Plenarprotokoll 16/215

Deutscher

Stenografischer Bericht

215. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Inhalt:

Absetzung des Zusatztagesordnungspunktes 9 23363 A Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23382 A Abwicklung der Tagesordnung ...... 23363 A Dr. Ingolf Deubel, Staatsminister (Rheinland-Pfalz) ...... 23383 A Tagesordnungspunkt 30: Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der (CDU/CSU) ...... 23384 C CDU/CSU und der SPD eingebrachten Fritz Rudolf Körper (SPD) ...... 23386 C Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Grundgesetzes (Artikel 91 c, Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) ...... 23387 C 91 d, 104 b, 109, 109 a, 115, 143 d) (Drucksache 16/12410) ...... 23363 B Tagesordnungspunkt 31: b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten a) Große Anfrage der Abgeordneten Jürgen Entwurfs eines Begleitgesetzes zur zwei- Koppelin, Birgit Homburger, Rainer ten Föderalismusreform Brüderle, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 16/12400) ...... 23363 B Fraktion der FDP: Bürokratische Belas- tungen statistischer Erhebungen für das Dr. Peter Struck (SPD) ...... 23363 D Handwerk (Drucksachen 16/7783, 16/10022) ...... 23388 D (FDP) ...... 23365 D b) Antrag der Abgeordneten Rainer (CDU/CSU) ...... 23367 B Brüderle, Paul K. Friedhoff, Jens Dr. (DIE LINKE) ...... 23369 B Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Die Mitte stärken – (BÜNDNIS 90/ Mittelstand ins Zentrum der Wirt- DIE GRÜNEN) ...... 23372 C schaftspolitik rücken (Drucksache 16/12326) ...... 23389 A Peer Steinbrück, Bundesminister BMF ...... 23374 C Rainer Brüderle (FDP) ...... 23389 A Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 23377 A Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 23390 B Günther H. Oettinger, Ministerpräsident Dr. (FDP) ...... 23390 D (Baden-Württemberg) ...... 23378 C Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 23392 B Dr. (DIE LINKE) ...... 23379 A Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 23393 C Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ (Hamm) DIE GRÜNEN) ...... 23380 A (CDU/CSU) ...... 23393 D Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 23380 D Dr. (SPD) ...... 23394 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ d) Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 23396 A Wolfgang Nešković, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. , weiteren Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) ...... 23397 D Abgeordneten und der Fraktion DIE Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 23399 C LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Kontroll- Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) ...... 23399 D gremiumgesetzes (Drucksache 16/12374) ...... 23409 D Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 23400 A Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 23409 D (SPD) ...... 23401 C Dr. (FDP) ...... 23411 B Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 23402 A (SPD) ...... 23413 A Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär BMWi ...... 23404 C Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 23415 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 23405 D DIE GRÜNEN) ...... 23416 A Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 23408 A Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 23417 C

Tagesordnungspunkt 32: Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Dr. Norbert Röttgen, , desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordne- Ersten Gesetzes zur Änderung des Artikel-10- ten und der Fraktion der CDU/CSU Gesetzes sowie der Abgeordneten Thomas (Drucksachen 16/509, 16/12448) ...... 23419 A Oppermann, Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter Struck und der (CDU/CSU) ...... 23419 B Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Dr. Max Stadler (FDP) ...... 23420 B Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion (SPD) ...... 23421 A der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der par- (DIE LINKE) ...... 23422 D lamentarischen Kontrolle der Nach- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ richtendienste des Bundes DIE GRÜNEN) ...... 23423 C (Drucksache 16/12411) ...... 23409 B Klaus Uwe Benneter (SPD) ...... 23424 A b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer, (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 23425 A Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Thomas Tagesordnungspunkt 34: Oppermann, Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter Struck und der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Fraktion der SPD schusses für Arbeit und Soziales zu dem sowie der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion , Dr. Gesine Lötzsch, weiterer der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesetzes zur Änderung des Grundge- Keine Anrechnung der Abwrackprämie setzes (Artikel 45 d) bei ALG II und Eingliederungshilfe (Drucksache 16/12412) ...... 23409 C (Drucksachen 16/12114, 16/12358) ...... 23426 B c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 23426 B Hans-Christian Ströbele, Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 23427 B (Köln), , weiteren Abgeord- neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 23428 A GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der parla- Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 23428 D mentarischen Kontrolle der Geheim- Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 23430 A dienste sowie des Informationszugangs- rechts Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/12189) ...... 23409 C DIE GRÜNEN) ...... 23431 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 III

Tagesordnungspunkt 35: Anlage 2 Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung schusses für Wirtschaft und Technologie zu der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag der Abgeordneten Britta dem Antrag: Sicherung der interkommunalen Haßelmann, , , Zusammenarbeit (Tagesordnungspunkt 35) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 23434 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherung der inter- Reinhard Schultz (Everswinkel) kommunalen Zusammenarbeit (SPD) ...... 23435 B (Drucksachen 16/9443, 16/11976) ...... 23432 B Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 23435 D Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 23436 D Nächste Sitzung ...... 23432 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23437 C

Anlage 1 Anlage 3 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 23433 A Amtliche Mitteilungen ...... 23438 B

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23363

(A) (C) Redetext

215. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismus- reform Ich darf Ihnen zu unserer heutigen Tagesordnung die ergänzende Mitteilung machen, dass interfraktionell ver- – Drucksache 16/12400 – einbart worden ist, den Zusatzpunkt 9 – Biokraftstoffe – Überweisungsvorschlag: abzusetzen und die Tagesordnungspunkte 33 und 34 zu Rechtsausschuss (f) tauschen. Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wieso sind die Ausschuss für Gesundheit Biokraftstoffe abgesetzt? Ich hatte mich so Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung darauf gefreut!) Ausschuss für Bildung, Forschung und (B) Technikfolgenabschätzung (D) Sind Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO sein. Dann ist das so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ich heute Mor- diese Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch da- gen im Radio gehört habe, ist heute der Tag des Thea- gegen gibt es offenkundig keine Einwände. Dann kön- ters. Nun könnte man meinen, das hätten wir im Deut- nen wir so verfahren. schen Bundestag täglich. Es könnte aber sein, dass wir Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- heute der besonderen Beobachtung einiger Theaterkriti- nächst dem Kollegen Dr. Peter Struck für die SPD-Frak- ker unterliegen. Darauf wollte ich die nachfolgenden tion. Rednerinnen und Redner aus kollegialer Fürsorge recht- zeitig aufmerksam machen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Heiterkeit) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf: Dr. Peter Struck (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ ren! Ich möchte nicht in meiner Eigenschaft als Vorsit- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines zender der SPD-Fraktion hier sprechen, sondern als … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes Vorsitzender der Föderalismuskommission für das ganze (Artikel 91 c, 91 d, 104 b, 109, 109 a, 115, Haus, weil ich zusammen mit dem Kollegen Günther 143 d) Oettinger, bei dem ich mich herzlich für die Zusammen- – Drucksache 16/12410 – arbeit bedanke, Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Rechtsausschuss (f) Innenausschuss diese Kommission geleitet habe. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich bin mit diesem Paket im Großen und Ganzen zu- Ausschuss für Gesundheit frieden. Ich glaube, dass wir Grund haben, den Vertre- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung tern des Bundes, also den Fraktionen des Deutschen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Bundestages, genauso wie den Bundesratsmitgliedern, Haushaltsausschuss die in dieser Kommission mitgearbeitet haben, zu 23364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Peter Struck (A) danken; denn sie haben ein Paket zustande gebracht, das jetzt in einem großen, schwierigen Paket vorlegen, lässt (C) sich sehen lassen kann. den täglichen Hickhack zwischen Bund und Ländern weit zurück. Wir haben viel mehr erreicht als das Fest- Aus verfassungsästhetischen Gesichtspunkten würde schreiben eines kleinsten gemeinsamen Nenners von ich allerdings ein deutliches Fragezeichen machen. Wir Bund und Ländern, von Gebern und Nehmern, von Ost haben als Juristen gelernt, eine Verfassung solle klar und und West. Wir haben ein gemeinsames Verständnis ent- einfach formuliert sein. Was wir jetzt aufgeschrieben ha- wickelt, wie unser Bundesstaat die finanziellen Pro- ben, ist mit Verfassungsästhetik kaum zu vergleichen. bleme löst, die in der Vergangenheit und jetzt verstärkt Ich gebe das zu. Aber die Sachverhalte, über die wir zu durch die Finanzkrise entstanden sind. entscheiden hatten, sind komplizierter geworden. Dass man in eine Verfassung sogar Eurobeträge hineinschrei- Wir sind uns in dieser Kommission darüber einig ge- ben muss, ist auch nicht der Normalfall. Aber es ist not- wesen – auch die Kollegen aus der Fraktion der Linken wendig gewesen, um die Beträge, die festgelegt worden des Deutschen Bundestages –, dass sich die Staats- sind, verfassungsfest zu machen und nur mit einer Zwei- schuld zu einer veritablen Hypothek für unser Gemein- drittelmehrheit ändern zu können. Ich komme nachher wesen entwickelt hat und weiterentwickeln kann, der wir darauf zurück. mit vereinten Kräften entgegentreten müssen. Für den Bund will ich sagen – auch der Finanzminister wird es Ich frage mich, warum wir ähnlich wie bei der ersten sicherlich ansprechen –: An der Tatsache, dass der Bund Föderalismusreform ein eigentümliches Missverhältnis pro Jahr Zinsen in Höhe von 42 Milliarden Euro zahlen feststellen können. Ich meine das Missverhältnis zwi- muss – das sind 76 000 Euro pro Minute –, ohne einen schen einerseits der Leidenschaft, mit der wir, also die einzigen Euro zurückzahlen zu können, sehen wir schon, politische Klasse, über dieses Thema diskutieren, und wie dramatisch die Situation ist. Dies gilt für die Länder dem großen Engagement in vielen Fragen und anderer- in gleichem Maße. Wir müssen eingreifen. seits dem gewissen Desinteresse an diesem Thema und teilweise auch Unverständnis in den öffentlichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Medien für das, was wir in den vergangenen zwei Jah- der CDU/CSU und der FDP) ren beraten haben. Die Medien haben eigentlich nur Das gemeinsame Verständnis zwischen Bund und beobachtet: Bekommen die einen Kompromiss zu- Ländern hat sich vor allen Dingen bei dem Thema der stande? Die Inhalte dieses Kompromisses, die wirklich sogenannten Konsolidierungshilfen für Länder in sehr schwierig waren, haben nur die wenigsten verstan- besonders schwieriger Haushaltslage gezeigt. Diese den. In der öffentlichen Bewertung der von uns vorge- Hilfen werden vom Bund und von den Ländern je hälftig legten Abschlussvorschläge ist man uns, glaube ich, aufgebracht. Sie sollen sicherstellen, dass alle Länder bis (B) nicht gerecht geworden. zum Jahre 2020 einen ausgeglichenen Haushalt errei- (D) Die Vorschläge, die die Föderalismuskommission ge- chen können. macht hat, reichen sehr weit. Um es gleich am Anfang zu Ich will deutlich sagen: Ein herzlicher Dank gilt vor sagen: Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, im Deut- allem dem Bundesminister der Finanzen, Herrn schen Bundestag eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Steinbrück, der bereit ist, acht Jahre lang 400 Millionen Ich sehe besonders in die Richtung der Kollegen von der Euro, also insgesamt 3,2 Milliarden Euro, zu zahlen. Ih- FDP, in Richtung des Kollegen Burgbacher und des Kol- nen herzlichen Dank dafür, Herr Kollege Steinbrück! legen Wissing, die mitgearbeitet haben. Ich meine, dass Sie trotz der vielen Bedenken, die Sie zu Recht angemel- (Beifall bei der SPD – Dr. Gregor Gysi [DIE det haben, diese Chance nutzen und über die Beratungen LINKE]: Das ist doch nicht sein Geld!) im Bundesrat und über die Vertretungen der Länder, in Der Dank gilt aber auch den Vertretern des Bundesrates, denen Sie an der Regierung beteiligt sind, bewerten und den Ländern. Ein Land, das sich besonders beteiligen klären sollten, ob Sie diesem Paket zustimmen können. muss, ist das Land Baden-Württemberg, das bereit ist, Ich bitte und werbe sehr darum, weil ich glaube, dass es einen eigenen Anteil zu leisten, um den Länderanteil schon ein großer Schritt nach vorne wäre, wenn wir uns aufzubringen. Auch Ihnen herzlichen Dank, Herr wirklich einigen könnten. Oettinger! Dies gilt gleichermaßen für Nordrhein-West- Es ist insgesamt ein gutes Ergebnis für den Bund, falen und viele andere Geberländer, die ebenfalls bereit aber auch für die Länder. Unser Ergebnis zeigt übrigens, sind, Geld dafür bereitzustellen. dass der solidarische und kooperative Föderalismus der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bundesrepublik Deutschland funktioniert und tragfähig ist. Es ist eine solidarische Anstrengung verabredet wor- den, die es ermöglicht, dass die Länder, die sich jetzt und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren in einer der CDU/CSU) schwierigen Haushaltslage befinden, im Jahr 2020 – vo- raussichtlich – einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen Ich habe direkt im Anschluss an unsere Einigung in der können; es sei denn, es kommen wieder konjunkturelle Julius-Leber-Kaserne gesagt, dass wir geradezu eine Notsituationen auf uns zu wie die, mit der wir es jetzt zu Sternstunde des kooperativen Bundesstaates erlebt tun haben. haben. Bei dieser Bewertung bleibe ich, vom Ausgangs- punkt her gesehen. Ich bleibe dabei: Es ist eine Stern- Ich bin aber auch auf andere Teile des Pakets durch- stunde des Föderalismus. Denn die Einigung, die wir aus stolz. Das gilt vor allen Dingen für die Teilprojekte, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23365

Dr. Peter Struck (A) mit denen Kooperation und Solidarität im Bundesstaat (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/ (C) akzentuiert werden. In diesem Zusammenhang ist zum CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE Beispiel die neue IT-Verfassungsbestimmung zu nennen; GRÜNEN) der Kollege Körper wird darüber sprechen. Die Einigung Ich bin dankbar dafür, dass durch einen Brief des auf ein zentrales Krebsregister, das nach 30-jähriger Dis- Bundesfinanzministers an die Länderfinanzminister und kussion nun endlich verwirklicht wird, ist ebenfalls zu die kommunalen Spitzenverbände klargestellt wurde, nennen. Auch das hat die Kommission erreicht. Die dass das, was die Gemeinden vorhaben – Investitionen Bundesgesundheitsministerin und alle Gesundheits- in Bildung, nicht nur in Beton –, durch den neuen minister der Länder werden dankbar dafür sein, dass wir Art. 104 b Grundgesetz absolut gedeckt ist. Das ist ein das erreicht haben. Das ist ein großer Fortschritt in der großer Fortschritt. Damit ist Rechtsklarheit geschaffen Gesundheitspolitik. worden. Wir haben die richtige Entscheidung getroffen; (Beifall bei der SPD) davon bin ich überzeugt. Es ist gut und wichtig, dass wir es erreicht haben, das (Beifall bei der SPD) sogenannte Kooperationsverbot zu lockern. Sie erlau- Ich will ein letztes Wort zum Thema Föderalismus sa- ben, dass ich an dieser Stelle nicht in meiner Eigenschaft gen – ich habe mir eine ganze Menge aufgeschrieben, als Vorsitzender der Kommission spreche, sondern in aber das brauche ich jetzt nicht mehr –: Was wir nicht re- meiner Eigenschaft als Vorsitzender der SPD-Fraktion. geln konnten, war die Neugliederung des Bundesgebie- Ich glaube, dass wir in der Föderalismuskommission I tes. Wir haben versucht, darüber zu reden. Ein Minister- im Bereich der Bildung einen Fehler gemacht haben, präsident hat in der Kommission einen halbherzigen was die Kooperation angeht. Ich weiß aber auch, dass Versuch unternommen, das anzusprechen. Ich nehme damals andere Lösungen nicht möglich waren. Ich war mein Lieblingsthema wieder auf – ich weiß, dass mein schon damals an der Debatte beteiligt. Jetzt haben wir Freund Volker Kröning gar nicht damit einverstanden den Versuch unternommen, das sogenannte Koopera- ist, dass ich das jetzt sage –: Ich glaube, nicht diese tionsverbot etwas zu lockern. Ich hätte gerne mehr er- Kommission, aber nachfolgende Kommissionen, die es reicht. mit Sicherheit geben wird, werden die Frage der Neu- gliederung des Bundesgebietes intensiv zu prüfen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) darüber zu entscheiden haben. Wir haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muss aber akzeptieren, dass nahezu alle 16 Bundeslän- der CDU/CSU und der FDP) der nicht bereit waren, mehr zu geben. Wir können nach- (B) her gerne darüber reden. Ich möchte das nur einmal fest- Ich will Ihnen jetzt nicht sagen, welche Länder vielleicht (D) stellen. Natürlich brauchen wir für eine Änderung eine zusammengelegt werden sollten. Das würde keinen Sinn Zweidrittelmehrheit. machen. Aber 16 Bundesländer, wie wir sie jetzt haben – Günther Oettinger ist damit auch nicht ganz einver- Wir haben lange über die Änderung des Art. 104 b standen, Ingolf Deubel ebenfalls nicht –, wird es in zehn Grundgesetz gesprochen. Mit dem, was wir jetzt verein- oder 15 Jahren nicht mehr geben können. bart haben, können wir auch ein aktuelles Problem lösen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Der Bundestag hat mit Mehrheit der Koalition ein Kon- FDP) junkturprogramm beschlossen, über das den Gemeinden Geld für den Bau von Schulen usw. zur Verfügung ge- Sie werden ein bisschen mehr zusammengehen müssen. stellt wird. Nach der Verfassung ist das eher eine Aus- nahme, weil wir im Grunde nur bei der energetischen Nehmen Sie dies als Vermächtnis eines ausscheiden- Sanierung von Schulgebäuden helfen dürfen. Ich bin den Föderalismuskommissionsvorsitzenden mit auf den dankbar dafür, dass die Vertreter der Bundesregierung in Weg. Die jungen Kollegen sollen sich dieser Aufgabe der Kommission klar gesagt haben: Das, was wir jetzt widmen. Dabei wünsche ich ihnen von Herzen guten Er- machen – das ist ja eine große Hilfe für die Gemeinden; folg. wir geben nicht nur Geld für die energetische Sanierung Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. von Schulgebäuden, sondern auch für Sportstätten und dergleichen –, ist durch die geplanten Neufassung des (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Art. 104 b Grundgesetz absolut gedeckt. Ich bin Ihnen FDP) dankbar, Herr Minister Steinbrück – – Präsident Dr. Norbert Lammert: (Bundesminister Peer Steinbrück spricht mit Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Burgbacher für Bundesministerin ) die FDP-Fraktion. – So geht das nicht, Herr Kollege Steinbrück. (Beifall bei der FDP) (Heiterkeit – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Endlich sagt es einmal einer!) Ernst Burgbacher (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade über das Konjunkturpaket geredet, um Vorab bedanke ich mich bei Ihnen, Herr Struck, bei Ih- das noch einmal kurz zu erklären. nen, Herr Ministerpräsident Oettinger, und bei den Mit- 23366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Ernst Burgbacher (A) gliedern der Kommission. Wir alle, die wir in dieser auf ein paar Verwaltungsthemen sowie auf das äußerst (C) Kommission waren, haben in den zwei Jahren unserer wichtige Thema der Verschuldung konzentriert. Aber es Tätigkeit wirklich versucht, etwas vorwärts zu bringen, kann doch nicht sein, dass wir jetzt Auflagen machen, schwierige Fragen anzupacken und sie auch zu lösen, aber die Länder eigentlich keine Möglichkeit haben, ihre auch wenn dies nur teilweise gelungen ist. Die Zusam- Einnahmen selbst zu beeinflussen. Ministerpräsident menarbeit aber war in weiten Teilen angenehm. Dafür Oettinger sagt immer zu Recht, seine einzige Möglich- bedanke ich mich auch im Namen meines Kollegen keit, Einnahmen zu beeinflussen, sei die Erhöhung der Volker Wissing. Eintrittsgelder für Museen, anderes gebe es eigentlich nicht. Dies ist die falsche Weichenstellung. Deshalb (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie den der SPD) Mut hätten haben müssen, an die wirklich wichtigen Ich muss allerdings auch Folgendes deutlich feststel- Themen Länderfinanzausgleich, Steuerautonomie und len: Heute hätte ein großer Tag für dieses Land sein müs- Länderneugliederung heranzugehen. Das haben Sie sen und können; denn dieses Land braucht eine grundle- nicht gemacht. Mit dem Vorwurf müssen Sie leben. gende Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. (Beifall bei der FDP) Wenn wir im weltweiten Wettbewerb weiterhin unsere Position halten oder ausbauen wollen, können wir dies Nun zum Thema Verschuldung. Wir alle leiden unter nicht mit den Strukturen innerhalb der Länder und zwi- der Verschuldung, und wir wissen, dass es so nicht wei- schen Bund und Ländern tun, die wir im Augenblick ha- tergehen kann. Der Weg in die Verschuldung, der 1969 ben. Dass wir eine grundlegende Reform brauchen, ist eingeschlagen und bis heute weitergegangen wurde, ist unsere feste Überzeugung. gegenüber künftigen Generationen verantwortungslos. Deshalb muss unser oberstes Ziel sein, diesen Weg zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beenden. Raus aus der Neuverschuldung – das ist unsere der CDU/CSU und der SPD) Aufgabe, die wir alle zusammen anpacken müssen. Das Ich nenne ein Beispiel, das inzwischen völlig verges- ist unsere hohe Verantwortung. sen wurde: In einer Untersuchung ganz zu Beginn der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Reformarbeit wurde uns gesagt, eine Abschaffung des der CDU/CSU) Länderfinanzausgleichs, die so nicht infrage kommt, er- höhte das Bruttoinlandsprodukt um einen Prozentpunkt. Allerdings müssen wir feststellen: Liebe Kolleginnen Dass darüber in der Kommission kaum gesprochen und Kollegen von der Großen Koalition, Sie hatten drei wurde, halte ich für einen Fehler. Jahre lang vor der Finanz- und Wirtschaftskrise die Chance dazu. Sie haben Steuern massiv erhöht, begin- (B) (D) (Volker Kröning [SPD]: Da haben Sie recht!) nend mit der Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf Daher muss ich am Ende der Kommissionsarbeit sa- 19 Prozent. Es gab insgesamt 20 Steuer- und Abgabener- gen – Herr Kollege Struck, Sie wissen es –, dass ich ei- höhungen, die zu 100 bis 150 Milliarden Euro mehr gentlich enttäuscht bin. Was die erste Große Koalition Steuereinnahmen geführt haben. Trotzdem haben Sie je- 1966 bis 1969 auf den Weg gebracht hat – darauf ist un- des Jahr neue Schulden aufgenommen. Das ist keine sere gigantische Staatsverschuldung zurückzuführen –, Konsolidierungspolitik, sondern eine unverantwortliche hätte jetzt von der Großen Koalition korrigiert werden Politik. Das können Sie nicht mit der Finanz- und Wirt- müssen. Aber es hat sich wieder gezeigt, dass eine Große schaftskrise begründen. Koalition offenbar nur zu den allerkleinsten Ergebnissen Sie müssen sich fragen lassen, warum Sie jetzt eine fähig ist. Dies wurde mit der Föderalismuskommission Schuldenbremse einführen. Warum haben Sie diese erneut bewiesen. nicht schon vor einem Jahr konzipiert? Ich erinnere ausdrücklich daran, dass diese Kommis- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) sion auf Druck der FDP zustande gekommen ist. Wir hatten nämlich schon in der ersten Kommission erklärt, Jetzt, in der Zeit der schlimmsten Krise, wollen Sie die dass es sinnlos sei, Strukturen zu reformieren, wenn man Schuldenbremse. Sie müssen die Bevölkerung davon nicht an die Finanzen herangeht. Unser Druck hat dazu überzeugen, dass es Ihnen ernst ist und dass sie wirken geführt, dass wir heute überhaupt über die Ergebnisse wird. Sie hatten die Chance; Sie haben sie ungenutzt ver- beraten können. Auch dies darf man einmal festhalten. streichen lassen und immer mehr Schulden gemacht. Dazu müssen Sie sich bekennen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Im Einsetzungsbeschluss steht – ich zitiere es; ich Ich habe heute Morgen in einer Tickermeldung gele- habe ihn mitgebracht –: Stärkung der aufgabenadäquaten sen, dass DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki – diese Finanzausstattung, Stärkung der Eigenverantwortung der Organisation steht Ihnen nicht ganz fern – den Dortmun- Gebietskörperschaften und verstärkte Zusammenarbeit der Ruhr Nachrichten gesagt hat – ich zitiere –: und Möglichkeiten zur Erleichterung des freiwilligen Zusammenschlusses der Länder. – Überall Fehlanzeige! Das Vorhaben der Föderalismuskommission II, eine Schuldenbremse in der Verfassung festzuschreiben, Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problem bei der ist so schädlich wie absurd. Föderalismusreform ist, dass die wesentlichen Punkte von vornherein ausgeklammert wurden. Man hat sich (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23367

Ernst Burgbacher (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich er- Konjunkturkomponenten oder Produktionslücken zu un- (C) warte von Ihnen heute ein ganz klares Wort. terhalten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Sie müssen sich davon distanzieren. Es kann nicht sein, und der SPD) dass wir weiter in den Schuldenstaat marschieren. Aller- Ausgerechnet die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise dings habe ich immer wieder den Eindruck – den haben hat die Themen der Kommission zu den Bürgerinnen viele mit mir –, dass es vielen von Ihnen nicht ganz so und Bürgern an die Stammtische gebracht. Angesichts ernst ist, sondern dass Sie nach wie vor davon leben, der Milliardenprogramme – des 500-Milliarden-Euro- Geld zu verteilen und mehr Schulden zu machen. Damit Rettungsschirms für die Banken und des 50-Milliarden- werden Sie gegen die Wand fahren. Euro-Konjunkturprogramms – fragen sich immer mehr Lassen Sie mich einen letzten Punkt in allem Ernst Menschen, ob wir diese Summen je zurückzahlen kön- ansprechen, weil ich ihn für sehr wichtig halte. Man nen. Diese Menschen sind es, für die wir heute mit der kann, verehrter Herr Kollege Struck, über das Koopera- Gesetzgebung zur Einführung einer Schuldengrenze in tionsverbot diskutieren. Ich war ein Befürworter des Deutschland beginnen. Kooperationsverbots. Wir haben es am Ende der ersten Wir machen die Schuldengrenze für die Rentnerin, Föderalismuskommission ins Grundgesetz geschrieben. die sich Sorgen macht, ob auch bei längerer Dauer der Es hat in der Arbeit der Föderalismuskommission über- Krise mit einer sicheren Auszahlung ihrer Rente zu rech- haupt keine Rolle mehr gespielt. In der letzten Sitzung nen ist. Wir machen die Schuldengrenze für den Unter- machten Sie den Vorschlag, Art. 104 b des Grundgeset- nehmer, der sicher sein möchte, dass der Staat in wirt- zes zu ändern. Sie zwangen die Union dazu, indem Sie schaftlich schwierigen Zeiten auch Entlastungen gesagt haben, dass Sie sonst nicht zustimmen. Ich sage beschließen bzw. konjunkturfördernde Maßnahmen er- Ihnen: So können wir mit unserer Verfassung nicht um- greifen kann. Wir machen die Schuldengrenze für die gehen. Die Verfassung ist kein Spielball; man ändert sie jungen Menschen, die morgen Verantwortung in nicht beliebig aufgrund aktueller Ereignisse. Deutschland übernehmen und ihre eigenen Ideen zum (Beifall bei der FDP) Wohle dieses Landes umsetzen möchten. Und wir ma- chen die Schuldengrenze für alle Menschen, die diesen Ich möchte zum Schluss kommen. Staat mit ihren Steuern finanzieren. Denn allen ist klar: (Beifall des Abg. [SPD]) Die Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen. Wir halten das, was jetzt vorgelegt wird, für viel zu we- (B) nig ehrgeizig. Es ist Ausdruck der Tatsache, dass die Wir müssen sicherstellen, dass unser Land zu jeder (D) Große Koalition in sich total uneinig ist. Wir machen mit Zeit, in noch so schwierigen weltwirtschaftlichen Situa- der Schuldenregel einen ersten Schritt auf einem Weg, tionen, genügend Mittel zur Verfügung hat, um seinen der in die richtige Richtung gehen kann. Deshalb werden sozialen und marktwirtschaftlichen Aufgaben gerecht zu wir das sehr wohlwollend prüfen. Wenn die Details stim- werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- men, können wir uns eine Zustimmung vorstellen. Wir sition, Schuldenbegrenzung ist Sozialpolitik, weil ge- versprechen Ihnen, dass wir auf dem Weg zu einer richti- rade die Schwachen darauf angewiesen sind, dass der gen, fundierten Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbe- Staat seinen Verpflichtungen jederzeit nachkommen ziehungen weitergehen werden. Denn diese braucht un- kann. ser Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herzlichen Dank. Es ist erforderlich, dabei zwei Grundsätze zu beach- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten: der CDU/CSU) Erstens. Wir müssen in guten Zeiten so sparsam und Präsident Dr. Norbert Lammert: wirtschaftlich mit Steuergeldern umgehen, dass wir Spielräume für schlechte Zeiten erhalten. Das haben wir Antje Tillmann ist die nächste Rednerin für die CDU/ in den vergangenen Jahrzehnten nicht konsequent durch- CSU-Fraktion. gehalten. Wir haben zwar in schlechten Zeiten die nöti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen Kredite aufgenommen, aber versäumt, in guten Zei- neten der SPD) ten gegenzusteuern. ( [FDP]: Sehr wahr!) Antje Tillmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Ende 2009 wird die Verschuldung von Bund, Ländern wir vor zwei Jahren mit unserer Arbeit in der Kommis- und Gemeinden bei circa 1,7 Billionen Euro liegen. Die sion zur Entflechtung der Finanzbeziehungen zwischen jährlichen Zinszahlungen werden zukünftig mehr als Bund und Ländern begonnen haben, war diese Kommis- 70 Milliarden Euro betragen und damit natürlich die sion mit ihren Arbeitsgruppen eigentlich eher eine Handlungsfähigkeit des Staates erheblich einschränken. Closed-shop-Veranstaltung für wenige Interessierte, die Ständig steigende Zinslasten wären eine schwere Hypo- fortan nicht mehr ohne Grundgesetz an Veranstaltungen thek für unsere Kinder und Enkelkinder, insbesondere teilgenommen haben und Spaß daran hatten, sich über deshalb, weil wir davon ausgehen müssen, dass auch der 23368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Antje Tillmann (A) demografische Wandel zu zusätzlichen sozialen Ausga- Wir haben eine konjunkturelle Komponente einge- (C) ben führen wird. führt, durch die es uns auch möglich ist, in diesen schwierigen Zeiten zu reagieren, Maßnahmen zu ergrei- All diese Tatsachen haben die Regierung unter Bun- fen und die Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Dann deskanzlerin dazu bewogen, die laufende können die Bürgerinnen und Bürger auch entlastet wer- Legislaturperiode unter strikten Konsolidierungskurs den. Daneben gibt es eine Komponente, die für Notsitua- zu stellen. Im Jahre 2005 haben wir bei einer Neuver- tionen gilt, deren Anwendung wir aber von einer absolu- schuldung von 31,2 Milliarden Euro begonnen. Wir ha- ten Mehrheit abhängig machen, weil wir die politische ben es geschafft, die Neuverschuldung bis Ende 2008 Diskussion und eine Diskussion der Bürgerinnen und auf 11,5 Milliarden Euro zu drücken. Ohne die Wirt- Bürger zur Schuldenaufnahme wollen. schaftskrise hätten wir diese Legislaturperiode mit ei- nem ausgeglichenen Haushalt beendet, und das, obwohl Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben ein sehr unsere Verfassung eine erheblich höhere Verschuldung gesundes Verhältnis zur Schuldenaufnahme. Sie wissen erlaubt hätte. das aus ihrem eigenen Haushalt. Ich kann nur die Schul- den aufnehmen, die ich auch wieder tilgen kann. Genau (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) diese Diskussion – lieber Herr Kollege Struck, das schätze ich ein bisschen anders als Sie ein – ist in den Der bisherige Art. 115 des Grundgesetzes, der eine Kre- letzten Wochen sehr wohl geführt worden. Die Bürgerin- ditaufnahme für Investitionen und zur Abwehr einer Stö- nen und Bürger haben uns auf die Finger geschaut, und rung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor- das sollen sie auch zukünftig tun, weil uns das in unserer sieht, setzt nicht die erforderlichen Grenzen. Haushaltsführung diszipliniert. Das ist aus zwei Gründen der Fall: Für all diese Maßnahmen haben wir eine Sanktions- Der erste Grund. Die „goldene Regel“ ermöglicht komponente eingeführt. Wir werden einen Stabilitätsrat eine Nettokreditaufnahme bis zur Höhe der im Haus- einrichten, der kontrolliert, ob wir die neuen Schulden- haltsplan veranschlagten Investitionen. Diese Regelung, grenzen auch wirklich einhalten, und – es ist interessant, die eine Kreditfinanzierung von Bruttoinvestitionen vor- das zu wissen – das erste Mal seit Bestehen des Grund- sieht, ist im Hinblick auf den volkswirtschaftlichen gesetzes gibt es in unserer Verfassung eine Tilgungsver- Wertzuwachs ungeeignet. Denn die Straße, die wir heute pflichtung. Das hat es bisher nicht gegeben. Das heißt, für 10 Millionen Euro bauen, ist längst kaputt, wenn wir wir sind verpflichtet, Kredite, die wir aufnehmen, in an- den Kredit immer noch im Haushalt haben. gemessener Zeit auch wieder zurückzuzahlen. Auch das ist ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Der zweite Grund. Auch der Hinweis auf die Störung (B) des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, der einer Uns war es sehr wichtig, dass diese Schuldenbegren- (D) politischen Entscheidung unterworfen ist, führt nicht zu zungen auf allen Ebenen unseres Landes greifen. Wir einer Schuldenbegrenzung. Seit 1998 hat sich die Bun- wollten nicht, dass die eine Ebene Schulden begrenzt desregierung in den Jahren 2002, 2003, 2004 und 2005 und die andere Ebene Schulden produziert. Es ist eine mindestens im Nachtragshaushalt auf die Störung des gemeinsame Aktion, dieses Land von zusätzlichen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts berufen. Aller- neuen Schulden zu befreien. Deshalb bin ich froh, dass dings waren die realen Wachstumsraten nur im wir gemeinsam mit den Ländern gute Lösungen in der Jahr 2003 mit minus 0,2 Prozent negativ, im Jahr 2004 Kommission gefunden haben. mit 1,2 Prozent und im Jahr 2005 mit immerhin noch Dazu gehört aber auch, dass einige Länder gesagt ha- 0,8 Prozent hingegen positiv. ben, dass sie eine Schuldenbegrenzung, wie wir sie uns vorstellen, nicht aus eigener Kraft schaffen können. Wir All dies zeigt, dass wir neue Regeln zur Eindämmung werden in den nächsten Jahren – 2011 bis 2019 – also von Schulden brauchen. Deshalb finde ich es richtig, im 800 Millionen Euro jährlich bereitstellen, um es diesen Grundgesetz zu verankern, dass die Haushalte von Bund Ländern zu ermöglichen, mit uns gemeinsam die Schul- und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Kredi- den zu begrenzen. Ich gebe offen zu, dass uns als Bun- ten ausgeglichen werden müssen. Der zweite Teil der destagsfraktion das nicht leichtfällt; denn selbstverständ- Wahrheit ist aber, dass der Staat natürlich auch hand- lich ist der vom Bund zusätzlich zu den eigenen lungsfähig bleiben muss. Anstrengungen zu leistende Anteil von 400 Millionen Dem haben wir Rechnung getragen, sowohl durch die Euro eine Riesensumme. Ich bin mir aber sicher, dass Begrenzung in guten Zeiten als auch durch die Flexibili- die Solidarität ein wesentliches Merkmal dieses födera- sierung in Zeiten, in denen es diesem Land schlechter len Staates ist und dass wir diese Aufgabe gemeinsam geht. schultern werden. Ab 2016 lassen wir für den Bund eine Kreditauf- An dieser Stelle möchte ich sehr deutlich sagen, dass nahme in Höhe von 0,35 Prozent des BIP zu. Diese Mit- sich nicht zuletzt hier entschieden hat, dass unsere Vor- tel sollen aber keineswegs für Spaßprogramme verwen- sitzenden, Herr Ministerpräsident Oettinger und Herr det werden, sondern mit ihnen sollen ganz klar Fraktionsvorsitzender Struck, ein gutes Team waren; zukunftsgerichtete Investitionen oder Maßnahmen finan- denn gerade in dieser Situation, als es um Hilfen ging, ziert werden, die der künftigen Generation nutzen. haben sie sehr wohl darauf hingewirkt, dass wir Indivi- dualisten der Fraktionen und der Ministerpräsidenten das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verloren haben, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23369

Antje Tillmann (A) eine generationengerechte Schuldengrenze zu verab- privat, oder ist meine Vermutung richtig, dass er es aus (C) schieden. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit als Vorsit- Steuermitteln bezahlt? zende dieser Kommission. (Otto Fricke [FDP]: Das kommt aus der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schweiz!) Wir haben aber nicht nur eine Schuldenbegrenzung Dann weiß ich nicht, warum wir ihm dafür danken müs- erreicht, sondern auch eine Regelung zur effizienteren sen. Verwaltung von Bund und Ländern. Frau Tillmann, Sie müssen eine Grundlehre des Haus- (Volker Kröning [SPD]: Sehr richtig!) halts zur Kenntnis nehmen. Sie tun so, als ob das Geld, das dem Bund zur Verfügung steht, aus Gottes Hand So haben wir bei der Zusammenarbeit im Hinblick auf käme. Tatsächlich entscheidet aber der Gesetzgeber über die informationstechnischen Systeme und bei der IT- die Höhe der Steuern und damit auch über die Einnah- Sicherheit einen guten Kompromiss gefunden. Minister men des Staates. Schäuble hat sich hier sehr engagiert. Es wird Leistungs- vergleiche zwischen den Landesverwaltungen geben, die (Beifall bei der LINKEN – Volker Kröning ebenso wie die Effizienzsteigerungen in der Steuerver- [SPD]: Vergessen Sie nicht, dass es das Geld waltung zu wirtschaftlicherem Handeln führen werden. des Steuerzahlers ist!) Nicht zuletzt aufgrund der Debatte über den Kampf ge- gen die Steuerhinterziehung ist es erforderlich und sinn- – Ich weiß das. – Sie vergessen zu erwähnen, dass der voll – hier war Herr Steinbrück sehr engagiert –, die Haushalt des Bundes anders geführt werden muss als ein Kompetenz des Bundeszentralamtes für Steuern zu stär- Privathaushalt. Im Privathaushalt ist es ziemlich einfach: Wenn man weniger Geld hat, gibt man weniger aus; ken. wenn man mehr hat, kann man mehr ausgeben. Aber Bei all den spröden Themen, mit denen wir uns in der wenn der Staat weniger Geld einnimmt, dann heißt das, Kommission befasst haben, haben wir die Menschen da- dass die Wirtschaft schwach ist. hinter aber nicht vergessen. Das gilt zum Beispiel für die (Dr. h. c. [CDU/CSU]: Er bundesweite Einrichtung eines Krebsregisters; denn für hat das noch nie begriffen!) zielgerichtete gesundheitspolitische Maßnahmen zur Prävention, Früherkennung und Behandlung von Gerade dann muss er besonders viel investieren. Wenn er Krebserkrankungen ist eine einwandfreie Datengrund- viel einnimmt, dann muss er lernen, zu sparen. Das lage Voraussetzung. Diese werden wir schaffen. macht aber jede Regierung genau umgekehrt und damit falsch. Das ist die Wahrheit. (B) Wir haben die Menschen auch bei der Neuordnung (D) der Verwaltung der Versicherung- und Feuerschutzsteuer (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei nicht vergessen. Denn wir haben sehr wohl im Blick be- der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: So ein halten, dass die Kameradinnen und Kameraden der frei- Schlaumeier! – Was der alles weiß!) willigen Feuerwehren vor Ort auf diese finanzielle Un- terstützung angewiesen sind. – Sie müssen sich jetzt noch nicht so aufregen. Es kommt noch viel schlimmer. Wir machen diese Reform nicht für Juristen. Es ist auch völlig egal – darin stimmen Sie mir sicherlich zu, Bei der Föderalismusreform I haben Sie einen ent- Herr Struck –, wer damit in die Geschichte eingeht. scheidenden Fehler begangen; den wollten Sie ja auch begehen. Sie haben die Abkehr vom kooperativen Föde- (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) ralismus hin zu einem Ellenbogenföderalismus beschlos- sen. Das ist die Wahrheit. Wir machen diese Reform für die Menschen in unserem Land, die sich auch in der Krise auf diesen Staat verlas- (Beifall bei der LINKEN – Volker Kröning sen wollen, und das können sie. [SPD]: Quatsch!) Danke schön. Sie glauben das nicht? Die Starken sollen nicht mehr die Schwachen stützen, sondern niederkonkurrieren. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kann ich an einem Beispiel erläutern: der Bezahlung der verbeamteten Lehrerinnen und Lehrer. Früher gab es Präsident Dr. Norbert Lammert: bundesweit eine weitgehend einheitliche Besoldung. Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für Dann haben Sie beschlossen, dass die Länder das jeweils die Fraktion Die Linke. selber festlegen sollen. Reiche Bundesländer können aber mehr zahlen als arme Länder. Deshalb werden die (Beifall bei der LINKEN) Lehrerinnen und Lehrer jetzt mit Geld aus den armen Ländern weggelockt. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Jetzt gibt es in den armen Ländern zu wenig Lehrerin- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr nen und Lehrer. Vielleicht können Sie mir erklären, was Struck, ich habe zunächst mit einem gewissen Erstaunen daran sinnvoll für die Kinder in diesen Ländern ist. vernommen, dass Sie sich bei Herrn Steinbrück für die jährlich 400 Millionen Euro bedankt haben. Zahlt er das (Beifall bei der LINKEN) 23370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Gregor Gysi (A) Was soll diese Ellenbogenmentalität, die Sie damit ver- ihren Kindern unverantwortlich verhalten müssen. Er- (C) folgen? klären Sie mir wenigstens die Logik Ihrer drei Thesen! Sie müssten eine völlig andere Bildungspolitik betrei- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: ben. Das sind falsche Sachen!) – Doch, genau so läuft es. In Berlin und in anderen Län- (Beifall bei der LINKEN) dern können Sie das verfolgen. Das haben Sie ganz be- Ich sage Ihnen noch eines: 16 verschiedene Bildungssys- wusst angerichtet. teme, das ist 19. Jahrhundert. Das hat mit dem (Thomas Oppermann [SPD]: Wer hat denn in 21. Jahrhundert überhaupt nichts zu tun. Berlin die Lehrergehälter abgesenkt?) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Der größte Fehler der Föderalismusreform I bestand neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE darin, das Ziel einer gemeinsamen Bildungspolitik auf- GRÜNEN) zugeben. Die hätte man einführen müssen. Jetzt haben Sie sich aber bei der Bildungspolitik (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) selbst ein Bein gestellt. Den Leuten muss man erklären, was hier eigentlich passiert. Zuerst beschließen Sie ein Sie haben dem Ganzen zugestimmt, sogar einem Koope- Kooperationsverbot und sagen: Bildung ist Sache der rationsverbot. Das war ein schwerer Fehler gerade auch 16 Länder; der Bund hat nichts damit zu tun. – Jetzt wol- der deutschen Sozialdemokratie. Darunter werden wir len Sie gerne im Rahmen Ihres Konjunkturprogrämm- noch sehr leiden. chens Geld in Bildung investieren. Nun stellen Sie fest, (Beifall bei der LINKEN – Volker Kröning dass Sie gerade beschlossen haben, dafür nicht zuständig [SPD]: Das setzt eine andere Verfassung vo- zu sein. Das heißt, Sie haben gerade beschlossen, dass raus! Sie wollen eine andere Verfassung!) der Bund den Ländern gar kein Geld für Bildung geben darf. Sie stellen aber eine Ausnahme fest, nämlich die Jetzt zur Union. Selbst konservative Politik muss eine energetische Sanierung, und sagen: Dann geben wir Art Logik haben. Verstehen Sie: Das ist ja nicht meine euch Geld für die energetische Sanierung der Schulge- Politik, sondern Ihre. Ich stelle Ihnen jetzt drei konserva- bäude. – Das ist nicht schlecht, und alle Länder werden tive Thesen vor. Sie müssen mir erklären, wie sie zusam- das sicherlich nutzen. Das Problem ist aber: Die Länder menpassen. brauchten viel dringender Geld zum Beispiel für Schul- Ihre erste These lautet: Die Deutschen haben zu we- bücher, eine neue Bestuhlung, mehr Erzieherinnen und nig Kinder und drohen auszusterben. Da sie es wahr- Erzieher, mehr Lehrerinnen und Lehrer oder eine bessere (B) scheinlich handwerklich nicht verlernt haben, Bezahlung der Lehrerinnen und Lehrer, damit die reiche- (D) ren Länder den ärmeren sie nicht abwerben. (Otto Fricke [FDP]: Woher wissen Sie das?) muss es wohl andere Gründe dafür geben, über die es (Volker Kröning [SPD]: Alles aus dem sich nachzudenken lohnt. Bundeshaushalt?) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Aber dafür dürfen Sie natürlich nichts ausgeben, weil geht nicht mit der Hand, Herr Kollege!) Sie sich selbst für unzuständig erklärt haben. Nun erklä- ren Sie doch einmal den Leuten, warum man sich als Ge- Ihre zweite These lautet: Wir brauchen einen flexi- setzgeber selbst ein Bein stellen muss! Genau das haben blen Arbeitsmarkt. Darunter verstehen Sie, dass man Sie hier gemacht. prekäre Beschäftigung mit Minijobs, Leiharbeit und al- lem anderen organisiert, was Gewerkschaften und Ar- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Britta beitnehmerinnen und Arbeitnehmer schwächt. Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Re- GRÜNEN]) den Sie doch mal zum Thema Föderalismus- reform!) Nun kommen wir zur Föderalismusreform II und da- mit zu der beschlossenen Schuldenbremse. Aber Sie verstehen darunter auch, dass Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer bereit sein müssen, den Beschäf- (Zuruf von der CDU/CSU: Nach zehn tigungsort und gegebenenfalls auch das Bundesland zu Minuten!) wechseln. Sie sagen also: Flexibel müssen die Leute sein. – Nehmen wir einmal ein Paar, wie Sie es sich – Das reicht doch. Warum regen Sie sich denn darüber wünschen: ein Ingenieur und eine Lehrerin mit drei Kin- auf? Diese Reform ist so falsch, dass man darüber nicht dern. Das ist für sie etwas schwierig mit den Jobs: Mal lange zu sprechen braucht. finden sie Arbeit in Bayern, mal in Schleswig-Holstein, In einer Zeit, in der Sie jeden Tag das Fenster auf- Thüringen oder Hessen. Sie wechseln also ständig das machen und eine neue Milliarde in Richtung Banken Bundesland und sind so flexibel, wie Sie es fordern. Sie, hinauswerfen, beschließen Sie gleichzeitig solche Be- meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, stimmungen. Was Sie hier organisieren, passt überhaupt lassen dabei aber völlig außer Acht, dass diese Eltern mit nicht zusammen. drei schulpflichtigen Kindern jedes Mal in ein völlig an- deres Schulsystem geraten und sich deshalb gegenüber (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23371

Dr. Gregor Gysi (A) Dann hat Frau Bundeskanzlerin Merkel vor kurzem (Volker Kröning [SPD]: Stimmt! Wir machen (C) erklärt: Wir müssen jedes Jahr 10 Prozent mehr Geld für die Länder nicht zu Kantonen!) Bildung ausgeben. Aber gleichzeitig fassen Sie Be- schlüsse, die es den Ländern völlig unmöglich machen, Jetzt hat die Bundesregierung auf unsere Frage einge- dieses Geld auszugeben. Ihre Erklärung ist schon jetzt räumt, dass das von der Schweiz beschlossene Schulden- Makulatur. verbot nicht eingehalten wird, dass es also trotzdem eine Neuverschuldung gibt und dieses Verbot zu gar nichts (Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß geführt hat. Das zweite Land, das ein Schuldenverbot in [SPD]: Das haben wir gar nicht gemacht! Die die Verfassung aufgenommen hat, war das staatssozialis- Länder wollten doch diese Beschlüsse! Die tische Albanien unter Enver Hoxha. Vielleicht haben Sie Länder wollten das! Die sind von uns nicht ge- sich nach ihm gerichtet. Aber ich hoffe, Sie haben nicht zwungen worden!) vergessen, wie er endete. Ich weiß, dass die armen Länder bis 2019 noch ge- (Volker Kröning [SPD]: Das von Ihnen! – wisse Zahlungen bekommen. Nun sagen Sie aber Bre- Joachim Poß [SPD]: Das sagen ausgerechnet men und dem Saarland: Ihr bekommt das Geld nur unter Sie! – Dr. Peter Struck [SPD]: Ich war jeden- der Bedingung, dass ihr eure Organklagen beim Bundes- falls nicht bei Milosevic!) verfassungsgericht wegen der Haushaltsnotlage zurück- zieht. Mit anderen Worten: Es kann doch nicht im Ernst die Lösung sein, dass wir den Weg wählen, den sonst kein (Volker Kröning [SPD]: Das hat niemand einziges Land geht. gesagt!) Sie tun so, als ob die Neuverschuldung bisher über- Es erinnert schon ein kleines bisschen an Erpressung, haupt nicht begrenzt wurde. Gab und gibt es nicht die wenn man sagt: Du bekommst nur dann Geld, wenn du Kriterien von Maastricht? Ist nicht im Grundgesetz gere- auf ein dir zustehendes Recht verzichtest. – Ich finde das gelt, dass die Neuverschuldung die Investitionsquote ehrlich gesagt ziemlich happig und rechtsstaatlich sehr nicht überschreiten darf, es sei denn, dass das gesamt- fragwürdig. Aber genauso machen Sie es. wirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist, worauf sich (Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß jetzt die Bundesregierung stützt? Jetzt ändern Sie das ab [SPD]: Der biegt sich seine Demagogie so zu- und legen fest, dass eine Naturkatastrophe oder eine sammen, dass es passt!) schwere Krise vorliegen muss. Das ist eine tolle juristi- sche Begriffsbestimmung. Den Streit darüber, was eine Für Berlin und Sachsen-Anhalt wird es schwierig. Aber Naturkatastrophe oder eine schwere Krise ist, kann man für Bremen, Schleswig-Holstein und das Saarland ist (B) sich jetzt schon vorstellen. Da wird es sehr viele ver- (D) das, was Sie hier beschließen, eine Katastrophe; das wis- schiedene Interpretationen geben. sen Sie auch. Ich hoffe sehr, dass die betreffenden Län- der noch eine Organklage erheben und sagen: Das Ganze (Beifall bei der LINKEN) geht nicht, weil es verfassungsrechtlich nicht hinnehm- Noch einen weiteren Umstand haben Sie nicht be- bar ist. dacht. Der Bundesgesetzgeber bleibt für die Steuern zu- Ich will Ihnen sagen, warum es verfassungsrechtlich ständig. Jetzt kann doch der Bundestag Folgendes ma- nicht hinnehmbar ist. Sie schränken das Haushaltsrecht chen: Er senkt die Steuern, auch für die Länder. Diese der Landesparlamente ein. Sie sagen: Ein Landesparla- werden dadurch geringere Einnahmen haben. ment darf ab 2020 keine Schulden mehr beschließen, (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das kann der vorher nur unter bestimmten Bedingungen. Bundestag eben nicht machen!) (Joachim Poß [SPD]: Das ist übrigens ein Vor- Gleichzeitig ist im Grundgesetz festgeschrieben, dass schlag von Ministerpräsidenten!) die Länder keine neuen Schulden aufnehmen dürfen. – Hören Sie zu! Mir ist es völlig wurscht, wessen Vor- Das heißt, der Bundestag kann die Länder in jeder Hin- schlag das ist. Sie beschließen es. Das ist das Entschei- sicht ganz einfach ruinieren, dende. – Wenn Sie das beschließen, dann sagen Sie den (Volker Kröning [SPD]: Das sind zustim- Landesparlamenten: Für Bildungsaufgaben, Kulturauf- mungspflichtige Gesetze!) gaben und soziale Aufgaben, selbst wenn sie noch so dringend sind, dürfen sie keine Neuverschuldung be- wodurch diese keinerlei Spielräume mehr haben. Sie schließen. – Damit schränken Sie die Möglichkeiten der glauben doch nicht im Ernst, dass das Bundesverfas- Länder grundgesetzwidrig ein. Ich bin ganz sicher, dass sungsgericht Ihnen das durchgehen lässt. Das können das Bundesverfassungsgericht das nicht akzeptiert. Sie vergessen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist eine absurde Behauptung, Herr Im Übrigen gab es bisher nur zwei Länder mit einem Gysi, die nicht der Wahrheit entspricht! – Schuldenverbot. Das eine Land ist die Schweiz. Aber die Volker Kröning [SPD]: Das sind zustim- Schweiz hat zuvor sämtliche Kantone durch Goldver- mungspflichtige Gesetze, Herr Kollege Jurist!) käufe entschuldet. Das, was Sie hier beschließen, führt niemals dazu, dass Berlin und die anderen Länder voll- Ich komme jetzt zur FDP. Sie haben gerade in Ihrem ständig entschuldet sind. Wahlprogramm beschlossen, die Steuern auf Bundes- 23372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Gregor Gysi (A) ebene um 35 Milliarden Euro zu senken. Sie haben bloß (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (C) vergessen, zu beschließen, wer sich von Ihrer Partei hin- Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellt und als Letzter das Licht ausmacht und „Tschüs, NEN] und des Abg. Dr. Deutschland!“ sagt. Das, was Sie hier vorlegen, ist über- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) haupt nicht realisierbar. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Wissing Präsident Dr. Norbert Lammert: [FDP]: Das ist Unsinn!) Das Wort hat nun der Kollege Fritz Kuhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich komme zur Lösung der Probleme. Ich habe gar nichts dagegen, die Neuverschuldung zu begrenzen, Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): aber das muss auf eine vernünftige Art geschehen, nicht mit Verbotsregeln, wie Sie das machen. Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi, der Kollege Ramelow war in der (Volker Kröning [SPD]: Sondern?) Föderalismuskommission eine Spur konkreter, als Sie das gerade waren. Sie reden sehr viel, und manchmal – Indem man das ganz anders macht. Ich habe vorhin werden Sie offensichtlich vom Schwung Ihrer eigenen schon über den Haushalt gesprochen. Rede mitgerissen. Aber den Unsinn, dass der Bund Steu- (Volker Kröning [SPD]: Sie haben keine Vor- ern senken könnte, um die Länder abzumurksen, kann schläge dazu gemacht!) nur jemand erzählen, der nicht weiß, dass Gesetze zur Erhebung von Steuern den Bundesrat passieren müssen. – Ja, wir können Vorschläge machen. Ich habe zum Bei- Das war einfach nur Unsinn. Es lohnt sich nicht, sich da- spiel erläutert, dass wir es in Berlin so geregelt haben, mit weiter zu beschäftigen. dass die Investitionsquote nicht überschritten werden darf. Was ist daran falsch? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – (Volker Kröning [SPD]: Berlin hat eine schwa- Joachim Poß [SPD]: Er hat Unsinn erzählt! che Wirtschaftskraft!) Null Ahnung!) Damit hat man Jahrzehnte gelebt. Sie versuchen, den Wir schauen uns die heute vorliegenden Gesetzent- Leuten einzureden, dass Staatsschulden dasselbe wie würfe an. Angesichts des Einsetzungsbeschlusses vom Privatschulden sind. Sie vergessen immer, dass Sie jetzt Dezember 2006, in dem es heißt, „die Kommission erar- die höchsten Staatsschulden organisieren, die es in der beitet Vorschläge zur Modernisierung der Bund-Länder- Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat. Darunter Finanzbeziehungen“, kann man nicht sagen, dass die (B) leiden die nächsten Generationen tatsächlich. Kommission erfolgreich war. Es liegen keine vernünfti- (D) gen Vorschläge auf dem Tisch; denn dies wurde syste- (Beifall bei der LINKEN – Jochen-Konrad matisch, mal vom Bund, mal von den Ländern, blockiert. Fromme [CDU/CSU]: Durch Sie sind wir so weit gekommen, das tun zu müssen!) Also bleibt übrig, über die Schuldenbremse zu reden. Da wir hier viele Anträge eingebracht haben, wissen Sie Ich sage Ihnen eines: Ich sehe schon jetzt den tapferen alle, dass wir für eine vernünftige Schuldenbremse sind; Sozialdemokraten vor mir, der hier in ein paar Jahren denn, Herr Kollege Gysi, die bisherige Regel, sich bis stehen und sagen wird: 2009 haben wir einen großen zur Höhe der Bruttoinvestitionen verschulden zu kön- Fehler begangen. – Dieser tapfere Sozialdemokrat wird nen, versagt objektiv – das ist empirisch erwiesen –, dann genauso viel Beifall bekommen wie heute der, der wenn es darum geht, die Staatsausgaben auf ein sinnvol- den Fehler begeht. Das ist das Übel daran. Noch schlim- les Maß zu begrenzen. Es gibt Handlungsbedarf, und mer ist aber: Dann wird Ihnen die Union und damit die deswegen sind wir für eine Schuldenbremse. Zweidrittelmehrheit fehlen, das Ganze zu korrigieren. Dann leiden die Bürgerinnen und Bürger wirklich darun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ter. und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Ich bitte Sie um eine Sache, auch wenn das wahr- scheinlich chancenlos ist, aber ich halte das für eine ge- Wir sind aber nicht für die Art, die Sie am Schluss ge- sellschaftspolitisch zentrale Frage: Wir brauchen im wählt haben. Ich will Ihnen darstellen, warum wir dage- Grundgesetz eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung. Der gen sind. Ich finde, das hätte man besser, intelligenter Bund und die Länder müssen gemeinsam garantieren, und wirksamer machen können. Zuerst aber noch eine dass jedes Kind in Deutschland, egal wo es lebt und Bemerkung vorweg: Das von der Föderalismuskommis- völlig unabhängig davon, ob die Eltern Bankiers, Profes- sion I auferlegte Kooperationsverbot hätte jetzt ganz fal- sorinnen und Professoren, Abgeordnete, Arbeitnehme- len müssen. rinnen und Arbeitnehmer, Arbeitslose, Hartz-IV- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger sind, eine des Abg. Dr. [SPD]) Topbildung genießen kann. Sie organisieren das Gegen- teil. Das halte ich für eine Katastrophe. Damit nehmen Der Staat hat nicht darauf reagiert, dass etwas nicht Sie den Kindern und Jugendlichen die Chancengleich- funktioniert hat, sondern er hat anstelle einer Verbesse- heit. Aber genau darauf müssen diese zwingend einen rung den nächsten Murks gemacht. Jetzt heißt es näm- Anspruch haben. lich, dass das Kooperationsverbot nur dann nicht gilt, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23373

