Christel Nies

Der fünfte Band der Reihe Komponistinnen und ihr Werk doku- mentiert für die Jahre 2011 bis 2016 einundzwanzig Konzerte und Veranstaltungen mit Werkbeschreibungen, reichem Bildmaterial und den Biografien von 38 Komponistinnen.

Sieben Komponistinnen beantworten Fragen zum Thema Komponistinnen und ihre Werke heute. Olga Neuwirth gibt in einem Interview mit Stefan Drees Auskunft über ihre Er- fahrungen als Komponistin im heutigen Musikleben. Freia Hoffmann (Sofie Drinker Institut), Susanne Rode-Breymann­ Christel Nies (FMG Hochschule für Musik, Theater und Medien, Han- nover) und Frank Kämpfer (Deutschlandfunk) spiegeln in ihren Beiträgen ein Symposium mit dem Titel Chancengleich- heit für Komponistinnen, Annäherung auf unterschiedlichen Wegen, das im Juli 2015 in Kassel stattfand. Christel Nies berichtet unter dem Titel Komponistinnen und ihr Werk, eine unendliche Geschichte von Entdeckungen und Aufführungen über ihre ersten Begegnungen mit dem Thema Frau und Musik, den darauf folgenden Aktivitäten und über Erfolge und Erfahrungen in 25 Jahren dieser „anderen Konzertreihe“.

Der Buchtitel Nachhall entspricht mit Ausdeutungen wie: nachwirkend, nachhaltig, nicht gleich verklingend dem Anliegen des Buches und der Reihe Komponistinnen und ihr Werk. Nachhall

Komponistinnen und ihr Werk V ISBN 978-3-7376-0238-9 ISBN 978-3-7376-0238-9 Komponistinnen und ihr Werk V 9 783737 602389 Christel Nies

Nachhall Komponistinnen und ihr Werk V

1 2 Christel Nies

Nachhall Komponistinnen und ihr Werk V

kassel university kassel university press · Kassel press

3 Komponistinnen und ihr Werk V Eine Dokumentation der Veranstaltungsreihe 2011 bis 2016

Gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-7376-0238-9 (print) ISBN: 978-3-7376-0239-6 (e-book) DOI: http://dx.medra.org/10.19211/KUP9783737602396 URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0002-402396

© 2016, kassel university press GmbH, Kassel www.upress.uni-kassel.de

Redaktion: Christel Nies Innengestaltung und Satz: Dr. Rainer Lorenz, Regensburg Umschlaggestaltung: Jörg Batschi grafik design, Tübingen

4 Inhalt

Grußwort von Boris Rhein, Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst . 7 Grußwort von Bertram Hilgen, Oberbürgermeister der Stadt Kassel . . . . . 8 Christel Nies: entdecken – aufführen – dokumentieren ...... 9 Verleihung der Goldenen Ehrennadel der Stadt Kassel an Christel Nies ...... 14 Komponistinnen und ihre Werke heute. Fragen an sieben Komponistinnen . . 17 „Ich fühle mich wie der Salat in einem Burger: der ist da, aber man schmeckt ihn nicht“. Olga Neuwirth im Gespräch mit Stefan Drees ...... 28

Die Konzerte und Veranstaltungen 2011–2016 Klänge aus einer fernen Zeit. Byzantinische Hymnen von Kassia ...... 36 Entdeckt und aufgeführt. Konzert und Buchpräsentation ...... 42 In Memoriam ...... 46 Kammerkonzert ...... 50 Kammerkonzert. Emilie Mayer zum 200. Geburtstag ...... 54 Hommage à Ursula Mamlock. Von der Magie der Polyphonie ...... 58 Viva la Mara ...... 66 Nosferatu, eine Symphonie des Grauens ...... 72 … Kling hinaus ins Weite ...... 75 Kammerkonzert ...... 82 Kammerkonzert mit Werken für Violine, Violoncello, Klavier ...... 85 Streichquartette ...... 88 Orchesterkonzert ...... 92 Jubiläumskonzert ...... 98 Musik und Genuss. Die Forelle und andere akustische und sensorische Kostbarkeiten ...... 102 Liederabend Meine Liebe … ein Meer ...... 105 Licht und Dunkel ...... 110 Symposium „Chancengleichheit für Komponistinnen“ ...... 117 Dozentenkonzert im Rahmen des Symposiums ...... 120 Mit Nachhall und fluktuierender Spannung. 4 Streichquartette aus 3 Jahrhunderten ...... 122 Rückblick ...... 126

5 Beiträge zum Symposium „Chancengleichheit für Komponistinnen“ – Annäherung an das Ziel auf unterschiedlichen Wegen

Freia Hoffmann: Seit 40 Jahren dabei – Versuch einer kritischen Bilanz . . . 130 Susanne Rode-Breymann: Gender Studies in der Lehre: Das Forschungs- zentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien, Hannover. Ein Fallbeispiel ...... 137 Frank Kämpfer: Komponistinnen in Geschichte und Gegenwart – (m)ein Radioversuch ...... 145

Christel Nies: Komponistinnen und ihr Werk – eine unendliche Geschichte von Entdeckungen und Aufführungen ...... 150

Die Komponistinnen in alphabetischer Folge ...... 156 Biografien der Komponistinnen ...... 157 Autorinnen und Autoren, Referentinnen und Referenten ...... 174 Bildnachweis ...... 176 Komponistinnen und ihr Werk ...... 177

6 Grußwort

Verehrte Leserschaft, mit dieser Dokumentation blicken wir nun auf 25 Jahre der erfolgreichen Kasseler Konzertreihe „Komponistinnen und ihr Werk“. Sie bietet nicht nur einen Rückblick auf interessante Konzerte sondern trägt auch mit neuen und wichtigen Aspek- ten zur aktuellen Genderdiskussion in der Musik bei.

Leider ist es immer noch keine Selbstverständlichkeit, dass mu- sikalische Kreativität keine Frage des Geschlechts ist. Immer noch werden viele Konzertprogramme von männlichen Na- men dominiert, auch wenn Frauen immer mehr als Interpre- tinnen geschätzt werden.

Dass sich in den letzten 25 Jahren dennoch die öffentliche Wahrnehmung geändert hat und sich viele der alten Vorurteile nicht mehr halten können, ist das Verdienst von Persönlich- keiten wie Christel Nies, die diese Reihe ins Leben rief und zugleich mit den Dokumenta- tionen für die Nachwelt bewahrte. Herzlichen Dank für diese erfolgreiche Beharrlichkeit!

Ich wünsche dieser Dokumentation daher viele Leserinnen und Leser. Möge sie zu weiteren interessanten Diskursen anregen.

Ihr

Boris Rhein Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst

7 Grußwort

„Komponistinnen und ihr Werk“: Ein Titel mit Klang und untrennbar verbunden mit dem Namen und dem langjähri- gen ehrenamtlichen Engagement von Christel Nies. Mit dieser Veranstaltungsreihe gelingt es der Initiatorin mit Konzerten, Vorträgen und Lesungen seit über einem Vierteljahrhundert, das Werk von Komponistinnen aus Vergangenheit und Gegen- wart ins Bewusstsein und zu Gehör zu bringen und ihnen den gebührenden Platz in der Musikgeschichte und im Musikleben einzuräumen. Für die Kasseler Kultur- und Musiklandschaft waren und sind die von Christel Nies initiierten Veranstaltun- gen eine große Bereicherung und erfreuen sich großer Wert- schätzung.

Nunmehr liegt der fünfte Band „Komponistinnen und ihr Werk“ vor, der die Veranstal- tungsreihe der Jahre 2011 bis 2016 dokumentiert und einmal mehr Zeugnis ablegt über das profunde Wissen um Leben, Werk und Wirken musikschaffender Frauen. Auch dieser Publikation ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Die Stadt Kassel hat das verdienstvolle und pionierhafte Wirken von Christel Nies mehr- fach ausgezeichnet: mit dem Kasseler Kunstpreis, dem Kulturförderpreis und der Goldenen Ehrennadel der Stadt Kassel. Ihr kulturelles Engagement genießt in der documenta-Stadt Kassel hohes Ansehen. Mein Dank für das Geleistete verbindet sich daher mit der Hoff- nung und der Freude auf viele weitere hochkarätige Konzertereignisse.

Bertram Hilgen Oberbürgermeister der Stadt Kassel

8 entdecken – aufführen – dokumentieren

Es gibt sie immer noch, die Reihe Komponis- tinnen und ihr Werk. In den 26 Jahren ihres Be- stehens gab es in 145 Konzertveranstaltungen mit Werken von mehr als 110 Komponistin- nen ganz wunderbare Entdeckungen. Existenz und schöpferische Begabung der Komponis- tinnen lassen sich nicht mehr leugnen, und sie sollten zum Selbstverständnis werden in den Programmen aller Musikveranstalter. In nun- mehr fünf Buchausgaben sind alle Veranstal- tungen dieser „anderen Konzertreihe“ dokumentiert für interessierte Menschen, die mehr wissen möchten über Leben und Werk von Komponistinnen, für die jungen musikbegeis- terten Menschen, für Konzertveranstalter und Konzertbesucher, für die Musikerinnen und Musiker zur Erinnerung. Zu den Auswirkungen der Konzertreihe zählt, dass inzwischen so manche Konzertveranstalter ihrem Beispiel folgen und Komponistinnen-Werke in ihre Programme aufnehmen. Leider sperren sich jedoch weiterhin die großen traditionellen Institutionen des Musikle- bens; hier haben Komponistinnen und ihre Werke kaum eine Chance. Opernspielpläne und Programme von Sinfoniekonzerten bieten das an, was es immer schon gab: Verdi, Wagner, Mozart, Beethoven…, auch wenn das gleiche Werk nun schon zum hundertsten Mal aufgeführt wird. Wen wundert es, dass Komponistinnen deshalb auf die Idee kamen, sich ein männliches Pseudonym zuzulegen? Die Reihe Komponistinnen und ihr Werk möch- te mit ihren Möglichkeiten Aufklärung leisten und hinweisen auf großartige Komponis- tinnen und ihr kompositorisches Œuvre mit Werken für Kammermusik, großen Opern, Film- und Ballettmusiken, Orchesterwerken... Erste hoffnungsvolle Schritte für die Akzeptanz der Komponistinnen zeichnen sich heute ab im Bereich der Neuen Musik. Hier sind vor allem Konzerte und Sendungen der Rund- funkanstalten zu nennen und die einschlägigen Festivals für Neue Musik, wo Komponis- tinnen zwar in der Minderheit, aber nicht mehr ausgeschlossen sind. Beim Lucerne Festival 2016 unter dem Motto PrimaDonna konnte man Aufführungen von Komponistinnen- werken und berühmte Interpretinnen und Dirigentinnen erleben. in residence war hier zum zweiten Mal die österreichische Komponistin Olga Neuwirth. Sogar die Metropolitan Opera (Met) in New York erinnert sich daran, dass es Komponistinnen gibt: Hier wird die Oper L’amour de loin von Kaija Saariaho aufgeführt als erste Oper einer Frau nach 100 Jahren. Diese Möglichkeiten klingen nach viel, sind aber minimal im Vergleich zu den zahlreichen Aufführungen von Komponisten-Werken. Sie würden bei weitem nicht einer Quotenregelung gerecht, wenn es diese denn gäbe. Die genannten Ansätze geben jedoch Hoffnung, dass in der Musik bald der Idealzustand erreicht sein könnte, wo das Ge- schlecht keine Rolle mehr spielt. Damit wäre dann eine Konzertreihe wie Komponistinnen und ihr Werk überflüssig.

9 Dokumentiert sind in dem vorliegenden fünften Band 21 Konzerte und Veranstaltungen der Jahre 2011 bis 2016 mit den Biografien der hier aufgeführten Komponistinnen. Es fin- den sich außerdem in diesem Band Beiträge verschiedener Referentinnen und Referenten zum Thema Chancengleichheit für Komponistinnen. Dies war auch das Thema eines Sympo- siums, welches im Rahmen der Jubiläumsveranstaltungen „25 Jahre Komponistinnen und ihr Werk“ im Jahr 2015 in Zusammenarbeit mit dem Institut für Musik der Universität Kassel stattfand. Aufschlussreich sind die Antworten von sieben zeitgenössischen Kompo- nistinnen auf dezidierte Fragen zum Thema Komponistinnen und ihre Werke heute. Beiträge verschiedener Autorinnen und Autoren ergänzen diese fünfte Buchdokumentation.

Ein Streifzug durch die Veranstaltungen und Konzerte der Jahre 2011 bis 2016: 2011

 Klänge aus einer fernen Zeit war der Titel des Konzertes mit der Musik von Kassia (ca. 810–ca. 865), der ältesten bekannten Komponistin, die in Byzanz lebte und wirkte. Ihre Hymnen, gesungen vom Ensemble VocaMe, beeindruckten zutiefst und versetzten die Besucher in die Atmosphäre eines Klosters in frühchristlicher Zeit.

 Entdeckt und aufgeführt ist der Titel der vierten Buchdokumentation der Konzertreihe. Im Konzert mit der gleichnamigen Überschrift stellte ich das Buch vor. Unter den aufge- führten Werken der Veranstaltung war die Sonata Pastorale für der amerikanischen Komponistin und Bratschistin Lillian Fuchs (1901–1995). Die Komponistin und ihr Werk waren eine „Entdeckung“.

 Einen Bezug von zwei zeitgenössischen Komponistinnen zu Schubert stellte Das Nomos- Quartett her. Im Konzert In Memoriam ist dieser Bezug präsent in den Werken Hänge- brücken – Streichquartett an Schubert von Adriana Hölszky und Im Andenken von Sarah Nemtsov. Franz Schubert selbst war in diesem Programm vertreten mit dem Streichquartett d-Moll Der Tod und das Mädchen und dem Quartettsatz c-Moll.

2012

 Das junge Enos-Trio spielte außer Klaviertrios von Clara Schumann, Ethel Smyth und Fanny Hensel ein beeindruckendes Trio von Lera Auerbach (*1973).

 Das Kasseler Spohr Quartett stellte mit dem Streichquartett op. 14 g-Moll erstmals in Kassel die Musik von Emilie Mayer (1812–1883) vor, was bei Musikern und Zuhörern große Begeisterung für diese Komponistin auslöste.

2013

 Am 27. Januar 2013 gab der Geiger Kolja Lessing ein Solo-Recital Hommage à Ursula Mamlok – von der Magie der Polyphonie als sein „Vorab-Geschenk“ zum damals anstehenden 90. Geburtstag der Komponistin am 1. Februar 2013. In einem gesonderten Text-Beitrag

10 würdigt er diese großartige Komponistin, erläutert ihre Werke für Violine und erzählt über seine Begegnungen mit ihr.

 Mit großer Begeisterung wahrgenommen wurde die Veranstaltung Viva La Mara in der Kasseler Martinskirche als Beitrag zum Jubiläum „1100 Jahre Kassel“. Die 1749 in Kas- sel geborene Sängerin Gertrud Elisabeth Schmeling avancierte als „die Mara“ zum gro- ßen Gesangsstar ihrer Zeit. Zu ihren Bewunderern zählten auch Goethe und Friedrich der Große. Im Rahmen eines gemeinschaftlichen Projektes von Komponistinnen und ihr Werk und 11 Frauen, 11 Jahrhunderte habe ich mit Text, Bild und Musik (Traudl Schmaderer, Sopran und Walewein Witten, Cembalo) die legendäre Sängerin (und auch Komponistin) vorgestellt.

 Zu den Highlights der Reihe zählen die Aufführungen der Stummfilme Tabu und Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau mit der Musik von . Nach mehreren Vorführungen von Tabu wurde in Kassel jetzt auch Murnaus Nosferatu mit der Musik der anwesenden Komponistin Violeta Dinescu gezeigt. Das Bukarester Trio Contraste, längst vertraut mit dem Kompositionsstil von Dinescu, überzeugte einmal mehr mit der Wiedergabe und Zuordnung der Musik zum Film. Der große Saal des Kasseler Gloriakinos konnte die vielen Besucher kaum fassen.

 …kling hinaus ins Weite war der Titel eines Konzertes mit Bearbeitungen von Liedern für Sopran und Streichquartett. Aribert Reimann hatte die acht Lieder und ein Fragment auf Heine-Texte von Felix Mendelssohn Bartholdy für diese Besetzung bearbeitet und mit eigenen Zwischenspielen versehen, Otfrid Nies transkribierte für die gleiche Besetzung die Fünf Lieder op. 10 von Fanny Hensel. Ihr Streichquartett Es-Dur und das Streichquartett a-Moll op. 13 ihres Bruders Felix rundeten das Programm ab.

2014

 Im Programm des Trio Passionata gab es Werke von fünf Komponistinnen, darunter Klaviertrios von Louise Farrenc und Emilie Mayer, die virtuose Violinsonate von Graźyna Bacewicz und die ebenso virtuose Chaconne für Klavier von Sofia Gubaidulina sowie die Trois Pièces pour violoncelle et von Nadia Boulanger.

 Aus kamen die drei Frauen des Boulanger Trio. Neben den Klaviertrios von Clara Schumann und Rebecca Clarke, den beiden Werken D’un soir triste und D’un matin de printemps von Lili Boulanger überraschte das virtuose Werk Quasare/Pulsare für Violine und Klavier von Olga Neuwirth.

 Ebenfalls aus Berlin kam das ganz junge Anima Quartet. Mit Quartetten von Vivian Fung (*1975) und Ana Sokolović (*1968) lernte man zwei hier noch unbekannte junge Kom- ponistinnen und ihre Musik kennen. Für die „alte Musik“ wählte das Ensemble Streich- quartette von Laura Maddalena Sirmen, Luise Adolpha Le Beau und für das anzustrebende Miteinander der Geschlechter in künftigen Konzertprogrammen das erste Streichquartett Kreutzersonate von Leoš Janáček.

11 2015 Das Jubiläumsjahr bot eine Anzahl hochkarätiger Konzerte und Veranstaltungen:

 Erstmals gab es bei Komponistinnen und ihr Werk ein Orchesterkonzert. Das ambitionier- te Sinfonieorchester der Universität Kassel unter der Leitung von Malte Steinsiek spielte die Ouvertüre C-Dur von Fanny Hensel, die Faust-Ouvertüre für großes Orchester von Emilie Mayer und das kurze, bezaubernde Stück Ein (kleiner) Winternachtstraum der anwesenden Komponistin Jacqueline Fontyn. Krönung des Konzertes war das Konzert für Violine, Horn und Orchester von Ethel Smyth mit den großartigen Solisten Katalin Hercegh (Violine) und Joachim Pfannschmidt (Horn). Beide Konzertveranstaltungen waren restlos ausverkauft.

 Das offizielle Jubiläumskonzert mit einem Empfang durch den Oberbürgermeister der Stadt Kassel fand am 27. März 2015 im Kasseler Rathaus statt. Nach verschiedenen Rede- beiträgen führten das Kasseler Spohr Ensemble und die Sopranistin Traudl Schmaderer Streichquartette und Lieder auf von Emilie Mayer, Fanny Hensel (Transkription ihrer fünf Lieder op. 10 für Sopran und Streichquartett), Germaine Tailleferre und Vítězslava Kaprálová. Der Deutschlandfunk hatte das Konzert aufgezeichnet und im Rahmen eines größeren Beitrages über die Konzertreihe gesendet.

 Der Beitrag der Musikakademie der Stadt Kassel zum Jubiläum bestand in der Auffüh- rung des Trio für Violine, Violoncello und Klavier e-Moll, op. 45 der französischen Kompo- nistin Louise Farrenc.

 Zu einem der Höhepunkte der Jubiläumsveranstaltungen zählt der Liederabend Meine Liebe – ein Meer mit dem Duo Andreas Beinhauer (Bariton) und Markus Hadulla (Klavier). Zur Aufführung kamen 22 Lieder von acht Komponistinnen, von denen vor allem die Lieder von Henriëtte Bosmans eine „Entdeckung“ waren.

 Das herausragende Konzert Licht und Dunkel mit dem Vocalensemble Kassel unter der Leitung von Eckhard Manz als Gemeinschaftsveranstaltung von Kultursommer Nordhessen 2015 und Komponistinnen und ihr Werk war ein weiterer, unvergesslicher Höhepunkt. Zur Aufführung kamen Werke von Kaija Saariaho (Tag des Jahrs und Nuits, Adieux), von Clara Schumann und Lili Boulanger.

 Das Symposium Chancengleichheit für Komponistinnen mit einem Konzert von Dozenten der Universität Kassel setzte den Schlusspunkt unter die Jubiläumsveranstaltungen 2015.

2016 Das Jahr 2016 endet mit zwei spannenden Konzerten unterschiedlicher Couleur:

 Das Programm des Konzertes mit Nachhall und fluktuierender Spannung mit dem Leipziger Streichquartett beinhaltet vier Streichquartette von vier Komponistinnen: das Streichquartett e-Moll von Emilie Mayer, das Streichquartett Nr. 2 von Ursula Mamlok, das Streichquartett Nr. 2 P-ILION neun fragmente einer ewigkeit von Konstantia Gourzi, und das Streichquartett Nr. 6 von Hanna Kulenty.

12  Im letzten Konzert des Jahres 2016 mit dem Titel Rückblick spielt der Holger Groschopp Das Jahr – 12 Charakterstücke für das Fortepiano von Fanny Hensel, komponiert im Jahr 1841, und als „Kontrapunkt“ hierzu den in den Jahren 1974/75 entstandenen Tier- kreis, 12 Melodien der Sternzeichen von .

Wie alle Konzerte und Veranstaltungen der von mir im Jahr 1990 gegründeten Reihe Komponistinnen und ihr Werk wurden auch die der Jahre 2011 bis 2016 mit großem Inter- esse wahrgenommen. Neben der musikwissenschaftlichen Aufarbeitung ist die Aufführung von Werken unbekannter Komponistinnen ein gewichtiger Aspekt für ihre Wahrnehmung und Integration in das „normale“ Musikleben. Zur Komposition eines Werkes gehört die Aufführung, die über das Hören zum Wissen führen kann. Für mich war jedes der Konzerte ein beglückendes Erlebnis und der Lohn für alle Arbeit, die damit verbunden war.

Für finanzielle Förderung der Konzertreihe bedanke ich mich bei dem Kulturamt der Stadt Kassel und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, welches auch diese fünfte Buchdokumentation fördert. Mein Dank gilt der Mariann-Steegmann-Foundation für finanzielle Unterstützung der Konzertreihe und der Buchdokumentation. Der Kasseler Sparkasse, der Firma K+S KALI GmbH und weiteren Sponsoren, die nicht genannt wer- den möchten, danke ich für die finanzielle Unterstützung der Jubiläumskonzerte. Mein besonderer Dank gilt Dr. Volker Schäfer für seine hilfreiche Unterstützung bei den Veran- staltungen im Jubiläumsjahr 2015. Bei Klaus Marx bedanke ich mich für das gewissenhafte Korrekturlesen dieses Buches. Allen Musikerinnen und Musikern danke ich für unvergessliche Aufführungen und last but not least allen Komponistinnen für ihre Werke.

13 Verleihung der Goldenen Ehrennadel der Stadt Kassel an Christel Nies am 28. Mai 2014 in Kassel, Palais Bellevue

Rede von Bertram Hilgen, Oberbürgermeister der Stadt Kassel

Sehr geehrte Frau Nies, sehr geehrte Familie Nies, verehrte Gäste, zunächst einmal Dank an die Künstlerinnen und Künstler, die in wunderbarer und stim- mungsvoller Weise unsere heutige kleine Feierstunde musikalisch eingeleitet haben. Wir werden sie ganz am Schluss noch einmal hören dürfen – darauf freuen wir uns sehr. Ich darf Sie alle sehr herzlich im Palais Bellevue in Kassel begrüßen – im Namen der Stadt, des Magistrates und der Kolleginnen und Kollegen der Stadtverordnetenversammlung. Grüße darf ich übermitteln von Hans Eichel. Er wäre gern hier gewesen, ist jedoch heute verhindert und hat mich gebeten, eine herzliche Gratulation zur heutigen Auszeichnung auszurichten. Es ist schön, dass Sie, liebe Frau Nies, mit Ihrer Familie (drei von vier Kindern, zwei Enkel) heute hier anwesend sind, um im Kreise vieler Freundinnen und Freunde, Wegfährten und Mitstreiter eine hohe Eh- rung Ihrer Heimatstadt entgegenzuneh- men. Einen solchen Tag gemeinsam zu erleben, ist noch einmal etwas ganz Beson- deres. Mich freut es insofern, als wir unseren Dank dann auch gleich Ihnen allen gemeinsam abstatten können, die Sie Ihre Gattin und Mutter seit vielen Jahren begleiten und in ihrem Engagement unterstützen. Ohne den Rückhalt der Menschen, die einem nahestehen, ist, das wissen wir alle, eine solche Lebens- leistung auch nicht denkbar.

Verehrte Frau Nies, ich denke, ich darf das so sagen: Kassel ist Ihnen in den zurückliegenden mehr als 40 Jahren zur Heimat geworden, zum Lebens- und Schaffensmittelpunkt in jedem Falle, und von diesem produktiven Tun, von diesem engagierten Wirken im Dienste der Kultur und insbesondere der Musik hat Kassel in vielfacher und nachhaltiger Weise profitiert. Christel Nies wurde – kaum zu glauben – 1935 in Düsseldorf geboren. Sie absolvierte eine Gesangsausbildung in Düsseldorf, Philadelphia und Kassel, wo sie seit 1971 lebt. Zudem studierte sie Evangelische Kirchenmusik und Klavier, und sehr früh schon, seit 1980, be- schäftigten Sie sich dann intensiv mit den Werken von Komponistinnen und präsentierten diese in zahlreichen Veranstaltungen, Vorträgen, Lesungen und Konzerten – als Veranstal- terin und/oder als Sängerin.

14 Verehrte Damen und Herren, Sie alle sind heute aus freundschaftlicher Verbundenheit hierher gekommen, aber auch um Ihre Anerkennung und Wertschätzung für eine mit Christel Nies untrennbar in Verbin- dung stehende, ganz einzigartige Konzertreihe zum Ausdruck zu bringen, deren Erfinderin, Kuratorin, Intendantin und gute Seele Sie, verehrte Frau Nies, sind. Mit großer Schaffenskraft, akribischer Forschungsarbeit, viel Herzblut und umfassendem Sachverstand haben Sie sich der lohnens- und dankenswerten Aufgabe verschrieben, das unterrepräsentierte Schaffen von Komponistinnen in Vergangenheit und Gegenwart einer breiten Öffentlichkeit zu erschließen und damit auf die gleichberechtigte Integration in Musikgeschichte und Musikleben hinzuwirken. Nicht zuletzt auch mit den vier von Ihnen vorgelegten Buchdokumentationen ist es Ihnen in den zurückliegenden mehr als zwei Jahrzehnten gelungen, Wirken, Werk und Leben vieler musikschaffender Frauen zu präsentieren und zu dokumentieren. Dies ist gleichermaßen unentbehrlich und einzigartig und trägt dazu bei, die musikge- schichtliche und musikwissenschaftliche Gesamtschau um einen wichtigen Aspekt zu kom- plettieren. Neben ihrer publizistischen Arbeit verdankt Kassel Christel Nies, die für ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet wurde – unter anderem 1995 mit dem Kasseler Kunstpreis und 1996 mit dem Kulturförderpreis der Stadt – mit der von ihr ins Leben gerufenen Kon- zertreihe rückblickend eine Reihe hochkarätiger und vielbeachteter Musikereignisse, die kontinuierlich und ansprechend das kulturelle Profil der Stadt bereichern. In bisher mehr als 140 Konzerten allein in Kassel kamen durch Ihr nimmermüdes Wirken zahlreiche Werke von Komponistinnen aus Vergangenheit und Gegenwart zur Aufführung. Sehr zur Freude des Publikums sind in diesem Rahmen immer wieder auch herausragende Ensembles von Weltrang dem Ruf von Christel Nies in die Fuldametropole gefolgt. Nicht zuletzt mit einer Reihe von Ur- und deutschen Erstaufführungen wurden bis heute beson- dere Glanzpunkte im musikalischen Veranstaltungskalender der Stadt gesetzt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das Projekt „KOMPONISTINNEN UND IHR WERK – Spurensuche in Europa“, das Sie im Zusammenhang mit der Bewerbung zur Kulturhauptstadt ins Leben gerufen und durchgeführt haben, ebenso wie die vielbeach- teten Komponistinnen-Festivals unter dem Titel „Vom Schweigen befreit“ in den Jahren 1987, 1990 und 1993. Auch hier haben Sie darüber hinaus jeweils auch Festivalkataloge veröffentlicht. Zahlreiche andere Veranstaltungen und Projekte sind vielen von uns in bester Erinnerung geblieben, genannt seien beispielhaft nur die „Nacht der Kirchen“ 2009 unter dem Titel „Dichtung und Musik von Frauen für Frauen“ oder aber die Einweihung des Hiroshima- Ufers 2009, wo Sie die musikalische Umrahmung mitgestalteten. Ganz nahe ist uns noch die Veranstaltungsreihe „11 Frauen – 11 Jahrhunderte“ im Rah- men des Stadtjubiläums 2013. Dies war eines der besten und schönsten Projekte unter den vielen Aktivitäten des Festjahres, das vor allem eines deutlich macht: Kassels Vergangenheit wurde maßgeblich mitgeprägt von klugen und starken Frauen. Dies ist heute immer noch so, ob in der Kultur, im geistlichen, sozialen oder gesellschaftlichen

15 Leben unserer Stadt. Christel Nies ist eine solche Frau, die in Kassels Kulturlandschaft in den zurückliegenden Jahren ganz wichtige und bleibende Spuren hinterlassen hat.

