere Schicksal des Lemberger Theatervorhangs. „Siemiradzki hat den Vorhang, den er für das Lemberger Stadt­ theater zu malen übernahm, vollendet und ehe er ihn an seinen Bestimmungsort sendet, im großen Saale des Aquario Roma- no ausgestellt, nach welchem nun die Kunstliebhaber in hellen Schaaren wandern. Der vom Römer Retrosi prächtig, im classi- schen Style, eingerahmte Vorhang stellt eine symbolische Hand- lung dar, die, wie jede Symbolik, der Erklärung ihres Urhebers bedarf.“198 Und weiter heißt es, Siemiradzki „habe mitten in einer hellenischen Landschaft der Begeisterung einen Tempel gebaut (…). Die Landschaft gibt der figuralen Dar- stellung einen angemessenen Hintergrund. (…) Das Werk wirkt: sehr dekorativ, aber offen gesagt, als Theaterdecoration scheint es uns der Anlage nach eine misslungene Arbeit zu sein.“199 Die Reaktion auf den Lemberger Vorhang, der sowohl Begeisterung als auch insbesondere Kritik hervorgerufen hatte, u. a. von Gabriela Zapolska200, waren noch nicht verklungen, als die Kunstwelt von der unerwarteten Nach-

197 Kunst, „Sport und Salon“, 8. Februar 1900, S. 10. 198 Ebd. und R.d.F., Theater- und Kunstnachrichten, „Neue Freie Presse“, 20. Juni 1900, S. 10. 199 Ebd. Diesem Artikel zufolge wird der Vorhang in Lemberg als besseres Werk als der äußerst wohlwollend aufgenommene Vorhang in Krakau betrachtet, diese Kritik ist vermut- lich das Ergebnis der allgemeinen Ablehnung des Akademismus und der intensiven Kritik, die Siemiradzki in Polen zuteilwird. 200 Es handelt sich um den Text von Gabriela Zapolska, I Sfinks przemówi… / Kurtyna Sie- miradzkiego [Und die Sphynx spricht … / Der Vorhang Siemiradzkis], u. a. in „Słowo Polskie“ 569, 1900. Kritisch über Siemiradzkis Werke äußerte sich auch Stanisław Witkiewicz, der ihnen mangelnde Tiefe vorwarf, vgl. Stanisław Witkiewicz, Sztuka i krytyka u nas (1884 –1898) [Kunst und Kritik bei uns], Lwów 1899. Diese Publikation wurde auch in Wien rezipiert. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 215 richt über den Tod Siemiradzkis erschüttert wurde. Die „Wiener Zeitung“ brachte als erste die Nachricht über den Tod des Künstlers: „Der Draht bringt aus Lemberg die Nachricht, dass der berühmte polnische Maler Henryk von Siemiradzki zu Strzalkowo in Rus- sisch-Polen gestorben ist. Mit ihm ist diejenige Persönlichkeit der modernen polnischen Kunst aus dem Leben geschieden, welche auch im Auslande, in ganz Europa wie drüben in Amerika zu all- gemeiner Anerkennung durchgedrungen ist. Sein Künstlername, hatte guten Klang, und seit Matejko war kein polnischer Maler so allbekannt geworden. »Die lebenden Fackeln des Nero«, sein Hauptwerk, war das Bild, das ihm so großen Ruhm erwarb. Es war eine Zeitlang das Modebild der »Gebildeten« und in zahlrei- chen Photographien und Drucken jeder Art vervielfacht. Fast alle illustrierten Blätter brachten Reproduktionen davon. – Siemi- radzki ist im 60. Lebensjahr gestorben. Am 15. November 1843 zu Petschenegi bei Charkow in Süd-Russland geboren, widmete er sich zuerst dem Studium der Naturwissenschaften an der Hoch- schule von Charkow, ehe er sich an der St. Petersburger Kunstaka- demie zum Maler ausbildete. Seit 1870 war er auf Studienreisen in Deutschland begriffen. München und namentlich Piloty sol- len ihn gefesselt haben. Doch war Karl von Piloty niemals sein Meister. Das ist ein allgemein verbreiteter, in alle Bücher über- gegangener Irrtum. Ein starker Zug zur monumentalen Historie im dramatischen, um nicht zu sagen, theatralischen, groß-opern- haften Sinne war ihnen freilich beiden gemeinsam, auch das Be- streben, markig, farbig und glutvoll zu sein. Von der Isar zog der polnische Meister an den Tiber. In Rom blieb er lange. Die üp- pige wahnwitzige Prachtliebe der spätrömischen Kaiserzeit, ihre sinnliche Decadence, ihre Grausamkeit und Wollust wollte er in den Bereich malerischer Darstellung rücken – blumenumkränz- te nackte Leiber, blutumrieselte geschmückte Leichen und die Unerbittlichkeit historischen Geschehens als tieferen Sinn. Aus dieser Atmosphäre qualmte auch das Rauchgewölk der lebenden Fackeln des Nero auf, die grauenvolle Allee von aufgerichteten Lattengerüsten mit den daran gefesselten Leibern der christlichen Märtyrer. Siemiradzki las eifrig archäologische Studien und kann- te schließlich jedes antike Gerät, auch das geringste, so genau, wie es heute nur noch Alma Tadema in London kennt. Pompeji lehrte ihn viel. In der Darstellung des Stofflichen, namentlich des Marmors, der Bronze, des Goldes, erwarb er besondere Meister- schaft. Das Rot seiner Togen ist von starker Leuchtkraft, und auch sein tiefes Kobaltblau hat intensiven Tonreiz und Tonwert. Sein erstes Bild »Christus und Sünderin« (1873) sandte er von Rom nach St. Petersburg, und Kronprinz Alexander, der spätere Kaiser 216 Lidia Gerc

Alexander IIII., kaufte es sofort an. »Die Fackeln«, die 1876 be- endet wurden, besitzt heute das Krakauer Nationalmuseum. »Die Vase oder Slavin« ((1879) kam dem Hauptbilde in der Popularität am nächsten. Heute ist diese Leinwand im Kestner-Museum zu Hannover. Der »Schwertertanz« (1880) und die »Phryne« (1888) wären noch zu nennen und „Christus bei Martha und Maria“. Die beiden letztgenannten Bilder sind im Neuen Alexander-Museum in St. Petersburg. Die Erlöser-Kirche zu Moskau besitzt ein »Heil. Abendmahl« von seiner Hand, und in der evangelischen Kirche zu Krakau ist »Christus, die Wellen beruhigend«. Im dekorati- ven Fache leistete Siemiradzki gleichfalls Hervorragendes. Seine Deckenbilder »Triumphzug der Aurora« und »Frühling« sind im Palaste Netschajew-Malzew in St. Petersburg. Die Hauptvorhän- ge in den Theatern zu Krakau und Lemberg sind interessante, effektvolle Arbeiten. Siemiradzki, der polnische Piloty, hat schon 30 Jahre eine Richtung eingeschlagen, die in jüngster Zeit seinem Landsmann, dem Romancier Henryk Sienkiewicz, zu großem Er- folge auf anderem Gebiete verholfen hat. »Quo vadis« steht dem Siemiradzki sehr nahe in Ton, Führung und Stil. Heute hat sich die polnische Kunst bereits anderen Zielen zugewendet, doch wird sie auch ihrem großen Archäologen einen dauernden Platz in ihrer Ehrenhalle gönnen und lassen.“201 Nekrologe erschienen auch am gleichen Tag im „Neue[n] Wiener Journal“202 sowie in anderen Zeitungen. Auch ein Nachruf aus dem „Neue[n] Wiener Tagblatt“203 (Tages-Ausgabe) vom 26. August 1902, der auch in anderen Zeit- schriften publiziert wurde, sei an dieser Stelle zitiert: „† (Henryk v. Siemiradzki) Der berühmte polnische Historien- maler, der vorgestern auf seinem Gute Strzalkowo in Russisch- Polen im 59. Lebensjahre gestorben ist, hat seine ersten großen Werke Anfang der Siebzigerjahre geschaffen. »Die römische Or- gie« und »Christus und die Sünderin«, die in Rom entstanden, machten seinen Namen bekannt; das größte Aufsehen aber er- regte »Die Fackeln des Nero«, ein Gemälde, das Jahre hindurch sozusagen ein Modebild war und das in zahllosen Photographien

201 (Henryk von Siemiradzki †), „Wiener Zeitung“, 25. August 1902; „Wiener Post“, 25. August 1902, S. 5. 202 „Neues Wiener Journal“, 7. September 1902, S. 10 –11. Das Journal berichtete über die letzten Lebensstunden Siemiradzkis: „Um 11 Uhr nachts verlangte er nach einem Stück Papier und schrieb: „Nichts verlange ich eher von der Welt … Ich empfinde den körperlichen Schmerz zu sterben … ich möchte noch leben für meine Familie … bitte verzeiht mir meine Fehler. Dann nickte er für einige Minuten an, anschließend versank er in Agonie und verstarb um 2 Uhr nachts.“ 203 „Neues Wiener Tagblatt“ (Tages-Ausgabe), 26. August 1902, S. 5. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 217

und Drucken jeder Art verbreitet wurde. Seit Matejko war kein polnischer Maler so populär wie Siemiradzki, der der polnische Piloty genannt wird. Siemiradzki stellte mit Vorliebe Scenen aus der spätrömischen, üppigen Kaiserzeit dar; er war ein gewiefter Archäologe, der jedes antike Gerät auf das allergenaueste kannte, und ein Meister in der Darstellung des Stofflichen, insbesondere des Marmors, der Bronze und des Goldes. Sein Bild »Christus und die Sünderin« (1873) sandte er von Rom nach Petersburg, und Kronprinz Alexander, der spätere Kai- ser Alexander III., kaufte es sofort an. »Die Fackeln« die 1876 be- endet wurden, besitzt das Krakauer Nationalmuseum. Die »Vase oder Sclavin« (1879) kam dem Hauptbilde in der Popularität am nächsten. Heute ist dieses Bild im Kestner-Museum zu Hanno- ver. Von seinen übrigen Werken seien genannt: »Der bettelnde Schiffbrüchige«, »Der Amulettenverkäufer«, »Aus den Katakom- ben«, »Phryne«, »Der Schwertertanz« und eines seiner letzten großen Gemälde »Versuchung des heiligen Antonius« [gemeint war Versuchung des heiligen Hieronymus – Anm. d. Verf.], das 1891 entstand. Die Malereien in der Heilandskirche zu Moskau stammen gleichfalls von Siemiradzki, und er ist auch der Schöp- fer des in der evangelischen Kirche zu Krakau befindlichen Ge- mäldes: »Christus, die Wellen beruhigend«. Zwei hervorragende Deckengemälde »Triumphzug der Aurora« und »Frühling« schuf er neuerdings im Palast Netschajeff-Malzeff in Petersburg. Seine letzte große Arbeit war der Hauptvorhang für das neue Theater in Lemberg.“204 Nach dem Tod des Künstlers wurden immer seltener Informationen über seine Werke publiziert. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs wurden in der Wiener Künstlerhalle Werke von Jan Matejko, Artur Grottger und der „international anerkannten Größe“ Henryk Siemiradzki gezeigt. Das „Neue Wiener Journal“ schreibt, er wäre „nur durch eine kleine Skizze zu seinem weltbekannten Bilde »Das Weib oder die Vase« vertreten, aber trotzdem ausreichend vertreten, weil ja auch da sofort das Gefäß der Ideenassoziation in Kraft tritt und die Erinnerung nachhilft. Siemi- radzki nimmt hier insofern eine Sonderstellung ein, als seine Kunst internatio- nal, also heimatlos erscheint.“205 Beunruhigende Informationen über das Schicksal polnischer Kunstwerke in der Ukraine, darunter auch über ein Werk von Siemiradzki, veröffentlichte

204 „Neues Wiener Tagblatt“ (Tages-Ausgabe), 26. August 1902, S. 5. 205 Polnische Malerei. Die Ausstellung im der Künstlerhalle, „Neues Wiener Journal“, 13. April 1915, S. 9. 218 Lidia Gerc die Zeitschrift der polnischen Community in Wien „Polen“. Unter dem dra- matischen Titel Vernichtete polnische Güter in der Ukraine206 wurde über die Zerstörung des Schlosses von Graf Czapski in Miropol (Wołyń) geschrieben, ein ähnliches Schicksal wurde auch seiner Bibliothek zuteil, die Bücher wurden in einen Teich geworfen. „Auf dem Gute des Grafen Adam Orłowski, Kuryłówka (Kreis Lityń, Podolien) gingen während der Zerstörung des Schlosses durch die Bauernschaft kostbare Sammlungen von Porzellan, Kristallen und Bildern zugrunde; (…) Das im Schlosse befindli- che berühmte Gemälde von Henryk Siemiradzki »Schwertertanz« wurde von dem ukrainischen Kommissar Stepura nach Kamie- niec Podolski gerettet.“207 Damit waren aber Zeitungsartikel über das Schaffen von Siemiradzki noch nicht zu Ende. In den letzten Jahren finden wir den Namen Siemiradzki vor allem in den Informationsmaterialien des Wiener Auktionshauses Dorotheum, wo seine Werke und sogar lediglich Kopien davon höhere Preise als erwartet erzielten. Auf einer Auktion im April 2018 wurde für eine Kopie des Gemäl- des Phryne 241.400 Euro bezahlt. Verfolgt man die Auktionen des Dorothe- ums kann man feststellen, dass für die Werke Siemiradzkis sowie für Kopien Jahr für Jahr höhere Preise erzielt wurden. Ein aktueller Artikel von Edwin Baumgartner zeigt, wie sehr Siemiradzki im Bewusstsein der Österreicher im- mer noch präsent ist. Baumgartner veröffentlichte seinen Text am 8. Oktober 2018 in der „Wiener Zeitung“208 unter dem Titel Rufmord! Vor 1950 Jahren beging Kaiser Nero Suizid – sein Beispiel lehrt den Umgang mit Fakten und Fake News, in dem er über historischen Fakten während der Herrschaftszeit Neros und mitunter falsch überlieferte Fakten schreibt. Illustriert ist sein Beitrag mit Siemiradzkis Gemälde Lebende Fackeln Neros, von dem der Verfasser schreibt, dass es die stereotype Rezeption der Zeit Neros in der europäischen Tradition gefestigt hätte.209

206 Die Vernichtung polnischer Güter in der Ukraine, „Polen – Wochenschrift für polnische Interessen“, Nr. 2, 1918, S. 224. 207 Ebd. 208 In der „Wiener Zeitung“ wurden bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Feuilletons und Informationen über Henryk Siemiradzki und sein Schaffen publiziert, die in diesem Artikel vorgestellt wurden. 209 Vgl. https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/mehr_kultur/969757_Rufmord. html (Zugriff: 14. September 2019) sowie Holger Sonnabend,Nero – Inszenierung der Macht, Darmstadt 2016. „Er ist ein Anakreon unter den Malern“. Über Henryk Siemiradzki in Wien 219

Das in diesem Beitrag vorgestellte Quellenmaterial stellt eine Chronik der Präsenz und der Rezeption des Schaffens von Henryk Siemiradzki in Wien dar. Erstellt man eine Statistik, wie viele Artikel zu welchem Zeitpunkt erschienen sind, kommt man zum Ergebnis, dass Siemiradzki in der Zeit von 1876 bis in die Mitte der 1890er Jahre am häufigsten in den Wiener Zeitungen genannt wurde. Insgesamt erschienen 48 ihm gewidmete Artikel. Am öftesten wurde über ihn in der Zeitung „Neue Freie Presse“210 geschrieben. In dieser Zeitung wurden 25 Artikel über ihn publiziert, in der „Wiener Zeitung“211 22. Bemer- kenswert ist auch, dass die „Österreichische Kunst-Chronik“212 in der Zeit von 1879 bis 1911 21 Artikel über Siemiradzki publizierte. Seltener war er in ande- ren Zeitungen und Zeitschriften präsent, beispielsweise in „Das Vaterland“213 (16 Feuilletons), im „Neuigkeits-Welt-Blatt“ (13 Artikel), in der „Illustrirte[n] Sport Zeitung“214 (8), sowie im „Neue[n] Wiener Journal“215. Insgesamt wurde in 34 in Wien erschienenen Zeitungen über ihn geschrieben, sein Name trat über 500 Mal in Erscheinung. Herausgefunden werden konnte auch, wann Siemiradzki erstmals seine Zugehörigkeit zum akademischen Realismus vorge- halten wurde, nämlich in einem Artikel von Ennio Ranzoni im Jahr 1890.216 Das größte Interesse an Siemiradzki ist in der Zeit von 1876 bis in die Mitte der 1880er Jahre zu verzeichnen. Danach war sein Name seltener präsent. Nach seinem Tod wurde in den Zeitungen nur mehr selten über ihn geschrieben, nach dem Ersten Weltkrieg noch seltener. Man kann sagen, dass er im Grunde erst anlässlich einer Auktion im Dorotheum in die Wiener Zeitungslandschaft zurückkehrte. Wenn er auch mit der Zeit in Vergessenheit geriet, lässt sich dennoch feststellen, dass er im Bewusstsein der Wiener weiterhin präsent ist.

210 Die „Neue Freie Presse“ wurde von Max Friedländer, Michael Etienne und Adolf Werthner am 1. September 1864 gegründet. 211 Die „Wiener Zeitung“ wurde 1703 vom Drucker Johann Baptiste Schönwetter und vom Journalisten Hieronymus Gmainer gegründet, anfangs erschien sie unter dem Titel „Wie- nerisches Diarium“. Sie gilt als die älteste, fortlaufend erscheinende Zeitung der Welt. 212 Die „Österreichische Kunst-Chronik“ erschien ab 1879 zweimal im Monat in Wien, später hieß sie „Österreichisch-ungarische Kunst-Chronik“, in der Zeit von 1881–1896 er- schien sie als „Allgemeine Kunstchronik. Illustrierte Zeitschrift für Kunst, Kunstgewerbe, Mu- sik, Theater und Literatur“. 213 Das „Vaterland“ war eine in Wien herausgegebene Tageszeitung mit katholisch-aristo- kratischem Leserkreis, sie erschien in der Zeit von 1860 bis 1911. 214 Die „Illustrirte Sport-Zeitung“ war eine in Wien in der Zeit von 1878 bis 1880 heraus- gegebene Wochenzeitung, später erschien sie unter dem Titel „Sport und Salon“. 215 Das „Neue Wiener Journal“ war eine Tageszeitung, die in der Zeit von 1893 bis 1939 in Wien erschien. 216 Ennio Ranzoni, Die jährliche Münchner Ausstellung, „Neue Freie Presse“, 5. August 1890, S. 1 sowie S. 2 – 3. 220 Lidia Gerc

Sein Schaffen wurde beobachtet, analysiert und beurteilt. Auch wurden sei- ne Bilder genau beschrieben, manchmal lesen sich diese Beschreibungen wie ein spannender Roman. Man versuchte, Vorbilder und Inspirationsquellen des Künstlers zu finden und man fand auch Werke, die Siemiradzki als Inspirati- onsquelle gedient hatten. Die regelmäßig publizierten Artikel wurden zu einer Art Chronik der Ausstellungen und der Präsenz der Werke von Siemiradzki in Wien sowie in weiteren Städten. Festzuhalten ist auch, dass sich das In- teresse der Presse nicht nur auf die in Wien gezeigten Arbeiten beschränkte. Beobachtet wurde auch das Schicksal seiner Arbeiten fern der Hauptstadt der Donaumonarchie. Zweifelsohne war er eine Persönlichkeit, die sich aus der Masse hervorzuheben wusste. Siemiradzki wusste Aufmerksamkeit hervorzu- rufen, selbst dann, wenn er nur einer von vielen Gästen war und selbst nicht aktiv an einem der beschriebenen Ereignisse teilnahm, wurden die Leser über seine Anwesenheit genau informiert. Er war eine Persönlichkeit, die durch ihre bloße Präsenz gesellschaftlichen Zusammenkünften eine besondere Bedeutung verlieh. Auf der Grundlage der in diesem Beitrag zusammengestellten Materia- lien kann man zweifelsohne feststellen, dass Siemiradzki in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien einer der bedeutendsten europäischen Künstler sowie eine äußerst populäre Persönlichkeit war, die nicht nur von Kunstken- nern geschätzt wurde.

Lidia Gerc, Mag., studierte Denkmalpflege an der Fakultät für Schöne Küns- te an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń und absolvierte, ebenfalls an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń, ein Postgraduatestudium für Informationsvermittlung und Informationsmanagement. Sie ist Autorin so- wie Coautorin einer Reihe von Veröffentlichungen über Architektur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie über zeitgenössische Architektur. Sie wirkte auch bei der Erstellung von Denkmalschutzprogrammen für einige polnische Städte mit. Von 2013 bis 2018 war sie Bibliothekarin am Wissen- schaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Zurzeit arbeitet sie an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń als Bib- liothekarin. Jerzy Lisak

Mein Abenteuer mit dem Film Loving Vincent

Mein Abenteuer mit dem Film Loving Vincent begann mit der Anzeige in einer Zeitung, die mir meine Freundin geschickt hatte. Es war dies bereits einige Jahre, nachdem ich 2002 die Akademie der bildenden Künste in Gdańsk (Dan- zig) abgeschlossen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit verschiedenen Techniken gearbeitet, ich hatte jedoch keine Erfahrung mit der Arbeit mit Fil- men. In der Anzeige ging es um eine Arbeit bei einem Animationsfilm. Ich sollte mein Portfolio schicken und an einem kurzen, drei Tage dauernden Test teilnehmen, in dessen Rahmen unsere allgemeine malerische Begabung sowie insbesondere unser Talent für Animationsfilme überprüft werden sollte. Eine Testaufgabe war es, eine kurze Filmsequenz mit einem Schauspieler nach einem Bild von Vincent van Gogh umzuarbeiten – nach dem Porträt von Doktor Gachet, wobei wir das Bild mit dem Gesicht des Schauspielers überlagern und es nach einem Referenzfilm animieren sollten, wobei wir dem Stil des Gemäl- des von Vincent van Gogh treu bleiben sollten. Es gelang mir innerhalb kurzer Zeit, ein solcherart animiertes gemaltes Bild zu schaffen. Die Tests fanden in einem ehemaligen Bürogebäude auf dem Gelände der Werft in Gdynia statt. Die Idee für diesen Film entstand neun Jahre früher. Vor dessen Umsetzung hatte Dorota Kobiela, die Regisseurin des Films, die Idee für einen 30-minü- tigen Kurzfilm, ihr Ehemann, der britische Filmproduzent Hugh Welchman, dessen Kurzfilm Peter und der Wolf mit einem Oscar ausgezeichnet worden war, schlug ihr jedoch vor, einen abendfüllenden Spielfilm zu drehen, was die Notwendigkeit mit sich brachte, ein großes Team von Malern zu beschäftigen. Schließlich arbeiteten in drei Studios ungefähr 115 Maler. Die Animations- studios befanden sich in Gdańsk, in Wrocław (Breslau) sowie in der Nähe von 222 Jerzy Lisak

Athen – in einem mit Breakthrufilms befreundeten Studio, in dem Puppen­ animationen produziert werden. Das größte Studio, in dem die „key frames“ produziert wurden, befand sich im wissenschaftlich-technologischen Zentrum in Gdańsk.