Fritz Kuhn (A) wenn es eine große Notlage, eine Naturkatastrophe oder nanzminister hat diesen Weg nicht gewählt und damit für (C) eine Finanzkrise gibt. Das ist aberwitzig. So etwas nennt einen Stopp in der Föderalismuskommission II gesorgt. man Verschlimmbesserung. Deswegen können wir die- sen Punkt nicht mittragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir Schulden machen, dann wäre es richtig, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nach den Renditen zu differenzieren, welche künftige Wenn man die Nullverschuldung der Länder ab dem Generationen von den Investitionen erzielen, für die Jahr 2020 einführt, dann ist das keine wirkliche Schul- Schulden aufgenommen werden. Deswegen wäre der denbremse, vor allem deshalb nicht, weil die Länder, die Nettoinvestitionsbegriff, gerade wenn es um Bildungsin- jetzt keine Konsolidierungshilfe bekommen – das sind vestitionen geht, die richtige Antwort auf die Frage, wie die meisten –, nichts machen müssen, um ihre Schulden die Staatsverschuldung begrenzt werden kann. Ihr An- nach und nach bis 2020, also bis zu dem Jahr, ab dem die satz einer pauschalen Verschuldung in Höhe von Schuldenbremse wirksam wird, abzubauen. Sie können 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, den Sie gewählt sich weiter verschulden. Anstatt einen „Bremsweg“ zu haben, ist keine Lösung. Sie haben für den Bund keine wählen, der jetzt beginnt und 2020 endet, haben Sie alles Schuldenbremse beschlossen, sondern Sie haben einen offengelassen. Die Öffentlichkeit muss wissen, in wel- Deckel für die strukturelle Verschuldung in Höhe von chem finanzpolitischen Umfeld wir uns im Jahr 2020 be- 0,35 Prozent beschlossen. Das ist vergleichbar mit ei- finden werden. 2019 läuft der Solidarpakt endgültig aus. nem Auto, das seine Geschwindigkeit nur bis 40 oder 2019 wird der Länderfinanzausgleich neu verhandelt. 50 Stundenkilometer herunterbremsen kann und dann Ich sage Ihnen voraus – dazu gehört nicht viel Fantasie –, nicht mehr funktioniert. Das, was Sie vorhaben, sollte dass viele Länder im Jahr 2019 das Scheitern der Föde- man nicht „Bremse“, sondern „Begrenzung der zusätzli- ralismuskommission II erklären werden. Die Geberlän- chen Verschuldung“ nennen. der werden nämlich sagen, sie könnten die Schulden im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jahre 2020 nicht auf null zurückführen, weil sie für den Länderfinanzausgleich zu viel zahlen müssten; die Neh- Wir haben andere Vorschläge gemacht, etwa die Fi- merländer werden argumentieren, dass sie zu wenig er- nanzierung eines Bildungssolis über den Soli. Nach dem, hielten, um die Schulden auf null zurückzuführen. Im was die Föderalismuskommission II vorsieht, fließt der Jahr 2019 wird das ganze System in sich zusammenbre- Soli zu den Teilen, die den neuen Bundesländern nicht chen. Deswegen ist das keine vernünftige Schulden- mehr zustehen, dem Bundeshaushalt zu; der Bundesfi- bremse für die Länder. Wenn ein Raucher heute erklären nanzminister war sehr dafür. Da hätte es andere Mög- würde, er höre im Jahr 2020 mit dem Rauchen auf, dann lichkeiten gegeben, etwa, von der Aufgabe Bildung end- (B) würden wir das auch nicht als guten Entschluss bezeich- lich nicht mehr nur zu reden, sondern sie in Angriff zu (D) nen und in ihm einen zukünftigen Nichtraucher sehen, nehmen und für eine bessere Finanzierung zu sorgen. sondern wir würden sagen, dass er eine Ausrede gewählt Eine sinnvolle Schuldenbegrenzungspolitik bestünde da- hat, damit er noch zehn Jahre lang ordentlich vor sich rin, in den richtigen Bereich zu investieren. Nach unserer hinpaffen kann. Überzeugung stellt Bildung allemal einen solchen Be- reich dar. (Dr. [CDU/CSU]: Das ist Politik!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jetzt komme ich zum Bund, der ab dem Jahr 2011 all- Damit ist klar, warum wir diesen Gesetzentwurf ableh- mählich die Schuldenbremse einführt, die ab 2016 ihre nen, obwohl wir eine vernünftige Schuldenbremse ei- Endstufe erreicht haben soll. Ab dann soll die struktu- gentlich wollen. In unseren Vorschlägen ist das darge- relle Verschuldung nur noch 0,35 Prozent des Bruttoin- stellt. landsprodukts betragen. Der Bruttoinvestitionsbegriff (Joachim Poß [SPD]: Eine sehr gewundene hat nicht getaugt. Das haben wir in der Vergangenheit Ablehnung! – Volker Kröning [SPD]: Ham- gesehen. Weil der nicht getaugt hat, setzen Sie, abgese- burg und Bremen stimmen zu!) hen von der konjunkturell möglichen Verschuldung, die sinnvoll ist, die strukturelle Verschuldung pauschal auf Ich möchte jetzt zu zwei Verlierern Ihrer Konzeption 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fest. Wir haben kommen. Es ist wichtig, dass man darüber in der Öffent- eine Alternative vorgeschlagen, die darin besteht, sich an lichkeit klar und deutlich redet. Ich bin überzeugt, dass einem vernünftigen Nettoinvestitionsbegriff zu orien- die Kommunen in unserem Land die Verlierer der Ein- tieren. Es geht um die Frage, wie eigentlich der Kapital- führung der Schuldenbremse sein werden, weil die Län- stock eines Landes erhöht wird. Der Nettoinvestitionsbe- der – vor allem diejenigen, die jetzt eine Konsolidie- griff soll besagen: Es ist eine Verschuldung für rungshilfe bekommen, aber auch diejenigen, die sich an Investitionen bis zu einer bestimmten Größe möglich, es diese Konzeption halten – den auf sie ausgeübten Druck ist aber notwendig, die Abschreibungen, also den Wert- natürlich an die Gemeinden weitergeben. Die von Ihnen verfall, und die Privatisierungserlöse von den Investitio- vorgesehene Konsolidierungshilfe für fünf Länder ist nen abzuziehen; denn wir wollen zwischen Investitionen willkürlich. Es ist ein Fehler, keine Konsolidierungshil- in Bildung – da könnte man auch mit einer Abschrei- fen für die Gemeinden vorzusehen; denn sie sind eben- bung agieren – und anderen Investitionen differenzieren. falls verschuldet. Manche sind so hoch verschuldet, dass Das wäre ein sinnvoller Weg gewesen. Er ist von Sach- sie nicht mehr investieren können. Die Gemeinden wer- verständigen vorgeschlagen worden, aber der Bundesfi- den zusätzlich stranguliert, wenn die Länder den Schul- 23374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Fritz Kuhn (A) denbremsendruck an die Gemeinden weitergeben. Unser Ihre Versprechungen und die Schuldenbremsen passen (C) Vorschlag lautet deswegen, auch den höchst verschulde- nicht zusammen. Was Sie dem Haus hier vorschlagen, ist ten Gemeinden Konsolidierungshilfen zu leisten. ökonomischer Unsinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich danke Ihnen. Joachim Poß [SPD]: Der Bund? Was ist denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – das für ein Verfassungsverständnis? Die Ge- Joachim Poß [SPD]: Haben Sie mal die Ver- meinden sind Teil der Länder!) fassung gelesen, Herr Kollege? So was von ab- – Herr Poß, immer wenn jemand so schreit wie Sie, hat wegig!) ein Vorwurf gesessen. Das ist eine alte parlamentarische Weisheit. Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Bundesregierung erhält nun der Finanzminis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ter das Wort. Das Land Nordrhein-Westfalen, aus dem Sie kom- men, Herr Poß, braucht keine Konsolidierungshilfe. Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Aber es gibt viele Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten die dringend eine Konsolidierungshilfe brauchen. Damen und Herren! In Anbetracht der relativ knappen Redezeit möchte ich mich auf das zentrale Thema der (Joachim Poß [SPD]: Aber nicht vom Bund!) Arbeit der Föderalismuskommission II konzentrieren, Deutschland besteht nicht nur aus Bund und Ländern, nämlich auf das Thema Schuldenregelung, obwohl an- sondern aus Bund, Ländern und Gemeinden. Das haben dere Aspekte es wert wären, intensiver beleuchtet zu Sie offensichtlich vergessen, oder Sie wollten es nicht werden. Ich will nur so viel hinzufügen: Ich bin Frau hören, weil es Ihnen eine Spur zu kompliziert war. Tillmann für ihren Hinweis dankbar, dass die Verbesse- rungen bei der Steuerverwaltung und die Effizienzstei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gerung beim Steuervollzug wichtige Ergebnisse dieser Föderalismuskommission sind. Einen weiteren Punkt muss ich an die rechte Seite des Hauses richten. Wir müssen einmal schauen, was volks- (Volker Kröning [SPD]: Sehr richtig!) wirtschaftlich passiert, wenn dieses Konzept umgesetzt Es war die erste Große Koalition, die ziemlich genau wird. Frau Merkel und Herr Westerwelle propagieren im vor 40 Jahren Art. 115 unseres Grundgesetzes in der jet- Wahlkampf, erstens, die Einführung einer Schulden- zigen Form ausgestaltet hat. Auch wenn Art. 115 einige bremse, und, zweitens, Steuersenkungen. Es gibt zwei (B) Jahre – ich möchte allerdings hinzufügen: bei hohen (D) Parteien, die dies wollen. Sie treten vor die Wählerinnen Wachstumsraten und nicht den Wachstumsraten der ver- und Wähler mit dem Konzept der Steuersenkung. gangenen Jahre – gut funktioniert hat, müssen wir uns (Ernst Burgbacher [FDP]: Ja!) eingestehen, dass man dies seit nunmehr zwei Jahrzehn- ten nicht mehr behaupten kann. Ich sage Ihnen klar und deutlich: Wer eine Schulden- bremse will, wer die Investitionen in Bildung verbessern (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) will – das fordern Sie ebenfalls –, wer Steuern in der Art. 115 stellt seit mindestens zwei Jahrzehnten keine Größenordnung von 35 Milliarden Euro senken will – so angemessene und wirkungsvolle Regelung mehr dar, um das FDP-Konzept –, der hat sich schon jetzt auf eines die Schuldenaufnahme zu begrenzen. Allein der Bund festgelegt, nämlich dass er die fehlenden Mittel durch hat von 1980 bis heute seine Schulden verachtfacht, und Sozialkürzungen ausgleichen wird. zwar von 120 Milliarden Euro auf 960 Milliarden Euro. Damit ist für jedermann und jede Frau sichtbar, dass die (Jan Mücke [FDP]: Ach! Wie viele Milliarden geltende Begrenzung der Kreditaufnahme durch die sind denn in der Schwarzarbeit? 340 Milliar- Höhe der Bruttoinvestitionen nicht nachhaltig funktio- den!) niert. Deswegen ist Ihr Spruch, die Schuldenbremse sei Ich will hier einschieben, Herr Kuhn – ich durfte es Sozialpolitik für die Rentnerinnen und Rentner, blanker Ihnen gegenüber auch schon in der Föderalismuskom- Unsinn. mission erklären –: Ihr Hinweis nützt uns nichts, solange (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sich nicht dem Exerzitium unterziehen, den Begriff sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE Investitionen zu definieren. Dabei spielt es gar keine LINKE]) Rolle, ob wir über Brutto- oder Nettoinvestitionen reden. Sie können Ihr Ziel nur erreichen, wenn Sie von Ihrer (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei absurden Steuersenkungspolitik abrücken. Sonst kündi- Abgeordneten der CDU/CSU) gen Sie am heutigen Tag Sozialkürzungen großen Stils Ich habe damals schon versucht, das zu erläutern. Ich an. Sie werden Verständnis dafür haben, dass wir diesen konnte nicht damit rechnen, dass Sie nach dieser Erläu- Unsinn nicht mitmachen. Hören Sie auf, in diesen Zeiten terung diesem Missverständnis wiederum aufsitzen. Steuersenkungen zu versprechen! (Joachim Poß [SPD]: Wider besseres Wissen! (Jan Mücke [FDP]: Nein!) Oder er ist dumm! – Gegenruf des Abg. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23375

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Thomas Oppermann [SPD]: Er ist aber nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) dumm!) der CDU/CSU) Ich habe versucht, zu erklären, dass wir ein Konzept Die aktuelle Krise zeigt im Übrigen deutlich, wie wählen, das sich auf europäischer Ebene bewährt hat wichtig eine neue Schuldenregel ist. Ich kann Ihnen in und diesen Definitionsschwierigkeiten entgeht, indem es ähnlicher Weise, wie es die Bundeskanzlerin in ihren Er- das sogenannte Close-to-balance-Konzept des Maas- klärungen getan hat, berichten, welch hohe Aufmerk- trichter Stabilitäts- und Wachstumspaktes verfolgt. Wenn samkeit unser Vorhaben in Brüssel erfahren hat. Es wird Sie sich diese Erläuterung noch einmal vor Augen füh- im Ausland sehr genau registriert, dass die Bundesrepu- ren würden, könnten wir dieses Missverständnis viel- blik Deutschland gerade in Zeiten, in denen wir wegen leicht auf Dauer vermeiden. der Rezession antizyklisch Schulden aufnehmen müs- sen, um Konjunkturpakete zu finanzieren bzw. die auto- (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Vielleicht kann matischen Stabilisatoren wirken zu lassen, zum einen man das ja wiederholen!) Verfassungsänderungen vornimmt, die einen deutlich disziplinierenden Charakter haben, und zum anderen im Ich möchte im Telegrammstil fünf Punkte anführen, Konjunkturpaket II den Investitionsfonds mit einer ein- warum die bisherige Schuldenregelung definitiv nicht fachgesetzlichen Tilgungsregelung versehen hat, die au- mehr aufrechterhalten werden kann: tomatisch in Kraft tritt. Erstens. Nach den derzeitigen Regelungen in Art. 115 Es ist bitter, dass wir im Augenblick Schulden auf- ist der Verschuldungsrahmen in normalen Zeiten viel zu nehmen müssen, weil dieser Großen Koalition bei nor- hoch. maler Konjunkturlage in der Tat – das haben Frau Zweitens. Die für die Zukunft unseres Landes so zen- Tillmann und andere schon gesagt – etwas gelungen tralen Bildungsinvestitionen werden nicht erfasst. Da wäre, was es seit 1969 nicht gegeben hat, nämlich die treffen wir uns. Neuverschuldung des Bundes auf null zurückzuführen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ihr Hinweis, Herr Burgbacher, das hätte alles sehr viel schneller und weitgehender geschehen müssen – nehmen Wir haben über die haushaltsrechtlich derzeit gültige Sie es mir nicht übel, wenn ich das noch einmal sage –, Definition dafür gesorgt, dass nur Investitionen in Beton berücksichtigt nicht, dass es das Anliegen dieser Großen als Investitionen anerkannt werden und leider Gottes Koalition gewesen ist, gleichzeitig Impulse für die För- jede Ausgabe in die Köpfe bzw. in die Qualität der Aus- derung von Familien, für den Ausbau der Verkehrsinfra- bzw. Weiterbildung von jungen Leuten bzw. von Er- struktur und für Forschung und Entwicklung zu setzen, (B) wachsenen als konsumtiv definiert wird. eine Unternehmensteuerreform zu refinanzieren und (D) auch die ODA-Quote, also unsere entwicklungspoliti- Drittens. Weil eine ausdrückliche Regel für den schen Verpflichtungen, zu erfüllen. Das ist automatisch Schuldenabbau in Aufschwungphasen fehlt, haben die mit Ausgaben verbunden gewesen, was dann in der Tat aktuell gültigen Regelungen in Art. 115 zu einem sehr nicht zur noch weiteren Verringerung der Schulden ge- inkonsequenten Verhalten des Staates geführt. Anders führt hat. Es kommt – leider Gottes – in Ihren Hinweisen ausgedrückt: Wir sind Keynes immer nur zur Hälfte ge- nie vor, dass es eine Art Doppelstrategie gewesen ist, zu folgt. Wir haben zwar in konjunkturell schlechten Zeiten konsolidieren und in für die Bundesrepublik Deutsch- Schulden aufgenommen, aber in guten Zeiten nicht, wie land wichtige Felder zu investieren. es ein vollständiges Befolgen der Theorie von Keynes verlangt hätte, die Schulden wieder getilgt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Viertens. Wir haben es mit deutlichen Unklarheiten und Unschärfen im Zusammenhang mit der Ausnahme- Mir persönlich ist der Erfolg der Föderalismuskom- regelung, nämlich der Feststellung der Störung des ge- mission mit Blick auf eine solche Schuldenregelung sehr samtwirtschaftlichen Gleichgewichts, zu tun. Wir müs- wichtig gewesen, und zwar in dreierlei Hinsicht. sen uns und auch der Öffentlichkeit eingestehen, dass Erstens. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern diese Ausnahmeregelung seit 1975 allein 15-mal in An- der Bundesrepublik Deutschland signalisieren, dass wir spruch genommen worden ist, und zwar – das füge ich es sehr ernst meinen, nach der Überwindung dieser Re- selbstkritisch hinzu – sehr leichtfüßig. zession auf den Konsolidierungspfad zurückzukehren. Fünftens. Die Vorschriften des Art. 115 beziehen sich Dies ist wichtig, um Glaubwürdigkeit zu schaffen, bei nur auf die Haushaltsaufstellung, nicht jedoch auf den den Konsumenten ebenso wie bei den Investoren in Haushaltsvollzug. Deutschland. Sie müssen wissen, dass das weder Schall und Rauch noch Sonntagsreden sind, sondern dass wir Vor diesem Hintergrund habe ich es schon als eine auf den erfolgreichen Pfad der Konsolidierung zurück- historische Herausforderung für die zweite Große Koali- kehren wollen. Die Zahlen, die die Große Koalition in tion empfunden, eine neue, bessere Schuldenregelung den ersten drei Jahre vorgelegt hat, waren bemerkens- einzuführen. Ich stehe nicht an, Herrn Oettinger und wert: Wir haben die Nettoneuverschuldung von fast Herrn Struck und allen anderen, die an diesem Prozess 40 Milliarden Euro auf 11 Milliarden Euro gesenkt – Sie beteiligt gewesen sind, dafür zu danken, dass dies gelun- haben die genauen Zahlen schon genannt –; diesen Pfad gen ist. müssen wir wieder erreichen. 23376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Zweitens. Wir müssen dies auch den Finanz- und (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto (C) Kapitalmärkten signalisieren. Sie wissen, dass ich ge- Fricke [FDP]) legentlich in öffentlichen Reden darauf zu sprechen Wenn dies erforderlich gewesen ist, um einen Konsens komme, wie stark die Kapitalmärkte durch die öffentli- herzustellen, insbesondere mit Blick auf die zugegebe- che Verschuldung aufgrund der Konjunkturprogramme nermaßen schwierige Situation in Berlin, Bremen, im der jeweiligen Staaten weltweit belastet werden können, Saarland, in Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein, sodass es zu Verdrängungseffekten kommt. Damit wird soll es das wert sein. Aber ich mache in der Tat keinen das Vertrauen der Investoren, die entsprechende Anlei- Hehl daraus, dass das vor dem Hintergrund der erhebli- hen aufnehmen, die von Staaten, aber auch Unternehmen chen Belastungen, denen der Bund ausgesetzt ist, schwer- platziert werden, eventuell erschüttert. Das ist dann mit gefallen ist. Ich halte daran fest – vielleicht zum Entsetzen sehr viel schlechteren Laufzeiten verbunden und mit und im Widerspruch zu den Ländern –: Die Haushaltslage Spread-Entwicklungen, die inzwischen selbst Mitglied- auf der Einnahme- und Ausgabenseite war in den letzten staaten der Europäischen Union, übrigens auch Staaten Jahren für den Bund immer ungünstiger als für die Län- der Eurozone, erwischen. Das heißt, für die Finanz- und der. Das macht sich gelegentlich bei schwierigen Ver- Kapitalmärkte ist es wichtig, zu wissen, dass es ein or- handlungen im Bundesrat bemerkbar. Aber um diese dentliches Finanzgebaren auf der jeweiligen national- Klippen kommen wir offensichtlich nicht herum. staatlichen Ebene gibt. Drittens. Der Hauptkritikpunkt von vielen – man kann (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto es offenlegen: auch von Mitgliedern meiner Fraktion – Fricke [FDP]) liegt darin, dass die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen durch diese Schuldenregelung über Drittens. Die Bundesrepublik Deutschland hat als Gebühr eingegrenzt sein könnte. Ich sage Ihnen freimü- Mitgliedstaat der Europäischen Union ein massives Inte- tig: Das Gegenteil ist der Fall. Anders ausgedrückt: Was resse an der Glaubwürdigkeit des Stabilitäts- und wir jetzt mit Blick auf die Abschirmung für die Banken Wachstumspaktes, der, wie Sie wissen, von manchen und die Konjunkturpakete I und II gemacht haben, wäre vielleicht nicht ganz ernst genommen wird. Wenn er auch nach der neu zu beschließenden Schuldenregelung nicht ernst genommen wird, dann hat der Euro – meiner möglich gewesen. Ich wäre dankbar, wenn sich dies als Meinung nach – eines Tages Schwierigkeiten mit seiner Erkenntnisgewinn durchsetzen würde. Glaubwürdigkeit und seiner Stabilität. Das ist von ent- scheidender Bedeutung: bezogen auf die Bürgerinnen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Bürger, bezogen auf die Märkte und bezogen auf die der CDU/CSU) Glaubwürdigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Abschließende Bemerkung: Wann immer wir über Gerechtigkeit reden, wäre ich sehr dankbar, wenn die (D) (B) Ich will auf diese Schuldenregelung im Einzelnen Generationengerechtigkeit in unseren Reden eine grö- nicht eingehen. Sie wissen, welche wichtigen Kompo- ßere Rolle spielen könnte. nenten damit verbunden sind. Die strukturelle Verschul- dungsgrenze verhält sich analog zu dem, was der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Maastrichter Stabilitäts- und Wachstumspakt vorsieht: CDU/CSU) mit Konjunkturkomponente, Kontrollkonto und Ausnah- Der Kapitaldienst ist mit hohen jährlichen Zinsen – die mesituation. Zahl ist schon genannt worden – verbunden; aber zum Ich will abschließend noch einige Hinweise geben. Kapitaldienst gehört irgendwann auch die Tilgung. Was Erstens. Der Vorschlag, dass die Länder – unter Bezug- dadurch an Belastungen für nachfolgende Generationen nahme auf Art. 109 – ab 2020 eine strukturelle Neuver- entsteht, läuft darauf hinaus, dass wir unseren Kindern schuldung von null erreichen wollen, war nicht die Idee und Enkelkindern Wackersteine in den Rucksack ihres eines Bundesvertreters. Lebens packen, mit dem sie über die Hürden kommen müssen, und das bei einer demografischen Entwicklung, (Dr. Peter Struck [SPD]: So ist es!) die Produktivität und Innovationsfähigkeit dieser Gesell- schaft zu zentralen Themen macht. Vor diesem Hinter- Darauf lege ich gesteigerten Wert. Bei jedweder Kritik: grund wäre ein klares Bekenntnis zu einem disziplinier- Das war nicht die Idee eines Vertreters des Deutschen teren Verhalten nötig. Ich füge hinzu: auch im konkreten Bundestages oder eines Vertreters der Bundesregierung. Fall. Schon jetzt habe ich es wieder mit Begehrlichkeiten mit Blick auf Mehrausgaben zu tun. (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Herr Burgbacher, Sie wollen den Bürgerinnen und Bür- Dies ist von Ländervertretern festgelegt worden. Dafür gern Entlastungsprogramme servieren. Diese Entlas- möchten weder ich noch die Vertreter des Deutschen tungsprogramme würden aber darauf hinauslaufen, dass Bundestages geprügelt werden. die Einnahmebasis der öffentlichen Gebietskörperschaf- ten schwer erschüttert wird. Ich glaube nicht, dass Sie, (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) wenn Sie je in die Verlegenheit kämen zu regieren, in Zweitens. Es klingt hoffentlich nicht eitel: Die Tatsa- diesen Dimensionen Steuererleichterungen beschließen che, dass sich der Bund an der Schuldentilgung der würden. Länder beteiligt, möchte ich zumindest als bemerkens- Herzlichen Dank. wert im Protokoll stehen haben; denn die Länder beteili- gen sich nicht an der Schuldentilgung des Bundes. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23377

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: einen Finanzausgleich fortschreiben, der die Leistungen (C) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing einzelner Länder zu nahezu 100 Prozent nivelliert, für die FDP-Fraktion. kommt mehr Finanzautonomie kaum in Betracht. Ohne mehr Finanzautonomie muss eine neue Verschuldungs- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) regel an bestimmten Stellen die Gestaltungsspielräume offenhalten, die wir Liberale lieber bei der Einnahme- Dr. Volker Wissing (FDP): seite eröffnet hätten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Herr Minister Steinbrück, Sie nutzen jede Gelegenheit, um der Öffentlichkeit zu erklären, dass eine Korrektur Ihr Argument, man könne den Finanzausgleich nicht Ihrer verfehlten Unternehmensteuerreform nicht mög- neu regeln, weil er bis 2019 festgeschrieben sei, löst sich lich ist. Sie, Herr Kuhn, sagen, es sei absurd, dass die am Ende in Luft auf; denn die neue Verschuldungsregel FDP die Unternehmensteuerreform dringend korrigieren greift erst im Jahr 2020 vollständig. möchte. Sie erklären den Menschen, dass Zinsschranke, Mantelkaufregelung und Funktionsverlagerungen nicht Was heute vorliegt, ist ein Kompromiss. Das Ver- zurückgenommen werden könnten. Ich sage Ihnen: Ge- handlungsergebnis stimmt nicht euphorisch. Wir hätten rade in der Krise müssen diese Regelungen so schnell uns im Kampf gegen die Staatsverschuldung mehr Ent- wie möglich geändert werden. Sie wirken nämlich kri- schlossenheit gewünscht. Gerade die Erfahrungen der senverschärfend. Sie schicken damit Unternehmen in die letzten Jahre haben doch gezeigt, dass wir ohne stren- Insolvenz, und zwar schon in den nächsten Monaten. Die gere Regeln von der Verschuldung nicht wegkommen. Kollegen von der Union wissen das natürlich; sie trauen Welches Ziel hat sich die Große Koalition gesetzt? sich nur nicht, aufzumucken. Wie es gehen soll, bei hö- Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau sollten herer Arbeitslosigkeit den Haushalt zu konsolidieren, bleibende Erfolge der Großen Koalition werden. Was ist das müssen Sie denen erklären, für die Sie die Verant- daraus geworden? In guten Zeiten haben Sie neue Schul- wortung tragen. den gemacht, und in schlechten Zeiten machen Sie noch mehr neue Schulden. Wenn man dieser Koalition später (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einmal ein Zeugnis ausstellt und sie an ihrer Finanz- und der CDU/CSU) Haushaltspolitik misst, wird das Urteil vernichtend aus- fallen. Der Bundesminister der Finanzen ist mit seinen Von den Grünen kommt zur Steuerpolitik wenig Dif- Konsolidierungszielen genauso gescheitert wie sein Vor- ferenziertes. Mit Reden wie der, die Sie gehalten haben, gänger. Herr Kuhn, kann man in der Finanzpolitik nicht sachlich (B) argumentieren. (Beifall bei der FDP) (D) (Beifall bei der FDP – Britta Haßelmann Es war bedauerlich, dass die Kommission sich nicht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber mit auf mehr verständigen konnte als auf das, was heute vor- dem, was die FDP sagt!) liegt. Ich finde es für junge Generationen höchst trau- rig, dass es viele Mitglieder in der Kommission gab, die Ich will auf den Gesetzentwurf eingehen. Mit diesem nicht gegen, sondern mit aller Kraft für neue Schulden Gesetzentwurf ist der ursprüngliche Auftrag der Födera- gekämpft haben. Auch das muss man einmal deutlich sa- lismuskommission II nicht abgearbeitet; das ist hier gen, liebe Kolleginnen und Kollegen. schon mehrfach angeklungen. Mit einem neuen Ver- schuldungsregime sind die Bund-Länder-Finanzbezie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hungen nicht neu geregelt. Dazu hätte man sich den der CDU/CSU) Bund-Länder-Finanzausgleich vornehmen müssen. Aber gerade dieses Thema haben Sie ausgeklammert; Dabei sollte jedem klar sein, dass wir angesichts der de- darüber wollten Sie nicht sprechen. Zugegeben: Der mografischen Entwicklung und der bereits vorhandenen Bund-Länder-Finanzausgleich ist ein dickes Brett. Aber Schuldenberge in die Gestaltungsspielräume künftiger es war gerade der Auftrag dieser Kommission, dicke Generationen ohnehin schon weit eingegriffen haben. Bretter zu bohren. Dass man das kann, haben wir mit Die FDP trägt den Kompromiss vor diesem Hintergrund einem konkreten Vorschlag gezeigt. Wir haben ein Kon- dennoch mit – nicht aus Begeisterung, sondern aus Ver- zept vorgelegt, das sowohl Geber- als auch Nehmerlän- antwortung. Immerhin ist das, was wir damit bekom- dern Anreize geboten hätte. Das wäre eine gute Grund- men, besser – auch wenn Sie das nicht glauben wollen, lage gewesen, eine Neuregelung des Ausgleichssystems Herr Kuhn – als das, was wir heute haben. Ich kann den in Angriff zu nehmen. Grünen und den Linken nur sagen: Wer sich Verbesse- rungen verweigert, verantwortet das Schlechtere. (Beifall bei der FDP – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Wieder eine Chance vertan!) Die FDP wollte mehr. Ein prinzipielles Neuverschul- dungsverbot wäre gerade in der jetzigen Krise ein Mit ihrer Entscheidung, den Finanzausgleich nicht wichtiges Signal gewesen. Es hätte Vertrauen in die anzutasten, hat die Große Koalition eine Verweigerungs- Staatsfinanzen geschaffen, ohne dass die Regierung haltung gegenüber ihrem eigenen Auftrag eingenom- handlungsunfähig geworden wäre; denn wir haben in un- men. Sie hat es abgelehnt, einen Kernauftrag der Födera- serem Gesetzentwurf klargestellt, dass Handeln in Notla- lismuskommission II abzuarbeiten. Das ist schade, weil gen niemals infrage gestellt werden darf. Eine dauer- weitere Lösungsansätze davon abhängen. Solange wir hafte strukturelle Neuverschuldung auf Bundesebene ist 23378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Volker Wissing (A) eine bittere Pille für junge Menschen. Sie ließe sich viel- schuldung weiter voranbringt. Er ist nicht beendet; er (C) leicht ökonomisch rechtfertigen, wenn wir nicht schon muss fortgesetzt werden. Die Aufgaben – Neuregelung über 1,5 Billionen Euro Schulden hätten. des Länderfinanzausgleichs, mehr Finanzautonomie – sind genauso vordringlich und müssen genauso schnell Zu den Errungenschaften des Entwurfs gehört zum ei- in Angriff genommen werden wie eine Reform unseres nen die Nullverschuldung auf Ebene der Länder. Dass Steuersystems, auch wenn die Grünen das nicht verste- sie erst im Jahr 2020 greift, kritisieren Sie von den Grü- hen; denn wir können – da will ich noch einmal an die nen so gerne. Aber angesichts der Lage der Landeshaus- Große Koalition appellieren – die Dinge nicht einfach halte frage ich Sie: Wie wollen Sie diese Verschuldun- laufen lassen. Gerade in der Krise sind finanzpolitische gen innerhalb von ein, zwei Jahren auf null setzen? Die Reformen dringend erforderlich. Wir steuern auf schwie- Verfassungsänderung, die im Ergebnis erzielt werden rige Zeiten zu. Lassen Sie die Menschen nicht allein! sollte, sollte keine Utopie darstellen, sondern tatsächlich Halten Sie das Land reformfähig! umgesetzt werden können. Ich glaube, das ist man, wenn man über eine Verfassungsänderung diskutiert und berät, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Sache schuldig. der CDU/CSU) Eine weitere Errungenschaft ist die Abkehr vom bis- herigen Verschuldungsregime. Die bisherigen Verschul- Präsident Dr. Norbert Lammert: dungsgrenzen, die dauerhaft verletzt wurden, sollen aus Das Wort erhält nun der Ministerpräsident des Landes dem Grundgesetz verschwinden. Das ist ein guter Weg; Baden-Württemberg, Günther Oettinger. denn die Regeln haben grandios versagt. Weder der In- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) vestitionsbegriff noch die Feststellung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts haben sich als Günther H. Oettinger, Ministerpräsident (Baden- Gesetzesbegriffe bewährt. Dass wir diese untauglichen Württemberg): Regelungen loswerden, ist ein Erfolg der Föderalismus- kommission II. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De- batte heute Morgen macht deutlich, wie groß die Span- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nungsbögen, wie groß die Interessengegensätze sind. Es der CDU/CSU) geht dabei um zwei Dinge – nicht mehr und nicht weni- ger –: um Kompetenzen und um Geld. Die Grünen haben einen anderen Weg vorgeschlagen. Sie wollten sich am Begriff Nettoinvestition orientieren, Um Kompetenzen geht es beispielsweise in der Bil- im Grunde aber den Investitionsbegriff weiter ausdeh- dung. Einerseits spricht der Arbeitsmarkt und die damit nen. Sie haben argumentiert, man müsse auch alle Bil- verbundene Mobilität der Menschen für eine bundes- (B) (D) dungsinvestitionen mit neuen Schulden finanzieren weite Regelung mancher Bildungsfragen – das gestehe können. Für dieses Vorhaben gibt es aber nur scheinbar ich zu –, andererseits waren Kultur und Bildung in logische Argumente. Sie haben gesagt, dass man Inves- Deutschland aus guten Gründen immer Ländersache. titionen nicht nur in Beton, sondern auch in Bildung fi- Außerdem werden – ebenfalls aus guten Gründen – die nanzieren müsse. Natürlich brauchen wir mehr Bil- Autonomie der Schule vor Ort und mehr Kompetenzen dungsinvestitionen; das will niemand infrage stellen. für die Träger freier und kommunaler Schulen gefordert. Aber was haben denn junge Generationen davon, wenn Das ist der eine Spannungsbogen. Manchem, der in den Sie ihnen die Bildung mit neuen Schulden finanzieren Deutschen Bundestag kommt und glaubt, er könne hier und die Schuldenberge ihnen dann später die Chance auf Bildungspolitik machen, muss man sagen, dass er ei- einen Arbeitsplatz nehmen? So kann man zukunftsfä- gentlich im falschen Parlament ist. hige, nachhaltige Politik nicht machen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ein weiterer großer Spannungsbogen betrifft das der CDU/CSU) Geld. Es wird behauptet – so auch vom Kollegen Gysi –, Die FDP hat die Kommissionsarbeit von Anfang an es gebe reiche Länder. Dabei hat beispielsweise Baden- konstruktiv begleitet. Wir haben den Auftrag sehr ernst Württemberg 42 Milliarden Euro Schulden und muss genommen. Es war ein großer Auftrag. Ich möchte noch 2 Milliarden Euro Zinsen pro Jahr, worin noch keine Til- einmal betonen, dass wir den gesamten Auftrag erledi- gung enthalten ist, zahlen. Das heißt, reich sind wir gen wollten. Wir haben dazu konkrete Vorschläge ge- nicht. Wir sind nur nicht so stark verschuldet wie der macht, bis hin zu einem ausformulierten Gesetzentwurf, Rest der Republik. der im Weiteren dann aber leider nicht als Beratungs- (Beifall bei der CDU/CSU – Heinz-Peter grundlage diente. Dass am Ende nicht mehr möglich Haustein [FDP]: Sachsen auch!) war, ist eine vertane Chance. Bei aller Kritik bleibt aber die Feststellung, dass wir mit diesem Gesetzentwurf an „Reich“ ist also ein relativer Begriff. entscheidender Stelle etwas verbessern. Deshalb haben Es gibt Länder, die in den Länderfinanzausgleich wir dem Kompromiss in der Kommission zugestimmt. einzahlen und behaupten, sie würden viel zu viel zahlen Wir haben damit kein Endergebnis im Hinblick auf – dazu gehört mein Land –, und Länder, die wie Bremen das Problem, sondern ein Zwischenergebnis. Die Arbeit und das Saarland sagen, sie würden nicht ausreichend muss fortgesetzt werden. Ich wünsche uns, dass uns die- Geld für die Erfüllung ihrer Aufgaben erhalten. Dieser ses Zwischenergebnis auf dem Weg gegen die Staatsver- Spannungsbogen wurde heute Morgen bei den fünf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23379

Ministerpräsident Günther H. Oettinger (Baden-Württemberg) (A) Fraktionen dieses Hohen Hauses sichtbar. In der Kom- Stimmen Sie mit mir überein, dass die Regelungen, die (C) mission trat er aber noch weit stärker zutage; denn dort wir jetzt verabschieden, bedeuten, dass die armen Län- kamen die armen und die weniger armen Länder, die der dann keinerlei Chance mehr haben, ihre Haushalts- neuen Länder und die alten Länder, die kleinen Länder hoheit und -autonomie wahrzunehmen? und die großen Länder sowie die Stadtstaaten und die Flächenländer hinzu. Der Gegensatz von Metropole und Günther H. Oettinger, Ministerpräsident (Baden- ländlichem Raum wurde dabei noch gar nicht erwähnt. Württemberg): Herr Kollege, da für die Gemeinschaftsteuern und für Präsident Dr. Norbert Lammert: die Steuereinnahmen, die allein den Ländern zustehen, Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischen- die Bundesgesetzgebung verantwortlich ist und damit frage des Kollegen Troost? eine Zustimmungspflicht des Bundesrates besteht, und da die Geberländer in der Minderheit sind und die Neh- Günther H. Oettinger, Ministerpräsident (Baden- merländer die Mehrheit stellen, können Sie davon ausge- Württemberg): hen, dass die Länderinteressen, also auch die Interessen Ja, gerne. von Bremen und des Saarlandes, mehr als ausreichend durch die Mehrheit im Bundesrat gewahrt werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bitte schön. Zurück zum Thema „Spannungsbogen und Interes- sengegensatz“. Es gab in der Kommission Kollegen, die Dr. Axel Troost (DIE LINKE): für ein generelles Schuldenverbot gekämpft haben und Herr Kollege Oettinger, wir waren uns in der Kom- keine Ausnahmen zulassen wollten. Es gab Kollegen, mission einig, dass die Staatsverschuldung in diesem die für ein grundloses Schuldenrecht gekämpft haben. Jahrtausend in erster Linie nicht aus Ausgabenzuwäch- Vor dem Hintergrund dieses Spannungsbogens hat die sen, sondern aus Einnahmeeinbrüchen resultiert. Kommission, wenn man unter Politik das Machbare und (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Was?) Mögliche versteht, nicht weniger und nicht mehr er- reicht. Sie hatten damals an die Mitglieder der Kommission ap- pelliert, nicht mit Steuersenkungsversprechen in den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bundestagswahlkampf zu gehen. Ich bin dankbar, dass eine klare Mehrheit der Kom- (B) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Warum mission, bestehend aus Mitgliedern dieses Hohen Hau- (D) nehmen Sie die Einigkeit in der Kommission ses und des Bundesrats, diese Gesamtkonzeption mit in Anspruch?) 27 Jastimmen bei nur 3 Gegenstimmen und 2 Enthaltun- gen empfiehlt. Mein Rat geht dahin: Da das Ganze ein Nun besteht aber die Gefahr, dass genau dieses passieren sensibles Gebäude ist, rütteln wir nicht an einzelnen wird, sei es seitens der FDP, sei es seitens der CSU oder Säulen. Am besten wäre es, es würde im Bundestag und anderer. im Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit so verabschiedet, Weil Sie von armen und reichen Ländern sprachen wie es jetzt vorgelegt wurde. Dann hätten wir im Rah- und vorhin das, was mein Kollege Gysi gesagt hat, als men der Möglichkeiten und der Interessengegensätze für absurd abgetan haben, möchte ich Sie fragen. die Sache und für unsere Kinder viel erreicht. (Zurufe von der CDU/CSU) Machen wir uns nichts vor: Damit wird ein Zeiten- wechsel verbunden sein. Die letzten 40 Jahre waren von – Können Sie vielleicht einmal zuhören? jährlichen staatlichen Schulden geprägt. Unsere Großel- tern haben Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der – damals waren die Brücken zerstört, die Straßen zer- CDU/CSU – Weitere Zurufe von der CDU/ bombt und die Häuser kaputt – ohne Schulden und mit CSU) Hand- und Kopfarbeit aufgebaut. Erst in den letzten – Können Sie zuhören und dann nachdenken? 40 Jahren verging kein Jahr, in dem nicht jährlich aus, einzeln betrachtet, guten Gründen Schulden vom Bund ( [CDU/CSU]: Sie wollen doch und von den Ländern und Gemeinden gemacht worden Herrn Oettinger fragen! Dann reden Sie mit sind. Es sind derzeit insgesamt 1 500 Milliarden Euro. In ihm!) diesem und im nächsten Jahr kommen mit Sicherheit Gehen wir einmal von der Situation aus, dass der und begründbar nochmals 200 Milliarden Euro hinzu. Bundestag eine Steuersenkung beschließt und anschlie- Deswegen ist es richtig, dass man sich gerade in der ßend im Bundesrat die reichen Länder diese Steuersen- Krise, in der Rezession für eine grundsätzliche Schul- kung gegen die Stimmen beispielsweise von Berlin und denregel ausspricht. In Zukunft ist in normalen Haus- Bremen bestätigen. haltsjahren auf Bundesebene nur noch eine Schuldenauf- nahme von maximal 9 Milliarden Euro Schulden (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wo ist möglich, und in den Ländern soll im Regelfall keine die Frage?) Aufnahme von Schulden mehr notwendig sein. 23380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich traue Landesregierungen und Landesparlamenten zu, (C) Herr Ministerpräsident, es gibt zwei weitere Wünsche dass sie ihre Aufgabe ordentlich erfüllen und der An- nach Zwischenfragen. spruch auf eine gute Bildung von Kiel bis nach Konstanz und von Karlsruhe bis nach Potsdam auch durch Länder (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nummern und Kommunen hervorragend erfüllbar ist. ziehen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zunächst möchte der Kollege Wieland eine Zwischen- neten der SPD) frage stellen, wenn Sie damit einverstanden sind. Betrachten wir die Schuldenregel einmal im Einzel- Günther H. Oettinger, Ministerpräsident (Baden- nen: Ich glaube, wir haben einen guten Mittelweg ge- Württemberg): wählt. Im Normalfall ist keine Schuldenaufnahme mög- Gerne. lich. Ausnahmen sind aber im Haushaltsvollzug bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituatio- nen wie in diesem und im nächsten Jahr möglich. Ganz Präsident Dr. Norbert Lammert: entscheidend ist für mich, dass in das Grundgesetz eine Bitte schön. Tilgungspflicht aufgenommen wird. Das heißt, ab sofort darf die Tilgung von Schulden nicht mehr auf den Sankt- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nimmerleins-Tag verschoben oder dürfen neue Schul- Herr Ministerpräsident, ich kam nicht gleich an die den nicht mehr aufaddiert werden. Wer jetzt neue Schul- Reihe. Über einen Ihrer Sätze musste ich auch lange den macht, muss seinem Parlament und der Öffentlich- nachdenken. keit mittels eines Tilgungsplans aufzeigen, wie er sie in (Zurufe von der CDU/CSU) wenigen Folgejahren konjunkturgerecht wieder ausglei- chen kann. – Das musste auf mich wirken. Das kann ja nicht scha- den. – Sie sagten, wer Bildungspolitik machen wolle, (Beifall bei der CDU/CSU) habe sich mit dem Bundestag das falsche Parlament aus- gesucht. Würden Sie auch sagen, dass sich jemand, der Präsident Dr. Norbert Lammert: Bildungspolitik machen will, mit der Bundesregierung Herr Ministerpräsident, Ihre Äußerungen haben eine die falsche Regierung ausgesucht hat – wie Ihre Kollegin so anregende Wirkung auf Kolleginnen und Kollegen al- Frau Schavan, die, wie ich weiß, aus Baden-Württem- ler Fraktionen, dass sich die Wünsche nach weiteren berg stammt? Wie soll es denn funktionieren, dass wir Zwischenfragen mit einer bemerkenswerten Dynamik eine Bildungsministerin haben, ohne dass sich der Bun- entwickeln. (B) (D) destag mit Bildungspolitik befasst? (Heiterkeit) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Möchten Sie die Zwischenfrage der Kollegin Höll DIE GRÜNEN) und eventuell auch die des Kollegen Gysi beantworten?

