SPD – 05. WP Fraktionssitzung: 23. 11. 1966

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23. November 1966: Fraktionssitzung

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, Ord. 14. 9. 1966 – 14. 12. 1966 (alt 1040, neu 42). Über- schrift: »Fraktion der SPD im Deutschen . Bonn, 24. 11. 1966. Protokoll der Fraktionssitzung der SPD-Bundestagsfraktion vom 23. 11. 1966, Bonn, Bundeshaus, SPD-Fraktionssitzungssaal«. Anwesend: 130 Abgeordnete. Prot.: E. Heinrich. Zeit: 19.00 – 20.40 Uhr.

Beginn: 19.00 Uhr Vorsitz: Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung und weist darauf hin, daß ihre Einberufung von einigen Genossen aufgrund des Verlaufs der Bundestagsplenarsitzung über den Nach- trags-Haushalt 1966 gewünscht worden war.1 In der Debatte wurde versucht, die SPD unter Druck zu setzen. Er habe daraufhin eine Rede gehalten, von der er meint, daß sie in dieser Lage zu verantworten gewesen sei.2 Vor 24 Stunden hat in der Fraktion eine Diskussion unter Beteiligung von 25 Genossen stattgefunden.3 Was in der heutigen Bundestagssitzung geschehen ist, gehöre zu dem, was er gestern als Schwierigkeiten bezeichnet habe. Herbert Wehner erinnert sodann daran, daß am Vormittag die Koalitionsverhandlun- gen zwischen CDU und FDP stattgefunden haben.4 Der FDP-Vorsitzende Mende habe ihn darüber informiert, daß bei diesen Beratungen zunächst zwei Stunden lang über die Zahlen betreffend die Finanz-, Haushalts-, und Wirtschaftssituation gespro- chen worden sei.5 Man müsse bedenken, in welcher Verfassung sich die FDP befinde; diese habe sich inzwischen gegen Spekulationen über ihre gestrige Fraktionssitzung verwahren müssen.6 Die FDP hat sich heute morgen im Finanzausschuß nicht für die Verschiebung der Finanz- und Steuergesetze ausgesprochen, wie wir es mit ihr verein-

1 Die Einberufung dieser Sondersitzung war, wie auch aus den nachfolgenden Redebeiträgen ersicht- lich, u. a. von den Abgeordneten Apel, Hermsdorf, Heinemann gefordert worden; zu ihren Motiven siehe vor allem Apels Ausführungen im Prot.; »Der Spiegel« Nr. 49 vom 28. 11. 1966, S. 79 nannte Apel und Eppler als Initiatoren. 2 Wehner hatte in seiner kurzen Plenarrede vom 23. 11. 1966 – BT Sten. Ber. 62, S. 3442-3444 – der bisherigen Regierung und den sie tragenden Parteien vorgeworfen, sich in der Finanzpolitik »völlig verantwortungslos benommen« zu haben. In scharfen Tönen hielt er der CDU/CSU vor: sie können »mit uns nicht umgehen wie mit Schulbuben« und mit uns »nicht ein Spiel treiben, wie sie es bisher mit Koalitionspartnern getrieben haben […]. Sie müssen den politischen Konkurs, den sie erlitten haben, und seine Begleiterscheinungen selber verantworten«. 3 Siehe Nr. 164. 4 Der »Verlauf der Koalitionsgespräche zwischen der CDU/CSU und der FDP« am 23. 11. vorm. schien, so KNORR, S. 87, »die Meldungen über eine Wende zugunsten einer Neuauflage der alten Koalition zu erhärten«. Entsprechende Andeutungen verbreitete der Parlamentarische Gschf. der CDU/CSU-Fraktion Rasner. – Vgl. auch das Rundfunkinterview Möllers im »Mittagsmagazin« vom 23. 11.; Wortlaut in »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 499/66 vom 23. 11. 1966. 5 Bei MENDE, Wende, wird über diesen Kontakt zu Wehner nichts berichtet. Wehner spricht in einem Brief an Mende vom 6. 12. 1966 (abgedr. in Bestandsaufnahme 1966, S. 97-101) von »unseren vielen Begegnungen vor, zwischen und bei den Verhandlungen«. 6 Über die gemeinsame Sitzung der FDP-Fraktion und des FDP Bundesvorstandes vom 22. 11. 1966 berichtete PPP in dem obigen Sinne. Vgl. auch unten die Ausführungen von Schulz und Anm. 21.