Abbildung 1. Jerzy Lisak bei der Arbeit (Jerzy Lisak – „key frame“ zu Loving Vincent, Szene Im roten Café).

Nach einer gewissen Zeit wurde ich dazu eingeladen, an einer Schulung für Animationsmalerei teilzunehmen, da ein solcher Beruf von Grund auf erlernt werden muss. So begann meine regelmäßige Arbeit am Film in der Zeit von 2014 bis 2017. Im Rahmen der Schulung erhielten wir sehr inte- ressante Aufgaben, beispielsweise die Animation von Regen, die Animation der Transformation eines Bildes von Vincent van Gogh in ein weiteres sowie die Animation einer sprechenden Gestalt. Grundlage all dieser Animationen war es, dem Stil von Vincent van Gogh treu zu bleiben, da dessen Malstil der grundlegende Bezugspunkt hinsichtlich des Stils war, der den künftigen Film charakterisieren sollte. Zu diesem Zweck haben wir einige Kopien angefertigt, beispielsweise die Kirche in Auvers, ein Selbstporträt von Vincent sowie eine Landschaft mit Sonnenuntergang. Dabei wurde unsere Begabung getestet, den Malstil von Vincent van Gogh so getreu wie möglich wiederzugeben. Ziel war es auch herauszufinden, was wir am besten wiedergeben können, beispielsweise Mein Abenteuer mit dem Film „Loving Vincent“ 223

Abbildung 2. Key frame: Roter Weinberg – das einzige Bild, das zu Lebzeiten von Vincent van Gogh verkauft wurde (Jerzy Lisak – „key frame“ zu Loving Vincent).

Abbildung 3. Key frame: Vincents Zimmer im gelben Haus als Nachtszene (Jerzy Lisak – „key frame“ zu Loving Vincent). 224 Jerzy Lisak

Abbildung 4. Key frame: Armand mit einem Jungen (idiot boy) in einer Nachtszene (Jerzy Lisak – „key frame“ zu Loving Vincent).

Abbildung 5. Key frame: Nachtansicht von Vincents Zimmer in Auvers sur Oise (Jerzy Lisak – „key frame“ zu Loving Vincent). Mein Abenteuer mit dem Film „Loving Vincent“ 225

Porträts oder Landschaften. Eine sehr interessante Aufgabe war auch die Trans- formation eines Fotos des Schauspielers in ein Bild im Stile des Porträts von Armand Roulin von Vincent van Gogh, dem Haupthelden des Films. Es ist erwähnenswert, dass zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden war, wer im Film die Hauptrolle spielen sollte und wir daher ein Bild von den erst vorläufig bestimmten Schauspielern auswählten. Nach der Schulung wurde ich in eine kleine Gruppe von etwa zehn Perso- nen eingeladen, die in einem Studio im Danziger wissenschaftlich-technologi- schen Zentrum arbeitete und deren Aufgabe es war, sogenannte „key frames“ anzufertigen. Diese sollten in dieser Etappe des Produktionsprozesses den Stil des Films bestimmen. Wir malten diese zunächst gemäß dem „storyboard“, also als Zeichnungen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Comics aufwei- sen. Daran arbeiteten einige Künstler, u. a. January Misiak und Piotr Domi- niak. Wir malten damals sogar „key frames“ für Szenen, die später, nachdem das Drehbuch geändert wurde, nicht im Film gezeigt wurden, beispielsweise die Begegnung von Armand und seinem Vater, dem Postmeister, mit Edward Munch im gelben Café in Arles, die gewissermaßen auf den Spuren von Vin- cent van Gogh reisten. Die Wiedergabe von Gemälden von Vincent van Gogh machen einen großen Teil des Films aus, eine Reihe von Bildern mussten je- doch in Nachtszenen transformiert werden. So mussten beispielsweise aus dem gelben Haus sowie aus dem Schlafzimmer von Vincent van Gogh im gelben Haus in Arles, die bei Tag dargestellt wurden, Szenen in nächtlichem Licht gemacht werden. Mitunter war es auch notwendig, ein neues Bild zu malen, das einige Bil- der von Vincent van Gogh miteinander verbindet, oder im Stile von Vincent van Gogh Bilder zu malen, die dieser so nie gemalt hatte – beispielsweise das Zimmer von Vincent van Gogh im Wirtshaus Ravoux in Auvers-sur-Oise, wo Vincent verstarb. Wir kennen kein Bild, das diesen kleinen bescheidenen Raum zeigt. Auch war es notwendig, Bilder der Schauspieler in Gemälde zu transformieren, die im farbigen Teil des Spielfilms auftraten. Im Zuge der Entwicklung der plastischen Vision des Filmes waren wir mit einer schwierigeren Aufgabe konfrontiert als es Animationsmalerei an sich dar- stellt. Referenzmaterial dafür waren zwei Spielfilme, die in Studios in Lon- don gedreht worden waren, (der Farbfilm war von der Malerei von Vincent van Gogh inspiriert und gibt die Handlung des Spielfilms wieder) sowie in Wrocław in Polen (ein Schwarz-Weiß-Film mit Erinnerungen an die Vergan- genheit bzw. das Leben von Vincent van Gogh, der so getreu wie möglich den Effekt von Schwarz-Weiß-Fotografien wiedergeben soll). An der Animation 226 Jerzy Lisak arbeiteten wir in speziell konstruierten Boxen, die die Form von kleinen, aber verhältnismäßig hohen Räumlichkeiten hatten, in denen sich ein Stahlgerüst befand, sowie ein Beamer, ein Fotoapparat und ein spezielles Pult, auf das wir sorgfältig grundierte Platten schraubten, die unsere Arbeitsgrundlage bildeten, das etwas größer war als das jeweils beabsichtigte Bild. Ziel eines solchen Rau- mes war es, von den äußeren Bedingungen möglichst abgeschlossen zu sein und eine möglichst gleichmäßige Ausleuchtung der Bilder zu ermöglichen. Als wir die ersten plastischen Konzepte malten, war dies nicht von größerer Be- deutung und als kleine Gruppe arbeiteten wir im offenen Raum des Studios an analogen, jedoch nicht geschlossenen Arbeitsplätzen. Animiert wurden die von uns gemalten Szenen mit Hilfe eines speziellen Computerprogramms, das es ermöglichte, das soeben gemalte Schlüsselbild bzw. den „key frame“ mit dem jeweils vorhergehenden zu vergleichen. Auf diese Weise konnte laufend der kontinuierliche Bildfluss der Bilder überprüft werden. Die im Film verwendete Öltechnik ist ihrer Natur nach sehr plastisch und vielseitig, brachte jedoch auch zahlreiche Schwierigkeiten mit sich. Ölfarben trocknen nicht sofort aus, im Laufe der Animation trocknen sie jedoch allmäh- lich, was Änderungen an der Animation bedeutend erschwerte. Daher war ins- besondere bei längeren Einstellungen ein Mittel vonnöten, das das Trocknen hinauszögern würde. Ich habe verschiedene Substanzen getestet, beispielsweise Paraffinöl sowie nicht trocknende Pflanzenöle, die diese Eigenschaft hätten. Als die einzige wirklich wirksame Substanz erwies sich Nelkenöl, ein ätheri- sches Öl, das bei der Destillation aus den Blütenknospen und Blättern des exo- tischen Nelkenbaums gewonnen wird und in der Küche häufig in Form von getrockneten Knospen als Gewürz für Kuchen oder Getränke verwendet wird. Nelkenöl verzögerte dank meiner Anwendung die Trocknung erheblich, auch das Trocknen von schnelltrocknenden Farben wie Preußischblau, die in unse- rer Animation häufig verwendet wurde und dessen dünne Schicht an einem Tag trocknen kann. Animationsmalerei ähnelt etwas der Einzelbildanimation einer Puppe. Der Unterschied besteht darin, dass anstelle einer Bewegungs- sequenz Ölfarbe auf der Leinwand bewegt wird, die bei der Gestaltung der Gemälde von Vincent van Gogh mit dicken Pinselstrichen aufgetragen wird (in sogenannter Impastotechnik, die für die Gemälde von Vincent van Gogh charakteristisch ist), auf jede Bewegungsänderung fallen zwei Bilder – also ein veränderter Frame und zwei Bilder dieser Veränderung. Manchmal waren diese Veränderungen des Bildes geringfügig, mitunter, wenn in einer Aufnahme eine Bewegung der Kamera stattfand, musste man es entfernen und das Bild von Grund auf neu malen. Mein Abenteuer mit dem Film „Loving Vincent“ 227

Abbildung 6. Key frame: Gespräch von Millet and Armand im roten Café (Jerzy Lisak – „key frame“ zu Loving Vincent).

Abbildung 7. Key frame: Im roten Café mit Millet. Armand schläft (Jerzy Lisak – „key frame“ zu Loving Vincent). 228 Jerzy Lisak

Bei der Entstehung des Films wurde mir u. a. die plastische Gestaltung und die Animation des roten Cafés und dessen Umgebung anvertraut. Haupt- sächlich habe ich farbige Szenen animiert. Die Arbeit an der Animation wur- de durch das Malen aufeinanderfolgender „key frames“ unterbrochen, da ich als eine von sieben Personen bis zum Ende der Produktion des Films ein so- genannter „painting designer“ wurde. Ich war eine jener Personen aus dieser Gruppe, die die zur Nachtzeit stattfindenden Szenen wie das bereits erwähnte gelbe Haus und das Zimmer von Vincent van Gogh im gelben Haus in Arles erarbeiteten, weiters die Szene des Kampfs von Armand mit den Trinkern, was zur Folge hatte, dass ich in großer Aufregung in das Studio kam, da mir dies ermöglichte, mit malerischen Ausdrucksmitteln sowie mit Animation zu ar- beiten. Ich habe auch am Ende des Films eine Aufnahme gemacht, die ich besonders gerne nach dem einzigen Bild, das Vincent van Gogh in seinem Leben verkauft hatte, malen und animieren wollte. Es war dies das Gemälde eines wunderschönen roten Weinbergs, der sich zurzeit im Puschkinmuseum in Moskau befindet. Gerade die Animation von diesem Bild bereitete mir eine besondere Befriedigung, da fast das gesamte Bild in eine leichte oder stärkere Bewegung versetzt wurde und sich die kleinen Gestalten auf dem Bild wirklich mit großem Vergnügen animieren ließen. Die Sonne auf diesem Bild habe ich mit besonders groben Schichten von Ölfarben animiert. Die Arbeit am Film war zwar oft sehr anstrengend und fordernd, stell- te mich jedoch immer wieder vor neue Herausforderungen. Ich ging kreativ an sie heran und versuchte, auch meine eigene Persönlichkeit zu bewahren und in eine Art von persönlichem Dialog mit den Gemälden von Vincent van Gogh zu treten. Stets gab es etwas Interessantes zu tun, die Probleme und die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, wurden stets mehr, da wir einen neuen Weg eingeschlagen hatten und es niemanden gab, den wir danach fragen konnten, wie wir mit den verschiedenen Schwierigkeiten umgehen könnten. Selbst die Arbeit am animierten Vorspann des Films stellte sich als interessante Herausforderung dar, da sie eigentlich ohne filmische Referenz entstanden war. Ausgangspunkt war ein Macro, das dem Gemälde Sternennacht angenähert war und im Laufe der Animation improvisiert wurde. Wenn man den Film ansieht, lohnt es sich, dieser Einstellung seine Aufmerksamkeit zu widmen. Meine Arbeit am Film Loving Vincent war für mich ein wunderbares Mal- training, bei dem ich auch erfuhr, welch faszinierendes Medium Ölfarbe ist, mit der ich auch experimentieren konnte. Im Laufe von zwei Jahren konnte ich mich einer Thematik befassen, was ich als meine authentische Lebensleiden- Mein Abenteuer mit dem Film „Loving Vincent“ 229 schaft bezeichnen kann. Mein tatsächlicher Beitrag zum Film sind 21 animier- te Einstellungen und 38 Bilder.

Jerzy Lisak, Absolvent der Kunstschule in Szczecin sowie der Akademie der Bildenden Künste in Gdańsk (2002). Er befasst sich mit Öl- und Temperama- lerei sowie Grafik, wobei er unterschiedliche Maltechniken anwendet. Nicht selten lässt er sich von der Kunst der Renaissance und des Barocks inspirieren, was sich besonders in den von ihm geschaffenen zahlreichen Grotesken zeigt. Er befasst sich auch mit den chemischen Aspekten von Maltechniken, wobei er seine Erkenntnisse auch in seinen Arbeiten nutzt. Er ist auch Teilnehmer zahlreicher Malsessions. Sein Gemälde Zwei Figuren im Innenraum befindet sich in den Sammlungen des Nationalmuseums in Gdańsk. In der Zeit von 2014 – 2017 arbeitete er als Animationsmaler sowie als painting designer für BreakThru Films, wobei er die meisten animierten Szenen des Films Loving Vincent schuf. 2019 unterrichtete er mit Paulina Ołowska, mit der auch an ei- nigen gemeinsamen Projekten arbeitet, im Rahmen der International Summer Academy of Fine Arts in Salzburg. Eine seiner letzten wichtigen Einzelausstel- lungen war Urok Faunusa [Der Charme Faunus] in der Galerie Nizio Warschau im September / Oktober 2019. Weitere Informationen über Jerzy Lisak finden Sie unter http://jerzylisak.com.

Manfred Wagner-Artzt

Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen*

Franz Xaver Mozart (1791–1844), der jüngere Sohn von Wolfgang Amadeus Mozart, gehört zu jenen Komponisten, die bedauerlicherweise der Vergessen- heit anheimgefallen sind, und dies, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er einen so berühmten Namen trug. Dieses „Vergessenwerden“ hat zweifellos in einem nicht unerheblichen Maß mit seinem Charakter zu tun. Er war weder eine Kämpfernatur noch zählte er zu den fleißigsten Menschen. Zwar meinte er einmal, schon etwas mehr Ruhm verdient zu haben – und dieser wurde ihm auch in der zweiten Lebenshälfte zuteil –, aber er hätte sich, wie man heute sagen würde, besser „vermarkten“ sollen. Darauf werde ich in meinem Beitrag noch etwas genauer eingehen. Was hat Franz Xaver Mozart aber mit Polen zu tun? Kurz vorweg: 31 Jahre seines Lebens hat Franz Xaver in Polen zugebracht und sein Lebenslauf bietet, wie wir gleich sehen werden, sowohl einen hochinteressanten Einblick in das Kulturleben des damaligen Polen als auch in die für Polen so schwierige Zeit der Dreiteilung, in der sich allerdings Österreich und Polen oftmals in durch- aus nicht feindseliger Art und Weise „arrangierten“, im Sinne von „Leben und leben lassen“.

* Dieser Beitrag entstand auf der Grundlage des gleichnamigen Vortrags, den der Ver- fasser am 15. September 2018 im Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien gehalten hat. Zur musikalischen Einführung und Begrüßung brachte der Verfasser gemeinsam mit Prof. Edward Zienkowski zwei Sätze aus der Violinsonate op. 15 von Franz Xaver Mozart zur Aufführung. Der zweite der beiden Sätze ist nicht nur dem Titel nach eine Polonaise, sondern entspricht auch völlig dem Charakter dieses polnischen Na­ tio­naltanzes, womit bereits zu Beginn ein musikalischer Vorgeschmack für die Thematik des Vortrags gegeben wurde. 232 Manfred Wagner-Artzt

Abbildung 1. Franz Xaver Mozart (Quelle: Wikipedia). Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 233

Franz Xaver Mozart wurde am 26. Juli 1791 in Wien geboren, als zweiter Sohn von Constanze und Wolfgang Amadeus Mozart, der nur wenige Monate nach dessen Geburt am 5. Dezember verstarb. Die Eltern ließen ihn auf den Namen Franz Xaver taufen, zuhause wurde er allerdings von ihnen stets nur „Wowi“ genannt. Immer wieder taucht das Gerücht auf, Mozart sei gar nicht sein Vater ge- wesen, sondern Franz Xaver Süßmayr. Dieser war zunächst Schüler Salieris gewesen, 1790/91 dann auch Schüler Mozarts. In dieser Zeit wurde er ein enger Freund des großen Komponisten. Warum es zu diesem Gerücht kam, er- klärt sich daraus, dass Mozart neun Monate vor der Geburt von Franz Xaver, also ungefähr im November 1790, im Aus- land weilte. In dieser Zeit ging Constanze auf Kur nach Baden, wohin sie Süßmayr begleitet hatte. Dies ließ natürlich zahl- reiche Gerüchte aufkommen, wenngleich die Differenz zum errechneten Geburtstermin nur etwa zwei Wochen beträgt. Nun muss zunächst ver- merkt werden, dass gerade Süß­ mayr das ganz besondere Ver­ trauen Mozarts genoss und Abbildung 2. Franz Xaver Süßmayr auch in den letzten Monaten (Quelle: Wikipedia). seines Lebens nicht der gerings- te Hinweis für eine Trübung der engen Freundschaft oder ein Zweifel an dessen Loyalität zu bemerken ist. Da es sich hier doch um einen sehr wesentlichen Punkt in Franz Xavers Biographie handelt, seien an dieser Stelle jene Aspekte dargelegt, die das Gerücht aus meiner Sicht als höchst unwahrscheinlich erschei- nen lassen: 1. Es gibt nicht den geringsten Hinweis, dass Süßmayr NACH dem Tod Mozarts die Nähe zu Constanze oder Franz Xaver gesucht hätte. Immerhin war Franz Xaver zu dieser Zeit noch nicht einmal 5 Monate alt und als Vater hätte 234 Manfred Wagner-Artzt sich Süßmayr doch ganz bestimmt vor allem in die Erziehung und Ausbildung seines „Sohnes“ einzubringen versucht. 2. Wenn Mozart auch nur den geringsten Zweifel an seiner Vaterschaft und einen Verdacht, dass Süßmayr der Vater sein könnte, gehabt hätte, hätte er wohl kaum in die Namensgebung „Franz Xaver“ eingewilligt. 3. Ein paar Wochen nach der Geburt schreibt Wolfgang Amadeus in Brie- fen an Constanze immer wieder „Liebstes bestes Weibchen“, es finden sich also keinerlei Spuren irgendeines Misstrauens oder ein Hinweis auf ein belastetes Verhältnis. 4. Mozart hat engstens mit Süßmayr zusammengearbeitet, weswegen auch Süßmayr in der Lage war, aufgrund der zahlreichen Details, die ihm Mozart anvertraut hatte, das Requiem fertig zu stellen. Trotzdem hatte sich Constanze diesbezüglich zunächst an Joseph Eybler gewandt und erst, als dieser – nach einiger Zeit – den Auftrag zurücklegte, übertrug sie die Aufgabe Süßmayr. Auch dies spricht nicht gerade für ein sehr inniges Verhältnis Constanzes zu Süßmayr. 5. Weder Franz Xaver noch sein um 7 Jahre älterer Bruder Carl Thomas, mit dem sich Franz Xaver engstens verbunden fühlte, und denen ja beiden im Laufe ihres Lebens das Gerücht zu Ohren gekommen sein musste, ließen ih- rerseits auch nur den geringsten Zweifel an der Vaterschaft Wolfgang Amadés aufkommen. 6. Und schließlich sei auch noch der Charakter Franz Xavers erwähnt, der uns in seinen Werken immer wieder voll überschäumender Lebensfreude und mit viel Witz, Charme und Humor begegnet und in seinem Kompositionsstil dem großen Wolfgang Amadeus sehr nahestand, wobei Franz Xaver durchaus eine eigenständige Tonsprache entwickelt hat. Gerade im 4. Satz der Violin- sonate op. 15 zeigt sich der humorvolle, übermütige Charakter zu Beginn des Satzes besonders deutlich, gefolgt von einer Melodie, die durchaus als Arie aus einer Oper seines Vaters stammen könnte und sowohl in der Linienführung der Cantilene, als auch in den Begleitfiguren dem Mozart’schen Stil ähnelt. Gehen wir nun weiter in der Biographie: Im Jahr nach dem Tod von Wolf- gang Amadeus übernimmt der Tuchhändler Michael Puchberg, ein ehemaliger Freund Mozarts, die Vormundschaft für seinen zweiten Sohn. Schon im fol- genden Jahr, als Franz Xaver erst drei Jahre alt war, bestimmt ihn Constanze bereits für den Musikerberuf und gibt ihm aus taktischen Überlegungen heraus den Beinamen „Amadeus“. Sie schickte ihn nach Prag, wo er zunächst im Haus des angesehenen Kom- ponisten und Pianisten František Xaver (schon wieder ein Franz Xaver!) Dušek in der Villa Bertramka in Prag Aufnahme fand. Auch Dušek war ein enger Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 235

Freund seines Vaters gewesen und so überrascht es nicht, dass er ausgewählt wurde, Franz Xaver seinen ersten Klavierunterricht zu erteilen. Heute ist die Villa Bertramka eine viele Besucher anziehende Mozart-Ge- denkstätte, ist doch dort 1787 die vielleicht bedeutendste Oper Mozarts, näm- lich Don Giovanni, entstanden. 1796 verließ Dušek Prag und Franz Xaver Niemetschek (noch ein Franz Xaver), der Verfasser der allerersten Mozart-Biographie, wird Erzieher von Mo- zarts jüngerem Sohn, so wie er es auch schon davor von Carl Thomas, dem älteren Bruder, gewesen war. 1798 setzte Franz Xaver sein Musikstudium bei Ritter von Neukomm, ei- nem der bedeutendsten Schüler Joseph Haydns, in Wien fort. Bereits vier Jahre später – er war damals erst 11 Jahre alt – erschien sein erstes Werk im Druck: ein Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello. In dieser Zeit erteilte ihm der sehr angesehene Pianist, Komponist und Klavierbauer Andreas Strei- cher Klavierunterricht und bot ihm darüber hinaus auch noch Kost und Quar- tier. Seine schulische Ausbildung erlangte er damals als Schüler des legendären Schottengymnasiums in Wien. 1804 erhielt er auch Klavierunterricht bei Johann Nepomuk Hummel, der ebenfalls Schüler seines Vaters gewesen war. Allgemeinen Musikunterricht hin- gegen nahm er bei Antonio Salieri, jenem Mann, der immer wieder mit dem Tod Mozarts in Verbindung gebracht wird. Aber hätte Constanze zugelassen, dass ihr Sohn gerade bei Salieri studieren würde, wenn es auch nur einen vagen Verdacht gegeben hätte, dass Salieri Schuld am Tod Mozarts trug? Schließlich nahm er auch noch Unterricht bei Abbé Vogler und vor allem bei Johann Georg Albrechtsberger, den wir als einen der bedeutendsten Lehrer Beethovens kennen und zu dessen Schülern auch weitere berühmte Namen wie Carl Czerny, Johann Nepomuk Hummel, Ignaz Moscheles usw. zu zählen sind. Schon 1805 (Franz Xaver war gerade erst 14 Jahre alt geworden) führte er „das“ C-Dur Konzert (höchstwahrscheinlich war es das höchst anspruchsvolle Konzert KV 503) seines Vaters auf, gemeinsam mit den für diesen Anlass kom- ponierten Variationen über das Menuett aus „Don Giovanni“. Dies war sein erster großer Erfolg und er nahm 1700 fl ein, eine damals beachtliche Summe. Damals existierten 2 Währungen parallel, die CM = Conventionsmünze und die sogenannte WW = Wiener Währung. Aus den Angaben wissen wir nicht, in welcher Währung Franz Xaver ausbezahlt wurde, aber selbst wenn wir, da das Konzert in Wien stattgefunden hat, den Konzerteinnahmen den schlechteren Kurs der „Wiener Währung“ zugrunde legen, so hat er immer noch – auf heute umgerechnet – um die 30.000 € eingenommen. 236 Manfred Wagner-Artzt

