Dokumentvorlage BIS-Verlag
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Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts Herausgegeben von Freia Hoffmann Band 12 Annkatrin Babbe und Volker Timmermann Musikerinnen und ihre Netzwerke im 19. Jahrhundert BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Gefördert von der Sophie Drinker Stiftung Oldenburg, 2016 Verlag / Druck / Vertrieb BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Postfach 2541 26015 Oldenburg E-Mail: [email protected] Internet: www.bis-verlag.de ISBN 978-3-8142-2338-4 Inhalt Annkatrin Babbe und Volker Timmermann Vorwort 7 Karl Traugott Goldbach Instrumentalistinnen im Londoner Kammermusik-Netzwerk 1857. Eine Explorationsstudie zum Einsatz der Sozialen Netzwerkanalyse in der historischen Musikwissenschaft 13 Claudia Schweitzer Überlegungen zur Entstehung und Bedeutung des französischen Musiksalons im 18. Jahrhundert 27 Christine Fornoff Die Konzertagentur Wolff und ihre Bedeutung für Virtuosinnen im Berliner Musikleben des 19. Jahrhunderts 41 Irène Minder-Jeanneret Instrumentalmusikerinnen in der französischen Schweiz im 19. Jahrhundert: Identifikationsmuster und Beziehungsstränge 69 Katharina Deserno Cellistinnen und ihre Lehrer im 19. Jahrhundert. Transformation der polarisierten Geschlechtergrenzen in der künstlerischen Ausbildung am Beispiel der Violoncellistinnen aus der belgischen Celloschule von Adrien-François Servais 91 Volker Timmermann „Ein fruchtbares, social wichtiges Thema“ – Eduard Hanslick und die Wiener Geigerinnen des späten 19. Jahrhunderts 113 Susanne Wosnitzka „Gemeinsame Not verstärkt den Willen“ – Netzwerke von Musikerinnen in Wien 131 Freia Hoffmann Netzwerke von Musikerinnen in Paris und London 149 Annkatrin Babbe Netzwerke von und um Clara Schumann am Hoch’schen Konservatorium 163 Kadja Grönke Konkurrenzen, Kollegialitäten, Karrieren. Pianistinnen aus dem Weimarer Liszt-Kreis 179 Freia Hoffmann Die Pädagogin, Pianistin und Komponistin Elise Müller und der wiederentdeckte „Plan einer weiblichen Lehr- und Erziehungsanstalt“ von Wilhelm Christian Müller 203 Raymond Dittrich Die Pianistin Wilhelmine Clauss-Szarvady (1832 – 1907) als Interpretin und Herausgeberin von Klaviermusik des 17. und 18. Jahrhunderts 225 Monika Tibbe Originelle Musikerinnen 253 Vorwort „Eines Morgens zu Anfang des Dezember trat nämlich C. M. von Weber zum Besuch bei mir ein und erzählte: er habe soeben einen Ruf nach Kassel als Ka- pellmeister an das dort neu errichtete Hoftheater erhalten, sei aber gesonnen, ihn abzulehnen, da er mit seiner jetzigen Stellung vollkommen zufrieden sei. Im Falle, daß ich mich aber um diese Stelle zu bewerben gedenke, wolle er in seiner Rückantwort auf mich aufmerksam machen und erwähnen, daß ich mich jetzt in Dresden aufhalte. Ich hatte ohnlängst von einem durch Gandersheim reisenden Mitgliede der Kasseler Kapelle so viel von der Pracht des dortigen Hoftheaters und der Kunstliebe des soeben zur Regierung gelangten Kurfürsten erzählen hö- ren, daß ich nicht zweifeln durfte, dort einen bedeutenden und angenehmen Wirkungskreis zu finden.“1 Louis Spohr schildert in seinen „Lebenserinnerungen“ das Vorspiel zu seiner Anstel- lung in Kassel, die ihm dann auch bald von dort angeboten wurde. Wie es weiterging, ist bekannt: Spohr trat in Kassel seine Lebensstelle an. Er blieb rund dreieinhalb Jahr- zehnte in verantwortlicher Position und wurde zur wohl bedeutendsten Kasseler Musi- kerpersönlichkeit, zumindest des 19. Jahrhunderts. Spohrs Interesse an dieser Tätigkeit wurde dabei nicht durch eine Stellenanzeige und ebenso wenig durch eine werbende Beschreibung der örtlichen Musikzustände in irgendeiner Gazette geweckt. Vielmehr waren es die Vermittlung durch einen ihm gut bekannten Kollegen und die Schilderun- gen eines durchreisenden Musikers – Anlässe also, die im ersten Augenblick klein zu sein scheinen, aber letztlich für die Musikgeschichte bedeutsame Folgen wie jene im Kasseler Biotop geschaffene Musikwerke oder auch die für das Violinspiel im deutsch- sprachigen Raum durchaus prägende Kasseler Violinschule mit sich brachten. Die folgenreiche Begebenheit um Spohr und von Weber ist bis heute erwähnenswert, war aber in jener Zeit sicher keine Ausnahme. Wer in die Verhältnisse des 19. Jahrhun- derts eindringt, dem begegnen derlei Vernetzungen an vielen Stellen. Fast schon lässt sich der Eindruck gewinnen, dass Vermittlung, Empfehlungen und persönliche Be- kanntschaften zu wichtigen Regulatoren des Musiklebens zählten. Beispiele dafür fin- den sich auf vielen Ebenen. Im „Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts“2 sind viele Musikerinnen aufgeführt, die Teile von Netzwerken wa- ren und daraus für ihre Karrieren – von der Ausbildung über die Konzertorganisation bis hin zu den organisatorischen Abläufen – profitierten. In diesem Sammelband soll dezidiert den Verbindungen zwischen solchen MusikerInnen nachgespürt, Formen des Zusammenhalts und der Solidarität sollen herausgearbeitet werden. Dabei sind Netz- 1 Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. von Folker Göthel, 2 Bde., Bd. 2, Tutzing 1968, S. 124. 