Verehrte Gäste, liebe Frau Nies, ich und wir alle hoffen und wünschen, dass Sie Ihre wichtige Arbeit auch in der Zukunft mit dem Ihnen eigenen unermüdlichen Engagement und Pioniergeist fortsetzen und dem umfangreichen kompositorischen Schaffen von Frauen damit zur angemessenen Aufmerk- samkeit und Anerkennung verhelfen. Im kommenden Jahr steht ein besonderes Jubiläum an: Fünfundzwanzig Jahre „Kompo- nistinnen und ihr Werk“. Ich bin sicher, Sie werden dieses Ereignis auf besondere Weise begehen. Wir sind gespannt darauf. Vor einiger Zeit haben Sie in einem Interview festgestellt, dass gerade die zeitgenössische Musik Frauen bessere Chancen biete, angemessene Wahrnehmung und Beachtung zu fin- den. Sicherlich ist dieser Umstand gesellschaftlichen Veränderungsprozessen insgesamt geschul- det, aber auch Ihre national wie international beachtete Arbeit hat hierzu sicherlich einen nicht unbedeutenden und wertvollen Beitrag geleistet. Dafür gelten Ihnen Wertschätzung und Dank.

Es ist mir eine besondere Ehre und Freude, Ihnen jetzt die Goldene Ehrennadel der Stadt Kassel zu überreichen.

16 Komponistinnen und ihre Werke heute Fragen an sieben Komponistinnen

Gibt es für Komponistinnen heute die gleichen Aufführungschancen wie für Komponisten? Kommen neben den vielfach aufgeführten Werken von Komponisten der Vergangenheit auch solche von Komponistinnen der Vergangenheit zur Aufführung? Carola Bauckholt Nein. Die jungen, heute lebenden Komponistinnen haben fast gleiche Chancen, da es doch eine Menge Veranstalter gibt, die ein Bewusstsein für die Ungleichbehandlung entwickelt haben. Die nicht mehr le- benden Komponistinnen haben es sehr schwer. Violeta Dinescu Wenn man statistisch diese Frage beant- wortet ist es einfach: NEIN! Betsy Jolas In France, yes they are, provided however that such works exist and are properly professionally promoted. Works of women of the past have not been per- formed until recently when they started at last to be pub- lished and thus made known and available. Sarah Nemtsov Das Verhältnis gleicht sich etwas (etwas!) mehr an. Die Entwicklung ist positiv, immerhin tauchen Carola Bauckholt Komponistinnen ab und zu und jedenfalls öfter als frü- her in den Programmen auf. Dennoch ist eine wirkliche Gleichberechtigung sicher noch fern. Hilda Paredes Fortunately times are changing rapidly and I think we see more and more women being programmed in Festivals. Often but not always it’s because a Festival needs to have it’s quota of female composers, but also because of the quality of the music. Annette Schlünz Im Prinzip ja, vor allem wenn es um die Zusammenarbeit mit Musikern geht. Bei den großen Festivals und Konzertreihen gibt es Unterschiede – musica viva München beispielsweise ist ausgesprochen paritätisch, andere programmieren das, was „in“ ist, und da kommt es darauf an, wer sich besser verkauft. In Donaueschingen Violeta Dinescu fand man Komponistinnen bisher eher in den Randpro- grammen (Klanginstallationen), MUSICA Strasbourg ist bis auf Ausnahmen sehr „männlich“ geprägt. Komponistinnen der Vergangenheit sind bisher nicht in den Reihen der „Großen“ angekommen.

17 Charlotte Seither In der Historie haben wir ein großes Manko. Es gibt viel zu wenige Werke von Komponistin- nen aus früheren Jahrhunderten, die fest im klassischen Repertoire verankert sind. In der Gegenwart kommen deutlich mehr Werke von Komponistinnen zur Auffüh- rung. Sie werden jedoch ebenfalls nicht als stilbildend oder definitionsgebend kanonisiert, sondern flankieren allenfalls die musikalische Geschichtsschreibung.

Erst seit dem 20. Jahrhundert haben Komponistinnen und Betsy Jolas ihre Werke eine Chance, von der Musikgeschichtsschreibung wahrgenommen und dokumentiert zu werden. Inwieweit ist eine Vergangenheit ohne Komponistinnen, ohne weibliche „Vorbilder“, für Komponistinnen heute relevant? Bauckholt Für mich persönlich ist die Gegenwart und die Präsenz von Kolleginnen bedeutender. Aber natürlich besteht ein Zusammenhang. Dinescu Ich möchte eine Aussage wiederholen, die ich bei einem Podiumsgespräch in Dresden in Anwesenheit meiner Lehrerin Myriam Marbe gemacht habe: „Ohne Sarah Nemtsov Myriam Marbe wäre ich keine Komponistin geworden!“ Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass sie Komponistin war, jedoch als ihre Studentin sah ich in ihr nicht unbedingt ein Vorbild. Viel mehr spielte sie für uns eine wich- tige Rolle in Sachen Wahrnehmung. Sie hat uns auf der Suche nach unserer eigenen musika- lischen Sprache, auf das „EIGENE“, eine besondere Art von Aufmerksamkeit geschenkt, die Wunder gewirkt hat. Jolas It probably results in a lack of role model for many women. Nemtsov Natürlich ist es auffällig, dass kaum über Komponistinnen in der Musikgeschichte gesprochen wird. Eine gewisse Ungerechtigkeit empfinde ich, aber der „Ärger“ ist eher sozio- logisch, gesellschaftlich einzuordnen. Künstlerisch ist es mir ganz gleichgültig, ob Musik, die mich begeistert und beeinflusst, von einer Frau oder von einem Mann geschrieben wurde. Dies spielt keine Rolle für mich. Ein Werk, das mich berührt, schockiert und inspiriert, kann in kein „Verhältnis“ gebracht werden. Kategorien wie Gerechtigkeit, Ausgleich, Ausgewo- genheit etc. bedeuten nichts für das Kunstwerk und mein Kunsterleben an sich. Normierung ist Zwang, und Kunst sollte frei sein. Ursache für die vorhandene Ungerechtigkeit und Un- gleichbehandlung waren, ohne dass dies gleich ersichtlich war, viele Zwänge und Normie- rungen verschiedener Art. Mehr Frauen können meiner Ansicht nach der Kunst nur gut tun. Paredes Unfortunately in the past, women did not have a chance to develop as artists and the lack of acknowledgement did not help their artistic development. So women composers

18 did not always have the chance to develop artistically as much as their male counterparts. So it’s hard to find role models before the second half of the twentieth century. Schlünz Während meiner Ausbildung wusste ich so gut wie nichts von Komponistinnen, aber ich habe das nicht hinterfragt, eigentlich war nur die Musik als solche wichtig für mich. Eine Musik schreibende Frau zu sein, war für mich nicht von Bedeutung, nur das Schreiben an sich. Seither Ich persönlich kann gar nicht genug betonen, wie sehr uns in der Komposition weibliche Vorbilder fehlen. Es geht dabei nicht nur um die Tatsache, dass wir „role mo- dels“ missen, sondern vielmehr, dass wir ständig mit an- sehen müssen, dass musikalische Kompetenz nicht auto- matisch auch zur Definitionsmacht führt. Frauen, die gut sind, werden nicht auf die gleiche Weise Professorinnen oder Intendantinnen oder Mitglieder eines Aufsichtsrates. Sie unterliegen vollkommen anderen Prozessen. Wir haben entschieden zu wenige Frauen in den oberen Etagen. Es fehlt also nicht an der einzelnen Figur, die sich hier oder da findet, sondern an der flächendeckenden Normalität von Frauen in oberen Machtpositionen. Annette Schlünz

Macht es Sinn, die männlich geprägte Musikgeschichte im Nachhinein zugunsten der Komponistinnen zu korrigieren? Wäre dies überhaupt möglich? Bauckholt Das sollte aus persönlicher Begeisterung für Werke, die von Komponistinnen geschrieben wurden, ge- schehen. Dinescu Es wäre sicher möglich. Walter Benjamin hatte vorgeschlagen, in Sachen Korrektur der Geschichtsschrei- bung, die Geschichte nochmals zu schreiben aus der Sicht derjenigen, die verloren haben. Was und wie, und ob man überhaupt korrigieren kann, ist die andere Seite der Me- daille. Jolas Only if it means rediscovering really great music, not Charlotte Seither just any female music. Nemtsov Die Vergangenheit ist, was sie ist, wir können sie unterschiedlich interpretieren und Vergessenes entdecken. Es gab einige, durchaus „spannende“ Komponistinnen. Aber es war für Frauen in der Vergangenheit kaum möglich, ihren künstlerischen oder auch wis- senschaftlichen und anderen Neigungen nachzugehen, sich zu entfalten oder gefördert zu werden. Ausnahmen gibt es, und diese zu sehen ist wichtig, aber wenn die Qualität der Werke

19 einer Frau nicht überzeugt bzw. nicht mithalten kann mit der Qualität der Kompositionen männlicher Kollegen der Zeit, dann ist es eher ein musikhistorisches Interesse. Das gilt auch für andere Bereiche (Musikforschung im Bereich „Verfemte Musik“ etwa). Andererseits kön- nen auch die größten Komponisten schwache Werke schreiben. Die begabten Komponistin- nen wiederum hatten kaum eine wirkliche Chance mit ihren Werken mehr ins Bewusstsein zu gelangen. Eine Neubewertung des Vergangenen wäre somit wünschenswert. Paredes Yes, of course, but unfortunately, the music is hard to find, and not many orches- tras or musicians play it without being in the context of ‘female composers’. This does not help because the music stays in the fringe. Some composers, like Ruth Crawford or Fanny Mendelssohn, stopped composing, so their music did not grow. This cannot be fixed today. It is the mentality of the society what needs to be changed. Schlünz Korrigieren kann man die Geschichtsschreibung sicher nicht, aber vielleicht Lü- cken füllen und auf wichtige Werke aufmerksam machen, sie in die Geschichtsschreibung einfügen. Seither Ich kann dies nicht beurteilen. Es gibt aber in der Tat sehr viele Komponistinnen und Werke, die vollkommen zu Unrecht nicht kanonisiert sind. Man sollte aufarbeiten, was aufgearbeitet werden kann. Nur so, in der ständigen Reflexion auch über die Methoden selbst, lassen sich Strukturen verändern.

Viele Komponistinnen verzichten auf Familie. Ist der Beruf der Komponistin damit nicht ver- einbar? Bauckholt Doch, er ist vereinbar. Dinescu Doch, es ist eine Sache der Entscheidung, des Schicksals... Jolas Not at all. It just requires passion, willpower and a good sense of organisation. Nemtsov Doch, Beruf und Familie sind auch bei schöpferischen Menschen vereinbar. Üb- rigens kenne ich eher Komponisten ohne Familie als Komponistinnen. Das freiberufliche Arbeiten hat viele Vorteile, auch wenn man kleine Kinder hat: Man kann seine Zeit freier gestalten, und als Komponistin arbeite ich überwiegend zu Hause. Als meine Kinder noch Babies waren, lagen sie manchmal auf meinem Schoß, wenn ich schrieb, oder ich stellte das Bettchen neben meinen Schreibtisch. Ich habe gearbeitet und konnte dennoch ganz nah sein. Nachteile sind, dass es keine Elternzeit in dem Sinne gibt, kein Wochenende, der Kopf kann nicht ausruhen. Auftraggeber interessiert nicht, ob ein Kind gerade Fieber hat, die Deadline richtet sich nach dem Konzert. Aber mein Leben ist vielfältig, und die Kinder haben Anteil daran. Ich nehme meine Kinder oft auf Reisen mit, was wir alle genießen. Durch die Kinder ist mein Leben privat und in der Kunst gewissermaßen radikaler und intensiver geworden. Die Kinder lehren mich auch noch eine andere Disziplin: Die Zeit an meinem Arbeitstisch ist viel kostbarer geworden, und die Kinder erden mich. (Hilfreich in der oft narzisstischen Künstlerwelt.) Ich empfinde Familie UND Beruf als ein großes Glück.

20 Paredes I think this is not a problem exclusively of women composers. It is increasingly hard to have any profession which demands dedication and raise children. Our society is not equipped to offer the help required, but I see that in the younger generation is a change and men are increasing- ly helping with child care. Schlünz Ich habe zwei Töchter im Alter von 17 und 14 Jahren und habe meine Arbeit nie unterbrochen. Die erste war gerade geboren, als ich meine Oper für die Expo 2000 in Hannover schrieb, mit der zweiten realisierte ich einen großen Auftrag für den Europäischen Musikmonat Basel 2001. Proben und Stillen sind durchaus vereinbar. Beide Töchter waren immer mit mir unterwegs, auch bei mehr- monatigen Stipendienaufenthalten. Ich arbeitete konzen- Hilda Paredes trierter und wurde durch die Kinder sehr effektiv in meiner Organisation von Zeit. Seither Nein. Ich glaube, dass Ursache und Wirkung hier genau andersherum aufeinander einwirken. Weil Frauen eine gewisse geistige Freiheit leben und einfordern, ist es für sie oft schwerer, einen Partner zu finden. In der jüngeren Generation hat sich dies glücklicherweise aber doch gewandelt. Wir Komponistinnen heute haben weitaus eher eine Familie als dies noch vor 20 Jahren der Fall war.

Wie hoch ist heute der Frauenanteil in den Kompositionsklassen? Bauckholt Leider sehr niedrig, weniger als 10 %. Dinescu Ich bin nicht statistisch informiert. Ich selber habe jedes Semester eine Komposi- tionsveranstaltung. Oft habe ich mehr Frauen als Männer in der Klasse. Jolas In French Conservatories, most female composers are asiatic. Meanwhile, as far as I know, the proportion today of French women composers has remained about the same as in the time of my own studies: 20 %. Nemtsov Es wird – soweit ich das beurteilen kann – immer mehr. Zum Teil ist der Anteil der Frauen (oft sind es übrigens ausländische Studentinnen) in den Klassen sogar höher als der der Männer. Ich glaube, dieses Verhältnis spiegelt sich aber noch lange nicht in der Zeit nach dem Studium – in der „wirklichen“ Welt der Neuen Musik ist es eindeutig anders. Daran bleibt zu arbeiten. Paredes The percentage is larger for male students, but there are always girls in composition classes. This is a big difference from the time, when I started. Schlünz Das ist unterschiedlich, aber er wächst, die Komponistinnen arbeiten selbstbe- wusster.

21 Seither Das hängt ein wenig vom Standort ab. Ich würde schätzen, er liegt an den deutschen Hochschulen inzwischen bei etwa 10–20 Prozent. An den Hochschulen in Korea oder Japan ist der Frauenanteil weitaus höher, ich schätze bei 40–60 Prozent. In der Generation der jetzt Dreißigjährigen gibt es ein riesiges Potential an talentierten Frauen. Ich hoffe, dass diese ihre Generation weitaus stärker mitdefinieren werden als das in früheren Generationen noch der Fall war. Die eigentliche Diskrepanz spannt sich jedoch eher auf zwischen der vergleichsweise großen Anzahl von Nachwuchskomponistinnen und der Tatsache, dass wir viel zu wenige Frauen haben, die das Angekommensein an den Schaltstellen der Macht repräsentieren. Das muss sich ändern, und daran mitzuarbeiten ist unser aller Aufgabe.

Sollte es an den „Schaltstellen“ im Musikbetrieb mehr Frauen geben, und setzen sich Dirigentin- nen bevorzugt für Komponistinnen ein? Bauckholt Überall sollte es mehr aktive Frauen geben. Aber wir dürfen von ihnen nicht zu viel erwarten. Sie haben das Recht, ihrer künstlerischen Intuition zu folgen. Dinescu Nicht unbedingt, das hat immer mit der Person zu tun, die eine besondere Position innehat. Es ist auch möglich, dass gerade Frauen weniger Interesse an Komponistinnen in Konzertprogrammen haben als Männer. In Rumänien sagt man: Der Mensch segnet den Ort! So ist es, ein Rezept hierfür zu erstellen, ist leider nicht möglich! Jolas Yes eventually, but as female conductors they have other problems to solve first. Nemtsov Vielleicht ist es so. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist man als Frau sensibilisierter für Frauen, die manchmal „schüchterner“ auftreten, deren Stimmen oftmals leiser sind. Auf jeden Fall auch hier: Mehr Frauen können der Kunst nicht schaden. Paredes There should be an awareness that there is more and more very good music written by women, but to programme a piece of music just because it was written by a woman, is not necessarily helpful. The music should be also good. Schlünz Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Frauen an den Schaltstellen, ob diese und die Dirigentinnen sich bevorzugt für Komponistinnen einsetzen, bezweifle ich, sie sollten sich lieber gleichermaßen für gute Komponisten und Komponistinnen engagieren und für ein breites Spektrum. Es werden zu oft die gleichen Namen „herumgereicht“. Seither Ich kann bislang wenig sagen über das Verhältnis von Dirigentinnen zu Kompo- nistinnen, weil ich in meiner Aufführungspraxis noch kaum Dirigentinnen begegnet bin. Es gibt sie leider viel zu wenig. Grundsätzlich halte ich den Mangel an Frauen an den „Schaltstel- len“ für das eigentliche Problem. Es geht nicht darum, einzelne Frauen zur Repräsentation zu etablieren, sondern darum, gleich eine ganze Generation von Frauen äquivalent an der Macht zu beteiligen. Macht wird noch immer weitgehend männlich definiert. Autorität aber, darauf hat Christine Lemke-Matwey vor kurzem hingewiesen in einem Podiumsgespräch, Autorität hat kein Geschlecht.

22 Wann haben Sie sich dazu entschlossen, Komponistin zu werden? Gab es hierfür entscheidende Impulse? Bauckholt Diesen Entschluss gab es nie. Es hat sich absichtslos entwickelt, weil ich nur meinem Interesse folgte. Aber es war von Anfang an klar, dass mein Interesse an „lebender Kunst“ größer ist als das Bedürfnis nach beruflicher Sicherheit. Dinescu Ich bin „allmählich“ Komponistin geworden, obwohl ich (rückblickend) immer schon die Neigung dazu verspürte. Den entscheidenden Impuls bekam ich bei einer Klavier- prüfung. Hier spielte ich auch eigene Kompositionen und entsprach damit einer der obliga- torischen Prüfungs-Vorgaben: „Ein Werk, geschrieben in den letzten 10 Jahren“. Jolas My mother had studied to be a singer and I loved music passionately (I still do!) at an early age without being particularly gifted. I contemplated becoming a composer at about 12 but it then took me over ten years to admit I could be one; Nemtsov Ich habe früh angefangen zu komponieren, zunächst nur für mich, mit 13 wusste ich, dass ich Komponistin werden wollte. Paredes I wrote my first piece of music when I was 18 but did not take my composing seriously until I was 25, thankfully through the encouragement of Peter Maxwell Davies, who was a fantastic teacher. Schlünz Ich habe Noten geschrieben bevor ich Buchstaben schrieb, etwa mit 5, es war ein- fach ein Ausdrucksbedürfnis. Die Komponistenklasse Halle/Dresden ermöglichte mir, das Komponieren weiter zu entwickeln und es neben einer Art innerer Notwendigkeit als Beruf zu ergreifen. Etwa mit 16 Jahren ermutigten mich Hans J. Wenzel, der Leiter der Klasse, und Dietrich Boekle, Gastdozent aus Darmstadt und mein Lehrer, Komposition zu studieren. Ich glaube, man wird nicht Komponist oder Komponistin, man ist es. Seither Ich habe eigentlich nie die bewusste Entscheidung getroffen, Komponistin werden zu wollen. Ich bin es einfach geworden, weil ich mich nicht dagegen entschieden habe.

Wie viele Werke haben Sie bisher komponiert; wie viele kamen zur Aufführung und wurden sie mehrfach aufgeführt? Sind ihre Werke verlegt? Bauckholt Circa 85 Werke, von denen vielleicht 15 regelmäßig aufgeführt werden. Meine Kompositionen erscheinen im Selbstverlag. Dinescu Viele, ich habe sie nicht gezählt. Die Aufführungschancen sind unterschiedlich bei den Werken. Ein Stück für Flöte wurde sehr viel seltener gespielt als beispielsweise Tabu – Musik für den Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau (im Repertoire von mehr als 30 Ensembles – ich habe mehr als 20 große Ordner mit Presse-Artikeln und Programmen). Nur einige meiner Werke sind verlegt. Jolas Probably over 300, depending on the size. All have been played in concert. Only about ten have been played once. Most of my compositions are published.

23 Nemtsov Ich habe ein Werkverzeichnis von über 100 Werken in verschiedensten Gattun- gen, von großer Oper über Ensemble- und Kammermusik bis hin zu Solowerken oder zu Elektronik. Die meisten Werke wurden aufgeführt, zum Teil bei renommierten Festivals, Konzertreihen oder Konzerthäusern. Besonders die Kammermusik- und Solowerke wurden inzwischen oft mehrfach aufgeführt. Das ist eine sehr wichtige Erfahrung (das Stück „lebt“) und ich bin sehr dankbar. Einige Werke sind beim Verlag Peer Music verlegt, es gibt einzelne Werke auch bei anderen Verlagen. Die Rechte der meisten Kompositionen sind aber bei mir. In der heutigen virtuellen Zeit ist das Konzept „Verlag“ m. E. auch nicht mehr ganz „up to date“ – ich bin oft froh mit Musikern und Ensembles direkt zu kommunizieren. Paredes I have not counted them all, but you can get an idea by visiting http://www.hilda- paredes.com/works.htm. My works are published by UYMP: University of York Music Press. Schlünz Etwa 150, die alle aufgeführt worden sind, viele mehrfach und in zahlreichen Län- dern. Meine Werke wurden seit 1991 bei Bote & Bock und Boosey & Hawkes verlegt und seit 2008 beim Verlag Ricordi. Seither Ich bin bei etwa 80 Werken, die verlegt sind (die Jugendwerke habe ich nicht mit- gezählt). Zu den wichtigsten Aufführungen zählt die Uraufführung meines Orchesterstücks „Language of Leaving“ bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall oder der „Kammersinfo- nie“ mit den Berliner Philharmonikern in der Berliner Philharmonie. Meine meistgespielten Werke sind jedoch Kammermusikwerke: „Klang und Schwebung“ für Klavier, „Champlève“ für Klaviertrio, „Alleanza d‘archi“ für Streichtrio. Mein großer Wunsch ist die Wiederaufnah- me meiner Oper „ANDERES / SELBST“, die seit ihrer Uraufführung im Jahr 2000 nicht mehr zur Aufführung gekommen ist. Ich bedauere dies sehr. Meine Werke sind verlegt, das ist ein großes Glück.

Kommen Ihre Werke bei renommierten Institutionen und Festivals zur Aufführung? Bauckholt Manchmal Dinescu Ja, aber unterschiedlich...früher war es mehr... Jolas Yes, quite often Nemtsov Ja, ich bin sehr froh, dass meine Werke bisher bei Festivals wie den Donau- eschinger Musiktagen, den Darmstädter Ferienkursen, bei der Münchener Biennale, Musica, Ultraschall, Märzmusik, den Bregenzer Festspielen, dem Holland Festival u. a. präsentiert wurden. Natürlich sind es Referenzen, die einer Karriere hilfreich sein können. Aber nicht nur diese Highlights sind wichtig, auch „kleine“ Aufführungen bedeuten mir viel: Begegnun- gen mit Musikern, die nicht unbedingt aus dem Spezialgebiet der Neuen Musik kommen, aber offen sind und sich für die Werke interessieren, die begeistert sind (hoffentlich), und dies weitergeben. Genauso empfinde ich dies mit dem Publikum; natürlich ist eine positive Aufnahme durch ein „Fachpublikum“ wichtig, doch als besonders berührend habe ich Reak- tionen von ganz „fernem“ Publikum erlebt: Menschen aus der Provinz oder bei einem Projekt

24 für Kinder Helm auf!, ein Live-Musik-Hör-Buch zu einem Text von Finn-Ole Heinrich mit dem Ensemble Adapter an einer Berliner „Problem-Schule“, hier das Staunen der für die Welt schon halb verloren geglaubten Kinder, die noch nie in einem Konzert waren, geschweige denn in einem klassischen und erst recht nicht in einem mit neuer Musik. Paredes Sometimes it does; not as often as I would like to and not in as many as I wishes it would. Schlünz Ja, bei ausgewählten. Die nächste Uraufführung ist bei den Schwetzinger Festspie- len im Frühjahr 2017. Seither Grundsätzlich ja, es ist aber nun sicherlich jede Komponistin der Meinung, dass ihre Werke weitaus mehr präsent sein könnten.

Wer sind Ihre musikschöpferischen Vorbilder, welches Ihre Lieblingswerke? Bauckholt Das wechselt, aber es sind immer Künstler und Künstlerinnen der Gegenwart. Dinescu Während meines Studiums gab es für mich immer wieder Vorbilder, beispielsweise bei „Stilübungen“ oder „Analysen“; da könnte ich eine lange Liste mit Namen und Werken nennen. Interessant für mich ist auch eine erneute „Entdeckung“ von Werken bei wieder- holten Analysen (die ich volens nolens mit meinen Studierenden mache – mit großer Freude und Begeisterung). In Kompositionen mit starker Aussagekraft entdeckt man immer wieder etwas Neues. Jolas Lassus, Schütz, Monteverdi, Bach, Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann, Berlioz, Wagner, Moussorgsky, Janáček, Berg, Debussy, Stravinsky, Bartók, Stockhausen, Ives, Boulez, Berio ... Nemtsov Unzählige! Leben ohne die Musik von Bach kann ich mir nicht vorstellen, Machaut, Josquin, Couperin und Rameau, Beethoven und Schubert, Bartók, Xenakis – nur Männer, nun ja! Die Dichterinnen Emily Dickinson, Virginia Woolf und Sylvia Plath, Marina Abramovic – warum die Künste so strikt trennen? Es gibt Komponistinnen, die ich sehr schätze, die mir Vorbild sind: Chaya Czernowin etwa in der Neuen Musik, oder aus ei- nem anderen, für mich aber gleichfalls inspirierenden Bereich, die Künstlerinnen PJ Harvey oder Tori Amos. Paredes Sadly mostly male composers, because of social phenomenon, which did not allow women’s music to become known. My role models have more to do with the music than with gender. The composers of our time, who strive to build a language of their own like Lachen- mann, Ligeti, Lutoslawski, Carter and of course the twentieth century classics like Stravinsky, Berg, Webern, Schoenberg, Stockhausen, Berio, Boulez, etc. Writing music takes time, and building a language of your own, takes a lifetime of dedication, this is something that women of the past did not have, nor the respect for their time and work. What we see today are com- posers like Sofia Gubaidulina, Unsuk Chin, Olga Neuwirth growing and this is promising.

25 Schlünz Luigi Nono: Non hay caminos, hay que caminar, Robert Schumann: Dichterliebe, Edgar Varèse: Amériques. Seither Meine Vorbilder sind Claudio Monteverdi, , und . Lieblingswerke könnte ich viele nennen. Wenn ich nur eines nennen dürfte, so würde ich mich für Bachs Actus tragicus entscheiden.

Welche Gattungen haben die größeren Chancen für Aufführungen: Kammermusik oder Orchesterwerke? Bauckholt Heutzutage klein besetzte Kammermusik, auch für männliche Komponisten. Dinescu Orchesterwerke kaum...und immer weniger. Jolas Chamber and ensemble music because it costs less. This is true of all music. Nemtsov Orchesterwerke sind natürlich viel schwieriger zu realisieren, Aufträge sind rar. Kammermusik hat es eindeutig leichter. Paredes Of course , regardless of the gender of the composers. Remember we are living in a time where art and music is losing its value in our society, so there is not much funding for music and even less for the new expressions. Schlünz Vor allem, wenn es um Wiederaufführungen geht, sicher die Kammermusik, aber da haben viele der Kollegen die gleichen Schwierigkeiten. Seither Ganz klar die Kammermusik. Sie erfordert den geringsten Aufwand. Außerdem suchen sich einzelne Musiker die Stücke, die sie spielen wollen, meist selbst, und dabei spielt das Geschlecht für sie meist keine besondere Rolle. Bei größeren Institutionen wie etwa den Orchestern ist der Aufwand grundsätzlich erheblich größer, es gibt weniger „Plätze“. Die wenigen Plätze werden dann oftmals eher männlich definiert.

Was bedeutet für Sie das Engagement einzelner Musikerinnen und Organisationen für die Wahr- nehmung der Komponistinnen und Aufführung ihrer Werke? War dieses Engagement nützlich für Sie? Bauckholt Meine gesamte Entwicklung verdanke ich dem Engagement einzelner Personen. Dinescu Sehr wichtig, wenn man es mit authentischem Engagement macht und nicht mit sekundären Gedanken, die manchmal auch außermusikalisch sein können. Jolas Not really. I have always refused to appear on an all female program. Nemtsov Natürlich! Das Engagement für Künstlerinnen ist lobenswert und wichtig, ge- rade seitens der Organisationen und Institutionen. Dass ein Augenmerk nicht nur auf die Künstlerinnen selbst, sondern auch auf die Probleme, Hierarchien und versteckten Diskri- minierungen gelegt wird, ist wichtig, damit nicht nur einzelne Frauen gefördert werden,

26 sondern damit die Strukturen überhaupt reflektiert und kritisch hinterfragt werden, und die Wahrnehmung und das Denken sich ändern können. Paredes Yes it is good, but it becomes a problem when it becomes a ghetto, as this isolates women composers more. We need integration not isolation. A similar problem arises when nationality becomes an issue. Music is international and has no gender. Schlünz Es war und ist wichtig, um die Lücken in der Geschichte zu füllen, manchmal Starthilfe zu geben und Mut zu machen. Das bemerke ich bis heute bei Studentinnen und Kolleginnen. Meine Karriere begann 1988 in Heidelberg beim Komponistinnen-Festival durch engagierte Frauen wie Roswitha Sperber und Barbara Heller. Seither Alles Engagement, welches das Bewusstsein für Frauen in der Öffentlichkeit schärft, ist nützlich! Es ist nicht zuletzt auch die Basisarbeit, die viele Musikerinnen und Verbände seit den 1980er Jahren auf sich genommen haben, der wir, die Komponistinnen heute, die Fort- schritte verdanken, die sich inzwischen doch ereignet haben. Wir profitieren bereits von dem, was andere für uns gesät haben. Allerdings sind wir noch lange nicht dort, wo unsere Gesell- schaft hin soll und muss in der Genderfrage. Es ist mir unbegreiflich, warum sich Prozesse, wie sie z. B. in Österreich oder an den amerikanischen Universitäten völlig selbstverständlich sind, in Deutschland einfach nicht realisieren lassen. Unsere Realität ist weit entfernt von der Realität, die andere Länder längst geschaffen haben.