1807 schloss er seine Musikstudien ab und erhielt ein exzellentes Zeugnis, ausgestellt von Antonio Salieri – und dies, obwohl er nicht zu den Fleißigsten zählte. So klagte seine Mutter in einem Brief an Carl, Franz Xaver hätte nun die drei besten Lehrer, aber tue zu wenig. Carl solle doch einmal nachfragen, wieviel sein Bruder komponiere, wieviel Werke er im letzten Jahr geschrieben habe und dass er, Carl, aus diesem Potenzial alles machen würde. Dennoch durfte sich F. X. Mozart freuen, dass der höchst renommierte Verlag Breitkopf & Härtel sein 1. Klavierkonzert verlegte. In Wien wurde F. X. Mozart als Pianist hoch geschätzt, als Komponist fand er jedoch kaum Anerkennung. Dies belegt unter anderem die damals maßgeb- liche „Allgemeine Musikalische Zeitung“. Dort wurde sein Werk in vernichten- der Weise kritisiert und immer wieder wurde betont, dass eben Söhne großer Komponisten oft mit ihren Vätern nicht mithalten könnten, ein Los, unter dem Franz Xaver sein Leben lang zu leiden hatte, wurden doch seine Werke immer wieder mit jenen seines Vaters verglichen. Dabei wurde aber völlig übersehen, dass Franz Xaver sich enorm weiterentwickelt hat und seine Werke zwar noch formal den klassischen Strukturen folgen, sein Schreibstil aber bereits deutlich in die virtuose Romantik hineinreicht. Franz Xaver musste erkennen, dass der Prophet im eigenen Lande nichts gilt. Ihm wurde klar, dass er von Wien weggehen müs- se, um Erfolg zu haben. Leicht fiel ihm das nicht, denn „Hier ist doch das Klavierland“ schrieb er über Wien. Und seine Einkünf- te in Konzerten waren tatsächlich sehr gut. Warum ging er also nach Galizien? Er suchte eine fixe Anstellung. Wien war in dieser Zeit, Abbildung 3. Das Wappen aufgrund der Besetzung durch Napoleon ei- des Grafen Baworowski gentlich bankrott, gute Stellen konnte man (Quelle: Wikipedia). in dieser Zeit nicht mehr erlangen. Also reis- te er am 22. Oktober 1807 zunächst einmal nach Lemberg/Lwów, wo er seinen Cousin Anton Lange (den Sohn von Con- stanzes Schwester Aloisia) aufsuchte. Dieser vermittelte ihm eine Lehrstelle in Podkamień (im damaligen Galizien, in der heutigen Ukraine, wo es Pidkamin heißt) beim Grafen Wiktor BAWOROWSKI. Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 237

Dort unterrichtete er bis 1811 die beiden Töchter des Grafen – Maria und Henryka Leonarda, Henriette genannt, ungefähr vier Stunden täglich. Dafür erhielt er 1000 fl sowie Essen und Wohnen im Schloss.

Abbildung 4. Eintrag von Henriette im Stammbuch von Franz Xaver Mozart. (Archiv des Autors). Damit wurde Polen die neue Heimat F. X. Mozarts, die er erst viele Jahre später, nämlich 1838, für immer verließ. Zunächst war er sehr glücklich und zufrieden mit seiner neuen Tätigkeit, die ihm genügend Zeit ließ, sich auch dem Komponieren zu widmen. Bereits damals sind übrigens alle seine dort verfassten Werke im Druck erschienen, u. a. die Violinsonate op. 7, eine Klaviersonate, Menuette etc. Auf allen mir zur Verfügung stehenden Ausgaben dieser Zeit stand übri- gens niemals sein richtiger Name, sondern immer „W. A. Mozart fils“.

Abbildung 5. Titelblatt des Grand Concerto pour le Pianoforte (Archiv des Autors). 238 Manfred Wagner-Artzt

Inwieweit Franz Xaver damit einverstanden war, es vielleicht sogar wollte, oder ob es eine Idee der Verleger war, um seine Werke besser verkaufen zu kön- nen, lässt sich nicht mit Sicherheit klären. Tatsache ist, dass kurioserweise sogar in seinem Pass „Wolfgang Amadeus Mozart, Sohn“ eingetragen war. Nach einigen Jahren begann sich Franz Xaver allerdings nicht mehr so wohl zu fühlen in Podkamień, meinte, dort zu verkümmern, komponierte kaum. Auch sein dortiges Instrument genügte seinen Ansprüchen nicht, doch gerade in dieser Zeit, also 1810, überließ Constanze nicht Franz Xaver, sondern ihrem älteren Sohn Carl das Klavier seines Vaters. So schreibt sie am 7. Mai 1810 an ihren Sohn Carl in Mailand: „Dein Bruder wird wohl ein wenig Eyfersichtig darüber werden, um so mehr da er mir so oft schrieb daß er ein so schlechtes habe worauf er in gefahr sey die finger zu Brechen; allein dies rührte mich nicht, indem er mehr Geld als Du hast und sich eins schaf- fen kann. indesen ist es nicht nöthig daß er etwas davon weiß, den er wird fest glauben, daß ich es mit nach Dännemarck nehme, und dabey laßen wir ihn so lange wie möglich […].“1 Da Constanzes zweiter Ehemann, der Diplomat Georg Nikolaus Nissen, Däne war, übersiedelte sie damals mit ihm nach Kopenhagen. 1811 gab Franz Xaver schließlich, obwohl er den Grafen und dessen Fami- lie sehr hoch schätzte, seine Stelle beim Grafen Baworowski auf und versuchte sich selbstständig zu machen. Eigentlich wollte er nach Leipzig gehen und hoffte, bei „seinem“ dortigen Verlag Breitkopf & Härtel eine Aufgabe als Herausgeber der Werke seines Va- ters zu erlangen, jedoch ist aus uns nicht bekannten Gründen nichts daraus geworden. 1811, anlässlich seines 20. Geburtstags, spielte er erstmals ein Konzert in Lemberg/Lwów. Auch dieses Konzert war, so wie das Wiener Konzert, höchst erfolgreich. Doch auch in der viertgrößten Stadt der damaligen Donau-Mon- archie gab es keinen Platz für ihn. Die Stellen waren rar gesät und die wenigen, die es gab, waren erst kürzlich besetzt worden. Daher musste er sich für weitere zwei Jahre mit einer Anstellung, diesmal in der Nähe von Bursztyn, also wieder in der Abgeschiedenheit des östlichen Galizien, beim k. k. Kämmerer Janiszew- ski begnügen.

1 Constanze Nissen an ihren Sohn Carl in Mailand (nachdem sich Constanze entschlos- sen hatte, das Pianoforte Mozarts Carl zu überlassen); zitiert nach: http://www.zeno.org/ Musik/M/Mozart,+Constanze/Briefe,+Aufzeichnungen,+Dokumente+1782+bis+1842/Briefe,+ Aufzeichnungen,+Dokumente/52.+An+Karl+Mozart,+Wien,+am+7.+Mai+1810 (Zugriff:3. Ok ­ tober 2019). Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 239

Abbildungen 6 und 7. Protokoll des Sejms 1824: Dziela seymu ktory w królestwach Ga- licyi y Lodomeryi … zgromadził się (etc.), Verhandlungen des in den Königreichen Galizien und Lodomerien eröffneten Landtags, Bd. 5, S. 3 (Abb. 6, oben) und S. 29 (Abb. 7, unten). 240 Manfred Wagner-Artzt

Anlässlich seines 170. Todestages erinnerte man sich 2014 im „Kurier Ga- licyjski“ daran: „Galizien entdeckte Franz Mozart im Jahr 1808. Er begann dort als Musiklehrer am Gut von Wiktor Ignacy Graf Baworowski in Podkamień Rohatyń zu arbeiten. Ein Jahr später übersiedelte er in das nahe gelegene Bursztyn, wo er die Kinder der Familie Jani- szewski unterrichtete.“2 Allerdings ging er – wie bereits erwähnt – nicht 1809, sondern erst 1811 nach Bursztyn. Man mag sich unter dem Titel „k. k. Kämmerer“ vielleicht nichts Beson- deres vorstellen, aber es war eine durchaus gehobene Stellung in der damaligen Verwaltung Galiziens. Im Protokoll eines Sejm des Jahres 1824 finden wir in der Liste der Teilneh- mer nahezu ausschließlich Namen polnischer Magnaten und polnischer Bürger und unter anderem auch den Kämmerer Janiszewski (vgl. die Abb. auf S. 239). 1812 zog Franz Xaver neuerlich zurück nach Lemberg/Lwów. Dort ent- stand die (bereits zu Beginn gehörte) Violinsonate op. 15, auch dieses Werk erschien 1813, so wie alle Werke davor, bei Breitkopf & Härtel im Druck. Mittlerweile hatte sich F. X. Mozart in der polnischen Gesellschaft bereits bestens etabliert und unterrichtete freischaffend in mehreren adeligen Familien sowohl polnischer als auch österreichischer Provenienz, so unter anderem auch im Haus des aus Rovereto am Gardasee stammenden Gubernialrates Cajetan von Baroni-Cavalcabò. Dieser war mit der Sängerin Josephine Baroni von Ca- valcabò verheiratet, der späteren heimlichen Geliebten von Franz Xaver, die von ihm bereits zwei Jahre vor seinem Tod als Universalerbin eingesetzt wurde. 1813 wurde den Baroni-Cavalcabós eine Tochter namens Julie geboren, die später Franz Xavers Schülerin wurde. War diese vielleicht gar Franz Xavers Tochter? Hier scheint sich die Geschichte zu wiederholen, denn auch diese Gerüchte tauchen immer wieder auf. In der Salzburger Kulturzeitung „DrehPunkt Kultur“ findet man 2016 un- ter dem Titel HINTERGRUND zum KONZERT „FRAUENSTIMMEN“ folgen- den Artikel:

2 Zitiert nach: Andrzej Sznajder, Utracony raj Wolfganga Amadeusza Mozarta [Verlorenes Paradies von Wolfgang Amadeus Mozart ], „Kurier Galicyjski“, Nr. 3 (199), 18. – 27. Februar 2014, https://www.kuriergalicyjski.com/historia/postacie/104-m/3056-utracony-raj-wolfganga -amadeusza-mozarta (Zugriff: 3. Oktober 2019). Das Originalzitat in polnischer Sprache lau- tet: „Galicję odkrył Franciszek Mozart w roku 1808. Rozpoczął tu pracę nauczyciela muzyki w posiadłości hr. Wiktora Ignacego Baworowskiego w Podkamieniu Rohatyna. Rok później przeniósł się do pobliskiego Bursztyna, gdzie nauczał dzieci z rodziny Janiszewskich.“ Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 241

„War Julie Baroni-Cavalcabò Wolfgang Amadé Mozarts Enkelin? Das wird von ernstzunehmenden Musikwissenschaftlern gele- gentlich vermutet, denn Franz Xaver Mozart, Wolfgang Amadé Mozarts jüngster Sohn, hatte eine lebenslange Beziehung mit Ju- lies Mutter, Josephine Baroni-Cavalcabò. Josephine Baroni-Cavalcabò war freilich verheiratet, aber das hinderte Franz Xaver Mozart nicht, mit der Familie von Lem- berg nach Wien zu ziehen und als „Zimmerherr“ sein Leben im gleichen Haus zu verbringen. Als er 1844 starb, war es Josephine Baroni-Cavalcabò, die sein Begräbnis organisierte und seine Uni- versalerbin wurde. Julie von Baroni-Cavalcabò (1813 –1887) wurde des jungen Mozart Klavier- und Kompositionsschülerin. Enkelin Mozarts oder nicht – sie war eine ausgezeichnete Pianistin und Kompo- nistin, deren Werke von renommierten Verlagen publiziert wur- den. Robert Schumann schätzte sie sehr und widmete ihr seine Humoreske Op. 20. Ihre Enkelin, Vilma von Webenau (1875 –1953), war Anfang des 20ten Jahrhunderts die erste Privatschülerin Arnold Schön- bergs. Zunächst in Wien und dann in Berlin, „weihte“ er sie in „Harmonielehre, Kontrapunkt und Kompositionslehre“ ein, wie sie in einem von Anton von Webern zusammengestellten Album zum 50. Geburtstag ihres Lehrers 1924 schrieb.“3 Es könnte also durchaus sein, dass die Ururenkelin von Wolfgang Amadeus Mozart bei Schönberg studiert hat. Verstorben ist Julie übrigens in Graz im Alter von 74 Jahren. Schauen wir uns nochmals kurz jene Orte an, in denen Franz Xaver seine ers- ten Jahre in Galizien verbracht hat. Bei ei- ner Beschreibung dieser Orte im „k. und k. Postlexikon“ aus dem Jahre 1802 fällt auf, dass in der Kurzbeschreibung all dieser Orte wie Lemberg/Lwów, Brody, Bursz- tyn, etc. – so wie bei Podkamień – stets griechisch-katholische, also unierte Kir- Abbildung 8. Podkamien im Topographi- chen erwähnt werden. schen Post-Lexikon aller Ortschaften der k. k Erbländer 4

3 Zitiert nach DrehPunkt Kultur, http://www.drehpunktkultur.at/index.php/musik/ meldungen-kritiken?start=360 (Zugriff: 3. Oktober 2019). 4 Abbildung aus: Topographisches Post-Lexikon aller Ortschaften der k. k Erbländer, Bd. 3, S. 181, https://books.google.pl/books?id=N3FOAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=pl& source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false (Zugriff: 3. Oktober 2019). 242 Manfred Wagner-Artzt

Dazu ist ein kurzer geschichtlicher Überblick angebracht: 1596 unterschrieben sechs ruthenische orthodoxe Bischöfe mit Vertretern der römisch-katholischen Kirche in Polen-Litauen die Union von Brest. Sie unterstellten sich der Jurisdiktion und den Strukturen der römisch-katholi- schen Kirche, behielten dabei aber den byzantinischen Ritus in der Liturgie bei. Oberhaupt war der Metropolit von Kiew, der allerdings meist in Wilna residierte. Die Union wurde vom größten Teil des übrigen orthodoxen Klerus’ aller- dings abgelehnt. Auch Przemyśl und Lwów blieben zunächst orthodox, fast alle anderen Kirchen und Klöster wurden jedoch in den nächsten Jahren in unierte Kirchen umgewandelt. In Kiew wurde 1620, als die Stadt nicht mehr zu Polen-Litauen gehörte, wieder ein orthodoxer Metropolit eingesetzt. Die unierte Kirche wurde dort aufgelöst, während sich im übrigen Polen-Litauen die unierte Kirche bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nahezu vollständig durchsetzte. Nach der Teilung Polens 1772 kamen große Teile der ruthenischen Gebiete zum Russischen Zarenreich. Im 19. Jahrhundert wurde daher dort die unierte Kirche wieder aufgehoben und in die orthodoxe Kirche rückgeführt. Im ös- terreichischen – katholischen – Galizien (1772 –1918) hingegen konnte die unierte Kirche unbeeinträchtigt fortbestehen. Zurück zu Franz Xaver: Lemberg/Lwów war eine sehr lebendige, multikul- turelle und multikonfessionelle Stadt, in der es kaum Anzeichen von Natio­ nalismus gab. Obwohl F. X. Mozart Österreicher war, fand er gerade in pol- nischen Kreisen herzlichste Aufnahme und begann sich zunehmend in Polen wohlzufühlen. Sein generelles Wohlbefinden wurde in dieser Zeit allerdings dadurch getrübt, dass Breitkopf & Härtel die Zusammenarbeit mit ihm nicht mehr fortzuführen gedachte, was man allerdings nicht offen aussprach, son- dern durch monatelanges Nichtbeantworten von Briefen und schließlich wort- losem Zurücksenden einiger Manuskripte vermitteln wollte. Warum Breitkopf & Härtel die Werke nicht mehr herausbringen wollte, bleibt unklar, denn die davor verlegten Werke des jungen Mozart verkauften sich eigentlich sehr gut. Möglicherweise liegt die Ursache dafür in Franz Xavers mangelnder Zielstre- bigkeit und/oder seiner Bescheidenheit. Ganz gewiss haben aber auch die lan- gen Pausen im Komponieren und eine gewisse, sich daraus ergebende Unver- lässlichkeit eine Rolle gespielt. In dieser Zeit begann die polnische Musikkultur immer stärkeren Einfluss auf sein kompositorisches Schaffen zu nehmen, wobei es vor allem die Polonai- se war, die auf ihn einen besonderen Eindruck gemacht haben muss. Man kann Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 243 wohl annehmen, dass er diesen Tanz in den vielen Adelshäusern, in denen er nun verkehrte, kennengelernt hat. So finden wir bereits in seiner Violinsonate op. 15 als 3. Satz der Sonate eine Polonaise. Drei Jahre später entstanden die ersten „6 Polonoises (sic!) mélancoliques“ op. 17 für Klavier solo. Dieses Jahr 1814 war, nach längerer Zeit der kompositorischen „Stille“, überhaupt wieder sehr ergiebig. Es entstanden die Variationen über ein russi- sches Thema für Klavier, Gesänge mit Klavier, eine weitere Violinsonate, op. 19, sowie weitere Polonaisen wie die 4 Polonoises mélancoliques, op. 22 und 2 Po- lonoises, op. 24. Vier Jahre später komponierte er das 2. Klavierkonzert in Es-Dur op. 25, das im Dezember 1818 erstmals im Konzertsaal erklang (damals noch ohne den 2.Satz, der erst später in Wien hinzugefügt wurde). Gemeinsam mit den Variationen über ein russisches Lied und der Violinsonate op. 19 zählte die- ses Konzert zu den Standardwerken auf seiner langjährigen Konzertreise von 1819 –1821. Seitens des Publikums, aber auch finanziell war dieses Konzert in Lemberg/Lwów übrigens ein ungeheurer Erfolg. Bei der Presse fiel das Es-Dur Klavierkonzert als Komposition allerdings erstaunlicherweise durch. Nahezu 200 Jahre später schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hingegen: „Sein 1818 komponiertes Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 Es-Dur, das die Pianistin Susanna Artzt in Weilburg in einer absolut überzeugenden Interpretation vorstellte, hält sich – we- nige Wendungen im Andante espressivo ausgenommen – von Wolfgang Amadeus Mozarts Kunst eher fern, weist vielmehr entschieden voraus auf die Romantik und ist als Komposition so hochkarätig, dass man wieder einmal fragen muss, warum kaum ein Pianist es im Repertoire hat.“5 Zu Beginn des Jahres 1819 unternahm er eine erste Kunstreise nach Russ- land, über die leider nichts Näheres bekannt ist, dann folgten Konzerte in Zy- tomirz und Kiew, ehe er sich am 18. Mai 1819 auf eine 2-jährige (!) Konzert­ reise begab, die erst am 27. Mai 1821 in Wien endete. Glücklicherweise gibt es von dieser Reise zahlreiche Briefe an eine gewisse „J“ bzw. „Juszenka“. Die Vermutung, dass sich dahinter Josephine Baroni-Cavalcabò verbirgt, liegt wohl nahe. Darin gab er uns nicht nur wunderbare Einblicke in das Leben eines rei- senden Künstlers, sondern auch in das allgemeine damalige Leben. In diesen zwei Jahren spielte F. X. Mozart 31 öffentliche bzw. höfische Kon- zerte und reiste dabei durch Polen, Deutschland, Dänemark, wieder Deutsch-

5 Rezension in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Nr. 172, 28. Juli 2014, S. 36. 244 Manfred Wagner-Artzt land, Böhmen, Österreich, Slowenien, Italien, die Schweiz, schließlich zum Abschluss nach Salzburg, und dies alles, meistens äußerst mühsam, in Pferde- kutschen.

Abbildung 9. Orte, an denen Franz Xaver Mozart konzertierte.