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bart hatten.7 Dadurch ist es zur Beratung gekommen. Ansonsten ist nichts Neues in der Frage der Regierungsbildung zu sagen. Was sich im Plenum ereignet hat, ist ein Prälu- dium, das mit dem Haushalt zusammenhängt. erklärt, daß er mit zu den Initiatoren der Fraktionssitzung gehöre. Man habe aus folgenden Gründen die Fraktionssitzung gefordert: Nach der Rede Herbert Wehners im Plenum hätten sich mehrere Genossen gefragt, was diese Rede bedeuten solle; die Auslegungen darüber waren verschieden. Es hat sich gezeigt, daß durch die Rede Herbert Wehners keine Koalitionsmöglichkeit vergeben wurde. Zweiter Anlaß: Das Ganze hat eine größere Geschwindigkeit bekommen. Man weiß nicht, wann die entscheidenden Sitzungen stattfinden. Hinzu kommt die Überlegung, ob es nicht mög- lich wäre, dem Beispiel der SPD-Landtagsfraktion von Nordrhein-Westfalen zu folgen und eine Abstimmung über die Koalitionswünsche vorzunehmen.8 Das Ergebnis dürfte nur einem kleinen Kreise bekannt werden. In der Fraktion besteht eine Unruhe, daß sie in ihrer Entscheidung nicht mehr frei sein könnte. Werner Figgen hält es für fragwürdig, jetzt eine Abstimmung in der Fraktion vorzu- nehmen. Was in Düsseldorf geschehen ist, sei kein Idealbeispiel. Man habe noch ver- hindern können, daß das Ergebnis öffentlich bekannt wurde. Inzwischen werde ver- sucht, von der Geschichte herunterzukommen. Das Ergebnis von Düsseldorf sei nur zwei Personen bekannt. Er selbst habe mit niemand darüber gesprochen.9 Herbert Wehner wirft ein, daß er das Ergebnis der Abstimmung schon von mehr als zwei Personen gehört habe. Arthur Killat: Man sollte die Rede Herbert Wehners nicht zum Anlaß nehmen, nervös zu werden. Was Herbert Wehner sagte, war die einzig richtige Antwort auf die Angriffe der CDU-Abgeordneten Windelen und Althammer.10 Diese haben in einer unver- schämten Weise versucht, der SPD eine Mitschuld für die Finanzmisere zuzuschieben

7 Nach Darstellung Wehners in seinem Schreiben an Mende vom 6. 11. 1966 – in Bestandsaufnahme 1966, S. 99 f. – hatte er in der Besprechung der SPD- und FDP-Delegationen am 22. 11. 1966 vorge- schlagen, bei den am 23. 11. anstehenden Beratungen dieser Gesetzesvorlagen »im Finanzausschuß durch die Stimmen von SPD und FDP einen Aufschub dieser Beratungen um eine Woche zu erwir- ken«. Die darüber mit der FDP getroffene Absprache sei dann von der FDP gebrochen worden. Sie kooperierte stattdessen im Finanzausschuß mit der CDU/CSU, wie es zwischen dem Ausschußvors. Otto Schmidt (CDU) und dem stellv. Fraktionsvors. der FDP Siegfried Zoglmann besprochen war. Vgl. KNORR, S. 86; »Der Spiegel« Nr. 49 vom 28. 11. 1966, S. 30. – Zu der zweiten, ebenfalls am 22. 11. getroffenen Absprache zum Haushaltsplan 1967 und Wehners Reaktion vgl. Nr. 166, Anm. 20. 8 Die Landtagsfraktion der SPD hatte sich in einer geheimen »Probeabstimmung« gegen die von Kühn befürwortete Große Koalition mit der CDU und für eine Koalition mit der FDP ausgesprochen. Vgl. KÜHN, Aufbau, S. 199, der als Datum den 21. 11. 1966 angibt, sowie »Der Spiegel« Nr. 50 vom 5. 12. 1966, S. 47, der sie auf den 22. 11. datiert und berichtet, daß Kühn am 23. 11. 1966 dann eine Kommis- sion für »Verhandlungen mit der CDU und FDP zur Bildung einer aktionsfähigen Landesregierung« zusammenstellte. Vgl. auch AdG 1966, S. 12852. 9 KÜHN, Aufbau, S. 199 gibt an, das Ergebnis habe er »im Einverständnis mit der Fraktion einsam ausgezählt und für sich behalten«. Nach »Der Spiegel« ebd. wurde es dennoch bekannt. Nach AdG 1966, S. 12852 stimmten von den 94 anwesenden SPD-Abgeordneten 78 für die Koalition mit der FDP und nur 16 für die mit der CDU. – Werner Figgen war stellv. Vors. des Landesverbandes NRW und Vors. des einflußreichen SPD-Bezirks Westliches Westfalen. Er schied am 6. 12. 1966 aus dem Bundestag aus und wurde Arbeits- und Sozialminister des Landes NRW. 10 (geb. 1921), Kaufmann, MdB (CDU) seit 28. 9. 1957, 1965-1967 Vors. des Rech- nungsprüfungsausschusses im Haushaltsausschuß, Vors. des Parlamentarischen Beirats des Bundes der Vertriebenen; (geb. 1928), Oberregierungsrat, MdB (CSU) 1961-14. 4. 1985. Zu den Plenarreden von Windelen und Althammer am 23. 11. 1966 vgl. BT Sten. Ber. 62, S. 3429- 3432 und 3439-3442, ferner auch Nr. 164, Anm. 5.