Sollte es weiterhin Komponistinnen-Konzerte oder -Festivals geben? Bauckholt Ja, ich finde es weiterhin spannend, es sollte aber nicht dogmatisch sein und es darf auch mal ein Alibi-Mann auftauchen. Dinescu Solange Werke von Komponistinnen in „normalen“ Konzertprogrammen nicht zu finden sind, dann schon weiter! Es ist wichtig!!! Jolas no Nemtsov Ich empfinde es immer als etwas zweischneidig. Einerseits: ja! (Aufgrund der obengenannten Überlegungen.) Andererseits würde man sich ja wünschen, es wäre nicht nötig, und als Komponistin möchte ich ja nur aufgrund des künstlerischen Wertes meiner Musik eingeladen werden und nicht deshalb, weil ich eine Frau bin. Paredes No, I don’t think this is a good idea. It isolates the music written by women. Music has no gender, so this is not very helpful. Schlünz Konzerte ausschließlich mit Komponistinnen ja, aber ohne es als Besonderheit darzustellen. Komponistinnen-Festivals sollten sich vielleicht dazu entwickeln, interessante Komponisten und Komponistinnen gleichberechtigt aufzuführen. Seither Natürlich. Es kann nicht genügend Bewusstsein geschaffen werden für die Gender- Problematik.

27 „Ich fühle mich wie der Salat in einem Burger: der ist da, aber man schmeckt ihn nicht“ Olga Neuwirth im Gespräch mit Stefan Drees (gekürzte Fassung des Gesprächs vom 30. November 2015)

Stefan Drees: Wie nimmst du das gesellschaftliche Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in Zeiten von Frauenförderungen und Quotenregelung wahr? Olga Neuwirth: Unter dem Druck von frivolen Erwartungen ist es heute für viele Frauen einfacher, weiterhin das männliche Bedeutungssystem zu benützen. Andere Frauen wieder- um haben für sich herausgefunden: ›Jetzt muss ich frauenbewegt sein. Was haben diese oft meiner Generation angehörenden Frauen vor über 25 Jahren gemacht, als ich bereits öf- fentlich immer wieder darauf hingewiesen habe, wie das hegemoniale Sprach- und Macht- system in unserer Branche funktioniert? Man konnte bedeutende Theoretikerinnen zu diesem Thema schon in den 1980er und 1990er Jahren lesen, was ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr getan habe. Oder, ich nehme nur mal Österreich her, man konnte sich mit Valie Export oder Elfriede Jelinek und vielen anderen unbeirrbaren, eigenständig denkenden und mutigen Künstlerinnen befas- sen, die ein vielfältiges Schaffen aufweisen. Das war ja alles da. Warum haben diese Frauen sich nicht damals schon geäußert? Weil es nun auch in unseren Breitengraden gesellschafts- fähig geworden ist und besonders, weil die Frage nun in unserer konservativen Kunstsparte angekommen ist? Weil erkannt wurde, dass man sich damit auch persönliche Macht und Gratifikation erobern kann? Es geht aber seit Jahrhunderten darum, wann man kritisch ist und Probleme erstmals anspricht! Nicht erst dann, wenn es ohnehin schon alle Spatzen von den Dächern pfeifen und man nicht mehr angegriffen werden kann. Ich habe schon vor über 25 Jahren auf das Thema Gleichbehandlung hingewiesen, als es in unserer Branche noch niemand sonst getan hat im miefigen Österreich. Denn ich war auf einsamer Flur, als ich Ende der 1980er Jahre als Komponistin in diese (männliche) Szene kam. Mit meinen Aussagen habe ich den Kopf für viele Frauen und Komponistinnen hin- gehalten. Wie gesagt, wir befinden uns in der klassischen Musikwelt, die weiterhin weiß, männlich und patriarchalisch ist, weiterhin in einem hegemonialen System. Und generell sind alle Sprachsysteme weiterhin männlich, weil noch immer keine weibliche ›Gegensprache‹ ge- funden wurde. Es dürfen zwar manchmal ein paar Frauen etwas einbringen. Aber generell wird man als streitbare Frau, die sich vielleicht auch noch konsequent falschen Bildern und geschönten Erzählungen des Lebens und der Kunst verweigert, nicht wirklich ernst ge- nommen, sondern eher verachtet. Meine Geschichte des Komponierens ist jedenfalls auch die Geschichte der ständigen Infragestellung des Komponierens einer Frau. Und das ist zermürbend.

28 Wie haben sich aus deiner Perspektive die Diskrepanzen in der Behandlung von Frauen und Männern in der zeitgenössischen Musikszene seit Anfang der 1990er Jahre gewandelt? Ich finde, sie ist fieser geworden. Es herrscht ein eleganterer Chauvinismus. Man kann heute auf Probleme nicht mehr direkt hinweisen, so offensichtlich, wie das für mich in der bleiernen Zeit in den späten 1980er Jahren möglich war. Wenn die Frau heute auf Miss- stände hinweist, dann passiert oft Folgendes: es wird als Hysterie abgetan und ›the empire strikes back‹. Man wird ohne Erklärungen und Diskussionen einfach rausgeworfen und zum Widersacher stilisiert. Als Freischaffender muss man sich ständig neu stimulieren, mir aber wurde meine Selbst- achtung genommen, auch der Glaube an mein Können. Ich bin ja als freischaffende, pe- ripatetische Komponistin völlig abhängig vom good will der Entscheidungsträger. Und es gab auch immer wieder ein anderes Wort, das mir öfter zugewiesen wurde: ›Diese freche Göre.‹ Frech ist man, wenn man keinen Machtanspruch hat. Wer sagt schon ›frech‹ zu einem (jungen) Mann – der ist eher ein ›wilder Mann‹, und ›wild‹ heißt, dass man res- pektiert wird, dass man diesem Mann Achtsamkeit abverlangt. Denn ›frech‹ ist man hier- archisch betrachtet nur von unten nach oben. Das heißt, wenn man eine ›freche‹ Frau los- werden will, wird sie am besten respektlos entsorgt von den ›wilden Kerlen‹. Dass ich vor 13 Jahren mit dem wunderbaren Libretto von Elfriede Jelinek für eine neue Oper rausgeworfen wurde – und das Stück wurde ja in Auftrag geben, wir haben uns nicht hinterhältig an die Herren Intendanten herangepirscht –, ist für mich heute noch unfass- bar. Niemand in der gesamten Musikbranche war solidarisch, obwohl der Auftrag bereits mehrfach veröffentlicht worden war. Der Vorfall wurde sofort unter den Teppich gekehrt, als ob er nicht existiert hätte. Und im Zusammenhang mit meiner Oper Lost Highway hat ein Dramaturg in einer E-Mail, die ich heute noch besitze, geschrieben: ›Drei Frauen sind zu viel‹. Das waren Valie Export als Bühnenbildnerin, Olga Neuwirth als Komponistin und Elfriede Jelinek als Librettistin.

Also reagiert das männlich dominierte System so, weil es sich bedroht fühlt? Genau. Die Macht fühlt sich von der Kunst ohnehin bedroht und von einer kleinen Frau in einer männlichen Domäne anscheinend ganz besonders. Vor 25 Jahren gab es noch viel mehr Formen von Diskriminierung gegenüber Komponistinnen, zum Beispiel auch von Ehefrauen von Komponistenkollegen, die mir ins Gesicht sagten, von Frau zu Frau sozusa- gen: ›Du wirst ja nur gespielt, weil du eine Frau bist.‹ Was ich mir alles habe anhören müs- sen innerhalb dreier Jahrzehnte – von allen möglichen Seiten –, das ist schon unglaublich und sehr betrüblich. Die Herren der Branche waren anscheinend geschockt, dass eine ›jun- ge freche Göre‹ sich wagt, an ihren Privilegien zu sägen, selbst zu denken, eigene Ideen zu haben und bekannt zu werden. Das wurde als Überschreitung und Anmaßung angesehen.

Immerhin gab es in den 1990er Jahren Foren wie das von Gisela Gronemeyer veranstaltete Festival ›Frau Musica Nova‹ in Köln oder die von Christel Nies organisierte Reihe ›Komponistinnen und ihr Werk‹ in Kassel …

29 In Kassel war ich einmal, als ich ungefähr 20 war, um role models zu finden. Wenn sich aber über viele Jahre hinweg an den Strukturen, den Entscheidungsmechanismen nicht wirklich viel ändert, weil zum Beispiel stolz rausposaunt wird: ›Wir präsentieren nun all women- Festivals‹ oder ›Wir fokussieren nun auf Dirigentinnen‹, aber mit der inneren Haltung: ›Dann haben wir unsere Schuldigkeit getan und machen weiter wie davor‹, dann ist das ernüchternd. Der Sinn der Sache ist doch – und das betrifft alle Minderheiten, die sich je für ihre Rechte eingesetzt haben –, dass sich unterschiedliche Menschen freier, offener, ver- ständnisvoller und menschlicher begegnen und nicht mit Arroganz und Überheblichkeit. Dass sich Gegensätze und andere Formen des Lebens und Ausdrucks vermischen und nicht immer wieder darauf hingewiesen werden muss. An der Vorherrschaft oder Überlegenheit einer Institution oder Macht hat sich nichts geändert. Ich möchte aber Neues erfahren, das in mir neue Empfindungen und Gedanken auslöst. Dann gibt es ja gewissermaßen auch Trostpflaster, etwa in Form von Förderstipendien und Kom- positionspreisen speziell für Komponistinnen … Das muss es auch geben. Am Beginn von Erfahrungsprozessen ist das wichtig. Doch wenn sich wirklich etwas verändern soll – und ich hoffe, dass sich etwas einmal strukturell verän- dert, sonst redet man sich den Mund nur über Jahre hinweg fusselig, und jedes Reden hat keinen Sinn, wenn die andere Seite gar nicht reagieren will –, dann sind solche Auszeich- nungen und Förderungen nur eine Alibiaktion. Ich finde, das verändert nicht das System. Und das Wichtige wäre ja, dass sich eine Bewusstseinsbildung auftut, dass sich etwas tat- sächlich zu verändern hat. Denn: wo sind denn wirklich die vielen Komponistinnen, die international auf größeren Podien präsentiert werden? Ich habe den Eindruck, dass in der Generation nach dir ein größerer Anteil an Komponistinnen aktiv ist und in der Öffentlichkeit Bekanntheit erlangt hat. Das ist ja auch gut so. Aber man darf nicht vergessen, dass wir Pionierinnen waren – in vielerlei Hinsicht. Denn Frauen meiner Generation mussten ständig gegen erhebliche Ge- schlechter-Ungleichheit ankämpfen. Es macht mich daher schon etwas traurig: Ich hab wirklich in den dunklen Wald gerufen, und zwar auch in Bezug darauf, dass es Akzeptanz für zeitgenössisches Komponieren an sich geben muss; eine gesellschaftliche Bewusstseins- machung für die Situation der sogenannten ›zeitgenössischen Komponisten‹, um ihnen überhaupt zu einer Stimme zu verhelfen. Aber sich als Komponistin in den frühen 1990ern politisch zu äußern, war – auch bei meinen männlichen Kollegen – völlig unpopulär und wurde als Ablenken von den wahren ›Dingen‹ des Komponierens abgetan. Meine Kollegen waren (und viele sind es immer noch) distanziert und herablassend, gemischt mit Argwohn. Offensichtlich war ich ihnen damals mit meinen Themen und meiner Musik zu ›populär‹ und als Person zu unkonventionell, und das bedeutet, dass man deswegen nicht ernst ge- nommen werden kann. Viele Mitglieder der jüngeren Generation äußern sich dagegen zwar oft politisch, scheinen aber eine ziemliche Oberflächlichkeit an den Tag zu legen, weil sie nur noch bedingtes Interesse an historischen Zusammenhängen haben.

30 Das kann man vielleicht als Gegenreaktion verstehen, aber grundsätzlich bin ich der Mei- nung, dass ich wissen muss, dass ich etwas in Anspruch nehme, weil vorher schon eine Grundlage geschaffen wurde. Das geht auch auf sozialpolitische Kontexte zurück: so sind erst in den 1970er Jahren einige Gesetze geändert worden, denn zuvor hieß es zumindest in Österreich zum Beispiel noch: ›Die Frau ist dem Manne folgepflichtig. Unter Kanzler Bruno Kreisky hat die spätere erste Frauenministerin dies und viele andere Gesetze geändert zugunsten folgender Generationen. Das heißt, da waren Menschen, die haben einen freie- ren Umgang in Leben und Arbeit überhaupt erst möglich gemacht. Wenn jemand dann das ›Glück der späten Geburt‹ hat, weil plötzlich mehr möglich ist – gut für diese Menschen! Nur ich empfinde es als zynisch, wenn man diejenigen, die davor etwas erkämpft haben, wegleuchten will. Um aber wieder zu unserer Musikbranche zurückzukommen: Als Komponistin wird man weiterhin, in versteckterer Weise zwar, diskriminiert. Man bekommt sehr schnell einen schlechten Ruf, wenn nicht so getan wird, wie von diversen Seiten eingefordert wird, wie man sich zu verhalten habe. Aber wer will unbedingt mit einem schlechten Ruf leben? Das ist nicht lustig. Das hat Konsequenzen, wie ich mehrfach erleben konnte. Ich glaube, viele wollen sich das einfach nicht antun. Außer, Kritisch-Sein wird ›in‹, und dann hängt man es sich gerne als Label um … Ein Bad-Boy-Image eignet man sich nur an, wenn man sich dabei nicht schadet. Da sind wir schon wieder bei der Sprache: ›Bad Boy‹, das wäre wieder der ›wilde Kerl‹, dem Respekt entgegen gebracht wird. Doch gibt es überhaupt ein ›Bad-Girl-Image‹? Das gab es eher nur in der Punk-Szene. Daher komme ich. Das hat mich als Fünfzehnjähri- ge interessiert und geprägt. Aber das war ja auch nur am Rande und sozusagen als Subkul- tur erlaubt. Aber je höher man ins sogenannte Elitäre und die Exklusivität kommt, desto patriarchaler und ausgrenzender werden die Strukturen. Ich hatte als Komponistin über viele Jahre hinweg mit Elfriede Jelinek, dieser fantastischen, eigenwilligen Schriftstellerin, zusammengearbeitet, weil ich Zeugnis über die Gegenwart ablegen wollte. Für mich war daher die Verhaltensweise der Intendanten ein absolutes Zei- chen dafür, dass ›bei uns‹ ein normiertes Männersystem herrscht. Dass genau zwei Frauen (wie viel fruchtbare Kollaborationen gab es denn in den 1990ern zwischen einer Kompo- nistin und einer Schriftstellerin?), wovon eine nicht unbekannt und die andere sehr be- rühmt ist, geholt werden und ihnen gönnerhaft gesagt wird: ›Also ihr dürft jetzt zusammen eine Oper machen.‹ Dann schreibt die Schriftstellerin in ihrer Begeisterungsfähigkeit einen tollen, scharfen Text, und dann sagt man selbstgefällig aus der Arroganz der Musikbranche heraus – das ist die eigentliche Anmaßung, nicht die Umkehrung – dass wir die Anma- ßenden sind: ›Die kann keinen Text schreiben.‹ Das habe ich schriftlich. Und drei Monate später erhält diese Schriftstellerin den Nobelpreis für Literatur! Wer würde dagegen einen Komponisten und einen Nobelpreisträger, die man eingeladen hat, wieder ausladen? Man weist vielmehr sogar bei einem meiner Kollegen ständig darauf hin, dass der Librettist ein Nobelpreisträgeranwärter sei, um alles noch aufzuwerten. Ich dagegen arbeite mit einer Literaturnobelpreisträgerin zusammen, und wir werden rausge- schmissen. Das sagt eigentlich alles, da braucht man nichts mehr hinzufügen über den Um-

31 gang mit Frauen in der klassischen Musikszene. Und das war nicht vor 25 Jahren, sondern 2001 hat die ganze Geschichte begonnen und 2005 ihr Ende gefunden. Neben dem, was du hier so ansprichst, spielt meiner Meinung nach auch das äußere Erschei- nungsbild, die Inszenierung von Weiblichkeit eine gewisse Rolle bei der Akzeptanz von Frauen. Viele Leute haben mir gesagt, als sie das Cover des Programmheftes zur Aufführung von Le Encantadas in gesehen haben: ›Ach, du bist auch hübsch!‹ Ha! Es ist ja nicht so, dass ich das nicht sein kann, im Sinne von: muss ich ständig ›mit mir selbst identisch‹ sein? Aber ich finde es absurd, und das wollte ich nie, dass man sozusagen als Frau nur über den Umweg Sex oder der Zuweisung ›she is so cute‹ zu seinem Ziel, beziehungsweise Erfolg kommen soll. Kann man nicht das Werk an sich betrachten? Das war und ist natürlich naiv von mir, das weiß ich. Ich hätte es immer einfacher haben können. Ich habe das Gefühl, dass die Thematik auch in deinen Werken eine Rolle spielt. Beispielsweise wäre der kurze Film Die Schöpfung, den du 2010 mit Elfriede Jelinek zusammen gemacht hast, wohl nicht entstanden, wenn du nicht diese ganzen negativen Erfahrungen gemacht hättest. Ja, aber das ist ein anderes Thema. Es geht mir immer auch um eine ironische Brechung. Im Sinne von Thomas Bernhards Aussage über ›Zwangswitze‹, die man machen müsste, um mit einer aussichtslosen Situation umzugehen: eine Paradoxie aus Absurdität und Melancholie, Verzweiflung und Trotz. Das Sich-Entziehen, das habe ich eigentlich immer versucht in all meinen Stücken, weil ich keine Einordnung in Schubladen möchte. Was wiederum, bei mir zumindest, dazu geführt hat, dass ich nicht kategorisiert werden konnte, und es daher heißt: ›Bei der weiß man nie, was man bekommt‹. Als ob das Unterschiedliche keine Qua- lität hätte. Bei Kollegen wird aber genau das als das Tolle, Gekonnte gehypt. Es gibt kein fixes Konzept der Geschlechter, sondern man kann sich sozusagen performativ immer verändern, und das hat sich für mich auch auf meine Musiksprache selbst ausge- wirkt – ich spiele damit, ich spiele immer mit einer anderen Facette. Diese Differenzierung wirkt sich natürlich auch auf männliche Bühnengestalten aus, zum Bei- spiel in Bählamms Fest auf Jeremy, zeigt sich aber auch in deiner langjährigen Beschäftigung mit Klaus Nomi, der ja selbst auf geradezu ideale Weise diese Performativität verkörpert. Und es verhindert glücklicherweise auch, dass man Stücke wie Bählamms Fest nicht einfach aus femi- nistischer Perspektive interpretieren kann, da die Hauptfiguren – beide Außenseiter innerhalb ihrer Gesellschaft – zu komplex und widersprüchlich sind. Das stimmt, es würde einfach nicht funktionieren und wäre zu eindimensional. Man muss auch der anderen Seite – und da fängt es ja an – genauso eine Existenz zugestehen wie der eigenen. Wenn ich etwas einfordere, muss es für den anderen auch die Möglichkeit geben, etwas einzufordern. Also komplexe Sachverhalte sollten für mehrere Betrachter nachvoll- ziehbar und erkennbar sein, das ist wirklich wichtig. Nur dann muss ich es, zumindest im Musiktheater, wie in einer Versuchsanordnung aufeinanderprallen lassen. Wie bei David Lynch: ›The stage as catastrophe‹. Aber es gab, etwa von der Seite der Kritiker, nie wirk- lich den Versuch, darauf genauer einzugehen. Und dadurch verschwindet die Komponistin

32 auch schon hinter ihren männlichen Kollegen was die Rezeption, besonders von großen Werken, betrifft. Vielleicht noch etwas Positives zum Schluss? Dass es beiden Geschlechtern und Anderen mehr gerecht wird, das finde ich wichtig. Mich interessieren nun mal andere Menschen. Und jede Situation, in der ich beobachte, lerne und auch handeln muss, ist daher für mich ein Beitrag am ›Abenteuer Komponieren‹.

Das Interview erschien zuerst am 9. März 2016 in VAN (van-magazin.de). Mit freundlicher Genehmigung.

Literaturhinweis: Olga Neuwirth „Zwischen den Stühlen“ – A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang – Herausgegeben von Stefan Drees. Mit Texten u. a. von B. Günther, E. Jelinek, M. Nyffeler, R. Schulz, H. Utz, J. N. von der Weid. Inklusive einer CD, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2008, ISBN 978-3-7025-0582-0

33 34 Konzerte und Veranstaltungen 2011–2016

Trio Passionata mit Diana Mykhalevych, Michael Kravtchin und Tatjana Gracheva

35 11. Mai 2011, Lutherkirche Kassel

Klänge aus einer fernen Zeit Byzantinische Hymnen von Kassia (ca. 810–ca. 865)

Christina martys (Die Märtyrerin Christina) Avgoustou monarchisantos (Augustus, der Monarch) I Edessa (Edessa) Doxazomen sou Christe (Wir preisen Christus)

Petron ke Pavlon (Petrus und Paulus) Pelagia (Pelagia) O Phariseos (Die Pharisäer) Yper ton Ellinon (Der heidnischen Bildung)

Tin pentachordon lyran (Die fünfsaitige Lyra) I ton lipsanon sou thiki (Das Grab Deines Leichnams) Isaïou nin tou prophitou (Die Weissagung des Propheten Jesaja) Olvon lipousa patrikon (Den väterlichen Wohlstand zurücklassend) Igapisas theophore (Du entbranntest, Gottesträger)

Ek rizis agathis (Aus guter Wurzel) Tou stavrou sou i dynamis (Die Kraft Deines Kreuzes) I en polles amarties (Die in viele Sünden verstrickte Frau) O Vasilevs tis doxis Christos (Der König der Ehre, Christus) O synapostatis tyrannos (Der abtrünnige Tyrann)

Ensemble VocaMe Sarah M. Newman, Sopran Gerlinde Sämann, Sopran Petra Noskalová, Mezzosopran Sigrid Hausen, Mezzosopran Michael Popp, Leitung und Instrumente

36 Die byzantinische Dichterin und Komponistin Kassia wurde in der Zeit zwischen 805 und 810 in Konstantinopel geboren und entstammte einer adeligen Familie. Der Vater, mit dem hohen militärischen Rang eines „Kandidatos“ am kaiserlichen Hof, ermöglichte seiner Toch- ter die bestmögliche Ausbildung in den Fächern Schreiben, Lesen, Philosophie und christ- licher Theologie. Dies war in damaliger Zeit durchaus ungewöhnlich für eine junge Frau. Der Überlieferung zufolge fand 826 die Brautschau des Kaisers Theophilos statt, hier zählte die schöne und selbstbewusste Kassia zu den adeligen jungen Kandidatinnen. Als Theophilos ihr gegenüber äußerte, dass Frauen in der Welt Grund für viele Übel gewesen seien, wie Eva beweise, entgegnete Kassia, Frauen seien ebenso Grund für viel Gutes gewesen, wie Maria beweise. Mit dieser mutigen Widerrede verscherzte Kassia ihre Chance, Kaiserin zu werden. Theophilos entschied sich mit Theodora für eine der anderen Bewerberinnen. In die Zeit vor 826 fällt Kassias Korrespondenz mit dem Kirchenvater St. Theodor Studites, dem Verteidiger der Ikonenverehrung. Der erbittert geführte Streit über den richtigen Umgang mit Ikonen spaltete ganz Byzanz. Im Bilderstreit während der zweiten ikonoklas- tischen Periode (813–43) kümmerte sich Kassia um Mönche und geflohene Exilanten, die wegen ihrer Ikonenverehrung eingekerkert worden waren. Auch sie selbst wurde verfolgt und mit Peitschenhieben bestraft. Nach 843 gründete Kassia auf dem Xerolophos, dem siebten Hügel am westlichen Rand Konstantinopels, ein Kloster. Dort lebte und wirkte sie als Äbtissin bis zu ihrem Tod. Kassia verfasste geistliche und weltliche Schriften für das Kloster und ihren Freundeskreis, die in Form von 261 Epigrammen überliefert sind. Sie komponierte Troparien (kurze Gesänge als Bestandteil der byzantinischen Liturgie) zu verschiedenen Heiligenfesten. Von den circa 50 Hymnen, die Kassia zugeschrieben werden, sind 33 erhalten. Diese sind teilweise heute noch in der griechisch-orthodoxen Liturgie im Gebrauch. Kassia gilt als die früheste Komponistin des Abendlandes. Sie starb um 865.

Übersetzungen der Texte Christina martys (Die Märtyrerin Christina) Mit dem Kreuz als mächtiger Waffe in den Händen, Märtyrerin Christina, den Glauben als Panzer, die Hoffnung als Schild, die Liebe als Bogen, überwandest Du mannhaft die Peini- gung durch die Tyrannen. Die dämonischen Ränke beendetest Du. Von Gott beseelt, mit abgeschlagenem Haupte tanzt Du für Christus, unaufhörlich eintretend für unsere Seelen.

Avgoustou monarchisantos (Augustus, der Monarch) Als Augustus Monarch wurde auf Erden, endete die Vorherrschaft der Menschen, und als Du Mensch wurdest durch die Unberührte, wurde die Vielgötterei der Götzen beseitigt. Unter eine weltliche Herrschaft gelangten die Städte, und an die Allmacht einer Gottheit begannen die Völker zu glauben. Eingetragen wurden die Menschen durch Cäsars Erlass, es schrieben wir Gläubigen uns ein in den Namen der Gottheit unseres menschgewordenen Gottes. Groß ist Dein Erbarmen, Herr, Ehre sei Dir!

37 I Edessa (Edessa) Edessa frohlockt, da es bereichert wurde durch das Grab der Heiligen Gurias, Samonas und Abibos. Und die christusliebende Menge versammelnd, ruft es: «Auf, ihr Freunde der Märtyrer, glänzet in freudigem Gedenken! Auf, ihr Freunde des Festes, erstrahlet! Sehet die himmlischen Lichter wandelnd auf Erden! Kommet und höret welch bitteren Tod die edlen Diamanten erlitten für das ewige Leben!» Denn als der Wahrheit Gewährsmänner retteten sie das lebendig ins Grab geworfene Mädchen, und dem Frevler, der sie abgewiesen hatte, bereiteten sie den Untergang als erbarmungslosem Mörder, und inständig bitten sie die aller- heilige Dreifaltigkeit, die zu retten aus Verderben und Versuchung und aus jederlei Gefahr, die fromm ihre Gedenkfeier begehen.

Doxazomen sou Christe (Wir preisen, Christus) Wir preisen, Christus, Dein großes Erbarmen und die Güte, die uns zuteil wurde, da auch Frauen des Götzenwahns Irrglauben beseitigten kraft Deines Kreuzes, Barmherziger. Vor dem Tyrannen erschreckten sie nicht, den Betrüger zerschmetterten sie, es gelang ihnen, Dir zu folgen, sie folgten dem Duft Deiner Myrrhe und setzten sich für unsere Seelen ein.

Petron ke Pavlon (Petrus und Paulus) Die großen Leuchten der Kirche, Petrus und Paulus, lasset uns preisen! Denn heller als die Sonne erstrahlten sie in der Stärke des Glaubens und führten die Heiden durch die Strahlen der Verkündigung aus der Unwissenheit zum Licht. Der eine nahm, genagelt ans Kreuz, den Weg gen Himmel, wo ihm von Christus die Schlüssel des Königreichs anvertraut wurden. Der andere trat, enthauptet durchs Schwert, die Reise zum Erlöser an und wird gebührend seliggepriesen. Beide klagen das Volk Israel an, da es gegen den Herrn selbst die Hände unrechtmäßig ausstreckte. So wirf Christus, unser Gott, mit ihren Gebeten unsere Gegner nieder, und stärke als Menschenfreund den rechten Glauben.

Pelagia (Pelagia) Wo die Sünde mächtiger wurde, war Gnade im Überfluss vorhanden, wie der Apostel lehrt [Römer 5, 20]. Denn durch Gebete und Tränen trocknetest Du, Pelagia, das Meer der vielen Verfehlungen und führtest durch Reue ein gottgefälliges Ende herbei. Und nun setzt Du Dich bei ihm für unsere Seelen ein.

O Phariseos (Die Pharisäer) Du verurteiltest, Herr, den Pharisäer, der sich durch seiner Taten Prahlerei rechtfertigte, und verschafftest Recht dem Zöllner, der maßhielt und unter Seufzern um Sühne bat. Denn überhebliche Gesinnung billigst Du nicht und gebrochene Herzen verachtest Du nicht. So werfen auch wir uns in Bescheidenheit Dir zu Füßen, der Du um unseretwillen gelitten hast. Gewähre Erlösung und Dein großes Erbarmen!

Yper ton Ellinon (Der heidnischen Bildung) Der heidnischen Bildung zogen die heiligen Märtyrer die Weisheit der Apostel vor, indem sie von den Büchern der Rhetoren abließen und sich mit jenen der Fischer auszeichneten. Denn

38 dort erlernten sie der Worte Beredsamkeit, in den göttlichen Sprüchen der Ungebildeten jedoch die göttliche Erkenntnis der Dreifaltigkeit, mit Hilfe derer sie dafür eintreten, dass unsere Seelen in Frieden bewahrt werden.