Das damalige Konzertleben war allerdings völlig anders organisiert, als wie wir es heute kennen. Franz Xaver Mozart wusste zunächst weder wo noch wann er ein Konzert spielen würde. Er reiste in eine Stadt, überreichte dort seine Empfehlungsbriefe. Wenn er Glück hatte, befand sich sogar der eine oder andere Bekannte in der Stadt. Einige Menschen waren auch bereit, ihm behilf- lich zu sein, weil sie seinen Vater gut gekannt hatten. Als nächstes musste ein geeigneter Konzertsaal gefunden werden, der dann jedes Mal erst von der Behörde für ein Konzert genehmigt werden musste. Danach begann die Suche nach einem geeigneten Instrument, denn die Kon- zertorte hatten meist kein eigenes. Aufgrund der inzwischen geschlossenen Bekanntschaften in der Bürgerschaft und in Adelskreisen war dann im allge- meinen jemand dazu bereit, sein Instrument zur Verfügung zu stellen, aber Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 245 die Auswahlmöglichkeiten waren natürlich beschränkt, auch in großen Städ- ten musste Franz Xaver Mozart manchmal mit mittelmäßigen Instrumenten vorlieb nehmen. Der nächste Schritt war das Auflegen einer Subskriptions- möglichkeit. Das heißt, verschiedene Personen garantierten die Abnahme einer gewissen Anzahl an Eintrittskarten. Dies war besonders schwierig und nicht immer erfolgreich. So musste das Konzert in Danzig wieder abgesagt werden, weil sich nur 20 Subskribenten gefunden hatten. Ähnliches ist ihm dann auch später noch in München passiert. Oft wurden Termine auch wieder verscho- ben und so kam es, dass manchmal das Konzert erst vier Wochen nach seiner Ankunft stattfinden konnte. Die Einnahmen waren sehr unterschiedlich und deckten bisweilen nicht einmal die Ausgaben. Zwischen den öffentlichen Konzerten gab es natürlich zahlreiche Hauskonzerte, die aber finanziell nichts einbrachten. Andererseits waren sie jedoch notwendig, um sich einem möglichst großen Personenkreis bekannt zu machen. Immer wieder geschah es auch, dass der Name „Mozart“ nicht hilfreich war, im Gegenteil, bisweilen war er sogar hinderlich, da man sich nicht vorstellen konnte und wollte, dass Franz Xaver auch nur annähernd an das Genie seines Vaters herankommen könnte. Nun aber zu seiner Reise im Detail: Seine erste Etappe führte ihn nach Puławy, wo er vom Grafen Adam Kazimierz Czartoryski eingeladen wurde, in seiner Residenz zu wohnen. Weiter ging es nach Warschau, wo er am 31. Mai – also vier Tage nach seiner Abreise aus Lemberg/Lwów – eintraf. Zunächst woll- te er dort vor allem Wilhelm Würfel, den berühmten Lehrer Chopins, tref- fen. Bald war er in die Gesellschaft aufgenommen, wo er Joseph Elsner – den Kompositionslehrer Chopins –, Wilhelm Würfel, Maria Szymanowska – selbst eine ehemalige Schülerin von Elsner –, den Komponisten Karol Kazimierz Kurpiński und viele andere Künstler kennenlernte, aber auch zum Beispiel den Klavierbauer Wilhelm Jansen. Immer wieder traf er auch auf Schüler seines Vaters wie beispielsweise Joseph Jawurek (Jaworek), einen Sänger, Pianisten und Dirigenten. Insbesondere Gräfin Chodkiewicz unterstützte ihn sehr, half, wo es ihr mög- lich war und war ihm sehr zugetan. Am meisten aber half ihm Elsner weiter, der sich höchst engagiert beim Zustandekommen eines Konzerts mit Franz Xaver erwies. Er schrieb, Elsner besorge alles, er müsse sich fast um nichts kümmern. Zuständig für die Genehmigung des Konzertes in Warschau war Graf Alek- sander Rożniecki, ein General, der damals Chef der Geheimen Polizei des Kö- nigreiches Polen war, aber auch Vorsitzender der Kommission für Theaterwe- sen und musikalische Aufführungen. 246 Manfred Wagner-Artzt

Das Konzert in Warschau fand am 14. Juni 1819 statt und war ein großarti- ger Erfolg, er wurde immer wieder auf das Podium zurückgeholt. Auch die Kri- tik in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ fiel diesmal höchst positiv aus. An den folgenden Tagen besuchte er Wilanów, Natolin, Królikarnia und Mokotów – Landsitze der Potockis und Radziwiłłs –, wobei ihn das für Au- gust I. den Starken errichtete Królikarnia am meisten beeindruckt hat. Die- ses Gebäude befand sich stets im Besitz der großen polnischen Magnaten wie zunächst von Elżbieta Lubomirska (geborene Czartoryska), dann vom Grafen von Valery und zu Franz Xavers Zeiten von dem eben schon erwähnten Michał Hieronim Radziwiłł, einem großen Kunstliebhaber und Sammler. Ausgerechnet zwei Tage vor seinem Warschauer Konzert hatte ihn ein äu- ßerst unangenehmes Augenleiden ereilt. Zwar konnte der Augenarzt die Ent- zündung soweit behandeln, dass Franz Xaver im Konzert kaum eine Beeinträch- tigung wahrnahm, aber es dauerte noch einige Zeit, bis er vollständig genesen war. Erst dann konnte er seine Weiterreise antreten, die ihn als nächstes nach Danzig führte. Von dort aus wollte er weiter nach Dänemark reisen, um seine mittlerweile dorthin übersiedelte Mutter, Constanze Mozart, wieder zu sehen, ebenso wie deren zweiten, von Franz Xaver sehr geschätzten, Ehemann Georg Nikolaus Nissen, der einer einflussreichen dänischen Familie entstammte und, wie schon zuvor erwähnt, vor allem im diplomatischen Dienst tätig war. Gewohnt hat Franz Xaver in Danzig im „Dom Angielski“ („Englisches Haus“), damals auch noch als „Dom Anielski“ bekannt. Jawurek und Elsner hatten Empfehlungsbriefe mitgegeben, die ihm die Türen öffnen sollten, was sie im Prinzip auch taten, aber, die als „zwar sauber aber steif “ bezeichnete Stadt hatte wenig Interesse an einem Konzert. Es gab nur ca. 20 Subskribenten und Franz Xaver war daher gezwungen, das Konzert abzusagen. Wesentlich besser verlief es in Königsberg, wo er sich über eine exzellente Rezension freuen durfte, in der er endlich auch als Komponist anerkannt wurde. Über das Kö- nigsberger Konzert Franz Xaver Mozarts schreibt die „Allgemeine musikalische Zeitung“: „Es freut mich nun, über dieses jungen Mannes Fortschritte in der Kunst und Composition lobend sprechen zu können und Deutschland auf ihn aufmerksam machen zu dürfen. Königsberg, vom 11ten July. Gestern lernten wir Mozart den Sohn kennen, als Fortepianospieler und als Componisten. Den- jenigen Musikfreunden, die sich nicht zum Concert eingefunden hatten, können wir dreist sagen, dass sie etwas versäumt haben. Der berühmte Name täuschte nicht; Mozart’s Geist war in der That gegenwärtig, und das allbekannte Fortepiano schien in ein Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 247

neues Instrument verwandelt. Denn zu der Fülle seiner Harmonie und zu dem Schimmer seiner mannichfaltigen Figuren empfing es von den Händen dieses Spielers noch einen so höchst leben- den und zarten Vortrag, dass die musikalischen Gedanken ganz mit jener sprechenden Deutlichkeit hervortreten konnten, woran wahre Kunst, hoch erhaben über alle Kunststücke, erkannt und empfunden wird. Hiermit ist schon gesagt, dass auch die Compo- sition in einem hohen Grade vortrefflich war; sollte aber Jemand eine bestimmte Charakteristik derselben verlangen, so würde es eben darum schwer seyn, ihm zu genügen, weil dieser Künstler, ähnlich seinem Vater, nicht an einer besondern Manier, sondern eben nur an der Kunst selbst zu erkennen ist, deren Hülfsmit- tel er vollständig besitzt, und mit Gefühl und Besonnenheit ge- braucht, ohne nach irgendwelchen Effekten und Seltsamkeiten zu haschen.“6 Anschließend ging es weiter nach Elbląg/Elbing, wo das Orchester aller- dings bedauerlicherweise mehr als mittelmäßig gewesen sein dürfte, denn Franz Xaver schrieb: „Die Begleitung ist unter aller Critic. Ich habe noch nie etwas erbärmlicheres gehört.“7 Aber auch von Hamburg schrieb er später ein- mal: „Das übrige verdient keiner besonderen Erwähnung, selbst nicht das Or- chester, was zwar recht brav ist, doch kein Kopenhagener oder Warschauer.“8 Von Elbląg ging es nun endlich weiter nach Kopenhagen, wo er seine Mutter Constanze erstmals nach langer Zeit wiedersah. Natürlich gab er auch dort ein Konzert und schätzte, wie wir gerade gehört haben, das ausgezeichnete Kopen- hagener Orchester. Ungefähr drei Wochen verbrachte er dort, um dann wie- der seine Konzertreise fortzusetzen. Zunächst kam er nochmals zurück nach Hamburg. Von seiner Weiterreise schrieb er: „Zugleich mit uns fuhren auch einige Galizier, und es ist schwer zu beschreiben, wie sehr ich mich freute, halbe Landsleute von mir zu sehen.“ „Mir war es sehr angenehm, wieder von Lemberg plaudern zu können.“ Franz Xaver fühlte sich also nun tatsächlich als zumindest „Halb-Pole“.9

6 „Allgemeine musikalische Zeitung“ 21 (1819), 8. September 1819. No. 36, Sp. 603 – 606. 7 Franz Xaver Wolfgang Mozart, Reisetagebuch 1819 –1821: Warschau, Danzig, Elbing, Kö- nigsberg, Kopenhagen, Hamburg, Bremen, Oldenburg, Lübeck, Schwerin, Berlin, Leipzig, Dres- den, Prag, Wien, Graz, Laibach, Triest, Venedig, Padua, Vicenza, Verona, Mantua, Cremona, Monza, Mailand, St. Gallen, Winterthur, Zürich, Bern, Basel, Freiburg, Breisgau, Darmstadt, Frankfurt am Main, , Karlsruhe, Stuttgart, Ulm, Augsburg, München, Salzburg, Orth, Gmunden, hg. von Rudolph Angermüller, Bad Honnef 1994, S. 70. 8 Ebd., S. 113. 9 Dieter Kühn, Ein Mozart in Galizien – Erzählte Geschichte, Frankfurt am Main 2008, S. 362. 248 Manfred Wagner-Artzt

Nach dem Hamburger Konzert folgten Konzerte u. a. in Bremen, Lübeck und schließlich am 7. Jänner 1820 in Berlin, ein Konzert, dem auch König Friedrich Wilhelm III beiwohnte. In Berlin hörte er auch erstmals den kleinen Mendelssohn spielen, dem er, ebenso wie seiner Schwester Fanny, außeror- dentliches Talent bescheinigte. In Leipzig spielte er ein äußerst erfolgreiches Konzert, erhielt allerdings eine vernichtende Kritik, die nicht nur seine Kom- positionen, sondern auch sein Klavierspiel betraf. Trotzdem blieb Leipzig ein guter Boden für Franz Xaver, hat doch dort der berühmte Verlag „Edition Peters“ viele seiner Werke verlegt, so 1820 auch das op. 23, das mit folgender Widmung versehen war: Variations pour le Pianoforte Sur une Romance de Méhul composées et dédiées A MADAME DE SZYMANOWSKI née Comtesse Poniatowska PAR W:A:MOZART FILS. Ebenso erschienen im selben Jahr weitere 4 Polonaises mélancoliques, die er Comtesse Alexandrine Rzewuska widmete. All das zeigt, wie sehr er dem polnischen Hochadel verbunden war und von diesem auch höchst geachtet und gefördert wurde. Anschließend reiste er weiter nach Dres- den, wo er von seinem Vetter Carl Maria von Weber herzlichst aufgenommen wurde. Dort traf er übrigens auch wieder Madame Szy- manowska, die nunmehr in Dresden lebte und die er mehrmals besuchte. Abends war er hingegen meist zum Essen bei Graf Aleksan- der Wielopolski geladen. Und in seinem Brief vom 5. März schreibt er: „Der Ton in dieser Stadt ist bei weitem nicht so gastfreundlich, als ich gewohnt bin, und wenn ich nicht so viele Abbildung 10. Carl Thomas Mo- Pohlen (sic!) hier hätte, würde ich vor Lange- zart, Xylographie aus 1856 10 (Quelle: Wikipedia). weile vergehn.“ Über Prag kam er erstmals nach ungefähr 13 Jahren wieder nach Wien, wo er es genoss, den Spuren seines Vaters folgen zu können. Hier entstand auch das wunderschöne Andante zu seinem Klavier-

10 Mozart, Reisetagebuch 1819 –1821, S. 184. Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 249 konzert op. 25, das immer wieder als die vielleicht hochwertigste Komposition Franz Xaver Mozarts angesehen wird. Von Wien ging es über Graz nach Laibach/Ljubljana und schließlich nach Mailand, wo er endlich seinen Bruder Carl wiedersehen konnte. Dieser hat sich auch alle Mühe gegeben, ein Konzert mit Franz Xaver auf die Beine zu stellen, aber das Mailänder Orchester hatte keine Lust zu proben, Franz Xaver wiederum wollte sein Klavierkonzert nicht ohne Probe spielen und so fiel das bereits angesetzte Konzert schlussendlich ins Wasser. Auf seiner weiteren Reise in die Schweiz hatte er einen höchst abenteu- erlichen Ritt zu überstehen, der uns einen guten Einblick bietet, dass Reisen damals nicht nur mühsam, sondern auch höchst gefährlich war. Hier ein Aus- schnitt aus seinem Brief aus Tusis, am 29. September 1820 verfasst11:

„…Der Splügen war von der Spitze an, bis beynahe an den Fuß, auf dieser Seite mit hohem Schnee bedeckt, in dem wir, da es sehr gäh abwärts geht, zu Fuße bis an die Knöchel waden mußte[n]. Von der österreichischen Seite ist die Strasse schon fertig, hier- seits aber noch kaum angefangen. – Nach zwey Uhr bestiegen wir unsere Ros[s]inanten, und kamen als es schon ganz dunkel war, an die gefährliche Stelle Via mala genannt. Zwischen ungeheuren Felsenmassen führt der Weg; gegen 500 Schuh tief, zwingt sich der Rhein durch ein enges Felsenbeete, und eben so hoch thür- men sich, diese schroffen Gebirge, ober dem Haupte. Und nun denke dir einen schmalen ungeebneten Weg, ohne Geländer (die scheinbare Strasse wird erst gemacht, und desswegen war sie itzt mit Steinen besäet), eine dunkle Nacht, in der kaum zu Zeiten ein Sternchen flimmerte. Das beste was wir thun konnten, war den Pferden ihren Willen zu lassen, und dicht[t] hinter einander zu reiten, welches letztere uns die Finsterniß sehr erschwerte, denn man konnte kaum seinen Vordermann sehn, und zuweilen war es glatterdings unmöglich. Unser Zug ging in folgender Ordnung: Vorann ritt der Courier, ihm folgte H[err] Gugenberg, der mir zum Leitstern diente, welchen Dienst, ich wieder einem H[errn] Fine einem Sprachmeister aus Straßburg leistete, der wenigs- tens den Vortheil hatte mich gut sehn zu können, weil ich einen Schimmel ritt. Nebenher ging der Führer, bewundernswerth war die Vorsicht, mit der die Pferde jeden Schritt machten, als sähen sie ein, daß ein Fehltritt sie und den Reitern, das Leben kosten müsse. Als wir auf die Brücke kamen hieß der Führer uns ab- steigen, denn hier war die Gefahr doppelt, da auf beyden Seiten, wegen der zu machenden Strasse, die Bahne abgebrochen war.

11 Mozart, Reisetagebuch 1819 –1821, S. 254. 250 Manfred Wagner-Artzt

Jenseits der Brücke war aber die Gefahr vorüber, wir bestiegen wieder die Pferde, und kamen glücklich hier an.“

In der Schweiz konzertierte er zunächst in Zürich, dann in Basel, ehe er wieder nach Deutschland weiterreiste und unter anderem in Frankfurt, Stutt- gart, Darmstadt, Mannheim und Karlsruhe auftrat. In Darmstadt bot ihm der damalige Großherzog Ludwig I. von Hessen-Darmstadt eine Stelle als Kapell- meister an. Sie wäre gut bezahlt und mit wenig Arbeit verbunden gewesen, er hätte viel Zeit zum Komponieren gehabt und hätte eigentlich das erreicht, was er immer sein wollte. Er haderte lange mit sich, ehe er dem Großherzog letzt- endlich doch absagte. Die Gründe? Wollte er um jeden Preis nach Lemberg/ Lwów zurück, zu seiner „J.“? Hatte er Sorge, zu wenig Freiheit zu haben in sei- nem Schaffen, hätte er doch in erster Linie die Wünsche seines Herren erfüllen müssen? Seine Briefe liefern dazu leider keine Anhaltspunkte. Seine nächste Station war Augsburg. Dies war wieder ein ganz besonderer Aufenthalt für Franz Xaver, war dies doch die Stadt, in der sein Großvater auf- gewachsen war und wo er tatsächlich auch noch einen weit entfernten Cousin ausfindig machen konnte. Über Salzburg reiste er neuerlich nach Wien, dies jedoch ohne weitere Konzerte zu spielen. Hier endete seine lange und weite Konzertreise. Bedauerlicherweise gibt es dann keine Briefe mehr über seinen nunmehr ein Jahr (!) dauernden Aufenthalt in Wien und seine Rückreise nach Polen. Warum blieb er überhaupt so lange in Wien? Wollte er nicht seine „Juszenka“ so bald wie möglich wiedersehen? Erst im Oktober 1822 reiste er – nach insgesamt rund 150 Wochen (!) – nach Lemberg/ Lwów und zur Familie Baroni-Cavalcabò zurück. Während von seinem Wien- Aufenthalt keine Kompositionen bekannt sind, entstanden nunmehr wieder Po- lonaisen für Klavier (op. 26), Diabelli-Variationen, Lieder mit Klavier, etc. Endlich begann er nun auch beruflich in Lemberg/Lwów Fuß zu fassen. So gründete er im April 1826 den Cäcilien-Verein, der sich der Einstudierung und Aufführung klassischer Musik widmete und die Vorläuferinstitution der heutigen Musikakademie von Lemberg/Lwów darstellt. Im Sommer desselben Jahres reiste er anlässlich des Todes von Nissen zu seiner Mutter nach Salzburg und führte für ihn im dortigen Dom das Requiem seines Vaters auf. Am 5. Dezember, also am Todestag seines Vaters, organisierte er 1826 mit- tels des Cäcilien-Vereines, der damals bereits 405 Mitglieder zählte, eine Auf- führung des Requiems in Lemberg/Lwów. Die Aufführung fand in der grie- chisch-orthodoxen Kathedrale des Hl. Georg statt (auch hier finden wir wieder Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 251 eine griechisch-orthodoxe Kirche). Die Solisten und das Orchester waren Mit- glieder des Stadttheaters, der Dirigent war kein geringerer als Karol Lipiński, jener legendäre Geiger, der in Italien mit Paganini gemeinsam konzertierte und von einem großen Gönner eine der schönsten Stradivari-Geigen geschenkt be- kam – eine Stradivari, die eigentlich Paganini bekommen hätte sollen, aber der Gönner erachtete schließlich Lipiński dieses Geschenkes für würdiger. In dieser Zeit fand Franz Xaver nun auch in der Aristokratie außerhalb Po- lens Anerkennung, widmete 1828 eines seiner Werke der Königin Augusta von Bayern und komponierte ein anderes Werk für die damalige Fürstin Lobkowitz (geborene Schwarzenberg), die zu Besuch in Lemberg/Lwów weilte. Im für Polen so unglückseligen Jahr 1831 erfassten die politischen Unru- hen auch Lemberg/Lwów. Hinzu kam aber noch, dass dort die Cholera aus- brach. Darum übersiedelte er für einige Monate nach „Bad Rozubawice“, so steht es zumindest in seinem Brief geschrieben, wobei es sich wohl um den Ort Rozubowice handeln dürfte, der ca. 100 km westlich von Lemberg/Lwów, ganz in der Nähe von Przemyśl, liegt. Immer wieder besuchte er seine Mutter in Salzburg, so auch 1832, wobei man sich bewusst machen muss, welch ungeheure Strapazen mit so einem Be- such verbunden waren, sind es doch nahezu 1100 km, die er von Lemberg/ Lwów nach Salzburg in Pferdekutschen zurücklegen musste! 1834 verbesserte sich schlagartig seine finanzielle Situation, da er endlich eine fixe Anstellung erhielt, indem er zum Kapellmeister am Lemberger Thea- ter ernannt wurde. Im folgenden Jahr reiste er mit Julie Baroni-Cavalcabò – die Tochter seiner heimlichen Geliebten und vielleicht sogar SEINE Tochter –, die mittlerweile zu einer höchst erfolgreichen Pianistin herangewachsen war, nach Karlsbad, Dresden und Leipzig und lernte auf dieser Reise Schumann kennen, der Julie vier Jahre später, als er ihr in Wien neuerlich begegnete, seine Humoreske wid- mete. Übrigens war auch Chopin im selben Jahr 1835 zu Besuch bei den Schu- manns. Es weist jedoch nichts darauf hin, dass diese beiden Musiker einander je begegnet wären, weder in Polen noch anderswo. 1838 schließlich verließ er Polen. Es ist ein Abschied für immer, wobei der Grund wahrscheinlich darin zu suchen ist, dass die Familie Baroni-Cavalcabò nach Wien umgezogen ist. Dass auch Franz Xaver nach Wien übersiedelte und sogar im Haus der Cavalcabòs wohnte, unterstreicht nochmals das enge Ver- hältnis zu Josephine. 1840 traf er nun in Wien – nach weiteren 20 Jahren (!) – seinen Bruder Carl wieder. 252 Manfred Wagner-Artzt

Außerdem war er, wie Rudolph Angermüller, der Autor eines der wenigen Bücher über Franz Xaver Mozart, schreibt, Wegbereiter der Chopin’schen Kla- viermusik in Wien. Leider gibt es keine näheren Hinweise dazu, aber offenbar gibt es Anhaltspunkte, die den Schluss zulassen, dass er sich sehr für die Musik Chopins eingesetzt hat. In diesem Jahr wurden F.X. auch verschiedene Ehrungen zuteil, wie z. B. die Ehrenmitgliedschaft bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, sowie jene des Salzburger Mozarteums. Den Ruhm, den er nun endlich auch in Österreich erlangt hatte, konnte er allerdings nicht mehr allzu lange genießen, denn er begann in dieser Zeit immer mehr zu kränkeln. Am 6. März 1842 verstarb seine Mutter Constanze. Dies war ein beson- ders schwerer Schlag in seinem Leben. Nunmehr mit Krankheit und Tod konfrontiert überrascht es nicht, dass er in diesem Jahr am 17. Juni sein Tes- tament verfasste, in dem er Josephine Baroni-Cavalcabò zur Universalerbin einsetzte. 17. Juni: Abfassung des Testaments (Wien, Stadtarchiv, F.2 1930/844) mit Zusatz vom 25. August 1842. Als Universalerbin wird Josephine Baroni-Cavalcabò eingesetzt: „Ich erkläre, durch diese meine eigenhändige Schrift, und Nahmens=Unterfertigung, daß Frau von Baroni=Cavalcabò, geborene Gräfin Castiglione, Gattin des pensionirten k. k. galizischen Gubernial=Rathes, von Baroni-Cavalcabò im Falle meines Todes, meine einzige, und Universal-Erbin, sey, und daß es daher, mein ausdrüklicher Wille ist, daß Ihr Alles, wie es sich vorfindet, ohne Ausnahme überlie- fert werde. – – – Wolfgang Amadeus Mozart Es folgten weitere Ehrungen wie: • die Ernennung zum „Maestro Compositore onorario“ der Accademia Santa Cecilia in Rom. • König Louis Philippe von Frankreich übersandte eine wertvolle Busenna- del. • Eine Franz-Xaver-Mozart-Medaille wurde aufgelegt. • Der Großherzog der Toskana Leopold II übersandte eine Ehrenmedaille. Im Winter 1843 verschlimmerte sich sein Magenleiden, das sich schließ- lich als Magenkrebs herausstellte, und so reiste er 1844 zur Kur nach Karlsbad, wo er allerdings bereits am 29. Juli, im Alter von nur 53 Jahren, verstarb. Die Beisetzung erfolgte in Karlsbad am 1. August 1843, wobei die Grabes- rede vom großen österreichischen Dramatiker Franz Grillparzer verfasst war: Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 253

„So bist du endlich hingegangen, Wohin der Geist dich ewig zog, Und hältst den Großen dort umfangen, Der adlergleich zur Sonne flog. Daß keiner doch dein Wirken messe, Der nicht der Sehnsucht Stachel kennt, Du warst die trauernde Zypresse An deines Vaters Monument. Wovon so viele einzig leben, Was Stolz und Wahn so gerne hört, Des Vaters Name war es eben, Was deiner Tatkraft Keim zerstört. Begabt, um höher aufzuragen, Hielt ein Gedanke deinen Flug; »Was würde wohl mein Vater sagen?« War dich zu hemmen schon genug. Und war’s zu schaffen dir gelungen, Was manchen andern hoch geehrt, Du selbst verwarfst es, kaum gesungen, Als nicht des Namens Mozart wert. Nun öffnen sich dem guten Sohne Des großen Vaters Arme weit, Er gibt, der Kindestreu’ zum Lohne, Ein Teilchen dir Unsterblichkeit. Der Name, dir ein Schmerzgenosse, Er wandelt sich von heut’ in Glück; Tönt doch von Salzburgs Erzkolosse Ein Echo auch für dich zurück. Wenn dort die Menge sich versammelt, Ehrfürchtig Schweigen alle bannt, Wer dann den Namen Mozart stammelt, Hat ja den deinen auch genannt.“12

Beim Begräbnis in Karlsbad gelangte das Requiem seines Vaters zur Auf- führung, ebenso wie in den folgenden Tagen bei den Trauerfeierlichkeiten im Salzburger Dom, in der Wiener Augustinerkirche und in der Lemberger Do- minikanerkirche.

