SWR2 Musikstunde
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper Ein Star der Opera seria – Gluck in Italien (1) Von Karl Böhmer Sendung: Montag, 30.06.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde 30.06.2014 Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper (1) Ein Star der Opera seria – Gluck in Italien Mit Karl Böhmer Signet Musikstunde Ansage: …mit Karl Böhmer. „Antiker Schmerz, griechische Thränen“ – Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper. Teil I: Ein Star der Opera seria – Gluck in Italien Vor 300 Jahren, am 2. Juli 1714, wurde Christoph Willibald Gluck geboren. Das kleine Erasbach in der Oberpfalz, heute zu Berching gehörig, darf sich seine Heimatstadt nennen und feiert seinen großen Sohn dieser Tage ausgiebig. Freilich war es eine Laune des Schicksals, dass Gluck in Bayern zur Welt kam und nicht in Böhmen, woher seine Familie stammte und wo er fast seine ganze Jugend verbrachte. Gluck kam in einem Jägerhaus zur Welt, denn sein Vater Alexander Gluck war Oberjäger zu Erasbach. Damit war er im Jahre 1714 – man höre und staune – pfälzischer Untertan. Um dies zu verstehen, müssen wir ein wenig in die Historie einsteigen: Als sich Kurfürst Max Emanuel von Bayern im Spanischen Erbfolgekrieg gegen den Kaiser stellte und in der Schlacht bei Höchstädt vom Prinzen Eugen geschlagen wurde, fiel er in die Reichsacht und verlor Bayern. Im Auftrag des Kaisers verwaltete nun Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz die bayerischen Stammlande, darunter auch die Oberpfalz. Christoph Willibald Gluck ist zum Zeitpunkt seiner Geburt also ein Kurpfälzer – und ein Oberpfälzer. Beides wird er nicht lange bleiben: Schon 1717 zieht es seinen Vater zurück in die böhmische Heimat. Dort beginnt Alexander Gluck eine Laufbahn als gut situierter Förster beim Grafen Kinsky und beim Fürsten Lobkowitz. Von nun an ist auch sein Sohn Christoph habsburgischer Untertan, und zwar bis zum Ende seines Lebens: Auch später in Prag, in Mailand und in Wien wird Christoph Gluck ein Untertan der Habsburgerkaiser bleiben. Zum Zeitpunkt seiner Geburt freilich ist es ganz unwahrscheinlich, dass er diese Städte jemals zu sehen bekommt. Sein Lebensweg scheint vorgezeichnet: Er soll in die Fußstapfen des Vaters treten. Dass der Bub am Festtag Mariae Heimsuchung zur Welt kommt, wird von der katholischen Familie als gutes Omen gedeutet. Freilich kommt alles anders als erwartet: Der Filius strebt der hohen Tonkunst zu und lässt die böhmischen Wälder hinter sich. Den Klang der Jagdhörner aber wird Gluck sein Leben lang nicht vergessen: 3 Gluck: L’innocenza giustificata, Finale der Sinfonia, CD 1, Track 3 (1’53) Cappella Coloniensis, Christopher Moulds DHM 82876 58796 2, LC 00761 Hörnerschall in der Sinfonia zur Oper L’innocenza giustificata, gespielt von der Cappella Coloniensis unter Christopher Moulds. Vom frühen Lebensweg des Musikers Gluck wissen wir so gut wie gar nichts: Wer sind seine Lehrer auf Geige, Cello und Cembalo? Alle drei Instrumente hat er gespielt, aber auch Glasharmonika und Maultrommel. Von wem wird er im Gesang unterrichtet? Immerhin wird er später dafür berühmt sein, ganze Szenen aus seinen Opern singend und spielend vorzutragen, und er wird zahllose berühmte Sänger nach seinen Vorstellungen instruieren. Gibt es einen Kompositionslehrer? Alle diese Fragen kann die Forschung nicht beantworten, denn es fehlen sämtliche Dokumente, bis Gluck 1731 als Student an der Prager Universität wieder auftaucht. Mit 17 Jahren betritt er die Hauptstadt Böhmens und damit eine Musikmetropole. Gut können wir uns vorstellen, wie der junge Gluck, den Cellokasten unter dem Arm, zwischen den prächtigen Adelspalais und Kirchen Prags seine Erfahrungen als junger Musiker sammelt. Die Fürsten Lobkowitz, die Arbeitgeber seines Vaters, fördern auch den Sohn: 1736 ist Gluck schon als „Violoncellist in dem Lobkowitzer Kammerensemble“ zu Wien aktenkundig. Ob er sein Studium in Prag abgeschlossen hat, bleibt ungewiss, seine Musiker- Karriere aber nimmt er zielstrebig in die Hand. Ein Zeitgenosse wird deren Anfänge später so charakterisieren: „Der Ritter von Gluck ist, ohne am Anfange seiner Laufbahn die mindeste Unterstützung oder Aufmunterung gehabt zu haben, bloß durch den inneren Antrieb seines großen und feurigen Genies das geworden, was er wirklich ist.