Günther H. Oettinger, Ministerpräsident (Baden- (Joachim Poß [SPD]: Gysi hat vorhin doch Württemberg): schon so viel Unsinn erzählt!) Herr Kollege, Sie wissen genau, für welche Kompe- tenzen in Forschung und Bildung die Bundesregierung Günther H. Oettinger, Ministerpräsident (Baden- verantwortlich ist – für den Regelfall in der Schule, für Württemberg): den Schulalltag nicht. Darum ging es mir. Ja. Übrigens sind die erweiterten Finanzhilfen auch im Rahmen der Kompetenzfrage wichtig. Wir glauben, dass Präsident Dr. Norbert Lammert: in der heutigen Zeit der Einfluss des Bundes über den Frau Höll. Graubereich der energetischen Gebäudesanierung nicht (Volker Kauder [CDU/CSU]: Fragestunde!) mehr sinnvoll ist. Deswegen stimmen wir einer Erweite- rung des Art. 104 b des Grundgesetzes ausdrücklich zu, Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): wollen aber, dass der Bund Finanzhilfen für das Schul- Herr Ministerpräsident, wenn ich heute Abend in gebäude, nicht aber für die Festlegung von Inhalten in Leipzig im Hauptbahnhof aus dem Zug steigen werde, den Schulen zur Verfügung stellt. grüßt mich Ihr Bundesland mit einer großen Werbung: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kommen Sie nach Baden-Württemberg! Werden Sie neten der SPD) Lehrer bei uns! So viel zum Thema „reichere und ärmere Länder“. Sie haben immerhin noch so viel Geld, dass Sie Herr Kollege Gysi, Sie sagen, dass alle Kinder einen Lehrer aus Sachsen abwerben können. Anspruch auf eine gute Bildung haben sollten. Dies teile ich. Aber die Arroganz, dass dies nur der Bund durchset- (Beifall des Abg. Thomas Bareiß [CDU/CSU]) zen könne, teile ich nicht. Ich traue Landesregierungen Ich will Sie etwas fragen, was ich nicht ganz verstehe: – sogar der in Berlin, an der Ihre Partei beteiligt ist – das In den letzten Jahrzehnten haben die Parteien CDU, zu. CSU und SPD in der Bundesrepublik Deutschland die (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Regierungsverantwortung getragen. Diese Parteien wa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23381

Dr. Barbara Höll (A) ren immer frei, keine Schulden zu machen. Sie haben Saarland nicht mehr handlungsfähig wären, fiele dieses (C) eine Steuersenkungspolitik gemacht: Senkung des Spit- Problem zuallererst dem Bund zu. Deswegen halte ich zensteuersatzes, Erbschaftsteuer entsprechend geregelt, die gesamtstaatliche Hilfe für das Saarland, Bremen, die Vermögensteuer ausgesetzt etc. pp. Jetzt wollen Sie Sachsen-Anhalt und Berlin eine Schuldenbremse verankern. In Ihrem Handeln wa- ren Sie doch bisher immer frei, keine Schulden zu ma- (Volker Kröning [SPD]: Schleswig-Holstein!) chen. – und Schleswig-Holstein – für richtig und wegweisend. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Frage!) Ich glaube, dass damit ein sinnvoller Anreiz für konse- quente Haushaltspolitik in diesen Ländern gegeben wird. Präsident Dr. Norbert Lammert: Eine große Bedeutung messe ich dem Stabilitätsrat Frau Kollegin, es wäre schön, wenn Sie tatsächlich bei, der aus dem Bundesfinanzminister, dem Bundes- eine Frage stellen würden. wirtschaftsminister und den 16 Finanzministern der Län- der besteht. Ich bin davon überzeugt, dass unsere – rich- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): tigen – Regeln wirken werden, wenn sie durch den Ich komme jetzt zum Abschluss meiner Frage. – Stabilitätsrat ins öffentliche Bewusstsein getragen wer- Brauchen wir eine Schuldenbremse? Wozu brauchen Sie den. Er wird aufgrund seiner Kompetenz frühzeitig mah- die, wenn nicht nur, um sagen zu können: Wir müssen nende Worte finden und dem Bund und den Ländern in weitere Sozialkürzungen vornehmen, das gebietet uns den nächsten Jahren Vorschläge machen. Dem Stabili- das Grundgesetz? Machen Sie eine Steuersenkungs- tätsrat messe ich von daher eine große Bedeutung bei. grenze, dass die Staatseinnahmen wirklich bleiben! Sa- (Volker Kröning [SPD]: Ich auch!) gen Sie einmal, was Sie davon halten! Es wurde gefragt, warum das Ganze erst 2020 in Günther H. Oettinger, Ministerpräsident (Baden- Kraft treten soll. Aus drei Gründen ist es notwendig, in- Württemberg): nerhalb weniger Jahre eine grundlegende Neuordnung Frau Kollegin, das Grundgesetz regelt das Wesentli- der öffentlichen Finanzen vorzunehmen: che, mit Geboten, mit Verboten, mit Werten und Rech- Erstens. Der Aufbau Ost in seiner zweiten Stufe, aus ten. Ich finde, wenn das Grundgesetz das wesentliche dem Soli finanziert, wird Ende 2019 stufenweise auf null Recht Deutschlands abbilden soll, dann sollte dort auch auslaufen. Spätestens dann sind die neuen Länder in das eine Aussage zum Thema „grundsätzliches Schuldenver- allgemeine Finanzsystem zu integrieren. bot für künftige Haushaltsberatungen zugunsten unserer (B) Kinder und Enkelkinder“ stehen. Zweitens. Der Länderfinanzausgleich, der vor sieben (D) Jahren vereinbart wurde, seit vier Jahren in Kraft ist und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der während seiner Laufzeit kaum kündbar ist, wird als Zeit- FDP) gesetz Ende 2019 auslaufen. Zum ersten Teil Ihrer Frage: Mit dem Freistaat Sach- sen haben wir seit wenigen Tagen eine faire Vereinba- Drittens. Spätestens dann werden – so lautet die Auf- rung. Wir wollen in Ihrem Land junge Lehrerinnen und lage – neben dem Bund auch alle Länder ihre Haushalte Lehrer werben, die in Ihrem Land studieren, dort aber im Regelfall ohne Schulden finanzieren. gar nicht gebraucht werden. Da bei Ihnen die Kinderzahl Wir haben, wie ich denke, eine richtige Übergangszeit zurückgeht, bei uns aber nicht, haben wir eine Vereinba- gefunden, weil in der Mitte des nächsten Jahrzehnts im rung, dass in den nächsten drei Jahren Lehrer aus Ihrem Deutschen Bundestag und in den Ländern über eine Land bei uns eine Chance und damit Arbeit bekommen. grundlegende Neuordnung der Finanzierung öffentlicher Trotzdem wird Bildung bei Ihnen möglich sein. Aufgaben sowie der Finanzströme zwischen Bund und (Kurt Segner [CDU/CSU]: Sehr vernünftig!) Ländern und zwischen Ländern zu beraten sein wird. Ich glaube, das ist eine faire Partnerschaft im Interesse Mein Dank gilt den Kollegen, die in der Mehrzahl der Lehrer und Kinder von Sachsen und Baden- konstruktiv mitgearbeitet haben. Ich nenne die Kollegen Württemberg. aus dem Deutschen Bundestag und die Vertreter der Bundesregierung, die Kollegen aus den Ländern und aus (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie dem Bundesrat, die Kollegen aus den Landtagen und den des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Kommunen sowie in besonderem Maße den Kollegen Wenn ich neben der Schuldenregel das Thema Kon- Dr. Struck, der menschlich angenehm, kompetent und solidierungshilfe ansprechen darf: Wir danken dem fair mit mir die Verhandlungen geführt hat. Bund dafür, dass er bereit ist, die Hälfte der neunmal (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 800 Millionen Euro Hilfe zu finanzieren. Unstrittig ist, dass der Bund strukturell mit Zinsen und Altschulden Nochmals: Wer mit parlamentarischen Zweidrittel- stärker belastet ist als die Ländergemeinschaft ins- mehrheiten in Bundestag und Bundesrat dieses Gebäude gesamt. Unstrittig ist aber auch, dass der Bund eher aufbauen will – ich behaupte: ein größeres Gebäude ist handlungsfähig ist, weil er die Steuerentwicklung stärker nicht erreichbar und wird nach der Bundestagswahl noch prägen kann. Er muss ein starkes Interesse an handlungs- viel schwieriger zu erreichen sein –, dem empfehle ich, fähigen Ländern haben; denn wenn Bremen oder das das Zeitfenster zu nutzen und bis Juli in Bundestag und 23382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Ministerpräsident Günther H. Oettinger (Baden-Württemberg) (A) Bundesrat das Gesamtkonzept unserer Kommission zu Selbstverwaltungsgarantie für die Kommunen ist nur (C) beschließen. dann gegeben, wenn klar ist, dass auch die Finanzaus- stattung stimmt. Sie weichen hier völlig aus. Dem Herzlichen Dank. Thema der Finanzausstattung der Kommunen hat in den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Verhandlungen der Föderalismuskommission niemand des Abg. Heinz-Peter Haustein [FDP]) außer den Grünen Relevanz beigemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Peter Struck [SPD]: Waren Sie dabei?) Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. – Dies sollten Sie einmal vor Ort in Ihrem Wahlkreis er- klären, Herr Struck. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Joachim Poß [SPD]: Sie kennen nicht einmal die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wesentlichen Verfassungsbestimmungen!) Lassen Sie mich zwei Vorbemerkungen machen: Herr Ministerpräsident Oettinger, wir haben Ihre Worte sehr – Schreien Sie doch noch lauter, Herr Poß, oder stellen genau gehört und Ihre Einlassung zur Bildungspolitik Sie mir eine Zwischenfrage. registriert. Ich hoffe, dass Sie dann, wenn es um Geldbe- ziehungen und darum geht, dass der Bund den Ländern (Joachim Poß [SPD]: Damit Sie noch mehr Geld für die Bildung geben soll, auch die gleiche Ein- Unsinn erzählen?) stellung einnehmen, wie Sie es hier gerade bei der Ab- Wo sind denn Ihre Vorschläge für eine Altschulden- grenzung der Kompetenzen getan haben. Ich sehe, dass hilfe für Gelsenkirchen, für Oberhausen, für Hagen? Von die Länder beim Hochschulpakt die Hand aufhalten, um Ihnen kommt nichts außer die Ablehnung unserer Vor- Geld vom Bund zu bekommen, gleichzeitig aber immer schläge, eine Altschuldenhilfe auch für die Kommunen wieder großen Wert darauf legen, dass Bildungsangele- einzuführen. Das geht so nicht. genheiten alleine in ihrer Kompetenz lägen. Hier passt etwas nicht zusammen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es 107 Kommu- Zweite Vorbemerkung: Liebe Kolleginnen und Kolle- nen, die sich in einer dramatischen Finanzsituation be- gen der FDP, Sie sollten heute nicht über die Frage urtei- finden. Das ist auch in anderen Bundesländern so; ich denke an Ostdeutschland, oder auch in Niedersachsen (B) len, ob hier beim Thema Schuldenbremse, Schuldenab- (D) bau und Schuldenregulierung die richtige Entscheidung gibt es hoch belastete Kommunen. Die Schere zwischen getroffen wird, wenn wir für oder gegen diese Vor- armen und reichen Kommunen geht immer weiter aus- schläge stimmen. einander. Die Vorschläge, die hier auf den Tisch gehört hätten, zum Beispiel den Vorschlag einer Altschulden- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben doch hilfe für Kommunen, die beim Solidarpakt und bei der selbst kein Konzept vorgelegt!) Finanzierung der Einheit auch Verantwortung übernom- men haben, haben Sie einfach ausgeblendet. Das ist auch Sie haben sich in dieser Frage verabschiedet, seitdem Sie in Ihren Reden deutlich geworden. Das muss man den Ihr Bundestagswahlprogramm vorgelegt haben und in Leuten vor Ort erzählen. Das geht so nicht. Sie gleiten einer Situation zu Steuersenkungen von 35 Milliarden einfach unten durch. Euro aufrufen, in der das Land in einer massiven Krise steckt. Seien Sie da also lieber ein bisschen ruhiger. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich will noch ganz kurz auf etwas hinweisen: Was Heinz-Peter Haustein [FDP]: Sie begreifen es passiert denn in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen nicht! Das ist das Problem!) oder in Sachsen, wenn im Jahr 2020 die Verschuldung Meine Damen und Herren, bemerkenswert ist, dass in der Länderhaushalte auf null sein soll? Glauben Sie dieser Debatte ein einziger Redner die Kommunen an- nicht, dass der Konsolidierungsdruck dort einfach nach gesprochen hat. Das war mein Kollege Fritz Kuhn. unten an die Kommunen weitergegeben wird, wenn Sie nicht gleichzeitig sagen, wie die finanzielle Ausstattung (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Burgbacher der Kommunen dauerhaft garantiert werden soll? Hier auch! – Zurufe von der CDU/CSU und der haben Sie gekniffen; Sie haben das Problem einfach aus- SPD) geblendet und ausgesessen. Sie glauben, dass es vor Ort Wir reden hier über die Föderalismusreform, und bei Ih- keiner merkt. Wir werden dafür sorgen, dass die Themen nen spielt das Thema Kommunen überhaupt keine Rolle. kommunale Finanzen und Mindestfinanzausstattung und Jetzt kommen Sie mir nicht mit dem Argument, die eine richtige Bewertung der Ergebnisse dieser Föderalis- Kommunen seien eine von den Ländern abgeleitete muskommission, die die Kommunen nicht berücksichti- Ebene. Ich wäre froh, wenn Sie dieses Argument dann gen, vor Ort ankommen und wahrgenommen werden. auch einmal in Ihren Wahlkreisen benutzten, wo Sie Vielen Dank. sonst immer verkünden, wie wichtig die Kommunen und deren Selbstverwaltungsgarantie seien. Eine vernünftige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23383

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Joachim Poß [SPD]: So ist es! – Britta (C) Das Wort hat nun der Finanzminister von Rheinland- Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfalz, Herr Professor Deubel. Ich fände es gut, wenn Sie das vor Ort vertre- ten würden!) Dr. Ingolf Deubel, Staatsminister (Rheinland-Pfalz): – Ja, natürlich. Ich vertrete das jederzeit offensiv; das ist Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die die Verfassungslage in Deutschland. Föderalismusreform II wird vor allem daran gemessen werden, ob sich das Ziel einer dauerhaften Verringerung Der eigentliche Vorteil der neuen Schuldenregel für der Defizite in den öffentlichen Haushalten tatsächlich Bund und Länder liegt aus meiner Sicht allerdings in ei- erreichen lässt. Dabei steht in der öffentlichen Wahrneh- nem anderen Punkt. Mit der neuen Regel wird es mög- mung zumeist die Begrenzung der Neuverschuldung lich, zwischen der strukturellen Verfassung der öffentli- – genauer gesagt: der strukturellen Neuverschuldung – chen Haushalte und vorübergehenden Effekten, etwa im Vordergrund. Die neue Regel wird in dieser Hinsicht der konjunkturellen Entwicklung oder Sondersituatio- wesentlich strenger sein als das geltende Recht. Sie wird nen, zu unterscheiden. Zu diesem Zweck wird es ein aber vor allem auch in sich stimmiger sein. Denn das an Konjunkturbereinigungsverfahren geben. Dies klingt sich gut nachvollziehbare Prinzip einer Kreditaufnahme technischer, als es ist. In Wahrheit wird es die Finanz- bis zur Höhe der Investitionsausgaben ist vor allem beim politik hierzulande grundlegend verändern. Bund und bei den Ländern mit schwer lösbaren Proble- Erstens werden künftig die Auswirkungen für die öf- men verbunden. fentlichen Haushalte im Konjunkturabschwung direkt Was genau sind die Investitionen in die Zukunft eines erkennbar und messbar sein, und damit auch der zusätz- Landes? Zählen wirklich nur die Schulgebäude dazu liche Kreditbedarf in schlechten Zeiten, weil ein Hinter- oder auch die Ausgaben für das Lehrpersonal? Warum hersparen im Abschwung die Krise nur verschärft. Es wird der Verkauf öffentlichen Vermögens nicht gegenge- gibt keinen seriösen Ökonomen, der diesem Grundsatz rechnet? Wie hoch sind die Abschreibungen auf den öf- widerspricht. fentlichen Kapitalstock? Zählt das Humankapital zum Zweitens wird aber auch deutlich, dass die zusätz- Kapitalstock? Wird Vorsorge für Pensionsverpflichtun- lichen Steuereinnahmen im Aufschwung wirklich nur gen geschaffen? All diese Probleme gibt es bei der neuen vorübergehend sind und deswegen insbesondere für dau- Schuldenregel nicht, weil sich die Grenze pauschal auf erhafte Steuersenkungen nicht zur Verfügung stehen. die aktuelle Wirtschaftskraft bezieht. Dies gilt richtiger- Bislang war das anders. Denn die Ausnahmeregelung weise jedoch nur für den Bundeshaushalt und die Län- des Art. 115 des Grundgesetzes wurde, entgegen der derhaushalte. (B) Idee von Keynes, einseitig genutzt: Im Abschwung wur- (D) Bei den Kommunen, die nach wie vor rund den zusätzliche Kredite zugelassen, was ökonomisch 60 Prozent der öffentlichen Investitionen verantworten, sinnvoll ist. Im Aufschwung wurden Mehreinnahmen kann es beim bisherigen Haushaltsrecht bleiben; denn aber regelmäßig für Steuersenkungen verwendet, mit das Haushaltsrecht ist Ländersache. dem Resultat, dass sich die Staatsverschuldung über den Konjunkturzyklus hinweg stetig erhöhte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Peter Struck [SPD]: Genau!) Das heißt, eine Neuverschuldung bis zur Höhe der je- weiligen Nettoinvestition ist grundsätzlich zulässig. Das und der Staat an Handlungsfähigkeit und an Spielraum ist das geltende Haushaltsrecht der Kommunen. Die für eine gestaltende Finanzpolitik verlor. Neuverschuldung muss allerdings in Übereinstimmung (Volker Kröning [SPD]: Immer mehr!) mit der dauerhaften Leistungsfähigkeit der Kommunen stehen. Die öffentlichen Haushalte sind in der Vergangenheit nämlich vor allem in guten Zeiten ruiniert worden. In der Debatte ist von den Grünen eine Altschulden- hilfe für die Kommunen vorgeschlagen worden. Dazu Das wird mit der Einhaltung der neuen Schuldenregel mache ich zwei klare Anmerkungen. in Zukunft nicht mehr möglich sein. Ich sage das sehr deutlich und vor allem an diejenigen gerichtet, die unter Erstes. Es wäre unmittelbar verfassungswidrig. Verweis auf kommende Aufschwungzeiten schon heute (Joachim Poß [SPD]: So ist es! – Widerspruch wieder massive Steuerentlastungen versprechen. Es wa- der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ ren im Übrigen genau die gleichen Mitglieder der Kom- DIE GRÜNEN]) mission, die in den Beratungen ohne Unterlass eine noch striktere Schuldenregel gefordert haben. Der Bund hat hier keinerlei Zuständigkeit. (Frank Schäffler [FDP]: Ihre Partei will ja sogar in Zweitens. Sie würden die Länder aus ihrer Verantwor- Abschwungzeiten die Steuern erhöhen!) tung entlassen, Die Widersprüchlichkeit dieser Argumentation wird (Beifall bei der SPD) durch die neue Schuldenregel nun auch dem Letzten deutlich vor Augen geführt. innerhalb des Landes über den kommunalen Finanzaus- gleich einen entsprechenden Ausgleich herbeizuführen. Die neue Schuldenregel macht eines deutlich: Neue Das geht den Bund schlicht nichts an. massive Steuersenkungen werden in Deutschland bis 23384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr.Staatsminister Ingolf Deubel, Dr. IngolfStaatsm Deubelinister (Rheinland-Pfalz) (Rheinland-Pfalz) (A) auf Weiteres ausgeschlossen sein; denn sie wären gleich- Bei der geplanten neuen Schuldenregel handelt es (C) bedeutend mit einem vorsätzlichen Verfassungsbruch. sich um eine vernünftige, verlässliche und verantwor- Dies gilt im Übrigen auch deswegen, weil es in vielen tungsvolle Grenze, die den Interessen von heutigen und öffentlichen Haushalten heute noch ein Defizit gibt, das künftigen Generationen gleichermaßen Rechnung trägt. mit der neuen Schuldenregel nicht vereinbar ist. Ich sage Die neue Regel legt die strukturelle Haushaltslage offen dies nicht zuletzt mit Blick auf den Bundeshaushalt, auf und wird damit verhindern, dass es wie bisher zu einer den bis zum Jahre 2016 erhebliche und in den Gesetzent- Erosion der Finanzierungsgrundlagen des Staates in kon- würfen auch ausdrücklich genannte Konsolidierungs- junkturell guten Zeiten kommt. In Notsituationen wie schritte zukommen werden. derzeit wird der Staat weiterhin auch kurzfristig und in vollem Umfang handlungsfähig sein. (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Es gibt gute Gründe, dieses sinnvolle Vorhaben zu un- Die Einbeziehung der Länderhaushalte in die neue terstützen. Schuldenregel ist vor diesem Hintergrund richtig. Sie ist für die Länder auch leistbar, und zwar gerade deshalb, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. weil für Bund und Länder dann gemeinsam die Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten pflichtung besteht, auf steuerpolitische Experimente zu der CDU/CSU) verzichten. (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Vizepräsidentin : Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für Die neue Regel wird deshalb zumindest für die nächsten die CDU/CSU-Fraktion. sieben bis zehn Jahre wie eine Steuersenkungsbremse wirken. So lange wird es nämlich dauern, bis die struktu- (Beifall bei der CDU/CSU) rellen Defizite beim Bund und bei allen Ländern abge- baut sein können. Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Volker Kröning [SPD]: Sehr richtig! – Fritz Als im Dezember 2006 die Föderalismuskommission II Rudolf Körper [SPD]: Genau! Diesen Zusam- hier eingesetzt wurde, waren die Reden einerseits von menhang muss man immer wieder erklären!) der Entschlossenheit geprägt, etwas für die Stabilität und Dieser Weg wird zwischen 2011 – in diesem Jahr gegen den Schuldenstaat zu unternehmen, und anderer- muss mit dem Abbau der strukturellen Defizite gestar- seits auch von der Skepsis – ich habe das noch einmal nachgelesen; Herr Struck hat von einer Herkulesaufgabe (B) tet werden, und es darf nicht länger gewartet werden (D) – und 2020 – in diesem Jahr muss der Abbau der struktu- gesprochen –, rellen Defizite abgeschlossen sein – sehr steinig werden. (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) Einige Länder, die in einer besonders schwierigen Haus- haltssituation sind, werden diese Herausforderung nur ob wir etwas schaffen und zustande bringen würden. aufgrund der solidarischen Hilfe von Bund und Ländern Lieber Herr Ministerpräsident und lieber Herr Kollege – sie hat in den nächsten neun Jahren einen Umfang von Struck, unter diesen Aspekten muss ich sagen: Herzli- 7,2 Milliarden Euro – bewältigen können. chen Glückwunsch. Ich glaube, es ist etwas Hervorra- gendes gelungen, was viele damals, im Dezember 2006, Ich bin ziemlich sicher, dass es verfassungsrechtlich nicht vorhergesagt hätten. zulässig ist, für die Kreditaufnahme von Bund und Län- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dern gleichermaßen geltende Prinzipien im Grundgesetz zu verankern. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung Wir haben drei Themenkomplexe, die heute schon an- aller Beteiligten für die gesamtstaatliche Verschuldung. gesprochen wurden: Der Vertrag von Maastricht legt das bereits heute fest. Das bündische Prinzip, das solidarische Einstehen für- Erstens geht es um die Frage, wie wir für die Länder einander in Notlagen, verlangt im Gegenzug, dass sich und den Bund die Möglichkeit neu regeln, Kredite auf- alle Beteiligten an gemeinsam verabredete Regeln hal- zunehmen; Stichwort: Schluss mit der Schuldenmache- ten. rei. Zweitens stellt sich die Frage, wie wir im Übrigen Bei der Umsetzung der neuen Schuldenregel haben auch dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach- die Länder zudem einen erheblichen eigenen Gestal- kommen können, ein Frühwarnsystem für schwierige tungsspielraum, vor allem was den Umgang mit Haushaltslagen in bestimmten Bereichen – zum Beispiel konjunkturellen Schwankungen und mit Ausnahmesitua- der Länder – einzurichten. tionen betrifft. Gerade mit Blick auf die Konjunktur- komponente stellt sich die Aufgabe wahrscheinlich so- (Volker Kröning [SPD]: Ganz wichtig!) gar leichter dar als beim Bund, weil die Länderhaushalte Ein Stabilitätspakt wurde eingerichtet, mit dem auch von der Wirtschaftsentwicklung praktisch ausschließlich symbolisiert wird, wie wichtig die Stabilität der öffentli- auf der Einnahmeseite betroffen sind. Vorschläge für ein chen Haushalte in diesem Land ist. solches System – ich nenne als Stichwort das bewährte Konzept des rheinland-pfälzischen Stabilisierungsfonds – Der dritte wichtige Komplex, den wir angegangen liegen seit geraumer Zeit auf dem Tisch. sind, war die leichtere Zusammenarbeit von Bund und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23385

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Ländern und der Länder untereinander in verschiedenen sungswidrig ist. Wir gehen aber davon aus, dass es bei (C) Bereichen – auch in neuen Bereichen, die sich ergeben. dem Prinzip „Einnahmen gleich Ausgaben“ bleibt. Vor 60 Jahren, als das Grundgesetz geschrieben wurde, kannte man noch nicht die IT-Netze und die modernen Zweitens muss der Staat auch dann handlungsfähig Kommunikationsmöglichkeiten. Deswegen war es not- bleiben, wenn die Konjunktur einbricht, die volkswirt- wendig, dass wir auch auf neue Entwicklungen mit schaftlichen Kapazitäten nicht voll genutzt werden kön- Kompetenzabgrenzungen in der Verfassung reagiert ha- nen und eine Produktionslücke entsteht. Hier ist im ben. Das war der dritte wichtige Bereich, der auch er- europäischen Stabilitätspakt eine Formel entwickelt folgreich gestaltet worden ist. worden, die funktioniert und nicht manipulationsanfällig ist. Danach ist bei einem Konjunktureinbruch eine hö- Kernstück ist die Schuldenregelung oder, wie sie here Kreditaufnahme möglich, wenn dies notwendig ist, überall heißt, die Schuldenbremse. Vor 40 Jahren hat die um die staatlichen Aufgaben weiter wahrzunehmen. Große Koalition die Tür zu einem Schuldenstaat aufge- Wenn die Konjunktur wieder läuft, muss aber nach der- stoßen. Eine Regierung nach der anderen ist durch diese selben mathematischen Formel und derselben Automatik Tür gegangen. Karl Schiller war der Erste, der das Ver- die Rückzahlung der Kredite erfolgen. Die Tilgung darf hängnisvolle an diesem Weg erkannt hat. Er ist damals nicht der politischen Entscheidung eines Parlamentes zurückgetreten, weil er gesagt hat: Verschuldung, Steuer- – wie mit dem Mops und dem Wurstvorrat – beliebig an- erhöhungen und Ausgabenprogramme, das ist nicht der heim gegeben werden, sondern sie muss entsprechend richtige Weg. Die Große Koalition hat heute, 40 Jahre mathematischer Formeln tatsächlich erfolgen. später, die Chance, diese Tür, die damals zum Schulden- staat geführt hat, wieder zuzumachen. Ich denke, dass Drittens sind entsprechende Regelungen für eine Not- wir diese Chance auch genutzt haben. situation vorgesehen. Es ist zwar schwierig, die Not- situation verfassungsgemäß und justiziabel abzugrenzen Der Irrtum im Zusammenhang mit der Schuldenregel – dabei werden sicherlich noch Probleme auftreten –, war bisher, dass der Staat dann, wenn er Kredite in aber entscheidend ist nicht die Frage, ob die Notsituation schlechten Zeiten aufnimmt, sie in guten Zeiten auch hundertprozentig definiert worden ist. Entscheidend ist wieder zurückzahlen würde. Es gibt das berühmte Zitat vielmehr, dass in der Verfassung festgeschrieben wird, von Schumpeter, das Franz Josef Strauß in vielen Varia- dass bei Verschuldung in einer Notsituation ein Til- tionen immer wieder verwendet hat. Es lautet: Eher legt gungsplan erstellt werden muss, wie ihn auch jeder Un- sich der Mops einen Wurstvorrat an, als dass das Parla- ternehmer, der bei der Bank einen Kredit beantragt, er- ment Geld nicht ausgibt, das da ist. stellen muss. Das Wichtige und Neue an dieser Regelung besteht, glaube ich, darin, dass wir ein Parlament, das (Ute Kumpf [SPD]: Späth war das!) eine höhere Verschuldung beschließt – die im Einzelfall (B) (D) – Auch Späth hat Schumpeter zitiert. Ich will das gar gerechtfertigt ist –, zwingen, diese Schulden zu tilgen. nicht bestreiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Genau das ist das Problem. Das Verwerfliche ist Ich habe verstanden, dass die Sozialisten das nicht nicht, in Not- bzw. schwierigen Zeiten Schulden zu ma- wollen. Kollege Wissing hat darauf hingewiesen, dass chen und Kredite aufzunehmen, verwerflich ist es, in gu- seitens der Linken für neue Schulden gekämpft wurde. ten Zeiten diese Schulden und Kredite nicht zurückzu- Wenn Sozialismus heißt, dass man auf Kosten der Zu- zahlen, sie aufzuhäufen und künftige Generationen kunft lebt, damit zu belasten. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben nicht Es war genau die Aufgabe der Kommission, einen zugehört! Sie haben nichts verstanden!) Mechanismus zu finden, der die Schuldenaufnahme in schwierigen Zeiten und schwierigen Situationen ermög- dann ist das eine zusätzliche Begründung dafür, warum licht, aber gleichzeitig sicherstellt, dass in besseren Zei- der Sozialismus kläglich gescheitert ist. Das ist ein ten die Tilgung dieser Schulden erfolgt. Das Prinzip Grund mehr, warum ich kein Sozialist bin. heißt „ausgeglichener Haushalt“. Wie für jeden Privat- mann, jede Familie und jedes Unternehmen gilt: Man ( [CDU/CSU]: Es gibt vermut- muss sich nach der Decke strecken. Es kann nur das aus- lich noch mehr Gründe!) gegeben werden, was man eingenommen hat. Deswegen Ich will nicht auf Kosten meiner Nachfolger, meiner gilt das Prinzip „Einnahmen gleich Ausgaben“. Kinder und Enkel leben. Mit Ihrer Schuldenphilosophie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind Sie auf dem Holzweg. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dass wir eine kleine Toleranz von 0,35 Prozent des Brut- neten der SPD – Dr. Gregor Gysi [DIE toinlandsprodukts mit einbauen mussten, LINKE]: Die ganzen Schulden haben doch Sie gemacht, nicht wir!) (Volker Kröning [SPD]: Das werden wir noch brauchen!) Entscheidend ist, dass wir mit der Schuldenbremse gerade in der Wirtschaftskrise ein wichtiges Signal an heißt nicht, dass man diesen Spielraum ausschöpfen die Menschen in diesem Lande aussenden. Dieses Signal muss. Wir wollten nur sicherstellen, dass der Haushalts- heißt: Der Staat sorgt auch in einer schwierigen Situation entwurf mit einem geringen Defizit nicht gleich verfas- für Stabilität. Das gilt auch für die Währung. Dieses 23386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Stabilitätssignal ist gerade jetzt in der Wirtschaftskrise hervorragende Zusammenarbeit. Ich glaube, die Politik (C) von ganz entscheidender Bedeutung. Deswegen ist die hat in einer schwierigen Phase bewiesen, dass sie hand- Schuldenbremse gerade jetzt richtig und notwendig. lungsfähig ist. Das ist eine gute Nachricht. Ich sehe – wie einige andere Kollegen, wie ich heute Ich danke Ihnen. der Presse entnommen habe – durchaus die Notwendig- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der keit, dass es auch in künftigen Legislaturperioden neue FDP) Föderalismuskommissionen geben wird. Denn der Fö- deralismus steht mit den Veränderungen in der Wirt- schaft, der Gesellschaft und der Technik vor neuen He- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rausforderungen, denen er gerecht werden muss. Nächster Redner ist der Kollege Fritz Rudolf Körper für die SPD-Fraktion. Es gibt bereits eine wichtige Aufgabe, die wir einer neuen Föderalismuskommission übriggelassen haben, Fritz Rudolf Körper (SPD): nämlich die Frage, wie wir es schaffen, die Kompeten- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zen der Länder mit einer stärkeren finanziellen Eigen- Ein gutes Geschäft besteht immer darin, dass beide Sei- verantwortlichkeit zu unterlegen und sie von der Zustän- ten zufrieden sind. Das ist die Voraussetzung dafür, dass digkeit des Bundes zu trennen. Ich darf daran erinnern, man weitere Geschäfte machen kann; denn ein Geschäft, dass wir vonseiten des Bundes in der Kommission mehr bei dem beide Seiten zufrieden sind, schafft Vertrauen. Steuerautonomie der Länder vorgeschlagen haben. Das Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Basis, um auch ist von der Mehrheit der Länder mit der Begründung ab- schwierige Materien einer Entscheidung zuführen zu gelehnt worden, dass eine größere Flexibilität im Steuer- können. bereich auch genutzt werden müsste, und das wollten sie nicht. Ich sehe hier noch dringenden Handlungsbedarf in Wenn wir über das Thema Föderalismus und dessen der Zukunft. Hier sollen den Aufgaben und den Mög- Fortentwicklung reden, dann stellen wir fest, dass wir es lichkeiten künftiger Föderalismuskommissionen keine mit deutlichen Interessengegensätzen zu tun haben, bei- Grenzen gesetzt werden. spielsweise bei den Fragen nach Zuständigkeit und Geld. Wir haben es mit dem nun vorliegenden Ergebnis ge- In der Föderalismuskommission und hier im Hause schafft, die Interessengegensätze fair auszutarieren. Dass herrscht Konsens darüber – so denke ich –, dass der Fö- wir diese Fähigkeit an den Tag gelegt haben, ist kein deralismus die richtige Staatsform für dieses Land ist. Zeichen der Schwäche, sondern ein Zeichen der Stärke. Dass die Linken das nicht wollen, habe ich heute einmal Deswegen bin ich der Auffassung: Wir sollten versu- mehr verstanden. Bei den Grünen habe ich aufgrund der chen, die getroffenen Entscheidungen mit Mehrheiten zu (B) heutigen Zwischenfrage des Kollegen Wieland Zweifel (D) versehen. bekommen. Föderalismus bedeutet, dass demokratisch gewählte Parlamente in den Ländern – sie sind näher an (Beifall bei der SPD) den Menschen – Aufgaben haben, die sie eigenverant- Ich möchte es nicht unerwähnt lassen, dass die Väter wortlich erfüllen, und dass der Bund die Aufgaben wahr- und Mütter des Grundgesetzes vor 60 Jahren sehr gute nimmt, die dort nicht wahrgenommen werden können. Entscheidungen getroffen haben, weil sie bestimmte his- Nun kann man darüber streiten, was in den einen und torische Erfahrungen berücksichtigt haben. in den anderen Bereich gehört; das war Gegenstand der (Beifall des Abg. Ernst Burgbacher [FDP]) Föderalismuskommission I. Darüber kann man immer wieder streiten. Aber es ist nicht richtig, die Kompe- Das Grundgesetz sieht in wesentlichen Teilen dezentrale tenzzuweisungen durch Finanzprogramme zu verwi- Strukturen vor. Ich bin der Auffassung – das ist schon schen und zu verwässern. Wenn die Länder in einem Be- bei den bisherigen Redebeiträgen angeklungen –, dass reich die ausschließliche Zuständigkeit haben, dann wir trotz der Tatsache, dass die mit dem Grundgesetz ge- kann der Bund nicht riesige Ausgabenprogramme aufle- schaffene Demokratie das beste gesellschaftspolitische gen, die Länder quasi am goldenen Zügel durch die Ma- System ist, das es jemals auf deutschem Boden gab, die nege führen und sagen: Ihr bekommt nur dann Geld, Fähigkeit behalten müssen, über bestimmte Entwicklun- wenn ihr dieses oder jenes macht. – Dann ist die Kompe- gen nachzudenken und gegebenenfalls Entscheidungen tenz der Länder vernichtet. Dann handelt es sich um eine zu treffen. antiföderalistische Regelung. Deswegen haben wir uns (Beifall bei der SPD) richtigerweise darauf verständigt, dass der Bund nur dann in die Regelungskompetenzen der Länder finan- Deswegen ist es wichtig, zu sehen: Wo haben wir ziell eingreifen darf, wenn Notsituationen bestehen. Das welche Herausforderungen? Diese Herausforderungen, ist auch gerechtfertigt. In Notsituationen muss man zu- die wir vor 60 Jahren in dieser Form nicht gekannt ha- sammenstehen und handeln können. Aber das darf nicht ben, beispielsweise den Klimawandel, die demografi- sozusagen ins Belieben des Bundes gestellt werden. sche Entwicklung oder die Finanzmarktkrise – da ließe sich noch einiges hinzufügen –, sind zu beschreiben. Wir haben insgesamt sehr gute Arbeit geleistet. Ich bedanke mich bei den Kollegen der SPD für die gute Zu- Unsere Verfassung sieht die Aufgabenteilung zwi- sammenarbeit und die vielen Einzelgespräche, Vier- schen Bund und Ländern vor. Die Debatte entzündet sich augengespräche, Sechsaugengespräche und Zehnaugen- an dem sogenannten Kooperationsverbot. Das hat gespräche, ebenso bei den Kollegen der FDP für die schon bei der letzten Föderalismuskommission eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23387

Fritz Rudolf Körper (A) Rolle gespielt. Ich habe noch einmal nachgelesen, was Einigung gekommen sind. Neben der Frage der Schul- (C) dazu in der Begründung des Gesetzes zur Föderalismus- denbremse sind wir bei vielen anderen Punkten zu einem reform 2006 stand. In der Begründung wird lang und beachtlichen Ergebnis gekommen, und zwar zum Wohle breit darauf hingewiesen, in welchen Fällen trotz der der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Neuregelung Finanzierungshilfen des Bundes weiterhin Herzlichen Dank. möglich sind. Hervorgehoben wurde auch, dass das 2003 verabredete Investitionsprogramm „Zukunft Bildung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Betreuung“ dennoch weiter gilt. Eine weitere inhalt- der CDU/CSU) liche Begründung für das Kooperationsverbot sucht man hier vergebens. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es ist legitim, dass wir uns mit dieser Frage sehr Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege ernsthaft auseinandersetzen. Peter Struck und den Mit- Jochen-Konrad Fromme das Wort. gliedern der SPD-Bundestagsfraktion war es sehr wich- tig – das will ich nicht verhehlen –, dass wir das Thema Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Lockerung des Kooperationsverbots auch in die jetzige Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kommissionsarbeit eingebracht haben. Die Bewältigung Es gilt der Grundsatz: Niemand kann auf Dauer mehr der Wirtschaftskrise zeigt, wie wichtig es ist, ein Instru- ausgeben, als er einnimmt. Das gilt für den Staat, und ment zu haben, das verfassungsrechtlich nicht infrage das gilt für den Privathaushalt. Wir wissen, dass nur vor gestellt wird. Deswegen bin ich für unseren Reforman- dem Hintergrund geordneter Haushalte eine vernünftige satz und werbe dafür, diesen in das Grundgesetz aufzu- wirtschaftliche Entwicklung stattfinden kann. Deswegen nehmen. müssen wir etwas ändern, und deswegen wollen wir et- was ändern. Wenn wir diesen Grundsatz in der Vergan- (Beifall bei der SPD) genheit eingehalten hätten, dann müssten wir nicht Ich habe gesagt: Wir müssen die Fähigkeit behalten, 43 Milliarden Euro für Zinszahlungen im Haushalt ver- auf Entwicklungen zu schauen. Die Väter und Mütter anschlagen, und wir könnten mit dem ersparten Geld des Grundgesetzes, lieber Herr Burgbacher, haben IT viel Gutes tun. Herr Kollege Gysi, Sie versuchen, den nicht gekannt. Eindruck zu erwecken, wir würden Kindern Bil- dungschancen nehmen. Sie und Ihre Vorgänger sind zu (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist richtig!) 50 Prozent an diesen Zinsen schuld, weil wir Schulden für den Wiederaufbau aufnehmen mussten. Sie sind da- Deswegen konnte darauf nicht reagiert werden. Die Fä- für verantwortlich, nicht wir. higkeit, einen Kompromiss für die Bewältigung dieses (B) Themas gefunden zu haben, darf man nicht gering erach- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (D) ten. Man muss wissen, dass Lösungen für den IT-Be- FDP – Widerspruch bei der LINKEN) reich nicht nur mit Kompetenz, sondern auch mit viel Kollegin Haßelmann meint, die Kommunen seien zu Geld zusammenhängen. wenig berücksichtigt. Ich kann Ihnen sagen, dass sie in Zukünftig wird es so sein, dass die Verantwortung für der Diskussion eine sehr große Rolle gespielt haben. die Sicherheit der länderübergreifenden Netzinfrastruk- Heute aber reden wir über ein Bundesgesetz und über tur beim Bund liegt. Das war schwierig und hart er- das Grundgesetz. Die Kommunen sind Teile der Länder kämpft. Aber es war von der Sache her notwendig. Glei- und kommen deshalb nicht vor. Deswegen werden sie in ches gilt für die Regelung, dass ein neues System der IT- der heutigen Debatte nicht so stark berücksichtigt. Aber Steuerung von Bund und Ländern eingerichtet wird. schauen Sie sich bitte einmal die Finanzlage der Kom- Wichtige Koordinierungsaufgaben erledigt dann ein Pla- munen, der Länder und des Bundes an. Dann werden Sie nungsstab. Weitere Einzelheiten sollen durch Staatsver- sehen, dass die Kommunen – ich sage: noch – einen trag und Verwaltungsabkommen verbindlich festgelegt positiven Finanzierungssaldo haben, die Länder einen werden. ausgeglichenen Saldo haben und der Bund das eigentli- che Problem ist. Lieber Herr Oettinger, ich sage Ihnen, dass wir über (Volker Kröning [SPD]: Sehr richtig!) die Regelung bei dem Thema Staatsvertrag nicht begeis- tert waren; das ist bekannt. Aber das zeigt die Fähigkeit Deswegen können die Kommunen in der Diskussion zum Kompromiss. Unser Einwand zur Staatsvertrags- keine größere Rolle spielen. regelung war, dass der Langsamste nicht das Tempo bei (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- notwendigen Entscheidungen bestimmen soll. Aber die NEN]: Das stimmt nicht!) vorliegende Einigung ist ein Beweis für unsere Kompro- missfähigkeit. Ich hätte mir an der einen oder anderen Stelle Verbes- serungen vorstellen können, insbesondere was die Be- Wir haben ebenfalls Regelungen zu dem Thema schränkung der Kreditaufnahme zum Zwecke des Haus- Benchmarking vorgeschlagen. Auch das darf man für haltsausgleichs betrifft. Aus meiner Sicht hätten die die zukünftige Entwicklung nicht gering erachten. Wir Länder, was die Einnahmeseite betrifft, eine größere Au- haben übrigens einige sehr gute Regelungen für Effekti- tonomie erhalten müssen. vitäts- und Effizienzverbesserungen im Bereich der Steuerverwaltung gefunden. Ich nenne nun auch noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und das Stichwort „Krebsregister“, bei dem wir zu einer der FDP) 23388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Jochen-Konrad Fromme (A) Das war nicht durchsetzbar, aber wir können möglicher- tiv strenges Schuldenregime im Konzept stand. Aller- (C) weise in Zukunft noch etwas ändern. dings konnte man es ohne Weiteres unterlaufen, sodass das Ganze aus dem Ruder gelaufen ist. Wir haben jetzt Meine Damen und Herren, als die Kommission ihre das Instrument des Stabilitätsrates eingeführt, damit die Arbeit begonnen hat, hatten wir völlig andere Zeiten. Vorgänge zumindest transparent sind. Außerdem wird Alle waren der Überzeugung, dass das Schulden- auf diesem Wege politischer Druck erzeugt, sich wirk- machen ein Ende haben muss. Leider ist diese Überzeu- lich an die Regelungen zu halten. gung in den letzten Monaten etwas abgebröckelt. Ich kann nur sagen: Wer die Erfahrungen der vergangenen Was das Kooperationsverbot betrifft, waren wir sehr Jahre auswerten und es in Zukunft besser machen will, unterschiedlicher Auffassung. Ich muss ganz deutlich sa- der muss diesem Gesetz am Ende zustimmen. Wir brau- gen: Wir haben damals die Trennung der Ebenen als chen einen Wechsel in der Politik. Deswegen kann ich Heldentat gefeiert; schließlich wollten die Kommunen denjenigen, die heute noch zögerlich sind, nur raten, sich vor Übergriffen des Bundes geschützt werden. Dass wir mit den Erfahrungen der Vergangenheit zu beschäftigen. das gleich im ersten Sturm infrage stellen, hat mich – das Dann werden sie am Ende zustimmen. Ich bin froh, dass muss ich wirklich sagen – sehr berührt. Das ist für mich das Thema, das im letzten Herbst fast untergegangen nur deshalb akzeptabel, weil das Ganze ohne Kompro- wäre, durch die Maßnahmenpakete wieder auf die Ta- miss in dieser Frage gescheitert wäre. Am Ende muss gesordnung gekommen ist. Ich glaube, es war klug und man abwägen, ob das, was wir machen, besser als das richtig, mit den Maßnahmenpaketen schon jetzt das neue ist, was wir hatten. Da das so ist, habe ich dem zuge- Recht im Voraus anzuwenden; denn wir haben die Til- stimmt. Dennoch muss ich sagen: Ich finde das in der gung gleich mit auf den Weg gebracht. Insofern haben Sache nicht richtig. wir etwas geändert. Wenn es 1949 IT gegeben hätte, dann hätte der Bund Ich glaube – das will ich deutlich machen –, dass es dafür genauso die Kompetenz bekommen, wie er sie für einen vierfachen Paradigmenwechsel gibt. die Währung und das Messwesen erhalten hat; das ist völlig klar. Die jetzt gefundene Lösung ist die zweit- Erstens. Alle Schulden, die in Zukunft aufgenommen beste. Wichtig ist, dass wir in zentralen Fragen des IT- werden, werden wieder getilgt. Das ist etwas Neues. Das Bereichs mit Mehrheit entscheiden. Es bedarf nicht mehr wird verhindern, dass der Schuldenberg weiter wächst. der Zustimmung aller 16 Länder und des Bundes. Dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das bisher so war, ist doch das, woran wir gescheitert sind, Stichwort „Fiskus“ und „Digitalfunk“. Auch hier Zweitens. Diese Regeln gelten nicht wie bisher nur gilt: Das Erreichte ist viel besser als das, was wir bisher für die Aufstellung des Haushalts, sondern sie gelten hatten. (B) auch für den Vollzug. Das ist insofern wichtig, als wir in (D) der Vergangenheit sehr große Abweichungen – ob ge- Ich höre, dass in manchen Fraktionen dieses Hauses plant oder ungeplant – hatten. Diese Fehlerquelle ist auf – auf manche brauchen wir keinen Wert zu legen, weil jeden Fall ausgeschlossen. sie es sowieso nicht lernen werden – immer noch große Bedenken bestehen. Ich kann nur fragen: Wenn nicht Drittens. Wir werden in Zukunft Verkaufserlöse nicht jetzt, wann dann? Alle sind aufgefordert und herzlich mehr zur Finanzierung struktureller Ausgaben verwen- eingeladen, an diesem Wege mitzuwirken. den können, weil diese abgezogen werden. Auch das ist ein wichtiger Punkt; denn wir haben über Jahrzehnte von Danke schön. der Substanz gelebt, was unsere Situation deutlich er- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schwert hat.

Viertens. Auch Sondervermögen werden in Zukunft Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: diesen Regeln unterworfen, sodass eine Umgehung der Ich schließe die Aussprache. Regeln ausgeschlossen ist. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- Einer der wichtigsten Änderungspunkte, die aus der würfe auf den Drucksachen 16/12410 und 16/12400 an Erfahrung von 1969 resultieren, ist, dass wir die Rück- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- führung der Verschuldung nicht mehr von politischen schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das Entscheidungen abhängig machen, sondern den Mecha- ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- nismus eines Kontrollkontos einführen. Damit muss die sen. Diskussion, ob der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir zurückzahlen müssen, nicht mehr geführt werden. Wir Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b haben die Diskussion in der Vergangenheit immer so auf: lange geführt, bis wir im nächsten Loch waren, und dann a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten haben wir die Rückzahlung wieder unterlassen. Das war Jürgen Koppelin, Birgit Homburger, Rainer ein Punkt der Finanzreform von 1969, der falsch gere- Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gelt worden ist. Ich hoffe, dass wir aus den Erfahrungen der FDP gelernt haben und dass die Regelungen, die wir jetzt schaffen, wesentlich dichter sind. Bürokratische Belastungen statistischer Erhe- bungen für das Handwerk Wenn man sich mit der Reform des Jahres 1969 be- schäftigt, dann stellt man fest, dass auch damals ein rela- – Drucksachen 16/7783, 16/10022 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23389

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Unser Konjunkturpaket soll Arbeitsplätze in (C) Brüderle, Paul K. Friedhoff, , Deutschland sichern und nicht Arbeitsplätze in weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Fernost. Die Mitte stärken – Mittelstand ins Zentrum Am lautesten haben sich vorgestern die Fahrzeugimpor- der Wirtschaftspolitik rücken teure gefreut. Die mittelständischen Gebrauchtwagen- händler schauen in die Röhre. Wenige haben einen Vor- – Drucksache 16/12326 – teil. Alle müssen dafür bezahlen. Selbstständige Überweisungsvorschlag: Unternehmer, Handwerker, Kaufleute, Freiberufler, mit- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) telständische Industriebetriebe – diese tragen die deut- Ausschuss für Arbeit und Soziales sche Wirtschaft; sie sorgen für Wettbewerb in Bezug auf Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Qualität und Preis. Nur über Wettbewerb entstehen neue ner das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle für die Ideen, nur Wettbewerb führt zu Initiativen und neuen FDP-Fraktion. Produkten. Deshalb müssen diese in die Lage versetzt werden, ihre Rolle voll wahrzunehmen und auszuüben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP)

Rainer Brüderle (FDP): Mittelständische Betriebe müssen zahllose Bau- und Sicherheitsvorschriften beachten und versorgen die Re- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gierung und die Statistikämter mit einem Meer von Da- Bundesregierung diskutiert über Opel, Schaeffler und ten, obwohl sie dafür eigentlich keine Personalkapazitä- Conti. Die Regierung gibt Geld für Rettungsschirme und ten und keine Zeit haben. Das stellt für viele kleine Abwrackprämien aus. Um die großen Firmen kümmert Betriebe eine große Belastung dar. Doch statt Anerken- sich die Große Koalition. Hier wird in großem Stil In- nung ernten sie von dieser Bundesregierung noch mehr dustriepolitik für einzelne Unternehmen gemacht. Die Belastung, noch mehr Bürokratie, noch kompliziertere schwarz-rote Wirtschaftspolitik scheint sich nur noch für Gesetze: Das Antidiskriminierungsrecht und andere Bei- Glamour und Großkonzerne zu interessieren. Der Mittel- spiele könnte man erwähnen, aber allen voran die Unter- stand gerät bei Schwarz-Rot immer mehr aus dem Blick. nehmensteuerreform. Der Bundesfinanzminister hat den (Beifall bei der FDP) Unternehmen vorgegaukelt, dass sie alle entlastet wer- den. Was ist herausgekommen? Die Steuerreform stellt Die 3,3 Millionen mittelständischen Betriebe in sich in der Krise für viele Unternehmen als existenzge- Deutschland brauchen endlich einen Anwalt in der Re- fährdend heraus. (B) gierung. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die weni- (D) ger auf Times Square und mehr auf Werkstatt, weniger Ich darf ankündigen: Die FDP hat einen eigenen Ge- auf Show und mehr auf Substanz ausgerichtet ist. Der setzentwurf unter der Federführung meines Freundes Mittelstand braucht wieder eine Stimme in Deutschland. Otto Solms erarbeitet. Wir geben Ihnen damit die Chance, genau die Korrekturen an der Unternehmen- Das Bundeswirtschaftsministerium sollte sich als steuerreform vorzunehmen, die zwingend notwendig Mittelstandsministerium verstehen. Das sollte auch im sind. Namen des Ministeriums seinen Ausdruck finden. Dann (Beifall bei der FDP) würde sich die Bundesregierung vielleicht öfter daran er- innern, wer unseren Staat eigentlich trägt. Wer sich um Was haben die Mittelständler dem Bundesfinanzmi- 25 000 Opel-Mitarbeiter – zu Recht – sorgt, der sollte nister getan? Die Zinsschranke und die Zurechnung bei sich ebenso um 30 Millionen Mitarbeiter der mittelstän- der Gewerbesteuer führen dazu, dass Steuern auf Kosten dischen Betriebe in Deutschland sorgen. gezahlt werden müssen. Auf die Idee muss man erst ein- mal kommen, auf Kosten Steuern zu erheben, quasi aus (Beifall bei der FDP) der Substanz der Betriebe heraus! Sie merken jetzt hof- Die Bundesregierung vernachlässigt die breite Mitte fentlich, was für einen Unsinn Sie gemacht haben, be- in Deutschland. Ich frage mich: Was hat die Mitte dieser kommen kalte Füße und sind bereit, dies zu korrigieren. Bundesregierung eigentlich getan, dass sie so schlecht Die Abschaffung der Möglichkeit zum Verlustrück- behandelt wird? Die Regierung beruft sich in Sonntags- trag bewirkt, dass die finanzielle Lage von Unternehmen reden gern auf Ludwig Erhard. Erhard stand aber für in schlechten Zeiten noch klammer wird. Die Istbesteue- Schumpeter’sche Pionierunternehmen; sie standen im rung bei der Mehrwertsteuer nur für Unternehmen mit Mittelpunkt seiner Wirtschaftspolitik. Der mittelständi- weniger als 250 000 Euro Umsatz bedeutet, dass viele sche Unternehmer, der initiativ ist, der Verantwortung Mittelständler dem Staat einen dauerhaften zinslosen für seine Mitarbeiter trägt, und zwar in jeder Hinsicht, Kredit von oft mehreren 100 000 Euro einräumen. Das wird von dieser Bundesregierung seit Jahren ignoriert. Vorziehen des Termins für die Abführung von Sozialver- Auch da frage ich mich: Was haben die Mittelständler sicherungsbeiträgen hat eine Belastung in Höhe von dem Bundeswirtschaftsminister eigentlich getan? 4 Milliarden Euro gerade für die mittelständischen Be- triebe in Deutschland mit sich gebracht. Der Finanzmi- Das Einzige, was Schwarz-Rot noch hinbekommt, ist nister hat sich die Kassen vom deutschen Mittelstand die Ausweitung der Abwrackprämie. Herr von und zu kräftig füllen lassen. Das ist die Realität. Guttenberg hat noch im Januar im Zusammenhang mit der Abwrackprämie behauptet – ich zitiere –: (Beifall bei der FDP) 23390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Rainer Brüderle (A) Sie haben die Mitte so drangsaliert, dass man fürchten dieser Bank würde über Deutschland ein Sturm herein- (C) muss, dass viele Mittelständler die Konjunkturkrise brechen, gegen den Lehman ein kleines, laues Lüftchen nicht überstehen. Dadurch, dass Sie so viele mittel- war. standsfeindliche Gesetze erlassen haben, spielen Sie mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Millionen Arbeitsplätzen. Das Schlimmste daran ist: Die der SPD) Bundesregierung hat die Bedingungen für den Mittel- stand sehenden Auges verschlechtert. Es gab Warnungen Das nur ansatzweise in Betracht zu ziehen, halte ich für genug, nicht nur von uns in diesem Hause, sondern auch gefährlich, weil es dazu führen könnte, dass wir die Bür- aus der Wirtschaft und von anderen. Diese wurden igno- gerinnen und Bürger so verunsichern, dass wir in riert. Sie wussten, was Sie taten, meine Damen und Her- Deutschland Northern Rock im Quadrat hätten. So etwas ren von der schwarz-roten Koalition. Ihnen war der Mit- darf nicht geschehen. Eine Bank wie die HRE ist sys- telstand gleichgültig. Er hatte für Sie keine Priorität. temrelevant. Die systemischen Risiken bedrohen unser gesamtes Wirtschaftssystem. Deshalb halte ich es für (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der sehr gefährlich, wenn wir keine klaren Regeln finden. CDU/CSU) Ich bedaure sehr, dass mit dem Kollegen Wend heute Es ist notwendig, dass wir unter Umständen – wie der zum letzten Mal einer für die SPD spricht, der wenigs- Bundeswirtschaftsminister es bezeichnet hat: Ultissima tens den Mittelstand bei seiner Politik noch im Auge Ratio – ein solches Institut enteignen, falls die Aktionäre hatte. Auch der CDU gehen ja die Marktwirtschaftler nicht mitspielen. Unter der Voraussetzung, dass es kei- reihenweise von der Fahne: , Matthias nen anderen Weg gibt, muss das möglich sein. Gott sei Wissmann, , Laurenz Meyer. Ihre Personal- Dank haben wir dieses Gesetz so angelegt, dass es fak- lage bei denjenigen, die sich in Wirtschafts- und Mittel- tisch nur drei Monate gilt. Am 30. Juni 2009 ist es be- standsbelangen auskennen, wird immer dünner. reits verfallen. Das halte ich für richtig und notwendig.