12 Franz Grillparzer, Sämtliche Werke, Bd. 1, München [1960 –1965], S. 297 – 298. 254 Manfred Wagner-Artzt

Auf seinem Grabstein steht folgender Text geschrieben: WOLFGANG AMADEUS MOZART Tonkünstler und Tonsetzer geb.am 26. Juli 1791, gest. am 29. Juli 1844 Sohn des grossen Mozart, dem Vater ähnlich an Gestalt und edlem Gemüthe. Der Name des Vaters sei seine Grabschrift, so wie seine Verehrung des Ersteren der Inhalt seines Lebens war

Abbildung 11. Grabstein von Franz Xaver Mozart (Archiv des Autors). Ja, selbst in seiner Grabinschrift durfte er nicht er selbst sein. Von seiner Geburt an bis zu seinem Tod und sogar darüber hinaus (so haben bedauerlicherweise Metalldiebe 2014 sein Grabmal schwerstens beschä- digt) war Franz Xaver Mozart ein Mensch, der nicht gerade vom Glück verfolgt wurde: Sein Vater, der vielleicht gar nicht sein Vater war, starb kurz nach seiner Geburt, seine musikalische Laufbahn stand stets im Schatten seines genialen Vaters, nahezu sein ganzes Leben musste er um Anerkennung kämpfen, sei- ne – möglicherweise einzige – große Liebe blieb unerfüllt. Und doch spricht aus seinen Briefen ein durchaus positiv gesinntes Wesen. Trotz allen Unbills beschwerte er sich nie, sondern nahm alles so an, wie es kam. Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 255

Die wirklich große Anerkennung hat er in Polen erfahren und wie man hören konnte, war er in den höchsten aristokratischen Kreisen zu Hause, durch viele Jahre hindurch unvergleichlich mehr geschätzt als in seiner eigentlichen Heimatstadt Wien. So verwundert es keineswegs, dass er sich als halber Pole empfand. – Ein Österreicher in Polen ist ein polnischer Österreicher geworden.

Franz Xaver MOZART: Werkverzeichnis

Orchestermusik Sinfonia, D-Dur Klavierkonzerte Nr. 1, C-Dur, op. 14 Nr. 2, Es-Dur, op. 25 Kammermusik Klavierquartett, g-Moll, op. 1 6 Stücke für Flöte und 2 Hörner, op. 11 Rondo [recte: Sonatensatz] für Flöte und Klavier, e-Moll Duosonaten für Streicher und Klavier Sonate für Violine und Klavier, B-Dur, op. 7 Sonate für Violine und Klavier, F-Dur, op. 15 Sonate für Violine oder Violoncello und Klavier, E-Dur, op. 19 Klavierwerke (Auswahl) Klaviersonate, G-Dur, op. 10 Variationen über eine Romanze von Méhul, op. 23 2 Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli als Teil II des Vaterlän- dischen Künstlervereins (herausgegeben 1824) Polonaisen 6 Polonaises mélancoliques, op. 17 4 Polonaises mélancoliques, op. 22 2 Polonaises, op. 24 Gesangswerke Aria buffa zur Oper Der Schauspieldirektor von Wolfgang Amadeus Mozart, op. 13 Der erste Frühlingstag, Kantate für Soli, Chor und Orchester, op. 28 Festchor zur Enthüllung des Mozart-Denkmals in Salzburg, op. 30 256 Manfred Wagner-Artzt

Lieder 8 Deutsche Lieder op. 5 Die Einsamkeit Das Klavier Der Vergnügsame Aus den Griechischen Todtengräberlied Mein Mädchen Maylied Das Geheimniss 6 Lieder op. 9 Das liebende Mädchen An spröde Schöne Nein! Der Schmetterling auf einem Vergissmeinnicht Klage an den Mond Erntelied Romanze (In der Vater Hallen ruhte), op. 12 6 Lieder, op. 21 Aus dem Französischen des J. J. Rousseau Seufzer Die Entzückung An Sie An die Bäche Le Baiser An Emma, op. 24 3 Deutsche Lieder op. 27 An den Abendstern Das Finden Berthas Lied der Nacht Frühlingsgruß op. 29 Erinnerung Engel Gottes künden, Weihnachtslied (Arrangement eines Duetts aus der Kantate op. 28)

Manfred Wagner-Artzt, Pianist, Solist, Kammermusiker und Liedbegleiter, seit 1975 Lehrtätigkeit an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, seit 1999 bis heute als Ordinarius, internationale Konzerttätigkeit in Franz Xaver Mozart – Ein Österreicher in Polen 257 vielen Staaten Europas, in den USA, Russland, Japan, Hongkong, Buenos Aires, sowie im Nahen und Mittleren Osten. Konzerte in folgenden Konzertsä- len (Auswahl): Wiener Konzerthaus, Brucknerhaus Linz, Mozarteum Salzburg, Berliner Philharmonie, Oetker- Bielefeld, Großer Sendesaal des WDR- Köln, München Am Gasteig, London Saint John’s Smith Square, Paris Salle Gaveau, Rotterdam De Doelen, Amsterdam Concertgebouw, Budapest Gro- ßer Saal des Liszt-Konservatoriums, Moskau Rachmaninow-Saal, Sankt Pe- tersburg Eremitage Theater, Warschauer Philharmonie, Washington National Gallery, Philharmonie Johannesburg. Mitwirkung bei zahlreichen internatio- nalen Musikfestivals (Auswahl): Wiener Festwochen, Carinthischer Sommer Ossiach, Schubertiade Feldkirch, B’nai B’rith Festival in London, Buenos Aires Chopin-Festival, Mozart Festival Orléans, Chopin-Festival in der Kartause Gaming, HongKong Music Festival, Seine künstlerischen Aktivitäten sind in zahlreichen Aufnahmen für internationale Rundfunk- und Fernsehstationen (ORF, WDR-Köln, CCTV China, RIAS Berlin, PRiTV Polen, NOS Niederlan- de, RTS Serbien, HRT Kroatien, Kazakh Radio, SABC Südafrika, etc.), sowie auf Schallplatten und CDs (EMI, GRAMOLA, MDG, DIVERTIMENTO, etc.) festgehalten. Darüber hinaus ist er als Herausgeber in Erscheinung getreten, so vor allem bei der Wiener Universal Edition mit der Neuausgabe des Klavier- Quartettsatzes von Gustav Mahler und 2008 mit dem bisher unveröffentlicht gewesenen, gesamten Klavierwerk von Franz Schreker. Träger folgender Aus- zeichnungen: Kavaliersorden für besondere Verdienste um die polnisch-öster- reichischen kulturellen Beziehungen, der ihm vom Präsidenten der Republik Polen im Jahr 1997 verliehen wurde, Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (2013) sowie Großes Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um das Bundesland Niederösterreich (2016).

Michał Piekarski

Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen zwischen beiden Städten*

Lemberg erlangte zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „die musikalischste polni- sche Stadt“ Berühmtheit, die musikinteressierte Bevölkerung galt als das „mu- sikalischste Publikum in Polen.“1 Zu diesem Ruf trug zum einen die große Zahl von Institutionen, Musikschulen und Musikern bei, zum anderen das Publikum, das die zahlreichen Konzerte und musikalischen Darbietungen be- suchte. Artur Rubinstein erinnerte sich daran, dass „Lemberg bis nach dem Ersten Weltkrieg die einzige Stadt war, in der ich stets mit einem zur Gänze ausverkauften Saal rechnen konnte.“2 Die Musikalität der Stadt hat eine lange Tradition, die viele Jahrhunderte hindurch weitergegeben und weiterentwi- ckelt wurde. Die musikalischen Traditionen Lembergs Die musikalische Tradition Lembergs, die auf der Musik der Lateinischen Kir- che beruht, reicht bis in die Zeit der Renaissance sowie der Herrschaftszeit der Jagiellonendynastie in Polen zurück.3 Im Laufe der folgenden Jahrhunderte * Dieser Beitrag konnte dank eines Stipendiums der Lanckorońskistiftung und des „Me- morandums of Understanding“ zwischen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Polnischen Akademie der Wissenschaften verfasst werden. 1 Adolf Chybiński, Koncert kompozytorski Karola Szymanowskiego [Das Komponisten- Konzert von Karol Szymanowski], „Gazeta Wieczorna“, 19. März 1920, Nr. 5138, S. 3 – 4. 2 Artur Rubinstein, Moje młode lata [Meine Jugendjahre], Kraków 1973, S. 355. 3 Im 15. Jahrhundert wurden in Lemberg die Werke von Guillaume Dufay und Josquin des Prés zur Aufführung gebracht, vgl. Mirosław Perz, Fragmenty lwowskie. Źródło dzieł Du- faya, Josquina, Piotra Domarta i Piotr z Grudziądza w Polsce XV wieku [Lemberger Fragmente. Quellen der Werke von Dufay, Josquin, Piotr Domart und Piotr z Grudziądza im Polen des 15. Jahrhunderts], in Muzyka 3, 1989, S. 3 – 46. 260 Michał Piekarski waren während des Bestehens der Polnisch-Litauischen Republik in Lemberg an den Klöstern sowie an den Magnatenhöfen Musikensembles aktiv. Zur Zeit des Barocks bestand neben dem Jesuitenkollegium, dem der polnische König Jan Kazimierz im Jahr 1661 den Rang einer Akademie verliehen hatte, auch eine von den Jesuiten geleitete musikalische Burse (1608 –1773), an der Kinder aus weniger vermögenden Kreisen Gesang- und Instrumentalunterricht erhiel- ten. Diese Form von Musikunterricht erstreckte sich über das große Gebiet der Polnisch-Litauischen Republik und nahm dabei in großem Ausmaß auf die Entwicklung des musikalischen Lebens im Land Einfluss.4 Nach der Annexion Südpolens durch die Habsburger im Jahr 1772 be- fand sich Lemberg 150 Jahre unter der Herrschaft der Habsburger. Die Säku- larisierung während der Herrschaftszeit von Joseph II. führte zu einer Schwä- chung der Rolle der Kirche sowie auch zur Aufhebung zahlreicher Orden, u. a. des Jesuiten- sowie des Franziskanerordens. Solcherart ihrer Stellung beraubt waren sie dazu gezwungen, ihre künstlerischen Aktivitäten einzuschränken. Einhergehend mit der Aufhebung der Klöster und Ordensgemeinschaften wurden auch die dort tätigen Musikensembles aufgelöst. Eine neue Initiative waren die zunehmend häufiger stattfindenden, nach dem Vorbild des Hofs in Wien organisierten Konzerte, insbesondere die zur Fastenzeit stattfindenden Oratoriumskonzerte. Eine grundliegende Änderung war es, dass sich in der Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die musikalische Kultur Lembergs vor allem aufgrund der neu gegründeten Institutionen – Theater, musikalische Gesellschaften sowie die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend größere Zahl von Musikschulen – entfaltete.5 Seit dieser Zeit gab es in Lemberg neue, bislang unbekannte Einflüsse, die in den darauffolgenden Jahrzehnten zur Entstehung lokaler Traditionen beitru- gen, der sich die in Lemberg ansässigen Polen, inspiriert von den Beamten und Kulturaktivisten, die sich in Lemberg angesiedelt hatten, anschlossen. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das musikalische Leben Lembergs durch das nunmehr dauerhaft etablierte Theater bereichert, auf des- sen Bühne auch zahlreiche musikalische Werke zur Aufführung kamen, u. a. auch Opern. Vor der Gründung der Oper, vor dem Jahr 1773, gab es in Lem- berg ein Jesuitentheater. Das Theater war der Aufführungsort öffentlich statt-

4 Jerzy Kochanowicz, Geneza, organizacja i działalność jezuickich burs muzycznych [Ent- stehung, Organisation und Wirken jesuitischer Musikbursen], Kraków 2002, S. 73 – 75, 284. 5 Ausführlicher zu diesem Thema: Michał Piekarski, Muzyka we Lwowie. Od Mozarta do Majerskiego. Kompozytorzy, muzycy, instytucje [Musik in Lemberg. Von Mozart zu Majer. Kom- ponisten, Musiker, Institutionen], Warszawa 2018. Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen… 261 findender Konzerte. Die erste ständige Opernbühne nahm 1776 ihre Tätigkeit auf. 1792 wurde in der Lemberger Oper das Singspiel Mozarts Die Zauberflöte gegeben, kaum ein Jahr nach der Uraufführung im Freihaustheater in Wien. Bis zum 20. Jahrhundert zog das Theater dreimal um, zunächst befand es sich in einem provisorischen Holzgebäude, anschließend in einer 1789 umgebau- ten ehemaligen Minoriten-Kirche. Gegründet wurde dieses Gebäude im Jahr 1842 vom polnischen Aristokraten Stanisław Skarbek, dem es auch seinen Na- men, Skarbowskitheater [Teatr Skarbowski], verdankt. Schließlich wurde 1900 das Stadttheater eröffnet, das auch als Teatr Wielki bezeichnet wurde. Anfangs, von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die 1870er Jahre, erfüllte das Theater zwei Funktionen: es diente der Unterhaltung der neu in der Stadt eingetroffe- nen deutschsprachigen Bürger Lembergs und regte die polnische Bevölkerung der Stadt dazu an, sich für deutsche Kultur zu interessieren (dies aufgrund der offiziellen Politik der Stadt) sowie sich weiterhin an Werken der polnischen Kunst zu erfreuen (dies aufgrund der Aktivitäten polnischer Kulturschaffen- der). Aus diesem Grund brachten auf der Bühne des Stadttheaters fast hundert Jahre lang zwei Schauspielerensembles, ein deutsches und ein polnisches, ihre Werke zur Aufführung.6 Seit der Ära der Autonomie Galiziens in den 1870er Jahren beschränkten sich die Aufführungen für die Lemberger Bevölkerung ausschließlich auf Aufführungen des polnischen Ensembles. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kamen u. a. die folgenden deutschsprachigen Musiker nach Lemberg: Franz Xaver Wolfgang Mozart (Sohn), der aus Wien stammende Komponist von Singspielen Johann Me- deritsch, der auch der Lehrer von Mozarts Sohn war, Franz Mitscha, der von Beruf Beamter war und dessen Leidenschaft das Komponieren war, sowie der aus Wien stammende Pianist und Komponist Joseph Christoph Keßler7. Eini- ge von ihnen, beispielsweise Franz Xaver Mozart und Keßler, kamen dank des

6 Vgl. Jerzy Got, Na wyspie Guaxary. Wojciech Bogusławski i teatr lwowski 1789 –1799 [Auf der Insel Guaxara. Wojciech Bogusławski und das Lemberger Theater 1789 –1799], Kraków 1971; Teresa Mazepa, Австрійський музично-драматичний театр у Львові (1776 –1872) [Das österreichische Musik- und Schauspielhaus (1776 –1872], in: Leszek Mazepa (Hg.), Mu- sica Galiciana, Bd. 7, Rzeszów 2003; Jolanta T. Pekacz, Music in the Culture of Polish Galicia 1772 –1914, Rochester 2002. 7 Theodor Aigner, Johann Gallus Mederitsch. Sein Leben und Analyse seiner Werke, Disser- tation an der Universität Salzburg 1973; Teresa Mazepa, Przyczynki do dziejów życia muzyczne- go Lwowa (koncerty wybitnych muzyków lwowskich w latach 1820 –1850 we Lwowie) [Beiträge zur Geschichte des musikalischen Lebens von Lemberg (Konzerte Lemberger Musiker von 1820 –1850 in Lemberg], in: Grzegorz Oliwa (Hg.), Musica Galiciana, Bd. 12, Rzeszów 2010; Michał Piekarski, Życie koncertowe Lwowa w latach 1790 –1830 [Das Konzertleben Lembergs von 1790 bis 1830], in: Przegląd Muzykologiczny 8, 2011, S. 93 –114, hier S. 95, 104. 262 Michał Piekarski

Interesses polnischer Aristokraten für Musik nach Lemberg, und wurden von diesen als Klavierlehrer engagiert. Sie schlossen sich in Lemberg mit polnischen Musikern zusammen, von denen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Komponist und Violinist Karol Lipiński einer der bedeutendsten war. Dieser war ab 1839 Konzertmeister des Orchesters des sächsischen Königs Friedrich August in Dresden.8 Von den Komponisten und Musikern, die im 19. Jahr- hundert in Lemberg auftraten, sind Franz Liszt (1847), Stanisław Moniusz- ko (1865), Johannes Brahms und Józef Joachim (1880)9 zu nennen. Im 20. Jahrhundert traten in Lemberg Richard Strauss (1903), Gustav Mahler (1903), Mieczysław Karłowicz (1903), Karol Szymanowski (dieser trat beginnend im Jahr 1912 in Lemberg häufig auf) sowie Béla Bartók (1936) auf.10

Abbildung 1. Stadttheater Lemberg (Teatr Wielki), rechterhand ist das Skarbowski-Theater zu sehen (Quelle: Biblioteka Narodowa (Polona)).

8 Zofia Chechlińska,Lipiński Karol, in: Elżbieta Dziębowska (Hg.), Encyklopedia Muzycz- na PWM. T. 5 [Musikenzyklopädie des Polnischen Musikverlags, Bd. 5], Kraków 1997, S. 362; Józef Powroźniak, Karol Lipiński, Kraków 1970, S. 42; Leszek Mazepa, Towarzystwo św. Cecy- lii we Lwowie [Die Gesellschaft der Hl. Cäcilia in Lemberg], in: Leszek Mazepa (Hg.), Musica Galiciana, Bd. 3, Rzeszów 1999, S. 109. 9 Joachim i Brahms, „Gazeta Lwowska“, 12. Februar 1880, Nr. 34, S. 3 – 4; Władysław Za- wadzki, Pamiętnik życia literackiego w Galicji [Tagebuch des literarischen Lebens in Galizien], Kraków 1961. S. 112; Leszek Mazepa / Teresa Mazepa, Шлях до музичної академії у Львові [Die Entstehung der Musikakademie in Lemberg], Bd. 1– 2, L’viv 2003, S. 53. 10 Repertuar Filharmonii lwowskiej [Das Repertoire der Lemberger Philharmonie], „Gazeta Lwowska“, 4. Jänner 1903, Nr. 3, S. 5; Adolf Chybiński, Mieczysław Karłowicz. Kronika życia Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen… 263

Um das Konzertleben nach dem Vorbild der im Jahr 1812 gegründeten Wiener Gesellschaft der Musikfreunde11 zu beleben, wurde in Lemberg im Jahr 1838 die Galizische Musikgesellschaft gegründet. An den nun regelmäßig stattfindenden Konzerte für die Lemberger Bevölkerung waren sowohl pro- fessionelle Musiker als auch Amateure beteiligt. So wie die Gesellschaft der Musikfreunde rief auch die Galizische Musikgesellschaft in den folgenden Jahren eine Musikschule ins Leben, um das Niveau der musikalischen Dar- bietungen anzuheben.12 Solcherart gestalteten sich die Anfänge der 1817 in Wien gegründeten Singschule der Gesellschaft der Musikfreunde sowie der in Lemberg 1839 gegründeten Gesangsschule. In den Folgejahren wurde das Unterrichtsrepertoire der Schule um weitere Instrumentalklassen, beginnend bei Streichinstrumenten, ausgeweitet. Dies war der Beginn der Geschichte des späteren Konservatoriums der Galizischen Musikgesellschaft. Diese Einrich- tung, die zunächst als weitgehend deutschsprachige Institution gegründet wor- den war, wurde im Hinblick auf die zunehmend größere Zahl von Polen, die sie besuchten, mehr und mehr zu einer polnischsprachigen Einrichtung – und dies noch vor der Ära der Autonomie. Der erste Direktor des Konservato- riums der Galizischen Musikgesellschaft war der aus Wien stammende Pia- nist Johann Ruckgaber (1853 –1856), einer der Mitbegründer der Galizischen Musikgesellschaft.13 Zu einem späteren Zeitpunkt, in der Zeit von 1858 bis 1887, war der Pianist und Komponist Karol Mikuli, ein gebürtiger Armenier, Direktor der Schule. Mikuli war auch ein bekannter Schüler von Fryderyk Chopin in Paris. Lemberg hat ihm die Chopinsche Tradition der Interpre- tation von Musikwerken zu verdanken. Auch wurde in Lemberg als einem bekannten Zentrum der Pflege der Musik von Chopin die 100. Wiederkehr des Geburtstags des Komponisten feierlich begangen (1910). In Lemberg be- fand sich auch das private Fryderyk-Chopin-Museum, das von einer Schüle- artysty i taternika [Mieczysław Karłowicz. Chronik des Lebens des Künstlers und Bergsteigers], Kraków 1949, S. 215, 221; Echo krytyczne. Filharmonia. III koncert symfoniczny [Ein kritisches Echo. Philharmonie. Drittes Symphonisches Konzert], „Echo“1937, Nr. 5 (Jänner), S. 11; Vgl. Leszek Mazepa, Filharmonia Lwowska na początku XX wieku [Die Lemberger Philharmo- nie zu Beginn des 20. Jahrhunderts], in: Eugeniusz Sąsiadek (Hg.), Wokalistyka w Polsce i na świecie. T. 2 [Der Sänger in Polen und auf der Welt, Bd. 2], Wrocław 2003, S. 76 – 90. 11 Robert Lach, Geschichte der Staatsakademie und Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, Wien 1927, S. 8. 12 Mazepa / Mazepa, Шлях до музичної академії у Львові, S. 39 – 41, 115 –116, 136 –141. 13 Ewa Michalik, Jan Ruckgaber: zapomniany kompozytor: życie i twórczość lwowskiego pia- nisty, kompozytora, pedagoga i organizatora życia muzycznego [Jan Ruckgaber: ein vergessener Komponist: Leben und Wirken des Lemberger Pianisten, Komponisten, Pädagogen und Or- ganisator des musikalischen Lebens], Warszawa 2016. 264 Michał Piekarski rin von Mikuli, Kornelia Löwenherz-Parnas, einer polnischen Pianistin und Sammlerin jüdischer Herkunft, geführt wurde.14 Der Nachfolger von Mikuli war der Organist Rudolf Schwarz (1887 –1899), der auch ein hervorragender Organisator des Musiklebens war. Die folgenden Jahrzehnte waren von der Direktorenschaft von Mieczysław Sołtys (1899 –1929) und dessen Sohn Adam Sołtys (1930 –1939) geprägt, zweier Dirigenten und Komponisten, die sich um Polen große Verdienste erworben haben. Im Konservatorium der Galizischen Musikgesellschaft in Lemberg absolvierten zahlreiche herausragende polnische Musiker und Komponisten ihre musikalische Ausbildung. Unsere Aufmerk- samkeit verdienen insbesondere die zahlreichen, in der Klasse von Walery Wy- socki (geboren 1835 in Radomsk, verstorben 1907 in Lemberg) ausgebilde- ten Sänger. Der polnische Literat Tadeusz Boy-Żeleński stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest, dass „die Stadt Lemberg Polen etwa 75 % aller Sänger und Sängerinnen geschenkt hätte“15, was sicherlich keine Übertreibung war. Eine große Diva der Lemberger Oper war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Janina Korolewicz-Waydowa. Sie war eine herausragende polnische Sängerin, die später insbesondere das Publikum der Warschauer Oper sowie des Lon- doner Covent Garden begeisterte. Gleichzeitig stand sie in Konkurrenz zur ukrainischen Sängerin Salome Kruszelnicka, die u. a. an der Mailänder Scala auftrat. Sowohl Korolewicz-Waydowa als auch Kruszelnicka waren in Lemberg Schülerinnen von Wysocki. Am 2. sowie am 4. April 1903 konzertierte Gustav Mahler in der Philharmonie in Lemberg, einer im Jahr 1902 neu gegründeten Institution, die unabhängig von der Galizischen Musikgesellschaft16 aktiv war. Gespielt wurde seine erste Symphonie17. Am 1. April 1903 besuchte Mahler auch die Lemberger Oper, wo Tosca von Giacomo Puccini mit Janina Korole- wicz-Waydowa in der Titelrolle gegeben wurde.18 Diese Oper hörte Mahler in Lemberg zum ersten Mal.19 Über den Besuch des Pianisten wurde folgender- maßen berichtet: „Der hervorragende Direktor der Hofoper in Wien besuch- te gestern eine Vorstellung der Tosca und spendete allen daran mitwirkenden Künstlern begeisterten Applaus.“20