“ Dieses feurige Genie stößt in Wien 1736 an seine Grenzen: Jeder junge Komponist, der sich am Wiener Hof bewirbt, muss ein Examen bei dem greisen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux absolvieren – ein Examen im Kontrapunkt. Der Kontrapunkt aber bleibt lebenslang Glucks schwache Seite, wie später auch Händel in London feststellen wird: „Mein Koch versteht mehr von Kontrapunkt als Herr Gluck“, soll Händel gesagt haben. In Wien hat Gluck vorerst wenig Chancen bei Hofe. Also macht er sich auf nach Italien: 1737 folgt er dem Fürsten Melzi nach Mailand. Gluck: Allegretto (aus Alessandro), Track 19 (0’55) Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel Archiv Produktion 445 824-2, LC 0113 4 Ein Allegretto aus dem Ballett Alessandro, gespielt von Musica Antiqua Köln unter Reinhard Goebel. Acht Jahre bleibt Gluck im Land, wo die Zitronen blühen. Hier lernt er das Metier des Opernkomponisten von der Pieke auf, zunächst die italienische Sprache, dann auch die Klangmöglichkeiten des Orchesters. Das große Mailänder Orchester unter Sammartini verkörpert die Avantgarde des neuen, sinfonischen Stils in Europa. Kontrapunkt spielt hier keine Rolle mehr. Über so genannten „Trommelbässen“, dem Beat des 18. Jahrhunderts, tobt das Orchester in ganz neuen, sprechenden Affektfiguren. Gluck lernt diese neue Klangsprache in Mailand kennen und überträgt sie alsbald auch auf andere Opernbühnen, etwa 1744 auf Venedig in seiner Oper Ipermestra: Gluck: Non hai cor per un’impresa (aus Ipermestra), Track 2 (6’38) Daniel Behle, Tenor; Armonia Atenea, George Petrou Decca 478 6758 Der Tenor Daniel Behle sang eine stürmische Arie aus Glucks früher Oper Ipermestra. Es begleitete das Barockorchester Armonia Atenea unter George Petou. Für die Sängerstars der Opera seria effektvolle Arien zu schreiben, ist die Hauptaufgabe eines angehenden Opernkomponisten in Italien. Gluck beherrscht dieses Metier bald vollkommen, er steigt zum Starkomponisten der Opera seria auf, allerdings zu einem Star mit Ecken und Kanten. Auch später wird er immer wieder nach Italien zurückkehren. Zwanzig Jahre umspannt seine Karriere als Meister der Opera seria, zwei Jahrzehnte, in denen er für die größten Sänger der Epoche komponiert: für die Kastraten Carestini und Caffarelli, Mazzanti und Manzuoli, Guadagni und Millico, für Primadonnen wie Caterina Gabrielli oder Vittoria Tesi. Die Virtuosität seiner italienischen Starsolisten hat Gluck nie verschmäht, auch später nicht, als er sich schon längst das Ideal des schlichten Gesangs auf die Fahnen der Opernreform geschrieben hatte. Noch 1763, im Jahr nach dem Orpheus, schwelgt er hemmungslos in Koloraturen, als er in Bologna die Festoper zur Eröffnung des neuen Theaters schreibt: Il trionfo di Clelia. Das Teatro Comunale von Bologna steht noch heute. Sein prachtvoller Innenraum von Antonio Galli Bibiena lässt den Glanz jenes Eröffnungsabends mit Gluckscher Musik noch erahnen. Eine Primadonna assoluta betritt die Bühne. Sie steht vor den überfüllten Logen und treibt die Bologneser mit ihren Koloraturen in die Raserei. Es ist Antonia Girelli Aguilar: 5 Gluck: Mille dubbi mi destano in petto (aus: Il trionfo di Clelia), CD II, Track 2, 3‘47 Hélène le Corre, Armonia Atenea Leitung: Giuseppe Gismondo de Risio MDG 609 1733-2, LC 06768 Hélène le Corre mit einer Arie aus Glucks letzter italienischer Seria, Il trionfo di Clelia, komponiert mehr als 20 Jahre nach seinen ersten Opernerfolgen in Italien. Dass er südlich der Alpen mit antideutschen Vorurteilen konfrontiert wird, kann den zähen Gluck kaum aufhalten. Der Geiger Dittersdorf hat in seinen Memoiren eine solche Szene überliefert. Zusammen mit Gluck ist er nach Bologna gereist und spielt kurz vor der Uraufführung der Clelia im Gottesdienst ein Geigensolo. Ein Bologneser ruft erstaunt aus: „Aber wie ist es möglich, dass eine deutsche Schildkröte so vollendet musizieren kann?“ Gluck antwortet schlagfertig: „Mein Herr, mit Verlaub! Auch ich bin eine deutsche Schildkröte, und habe doch die Ehre, die neue Oper für die Eröffnung Eures Opernhauses zu schreiben.“ Solche ehrenvollen Opernaufträge, in Italien Scrittura genannt, erreichen Gluck ab 1741 in Mailand in dichten Abständen. Hier drängt sich ein Vergleich auf: Exakt 20 Jahre nach ihm wird ein anderer junger Deutscher nach Mailand kommen, um dort das Opernschreiben zu erlernen. Es ist Johann Christian Bach, der jüngste Sohn des Thomaskantors.