Tin pentachordon lyran (Die fünfsaitige Lyra) Die fünfsaitige Lyra und den fünfarmigen Leuchter der Kirche Gottes, die gotttragenden Märtyrer lasset uns ehren entsprechend ihren Namen, und sie gottesfürchtig preisen! Sei gegrüßt, der Du von Gott für das himmlische Heer zu Recht rekrutiert wurdest und dem Kriegsherrn gefielst, Du Rhetor unter den Rhetoren, gottweiser Eustratios [«der gute Sol- dat»]! Sei gegrüßt, der Du das von Gott anvertraute Talent erheblich vermehrtest, seliger Auxentios [«der Vermehrer»]! Sei gegrüßt, Du lieblichster Spross des göttlichen Adels, gott- gesinnter Eugenios [«der Wohlgeborene»]! Sei gegrüßt, Du Schöner von Gestalt, im Sinne hell Strahlender und in beidem Herausragender, der Du vollkommen auf göttlichen Bergen weilst, gesegneter Orestes [Anklang an die griechischen Wörter für «schön» und «Berg»]! Sei gegrüßt, Du glänzende und reine Perle, der Du den bitteren Qualen freudig standhieltest, unbesiegter Mardarios [Anklang an das griechische Wort für «Perle»]! Sei gegrüßt, Du Rei- gen gleich an der Zahl den klugen Jungfrauen [Matth. 25, 1–13]! Diese lasset uns anflehen, zu erlösen von jeglichem Zorn und Kummer und an ihrem unsagbaren Ruhm teilhaben zu lassen all die, die ihr jährliches Andenken ehren.

I ton lipsanon sou thiki (Das Grab Deines Leichnams) Das Grab Deines Leichnams, glorreicher Vater, spendet Heilung. Deine heilige Seele, bei den Engeln weilend, freut sich zu Recht. Durch Deine – Du Seliger – Vertrautheit mit Gott, mit den Körperlosen im himmlischen Reigen, flehe ihn an, unsere Seelen zu retten.

Isaïou nin tou prophitou (Die Weissagung des Propheten Jesaja) Die Weissagung des Propheten Jesaja erfüllt sich heute in der Geburt dessen, der alle Prophe- ten übertrifft: Johannes. Denn «siehe», spricht er, «ich werde meinen Boten vor Dir hersen- den, der Deinen Weg Dir bereiten soll.» [Ex. 23, 20; Mal. 3, 1; Matth. 11, 10] Dieser Soldat des himmlischen Königs, der Natur nach ein Mensch, im Leben ein Engel, ebnete wahrhaftig als Vorläufer die Pfade unseres Gottes. Voll Reinheit und Keuschheit hielt er sich an das, was sich ziemt, floh alles Widernatürliche und kämpfte mit übermenschlicher Kraft. So lasset uns Gläubige alle ihm und seinen Tugenden nachfolgen und ihn anflehen, sich für die Rettung unserer Seelen einzusetzen!

Olvon lipousa patrikon (Den väterlichen Wohlstand zurücklassend) Den väterlichen Wohlstand zurücklassend, Christus wahrhaftig im Herzen, erlangte die Märtyrerin himmlischen Ruhm und Reichtum und mit dem Panzer der Gnade gerüstet, das Kreuz als Waffe in den Händen, zerschmetterte sie den Tyrannen, sodass die Engel, ihre Kämpfe bewundernd, riefen: «Der Feind ist gefallen, von einem Weibe besiegt! Die Märty- rerin erhielt einen Kranz, und Christus herrscht in Ewigkeit als Gott, der großes Erbarmen der Welt spendet.»

39 Igapisas theophore (Du entbranntest, Gottesträger) Du entbranntest, Gottesträger, in Liebe zur höchsten Philosophie und entstiegest dieser Welt, jenseits des Sichtbaren lebend, erwiest Dich als makellos göttlicher Spiegel Gottes, und immerfort mit dem Lichte verbunden, empfingst Du das Licht und erlangtest klarer im Geiste das selige Ende. Weiser Symeon, verwende Dich für unsere Seelen!

Ek rizis agathis (Aus guter Wurzel) Aus guter Wurzel ging gute Frucht hervor. Der von Kindesbeinen an heilige Symeon, durch Gnade mehr als durch Milch genährt, auf einem Fels den Körper erhoben, seinen Geist zu Gott hin erhöht, baute sich in seiner Tugend ein himmlisches Heim, und mit den göttlichen Mächten in der Höhe wandelnd, wurde er zu Christi Wohnung und zum Retter unserer Seelen.

Tou stavrou sou i dynamis (Die Kraft Deines Kreuzes) Er hat Wunder vollbracht, Christus, durch die Kraft seines Kreuzes, da auch die Märtyrerin Christina einen schweren Kampf auszufechten hatte. So legtest Du ab die Schwäche des Fleisches und trotztest tapfer den Tyrannen, weshalb Du den Preis als Siegerin erhieltest und Dich für unsere Seelen verwendet hast.

I en polles amarties (Die in viele Sünden verstrickte Frau) Herr, die in viele Sünden verstrickte Frau, die, Deine Göttlichkeit gewahrend, das Amt der Myrrhe-Überbringerin annahm, bringt unter Klagen Dir Myrrhe dar vor der Bestattung und spricht: «Weh mir, da Nacht mich umfängt, der Lüsternheit Wahn, düsteres, mondloses Verlangen nach Sünde! Empfange meiner Tränen Ströme, der Du durch Wolken des Meeres Wasser vergießt. Neige Dich zu mir, zu meines Herzens Seufzern, der Du die Himmel wölb- test, Dich unsagbar erniedrigend. Deine reinen Füße werde ich küssen und sie wieder durch mein Haupthaar reinigen; die Füße, deren Tritte im Paradies am Nachmittage hörend, Eva sich aus Furcht verbarg [Gen. 2, 8]. Die Fülle meiner Sünden und die Tiefe Deiner Urteilsfin- dungen, wer wird sie ergründen, Seelenretter, Du mein Erlöser? Übersiehe nicht mich, Deine Magd, der Du unendlich großes Erbarmen hast.»

O Vasilevs tis doxis Christos (Der König der Ehre, Christus) Von Deiner jungfräulichen Schönheit betört, verband sich der König der Ehre, Christus, mit Dir, der untadeligen Jungfrau, in unberührter Vereinigung. Denn durch seinen Willen Kraft Deiner Schönheit gewährend, machte er Dich unbesiegbar gegenüber Feinden und Leiden. Da Du schlimmen Misshandlungen und heftiger Pein standhieltest, krönte er Dich zweifach mit zweifachem Kranz und setzte Dich zu seiner Rechten als geschmückte Königin. So flehe ihn an, jungfräuliche Märtyrerin, die Du den Namen Christi trägst, dass Deinen Bewunde- rern zuteil werde Rettung, Leben und großes Erbarmen.

O synapostatis tyrannos (Der mitabtrünnige Tyrann) Indem sich der Feind als Werkzeug bediente des mitabtrünnigen Tyrannen durch bösen Einfall, versuchte er, das fromme Volk, das sich durch Fasten reinigte, mit aus unreinen

40 Opfern gewonnenen Speisen zu verunreinigen. Du aber löstest seine List durch einen wei- seren Einfall, indem Du dem damaligen Bischof im Traume erschienst und die Tiefe der Absicht enthülltest und auf die Bosheit des Unterfangens verwiesest. Das Dankopfer Dir reichend, ernennen wir Dich also zum Retter, jährlich erinnernd an das Geschehen und bittend, künftig von des Bösen Einfällen verschont zu bleiben durch Deine Vermittlung bei Gott, Großmärtyrer Theodoros.

41 17. Oktober 2011, Lutherkirche Kassel

Entdeckt und aufgeführt Konzert und Buchpräsentation

Ursula Mamlok Wolkenfelder (1965 / ren. 2004) 1923–2016 für Viola und Harfe I. Vibrant II. Tranquil III. Agitato, presto possibile IV. Still, as if suspended

Ursula Mamlok Variationen (1961) für Flöte

Christel Nies entdeckt und aufgeführt die vierte Buchdokumentation

Lillian Fuchs Sonata Pastorale (1956) 1901–1995 für Viola I. Fantasia (Maestoso – Allegro) II. Pastorale (Andante semplice – Allegro energico)

Betsy Jolas Episode 1 (1964) *1926 für Flöte

Sofia Gubaidulina Garten von Freuden und Traurigkeiten *1931 für Flöte, Viola und Harfe (1980)

Ullrich Pühn, Flöte Joachim Schwarz, Viola Louise Pühn, Harfe

Von links: Joachim Schwarz, Louise Pühn, Christel Nies, Ullrich Pühn

42 Ursula Mamlok Wolkenfelder Das Werk für Viola und Harfe mit dem ursprünglichen Titel music for viola and harp ent- stand 1965 im Auftrag des New Yorker Duos Jakob Glick & Susan Jolles. 2004 überarbeitete Ursula Mamlok das Werk, und es entstand eine neue, erweiterte Fassung mit vier kurzen Sätzen. Diese Komposition in farbiger, kontrastreicher Stimmung erhielt den neuen Titel „Wolkenfelder“.

Ursula Mamlok Variationen für Flöte Bei dieser Komposition handelt es sich um das erste zwölftönige Werk der Komponistin. Die Struktur ist ein Palindrom, eine Zeichenkette, die von vorn und von hinten gelesen gleich bleibt. Das Thema, welches mit der Note Cis beginnt, ist von der Mitte an rückläufig und endet wieder auf Cis. Hierauf folgt, mit dem Ton D beginnend, unmittelbar die erste Variation. Dies könnte wie ein tonales Ende des Themas wahrgenommen werden. Die auf D folgenden Töne sind dann die gleichen wie die des Themas, hier aber mit verändertem Tempo und Rhythmus. Das gleiche Prinzip setzt sich fort bis zur vierten Variation, in wel- cher sich dann das Thema verändert. Die Variationen mit einem ständigen Wechsel in den Zwölftonreihen und Tempi steuern ohne Unterbrechung auf die zwölfte Variation zu. Hier erscheint nun das Thema in der Umkehrung.

Betsy Jolas Episode 1 für Flöte Die Komposition entstand 1964 in der Zeit zwischen der Arbeit an den umfangreichen Werken Mots und Quatuor II und eröffnete bei Betsy Jolas eine kurze Phase für Instru- mentalmusik während einer Periode, die schwerpunktmäßig dem vokalen Experiment ge- widmet war. Dem Werk liegt die Idee einer dreistimmigen Polyphonie zugrunde, ganz im Geiste einiger Solowerke von J. S. Bach. Das Konzept der dreistimmigen Polyphonie wird durchgeführt mittels einer Gruppe von fünf Elementen, die sich konstant von einer vagen zu einer präzisen Defi- nition bewegen. Betsy Jolas widmete das Werk dem be- rühmten Flötisten Severino Gazzeloni.

Lillian Fuchs Sonata Pastorale für Viola Die Komposition, 1956 entstanden und im gleichen Jahr auch uraufgeführt, ist das einzige Werk, welches Lillian Fuchs eigens zum Konzertgebrauch komponierte. Es handelt sich um ein interessantes Gegenstück zu ih- ren drei Etüdensammlungen (12 Caprices for Viola, 15 Characteristic Studies for Viola, 16 Fantasy Etudes). Im spätromantischen Stil komponiert, bildet die zweisätzige Sonate einen gewichtigen Bestandteil im Repertoire für Solobratsche und kann als Alternative zu den drei Solo-

43 suiten von angesehen werden. Der zweite Satz „Pastorale“ beginnt mit einem lyrischen Andante und führt in ein rasantes, virtuoses Allegro energico. In der Coda mischt die Komponistin alle Themen. Nach Reminiszenzen an die beiden Satzanfänge endet das Werk erneut in einem rasanten Allegro.

Sofia Gubaidulina Garten von Freuden und Traurigkeiten Das 1980 entstandene einsätzige Werk für Flöte, Viola und Harfe (Specher ad lib.) zeich- net sich aus durch ein subtiles Klangkolorit, das an die Musik des Orients erinnert, nicht zuletzt durch die vorwiegend in hohen Lagen spielenden Instrumente. Anklänge an orien- talische Musik entstehen auch durch die schwankenden Glissandoklänge wie beispielsweise am Anfang des Werkes mit einem langen Glissando auf der Harfe, das mit dem Stimm- schlüssel ausgeführt wird. Auch die melismatische, an verschiedene Arten des Trillers an- knüpfende Melodik und schließlich auch der Titel des Werkes erinnern an die Musik des Orients. In der flexiblen Konfrontation von temperierter Stimmung als künstlich geschaf- fener Ordnung und der Obertonreihe als „Naturzustand“ von Musik besitzt das Trio mit seiner Klangsymbolik zugleich einen philosophischen Hintergrund, vor dem das Verhältnis Subjekt – Objekt thematisiert wird. Das Werk entstand unter dem Einfluss zweier gegen- sätzlicher literarischer Werke, dem Buch Sayat-Nova von Iv Oganov über einen berühmten orientalischen Erzähler und Sänger und den Dichtungen des Francisco Tanzer. Folgende Textpassage aus dessen Tagebuch, die ad libitum zum Werk gesprochen werden kann, legte die Komponistin dem Trio zugrunde: Wann ist es wirklich aus? Bis dahin…, Was ist das wahre Ende? hier ist die Grenze Alle Grenzen sind Alles das ist künstlich wie mit einem Stück Holz Morgen spielen wir oder einem Schuhabsatz Ein anderes Spiel in die Erde gezogen. (Aus: Francisco Tanzer: „Stimmen. Tagebuch, Novellen, Gedichte“, Verlag E. Hermansen, Köln) entdeckt und aufgeführt Dokumentation IV der Jahre 2003–2010; Hrsg. Christel Nies, Kassel 2010 Der vierte Band der „anderen Konzertreihe“ Komponistinnen und ihr Werk doku- mentiert für die Jahre zwischen 2003 und 2010 über 50 Konzerte mit Werkbe- schreibungen, reichem Bildmaterial und den Biografien von 121 Komponistinnen. Neun zeitgenössische Komponistinnen äußern ihre Gedanken zum Thema Komponieren und geben Auskunft über ihre Arbeit. Bettina Brand schreibt über das bewegte Leben der Komponistin Ursula Mamlok und Marcus Schwarz berichtet von den Ragtime-Kompo- nistinnen in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Musikszene der Län- der Rumänien und Tschechien wird im Rahmen des Projektes Komponistinnen und ihr

44 Werk – Spurensuche in Europa umfassend dargestellt unter dem Blickwinkel weiblichen Musikschaffens. Renommierte Autorinnen und Autoren schreiben über das Musikleben und Komponistinnen in Rumänien, über das Liedschaffen von Vitězslava Kaprálová und über Neue Musik in Rumänien und in Tschechien.

45 18. November 2011, Lutherkirche Kassel

In Memoriam

Franz Schubert Streichquartett d-Moll (D 810), 1797–1828 „Der Tod und das Mädchen“ (1824) Allegro Andante con moto Scherzo: Allegro molto Presto

Adriana Hölszky „Hängebrücken – *1953 Streichquartett an Schubert“ (1989/90)

Franz Schubert Quartettsatz c-Moll (D 703) und Fragment des 2. Satzes (1820) Allegro assai Andante

Sarah Nemtsov Streichquartett „Im Andenken“ (2007) *1980

NOMOS-QUARTETT Martin Dehning, Violine Florentine Lenz, Violine Friederike Koch, Viola Sabine Pfeiffer, Violoncello

46 Franz Schuberts Musik war und ist ein vielfältiger Bezugspunkt für die Musik unserer Zeit. Adriana Hölszky reflektiert in ihrem Werk „Hängebrücken – Streichquartett an Schubert“ vor allem die Abwesenheit der Schubert‘schen Musik, welche jedoch kaum wahrnehmbar in verschiedenen musikalischen Gesten aufscheint. Sarah Nemtsov bezieht sich direkt auf Schubert, indem sie ihr Werk mit einem Zitat aus dem Fragment des zweiten Satzes zum „Quartettsatz c-Moll“ beginnt, um von dort aus in ihre eigene Musiksprache überzuleiten – und am Ende zurückzufinden zu einem bewegenden Abgesang.

Adriana Hölszky Hängebrücken – Streichquartett an Schubert „Um gerade das Lebendige, das Widersprüchliche und das Zerbrechliche zu erfassen, muss man sich von den festen Fundamenten lösen“ sagt Adriana Hölszky. Und so schweben ihre „Hängebrücken“ – wie Patchwork gefügte, pulsierend vibrierende Klangfelder – in filigranen imagi- nären Räumen, nur in Mustern und Gesten auf Vergan- genes, auf Schubert und Paganini verweisend. Literarischer Bezugspunkt der „Hängebrücken“ ist Italo Calvinos Roman „Die unsichtbaren Städte“. Hierin lässt der Autor den Reisenden Marco Polo sagen: „Sind die Bilder des Gedächtnisses erst einmal mit Worten festgelegt, verlöschen sie. Vielleicht fürch- te ich mich davor, das ganze Venedig auf einmal zu verlieren, wenn ich von ihm spreche...“ Auf ähnliche Weise gibt Adriana Hölszky in ihrem Streichquartettzyklus ihrer Schubert- Verehrung Ausdruck: Eine Hommage durch Nichtnennung oder nicht erkennbare musi- kalische Zitate des großen Komponisten. Hölszkys „unsichtbare Städte“ sind Fragmente aus Schuberts Streichquartetten, die sie auf verschiedenen strukturellen Ebenen so stark verfremdet, dass nur deren Essenz – vom Hörer so gut wie nicht wahrnehmbar – sche- menhaft übrigbleibt. Die Komponistin sagt: „Das, was die Städte mit ihren unterschied- lichen Namen in Italo Calvinos Buch sind, das sind für mich die Schubert-Felder in diesen Streichquartetten [...] es ist, als ob die Zitate in schmutzigem Wasser schwimmen würden.“ Die Schubert-Felder in Hölszkys Streichquartett sind Strukturfelder von großer Verdich- tung und pulsierender und vibrierender Klangenergie: Die in die Vertikale gebrachte „un- endliche“ Schubert’sche (horizontale) Zeit. Solche Schubert-Felder sind oftmals gekenn- zeichnet durch eine ganz bestimmte Spieltechnik. Hölszky verwendet in diesem Werk die ausgefallensten Möglichkeiten der Klangerzeugung und erreicht so eine außergewöhnliche klangliche Farbpalette von immenser Spannbreite. Die beiden Sätze des Streichquartetts sind trotz ähnlicher Strukturierung einzelner Klangflächen im Klangcharakter, in der Art der Verzahnung der Felder und deren Verfremdungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich. Adriana Hölszkys „Hängebrücken – Streichquartett an Schubert“ entstand 1989/90 im Auftrag des WDR für das Rheinische Musikfest in Aachen (UA durch das Nomos- Quartett). Die Komponistin bezieht sich in diesem Werk sowohl auf die Musik Franz Schuberts, die kaum wahrnehmbar in verschiedenen musikalischen Gesten aufscheint

47 (Untertitel: »Streichquartett an Schubert«), wie auch auf die Capricen für Violine solo von Niccolo Paganini. So entsteht eine komplexe, vielschichtige und dabei frische, lebendige und virtuose Musik. Eine weitere Uraufführung gab es 1991 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik in einer Fassung für Doppelquartett durch das Nomos- und das Pellegrini-Quartett. Die- ses Werk besteht aus zwei übereinander geschichteten Streichquartetten: Hängebrücken I und II, die sowohl einzeln als auch gleichzeitig in der Fassung für Doppelquartett gespielt werden können.

Sarah Nemtsov Streichquartett „Im Andenken“ Die Komponistin schreibt: Mein Streichquartett „Im Andenken“ setzt sich mit der Musik Schuberts und speziell mit dem Fragment des 2. Satzes aus seinem Streichquartett c-Moll, sowie mit dem Fragment- Begriff generell auseinander. Bereits 2002 habe ich mich kompositorisch mit einem Frag- ment Schuberts beschäftigt, mit dem Lied „Johanna Sebus“. Damals entschied ich mich für einen radikalen Bruch zwischen den musikalischen Sprachen - was an der „Schnittstelle“ mit gesprochenen statt gesungenen Worten verdeutlicht wurde. Mit dem Werk „Im Anden- ken“ ging ich einen anderen Weg. Zum einen wollte ich einen möglichst fließenden Über- gang zwischen den verschiedenen musikalischen Sphären schaffen - es gibt einen Teil, der gewissermaßen als „Brücke“ fungiert - zum anderen habe ich mich in meiner Musik (wenn auch nicht immer offensichtlich) fast durchgängig auf Schubert bezogen. Voraussetzung dafür war u. a. die intensive Beschäftigung - sowohl analytisch wie auch sinnlich – mit seinen Kompositionen. Insbesondere seine Kammermusik studierte ich genau. Die Bezug- nahme bestand dann etwa darin, dass ich Schuberts allgemeine kompositorische Prinzipien sowie die in dem Fragment angelegten Elemente abstrahierte, um sie als Bausteine für mein eigenes Komponieren zu verwenden. Ab der Stelle innerhalb meines Quartetts, an der ich sozusagen „bei mir angekommen“ war, ließ ich untergründig eine von Schubert verwen- dete Form laufen: Die nachfolgende Entwicklung stützt sich auf den formalen Aufbau des Durchführungsteils, bzw. B–Teils – bis hin zur Reprise – aus dem „Andante un poco con moto“ (2. Satz) des Streichquartetts G–Dur D 887. Auf diese subkutane Form verweise ich strukturell, mitunter inhaltlich, stärker oder schwächer. Die Musik begegnet diesem Leitfaden, reagiert auf ihn, konterkariert ihn, kann ihn in Auszügen zitieren und ebenso ignorieren. Generell geht es auch um die Thematisierung von Nähe und Ferne. Die Musik Schuberts erscheint uns heute als das Vertraute, wenngleich sie mit ihrem historischen Kon- text weit entfernt von uns sein müsste, und vielmehr das Zeitgenössische, das Aktuelle, Nähe aufweisen sollte. (Gleichzeitig werden bekanntlich die Meister ob der „Zeitlosigkeit“ ihrer Werke als solche gerufen.) Zuletzt erklingt daher der Beginn des Schubert‘schen Frag- ments „con sordino“ und fast doppelt so langsam gespielt – der Zeit entrückt, wie von Ferne. Insgesamt enthält meine Musik eher subjektive Reminiszenzen (im heutigen Duktus) an Schubert als eine Komplettierung des Fragmentes des 2. Satzes, was ich angesichts eines derartigen Komponisten ohnehin als Anmaßung empfinden würde. Bei näherer Betrach-

48 tung mutet es jedoch absurd an, ein „Bruch-Stück“ selbst komponieren (zusammensetzen) zu wollen, obwohl gerade im 20. Jahrhundert das „Fragment“ gern als Titel, gar als Gattung verwendet wurde. So schafft auch meine Arbeit – ob sie will oder nicht – Zusammenhang, auch wenn ich in ihr immer wieder das „Fehlen an sich“ thematisiere. Als Konsequenz habe ich das als Ausgangsbasis dienende Notenmaterial wiederum fragmentiert. Das Stück be- ginnt mit der zweiten Wiederholung und der Fortspinnung des Themas. Der Satz-Anfang erscheint (wie erwähnt) zuletzt, acht Takte fehlen. Meine Komposition endet in einem Violin-Solo, so wie auch das ursprüngliche Fragment Schuberts aufgehört hatte. Der Titel des Quartetts kann mehrfach gedeutet werden: Im Andenken einer musikalischen Sprache, im Andenken Franz Schuberts, aber auch im Andenken an eine teure Freundin, eine Musikwissenschaftlerin. Sie hatte mir noch mehrere Bücher zu Schubert für meine Arbeit gegeben, bevor sie nach schwerer Krankheit im Februar dieses Jahres starb. Ihr habe ich das Stück gewidmet.

49 27. April 2012, Lutherkirche Kassel

Kammerkonzert

Clara Schumann Klaviertrio g-Moll op. 17 (1846) 1819–1896 Allegro moderato Scherzo: Tempo di Menuetto Andante Allegretto

Ethel Smyth Trio für Klavier, Violine, Violoncello d-Moll (1880) 1858–1944 Allegro non troppo Andante Scherzo: Presto con brio Allegro vivace

Lera Auerbach Trio Nr. 1 für Violine, Violoncello und Klavier *1973 (1992/1996) Prélude, misterioso, Allegro moderato Andante lamentoso Presto, molto marcato e scuro

Fanny Hensel Klaviertrio d-Moll op. 11 (1846/47) 1805–1847 Allegro molto vivace Andante espressivo Lied – Allegretto Finale: Allegro moderato

Enos Trio Karl Heinz Schultz, Violine Julia Okruashvili, Klavier Daniel Geiss, Violoncello

50 Clara Schumann Klaviertrio g-Moll op. 17 Mit der Komposition des Klaviertrios begann Clara Schumann im Sommer 1846, einige Monate nach der Geburt ihres vierten Kindes, und beendete sie am 12. September des gleichen Jahres, dem 7. Hochzeitstag des Paares. Das viersätzige Werk, welches 1847 im Druck erschien, beginnt mit einem Allegro moderato in der So- natenhauptsatzform. Es folgen ein tänzerisches Scherzo (Tempo di Menuetto) mit Trioteil und ein liedhaftes, melancholisches Andante. Der letzte Satz, ein Allegretto, beginnt mit einem gesanglichen Thema. Hier verwendet Clara Schumann wiederum die Sonatenhauptsatzform und fügt in die Durchführung ein Fugato ein. Über dieses Fugato schrieb der Violinvirtuose Josef Joachim: „[…] dass ich es nicht glauben wollte, eine Frau könne so etwas komponieren, so ernst und tüchtig“. Das Trio zählte im 19. Jahrhundert zu den am häufigsten gespielten Werken von Clara Schumann. Johannes Brahms ließ es 1854 auch in Hamburg aufführen.

Ethel Smyth Trio für Klavier, Violine und Violoncello d-Moll Ethel Smyth komponierte das Trio 1880 im Alter von 22 Jahren. Vermutlich wurde es zu ihrer Zeit erstmals in privatem Rahmen aufgeführt; die öffentliche Uraufführung fand erst 1985, nach über 100 Jahren, in den USA statt. Unüberhörbar ist in diesem Werk trotz aller Eigenständigkeit der jungen Komponistin der Einfluss von Brahms. Tschaikowsky kommen- tierte 1887: „[...] für Ethel Smyth stand Brahms auf dem höchsten Gipfel aller Musik.“ Dem ersten Satz, einem lyrisch-dramatischen Allegro mit einem wehmütig anmutenden The- ma, folgt ein Variationensatz. Als Anmerkung zu diesem zweiten Satz schrieb Ethel Smyth, der deutschen Sprache noch nicht ganz mächtig: „Der Mutte der Emfachkeit?!“ (Der Mut zur Einfachheit). Der dritte Satz „Presto con brio“ ist ein Scherzo mit spanischem Kolorit. Smyth strukturierte die Phrasen hier fünftaktig und nicht viertaktig, wie sonst allgemein üb- lich. Gruppierte sie im ersten Teil die Phrase in 3 + 2 Takte, so findet sich im kontrastierenden zweiten Teil, einem Trio, die höchst ungewöhnliche Gruppierung der fünf Takte in 4 + 1. Der letzte Satz ist ein leidenschaftlich stürmisches Allegro vivace im punktierten Rhythmus, dem die Komponistin eine optionale langsame Einleitung hinzufügte.

Lera Auerbach Trio Nr. 1 für Violine, Violoncello und Klavier Die Komponistin schreibt über ihr erstes Klaviertrio: Im Jahre 1991, sechs Monate vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, entschloss ich mich mit 17 Jahren während einer Gastspielreise durch Amerika, im Westen zu bleiben. Das darauffolgende Jahr, in dem die ersten beiden Sätze dieses Trios entstanden, war vielleicht das schwierigste in meinem Leben. Ich war ganz auf mich allein gestellt und wusste nicht, ob ich jemals meine Familie wiedersehen würde. Viele meiner Werke aus jener Zeit – wie dieses Kla-

51 viertrio – wurden erst Jahre später vollendet. So schrieb ich den letzten Triosatz (Presto) erst 1996, also vier Jahre nach den beiden ersten. Der erste Satz (Prélude) ist mit misterioso bezeichnet. Die melodische Linie ist kantig, der Rhythmus gleichmäßig, immer wieder von Akzenten und Synkopen unterbro- chen, und der musikalische Satz im Wesentlichen poly- phon. Das darauffolgende Andante ist das emotionale Zentrum des Werkes. Es ist ein lyrischer und gleichzei- tig tragischer Dialog zwischen Violine und Violoncello, grundiert vom harmonischen Pedal des Klaviers. Die gesamte Struktur dieses Trios ist wie ein großes Crescendo, in Richtung auf das Ende hin angelegt. Crescendo ist hier nicht im dynamischen Sinn zu verstehen, sondern eher wie eine Schwerkraftbildung des Materials: So ist der erste Satz ein kurzes Scherzo, der zweite ein emotional aufgeladenes Andante und der dritte (Presto) eine Toccata, die an ihrem Höhepunkt ins parallele C-Dur moduliert. Dieser letzte Satz erfordert von allen Spielern große Virtuosität. Das Tonmaterial hat über weite Strecken eine obsessive Qualität, während der mittlere Abschnitt im Gegensatz dazu toten- still wirkt. Die Hauptthemen des ersten und des zweiten Satzes sind in die Toccata eingear- beitet. Im Höhepunkt des dritten Satzes vereinigen sich alle wesentlichen Themen des Trios. (deutsche Übersetzung von Ulrich Duffek)

Fanny Hensel Klaviertrio d-Moll op. 11 Fanny Hensel begann mit der Arbeit an ihrem Klaviertrio am Ende des Jahres 1846. Im März 1847 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ich bin mit einem Trio beschäftigt, das mir sehr zu schaffen macht!“ Am 11. April 1847 wurde das Werk in einer der “Sonntagsmusiken” im Hause Mendelssohn in Berlin aufgeführt. Fanny übernahm dabei selbst den Klavierpart und berichtete über die Aufführung: Es hat allgemein angesprochen! Die Komponistin starb nur wenige Wochen später, am 14. Mai 1847. Dem stürmischen ersten Satz „Allegro - molto vivace“ folgt als zweiter Satz ein besinn- liches Andante espressivo, dem sich ein kurzer gesanglicher dritter Satz „Lied: Allegretto“ anschließt. Statt der sonst allgemein üblichen Bezeichnung „Scherzo“ verwendet Fanny hier bewusst den Titel „Lied“. Der vierte Satz „Finale - Allegretto moderato“ bildet den leiden- schaftlichen, virtuosen Abschluss. Fanny Hensel schrieb im Zusammenhang mit ihrem Trio an Felix: Ich habe nachgedacht, wie ich, eigentlich gar nicht exzentrische oder hypersentimentale Person zu der weichlichen Schreibart komme? Ich glaube, es kommt daher, dass wir grade mit Beethovens letzter Zeit jung waren, u. dessen Art u. Weise wir billig, sehr in uns aufgenommen haben. Sie ist doch gar zu rührend u. eindringlich. Du hast Dich durchgelebt u. durchgeschrieben, u. ich bin drin stecken geblieben, aber ohne die Kraft, durch die die Weichheit allein bestehen kann u. soll. Daher glaub ich auch, hast Du den rechten Punkt über mich getroffen oder ausgesprochen. Es ist nicht sowohl die Schreibart an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip, u. diesem Mangel zu-

52 folge sterben meine längern Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche, es fehlt mir die Kraft, die Gedanken gehörig festzuhalten, ihnen die nöthige Consistenz zu geben. Daher gelingen mir am besten Lieder, wozu nur allenfalls ein hübscher Einfall ohne viel Kraft der Durchführung gehört. Fannys bescheiden-kritisches Urteil über sich selbst im Zusammenhang mit dem Klavier- trio kann man als Hörer von heute keinesfalls bestätigen. Vielmehr überzeugen gerade auch in diesem Werk die mitreißende, kraftvolle kompositorische Aussage, die Fantasie und das handwerkliche Können der Komponistin.