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und diese als eine Katastrophenmeldung der SPD zu verfälschen. Die Liquidation der alten, verfehlten Politik muß in irgendeiner Weise in Erscheinung treten. Dies kann uns nicht davon zurückhalten, unseren Standpunkt klar zu sagen. Gegenüber den früheren Fraktionssitzungen hat sich nichts geändert. Man sollte nach wie vor der Verhand- lungskommission Vertrauen schenken. Was sich bisher ereignet hat, ist kein Grund, die von Hans Apel geforderte Abstimmung durchzuführen. Klaus Dieter Arndt erklärt, daß sich seit gestern sehr vieles geändert habe. Die Finanz- situation könne nur dann behoben werden, wenn die SPD in einer neuen Koalition den Finanzminister stelle. Er glaubt, daß wir ein Stück Macht haben entschwinden lassen. Die Rede Herbert Wehners habe sich angehört, als ob wir keine Regierungsbeteiligung anstreben. Er plädiert für den Antrag von Hans Apel, eine Abstimmung vorzunehmen. Wir müssen jetzt zeigen, ob wir regieren wollen. Willy Koenen meldet sich zur Geschäftsordnung und verlangt Auskunft darüber, was bisher in der Fraktionssitzung besprochen wurde, da einige Kollegen bis zum Ende an der Plenarsitzung teilnehmen mußten.11 Herbert Wehner wiederholt seine zu Beginn der Fraktionssitzung gemachten Angaben und betont, daß er seine Rede voll verantworte. Die CDU habe erklärt, daß sie keine Steuererhöhungen ins Auge fasse und daß dadurch eine gewisse Annäherung zwischen ihr und der FDP erreicht wurde.12 Am Donnerstag soll eine kleine Kommission von CDU-FDP über die Finanzprobleme sprechen.13 Die Erklärung der CDU könne aber auch als eine Annäherung an die SPD aufgefaßt werden, da wir ebenfalls gegen Steuer- erhöhungen sind. Man wird noch eine Reihe von Nervenproben durchstehen müssen. Werner Jacobi hält die Ansetzung dieser Fraktionssitzung für falsch; sie wird nur An- laß zu Spekulationen geben. Er habe kein Verständnis für die Ausführungen von Klaus Dieter Arndt. Herbert Wehner mußte im Plenum zeigen, daß es Grenzen der Zumut- barkeit für die SPD gebe. Die SPD lasse sich von keiner Seite Vorschriften machen. Ein Vergleich zwischen der Situation in Düsseldorf und Bonn kann nicht angestellt werden. Deshalb ist er gegen eine Abstimmung. Hans Hermsdorf erklärt, daß er Herbert Wehner darum gebeten habe, eine Fraktions- sitzung einzuberufen. Sie sollte dazu dienen, die nicht berechtigte Aufregung zu glät- ten. Es gebe Genossen, die über das Steueränderungsgesetz beraten müßten.14 Man wird genauso verfahren, wie die Fraktion es beschlossen hat.