Es gibt aber noch die FDP. Deshalb gibt es Hoffnung. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Man kann Freiheit wählen und damit für Veränderungen Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sorgen. Kollegen Westerwelle? (Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordne- ten der SPD) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Deshalb rufe ich den Menschen draußen zu: Durchhalten Aber selbstverständlich. bis September! Dann kann man Freiheit wählen und die, (B) die es schlecht gemacht haben, abwählen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) Bitte sehr. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Kollege, Sie haben unseren Ehrenvorsitzenden Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Graf Lambsdorff angesprochen. Da er selbst nicht mehr Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Mitglied dieses Hauses ist und daher auf das, was Sie Kollege Dr. Michael Fuchs. ihm vorgehalten bzw. unterstellt haben, nicht antworten kann, möchte ich Folgendes – in Frageform gekleidet – Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): klarstellen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- dass als Ehrenvorsitzender und gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber bewährter Mann nicht gesagt hat, man könne die HRE Rainer Brüderle, Ihre Rede war wie immer Populismus pleitegehen lassen und alle sollten sehen, wie sie mit den pur. Ansprüchen zurechtkommen? So hat er das ausdrücklich nicht gesagt. Er hat etwas ganz anderes vorgeschlagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Jeder von uns kennt die Möglichkeiten der Fortführung der SPD) einer Firma, einer Bank, eines Unternehmens in einem Etwas anderes kennen wir von Ihnen auch nicht. Was wir geordneten, geplanten, sogenannten vorgelagerten Insol- von Ihnen hören mussten, hat nichts mit der Realität zu venzverfahren. Darauf hat er sich bezogen. tun. Da er sich nicht wehren kann, erlaube ich mir als am- Ich möchte einige Beispiele herausgreifen. An erster tierender Vorsitzender, meinen Ehrenvorsitzenden gegen Stelle möchte ich das Thema HRE – Hypo Real Estate – diese Falschbehauptung in Schutz zu nehmen. erwähnen. Ihr Ehrenvorsitzender, den ich sehr schätze, hat, ähnlich wie Sie heute, gesagt: Lasst das Ding doch Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): pleitegehen. Verehrter Herr Kollege Westerwelle, ich nehme das, was Sie gesagt haben, zur Kenntnis. Aber ich nehme (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das hat er nicht auch zur Kenntnis, was ich in den Zeitungen gelesen gesagt!) habe, und dort stand es anders, als Sie es vorgetragen ha- Das ist in meinen Augen völlig unverantwortlich. Ich ben. Ich habe ihn so verstanden, wie ich es dargestellt halte es für brandgefährlich; denn durch die Insolvenz habe. Seine Äußerungen haben mich sehr verwundert, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23391

Dr. Michael Fuchs (A) weil ich Ihren Ehrenvorsitzenden persönlich sehr deutschen Wirtschaft. Vor allen Dingen hält der Mittel- (C) schätze, wie Sie wissen. stand seine Mitarbeiter auch in einer solchen Phase, ent- lässt sie eben nicht schnell, meldet häufig nicht einmal (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich auch!) Kurzarbeit an, auch wenn er über seine Beiträge die Ich finde, er müsste sie in den Zeitungen richtigstellen. Kurzarbeit mitfinanziert. Wobei ich ausdrücklich sagen Das ist durchaus möglich. Vielleicht hat die Aussage, die möchte, dass es richtig war, den Zeitraum, für den Kurz- Sie eben getroffen haben, geholfen, es richtigzustellen. arbeit angemeldet werden kann, auf 18 Monate zu ver- Ich hatte es so verstanden, dass man das Institut auch längern. pleitegehen lassen kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Nein, das wis- der SPD) sen wir auch!) Es war sicherlich sinnvoll, dass wir in dieses Programm Das können wir eben nicht. Ich möchte deutlich machen, zugleich Qualifizierungsmomente eingebaut haben. Das dass wir uns das nicht leisten können, weil es sehr ge- sollten Sie anerkennen! fährlich ist. Mittelstandspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Des- Lieber Kollege Brüderle, ich halte es für notwendig wegen brauchen wir kein Mittelstandsministerium, und richtig, über das Thema Steuersenkungen zu spre- lieber Kollege Brüderle. Wir haben ein Wirtschafts- chen. Aber wir erleben eine Situation, wie wir sie noch ministerium, das für alle Bereiche zuständig ist. Das nie hatten. Wir werden in diesem Jahr eine Neuverschul- Wirtschaftsministerium hat mit der Mittelstandsinitia- dung erreichen, wie sie die Bundesrepublik Deutschland tive, die im Jahre 2006 gestartet wurde, eine Reihe von noch nie erlebt hat. Sie ist zum großen Teil aber notwen- Programmen aufgelegt, die notwendig waren und die gut dig, weil wir in einer Krisensituation angekommen sind, waren. Der Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung die es in diesem Lande noch nie gegeben hat. wird das sicherlich noch darstellen. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen sind günstigere Rahmenbe- (Zuruf von der FDP: Das hat jede Regierung dingungen geschaffen worden. Systematisch ist mit dem behauptet!) Abbau von bürokratischen Hemmnissen begonnen wor- Deswegen bin ich unbedingt dafür, dass derjenige, der den. sich für Steuersenkungen ausspricht, gleichzeitig Gegen- Auch mir geht das nicht immer schnell genug. Aber finanzierungsvorschläge macht. Die kommen von Ihnen der eine oder andere hat zu sehr auf der Bremse gestan- aber nicht, weil es zum Teil nicht zu Ihrer Klientelpolitik den. Ich werde den Kollegen Rainer Wend vermissen, passt. Ich sage dazu nur: HOAI. weil wir immer gut zusammengearbeitet haben. Ich be- (B) (D) danke mich dafür, lieber Rainer. Vor allen Dingen darf in der Politik nicht das Motto gelten: Kinder haften für ihre Eltern. Uns interessiert es Wir haben eine Existenzgründungsoffensive gestartet. nicht, wie die weitere Verschuldung läuft. – Das hat uns Wir haben gezielt Maßnahmen zur Förderung der Inno- die Debatte, die wir eben hier im Hohen Hause geführt vationsfähigkeit des Mittelstandes ergriffen. Dadurch haben, sehr deutlich gezeigt. haben wir den Mittelstand gestärkt. Wir haben die Be- reitstellung von Wagniskapital für Hightechgründer er- Diese Regierung hat mit den Konjunkturpaketen mei- möglicht. Wir haben mittelständischen Unternehmen bei ner Meinung nach richtig gelegen. Diverse Punkte kann der Positionierung auf Auslandsmärkten geholfen. man im Einzelnen diskutieren, aber bestimmt nicht alles. Wichtig ist, dass wir ein Kredit- und Bürgschaftspro- Wo da nichts gemacht worden sein soll, Herr gramm für den Mittelstand auf den Weg gebracht haben, Brüderle, bleibt Ihr Geheimnis. Sie wollen unsere Bemü- das 115 Milliarden Euro stark ist. Ich halte es für not- hungen einfach nicht zur Kenntnis nehmen; aber das wendig, da, wo Finanzierungslücken bestehen, zu helfen – kennen wir ja. allerdings nur dann, wenn die Unternehmen fortgeführt Ich will auch ein paar konkrete Beispiele nennen. Wir werden können, eine Langfristperspektive haben und un- haben die degressive AfA für zwei Jahre wieder einge- verschuldet, nur wegen der Krise, Kredite oder Bürg- führt. So kann der Mittelstand schneller abschreiben. schaften benötigen. Das muss dezidiert betrachtet wer- Das stärkt ihn gerade in dieser Krisensituation. den. Der Bundeswirtschaftsminister hat zu diesem Zweck einen Lenkungsausschuss mit erfahrenen Leuten (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Warum haben aus der Wirtschaft eingerichtet, die ihm Rat geben, wel- Sie sie denn abgeschafft?) che Unternehmen überhaupt in der Lage sind, fortge- Wir haben die Möglichkeiten, handwerkliche und haus- führt zu werden, sodass es sich lohnt, Kredite zu geben. haltsnahe Dienstleistungen steuerlich abzusetzen, ver- Eine Reihe von Programmen, Herr Kollege Brüderle, bessert. haben wir gerade für die kleinen Mittelständler aufge- (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: legt. Nehmen Sie zum Beispiel das CO -Gebäudesanie- 2 Jawohl!) rungsprogramm. Mir haben die Handwerker gesagt, dass sie sich über dieses Programm sehr freuen. Wir haben Auch das ist Mittelstandspolitik, und gerade dort ist es eine Menge Programme aufgelegt, von denen ich noch notwendig. Wir haben das Fördervolumen für die ener- einige aufzählen möchte. Denn diese Programme sind getische Gebäudesanierung von 1,4 Milliarden Euro auf notwendig; der Mittelstand ist die tragende Säule der 2,4 Milliarden Euro aufgestockt. Die Investitionszulage, 23392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Michael Fuchs (A) die es in den neuen Ländern gibt, wird im Rahmen der austeilt, wo man eigentlich erst einmal gründlich nach- (C) Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern bis 2013 fragen müsste. weitergeführt. Auch das ist Mittelstandspolitik. Der Forderungsteil ist insofern interessant, als er ei- Wir haben die Lohnzusatzkosten stabil unter 40 Pro- nen Entwurf für den künftigen Koalitionsvertrag dar- zent gebracht. Als diese Regierung angefangen hat, la- stellt, den die FDP mit einer der hier anwesenden Frak- gen sie bei 42 Prozent. Gerade für den Mittelstand ist tionen wohl eingehen will. diese Senkung wichtig. Das müssen Sie doch zur Kennt- nis nehmen. (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Nicht mit ir- gendeiner! Mit der CDU/CSU!) (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht!) Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass dieser For- derungsteil als Entwurf für einen künftigen Koalitions- Auch beim Abbau der Bürokratie haben wir etliches vertrag wirklich nicht von Pappe ist. Die Frage ist, ob erreicht. Wir haben einen Normenkontrollrat eingesetzt, eine sogenannte Volkspartei den Forderungen der FDP der uns darauf hinweist, was wir falsch machen und wie nachkommen kann. Aber dazu später. wir die Gesetze besser gestalten können. In vielen Berei- chen ist das schon gelungen. Natürlich ist das alles noch Zunächst einige Kostproben zum übermäßigen Lob nicht das, was ich gerne hätte. Ich bin ziemlich ungedul- im Feststellungsteil. Da heißt es: dig und temperamentvoll; das ist ja bekannt. Natürlich wäre es mir lieber, wir wären schon weiter. Aber am … hat der Mittelstand das deutsche Wirtschafts- Ende dieser Legislaturperiode wird festzustellen sein, wunder möglich gemacht. dass wir mehr als 200 bürokratiewirksame Gesetze ab- Dann wird dem Mittelstand „Patriotismus“ unterstellt. geschafft haben. Wir haben – darüber habe ich letzte Woche noch einmal mit dem Normenkontrollrat gespro- (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ja, stimmt!) chen – circa 7 Milliarden Euro eingespart. Das müssen Und schließlich heißt es: Sie zur Kenntnis nehmen, Sie können nicht einfach so tun, als wäre all dies nicht getan worden. Ohne Mittelstand gibt es keine Rentenversicherung. Lassen Sie uns gemeinsam weiter nach Möglichkei- Nun wissen wir es. ten suchen, den Mittelstand zu stärken! Mittelstandspoli- tik ist nur dann gut, wenn alle etwas davon haben. Viele Ich würde ja gar nicht weiter darauf eingehen, wenn der Maßnahmen, die wir ergriffen haben, mussten wir der Mittelstand in dem Antrag und in den vorangegange- nen Anträgen nicht grundsätzlich wörtlich als „Geistes- (B) auf einzelne Sektoren der Wirtschaft zuschneiden. Das (D) muss aber dann auch irgendwann vorbei sein. Ich meine haltung“ bezeichnet worden wäre. insbesondere die Abwrackprämie. Ich bin der Meinung, (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das ist es!) es wäre besser, wir würden sie auslaufen lassen. Aber natürlich profitiert die Automobilindustrie in allen Be- Wenn es so ist, bleibt einem nichts anderes übrig, als die reichen davon. In den Autofirmen tut sich etwas – Gott Sache ein bisschen klarer anzugehen. Mittelstand als sei Dank, denn in dieser Branche gehen die meisten Ar- Geisteshaltung, na ja. Wenn man den gewerblichen beitsplätze verloren, weil die Finanzkrise hier in jeder Mittelstand, bei dem Eigentum, Unternehmensleitung Hinsicht gewirkt hat. und unternehmerisches Risiko zusammenfallen, betrach- Mittelstandspolitik werden wir aber weiterhin ma- tet, kann man eine Art Nostalgie entwickeln. Früher chen. Das ist ein Markenzeichen dieser Regierung, und hatte man noch den unternehmerischen Patriarchen, der da lassen wir uns von Ihnen auch nicht kritisieren. zum Beispiel Krupp hieß. Er managte die Sache und be- zahlte den Managern nur so viel, wie sie wert waren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Heute beschließen sie selber darüber, was sie wert sind. Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist aber eine ge- Ich kann mir vorstellen, dass man da nostalgische Ge- wagte Aussage!) fühle entwickelt. Da war die Zeit noch gut und alt und schön. Mittlerweile trüben auf der einen Seite die Kapi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: talgesellschaften das Bild, und auf der anderen Seite gibt Nächster Redner ist der Kollege Dr. Herbert Schui für es die Gewerkschaften; es ist wirklich zum Verrücktwer- die Fraktion Die Linke. den. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Der FDP-Antrag ist teilweise eine Suggestion, die auf Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): den Ständestaat zurückführt, in dem es ständestaatstra- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der gende Gruppen gibt, die verfassungsmäßig anerkannt FDP-Antrag ist eine Art Wahlprogramm, um den Mittel- sind und bei der Gesetzgebung und Verwaltung mitwir- stand – und die Freiberufler gleich mit – von der CDU/ ken. Wenn Sie schon den Mittelstand als Geisteshaltung CSU abzuwerben. Das ist so weit in Ordnung. Wenn vorschlagen, sollten wir uns daran erinnern, wie in der man das macht, darf man natürlich an Lob nicht sparen, jüngeren Geschichte versucht wurde, einen Ständestaat weswegen der Feststellungsteil des Antrages einige his- einzurichten: in Italien in den 20er- und 30er-Jahren, in torische Unwahrheiten enthält und ziemlich kräftig Lob Spanien ab 1939 und in Portugal zur Salazar-Zeit. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23393

Dr. Herbert Schui (A) (Frank Schäffler [FDP]: Jetzt ist Geschichts- Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): (C) stunde, oder was?) Ja, gerne. Die Deutschen waren in der betreffenden Zeit nicht mit von der Partie; sie hatten andere Vorstellungen. Ich will Hartmut Schauerte (CDU/CSU): das nicht weiter ausführen. Herr Kollege Professor Schui, glauben Sie, dass man in Zeiten der größten Weltwirtschaftskrise, in denen wir Es zeigt jedenfalls, dass Ihre Mittelstandseuphorie ein darüber diskutieren, wie die unterschiedlichen Aufgaben wenig, so schreiben Sie in Ihrem Antrag, rückwärtsge- innerhalb der Volkswirtschaft optimal erfüllt werden richtet ist. „Starker Mittelstand heißt starke Demokra- können und wie die Wirtschaft für diese Herausforde- tie“. Etwas assoziativ fällt mir, wenn ich Mittelstand rung fit gemacht werden kann, irgendeinem Mittelständ- höre, immer Berlusconi ein, der es wirtschaftlich ler, der zurzeit nicht weiß, wie er die Löhne seiner Mit- geschafft hat und der nun seine Forza Italia mit der arbeiter bezahlen soll und wie er seine Bilanz ausgleichen Alleanza Nazionale zum Haus der Freiheit vereint. Lob kann, dadurch hilft, dass man ihm eine Vorlesung über und Nostalgie sollte man etwas sparsamer verwenden. die Verhältnisse zwischen 1930 und 1940 hält? In dem Antrag wird gesagt, der Mittelstand habe „das deutsche Wirtschaftswunder möglich gemacht“. Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Ich würde in meiner Rede diesen Teil gerne übergehen Herr Schauerte, ich habe diesen Antrag nicht einge- und zwei Minuten Redezeit einsparen, aber ich muss bracht, und ich habe auch nicht behauptet, dass der Mit- diesen Satz richtigstellen. Das Bruttoanlagevermögen in telstand das Wirtschaftswunder geschaffen hat. der Industrie stieg von 1935 bis 1944 um knapp 39 Pro- zent. Am Kriegsende, im Mai 1945, lag es noch um (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie reden 27 Prozent höher als 1935. Nach den Reparationsleistun- aber dazu! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie gen war es im Jahre 1948 immer noch um 14 Prozent hö- sollen zum Antrag reden!) her als 1935. Das Bruttoanlagevermögen war also nach Stellen Sie diese Frage Ihren Kollegen von der FDP! Ich dem Krieg höher als 1935. Daraus ergibt sich: Diese werde gerne nachher noch darauf eingehen, was wir von Produktionskapazitäten waren die Grundlage für den ra- der Mittelstandsförderung, die die FDP fordert, in der schen wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands. gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise haben. Das sollte man festhalten. Der Verweis auf den Mittel- stand hat sich also erledigt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Frank Schäffler [FDP]: Was hat das mit dem Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (B) Antrag zu tun? Können Sie das einmal erklä- Kollegen Meyer? (D) ren? – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie sollen über die jetzige Situation reden und nicht von Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): 1935 bis 1945!) Natürlich, mit dem größten Vergnügen. – Wenn Sie in Ihrem Antrag nicht geschrieben hätten, dass der Mittelstand das Wirtschaftswunder bewirkt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: habe, würde ich mich mit diesen Zahlen nicht beschäfti- Bitte sehr. gen. Aber da Sie sagen, dass der Mittelstand das Wirt- schaftswunder möglich gemacht habe, muss ich Ihnen Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): vorhalten, wie es zu dem Wirtschaftswunder gekommen ist. Herr Kollege Schui, halten Sie es der Würde des Ho- hen Hauses für angemessen, das Wirtschaftswunder in Halten wir einmal fest: In dem Zeitraum, von dem ich die Zeit von 1941 bis 1945 zu verlagern und alle Aussa- geredet habe, hat sich die Rüstungsproduktion verfünf- gen, die über das Wirtschaftswunder in diesem Parla- facht. Ende des Krieges hatte die Wehrmacht 11 Millio- ment getroffen worden sind, auf diese Zeit zu beziehen? nen Angehörige. Ich frage Sie daher: Wer hat denn das Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Ich glaube, Sie soll- Wachstum in den Jahren 1941 bis 1944 ermöglicht, als ten das Rednerpult verlassen. es keine Arbeitskräfte in Deutschland gab? Das waren doch Fremdarbeiter und Zwangsarbeiter. Wir sollten das Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Wirtschaftswunder also nicht dem Mittelstand, sondern Das werde ich nicht tun, auch wenn Sie das gerne hät- anderen zusprechen. Etwas anderes haut einfach nicht ten. hin. (Beifall bei der LINKEN) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist doch total daneben, was Sie sagen! – Laurenz Meyer Herr Krengel, der seinerzeit der Leiter des Deutschen [Hamm] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!) Instituts für Wirtschaftsforschung war, hat diese Zahlen 1958 veröffentlicht, um darzulegen, warum es in – Es ist klar, dass Sie das nicht hören wollen. Deutschland so schnell wirtschaftlich aufwärtsgegangen ist. Dies lag einfach daran, dass die Ziegeleien zu einem Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: großen Teil noch intakt waren, die Häuser aber kaputt Herr Kollege Schui, gestatten Sie eine Zwischenfrage waren. Das ist nun einmal so gewesen. Weil das so ge- des Kollegen Schauerte? wesen ist und weil im Antrag festgestellt wird, welche 23394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Herbert Schui (A) vorzügliche Rolle der Mittelstand beim sogenannten dass die Geschäftsführungen, wenn es einen Betriebsrat (C) Wirtschaftswunder gespielt hat, ist es meine Aufgabe, gibt, günstige Erfahrungen mit dem Betriebsrat machen. klarzustellen, wie wir zu diesem Wirtschaftswunder ge- kommen sind. Das ist nicht nur meine persönliche Auf- Ein letzter Punkt. Für den Mittelstand, die gewerbli- fassung. Das war vielmehr in den 50er-Jahren in der che mittelständische Wirtschaft wäre eine ganze Menge Fachwelt klar. zu tun. Das bedeutet vor allen Dingen, dass die Preis- relationen stimmen. Im Großen und Ganzen zahlt der Patriotismus ist eine weitere Eigenschaft des Mittel- Mittelstand zu hohe Einstandspreise und bekommt zu standes, so die FDP. Patriotismus bedeutet bekanntlich niedrige Abgabenpreise. Das heißt, die Marktmacht ist Vaterlandsliebe. Es sind die Verehrung, die Hingabe und so asymmetrisch verteilt, dass die kleinen und mittleren die gefühlsmäßige Bindung an die Traditionen und die Unternehmen nicht auf ihre Kosten kommen. Das kön- Gemeinschaft des eigenen Volkes. Patriotismus ist mit nen Sie sehr schön bei der Landwirtschaft beobachten, Dienst- und Opferbereitschaft verbunden. wenn Sie die Dieselpreise und die Düngemittelpreise auf der einen und die Milchpreise auf der anderen Seite ver- Wenn das so ist, dann sollte der Mittelstand freudig folgen. Solche Märkte müssen geregelt werden, damit Steuern zahlen und etwas opfern, damit der Staat gedei- diese Produzenten ihre Kosten erwirtschaften können hen kann. Dann sollte der Mittelstand nicht auf eine Kür- und nicht von der Großwirtschaft aufgesogen werden. zung der Beiträge zur Sozialversicherung hinarbeiten, Das ist ein entscheidender Punkt. sondern im Gegenteil höhere Beiträge zur Sozialversi- cherung zahlen, damit alle Teile des Volkes blühen und Wenn Sie das ernsthaft verfolgen würden, dann müss- gedeihen können. So könnte ich mir Patriotismus vor- ten Sie zwingend für Gesetze sein, die sich gegen die stellen. Aber das kollidiert ein wenig mit dem Forde- großen Unternehmungen richten, also deren Marktmacht rungsteil Ihres Antrages. zugunsten eines besseren Erlöses der kleinen und mittle- ren Unternehmen beschränken. Das wollen Sie aber Schließlich schreiben Sie: Ohne Mittelstand gibt es nicht. Weil Sie es nicht wollen, bleibt Ihnen nur eine keine Rentenversicherung. Richtig, der größte Teil der Möglichkeit: Lohnsenkungen und Senkungen der Bei- Lohnsumme wird bei den kleinen und mittleren Unter- träge zur Sozialversicherung zu fordern. Ich garantiere nehmen verdient. Wenn das der Fall ist, dann ist vom Ihnen eines: Wenn Sie das durchsetzen, die Macht auf Volumen her der größte Teil der Abgaben an die Sozial- dem Markt aber so verteilt bleibt, wie sie derzeit verteilt versicherung auf diese Unternehmen zurückzuführen. ist, dann würden die Vergünstigungen, die Sie für kurze Aber wenn das so ist, dann sollten Sie sich in Ihrem For- Zeit gewähren, über den Umweg höherer Einstands- derungsteil nicht dafür einsetzen, dass die Lohnzusatz- preise und niedrigerer Verkaufspreise zu Erlösen bei den kosten gesenkt werden. Dann würde ja auch der positive großen Kapitalgesellschaften führen. Das, was Sie im (B) Beitrag des Mittelstandes sinken. (D) Auge haben, ist keine Lösung des Problems, das Sie vor- Was Sie im Einzelnen fordern, ist nichts weiter, als geben, lösen zu wollen. das Recht des Staates, von den Bürgern die Zahlung von Steuern zu verlangen, zugunsten des Mittelstandes ein- Vielen Dank. zuschränken. Sie fordern schwächere Gewerkschaften, (Beifall bei der LINKEN) dass die Tarifautonomie hier und da ausgehöhlt wird und der Sozialstaat möglichst noch weniger leistungsfähig wird, als das gegenwärtig der Fall ist. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Wend für Darüber hinaus setzen Sie sich für eine weitere Priva- die SPD-Fraktion. tisierung der öffentlichen Aufgaben ein, wobei Sie eines nicht bedenken: Wenn öffentliche Aufgaben privatisiert (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind, dann bedeutet das, dass eine Kapitalrendite erwirt- der CDU/CSU) schaftet werden muss. Es gibt dann keine politische Kontrolle mehr über die Gehälter der Geschäftsführung. Dr. Rainer Wend (SPD): Das bedeutet, dass die Leistungen entweder teurer oder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aber schlechter werden. Natürlich ist der Mittelstand das Herz der deutschen Wir fordern nicht weniger Mitbestimmung, sondern Wirtschaft. 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Ar- mehr Mitbestimmung, beitnehmer sind dort beschäftigt. Sogar 80 Prozent der Auszubildenden werden in mittelständischen und nicht (Beifall bei der LINKEN) in Großunternehmen ausgebildet. Jede Wirtschaftspoli- auch dort, wo es weniger als 500 Beschäftigte gibt. Wir tik, die nicht den Mittelstand im Auge hat, zielt in die fordern Mitbestimmung bei einer betrieblichen Verlage- falsche Richtung. rung und bei Schließungen respektive beim Verkauf von (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) Betriebsteilen. Das ist der entscheidende Punkt. Beden- ken Sie, dass laut einer Untersuchung des Böckler In diesem Zusammenhang möchte ich etwas anderes Impuls in Unternehmen ohne Betriebsrat 41 Prozent der sagen: Was nicht hilft, sind Plattitüden. Rainer Brüderle, Geschäftsführer den Betriebsrat eher negativ beurteilen so freundlich du zu mir gewesen bist, an dieser Stelle und in Unternehmen mit einem Betriebsrat nur muss ich noch einmal sagen, dass es eine Plattitüde ist, 18 Prozent. Es scheint also im Allgemeinen so zu sein, wenn die Behauptung aufgestellt wird, dass die Große Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23395

Dr. Rainer Wend (A) Koalition nur den Großen hilft und nichts für den Mittel- ist nicht so schlimm, weil in Wolfsburg oder bei Ford in (C) stand tut. Köln andere davon profitieren, wenn ihr in die Insolvenz geht, sucht euch da einen Arbeitsplatz? Wollen wir den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mittelständlern, den Zulieferern von Opel, sagen, ihr Michael Fuchs hat deutlich aufgezeigt, was wir mit habt vielleicht gerade euer privates Vermögen in eure den Konjunkturprogrammen alles für den Mittelstand Firma gesteckt, um sie durch die Krise zu bringen, aber getan haben: CO2-Gebäudesanierungsprogramm, Aus- ihr geht jetzt trotzdem in die Insolvenz, weil Opel pleite- weitung der Darlehen, haushaltsnahe Dienstleistungen. geht? Macht euch keine Sorgen, andere Zulieferbetriebe Allein deswegen ist diese Behauptung falsch. Noch fal- in Deutschland könnten davon profitieren. scher ist sie aber – wenn der Komparativ hier erlaubt Können wir den Menschen das wirklich sagen? Nach ist –, weil die Große Koalition immer dann, wenn sie meinem Dafürhalten können wir das nicht, weil folgende den Großen hilft – das tut sie –, gleichzeitig dem Mittel- Konsequenz auf der Hand liegt: Wenn wir den Men- stand und dem Handwerk hilft. schen das Gefühl geben, dass uns ökonomische Lehr- Nehmen wir zum Beispiel die Banken. Stellen wir sätze wichtiger als menschliche Schicksale sind, werden uns vor, wir hätten die Banken nicht mit einem riesigen wir in unserem Land die Unterstützung der Menschen Milliardenkredit gestützt. Wer würde dem Handwerk für unsere Wirtschaftsordnung und unsere Demokratie und dem Mittelstand dann die Kredite zur Verfügung verlieren. Dieses große Risiko möchte ich nicht einge- stellen, die sie brauchen, um zu investieren und ihren hen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Betrieb am Leben zu erhalten? Stellen wir uns vor, wir (Beifall bei der SPD) würden bei Opel einfach die Hände in den Schoß legen. Was würde dann mit den vielen Tausend kleinen Zulie- Im Übrigen glaube ich, dass alle Ismen in unserer ferbetrieben mit 300 bis 500 Beschäftigten passieren, die Gesellschaft gescheitert sind. Der Kommunismus und an Opel dranhängen? Das zeigt: Es ist ein großer ge- Sozialismus mit seiner Staatsdiktatur sind endgültig öko- danklicher Fehler, wenn man glaubt, Großindustrie und nomisch und moralisch gescheitert. Mittelstand gegeneinander ausspielen zu können. Beiden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss geholfen werden. Sie sind voneinander abhängig. neten der SPD) Das ist die Politik der Großen Koalition. Der Neoliberalismus mit der Diktatur des Marktes ohne (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jede soziale Verantwortung ist ebenfalls gescheitert. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang heute (B) ein kleines Fazit ziehen: Was habe ich in elf Jahren Bun- Ich sage den Bürgerinnen und Bürgern immer: Miss- (D) destag eigentlich gelernt? Einiges. Auf eines möchte ich trauen Sie all den Politikern, die meinen, mit Heilslehren aber hinweisen: Anders als 1998, als ich gestartet bin, und ideologischen Gebäuden ein Volk oder ein Bundes- glaube ich heute nicht mehr daran, dass es hundertpro- land umgestalten zu können. Nein, diejenigen sind die zentig richtige und hundertprozentig falsche Lösungen besten Politiker, die sich Tag für Tag bemühen – Frau für Probleme gibt. Es gibt kein Schwarz oder Weiß. Jede Präsidentin, ich bin sofort fertig –, mit einzelnen Refor- Lösung hat Zwischentöne, Grautöne und ist allenfalls men in harter Arbeit das Schicksal der Menschen zu ver- überwiegend richtig. bessern. Lassen Sie mich das am Beispiel Opel illustrieren. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So, wie es die Natürlich kann man mit einem gewissen Recht argumen- CDU/CSU macht!) tieren, dass es ökonomisch falsch wäre, Opel mit Mil- Das sind die Politiker, die gute Leistungen erbringen und liardenbeträgen oder gar durch eine vorübergehende denen man vertrauen sollte. Staatsbeteiligung zu retten; denn wenn Opel vom Markt ginge, würden andere Automobilbauer, auch in Deutsch- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) land, davon profitieren. Subventionen in Milliardenhöhe Mir bleibt an dieser Stelle nur noch, mich bei Ihnen für Opel verzerren natürlich den Wettbewerb zulasten für die gute Zusammenarbeit in den letzten elf Jahren von Konkurrenten, die jetzt nicht diese Probleme haben, sehr herzlich zu bedanken. Wir haben manchen Strauß weil sie in der Vergangenheit offenbar besser waren. Da- miteinander ausgefochten. In meiner Partei habe ich dies für würden sie aber bestraft, wenn der andere staatliche manchmal genauso wie mit der politischen Konkurrenz Subventionen bekäme. Hinzu kommt, dass wir im Auto- getan. Es war aber immer – fast immer jedenfalls – mobilbau weltweit eine Überproduktion von etwa menschlich anständig und fair. Auch dafür bedanke ich 15 Millionen Autos haben. Angesichts dessen scheint es mich. nicht übermäßig vernünftig zu sein, Opel zu unterstüt- Mein allerletzter Satz – er ist ausnahmsweise pathe- zen. Ich frage: Können wir nach dieser Analyse wirklich tisch; dies liegt mir sonst wirklich nicht –: Uns allen eine schnelle und einfache Lösung finden? Können wir wünsche ich, dass am Ende dieser Wirtschaftskrise die sagen, wir tun nichts? Werte von Freiheit und Solidarität heller erstrahlen mö- Ich fürchte, das können wir nicht, weil es im Zusam- gen als zuvor. menhang mit Opel noch eine andere Wahrheit gibt. Wie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. wollen wir denn den Familien in Rüsselsheim oder gegenübertreten? Wollen wir denen sagen, das (Beifall im ganzen Hause) 23396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie schreiben richtigerweise: (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert Deutschland braucht endlich ein mittelstands- für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. freundliches Klima. Dann folgen Ihre Vorschläge. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Unter dem ersten Punkt fordern Sie, der Deutsche Kollegen! Lieber Rainer Wend, ich beginne mit dir: Wir Bundestag möge beschließen, Steuern und Abgaben zu haben 1998 zusammen angefangen und verlassen in die- senken. sem Jahr zusammen den Bundestag. Du hast eben noch ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einmal ein Beispiel für deinen doch eher erfrischenden NEN]: Großartig!) Eigensinn geliefert, den wir in vielen Debatten erlebt ha- ben. Das hat viel Spaß gemacht. Dies wollte ich ein- Ich weiß nicht, ob Sie in den letzten Jahren und vor allen gangs festgestellt haben. Dingen in den letzten Monaten hier nur gesessen und ge- schlafen haben. Ich muss dich aber auch zugleich kritisieren, weil du (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meintest, alle Ismen hätten sich überholt oder seien falsch gewesen. Es gibt einen Ismus, der nach wie vor Wir sind aufgrund einer systemischen Finanzmarktkrise wirkt, der richtig ist und weiterhin vorangebracht wer- in eine globale Wirtschaftskrise geraten, deren Ausmaße den muss: der Feminismus. wir gerade für den Mittelstand in diesem Jahr überhaupt noch nicht vollständig absehen können. Dann kommen (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Sie mit Ihrem Konzept – das kennen wir ja aus Ihrem DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Ab- Wahlprogramm –, durch das Steuern und Abgaben um geordneten der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend ungefähr 35 Milliarden Euro gesenkt werden sollen. [SPD]: Bei drei Töchtern muss ich mir das ge- fallen lassen!) Ich weiß wirklich nicht, in welcher Welt Sie leben. Ich weiß nicht, warum Sie an dieser Stelle nicht das the- Meine Damen und Herren, nun zum Thema dieser matisieren, was es zu thematisieren gilt. Wir brauchen Debatte. Herr Brüderle, Sie haben sehr engagiert gespro- Hilfestellungen auch für den Mittelstand und für das chen. Ehrlich gesagt würde ich Sie lieber bei einer Rede Handwerk. zur Krönung der Weinkönigin als bei einer weiteren (Frank Schäffler [FDP]: Ja, Steuersenkungen!) Rede über den deutschen Mittelstand in Zeiten der Krise erleben. (B) Wir haben Konjunkturpakete aufgelegt, von denen wir (D) wissen – das muss ich kritisch zu Herrn Wend sagen –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass sie nicht ordentlich wirken werden, solange die Ich will Ihnen auch sagen, warum: Sie haben dieses Finanzmarktkrise andauert, solange der löchrige Schirm Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Ausgangspunkt für den Finanzmarkt sozusagen nicht repariert ist. Da- war eine Große Anfrage. Sie haben wohl relativ schnell rüber haben wir im Ausschuss diskutiert; das sagt Ihnen gemerkt, dass diese Anfrage, die sich damit auseinander- jeder, und das ist völlig klar. Gleichwohl brauchen wir setzt, dass die Bürokratiekosten auch den Mittelstand die Konjunkturprogramme. belasten, glatt am Thema vorbeigegangen ist; denn he- Was haben Sie in Ihrer großartigen Rede zum Mittel- raus kam, dass die Bürokratiebelastungen bei kleinen stand dazu gesagt? Nichts. Was sagen Sie dazu, dass es und mittleren Betrieben gerade 1,2 Prozent ausmachen. zwar – das ist hier richtig bemerkt worden – etwa im Be- Sie haben offenbar bemerkt, dass Sie sich da auf einen reich der Gebäudesanierung positive Ansätze gibt, aber Nebenschauplatz begeben haben. dass es schon im Sommer zu Problemen kommen wird bei der gesamten mittelständischen, handwerklich struk- Also haben Sie jetzt noch einen Antrag eingereicht, turierten Zulieferindustrie, zum Beispiel im großen Be- über den heute debattiert wird und der leider auch in die reich der Automobilzulieferer? Wir haben am Mittwoch Ausschüsse überwiesen werden wird. Ich sage deswegen im Ausschuss gehört und gemeinsam darüber diskutiert, „leider“, weil dieses Thema in der Krise natürlich wich- dass die kleinen und mittleren Betriebe in eine Finanz- tig ist. Der Mittelstand beschäftigt 80 Prozent der klemme kommen werden – das Konjunkturprogramm Arbeitnehmer und schafft in ungefähr gleicher Größen- müsste eben anders gestrickt sein –, weil sie Bonitäts- ordnung Ausbildungsplätze. Außerdem gibt es beim probleme haben. Wenn Sie der Anwalt des Mittelstandes Mittelstand unglaublich viele innovative Potenziale, die sind, dann setzen Sie sich doch einmal mit solchen Fra- für den Weg der Wirtschaft aus der Krise heraus von Be- gen auseinander und nicht nur mit dem alten Hut Steuer- deutung sind. Es ist richtig, das aufzugreifen. Aber was senkungen! Das passt nicht zu dieser Krise; das alles haben Sie uns geliefert? In Ihrem Antrag setzen Sie sich sind Konzepte von gestern. an keiner Stelle mit den aktuellen und zukünftigen He- rausforderungen auseinander, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Reinhard Schultz [Everswin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kel] [SPD]) sondern liefern eine Sammlung alter Hüte. Ich möchte Ich will einen weiteren Punkt aus Ihrem Antrag auf- das anhand einzelner Punkte Ihres Antrages zeigen. greifen. Sie schreiben, dass das Steuer- und Abgabensys- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23397

Dr. Thea Dückert (A) tem vereinfacht werden muss. Das finde ich richtig. Im ben die Ergebnisse vieler Gutachten, beispielsweise auch (C) folgenden Punkt plädieren Sie aber dafür, die Erbschaft- des Stern-Berichts, gezeigt –, dass die wirtschaftliche steuer in Länderkompetenz zu überführen, in jedem Basis für die Großindustrie, für die kleinen Unterneh- Bundesland soll also eine andere Erbschaftsteuer gelten. men, für den Mittelstand und für das Handwerk zerstört Entschuldigung, haben Sie zwischen dem zweiten und würde, wenn nicht gegengesteuert wird. dem dritten Punkt vergessen, was Sie unter dem zweiten Punkt geschrieben haben? Wie um Gottes willen wollen (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ihr seid Sie Steuervereinfachung und -erleichterung in Deutsch- Schwarzmaler!) land erreichen, wenn Sie statt einer Erbschaftsteuer Herr Brüderle, auch Sie müssen sich einmal mit dem 16 verschiedene einführen? Mir erschließt sich das nicht. Argument auseinandersetzen, dass sich der Staat nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heraushalten darf, sondern dass er durch die Aufstellung von Regeln und die Schaffung von Rahmenbedingungen Ich komme noch zu einem anderen Punkt bezüglich den Mittelstand, die Wirtschaft insgesamt und die Indus- Steuern und Abgaben. Dies steht zwar nicht im Antrag, trie in die Lage versetzen muss, zur notwendigen ökolo- aber Sie haben es in Ihrer Rede erwähnt. Das ist meiner gischen Transformation des Wirtschaftens und des Ansicht nach der einzige richtige Punkt, den Sie erwähnt Produzierens, auch des Produzierens von Energie, beizu- haben, und er ist auch aktuell. Es geht um die Frage, was tragen. Der Staat muss Hilfestellung geben, damit es die Zinsschranke in der Krise für die mittleren und klei- gelingt, Wirtschaft und Industrie den Weg hin zu einer nen, aber auch für andere Betriebe bedeutet. Produktionsweise zu ebnen, die nicht auf Kosten zu- künftiger Generationen geht. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Man muss an einer Stelle recht haben!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich denke, dass man sich damit auseinandersetzen muss. Das waren nur einige beliebig herausgegriffene Bei- Zur FDP sage ich: Eine Schwalbe macht noch keinen spiele für die Forderungen, die die FDP in ihrem Antrag Sommer. In Ihren weiteren Vorschlägen setzt sich das formuliert hat. Desaster fort. Da es meine Redezeit erlaubt, greife ich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das Wort „belie- noch eine Ihrer Forderungen auf; es ist fast beliebig, big“ trifft das, was Sie da machen, gut!) welche man wählt. Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: Unter der Überschrift „Bürokratielasten senken“ Ein solcher Anwalt für den Mittelstand ist ein Anwalt, schreiben Sie den wunderbaren Satz – ich muss ihn vor- der nicht aus der Krise herausführt, sondern in die (B) lesen –: nächste Krise hineinführt. Ich hoffe, das hat jeder ge- (D) Der Staat muss sich aus der Wirtschaft zurückzie- merkt. Herr Brüderle, ich glaube, über die aktuelle Pro- hen. blematik müssen Sie, um es freundlich auszudrücken, noch ein bisschen nachdenken. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Tja! Hätten wir das bei den Landesbanken mal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lieber so gemacht!) sowie bei Abgeordneten der SPD – Rainer Brüderle [FDP]: Das müssen Sie gerade sa- Na, wunderbar! Dieses neoliberale Gerede, das wir mit gen!) Blick auf die Banken schon vor der Finanzkrise immer von Ihnen gehört haben, müsste aufgrund der Erfahrun- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gen mit der Krise, in der wir gerade stecken, die von den Banken und vom Finanzmarkt insgesamt ausgelöst wor- Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Laurenz den ist, doch endlich auch von Ihnen relativiert werden. Meyer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU – Heinz-Peter Haustein und bei der SPD – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das ist ein guter Mann!) [FDP]: Wer hat denn die Hedgefonds damals eingeführt? Das wart doch ihr von Rot-Grün!) Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzmarktkrise ist durch den regellosen Neolibe- Herr Brüderle, zunächst einmal bewerte ich es positiv, ralismus, dem Sie hier das Wort reden, ausgelöst wor- dass Sie einen Antrag zu diesem Thema eingebracht ha- den. ben. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: (Rainer Brüderle [FDP]: Gut!) Ach! Das ist doch etwas ganz anderes!) Nun wollen Sie das wieder auf die Wirtschaft übertra- Wenn wir heute, am Ende dieser Sitzungswoche und gen. Meine Damen und Herren, ich finde das fahrlässig. kurz vor der Osterpause, über den Mittelstand reden, sollten wir uns alle vor Augen führen, dass in solchen Wir stecken in einer ökonomischen Krise. Gleichzei- Krisensituationen, wie wir sie zurzeit erleben, die Gefahr tig stecken wir in einer Klimakrise, die sich, wenn nichts besteht, dass in der Medienberichterstattung fast aus- passiert, zu einer systemischen Krise entwickeln wird. schließlich von großen Unternehmen die Rede ist. Vor Eine solche systemische Krise hätte zur Folge – das ha- diesem Hintergrund ist es gut, dass wir uns heute noch 23398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Laurenz Meyer (Hamm) (A) einmal mit den Grundlagen unserer Wirtschaftspolitik an der Tagesordnung sind – man denkt über den Tag hi- (C) beschäftigen. naus, nicht in Quartalsabschlüssen, sondern möglicher- weise sogar bis hin zur nächsten Generation –, mit Zu den Grundlagen unserer Wirtschaftspolitik gehört, Gesetzesbestimmungen auf die großen Kapitalgesell- zumindest aus Sicht meiner Fraktion, dass wir uns bei schaften, die Publikumsaktiengesellschaften, zu übertra- jeder Entscheidung, die wir zu treffen haben, ob im Be- gen, was mühsam ist. Wir wollen, dass in den großen reich der Steuerpolitik oder wo auch immer, fragen müs- Gesellschaften so wie in den Familienunternehmen ge- sen: Wie wirkt sich diese Entscheidung auf familien- dacht wird. geführte Unternehmen aus? Das ist für mich das wichtigste Kriterium. Denn die familiengeführten Unter- (Beifall bei der CDU/CSU) nehmen und nicht etwa die großen Publikumsaktienge- sellschaften sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Deswegen ist dieses Denken in den Kategorien des Mit- Wirtschaftspolitik. telstandes nicht rückwärtsgewandt, sondern das ist die Zukunft – übrigens auch international. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. [SPD] – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Wir können bei der Ausbeutung von Rohstoffen in Sehr gut!) Afrika doch nicht mit den kapitalistischen Prinzipien des kommunistischen China wetteifern wollen, sondern wir Dieses Ziel haben wir verfolgt, und wir haben durch- können nur mit der Stärke der deutschen Unternehmens- gehalten, wenn auch zum Teil mit großen Schmerzen; kultur auftreten, wonach Nachhaltigkeit wichtig ist und ich erinnere nur an die Diskussionen über die Erbschaft- ein Wort noch etwas gilt, sodass solche Prinzipien vor steuer. Ort mehr Bedeutung erhalten und Rechtsstaatlichkeit und ähnliche Dinge gefördert werden. Nur dann und (Rainer Brüderle [FDP]: Oh ja! Was habt ihr nicht, wenn wir mit denen mithalten wollen, denen Sie da bloß angerichtet?) lange Zeit nachgeeifert haben, werden wir eine Chance Ich glaube aber, es wird sich herausstellen, dass wir haben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Sie heute manches getan haben, was vernünftig war, wenn auch noch nicht begriffen haben, wie eine Wirtschaftsordnung mitunter erst auf großen Druck hin und unter starken funktioniert, in der auf die Menschen und nicht auf ir- Krämpfen. gendwelche ideologischen Vorstellungen gesetzt wird. Herr Schui, ich greife eine Bemerkung von Ihnen zum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Patriotismus auf, weil sich daran ganz besonders gut dar- Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei dem stellen lässt, dass Sie wirklich – ich sage Ihnen das ganz Kollegen Wend für die faire, konstruktive und manchmal offen – überhaupt keine Ahnung haben. Genau darum (B) auch kontroverse Zusammenarbeit bedanken. Es hat (D) geht es: Die mittelständischen Familienunternehmen Spaß gemacht. Alles Gute für die Zukunft! Das war jetzt sind mit ihrer Region und mit ihrer Heimat verbunden. sehr, sehr positiv gemeint. Ich habe ihm das auch schon (Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!) persönlich gesagt. Sie engagieren sich in den Vereinen und Verbänden, tun Gleichzeitig möchte ich ein Thema aufgreifen, das etwas für ihre Städte. Sie sind deshalb so wichtig, weil Sie, lieber Herr Kollege Wend, schon angesprochen ha- sie vor Ort an ihren Produktionsstandorten leben und die ben, nämlich Opel. Dabei möchte ich an das Stichwort Leute in ihren Betrieben kennen. „Menschliche Schicksale“ anknüpfen. Jawohl, der ent- scheidende Schlüssel ist das Betrachten von Menschen Ich sage Ihnen: Ich würde den schlimmsten Eindruck und nicht von irgendwelchen anonymen Unternehmen. von einem Unternehmer, der einen 20- oder 50-Mann- Betrieb leitet, gewinnen, wenn die Leute in seinem Be- Ich sage hier aber ganz klar: Wer den Menschen in ei- trieb unbedingt, um jeden Preis einen Betriebsrat haben ner solchen Situation vorgaukelt, dass mit politischer wollten, weil es ihnen so schlecht geht. Wenn er nicht Allmacht wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten außer Kraft mehr klarkommt oder die Leute nicht mehr mit ihm klar- gesetzt werden könnten, der treibt ein böses Spiel mit kommen, dann stimmt in solch einem Betrieb etwas den Menschen. nicht. Das ist wirklich ein Qualitätsurteil. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – In den Betrieben, in die ich gehe, kennen die Fami- Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lienunternehmer alle Arbeitnehmer, die in den Produk- NEN]: Das müssen Sie einmal mit Herrn tionsstätten arbeiten, noch mit Namen, und sie wissen Rüttgers besprechen!) über die familiäre Situation Bescheid. Das ist eine posi- tive Auszeichnung. Sie haben in dem Zusammenhang Ich sage das im Angesicht der Leute, die ich vor Augen gesagt, Patriotismus sei rückwärtsgewandt. Das Gegen- habe, die sich vor den Menschen, die Angst um ihre Ar- teil ist der Fall. beitsplätze haben, auf eine Tribüne stellen und ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. Holzmann ist ein war- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nendes Beispiel. Wenn es keine langfristige Konzeption für die Menschen gibt, dann ist es unverantwortlich, so Wir versuchen zurzeit übrigens gemeinsam – das gilt mit dem Schicksal von Menschen zu spielen. zum Beispiel hinsichtlich der Managergehälter und der entsprechenden Veränderungsvorschläge –, Dinge, die in (Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann familiengeführten Unternehmen richtig, angebracht und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann würde Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23399

Laurenz Meyer (Hamm) (A) ich einmal mit Ihrem Ministerpräsidenten in In der Opposition läuft man Gefahr, zu einfachen (C) Nordrhein-Westfalen ein Gespräch führen!) Antworten zu neigen. Wir müssen aber alles tun, um den Menschen klarzumachen, dass die Kompliziertheit und Deshalb kümmert man sich als verantwortungsvoller Unübersichtlichkeit der Lage in dieser Zeit keine einfa- Politiker zunächst um die Entscheidungsgrundlagen, und chen Antworten zulassen. Ja oder Nein sagt man erst nach verantwortungsvoller Prüfung, also dann, wenn man wirklich dafür geradeste- Danke schön. hen kann. Dazu würde ich uns allen raten, sowohl denen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die schon heute sagen, dass sie nicht helfen können, als neten der SPD) auch denen, die auf jeden Fall helfen wollen. Kollege Brüderle, vieles von dem, was Ihr Antrag Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: enthält, ist leider Gottes nichts Neues. Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, hat (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Kollegin Lötzsch das Wort zu einer Kurzinterven- NEN]: Gar nichts!) tion.