53 24. November 2012, Lutherkirche Kassel

Kammerkonzert Emilie Mayer zum 200. Geburtstag

Maddalena Laura Streichquartett No. 3 g-Moll (1769?) Lombardini Sirmen Tempo giusto 1745–1818 Allegro

Emilie Mayer Streichquartett op. 14 g-Moll (1858) 1812–1883 Allegro appassionato Scherzo. Allegro assai Adagio con molto espressione Finale. Allegro molto

Ethel Smyth Streichquartett e-Moll (1912?) 1858–1944 Allegretto lirico Allegro molto leggiero Andante Allegro energico

Spohr Quartett Katalin Hercegh, Violine Josephine Nobach, Violine Joachim Schwarz, Viola Wolfram Geiss, Violoncello

54 Maddalena Laura Lombardini Sirmen Streichquartett No. 3 g-Moll Die sechs Streichquartette der Komponistin stammen aus der Frühzeit der Gattung Streichquartett, für die sich zu ihrer Zeit in Italien kaum ein Musiker interessierte. Sirmen ließ ihre Sei Quartetti 1769 in Paris drucken wie auch Jo- seph Haydn, der hier seine Streichquartette op. 9 drucken ließ. Mit seinen Streichquartetten op. 33 war er es, der die für lange Zeit maßgebliche klassische Form der Gattung Streichquartett schuf. Sirmen experimentierte in ihren im Charakter spielerisch angelegten Streichquartetten noch mit der Form einer damals unerprobten Gattung. So finden sich in ihrem dritten Quartett statt der später obligatorischen vier Sätze nur zwei Sätze, in denen sie auf überzeugende Weise alte und damals neue Kompositionspraktiken verband.

Emilie Mayer Streichquartett op. 14 g-Moll Das im März 1858 zum ersten Mal aufgeführte Werk wurde als einziges von den acht Streichquartetten der Komponistin zu ihren Lebzeiten gedruckt. Das Allegro appassionato weist die für Kopfsätze übliche Sonatensatzform auf, die die kom- positorische Verarbeitung zweier anfänglich exponierter Themen in ihr Zentrum stellt. Wäh- rend das 1. Thema sich als Dialog zwischen 1. Violine und Violoncello darstellt, läuft das sequenzierte Triller-Motiv des 2. Themas in zwei Stimmen parallel und wird von einer dritten Stimme mit Oktavsprüngen kommentiert. Diese Kommentartechnik wird in der fast un- merklich einsetzenden Reprise auch im 1. Thema angewandt: Das Violoncello übernimmt die Führung, und die 1. Violine wirft statt der echoartigen Antworten flüchtige Arpeggien ein. Die Reprise erfüllt zwar ihre Funktion, beide Themen erneut vollständig und in der Grundtonart erklingen zu lassen; dennoch wird zwischen den thematischen Abschnitten der verarbeitende, entwickelnde Charakter der Durchführung nicht aufgegeben. Der 2. Satz ist ein Scherzo mit raschen, durch dauernd wechselnde und oft überraschende motivische Wendungen witzigen Eckteilen, die einen ruhigeren, sanglichen und gleichwohl heiteren Trio-Teil umrahmen. Der langsame 3. Satz vereint in sich zwei kompositionstechnisch ganz verschiedene Kom- ponenten, bleibt aber im Ausdruck durchgehend ernst. Das Eingangsthema beginnt mit kleinsten Tonschritten und kaum ausgebildeter Rhythmik, gleichsam suchend, bevor es erst allmählich zu sich selbst findet. Es kehrt im weiteren Verlauf mehrfach wieder und bildet eine Art Refrain für zwei Strophen des Chorals Wer nur den lieben Gott lässt walten. Der Finalsatz ist ein lebhaftes, leidenschaftliches Sonatenrondo. Die beiden Themen des Satzes sind, anders als im Kopfsatz, im Charakter gegensätzlich, ganz wie es Emilie Mayers Lehrer Adolf Bernhard Marx in seiner Kompositionslehre forderte. Auffällig ist jedoch die Themenbildung, indem sowohl dem 1. als auch dem 2. Thema in deren Fortführung ein wei- teres Thema beigeordnet ist, so dass Haupt- und Seitensatz längere thematische Zusammen-

55 hänge ausbilden. Während der Hauptsatz, der zu Beginn zweimal vollständig zu hören ist, in der Mitte und gegen Ende des Satzes in der Grundtonart, aber mit gekürzter und veränderter Fortführung wiederkehrt, erklingt der melodische Seitensatz beim zweiten Mal in einer anderen Tonart als beim ersten Mal, bleibt aber in seiner Gestalt erhalten. (Werkeinführung von Christin Heitmann, gekürzt über- nommen aus CD-Beilage zur CD „String Quartets“, Erato-Quartett Basel, cpo 999 679-2, 1999; mit freund- licher Genehmigung) Literaturhinweis: Almut Runge-Woll „Die Komponistin Emilie Mayer (1812–1883). Studien zu Leben und Werk“, Verlag Peter Lang: am Main 2003, ISBN 3-631-51220-1, Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVI, Band 234

Ethel Smyth Streichquartett e-Moll Das Quartett entstand vermutlich 1912, nachdem sich Ethel Smyth bei der englischen Frauenbewegung, den Suffragetten, engagiert hatte. Die Uraufführung der Komposition mit der Widmung „To the London Quartet“ fand am 3. Dezember 1914 in der Londoner Aeolian Hall statt, vermutlich gespielt vom Widmungs- träger. Wenn auch der Schwerpunkt ihres Schaffens auf den groß angelegten Werken wie den sechs Opern, der Messe in D, dem Hornkonzert u. a. liegt, so finden sich im kompositorischen Œuvre von Ethel Smyth doch auch solch bedeutende Kammermusikwerke wie das Streich- quintett, die Sonate für Violine und Klavier, die Sonate für Violoncello und Klavier, zahlreiche Klavierwerke und Lieder. Neben dem Streichquartett in e-Moll sind in ihrem Werkverzeichnis zwei weitere Streichquartette in d-Moll und c-Moll aufgeführt, die sie in den 1880er Jahren, am Anfang ihrer kompositorischen Laufbahn, komponierte. Das „späte“ e-Moll Quartett mit seinen vier Sätzen orientiert sich in meisterhafter Form an der klassischen Streichquartett-Tradition, jedoch mit unverkennbar eigener Tonsprache. Die neuen kompositorischen Strömungen ihrer Zeit mit beispielsweise Strawinskys Sacre oder Schönbergs frühen Werken ließen sie hier unbeeinflusst. Möglicherweise hatte das London Quartet die Komposition auch mit dem Wunsch nach einer klassisch traditionellen Form in Auftrag gegeben.

56 57 27. Januar 2013, Universität Kassel

Hommage à Ursula Mamlok Von der Magie der Polyphonie

Kolja Lessing Violine und Moderation

Johann Sebastian Bach Partita III E-Dur BWV 1006 1685–1750 für Violine solo (1720) Preludio Loure Gavotte en Rondeaux Menuet I & II Bourée Gigue

Jacqueline Fontyn La 5a stagione per violino solo (1991) *1930 Kolja Lessing gewidmet

Ursula Mamlok Aphorisms I für Violine solo (2009) 1923–2016 Kolja Lessing gewidmet

Film (Ausschnitt) „Ursula Mamlok Movements – (k)eine Rückkehr“

Ursula Mamlok Wild Flowers für Violine solo (1987)

Ursula Mamlok From my Garden für Violine solo (1983)

Ferdinand David Suite g-Moll op. 43 für Violine solo (ca.1870) 1810–1873 Menuett Gavotte Siciliano Gigue

58 Johann Sebastian Bach Partita III E-Dur für Violine solo „Bachs Sonaten und Partiten für Violine allein bedeuten einen Markstein in der abendlän- dischen Musikentwicklung. Obwohl sie nur für ein einziges Instrument entworfen wurden, stellen sie einen Höhepunkt nicht nur innerhalb der Werkgattung, sondern im Bereich der Musik überhaupt dar.“ Dies schrieb Günther Haußwald im Nachwort zu der in der Insel-Bücherei (Band 655) veröffentlichten Handschrift Bachs der Sonaten und Partiten für Violine allein. Bach war zwar nicht der Erste, der Werke für Violine senza baßo schrieb, aber mit seinen Sei Solo à Violino senza baßo accompagnato erreichte die Gattung von Werken für ein un- begleitetes Streichinstrument eine zuvor nie dagewesene Komplexität und kompositori- sche Meisterschaft. Die Komponisten der Zeit nach Bach brachten für diese Werkgattung kaum noch Verständnis auf. So erklärt sich die Tatsache, dass Felix Mendelssohn und Robert Schumann zu Bachs Werken für Violine solo in bester Absicht eine Klavierbeglei- tung hinzugefügt haben. Der Violinist und Komponist Ferdinand David sah in Bachs Solo- Violin-Werken in erster Linie ein wertvolles Studienmaterial, dessen Herausforderungen seine Schüler zu Höchstleistungen anspornen könnten. Erst der große Geiger und Brahms- Freund Joseph Joachim (1831–1907) nahm diese höchst anspruchsvollen Werke in sein Repertoire auf und spielte sie in öffentlichen Konzerten. Unter den Sei Solo à Violino senza Baßo accompagnato von Bach finden sich neben den drei Sonaten die drei Partiten (Suiten), wobei die dritte Partita in E-Dur mit den charakteris- tischen Sätzen Preludio, Loure, Gavotte en Rondeau, Menuet I und II, Bourée und Gigue ihre stärksten Kräfte aus dem tänzerisch-rhythmischen Element bezieht.

Jacqueline Fontyn La 5a stagione per violino solo Bei diesem Werk, entstanden auf Anregung von Kolja Lessing, ließ sich die Komponistin von Antonio Vivaldis berühmten Vier Jahreszeiten (Le quattro stagioni) inspirieren und „er- fand“ eine fünfte Jahreszeit: La 5a stagione. Ganz im Geiste Vivaldis hat Jacqueline Fontyn auch ihrer 5a stagione, einem wahren „Capriccio“ im ursprünglichen Sinn des Wortes, ein Sonetto evocativo vorangestellt, das als programmatische Idee des etwa neunminütigen Werkes verstanden werden kann. Mehr oder weniger verfremdete Zitate aus Vivaldis Vier Jahreszeiten durchziehen – oft in grotesk anmutender Konfrontation extremer Klangregister – das ganze Stück, das wie ein Spuk aus dem Nichts anhebt, in das es sich nach mehreren Eruptionen ebenso geheimnisvoll verflüchtigt.

Ursula Mamlok From My Garden Das Werk entstand 1983 und ist der Geigerin Lilo Kantorowicz-Glick gewidmet. In dieser Komposition spielte Ursula Mamlok „ein Spiel“, um auszuprobieren, ob sie unter Verwen- dung von seriellen Verfahrensweisen sowohl für die Tonhöhe wie auch für den Rhythmus ein tonales Stück schreiben könne. Der erste Abschnitt des Werkes hat eine fächerartige

59 Struktur. Die Tonhöhen der Zwölftonauswahl werden allmählich in einer Reihe von Vor- schlags-Melismen eingeführt. Der Abschnitt schließt, wenn alle Tonhöhen eingeführt sind. Im düsteren Schlussteil wird der Ton a¹ ständig wiederholt, ergänzt durch andere Tonhö- hen, um eine Serie von Zweiergruppen zu schaffen. Während im ersten Abschnitt Tritoni und Terzen die dominierenden Intervalle sind, werden im Schlussteil alle Intervalle in glei- chem Maß betont. Ursula Mamlok hat From My Garden auch für Viola solo bearbeitet.

Ursula Mamlok Wild Flowers für Violine solo Das Werk wurde im Jahr 1994 für den Geiger Roger Zahab geschrieben, es ist unterteilt in fünf kurze Abschnitte. Wild Flowers beginnt mit einem kraftvollen Bogenthema, das mit ei- nem Tremolopaar endet. Varianten des Themas wechseln während des ganzen Eröffnungs- teils ab mit kurzen Pizzicato-Zwischenspielen. Es folgt eine langsamere und lyrischere Epi- sode, die ähnliche musikalische Ideen verwendet. Wenn das Anfangsmaterial wiederkehrt, wird es in der Umkehrung präsentiert. Mamlok verschmilzt im Schlussteil des Werkes die langsamere Musik mit den Ideen des ersten Teils. Eine letzte, dramatische Wiederaufnahme des Anfangsthemas führt zu einer abschließenden Zusammenfassung. (Werktexte zu From my Garden und Wild flowers von Barry Wiener aus: Ursula Mamlok CD-Booklet vol. 2 in der Übersetzung von Albrecht Dümling)

Ursula Mamlok Aphorisms I für Violine solo Das fünfsätzige Werk entstand im Jahr 2009 und wurde von Kolja Lessing, dem es gewid- met ist, in Luzern uraufgeführt. Der erste Satz beginnt mit einer ruhigen, lyrischen Musik mit ausgedehnten melodischen Bögen. Nach einem plötzlichen heftigen Ausbruch findet der Satz zu einem ruhigen Ende. Der zweite Satz ist ähnlich langsam und ruhig angelegt. Die melodische Linie besteht hier aus kleineren Intervallen und ist damit leichter zu erfas- sen als die des ersten Satzes. Der kurze dritte Satz besteht aus einer Serie von aufeinander- folgenden gegensätzlichen Spielweisen, wie schnell – langsam, staccato – legato. Dem tän- zerisch lebhaften vierten Satz mit seinem zweistimmigen Kontrapunkt folgt ein wiederum eher ruhiger und besinnlicher letzter Satz.

Ferdinand David Suite g-Moll op. 43 für Violine solo Ferdinand David wurde 1810 in eine Hamburger Kaufmannsfamilie hineingeboren. In den Jahren 1823/24 war er Schüler von Louis Spohr und Moritz Hauptmann in Kassel, 1826 wurde er Violinist am Königsstädtischen Theater in Berlin. Mit 18 Jahren konver- tierte Ferdinand David vom jüdischen zum evangelischen Glauben und trat der Loge der Freimaurer bei. 1829 wurde er Primarius eines Streichquartetts in Dorpat und unternahm Konzertreisen nach Riga, Sankt Petersburg und Moskau. Felix Mendelssohn Bartholdy trug ihm 1835 die Position des Konzertmeisters im Gewandhausorchester Leipzig an, dem er 37 Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1873 angehörte. David war auch Primarius des Leipziger Gewandhaus-Quartetts und unterrichtete ab 1843 Violine am Leipziger Konservatorium.

60 Zu seinen Schülern zählten Alexander Ritter, , August Wilhelmj, Max Brode und Joseph Joachim. Eine enge Freundschaft verband David mit Felix Mendelssohn Bartholdy. Dieser schrieb ihm schon im Juli 1839: „Ich möchte Dir wohl auch ein Violinkonzert machen für nächs- ten Winter; eins in e-moll steht mir im Kopfe, dessen Anfang mir keine Ruhe lässt.“ Doch erst sechs Jahre später, im Jahr 1844, sollte seine Arbeit an diesem Violinkonzert beendet sein. Bei der Komposition des Werkes stand ihm David hilfreich zur Seite mit Hinweisen zu den technischen Möglichkeiten der Violine, hier vor allem bei denen der Solo-Kadenz im ersten Satz. Die Uraufführung des Violinkonzerts mit Ferdinand David als Solist fand am 13. März 1845 in Leipzig statt. Er spielte eine Guarneri-Geige von 1742, die später in den Besitz von Jascha Heifetz kam. David war Herausgeber der Violinwerke von u. a. Pietro Locatelli, Johann Gottlieb Goldberg, Francesco Maria Veracini sowie sämtlicher Klaviertrios von Beethoven bei C. F. Peters. Sein Verdienst ist vor allem die Edition von Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo: „Zum Gebrauch bei dem Conservatorium der Musik zu Leipzig, mit Finger- satz, Bogenstrichen und sonstigen Bezeichnungen versehen von Ferdinand David.“ Ferdinand David komponierte mehr als 50 Werke, darunter zwei Symphonien, fünf Violinkonzerte, eine Oper (Hans Wacht), ein Streichsextett für drei Violinen, Viola und zwei Violoncelli, ein Concertino für Posaune und Orchester, dazu viele Lieder. Die Suite g-Moll op. 43 komponierte David nach dem Modell der Partiten von Johann Sebastian Bach. Robert Schumann widmete ihm seine Violinsonate Nr. 2 d-Moll op. 121: „dem lieben Freun- de und Meister Ferdinand David“. Dem Hauptsatz der Sonate liegen die in Töne umsetzba- ren Buchstaben D-A-F-E-A des Namens FERDINAND DAVID zugrunde.

61 Hommage à Ursula Mamlok – von der Magie der Polyphonie Vielfalt in der Beschränkung – so ließe sich die Herausforderung charakterisieren, die das Komponieren für ein einziges unbegleitetes, in seinem Tonumfang begrenztes Melodie- instrument stellt. Seit dem 17. Jahrhundert haben sich Komponisten von den klanglichen Möglichkeiten einer Geige allein inspirieren lassen und jene Herausforderung oft sogar in zyklischen Werken aufgegriffen: Johann Paul von Westhoffs geradezu orchestral imaginier- te Suiten für Violine solo bilden als Beispiel hochvirtuoser barocker Illusionskunst einen Meilenstein zu Johann Sebastian Bachs Gipfelwerk der Sei Solo à Violino senza Basso accom- pagnato aus dem Jahre 1720. Erfuhren Westhoffs 7 Suiten 1683 bzw. 1696 sofortige Druck- legung, so beginnt die Editionsgeschichte von Bachs Sei Solo erst ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Komponisten. Noch zögerlicher gestaltete sich die Wirkungsgeschichte dieses in seinen spirituellen, kompositorischen und instrumentalen Ansprüchen einzig- artigen Kosmos: Erst durch die romantisch geprägte Bach-Wiederentdeckung von Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann sowie ihrer kompositorisch nicht minder profilierten Geigerfreunde Ferdinand David und Joseph Joachim rückten Bachs Soloviolin- sonaten und -partiten allmählich ins breitere musikalische Bewusstsein. Gebannt von der Magie der Polyphonie und dem tänzerischen Esprit Bachs schuf Ferdinand David um 1870 die wohl erste Suite für Violine solo nach Bachischem Vorbild1 – in besonderer Anlehnung an die Sonata I g-Moll in Hinblick auf die Wahl der Tonart und auf den ebenfalls Siciliano betitelten dritten Satz, zudem in durchaus liebevoll-humoristischer Rückbesinnung in der Gavotte auf den entsprechenden Satz aus Bachs E-Dur-Partita BWV 1006. Bildet Bachs heiter beschwingte E-Dur-Partita mit Ferdinand Davids geistreicher Bachre- flexion den Rahmen des Programms, so ließ sich ein weiterer historischer Rückblick kon- trastierend integrieren: La 5a stagione aus der Feder der bedeutenden belgischen Komponistin Jacqueline Fontyn. In diesem neunminütigen Feuerwerk gerinnen die berühmten Vier Jahres- zeiten des von Johann Sebastian Bach hoch geschätzten Antonio Vivaldi im parodistischen Spiegel zur fünften, wahrhaft unerhörten Jahreszeit voller Witz und klanglichem Raffine- ment.2 Am 1. Februar 2013 feierte Ursula Mamlok3 ihren 90. Geburtstag – so war dieses Reci- tal im Anschluss an ein ähnliches Programm im Rahmen der Lessing-Tage Kamenz ur- sprünglich als Gesprächskonzert mit der Jubilarin geplant. Indessen rückten gravierende gesundheitliche Probleme Anfang 2013 jegliche Reiseabsichten für Ursula Mamlok in un- erreichbare Ferne, erst im Frühling 2013 konnte sie ihrer ausgeprägten Reiselust wieder folgen. Unabhängig von der persönlichen Präsenz der charismatischen Komponistin stehen ihre drei einzigen Werke für Violine solo im Mittelpunkt des Programms – als Würdigung einer überragenden Künstlerpersönlichkeit gleichermaßen wie als extrem kontrastierende,

1 vgl. meinen Exkurs über Ferdinand Davids Suite op. 43 in: Andreas Meyer (Hg) Robert Schumann – das Spätwerk für Streicher, Mainz 2012, S. 146–149 2 vgl. meinen ausführlicheren Beitrag über La 5a stagione in: Christel Nies (Hg): Gut zu hören – gut zu wissen. Komponistinnen und ihr Werk III, Kassel 2002, S. 160 3 vgl. die erste umfassende Werkdarstellung und Biographie Ursula Mamloks: Habakuk Traber: Time in Flux. Die Komponistin Ursula Mamlok, Weimar 2012

62 ausdrucksstarke Beispiele aphoristisch konzentrierten modernen Komponierens für unbe- gleitete Violine. Rückblickend scheint es mir eine Verknüpfung zweier vermeintlicher Zufälle, die den Be- ginn unserer nun schon jahrelangen engen musikalischen Zusammenarbeit und Freund- schaft markiert. So begegneten wir uns bereits im Oktober 1995 bei einem abendlichen Empfang in der Wohnung meines Komponistenfreundes Dimitri Terzakis in Leipzig, doch erst im September 2008 kam es zum entscheidenden Wiedersehen mit Ursula Mamlok im Rahmen der Dreharbeiten für meinen Film Ferne Klänge in Berlin. Die erneute Begegnung mit Ursula Mamlok führte mich nun in die faszinierenden Klangwelten dieser ungemein liebenswürdigen, generösen, dabei völlig uneitlen Komponistin, die im Laufe ihres lan- gen Lebens immer wieder bei größter Selbstkritik ihrer persönlichen Stimme im Span- nungsfeld zwischen romantischer Tradition – Johannes Brahms zählt noch heute zu ihren Lieblingskomponisten – und Auseinandersetzung mit „modernen“ Kompositionstechniken (ohne jegliche ideologische Einengung) beredten Ausdruck verliehen hat. In unseren vielen Gesprächen über ihr Werk und über Musikästhetik im allgemeinen hat Ursula Mamlok stets betont, wie wichtig ihr die Konzentration auf das Wesentliche, mithin die Verständ- lichkeit ihrer Musik ist – keine überflüssigen Noten sollen die Aufmerksamkeit des Hörers (und Interpreten!) ermüden lassen. Alle musikalischen Gedanken sind bei ihr in unglaub- licher Verdichtung und Kürze geradezu aphoristisch zugespitzt, indes: In ihren in jeder Hinsicht auf ein Minimum an Aktion reduzierten langsamen Sätzen gelingt Ursula Mam- lok eine magische Aufhebung der Zeit, Interpret wie Hörer werden in einen gleichsam zeitlosen Schwebezustand versetzt, der – in realer Kürze! – Ewigkeiten zu dauern scheint. Dieses für Ursula Mamlok so charakteristische Phänomen prägt den zeitlupenartig „trop- fenden“ Beginn des in seiner Haupttontechnik und enormen klanglichen Variabilität der Einzeltöne an ostasiatische Gestaltungsmodelle gemahnenden From my Garden, ebenso dessen elegischen Schlussteil in seinen unregelmäßig changierenden, ruhigen Umkrei- sungen des Haupttons a’. Noch radikaler, noch extremer hat Ursula Mamlok Raum und Zeit im Zyklus der unter dem Titel Aphorisms I zusammengefassten, motivisch aufs engste miteinander verknüpf- ten fünf Miniaturen für Violine solo gestaltet, die sie auf meine Anregung zwischen dem 2. November und 28. Dezember 2009 komponierte. Allein das erste Stück eröffnet mit seinen weit ausholenden, dissonant geschärften Aufschwüngen, deren latenter Vorhalts- charakter indessen unüberhörbar ist, ein Spannungsfeld von außerordentlichem Kontrast- reichtum in kürzester Dauer. Im sehr langsam betitelten, in drei- bis vierstimmiger Poly- phonie gestalteten zweiten Stück kommt der bereits angedeutete Lamento-Gestus letztlich zum Erstarren: Die Zeit scheint stillzustehen in diesem Satz von abgrundtiefer Trauer, der schließlich in der Dissonanz f ’– ges’ unaufgelöst zusammensinkt. Mit der Synthese aus der fallenden Oberstimme der letzten beiden Takte des zweiten Stückes und dem Anfangsmotiv des ersten Stückes eröffnet Ursula Mamlok den von brüsken Wechseln zerklüfteten wilden, ja rauen dritten Satz Presto, einen jähen Ausbruch aus der Starre des zweiten Satzes, der die aufgehobene Zeit in vehementer Rasanz gleichsam zu kompensieren scheint. Launiges Spiel mit tonal geprägten Gesten bestimmt den kapriziösen vierten Satz, dessen dissonant durch das vorangehende forte-cis konfrontierte Schlussterz d”– f ” die unmittelbare Verbin-

63 dung zum elegischen Finalsatz darstellt. Gleich einer stockenden, von expressiven, immer raumgreifender sich entfaltenden melodischen Kontrapunkten durchbrochenen Prozession durchzieht diese Terz d”– f ”, in der Mitte des Stückes zu dis’– fis’ bzw. zu b’– d” mutiert, – den äußerst langsamen fünften Satz, dessen im ppp verhauchende Schlussterz keinerlei to- nale Auflösung, sondern vielmehr das Entrücken eines ungelösten Rätsels aus dem Bereich der akustischen Wahrnehmung verheißt. In seiner subtilen Assoziation des zweiten Klavier- stückes aus Schönbergs nicht minder aphoristisch geprägtem opus 19 erscheint dieser Schlusssatz zudem als – von Ursula Mamlok nach Eigenaussage völlig unbewusst gestaltete – Hommage an den Komponisten, der als Schlüsselfigur zwischen Tradition und Fortschritt auch für Ursula Mamloks Schaffen zeitweise von größter Bedeutung war. Als Zyklus sehe ich Aphorisms I wie ein Gleichnis des Lebens – mit all seinen emotionalen Höhen und Tiefen, mit seinen Überraschungen, Spannungen, Verdichtungen, mit seiner Poesie und seinem stets wechselnden Zeitbewusstsein, das letztlich als ungelöste Frage un- serer Existenz im Raum bleibt. Kolja Lessing Dezember 2015/Januar 2016

Nachtrag: In den frühen Morgenstunden des 4. Mai 2016 ist Ursula Mamlok im Alter von 93 Jahren in Berlin verstorben. Am 17. April hatten wir noch ausführlich miteinander telefoniert; Ursula Mamlok genoss ihre nach langer Krankheit im Winter gleich einem Wunder wieder- gewonnene weitgehend stabile Kondition, jedoch deutete sie an, dass komposito- rische Arbeit außerhalb ihrer momenta- nen Kräfte stünde. Somit bleibt auch der Plan eines kurzen konzertanten Werkes für Violine und Kammerorchester, zu dem ich sie verschiedentlich angeregt hatte und das sie eigentlich so gerne noch geschrieben hätte, unerfüllt. Wichtig ist nun das Weiterleben der Mu- sik von Ursula Mamlok, die gerade im kammermusikalischen Bereich in vielfäl- tig variierenden Besetzungen unerhörte Schätze offenbart. Kolja Lessing 21. Mai 2016

Ursula Mamlok und Kolja Lessing 20. April 2010 in Würzburg

64 65 14. April 2013, Martinskirche Kassel

Viva La Mara

Veranstaltung mit Text, Bild und Musik Konzept und Idee Christel Nies

Traudl Schmaderer, Sopran Walewein Witten, Cembalo Christel Nies, Vortrag

Kaspar Benedikt Beckenkamp: Gertrud Elisabeth Mara, 1796

Die Natur hatte mich mit allem, was zu einer vollkommenen Sängerin nötig ist, begünstigt: Gesundheit, Kraft, brillante Stimme, großem Umfang, reiner Intonation, geläufigem Hals, einem lebhaften, leidenschaftlichen, gefühlvollen Charakter, verzierte Arien nach eigenem gutem Geschmack. Dessen ungeachtet arbeitete ich ebenso, als hätte ich nichts von alle- dem. Beharrlichkeit und Fleiß mussten mich also zur wahren Künstlerin machen, denn es war mir nicht genug, bloß Sängerin zu heißen. Gertrud Elisabeth Mara

Ihre Stimme ist glänzend, voll und tönend, und bei einer bewunderungswürdigen Leich- tigkeit, so stark, um durch Chor mit Pauken und Trompeten deutlich gehört zu werden. Sie bringt durch ihren hellen Gesang alle Fibern der Zuhörer in Bewegung und versetzt je- dermann durch die Schnelligkeit, durch die Vollkommenheit und Runde ihrer Passagen in Entzücken und Erstaunen. In den Bravourarien, deren sie dann und wann eine von Hasse, Traetta o. a. gab, war sie es, welche das Orchester zusammenraffte, statt sich wie andere Sänger vom Orchester nachschleppen zu lassen! Ernst Ludwig Gerber, Komponist und Autor von Komponisten-Lexika

Die Mara singt wie noch keine Frau gesungen hat. Ein Klang lag in ihrer Stimme, der nach zeitgenössischem Urteil sich vergleichen ließ mit dem einer Cremoneser Geige. Es gelang ihr durch alle Stärkegrade ein dem Geisterhauche ähnliches Pianissimo zu erreichen, das noch in großer Ferne zu hören war. Urteil eines Zeitgenossen

66 Goethe schwärmte noch im Alter vom Gesang der jungen Gertrud Elisabeth Schmeling, dass er „als ein erregbares Studentchen wütend applaudiert“ habe, nachdem sie gesungen hatte. Euphorisch schrieb er ein Gedicht für sie mit folgender Widmung: Der Demoiselle Schmehling nach Aufführung der Hassischen Sta. Elena al Calvario. Leipzig 1771: Klarster Stimme, froh an Sinn – Reinste Jugendgabe – Zogst Du mit der Kaiserin Nach dem heil‘gen Grabe. Dort, wo alles wohlgelang, Unter die Beglückten Riß Dein herrschender Gesang Mich den Hochentzückten.