11 Die Plenarsitzung schloß erst um 19.30 Uhr – BT Sten. Ber. 62, S. 3456; die Fraktionssitzung hatte schon um 19.00 Uhr begonnen. 12 Vgl. dazu die Notiz in »Der Spiegel« Nr. 49 vom 28. 11. 1966, S. 30: »Der SPD Haushaltsexperte Hermsdorf witterte höchste Gefahr, als ihm hinterbracht wurde, die CDU/CSU habe sogar ihren Plan aufgegeben, schon 1967 die Steuern zu erhöhen, der die FDP aus dem Erhard-Kabinett getrie- ben hatte: ›Dann kann die FDP ihr Gesicht retten und die alte Koalition ist wieder da.‹« 13 D. h. am 24. 11. 1966; vgl. KNORR, S. 87. 14 Gemeint ist der »Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Überleitung der Haushaltswirtschaft des Bun- des in eine mehrjährige Finanzplanung/Steueränderungsgesetz«, der am 2. 11. 1966 von der BReg dem Bundestag zugeleitet worden war. Er sah u. a. eine Reihe von Kürzungen und Streichungen von steuerlichen Abschreibungen und Vergünstigungen vor. BT Anl. 107, Drs. V/1068. Zusammen mit einem von der CDU/CSU am 8. 11. eingebrachten »Ergänzungsgesetz zum Steueränderungsgesetz 1966« – BT Anl. 108, Drs. V/1096 – war die 1. Lesung am 10. 11. 1966 zusammen mit dem Entwurf des Haushaltsgesetzes 1967 erfolgt. BT Sten. Ber. 62, S. 73322-3377. Der federführende Finanzaus- schuß beriet darüber zuerst am 11. 11. und erneut am 23./24./25. und 30. 11. sowie am 1. und 2. 12. 1966. BT Anl. 108, Drs. V/1187.

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Walter Seuffert ist überrascht über das, was Herbert Wehner zu den Finanzproblemen gesagt hat. Schmücker habe heute wieder das gleiche gesagt wie früher die CDU und die Regierung: Zuerst solle der Haushaltsausgleich durch Kürzungen versucht werden, wenn dies nicht reiche, müßten die Steuern erhöht werden.15 Es sei keine neue Situati- on, wenn eine Fachkommission CDU-FDP einberufen wurde. Der Haushalt 1967 weise mindestens eine Lücke von 2 Milliarden DM wegen des Steueranteils der Länder auf.16 Er war überrascht, daß Herbert Wehner sagte, wir werden keine Steuererhöhung mitmachen. Im Finanzausschuß ist es dabei geblieben, daß nichts entschieden wurde. Der äußerste Termin für die Haushaltsbeschlüsse ist der 7. Dezember.17 Die Rede von Herbert Wehner war eine vollständig angemessene Reaktion. Die von Hans Apel vorge- schlagene Abstimmung ist abzulehnen, weil die Fraktion noch nicht über die Unterla- gen für eine derartige Entscheidung verfügt. Er bedauert, daß es zu dieser Fraktionssit- zung gekommen ist. teilt aufgrund einer Information mit, daß bei dem Koalitionsgespräch CDU-FDP keine große Annäherung erreicht wurde.18 Die Reaktion Herbert Wehners im Plenum war berechtigt. Man müsse jetzt überlegen, ob die Politik, die andere Seite zum Offenbarungseid zu zwingen, zum Ziele führen werde. Es stelle sich die Frage, ob nicht eine neue Regierung vielmehr mit einer Eröffnungsbilanz den Offenbarungseid nachholen könne. Er verweist auf das Beispiel Premierminister Wilsons nach seinem ersten Wahlsieg.19 Klaus-Peter Schulz: Er gehört nicht zu den Initiatoren der Fraktionssitzung; er begrüßt aber diese Initiative. Er habe nichts zurückzunehmen von dem, was er gestern ausge- führt habe.20 Man sollte sich bemühen, die Auseinandersetzungen wertfrei und leiden- schaftslos zu führen. Die Lage ändere sich mit jedem Tage. Man soll sich über die neue Lage unterhalten. Die heutigen Verhandlungen CDU-FDP haben ohne Zweifel eine Prestige-Barriere beseitigt. Es ist zu überlegen, ob sich nicht die Entwicklung eines Tages gegen uns wenden wird. Er zitiert eine Meldung des PPP, aus der hervorgeht, daß sich zwei Drittel der FDP-Fraktion für die Koalition mit der SPD ausgesprochen haben.21 Wenn wir Abstimmungen vermeiden sollen, kann es sein, daß wir eines Tages