14 Pamiątki szopenowskie we Lwowie [Erinnerungsstätten an Chopin in Lemberg], „Świa- towid“ 1937, Nr. 3, S. 17. 15 Tadeusz Boy-Żeleński, Znaszli ten kraj?…, Wrocław 2004, S. 5. 16 Mazepa, Filharmonia Lwowska, S. 77 – 78. 17 Repertuar Filharmonii Lwowskiej, „Gazeta Lwowska“, 2. April 1903, Nr. 75, S. 5. 18 Notatki literacko-artystyczne, „Gazeta Lwowska“, 1. April 1903, Nr. 74, S. 4 – 5. 19 Mosco Carner, Giacomo Puccini Tosca, Cambridge 1985, S. 70. 20 Notatki literacko-artystyczne, „Gazeta Lwowska“, 2. April 1903, Nr. 75, S. 5. Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen… 265

Nach dem Ersten Weltkrieg, im Polen der Zwischenkriegszeit, war die pol- nische Uraufführung Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold ein spekta- kuläres Ereignis, das im Jahr 1928 an der Lemberger Oper stattfand. An der Aufführung, die mit großer Begeisterung aufgenommen wurde, wirkten lokale Künstler mit.21 Die mit Lemberg verbundenen Sänger traten nicht selten auch an der Wiener Oper auf, was von der Qualität und vom Anspruch der Lember- ger musikalischen Kreise zeugt.

Polen als Solisten an der Wiener Hofoper und Staatsoper Im Hinblick auf die 150. Wiederkehr des Gründungsjubiläums der Wiener Staatsoper (die vor 1918 Hofoper hieß) im Jahr 2019 werden im Folgenden einige polnische Künstler, die als Solisten auf der Staatsopernbüh- ne auftraten, vorgestellt. Spätes- tens seit den 1880er Jahren waren sie auf dieser Opernbühne vertre- ten, wobei ich mich im vorliegen- den Artikel auf den Zeitraum bis zum Jahr 1939 beschränke. Alle polnischen SängerInnen, die in der Oper in Wien auftraten, wa- ren, wenngleich in unterschied- lich großem Ausmaß, mit Lem- berg verbunden. Begonnen sei mit der polni- schen Sängerin Marcelina Sem- brich-Kochańska (geb. 1858 in Wiśniowczyk östlich von Lem- berg, verstorben 1935 in New York). Ihre musikalische Aus- bildung begann sie zunächst in Lemberg in den Jahren 1874 bis Abbildung 2. Marcelina Sembrich-Kochańska 1875, wo sie Klavierunterricht (Quelle: Theatermuseum Wien). erhielt, anschließend setzte sie ihren Musikunterricht in Wien und Mailand fort. Als Sopran und Opern- diva wurde sie als langjährige Solistin an der Dresdner Hofoper sowie an der 21 Kronika, „Gazeta Lwowska“, 28. Jänner 1928, Nr. 48, S. 3. 266 Michał Piekarski

Metropolitan in New York bekannt, wo sie als erste Solistin polnischer Herkunft berühmt wurde.22 An der Wiener Hofoper verkörperte sie 1887 die Titelrollen in Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti, weiters La Som- nabula von Vinzenzo Bellini sowie in La Traviata von Giuseppe Verdi.23 Ihren größten Ruhm erlangte sie 1887 in Wien mit der Rolle der Rosina im Il Bar- biere di Siviglia von Giacomo Rossini, bei der Erzherzog Rudolf im Publi- kum anwesend war. Nach der Szene des Gesangsunterrichts von Rosina (eine Glanzrolle, die die Sängerin auf das Kunstvollste individuell gestalten konnte) waren die Beifallsbekundungen des Erzherzogs so überdeutlich, dass der Di- rigent trotz des strengen, an der Hofoper herrschenden Verbots von Wieder- holungen die Szene wiederholen musste. Ein halbes Jahrhundert später wurde darüber geschrieben: „Ein außergewöhnlicher Vorfall, ein Bruch mit den Tra- ditionen der Oper, und der Kapellmeister gab das Zeichen dazu.“24 Marce- lina Sembrich-Kochańska wiederholte jedoch die Arie nicht, sie sang in der Hofoper zwei Lieder in polnischer Sprache, wobei sie sich selbst auf dem sich auf der Bühne befindlichen Klavier begleitete, das Teil des Bühnenbilds in der Szene des Gesangsunterrichts der Rosina war. Auf diese Weise erklang auf der Bühne der Wiener Oper erstmals die polnische Sprache, was beim Publikum auf große Begeisterung stieß. 1935 berichtete eine Zeitung: „Zwei polnische Lieder in der Oper von Rossini wurden in der Galavorstellung im großen kai- serlichen Opernhaus in der Hauptstadt Österreichs gesungen, ein in der Tat außergewöhnliches Ereignis, wie es sich nie zuvor zugetragen hatte und das sich auch von da an nie wiederholte.“25 Dabei handelt es sich um eine ganz neue und bislang nicht bekannte Infor- mation sowohl bezüglich des Auftritts von Sembrich-Kochańska an der Wiener Hofoper als Rosina sowie auch über ihren Gesang in polnischer Sprache auf der Opernbühne.26 Das Zitat aus einer polnischen Zeitung aus dem Jahr 1935 konnte durch ein entsprechendes Zitat aus einer Wiener Zeitung aus dem Jahr

22 Małgorzata Komorowska, Marcella Sembrich-Kochańska. Artystka świata, Warszawa 2016; Karl J. Kutsch / Leo Riemens (Hgg.), Großes Sängerlexikon, Bd. 1– 6, München 31997, hier Bd. 5, S. 3206 – 3207. 23 Wiener Staatsoper Suchergebnis, https://archiv.wiener-staatsoper.at/search/person/8590 (Zugriff: 5. Juni 2019); Komorowska, Marcella Sembrich. 24 Ignacy Dembowski, Jak Marcelina Sembrich-Kochańska po polsku śpiewała w operze ce- sarskiej w Wiedniu [Wie Marcelina Sembrich-Kochańska in der kaiserlichen Oper in Wien auf Polnisch sang], „Ilustrowany Kurier Codzienny“, 31. Jänner 1935, Nr. 31, S. 10. 25 Ebd., S. 10. 26 Diese Informationen findet man nicht im online-Sucharchiv der Wiener Staatsoper: https://archiv.wiener-staatsoper.at/search/person/8590 (Zugriff: 5.6.2019). Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen… 267

1887 bestätigt werden. 1887 schrieb die „Wiener Presse“ über das Debüt von Marcelina Sembrich-Kochańska an der Wiener Hofoper: „Was speciell die Mittwochs-Vorstellung anbelangt, so konnte dieselbe unsere jüngst ausgesprochene Anschauung in Betreff der Künstlerin nicht alteriren, doch müssen wir als objective Bericht- erstatter constatiren, daß der äußere Erfolg diesmal ein wärmerer war als beim Debut, und daß der Applaus insbesondere nach der Singlection im II. Acte, welcher sich dank der Liebenswürdigkeit der Rosina zu einem förmlichen polyglotten Liederabende gestalte- te – Frau Sembrich sang mehrere Nummern, theils in italienischer, theils in deutscher, theils in polnischer Sprache – einen stürmischen Charakter annahm und sich lange nicht legen wollte. (…)“27 Marcella Sembrich-Kochańska trat mehrmals auch vor polnischem Pub- likum an Theatern in Warschau, Lemberg und Krakau auf. 1886 trat sie im Rahmen eines Konzerts der Galizischen Musikgesellschaft in Lemberg im Saal des Turnvereins Sokół auf. Sie sang Arien aus den Opern Mozarts und Bellinis sowie die zur damaligen Zeit überaus beliebte Melodie von Aleksander Za- rzycki zu den Versen von Adam Asnyk Między nami nic nie było. Am Klavier begleitet wurde sie vom Rat des Kreisgerichts in Lemberg Aleksander Mni- szek-Tchórznicki. Dieses Lied flocht Kochańska auch während ihrer Auftritte in Lemberg in die Szene der Gesangsunterrichtsstunde der Rosina im Barbier von Sevilla ein28. Daher ist es durchaus wahrscheinlich, dass dieses Lied ein Jahr später auf der Bühne der Wiener Oper erklang. In vielen Opernaufführungen an der Wiener Oper sang Helena Zboiń- ska-Ruszkowska (geboren 1877 in Lemberg in Galizien, verstorben 1948 in Krakau) Sopranrollen. In Lemberg hatte sie in der Klasse des legendären Ge- sangspädagogen Walery Wysocki Unterricht erhalten.29 Sie debütierte an der Lemberger Oper im Jahr 1900, wo sie bis zum Jahr 1902 regelmäßig auftrat.30 Ihr erstes Konzert in Wien (es handelte sich noch nicht um eine Opernauf- führung) fand 1904 statt. An der Wiener Hofoper trat sie während der Direk- tionszeit von Gustav Mahler auf, u. a. 1906 in Sopranrollen als Lisa in Pique Dame von Peter Iljitsch Tschaikowski sowie in der titelgebenden Rolle in der

27 Dr. K., Theater, Kunst und Literatur (Hofoperntheater), „Wiener Presse“, 18. April 1887, Nr. 16, S. 3. 28 Małgorzata Komorowska, Marcella Sembrich-Kochańska – życie, nauka, wakacje, kon- certy i występy gościnne w Galicji i Lwowie w latach 1858 –1909, in: Marta Wierzbieniec (Hg.), Musica Galiciana, Bd. 11, Rzeszów 2008, S. 20. 29 Beata Kost, Album lwowski, Warszawa 2016, S. 173. 30 Kutsch / Riemens (Hgg.), Großes Sängerlexikon, Bd. 4, S. 3010 – 3011. 268 Michał Piekarski

Aida von Guiseppe Verdi auf.31 1907 trat Zboińska-Ruszkowska als Gast in ei- ner Solopartie an der Mailänder La Scala auf.32 In der Wiener Oper trat sie auch später zwei Saisonen hindurch in der Zeit von 1914 bis 1916 auf, in der Zeit von 1916 bis 1918 wiederum trat sie im Prager Nati- onaltheater auf.33 1916 trat sie als Gast in Lemberg und Krakau auf. Eine Reihe von Spielsaisonen trat sie auch im Teatr Wielki in War- schau (1902 –1907, 1916 –1917, 1919 –1928) auf. 1906 ehelich- te Zboińska-Ruszkowska Ferdi- nand Seeliger, einen Sekretär im Finanzministerium in Wien.34 Nach der Beendigung ihrer Kar- riere als Sängerin lebte Helena Zboińska-Ruszkowska in Krakau, wo sie an ihrer eigenen Gesangs- schule sowie an der Staatlichen Musikhochschule in Krakau un- terrichtete. Zu den Solisten an der Wie- Abbildung 3. Helena Zboińska-Ruszkowska (Quelle: Sammlung des Theaterinstituts ner Oper gehörte auch der Ba- Warschau). riton Konrad Zawiłowski (geb. 1880 in Krakau, gestorben 1952 in Berlin). Seine ersten Lebensjahrzehnte verbrachte Zawiłowski in Krakau, wo er nach Ablegung der Matura im Jahr 1898 ein Studium an der Jagiellonen- universität aufnahm.35 Musikunterricht genoss er in Krakau, wobei er auch bei

31 Wiener Staatsoper Suchergebnis, https://archiv.wiener-staatsoper.at/search/person/8752 (Zugriff: 5.6.2019). 32 Kutsch / Riemens (Hgg.), Großes Sängerlexikon, Bd. 4, S. 3010 – 3011. 33 Österreichisches Musiklexikon online: http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_R/ Ruszkowska-Zboinska_Helena.xml;internal&action=hilite.action&Parameter=ruszkowska (Zugriff: 24. Juni 2019). 34 http://encyklopediateatru.pl/osoby/17977/helena-zboinska-ruszkowska (Zugriff: 24. Ju­ ni 2019). 35 Zur Ablegung der Matura von Konrad Zawiłowski in Krakau im Jahr 1898 vgl. das Ar- chiv der Universität Wien, Philosophische Rigorosenakten Nr. 1525, Handschrift, Kart. 9 –10; Corpus studiorosum Universitatis Iagelloniae in saeculis XVIII – XX, Bd. III, Kraków 2015, S. 827. Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen… 269

Mieczysław­ Sołtys, dem Direktor der Galizischen Musikgesellschaft in Lem- berg, Unterricht in Kontrapunkt nahm.36 Sein Debüt als Sänger gab Zawiłow- ski 1902 in Lemberg, sein Bühnen- debüt erfolgte ein Jahr später, in der Folge wurde er als Solist an der Lemberger Oper engagiert. Wenig später, 1904 –1907, war er Haupt- bariton an der Wiener Hofoper.37 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Za- wiłowski in Lemberg Gustav Mah- ler, dem damaligen Direktor der Hofoper, begegnet ist, der sich im April 1903 in Lemberg aufhielt, wenngleich Zawiłowski zu dieser Zeit nicht an der Lemberger Oper auftrat.38 Konrad Zawiłowski sang in der Wiener Hofoper im Jahr 1905 in der Oper von Hans Pfitz- ner Die Rose vom Liebesgarten, die von Gustav Mahler inszeniert war. Diese Inszenierung mit Zawiłowski wurde sechszehn Mal aufgeführt.39 In weiteren Rollen trat er als Albe- rich in das Rheingold von Richard Wagner (1905), als Magnetiseur im Abbildung 4. Konrad Zawiłowski (Quelle: heute vergessenen szenischen Werk Sammlung des Theaterinstituts Warschau). Der polnische Jude von Karel Weis (1906) sowie als Fürst Jeletzki in Pique Dame von Peter Iljitsch Tschaikowski (1905 –1906) auf.40 Neben der Wiener Hof­

36 Maria Ewa Sołtys, Tylko we Lwowie. Dzieje życia i działalności Mieczysława i Adama Soł- tysów [Nicht nur in Lemberg. Eine Geschichte von Leben und Wirken von Mieczysław und Adam Sołtys], Wrocław 2008, S. 81. 37 Kutsch / Riemens (Hgg.), Großes Sängerlexikon, Bd. 5, S. 3802; „Lutnista“, 25. Juni 1905, Nr. 9 –10, S. 125, 134. 38 Notatki literacko-artystyczne [Literarisch-künstlerische Notizen], „Gazeta Lwowska“, 1. April 1903, Nr. 74, S. 4 – 5. 39 „Lutnista“, 25. Juni 1905, Nr. 9 –10, S. 125, 134. Über die Teilnahme von Gustav Mah- ler vgl. die Biographie über Hans Pfitzner auf „Portale di Varia Cultura“, https://www.rodoni. ch/PFITZNER/pfitzner.pdf (Zugriff: 20.7.2018). 40 Archiv der Wiener Staatsoper, https://archiv.wiener-staatsoper.at/search/person/8751 (Zugriff: 5. Juni 2019). 270 Michał Piekarski oper war Konrad Zawiłowski auch als Solist der Hofoper in Berlin weithin bekannt. Konrad Zawiłowski war mit Wien bereits seit 1900 verbunden, hier setzte er sein Studium der Musikgeschichte sowie der Musiktheorie am Institut für Musikwissenschaft an der Fakultät für Philosophie an der Universität Wien fort. Dieses Institut war 1898 von Guido Adler gegründet worden. Zu den Opernaufführungen in Wien reiste er daher aus Wien an. 1902 schloss Za- wiłowski erfolgreich sein musikwissenschaftliches Studium an der Universität Wien ab, als erster Pole überhaupt, der zum Doktor der Musikwissenschaft promovierte, sowie als einer der ersten zehn Absolventen eines Studiums der Musikgeschichte und Musiktheorie an der Universität Wien.41 Mit seinem Dis- sertationsthema „Stanislaus Moniuszko“ unterstrich Zawiłowski die Präsenz der polnischen Kultur unter den von den Musikwissenschaftlern an der Uni- versität Wien gewählten Forschungsthemen. Seine Bühnenerfolge führten in der Folge jedoch dazu, dass Zawiłowski der wissenschaftlichen Befassung mit Musikgeschichte und Musiktheorie dauerhaft den Rücken zukehrte. Aufgrund seines Studiums war Konrad Zawiłowski jedoch einer der wenigen Sänger sei- ner Zeit, die sich eines abgeschlossenen Universitätsstudiums rühmen konnten. Ein weiterer polnischer Sänger, der uns nicht nur aufgrund einer Insze- nierung an der Wiener Oper bekannt ist, war der Tenor Józef Mann (geboren 1883 in Lemberg, verstorben 1921 in Berlin). Von seiner Ausbildung her war er Jurist, studiert hatte er an der Juridischen Fakultät an der Universität Lem- berg. Neben Konrad Zawiłowski ging er daher als weiterer polnischer Opern- sänger mit einem abgeschlossenen Universitätsstudium in die Geschichte ein. Parallel zu seinem Studium nahm er beim bereits mehrmals erwähnten Walery Wysocki in Lemberg Gesangsunterricht. Er debütierte 1909 auf der Bühne der Lemberger Oper als Jontek, einer anspruchsvollen Tenorpartie, in Halka von Stanisław Moniuszko, bereits zuvor hatte er als Liedsänger von sich re- den gemacht. Sein Debüt wurde vom Publikum sehr gut aufgenommen. In der Presse wurde von seiner „mädchenhaften Tenorstimme mit der Klangfarbe eines Baritons in den niedrigeren Tonlagen“ geschrieben.42 Das Publikum der Wiener Hofoper bekam Józef Mann erstmals drei Jahre später im Jahr 1912 in außergewöhnlich anspruchsvollen Tenorrollen – als Radames in der Aida von Guiseppe Verdi, in der Folge in der Titelrolle in Richard Wagners Lohen- grin – zu hören. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1920 trat er

41 Philosophische Fakultät Promotionsprotokolle 1902, AUW, Nr. 34.2, rkps, k. nlb. 42 Stanisław Meliński, Z teatru, „Kurier Lwowski“, 27. Oktober 1909, Nr. 501, S. 4. Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen… 271 in zwei Opern auf: als Elezar in La Juive von Jaques Fromental Halévy sowie als Palestrina in der gleichnamigen Oper von Hans Pfitzner.43 Józef Mann war auch dem Publikum der Wiener Hofoper bekannt, wo er in der Zeit von 1912 bis 1915 auftrat. Der frühzeitige Tod von Józef Mann im Alter von 38 Jahren beendete seine große Karriere.44 In der Zwischenkriegszeit trat in der Wiener Oper oftmals der berühmte Tenor Jan Kiepura (geboren 1902 in Sosnowiec, verstorben 1966 in Harrison) auf, der auch ein bekannter Solist am Londoner Covent Garden, an der Mai- länder Scala sowie an der Berliner Staatsoper war. Zwar hatte er seine musika- lische Ausbildung nicht in Lemberg genossen, doch gab er sein Operndebüt an der Lemberger Oper im Jahr 1925 in einer Solorolle im von Charles Gounod. Es ist erwähnenswert, dass Jan Kiepura aufgrund seiner lauten Stim- me aus dem Chor der Warschauer Oper ausgeschlossen wurde, später jedoch feierte er als Solist an der Warschauer Oper Triumphe. In der Wiener Oper trat Kiepura häufig auf. 1926 sang er die Partie des Cavaradossi in der Tosca von Giacomo Puccini (in dieser Rolle trat er bis 1936 auf) sowie als Kalafa in Turandot von Giacomo Puccini (Erstaufführung dieser Oper in Österreich, in dieser Rolle trat Kiepura bis 1937 auf), in den Jahren 1927 und 1928 trat er als der Fremde in Das Wunder der Heliane von Erich Wolfgang Korngold auf, in der Zeit von 1929 –1936 als der Herzog von Mantua in Rigoletto von Gius- eppe Verdi, 1937 als Manrico in Il Trovatore von Giuseppe Verdi, in den Jahren 1932 –1938 als Rodolfo in La Bohème von Giacomo Puccini, 1938 als Don José in Carmen von Georges Bizet.45 *** Regelmäßige Kontakte auf der Grundlage des musikalischen Lebens zwischen Lemberg und Wien reichen bis in die 1770er Jahre zurück, unmittelbar nach der Angliederung Südpolens an das österreichische Kaiserreich. Das Musikle- ben in Lemberg erhielt zum damaligen Zeitpunkt ein eigenständiges Theater mit regelmäßigen Aufführungen, auf dessen Bühne auch musikalische Darbie- tungen, unter anderem auch Opern, gespielt wurden. Das Theater war auch der Ort öffentlich stattfindender Konzerte. Zahlreiche Musiker kamen zur da-

