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SWR2 Musikstunde

Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper Ein Star der seria – Gluck in Italien (1)

Von Karl Böhmer

Sendung: Montag, 30.06.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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Musikstunde 30.06.2014 Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper (1) Ein Star der – Gluck in Italien Mit Karl Böhmer

Signet Musikstunde

Ansage: …mit Karl Böhmer. „Antiker Schmerz, griechische Thränen“ – Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper. Teil I: Ein Star der Opera seria – Gluck in Italien

Vor 300 Jahren, am 2. Juli 1714, wurde Christoph Willibald Gluck geboren. Das kleine Erasbach in der Oberpfalz, heute zu Berching gehörig, darf sich seine Heimatstadt nennen und feiert seinen großen Sohn dieser Tage ausgiebig. Freilich war es eine Laune des Schicksals, dass Gluck in Bayern zur Welt kam und nicht in Böhmen, woher seine Familie stammte und wo er fast seine ganze Jugend verbrachte. Gluck kam in einem Jägerhaus zur Welt, denn sein Vater Alexander Gluck war Oberjäger zu Erasbach. Damit war er im Jahre 1714 – man höre und staune – pfälzischer Untertan. Um dies zu verstehen, müssen wir ein wenig in die Historie einsteigen: Als sich Kurfürst Max Emanuel von Bayern im Spanischen Erbfolgekrieg gegen den Kaiser stellte und in der Schlacht bei Höchstädt vom Prinzen Eugen geschlagen wurde, fiel er in die Reichsacht und verlor Bayern. Im Auftrag des Kaisers verwaltete nun Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz die bayerischen Stammlande, darunter auch die Oberpfalz. Christoph Willibald Gluck ist zum Zeitpunkt seiner Geburt also ein Kurpfälzer – und ein Oberpfälzer. Beides wird er nicht lange bleiben: Schon 1717 zieht es seinen Vater zurück in die böhmische Heimat. Dort beginnt Alexander Gluck eine Laufbahn als gut situierter Förster beim Grafen Kinsky und beim Fürsten Lobkowitz. Von nun an ist auch sein Sohn Christoph habsburgischer Untertan, und zwar bis zum Ende seines Lebens: Auch später in Prag, in Mailand und in Wien wird Christoph Gluck ein Untertan der Habsburgerkaiser bleiben. Zum Zeitpunkt seiner Geburt freilich ist es ganz unwahrscheinlich, dass er diese Städte jemals zu sehen bekommt. Sein Lebensweg scheint vorgezeichnet: Er soll in die Fußstapfen des Vaters treten. Dass der Bub am Festtag Mariae Heimsuchung zur Welt kommt, wird von der katholischen Familie als gutes Omen gedeutet. Freilich kommt alles anders als erwartet: Der Filius strebt der hohen Tonkunst zu und lässt die böhmischen Wälder hinter sich. Den Klang der Jagdhörner aber wird Gluck sein Leben lang nicht vergessen: 3

Gluck: L’innocenza giustificata, Finale der Sinfonia, CD 1, Track 3 (1’53) Cappella Coloniensis, Christopher Moulds DHM 82876 58796 2, LC 00761