Lebensdaten von Gertrud Elisabeth Mara, geb. Schmeling 1749 am 23. Februar wird Gertrud Elisabeth Schmeling als achtes von zehn Kindern des Kasseler Stadtmusikers Johann Schmeling und seiner Ehefrau Ottilie, geb. Ellerbaum, in Kassel geboren. 1754 erster Geigenunterricht bei ihrem Vater. 1755 Kasseler Bürger empfehlen Johann Schmeling, seine hochbegabte Tochter als Wunderkind in Konzerten auftreten zu lassen. Er reist mit ihr nach Frankfurt, Holland, England und Irland. 1759 sie gibt das Geigenspiel auf und will Sängerin werden. Vater und Tochter reisen nach Rochester, Canterbury, Dover, York und Dublin, um zu kon- zertieren, doch der gewünschte Erfolg bleibt zunächst aus. Der Vater wird vorübergehend in Schuldhaft genommen, da er die Logis-Kosten nicht be- gleichen kann. 1764 Tod der Mutter. 1765 Rückreise nach Kassel. Ein Vorsingen der inzwischen sechzehnjährigen Sängerin am Theater in Kassel bleibt ohne Erfolg. Der Sänger Morelli bemän- gelt: „Ella canta come una tedesca“! (Sie singt wie eine Deutsche!) Der itali- enische Gesangsstil Belcanto ist zu dieser Zeit in Deutschland gefragt. Vater und Tochter gehen wieder auf Reisen. Unter dem Namen Betty Smeling gibt sie höchst erfolgreiche Konzerte in Göttingen, Hannover, Hamburg, Braun- schweig. 1766 Johann Adam Hiller engagiert sie in Leipzig als Konzertsängerin. Sie absol- viert ein intensives Selbststudium. 1767 erster Opernauftritt in Dresden auf Vermittlung von Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis von Sachsen. Die Fürstin gibt ihr Unterricht im Rezitativ- gesang und in der Bühnendarstellung.

67 1771 Friedrich der Große engagiert sie als Primadonna im Schlosstheater im Neuen Palais zunächst für zwei Jahre mit einem Gehalt von 3000 Talern. Sie singt die Sopranpartien in Opern von Carl-Heinrich Graun und Johann Adolph Hasse. 1772 Friedrich II. verlängert den Vertrag der Mara auf Lebenszeit. Sie trennt sich von ihrem Vater. 1773 Eheschließung mit Johann Baptist Mara, Cellist am Rheinsberger Hof. Er spielte ein Stradivari-, das nach seinem Tod als das Mara (Cello) von berühmten Cellisten erworben und gespielt wurde und Wolf Wondratschek zu seinem Roman „Mara“ inspirierte. 1778 Das Ehepaar besucht Kassel. Die Mara gibt ein umjubeltes Konzert im Opern- haus und löst große Bewunderung bei Landgraf Friedrich II. aus. 1780 Flucht des Paares aus Berlin über Dresden nach Wien, Preßburg, Prag, München, Schweiz, Holland, Paris. In jeder Stadt gibt das Paar höchst erfolgreiche Konzerte. In Wien besuchen sie Christoph Willibald Gluck; in München ist auch Mozart unter den Zuhörern. 1782/83 Die Mara wird engagiert für das concert spirituel in Paris und gibt ein Konzert in Versailles. Marie Antoinette verleiht ihr den Titel „la premiere chanteuse de la Reine“. In Paris gibt es einen Sängerinnen-Wettstreit zwischen der Mara und der Todi, zwischen den Maraisten (Fans der Mara) und den Todisten (Fans der Todi). 1784 Das Ehepaar lässt sich in London nieder und feiert große Erfolge bei Kon- zertauftritten im Pantheon und bei den Händel-Gedächtniskonzerten in der Westminster Abbey. Ab 1786 Für die Mara folgen Opernengagements u. a. am King’s Theatre. 1789 Bei Gastspielen in Italien (Mailand, Turin und Venedig) feiert sie triumphale Erfolge. 1790 Sie singt den Sopranpart in „Die Schöpfung“ von Haydn unter dessen Lei- tung. Begegnung mit dem um 15 Jahre jüngeren Henry Bouscaren de St. Marie, ihrem Liebhaber und lebenslangem Freund. 1794 Liaison mit dem Flötisten und Komponisten Charles Hayman Florio. 1799 Die Mara lässt sich von ihrem Mann Johann Baptist Mara scheiden. 1802–1807 Abschied aus England, Tournee mit Florio über Paris, Berlin, Leipzig, Weimar, Wien bis nach St. Petersburg. 1807 Sie erwirbt ein Gut in Moskau und lässt sich dort nieder. 1812 Plünderung ihres Gutes während Napoleons Russlandfeldzug und Verlust von einem großen Teil ihres Vermögens. 1815 Trennung von Florio und Übersiedlung nach Reval. 1819–1822 Reisen nach Petersburg, London, Berlin, Kassel, wo sie jeweils noch als Sän- gerin auftritt. Sie wird in Kassel gefeiert und bei der Kurfürstin eingeladen. 1820 beginnt sie mit ihrer Autobiographie. 1822 Mara geht zurück nach Reval, wo sie als Gesangslehrerin tätig ist.

68 1831 Sie erhält eine öffentliche Ehrung zu ihrem 82. Geburtstag in Reval. Goethe schreibt ein Gedicht für sie, welches Johann Nepomuk Hummel ver- tont. 1833 Die Mara stirbt am 20. Januar in Reval und wird auf dem deutschen Friedhof Ziegelskoppel beigesetzt. Ihr Rest-Vermögen vermachte sie ihrem einstigen Liebhaber Bouscaren de St. Marie.

Musikbeiträge: Arien und Lieder, welche die Mara einst gesungen hatte. (Die Sängerin komponierte auch selbst. Erhalten sind einige Arien, die sie sich auf den Leib bzw. in die Kehle schrieb.) Carl Heinrich Graun Arie der Agrippina „Mi paventi il figlio indegno“ 1704–1759 aus der Oper „Britannico“ (1751) Rezitativ und Arie der Armida „Regina non sono“ aus dem Dramma per Musica „Armida“ (1751) Arie „Singt dem göttlichen Propheten“ aus der Passionskantate „Der Tod Jesu“ (1755)

Johann Adolph Hasse Arie der Eudossa „Veggo ben io“ 1699–1783 aus dem Oratorium „St. Elena al Calvario“ (1746)

Georg Friedrich Händel Arie „I know, that my redeemer liveth“ 1685–1759 aus dem Oratorium „Der Messias” (1741)

Johann Christoph Pepusch Lieder der Polly Peachum „Can love be controlled” 1667–1752 und „I like the Fox shall grieve” aus „The Beggars Opera“ (1728)

Traudl Schmaderer, Sopran Walewein Witten, Cembalo

Carl Heinrich Graun Arie der Agrippina „Mi paventi il figlio indegno“ aus der Oper „Britannico“ (1751) Mit dieser Arie prüfte Friedrich der Große die sängerischen Fähigkeiten von Gertrud Elisa- beth Schmeling und stellte sie sogleich als Primadonna ein. Auch beim Publikum erlangte sie auf der Bühne mit dieser Bravourarie ihren ersten großen Erfolg. Carl Friedrich Zelter und Henriette Herz erinnerten sich noch Jahrzehnte später an den großen Eindruck, den die Sängerin mit dieser Arie auf sie gemacht hatte.

69 Rezitativ und Arie der Armida „Regina non sono“ aus dem Dramma per Musica „Armida“ (1751) in drei Akten, in italienischer Sprache nach Torquato Tasso (Friedrich II. war möglicherweise Co-Autor). Die Uraufführung der Oper mit der Mara in der Hauptrolle fand am 27. 03. 1751 in Berlin statt. Da- ten und Orte weiterer Aufführungen sind nicht be- kannt. Die Geschichte um die Zauberin Armida ver- tonten auch andere Komponisten, darunter Gluck und Haydn.

Die Arie „Singt dem göttlichen Propheten“ aus der Passionskantate „Der Tod Jesu“ brachte der Mara allerhöchste Bewunderung. Die Uraufführung der Kantate, die damals häufig in Preußen aufgeführt wurde, fand am 26. März 1755 im Berliner Dom statt. Der Text von Carl Wilhelm Ramler (1725– 1798) ist eine freie Nachdichtung der Leidensge- schichte Jesu. Graun offenbart sich hier als Repräsentant der italienischen Opera seria. Am Dresdener Hof hatte er bleibende Eindrücke von der hier gepflegten italienischen Oper erhalten. Am Hofe des preußischen Kronprinzen komponierte er insgesamt 17 italienische Opern sowie italienische Kammerkantaten.

Johann Adolph Hasse Arie der Eudossa „Veggo ben io“ aus dem Oratorium „St. Elena al Calvario“ (1746) Die junge Leipziger Konzertsängerin Betty Smeling (Gertrud Elisabeth Schmeling) sang diese Arie 1867 bei der Aufführung von Hasses Oratorium in Leipzig unter der Leitung von Johann Adam Hiller. Inhalt des Werkes ist die Pilgerfahrt der Kaiserin Elena zum Heiligen Grab Jesu in Jerusalem. Unter den Zuhörern war auch der junge Student Goethe, der vom Gesang der gleichaltrigen Sängerin höchst begeistert war.

Georg Friedrich Händel Arie „I know, that my redeemer liveth“ aus dem Oratorium „Der Messias” (1741) Das Oratorium auf Bibeltexte wurde 1742 in Dublin uraufgeführt. Händel dirigierte den Messias viele Male selbst. Als man im Jahr 1784 in London irrtümlich den 100. Geburts- tag Händels feierte, sang die Mara die Arie in einer Aufführung mit 350 Sängern und 500 Musikern und einer riesigen Zuhörerschar. Fortan wurde sie in Europa als die „Königin der Sängerinnen“ bezeichnet.

70 Johann Christoph Pepusch, Text John Gay (1685–1732) Zwei Lieder der Polly Peachum „Can love be controlled” und „I like the Fox shall grieve” aus „The Beggars Opera” (1728) Das Werk, ein satirisches Singspiel in der Art zwischen Musical, Kabarett und Posse mit Gesang, spielt im Milieu der Unterwelt. Es spiegelt das Leben einfacher Leute, persifliert aber auch die italienische Oper sowie englische Politiker der Zeit. Die Mara sang die Rolle der Polly Peachum 1798 im Alter von 49 Jahren in Bath und vermutlich mehrfach auch in London. Mit der Rolle der Polly beabsichtigte sie, sich im englischen Musikleben ein neues Image zu geben. Die 200 Jahre später entstandene Dreigroschenoper von Brecht/Weil basiert auf dem Text von John Gay.

Literaturhinweise: Kaulitz-Niedeck, Rosa: Die Mara, das Leben einer berühmten Sängerin, Neuausgabe von Wieland Giebel, Berlin 2012 Mara, Gertrud Elisabeth: Es war mir nicht genug, bloß Sängerin zu heißen, in: Rieger, Eva/Steegmann Monica (Hrsg.): Göttliche Stimmen, Frankfurt/Main 2002 Grosheim, Georg: Das Leben der Künstlerin Mara, Cassel 1823. Reprint Kassel 1972 „ehe die spuren verwehen…“ 11 Frauen – 11 Jahrhunderte, Sabine Köttelwesch/Elke Böker/Petra Mesic (Hrsg.), Kassel 2013

71 10. Juni 2013, Gloria Kino Kassel

Nosferatu eine Symphonie des Grauens Mit Live-Musik

Stummfilm (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau

Musik von Violeta Dinescu

Trio Contraste (Bukarest) Ion Bogdan Stefanescu, Flöte(n), Drăguă, Schlagwerk Doru Roman, Schlagzeug Sorin Petrescu, Klavier, Schlagwerk

72 Nosferatu, eine Symphonie des Grauens Stummfilm, Deutschland 1922 Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Drehbuch: Henrik Galeen, Kamera: F. A. Wagner, Gün- ther Krampf, Produktion: Jofa-Atelier Berlin-Johannisthal, Produzent: Enrico Dieckmann, Albin Grau Mit: Max Schreck (Graf Orlok), Gustav von Wangenheim (Hutter), Greta Schröder (Ellen, Hutters Frau), Alexander Granach (Knock, ein Häusermakler), Georg H. Schnell (Westenra, Hutters Freund), Ruth Landshoff (Lucy, Westenras Frau)

Nach Motiven des Romans Dracula von Bram Stoker verfasste Henrik Galeen das Dreh- buch für Friedrich Wilhelm Murnaus düsteres Filmschauspiel über einen furchterregenden Vampir, der in Gestalt des Grafen Orlok in eine Kleinstadtidylle eindringt. Der Unheimliche verbreitet Pest und Tod, bis eine junge Frau sich opfert und ihn den Sonnenaufgang vergessen lässt. Murnau inszeniert das Mystische, das Grauen auf sublime Weise. Der Film begleitet den Vampir Orlok mit zitternden Lichtreflexen, lässt ihn in Zeitlupe agieren, vergrößert sei- nen Schatten, spielt mit der Angst. Nosferatu – ein Klassiker des Gruselfilms. Nosferatu ist der erste Vampirfilm der Geschichte und prägend für das Genre Horrorfilm. Der hier geschilderte Einbruch des Dämonischen in die bürgerliche Idylle ist lesbar als ein Spiegel der kollektiven Ängste in den frühen Jahren der Weimarer Republik. Von seinen alp- traumhaften Visionen geht noch immer eine verstörende Wirkung aus. Rund zwei Dutzend Verfilmungen des Dracula-Stoffes sind seither entstanden. Rudolf Neumaier, Süddeutsche Zeitung

Friedrich Wilhelm Murnau, einer der bedeutendsten deutschen Filmregisseure der Stummfilmzeit, wurde 1888 als Friedrich Wilhelm Plumpe in Bielefeld geboren und wuchs in Kassel auf. Ab 1910 nannte er sich Friedrich Wilhelm Murnau. Er absolvierte eine Ausbildung an der renommierten Max- Reinhardt-Schauspielschule in Berlin. Nach einer Zeit des Wehrdienstes im ersten Weltkrieg kehrte Murnau nach Berlin zurück, wo seine ersten Filme entstanden. Der berühmteste Film aus dieser Zeit ist Nosferatu – eine Symphonie des Grauens. Der ungarische Drehbuchau- tor und Schriftsteller Béla Balázs schrieb 1923 über den 1922 gedrehten Film: „Das neue, bisher unübertroffene dieses Filmes ist, daß Murnau die latente Poesie der Na- tur sich zu Diensten macht.“ Der Erfolg der frühen Filme brachte Murnau einen Vertrag mit der UFA ein. So entstanden in Deutschland u. a. die Filme Der letzte Mann (1924) und Tartüff (1926). Schwierigkeiten bereitete Murnau das Aufkommen des Tonfilms. Auf der Insel Bora Bora (Tahiti) drehte er mit dem Regisseur und Dokumentarfilmer

73 Robert J. Flaherty 1929/1930 den Stummfilm Tabu – ausschließlich mit Laiendarstellern. Murnau erlebte die Premiere von Tabu nicht mehr. Er starb am 11. März 1931 in Santa Monica/USA nach einem Autounfall.

Violeta Dinescu über ihre Musik zu Nosferatu: Es ist eine besondere Herausforderung, Musik für einen Stumm- film von Friedrich Wilhelm Murnau zu schreiben. Murnaus fil- mische Erzählung hat eine eindeutig musikalische Dimension. Seine visuelle Sprache ist in ihren Zusammenhängen von jener Art, wie sie auch für musikalische Strukturen charakteristisch ist. Murnau ist es gelungen, eine Korrespondenz zwischen sichtbaren und unsichtbaren Elementen des Films als Grundlage seiner Technik zu kreieren. Nachdem ich die Musik für seinen letzten Film Tabu geschrieben habe, wusste ich, dass die Lösung, seinen Film mit Klang zu beleben, sowohl in seiner eigenen Art von Mikro-/Makrostruk- turen zu gestalten sein muss, als auch dem Erzählfaden zu folgen hat, sowohl komplex als auch transparent. In meiner neuen Suche nach der passenden Klangwelt für Murnaus Nosferatu habe ich Grundstruktur und Form des Films aufgenommen, um seine tragische Botschaft weitergeben zu können.

In Kassel gab es im Rahmen der Reihe Komponistinnen und ihr Werk zahlreiche Auffüh- rungen der Werke von Violeta Dinescu, darunter zwei vielbeachtete Präsentationen von Murnaus StummfilmTabu mit ihrer Musik in unterschiedlichen Besetzungen: Im Docu- menta-Jahr 1997 im Staatstheater Kassel mit dem notabu.ensemble neue musik (Düsseldorf) und 2004 im Gloria-Kino Kassel mit dem Trio Contraste (Bukarest). (siehe Buchdokumentationen Komponistinnen und ihr Werk, Band III Gut zu hören – gut zu wissen und Band IV entdeckt und aufgeführt)

Trio Contraste Die drei rumänischen Musiker Ion Bogdan Stefanescu (Flöte), Sorin Petrescu (Klavier) und Doru Roman (Schlagzeug) gründeten 1983 das Trio Contraste mit dem Ziel, Interesse für die zeitgenössische Musik zu wecken. Ebenso wie Violeta Dinescu inspirierte das Trio viele ande- re Komponistinnen und Komponisten zu neuen Werken. So entstanden mehr als 500 Werke, die für das Trio Contraste geschrieben wurden, und die das Ensemble nun in seinem Repertoire hat. 1990 wurde das Trio mit dem Staatspreis des Rumänischen Komponistenverbandes aus- gezeichnet. In dieser Zeit trafen sie mit der Komponistin Violeta Dinescu zusammen, was zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit führte; so stellte das Ensemble bei verschiedenen Festivals in Amsterdam, Berlin, Lausanne, Huddersfield, Hongkong, Bogota und Bukarest ihre Werke vor.

74 28. November 2013, Friedenskirche Kassel

…Kling hinaus ins Weite

Lieder und Streichquartette von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy

Fanny Hensel Streichquartett Es-Dur (1834) 1805–1847 Adagio ma non troppo Allegretto Romanze Allegro molto vivace

Felix Mendelssohn Bartholdy »… oder soll es Tod bedeuten?« 1809–1847 Acht Lieder und ein Fragment nach Gedichten von Heinrich Heine für Sopran und Streichquartett bearbeitet und verbunden mit sechs Intermezzi von Aribert Reimann (1996) I Leise zieht durch mein Gemüt op. 19a/5 Intermezzo I II Der Herbstwind rüttelt die Bäume op. 34/6 (1837) Intermezzo II III Über die Berge scheint schon die Sonne op. 47/2 Intermezzo III IV Auf Flügeln des Gesanges op. 34/2 (1835) Intermezzo IV V Was will die einsame Träne (1837), Strophe 1 und 2 VI In dem Mondenschein im Walde op. 19a/4 (1830) Was will die einsame Träne, Strophe 3 (Ach meine Liebe selber) Intermezzo V VII Allnächtlich im Traume op. 86/4 (1834) VIII Mein Liebchen, wir saßen beisammen (1837) Intermezzo VI IX Warum sind denn die Rosen so blass? (Fragment, 1834)

75 Fanny Hensel Fünf Lieder op. 10 Transkription für Sopran und Streichquartett von Otfrid Nies (2013, Uraufführung) I Nach Süden (1841), unbekannter Textdichter II Vorwurf (1841), Nikolaus Lenau III Abendbild (1846), Nikolaus Lenau IV Im Herbste (1846), Emanuel Geibel V Bergeslust (1847), Joseph Freiherr von Eichendorff

Felix Mendelssohn Bartholdy Streichquartett a-Moll op. 13 (1827) Adagio – Allegro vivace Adagio non lento Intermezzo. Allegretto con moto Presto

Spohr Ensemble Traudl Schmaderer, Sopran Katalin Hercegh, Violine Susanne Berendes, Violine Joachim Schwarz, Viola Wolfram Geiss, Violoncello

76 Fanny Hensel Streichquartett Es-Dur Das viersätzige Werk, entstanden im Jahr 1834, zeichnet sich für eine in der damaligen Zeit ungewöhnliche harmonische und formale Kühnheit aus. Und gerade diese „Kühnheit“, wie beispielsweise den Verzicht auf die Sonatenhauptsatzform, kritisierte Felix in seinem Brief vom 30. Januar 1835 an Fanny. Sie selbst verteidigte ihre „Kühnheit“ in einem Antwort- schreiben vom 17. Februar 1835, indem sie auf ihre persönliche Art der Auseinandersetzung mit dem Spätwerk Beethovens hinweist. Auch dieser habe hier oftmals auf die bekannt typi- schen Merkmale der Sonatenhauptsatzform verzichtet. Der erste Satz – ein Adagio – ist eher eine Fantasie, ein Aus- und Weiterspinnen des themati- schen Materials durch verschiedene Tonarten. Der zweite Satz in c-Moll ist ein Scherzo mit einem bewegten Mittelteil. Harmonisch kühn finden sich hier Modulationen sogar bis hin zum weit entfernten fis-Moll. Der dritte Satz, eine Romanze, ist harmonisch ebenso interes- sant; er erinnert an den ersten Satz und endet wie dieser ziemlich abrupt. Mit einem virtuosen Rondo lässt Fanny Hensel das Quartett enden. Felix hatte für Fannys Experimentierfreudigkeit wenig Verständnis. So bemängelte er auch, dass zumindest die drei ersten Sätze in „gar keiner Tonart stehen“, dass die Form durch zu viele Modulationen zerstört würde, ohne dass der Inhalt dies rechtfertige. Er sprach von „Ma- nie“, wenn dies nicht nur im ersten Satz, sondern in den anderen „auch so komme“. Trotz vieler Selbstzweifel an ihren kompositorischen Fähigkeiten muss Fanny von ihrem Streich- quartett überzeugt gewesen sein. Wie sonst hätte sie Felix darum bitten können, das Werk in Leipzig doch einmal öffentlich aufführen zu lassen. Felix kam dieser Bitte nicht nach; geprobt und vermutlich auch aufgeführt wurde ihr Quartett im halböffentlichen Rahmen einer der Sonntagsmusiken im Hause Mendelssohn, Leipzigerstraße 3 in Berlin. Die öffentliche Uraufführung des Werkes fand erst 1986, also 152 Jahre nach seiner Entste- hung, in Berlin durch das Brahms-Quartett statt.

Felix Mendelssohn Bartholdy / Aribert Reimann »… oder soll es Tod bedeuten?« „In dem neuen Stück »… oder soll es Tod bedeuten?« (die letzte Zeile des Liedes In dem Mon- denschein im Walde) habe ich sechs Intermezzi für Streichquartett dazu komponiert, die die Lieder miteinander verbinden: Reflexionen in meiner musikalischen Sprache über ein bereits gehörtes oder folgendes Mendelssohn-Lied, Nach-Gedanken oder vorauseilende, durch die sich, in kurzen Anklängen, fortschreitend Teile aus dem letzten Lied ziehen, dem Fragment Warum sind denn die Rosen so blass, mal in das strukturelle Geschehen eingewoben oder es durchbrechend oder kontrastierend eingeschnitten. Um auch gedanklich einen Zusam- menhalt zu schaffen, habe ich acht Lieder und ein Fragment nach Gedichten von Heinrich Heine ausgewählt (Was will die einsame Träne, Mein Liebchen, wir saßen beisammen und das Fragment Warum sind denn die Rosen so blass sind noch nicht im Druck erschienen und wurden mir dankenswerterweise von der Staatsbibliothek Berlin zur Verfügung gestellt). Die Bearbeitung für Streichquartett geht über eine bloße Transkribierung weit hinaus. In einigen Liedern, vor allem in den Strophenliedern Auf Flügeln des Gesanges, Allnächtlich im Traume,

77 Mein Liebchen, wir saßen beisammen bin ich vom Klaviersatz sehr abgewichen und habe viel dazu komponiert, ohne in die Mendelssohn‘sche Harmonik einzugreifen, um sie dadurch auch gegen meine eigene Gedankenwelt abzugrenzen, die dann immer wieder von Fragmen- ten des Mendelssohn-Fragments aufgebrochen wird.“ Aribert Reimann Der Liederzyklus entstand ursprünglich als Auftragswerk der Schwetzinger Festspiele 1996 und war nach Transkriptionen von Robert Schumanns Sechs Gesänge op. 107 und Franz Schuberts Mignon die dritte Auseinandersetzung Reimanns mit dem Liedwerk anderer Kom- ponisten. Der Komponist, Pianist und Musikwissenschaftler Aribert Reimann, geboren am 4. März 1936, ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Komponisten unserer Zeit. Anfang 1970 wurde er Mitglied der Akademie der Künste (Berlin) und in den Jahren 1983 bis 1998 hatte er eine Professur im Fachgebiet Zeitgenössisches Lied an der Hochschule der Künste Berlin. Er komponierte Opern sowie Orchester- und große Vokalmusikwerke. 2011 wurde er mit dem Ernst von Siemens Musikpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Fanny Hensel Fünf Lieder op. 10 Die Fünf Lieder op. 10 von Fanny Hensel, geb. Mendelssohn wurden in den Jahren 1841, 1846 und 1847 komponiert. Sie fügen sich, trotz der auf einen Zeitraum von sechs Jahren verteilten Entstehung, zu einem organischen Zyklus in Bogenform. Die beschwingt-raschen Lieder Nach Süden (E-Dur) und Bergeslust (A-Dur) bilden den äußeren Rahmen. Das zen- trale Stück Abendbild (Es-Dur) – eine Art Barcarole – ist umgeben von den beiden sehr17 ruhigen und getragenen Lie- Im Herbste (Emanuel Geibel) dern Vorwurf (gis-Moll) und Fanny Hensel op.10 Nr.4 (1846) Im Herbste (g-Moll). In den Adagio P beiden letztgenannten Kom- Sopran bb c î Î Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Î Ï j Ï. Ï Ï. Ï & J J Ï J Ï J J positionen wird Fanny Hensels Auf des Gar - ten Mau - er - zin - ne bebt noch ei - ne einz' - ge Violine 1 b Erfindungsreichtum auf dem & b c ä Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï ú Î Ï Ï #Ï Ï #ú Ï #Ï Gebiet der Harmonik beson- P p Violine 2 bb c ä Ï ä Ï Î & Ï #Ï Ï Ï Ï Ï #Ï Ï nÏ bÏ nÏ Ï Ï #Ï bÏ ú Ï Ï ders deutlich. Das fünfte Lied P Ï Ï p , Viola Ï Ï Ï Ï Ï des Zyklus ist Hensels letzte b Î Ï. Ï- Ï Ï Ï j Ï Ï B b c Ï J Ï Ï Ï Ï ú. Ï J Ï Komposition überhaupt, ge- p P Violoncello ? b Ï b c w w ú Ï ú ú schrieben am 13. Mai 1847, ei- p nen Tag vor ihrem plötzlichen S. b Ï Ï Ï Ï & b Ï #Ï nÏ Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ï Ran - ke, al - so bebt in mei - nem Sin - ne schmerz - lich nur noch ein, nnoÏch Tod. Veröffentlicht wurde die- 5 Vl. 1 b ser Liederzyklus im Jahre 1850 b Î Î Ï bÏ Ï & bÏ Ï #Ï bÏ Ï #ú Ï beim Leipziger Verlag Breit- Ï P nÏ bÏ Ï bú Vl. 2 b ä Ï Ï ä Ï Ï ä Ï kopf & Härtel. & b Ï Ï ä Ï Ï ä Ï Ï ä Ï #Ï Ï nÏ ä nÏ nÏ bÏ Ï ä Ï nÏ Ï Ï Ï Für die Übertragung des Kla- Vla. b Ï nÏ B b Ï Ï bú nÏ Ï Ï bÏ vierparts auf ein Instrumenta- #Ï bú ú ú p Vlc. ? lensemble eignet sich nur eine bb ú Ï ú Ï #Ï bÏ ú #Ï bÏ Ï Ï nÏ Ï

S. bb j ú Ï · î bÏ. Ï & Ï. Ï Î î J 78 ein Ge-dan - - ke. Kaum ver - 9 , , Ï Vl. 1 b bÏ. Ï Ï Ï bÏ Ï b j Ï ú Ï Ï Ï J Ï Ï . Ï Ï Ï ä bÏ & Ï nÏ Ï J Ï J Ï Ï Ï Ï ,P , j Vl. 2 b ú Ï Ï j & b j Ï j Ï Ï ú Ï Ï Ï búÏ nÏ Ï Ï ä Ï nÏ Ï nÏ ú Ï Ï Ï Ï bÏ Ï P Vla. , bÏ B bb Ï ä Î ú ú Ï ú Ï Ï Ï Î J ú p ú ú Vlc. ? b ú b ú ú ú ú bú p begrenzte Anzahl von Kompositionen für Singstimme und Klavier. Die typische Begleitfi- guration des Klaviers für Streichquartett zu bearbeiten wäre nicht sinnvoll. Wenn der Kla- viersatz hingegen überwiegend polyphon gesetzt ist, bieten Melodieinstrumente – und ganz besonders das klanglich homogene Streichquartett – einer Übertragung vielfältige Möglich- keiten. Meine Transkription der Fünf Lieder op. 10 von Fanny Hensel lässt den Gesangspart, von einer Differenzierung der Dynamik abgesehen, unangetastet. Ebenso bleibt die Harmo- nik des Originals unverändert. An vielen Stellen ihrer Lieder mit Klavier verdoppelt Fanny Hensel den Gesang in der Oberstimme des Tasteninstruments, ein bei dieser Gattung nicht unübliches Verfahren. Da die Lautstärke des Klaviertons nach dem Anschlag zurückgeht, empfinden wir die Parallelführung von Singstimme und Klavier nicht als wirklich störend. Solche Verdopplungen durch ein Melodieinstrument sind klanglich jedoch ziemlich unbe- friedigend, sie wurden in meiner Transkription daher weitgehend vermieden. An ihre Stelle treten Nebenstimmen, die aus Begleitfiguren und unter Beachtung der vorgegebenen Har- monik beigefügt wurden und so den Streichersatz bereichern. Ebenso habe ich die Oktaven in der linken Hand des Klavierparts nicht schematisch auf Viola und Violoncello übertragen, sondern dem Violapart eine vom Violoncello unabhängige eigenständige Stimme für die entsprechenden Stellen hinzugefügt. Otfrid Nies Otfrid Nies, 1937 geboren, war von 1971 bis zur Beendigung seiner Orchestertätigkeit im Jahre 2000 1. Konzertmeister beim Staatsorchester Kassel. 1984 gründete er das Archiv Charles Koechlin. Er arbeitet für verschiedene Musikverlage an der Herausgabe unveröffent- lichter Werke Koechlins. Seit 2001 ist er künstlerischer Berater bei dem Projekt von SWR Stuttgart, Hänssler Classic und Heinz Holliger für die CD-Reihe mit Werken Koechlins.