15 Zu Schmückers Rede vgl. BT Sten. Ber. 62, S. 3426-3429. 16 Der Haushaltsentwurf 1967 der BReg ging von einem Bundesanteil von 39% an der Einkommen- und Körperschaftssteuer aus. Nach dem seit 1. 4. 1958 geltendem Recht stand dem Bund jedoch nur ein Anteil von 35% zu; das ergab den Unterschied von etwa 2 Mrd. DM. Vgl. dazu Möllers Ausfüh- rungen im Plenum am 23. 11. 1966; BT Sten. Ber. 62, S. 3435 f.; RENZSCH, S. 179. Der höhere Bun- desanteil von 39% in den Jahren 1964 bis 1966 basierte auf einem befristeten Gesetz vom 11. 3. 1964, das zum 31. 12. 1966 auslief. Vgl. Nr. 141, Anm. 9; Bestandsaufnahme 1966, S. 82. 17 Seuffert ging offenbar von der in § 30 der Bundeshaushaltsordnung vorgesehenen Frist für die Bera- tungen aus. Vgl. Annemarie RÜTTGER, Der zeitliche Ablauf der Haushaltsberatungen 1949-1982, in: Hans-Achim ROLL, Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages. Festgabe für Werner Blischke, Berlin 1982, S. 165-192. 18 Der Verlauf des Koalitionsgespräches von CDU/CSU und FDP am 23. 11. vorm. wurde in der politischen Öffentlichkeit vorwiegend als eine Wende zur Neuauflage der alten Koalition gewertet. Vgl. KNORR, S. 87. 19 Nach dem Sieg von Labour bei den britischen Unterhauswahlen vom 15. 10. 1964 hatte die neue Regierung am 26. 10. 1964 eine Erklärung zur finanziellen Lage des Landes und zur Handels-, Fi- nanz-, Wirtschafts- und Währungspolitik abgegeben. Auszüge in EUROPA-ARCHIV 1966, D. 618- 620. 20 Vgl. Nr. 164 unter TOP 1. 21 PPP Meldungsdienst Nr. 225 vom 23. 11. 1966 berichtete, wie »am Mittwoch« bekannt wurde, habe »sich in der Fraktionssitzung der Freien Demokraten am Dienstag eine Mehrheit von etwa zwei Dritteln für eine Koalition mit den Sozialdemokraten ergeben, ein Drittel will die Partei in die Op-

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keine Abstimmungen mehr zu führen brauchen. Eines haben die Wahlen in Hessen und Bayern ergeben: die parlamentarische Opposition hat nicht davon profitiert. Willy Bartsch bezeichnet die Antwort Herbert Wehners auf die Ausführungen Alt- hammers als vollkommen richtig. Die Einberufung der Fraktionssitzung und die Dis- kussion hätten bewiesen, daß die Fraktion die erste Nervenprobe nicht bestanden habe. : Wir können nur den einzigen Fehler machen, daß wir uns selbst in eine Nervosität hineintreiben lassen. Die Antwort Herbert Wehners war richtig; man muß sich fragen, unter welchen Voraussetzungen wir die Regierung mit übernehmen wollen. Insofern waren die Ausführungen Herbert Wehners ein entscheidendes Stück der Klä- rung, mit welcher inneren Einstellung eine Koalition möglich ist. Er begrüßt, daß diese Aussprache erfolgt ist. Karl Mommer erklärt, daß es schlecht wäre, wenn wir uns zu Beginn einer Regierungs- verantwortung einen Knebel in den Mund stecken ließen. Die Rede Herbert Wehners im Plenum ist daher zu befürworten. Er macht sodann die Mitteilung, daß ihm der FDP-Fraktionsgeschäftsführer Genscher22 folgendes erzählt habe: in dem Gespräch CDU-FDP habe es sehr schnell Einigung über das gegeben, was im Kabinett vereinbart worden war. Im Kommuniqué seien die positiven Verhandlungsergebnisse übertrieben worden.23 Man habe bei ihnen bereits die Parole eines Geheimtreffens Kiesinger- Brandt ausgestreut. Nach Ansicht Genschers bleibe nur noch sehr wenig Zeit. Persönlich vertritt Karl Mommer die Auffassung, die FDP wolle nicht in die Oppositi- on, weil sie Angst vor einem Wahlgesetz24 habe. Für unsere Fraktion sei jetzt auch Eile geboten, wenn wir den Zug nicht verpassen wollten. Wir müßten endlich wissen, ob wir wollten oder nicht. Wir haben die Gelegenheit, zu führen und wir sollten zupacken. Hans Apel gibt eine Richtigstellung: Er habe nichts gegen die Rede Herbert Wehners zu sagen. Diese Rede war richtig. Er wendet sich gegen die Vorwürfe der älteren Frak- tionsgenossen, wonach man jetzt nervös geworden sei. Es müsse bald die Diskussion darüber stattfinden, was wir wirklich wollten. : Ungewißheit und Unruhe sind in diesen Tagen eine Selbstverständ- lichkeit. Was tatsächlich geschehen ist, wurde von Herbert Wehner bereits dargestellt: eine klimatische Verbesserung zwischen CDU und FDP. Tatsache ist, daß Staatssekre- tär Grund25 die Finanzzahlen bereits vor der Bundestagssitzung der Presse bekanntge- geben hat.26 Die Antwort Herbert Wehners war eine verdiente Antwort. An unserer