43 Wiener Staatsoper Suchergebnis, https://archiv.wiener-staatsoper.at/search/person/7773 (Zugriff: 17.6.2019] 44 Kutsch / Riemens (Hgg.), Großes Sängerlexikon, Bd. 3, S. 2193 – 2194; Österreichi- sches Musiklexikon online: http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_M/Mann_Jozef.xml; internal&action=hilite.action&Parameter=mann (Zugriff: 24. Ju­ni 2019). 45 Archiv der Wiener Staatsoper online: https://archiv.wiener-staatsoper.at/search/person/ 5862 (Zugriff: 6. Juni 2019). 272 Michał Piekarski maligen Zeit nach Lemberg, beispielsweise Franz Xaver Wolfgang Mozart und Johann Mederitsch. In Lemberg schlossen sie sich mit polnischen Musikern zu- sammen, u. a. mit Karol Lipiński, ein Violinvirtuose von europäischem Ruhm. Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten traten in Lemberg zahlreiche Mu- siker und Komponisten von Weltruhm auf – von Franz Liszt bis Béla Bartók. Zu den polnischen Komponisten, die Lemberg besuchten, gehörten u. a. auch Stanisław Moniuszko und Karol Szymanowski. Auf diese Weise wurde Lem- berg – wenngleich es eine verhältnismäßig kleine Stadt für europäische Maß- stäbe war – ein zunehmend interessanteres Zentrum des musikalischen Lebens, das zahlreiche andere Städte vergleichbarer Größe in dieser Hinsicht bei Wei- tem übertraf (vor 1914 hatte Lemberg etwas über 200.000 Einwohner). Um das Niveau des musikalischen Lebens in Lemberg weiter zu verbessern, wurde die Galizische Musikgesellschaft nach dem Muster der Gesellschaft der Musik- freunde ins Leben gerufen. In Wien ebenso wie in Lemberg entstanden an den beiden Gesellschaften Gesangsschulen, Instrumentalklassen sowie schließlich Musikkonservatorien. Dies führte zu einem höheren Niveau der musikalischen Darbietungen sowie auch dazu, dass Wien und Lemberg (in entsprechend ge- ringerem Maße) zunehmend bedeutendere Zentren musikalischer Ausbildung wurden. Eine Reihe von polnischen Musikern genoss am Konservatorium der Galizischen Musikgesellschaft ihre musikalische Ausbildung. Neben der inten- siven Tradition im Geiste Chopins, die mit Karol Mikuli verbunden war, wur- de das Konservatorium auch aufgrund seiner hervorragenden Ausbildung von Opernsängern in der Klasse von Walery Wysocki berühmt. Mit Lemberg verbunden waren zu einem späteren Zeitpunkt auch Sänger europäischen Formats, die ihre Ausbildung an anderen Orten erfahren hatten. Sowohl jene, die in Lemberg ihren Unterricht genossen hatten, als auch jene, die diesen außerhalb von Lemberg genossen hatten, hinterließen eine dauerhaf- te Spur in den Solorollen sowohl der Lemberger Oper als auch der wichtigsten Opernbühnen der Welt wie der Wiener Oper, La Scala, Covent Garden sowie der Metropolitan Opera, was vom überregionalen Niveau und den Ambitionen der Lemberger musikalischen Kreise zeugte. In der Wiener Oper traten polni- sche Sänger als Solisten auf, allen voran Marcelina Sembrich-Kochańska, Józef Mann und Jan Kiepura, wobei ich mich in diesem Beitrag auf den Zeitraum bis 1939 beschränkte. Sie traten sowohl in Opern italienischer, deutscher, fran- zösischer sowie russischer Komponisten auf. Häufig wurden polnische Sänger mit Hauptrollen in Opernaufführungen betraut. Solcherart wurden polnische Sänger zu einem Teil der Musikgeschichte Wiens und sind mit der bedeutends- ten musikalischen Institution der Stadt verbunden. Diese Sänger, die sich nun Lemberg und Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Beziehungen… 273 bereits Weltruhms erfreuten, traten in späteren Jahren auch in Lemberg auf, sodass das Lemberger Publikum Gelegenheit hatte, jene Bühnenrollen kennen- zulernen, die dem Publikum in Wien bereits vertraut waren. Interessant ist, dass zwei polnische Sänger, Konrad Zawiłowski und Helena Zboińska-Rusz- kowska, zur Zeit der Direktorenschaft von Gustav Mahler (in der Zeit von 1897 bis 1907) an der Wiener Hofoper engagiert wurden. Wie bereits erwähnt war Gustav Mahler 1903 in Lemberg mit seiner ersten Symphonie aufgetreten. Auch wenn Mahler wohl keinen der beiden als Sänger auf der Bühne erlebt hatte (Zawiłowski trat zu diesem Zeitpunkt nicht an der Lemberger Oper auf und Zboińska-Ruszkowska war zu diesem Zeitpunkt mit der Warschauer Oper verbunden), hätte es in Lemberg durchaus zu einem Treffen der beiden Sänger mit dem Komponisten kommen können. Schließlich sei abschließend noch- mals daran erinnert, dass von den polnischen Sängern, die an der Wiener sowie an der Lemberger Oper auftraten, Konrad Zawiłowski und Józef Mann unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen. Neben hervorragender stimmlicher und interpretatorischer Begabung waren beide auch Absolventen eines Universi- tätsstudiums, was in der Welt der Opernsänger eine Seltenheit ist.

Michał Piekarski, Dr. phil., nach einem Studium der Geschichte ist er heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wissenschaftsgeschichte an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Sein Magisterstudium absolvierte er am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Warschau (2008) sowie am Institut für Osteuropastudien an der Universität Warschau (2010). Forschungsinteressen: Geschichte der polnischen Musikwissenschaft und des Musikschulwesens vom 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhun- derts, Musikkultur in Lemberg und in der Zweiten Polnischen Republik, wis- senschaftliche und künstlerische Beziehungen zwischen Polen und Wien (unter besonderer Berücksichtigung der Kontakte zwischen Wien und Lemberg vor 1939). Publikationen (Auswahl): Przerwany kontrapunkt. Adolf Chybiński i po- czątki polskiej muzykologii we Lwowie 1912 –1944 [Der unterbrochene Kont- rapunkt. Adolf Chybiński und die Anfänge der polnischen Musikwissenschaft in Lemberg 1912 –1944], Warszawa 2017 sowie Muzyka we Lwowie. Od Mo- zarta do Majerskiego. Kompozytorzy, muzycy, instytucje [Musik in Lemberg. Von Mozart bis Majerski. Komponisten, Musiker, Institutionen], Warszawa 2018. Darüber hinaus ist er als Klavierbegleiter tätig und organisiert Konzerte, die den Musiktraditionen Lembergs im 19. sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewidmet sind, in deren Rahmen er auch die Ergebnisse seiner Archivrecher- chen vorstellt.

Tadeusz Krzeszowiak

Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit. 250 Jahre Polnisches Nationaltheater*

„ … die polnische Nation ist von Natur zum Theater geboren“ (Theater-Journal für Deutschland, 19. Stück, Gotha 1782, S. 102)

1. Einführung – Das Nationaltheater in Polen Kein uns bekanntes Zeitalter hat sich so sehr mit dem Theater identifiziert wie die auf die Renaissance folgenden Epochen des Barocks und des anschlie- ßenden Rokoko. Das Leben zur damaligen Zeit wurde selbst zum festlichen Schauspiel. In jener Zeit, als Prunk und Protz die Welt regierten, beherrschten aber auch Krieg und der Tod von Tausenden das Leben in Europa. In jener Zeit, als die Wissenschaft am religiösen Weltbild rüttelte und Kastraten grenzenlos bejubelt wurden, feierte die Musik Gott und die absolutistischen Herrscher ihrer Epoche. Die Schaffensperiode von Bach, Händel, Vivaldi, Purcell und Monteverdi, um nur einige zu nennen, war ein Zeitalter der Extreme. Jede höfische Repräsentation und gesellschaftliche Hierarchie dieser Zeit trug Spieler- und Zuschauermerkmale zugleich. Die Hoftheater und später die Nationaltheater in Europa entwickelten sich zur beliebten Darbietungsstätte. Die Bühne und der Zuschauerraum mit ihren oft intimen Logen waren gleich- wertige Partner des Spielens. Oper, Ballettaufführungen und Schauspielstü-

* Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den dessen Verfasser am 22. Jänner 2019 im Wis- senschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien gehalten hat. 276 Tadeusz Krzeszowiak cke erlebten bis dahin unbekannte Entwicklungen in ihren zahlreichen Facet- ten. Jedes Theaterspektakel war so inszeniert, dass es unmittelbar auf die drei wichtigsten Sinnesorgane der Besucher – Sehen, Hören und Riechen – ein- wirkte und sich zu einem gran- diosen Gesamtkunstwerk verei- nigte. Die szenische Kunst – das Schauspiel, der Gesang, der Tanz und die Musik einerseits – wa- ren die wesentlichsten Elemente jeder Aufführung, andererseits waren aber auch Dekoratio- nen, prachtvolle Kostüme und Masken, die für diesen Zweck eingesetzten atemberaubenden Bühneneffekte, das Bühnenlicht und die Bühnenmaschinerie be- deutsam. Das eine konnte ohne das andere nicht existieren, Kunst und Technik ergänzen einander am Theater gleichsam symbiotisch. Zu dieser Zeit wollte jeder Herrscher in Europa die an- deren mit seinem, wenn auch Abbildung 1. König Stanislaus II. August, noch so kleinen Theater, das sich Gemälde von Marcello Bacciarelli (Quelle: Wikipedia). selbstverständlich zu einem Na- tionaltheater entwickeln muss- te, überbieten. In der jeweiligen Landessprache entwickelten sich die Theater im bürgerlichen Zeitalter zum Volkstheater und waren oft der einzige Ort des Zeitvertreibs, aber auch der Bildung auf hohem Niveau. Als Beginn der polnischen Theatergeschichte kann das Jahr 1628 betrach- tet werden, als König Władysław IV. Waza (1595 –1648) die erste italienische Theatertruppe nach Warschau einlud, um eine Oper mit Balletteinlagen zu spielen. König August II. der Starke (1670 –1733) eröffnete zunächst 1725 in Warschau ein „Komödienhaus“ im Königlichen Sächsischen Garten (poln. Ogrody Saskie), sein Sohn August III. von Polen und Sachsen (1696 –1763) ließ es zu einem Opernhaus (poln. Operalnia) ausbauen. Es befand sich an der heutigen Kreuzung der Marszałkowska- mit der Królewskastraße. Die Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 277

Warschauer Operalnia mit 540 Plätzen, welche am Namenstag des Königs am 3. Juli 1748 eröffnet wurde, war das erste Operntheater in Warschau. Als Ar- chitekten gelten u. a. Josef Galli-Bibiena, Matthäus Daniel Pöppelmann, Carl Friedrich Pöppelmann und Joachim Daniel Jauch. Als Vorbild für das War- schauer Theater diente das „Kleine Theater“ in Dresden aus dem Jahre 1687. Nach dem Tod von August III. von Polen und Sachsen übernahm König Stanislaw II. August Poniatowski (1732 –1798) dieses Opernhaus und machte es zum „Nationaltheater“. Ein besonderes Ereignis führte zur Entstehung des Begriffes „National- theater“ – nämlich die Uraufführung des Stückes Natręci [Quälgeister] von Józef Bielawski mit einer polnischen Theatertruppe in polnischer Sprache. Theaterspielen wurde nun zum Beruf, mit öffentlichen Geldern bezahlt und allen zugänglich. Mit dieser Uraufführung am 19. November 1765 begann die Ära des Polnischen Natio- naltheaters. Die Gründung des Nationaltheaters in Warschau wird mit dem zeitgenössischen Geiste des letzten polnischen Königs Stanisław August Po- niatowski assoziiert. Während der Herrschaftszeit von König Stanisław August wurden in der Operalnia vorwiegend französi- sche sowie italienische Opern aufgeführt. Im Jahre 1772 wur- de die Operalnia aufgrund ihres äußerst schlechten technischen Abbildung 2. Wojciech Bogusławski Zustandes geschlossen und das (Quelle: Wikimedia Commons). Gebäude abgetragen. Ab 1773 spielte die polnische Theatertruppe im Palais von Radziwiłł (heute Präsiden- tenpalast, Krakauer Vorstadt). Hier wurden u. a. die polnische Werke von Franciszek Bohomolec aufgeführt. Im Jahre 1779, anderen Quellen zufolge 1778, wurde ein ganz neues Ge- bäude am Krasiński-Platz eröffnet, das zum ständigen Sitz der sogenannten „Na- tionalen Szene“ wurde. Mit diesem Sitz wird aufgrund seiner außergewöhnlichen 278 Tadeusz Krzeszowiak

Verdienste der Direktor und Schauspieler Wojciech Bogusławski (1757 –1829), der auch als „Vater des „polnischen Theaters“ bezeichnet wird, verbunden.

Abbildung 3. Das Nationaltheater am Krasińskiplatz (1791) (Quelle: Wikimedia Commons).

Sein gelungenes Debüt gab er aber schon im Jahre 1778. Am 11. Juli wurde seine Oper Nędza uszczęśliwiona [Glückliches Elend] zur Musik von Maciej Kamieński erstmals aufgeführt. Bogusławski war Theaterregisseur, Opernsän- ger, Schriftsteller, Übersetzer und Pädagoge. Bis zu seinem Tode im Jahre 1829 blieb Bogusławski seiner Vision treu – nämlich, dass Theater für die patrioti- sche, moralische und ästhetische Erziehung der Zuschauer einzusetzen. Im November 1830 kam es zum Ausbruch des größten Aufstandes der Polen nach dem Wiener Kongress, der die Unabhängigkeit Polens zum Ziel hatte. Nach der Niederlage des Novemberaufstandes, der bis Oktober 1831 dauerte, sahen es die russischen Behörden nur ungern, das Theater unter der Bezeichnung „Nationaltheater“ weiterspielen zu lassen. Im Auftrag des russi- schen Zaren Nikolai I. Romanow wurde das Gebäude daher umbenannt und hieß fortan „Großes Theater“ (poln. Teatr Wielki). Das heutige Große Theater am Theaterplatz wurde in der Zeit von 1825 bis 1833 nach den Plänen des Italieners Antonio Corazzi (1792 –1877) gebaut. Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 279

Abbildung 4. Das Teatr Wielki um 1839 (Quelle: Wikipedia).

Abbildung 5. Das Teatr Wielki um 1900 (Quelle: Wikipedia). 280 Tadeusz Krzeszowiak

Am 19. November 1825 wurde der Grundstein für den Bau des Theaters gelegt. Das neue Theater wurde am 24. Februar 1833 mit Rossinis Il barbiere di Siviglia eingeweiht, da die zaristische Zensur die Aufführung einer polni- scher Oper untersagte. Zu dieser Zeit gab es bekanntlich Polen nicht auf der Europakarte – mit der dritten Teilung im Jahr 1795 unter Österreich, Preußen und dem zaristischem Russland bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918, also 123 Jahre, war die Existenz des Landes Polen ausgelöscht. Theater und die Kirche gehörten zu jenen Institutionen, die die polnische Sprache und die polnische Identität oft im Verborgenen pflegten. Das Gebäude des „Großen Theaters“ wurde oftmals umgebaut. Im Jahre 1836 entstand im rechten Flügel des Gebäudes ein neues Theater mit 800 Plätzen für Sprechtheateraufführungen, das 1924 die Stammbühne des Natio- naltheaters wurde. Die erste elektrische Installation im Theater wurde im Jahre 1891 angefer- tigt. Es war eine der ersten elektrischen Anlagen in Warschau. Das erste elek- trische Kraftwerk in der Stadt Warschau wurde erst im Jahre 1904 errichtet. Das Theater also produzierte die Elektrizität selbst, und zwar mit Hilfe eines Generators, der mittels einer Dampfmaschine (Leipziger Anfertigung) ange- trieben wurde. Eine dieser Dampfmaschinen befindet sich heute der Auskunft des technischen Direktors des Gebäudes Jerzy Bojar zufolge in gutem Erhal- tungszustand in der Hydraulik-Halle unter der Bühne. Im September 1939 wurde das Gebäude von den nationalsozialistischen Besatzungstruppen des Dritten Reichs bombardiert und brannte weitgehend nieder. Während des Warschauer Aufstandes, ausgerufen von der Polnischen Heimatarmee im August 1944, wurden die noch bestehenden Teile des Zu- schauerraumes und das zentrale Treppenhaus massiv bombardiert. Den natio- nalsozialistischen Truppen ist es jedoch nicht gelungen, das gesamte Gebäude in die Luft zu sprengen. Der östliche Teil der Fassade, der Portikus und einige Räume im ersten Stock im westlichen Teil (die s. g. Redouten-Zimmer) blie- ben von der totalen Zerstörung verschont. Sie sind die einzigen Räume des Ge- bäudes, in denen das ursprüngliche Dekor, das von Antonio Corazzi entworfen worden war, erhalten blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nach vierzehnjähriger Bauzeit (1951– 1965) unter der Leitung des Architekten Bohdan Pniewski und mit großer Un- terstützung des damaligen Direktors Arnold Szyfman das Große Theater am 19. November 1965 wiedereröffnet. Der Zuschauerraum der Großen Bühne umfasste über 1830 Sitzplätze, die Kammerbühne verfügte über rund 250 Sitz- plätze. Dieses Theater galt zum damaligen Zeitpunkt als das modernste Theater Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 281 auf dem Kontinent, bis heute hat es die größte Bühnenkubatur von allen Re- pertoire-Theatern weltweit. Die Fläche der Hauptbühne mit Proszenium be- trägt 1.150 m2, die Breite 36,5 m, die Tiefe 28 m (mit Proszenium 33 m), die Höhe 35 m, die Tiefe der Unterbühne 12 m, die Drehbühne hat einen Durch- messer von 21,5 m. Die Hinterbühne hat eine Breite von 26 m, eine Tiefe von 26 m und eine Höhe von 24 m. Die beiden „Seiten-Bühnen” (auch „Schie- be-Bühnen“ oder „Seiten-Taschen“ genannt), links und rechts der Hauptbüh- ne angeordnet, haben jeweils eine Breite von 24 m und eine Tiefe von 18 m.

Abbildung 6. Das Teatr Wielki im Jahr 1945 (Quelle: Wikipedia).

Die Bühnenmaschinerie wurde von der berühmten Wiener Firma Brü- ckenbau-Aktien-Gesellschaft konstruiert und arbeitet noch bis heute ohne Zwischenfälle. Die horizontalen wie auch vertikalen Bewegungen des Bühnen- systems ermöglichen es, drei große Bühnenbilder bereits vor Beginn der Auf- führung vorzubereiten. Die sogenannte Zwei-Seiten-Taschen- und die große Hinterbühne, sofern sie nicht für die Aufführung benötigt werden, ermöglichen schnelle Verwand- lungen der Dekorationen der einzelnen Aufzüge. Dieses Bühnensystem in Form eines Kreuzes – links/rechts die Seiten-Taschen, oben die Hinterbühne und vorne der Zuschauerraum und auf der Kreuzung die Hauptbühne mit einer 282 Tadeusz Krzeszowiak

Abbildung 7. Aufriss des Teatr Wielki von oben (Archiv des Autors).

Abbildung 8. Längsschnitt des Teatr Wielki (Archiv des Autors). Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 283

Drehscheibe – stellen die perfekte Lösung und die effektivste Art der Bühnen- bewegung dar. Die nötigen elektrischen Anlagen wurden ebenfalls von einer österreichi- schen Firma, von den Wiener Schwachstromwerken, geliefert, die Firmen Wertheim und Ludwig Pani aus Wien sorgten für die Aufzüge und sämtliches Beleuchtungsinstrumentarium. Der Zuschauerraum ist balkonartig mit einem Anstieg der Sitzreihen gebaut, wodurch eine gute Sicht auf die Bühne gewähr- leistet ist. Die erste Eröffnungspremiere am 19. November 1965 war dem polnischen Komponisten Stanisław Moniuszko1 (1819 –1872) und seiner Oper Straszny Dwór [Das Gespensterschloss] gewidmet, die unter der musikalischen Leitung von Operndirektor Witold Rowicki stand. Im Rahmen der zweiten Eröff- nungsvorstellung am 21. November wurde die polnische Nationaloper Halka von Moniuszko unter der Leitung von Zdzisław Gorzyński gegeben. Am 22. November 1965 führte man das Ballett Pan Twardowski von Ludo- mir Różycki (1883 –1953) in der Choreographie von Stanisław Miszczyk auf. Für das Bühnenlicht war Jerzy Bojar verantwortlich. Am vierten Abend, dem 23. November 1965, fand die Aufführung von Król Roger [König Roger] des polnischen Komponisten Karol Szymanowski (1882 –1937) statt. Das Teatr Wielki sowie die Eröffnungspremieren zeigten die vielseitige Bühnenkunst der polnischen nationalen Identität nach dem Wiederaufbau