– Ja. Er enthält gar nichts Neues. Wie ich schon früher Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): einmal geflachst habe, kommt es einem ein bisschen so Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Meyer, vor, als gäbe es im Computer eine Zufallsvariable, durch Sie haben dem Redner meiner Fraktion vorgeworfen, die die altbekannten Punkte immer wieder neu gemischt den Mittelstand als rückwärtsgewandt bezeichnet zu ha- würden. ben. Ich weise darauf hin, dass sich der Kollege Schui (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf den Antrag der FDP bezogen hat, und stelle für un- NEN]: Genau!) sere Fraktion und die mit uns verbundene Partei klar, dass wir ein sehr gutes Verhältnis zum Mittelstand ha- Modern wäre zum Beispiel, an etwas anzuknüpfen, ben. das die Große Koalition geschafft hat, indem man etwa darauf hinweist, dass Handwerkerrechnungen und haus- (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: haltsnahe Dienstleistungen steuerlich absetzbar sind, Ach!) dass dies aber noch lange nicht genug ist. Der Weg muss In Ostdeutschland – ich habe meinen Wahlkreis in in die Richtung gehen, einen Privathaushalt in Zukunft Berlin und habe von dort aus viele Betriebe in den neuen wie ein Unternehmen zu behandeln. Bundesländern kennen gelernt – gibt es fast nur mittel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ständische Betriebe und leider viel zu wenig Großbe- (B) triebe. Für uns ist völlig klar, dass vor Ort eine große (D) Das wäre modern und würde zum Kampf gegen Sachkenntnis vorhanden ist. Viele mittelständische Be- Schwarzarbeit und zur Schaffung von mehr Arbeitsplät- triebe sind erst nach der Wende entstanden. Die Groß- zen in Deutschland beitragen. Der Kündigungsschutz ist betriebe wurden aufgelöst. Die Leute haben sich ein kein geeigneter Ansatz. Betriebliche Bündnisse für Ar- Herz gefasst und kreativ Arbeitsplätze geschaffen. beit gibt es heute praktisch in jedem Tarifvertrag. Ich weise von mir, dass wir diese Menschen als rück- (Zuruf des Abg. Rainer Brüderle [FDP]) wärtsgewandt bezeichnen. Im Gegenteil: Wir sind enge Verbündete von ihnen. – Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Ich lade Sie gerne ein, Herr Meyer – im Zusammen- Wir sind gut beraten, wenn wir in dieser Zeit zu nach- hang mit der Frage Ihrer Nominierung wurde festge- vollziehbaren Entscheidungen kommen. Sie sind daran stellt, dass Sie sich viel in Berlin aufhalten; das hat sich zu messen, wie sie sich auf die familiengeführten Unter- dann auch ausgewirkt –, mit mir gemeinsam mittelstän- nehmen auswirken. dische Betriebe in meinem Berliner Wahlkreis zu besu- Ich unterstelle Ihnen, dass Sie in der Regierungsver- chen. Ich kann Ihnen eine größere Auswahl anbieten. Ich antwortung anders reden würden als jetzt in der Opposi- weiß nicht, was Ihren Interessen am meisten entspricht. tion. Das ist vielleicht der Maschinenbau; in Betracht käme auch ein Brauereibesuch. Ich glaube, das wäre für uns (Frank Schäffler [FDP]: Das dauert nicht mehr beide interessant. lange!) (Beifall bei der LINKEN – – Dann werden Sie anders reden. Denn die Situation ist [CDU/CSU]: 1973 haben Sie die letzten Priva- in dieser Zeit kompliziert. Sie kann keine einfachen Ant- ten enteignet!) worten vertragen. (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/ Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: CSU]) Herr Kollege Meyer, bitte. Die Antworten sind so kompliziert wie die derzeitige Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Krise. Liebe Frau Kollegin, ich nehme Ihre Ausführungen (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- gerne zur Kenntnis und hoffe, dass Sie sich in Zukunft neten der SPD) danach richten. Ich kann das alles nur aufgrund der Be- 23400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Laurenz Meyer (Hamm) (A) ratungen im Wirtschaftsausschuss und der heutigen Ein- haupt nichts mit dem zu tun, was hier oft gesagt wird –, (C) lassungen beurteilen. Bisher wurde immer in Kategorien müssen die Mittelständler ihre Betriebe steuern können. von Großbetrieben oder gewerkschaftlichen Organisa- Dazu brauchen sie bestimmte Entscheidungsfreiheiten. tionen argumentiert, aber nicht in der Kategorie der Sehr viele Mittelständler fühlen sich aber in ihrer Ent- Menschen. scheidungsfreiheit – ich sage aus eigener Erfahrung: zu Recht – durch Vorschriften und bürokratische Regelun- In den mittelständischen Betrieben – deshalb bin ich gen eingeschränkt. Diese Gängelung wirkt sich sehr häu- ihnen gegenüber sehr positiv eingestellt – argumentiert fig zulasten von Beschäftigung und Wachstum aus und man aber nicht in ideologischen Kategorien, sondern in nimmt den Unternehmen die dringend benötigten Mög- Kategorien des Sichkennens und der Konzentration da- lichkeiten, sich zu bewegen. Wir sollten dagegen kämp- rauf, den eigenen Betrieb zu erhalten und langfristig fen und immer daran denken, ob unsere Gesetze unter weiterzuführen. diesem Gesichtspunkt Sinn machen. Bei einer ganzen Ich will Ihnen erklären, welches Idealbild für mich Reihe von Gesetzen ist das nicht der Fall; dazu komme dahintersteht. Dem Idealbild eines mittelständischen Un- ich gleich noch. ternehmers entspricht für mich – Sie werden möglicher- In der momentanen Situation fehlt den Unternehmen, weise überrascht sein – der Waldbauer. Er pflanzt heute wenn die Aufträge wegbrechen, wenn es nicht mehr so Bäume an, deren Ertrag möglicherweise erst die nächste rund läuft wie zuvor und wenn sie kein großes Eigen- oder die übernächste Generation ernten kann. Das hier kapitalpolster haben – hier sieht es zwar etwas besser aus zum Ausdruck kommende Denken lässt sich in vielen als vor einigen Jahren, aber wir sind weit davon entfernt, mittelständischen Betrieben finden. Ich glaube, davon dass wir damit zufrieden sein können –, häufig Liquidi- haben Sie nichts, aber auch gar nichts begriffen, obwohl tät. Sehr viele Mittelständler beklagen, dass die Voraus- Sie eben etwas anderes vorgetragen haben. zahlungen für dieses Jahr auf der Basis der vergangenen (Beifall bei der CDU/CSU) guten Jahre ermittelt werden. Hier gibt es zwar einen sehr großen Handlungsspielraum. Wie ich höre, wird er Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: aber nicht genutzt. Man kann vielleicht versuchen, den Nun hat das Wort der Kollege für die Handlungsrahmen durch komplizierte Verfahren zu er- FDP-Fraktion. weitern. Manchmal ist es aber so spät oder so aufwendig, dass die eigentliche Arbeit in den Unternehmen erheb- lich erschwert wird. Hier ist der Finanzminister gefragt, Paul K. Friedhoff (FDP): sich darüber intensiv zu informieren und gegebenenfalls Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und durchzusetzen, dass der Handlungsspielraum genutzt (B) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in wird, damit wir nicht mehr von solchen Fällen hören (D) unserem Antrag zur Stärkung des Mittelstandes dessen müssen. Wenn der Handlungsspielraum nicht ausge- Bedeutung umfassend beschrieben. Mein Kollege schöpft wird, wird den Unternehmen dringend benötigte Rainer Brüderle hat das noch einmal klargemacht. Herr Liquidität – diese steht dem Staat nicht zu – entzogen Fuchs, Sie haben von Populismus gesprochen. Nach und die momentane Situation verschärft. Hier muss et- meiner Meinung hat er sich nur ziemlich klar ausge- was geschehen. Ich möchte Sie bitten, hieran zu arbei- drückt, sodass es auch diejenigen verstehen können, die ten. keine Volkswirte sind. Die meisten Mittelständler kön- nen mit vielen Begriffen, die hier verwendet werden, re- Zurzeit fallen der Großen Koalition viele ihrer Geset- lativ wenig anfangen, weil die Dinge zumindest für sie zesänderungen auf die Füße. Diese Änderungen hat sie nicht auf den Punkt gebracht werden. Man muss vieles vorgenommen, weil sie in guten Zeiten gemeint hat, sich quasi übersetzen, wenn man vom Mittelstand verstanden diese leisten zu können. Ein Beispiel ist das Vorziehen werden will. Dafür danke ich meinem Kollegen. Ich des Zahlungstermins der Sozialversicherungsabgaben. finde das in Ordnung. Das ist kein Populismus, sondern Sie können nun sagen: Das ist schon hundertmal genannt Klartext. worden. – Aber Sie haben diese Regelung noch nicht ge- ändert. (Beifall bei der FDP – Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU]: Wo ist der Kollege denn?) (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist das Problem!) Bevor ich zu einigen anderen Punkten komme, lassen Sie mich einen positiven Punkt ansprechen. Laut Mittel- Sie kennen zwar das Problem, das wir aufzeigen, nur lö- stands-Monitor der KfW fällt der Rückgang der Investi- sen Sie es nicht, obwohl auch Sie merken, dass wir recht tionsbereitschaft im Mittelstand wesentlich geringer haben. aus als in der Großindustrie. Hieran können Sie sehen, Um die Rentenversicherung und die Sozialversiche- dass der Mittelstand sein Personal so weit wie möglich rungssysteme insgesamt zu retten, ist über das Vorziehen hält, um für den Aufschwung nach der Krise gerüstet zu der Zahlung bei den Sozialversicherungsabgaben der sein. Daran zeigt sich, dass Mittelständler – das wurde deutschen Wirtschaft Liquidität in Höhe von 20 Mil- bereits gesagt – häufig sehr weit nach vorne sehen und liarden Euro entzogen worden. Warum ist das gemacht die aktuelle Krise nicht zum Anlass nehmen, sozusagen worden? Es diente nicht dazu, den Mittelständlern zu destruktiv zu arbeiten. helfen. Sie sind besonders betroffen, weil sie sehr viele Damit diese gelebte unternehmerische Verantwortung Menschen beschäftigen. Dieses Verhalten gegenüber der weiterhin wahrgenommen werden kann – das hat über- Wirtschaft ist beispielhaft für eine Reihe von weiteren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23401

Paul K. Friedhoff (A) Schritten, die in der Großen Koalition beschlossen wor- Edelgard Bulmahn (SPD): (C) den sind. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Auch von meiner Seite zunächst ei- Ein zweiter Punkt – auch dieser ist oft angesprochen nen ganz herzlichen Dank an Rainer Wend – Dank an worden, ich nenne ihn trotzdem – ist die Mittelstands- dich, Rainer, nicht nur weil du wirklich auf eine ganz feindlichkeit des Gesetzespaketes zur Unternehmen- tolle Art und Weise Eigensinn und Gemeinsinn, was für steuerreform. Ich beziehe mich auf die Regelungen zur Sozialdemokraten auf jeden Fall wichtig ist, kombi- Hinzurechnung von gezahlten Zinsen und gezahlten nierst, sondern weil du auch die Fähigkeit besitzt, in sehr Mieten bei der Berechnungsgrundlage der Gewerbe- kritischer Reflexion zu Entwicklungen Stellung zu neh- steuer, obwohl gar keine Gewinne vorhanden sind. men. Daher werden wir dich vermissen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Laurenz (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber nicht Meyer [Hamm] [CDU/CSU]) alle!) Ich habe es immer so verstanden, dass die Gewerbe- Aber du bleibst ja in Berlin. Wir werden dich auch in Zu- steuer eine Ertragsteuer sein sollte. Aber jetzt ist sie zu- kunft häufig treffen können. Viel Erfolg und alles Gute mindest an dieser Stelle eine Substanzsteuer. Zurzeit für deine neue Arbeit! sind die Zinsen zur Kapitalbeschaffung höher, weil man (Beifall bei der SPD sowie des Abg. sich in einer schlechten Situation befindet. Dadurch wird Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU] – Dr. Rainer das Problem verschärft. Auch hier sollten Sie überlegen, Wend [SPD]: Danke!) was Sie da beschlossen haben und ob man das nicht ein- fach rückgängig machen sollte. Ich gestehe, am Anfang der Woche, Herr Friedhoff, hatte ich noch eine große Hoffnung. Ich hatte die große (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Hoffnung, dass die FDP aus der Krise, die wir erleben Richtig!) und die in ihrer Dramatik wirklich einmalig ist, Rück- schlüsse zieht und neue Ideen entwickelt. Ich muss aber Solche Maßnahmen verschärfen die Lage der Unter- sagen: Meine Hoffnung wurde enttäuscht. Das Fazit der nehmen. Es kann doch nicht wahr sein, dass man für Anfrage und des Antrags ist, dass es von der FDP nichts nicht gezahlte Gewinne eine Gewinnsteuer bzw. Ertrag- Neues gibt: steuer zahlt. Das muss so schnell wie möglich geändert werden. Steuern runter, Abgaben runter, Löhne runter, Mitbe- stimmung abschaffen. Das ist die Quintessenz der An- (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das stimmt!) träge, die Sie vorgelegt haben. Kurz gesagt: Deregulie- (B) rung ohne Ende. Derlei Einfalt – lassen Sie mich das (D) Es handelt sich hier um faktische Steuererhöhungen, die sehr offen sagen – passt zwar auf einen Bierdeckel, aber insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen Ihre Forderungen sind weder von ökonomischem Sach- eine erhebliche Belastung darstellen. verstand geprägt noch zeugen sie von Einsichtsfähigkeit. Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen von der Ich möchte noch einen Satz zu den betrieblichen FDP, tun schlicht so, als habe die schlimmste Weltwirt- Bündnissen für Arbeit sagen. Ich weiß, dass diese schaftskrise seit 80 Jahren überhaupt nichts mit markt- Bündnisse häufig eingegangen werden. Ich weiß aber radikalen Ideologien zu tun. Oder wollen Sie wirklich al- auch, dass sie in aller Regel auf sehr tönernen Füßen ste- len Ernstes behaupten, dass diese Krise durch zu viele hen, staatliche Vorschriften oder durch die Überregulierung (Ute Kumpf [SPD]: Nein!) der Finanzmärkte verursacht wurde? Das können Sie nicht ernsthaft behaupten. denn sie sind nicht gesetzeskonform. Nur einer muss (Beifall bei der SPD – Heinz-Peter Haustein klagen, und schon fällt das ganze Gebilde zusammen. [FDP]: Es geht um den Mittelstand!) Viele aber klagen nicht, weil sie erkennen, dass diese Bündnisse sehr viel Flexibilität bieten. Es kann aber Jetzt kann man Ihnen zugutehalten, dass Irren nicht sein, dass vor Ort eine Entscheidung gefällt wird, menschlich ist. Aber ich würde sagen: Einmal Irren ist die in Frankfurt, in Berlin oder wo auch immer von den menschlich, aber zweimal dem gleichen Irrtum zu unter- Verbänden erst noch bestätigt werden muss. Vielmehr liegen – genau das tun Sie mit diesem Antrag –, ist sollte man das den kleinen und mittleren Betrieben – sie schlichtweg dumm. handeln ja gerade verantwortlich – überlassen. (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Den Antrag ha- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ben Sie nicht richtig gelesen!) Wenn ich den Antrag lese, dann habe ich gelegentlich (Beifall bei der FDP) den Eindruck, dass man in der FDP glaubt, dass Ökono- mie Theologie sei. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall des Abg. Dr. Herbert Schui [DIE Nächste Rednerin ist die Kollegin Edelgard Bulmahn LINKE]) für die SPD-Fraktion. Ökonomie ist aber nicht Theologie. Ökonomische Theo- (Beifall bei der SPD) rien müssen sich dem Wirklichkeitstest stellen, und sie 23402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Edelgard Bulmahn (A) müssen diesen Test bestehen. Wenn sie das nicht tun, Seite stärker kritisch reflektieren, welche Konsequenzen (C) dann müssen ökonomische Theorien verändert werden. und welche Lehren aus dieser Krise gezogen werden Genau das vermisse ich bei Ihnen. können und gezogen werden müssen. (Beifall bei der SPD) Sie werden mir zweifellos alle zustimmen, wenn ich sage, dass der Mittelstand in unserem Land der Motor Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: für Wachstum und Beschäftigung ist. Viele von Ihnen Frau Kollegin, Herr Kollege Friedhoff würde gerne werden auch der Aussage zustimmen, dass der Mittel- eine Zwischenfrage stellen. stand oft der Vorreiter bei der Umsetzung von For- schungsergebnissen in neue Produkte, in Verfahren und Dienstleistungen ist. Genau darauf – auf Innovations- Edelgard Bulmahn (SPD): kraft, aber auch auf Qualität und Zuverlässigkeit – grün- Ja. det sich die Stärke der mittelständischen Unternehmen. Ihre Stärke gründet sich hingegen nicht auf niedrige Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Löhne oder nicht vorhandene Mitbestimmung. Bitte sehr. Um den Mittelstand und das Unternehmertum in un- serem Land zu stärken, braucht es einen handlungsfähi- Paul K. Friedhoff (FDP): gen Staat, einen Staat, der verlässliche Rahmenbedin- Frau Kollegin Bulmahn, Sie haben gerade wieder das gungen schafft – ich unterstreiche das Wort „verlässlich“ –, erzählt, was ich von Ihnen immer höre. Dabei habe ich der für fairen Wettbewerb sorgt – der Markt funktioniert geglaubt, dass Sie einmal zu der Einsicht kämen, dass nämlich nur, wenn es Regeln für einen fairen Wettbe- zwischen „Deregulierung“ und „keine Regeln“ ein werb gibt und diese auch eingehalten werden –, der für kleiner Unterschied besteht. sozialen Frieden sorgt und der die berechtigten Sorgen (Zuruf von der SPD: Ganz kleiner Unter- des Mittelstandes ernst nimmt. schied!) Was den Mittelstand heute allerdings umtreibt, ist Ich würde sogar sagen, dass das ein sehr großer Unter- nicht die Sorge vor staatlicher Reglementierung oder vor schied ist. Es ist unbestreitbar, dass wir in dieser Krise zu hohen Löhnen; die Hauptsorge der Mittelständler ist erleben – ich hoffe, Sie sehen das genauso –, dass an vielmehr, angesichts der wegbrechenden Aufträge manchen Stellen fehlende Regeln das Problem waren, – deren Zahl liegt bei 30 Prozent, 40 Prozent oder sogar während es an anderen Stellen, wo es nicht um so hohe darüber – nicht überleben zu können. Der Kollege Wend Milliardenbeträge geht, eine Überregulierung gibt, über hat zu Recht einen Zusammenhang zwischen den Unter- (B) die viele Leute klagen. Sie vermitteln hier wieder den nehmen und den mittelständischen Unternehmen herge- (D) Eindruck, dass Sie diese beiden Dinge vermischen. stellt: Wenn Aufträge der großen Unternehmen wegbre- chen, löst dies eine Kettenreaktion aus; denn dann brechen auch die Aufträge der kleinen Unternehmen Edelgard Bulmahn (SPD): weg. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Herr Friedhoff, da widerspreche ich Ihnen. Wenn man großen Unternehmen überleben und so die kleinen Un- Ihren Antrag liest, dann stellt man fest, dass Sie die glei- ternehmen mitziehen können. Opel hat allein in chen Instrumente vorschlagen, die Sie auch schon vor Deutschland 700 Zulieferfirmen. Bedroht ist somit nicht 10 oder 20 Jahren vorgeschlagen haben. Das tun Sie, ob- nur das Unternehmen Opel, sondern bedroht sind auch wohl diese Wirtschaftskrise ein Ausmaß hat, das wir diese 700 Zulieferfirmen. Ich könnte andere große Un- noch nicht erlebt haben, und obwohl wir ganz schmerz- ternehmen nennen, die viel mehr von ihnen abhängige haft erleben, dass die fehlende Regulierung der Finanz- Zulieferfirmen haben. märkte diese Krise zu einem ganz erheblichen Teil ver- ursacht hat. Wir benötigen dringend einen aktiv Der Mittelstand hat die Sorge, das für seine Unter- handelnden Staat, der in der Lage ist, tatkräftig anzupa- nehmungen nötige Geld nicht zusammenzubekom- cken, Investitionen durchzuführen und Gegenstrategien men. Außerdem hat er die Sorge, seine Belegschaft zu entwickeln. Wir müssen gegensteuern, damit der Bin- nicht halten zu können; schließlich will er mit einer er- nenmarkt nicht genauso zusammenbricht, wie der Ex- fahrenen Mannschaft wieder in den Aufschwung starten portmarkt zusammengebrochen ist. können. Diese Erkenntnis schlägt sich in Ihrem Antrag über- Die Koalition hat mit ihren Initiativen, dem Einsatz haupt nicht nieder. Sie sind weiterhin dafür, die Steuern gezielter Instrumente und mit den beschlossenen und zu senken, und Sie sind für den Abbau der Mitbestim- mittlerweile angelaufenen Programmen genau diesen mung. Sie verkennen, dass gerade die Mitbestimmung Sorgen Rechnung getragen. Wir stabilisieren den Ban- in vielen Betrieben eines der wirksamsten Instrumente kensektor, damit er seine Hauptaufgabe, das Funktio- dafür ist, Unternehmen am Leben zu erhalten und zu nieren des Geldkreislaufes in der Volkswirtschaft zu ga- vernünftigen Absprachen zwischen der Belegschaft und rantieren, wieder erfüllen kann. Das Funktionieren des der Unternehmensleitung zu kommen. Damit hat ein Un- Geldkreislaufes ist für den Mittelstand lebensnotwendig. ternehmen die Chance, eine solche Wirtschaftskrise zu Genau darüber haben wir am Mittwoch in der Aus- überstehen, um anschließend wieder in eine Wachstums- schusssitzung diskutiert. Wir haben mit dem Konjunk- phase einzutreten. All das findet in Ihrem Antrag über- turpaket – „Wir bauen Zukunft“ – die Binnennachfrage haupt keinen Niederschlag. Deshalb sollte man von Ihrer gestärkt, damit die mittelständischen Unternehmen mehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23403

Edelgard Bulmahn (A) Aufträge bekommen. Damit bringen wir gleichzeitig die Meine sehr geehrten Herren und Damen, kurzfristig (C) Modernisierung unseres Landes voran. Auch das ist müssen wir alle Kraft darauf konzentrieren, Arbeits- richtig. Das milliardenschwere Investitionsprogramm, plätze zu sichern und Unternehmen, ob groß oder klein, mit dem wir zum Beispiel Schulen und Bildungseinrich- vor der Insolvenz zu bewahren. Ihnen, Herr Meyer, tungen modernisieren wollen, hilft den jungen Men- sage ich dabei ganz klar: Natürlich muss man kritisch schen, den Kindern – das finde ich richtig – und insbe- prüfen, ob ein Unternehmen ein überzeugendes Konzept sondere auch den mittelständischen Unternehmen. hat, um in der Zukunft bestehen zu können. Ich sage aber genauso: Wer überhaupt nicht kämpft – das weiß ich aus Die gegenwärtige Finanzkrise trifft den Mittelstand in meiner langen politischen Erfahrung –, der hat schon einer ganz besonderen Art und Weise. Das zeigt sich an verloren. Uns geht es darum, nicht zu verlieren. dem Mittelstandsmonitor der KfW und der For- schungsinstitute. Das Geschäftsklima der kleinen und (Beifall bei der SPD) mittleren Unternehmen hat sich massiv verschlechtert. Kurzfristig müssen wir, wie gesagt, alle Kraft darauf Daran gemessen waren der Rückgang bei der Investi- konzentrieren, Arbeitsplätze zu sichern, Unternehmen tionsbereitschaft und der Stabilität der Beschäftigungs- vor der Insolvenz zu bewahren und Kaufkraft zu stabili- pläne der kleinen und mittleren Firmen relativ moderat; sieren. Deshalb hat unser Arbeitsminister Scholz schon da stimme ich Ihnen zu, Herr Friedhoff. Diese Firmen im letzten Jahr die Bezugsdauer für das Kurzarbeiter- brauchen unsere Unterstützung, damit sie den einge- geld von 12 auf 18 Monate erhöht. Damit können die schlagenen Weg fortsetzen können. Viele kleine und mit- Betriebe ihre Belegschaften halten und müssen sie nicht telständische Unternehmen denken nicht nur an heute, in die Arbeitslosigkeit entlassen. Zugleich erstatten wir sondern auch an morgen und versuchen, diese Krise zu den Arbeitgebern über die BA die Sozialversicherungs- überstehen und ihr knappes Fachpersonal zu halten, um beiträge bei Kurzarbeit zur Hälfte und bei Fortbildungs- für den nächsten Aufschwung gerüstet zu sein. maßnahmen während der Kurzarbeit sogar zur Gänze. Die kleinen und mittleren Unternehmen haben das be- Das alles hilft den Unternehmen wirklich. sondere Problem, dass sie in der Regel nicht über hohe Nun kommt die FDP daher und glaubt allen Ernstes, Rücklagen verfügen. Deshalb haben wir mit dem Son- die Forderung, Steuern und Abgaben noch weiter zu derprogramm, das wir schon im letzten Jahr beschlossen senken, stellen zu müssen. haben – es hatte ein Volumen von 15 Milliarden Euro; ich verweise auf die zweite Tranche in diesem Jahr –, die (Zuruf von der FDP: Richtig!) Möglichkeit deutlich verbessert, dass gerade diese Un- Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Das hilft dem Mit- ternehmen Kredite und Zuschüsse erhalten. Welche telstand wirklich nicht. (B) Wirkung das hatte, zeigt die Tatsache, dass schon An- (D) fang März, also kurze Zeit nachdem dieses Programm (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt angelaufen war, Anfragen nach Krediten mit einem Vo- nicht! Da hat die FDP schon recht!) lumen von rund 1,2 Milliarden Euro vorlagen. In den Dagegen helfen die Programme und Maßnahmen, die letzten Wochen hat sich der Umfang dieser Anfragen wir gemacht haben, tatsächlich den Menschen und den ganz dramatisch erhöht. Das ist aber gut und richtig; Unternehmen. Meine Vorredner haben ja schon eine schließlich sollen diese Programme in Anspruch genom- ganze Reihe von Programmen und Maßnahmen genannt: men werden. Ich will diese Bühne nutzen, um die Ban- CO2-Gebäudesanierungsprogramm, erweiterte Abschrei- ken und die Sparkassen zu ermutigen, diese Programme bungsmöglichkeiten – hier haben wir ja Regelungen zum ihren mittelständischen Kunden anzubieten. Teil vorgezogen –, die Möglichkeit zur steuerlichen Ab- Ich hoffe, dass das Bundeswirtschaftsministerium setzbarkeit von Handwerkerdienstleistungen. Auch die seine Informationsoffensive über das Programm wirk- Verschrottungs- bzw. Umweltprämie möchte ich nennen. lich zügig über die Rampe bekommt. Die Programme Sie hilft ja nicht nur den Großunternehmen, sondern müssen bekannt sein bzw. bekannter gemacht werden auch den Verschrottungs- und Zulieferbetrieben. All das und dann auch genutzt werden. Da kommt den Banken hilft tatsächlich und zeigt, dass wir einen aktiv handeln- und Sparkassen sozusagen eine Schlüsselrolle zu. den Staat brauchen und nicht einen Staat, der sich auf die Rolle des Nachtwächters beschränkt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Das Besondere an diesem Programm ist im Übrigen, Die Koalition hat gehandelt. Das gilt im Übrigen auch dass es mit den optionalen Haftungsfreistellungen ei- für den Bürokratieabbau. Darüber haben wir heute gentlich optimale Bedingungen bietet. Wir garantieren noch nicht so viel geredet. Aber indem wir Gesetzge- nämlich vonseiten des Bundes Haftungsfreistellungen bungsverfahren, Verordnungen und Richtlinien durch zwischen 50 und 90 Prozent. Das heißt, das Risiko für den Normenkontrollrat überprüfen ließen, hat die Koali- die Banken und Sparkassen ist extrem gering. tion es geschafft, spürbar Bürokratie abzubauen. Nach- dem wir es auf Bundesebene geschafft haben, wirklich Jetzt ist es ganz wichtig und von entscheidender Be- spürbar Bürokratie abzubauen, deutung, dass die gesamtwirtschaftliche Investitions- (Lachen von der FDP) nachfrage nicht zusätzlich durch Probleme beim Kredit- zugang für Unternehmen geschwächt wird. Das ist frage ich mich nun schon, wo denn konkrete Vorschläge wirklich das A und O. der FDP bleiben und welche wegweisenden Maßnahmen 23404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Edelgard Bulmahn (A) zum Bürokratieabbau sie in den Ländern ergriffen hat, in Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C) denen sie mitregiert und auch ganz konkret mitentschei- desminister für Wirtschaft und Technologie: den kann. All dies vermisse ich. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Lieber Herr Wend, Sie wechseln in eine andere (Beifall bei der SPD) berufliche Aufgabenstellung. Ich danke Ihnen für die Ich möchte noch kurz auf einen letzten Aspekt einge- Zusammenarbeit und wünsche Ihnen Glück, auch des- hen. Ich glaube nämlich, dass es wichtig ist, dass wir in wegen, weil wir uns im Parlament immer wieder einmal der gegenwärtigen Krise nicht nur darauf schauen, was vergewissern sollten, dass man nicht nur im Parlament wir jetzt tun müssen. Das steht zwar im Vordergrund und und in der Politik für das Gemeinleben nützlich sein ist wichtig, aber wir müssen auch darauf achten, dass wir kann. Man kann das auch in jeder anderen Position. die Weichen für die langfristige Entwicklung richtig stel- (Ute Kumpf [SPD]: Wir Frauen wissen len. Uns ist es deshalb wichtig, dass wir die mittelständi- besonders viel darüber!) schen Unternehmen in die Lage versetzen, langfristig erfolgreich zu sein. Das heißt, es müssen wirklich Inves- Deswegen wünsche ich Ihnen viel Glück dabei. titionen in die Weiterbildung der Beschäftigten und in Unter den Vernünftigen ist völlig unstreitig, dass der Innovationen stattfinden. Nur so können nämlich Zu- Mittelstand hochwichtig und von zentraler Bedeutung kunftsmärkte erschlossen werden. Dabei spielt das For- für uns und unsere Wohlstandsmehrung ist. Bei Unver- schungs- und Entwicklungsprogramm für die mittel- nünftigen ist das anders. Die Frage ist also nicht, ob wir ständischen Unternehmen eine ganz wichtige Rolle. ihn ernst nehmen, sondern ob wir ihn ernst genug neh- Die Mittel hierfür haben wir noch einmal um 900 Millio- men. nen Euro erhöht. Damit wollen wir den mittelständi- schen Unternehmen die Unterstützung geben, die sie nö- Als Beauftragter der Bundesregierung für den Mittel- tig haben, damit sie all das erreichen können. Wir wissen stand möchte ich ein paar Bemerkungen zur Vergangen- nämlich, dass wir in einem bloßen Kostenwettbewerb in- heit machen. Zu Ihrem Antrag, Herr Kollege Friedhoff: ternational nicht bestehen können. Wir können nur dann Der Antrag ist älter, also nicht ganz aktuell. Zukunftsmärkte erschließen und Arbeitsplätze erhalten, wenn wir gute Qualität produzieren, wenn wir die Ge- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: winner im Innovationswettlauf sind und wenn wir die Das ist sehr freundlich ausgedrückt!) Zukunftsmärkte als einer der ersten erschließen. Das ist Im Prinzip wurde er vor der Krise, über die wir reden, langfristig die notwendige Aufgabe. Ich finde, das hat geboren. Er hätte eine Anpassung benötigt, das wissen viel mehr mit Liberalität zu tun, als das Fordern von wir. Ich möchte mich damit aber nicht so sehr beschäfti- (B) Steuersenkungen für Milliardäre oder Bonizahlungen für gen. (D) gescheiterte Manager. (Paul K. Friedhoff [FDP]: Er ist trotzdem (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Blödsinn!) richtig!) Ich möchte einige Bemerkungen zum Mittelstand ma- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chen. Tun wir etwas? Wird er ernst genommen? Ja, er wird ernst genommen. Ich behaupte, er ist unter dieser Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Regierung in den letzten drei Jahren ernster genommen worden als in vielen Regierungsjahren davor. Edelgard Bulmahn (SPD): Für den Kapital- und Kreditmarkt haben wir Kurzum: Die Koalition trägt dem Rechnung. Wir han- enorme Programme aufgelegt. Ich will eine Zahl nen- deln entschlossen, weil wir wissen, dass uns ideologi- nen: Wir haben im letzten Jahr rund 67 000 Kredit- sche Seifenblasen nicht helfen. anträge des Mittelstandes aus KfW- und ERP-Program- men bewilligt. Eine solche Zahl hat es noch nie gegeben. (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das ist uns Sonst hat es sich um 15 000, 20 000 oder 30 000 An- neu!) träge gehandelt. Es kommt darauf an, dass man Verantwortung über- Die Forschungsausgaben sind enorm gestiegen. Die nimmt. Das hat die Koalition getan und das tut sie. Ich Mehrheit der Forschungsausgaben in Deutschland landet bin davon überzeugt, dass das die Menschen anerkennen heute unstreitig beim Mittelstand und nicht mehr bei den und unterstützen. großen Einrichtungen. Dieses Switchen ist ein wichtiger Fortschritt. Vielen Dank. Wir haben die Beiträge für die Lohnzusatzkosten um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 2,75 Prozentpunkte und damit die Lohnzusatzkosten der CDU/CSU) insgesamt um mehr als 6 Prozent gesenkt. Eine Senkung innerhalb von drei Jahren in solch großem Umfang hat es in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gege- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ben; auch nicht zu Zeiten, als wir zusammen an der Re- Für die Bundesregierung hat nun das Wort der Kol- gierung waren, Herr Friedhoff. Das gehört zur Wahrheit lege Staatssekretär Hartmut Schauerte. dazu. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23405

Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte (A) Das Thema Bürokratieabbau möchte ich nicht ver- ser Krise eventuell mit 500 000 oder 800 000 zusätzli- (C) tiefen. Wir haben es so gründlich und systematisch ange- chen Arbeitslosen rechnen müssen; auf die genaue Zahl packt wie noch nie jemand zuvor. Der Bürokratieabbau will ich mich jetzt nicht festlegen. Da muss man Ant- trägt bereits Früchte in Milliardenhöhe und berechtigt zu worten geben. Da kann man nicht sagen: Wenn es um den schönsten Hoffnungen; denn dieses Programm 50 000 Arbeitsplätze geht – Opel oder Schaeffler –, ge- kommt nicht zum Ende, sondern wird konsequent fort- ben wir vorab eine Antwort, aber was die übrigen der gesetzt und ausgebaut. Wir haben einen wichtigen Ein- 500 000 oder 800 000 Arbeitslosen, mit denen wir statis- stieg gefunden, den der Mittelstand auch spüren wird. tisch eventuell rechnen müssen, angeht, geben wir keine Wir sind keineswegs am Ende. Antwort. Die Ergebnisse sprechen für sich. In den letzten Jah- Ich will – diesen einen Gedanken noch; dann ist ren ist die Zahl der selbstständigen Mittelständler von meine Redezeit zu Ende – dem Vorwurf vorbeugen, wir 3,65 Millionen auf 4,16 Millionen gestiegen, also ein handelten bei den Großen schneller als bei den Kleinen. Anstieg von 10 Prozent auf jetzt insgesamt 10,9 Prozent Es sind bereits über 400 Anträge von Mittelständlern auf der Erwerbstätigen. Wir haben in Deutschland also eine konkrete Hilfe aus den Förderprogrammen, die wir ha- deutlich gestiegene Selbstständigenquote. Das ist gut. ben – 115 Milliarden Euro –, bei uns eingegangen. Über Wir haben aber auch andere Dinge gemacht, die nicht mehr als 250 dieser Anträge ist schon positiv entschie- im Fokus stehen. Ich könnte über eine ganze Serie be- den worden. So viele Unternehmen wissen schon, dass richten, ich will aber nur einen Punkt nennen: Wir haben sie die Chance, um die sie gebeten haben, bekommen. etwas für die Altersversorgung der Mittelständler und Über Opel und Schaeffler diskutieren wir seit sechs Mo- Selbstständigen getan. Wir haben erstmals in der Ge- naten. Jeden Tag sind sie auf Seite 1 der Zeitung. Natür- schichte der Bundesrepublik Deutschland ein pfän- lich will kein Mittelständler auf Seite 1 der Zeitung ste- dungsfreies Alterseinkommen für Mittelständler ein- hen. Das muss er auch nicht; solche Hilfe kann ja auch gerichtet, in dessen Genuss sie selbst dann kommen, diskret laufen. Im Hinblick auf Opel und Schaeffler gibt wenn sie pleitegegangen sind. es trotz sechs Monaten Debatte noch keine Entschei- dung. Wie gesagt: Wir achten darauf, dass nicht die Gro- (Beifall des Abg. Reinhard Schultz [Evers- ßen sich durchsetzen und die Kleinen hinterherlaufen. winkel] [SPD]) Hier laufen die kleinen Mittelständler voraus. Ob und wie wir den Großen helfen, entscheiden wir, wenn die Bisher waren die Mittelständler an dieser Stelle sozial Unterlagen, die uns vorgelegt werden, ausreichend ge- völlig ungeschützt. Es gibt eine Vielzahl von sinnvollen nug sind, damit man eine Entscheidung treffen kann. Dingen, die wir gemacht haben, auch wenn diese nicht im Zentrum der Diskussion gestanden haben. (B) Ich lege großen Wert darauf, zu sagen: Die Bundes- (D) Natürlich gibt es noch etwas zu tun. Ich bin der festen regierung nimmt den Mittelstand ausgesprochen ernst. Überzeugung, dass wir noch eine lange Wegstrecke vor Er hat sich gut entwickelt. Seine Eigenkapitalausstattung uns haben, bis alles so justiert ist – wenn man das jemals ist deutlich besser als noch vor drei, vier Jahren. Der schafft –, dass man sagen kann: Jetzt läuft es rund, jetzt Mittelstand geht gestärkt in die Krise. Wir wollen ihn kann es so bleiben. Nein, dieser Bereich wird dauerhaft konsequent begleiten und die Chancen für den Mittel- eine Baustelle bleiben. Er verändert sich permantent. stand optimieren, solange uns das möglich ist. Im Herbst Deswegen müssen wir immer neue Antworten finden. brauchen wir einen neuen Wählerauftrag. Dann können wir das angehen, was noch nicht geschafft werden In dieser Krise – damit bin ich in der Nähe von Opel – konnte. Darauf arbeiten wir dann zu gegebener Zeit hin. ist es wichtig, dass wir klarmachen, dass für Kleine wie Große die gleichen Bedingungen gelten, wenn ent- Herzlichen Dank. schieden wird, ob man ihnen in der Krise hilft. Es darf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keine Vorfahrt für die Großen geben. Ich meine sogar, neten der SPD) große Unternehmen können präziser formulieren, was sie brauchen, warum sie es brauchen und wie es weiter- gehen soll, als kleine. Es darf nicht der Eindruck entste- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: hen, dass wir bei kleinen Unternehmen höllisch auf Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Schultz für Feinheiten achten, während bei großen Unternehmen die SPD-Fraktion. schon dann, wenn der Betriebsratsvorsitzende eine kluge Rede gehalten hat, davon ausgegangen wird, dass es ein Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Konzept für das Unternehmen gibt. Hier muss eine Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleichbehandlung erfolgen. Auch ich möchte meinem Kollegen Rainer Wend dan- Das gilt, Frau Kollegin Bulmahn, auch für die Be- ken. Der Begriff „Geisteshaltung“ ist schon gefallen. Ich trachtung unter dem Aspekt der Arbeitslosigkeit. Auch will sagen: Uns verbindet, was den Mittelstand angeht, Laurenz Meyer hat diesen Aspekt in den Mittelpunkt sei- weiß Gott eine ähnliche Geisteshaltung. Man ist damit in ner Rede gestellt. Es ist uns genauso wichtig, zu vermei- einem Parteiengefüge manchmal Konflikten ausgesetzt. den, dass jemand, der bei Opel arbeitet, arbeitslos wird, Auf der anderen Seite hat man den Spaß und den Genuss wie es uns wichtig ist, zu vermeiden, dass jemand, der der Auseinandersetzungen, die damit verbunden sind. bei irgendeinem mittelständischen Unternehmen arbei- Das verbindet uns beide. Viel Glück auf deinem weite- tet, arbeitslos wird. Wir wissen, dass wir im Verlauf die- ren Weg! 23406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Ich bleibe beim Thema Geisteshaltung. Ich will über – trotz der hohen Sparquote in Deutschland – ihr Porte- (C) die Geisteshaltung, die aus dem Antrag der FDP hervor- monnaie noch mehr zugehalten hätten. Das haben sie geht, reden. Diese Geisteshaltung ist eine Betrachtung aber nicht getan. Wir haben, trotz Krise, eine relativ sta- wert. Ich finde viele Kolleginnen und Kollegen von der bile Binnennachfrage. Das ist die Folge einer klug ange- FDP in den Debatten im Ausschuss in hohem Maße legten Politik. Jeder Mittelständler weiß, dass Kauf- sympathisch und kenne sie als seriöse Gesprächspartner. beziehungen und Marktbeziehungen durch Geben und Aber wenn die FDP im Pulk auftritt, ist sie durch ihr De- Nehmen bestimmt werden. regulierungsgerede in dieser Krise ein Brandbeschleuni- ger; das muss man einmal sagen. Da muss man sich Sor- Deswegen kann es nicht sein, dass einerseits Lohn- gen machen, und man hat Angst. verzicht bei den Mitarbeitern gepredigt wird, während andererseits gerade von diesen Mitarbeitern verlangt Auf wessen geistigem Keimboden ist denn all das ge- wird, dass sie viel kaufen. Das kann nicht gut enden. wachsen, wodurch die Finanzkrise entstanden ist? Durch jahrelanges Deregulieren ist es dazu gekommen: Das ist das Grundproblem solcher Anträge, wie Sie Alle möglichen Finanzmarktprodukte wurden zugelas- sie hier seit Jahren einbringen: In einem konkreten ein- sen. Die Kontrollen wurden runtergefahren. Internatio- zelnen Unternehmen soll der Mitarbeiter möglichst we- naler Wettbewerb war die Legitimation dafür, dass nig verdienen, weil der Mittelständler das angeblich for- Dinge zugelassen wurden, die man unter vernünftigen dert. Alle anderen sollen aber mehr verdienen, damit bei Bedingungen überhaupt nicht zugelassen hätte. Dieses diesem Mittelständler trotzdem gekauft wird. Das kann Gebäude ist zusammengebrochen. Da muss man sich in einer Gesellschaft nicht funktionieren, weder ökono- fragen: Wer ist mit geistiger Urheber solcher Krisen misch noch sozial. Sie verlieren da aus meiner Sicht den gesellschaftlichen Überblick vollständig. (Paul K. Friedhoff [FDP]: Die SPD!) und wer nicht? Ich will Ihnen noch etwas zur Geisteshaltung von Mittelständlern sagen, auch anhand von konkreten Bei- (Beifall bei der SPD – Paul K. Friedhoff [FDP]: spielen aus der Gesetzgebung. Ich kenne eigentlich nur Wer war denn an der Regierung?) Mittelständler, die vor der Marktmacht großer Einheiten Ich will das aber gar nicht überziehen, sondern jetzt geschützt werden wollen, die nicht plattgemacht werden zur Geisteshaltung der Mittelständler kommen, die wollen von großen Wettbewerbern, ob das große Ein- ich nun wirklich gut kenne, auch aufgrund meiner per- kaufsketten sind – die fünf Großen gegenüber dem Le- sönlichen Herkunft und der Funktion in meiner Fraktion. bensmitteleinzelhandel –, ob das der Textilhandel ist, ob Hier ergibt sich ein ausgesprochen vielfältiges Bild: Es das die kleinen Maschinenbauer gegenüber Siemens (B) geht von den Kleinen, die weitgehend sich selbst oder sind; vielmehr wollen sie Wettbewerbsgerechtigkeit in (D) darüber hinaus sehr wenige Mitarbeiter ernähren, bin- einem Staat, der diese Wettbewerbsgerechtigkeit her- nenmarktorientiert, in lokalen und regionalen Kreisläu- stellt und durchsetzt. fen, bis hin zu den leistungsstarken Mittelständlern im Wir haben es bei der Vergaberechtsreform gesehen. Anlagen- und Maschinenbau, die international aufge- Wir wollen nicht, dass die großen Einheiten als General- stellt sind. Sie sind nicht zu vergleichen. Aber eines ist unternehmer die mittelständischen Kleinunternehmer zu allen gemeinsam: Alle wissen, dass sie, wenn sie Geld Dumpingbedingungen unter Vertrag nehmen, mit denen verdienen wollen, das nicht durch eine Selbstbefruch- sie nicht leben und nicht sterben können, während die tung tun können und ohne anderen etwas zu gönnen; Großen den dicken Reibach machen. Wir haben durch- vielmehr müssen sie erkennen, dass sie eingebettet sind gesetzt, dass die mittelständischen Unternehmen durch in ein Marktgefüge, in dem auch andere Geld verdienen das Grundprinzip der losweisen Vergabe künftig viel müssen, damit sie bei ihnen etwas bestellen und kaufen besser zum Zuge kommen. Das ist Mittelstandspolitik, können. Nach diesem Prinzip funktioniert das System. wie ich sie verstehe: mit einem praktischen Packende Wer in einer schwierigen Situation fordert, dass die Un- statt reinem ideologischem Rumgebrülle. ternehmen dadurch entlastet werden, dass die Löhne der Mitarbeiter gesenkt werden, bringt die Balance völlig (Beifall bei der SPD) durcheinander; denn das würde die Kaufbeziehungen stören und sich in einer Krise wie der jetzigen katastro- Wir haben im Zusammenhang mit der Finanzkrise phal auswirken. nicht nur die Finanzierungsbedingungen für die mittel- ständischen und die kleineren Unternehmen verbessert. (Beifall bei der SPD) Das muss sich jetzt erst entfalten; da hat Edelgard Deswegen sind wir zu Recht von vielen binnenmarkt- Bulmahn völlig recht. Wir müssen die Banken dazu be- orientierten Mittelständlern ausdrücklich gelobt wor- wegen, die Möglichkeit, wenigstens zu einem Teil aus den, sowohl für das erste als auch für das zweite der Haftung genommen zu werden, wirklich an den Konjunkturprogramm, weil diese Programme dazu Markt weiterzureichen. Wir haben das Hausbankenprin- beigetragen haben, bei den Käufern, den Bestellern von zip. Wenn die Hausbanken ihre Türen zumachen, dann Dienstleistungen und Waren, Zuversicht auszulösen. Sie helfen die KfW-Angebote nichts. Da muss Druck ge- hatten mehr in der Tasche als vorher, und das dadurch macht werden. Da sind noch sehr viele Gespräche erfor- entstehende positive Grundgefühl wirkt sich auf das Ver- derlich. Wenn dieser Sektor nicht ans Laufen kommt, halten aus. Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn die sind die anderen Programme umsonst; das stimmt. Aber Krisenstimmung dazu geführt hätte, dass die Leute wir haben die Programme aufgelegt. Das Geld steht zur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23407

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Verfügung, und jetzt kommt es darauf an, diese Pro- Ein Wirtschaftsmodell, das nicht beides schafft, wird im- (C) gramme gemeinsam vernünftig zu vermarkten. mer aus der Kurve fliegen. Ein Modell, bei dem nur die Bezieher von Transferleistungen im Blick stehen und bei Es gibt immer wieder Probleme, die besonders in dem übersehen wird, dass jemand diese Leistungen er- schwierigen Zeiten auftreten. Dazu gehört zum Beispiel wirtschaften muss, wird genauso scheitern wie ein Mo- die Refinanzierung im eigenen Unternehmen. Es gibt dell, das nur dafür sorgt, dass ein paar Wenige möglichst steuerliche Mechanismen, die in guten Zeiten positiv hohe Gewinne haben und die anderen in die Röhre gu- und in schlechten Zeiten negativ wirken. Deswegen habe cken. Der Ausgleich ist das, was soziale Marktwirtschaft ich mich persönlich sehr darüber gefreut, dass Peer ausmacht. Steinbrück auf dem Mittelstandstag des Deutschen Spar- kassen- und Giroverbandes erklärt hat, dass er als Alles, was diesen Ausgleich ermöglicht, ist politisch Finanzminister dafür eintritt, im Zuge der Evaluierung gerechtfertigt. In unterschiedlichen Zeiten kann es sich von bestimmten Wirkungen einzelner Maßnahmen der um unterschiedliche Maßnahmen handeln. Im Zeichen Unternehmensteuerreform all das, was mit Refinanzie- der Finanzkrise haben wir zu harten Maßnahmen gegrif- rung zu tun hat, zu überprüfen und Erleichterungen zu fen. Diese waren erforderlich. Ansonsten wäre der Kar- möglichen. Das gilt für die Frage der Verlustvorträge ren vor die Wand gefahren worden. Selbst Sozialdemo- und vielleicht auch für die Frage der Zinsschranke und kraten in meinem Alter, die in jungen Jahren das für andere Mechanismen. Schlagwort von der Verstaatlichung der Banken gehört hatten, haben sich nicht vorstellen können, dass ein sol- Natürlich ist das vernünftig. Wir sind in keiner Weise ches Vorgehen einmal notwendig sein würde. Aber jeder verbohrt. Es geht ja nicht darum, Unternehmen zu im Saal weiß ganz genau: Ohne diese Maßnahmen wäre knechten, sondern darum, die Balance hinzubekommen die Finanzierung von Wirtschaft und Bürgern in diesem zwischen dem, was an staatlicher Finanzierungsautono- Lande nicht mehr möglich. Ohne die Rettung der HRE mie erforderlich ist, um das Ganze zu erhalten, und dem, wäre der Laden zusammengebrochen. Dann hätten die was den Unternehmen an Belastungen zugemutet wer- Mittelständler genauso in die Röhre geguckt wie die Ar- den kann. Das muss immer wieder neu austariert wer- beitnehmer. Man kann sich darüber streiten, wie man die den. Das werden wir mit Blick auf diese Probleme tun. Rettung organisiert. Aber dass diese Maßnahmen erfor- Ich hoffe, dass das sehr kurzfristig der Fall sein wird. derlich waren, wird keiner ernsthaft bestreiten. Die Große Anfrage der FDP zum Thema Bürokratie- abbau ist geradezu ein Geschenk für die Regierungsko- (Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/ alition. Ihre Fragen legen den Verdacht nahe, Sie seien CSU]) (B) bei den Beratungen nicht anwesend gewesen. Jede Ihrer So bringt jede Schwierigkeit und jede Zeit ihre eige- (D) Fragen läuft total ins Leere. Sie tun so, als gebe es noch nen Antworten mit sich. Es läuft aber immer darauf hi- reihenweise Vollerhebungen, mit denen kleine und mitt- naus, eine vernünftige Balance zu finden zwischen den lere Unternehmen geknechtet werden. Es gibt sie aber so Interessen von Unternehmen, die mit großem Risiko gut wie nicht mehr. Es werden vielmehr entweder Stich- wirtschaften, Arbeit schaffen und zum Wohlstand beitra- proben genommen oder es wird auf vorhandene Verwal- gen, und den Interessen der Arbeitnehmer und der übri- tungsdaten zurückgegriffen. Das ist ein großer Fort- gen Gesellschaft, die natürlich am Wohlstand partizipie- schritt, der in relativ kurzer Zeit zustande gekommen ist. ren wollen und die in einem erheblichen Umfang dazu Sie haben ihn aber gar nicht wahrgenommen. Es be- beitragen. Das darf nicht vergessen werden. Es ist nicht durfte erst einer Großen Anfrage, um Ihren Geist in die- der Mittelständler allein, der den Wohlstand schafft, son- sem Punkt zu erhellen. Jetzt ist es dokumentiert, was dern es sind die vielen, die ihm dabei durch ihre tägliche durchaus etwas für sich hat. Arbeit helfen. In Ihren Fragen zum Bürokratieabbau weisen Sie rei- Wenn wir das sehen, werden wir in Zukunft Mittel- henweise auf Vorschriften hin, die schon vor fünf Jahren, standsdebatten etwas unterkühlter und ehrlicher führen. also zurzeit der vorherigen Koalition, abgeschafft wor- Es geht nicht darum, den egoistischen Mittelständler, den sind. Der Wirtschaftsminister musste Ihnen darle- gen, dass schon die damals Handelnden den Bürokratie- den nichts anderes als seine eigene Bilanz interessiert, abbau ernst genommen haben. Aber die FDP hat es nicht vor dem Rest der Welt zu schützen. Es geht vielmehr da- gemerkt. Es ist eine merkwürdige Art, Politik zu ma- rum, vernünftigen, verantwortlichen Unternehmen dabei chen, indem man sich von irgendjemand eine Große An- zu helfen, sich selbst zu helfen und gleichzeitig einen frage aufschreiben lässt, ohne darüber nachzudenken, ob Beitrag für die übrige Gesellschaft zu leisten. diese Fragen überhaupt einen realen Hintergrund haben. Vielen Dank. Zu dieser großen Pleite beglückwünsche ich Sie; uns kommt sie eher zugute. Aber sich selbst und erst recht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dem Mittelstand haben Sie damit überhaupt keinen Ge- fallen getan. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letztendlich muss ein vernünftiges Wirtschafts- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst modell darauf ausgerichtet sein, sowohl ein verantwort- Hinsken, CDU/CSU-Fraktion. bares qualitatives und nachhaltiges Wachstum hinzube- kommen als auch einen sozialen Ausgleich zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU) 23408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) Ernst Hinsken (CDU/CSU): beitgeber und Arbeitnehmer so nahe beieinander in ei- (C) Werte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und nem Boot. Jeder weiß: Geht es dem Unternehmer gut, Kollegen! Ich bin der FDP dankbar dafür, dass die vor- dann geht es auch mir als Arbeitnehmer gut. Erbringe liegende Große Anfrage gestellt und darüber hinaus ein ich als Arbeitnehmer die notwendige Leistung, dann Antrag mit Hinterfragungen eingereicht worden ist. Gibt kann ich meinen Betrieb nach vorne bringen, damit et- uns dies doch die Möglichkeit, einmal darauf zu verwei- was geschaffen wird. sen, was gerade diese Regierung und diese Große Koali- Vergessen wir doch eines nicht: Wo kämen wir hin, tion für den Mittelstand und das Handwerk in den letzten wenn wir nicht im Rahmen des dualen Systems die Aus- Jahren geleistet haben. Das kann sich wahrlich sehen bildungsleistung des Handwerks mit 480 000 abge- lassen; denn in dieser Regierungspolitik finden sich das schlossenen Ausbildungsverträgen vorweisen könnten? Handwerk und der Mittelstand nachhaltig wieder. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) In diesem Zusammenhang richte ich ein herzliches Wort Als einziger Handwerksmeister, der in dieser Debatte des Dankes an das Handwerk schlechthin. Vergessen wir das Wort ergreifen darf, möchte ich darauf verweisen, nicht, wie es mit der Jugendarbeitslosigkeit in den Nach- dass auf allen Großveranstaltungen des Handwerks nicht barländern aussieht: 21,5 Prozent in Frankreich und in nur Wirtschaftsminister a. D. Michael Glos und jetzt Finnland, beim PISA-Sieger, 19,8 Prozent. Bei uns in Wirtschaftsminister zu Guttenberg, sondern immer auch Deutschland sind es erfreulicherweise nur 8,1 Prozent. die Bundeskanzlerin zugegen waren und mit großem Auf diese Zahl kann speziell das Handwerk verweisen Beifall bedacht worden sind. Das können Sie, Frau und sagen: Wir geben der Jugend Lebens- und Zukunfts- Handwerkspräsidentin Strothmann, oder Sie als Hand- perspektiven. Wir sorgen für Fachkräfte von morgen. werksmeister, Herr Kollege Wittlich, bestätigen. Ich meine, jemand wird nur dann bejubelt und beklatscht, (Beifall bei der CDU/CSU) wenn er Entsprechendes geleistet hat. Ich darf bei dieser Im Übrigen ist es mir wichtig, darauf zu verweisen, Gelegenheit auf Folgendes hinweisen: Für mich und für dass insbesondere Handwerker gerne bereit sind, sich viele in der Bundesrepublik Deutschland ist das Hand- ehrenamtlich zu betätigen. Deshalb ein Dankeschön an werk ein wichtiger Eckpfeiler der Wirtschaft schlecht- diejenigen – es sind 300 000 an der Zahl –, die sich eh- hin. renamtlich einbringen und dafür sorgen, dass unser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kammersystem, unser Verwaltungssystem in Sachen der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Der Handwerk, funktioniert. wichtigste!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (B) Herr Kollege Rossmanith, Sie haben im Haushalts- Thomas Oppermann [SPD]) (D) ausschuss als zuständiger Berichterstatter vieles für das Kollege Friedhoff, eines möchte ich zum Thema Handwerk getan. Ich meine, dass es in der Endrunde die- Bürokratie sagen: Im letzten Dreivierteljahr hat sich die ser Legislaturperiode angemessen ist, einmal ein Wort FDP abgemeldet und nichts mehr dazu gesagt. Wir ha- des Dankes dafür auszusprechen, dass das Handwerk ben das Bürokratieentlastungsprogramm aufgelegt und nicht hintangestellt worden ist, sondern in den Mittel- Vereinfachungen durchgeführt. Nach dem zweiten Ver- punkt der Entscheidungen gerückt wurde. Herzlichen einfachungsgesetz ist von Ihnen nichts mehr gekommen. Dank! Wir hingegen waren an dem Thema dran. Ich möchte der (Beifall bei der CDU/CSU) Bundesregierung dafür danken, dass die Wirtschaft durch Vereinfachungen seit 2006 um 7 Milliarden Euro Meine Damen und Herren, ein Handwerker hebt sich entlastet wurde. Die Informationspflichten wurden um sehr wohl ab. Er ist zu 75 Prozent Personengesellschaf- 12,5 Prozent abgebaut, und mit den drei Mittelstandsent- ter. Er haftet mit seinem ganzen Hab und Gut. Er hat lastungsgesetzen wurden die Belastungen der Unterneh- keine 38-Stunden-Woche, sondern meist das Doppelte. mer um 1,8 Milliarden Euro gesenkt. Er muss sich verschiedenen Entwicklungen aussetzen. Ein Beispiel: Über die Handwerkszählungen haben Er muss sich behaupten; er muss kreativ sein. Er muss wir ewig geredet, aber es ist nichts getan worden. Die sich nachhaltig einbringen, um sich überhaupt durchset- Handwerkszählungen werden bei 460 000 Unterneh- zen zu können. Er kann nicht wie ein smarter Manager mern künftig entfallen. Das ist eine Entlastung. Tue Gu- eines großen Unternehmens – ich bedauere sehr, dass in tes und rede darüber! Wir haben gehandelt. Wir haben dieser Debatte heute viel zu viel über Opel gesprochen etwas gemacht. wurde – seinen Hut nehmen, sondern muss selbst für all das einstehen, was für ihn wichtig ist, damit er überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU – Laurenz Meyer über die Runden kommt. Ein tüchtiger Handwerker ist [Hamm] [CDU/CSU]: So ist es!) für mich ein Fachmann, ein Kaufmann, ein Techniker und zudem einer, der etwas von moderner Kommunika- Wir haben darüber hinaus verschiedene Maßnahmen tionstechnologie verstehen muss, um nicht nur die Ge- vereinbart, die einen ausgewogenen Mix ergeben: dauer- räte installieren und reparieren, sondern sie darüber hin- hafte Senkung der Steuer- und Abgabenbelastungen, zu- aus auch vernünftig nutzen zu können. sätzliche öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Bildung, Maßnahmen zur Sicherung der Beschäftigung Ganz besonders wichtig scheint mir – das kommt viel sowie neue Instrumente, um die Kreditversorgung des zu wenig zum Ausdruck – die soziale Verantwortung Mittelstandes zu sichern. Wir haben – das ist von ver- zu sein. In keinem anderen Wirtschaftsbereich sitzen Ar- schiedenen Vorrednern schon gesagt worden – den soge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23409