position führen. Eine Abstimmung hat allerdings nicht stattgefunden. In der FDP-Fraktion herrschte der Eindruck vor, daß sich die noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten mit der SPD überbrü- cken ließen.« 22 Hans-Dietrich Genscher (geb. 1927), seit 1965 MdB (FDP), Gschf. der FDP-Fraktion 1957- 1965, Bundesgschf. der FDP 1962-1964, Parlamentarischer Gschf. der FDP-Fraktion 1965-1969. 23 Vgl. Anm. 4. 24 Gemeint ist die Wahlrechtsänderung in Richtung auf ein Mehrheitswahlrecht, wie es vor allem von stärkeren Kräften in der CDU erstrebt wurde und über den Weg einer Großen Koalition verwirk- licht werden sollte. Vgl. HILDEBRAND; Erhard, S. 248 f.; ferner Nr. 166 (die Berichte Brandts und Wehners). 25 Walter Grund (geb. 1907), 1956-1962 Präsident der Oberfinanzdirektion Hamburg, 1962-1969 Staatssekretär im BMF. 26 Die Plenarsitzung am 23. 11. 1966 hatte um 14.33 Uhr begonnen. – In der Kabinettssitzung am vorm. des gleichen Tages hatte Staatssekretär Grund einen Bericht des BMF zur mittelfristigen Finanzvor- schau erstattet. Er bezog sich auf die am 17. 11. vorgelegte Berechnungen des BMF für eine vorläufige mehrjährige Finanzplanung des Bundes bis 1970, die im Bulletin Nr. 150 vom 25. 11. 1966, S. 1205- 1212 mit veröffentlicht wurden. Sie gingen für 1967 von einer Dekkungslücke in Höhe von (in Mrd.

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Haltung hat sich gegenüber gestern nichts geändert. Herbert Wehner hat in der Plenar- debatte die Grenze deutlich gemacht. Er lehnt den Antrag von Hans Apel und Klaus Dieter Arndt, eine Probeabstimmung vorzunehmen, ab. sagt, daß er ebenfalls für die Abhaltung der Fraktionssitzung ein- getreten ist. Er ist dankbar, daß sie stattgefunden hat. Er schlägt vor, die Fraktion solle Herbert Wehner den Dank dafür aussprechen, daß er die Unterstellungen der CDU zurückgewiesen hat. Herbert Wehner erklärt in seinem Schlußwort, daß alle Befürchtungen unberechtigt seien, daß die Fraktion vor vollendete Tatsachen gestellt werden könnte. Die Fraktion hat gesagt, daß sie in dieser Situation keine Steuererhöhungen wolle. Er habe nur wie- dergegeben, was ihm Mende gesagt habe. Er habe betrübt festgestellt, daß sich die FDP bei den Beratungen im Finanzausschuß nicht an ihre Versprechungen gehalten habe.7 Er wäre bereit, eine Regierung mit nur einer Stimme zu befürworten. In der Frage der Gemeindefinanzierung27 habe die FDP bisher aber keinerlei Entgegenkommen gezeigt. Man dürfe nicht um den Berg herumgehen. Die SPD wolle nichts, was den Finanzaus- gleich Bund, Länder, Gemeinden zusätzlich erschwere. Bis jetzt war dies eine Grund- satzfrage. Diese Frage ist nicht sehr einfach, weder mit der CDU noch mit der FDP. Eine Koalition CDU-FDP wäre nur eine Fortsetzung der alten, verfehlten Regierungs- politik. Wir müssen nun unseren ganzen Druck einsetzen, um das Höchstmaß an Klä- rung zu erreichen. Herbert Wehner erklärt weiter, daß Mende von ihm über jedes Gespräch mit der CDU sowie über die beiden persönlichen Gespräche zwischen Kiesinger und ihm informiert wurde.28 Zu der Bereitschaft der SPD ist noch folgendes zu bemerken: Am 11.௔11. hat ein FDP-Politiker gesagt, sie wünschten nicht, daß eine Kanzlerkandidatur gegen eine andere gestellt würde.29 Der FDP-Vorschlag war, Georg-August Zinn anstatt zum Kanzler vorzuschlagen.30 Die SPD hat sich nichts zu Schulden kommen