Hörnerschall in der Sinfonia zur Oper L’innocenza giustificata, gespielt von der Cappella Coloniensis unter Christopher Moulds. Vom frühen Lebensweg des Musikers Gluck wissen wir so gut wie gar nichts: Wer sind seine Lehrer auf Geige, Cello und Cembalo? Alle drei Instrumente hat er gespielt, aber auch Glasharmonika und Maultrommel. Von wem wird er im Gesang unterrichtet? Immerhin wird er später dafür berühmt sein, ganze Szenen aus seinen Opern singend und spielend vorzutragen, und er wird zahllose berühmte Sänger nach seinen Vorstellungen instruieren. Gibt es einen Kompositionslehrer? Alle diese Fragen kann die Forschung nicht beantworten, denn es fehlen sämtliche Dokumente, bis Gluck 1731 als Student an der Prager Universität wieder auftaucht. Mit 17 Jahren betritt er die Hauptstadt Böhmens und damit eine Musikmetropole. Gut können wir uns vorstellen, wie der junge Gluck, den Cellokasten unter dem Arm, zwischen den prächtigen Adelspalais und Kirchen Prags seine Erfahrungen als junger Musiker sammelt. Die Fürsten Lobkowitz, die Arbeitgeber seines Vaters, fördern auch den Sohn: 1736 ist Gluck schon als „Violoncellist in dem Lobkowitzer Kammerensemble“ zu Wien aktenkundig. Ob er sein Studium in Prag abgeschlossen hat, bleibt ungewiss, seine Musiker- Karriere aber nimmt er zielstrebig in die Hand. Ein Zeitgenosse wird deren Anfänge später so charakterisieren: „Der Ritter von Gluck ist, ohne am Anfange seiner Laufbahn die mindeste Unterstützung oder Aufmunterung gehabt zu haben, bloß durch den inneren Antrieb seines großen und feurigen Genies das geworden, was er wirklich ist.“ Dieses feurige Genie stößt in Wien 1736 an seine Grenzen: Jeder junge Komponist, der sich am Wiener Hof bewirbt, muss ein Examen bei dem greisen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux absolvieren – ein Examen im Kontrapunkt. Der Kontrapunkt aber bleibt lebenslang Glucks schwache Seite, wie später auch Händel in London feststellen wird: „Mein Koch versteht mehr von Kontrapunkt als Herr Gluck“, soll Händel gesagt haben. In Wien hat Gluck vorerst wenig Chancen bei Hofe. Also macht er sich auf nach Italien: 1737 folgt er dem Fürsten Melzi nach Mailand.

Gluck: Allegretto (aus Alessandro), Track 19 (0’55) Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel Archiv Produktion 445 824-2, LC 0113

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Ein Allegretto aus dem Ballett Alessandro, gespielt von Musica Antiqua Köln unter Reinhard Goebel. Acht Jahre bleibt Gluck im Land, wo die Zitronen blühen. Hier lernt er das Metier des Opernkomponisten von der Pieke auf, zunächst die italienische Sprache, dann auch die Klangmöglichkeiten des Orchesters. Das große Mailänder Orchester unter Sammartini verkörpert die Avantgarde des neuen, sinfonischen Stils in Europa. Kontrapunkt spielt hier keine Rolle mehr. Über so genannten „Trommelbässen“, dem Beat des 18. Jahrhunderts, tobt das Orchester in ganz neuen, sprechenden Affektfiguren. Gluck lernt diese neue Klangsprache in Mailand kennen und überträgt sie alsbald auch auf andere Opernbühnen, etwa 1744 auf Venedig in seiner Oper :

Gluck: Non hai cor per un’impresa (aus Ipermestra), Track 2 (6’38) Daniel Behle, Tenor; Armonia Atenea, George Petrou Decca 478 6758

Der Tenor Daniel Behle sang eine stürmische Arie aus Glucks früher Oper Ipermestra. Es begleitete das Barockorchester Armonia Atenea unter George Petou. Für die Sängerstars der Opera seria effektvolle Arien zu schreiben, ist die Hauptaufgabe eines angehenden Opernkomponisten in Italien. Gluck beherrscht dieses Metier bald vollkommen, er steigt zum Starkomponisten der Opera seria auf, allerdings zu einem Star mit Ecken und Kanten. Auch später wird er immer wieder nach Italien zurückkehren. Zwanzig Jahre umspannt seine Karriere als Meister der Opera seria, zwei Jahrzehnte, in denen er für die größten Sänger der Epoche komponiert: für die Kastraten Carestini und , Mazzanti und Manzuoli, Guadagni und Millico, für Primadonnen wie oder . Die Virtuosität seiner italienischen Starsolisten hat Gluck nie verschmäht, auch später nicht, als er sich schon längst das Ideal des schlichten Gesangs auf die Fahnen der Opernreform geschrieben hatte. Noch 1763, im Jahr nach dem Orpheus, schwelgt er hemmungslos in Koloraturen, als er in die Festoper zur Eröffnung des neuen Theaters schreibt: Il trionfo di Clelia. Das Teatro Comunale von Bologna steht noch heute. Sein prachtvoller Innenraum von Antonio Galli Bibiena lässt den Glanz jenes Eröffnungsabends mit Gluckscher Musik noch erahnen. Eine Primadonna assoluta betritt die Bühne. Sie steht vor den überfüllten Logen und treibt die Bologneser mit ihren Koloraturen in die Raserei. Es ist Antonia Girelli Aguilar:

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Gluck: Mille dubbi mi destano in petto (aus: Il trionfo di Clelia), CD II, Track 2, 3‘47 Hélène le Corre, Armonia Atenea Leitung: Giuseppe Gismondo de Risio MDG 609 1733-2, LC 06768

Hélène le Corre mit einer Arie aus Glucks letzter italienischer Seria, Il trionfo di Clelia, komponiert mehr als 20 Jahre nach seinen ersten Opernerfolgen in Italien. Dass er südlich der Alpen mit antideutschen Vorurteilen konfrontiert wird, kann den zähen Gluck kaum aufhalten. Der Geiger Dittersdorf hat in seinen Memoiren eine solche Szene überliefert. Zusammen mit Gluck ist er nach Bologna gereist und spielt kurz vor der Uraufführung der Clelia im Gottesdienst ein Geigensolo. Ein Bologneser ruft erstaunt aus: „Aber wie ist es möglich, dass eine deutsche Schildkröte so vollendet musizieren kann?“ Gluck antwortet schlagfertig: „Mein Herr, mit Verlaub! Auch ich bin eine deutsche Schildkröte, und habe doch die Ehre, die neue Oper für die Eröffnung Eures Opernhauses zu schreiben.“ Solche ehrenvollen Opernaufträge, in Italien Scrittura genannt, erreichen Gluck ab 1741 in Mailand in dichten Abständen. Hier drängt sich ein Vergleich auf: Exakt 20 Jahre nach ihm wird ein anderer junger Deutscher nach Mailand kommen, um dort das Opernschreiben zu erlernen. Es ist , der jüngste Sohn des Thomaskantors. Auch er wird von einer Adelsfamilie gefördert, vom Grafen Litta, auch er rüstet sich gleichsam in aller Stille für die Opernkarriere und kann dann innerhalb weniger Jahre die wichtigsten Bühnen Italiens erobern. Das Gleiche gelingt Gluck in den frühen 1740er Jahren. Gluck hat Glück: Während er in Italien ungestört seiner Opernkarriere nachgehen kann, tobt nördlich der Alpen der Österreichische Erbfolgekrieg. Die junge Maria Theresia muss ihre Stammlande gegen Bayern und Franzosen verteidigen. In Glucks böhmische Heimat fallen die Truppen Friedrichs des Großen ein. Mit all dem hat Gluck in Mailand wenig zu tun, obwohl auch die Lombardei eine habsburgische Kolonie ist. Hier freilich kommt niemand auf die Idee, den Machtanspruch der Kaiserin anzufechten, im Gegenteil: Mit den Savoyern in und der Republik Venedig bestehen beste Beziehungen. Nicht zufällig kann Gluck dort einige seiner frühen Opern vorstellen. Neapel dagegen bleibt ihm vorerst verschlossen. Dort regieren die spanischen Bourbonen, die mit Wien verfeindet sind. Erst zehn Jahre später wird Gluck in Neapel einen seiner spektakulärsten Erfolge feiern: von 1752. Auch dazu gibt es eine bezeichnende Anekdote. In einer Arie des Sesto fallen den Kunstrichtern regelwidrige Dissonanzen auf. Ein Augenzeuge erzählt den Vorfall folgendermaßen: „Sie liefen in großer Zahl mit der Partitur der Arie 6 zu Durante, der damals das Orakel der Musik war, um sein Urteil zu hören. Nachdem der große Meister die fragliche Passage geprüft hatte, äußerte er sich wie folgt: Ich will nicht entscheiden, ob dies völlig den Regeln der musikalischen Komposition entspricht, aber ich sage euch, dass wir anderen, mich selbst eingeschlossen, viel Ruhm verdient hätten, wenn wir nur diese eine Passage erdacht und niedergeschrieben hätten.“ Keine Arie Glucks vor 1760 ist so berühmt wie diese, „Se mai senti spirarti sul volto“. Der unglückliche Sesto nimmt Abschied von seiner Geliebten Vitellia, denn er geht scheinbar in den Tod: „Wenn du jemals auf der Wange einen leichten Hauch spürst, der zärtlich dich streichelt, denke daran: Es sind die letzten Seufzer deines Getreuen, der für dich stirbt.“ Über den weich pulsierenden Streichern setzt die Oboe mit einer zärtlichen Melodie ein. Es ist der Lufthauch, der die Wange der Vitellia liebkost. Später verwandelt sich dieser Hauch in die „estremi sospiri“, in die letzten Seufzer des Sesto. Genau an dieser Stelle setzen die scharfen Dissonanzen ein, die von Durante so gepriesen wurden. Gluck hat diese Arie ein Vierteljahrhundert später seiner Iphigenie in den Mund gelegt: „O malheureuse Iphigénie“. Hier das Original, geschrieben 1752 in Neapel für den Kastraten Caffarelli, gesungen von Magdalena Kozena:

Gluck: Se mai senti (aus: La clemenza di Tito), Track 11 (bis 3‘35) Magdalena Kozena, Prague Philharmonia, Michel Swierczewski Deutsche Grammophon 471 334-2, LC 0173

Noch eine andere Musikmetropole Italiens wird Gluck erst von Wien aus erobern: die päpstliche Hauptstadt Rom. Dort stellt er 1756 seinen vor. Wieder gelingt ihm ein spektakulärer Erfolg, der Folgen hat: Er wird in die berühmte Accademia dell’Arcadia aufgenommen wie 50 Jahre früher Arcangelo Corelli und Alessandro Scarlatti. Und er wird von Papst Benedikt XIV. zum „Ritter vom goldenen Sporn“ erhoben, zum „Cavaliere dello Speron d’oro“. Auch der junge Mozart wird diesen Ehrentitel 14 Jahre später erhalten, doch er wird ihn kaum benutzen. Gluck dagegen weiß aus der päpstlichen Ehrung Kapital zu schlagen. Fortan lässt er sich „Ritter von Gluck“ nennen, in Paris: „Chevalier de Gluck“. Aus dem Förstersohn ist etwas geworden: ein Starkomponist der Oper mit Adelstitel. Bis dahin war es ein weiter Weg – vom Opernanfänger in Mailand bis zum päpstlichen Ritter. Heute lässt sich dieser Weg nur noch in Umrissen rekonstruieren: Zu viele frühe Opern sind verloren, meist kennen wir nur einzelne Arien. Akribisch hat die Gluckforschung die Reisewege des jungen Komponisten nachgezeichnet und die Musik seiner ersten Opern aufgestöbert. Immerhin sprechen die Fakten für sich: Vier Jahre nacheinander schreibt er die große Karnevalsoper für das Regio Ducal Teatro in Mailand, das 7 gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Aufträge aus Venedig, Turin und Crema treffen ein. Er muss lernen, drei Opern gleichzeitig zu schreiben, wie später Verdi in seinen „anni di gallera“. Auch Gluck absolviert seine Galeerenjahre und verschafft sich so das Rüstzeug für seine späteren großen Opern. In Italien schreibt er durchweg Opere serie. Ihre Texte stammen vom Wiener Hofdichter Metastasio. Es sind die klassischen Libretti des Genres: , , , Ipermestra. Schon Jahre bevor er den Dichter in Wien kennenlernt, erwirbt sich Gluck den Ruf, Metastasios Texte auf eigenwillige Weise zu vertonen. Er wird zum „enfant terrible“ der Opera seria. Immerhin aber schreibt er für seine Sängerstars so wirkungsvoll, dass ihn der große Kastrat Carestini weiter empfiehlt. Die Partie des Prinzen Timante im Demofoonte hat Gluck auf die Stimme Carestinis maßgeschneidert, besonders die Arie Sperai vicino il lido. Zu Beginn glaubt Prinz Timante, das rettende Ufer schon vor sich zu sehen, der Wind scheint sich gelegt zu haben. In Glucks Vertonung hört man förmlich, wie ein Schiff sich auf sanften Wogen dem Hafen nähert, umschmeichelt von zarten Winden. Doch dann bricht der Sturm von neuem los, und der Sänger darf in halsbrecherischen Koloraturen glänzen. In unserer Aufnahme ist es Philippe Jaroussky:

Gluck: Sperai vicino il lido (aus: Demofoonte), Track 10 (bis 3’56) Philippe Jaroussky, Le Concert d’Astrée Leitung: Emanuelle Haïm Erato 0094639524228, LC 7873

Das Mailänder Publikum jubelt, als der große Kastrat Carestini in dieser Arie des jungen Gluck brilliert. Auch in Venedig und Turin kann der junge Komponist alsbald Erfolge feiern. Die Italiener nennen ihn „il Boemo“, den Böhmen. Eine Verbindung zur alten Heimat ergibt sich, als Fürst Lobkowitz 1743 Gouverneur von Mailand wird. Er fördert den jungen Gluck, muss aber bald danach in den Krieg ziehen: In der Schlacht bei Velletri muss er sich König Karl dem Dritten von Neapel geschlagen geben. Giuseppe Verdi wird diese Schlacht später in seiner Oper „La forza del destino“ als heroischen Sieg der italienischen Waffen feiern. Der junge Gluck mag sie aus nächster Nähe miterlebt haben. Die vielen Kampf- und Kriegsszenen in seinen späteren Opern legen dies nahe:

Gluck: Sinfonia (aus: Il trionfo di Clelia), CD II, Track 15 (1’02) Armonia Atenea, Giuseppe Gismondo de Risio MDG 609 1733-2, LC 06768

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Diese kriegerische Sinfonia stammt noch einmal aus der Oper Il trionfo di Clelia, wo sie den Kampf zwischen Römern und Etruskern auf einer Tiberbrücke untermalt. 1745 widerfährt Gluck das gleiche Geschick wie 20 Jahre später Johann Christian Bach: Er wird von Mailand nach London berufen, als Kapellmeister der italienischen Oper am Haymarket. Dort, im berühmten King’s Theatre, hatte einst Händel das Londoner Opernleben beherrscht. Mittlerweile hat sich der Hallenser auf das Komponieren von englischen Oratorien verlagert, denn in der Londoner Oper weht der Geist des Rokoko, dem er nicht viel abgewinnen kann. Den modischen Opern des galanten Zeitalters stellt Händel die großen Tragödien des Alten Testaments und der Antike gegenüber – und Gluck hört aufmerksam zu, besonders in Händels Oratorium Hercules. Dejanira hat ihren Mann Herkules vergiftet. Im Wahn sieht sie die Furien vor sich, mit Schlangen in den Haaren. Sie fleht die Götter an, sie vor dem schrecklichen Anblick zu schützen. In ganz ähnlicher Weise wird später Gluck seinen Orestes um Gnade flehen lassen, wenn sich die Furien auf ihn stürzen:

Händel: Where shall I fly (aus: Hercules), CD III, Track 6 (bis 3’04) Anne Sofie von Otter, Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 469 532-2, LC 0113

Die Wahnsinnsszene der Dejanira aus Händels Oratorium Hercules, ein mögliches Vorbild für die Furienszenen in Glucks späteren Opern. Es sang Anne Sofie Otter, begleitet von den Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski. Glucks eigene Londoner Opern klingen gänzlich anders – so galant wie sein Opus I, das er 1746 in London drucken lässt. Es sind Triosonaten für zwei Violinen und Basso continuo. Im konservativen London liebt man die barocken Sonaten von Corelli und Händel mit ihrem gediegenen Kontrapunkt, ihren Fugen und Vorhalten. Davon kann bei Gluck keine Rede sein. Alles ist hier galant und gefällig, nur manchmal ein wenig verwegen im Harmonischen, wie das Allegro aus der sechsten Sonate in F-Dur beweist, gespielt von Musica Antiqua Köln:

Gluck: Triosonate Nr. 6 F-Dur, Track 17 (2’40) Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel Challenge Records CC72122, LC 00950

Nach nur einer Spielzeit in London kehrt Gluck auf den Kontinent zurück und schließt sich wandernden Operntruppen an. Auf die Lehrjahre folgen unruhige Wanderjahre durch höfische Zentren – von Dresden bis Kopenhagen. 1748 erhält er eine zweite Chance, sich in Wien zu etablieren. Zum Geburtstag Maria 9

Theresias und zur Wiedereröffnung des Burgtheaters darf er die Festoper schreiben: riconosciuta. Es ist die Geschichte der babylonischen Königin Semiramis, die sich unter Männern behaupten muss, gegen eine Welt von Feinden, ganz so wie Maria Theresia selbst. Wien feiert: Der lange Krieg ist glücklich überstanden, die Herrscherin in allen Titeln bestätigt. Gluck schreibt eine angemessen festliche Oper, doch Metastasio rümpft die Nase: Glucks Musik sei „arcivandalica“, „erzvandalisch“. Wieder bleibt ihm der Zugang zum Kaiserhof verwehrt. Die folgende Arie aus der Semiramide, geschrieben für den Kastraten Ventura Rocchetti, singt nun Anna Stéphany:

Gluck: Il ciel mi vuol oppresso (aus: Semiramide), CD Blessed Spirit, Track 1 (4’42) Anna Stéphany Classical Opera Company Leitung: Ian Page WHLive0037, LC 14458

In dieser Arie aus Semiramide riconosciuta kann man bereits kühne harmonische Wendungen hören, wie sie Gluck später in seinen großen Wiener Opern verwenden wird. Für das Wien des Rokoko sind diese Schockwirkungen vorläufig noch zu stark. Noch sieben Jahre muss er warten, bevor er endlich das Kaiserhaus von seiner Musik überzeugen kann. In der Zwischenzeit geht er wieder auf Reisen, nimmt jede Gelegenheit zu einer Oper wahr, die sich ihm bietet, so auch 1750 in Prag. Nach 16 bewegten Jahren kehrt Gluck in die Stadt seiner Studienjahre zurück. Für das damalige Prager Opernhaus vertont er den , eines der dramatischsten Libretti von Metastasio. Es geht um die Geschichte vom Verrat des römischen Kaisers Valentinian an seinem Feldherrn Aetius. Damals wie heute ist es eine Tenorarie, die das Publikum aufhorchen lässt. Im ersten Akt singt Massimo, der intrigante Berater des Kaisers, eine Arie vom Murmeln des Baches, „Se povero il rusciello“. Zwölf Jahre später wird Gluck diese Musik im Orfeo wieder verwenden. Aus dem sanft säuselnden Bach wird dann der reine Himmel des Elysiums, die Arie „Che puro ciel“. Mit dem Ezio von 1750 gehen Glucks Lehr- und Wanderjahre zu Ende. Wir stehen an der Schwelle zu den Wiener Meisterwerken:

Gluck: Se povero il ruscello (aus: Ezio), CD 1, Track 13 (bis 4’50) Daniel Behle, Tenor; Armonia Atenea, George Petrou Decca 478 6758

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Das war die Musikstunde mit Karl Böhmer am Mikrophon – mein Thema in dieser Woche: „Antiker Schmerz, griechische Thränen“ - Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper, heute Teil 1: Ein Star der Opera seria – Gluck in Italien. Zuletzt sang Dabiel Behle, begleitet von Armonia Atenea unter der Leitung von George Petou eine Arie aus dem Prager Ezio. Damit endet unser Rundgang durch die Jugendjahre des Christoph Gluck. Morgen treffen wir ihn am Wiener Kaiserhof wieder.