Ernst Hinsken (A) nannten Handwerkerbonus verdoppelt und die degres- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten (C) sive Abschreibung im Jahr 2009/2010 bei beweglichen Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer, Wirtschaftsgütern auf über 25 Prozent angehoben. Zu- Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordneten und dem haben wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung der Fraktion der CDU/CSU von 6,5 auf 2,8 Prozent gesenkt. Bei der gesetzlichen sowie den Abgeordneten Thomas Oppermann, Krankenversicherung gehen wir ab 1. Juli auf 14,9 Pro- Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter zent runter. Das entlastet die Arbeitgeber rechnerisch um Struck und der Fraktion der SPD circa 2 Milliarden Euro. Dieser Erfolg ist es allemal sowie den Abgeordneten Dr. Max Stadler, wert, hier einmal Erwähnung zu finden. Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP (Beifall bei der CDU/CSU) eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 45 d) Ich meine, dass wir dem Anspruch „Mehr Netto vom Brutto“ gerecht werden. Ich möchte nicht darauf verwei- – Drucksache 16/12412 – sen, was noch alles getan worden ist. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Geschäftsordnung Nein, Herr Kollege, das können Sie auch nicht. Ihre Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Redezeit ist zu Ende. Haushaltsausschuss

Ernst Hinsken (CDU/CSU): c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans- Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), Monika Da ich das nicht mehr kann, eine letzte Bemerkung, Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Frau Präsidentin: Handwerker und Mittelständler sind BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Menschen wie du und ich. Sie brauchen Zuversicht. Die wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Krise muss erfolgreich überwunden werden. Wir werden parlamentarischen Kontrolle der Geheim- das alles schaffen, wenn wir das Handwerk und den Mit- dienste sowie des Informationszugangsrechts telstand weiterhin ins Zentrum unserer Bemühungen stellen. – Drucksache 16/12189 – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und neten der SPD) Geschäftsordnung (B) Rechtsausschuss (D) Verteidigungsausschuss Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Haushaltsausschuss Ich schließe die Aussprache. d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Tagesordnungspunkt 31 b. Interfraktionell wird Über- Wolfgang Nešković, Dr. Lukrezia Jochimsen, weisung der Vorlage auf Drucksache 16/12326 an die in Dr. Norman Paech, weiteren Abgeordneten und der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. eines … Gesetzes zur Änderung des Kontroll- Dann ist die Überweisung so beschlossen. gremiumgesetzes Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 d auf: – Drucksache 16/12374 – Überweisungsvorschlag: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Innenausschuss (f) Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer, Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordneten und Geschäftsordnung Rechtsausschuss der Fraktion der CDU/CSU Verteidigungsausschuss sowie den Abgeordneten Thomas Oppermann, Haushaltsausschuss Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sowie den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege entwicklung der parlamentarischen Kontrolle Dr. Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion. der Nachrichtendienste des Bundes – Drucksache 16/12411 – Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Überweisungsvorschlag: Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin- Innenausschuss (f) nen und Kollegen! Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und und FDP bringen eine Novelle des Gesetzes über die Geschäftsordnung parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste ein. Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Zu Beginn der Debatte betone ich, dass es uns – denjeni- Haushaltsausschuss gen, die diesen Gesetzentwurf einbringen; ich hoffe aber, 23410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Norbert Röttgen (A) auch den anderen Fraktionen – ein Anliegen ist, festzu- entschieden werden sollten. Darum wissen wir es zu (C) halten, dass Nachrichtendienste legitim und notwendig schätzen, dass eine gegenwärtige Oppositionsfraktion, sind. Auch Nachrichtendienste gehören mit ihrer Auf- die FDP, bereit war, hier Verantwortung mit zu überneh- gabe zum demokratischen Rechtsstaat. Wir brauchen sie; men, und sich nicht auf den oppositionellen Gestus zu- sie sind ein weiteres legitimes Kind des demokratischen rückgezogen hat. Rechtsstaates. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Nachrichtendienste haben aber eine Besonderheit gegenüber anderen staatlichen Einrichtungen: Sie sind Dies war unsere Intention, das wissen wir zu schätzen; geheim. Damit stellen sie etwas infrage, was originär zur vielleicht gibt es auch noch über die FDP hinaus eine Demokratie gehört: die Öffentlichkeit als ein wesentli- solche konstruktive Haltung. ches Kontrollprinzip in der Demokratie. Dies passt nicht Ich verdeutliche nun ein paar Grundelemente, wie wir zusammen. Der Anspruch der Demokratie, öffentliche die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste Kontrolle auszuüben, verträgt sich nicht mit der Aufgabe in diesem Gesetz, aber auch als CDU/CSU-Fraktion ins- von Nachrichtendiensten. Daraus darf und kann aber gesamt verstehen, damit der Gesetzentwurf, den wir ein- nicht der Schluss gezogen werden, dass Nachrichten- bringen, verständlicher wird. dienste ein kontrollfreier Raum seien. Sie können ihre Tätigkeit nicht öffentlich darlegen und rechtfertigen. Erstens geht es immer um Kontrolle der Regierung, Also kommt genau an dieser Stelle notwendigerweise also darüber, wie die Regierung die Aufsicht über Nach- die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste richtendienste ausübt. Wir werden nicht selbst operativ ins Spiel. Es ist ein Gebot des demokratischen Rechts- tätig; diesen Anspruch sollten wir nirgendwo haben. staats, durch das und im Parlament diese Kontrolle der Herr Ströbele, Sie werden vielleicht gleich Ihre Vorstel- Nachrichtendienste auszuüben. lungen vortragen, nach denen Sie die parlamentarische Kontrolle an das anknüpfen, was in der Nachrichtenlage (Beifall bei der CDU/CSU) im Kanzleramt debattiert wird. Wir sitzen nicht halb im Genauso ist es aus Sicht der Nachrichtendienste eine Kanzleramt. Wir sind nicht die Exekutive, sondern wir Notwendigkeit – dies folgt daraus –, dass diese Kon- sind das Parlament, das die Exekutive kontrolliert und trolle stattfindet. Die Kontrolle im Parlament ist nicht nicht selber operativ tätig ist. gegen Nachrichtendienste gerichtet. Wenn aber die Bür- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gerinnen und Bürger die Vermutung haben müssten oder neten der SPD – Hans-Christian Ströbele wüssten, dass es keine wirksame Kontrolle von Nach- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen richtendiensten im Parlament gebe, dann fänden Nach- wissen, worüber diskutiert wird!) (B) richtendienste keine Akzeptanz in einer demokratischen (D) Gesellschaft. Wir sagen zweitens, dass die parlamentarische Kon- trolle der Nachrichtendienste Aufgabe des gesamten Par- (Beifall bei der FDP) lamentes ist. Es ist kein Minderheitenrecht. Es ist nicht In diesem Zusammenhang möchte ich einem immer der Anspruch der jeweiligen Opposition, die Regierung noch bestehenden Missverständnis, das uns leider auch und die Nachrichtendienste zu kontrollieren, sondern im Vorfeld dieser Debatte erneut vorgetragen worden ist, diese Aufgabe liegt in der Verantwortung des gesamten offensiv entgegentreten: Die Kontrolle der Nachrichten- Parlamentes. dienste im und durch das Parlament ist nicht Ausdruck (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE des Misstrauens, sondern eine Bedingung dafür, dass GRÜNEN]: Aber nicht nur des Kontrollgre- Nachrichtendienste arbeiten können, eben weil es eine miums!) Bedingung für Vertrauen und Akzeptanz von Nachrich- tendiensten ist. Dies ist also kein Minderheitenthema, kein Oppositions- thema, sondern betrifft das gesamte Parlament. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Max Stadler [FDP]: Gesundes Miss- Daraus folgt drittens, dass wir uns dagegen entschie- trauen!) den haben – dies kann man im Gesetzentwurf nachle- sen –, die parlamentarische Kontrolle der Nachrichten- Darum sieht sich das Parlament hier in der Pflicht, die dienste auszulagern. Sosehr wir den Wehrbeauftragten Wirksamkeit seiner Arbeit zu gewährleisten. Es ist daher schätzen – die Institution und den gegenwärtigen Amts- die Aufgabe des Parlaments, nicht nur am Ende über die träger persönlich –, für so falsch würden wir es halten, gesetzlichen Maßnahmen abzustimmen, sondern sich die parlamentarische Kontrolle auf eine Person oder auf zuvor selbst über sie klar zu werden, sie auszufeilen und eine ausgelagerte Institution zu delegieren. über sie zu debattieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Dem Verständnis meiner Fraktion, der CDU/CSU, des Abg. Thomas Oppermann [SPD]) entspricht es, dass dies nicht nach den gerade gegebenen Mehrheitsverhältnissen im Parlament geschehen soll. Genauso würden wir es für falsch halten, wenn wir so et- Hier geht es um institutionelle, parlamentarische Grund- was wie eine Exekutivkontrolle etwa in der Bundestags- fragen, die über die jeweils bestehenden Gräben hinweg verwaltung einführen würden. Nein, liebe Kolleginnen zwischen jeweiliger Regierungsfraktionenmehrheit und und Kollegen, unserem Selbstverständnis entspricht es, jeweiliger Opposition in einem institutionellen Konsens dass das gesamte Parlament, dass wir Parlamentarier Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23411

Dr. Norbert Röttgen (A) diese Aufgabe haben. Wir wollen und sollen uns ihr Wenn man den Nachrichtendiensten mehr Befugnisse (C) nicht entziehen. gibt – das ist in den letzten Jahren wiederholt geschehen –, dann muss logischerweise auch die Kontrolle über die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Nachrichtendienste verbessert werden. Wir brauchen die der FDP) Dienste, aber sie dürfen in einem demokratischen Abschließend: Der Gesetzentwurf ist nicht theorie- Rechtsstaat kein Eigenleben entwickeln, sondern haben gespeist, sondern folgt aus der Erfahrung der Parlamen- sich strikt an Recht und Gesetz zu halten. Dafür tragen tarier, die im Parlamentarischen Kontrollgremium ihrer wir eine Mitverantwortung. Deshalb müssen die Rechte Arbeit nachgehen. Darum ist er ganz pragmatisch orien- des Parlamentarischen Kontrollgremiums verbessert tiert. Wir wollen die Arbeitsfähigkeit der Parlamentarier werden. durch konkrete Maßnahmen verbessern. (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN]) NEN]: Nichts davon!) Die FDP hat aus diesem Grund schon im Jahr 2006 Wir wollen die Selbstinformationsrechte verbessern. Wir als erste Fraktion einen Reformentwurf eingebracht. Es wollen auch die Durchsetzbarkeit unserer Rechte verbes- hat lange gedauert, bis sich die Koalition zu einem eige- sern. Dies sind ein paar wesentliche Punkte. nen Gesetzentwurf durchgerungen hat. Wir sehen es als Erfolg unserer Oppositionsarbeit an, dass wir zu dem Wenn es Bedarf gibt, nachzufragen – das ist nicht der heute vorliegenden Reformentwurf gekommen sind, den Regelfall, der Normalfall –, darf sich das Parlament die FDP in dieser Form mittragen kann. Denn ein ent- nicht als schwach erweisen, sondern muss über die not- scheidender Mangel, der im Ursprungsvorschlag von wendigen Instrumente verfügen. CDU/CSU und SPD enthalten war, ist aufgrund unserer ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Intervention herausgenommen worden. Zunächst wollte NEN]: Woher wissen sie, wann sie fragen sich die Mehrheit das Recht vorbehalten, Mitglieder aus müssen? Sie wissen gar nicht, wann sie fragen dem Kontrollgremium abzuwählen. Das ist natürlich un- müssen!) zumutbar und findet sich in dem jetzt vorliegenden Ge- setzentwurf zu Recht nicht wieder. Sonst sind mögliche Fehler der Nachrichtendienste ge- eignet, Regierung und Parlament zu verstricken. Das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wollen wir nicht. Wir müssen in einem solchen Fall ef- der CDU/CSU und des Abg. Wolfgang fektiv arbeiten können. Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (B) Der eine Entwurf beinhaltet eine einfache Gesetz- Meine Damen und Herren, dass es zu diesem Gesetz- (D) änderung, während der andere Entwurf eine Verfassungs- entwurf gekommen ist, ist ein Verdienst derer, die sich änderung beinhaltet, und zwar die Aufnahme der Nach- darum besonders bemüht haben: des Kollegen Uhl, des richtendienste, aber insbesondere der parlamentarischen Kollegen Röttgen und des Kollegen Oppermann. Es sind Kontrolle von Nachrichtendiensten ins Grundgesetz. Ich nicht nur die Vorstellungen, die die FDP in ihrem ur- glaube, dies dient der Aufwertung der Tätigkeit des Par- sprünglichen Gesetzentwurf formuliert hat, eingeflossen, lamentes. Beide Gesetzentwürfe zielen auf die Stärkung sondern auch die Diskussionsbeiträge beispielsweise des der Nachrichtendienste, aber auch auf die Stärkung des Kollegen Ströbele und des Kollegen Nešković. Wir ha- Parlamentes bei der Kontrolle der Nachrichtendienste ben die Notwendigkeit dieser Reform bei vielen Veran- ab. Dies ist ein pragmatischer, wirklicher Fortschritt für staltungen und in Podiumsdiskussionen, zum Beispiel in die Nachrichtendienste und, wenn es konstruktiv aufge- der Hanns-Seidel-Stiftung, erörtert. Experten wie Pro- nommen wird, auch für das Parlament in der Ausübung fessor Geiger haben uns beraten. Die Ergebnisse all die- dieser wichtigen Aufgabe. ser Diskussionen sind in das Reformwerk eingeflossen. Besten Dank. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Na ja! Es ist auch sehr viel vorbei- neten der SPD und der FDP) geflossen, Herr Kollege! – [CDU/CSU]: Es ist nicht alles berücksichtigt worden! Ein bisschen weniger!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, – Einige wesentliche Punkte wurden aufgenommen. FDP-Fraktion. Ich nenne folgende Beispiele: Die Kontrolldichte (Beifall bei der FDP) wird größer. Leider ist die ungünstige Entwicklung zu beobachten, dass die Vermischung von polizeilicher und Dr. Max Stadler (FDP): nachrichtendienstlicher Tätigkeit immer weiter voran- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schreitet. Im Innenausschuss wurde darauf hingewiesen, Herren! Die Verbesserung der Kontrolle der Geheim- dass, was die Kontrolle angeht, Vorgänge, die das Bun- dienste war und ist überfällig. deskriminalamt, also eine Polizei, betreffen, dort gar nicht mehr zur Debatte gestellt würden, weil das Kon- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trollgremium zuständig sei, wenn das BKA mit dem NEN]: Genau!) BND zusammenarbeitet, 23412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Max Stadler (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wohl aber in der Begründung. (C) NEN]: Ja! Das wird immer schlimmer!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Kontrollgremium gab es bisher aber keine Zuständig- NEN]: Die Begründung können Sie aber nicht keit. Das soll jetzt geändert werden. Wir wollen also die mehr ändern!) Kontrolldichte erhöhen. An der Formulierung müssen Das Struck’sche Gesetz, welches besagt, dass ein Ge- wir vielleicht noch arbeiten, setzentwurf, der eingebracht wurde, im Rahmen der (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ausschussberatungen noch geändert werden darf, hat GRÜNEN]: Ja! Mit Sicherheit! Nicht nur viel- also auch in diesem Fall Geltung. leicht!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- damit diese unsere Absicht auch korrekt zum Ausdruck NEN]: Noch einmal: Die Begründung können kommt. Ich will ganz deutlich sagen: Die Rechte der – in Sie nicht mehr ändern!) Anführungszeichen – normalen Bundestagsausschüsse, – Nein. Wir werden aber zum Ausdruck bringen, dass zum Beispiel des Innenausschusses und des Rechtsaus- diese Begründung für uns nicht maßgeblich ist. Sonst schusses, dürfen auf keinen Fall geschmälert werden, hätten wir, die FDP, diesen Gesetzentwurf gar nicht erst meine Damen und Herren. mit eingebracht. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Wolfgang (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Nešković [DIE LINKE] und Hans-Christian GRÜNEN]: Aber Sie haben doch zuge- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – stimmt!) Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wenn man das will, dann muss man das Meine Damen und Herren, es gibt noch weitere auch so aufschreiben, Herr Kollege!) Punkte, die von Bedeutung sind. Ich komme gerne auf das, was Herr Röttgen gesagt hat, zurück. Dieses Re- Als zweiten Fortschritt nenne ich die sogenannte formwerk wird ein Werk des Parlaments sein. Es handelt Whistleblower-Regelung. Die Mitarbeiter der Nach- sich nicht um eine Regierungsvorlage. Die Zusage von richtendienste wissen selbst am besten über dortige CDU/CSU und SPD, dass auch die Vorschläge der Grü- Missstände Bescheid. Bisher war es ihnen verboten, sich nen und der Linken – auch wir, die FDP, haben übrigens direkt an das Parlament zu wenden. Das wird geändert. noch Änderungswünsche – in den Ausschüssen ergeb- Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass wir über die nisoffen beraten werden, nehme ich ernst. rechtswidrige Observierung, das Mitlesen und Speichern Ein Beispiel. Es muss sichergestellt werden, dass (B) der E-Mails einer Journalistin des Spiegels, nämlich der (D) Journalistin Susanne Koelbl, nur direkt aus dem Dienst man, wenn ernste Missstände zu beklagen sind, nicht nur informiert werden konnten. allein und im stillen Kämmerlein beklagen kann, wie un- gerecht und schlimm die Welt ist, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man hätte sich aber auch an einen GRÜNEN]: Ja!) einzelnen Bundestagsabgeordneten wenden können!) sondern dass man wenigstens die Spitze der eigenen Fraktion informieren darf, damit Konsequenzen gezogen Die Bundesregierung hätte uns darüber im Unklaren ge- werden können. lassen. Deswegen brauchen wir die Whistleblower- Regelung. Sie wird unsere Kontrollfähigkeiten verbes- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sern. GRÜNEN]: Ja! Das steht da aber auch drin!) Ich komme zu einem dritten Punkt, der ebenfalls ei- Das ist ein Punkt, der aus Sicht der FDP noch ergänzt nen echten Fortschritt darstellt. Wie Sie wissen, tagt das werden muss. Gremium geheim. Es ist eine Zweidrittelmehrheit erfor- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE derlich, damit es ausnahmsweise öffentlich Stellung GRÜNEN]: Wenn Sie das wirklich wollen, nimmt. Es muss gesetzlich abgesichert sein, dass die Op- dann müssen Sie wohl oder übel unserem An- position in diesem Fall ein Sondervotum abgeben darf. trag zustimmen!) Ob das Recht auf ein Sondervotum gewährt wird, darf natürlich nicht davon abhängig gemacht werden, dass Meine Damen und Herren, nach langen Debatten be- die Mehrheit für sich beansprucht, sich die Sondervoten finden wir uns nun endlich in dem Stadium, dass ein be- vorher zur Prüfung vorlegen zu lassen. ratungsfähiger Gesetzentwurf vorliegt. Wir freuen uns, ihn mit eingebracht zu haben. Wir wollen, dass diese Re- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE form vorankommt und noch in dieser Legislaturperiode GRÜNEN]: Das steht da aber drin, Herr Kol- beschlossen werden kann. lege! Dem haben Sie zugestimmt!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das steht nicht im Gesetzestext, GRÜNEN]: Ja, ja! Von wegen!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wir wollen allerdings noch einige Ergänzungen. Ich bin GRÜNEN]: Aber in der Begründung!) mir sicher, am Ende des Beratungsprozesses wird ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23413

Dr. Max Stadler (A) vernünftiges Reformwerk stehen, das von einer breiten Es gibt Infos, die nicht auf dem freien Markt erhält- (C) Mehrheit dieses Hauses mitgetragen werden kann. lich sind, aber vom Staat dringend benötigt werden, um seine Bürger und seine Werteordnung zu schüt- Vielen Dank. zen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Was Sie da gesagt haben, ist absolut richtig. Ihr Wahl- SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE kampfleiter Ramelow hat Sie persönlich hart dafür kriti- GRÜNEN]: Das machen wir dann gemeinsam siert. in der nächsten Legislaturperiode!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Weil er selbst bespitzelt worden ist!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kolle- Herr Nešković, ich will Ihnen in diesem Zusammenhang gen Thomas Oppermann. sagen: Ich stehe hier auf Ihrer Seite und nicht auf der Seite von Herrn Ramelow. Thomas Oppermann (SPD): (Beifall bei der SPD – Wolfgang Nešković Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine [DIE LINKE]: Sie können sich vorstellen, dass Kollegen haben dargelegt, dass wir die Kontrolle der mir das in dieser Situation nicht gefällt! – Geheimdienste brauchen. Wozu brauchen wir aber ei- Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gentlich Geheimdienste? Wir leben seit 60 Jahren in ei- NEN]: Dann sorgen Sie dafür, dass Ramelow nem demokratischen Verfassungsstaat, der in der Lage nicht mehr bespitzelt wird!) ist, die Freiheit und die Sicherheit seiner Einwohner und Die Dienste sammeln die Informationen, die wir brau- seiner Bürger zu gewährleisten. Wer sich in der Welt chen, um Gefahren frühzeitig erkennen, bewerten und umschaut, der stellt fest, dass das alles andere als selbst- erfolgreich abwehren zu können. In eineinhalbjähriger verständlich ist. Arbeit im Parlamentarischen Kontrollgremium bin ich Freiheit und Sicherheit gehören zusammen. Wer stän- zu der Überzeugung gekommen, dass MAD, Verfas- dig in der Furcht vor Gewaltakten oder staatlichen Über- sungsschutz und Bundesnachrichtendienst dabei eine au- griffen lebt, der lebt nicht in Freiheit. Deshalb ist es die ßerordentlich wertvolle Arbeit leisten. Kernaufgabe des Staates, Frieden und Sicherheit zu ge- Ich will das an einigen Beispielen verdeutlichen: währleisten und dadurch menschliche Freiheit zu ermög- lichen. Ich glaube, dass der soziale Rechtsstaat zu den Beim Kaukasus-Konflikt, dem Krieg zwischen Russ- größten zivilisatorischen Errungenschaften gehört, die land und Georgien um Südossetien, konnte die Bundes- (B) wir haben. regierung eine qualifizierte außenpolitische Beurteilung (D) der Situation doch ohne eigenständige Informationen gar Bis zum Ende des Kalten Krieges, des Ost-West-Kon- nicht vornehmen. Diese liefert in einer solchen Situation fliktes, schienen diese Errungenschaften in erster Linie der Bundesnachrichtendienst. Ansonsten hätte die Bun- durch militärische Bedrohungen gefährdet. Das ist heute desregierung lediglich die Verlautbarungen aus Moskau in Europa zum Glück nicht mehr der Fall. Jetzt gibt es oder aus Tiflis zur Hand gehabt, um eigene Entscheidun- andere Bedrohungen, mit denen wir uns auseinanderset- gen zu treffen. Der Bundesnachrichtendienst hat hier zen müssen. Sie reichen vom islamistischen Terrorismus wertvolle Informationen geliefert. über den Waffen- und Drogenhandel, die Proliferation, die Weitergabe von nuklearfähigem Material, und die or- Ein anderes Beispiel ist die Sicherheit unserer Solda- ganisierte Kriminalität bis hin zum gewaltbereiten politi- ten in Afghanistan. Der BND macht die Aufklärungs- schen Extremismus. arbeit für die Soldaten, die darauf angewiesen sind, früh- zeitig Gefahren zu erkennen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die Banker haben Sie vergessen!) Selbst dort, wo der BND nicht zuständig ist, aber im Wege der Amtshilfe hilfreich sein kann, leistet er einen – Ja, auch Geldwäsche und andere Straftaten dort sind enorm wichtigen Beitrag – auch für die Innenpolitik in hochgefährlich. Ich komme darauf zurück. Deutschland. Zum Beispiel hat er dabei geholfen, die Datenträger aus Liechtenstein anzukaufen, mit deren Gegen diese Gefahren müssen wir uns zur Wehr set- Hilfe die Steuerbetrüger, wie Herr Zumwinkel und an- zen. Mit Ausnahme von großen Teilen der Linken und dere, überführt werden konnten. nur noch wenigen Grünen – ich glaube, es ist am Ende nur noch Christian Ströbele – bezweifelt heute niemand Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist natürlich mehr, dass wir bei der Gewährleistung der inneren Si- ungeheuer wichtig, wenn es zum Beispiel cherheit durch Polizei und Justiz und bei der Verteidi- gung der äußeren Sicherheit durch die Streitkräfte der (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Bundeswehr auf effiziente, gut funktionierende Nach- GRÜNEN]: Um die PDS geht!) richtendienste angewiesen sind. darum geht, die Drohbotschaften der islamistischen Ter- roristen, die jetzt aus dem Umfeld der al-Qaida hier in Herr Nešković, ich will Sie hier gerne unterstützen. Deutschland verbreitet werden, zu analysieren. Ich habe gelesen, dass Sie in Ihrer Partei für die Einsicht kämpfen, dass Nachrichtendienste notwendig sind. Sie Es ist sicherlich auch hilfreich, wenn wir wissen, wo haben gesagt: sich die 50 oder 60 Gefährder in Deutschland aufhalten, 23414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Thomas Oppermann (A) die hier leben, aber in terroristischen Ausbildungslagern Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, dem (C) in Pakistan und Afghanistan ausgebildet worden sind, ich in sicherheitspolitischen Bewertungen selten folgen um Sprengstoffanschläge durchzuführen, und die das im kann, hat in diesem Zusammenhang allerdings völlig zu Zweifel auch machen würden. Das ist die Arbeit der Recht von einem „zwergenhaften Organ“ gesprochen. Nachrichtendienste. Das wollen wir ändern, ohne das Parlamentarische Kon- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: trollgremium – wie die Grünen es wollen – quasi in ei- Jetzt kommen die negativen Beispiele!) nen ständigen Untersuchungsausschuss zu verwandeln. – Dass es bei dieser Arbeit zu Fehlern kommt, ist unver- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: meidlich, Herr Montag. Was?) Nicht unvermeidlich ist aber die Praxis, die sich in- Lassen Sie mich die wichtigsten Punkte des Gesetz- zwischen in Deutschland eingebürgert hat, nämlich dass entwurfs nennen: Die Informationspflichten der Bundes- jeder Fehler der Nachrichtendienste hemmungslos skan- regierung werden deutlicher gefasst. dalisiert wird. Ich halte das für einen schwerwiegenden Fehler. Das ist eine hochgefährliche politische Strategie, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die im Übrigen auch völlig unangemessen ist. Denn wir NEN]: Das hängt davon ab, was man in Erfah- müssen festhalten, dass die deutschen Sicherheitsbehör- rung bringt!) den im Kampf gegen den internationalen Terrorismus Es wird die Rechtspflicht eingeführt, wahrheitsgemäße keine roten Linien überschritten haben. Es gibt keine und vollständige Angaben zu machen. Renditions und keine folterähnlichen Vernehmungsme- thoden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch selbstverständlich!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das wäre ja auch noch schöner!) Das Gremium erhält neue Rechte auf Aktenherausgabe, Es gibt kein Abu Ghureib und kein Guantánamo. Zutritt zu Diensträumen und das Recht zur Befragung von Mitarbeitern. Ich betone, dass das nicht bedeutet, Auch der BND-Untersuchungsausschuss muss letzten dass jeder Abgeordnete nach Belieben Diensträume be- Endes feststellen, dass es Auswüchse wie in den USA treten kann. Es sind keine Rechte der einzelnen Mitglie- und andernorts, wo rechtsstaatliche Prinzipien und Men- der, sondern des Gremiums, die nur durch das Gremium schenrechte mit Füßen getreten wurden, in Deutschland selbst ausgeübt werden können. nicht gegeben hat. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) Die Arbeit der Dienste ist äußerst schwierig, oft ge- GRÜNEN]: Die gibt es auch heute schon! Das (D) fährlich und mit persönlichen Risiken verbunden. Diese hätten Sie schon machen können!) Arbeit kann nur dann gut und erfolgreich geleistet wer- den, wenn die Dienste das Vertrauen der demokratischen Es wird ein Frühwarnsystem eingerichtet, durch das Institutionen in diesem Land genießen. Mitarbeiter Missstände künftig direkt dem Gremium Dieses Vertrauen wiederum setzt voraus, dass die vortragen können. Das ist bisher nur über den Dienstweg Dienste innerhalb der rechtsstaatlichen Grenzen operie- möglich und führt dazu, dass Mitarbeiter, die etwas mit- ren, geltendes Recht beachten und ihre nachrichten- zuteilen haben, entweder anonym kommunizieren oder dienstliche Praxis durch eine wirksame Kontrolle beglei- sich direkt an die Medien wenden. Beides ist nicht gut. tet werden kann. Genau das ist die Aufgabe des Wir haben des Weiteren eine stärkere Zuarbeit von Parlamentarischen Kontrollgremiums, die wir durch die- Mitarbeitern der Abgeordneten sen Gesetzentwurf modernisieren und verbessern wol- len. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stärkere? Heute gibt es gar Ich stimme meinem Kollegen Röttgen zu: Es ist kein keine!) Geburtsfehler des Gesetzentwurfs, dass er nicht wie üblich in einem Ministerium oder von der Bundesregie- und des Sekretariats sowie die schon von meinem Kolle- rung erarbeitet worden ist, sondern aus der Mitte des gen Röttgen begrüßte Verankerung des Kontrollgre- Bundestages kommt. Das ist kein Geburtsfehler, im Ge- miums im Grundgesetz vorgesehen. genteil: Die praktischen Erfahrungen und erlebten Defi- zite der Kontrollarbeit können so in konkrete Verbesse- Das alles wird dazu beitragen, dass sich die Kontrolle rungen einfließen. verbessert, ohne dass dabei die Grenzen der politischen Verantwortung verwischt werden. Die politische Verant- Nach meinem Verständnis und nach dem richtigen wortung für die Dienste haben das Bundeskanzleramt, Verständnis ist das Parlamentarische Kontrollgremium das Innenministerium und das Verteidigungsministe- kein Feind, sondern ein Partner der Nachrichtendienste. rium. Deshalb ist es ausgeschlossen, dass sich das Partnerschaft setzt allerdings eine annähernd gleiche Au- Gremium in operative Vorgänge einmischen oder gar genhöhe voraus. Die ist nicht gegeben, wenn neun Abge- Weisungen erteilen darf. Es bleibt dabei, dass der Kern- ordnete, die keine externe Hilfe in Anspruch nehmen bereich exekutiver Eigenverantwortung vom PKGr nicht können, drei Dienste mit annähernd 10 000 Mitarbeitern angetastet werden darf. Nicht zuletzt wird die Fähigkeit kontrollieren sollen. der Dienste, mit internationalen Partnern zu kooperieren, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dadurch gesichert, dass nur solche Informationen mitge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23415

Thomas Oppermann (A) teilt werden können, die der Verfügungsberechtigung kann man sogar in der Rechtsprechung des Bundesver- (C) des Bundes unterliegen. fassungsgerichts nachlesen. Ich komme zum Schluss. Im Ergebnis stellt das neue (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Haben Sie Gesetz eine angemessene Balance zwischen notwendi- mehr Menschenrechte als andere?) ger Vertraulichkeit bzw. Geheimhaltung und möglicher Offenheit dar. Das verbessert am Ende nicht nur die Ich bin gerne bereit, Ihnen die Fundstelle zu geben. Das Kontrolle der Dienste, sondern auch ihre Arbeitsfähig- ist auch ein sinnvoller Verfassungsauftrag. keit. Nur effektiv kontrollierte und dadurch legitimierte Denn es liegt auf der Hand: Nur die Opposition bringt Dienste sind gute Nachrichtendienste im demokratischen die nötige Leidenschaft mit, der Regierung nicht nur Verfassungsstaat, weil sie das notwendige Vertrauen ge- sorgfältig auf die Finger zu schauen, sondern notfalls nießen. auch einmal draufzuhauen. Dieser Disziplinierungs- drang ist bei den Regierungsfraktionen, die die Regie- Ich bedanke mich. rung unterstützen wollen, naturgemäß nicht besonders (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ausgeprägt. Alle, die in der letzten Zeit zusammengear- FDP) beitet haben, wissen, dass ich die Wahrheit sage. Nach dem vorgelegten Gesetzentwurf entscheiden also die Re- gierungsfraktionen über das Ausmaß der Kontrolle der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Regierung, die sie eigentlich beschützen wollen. Das ist Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Nešković, schlecht und verbessert nicht – das leuchtet jedem ein – Fraktion Die Linke. die Kontrolle. Ohne Minderheitenrechte werden wir keine wirksame Kontrolle der Geheimdienste erreichen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN) Ihnen liegt heute auch ein Gesetzentwurf meiner Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Fraktion vor, der dem Kontrollgremium an entscheiden- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten der Stelle eine neue Aufgabe zuweist. Nach unserem Ge- Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die par- setzentwurf hat das Bundesamt für Verfassungsschutz lamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätig- künftig die Überwachung eines Bundestagsabgeordneten keiten. Nachrichtendienste können in gefährlicher Weise dem Präsidenten des Bundestages mitzuteilen. Diese in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger ein- Überwachung unterbleibt, wenn ein Fünftel der Mitglie- greifen. Mit ihren Beobachtungs-, Überwachungsmög- (B) der des Kontrollgremiums ein Veto einlegt. Mit diesem (D) lichkeiten und -techniken können sie Menschen umfas- Entwurf stellen wir die Kontrolle in unserer parlamenta- send bespitzeln und ausforschen. Zahlreiche Affären und rischen Demokratie vom Kopf zurück auf die Füße. Wir Skandale der Geheimdienste haben in der Vergangenheit müssen festhalten: Wer ist Koch, und wer ist Kellner? die Öffentlichkeit beschäftigt und berechtigterweise für Wir, das Parlament, sind der Koch. Es ist die Legislative, Empörung gesorgt. So arbeitet schon von 2006 bis heute die die Exekutive kontrolliert, nicht umgekehrt. ein Untersuchungsausschuss dieses Parlamentes daran, die Verschleppung von Murat Kurnaz, den Einsatz von Das freie Mandat gemäß Art. 38 unseres Grundgeset- BND-Agenten im Irak, die Bespitzelung von Journalis- zes stellt ein herausgehobenes Verfassungsgut dar. Es ist ten und vieles mehr aufzuklären. In all diesen Fällen hat ein Wesensmerkmal unserer Demokratie. Das Grundge- die parlamentarische Kontrolle versagt. Dies räumen die setz schützt die Ausübung dieses Mandates in vielfälti- Regierungsfraktionen selbst ein, indem sie unter „Pro- ger Weise. Es schützt vor Strafverfolgungsmaßnahmen, blem und Ziel“ darauf verweisen, dass das Gremium „in vor Beeinträchtigungen wegen Äußerungen und Abstim- mehreren Fällen durch die Bundesregierung frühzeitiger mungen im Bundestag oder in den Ausschüssen, vor und umfassender“ hätte unterrichtet werden müssen. Es Einschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit, ist gut, dass die Regierungsfraktionen dies erkannt ha- vor der Verwirkung von Grundrechten, vor Maßnahmen, ben. Ganz schlecht ist aber, dass sie das Problem nicht die die Übernahme oder Ausübung des Abgeordneten- gelöst haben. mandats erschweren oder verhindern sollen. All das kön- nen Sie in Art. 46 und Art. 48 des Grundgesetzes nachle- Heute gilt für den Zustand der Geheimdienstkon- sen. trolle: Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ist ein Ozean. Wenn der Gesetzentwurf der Re- Ein vergleichbarer Schutz des freien Mandates vor gierungsfraktionen und der FDP Gesetz würde, müsste den Geheimdiensten besteht jedoch nicht. Es ist deswe- es zukünftig heißen: Was wir nicht wissen, ist ein Ozean, gen notwendig, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, was wir wissen, ist eine Pfütze. Denn der Entwurf leidet die Abgeordnete auch vor politisch motivierter Schnüf- unter einem ganz entscheidenden Konstruktionsfehler. felei der Geheimdienste bewahrt. Der Konstruktionsfehler besteht darin, dass es keine (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert starken Minderheitenrechte im neuen Gremium geben Winkelmeier [fraktionslos]) soll. Das ist schlecht in einer parlamentarischen Demo- kratie; denn in ihr kontrolliert in erster Linie nicht das In unserem Gesetzentwurf ist auch der Schutz des Parla- gesamte Parlament die Regierung, sondern die Opposi- ments in seiner Arbeitsfähigkeit und Funktionsfähigkeit tion. Das ist ihr Verfassungsauftrag. Herr Röttgen, das und damit der Demokratie vorgesehen. Genau diesen 23416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Wolfgang NeškoviNeškoviæć (A) Schutz streben wir mit dieser Regelung an. Ich darf da- man nun bestimmte Regelungen so oder anders gestaltet. (C) her um Ihre Zustimmung bitten. Aber auch Sie müssen sich in dieser Hinsicht Gedanken machen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Ein weiterer Punkt. Wir alle leiden unter folgendem Winkelmeier [fraktionslos]) Problem: Wir als Abgeordnete haben viele Aufgaben. Die Parlamentarischen Geschäftsführer sind gleichzeitig Mitglieder des Gremiums und schauen in den Sitzungen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: immer auf die Uhr, wann die Sitzung endlich zu Ende Ich gebe dem Kollegen Hans-Christian Ströbele, ist, weil sie noch andere Termine haben. Das ist ver- Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ständlich. Deshalb ist die Forderung ebenfalls verständ- lich, dass wir besser ausgestattet werden müssen. Es geht Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE um das, was in allen Ausschüssen des Deutschen Bun- GRÜNEN): destages selbstverständlich ist, nämlich die Unterstüt- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zung durch Mitarbeiter. Wir alle wissen: Viele Abgeord- Hier sitzen eine ganze Reihe von Mitgliedern des Parla- nete wären in vielen Situationen ohne die Mithilfe von mentarischen Kontrollgremiums. sachkundigen Mitarbeitern in den Ausschüssen nur die Hälfte wert, wenn überhaupt. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geheimnisträger! – Klaus Uwe Benneter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [SPD]: Jetzt keine Geheimnisse!) Deshalb ist es dringend erforderlich, dass wir in die- Wir alle haben gemeinsam in den letzten Jahren die Er- sem besonders wichtigen Gremium, in dem viel Material fahrung gemacht, dass man alle paar Wochen – manch- anfällt, Mitarbeiter beschäftigen können, die nicht nur mal ist es auch jede Woche – von Journalisten angerufen – das schlagen Sie vor – Akten lesen und ein Informa- wird. Dann heißt es: Herr Abgeordneter, da steht doch tionsgespräch mit ihren Abgeordneten führen dürfen, im Ticker oder in der Zeitung wieder etwas von einem sondern die, wie es auch in allen anderen Ausschüssen neuen Skandal beim Bundesnachrichtendienst oder beim der Fall ist, in das Gremium mit hineingehen und dort er- Bundesamt für Verfassungsschutz. Sagen Sie doch ein- fahren, was die Bundesregierung berichtet, über was dis- mal etwas dazu. – Dann erkundigt man sich und stellt kutiert wird, bei welchen Punkten man beim nächsten fest, dass man davon noch nie etwas gehört hat und dass Mal nachbohren muss usw., und die das aufarbeiten, was man sich damit im Parlamentarischen Kontrollgremium in diesem Gremium besprochen wird. Auch in diesem beschäftigen muss. Auch danach stellt man aber immer Punkt ist Ihr Vorschlag völlig unzulänglich. Alle, die in (B) wieder fest, dass offenbar die Lektüre des Spiegels, der diesem Gremium sitzen, wissen, dass wir es gar nicht (D) Süddeutschen Zeitung, manchmal auch der Berliner Zei- mit so vielen Akten zu tun haben. Es sind ganz wenige tung mehr an Informationen für die Kontrolltätigkeit Fälle, in denen wir uns mit Akten befassen. Im Wesentli- bringt als die mehr oder weniger langen und anstrengen- chen geht es um mündliche Berichte, die die Bundes- den Sitzungen im Parlamentarischen Kontrollgremium. regierung dem Gremium erstattet. Wenn die Mitarbeiter Dazu kann ich nur sagen: Damit muss Schluss sein. davon nichts erfahren, dann sind sie – verzeihen Sie – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, kaum die Hälfte wert. Deshalb kann das so nicht enden. bei der FDP und der LINKEN) Wir schlagen deshalb vor, dass auch die Mitarbeiter an den Sitzungen des Gremiums teilnehmen können. Wir machen jetzt kein Reförmchen, sondern eine Re- form des Kontrollgremiumgesetzes, um diesen Zustand Wir schlagen weiterhin vor, dass endlich ein Protokoll für die Zukunft zu ändern. Verehrte Kollegen, ich finde in diesem Gremium geführt wird. es hervorragend, dass Sie sich in der Koalition noch so (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kurz vor den Wahlen hin und wieder auf etwas einigen NEN]: Das ist ja wohl das Wenigste!) können. Aber angesichts dieser Gesetzentwürfe muss ich sagen: Das, was dabei herausgekommen ist, ist völlig Heute dürfen sich die Abgeordneten nicht einmal Auf- unzulänglich und nicht einmal ein erster Schritt. zeichnungen machen, die sie mitnehmen können, um et- was nachzuarbeiten oder sie als Erinnerungsstütze zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nutzen, in denen sie nach einem Vierteljahr, nach einem Zu dem entscheidenden Problem, von bestimmten halben Jahr, nach zwei Jahren oder nach fünf Jahren Vorgängen aus der Zeitung zu erfahren, dazu, die Bun- nachschauen können, was damals besprochen wurde und desregierung wirklich veranlassen und zwingen zu kön- was ihnen gesagt wurde. Null Komma nichts. Wenn man nen, uns Vorgänge von besonderer Bedeutung – das steht in das Sekretariat geht und fragt, ob es dort ein Protokoll schon heute im Gesetz – zeitnah mitzuteilen, steht in Ih- über die Sitzung gibt, dann erfährt man, dass das Sekre- rem Gesetzentwurf null Komma nichts. tariat nur einige Stichpunkte zu diesem Thema aufge- schrieben hat. So kann das nicht weitergehen. Gerade (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weil das Gremium so abgeschlossen arbeitet, muss es NEN]: Unglaublich!) möglich sein, sich darüber zu informieren, wie die Situa- Darin findet sich nicht einmal der Anschein eines Vor- tion vor zwei Monaten, vor einem Jahr oder vor zwei schlages, wie man das in Zukunft ändern könnte. Wir Jahren war und ob die Bundesregierung wirklich auf den lassen über unseren Gesetzentwurf mit uns reden, ob und den Punkt hingewiesen hat, wie sie es heute behaup- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23417

Hans-Christian Ströbele (A) tet. Auch in dieser Hinsicht ist Ihr Gesetzentwurf völlig Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (C) unzureichend. Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- Kollegen! Jetzt sind es drei Jahre, in denen sich der NIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Gert BND-Untersuchungsausschuss in mühevoller Klein- Winkelmeier [fraktionslos]) arbeit stundenlang mit Themen befasste, die wir als Mit- glieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums ken- Lassen Sie mich nun auf den letzten Punkt kommen, nen. Es handelt sich um Themen wie die Verhöre in der bei Ihnen ganz am Anfang steht; der Kollege Röttgen Guantánamo, die Tätigkeit von BND-Mitarbeitern wäh- hat damit ja auch angefangen. Es geht darum, dass das rend des Irakkrieges, die Bespitzelung von Journalisten; ganze Parlament die Kontrollaufgabe wahrnimmt. es geht um Nachrichtenhändler, die sich als Journalisten ausgeben, und anderes mehr. Ich wage die Behauptung: (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn das Verhältnis zwischen den Mitgliedern des Par- NEN]: Wie denn, bitte?) lamentarischen Kontrollgremiums und dem Nachrich- Unter dem ganzen Parlament verstehe ich nicht nur neun tendienst ein anderes wäre, eines der vertrauensvollen Abgeordnete. Das Parlament besteht aus mehr als Zusammenarbeit unter Einhaltung der Geheimschutz- 600 Abgeordneten. richtlinien, dann wäre der BND-Untersuchungsaus- schuss wahrscheinlich nicht nötig gewesen. Was hier (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- parteiübergreifend von Herrn Nešković über Herrn NIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Gert Ströbele, Herrn Oppermann und Herrn Röttgen bis hin Winkelmeier [fraktionslos]) zu Herrn Stadler artikuliert worden ist, zeigt, dass wir Diese anderen über 600 Abgeordneten können doch alle uns in der bisherigen Situation nicht wohlfühlen. nicht völlig dadurch von dieser Kontrolltätigkeit ausge- Wir fühlen uns durch das, was wir in den Zeitungen le- schlossen werden, dass sie überhaupt keine Informatio- sen, und dadurch, dass wir vieles nicht erfahren haben, nen bekommen, auch wenn sie beispielsweise im manchmal regelrecht gedemütigt. Rechtsausschuss, im Innenausschuss, im Verteidigungs- ausschuss oder wo auch immer sitzen, wo ähnliche The- (Dr. Max Stadler [FDP]: Das ist leider so!) men angetippt werden. Ihr Gesetzentwurf sieht in § 1 Das kann sich ein Parlament nicht bieten lassen. Dage- eine Regelung vor – ich hoffe, das ist nicht beabsichtigt –, gen muss es sich parteiübergreifend wehren. Wir unter- die die Beschäftigung anderer Abgeordneter und vor al- nehmen hier den Versuch, uns zu wehren. len Dingen anderer Ausschüsse mit den Themen, die im Parlamentarischen Kontrollgremium behandelt werden, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) geradezu ausschließt. GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal, wie!) (D) Da gibt es aber Grenzen, die natürlich einzuhalten sind, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Ströbele. Es trennen uns einige Gedanken, auf die Herr Kollege Ströbele. ich eingehen will.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Sie schlagen vor, das Parlamentarische Kontrollgre- GRÜNEN): mium zu einem Ausschuss wie jeden anderen zu ma- Das halten wir nicht für richtig. Der Passus muss ge- chen. strichen werden. Damit ist Ihr Gesetzentwurf auf gar (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE keinen Fall praktikabel. Ich mache Ihnen einen einfa- GRÜNEN]: Wo steht das?) chen Vorschlag: Unser Gesetzentwurf war eher da. Das ergibt sich aus der Drucksachennummer. Das kann nicht richtig sein. Dieses Gremium ist ein Aus- schuss sui generis, weil die Tätigkeit, der es nachgeht, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eine Tätigkeit sui generis ist. Die Nachrichtendienste, Herr Kollege Ströbele. die heute wichtiger denn je sind, müssen geheim arbei- ten. Spätestens seit dem 11. September 2001 können wir die Sicherheit in Deutschland nicht mehr durch noch Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE mehr Soldaten, durch noch mehr Polizisten gewährleis- GRÜNEN): ten; für mehr Sicherheit sorgen wir vielmehr durch noch Er ist besser, er ist besser ausgearbeitet, und er kann mehr nachrichtendienstliche Erkenntnisse. sich sehen lassen. Mit ihm würden wir unsere Probleme wirklich in den Griff bekommen. Deshalb: Stimmen Sie Nicht jeder Dienst kann alles wissen; deswegen brau- ihm zu! chen die einzelnen Dienste den Austausch mit anderen Diensten, mit Diensten befreundeter Länder auf der gan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zen Welt. Daher dürfen wir bei unserer Tätigkeit das Ge- sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktions- flecht aus nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, das los]) Prinzip des Gebens und Nehmens – do ut des – nicht be- einträchtigen. Wenn wir öffentlich darüber berichten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: würden, welcher Nachrichtendienst wem welche Er- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege kenntnisse mitgeteilt hat, würde dieser Informationsfluss Dr. Hans-Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion. unverzüglich eingestellt werden – zum Schaden 23418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Deutschlands, weil Deutschland dadurch unsicherer Auch das ist falsch. Dem liegt ein regelrechter Denkfeh- (C) würde. ler in Bezug auf dieses Gremium zugrunde. Warum? Wir, die neun Mitglieder dieses Gremiums, auch Sie, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sind mit Kanzlermehrheit gewählt, um unserer Kontroll- GRÜNEN]: Wo steht denn das?) tätigkeit abschließend und ohne Rückkoppelung mit dem Schon daran erkennt man, wie kompliziert die Dinge Parlament nachzugehen. Es wäre nicht systemgerecht, sind. Da es um eine geheime Tätigkeit geht, muss auch wenn wir neun in den Fraktionen alles weitererzählten. die Kontrolle geheim erfolgen. Man kann darüber diskutieren – das werden wir auch noch tun –, ob man gegenüber den Spitzen der Fraktio- Wir sollen über „Vorkommnisse von besonderer Be- nen eine Ausnahme machen kann. Überhaupt, Herr deutung“ – so heißt der Schlüsselbegriff – informiert Nešković: Wir befinden uns heute in der ersten Lesung werden. Dieser Begriff lässt verschiedene Auslegungen und werden uns erneut treffen. Wir sollten uns das eine zu. Hinzu kommt, dass uns die Bundesregierung und oder andere noch einmal durch den Kopf gehen lassen. nicht die Dienste informieren. Die Bundesregierung kann Vorkommnisse von besonderer Bedeutung aber nur Ich glaube, es ist gut, dass wir das Grundgesetz dahin dann weitergeben, wenn sie vom Präsidenten des Nach- gehend ändern wollen, dass dieses Gremium demonstra- richtendienstes informiert wurde. Der Präsident des tiv in der Verfassung verankert wird. Die verstärkte Kon- Nachrichtendienstes kann Vorkommnisse von besonde- trolltätigkeit wird zu mehr Zusammenarbeit führen. rer Bedeutung nur dann weitergeben, wenn er von der Uns ist vollkommen klar, dass wir ein hohes Maß an Leitungsebene informiert wurde. Die Leitungsebene ih- Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen müssen, rerseits kann es nur dann tun, wenn sie von der Arbeits- weil wir durch Indiskretionen regelrecht sicherheitsge- ebene informiert wurde. Wir haben sämtliche Varianten fährdend tätig sein können. Um Schaden von der Bun- der Desinformation oder der Nichtinformation erlebt; desrepublik Deutschland abzuwenden, dürfen wir nichts auf irgendeiner Ebene blieb irgendetwas hängen, weswe- aus diesem Gremium hinaustragen. Das ist ganz wichtig; gen die Bundesregierung uns nicht informiert hat. Wel- daran muss sich jeder halten. Deswegen ist es wahr- che Stelle Schuld hatte, musste daher von Fall zu Fall scheinlich auch falsch, Herr Ströbele, wenn die Mit- entschieden werden. arbeiter, die wir jetzt zu Recht hinzuziehen können, auch Wir sollten uns davor hüten – Herr Ströbele, auch da gleich das Recht erhalten, mit in die Sitzung zu gehen. sind wir nicht beieinander –, uns in den Kernbereich Nein, das wäre ein Schritt zu weit. Wir sollten die Zahl exekutiver Eigenverantwortung zu begeben. der Mitglieder nicht gleich verdoppeln von 9 auf 18. (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht auch nicht GRÜNEN]: Das hat auch keiner vorgeschla- (D) drin!) gen!) Das darf auch der Untersuchungsausschuss nicht. Darin Wir sollten uns zwar eine Arbeitshilfe geben, aber die sind wir uns eigentlich alle einig. Dazu gibt es eine Möglichkeiten zur Indiskretion nicht mutwillig vergrö- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. ßern. (Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Das ist Ich glaube, dass Herr Oppermann die richtigen Worte eine Behauptung von Ihnen! Dazu gibt es gewählt hat, als er gesagt hat, dass das Parlamentarische keine Gerichtsentscheidung!) Kontrollgremium nicht Feind, sondern Partner der Dienste sein soll. Die Dienste sollen nämlich im Ver- Der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung ist trauen auf die Geheimhaltung durch uns Vorkommnisse die Nachrichtendienstliche Lage dienstags vormittags im von besonderer Bedeutung partnerschaftlich rechtzeitig Kanzleramt. berichten. Wir müssen wissen, wie wir damit umzuge- hen haben: Wir müssen sie für uns behalten, können aber (Thomas Oppermann [SPD]: Da will der gemeinsam darüber diskutieren. Damit wird jeder – der Ströbele aber rein!) Dienst, die Regierung und auch wir als Parlamentarier in Ströbele will, dass Abgeordnete daran teilnehmen oder Vertretung des Gesamtparlaments – der Rolle eines part- zumindest die dort gegebenen Informationen erhalten. nerschaftlichen Umgangs gerecht. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Danke schön. NEN]: Nein! Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Da trennen uns Welten; da sind wir grundsätzlich ande- des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) rer Meinung. Das ist nicht Aufgabe des Parlaments. (Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Das ist Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wirksame Kontrolle!) Ich schließe die Aussprache. Sie haben gesagt: Das Parlament soll in toto infor- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf miert werden. den Drucksachen 16/12411, 16/12412, 16/12189 und 16/12374 an die in der Tagesordnung aufgeführten (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Druck- NEN]: Nicht über alles, aber über vieles!) sache 16/12189 zu Tagesordnungspunkt 32 c soll eben- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23419