DM) 0,0, 1968 3,7, 1969 4,6 und 6,2 aus. Grund betonte in seinem Bericht, daß sich für 1967 eine De- ckungslücke von 6 Mrd. ergebe, wenn das Finanzplanungs- und das Steueränderungsgesetz sowie die dazu vorgelegten Ergänzungsgesetze nicht verabschiedet würden. Für die Jahre 1968 bis 1970 würde sich die Deckungslücke dann um 4,5-5 Mrd. DM jährlich erhöhen. Am Mittag des 23. 11. hatte Staatssekretär Grund das Zahlenwerk der Öffentlichkeit übergeben. Bericht Schillers in der Partei- ratssitzung 28. 11. 1966, S. VIII/5, AdsD, PV ab 12. 9. 66 bis 1. 4. 67. 27 Vgl. Nr. 162, bes. Anm. 31. 28 »Der Spiegel« Nr. 48 vom 21. 11. 1966, S. 31 und Nr. 50 vom 6. 12. 1966, S. 32 erwähnt ein Gespräch Kiesinger-Wehner am 12. 11. 1966. 29 Wehner berichtete in der Parteiratssitzung 28. 11. 1966 (II, 2), AdsD, PV ab 12. 9. 66 bis 1. 4. 67: am 11. 11. sei vor der Sitzung von Partei- und Fraktionsvorstand »eine ganz gezielte (…) Intervention der FDP« erfolgt, Brandt nicht vor der Bayernwahl zum Kanzlerkandidaten zu nominieren, »weil sie das nicht aushalten könnten«. In einem Brief Wehners an Brandt vom 6. 12. 1966 heißt es: es könne Mende »doch nicht entgangen sein, daß am 11. November ein hervorragendes Mitglied Ihrer eigenen Fraktion mich dringend ersucht hat, von der Nominierung eines sozialdemokratischen Kandidaten für das Kanzleramt abzusehen bzw. abraten zu wollen«. Er habe »geantwortet, wir dächten nicht an einen Kandidaten, wir hätten unseren Parteivorsitzenden, den wir beim konstruktiven Mißtrauens- votum gegen den amtierenden Bundeskanzler stellen werden«. Bestandsaufnahme 1966, S. 98 f. Vgl. dazu auch »Der Spiegel« Nr. 47 vom 14. 11. 1966, S. 32. 30 In dem in der vorigen Anm. zitierten Schreiben Wehners heißt es (auf S. 99), am 11. 11. habe er die »Niederschrift« eines SPD-Abgeordneten über ein Gespräch mit einem FDP-Abgeordneten erhalten. Dieser habe »dringend gemahnt«, kein Mißtrauensvotum vor der Bayernwahl »einzuleiten und über- haupt zu überlegen, ob nicht ein anderer namhafter Sozialdemokrat, aber eben nicht der Vorsitzende der SPD für das konstruktive Mißtrauensvotum an die Spitze gestellt werden solle. Er nannte dafür sogar Namen.« In der Parteiratssitzung vom 28. 11. 1966 – vgl. Anm. 29 – berichtete Wehner fast