Felix Mendelssohn Bartholdy Streichquartett op. 13 Ja, es ist wahr: Der achtzehnjährige Komponist Felix Mendelssohn nahm 1827 die neuesten und komplexesten Streichquartette Beethovens als Vorbild und schrieb selbst etwas ganz Richtungswei- sendes. Vom „Unterhaltungs-Reiz“ sprach eine zeitgenössische Kritik, eher hilflos diesem ebenso großartigen wie neuartigen Werk gegenüber.

Es waren Ludwig van Beethovens späte, gerade im Druck erschienenen Streichquartette, die den achtzehnjährigen Felix Mendelssohn-Bartholdy veranlassten, in Beethovens Todes- jahr 1827 sein Streichquartett in a-Moll op. 13 zu komponieren. So zumindest äußerte sich Mendelssohn in Briefen an seinen ehemaligen Studienkollegen, den schwedischen Kompo- nisten Adolf Fredrik Lindblad, der ebenfalls bei Carl Friedrich Zelter Kompositionsunterricht gehabt hatte. Deutlich wie kein anderes Werk – und vor allem in der Musikgeschichte erst- malig – zeugt dieses Streichquartett von der schöpferischen Auseinandersetzung Mendelssohns mit den aktuellen Werken Beethovens dieser Zeit. Stärker als sein Vorbild Beethoven arbeitete Mendelssohn aber hier mit polyphonen Techniken, sodass sich Fugati, Umkehrungen und Engführungen von Fugenthemen sowie kleinere fugierende Elemente

79 durch das ganze Werk ziehen, und zwar – das ist der Kunstkniff von Mendelssohn – ohne dass der strenge Stimmensatz das Werk streng wirken lässt. So schrieb der junge Komponist kurz nach Beethovens Tod: „Die Beziehung aller vier oder drei oder zwei oder ein Stücken einer Sonate auf die andere und die Theile, sodass man durch das bloße Anfangen durch die ganze Existenz so eines Stücken schon das Geheimnis weiß... das muss in die Musik.“ Kerstin Unseld, SWR2, Musikstück der Woche (2012) Mendelssohn begann Anfang 1829 in Berlin mit der Arbeit an seinem zweiten Streichquar- tett op. 12 in Es-Dur und vollendete es im September des gleichen Jahres in London. Die Opuszahl 13 für das zwei Jahre zuvor komponierte Streichquartett in a-Moll spiegelt nicht, wie sonst üblich, die Chronologie der Entstehung, sondern die der Drucklegung.

Die Geschwister Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy Am 14. Mai 1847 starb Fanny Hensel im Alter von 41 Jahren. Der um drei Jahre jüngere Bruder Felix folgte ihr nur wenige Monate später und starb am 4. November 1847. Er wurde 38 Jahre alt. Beide Geschwister starben an den Folgen eines Hirnschlages. Felix Mendelssohn Bartholdy erlangte nicht nur zu seinen Lebzeiten höchste Anerkennung. Wer kennt ihn nicht, den Mozart des 19. Jahrhunderts? Fanny Hensel und ihr umfangrei- ches kompositorisches Œuvre mit mehr als 400 Werken sind hingegen bis heute weitgehend unbekannt. Schon in der Kindheit zeigte sich bei den Geschwistern eine außergewöhnliche musikali- sche Begabung. Beide erhielten die gleiche intensive Ausbildung und wetteiferten bei frühen Kompositionsversuchen. Ihre Lebenswege und ihre Komponisten-Karrieren jedoch verliefen höchst unterschiedlich. Im Alter von 15 Jahren musste Fanny von ihrem Vater hören: Die Musik wird für Felix vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbaß Deines Seins und Tuns werden kann und soll. An Ruhm und Ehre des Bruders solle sie sich freuen, das seien weibliche Tugenden, denn nur das Weibliche ziere die Frauen. Auch ohne jede Aussicht auf Aufführungen oder gar Drucklegung ihrer Werke hat Fanny zeitlebens weiterhin komponiert. Aufführungsmöglichkeiten boten sich für einige ihrer Wer- ke lediglich in dem halböffentlichen Rahmen der legendären „Sonntagsmusiken“ im Hause Mendelssohn in Berlin. Das Gesellschaftsbild der damaligen Zeit sah schöpferische Tätigkei- ten für Frauen und ihr Wirken in der Öffentlichkeit nicht vor. Überzeugt von Fannys kompositorischen Fähigkeiten, veröffentlichte Felix einige ihrer Lie- der unter seinem Namen. Er schrieb ihr am 3. Juni 1829: Ich denke es ist die schönste Musik, die jetzt ein Mensch auf der Erde machen kann... Das ist die innere, innerste Seele von der Musik; was das für Einfälle sind! […] Solche Musik habe ich nie gehört!; auch werde ich in meinem Leben nichts Ähnliches machen; das tut aber nichts, wenn‘s nur in der Welt ist; einerley, wer es ausgesprochen hat. Am 25. August 1829 heißt es in einem weiteren Brief von ihm an Fanny: „Diese Lieder aber sind schöner als gesagt werden kann. Ich spreche bei Gott als kalter Beurteiler. O Jesus! Bessres kenne ich nicht.“

80 Die enge Verbundenheit der Geschwister, vor allem im musikschöpferischen Bereich, ver- deutlicht diese Aussage von Fanny: Ich habe sein Talent sich Schritt für Schritt entwickeln sehen und selbst gewissermaßen zu seiner Ausbildung beigetragen. Er hat keinen musikalischen Ratgeber als mich, auch sendet er nie einen Gedanken aufs Papier, ohne mir ihn vorher zur Prüfung vorgelegt zu haben. Felix folgte, wie auch sein Vater Abraham Mendelssohn, den damaligen gesellschaftlichen Vorstellungen über Weiblichkeit. So riet er Fanny dringend von einer Veröffentlichung ihrer Werke ab, vielmehr solle sie sich um die Belange der Familie kümmern. Anders dachte da Fannys Ehemann, der Maler Wilhelm Hensel; er unterstützte und ermutigte sie und riet zum Druck ihrer Werke. In einem Brief vom 12. August 1846 erteilte schließlich auch Felix seiner Schwester den „Handwerkssegen“ zum Druck einiger ihrer Werke. Nach Fannys plötzlichem Tod wollte er sich selbst bei dem Verlag Breitkopf & Härtel intensiv für die Veröffentlichung ihrer Werke einsetzen, jedoch reichte seine ihm noch verbleibende kurze Lebenszeit hierzu nicht mehr aus. Christel Nies

81 5. April 2014, Adventskirche Kassel

Kammerkonzert

Louise Farrenc Klaviertrio op. 45 e-Moll (1862) 1804–1875 Allegro deciso Andante Scherzo. Vivace Presto

Grażyna Bacewicz Sonata per Violino solo (1958) 1909–1969 Adagio Allegro Adagio Presto

Nadia Boulanger Trois Pièces pour violoncelle et piano (1915) 1887–1979 1. Modéré 2. Sans vitesse et à l’aise 3. Vite et nerveusement rhytmé

Sofia Gubaidulina Chaconne für Klavier (1962) *1931

Emilie Mayer Klaviertrio op. 13 D-Dur (1859) 1812–1883 Andante maestoso – Allegro molto e agitato Larghetto Scherzo Finale. Presto

Trio Passionata Diana Mykhalevych, Violine Tatiana Gracheva, Violoncello Michael Kravtchin, Klavier

82 Louise Farrenc Klaviertrio op. 45 Das 1862 entstandene Trio ist sowohl für die Besetzung mit Flöte wie auch mit Violine gedacht. Im kraftvollen ersten Satz des im klassischen Stil komponierten Trios verwendet Farrenc die Sonatenhauptsatzform und folgt so durchaus der Kompositionslehre ihres Leh- rers Reicha. Der zweite Satz, ein Andante, variiert ideenreich das Thema einer Romanze. Im folgenden temperamentvollen Scherzo übernimmt das Klavier die thematische Führung. Im Finalsatz wechseln in rascher Folge die teilweise dramatischen Motive. Bei allem Vor- bildcharakter des klassischen Kompositionsstiles ist in dem Trio in hohem Maße die eigene Handschrift der Komponistin zu hören, wie beispielsweise in der Wahl der Harmonik und in der gestalterischen Freiheit der kompositorischen Ideen.

Grażyna Bacewicz Sonata per Violino solo Die Sätze der Sonata per Violino solo gehen ohne Zäsur ineinander über. Inhaltlich sind sie im Wesentlichen aus identischem Material geformt, auffällig besonders in Sekundreibungen und Sekundschrit- ten, aber auch in weniger wahrnehmbaren Nuancen. Die viersätzige Sonate, und hier in besonderem Maße das Presto, zeichnet sich durch große Virtuosität aus.

Nadia Boulanger Trois Pièces pour violoncelle et piano Die Drei Stücke für Violoncello und Klavier entstanden im Jahr 1915. Neben dem Klavier war die Orgel das favorisierte Instrument von Nadia Boulanger. So sind die ersten beiden Stücke der Trois Pièces pour violoncelle et piano Transkriptionen eigener Orgelwerke, die 1911 in der Sammlung Maîtres contemporains de l’Orgue veröffentlicht wurden. Lediglich das dritte Stück ist somit eine Originalkomposi- tion für Violoncello und Klavier. Die drei kurzen Stücke in es-Moll, a-Moll und cis-Moll bilden jedoch zusammen einen organischen, far- bigen Zyklus voller Energie.

Sofia GubaidulinaChaconne für Klavier solo Das Werk entstand 1962 im Auftrag der Pianistin Marina Mdivani. Der Tradition dieser Gattung entsprechend ist die Chaconne eine Variationenreihe über ein achttaktiges Thema aus Akkorden. Das Werk beginnt, ganz im Geist alter Vorbilder, mit einem mächtigen Thema in ruhig getragenem Tempo. Die Variationen folgen mit der stufenweisen Auflösung des Themas in immer kleinere Notenwerte und Figurationen barocker Diminutionstechniken. Dennoch dient die alte Form hier nur als Ausgangspunkt: Die strenge achttaktige

83 Gliederung wird von der Eigendynamik der musikalischen Bewegung bald gesprengt, so dass die Chaconne auf die Idee einer stringenten, in ihrem Verlauf aber freien Form zu- rückgeführt wird. Dorothea Redepenning 1994

Emilie Mayer Klaviertrio op. 13 D-Dur Das 1859 komponierte viersätzige Klaviertrio widmete Emilie Mayer ihrem Bruder, dem Apotheker Friedrich . Das Werk erschien zu ihrer Zeit im Druck und wur- de vermutlich auch im Entstehungsjahr in Berlin uraufgeführt. Nach über 150 Jahren des Vergessens erlebt das Trio vermutlich in diesem Konzert seine erste Wiederaufführung.

84 18. Oktober 2014, Adventskirche Kassel

Kammerkonzert mit Werken für Violine, Violoncello, Klavier

Clara Schumann Trio g-Moll op. 17 (1846) 1819–1896 für Klavier, Violine und Violoncello Allegro moderato Scherzo (Tempo di Menuetto) Andante Allegretto

Lili Boulanger D’un soir triste (1917/18) 1893–1918 D’un matin de printemps (1917/18) für Violine, Violoncello und Klavier

Olga Neuwirth Quasare / Pulsare (1995/96) *1968 für Violine und Klavier

Rebecca Clarke Trio (1921) 1886–1979 für Violine, Violoncello und Klavier I. Moderato ma appassionato II. Andante molto semplice III. Allegro vigoroso

Boulanger Trio Birgit Erz, Violine Ilona Kindt, Violoncello Karla Haltenwanger, Klavier

85 Clara Schumann Trio g-Moll op. 17 (siehe Seite 51)

Lili Boulanger D’un soir triste und D’un matin de printemps für Violine, Violoncello und Klavier Die beiden so unterschiedlichen Kompositionen entsprechen ihrem jeweiligen Titel: D’un matin de printemps spiegelt einen heiteren Frühlingsmorgen, wohingegen D’un soir triste die Stimmung eines trostlosen, tieftraurigen langen Abends wiedergibt. Beide Werke, die auch in einer Fassung für Orchester existieren, entstanden in den Jahren 1917/1918, der letzten Lebenszeit von Lili Boulanger. Der Komponist Jean Françaix fertigte später auch eine Fassung für zwei Klaviere. Lili Boulanger hatte um die Zeit des ersten Weltkrieges längst ihre eigene zukunftsweisende Tonsprache gefunden. Die Harmonik mit wunderbar ausgehörten farbigen Klängen ist frei und funktional nicht mehr zu deuten. Dunkle Harmoniefolgen über einem Orgelpunkt lassen D’un soir triste zu einer bewegenden Totenklage werden. Die Vermutung liegt nahe, dass Lili Boulanger in diesem Werk auch dem eigenen Leiden und der Ausweglosigkeit ihrer letzten Lebenszeit Ausdruck verliehen hat.

Olga Neuwirth Quasare / Pulsare für Violine und Klavier Olga Neuwirths Vorliebe für die Veränderung von Klängen macht auch vor dem Klavier nicht halt. Als gleichberechtigten Duopartner stellt sie es in Quasare/Pulsare für Violine und Kla- vier (1996) dem leichter beeinflussbaren und in seiner Stim- mung bereits modifizierten Streichinstrument gegenüber. In- dem sie ausgewählte Saiten mit Materialien wie Silikonbällchen und Schaumstoff präpariert, schafft die Komponistin gezielt Verstimmungen, mit denen sie in den Klavierklang eingreift; durch verschiedene Aktionen des Pianisten wird zudem das In- strument als solches, wie auch die Saiten in seinem Inneren in die Musik einbezogen. Ausgehend vom Klang einer Klaviersaite, die durch einen e-Bow, einer Art Tonabnehmer, angeregt wird, kann durch elektromagnetische Einwirkung ein Feedback auf einer Metallsaite erzeugt werden, wobei die Klangqualität an einen Sinuston erinnert. Der formale Aufbau des Stückes besteht aus der Abfolge wellenförmig ausgestal- teter Klangraumbewegungen von unterschiedlicher Dichte und Intensität, die am Ende wieder in die artifizielle Klangqualität des Anfangstones zusammengefaltet werden. Stefan Drees

Rebecca Clarke Trio für Violine, Violoncello und Klavier Das Trio aus dem Jahr 1921 lässt Einflüsse des kompositorischen Stils von Debussy und Ravel erkennen (auf einer Europareise kam Clarke in direkten Kontakt mit Ravel). Dies

86 zeigt sich vor allem im Ausschöpfen der vielen Möglichkeiten instrumentaler Klangfarben sowohl solistisch, wie auch in der Kombination der Instrumente. Für den leidenschaft- lichen ersten Satz benutzt Clarke die klassische Sonatenhauptsatzform. Der zweite Satz, ein Wiegenlied, basiert auf einem kurzen, prägnanten Motiv, das ihn auch einleitet. Im Final- Satz finden sich außer motivischen Erinnerungen an den ersten und zweiten Satz Themen aus Tänzen der englischen Folklore. Mit einem schnellen und virtuosen letzten Abschnitt endet das Werk.

aus: Quasare / Pulsare von Olga Neuwirth

87 22. November 2014, Adventskirche Kassel

Streichquartette

Maddalena Laura Streichquartett Nr. 3 g-Moll (1769) Lombardini Sirmen Tempo giusto 1745–1818 Allegro

Vivian Fung Streichquartett Nr. 3 (2013) *1975

Luise Adolpha le Beau Streichquartett op. 34 (1885) 1850–1927 Allegro con fuoco Tema con variazioni – Andante religioso Alla zingaresca, Allegro Allegro vivo

Ana Sokolović Streichquartett Commedia dell’arte III (2013) *1968 Brighella Signora Innamorati

Leoš Janáček Streichquartett Nr. 1 Kreutzersonate (1923) 1854–1928 Adagio – con moto Con moto Con moto – Vivace – Andante Con moto – Adagio – Più mosso

Anima Quartet Zhi Jong Wang, Violine Alexandra Samedova, Violine Maria Dubovik, Viola Vladimir Reshetko, Violoncello

88 Maddalena Laura Lombardini Sirmen Streichquartett Nr. 3 g-Moll (siehe Seite 55)

Vivian Fung Streichquartett Nr. 3 Die Komponistin hat ihr 3. Streichquartett für die in Kanada 2013 zum elften Mal durchgeführte Banff International String Quartet Competition kompo- niert. Die Klänge des höchst intensiven Werkes sind vielschichtig, fantasievoll und differenziert. Die technisch ungemein herausfordernde Komposition ist eine Mischung aus alten Formen wie der Chaconne und flächigen, feingliedrigen Elementen mit schrillen Ausbrüchen. Fung komponierte das Werk vor dem Hintergrund der aktuellen großen Weltkonflikte und der Tragik von Kriegen wie auch persönlicher Erlebnisse in ihrer Familie. Der Titel des Quar- tetts könnte auch „Dark Journeys“ (Dunkle Reisen) heißen.

Luise Adolpha Le Beau Streichquartett op. 34 Der Komposition liegt ein außermusikalisches Pro- gramm zugrunde, das die Komponistin in ihren Le- benserinnerungen ausführlich beschrieb: „Der erste Satz Allegro con fuoco stellt eine Fliehende dar, welche, von den Verfolgern bedrängt, nur kurz ras- ten darf. Der zweite Satz Tema con variazioni – Andante religioso beginnt als ein Gebet im Walde, wo die Ver- folgte einschlummert. In den folgenden Variationen er- scheint ihr Vergangenes und Künftiges im Traum, und es ist in jeder derselben ein anderes Thema der übrigen Sätze zum Hauptthema kontrapunktisch verarbeitet. Der dritte Satz Alla zingarese ist als Zigeunertanz im Walde gedacht, wo das Mägdelein Schutz findet; ein mehrstimiger Canon bildet das Trio. Der vierte Satz Allegro vivo bringt die Befreiung und Rückerinnerung an alles überstandene Leid. Die Durchführung greift auf den ersten Satz zurück mit einem neu hinzutretenden Motiv der Erzählung: Das Mägdelein ist wieder bei den Seinigen; es herrscht allgemeine Freude.“ Die Komponistin war mit diesem Streichquartett eine der Ersten, die einem kammermu- sikalischen Werk eine Geschichte zuordnete. Im 19. Jahrhundert war dies eher der sinfoni- schen Musik vorbehalten.

89 Ana Sokolović Streichquartett Commedia dell’arte III Das Werk beschreibt in drei kurzen Sätzen drei unterschied- liche Charaktere der Commedia dell’arte: Brighella, Signora und Innamorata. Brighella, ein Bauer aus Bergamo mit einer abge- hackten Sprechweise, verschluckt meistens die Endungen der Wörter. Er redet viel und schnell, ist dazu frech und dreist aber untertänig im Umgang mit den Mächtigen. Die Komponistin beschreibt ihn mit Glissando-Figuren als einen schnellen und raffinierten Charakter, der mit einem Lachen die größten Lügen auftischen kann. Die selbstherrliche und eingebildete Signo- ra, vorgestellt von der Viola, liefert die musikalische Vorlage für das, was die anderen drei Instrumente dann nachmachen müssen. Dabei geraten Aktion und Reaktion jedoch schließlich völlig außer Kontrolle. Mit Innamorati (italienisch: die Verliebten oder die Liebenden) ist sowohl die Liebe zwi- schen zwei Menschen wie auch die Eigenliebe und der Zustand des Verliebtseins an sich gemeint. Um auftretende Unstimmigkeiten bei den Verliebten zu klären, wird die Hilfe der anderen Figuren der Comedia dell’arte benötigt. Das Streichquartett ist ein Auftragswerk des Anima Quartet und wurde von diesem am 8. November 2013 in der Hochschule Hanns Eisler in Berlin uraufgeführt. Mit der Auf- führung gewann das Anima Quartet den Boris-Pergamenschikow-Preis für Kammermusik.

Leoš Janáček Streichquartett Nr. 1 Kreutzersonate Janáčeks erstes Streichquartett entstand zwischen dem 13. und dem 28. Oktober 1923 als Werk eines fast Siebzigjährigen. Angeregt wurde die Komposition durch die vorangehende Lektüre der Novelle Die Kreutzer Sonate von Leo Tolstoi, die dieser unter dem Eindruck von Beethovens Violinsonate A-Dur op. 47 schrieb. Beethoven hatte die Sonate dem be- kannten französischen Geiger Rodolphe Kreutzer gewidmet. Ähnlich wie bei dem Streich- quartett von Le Beau, liegt auch Janáčeks erstem Streichquartett, das 38 Jahre nach dem Quartett von Le Beau entstand, ein außermusikalisches Programm zugrunde, ohne jedoch von ihm in ähnlicher Weise direkt beschrieben zu werden. Janáček verwendet in dem Quartett eine Quartsekund- und Terzsekundmelodik, die stets ein wichtiges Element in seinen Kompositionen darstellt. Das Werk hat zwar vier Sätze, die sich aber nicht auf die „klassischen“ vier Sätze der Streichquartetttradition zurückführen lassen. Das zeigt sich auch darin, dass alle vier Sätze die gleiche Tempovorschrift „Con moto“ haben. Zudem löst der Komponist sich hier völlig von der Sonatenhauptsatzform, die Themen stehen sich gegenüber, und die Melodien werden auf polyphone Weise verar- beitet oder variiert. Janáčeks leidenschaftliche Musik ist auch von Elementen der Folklore und den Eigenhei- ten der „Sprachmelodie“ geprägt. Der Herausgeber des Quartetts, Otakar Sourek, schrieb: „Das Quartett bindet sich an kein herkömmliches Schema, sondern ist in der Form völlig frei und rein in Janáčeks Stil gehalten.“

90 Das Anima Quartet wurde 2006 von der Geigerin Zhi-Jong Wang und drei Absolventen des Rimski-Korsakow-Konservatorium St. Petersburg gegründet. Seitdem konzertiert das Ensemble mit großem Erfolg bei renommierten Festivals und Konzertreihen in verschie- denen Ländern Europas. Hervorgehoben wird die sensible Interpretation der Musiker wie auch die feinfühlige Wahrnehmung der Intention der Komponisten. Das Ensemble erhielt bereits zahlreiche Preise und Auszeichnungen bei nationalen und internationalen Wettbe- werben, darunter jeweils einen 1. Preis bei dem „Boris-Pergamenschikow-Wettbewerb für Kammermusik“ (Berlin), dem „Internationalen Kammermusikwettbewerb Franz Schubert und die Musik der Moderne“ (Österreich) sowie dem „Internationalen Charles-Hennen Kammermusikwettbewerb“ (Holland). Die Zusammenarbeit mit bekannten Ensembles wie Vogler Quartett, Artemis Quartett, Alban Berg Quartett, Borodin Quartett, Ysaÿe Quartett, Vermeer Quartet, hat dem Anima Quartet ermöglicht, neue Dimensionen des Quartettspiels für sich zu eröffnen.

91 15. Februar 2015, Friedenskirche Kassel

Orchesterkonzert

Fanny Hensel Ouvertüre C-Dur (1832) 1805–1847

Emilie Mayer Faust-Ouvertüre für großes Orchester op. 46 (1879) 1812–1883

Jacqueline Fontyn Ein (kleiner) Winternachtstraum (2002) *1930

Ethel Smyth Konzert für Violine, Horn und Orchester (1926) 1858–1944 I. Allegro moderato II. Elegy (in memoriam). Adagio III. Finale. Allegro

Katalin Hercegh, Violine Joachim Pfannschmidt, Horn Sinfonieorchester der Universität Kassel Leitung: Malte Steinsiek

92 Fanny Hensel Ouvertüre C-Dur Die Ouvertüre C-Dur, ein „con fuoco“ mit langsamer Einleitung, komponierte Fanny Hensel im Jahr 1832. Vermutlich hatte sie sich hierzu von der Konzertouvertüre Meeres- stille und glückliche Fahrt ihres Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy inspirieren lassen. Die Uraufführung fand 1834 in einem der Mendelssohn‘schen Sonntagskonzerte mit dem Königsstädter Orchester unter der Leitung des Dirigenten Lecerf statt. Fanny schrieb am 4. Juni 1834 an Felix über die Uraufführung: Es amüsierte mich sehr, das Stück nach zwei Jahren zum ersten Mal zu hören und ziemlich alles so zu finden, wie ich es mir gedacht hatte. Auch teilte sie ihm belustigt mit, dass Lecerf sich am Anfang des Konzertes „die Finger zerklopft“ habe, weswegen sie ihm Felix’ leichtes Dirigierstäbchen überreicht habe. Felix zählte zu den Ersten, die einen Taktstock im heutigen Sinn benutzten. Es war bis zu dieser Zeit üblich, vom Klavier aus oder mit einem groben Stock zu dirigieren. Die schwungvoll fröhliche Ouvertüre, Fannys einziges reines Orchesterwerk, wurde zu ihrer Lebenszeit nicht veröffentlicht. Nach einer langen Zeit des Vergessens fand die erste öffentliche Wiederaufführung der Ouvertüre am 7. Juni 1986 in der Frankfurter Alten Oper statt mit dem Clara-Schumann-Orchester unter der Leitung von Elke Mascha Blankenburg.

Emilie Mayer Faust-Ouvertüre für großes Orchester op. 46 Die Faust-Ouvertüre komponierte Emilie Mayer 1879 im Alter von fast 70 Jahren. Von ihren insgesamt fünf Konzertouvertüren ist diese die einzige mit einem außermusikalischen Sujet. Das beeindruckende Werk zählt zu den er- folgreichsten Orchesterkompositionen von Emilie Mayer und wurde schon zu ihren Lebzeiten häufig aufgeführt. Im Oktober 1880 erschien das Werk als ihr op. 46 beim Verlag Paul Witte in Berlin im Druck. Eine Bearbeitung der Ouvertüre für Klavier zu vier Händen datiert aus dem Jahr 1881. Die Komposition beginnt mit einer langsamen Ein- leitung (Adagio) im Unisono von tiefen Streichern und Fagotten auf der Dominante der Grundtonart h-Moll, die dann nach sieben Takten erreicht wird. Nach 42 Takten Einleitung beginnt der Hauptteil mit einem leidenschaftlich bewegten ersten Thema, einem Allegro im 6/8-Takt in h-Moll. Diesem folgt in langsamerem Tempo ein gesangliches zweites Thema in G-Dur, das zum „Tempo primo“, dem Allegro im 6/8-Takt, zurückführt. Nach einem Bläserchoral „un poco più lento“ folgt eine kurze Durchführung mit der anschließenden Reprise des Allegros. Hier gibt es in der Wiederholung des zweiten Teiles deutliche

93 Veränderungen: Der Bläserchoral erscheint nun in H-Dur mit unterlegten Sechzehntel- Reihen und im Fortissimo des ganzen Orchesters. Nach einer weiteren Durchführung wird das erste Thema erneut wiederholt – diesmal jedoch in H-Dur. An dieser Stelle gibt die Komponistin in der Partitur den einzigen programmatischen Hinweis: „Sie ist gerettet“. In der Musik wird dieses verdeutlicht durch das „rettende“ H-Dur, welches ab der Wiederho- lung des Bläserchorals die Grundtonart h-Moll abgelöst hat.

Jacqueline Fontyn, Petit songe d’une nuit d’hiver − Ein (kleiner) Winternachtstraum Die Komponistin schreibt: Der Titel Petit songe d’une nuit d’hiver − Ein (kleiner) Winternachtstraum ist ganz offensicht- lich durch Felix Mendelssohn Bartholdy inspiriert. Ein Hauch von musikalischem Humor prägt das kurze Zwischenspiel. Gegen Ende intoniert das Orchester ein Fragment aus der Hymne à la nuit (Ode an die Nacht) von Jean Philippe Rameau: Oh nuit ! Qu‘il est profond ton silence … (O Nacht! Es ist dein Schweigen tief ...) So gelangt das Werk zu seinem ruhi- gen und sanften Ende. Die kurze Komposition entstand 2002 dank eines Kompositionsauftrages des Geigers und Dirigenten Wolfgang Hentrich, der dann die Uraufführung zum Jahreswechsel 2002/2003 im Rahmen von vier Konzerten der Dresdner Philharmonie im Festsaal des Kulturpalastes Dresden leitete.