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) falls federführend im Innenausschuss beraten werden. Eine Speicherung entsprechender Daten Minderjähriger (C) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann unter 16 Jahren in Dateien scheitert an der bestehenden sind die Überweisungen so beschlossen. Rechtslage. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Die Erfahrung zeigt aber, dass extremistische Organi- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- sationen, die zum Beispiel in Europa für den Dschihad gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Propaganda machen, über verschiedene Foren im Inter- Gesetzes zur Änderung des Artikel-10-Geset- net vermehrt Jugendliche rekrutieren und dass dieser zes Fall durchaus kein Einzelfall ist. Wir halten es deshalb für erforderlich, die Altersgrenze für die Speicherung – Drucksache 16/509 – und den Austausch von Daten Minderjähriger von 16 auf Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- 14 Jahre zu senken. Dem Interesse der Minderjährigen schusses (4. Ausschuss) an Datenschutz wird dadurch Rechnung getragen, dass die Speicherung und Nutzung von deren Daten nur dann – Drucksache 16/12448 – zulässig sind, wenn tatsächlich Anhaltspunkte dafür be- Berichterstattung: stehen, dass von diesen Jugendlichen eine erhebliche Abgeordnete Helmut Brandt Gefahr für Leib oder Leben eines Dritten ausgehen Klaus Uwe Benneter könnte. Einer neuen Studie zufolge sind immerhin Dr. Max Stadler 4,9 Prozent der Jugendlichen Mitglied einer rechtsextre- men Gruppierung. Wolfgang Wieland Mir erscheint folgende Änderung im Kampf gegen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Rechtsextremismus, die ebenfalls in diesem Änderungs- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre gesetz vorgesehen ist, von ganz besonderer Bedeutung: keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Als gemeinnützig anerkannte extremistische Organisa- tionen können in der Regel leichter als andere Spenden Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege akquirieren und entsprechende Steuerprivilegien nutzen. Helmut Brandt, CDU/CSU-Fraktion. Die hieraus resultierende Finanzausstattung versetzt sie (Beifall bei der CDU/CSU) dann in die Lage, ihre extremistischen Bestrebungen nachhaltiger zu verfolgen. Um dies zu verhindern, wird dem Bundesverfassungsschutz nunmehr die Befugnis er- Helmut Brandt (CDU/CSU): teilt, bei den Finanzämtern, die dem Steuergeheimnis Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (B) unterliegen, die Auskunft einzuholen, ob eine solche Or- (D) Herren im Plenum wie auch auf der Tribüne! Ich möchte ganisation als gemeinnützig anerkannt ist. zu Beginn, damit die Zuhörerinnen und Zuhörer verste- hen, worüber wir reden, nur kurz deutlich machen: Es Dem Bundesnachrichtendienst wird mit einer weite- geht um ein Gesetz, das sich auf Art. 10 unseres Grund- ren Änderung zudem die Befugnis zur gerätebezogenen gesetzes bezieht, also auf das Post- und Fernmeldege- Überwachung von Handys erteilt. Auch hier erfolgt die heimnis. Gesetzänderung aufgrund der gewonnenen Erfahrung, Die erste Änderung des Artikel-10-Gesetzes, über die dass häufig das gleiche Mobiltelefon benutzt wird, aller- wir heute beraten, beruht auf Erkenntnissen, die im Zuge dings mit ständig wechselnden SIM-Karten, sodass eine einer Evaluierung gewonnen wurden. Die Evaluierung kontinuierliche Überwachung des Handys derzeit un- hat gezeigt, dass dieses Gesetz durchaus seinen Ansprü- möglich ist. chen gerecht wird. Es hat sich aber erwiesen, dass die Zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens ge- den Sicherheitsbehörden zustehenden Befugnisse nicht hört die zusätzliche Befugnis des Bundesnachrichten- mehr den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten dienstes, strategische Fernmeldeaufklärung in zwei Be- genügen. reichen zu betreiben: einerseits zur Unterbindung des (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele internationalen Rauschgifthandels und andererseits zur [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ahndung der illegalen Schleuserkriminalität innerhalb der Europäischen Union, allerdings mit der Einschrän- Mit anderen Worten, Herr Ströbele: Die derzeitigen Be- kung, dass ein Bezug zur Bundesrepublik Deutschland fugnisse der Sicherheitsbehörden sind nicht hinreichend bestehen muss. für eine effektive Erfüllung ihrer Aufgaben. Neben all den Änderungen, die ich aufgeführt habe, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- betrifft eine der wichtigsten Änderungen den Kernbe- NEN]: Na ja!) reichsschutz privater Lebensgestaltung. Wir alle erin- Ich nenne ein Beispiel: Ein junger Deutscher tune- nern uns noch an die jüngst geführte Debatte zum Bun- sischer Abstammung steht in Verdacht, die im Septem- deskriminalamtgesetz. Die Kernbereichsregelung, auf ber 2007 festgenommene Sauerland-Zelle dadurch un- die wir uns nach etlichen Diskussionen verständigt ha- terstützt zu haben, dass er Zünder aus der Türkei nach ben, wird nunmehr auch Gegenstand des Artikel-10-Ge- Deutschland geschmuggelt hat. Trotz dieses bestehenden setzes. So wird das sogenannte Richterband eingeführt: Verdachts konnte kein auf den damals erst 15-Jährigen Bei Zweifeln über die Kernbereichsrelevanz eines Ge- bezogener Informationsaustausch stattfinden. Begründung: spräches im Rahmen einer Live-Abhörmaßnahme muss 23420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Helmut Brandt (A) die Entscheidung eines Mitglieds der G-10-Kommission Eine Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts hat (C) eingeholt werden. dieses Gesetz dennoch für verfassungskonform gehalten. Deswegen hatte der Deutsche Bundestag die Aufgabe, in Mit diesem Gesetz werden nicht alle berechtigten Er- der G-10-Kommission den Grundrechtsschutz so gut wie wartungen an ein Änderungsgesetz erfüllt. Vielmehr ist möglich zu gewährleisten. Ich will an dieser Stelle nicht es notwendig, beispielsweise im Bereich der Quellen- verschweigen, dass die Kontrolldichte in diesem Bereich TKÜ und des Betriebssystems NADIS-neu in der nächs- gerade in den letzten Jahren wesentlich verbessert ten Legislaturperiode weitere Änderungen vorzuneh- wurde. Wir wissen mittlerweile aus Studien des Max- men, um die Möglichkeit der Aufklärung durch unsere Planck-Instituts, dass auch die richterliche Kontrolle im Sicherheitsbehörden an die sich ständig verändernden Bereich Telefonüberwachung in manchen Fällen nicht technischen und tatsächlichen Gegebenheiten anzupas- wie gewünscht funktioniert hat. sen. Ich will die Gelegenheit der heutigen Debatte nutzen, Lassen Sie mich zusammenfassend sagen, dass mit um zu erwähnen, dass gerade unter dem Vorsitz des den jetzt vorgenommenen Änderungen ein erster wichti- Sozialdemokraten Dr. Hans de With, der in der sozial- ger Schritt unternommen wird, um bestehenden und liberalen Koalition Staatssekretär im Bundesjustizminis- künftigen Bedrohungsszenarien im Bereich des Terroris- terium unter Dr. Hans-Jochen Vogel gewesen ist – das mus, der Proliferation und des Rechtsextremismus effek- einmal zur rechtsstaatlichen Tradition der SPD –, ver- tiv begegnen zu können. Wir bitten um Ihre Zustim- sucht wurde, den Grundrechtsschutz zur Geltung zu mung. bringen. Besten Dank. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus (Beifall bei der CDU/CSU) Uwe Benneter [SPD]) Dieses verdienstvolle Bemühen der G-10-Kommis- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sion wird meiner Meinung nach teilweise konterkariert, Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kolle- indem mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf schon gen Dr. Max Stadler. wieder Erweiterungen der Eingriffsbefugnisse der Nach- (Beifall bei der FDP) richtendienste geschaffen werden, ohne dass sie zwin- gend notwendig sind. Ich nehme das Beispiel auf: Ist es denn unumgänglich, die Daten Jugendlicher zu spei- Dr. Max Stadler (FDP): chern? Was ist der nächste Schritt? Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Herren! Die Bitte des Kollegen Brandt, diesem Gesetz (D) zuzustimmen, kann die FDP-Fraktion leider nicht erfül- NEN]: Kinder!) len. Ich komme gleich auf die Einzelheiten zu sprechen. In einem Bundesland gab es kürzlich die Speicherung (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der Daten von Kindern. Wollen wir das wirklich? Wir GRÜNEN]: Hoffentlich!) haben doch eines aus dem BND-Untersuchungs- ausschuss gelernt: Es gibt oft Verdachtsmomente, die Zunächst ist darauf zu verweisen, dass wir es mit ei- sich aus zweiter Hand speisen und die äußerst vage sind. nem äußerst sensiblen Bereich zu tun haben, der den Das ist nicht so, wie wenn vor Gericht nach einem strik- Deutschen Bundestag erstmals in dieser Form im Jahr ten Verfahren etwas festgehalten wird. Deshalb muss 1968 beschäftigt hat, als die erste Große Koalition aus man, wenn es darum geht, schon Jugendliche oder gar CDU/CSU und SPD regiert hat. Damals, am 13. August Kinder zu erfassen, äußerst vorsichtig sein. 1968, ist das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses – es heißt G-10-Gesetz, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weil es Art. 10 des Grundgesetzes einschränkt – in Kraft NEN]: Völlig richtig!) getreten. Dagegen gab es eine Verfassungsklage. Das Ich frage mich auch, ob Schleuserkriminalität Gegen- Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz mit Mehrheit stand der strategischen Fernmeldeaufklärung sein muss. für verfassungskonform erachtet, jedenfalls im Grund- Schleuserkriminalität ist strafrechtlich gesehen Unrecht. satz, wenn es später auch Details beanstandet hat. Es gab Wir können den BND aber nicht auf alle Straftaten an- aber das berühmte Sondervotum der Verfassungsrichte- setzen. Es muss klar getrennt werden zwischen Geheim- rin Wiltraud Rupp-von Brünneck, das Rechtsgeschichte dienstarbeit und Polizeiarbeit. geschrieben hat. Sie schrieb in dieses Sondervotum: Principiis obsta – wehret den Anfängen! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) NEN]: Sehr gut!) Ich komme zum Schluss. Das Verfahren, das die Das war der erste Schritt zur Abkehr von rechtsstaat- Große Koalition gewählt hat, ist eine Zumutung. Sie ha- lichen Grundsätzen, weil mit diesem Gesetz der damali- ben den Gesetzentwurf im Jahr 2006 eingebracht. Dann gen Großen Koalition die richterliche Kontrolle bei ei- blieb er drei Jahre bei Ihnen liegen. Am letzten Freitag nem Grundrechtseingriff beseitigt worden ist. sind Sie mit zahlreichen Änderungen gekommen, die (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ heute in zweiter und dritter Lesung durchs Parlament ge- DIE GRÜNEN) hen sollen. Das ist jetzt ein völlig anderer Gesetzentwurf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23421

Dr. Max Stadler (A) als der, den Sie vor drei Jahren eingebracht haben. Sie (Dr. Max Stadler [FDP]: Das ist schon lange (C) haben sich mit dieser Vorgehensweise die erste Lesung her!) für diesen völlig neuen Gesetzentwurf, den Sie uns letz- ten Freitag um 14 Uhr per Fax ins Büro geschickt haben, Dieser Entwurf ist unter Rot-Grün entstanden. gespart. Sie haben so eine korrekte Behandlung in den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ausschüssen, vielleicht mit Sachverständigenanhörung, GRÜNEN]: 2006? Leider nicht mehr!) umgangen, und das in einem Bereich, der grundrechts- relevant ist. Dem können wir nicht zustimmen. Er ist dann, Herr Ströbele, als rot-schwarzer Entwurf in der neuen Legislaturperiode eingebracht worden. Das Vielen Dank. sage ich nur vorsorglich, weil ich weiß, dass Sie nach mir sprechen werden und unter Umständen alles Mögli- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ che kritisieren werden. Es ist unser damaliger gemeinsa- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der mer Entwurf, den wir heute hier beraten. LINKEN) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: NEN]: Den haben Sie doch verschlechtert!) Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kolle- Wegen des Vorrangs des BKA-Gesetzes, das ebenfalls gen Klaus Uwe Benneter. sehr ausführlich beraten werden musste, haben wir den (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entwurf damals zurückgestellt. Richtig ist, dass – auch Das wird jetzt eine schwere Aufgabe!) für uns ganz plötzlich – mit einer sehr weitgehenden und umfassenden sogenannten Formulierungshilfe versucht wurde, uns einen neuen Gesetzentwurf unterzujubeln. Klaus Uwe Benneter (SPD): Da haben wir nicht mitgemacht. Wenn Sie jetzt sagen, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle- das sei ein neuer Gesetzentwurf geworden, dann ist das ginnen und Kollegen! Ich zitiere zunächst aus dem nicht richtig. Wir haben es im Wesentlichen bei dem Grundgesetz, damit die Zuhörerinnen und Zuhörer, die Entwurf, den wir unter Rot-Grün entwickelt haben, be- etwas zahlreicher als wir erschienen sind, auch etwas lassen und ihn lediglich an ein paar Entwicklungen ange- von unserer Debatte haben. In Art. 10 des Grundgesetzes passt. heißt es: Ich nenne die vier wesentlichsten Punkte: Erstens (1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fern- geht es darum, den Schmuggel von Kriegswaffen zu un- meldegeheimnis sind unverletzlich. terbinden, hier also bessere Möglichkeiten zur Aufklä- rung zu schaffen. (B) (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines (D) Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschrän- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE kung dem Schutze der freiheitlichen demokrati- GRÜNEN]: Genau! Proliferation!) schen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann Das gilt nur für Schiffe, die außerhalb deutscher Ho- das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen heitsgewässer unterwegs sind; sonst ist das Zollkriminal- nicht mitgeteilt wird und dass an die Stelle des amt zuständig. Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Zweitens geht es um bedeutsame Fälle von Schleuser- Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane kriminalität, die sich erst in den letzten Jahren in dieser tritt. Weise international entwickelt hat. Um das Gesetz, das in Art. 10 des Grundgesetzes ermög- Drittens geht es darum, deutsche Handys im Ausland licht wird, geht es. über ihre Telefonnummern lokalisieren zu können, zum Beispiel im Falle einer Entführung. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer wieder geht es darum!) (Dr. Max Stadler [FDP]: Der Punkt ist gut!) Deswegen heißt es gemeinhin G-10-Gesetz. Viertens werden die Nachrichtendienste dazu befugt, von sich aus bei den Finanzämtern nachzufragen, ob ein Das G-10-Gesetz ist zuletzt vor acht Jahren novelliert Verein gemeinnützig ist oder nicht. Das ist sehr sinnvoll. worden, im Jahre 2001, allerdings vor September 2001. Wir fragen uns doch immer, weshalb rechtsradikale Ver- Dann hat – Kollege Brandt hat darauf hingewiesen – eine von uns noch unterstützt werden. Oftmals stellt sich eine Evaluierung stattgefunden. Wie er will auch ich die heraus, dass sie unerkannt weiterhin als gemeinnützig Zuhörer einbeziehen: Es ist also überprüft worden, ob geführt werden. das Gesetz in der Praxis etwas taugt, ob es standhält. Da- bei hat sich herausgestellt, dass das Gesetz im Wesentli- Das sind die vier wesentlichen Neuerungen, die in chen gut gemacht ist und lediglich in einigen Details, diesen Gesetzentwurf eingeflossen sind, und das haben insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung des inter- wir gemeinsam verabredet. nationalen Terrorismus, Anpassungen erfahren muss. Was seitens unseres Koalitionspartners, vor allem des Dann ist lange an den Änderungen gearbeitet worden. in diesen Fragen unersättlichen Innenministers, einzu- Im Jahre 2006 – der Kollege Stadler hat darauf hinge- bringen versucht wurde, was wir aber nicht aufgenom- wiesen – hat es den Entwurf gegeben. men haben, sind die Vorratsdatenspeicherung und der 23422 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Klaus Uwe Benneter (A) Zugriff durch die Verfassungsschutzbehörden. Das wird können. Nicht mehr ist in dem Gesetzentwurf enthalten; (C) es mit uns nicht geben. Ebenso wird die NADIS-Datei das haben wir durchgesetzt. keine Volltextdatei werden, sondern eine Indexdatei blei- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ben. Die NADIS-Datei ist eine Datei, mit deren Hilfe die GRÜNEN]: Das Gegenteil ist richtig!) Verfassungsschutzbehörden untereinander Informatio- nen austauschen können und auf die sie gemeinsam zu- Ich meine, dass es uns gelungen ist, zu einem guten greifen können. Gesetz zu kommen, das sich sehen lassen kann. Die ge- planten Änderungen sind sinnvoll, wohlüberlegt und Wir haben erreicht, dass der Kernbereichsschutz aus- auch lange beraten worden. geweitet wurde. Er ist so formuliert wie in der Strafpro- zessordnung und wie im Bundeskriminalamtgesetz. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber nicht mit uns!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb ist es immer noch falsch! – Herr Kollege Stadler, Sie beschweren sich zu Unrecht Dr. Max Stadler [FDP]: Das ist wieder der- darüber, dass es erst in letzter Minute Formulierungsvor- selbe Fehler!) schläge gab. Wir jedenfalls haben sie sehr eingehend und ausführlich beraten. – Sie haben das immer kritisiert. Auch der Bundesdaten- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schutzbeauftragte hat das in den letzten Tagen kritisiert NEN]: Wer ist „wir“?) und sich darauf bezogen, dass Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung eine Telefon- – Das sind die Koalitionsfraktionen, die für das Gesetz überwachung von vornherein ausschließen. Das ist klar. verantwortlich sind. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Was heißt „klar“? Das Gegenteil ist GRÜNEN]: Das sind 22 neue Seiten!) klar!) Wir geben den Geheimdiensten einige wenige neue Wir haben die Regelung getroffen, dass, wenn sich erst Befugnisse, für die ein unabweisbares Bedürfnis besteht. im Laufe einer Überwachung herausstellt, dass der Im Gegenzug schaffen wir mit den Regelungen gerade Kernbereich betroffen ist, die Überwachung sofort zu zum Kernbereichsschutz für die zeugnisverweigerungs- unterbrechen ist, weil der Kernbereichsschutz Vorrang berechtigten Personen und erst recht mit den Regelungen hat. Das heißt, die Menschen in unserem Lande sollen zu den Benachrichtigungen einen wesentlich umfassen- prinzipiell unkontrolliert telefonieren und Briefe austau- deren Schutz für die Betroffenen. Das ist eine verant- wortliche Politik mit klarer sozialdemokratischer Hand- (B) schen können. (D) schrift. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das können sie doch gerade nicht!) Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Hans-Christian Ströbele Das muss auch weiterhin gewährleistet sein; denn bei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine uns sind Aktivitäten von Geheimdiensten grundsätzlich ganz schlechte Handschrift! – Dr. Max Stadler nur ausnahmsweise gerechtfertigt. [FDP]: Mit einer unleserlichen Handschrift!) Zu dem Kritikpunkt, was die Speicherung von Daten Minderjähriger angeht. Wir haben die gewünschte Rege- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lung, das Alter generell herabzusetzen, verhindert. Es Das Wort hat die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die gibt lediglich im Einzelfall die Möglichkeit, die Daten Linke. zu speichern. Das setzt aber voraus, dass ganz konkrete (Beifall bei der LINKEN) Erfahrungen und Erkenntnisse vorhanden sind.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Petra Pau (DIE LINKE): GRÜNEN]: Was?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Dank an meine Vorredner. Ich Aber es darf natürlich nicht so weit gehen, wie es nach muss jetzt nicht mehr Art. 10 Abs. 1 und 2 vorlesen, weil der Meinung des Datenschutzbeauftragten sein müsste. alle, die an dieser Debatte teilnehmen, schon wissen, Er verkennt einfach den Unterschied zwischen polizeili- worum es geht. Ich will aber ergänzen: Die Kontrolle chen Aufgaben und den Aufgaben der Geheimdienste. über die tatsächlichen Eingriffe in das Post- und Fern- Herr Kollege Stadler, Sie haben selbst auf diesen Unter- meldegeheimnis obliegt den Organen der Volksvertre- schied hingewiesen. Da muss es eine klare Trennung ge- tung. Auch das regelt Art. 10 des Grundgesetzes. Mit ben. Die Geheimdienste untersuchen keine Gefahrenla- dem G-10-Gesetz werden Geheim- und Nachrichten- gen, erst recht keine konkreten Gefahrenlagen. Dafür ist dienste befugt, das beschriebene Grundrecht gezielt au- die Polizei im Rahmen von Strafverfolgungsmaßnahmen ßer Kraft zu setzen. Darin liegt die Brisanz dieses Arti- zuständig. Die Geheimdienste sollen aber weiterhin im kels und aller Regelungen, die wir hierzu beraten und Vorfeld Aufklärungsarbeit leisten. Wenn Minderjährige beschließen. als Boten für Waffen, Munition oder Sprengstoff einge- setzt werden, muss es im konkreten Einzelfall möglich Es wurde auch schon gesagt, dass das geltende G-10- sein, entsprechende Daten speichern und übermitteln zu Gesetz aus dem Jahre 2001 stammt. Ich habe damals mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23423

Petra Pau (A) Nein gestimmt – übrigens im Unterschied zu den Grü- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das machen wir (C) nen. Bereits seinerzeit hatten Datenschützer und Bürger- auch nicht!) rechtler moniert, dass der Eingriff in das Fernmeldege- heimnis von einer absoluten Ausnahme immer mehr zu und dessen Einhaltung im Übrigen aktuell durch den einem üblichen Regelfall wird. Bundestag überhaupt nicht zu kontrollieren ist. In diese Negativrichtung zielen nun auch die Ände- (Beifall bei der LINKEN) rungen, die heute beschlossen werden sollen. Die Befug- nisse des BND werden ausgeweitet, ebenso die Fälle, bei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: denen das Fernmeldegeheimnis außer Kraft gesetzt wer- Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans-Christian den darf. Es ist also naheliegend und sicherlich auch Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. nachvollziehbar, dass die Fraktion Die Linke dazu erneut Nein sagen wird. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN): Hinzu kommt – wir haben es beim letzten Tagesord- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nungspunkt debattiert –: Alle Fraktionen beschweren Es ist richtig: Dieses sogenannte G-10-Gesetz, unter sich aktuell darüber, dass sich der Bundesnachrichten- dem sich der normale Mensch nichts vorstellen kann, dienst nicht in die Karten schauen lässt. Aber wenn wir wurde unter Rot-Grün immer wieder behandelt. Wir ha- keine hinreichende parlamentarische Kontrolle über das ben nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsge- Tun und Lassen des BND haben, dann ist es recht unlo- richtes aus einem alten verfassungswidrigen Gesetz gisch, ihn jetzt vorauseilend mit weiteren Befugnissen 2001 ein verfassungsgemäßes Gesetz gemacht. Wir ha- und Sonderregeln auszustatten. Wir sollten vielleicht erst ben gleichzeitig eine Evaluierung vorgesehen. Diese hat einmal die Kontrolle hinreichend regeln und dann weiter nach zwei Jahren stattgefunden und zu einem Ergebnis darüber reden. geführt. Daraufhin haben wir uns wieder zusammenge- setzt und gefragt: Was muss jetzt geändert werden? – So (Beifall bei der LINKEN) muss ein Gesetzgeber arbeiten. Ein weiterer Kritikpunkt der Fraktion Die Linke hat Wir haben dann 2004/2005 einen neuen Vorschlag er- schon eine Rolle gespielt: Der vorliegende Gesetzent- arbeitet, der aber, weil einem gewissen Gerhard einfiel, wurf ist rund drei Jahre alt. Kurz vor Beratungsschluss dass er die Legislaturperiode besser vorzeitig beendet, wurde noch eine Vielzahl von Änderungen vorgenom- nicht mehr zum Zuge gekommen ist. Wir waren uns men, allerdings nicht nur ohne die Opposition über die- nicht in allen Punkten einig, aber etwa – Herr Kollege (B) ses Vorhaben rechtzeitig in Kenntnis zu setzen, sondern Benneter, ich gebe Ihnen recht – bei der Proliferation, (D) auch ohne den Bundesbeauftragten für den Datenschutz wenn es also darum geht, den Transport von Kriegswaf- in Kenntnis zu setzen, dass man so etwas einbringen fen und sogenannten Dual-Use-Gütern, aus denen man will, geschweige denn seinen Rat einzuholen. Waffen herstellen kann, zu unterbinden. Wir waren da- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE für, hier entsprechende Regelungen anzuwenden. Aber GRÜNEN]: Genau!) bei den Schleusungen, beim Menschenhandel waren wir sehr skeptisch; das war damals sehr streitig. Es ist dann Ich muss sagen: Ein Schelm, Kollege Benneter, wer da- ja zu keinem Gesetz mehr gekommen. bei an Zufall denkt! Nun haben Sie 2006 einen neuen Vorschlag vorgelegt, (Beifall bei der LINKEN) zu dem ich nicht sehr viel sagen möchte. Der Vorschlag Trotzdem hat Peter Schaar vorgestern dem Bundestag in Bezug auf die Proliferation ist in Ordnung. Andere eine erste Stellungnahme zu diesen Änderungsanträgen Punkte sind nicht in Ordnung. zugeschickt. Der Kern seines Kurzgutachtens ist: Er hält Was Sie aber vor wenigen Tagen, vom Kollegen Uhl den nun verändert vorliegenden Entwurf für nicht mit zugeschickt, nachgeliefert haben, ist keine kleine Ände- dem Grundgesetz vereinbar. Nun weiß man, dass es rung; die Änderungen umfassen 22 Seiten. manch einen im Hause gibt, den das nicht stört, der es mit dem Grundgesetz nicht so genau nimmt. Die Linke (Dr. Max Stadler [FDP]: 23 Seiten!) nimmt es sehr genau. Viele Paragrafen des Gesetzentwurfes wurden geändert. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Es gibt neue Formulierungen und alte Formulierungen, die verändert worden sind. Es gibt Formulierungen, die Ich finde, Sie sollten nicht ständig nach Karlsruhe schie- aus dem BKA-Gesetz übernommen worden sind. So len, in der Hoffnung, dass Sie dort die nötige Politikbe- geht es wirklich nicht. Wir können darüber in den Aus- ratung bekommen, um ein richtiges Gesetz zu machen. schüssen nicht mehr reden. Sie wollen das heute im Eil- (Beifall bei der LINKEN) verfahren durchziehen. Das, was Sie hier versuchen, ist unparlamentarisch und undemokratisch. Gerade weil es um verbriefte Bürgerrechte geht, wird sich die Linke auf die Seite der Verfassung stellen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sie schützen. Wir werden folglich keinem Gesetzentwurf sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Klaus zustimmen, der über die Bestimmungen des Art. 10 des Uwe Benneter [SPD]: Im Innenausschuss hat Grundgesetzes, die eingangs zitiert wurden, hinwegzielt keiner das Wort ergriffen!) 23424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Hans-Christian Ströbele (A) Jetzt komme ich zu den Inhalten. Dieser Gesetzent- lein den Kernbereich privater Lebensgestaltung betrifft, (C) wurf, den Sie jetzt verabschieden wollen, Herr Kollege nicht abgehört werden soll. Das muss aber feststehen. Benneter – – (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Von vornherein!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Ströbele, gestatten Sie eine Zwischen- Solche Fälle werden Sie ausschließen können. Die gibt frage des Kollegen Benneter? es so gut wie nie. (Dr. Max Stadler [FDP]: Ja!) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das heißt, das, was Sie da reinschreiben, ist ein Placebo. Klar. Wir sind ja Berliner und können noch ein biss- chen diskutieren. Die andere Regelung, die Sie aus dem BKA-Gesetz übernommen haben, zu dem, was sonst aufgezeichnet wird – nach dem BKA-Gesetz soll sich das dann ein Klaus Uwe Benneter (SPD): Richter ansehen und entscheiden, ob man das benutzen Herr Kollege Ströbele, ich bin sowohl Mitglied des darf oder nicht –, ist ein schlechter Witz. Da Sie den Innenausschusses als auch des Rechtsausschusses. In der Richter nicht beauftragen können, sagen Sie, das soll ein Sitzung des Innenausschusses in dieser Woche hat nicht Mitglied der G-10-Kommission sein. Nehmen wir den ein einziger Abgeordneter, auch keiner aus der Opposi- Kollegen Stadler, der Mitglied in der G-10-Kommission tion, das Wort in der Beratung dieses Gesetzentwurfs ge- ist: wünscht. Über den Gesetzentwurf ist ohne Debatte abge- stimmt worden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stimmen Sie mir zu, dass lediglich im Rechtsaus- NEN]: Das wäre gut! Aber bei Herrn Uhl wäre schuss der Abgeordnete Ströbele das Wort ergriffen hat das schlecht!) und auf die Bedenken des Bundesdatenschutzbeauftrag- Ich stelle mir jetzt vor, wie der Kollege Stadler Woche ten hingewiesen hat? Mehr ist über diesen Gesetzent- für Woche, Tag für Tag, da sitzt und sich die Tonbänder wurf nicht debattiert worden. von den abgehörten Telefongesprächen anhört, mög- lichst unter Hinzuziehung eines Dolmetschers. Das ist Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE doch völlig lebensfremd. Das funktioniert doch nie. GRÜNEN): Wenn Sie sich den vollen Terminkalender des Herrn Stadler anschauen, stellen Sie fest, dass er nicht einmal (B) Im Innenausschusses war ich nicht anwesend. Dazu (D) kann ich nichts sagen. Ich weiß nicht, seit wann die Kol- fünf Minuten Zeit hat, um sich das anzuhören. Das ist legen diese 22 Seiten vorliegen hatten. Darüber müssen ein völlig untauglicher Vorschlag. Den können Sie Sie sich gleich vielleicht mit dem Kollegen Wieland in gleich zu den Akten nehmen. einem Streitgespräch auseinandersetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ich war in bei- den Ausschüssen anwesend!) Nun kommen wir zu der Kinderdatei. Der Kollege Benneter hat gesagt, dass wir bei einer klaren Gefahren- Sie haben recht, was den Rechtsausschuss angeht. lage, wenn von einem Kind die Gefahr ausgeht, Gesprä- Wenn Sie dieser Ihrer Obliegenheit als Mitglied des che des Kindes aufnehmen und speichern können müs- Rechtsausschusses nachgekommen wären, hätten Sie sen. Das Kind könnte ja den Zünder oder die Pistole den Kollegen Ströbele, also mich, gehört. bringen, und dadurch könnte eine brenzlige Situation (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Habe ich!) entstehen. Ich hätte Ihnen schon dort meine Bedenken vorgetragen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und erläutert, die sind dort allerdings nicht auf viel Ge- NEN]: Ermittlungsverfahren!) genliebe gestoßen – leider. Das steht in Ihrem Vorschlag aber leider nicht drin, Herr (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das wird sich Kollege Uhl. Wenn Sie das wenigstens hineingeschrie- heute nicht ändern!) ben hätten! In dem Gesetzentwurf steht aber, dass das möglich ist, wenn „nicht ausgeschlossen werden kann“, Wenn Sie in der Sitzung des Rechtsausschusses meine dass von dem Vorgang eine Gefahr ausgeht. Können Sie Bedenken ernst genommen hätten, hätten wir uns heute so etwas jemals ausschließen? Nehmen wir einmal an, vielleicht eine Diskussion über den einen oder anderen Sie haben einen vagen Hinweis aus irgendeiner Szene. Punkt ersparen und die Debatte abkürzen können. Also: Können Sie dann ausschließen, dass von dem Kind eine Immer auf Ströbele hören! Gefahr ausgeht, auch wenn der Hinweis noch so vage, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch so unvollkommen und noch so zweifelhaft ist? sowie des Abg. Dr. Max Stadler [FDP]) Jetzt komme ich zu den inhaltlichen Punkten. Sie ha- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben aus dem BKA-Gesetz die Formulierung übernom- Herr Kollege Ströbele, ich muss Sie an Ihre Redezeit men, dass dann, wenn klar ist, dass ein Sachverhalt al- erinnern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23425

(A) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE heitsbehörden, den Bundesnachrichtendienst und das (C) GRÜNEN): Bundesamt für Verfassungsschutz, wirklich auf gleiche Ausschließen können Sie das nie. Sie wollen eine Augenhöhe mit dem internationalen Terrorismus und Kinderdatei einführen. Das halten wir für unzulässig. insbesondere mit der organisierten Kriminalität zu brin- Auch aus diesem Grund lehnen wir diesen Gesetzent- gen. wurf ab. Den Änderungsvorschlag – Ein ganz wesentlicher Punkt: Seit 2003 sind insge- samt 41 Deutsche – ich habe es nachgezählt – im Aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: land entführt worden: in Afrika, in Südamerika und im Herr Kollege Ströbele! Mittleren Osten. Allein im Jahr 2008 wurden 18 deut- sche Staatsangehörige verschleppt und entführt. Bisher Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE war es aufgrund der rechtlichen Situation leider nicht GRÜNEN): möglich, die Mobiltelefone der Betroffenen zu orten. – lehnen wir ab, auch weil er nicht beraten werden Nach der jetzigen Novellierung wird dies Gott sei Dank konnte. möglich sein. Ich sage „Gott sei Dank“, weil es hier, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Opposition, um Leib und Leben von deutschen Staats- angehörigen geht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Max Stadler [FDP]: Dieser Punkt ist in Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ordnung!) Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion. Es ist nur recht und billig, dass der Bundesnachrichten- (Beifall bei der CDU/CSU) dienst nunmehr die Möglichkeit haben wird, sowohl die Gerätenummer als auch die Mobiltelefone der entführten Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Deutschen zu orten. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist unbestreit- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE bar, dass dem G-10-Gesetz eine außerordentlich hohe GRÜNEN]: Gegen wen reden Sie jetzt?) gesellschaftspolitische, rechtspolitische, aber auch si- Ein weiterer wichtiger Punkt – das Stichwort Prolife- cherheitspolitische Bedeutung zukommt. Wenn in einer ration ist schon gefallen –: Leider wird immer mehr freiheitlich-demokratischen Gesellschaft wie der deut- nuklearwaffenfähiges Material verschifft; viele Trans- schen ein Eingriff in elementare Freiheitsrechte wie das porte erfolgen auf dem Seeweg. Bisher war es nicht (B) Briefgeheimnis, das Postgeheimnis oder das Fernmelde- möglich, Telefone auf deutschen Schiffen außerhalb (D) geheimnis vorgenommen wird, dann darf dies – das ist deutscher Hoheitsgewässer zu überwachen. Dies wird in diesem Haus Gott sei Dank Konsens – nur in ganz jetzt nach der Änderung dieses Gesetzes möglich. Es engen Grenzen – die Hürden dafür sind hoch – und nur kann doch nicht sein, dass unsere Sicherheitsbehörden in ganz wenigen Ausnahmefällen erfolgen. zuschauen müssen, wenn sich auf deutschen Schiffen Angesichts dieses sehr schwierigen verfassungsrecht- bekanntermaßen nuklearwaffenfähiges Material oder lichen Hintergrundes gilt es, besondere Sorgfalt an den Kriegswaffen befinden sollten, die dann im Zielland Tag zu legen, wenn Hand an das G-10-Gesetz gelegt möglicherweise dazu benutzt werden, Angriffe auf deut- wird. sche Truppen oder sonstige deutsche Staatsangehörige zu unternehmen. Es kann uns aber genauso wenig recht Mit dem jetzt vorliegenden Gesetz werden wir diesem sein, wenn diese Kriegswaffen oder anderes Material Anspruch aber in vollem Umfang gerecht. Meine sehr dazu benutzt werden, Angriffe auf andere Staaten zu un- verehrten Kollegen von der Opposition, es trifft nicht zu, ternehmen. Deswegen ist es richtig, dass wir mit diesem dass hier ein großer Rundumschlag gemacht wird. Viel- geringinvasiven Eingriff in das G-10-Gesetz der verän- mehr wird in ganz wenigen Ausnahmefällen geringinva- derten Sicherheitssituation in Deutschland, aber auch siv in das G-10-Gesetz eingegriffen. weltweit Rechnung tragen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich halte es – das sage ich auch ganz offen – für ein NEN]: Das heißt sonst „minimalinvasiv“!) stückweit verantwortungslos, wie sich die Opposition Herr Kollege Stadler, es ist richtig, dass wir uns mit bei diesem wichtigen Gesetz verhält. Dieses Gesetz stellt der Beratung dieses Gesetzes viel Zeit gelassen haben. einen angemessenen Ausgleich dar zwischen den wichti- Dies war aber auch notwendig, um insbesondere der ge- gen Sicherheitsinteressen Deutschlands und dem Schutz änderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerich- wichtiger Individualrechtsgüter von deutschen Staats- tes, aber auch – ich erinnere an den 11. September 2001 angehörigen im Ausland einerseits und dem berechtigten und den Umstand, dass seit diesem Tag insgesamt sieben und gar nicht zu unterschätzenden Anspruch des Staates terroristische Angriffe auf deutschem Boden versucht andererseits, wichtige Freiheitsrechte wie das Fern- wurden – den geänderten Sicherheitsbedürfnissen und melde-, Brief- oder Postgeheimnis zu wahren. der erhöhten Bedrohungssituation in Deutschland und außerhalb Deutschlands Rechnung zu tragen. Die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Punkte, die jetzt aufgenommen wurden, sind meines Er- Herr Kollege Mayer, Sie müssen zum Schluss kom- achtens außerordentlich notwendig, um unsere Sicher- men. 23426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): unser Sozialstaat für seine Bürger sorgt. Nach dem (C) Diese praktische Konkordanz wird mit diesem Gesetz Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“ scheint es Ihnen in vollem Umfang erfüllt. Deswegen kann ich Sie wirk- darum zu gehen, Vertrauen in die Sozialgesetzgebung lich nur alle ermuntern und auffordern, diesem Gesetz grundsätzlich zu unterminieren. zuzustimmen. ( [SPD]: So ist es!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich finde das problematisch. Es geht Ihnen dabei nicht (Beifall bei der CDU/CSU) nur um die Höhe der Regelsätze und um Fragen der An- rechenbarkeit von Einkünften, sondern Sie sind auch da- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei, das Prinzip der Nachrangigkeit sturmreif zu schie- Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab- ßen. Dafür liefern wir Ihnen weder Waffen noch stimmung über den von der Bundesregierung einge- Munition. brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Artikel-10- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/12448, den Ge- Parallel zu diesen Angriffen fordern Sie, den Leis- setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/509 tungsbereich qualitativ und quantitativ nach der Devise in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- „Immer mehr Leistung für immer mehr Anspruchsbe- gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- rechtigte“ auszuweiten. Bei dem Antrag heute geht es stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- um die Umweltprämie. Sie verlangen die Nichtanrech- men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in nung dieses Zuschusses als Einkommen bei Grundsiche- der zweiten Beratung mit den Stimmen der Koalition bei rungsempfängern nach SGB II und XII. Gegenstimmen der Opposition angenommen. Schon bei der Beratung im Fachausschuss wurde Dritte Beratung deutlich, dass es keine einheitliche Bewertung Ihrer For- derung gibt. Meines Erachtens ist die Umweltprämie ein und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem sehr erfolgreiches Instrument. Es stärkt die Nachfrage Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- nach Autos und hilft damit, die Auswirkungen der Wirt- len, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – schaftskrise auf die Automobilindustrie abzuflachen. Der Gesetzentwurf ist damit auch in der dritten Beratung Trotzdem ist sie umstritten. Das hat sich gerade anläss- mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der lich der Verlängerung dieser Förderung gezeigt. Auch Opposition angenommen. bei der Frage der Anrechenbarkeit gibt es im Parlament Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf: keine Übereinstimmung. (B) (D) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wer steht für welche Lösung? Bei unserem Koali- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales tionspartner gibt es zwar Sympathien für die Nicht- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten anrechnung, aber keine wirkliche Zustimmung. Katrin Kunert, Katja Kipping, Dr. Gesine (Zuruf von der LINKEN: Wie steht es denn bei Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ihnen?) DIE LINKE Keine Anrechnung der Abwrackprämie bei Soweit ich weiß, kommt aus der Spitze der Fraktion ein ALG II und Eingliederungshilfe klares Nein. Das Bundesministerium für Arbeit und So- ziales ist davon überzeugt, dass die gesetzliche Grund- – Drucksachen 16/12114, 16/12358 – lage zu einer Anrechnung zwingt. Der Präsident des Bundessozialgerichtes vertritt in der Presse die gegentei- Berichterstattung: lige Auffassung. Abgeordneter Karl Schiewerling (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die NEN]: Sehr richtig!) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Logischerweise liegen jedoch noch keine Urteile, gar Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- letztinstanzliche, vor. Deshalb äußert er sich auch nicht gin Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Fraktion. qua Amt. Die SPD-Fraktion hat sich selbstverständlich mit die- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): ser Frage befasst. Für uns – das darf ich sagen – ist die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe derzeitige Praxis und damit die Gesetzeslage unbefriedi- Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln den Antrag gend. der Linken „Keine Anrechnung der Abwrackprämie bei (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) ALG II und Eingliederungshilfe“. Zu den unzähligen Anträgen der Fraktion Die Linke zu Veränderungen des Wir sehen in der Umweltprämie ein Marktanreizinstru- SGB ist ein weiterer hinzugekommen. Wir wissen: Er ment. Sie ist eine der vielen Antworten auf die schwie- wird nicht der letzte sein. Betrachtet man diese Serie, be- rige wirtschaftliche Lage und soll dazu beitragen, in der stätigt sich der Eindruck, dass sie alle – mal mehr, mal Auto- und Zulieferindustrie Arbeitsplätze zu erhalten. weniger – populistisch belegen sollen, wie unzureichend Wir haben es – Frau Kipping, das ist auch für Sie interes- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23427

Gabriele Lösekrug-Möller (A) sant – also mit einem einzigartigen Impuls der Nachfra- beit suchen, auf einen Pkw angewiesen sind. Ich emp- (C) gesteigerung zu tun. fehle Ihnen, sich einmal den Parkplatz vor einem Job- center anzuschauen. Das ist keine Ausstellung von (Zuruf von der LINKEN: Nachhaltig!) Neuwagen. Selbst jeder Autohändler würde seinen Blick Bezieher und Bezieherinnen von Grundsicherung, Ar- abwenden. Hohe Verbrauchskosten sind ein weiteres Ar- beitssuchende und Menschen mit Behinderungen davon gument. Hinzu kommen klimapolitische Aspekte, von auszuschließen, halten wir für falsch. denen noch gar nicht die Rede war. Herr Seifert, unsere Forderung erstreckt sich nicht nur auf das SGB II, son- (Beifall bei der SPD) dern auch auf das SGB XII. Denn auf der einen Seite nehmen wir Mitnahmeeffekte Meine Antwort auf Ihre Frage lautet: Menschen mit hin. Ich bin sicher, dass das unvermeidbar ist, wenn man Behinderung nur deshalb die Umweltprämie vorzuent- bürokratischen Aufwand gering halten will. Wir dürfen halten, weil sie im Leistungsbezug sind, würde meines jedoch andererseits nicht Personengruppen ausschließen, Erachtens unserer guten Politik für Menschen mit Behin- die aus meiner Sicht ganz besonders auf einen Zuschuss derung widersprechen. angewiesen sind, um sich ein neues kleines Auto kaufen zu können. (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD] – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ihr beklatscht Ich komme aus einer ländlichen Region. Dort sind die euch immer nur selbst!) Wege zur Arbeit – auch zu der Arbeit, die man sucht – weit. Der ÖPNV ist nicht mit der BVG in Berlin zu ver- Deshalb verlangt die SPD-Bundestagsfraktion auch im gleichen. Hinblick auf Menschen mit Behinderung die Nichtan- rechnung auf das Einkommen. (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Wie können wir das erreichen? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie sollten ein- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des fach unserem Antrag zustimmen!) Kollegen Seifert? Wir appellieren ganz herzlich an unseren Koalitionspart- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): ner. Ja, selbstverständlich. (Beifall bei der SPD)

(B) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Unsere Bereitschaft, mit Ihnen eine gesetzliche Klarstel- (D) lung vorzunehmen, ist da. Liebe Frau Kollegin, Sie sagen, dass Sie selbst nicht so genau wissen, wer in den Koalitionsfraktionen bei (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Zuckerbrot und dieser Frage wofür steht. Sie haben jetzt gerade gesagt, Peitsche!) die SPD-Fraktion sei dagegen, dass Menschen mit Be- hinderungen, die auf einen Pkw angewiesen sind und Ich erlaube mir noch eine Anmerkung an die Antrag- laut Eingliederungshilfe eingegliedert werden sollen, steller und verweise auf den Beginn meiner kurzen diese Abwrackprämie auf ihr ohnehin geringes Einkom- Rede. Die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland men angerechnet bekommen. Sie sagen, Sie sind dage- muss weiterentwickelt werden, wenn sie den Herausfor- gen. Aber Ihre Kollegin Silvia Schmidt macht großes derungen heute und in Zukunft gerecht werden soll; ich Theater, dass es eine Sauerei sei, dass es angerechnet denke, hier sind wir alle einer Meinung. Sozialdemokra- werde. Was ist denn nun die Meinung der SPD-Fraktion, ten und Sozialdemokratinnen arbeiten daran, und zwar und warum lassen Sie nicht einfach offen abstimmen? konstruktiv. Dazu gehört, dass wir Ihren Antrag heute Dann würden wir sehen, wie die Mehrheiten hier sind. ablehnen. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Man merkt nichts davon!) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): – Man merkt wirklich, dass Ihnen das Regierungsge- Herr Kollege Seifert, Ihre Frage hätte sich erübrigt, schäft mehr als fremd ist. – Wir werden im Rahmen der wenn Sie meine nächsten Sätze gehört hätten. Wir als Koalition nach einer Lösung suchen; denn wir wollen se- SPD-Fraktion – dazu gehört auch meine Kollegin Silvia riös handeln. Schmidt – sind definitiv dafür, herbeizuführen, dass die Umweltprämie als nicht anzurechnendes Einkommen (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Genau! Wir ma- gilt. chen nichts für das Schaufenster!) (Beifall bei der SPD) Ich habe die herzliche Bitte, dass wir uns bemühen, zur Lösung dieses Problems noch in dieser Legislatur- Dazu möchte ich gerne noch einige Ausführungen ma- periode eine Mehrheit zu bekommen. chen. Vielen Dank. Bevor Sie Ihre Zwischenfrage stellten, war ich gerade dabei, zu schildern, dass jene, die in meiner Heimat Ar- (Beifall bei der SPD) 23428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: unseren Freunden der CDU/CSU regieren, wird das (C) Ich gebe das Wort dem Kollegen Heinz-Peter schon klappen. Haustein, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP – Lachen bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Heinz-Peter Haustein (FDP): Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da- In diesem Fall allerdings begründet die Bundesregie- men und Herren! Sicherlich kennen Sie alle Captain rung die Ablehnung mit ordnungspolitischen Vorgaben. Flint und Die Schatzinsel. Das Thema ist Ihnen bestimmt Sie bringt als Regierung also die Ordnungspolitik ins bekannt. Bei Schätzen geht es nicht nur darum, dass im Spiel und sagt, deshalb darf die Prämie nicht an Hartz-IV- Erzgebirge Schätze gesucht werden, sondern es geht Empfänger ausgezahlt werden. Liebe Freunde der Re- auch um Wracks. gierung, wir sagen: Die Ordnungspolitik treten Sie im Moment mit Füßen. Sie schmeißen sie massenweise über (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der Bord, um beim Wrack zu bleiben. Von daher kann man CDU/CSU) auch einmal eine Ausnahme machen und den Hartz-IV- Empfängern diese Abwrackprämie zahlen. Beim „Wrack“ dürfen wir dann wieder an das neu kon- struierte Wort „Abwrackprämie“ denken. Wir werden uns bei diesem Antrag der Stimme ent- halten. Für den einen Teil ist sie etwas Gutes. Sie hilft der Autoindustrie, aber eben nur dieser, vor allem den Auto- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist weder händlern. Angesichts der Kriterien, die im Rahmen der Fisch noch Fleisch!) Abwrackprämie angesetzt werden, geht es allerdings Wenn wir Schätze heben wollen, dann müssen wir die weniger um deutsche Autos, sondern um Autos aus Korea oder Rumänien. Schätze unserer Menschen in den Herzen und in den Köpfen erreichen. Dann kommen wir auch durch diese Wie dem auch sei. Auch ich bin Mittelständler und Krise hindurch. freue mich, wenn man den Autohäusern helfen kann und In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz- es ihnen besser geht. Ich vertrete eine Branche, in der gebirge. Aufzüge gebaut werden, „ Fahrstühle“, wie die Leute sa- gen. Meine Kollegen fragen mich: Wieso gibt es diese (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Prämie eigentlich nur für Autos? Warum gibt es sie nicht der CDU/CSU) auch zum Beispiel für Fahrstühle? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Weil die nicht so (D) viel CO2 verbrauchen!) Nächster Redner ist der Kollege Karl Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion. Warum kann man nicht die Aufzüge aus alten Häusern herausreißen, sie modernisieren und dann wieder ein- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ralf bauen? Wieso gibt es eine solche Prämie nicht auch für Brauksiepe [CDU/CSU]: So, jetzt kommt das alte Waschmaschinen oder alte Kühlschränke? Wieso Münsterland!) nur für die Autoindustrie? (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Karl Schiewerling (CDU/CSU): NEN]: Genau! Berechtigte Frage!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Haustein, die Liebe Freunde, diese Frage muss doch einmal erlaubt Abwrackprämie oder, besser gesagt, die Umweltprämie sein. kann man bewerten, wie man will: ordnungspolitisch oder wie auch immer. Sie ist aber ein Erfolg, und die (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Menschen fragen nach. Es zeichnet sich ab, dass die DIE GRÜNEN) Laufzeit verlängert wird, und in der Krise, in der wir uns Darum geht es heute aber nicht. Heute geht es nur um befinden, wird den Menschen durch diese Prämie durch- die Frage: Wieso wird die Abwrackprämie bei ALG-II- aus Mut gegeben. Ob das alles ordnungspolitisch sauber Empfängern nicht ausgezahlt, sondern verrechnet? oder nicht sauber ist, lasse ich jetzt einmal dahingestellt, Hierzu ist Folgendes zu sagen: Wir als FDP haben den (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kurs klar gesteckt. Es geht um die Leute, die das Geld Weil Sie es eigentlich besser wissen!) erarbeiten, die morgens früh um fünf oder sechs Uhr auf- stehen, zur Arbeit zu fahren, die Steuern zahlen, die So- aber ich glaube, dass ein wichtiges Zeichen gesetzt wor- zialsysteme speisen. Es geht aber auch darum, in unse- den ist. rem Land ein soziales Netz zu flechten und diese Leute, die das selbst nicht leisten können, aufzufangen. Bei der Verabschiedung des Konjunkturpaketes II hat wohl niemand die rechtliche Situation der Empfänger Dass Hartz IV nicht das Gelbe vom Ei ist, wissen die von Arbeitslosengeld II im Blick gehabt. Es hat auch meisten hier. Wir schlagen ein Bürgergeld vor, um end- niemand daran gedacht, dass es hier möglicherweise lich einmal dieses Wirrwarr bei Hartz IV – ständige Kla- Schwierigkeiten dahin gehend geben könnte, dass sie gen, Nichtklagen und ein Hin und Her – abzuschaffen. rein rechtlich einen Anspruch auf dieses Geld haben; Es wird noch etwas dauern, aber ich denke, wenn wir mit denn diese Abwrackprämie von 2 500 Euro stellt nach Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23429