2 Siehe Freia Hoffmann (Hrsg.), Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhun- derts, http://www.sophie-drinker-institut.de/cms/index.php/lexikon, Zugriff am 30. Juni 2015. 7 werke keineswegs Eigenarten des Musiklebens oder ein Phänomen des 19. Jahrhun- derts, sondern gerade auch in unserer heutigen Alltagswelt omnipräsent. Vor diesem Hintergrund entwickelte der Sozialtheoretiker Manuel Castells den Begriff der „Netz- werkgesellschaft“3, der wiederum auf das Netzwerk als dominante Organisationsform in der Gesellschaft referiert.4 Netzwerke finden sich in jeglichen gesellschaftlichen Be- reichen, ein soziologisch hinreichend umfassender Netzwerkbegriff ist damit notwen- dig.5 In der Ethnologie, Psychologie, vor allem aber in der Soziologie wurde ein all- gemeiner Netzwerkansatz entwickelt. Die Rede ist dort von „Sozialen Netzwerken“. Hierüber richtet sich der Fokus auf die Gesamtheit sozialer Beziehungen, insbesondere wird die Kontextgebundenheit, die „embeddedness“6 des sozialen Handelns themati- siert. Als Begründer des Sozialen Netzwerkbegriffs gilt der Sozialanthropologe John A. Barnes. Graphentheoretische Konzepte dienten ihm, wie auch seinen Kollegen, da- zu, den Netzwerkbegriff zu präzisieren: „The image I have is of a set of points some of which are joined by lines. The points of the image are people, or sometimes groups, and the lines indicate which people interact with each other“7. Abbilden lassen sich Netzwerke – ganz den graphentheoretischen Ansätzen entsprechend – durch Knoten und Kanten. Dabei stellen die Knoten die sozialen Akteure, die Kanten daneben die Relationen dar. Unter Netzwerken ist damit „die Struktur der Einbettung des Handelns in soziale Be- ziehungen und damit soziale Struktur schlechthin“8 zu verstehen. Es geht um die Ver- bindungen von sozialen Akteuren, bei denen es sich sowohl um Individuen, Gruppen, Familien als auch um politische Akteure oder auch Organisationen handeln kann.9 Die Relationen zwischen den sozialen Akteuren sind dabei als Interaktionen bzw. Bezie- hungen zu verstehen, die inhaltlich bestimmt sind, z. B. über emotionale Nähe, Infor- 3 Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie Das Informationszeitalter, übers. von Reinhart Kößler, Opladen 2001. 4 Castells betont die bipolare Opposition von ‚Netz‘ und ‚Selbst‘: „Das ‚Netz‘ steht für die neue, netz- werkartige ökonomische Organisationsform, die die traditionelle, vertikal integrierte Hierarchie des Industriezeitalters ablöst. Das ‚Selbst‘ bezieht sich demgegenüber auf die vielfältigen Praktiken, durch die sich Menschen ihrer Identität in einer Zeit rapiden Wandels zu vergewissern suchen“, Gerd Nollmann, „Manuel Castells: Kultur, Technologie und Informationsgesellschaft“, in: Kultur. Theorien der Gegenwart, hrsg. von Stephan Moebius u. Dirk Quadflieg, 2., erweiterte u. aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2011, S. 635–644, hier S. 638. 5 Siehe Michael Bommes u. Veronika Tacke, „Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes“, in: Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen, hrsg. von Betina Hollstein u. Flo- rian Straus, Wiesbaden 2006, S. 37–62, hier S. 37f. 6 Mark Granovater, „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness“, in: The American Journal of Sociology 3 (1985), S. 481–510. Granovater versteht unter der ‚embeddedness‘, „that the behavior and institutions to be analyzed are so constrained by ongoing social relations that to construe them as independent is a grievous misunderstanding“, ebd., S. 482. 7 John A. Barnes, „Class and Comittees in a Norwegian Island Parish“, in: Human Relations 7 (1954), S. 39–58, hier S. 43. 8 Bommes u. Tacke, „Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes“, 2006, S. 39. 9 Siehe Boris Holzer, Netzwerke (= Einsichten), Bielefeld 2006, S. 73. 8 mationsfluss oder Güteraustausch.10 Sie sind Gegenstand der Netzwerkforschung, die zudem nach der Bedeutung der Strukturmerkmale der Netzwerke und sozialen Bezie- hungen für soziale Integration fragt. Erforscht werden Strukturen der sozialen Netz- werke, ihre Dynamik sowie die Funktion für die soziale Integration innerhalb sozialer Gefüge und auch die Funktion für die einzelnen Akteure.11 Abb. 1 Abbildung von Netzwerken durch Knoten und Kanten, Grafik: AB/VT Wie lässt sich den Netzwerken von Instrumentalistinnen im 19. Jahrhundert nachspüren, wie die Einbettung ihres Handelns in soziale Gefüge untersuchen? Die Netzwerk- forschung aus historischer Perspektive ist eng auf die Quellenlage bezogen. In Briefen, Tagebüchern