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lassen. Auch die eben erwähnten Punkte sind am 11.௔11. zur Sprache gekommen.31 In der CDU/CSU spielen Personenfragen nach wie vor eine sehr große Rolle. Von Barzel hat man in den Koalitionsverhandlungen bisher kein positives Wort gehört. Er versu- che auf diese Weise, seine Position wieder zu verstärken. Herbert Wehner widerspricht scharf der Meinung, daß die SPD dazu beitrage, CDU und FDP einander näherzubringen. Schon heute werde versucht, auch der SPD die Schuld für die Finanzsituation zu geben. Aber weder Dahlgrün 32 noch Erhard könn- ten von ihrer Schuld freigesprochen werden. Die SPD hat nicht mitgesündigt. Er hält es für richtig, daß die Fraktionssitzung eine Gelegenheit zur Aussprache geboten hat. Hermann Schmitt-Vockenhausen schlägt vor, die Fraktion solle Herbert Wehner und Alex Möller den Dank dafür aussprechen, daß beide in der Plenarsitzung die Haltung der SPD-Fraktion klargestellt haben. Die Fraktion stimmt sodann einstimmig für diesen Vorschlag (siehe anliegende Presse- mitteilung).33 Hans Apel zieht seinen Antrag, eine Abstimmung vorzunehmen, zurück. Er erklärt, es habe sich dabei nur um einen Vorschlag gehandelt. Er sei allerdings der Ansicht, daß man in naher Zukunft einmal zur Abstimmung schreiten müsse. Herbert Wehner erklärt schließlich, es werde nichts geschehen, was die Fraktion nicht wünsche. Man brauche in jedem Falle die Vorentscheidung der Fraktion. Die Fraktion solle zu verstehen geben, daß sie keinen Grund habe, anzunehmen, daß sie sich zu den bisherigen Verhandlungen hätte durch Abstimmung äußern müssen. Die Fraktion befürwortet einmütig diese Haltung. Ende der Fraktionssitzung: 20.40 Uhr Protokoll: Egon Heinrich

gleichlautend über dieses Ansinnen, das am 11. 11. vor der Partei- und Fraktionsvorstandssitzung von der FDP-Seite an ihn gelangte. So sei gefragt worden, ob es »denn nicht überhaupt besser wäre, statt Brandt« den hessischen Ministerpräsidenten Zinn zu nominieren. MENDE, Wende, S. 246 be- richtet, »daß in den Reihen der liberalen Vorbehalte« gegen Brandt bestanden »und , Ale- xander Menne und andere dem hessischen Ministerpräsidenten den Vorrang ge- geben hätten«. Vgl. ferner Wehners Darlegungen in »Frankfurter Allgemeine« vom 1. 12. 1966 (S. 1/4); Bestandsaufnahme 1966, S. 50. Nach KNORR, S. 80 (gestützt auf »Süddeutsche Zeitung« vom 16./17. 11. 1966, S. 1 f.) diskutierten »einzelne Gruppen in der SPD«, »Brandt durch den der FDP genehmeren Ministerpräsidenten Zinn als Kanzlerkandidaten einer Kleinen Koalition aus SPD und FDP« zu ersetzen. – Siehe ferner Nr. 166 (Schlußwort Wehners). 31 Gemeint sind die Sitzungen von Partei- und Fraktionsvorstand sowie der Fraktion am 11. 11. 1966; vgl. Nr. 163. 32 Dem ehemaligen, am 27. 10. 1966 mit den anderen FDP Ministern zurückgetretenen BMF Dahlgrün (FDP) wurde auch von CDU/CSU Seite vorgeworfen, er habe die desolate Finanzlage bis zuletzt verschwiegen. Vgl. auch HILDEBRAND, Erhard S. 223 f.; »Der Spiegel« Nr. 47 vom 14. 11. 1966, S. 41 und 42, Nr. 48 vom 21. 11. 1966, S. 371; AdG 1966, S. 12838. Mit einem im vollen Wortlaut in »Die Welt« vom 18. 11. 1966 veröffentlichten Schreiben Dahlgrüns an Erhard vom 15. 6. 1965 und weite- ren Informationen an die Presse versuchte Dahlgrün zu belegen, er habe frühzeitig Kanzler, Kabinett und Bundestagsabgeordnete auf die drohende Finanzkrise hingewiesen. 33 In »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 502/66 vom 23. 11. 1966 »Betr. Fraktionssitzung« hieß es, die Fraktion habe »sich heute abend mit der heutigen Debatte über den Nachtragshaushalt 1966 befaßt. Sie hat einmütig ihrem Amtierenden Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner und dem stellvertreten- den Fraktionsvorsitzenden Dr. Alex Möller dafür gedankt, daß sie die Verantwortlichkeit für die Fi- nanzmisere dargestellt und damit die eigentliche Ursache der Krise deutlich gemacht haben.«

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