1 Das Jahr 2019 wurde zum Gedenkjahr von St. Moniuszko erklärt – 200-es Geburts- tagjahr. Aus diesem Anlass ist in dem weltberühmten Theater an der Wien/Österreich am So. 15. Dezember 2019 die Premiere von Halka in polnischer Sprache aufgeführt – eine Koopera- tion zwischen Teatr Wielki und Opernhaus Theater an der Wien. In der Rolle des Jontek trat der berühmteste poln. Tenor derzeit Piotr Beczała. Die Arie des Jontek aus dem 4. Akt „Szu- mią jodły na gór szczycie… Hej Halino, hej jedyna, dziewczyno moja…“ wurde frenetisch aufgenommen und bejubelt! Die Uraufführung der tragischen Oper Halka fand am 1. Januar 1858 im Teatr Wielki in Warschau statt. Mit Halka avancierte St. Moniuszko zum Schöpfer der poln. Nationaloper. Der Bauernaufstand 1864 in Galizien regte zu Thematik dieser Oper den Komponisten an. Die polnischen Bräuche und Traditionen, Folklore und Nationaltrachten, die so stark in dieser Oper betont sind, weckten die patriotischen Gefühle des Nationalkampfes um Unabhängig- keit des Landes auf. Die zweite Oper von St. Moniuszko Straszny dwór, auch in vier Akten, wurde am 28. Sep- tember 1865 auf der Bühne des Teatr Wielki in Warschau uraufgeführt. Straszny dwór – eine zur Wiedereröffnung der Nationaloper 1865 in Warschau entstandene Oper – erzählt von den Brüdern Stefan und Zbigniew, die schwören sich als Junggesellen ganz in den Dienst des Vaterlandes, das um die Freiheit kämpfte, zu stellen. Die Arie von Stefan aus dem 3. Akt „Ci- sza dokoła, noc jasna… Matko moja miła…“ gehört zu den schönsten Arien des Opernwelt- Repertoires. Straszny dwór gilt als das beste Werk Moniuszkos und als polnischste aller polni- schen Oper. 284 Tadeusz Krzeszowiak nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute blieb es in seinem Repertoire als The- ater für Oper und Ballett treu. Im Jahre 2002 wurde auf der Frontfassade des Gebäudes eine bronzene Apollo-Quadriga aufgesetzt. Auf Initiative des Generaldirektors des Großen Theaters, Waldemar Dąbrow- ski, erklärte der damalige Kulturminister Bogdan Zdrojewski am 29. April 2009 das Ballettensemble zum Polnischen Nationalballett, also zu einer eigenständigen Institution als gleichwertiger Partner der Polnischen Nationaloper. Heute gibt es drei Theater in Polen, die den Namen Nationaltheater tragen: das Große Theater für Oper und Ballett, das Schauspieltheater im gleichen Gebäude in Warschau sowie das berühmte Alte Theater (poln. Stary Teatr) in Krakau. 1. 2 Das Hoftheater und das Polnische Theater Es sei hier noch auf zwei besondere Theater in Warschau eingegangen – das Hoftheater von König Stanisław August Poniatowski und das erste private The- ater in Warschau von Arnold Szyfman. In der Alten Orangerie, die in den Jahren 1785/1788 errichtet wurde und ein Teil des großen Komplexes der königlichen Gärten im Łazienki-Park war, befand sich ein privates Hoftheater. Entworfen wurde es vom Hofarchitekten Domenico Merlini (1730 –1797). Es gehört zu den wenigen in Europa noch heute bestehenden Hoftheatern des 18. Jahrhunderts. Die Bühne weist die Form eines Quadrates mit den Abmessungen 15 m x 15 m und einer Höhe von 10 m auf. Sie hat einen steigend geneigten Boden mit original erhaltener hölzerner Gerätschaft wie beispielsweise einer Donnermaschine. Der ebenfalls quadratische Zuschauerraum umfasst 200 Sitzplätze mit steigender Reihen- ordnung der Bänke. Im ersten Rang befinden sich neun Logen, davon drei Logen in der Mitte gegenüber der Bühne, die für den König und seine Familie bestimmt waren. Besondere Bewunderung rufen auch das spektakuläre drei- dimensional wirkende königliche Wappen über der Bühne und auf der Decke die Medaillons mit Bildern von Sophokles, Shakespeare und Molière hervor. Bei der Eröffnung am 6. September 1788 spielten Angehörige von Adels- familien das Stück George Dandin von Molière in französischer Sprache und La Partie de chasse d’ Henri VI von Collé. Vom 12. Juni bis 8. September 1791, während der Renovierung des Nationaltheaters, spielte hier die Theatertruppe von Bogusławski. Um den Schauspielern zu helfen, bezahlte der König die gesamten Kosten der Vorstellungen, die Zuschauer durften kostenlos die The- atervorstellungen besuchen. Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 285

Das „Polnische Theater“ wiederum war das erste Theater, das in Polen im 20. Jahrhundert als privates Unternehmen errichtet wurde und damals zu den modernsten Theatern Europas gehörte. Dank der Initiative des polnischen Re- gisseurs Arnold Szyfman wurde das Theatergebäude nach Plänen von Czesław Przybylski errichtet und am 29. Januar 1913 mit dem Stück Irydion von Zyg- munt Krasiński eröffnet. Dieses Theater wurde mit seinen monumentalen In- szenierungen der Dziady von Adam Mickiewicz beziehungsweise Kordian von Juliusz Słowacki in der berühmten Inszenierung von Leon Schiller schnell zu einer führenden Bühne. Diese beiden Inszenierungen sollten als zwei Visionen Polens und der polnischen Nation verstanden werden. Im Jahre 1944 brannte dieses Theater mit seiner wertvollen Bibliothek und seinen Archivsammlungen fast völlig aus. Am 17. Januar 1946 wurde es mit der Tragödie Lilla Weneda von Juliusz Słowacki in der Regie von Juliusz Osterwa wie- dereröffnet. Der Wiederaufbau nach dem Kriege gestaltete sich schwierig – ganz Warschau lag in Trümmern –, dennoch wurde das Gebäude in seiner ursprüng- lichen Form wiedererrichtet und ist eines der schönsten Theater der Hauptstadt, wenngleich die frühere hervorragende Akustik verloren gegangen war.

2. Einrichtungen für Licht und Mechanik „Soll’s blitzen, so steht der Kerl, der’s Kolophonium durchs Licht bläst, so sichtbar ohne Arglist da, als wollte er gleichsam sagen: Seien Sie ohne Sorge, hochgeehrte Spectatoren! s’ist alles nur Spaß“ (Journal für Theater und andere schöne Künste, Hamburg 1798, zitiert nach „El Pensador“, 1. Jg., 1762) Das Theater mit seiner „klassischen Bühne“, auch Kulissenbühne genannt, die bis Ende des 19. Jahrhundert an allen europäischen Theatern zu finden war und noch in den Theatern von heute vorhanden ist, war bereits im 17. Jahr- hundert bekannt. Die Bühne und der Zuschauerraum, die meist im Verhält- nis des „Goldenen Schnitts“, 3:5 bezogen auf die Fläche, zueinander gebaut wurden, waren durch den Hauptvorhang, die Courtine, voneinander getrennt. Die anfänglich fest gebauten Kulissen, als Nachfolger der Periakten, wurden bald durch bewegliche Kulissen ersetzt, wie auch der aus Soffitten und Bögen gebildete obere Teil des festen Bühnenbildes einer Obermaschinerie wich. Nun diente die Oberbühne hauptsächlich dazu, die Dekorationen, Vorhänge oder Prospekte, die auf Lastzügen hingen, nach oben wegzuziehen oder diese von 286 Tadeusz Krzeszowiak oben herabzulassen. Auch mit Flugwerken waren die Lastzüge ausgestattet, die der Illusion des Fliegens oder Schwebens der Personen durch die Luft dienten. Bis etwa Mitte des 19. Jahrhundert wurden die Theater, der Zuschauerraum sowie auch die Bühne mit Öllampen und Kerzen beleuchtet. Die Kerzen waren Talg- und Wachskerzen, später Paraffin/Stearin-Kerzen. Sie alle waren entspre- chend der Anordnung der Dekoration auf der Bühne rechts und links überein- ander an den Kulissenständern bis zum hinteren Prospekt, der den Bühnenraum umschloss, befestigt. In einer ähnlichen Reihenanordnung waren an Holzlatten über der Bühne Kerzen und Öllampen als Oberlichter, auch Soffittenlampen genannt, montiert. Entlang der Kante der Vorbühne waren auch Beleuchtungs- körper, die als Fußlichter bezeichnet wurden, oft mit Hohlreflektoren aus Kup- fer, Messing oder Eisenblech in Form einer Muschel oder eines Halbzylinders, die zur Verstärkung und Lenkung der Lichtstrahlen dienten, befestigt. In vielen Theatern hatten die Kulissen- wie auch die Soffittenbeleuchtung im Gegensatz zur üblichen gleichmäßigen Verteilung in den vorderen Gassen mehr Lampen als in den hinteren. Durch die nach hinten abnehmende Beleuchtungsstärke beabsichtigte man die Tiefenillusion der Bühne zu steigern. So stellte sich, besonders bei den zentralperspektivisch gemalten Dekorationen, die optische Täuschung einer größeren Entfernung von selbst ein. In der Mitte der Bühne herrschte also eine Dunkelzone, da bei dieser Lichtanordnung nur die seitlichen Teile der Dekorationen ausgeleuchtet wurden. Es gab auch spezielle Einrichtungen, wie z. B. Pechbecken mit eingestreu- tem Lycopodium, Schwefel-, Kolophonium- oder Phosphorpulver, die für be- sondere Effekte wie Blitze, Feuer, Rauch und Wolken sorgten. Nicht selten streute man in das brennende Feuer oder in die Flamme der Kerzen und Öl- lampen Stückchen von Harz, kleine Zweige mit Tannennadeln oder trockene Wald- und Blumenblätter, um einen passenden Rauch, Duft oder Geruch zum Bühneninhalt des gespielten Werkes fürs Publikum zu erzeugen. Eine Thea- teraufführung dieser Zeit war ein echtes Fest, ein Theaterfest für alle Sinne… Im Jahr 1783 wurde durch eine Erfindung des Schweizer Physikers Pierre Francois Aime Argand eine gründliche Verbesserung der Öllampen herbei- geführt. Das Licht der Argand-Lampe mit Hohldocht und Glaszylinder war ca. sechsmal heller als die gewöhnlichen mit Flachdocht betriebenen Öllam- pen. Die Lichteffekte waren – entsprechend den Bühnenhandlungen der ge- spielten Stücke – von akustischen Effekten wie Wind, Regen oder Donner be- gleitet, die meist mit mechanischen Vorrichtungen nachgeahmt wurden. Den Wind erzeugte man mit einem Schaufelrad mit einem Durchmesser von ca. 70 cm und einer Länge von ca. 1 m, das mit seinen Kanten beim Dre- Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 287 hen über ein leicht gespanntes Segeltuch strich. Die handbetriebene Maschine imitierte je nach Drehzahl des Rades und der Spannung des Tuches ein sanftes Säuseln oder einen heftigen Sturm. Die Regenmaschine war ein von Hand bewegtes Drahtsieb oder eine rotierende Siebtrommel mit einem Radius von ca. 70 cm und einer Breite von ca. 50 cm, die mit kleinen Steinen, Haselnüs- sen oder Erbsen gefüllt waren, welche hin- und her rollten. Sie erzeugten bei mehr oder minder großer Geschwindigkeit der Bewegung ein leise rieselndes oder ein laut prasselndes Regengeräusch. Der Donner wurde meist durch an Seilen aufgehängte, ca. 1 m x 2 m große Blechtafeln, die am unteren Ende mit den Händen gefasst und hin- und hergeschwungen wurden, imitiert. Für den Einschlag des Gewitterdonners benutzte man einen Holzkasten. Das war ein vom Schnürboden bis zur Unterbühne führender senkrechter, rechteckiger Holzkanal von ca. 50 cm Seitenbreite, in dem innen in Abständen versetzte Bretter angebracht waren. Oben, bei der Öffnung des Kanals, befand sich ein Behälter, der mit Eisenkugeln oder Kieselsteinen gefüllt war. Beim Herabfallen der Kugeln bzw. Steine über die Bretter entstand ein krachendes Geräusch, dessen Dauer durch die Länge des Kanals und dessen Stärke durch die Menge der Ladung regelbar waren. Eine beliebte Ausstattung des Theaters im 18. Jahrhundert waren Flugwerke, die auf der Oberbühne zu Lastzügen montiert wurden. Die Illusion des Fliegens oder Schwebens durch die Luft, als würde man vom Himmel auf die Erde kom- men oder vom Boden in die Luft entschweben, war damit perfekt erreicht. Die Verwandlungen von einer Szene zur anderen spielten sich häufig bei offenem Vorhang ab. Hochziehen und Herablassen der Hänger (meist bemal- te Bühnenstoffe) bei gleichzeitigem Wechseln der fahrbaren Kulissen auf den Freifahrten konnte man trotz offenen Vorhangs, wenn gewünscht, nicht sehen. Dabei wurden die Lichter der Bühne in den Zuschauerraum gerichtet, um durch Überblenden die Vorgänge der Szenenverwandlung für die Besucher un- sichtbar zu machen. Die Freifahrten waren eine spezielle Bühnen-Mechanik. Sie bestand aus einem kleinen Schlitz im Bühnenboden, der parallel zur Ram- pe lag und über die ganze Bühnenbreite führte. Die Kulissen wurden in den Kulissenständer eingesetzt, und durch ein System von Seilen und Rollen waren die Rahmen von zwei Freifahrten so miteinander verbunden, dass sich beim Drehen eines Antriebsgöpels das eine Kulissenpaar zur Bühnenmitte bewegte, während sich gleichzeitig das andere Paar entgegengesetzt, d. h. aus der Bühne heraus, entfernte. Die prächtigen Kronleuchter mit zahlreichen, manchmal noch nicht tropf- freien Kerzen, die Kandelaber wie auch die Armleuchter oder Wandlampen er- 288 Tadeusz Krzeszowiak hellten den Zuschauerraum, der nicht nur während der Pausen, sondern auch während der ganzen Aufführung erleuchtet blieb. Die Kronleuchter des Zu- schauerraums, die meist nah über dem Portal befestigt waren, wurden oft für die illusionierende Wirkung der damaligen Bühnenhandlung mit verwendet. Bei zu verdunkelnder Bühne, etwa zur Erzielung einer nächtlichen Stimmung, wurden sie hochgezogen und bei Tagesstimmungen wieder herabgelassen. Für die Färbung des Lichts benutzte man dünne, farbige Seidenstoffe oder bemaltes Ölpapier, die in drehbaren Rahmen vor den Kulissen- und Soffiten- lampen angeordnet wurden. Mit Hilfe eines Hebelsystems konnte man sie verschieben und damit Farbübergänge ermöglichen oder beispielsweise Son- nen- und Mondstimmung nachahmen. Man konnte auch die Helligkeit der Flammen der Kerzen oder Öllampen regeln. Über eine ständig brennende Ker- ze wurde ein Blechzylinder mittels eines Seiles zur Verdunkelung der Bühne heruntergelassen. Sollte wieder Licht auf die Bühne fallen, zog man den Blech- zylinder wieder hoch. Aufgrund der immer größeren Zahl am Theater eingesetzten Kerzen oder Öllampen, mitunter einige Hunderte bis Tausende Stück, stieg die Brandge- fahr sehr. So waren nach dem Ringtheaterbrand im Dezember 1881 in Wien nach offiziellen Angaben 384 Tote zu beklagen. Großer Beliebtheit erfreuten sich Wassereffekte. Die Darstellungen erfolg- ten durch feststehende oder bewegliche Wasserbahnen. Dabei handelte es sich um niedrige, breite Versatzstücke, mit Wellenzeichnungen bemalt, die durch Neigen und Anheben pendelnd bewegt wurden. Für stärkere Wasserbewegun- gen kamen horizontal liegende Wasserwalzen zur Anwendung, die mit Was- sertüchern bespannt und mit Wellen bemalt waren, langsam gedreht und von unten mit versteckten, blau gefärbten Lichtern angeleuchtet wurden. Auch konnten Wassertücher auf Stöcken von der Unterbühne auf und ab bewegt werden, oder sie waren zu Wassersäcken zusammengenäht, die mit Luft aufge- blasen auf- und abgedrückt wurden. Der Mangel an konzentrierten Lichtquellen mit parallelen Strahlen ließ jedoch keinen echten und starken Licht-Schatten-Kontrast auf der Bühne ent- stehen. Als Abhilfe wurde die sogenannte Schusterkugel im Theater verwendet. Dies war eine mit Wasser oder anderen farbigen Flüssigkeiten gefüllte Glasku- gel, hinter der eine Kerze oder Öllampe brannte. Diese Einrichtung wirkte wie eine Sammellinse, die die Strahlen bündelte und helleres, wenn nötig farbiges Licht spendete. Solcherart gebündelte und farbige Strahlen belebten die De- korationen mit immer noch schwachem, aber auffallendem Licht-Kontrast. Für die Farbe Blau verwendete man Lackmus und Safran sorgte für Gelb. Die Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 289

Mischung der beiden Flüssigkeiten Lackmus und Safran ergab Grün. Gewisse Weine verwendete man für Rot und ein klares filtriertes Wasser für diamante- nes Licht. Später erlaubten die Ära der Gasbeleuchtung und des elektrischen Lichtes wie Bogenlicht oder Kalklicht, aber auch elektromechanische Anlagen (Dreh- bühne, Hubpodien etc.) dem Regisseur unzählige Möglichkeiten der Bühnen- raumgestaltung. Das elektrische Bogenlicht war zwar bereits Anfang 1800 be- kannt, aber erst um 1830 wurde es am Theater mit großem Erfolg eingesetzt. Bis in die 1920-er Jahre gab es nur Reinkohlelampen, bei denen die Elektro- den den Großteil des Lichtes lieferten. Gezündet wurde die Kohlebogenlampe durch kurzzeitiges Zusammenführen der Elektroden: Durch Widerstandshei- zung in der kleinen Kontaktstelle und die hohe Feldstärke beim Trennen bilde- te sich ein Lichtbogen, der die Elektroden auf etwa 3.000 °C erhitzte. Somit waren die ersten Kohlebogenlampen im Wesentlichen thermische Strahler, die ein leicht gelbliches Licht abgaben. Erst mit der Entwicklung der Beck-Kohlen wurden Lichtausbeute und Farbtemperatur deutlich erhöht. Die Seltenen Erden (Yttrium, Cer-Fluorid) wurden entweder als Docht in der Mit- te der „positiven Kohle“ oder feinverteilt dem gesamten Elektrodenmaterial aus Graphit zugesetzt. Diese Seltenen Erden emittierten dann im Plasma das schneeweiße Licht. Das dichte Linienspektrum besaß außerdem einen erheb- lichen UV-Anteil.

Abbildungen 9 (links) und 10 (rechts). Links: Bogenlampe mit Spiegel für Gleichstrom (Anode – dicke Elektrode, Kathode – dünne Elektrode). Rechts: Elektrisches Bogenlicht: Zwischen zwei Kohlenstäben brannte punktförmiges schneeweißes Licht (Archiv des Autors). Die Kohlebogenlampen ließen sich sowohl für Gleichspannung als auch für Wechselspannung auslegen. Die Brennspannung lag bei etwa 25 bis 50 Volt, die Stromstärken aber bis zu 100 Ampere, so dass die Geräte in den damals 290 Tadeusz Krzeszowiak

üblichen 110-Volt-Gleichstromnetzen verwendbar waren. Die Kohlebogen- lampen waren punktförmige Lichtquellen, da die Länge des Lichtbogens, der sich zwischen zwei runden Elektroden erstreckte, einige Millimeter betrug. Diese Konstruktion eignete sich erstmals in der Geschichte der Bühnenbe- leuchtung hervorragend für alle Scheinwerfer mit abbildender Optik wie bei- spielsweise Bühnenprojektoren. Schnell wuchs auch das Sortiment spezieller Glühlampen (später auch Ha- logenlampen) und HMI-Entladungslampen, die im Theater sofortige Anwen- dung fanden. Sie hatten die Farbe des Tageslichtes und die immer raffiniertere elektrische Hell-Dunkelregelung ermöglichte feine Lichtstimmungen auf der Bühne und stufenlose Übergänge, beispielsweise von Tages- zu Nachtszenen. Scheinwerfer wie Fresnellinsen-Scheinwerfer oder Profilscheinwerfer beleuch- teten mit sanftem oder scharf abgegrenztem Lichtkegel die Bühne. Bühnenla- ser (Argon-, Krypton Laser, Diodenlaser) ermöglichen dreidimensionale Licht- figuren im ganzen Raum. Um das Laserlicht deutlich dreidimensional sehen zu können, benötigt man aber ein Fluidum (Rauch oder Nebel), an dem sich die farbigen Laserstrahlen im Bühnenraum gewissermaßen „aufhängen“ können.

Abbildung 11. Laserfächer (Archiv des Autors). Bühnenlicht und Bühnenmechanik der Barockzeit… 291 19

Abbildung 10 und 11. Laserfächer (Archiv des Autors)

Schnell wuchs auch das Sortiment spezieller Glühlampen (später auch Halogenlampen) und HMI-Entladungslampen, die im Theater sofortige Anwendung fanden. Sie hatten die Farbe des Tageslichtes und die immer raffinierte elektrische Hell-Dunkelregelung ermöglichte feine Lichtstimmungen auf der Bühne und stufenlose Übergänge, beispielsweise von Tages- zu Nachtszenen. Scheinwerfer wie Fresnellinsen-Scheinwerfer oder Profilscheinwerfer beleuchteten mit sanftem oder scharf abgegrenztem Lichtkegel die Bühne. Bühnenlaser (Argon-, Krypton Laser, Diodenlaser) ermöglichen dreidimensionale Lichtfiguren im ganzen Raum. Um das Laserlicht deutlich dreidimensional sehen zu können, benötigt man aber ein Fluidum (Rauch oder Nebel), an dem sich die farbigen Laserstrahlen im Bühnenraum gewissermaßen „aufhängen“ können. ComputergesteuerteAbbildung Abläufe der 12. Mechanik Laserfächer und (Archiv die digitale des Autors).Steuerung der Lichteffekte, auf denenComputergesteuerte die großen Inszenierungen Abläufe an der Oper Mechanik und an Thea undter die heute digitale basieren, Steuerung gehören zurder Lichteffekte,Grundausstattung auf jeder denen professionellen die großen Bühne. Inszenierungen an Oper und an Theater heute basieren, gehören zur Grundausstattung jeder professionellen Bühne.

Abb. 13. Inszenierung des Singspiels „Entführung aus dem Serail“ im Theater Baumgartner Höhe in Wien im Jahr 1994, Arie: Martern Aller Art, Rotes Gegen-LichtAbb. 12. Lichtkonzept Inszenierung der des Aufführung: Singspiels „Entführung Tadeusz Krzeszowiak aus dem Serail“ (Archiv im des Autors). Theater Baumgartner Höhe in Wien im Jahr 1994, Arie: Martern Aller Art, Rotes Gegen-Licht Lichtkonzept der Aufführung: Tadeusz Krzeszowiak (Archiv des Autors) 292 Tadeusz Krzeszowiak

Tadeusz Krzeszowiak, OStR., Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn., Studium an der Technischen Universität Posen, 1984 Promotion, 1989 –1993 Nostrifizierung des Studiums an der Technischen Universität Wien, seit 1991 Leiter des La- boratoriums für Lichttechnik an d. HTBLuVA Wr. Neustadt, von 1997 bis 2015 unterrichtete er „Bühnenbeleuchtung“ und „Bühnenfotografie“ am Ins- titut für Theaterwissenschaft der Universität Wien, von 2006 bis 2016 lehrte er „Lichtregie“ am Institut für Gesang und Musiktheater der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, Seit 2015 Lehrbeauftragter für „Licht- technik“ an der New Design University NDU St. Pölten, 20-jährige Theater- praxis mit Oper, Ballett und Musical (Theater an der Wien, Raimundtheater und Theater Ronacher in Wien), künstlerische und technische Leitung von über 90 Licht-Projekten mit Studenten, zuletzt Illumination und Lichteffekte der Kartause Gaming in Niederösterreich im Rahmen des Chopin-Festivals im August 2017 und 2018. Seit 2013 Licht-Messungen von Scheinwerfern für die Wiener Staatsoper, Burgtheater Wien und Volksoper Wien. Über 60 Pu- blikationen (Auswahl): Theater an der Wien 1801– 2001. Seine Technik und Geschichte, Wien 2002, Freihaustheater in Wien 1787 –1801.Wirkungsstätte von W. A. Mozart u. E. Schikaneder, Wien 2009, Theater, Licht, Technik(gemeinsam mit Wolfgang Greisenegger, Wien 2008. Zahlreiche Auszeichnungen und Prei- se, u. a. Goldenes Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.