Karl Schiewerling (A) der Definition des Gesetzes eine wesentliche Verbesse- Nun liegt die Stellungnahme des Präsidenten des (C) rung der finanziellen Situation dar und ist von daher ge- Bundessozialgerichts vor. Vielleicht wird dadurch die mäß Definition anzurechnen. Diskussion neu eröffnet. Es kann sein, dass sich das Bundesarbeitsministerium auf der Grundlage dieser Stel- Ich denke einmal, dass auch deswegen niemand auf lungnahme noch einmal mit diesem Thema befassen die Idee gekommen ist, weil wir berücksichtigen müs- will. Sollte das Bundesarbeitsministerium zu einer ande- sen, in welcher Situation – auch finanzieller Situation – ren Einschätzung kommen, dann werden wir auch dieses sich die Menschen befinden, die von Arbeitslosengeld II mittragen und einer entsprechenden Regelung nicht leben müssen. Bedenken Sie: Jemand, der 58 Jahre alt mehr im Wege stehen. Wir würden das akzeptieren. ist, darf ein Schonvermögen von maximal 6 100 Euro für Konsumausgaben haben. Im Übrigen glaube ich, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass sich viele Bezieher von Arbeitslosengeld II fragen, Ich will einen Punkt klarstellen, Herr Kollege Seifert. was ihnen eigentlich die Abwrackprämie nutzt, da sie Sie haben vorhin gesagt, dass auch Behinderte in der das Geld für einen Neu- oder Jahreswagen überhaupt Lage sein müssen, sich ein neues Auto zu kaufen, und nicht aufbringen können. Sie werden diese Diskussion Anspruch auf die Abwrackprämie haben sollten. Dage- hier möglicherweise als ziemlich abstrus empfinden. gen spricht überhaupt nichts. Behinderte sind nicht be- In der Tat verstehe ich auch unter diesem Gesichts- troffen, sofern sie nicht nach dem jetzigen Stand der punkt den Antrag der Linken nicht. Nahezu bei jedem Dinge Arbeitslosengeld II beziehen. Antrag, den Sie zu diesem Thema hier in den Deutschen (Widerspruch bei der LINKEN) Bundestag eingebracht haben, haben Sie nämlich darauf hingewiesen, dass die Menschen, die Arbeitslosengeld II Das ist ein Teil der Regelungen – das will ich nicht in beziehen, arm sind und aufgrund der Höhe der Sätze Abrede stellen –, der möglicherweise im Rahmen der keine Möglichkeit haben, Rücklagen zu bilden: noch Prüfung mitzuklären ist. nicht einmal für die Waschmaschine, den Trockenauto- Wir diskutieren wieder einmal die zusätzlichen Be- maten oder den Elektroherd. Sie weisen darauf hin, dass darfe von Personen, die Arbeitslosengeld II beziehen. Es die Sätze erhöht werden müssen, damit sie ein Minimum ist unstrittig, dass es sich dabei um eine Grundsicherung an Lebensstandard haben. Jetzt kommen Sie mit einem handelt. Große Sprünge – das weiß jeder – kann man da- Antrag, die Abwrackprämie für Hartz-IV-Empfänger mit nicht machen. Das war auch nie beabsichtigt; denn einzuführen, wohl wissend, dass die gesamte Situation es handelt sich um eine steuerfinanzierte Grundsiche- so ist, wie sie ist. rung, die von denen erwirtschaftet werden muss, die ei- ner Erwerbsarbeit nachgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) (D) (B) Ich halte es für zwingend geboten, endlich diejenigen Hinzu kommt übrigens – das wissen Sie auch –, dass in den Blick zu nehmen, die mit ihrem Nettoeinkommen jemand, der Arbeitslosengeld II erhält, nach den Buch- knapp über dem Arbeitslosengeld II liegen, staben des Gesetzes kein Auto haben darf, das mehr als 7 500 Euro wert ist. Das ist festgelegt. Ich will gerne zu- (Beifall bei der CDU/CSU) gestehen, dass es solche Autos gibt. Das will ich nicht in die sich trotz Abwrackprämie kein neues Auto leisten Abrede stellen. Wenn aber jemand mehr dafür bezahlt können, die aufgrund der Situation, in der sie leben, kein hat, dann wird dies als zusätzliches Vermögen angerech- zusätzliches Kindergeld, keine Zuschüsse für die Klas- net. senfahrt ihrer Kinder und keine weitere finanzielle Un- Ich sage in aller Deutlichkeit, ich halte diese Diskus- terstützung bekommen und dennoch durch ihre Arbeit sion für ziemlich abstrus und an den Haaren herbeigezo- die Steuern erwirtschaften müssen, mit denen wir die gen. Es kann aber sein – das will ich nicht in Abrede Grundsicherung für Arbeitslosengeld-II-Bezieher ein- stellen –, dass es vielleicht 100 oder 200 Bedarfsgemein- schließlich der Abwrackprämie finanzieren müssen. schaften gibt, der zwei Personen von etwa 58 oder (Beifall bei der CDU/CSU) 60 Jahren mit einem Schonvermögen von 6 000 Euro angehören – für beide zusammen sind es also Es geht in diesem Punkt nicht um Neid. Es geht viel- 12 000 Euro –, das sie für einen Autokauf verwenden mehr darum, dass wir die Leistungsträger unserer Ge- könnten. sellschaft – den Facharbeiter, die Erzieherin oder die Krankenschwester – nicht weiter belasten und ihnen das Unsere Fraktion hat immer wieder darauf hingewie- Gefühl geben, dass sich Arbeit wieder lohnt. Die Debatte sen, dass die Umsetzung des Gesetzes nicht die Aufgabe um die Abwrackprämie von 2 500 Euro halte ich, wie des Parlaments, sondern der Exekutive ist. Die Exeku- gesagt, bei unter dem Strich vielleicht 100 oder tive ist das Bundesarbeitsministerium, das festgestellt 200 Fällen, um die es in der Bundesrepublik gehen mag, hat, dass nach dem Buchstaben des Gesetzes die Ab- für eine Phantomdebatte. wrackprämie beim Arbeitslosengeld II angerechnet wer- Ich sage es noch einmal: Sollte das Bundesarbeitsmi- den muss. Das haben wir akzeptiert. Wir hätten es aber genauso akzeptiert, wenn das Bundesarbeitsministerium nisterium feststellen, dass die Abwrackprämie bei Ar- gesagt hätte, die Abwrackprämie ist nicht anrechnungs- beitslosengeld-II-Beziehern nicht auf die Grundsiche- fähig. rung angerechnet wird, dann wird sich unsere Fraktion dem nicht in den Weg stellen. Eine Gesetzesänderung, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) um einen Sonderfall zu schaffen, werden wir aber nicht 23430 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Karl Schiewerling (A) mittragen. Denn damit öffnen wir ein neues Fass, das wir Eine Umweltprämie, die ihren Namen verdient, (C) an anderer Stelle nicht mehr zubekommen. Wir fangen müsste ganz anders ausgestaltet sein. Der Präsident des an dieser Stelle wieder an, zu diskutieren, ohne zu wis- Umweltbundesamtes, Herr Troge, hat dazu einen sehr sen, was noch durch andere gesetzliche Regelungen auf schönen Vorschlag unterbreitet. Er meint, man solle all uns zukommt. Ich rate uns, bei einer klaren Linie zu denjenigen, die ihr Auto verschrotten und auf den ÖPNV bleiben. umsteigen, einen Zuschuss zur Jahreskarte geben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bus und Bahn zum halben Preis, perspektivisch mögli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: cherweise sogar zum Nulltarif und ein gutes Angebot in Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping, der Fläche, das wäre eine Verkehrspolitik, die sozial und Fraktion Die Linke. ökologisch vertretbar ist. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – [SPD]: Das lässt sich in der Fläche nicht reali- sieren! – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es geht Katja Kipping (DIE LINKE): um die Konjunktur!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Haustein, wenn Sie Ihr neoliberales Bürgergeld mit Ar- Nun haben wir aber eine Abwrackprämie für den beitszwang als das Gelbe vom Ei anpreisen, dann kann Kauf von Neuwagen. Wenn jeder Millionär, der seinen ich nur sagen: Bei diesem Eigelb ist Salmonellenalarm Oldtimer gegen einen neuen Edelflitzer eintauschen will, gegeben. die Abwrackprämie in Höhe von 2 500 Euro bekommt, dann müssen zum Beispiel auch ein Aufstocker, der auf (Beifall bei der LINKEN) Arbeitslosengeld II angewiesen ist, oder eine Allein- Kommen wir zu unserem vorliegenden Antrag. Die erziehende, die ihre alte Spritschleuder, die ständig ka- Linke fordert, dass die Abwrackprämie nicht auf das putt geht, gegen einen Kleinwagen eintauschen möchte, Arbeitslosengeld II angerechnet wird. Herr Schiewerling die 2 500 Euro Abwrackprämie bekommen. behauptet, dass wir eine Phantomdiskussion betreiben. (Beifall bei der LINKEN) Wer schon länger Hartz-IV-Bezieher ist, kann sich sicherlich auch mit Abwrackprämie keinen Neuwagen Mit dieser Forderung stehen wir nicht allein. Sogar der oberste Sozialrichter Peter Masuch, der Präsident des (B) – auch keinen kleinen – leisten. Aber es gibt Aufstocker, (D) die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind und trotz- Bundessozialgerichtes, hat eindeutig gesagt: Die Ab- dem mobil sein müssen, um ihre vielen Minijobs aus- wrackprämie ist eine zweckbestimmte Einnahme, die üben zu können. Als Beleg dafür möchte ich gerne aus nicht auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen ist. – Ich einem Brief zitieren, der uns in den letzten Tagen zuge- fordere vor diesem Hintergrund das Bundesministerium gangen ist: auf: Klären Sie dieses Problem durch eine Verordnung! Ich bin leider zurzeit auf ALG-II-Hilfe angewiesen SPD und Union spielen hier Verantwortungsping- und habe... Einkommen aus freiberuflichen Tätig- pong. Die SPD sagt, sie würde gerne keiten. Mein alter Pkw war am Ende (21 Jahre alt, (Zuruf der Abg. Gabriele Lösekrug-Möller Spritfresser und immer kaputt, hohe Steuern) und [SPD]) lebensgefährlich. Ich hatte Glück, dank der Ab- wrackprämie endlich einen Neuwagen zu leasen ... – Frau Lösekrug-Möller, Sie haben sehr viel Gift ver- Nun muss ich bangen, dass das Arbeitsamt mir sprüht, obwohl Sie letztendlich all unseren Ansätzen ei- schreibt, dass die 2 500 angerechnet werden sol- gentlich zustimmen –, len ... (Dr. [CDU/CSU]: Das sagt Weiter schreibt dieser Mann: die Richtige!) Bei uns ... hängt sehr viel von einem funktionieren- könne aber wegen der Union nicht. Die Union sagt: Wir den Pkw ab. Ich wohne in einem kleinen Dorf ohne wären mit allem, was das Bundesministerium macht, Einkaufsläden ... einverstanden. Wir wollen bloß nicht den Weg eines Ge- setzgebungsverfahrens gehen. – Dazu kann ich nur sa- Diese beiden Sätze zeigen, dass die Ursachen des Pro- gen: Das Ganze artet langsam in Verantwortungsping- blems tiefer liegen. Wenn wir an die Wurzeln des Pro- pong aus. Sie können sich nicht hinter dem jeweils blems gehen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass anderen verstecken. Das Bundesministerium ist gefragt. es auch im ländlichen Raum ein so gutes Bus- und Bahn- Wenn Sie das nicht auf dem Weg einer Verordnung klä- angebot sowie eine so gute Flächenplanung gibt, dass ren, dann trägt das SPD-geführte Ministerium die Ver- die Menschen überhaupt nicht auf das Auto angewiesen antwortung dafür, dass die Abwrackprämie bei Arbeits- sind. losengeld-II-Beziehern angerechnet wird. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles [SPD]: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt ist wieder die SPD schuld!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23431

Katja Kipping (A) Hören Sie auf, sich zu verstecken, und sorgen Sie dafür, – Frau Nahles, nun hören Sie mir einmal zu. (C) dass die Abwrackprämie nicht auf das Arbeitslosen- geld II und die Grundsicherung für Menschen mit Be- (Andrea Nahles [SPD]: Ich höre Ihnen immer hinderung angerechnet wird! zu, Herr Kurth! Deshalb habe ich mich ja auf- geregt!) Herzlichen Dank. Ihr Kanzlerkandidat möchte vor den VW-Werkstoren (Beifall bei der LINKEN) den dicken Max markieren. Geschenkt! Aber bei der Union verwundert es mich schon, dass sie ordnungspoli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tisch kein Verständnis hat. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Nun gut, nun haben wir diese Regelung. Wenn man Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. schon diese unsinnige Prämie einführt, dann muss man sie wenigstens allen zugutekommen lassen. Wenden Sie Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): das Recht systematisch an. Man erhält diese Prämie Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und doch nur, wenn man sich einen Neuwagen kauft. Das Herren! Eines vorweg: Die Abwrackprämie ist aus Sicht heißt, die Abwrackprämie kann gar nicht, wie es das meiner Fraktion – ich meine: auch objektiv – ökologi- Ministerium unterstellt, auf die allgemeinen Lebensun- scher, ökonomischer und ordnungspolitischer Unsinn. terhaltskosten angerechnet werden, sondern es ist eine sogenannte zweckbestimmte Einnahme. Andere zweck- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bestimmte Einnahmen sind nach der Arbeitslosengeld-II- und bei der LINKEN – Andrea Nahles [SPD]: Verordnung und den schon jetzt geltenden Auslegungs- Wenn aber Unsinn, dann für alle! – Dr. Ilja vorschriften der Bundesagentur für Arbeit nicht anzu- Seifert [DIE LINKE]: Das Ministerium rechnen, wie zum Beispiel die Eigenheimzulage. schweigt sehr laut!) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Mein Reden!) Sie ist ökologischer Unsinn, weil auf jede Lenkungswir- kung verzichtet wird. Sie sollten nicht von einer Um- Es geht hier um Rechtssystematik. Es geht hier über- weltprämie sprechen; denn es handelt sich um eine reine haupt nicht um eine besondere Begünstigung von Ar- Absatzhilfe für die Automobilindustrie. beitslosengeld-II-Beziehenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie Herr Schiewerling richtig gesagt hat, ist es so, dass vermutlich nur sehr wenige ALG-II-Beziehende (B) Sie ist ökonomischer Unsinn, weil die Anpassung der In- (D) diese Prämie beantragen werden und dass wir im Grunde dustrie an die Überkapazitäten, wie wir alle wissen, frü- genommen eine Art Phantomdebatte führen. Wenn die her oder später sowieso kommen muss. faktische Bedeutung so gering und die Rechtsanwen- (Andrea Nahles [SPD]: Sagen Sie das mal den dung so klar ist, dann frage ich mich: Warum wird trotz- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern!) dem so ein Gehampel darum gemacht? Warum stellt man sich hier so an? Der Verdacht liegt doch nahe – das Sie zögern den fälligen Anpassungsprozess nur hinaus vermitteln Sie; das finde ich von der symbolischen Wir- und verbraten dabei Milliarden an Steuergeldern. kung her schwierig –, dass Sie Arbeitslosengeld-II- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beziehende zu Bürgern zweiter Klasse erklären, sowie bei Abgeordneten der LINKEN – (Mechthild Rawert [SPD]: Jetzt aber mal halb- Mechthild Rawert [SPD]: Wie viele Erwerbs- lang!) lose wollen denn die Grünen?) indem Sie ihnen deutlich zeigen: Ihr seid es nicht wert, Sie ist auch ordnungspolitischer Unsinn. Der Bundes- die Abwrackprämie zu erhalten. – Das ist der eigentliche wirtschaftsminister, also der Minister der Union, hat ge- politische und demokratische Skandal dieser Debatte. sagt: Wir können Opel nicht retten, weil dann jeder um Unterstützung bitten würde und wir uns als Staat nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überall beteiligen können. – Im Umkehrschluss frage ich und bei der LINKEN – Andrea Nahles [SPD]: Sie: Warum gibt es nicht eine Kühlschrankprämie, eine Ohne uns gäbe es sie überhaupt nicht!) Waschmaschinenprämie oder eine Staubsaugerprämie? Auch das sind alles ökologische Produkte. Herr Haustein, es geht gar nicht darum, irgendjeman- den zu begünstigen. Die Abwrackprämie wird von den (Andrea Nahles [SPD]: Das ist eine gute Idee! Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern sowieso bezahlt. Es Ja, wunderbar!) ist nicht so, dass die Mittel für die Abwrackprämien ein- Das bedeutet, dass Sie ordnungspolitisch vollkommen gespart würden, wenn man die Arbeitslosengeld-II- ohne Kompass durch die Gegend laufen. Bei den Sozial- Beziehenden ausnähme. Das Geld für die Prämie be- demokraten wundert mich das nicht. kommen dann eben andere. Das heißt, die Arie „Wir müssen an die Leistungsträger denken“ zieht in diesem (Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles Falle nicht. Das Argument geht an dieser Stelle vollkom- [SPD]: Freier Markt!) men ins Leere. 23432 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

Markus Kurth (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie- Sicherung der interkommunalen Zusammen- (C) rungsfraktionen, die es jetzt beide nicht gewesen sein arbeit wollen – diese ganze Geschichte wird Ihnen langsam un- angenehm –: Sie haben hier eine breite Mehrheit. Ver- – Drucksachen 16/9443, 16/11976 – schanzen Sie sich nicht hinter den Ministerien oder ge- Berichterstattung: genseitigen Zusicherungen. Machen Sie es einfach! Abgeordneter Ernst Burgbacher Diese Regelung ist relativ einfach und simpel umzuset- zen. Handeln Sie! Oder sind Sie wie in vielen anderen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Fragen auch hier strukturell handlungsunfähig? Es wird diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Zeit, dass Bündnis 90/Die Grünen wieder mitregieren. Sind Sie damit einverstanden? – Es handelt sich dabei um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Vielen Dank. Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Reinhard Schultz, SPD, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Paul K. Friedhoff, FDP, Dr. Herbert Schui, Fraktion Die 1) Mechthild Rawert [SPD]: Da warten wir alle Linke, Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. drauf, was da kommen wird!) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schlussempfehlung auf Drucksache 16/11976, den An- Ich schließe die Aussprache. trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 16/9443 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel men der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen „Keine Anrechnung der Abwrackprämie bei ALG II und des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Eingliederungshilfe“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Linke angenommen. Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12358, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12114 Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ordnung. lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der destages auf Mittwoch, den 22. April 2009, 13 Uhr, ein. (B) Fraktion Die Linke sowie bei Enthaltung der FDP ange- Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, aber (D) nommen. auch den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tri- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf: büne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein schönes Wochenende. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Die Sitzung ist geschlossen. nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- (Schluss: 15.11 Uhr) ordneten Britta Haßelmann, Cornelia Behm, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23433

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Adam, Ulrich CDU/CSU 27.03.2009* Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ 27.03.2009 DIE GRÜNEN Ahrendt, Christian FDP 27.03.2009 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 27.03.2009 Aigner, Ilse CDU/CSU 27.03.2009 DIE GRÜNEN Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 27.03.2009 Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 27.03.2009 DIE GRÜNEN Hirsch, Cornelia DIE LINKE 27.03.2009 Arndt-Brauer, Ingrid SPD 27.03.2009 Höger, Inge DIE LINKE 27.03.2009 Barth, Uwe FDP 27.03.2009 Dr. Högl, Eva SPD 27.03.2009 Bartol, Sören SPD 27.03.2009 Hoff, Elke FDP 27.03.2009 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 27.03.2009 DIE GRÜNEN Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 27.03.2009 Dr. Berg, Axel SPD 27.03.2009 DIE GRÜNEN

Brunkhorst, Angelika FDP 27.03.2009 Ibrügger, Lothar SPD 27.03.2009 Jung (Karlsruhe), SPD 27.03.2009 (B) Bülow, Marco SPD 27.03.2009 (D) Johannes Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 27.03.2009 Kelber, Ulrich SPD 27.03.2009 Carstensen, Christian SPD 27.03.2009 Kopp, Gudrun FDP 27.03.2009 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 27.03.2009 Korte, Jan DIE LINKE 27.03.2009 Dött, Marie-Luise CDU/CSU 27.03.2009 Dr. Küster, Uwe SPD 27.03.2009 Dreibus, Werner DIE LINKE 27.03.2009 Kunert, Katrin DIE LINKE 27.03.2009 Duin, Garrelt SPD 27.03.2009 Lafontaine, Oskar DIE LINKE 27.03.2009 Dr. Enkelmann, Dagmar DIE LINKE 27.03.2009 Lange (Backnang), SPD 27.03.2009 Freitag, Dagmar SPD 27.03.2009 Christian

Gabriel, Sigmar SPD 27.03.2009 Laurischk, Sybille FDP 27.03.2009

Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 27.03.2009 Lenke, Ina FDP 27.03.2009

Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 27.03.2009 Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 27.03.2009

Gleicke, Iris SPD 27.03.2009 Lötzer, Ulla DIE LINKE 27.03.2009

Gradistanac, Renate SPD 27.03.2009 Dr. Lotter, Erwin FDP 27.03.2009

Granold, Ute CDU/CSU 27.03.2009 Maurer, Ulrich DIE LINKE 27.03.2009

Gruß, Miriam FDP 27.03.2009 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 27.03.2009

Hempelmann, Rolf SPD 27.03.2009 Rauen, Peter CDU/CSU 27.03.2009 23434 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) menarbeit ein wichtiger Stützpfeiler. Dieser darf nicht (C) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich leichtfertig dem Wettbewerb ausgesetzt werden. Es bleibt jedoch bei meinen bereits im November Reichenbach, Gerold SPD 27.03.2009 letzten Jahres formulierten drei Einwänden gegen den hier von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Antrag: Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 27.03.2009 Sie fordern, den Ausbau interkommunaler Koopera- Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 27.03.2009 tion konsequent und gezielt durch Förderprogramme zu unterstützen. Sie lassen bei dieser Forderung jedoch au- Schily, Otto SPD 27.03.2009 ßer Acht, dass bei der Frage der innerstaatlichen Orga- nisation der Bundesgesetzgeber nur über sehr einge- Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 27.03.2009 schränkte Kompetenzen verfügt. Ganz im Sinne unseres Bestrebens nach Subsidiarität ist jede Instanz unterhalb Dr. Schwanholz, Martin SPD 27.03.2009 des Bundesstaats auch wieder für die eigene Organisa- tion zuständig. Demnach sind bei staatlich zu lösenden Sebastian, Wilhelm CDU/CSU 27.03.2009 Aufgaben – wie der Einrichtung von Förderprogrammen Josef für interkommunale Kooperationen – zuerst und im Zweifel immer die Länder für die Einrichtung und die Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/ 27.03.2009 Umsetzung zuständig. DIE GRÜNEN Ich habe bereits in meiner letzten Rede darauf hin- Dr. Strengmann-Kuhn, BÜNDNIS 90/ 27.03.2009 gewiesen, dass die Aktivitäten des Bundesamtes für Wolfgang DIE GRÜNEN Bauordnung und Raumwesen den Ländern hier als Orien- tierung dienen könnten. Hier werden zahlreiche Modell- Tauss, Jörg SPD 27.03.2009 vorhaben zu erfolgreicher interkommunaler Kooperation durchgeführt. Die Bundesländer Hessen und Nordrhein- Ulrich, Alexander DIE LINKE 27.03.2009 Westfalen haben bereits Förderprogramme aufgelegt, die sich eng an die Empfehlungen des Bundesamtes halten Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 27.03.2009 und sich guter Resonanz erfreuen. Bayern und das Saar- land befinden sich derzeit in der Planungsphase. Im Ge- Wieczorek-Zeul, SPD 27.03.2009 spräch mit Vertretern der zuständigen Landesbehörden Heidemarie wurde mir vermittelt, dass es nicht erwünscht sei, wenn (B) Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 27.03.2009 der Bund hier in Konkurrenz zu den Ländern treten und (D) die Förderung im kommunalen Bereich an sich ziehen Zimmermann, Sabine DIE LINKE 27.03.2009 würde. Für mich ist und bleibt die föderale Organisa- tionsweise und somit auch Entscheidungsfreiheit nach- vollziehbar: Die Landesregierungen kennen die lokalen * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Bedürfnisse, ein bundeseinheitliches Programm würde sammlung des Europarates der Komplexität des Themas gewiss nicht gerecht. Auch beim Punkt 5 sehe ich ähnlich gelagerte Pro- Anlage 2 bleme: Gerade eine Formulierung wie „ … auf die Län- der dahingehend einzuwirken, dass sie in ihren gesetzli- Zu Protokoll gegebene Reden chen Regelungen die private Beteiligung bei zulässigen Formen der interkommunalen Kooperation ausschlie- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des ßen“ halte ich für mehr als unglücklich. Berichts zu dem Antrag: Sicherung der inter- kommunalen Zusammenarbeit (Tagesord- Im Übrigen: Der Antrag kommt verspätet. Wir haben nungspunkt 35) uns Ende letzten Jahres intensiv mit der Novellierung des deutschen Vergaberechts auseinandergesetzt. Nach langen Kämpfen – besonders im Bereich der interkom- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ja, auch ich bin der munalen Zusammenarbeit – sind wir zu einer Einigung festen Überzeugung, dass die interkommunale Zusam- gekommen. Es ist darum gegangen, die Interessen der menarbeit ein wesentlicher Bestandteil der Organisa- Auftraggeberseite und die Interessen der Auftragneh- tionshoheit unseres Staates ist. Sicherlich gilt es, diese merseite sinnvoll miteinander zu vereinen. Wir haben – durch unseren föderalen Staatsaufbau auch notwendi- dabei weder einer Liberalisierung zu sehr Rechnung ge- gen – Strukturen auch im europäischen Staatenbund zu tragen noch haben wir der Rekommunalisierung zu sehr schützen. Die Verwaltungszusammenarbeit zwischen Vorschub geleistet. Denn einerseits muss das Interesse kommunalen Gebietskörperschaften ist ein geeignetes des Staates an einer möglichst freien Ausübung seiner Mittel interner Staatsorganisation, ganz besonders, wenn Organisationshoheit gesichert bleiben, andererseits muss es darum geht, im Interesse des Gemeinwohls Leistun- verhindert werden, dass unter dem Deckmantel der Or- gen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu erbringen. In ganisationshoheit öffentliche Aufträge gezielt am Verga- strukturschwachen Regionen ist gerade bei der Siche- berecht vorbeidirigiert und ganze Wirtschaftszweige ge- rung der Grundvorsorge die interkommunale Zusam- genüber der Staatswirtschaft benachteiligt werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23435

(A) Als Kommunalpolitiker konnte ich die Bedenken der schützt ist. Man müsste eigentlich meinen, dass dieser (C) öffentlichen Auftraggeber verstehen. Hätten wir die in- verfassungsrechtliche Schutz ausreichend sei, um die in- terkommunale Kooperation dem Vergaberecht unterwor- terkommunale Zusammenarbeit zu sichern. Leider weit fen, wäre dies de facto auf eine Privatisierungspflicht hi- gefehlt, denn EuGH, verschiedenen deutschen Gerichten nausgelaufen. Die Entscheidung, ob eine Leistung am und Teilen der Privatwirtschaft ist die interkommunale Markt eingekauft oder selbst ausgeführt wird, obliegt al- Zusammenarbeit ein Dorn im Auge. Sie drängen mit leine den betroffenen staatlichen Einheiten. So ging es Nachdruck darauf, Aufträge zwischen der öffentlichen bei der Novelle des Vergaberechts in erster Linie darum, Verwaltung und den übrigen Einrichtungen des öffentli- Kommunen zu ermöglichen, miteinander Kooperationen chen Rechts in weiten Teilen dem Diktum des Vergabe- einzugehen, und nicht darum, ihnen zu ermöglichen, rechts zu unterwerfen. sich dem Wettbewerb zu verschließen. Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung ist und bleibt ein hohes Dass Sie diesen Bestrebungen Einhalt gebieten wol- Gut im Selbstverständnis des deutschen Staates und ge- len, findet grundsätzlich meine volle Zustimmung. Denn hört geschützt. es war bei der Reform des Vergaberechts auch unser Ziel, die zunehmende Überlagerung des Rechts der kom- Für die Position der Wirtschaft sprachen wirtschafts- munalen Zusammenarbeit durch das Vergaberecht auf- politische Überlegungen, mit denen ich mich als CSUler zuheben. Durch eine eindeutige Regelung im GWB zur durchaus identifizieren kann: Die Ausschreibung be- Vergaberechtsfreiheit der interkommunalen Zusammen- stimmter Dienstleistungen der Daseinsvorsorge, etwa im arbeit wollten wir Rechtssicherheit für Städte, Kreise Bereich der Abwasserentsorgung, kann die Marktzu- und Gemeinden schaffen. Leider ist das im parlamentari- gangschancen von Privatunternehmen und gerade auch schen Verfahren in letzter Minute vom Wirtschaftsflügel von Mittelständlern verbessern. Dies ist und bleibt poli- der CDU/CSU-Fraktion verhindert worden, der dem tisch von unserer Fraktion gewollt. Auch politisch ge- Druck der einschlägigen Wirtschaftsverbände nicht wollt ist es, im Bereich der öffentlichen Aufträge kos- standhalten konnte oder wollte und sogar ein Scheitern teneffizient zu wirtschaften. Deshalb appellieren wir an der gesamten Vergaberechtsreform in Kauf genommen die öffentlichen Auftraggeber, immer sorgfältig zu prü- hätte. Dieser Kompromiss kann für uns natürlich nicht fen, ob nicht eine Vergabe an private Unternehmen unter zufriedenstellend sein und war es im Übrigen auch nicht dem Aspekt der Kostenersparnis und Entlastung der öf- für den Bundesrat, der sich in einem Entschließungs- fentlichen Haushalte vorteilhafter ist, als die Aufträge antrag klar dafür ausgesprochen hat, bestehende Rechts- selbst auszuführen. Das ist auch „Organisationsfreiheit“, unsicherheiten bei der interkommunalen Zusammen- das ist eine fundamentale Entscheidungskompetenz und arbeit und anderen staatlichen Kooperationen zu -pflicht der Kommunalpolitik. beseitigen und bei der EU-Kommission auf eine entspre- (B) chende Klarstellung hinzuwirken. Für uns bleibt dieser (D) Wir dürfen bei der Stärkung der interkommunalen Punkt also zwingend auf der politischen Tagesordnung. Zusammenarbeit die Auswirkungen für mittelständische Unternehmen der Privatwirtschaft nicht außer Acht las- Eines möchte ich abschließend nochmals ausdrück- sen. Die Details zu den Diskussionen, die wir um einen lich betonen: Die interkommunale Zusammenarbeit un- Kompromiss zwischen Privatwirtschaft und kommuna- terliegt bereits heute weder dem europäischen Vergabe- len Betrieben bei der Novelle des Vergaberechts geführt recht noch dem deutschen Vergaberecht im GWB. Bei haben, habe ich Ihnen ja bereits in früheren Reden erläu- der interkommunalen Zusammenarbeit geht es um Ver- tert. Hier jetzt wieder anzusetzen, wo wir gerade einen waltungsorganisation und nicht um Beschaffung. für alle tragbaren Kompromiss gefunden haben, halte ich Zu den anderen Forderungen Ihres Antrages kann ich für unnötig. nur sagen: Das sind nicht mehr als gut gemeinte Ab- sichtserklärungen. Denn grundsätzlich liegt die konkrete Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Wir sind rechtliche Ausgestaltung der interkommunalen Zusam- uns einig darin, dass die interkommunale Zusammen- menarbeit in den Händen der Länder und da soll sie auch arbeit für die gemeinsame Erledigung von öffentlichen bleiben. Diese Entscheidungshoheit sollten Sie respek- Aufgaben unverzichtbar ist. Zum einen ermöglicht sie tieren. den Städten, Kreisen und Gemeinden, ihre Aufgaben kostengünstig und damit wirtschaftlicher zu erfüllen, da Paul K. Friedhoff (FDP): Wir debattieren hier einen sie Größenvorteile nutzen können und so von Synergie- Antrag der Grünen aus dem Juni letzten Jahres. Danach effekten profitieren. Zum anderen wird sie schlichtweg sollen Kommunen die Möglichkeit erhalten, mit Be- notwendig, wenn eine Kommune eine Aufgabe tech- schaffungen oder Dienstleistungen eine andere Kom- nisch oder aus anderen Gründen nicht allein erledigen mune direkt zu beauftragen. Problematisch ist, dass es kann. Und zum dritten sind viele Städte und Gemeinden den Kommunen bei dieser Art öffentlicher Auftragsver- einfach aufgrund ihrer angespannten Finanzlage zur ge- gabe möglich ist, ein Vergabeverfahren zu umgehen. meinsamen Aufgabenwahrnehmung gezwungen. Ich glaube kaum, dass die Fraktion der Grünen ihren Dabei agieren die Kommunen allerdings nicht im Antrag aus dem letzten Sommer heute noch so stellen rechtsfreien Raum. Die interkommunale Zusammen- würde. Ich hatte bereits in meiner Plenarrede zu diesem arbeit ist Teil der kommunalen Organisationshoheit, die Thema im November letzten Jahres darauf hingewiesen, wiederum als wichtiger Bestandteil der Selbstverwal- dass die überwiegende Mehrheit der zum Vergaberecht tungsgarantie durch Art. 28 GG verfassungsrechtlich ge- angehörten Sachverständigen sich deutlich gegen Forde- 23436 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) rungen, wie sie in diesem Antrag enthalten sind, ausge- Vergabe an zu teure oder zu schlechte Auftragnehmer (C) sprochen hat. Die Fachleute bestätigten vielmehr die von kann und darf niemals im Sinne der vergebenden Kom- meiner Fraktion vorgebrachten Hinweise auf die Gefah- mune sein. Ihre Beschaffung muss stattdessen stets wirt- ren, die in einer Ausweitung der interkommunalen Zu- schaftlich sein. Dies wird unter dem Eindruck klammer sammenarbeit liegen würden. Haushalte der Gemeinden wohl niemand ernsthaft be- streiten können. Vor allem die Bürger würden es nicht verstehen, wenn es erleichtert werden sollte, mit den von ihnen erwirt- Wenn die Grünen in ihrem Antrag denn auch schrei- schafteten Geldern leichtfertig umzugehen. Die Vor- ben, dass die von ihnen so geschätzte Art des Zusam- schriften des Vergaberechts sollen in erster Linie eine menwirkens von Gemeinden ein erforderliches Mittel wirtschaftliche Beschaffung erreichen. Verschwendung ist, um kosteneffizient Leistungen zu erbringen, haben soll im Sinne der Bürger verhindert werden. sie dabei scheinbar den Grundgedanken des Vergabe- rechts völlig aus den Augen verloren. Dieser liegt darin, Auch die mittelständische Wirtschaft könnte nicht für die öffentliche Hand einen wirtschaftlichen Einkauf verstehen, warum ihre Unternehmen als private Auftrag- von Leistungen zu gewährleisten. Und diese Wirtschaft- nehmer sich den hohen Anforderungen der Vergabe- lichkeit lässt sich ohne Wettbewerb nicht erreichen. verfahren stellen sollen, während bei öffentlichen Auf- tragnehmern der bequeme Weg ohne Ausschreibung und Aktuell zeigt die teils nicht sehr sachgerechte Ver- ohne Wettbewerb offenstünde. Eine krasse Wettbe- wendung der an die Kommunen ausgeschütteten Mittel werbsverzerrung zulasten der regionalen Unternehmen aus dem zweiten Konjunkturpaket der Bundesregierung, wäre unausweichlich die Folge einer Ausweitung inter- dass bei der Auftragsvergabe die Anforderungen an ei- kommunaler Zusammenarbeit. nen gerechten Wettbewerb nicht sinken dürfen. Damit Sie mich an dieser Stelle nicht falsch verstehen: Die Der Wirtschaftsausschuss hat den vorliegenden An- FDP-Fraktion ist strikt gegen die Einbindung vergabe- trag folgerichtig Ende Januar dieses Jahres abgelehnt. fremder Kriterien in das Verfahren. Sozial- und Um- Gerade in dieser Zeit allgemeinwirtschaftlicher Schwä- weltpolitik und allgemeinpolitische Ziele haben im Ver- che dürfen die zu beauftragenden Mittelständler nicht gabeverfahren nichts zu suchen. Jegliche Nutzung des noch mehr belastet werden. Es ist von den Kommunen Vergabeverfahrens als Vehikel zum Transport gut ge- nicht zu viel verlangt, dass sie ein – für sie vielleicht un- meinter anderer Ziele verzögert die Auftragsvergabe und bequemes – Vergabeverfahren anstrengen müssen, bevor verteuert sie in der Regel auch. sie Steuergeld ausgeben. Die Mittelständler vor Ort sind aktuell auf jeden Auftrag der öffentlichen Hand ange- Die Möglichkeit einer vom Grünenantrag favorisier- (B) wiesen. Es wäre überhaupt nicht vermittelbar, wenn ten Auftragsvergabe nach Gutdünken an befreundete (D) Kommunen zu ihren Lasten von den Anforderungen des kommunale Betriebe klingt für Bürgermeister sicher Vergaberechts zwecks interkommunaler Zusammenar- attraktiv, aber sie gefährdet den Wettbewerb bei öffent- beit freigestellt würden. lichen Aufträgen: Während sich Kommunen zur Aus- lastung ihrer Eigenbetriebe teure Aufträge hin- und her- Gerade von den Grünen, die doch das Gebot der schanzen können, bleiben die privaten Unternehmer Transparenz angeblich so hoch halten, hätte ich erwartet, außen vor. Die Transparenz sinkt und die Wirtschaftlich- dass sie für größtmögliche Transparenz auch in deut- keit dieser Art der Beschaffung ist nicht gewährleistet. schen Vergabeverfahren sind. Stattdessen wollen sie die interkommunale Zusammenarbeit fördern, in der sie eine Eine Wirtschaftlichkeitskontrolle würde bei verstärk- „verwaltungsinterne Lösung“ sehen, für die das Verga- ter kommunaler Verflechtung immer weniger stattfin- berecht nicht gelten solle. den. Unter dem Leitbild einer transparenten Auftrags- vergabe der öffentlichen Hand verbietet sich geradezu Als Begründung hierfür wird angeführt, dass die An- die Schaffung der Möglichkeit, Betriebe anderer Kom- wendung des Vergaberechts einen faktischen Privatisie- munen ohne Ausschreibung zu beauftragen. Das Verga- rungszwang auslösen würde. Nun ist es, wie Sie wissen, berecht soll fairen Wettbewerb sicherstellen und es nicht nicht so, dass meine Fraktion etwas gegen Privatisierun- etwa den Kommunen einfach machen, unerwünschten gen einzuwenden hätte. Jedoch ist die Argumentation Wettbewerb auszuschalten. hier falsch und zeigt Unkenntnis des Wesens der öffent- lichen Vergabe. Lassen Sie es mich abschließend nochmals klarstel- Sinn des Vergabeverfahrens sind gleiche und gerechte len: Wenn kommunale Unternehmen gut wirtschaften, Chancen auf Aufträge. Es fordert daher auch niemand, brauchen sie den Wettbewerb mit der Privatwirtschaft dass sich kommunale, also öffentliche Auftragnehmer an nicht zu fürchten. Es gibt deshalb auch keinen Grund, Ausschreibungen von öffentlichen Auftraggebern nicht die städtischen Betriebe von den Vergabevorschriften mehr beteiligen dürfen. Es wird nur gefordert, dass für auszunehmen und so vor Wettbewerb zu schützen. alle potenziellen Auftragnehmer die gleichen Bedingun- gen eines fairen Wettbewerbs um den zu erlangenden Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Die Fraktion Die Auftrag gelten. Wenn die öffentlichen Bewerber gut und Linke unterstützt den Antrag der Grünen, die interkom- effizient sind, brauchen sie den Wettbewerb mit den pri- munale Zusammenarbeit zu sichern. Dies ist umso wich- vaten nicht zu fürchten. Wenn sie ineffizient und zu teuer tiger geworden, weil die Bundesregierung beim Verga- sind, sollten sie ihr Geschäftsmodell überprüfen. Die berecht den Schwanz vor dem BDI eingezogen hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23437

(A) Nach einer beispiellosen Intervention der Industrie hat Regionen gibt es hierzu bereits langjährige Erfahrungen; (C) die Koalition auch noch die letzte fortschrittliche Rege- man denke nur an den öffentlichen Personennahverkehr. lung in ihrer Vergaberechtsnovelle, die zur interkommu- nalen Zusammenarbeit, aus dem Gesetz gestrichen. Die Es wird jedoch auch immer Bereiche geben, in denen Folge ist, dass insbesondere in dem für die Kommunen kommunale Kooperation schwierig ist, insbesondere wichtigen Zukunftsthema der interkommunalen Koope- dort, wo die Kommunen miteinander im Wettbewerb ste- ration eine weitgehende Ausschreibungspflicht beibehal- hen, bei der Einwohnerzahl und bei der Gewerbeansied- ten wird. Das heißt, obwohl beide Kommunen eine Auf- lung. Zumindest bei letzterem würde der Vorschlag der gabe öffentlich wahrnehmen wollen, werden sie in Grünen, im Falle gemeinsamer grenzüberschreitender vielen Fällen zur Privatisierung öffentlicher Aufgaben Gewerbegebiete einen Verteilungsmodus für die Gewer- gezwungen. besteuer einzuführen, einen positiven Effekt haben kön- nen. Ob eine Kommune sich entscheidet, den Winterdienst zusammen mit der Nachbargemeinde erledigen zu lassen Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): oder an Private zu vergeben – das ist eine Frage der De- Wir haben heute abschließend einen Antrag zu verhan- mokratie, das ist eine Frage, die der Stadtrat zu entschei- deln, der zum Ziel hat, die interkommunale Zusammen- den hat und nicht die vom BDI bezahlten Juristen. Und arbeit zwischen Kommunen ohne Beteiligung privater dabei muss es unerheblich sein, ob dies eine Kommune Unternehmen – also die Kooperationen zwischen 100-pro- alleine oder in Zusammenarbeit mit anderen Kommunen zentigen kommunalen Trägern – wieder auf eine rechts- erledigt. Wohlgemerkt geht es uns dabei um regionale sichere Basis zu stellen. Wir Grüne sind uns mit den Zusammenarbeit und um regionale Wirtschaftskreisläufe. Bundesländern einig, dass es sich um ein drängendes Es geht um die Zusammenarbeit mit Nachbarkommunen Problem handelt, schließlich geht es um die Sicherung oder innerhalb einer Region auch über die Grenzen von der öffentlichen Daseinsvorsorge, die gerade in diesen Bundesländern oder Staaten hinweg. Interkommunale Zu- krisengeschüttelten Zeiten einen besonderen Stellenwert sammenarbeit darf nicht dazu führen, die Kommunen für Bürgerinnen und Bürger hat. Vor allem in struktur- miteinander in den bundesweiten Wettbewerb zu treiben. schwachen und ländlichen Regionen ist die Kooperation Wenn eine Kommune am einen Ende der Republik sich zwischen kommunalen Trägern inzwischen ein zwingen- die Versorgung der Menschen in einer Kommune am an- des Erfordernis geworden, um öffentliche Leistungen deren Ende oder gar im Ausland unter den Nagel reißt, – von der Wasserversorgung bis zu den Volkshochschu- würde sie sich von ihrer Aufgabe, der Sicherstellung von len – wirtschaftlich erbringen zu können. Gerade in die- öffentlichen Gütern und Dienstleistungen für die Bür- sen Regionen, in denen die demografische Entwicklung (B) (D) gerinnen und Bürger im eigenen Gebiet zu weit weg ent- schon heute ihre Spuren hinterlässt, ist es für die Kom- fernen. In solchen Fällen agieren die Kommunen nicht munen wichtig, bei der Erbringung ihrer öffentlichen anders als Private und haben dafür keinen besonderen Dienstleistungen Synergieeffekte zu nutzen. Schutz verdient. Anders gesagt: Wenn die Stadtwerke München mit der Gemeinde Sauerlach kooperieren, um Die EU-Kommission und der EuGH beziehen – wie ein geothermisches Kraftwerk zu errichten, so macht das Sie wissen – verstärkt vergaberechtlich die Zusammen- Sinn, eine europaweite Ausschreibung wäre hier irr- arbeit zwischen kommunalen Organisationen in die euro- witzig. Wenn die Mannheimer Stadtwerke die Köthener paweite Ausschreibungspflicht ein. Solche kommunalen Stadtwerke aufkaufen, spielen sie nur das Spiel der gro- Zusammenschlüsse sind jedoch eine rein organisatori- ßen EVU mit. sche Entscheidung. Deshalb brauchen wir jetzt endlich eine klarstellende Regelung, sowohl im EU-Recht als Interkommunale Zusammenarbeit nimmt angesichts auch auf Bundes- und Landesebene. Und hier, meine der prekären finanziellen Situation von Kommunen ei- verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD und nen immer größeren Stellenwert ein. Insbesondere für der Union, haben Sie ganz offensichtlich ihre Hausauf- kleinere und strukturschwächere Gemeinden ist die Zu- gaben nicht gemacht. Was ist denn aus der Zusage des sammenarbeit mit anderen Kommunen ein wichtiges Kollegen Dr. Nüßlein in der ersten Lesung dieses An- Mittel, ihre Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit zu trags geworden, die Koalition regele das Problem schon erhalten. Wer diese Zusammenarbeit jedoch als reines mit einer Negativdefinition in § 99 Abs. 1 Satz 2 GWB? Instrument von Rationalisierung versteht, greift zu kurz. Nichts dergleichen wurde umgesetzt. Die besagte Rege- Dann erreicht er keine Verbesserung der öffentlichen lung, die noch im Regierungsentwurf zum Gesetz gegen Leistungen. Im Gegenteil, die Wege der Bürgerinnen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) enthalten war und und Bürger zu den Einrichtungen ihrer Gemeinde wer- ein weiterer Schritt in Richtung Rechtsklarheit über in- den immer länger und umständlicher. terkommunale Zusammenarbeit gewesen wäre, wurde kurz vor Verabschiedung der Vergaberechtsnovelle im Uns muss es darum gehen, im Sinne der öffentlichen Dezember 2008 wieder gestrichen. Union und SPD las- Daseinsvorsorge, der Bereitstellung öffentlicher Infra- sen sich vor den Karren mancher Wirtschaftsverbände struktur und des Ausbaus sozialer und kultureller Ange- spannen und leisten mit ihrer unterlassenen Hilfestellung bote die Kommunen in die Lage zu versetzen, durch für die kommunale Zusammenarbeit einem faktischen Zusammenarbeit mit ihren Nachbarkommunen Synergie- Privatisierungszwang für öffentliche Dienstleistungen effekte im Sinne der Bevölkerung zu nutzen. In vielen Vorschub. Sogar die Aufforderung ihrer Parteikollegen 23438 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009

(A) in der Bundesratssitzung vom 13. Februar 2009, die Die Abgeordnete Dr. Margrit Spielmann hat darum (C) Negativdefinition in § 99 GWG wieder aufzunehmen, gebeten, bei dem Antrag Programm „Stadtumbau lassen sie ungerührt verhallen, und belassen es bei beste- Ost“ – Fortsetzung eines Erfolgsprogramms auf hender Rechtsunsicherheit für kooperationswillige Kom- Drucksache 16/12284 nachträglich in die Liste der An- munen. tragsteller aufgenommen zu werden. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD Die Fraktion Die Linke hat mitgeteilt, dass sie den und Union, Sie lassen hier die Städte und Gemeinden im Antrag Sicherheit und Zukunft – Initiative für ein Stich. Mit Ihrer Weigerung, eine rechtliche Klarstellung sozial gerechtes Antikrisenprogramm auf Drucksa- zugunsten interkommunaler Zusammenarbeit ohne Be- che 16/12245 zurückzieht. teiligung Privater auf den Weg zu bringen, verhindern Die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senio- Sie auch eine eindeutige Abgrenzung zu den öffentlich- ren, Frauen und Jugend hat mitgeteilt, dass der Aus- privaten Partnerschaften. Sie setzen mit Ihrer in dieser schuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung Sitzungswoche eingebrachten Initiative „Faire Wettbe- von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vor- werbsbedingungen für öffentlich-private Partnerschaften“ lage absieht: gezielt Prioritäten für öffentlich-private Partnerschaften. Während Sie die von uns geforderten Programme zur – Unterrichtung durch die Bundesregierung Unterstützung kommunaler Kooperationen verweigern, Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des fördern Sie aktiv Modellprojekte für öffentlich-private Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsgesetzes Partnerschaften. Wir Grüne sind nicht prinzipiell gegen – Drucksachen 16/5400, 16/6008 Nr. 1 – öffentlich-private Partnerschaften, wenn sie transparent und so ausgestaltet sind, dass die Kontrolle des öffentli- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben chen Auftraggebers eindeutig gegeben ist. Außerdem mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- muss sichergestellt sein, dass nicht Gewinne privatisiert dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Be- und Verluste sozialisiert werden. Wenn Sie jetzt jedoch ratung abgesehen hat. das Tor für öffentlich-private Partnerschaften weit öff- nen und es für die interkommunale Zusammenarbeit Auswärtiger Ausschuss schließen, dann treiben Sie die Kommunen offensiv in Drucksache 16/11721 Nr. A.2 die Privatisierung. Sie missachten damit ganz empfind- Ratsdokument 16940/08 lich das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, die sich Drucksache 16/11965 Nr. A.1 in diesen krisenhaften Zeiten lieber auf öffentliche EuB-EP 1838; P6_TA-PROV(2009)0640 (B) Dienstleistungen der Kommunen verlassen. (D) Im Einklang mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in Sportausschuss den Ländern fordere ich Sie auf, jetzt umgehend die ur- Drucksache 16/820 Nr. 1.5 sprünglich geplante rechtliche Klarstellung im Gesetz EuB-EP 1193 gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf den Weg zu bringen und die erforderliche Rechtssicherheit für inter- Finanzausschuss kommunale Zusammenarbeit zu schaffen. Zudem müs- Drucksache 16/11721 Nr. A.11 sen Sie auf EU-Ebene darauf hinarbeiten, dass eine Ratsdokument 16774/08 sekundärrechtliche Klarstellung zugunsten der interkom- munalen Zusammenarbeit erfolgt. Kurz: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Drucksache 16/12188 Nr. A.16 Anlage 3 Ratsdokument 5685/09 Amtliche Mitteilungen Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Abgeordnete Dr. hat darum ge- Drucksache 16/11721 Nr. A.20 beten, bei dem Entwurf eines Gesetzes zur Verankerung Ratsdokument 16543/08 der Patientenverfügung im Betreuungsrecht (Patienten- verfügungsgesetz – PatVerfG) auf Drucksache 16/11360 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nachträglich in die Liste der Antragsteller aufgenommen zu werden. Drucksache 16/8455 Nr. A.12 Ratsdokument 6175/08 Die Abgeordneten Dr. Hans-Peter Bartels und Dr. haben darum gebeten, bei dem Ent- Ausschuss für Gesundheit wurf eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschafts- Drucksache 16/11819 Nr. A.17 Ratsdokument 17501/08 konflikten auf Drucksache 16/11347 nachträglich in die Drucksache 16/11819 Nr. A.18 Liste der Antragsteller aufgenommen zu werden. Ratsdokument 17502/08 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. März 2009 23439

(A) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (C) Entwicklung Drucksache 16/11721 Nr. A.24 Ratsdokument 17022/08 Drucksache 16/11132 Nr. A.19 Ratsdokument 14632/08 Drucksache 16/11721 Nr. A.32 Ratsdokument 16276/08 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Drucksache 16/11819 Nr. A.29 Reaktorsicherheit Ratsdokument 5001/09 Drucksache 16/8135 Nr. A.14 Drucksache 16/11819 Nr. A.30 Ratsdokument 5088/08 Ratsdokument 17476/08 Drucksache 16/8135 Nr. A.46 Drucksache 16/11819 Nr. A.31 Ratsdokument 5223/08 Ratsdokument 17573/08 Drucksache 16/12188 Nr. A.27 Ratsdokument 5892/09 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 16/10286 Nr. A.92 Ratsdokument 11159/08 Drucksache 16/10286 Nr. A.72 Drucksache 16/10958 Nr. A.52 Ratsdokument 11709/08 Ratsdokument 13631/08

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980