Ethel Smyth Konzert für Violine, Horn und Orchester Das Werk komponierte Ethel Smyth im Jahr 1926 nach einer Begegnung mit dem phäno- menalen Hornisten Aubrey Brain, dessen bewundernswerte instrumentale Fähigkeiten sie hierzu inspirierten. Am 5. März 1927 fand in der Queen’s Hall in London die Urauffüh- rung des dreisätzigen Werkes statt mit Aubrey Brain, der Geigerin Jelly d‘Arányi und dem BBC-Orchester unter der Leitung von Ethel Smyth. 1928 gab es in Berlin eine weitere Auf- führung in einem Konzert des Berliner Philharmonischen Orchesters mit Aubrey Brain und der Geigerin Marjorie Hayward. In die Leitung des Konzertes teilten sich Ethel Smyth und der Dirigent Bruno Walter. Das 1928 beim Londoner Verlag J. Curwen & Sons gedruckte Werk enthält die Widmung „To the best friend of English Music, Henry Wood“. Der erste Satz Allegro moderato beginnt mit einem kraftvoll-energischen Thema, gespielt vom ganzen Orchester. Nach 21 Takten setzen die Solisten ein; zunächst die Solovioline mit einer berührenden Melodie, die vom Horn übernommen wird und zu einem imitatori- schen Spiel der beiden Instrumente führt. Diese Melodie wird in variierter Form mehrfach wiederholt. Das eigentliche Eröffnungsthema wird von den beiden Solisten erst kurz vor der Reprise vorgestellt. Der zweite, ruhige Satz Elegy (in memoriam). Adagio beginnt mit den Solisten. Die Kom- ponistin ließ offen, an wen sie dabei gedacht hatte, als sie der Satzbezeichnung „in memo- riam“ hinzufügte. Nach dem ersten, opulenten Satz wirkt der zweite Satz eher ruhig und schlicht – vielleicht ein Klagegesang?

94 Der Finalsatz Allegro ist tänzerisch angelegt und enthält eine virtuose Kadenz der beiden So- listen. Das Horn hat hier außer großen Intervallsprüngen auch drei- bis vierstimmige Ak- korde hervorzubringen. Dies geschieht durch gleichzeitig geblasene und gesungene Töne. Offensichtlich verfügte Aubrey Brain schon damals über diese Technik. Als Alternative hierzu können nach Smyth Angabe auch zwei Hornisten aus dem Orchester die Akkorde des Solo-Horns komplettieren. Mit zunehmendem Tempo kommt der Finalsatz schließlich zu einem glorreichen grandiosen Schluss.

Das Sinfonieorchester der Universität Kassel besteht seit mehr als 20 Jahren. Es setzt sich überwiegend aus Studierenden, ehemaligen Studierenden und Lehrenden der verschiedenen Fachbereiche zusammen und nimmt mitt- lerweile einen festen Platz im Musikleben der Stadt Kassel ein. In wöchentlichen Proben und zwei zusätzlichen Probenwochenenden pro Semester erarbei- ten die Musikerinnen und Musiker anspruchsvolle Programme, die sie am Semesterende in zwei bis drei Konzerten darbieten. Auf den Programmen standen bisher überwiegend selten aufgeführte Kompositionen aus der Spätklassik, der Romantik und dem 20. Jahrhundert.

95 HNA Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 13. Februar 2015

96 HNA Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 25. März 2015 (Werner Fritsch)

97 27. März 2015, Rathaus Kassel

Begrüßungsreden Bertram Hilgen, Oberbürgermeister der Stadt Kassel Christel Nies

Jubiläumskonzert

Emilie Mayer Streichquartett g-Moll op. 14 (1858) 1812–1883 Allegro appassionato Scherzo. Allegro assai Adagio con molto espressione Finale. Allegro molto

Fanny Hensel Fünf Lieder op. 10 1805–1847 Transkription für Sopran und Streichquartett von Otfrid Nies I Nach Süden (1841), unbekannter Textdichter II Vorwurf (1841), Nikolaus Lenau III Abendbild (1846), Nikolaus Lenau IV Im Herbste (1846), Emanuel Geibel V Bergeslust (1847), Joseph von Eichendorff

Germaine Tailleferre Streichquartett (1919) 1892–1983 Modéré Intermède Final: Vif

Vítězslava Kaprálová Streichquartett op. 8 (1936) 1915–1940 Con brio (zum 100. Geburtstag Lento der Komponistin) Allegro con variazioni

Spohr Ensemble Traudl Schmaderer, Sopran Katalin Hercegh, Violine Alexander Grotov, Violine Joachim Schwarz, Viola Wolfram Geiss, Violoncello

98 Emilie Mayer Streichquartett g-Moll op. 14 (siehe Seite 55)

Fanny Hensel Fünf Lieder op. 10 (siehe Seite 78)

Germaine Tailleferre Streichquartett Auf Empfehlung von Erik Satie, der Tailleferre als seine „musikalische Tochter“ bezeichnete, wurde die Komponistin 1917 Mitglied der Gruppe der „Nouveaux Jeunes“, einer Vereinigung ambiti- onierter junger französischer Komponisten. Ab 1920 zählte sie als einzige Frau, oftmals unter der Bezeichnung „Dame des Six“, zu den Mit- gliedern der legendären „Groupe des Six“ mit den Komponisten Darius Milhaud, Françis Poulenc, Arthur Honegger, George Auric und Louis Durey. Geistiger Wortführer der Gruppe war Jean Cocteau. Die Gruppe setzte sich für eine antiromantische Richtung in der Musik ein, wandte sich vom wagnerianischen und vom impressionistischen Stil von Debussy und Ravel ab, wahrte aber strikt die individuelle, uneingeschränkte kompositorische Eigenständigkeit der einzelnen Mitglieder. Außer den Gemeinschaftskompositionen „Album des Six“ für Klavier (1920) und der Ballettmusik „Les Mariés de la Tour Eiffel“ (1921) komponierte jedes Mitglied nach eigenem gusto. Tailleferre, die schon früh eine Vorliebe für die französische Musik des 17. und 18. Jahr- hunderts wie auch für Mozart, Ravel und Strawinsky erkennen ließ, hatte Unterricht bei den Komponisten Charles-Marie Widor und Maurice Ravel. Mit Letzterem war sie freund- schaftlich verbunden und seine Musik blieb nicht ohne Einfluss auf die ihre. Der Kompositionsstil von Germaine Tailleferre ist sowohl neoklassizistisch wie auch im- pressionistisch geprägt, die Musik von „leichter“ und heiterer Art, eine Musik, die vor al- lem gefallen will. Die musikalische Richtung der „Neuen Wiener Schule“ lehnte die Kom- ponistin ab, weil sie diesen neuen Stil für zu intellektuell und schwer zugänglich hielt. Das musikalische Œuvre von Germaine Tailleferre beinhaltet 238 Werke, darunter Opern, Orchesterwerke und Kammermusik. Mit der Arbeit an dem dreisätzigen Streichquartett begann Tailleferre 1917, in der Zeit als sie Mitglied der Gruppe „Nouveaux Jeunes“ war und beendete es im Jahr 1919. Unüber- hörbar sind ganz besonders hier die Anklänge an Ravels farbigen Kompositionsstil, vor allem im zweiten Satz, dem tänzerisch angelegten Intermède. Der rhythmische letzte Satz Final: Vif beginnt mit einem in der Musik selten verwendeten 6/16–Takt und besticht durch ein ausdrucksstarkes Solo der 1. Violine in Verbindung mit einem Orgelpunkt und der geräuschhaften Begleitung der anderen Instrumente.

99 Germaine Tailleferre widmete ihr einziges Streichquartett dem mit ihr befreundeten Pianisten Artur Rubinstein, der sich sehr für die Aufführung des Werkes einsetzte und ihre Klavierkompositionen in vielen Ländern spielte.

Le Groupe des Six, von links: Darius Milhaud, Jean Cocteau, Georges Auric, Arthur Honegger, Germaine Tailleferre, Francis Poulenc, Louis Durey.

Vítězslava Kaprálová Streichquartett op. 8 Das dreisätzige Streichquartett entstand in der Zeit, als die zwanzigjährige Vitězslavá Kaprálová nach Prag ging, um Komposition in der Meisterklasse von Vitězslav Novák zu studieren. 1935 hatte sie mit der Arbeit an dem Quartett begonnen und konnte diese nach einem Jahr 1936 beenden. Noch im gleichen Jahr wurde es vom Moravian Quartet in Brno uraufgeführt. Das Streichquartett ist das erste „reife“ Werk von Kaprálová. Es zeigt eine vielseitige Verwendung mährischer Melodik und Idiome, die auch ihre späteren Werke auszeichnen sollten. Der erste Satz Con brio beginnt mit einer temperamentvol- len Aufwärtsbewegung der vier Instrumente, die am Schluss des Satzes wiederkehrt, nachdem ein rhythmisch prägnantes Thema vielfach verarbeitet wurde. Der zweite SatzLento beginnt mit einer melancholischen Cello-Kantilene, der sich allmählich die anderen Instrumente hinzugesellen. Der Gestus des Satzes hellt sich auf durch das nun folgende, von den oberen Streichinstrumenten vor- gestellte lebhafte Thema, das vielfach bearbeitet und variiert wird. Der Satz endet mit einem beschwingten Rhythmus (lang-kurz-lang). Der dritte Satz, ein Variationen-Satz mit einem rhythmischen Thema, durchläuft die verschiedensten Variationsformen und endet mit einem rasanten „Rauswerfer“ – dem gemeinsamen Aufwärtsgang der Streicher.

Zur Musik von Vitězslava Kaprálová Wie die französische Komponistin Lili Boulanger (1893-1918) hatte auch Vitězslavá Kaprálová schon sehr früh zu ihrer eigenen, unverwechselbaren Tonsprache gefunden und diese im Laufe ihres leider viel zu kurzen Lebens nachvollziehbar weiter entwickelt. Die Musik offenbart ein unbändiges Temperament, das sich in vielschichtigen, ungemein be-

100 redten Gesten, in großer rhythmischer Energie und metrischer Vielfalt ausdrückt, gepaart mit einem lyrisch geprägten melodischen Empfinden. Die Musik von Kaprálová definiert sich durch einen spätromantischen Gestus mit den typischen Merkmalen der tschechoslo- wakischen Musiksprache und mit impressionistischen Farben; sie ist geprägt von Novák und Martinů und von Kaprálovás Vorliebe für Strawinsky und Bartók, aber auch von ihrem Wissen um zeitgenössische stilistische Strömungen. Obwohl das hinterlassene Werk das kompositorische Potenzial der Komponistin sicher nur in Ansätzen zeigen kann, so bildet Kaprálovás Schaffen doch eine kontinuierliche, herausragende und progressive Strömung in der Entwicklung der tschechischen Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

101 30. April 2015, Musikakademie Louis Spohr, Kassel

Musik und Genuss Die Forelle und andere akustische und sensorische Kostbarkeiten.

Louise Farrenc Trio für Violine, Violoncello und Klavier e–Moll, op. 45 1804–1875 Allegro deciso Andante Scherzo, Vivace Presto

Franz Schubert Quintett A–Dur (D 667) 1797–1828 für Klavier, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass (Forellenquintett) Allegro vivace Andante Scherzo, Presto Thema. Andantino – Variazione I–V – Allegretto Finale. Allegro giusto

Dozenten der Musikakademie Louis Spohr Michael Kravtchin, Klavier Diana Mykhalevych, Violine (a. G.) Peter Gries, Viola Tatiana Gracheva, Violoncello (a. G.) Jan Harborth, Kontrabass

102 „Gut geschrieben und instrumentiert, mit einer Begabung, die man selten bei Frauen antrifft“ ( über die zweite Ouverture von Louise Farrenc) Louise Farrenc wurde am 31. Mai 1804 als Jeanne-Louise Dumont in Paris geboren und wuchs in einer Künstlerfamilie auf. Schon früh zeigte sich ihre außergewöhnliche mu- sikalische Begabung. Ersten Klavierunterricht erhielt sie im Alter von sechs Jahren bei einer Lehrerin, die selbst Schülerin von Muzio Clementi (1752–1832) war. Mit 15 Jahren wurde Louise am Pariser Conservatoire in die Klasse des böhmischen Komponisten und Flötisten Antonin Reicha (1770–1836) aufgenommen; hier erhielt sie eine professionelle Musikausbildung. Zum Kompositionsstudium waren Frauen in der Zeit am Conservatoire nicht zugelassen; somit war ihnen die Teilnahme sowohl am Wettbewerb um den „Prix de Rome“ verwehrt wie auch die Aussicht auf eine Professur für Komposition. 1821 hei- ratete die Siebzehnjährige den zehn Jahre älteren Flötisten und Verleger Aristide Farrenc (1794–1865), Gründer des Verlages Éditions Farrenc, der sich bald zu einem der führen- den französischen Musikverlage entwickelte. Hier wurde u.a. das Gesamtwerk von Johann Nepomuk Hummel veröffentlicht wie auch 42 nummerierte Kompositionen von Louise Farrenc. Das Ehepaar begann die gemeinsame Arbeit am Trésor des Pianistes, einer ausführ- lich kommentierten Sammlung von Klavierwerken ab dem 16. Jahrhundert mit Werken von Frescobaldi bis Felix Mendelssohn Bartholdy. Die 23 Bände umfassende Edition ent- stand in den Jahren 1861–1872 als erste Anthologie von Klavierwerken überhaupt. 1826 wurde die Tochter Victorine Farrenc geboren, die bei ihrer Mutter eine professionelle Musikausbildung erhielt und eine herausragende Pianistin wurde. Da Kammermusik im damaligen Frankreich auf wenig Interesse stieß, gründeten die Farrencs in Paris mit den „Montagskonzerten“ eine eigene Kammermusikreihe in den Räumen ihres Verlages. Hier traten außer Aristide, Louise und Victorine Farrenc auch interessierte und befreundete pro- fessionelle Musiker auf wie beispielsweise auch der Geiger Joseph Joachim. Zur Auffüh- rung kamen Werke von Louise Farrenc und solch namhafter Komponisten wie Scarlatti, Frescobaldi, Couperin, Beethoven. 1842 erhielt Louise Farrenc am Pariser Conservatoire als erste Frau eine Professur für Kla- vier, die allerdings mit diesen Einschränkungen verbunden war: Sie durfte lediglich Studen- tinnen unterrichten, und sie verdiente 200 Francs weniger als ihr Kollege Henri Hertz für die gleiche Arbeit. Ihr Protest gegen diese unterschiedliche Honorierung führte schließlich zum Erfolg. Dreißig Jahre lang wirkte Louise Farrenc als Professorin für Klavier am Pariser Conservatoire. Der Tod der Tochter Victorine im Jahr 1858 traf ihre Eltern hart und lähmte Louise Farrenc vor allem bei ihrer kompositorischen Arbeit. Es entstanden nur noch wenige Werke. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1865 setzte sie nun vorrangig die Arbeit an der Edition des Trésor des Pianistes fort. Unter den zahlreichen Kompositionen von Louise Farrenc finden sich außer kammermusi- kalischen Werken auch solche für großes Orchester. Die erste ihrer drei Symphonien wurde 1845 in Brüssel unter dem Dirigat des renommierten belgischen Komponisten, Musik- kritikers und -biographen François Joseph Fétis (1784–1871) aufgeführt, die zweite und

103 dritte Symphonie kamen in Paris mit großem Erfolg zur Aufführung. Louise Farrenc starb 1875 im Alter von 71 Jahren in Paris. Nach ihrem Tode geriet sie, wie die meisten Kom- ponistinnen der Vergangenheit, weitgehend in Verges- senheit. Robert Schumann schrieb 1836 über Louise Farrencs Klavierstück Air russe varié in „Neue Zeitschrift für Mu- sik“: Legte mir ein junger Komponist Variationen wie die von Louise Farrenc vor, so würde ich ihn darum sehr loben, der günstigen Anlagen, der schönen Ausbildung halber, wovon sie überall Zeugnis geben. Kleine, saubere scharfe Studien sind es, so sicher im Umriss, so verständig in der Ausführung, so fertig mit einem Worte, dass man sie lieb gewinnen muss, umso mehr, als über ihnen ein ganz leiser romantischer Duft fort- schwebt… Der französische Musikwissenschaftler Castil Blaze äußerte sich in der Zeitschrift „La France musicale“: „C’est parmi les hommes, que Mme. Farrenc doit chercher ses rivales” (Es sind die Männer, unter denen Mme. Farrenc ihre Rivalen suchen sollte!)

Werkbeschreibung S. 83

104 13. Juni 2015, Adventskirche Kassel

Liederabend

Meine Liebe... Clara Schumann Liebst Du um Schönheit (Friedrich Rückert) op. 12/4 1819–1896 Ich stand in dunkeln Träumen (Heinrich Heine) op. 13/1 Warum willst du and’re fragen (Friedrich Rückert) op. 12/11

Ursula Mamlok Four German Songs nach Gedichten von Hermann Hesse 1923–2016 Über die Felder September Schmetterling Nachtgefühl

Fanny Hensel Fichtenbaum und Palme (Heinrich Heine) 1805–1847 Warum sind denn die Rosen so blaß (Heinrich Heine) Und wüsstens die Blumen (Heinrich Heine) Dein ist mein Herz (Nikolaus Lenau)

...ein Meer Henriëtte Bosmans La Chanson des Marins halés (Paul Fort) 1895–1952

Ethel Smyth aus „Moods of the Sea“: After Sunset 1858–1944 (Arthur Symons)

Fanny Hensel Was will die einsame Träne (Heinrich Heine)

Henriëtte Bosmans Chanson fatale (Paul Fort)

Rebecca Clarke The Seal Man (John Masefield) 1886–1979

Clara Schumann Sie liebten sich beide (Heinrich Heine) op. 13/2

Henriëtte Bosmans Le Regard Eternel (Paul Fort)

Lili Boulanger Reflets (Maurice Maeterlinck) 1893–1918

105 Rebecca Clarke June Twilight (John Masefield)

Lili Boulanger Le Retour (Lili Boulanger – Georges Delaquys)

Henriëtte Bosmans Le Diable dans la nuit (Paul Fort)

Andreas Beinhauer, Bariton Markus Hadulla, Klavier

Meine Liebe… ein Meer Ein Liederabend in zwei Teilen mit 22 Liedern von sieben Komponistinnen My generosity to you is as limitless as the sea, and my love is as deep. The more love I give you, the more I have. Both loves are infinite. William Shakespeare (Meine Großzügigkeit ist so grenzenlos wie das Meer. Meine Liebe ist so tief: je mehr ich Dir gebe, desto mehr habe ich, denn beides ist unendlich.) Quelle: Shakespeare, Romeo und Julia, 1595, gedruckt 1599 (Raubdruck 1597). Übersetzung von August Wilhelm Schlegel

Was wären Dichtkunst und Musik ohne das Thema Liebe und ohne das Thema Meer, jedes für sich betrachtet oder beides miteinander verknüpft. In der Musik wurden Liebe und Meer besungen in zahlreichen Orchester- und Kammermusikwerken, in großen Opern wie Der fliegende Holländer und Tristan und Isolde von , wie auch in L’amour de loin von Kaija Saariaho, um nur einige zu nennen. In der Dichtkunst spielen Liebe und Meer von jeher eine Rolle; kaum ein Schriftsteller, eine Schriftstellerin, die es versäumten, die Thematik aufzugreifen und in Prosa und Lyrik einzubinden. „Wie das Meer ist die Liebe, unaufhörlich, unergründlich, unermeßlich…“ so der Anfang eines Gedichtes von Richard Fedor Leopold Dehmel, das mit der Aussage endet: „Ahnung der Unendlichkeit – ist das Meer, ist die Liebe“. Alma Mahler hat es kongenial vertont.

106 Es sind vor allem die Lieder, die das Thema Liebe und Meer in all seinen Facetten weiter- tragen. Im Programm dieses Konzertes geschieht das in den Liedern von sieben Komponis- tinnen unterschiedlicher Herkunft, Lebensdaten und Biografien mit individueller Textaus- deutung und kompositorischer Herangehensweise jeder Einzelnen. In den Liedern von Clara Schumann wird die Liebe besungen. So vermittelt das Rückert- Lied Liebst Du um Schönheit, dass man um nichts anderes als um der Liebe selbst willen geliebt werden möchte. Im Heine-Text des Liedes Ich stand in dunkeln Träumen beklagt der Liebende den Verlust der Geliebten, und im Lied Sie liebten sich beide (Heine) will keiner dem anderen seine Liebe gestehen: „… sie sahen sich an so feindlich und wollten vor Liebe vergehn. Sie trennten sich endlich und sahn sich nur noch zuweilen im Traum; sie waren längst gestorben, und wußten es selber kaum“. Bei Friedrich Rückert heißt es in seinem Gedicht Warum willst Du and’re fragen „… Glaube nicht, als was dir sagen diese beiden Augen hier!“ Das Gedicht endet mit der Aussage: „… Was auch meine Lippen sagen, sieh mein Aug’, ich liebe dich!“ Von Ursula Mamlok stammen die höchst einfühlsamen Vertonungen von vier Hermann Hesse-Gedichten aus dem Buch Vom Baum des Lebens, einer von Hesse getroffenen Aus- wahl seiner Lyrik. Der Zyklus mit den von Mamlok ausgewählten Liedern Über die Felder, September, Der Schmetterling und Nachtgefühl entstand 1958 in den USA, sie veröffentlichte ihn unter dem Titel Four German songs nach Gedichten von Hermann Hesse für Mezzo- sopran oder Bariton. Die einzelnen Liedtexte beschreiben verschiedene Naturstimmungen, die Mamlok auf höchst expressive Weise, dem Text entsprechend, in Musik umsetzt. Dabei geht sie kompositorisch auch über die Grenzen und Gesetze der „alten“, für lange Zeit geltenden Harmonielehre hinaus. In den einzelnen Gedichten erlebt der Protagonist die unterschiedlichen Stimmungen in der Natur. Im letzten Vers von Nachtgefühl denkt er über das Leben und sein eigenes Ende nach. Er versucht, sich von seiner melancholischen Grundeinstellung, die auch die Musik widerspiegelt, zu befreien: „Sorge flieht und Not wird klein, seit der Ruf geschah. Mag ich morgen nimmer sein, heute bin ich da.“ Fanny Hensel ließ im Lied Fichtenbaum und Palme (Heinrich Heine) wissen, dass ein einsamer Fichtenbaum „im Norden auf kahler Höh’“ von einer Palme im fernen Morgen- land träumt. Wie viele andere Gedichte auch, so handeln die von Fanny Hensel vertonten Heine-Texte Warum sind denn die Rosen so blaß sowie Und wüsstens die Blumen von der Verzweiflung und Trauer über eine verlorene Liebe. Im Lied Dein ist mein Herz (Nikolaus Lenau) hingegen wird die Liebe dann jubelnd besungen: „… Dein ist mein Herz und wird es ewig bleiben!“ Freude und Leid, wie nah liegen sie in der Liebe und im Lied beieinander! In einem weiteren, von Hensel vertonten Gedicht von Heinrich Heine Was will die einsame Träne, heißt es im Anschluss: „sie trübt mir ja den Blick“. Selbst die „blauen Sternelein“ zerfließen im getrübten Blick wie im Nebel, so wie auch die Liebe: „… Ach, meine Liebe selber zerfloß wie eitel Hauch! Du alte, einsame Träne, zerfließe jetzunder auch!“. Der zweite Teil des Konzertprogrammes widmet sich dem Thema Meer, so in drei höchst dramatischen Liedern der niederländischen Komponistin Henriëtte Bosmans auf Texte von Paul Fort in französischer Sprache:

107 La Chanson des Marins halés erzählt vom Meer und den von ihm übel zugerichteten, ent- stellten Matrosen. Sie haben das Meer zwar selbst erwählt, aber es hält sie fest und wird ihr Grab. Niemals werden sie zurückkehren. Im Lied Chanson fatale weiß der Matrose von seinem Ende auf dem Meer, er schreibt seiner Liebsten: „La vie si courte, la mer si grande, vois-tu, ma mie, faut les subir“ (Das Leben so kurz, das Meer so groß, sieh meine Geliebte, man muss es ertragen). Le Regard Eternel: Hier träumt der Liebende, dass seine Freundin tot sei und im Grabe liege. Auch er selbst sei tot, kehre aber wieder ins Leben zurück, und die Liebenden schauen sich an mit einem „ewigen Blick“ (Le Regard Eternel). Das Lied Le Diable dans la nuit (Der Teufel in der Nacht) beschreibt das Unwesen eines Teufels mit rubinrot glühenden Augen, der ein grausiges Nachtmahl zubereitet aus tausenden Mäusen und den Herzen zweier Liebender. Bon Appétit! Aus der Feder der englischen Komponistin Ethel Smyth stammt der Zyklus Moods of the Sea auf Texte von Arthur Symons. Das dritte Lied dieses Zyklus’ After Sunset beschreibt eine romantische Idylle am Meer: Die Sonne geht unter, und der fahle Schein der Mondsichel und ein goldener Stern beleuchten das Scenario. Unter den zahlreichen Liedern der in Harrow/England geborenen Komponistin und Brat- schistin Rebecca Clarke ist auch das Lied The Seal Man (Der Seehundsmann) auf einen Text von John Masefield. Eine junge Frau verliebt sich in einen seal man, aber das unglei- che Paar erkennt nicht die Gefahren einer Liebe, die sowohl zu Lande wie auch zu Wasser gelebt werden müsste. Der seal man besteht auf seinem Element, also der Liebe im Wasser, und lockt die Geliebte ins Meer. Sie geht unter und stirbt auf tragische Weise. Das Lied June Twilight beschreibt die schemenhafte Veränderung von Natur und Gegenständen im Zwielicht der eintretenden Dämmerung. Die frühverstorbene französische Komponistin Lili Boulanger vertonte in ihrem Lied Reflets (Widerschein) einen Text des Symbolisten Maurice Maeterlinck, der mit dem Vers beginnt: „Sous l’eau du songe qui s’élève, mon âme a peur, mon âme a peur! Et la lune luit dans mon cœur, plongé dans les sources du rêve“ (Unter dem Wasser des Traumes, der em- porsteigt, bangt meine Seele, und in meinem Herzen, das hineingetaucht ist in des Traumes Quellen, scheint der Mond).* Das Lied Le Retour auf einen Text von Georges Delaquys handelt von der Rückkehr des Odysseus nach Ithaka und beginnt: „Ulysse part la voile au vent, vers Ithaque aux ondes chéries…“ (Mit geblähten Segeln bricht Odysseus auf, gen Ithaka auf den vertrauten Wellen…).* (* Übersetzung von Birgit Stièvenard-Salomon)

108 HNA Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 15. Juni 2015 (Susanna Weber)

109 28. Juni 2015, Christuskirche Kassel

Eine Veranstaltung von Kultursommer Nordhessen 2015 und „Komponistinnen und ihr Werk“

Licht und Dunkel

Kaija Saariaho Tag des Jahrs: Frühling *1952 für Chor und elektronische Zuspielung

Il pleut für Sopran solo und Klavier

Clara Schumann Drei gemischte Chöre nach Gedichten von Emanuel Geibel 1819–1896 Gondoliera – Vorwärts – Abendfeier in Venedig

Kaija Saariaho Tag des Jahrs: Sommer für Chor und elektronische Zuspielung

Lili Boulanger Hymne au soleil für Chor, Alt solo und Klavier 1893–1918 Sous bois für Chor und Klavier Soleils de septembre für Chor und Klavier

Kaija Saariaho Tag des Jahrs: Herbst für Chor und elektronische Zuspielung

Lili Boulanger Soir sur la plaine für Chor, Sopran, Tenor solo und Klavier

Kaija Saariaho Horloge, tais–toi! für Frauenstimmen und Klavier Aus: Leinolaulut für Sopran solo und Klavier Nr. II Sydän Nr. IV Iltarukous Nuits, Adieux für Soli und Chor

Kaija Saariaho Tag des Jahrs: Winter für Chor und elektronische Zuspielung

110 Nadja Senatskaja, Sopran Annette Bialonski, Alt Vladimir Tarasov, Tenor Manfred Reich, Bass

Hellmuth Vivell, Klavier Frank Gerhardt, elektronische Zuspielung

Vocalensemble Kassel Leitung: Eckhard Manz

Das Programm des Konzertes kreist um Fragen wie Licht und Dunkel, Anfang und Ende, und nicht zuletzt um den Rhythmus des Jahreskreises. Das Letztere bildet die Architektur des Abends. In Tag des Jahrs vertont Kaija Saariaho Hölderlins Gedichte für Stimme und elektronische Zuspielung. Diese arbeitet mit sparsam eingesetzten orchestralen Farben und vor allem mit Lautgeräuschen und Sprachteilen, die den Gedichten entnommen werden. Während die Musik einer Mischung aus Elektronik und Live-Gesang Raum gibt, wird in Herbst der Chor bewusst wie im Sturm durch die Partitur gehetzt. Die Werke von Lili Boulanger schaffen Bilder von Licht und Dunkel: aufgehende und untergehende Sonne, Licht und Liebe und weite Landschaften in hellem Licht. Die aufge- hende und kraftvolle Sonne ist Symbol für Leben und Kraft, die untergehende Sonne wird zum Bild des Abschieds, die Nacht zum Ort der Klage und des Seufzens. Boulanger nutzt das Klavier orchestral und entwickelt größte Klangfülle des Ensembles. Der harmonische Reichtum spiegelt die Meisterschaft der jungen Komponistin wider, die Suche nach immer neuen Farben zur klanglichen Ausleuchtung des Textes. An der Oberfläche nehmen wir eine Fülle und einen Klangrausch wahr, im Innersten ist dies die leidenschaftliche Suche Lili Boulangers nach Wahrheit zwischen Text und Musik.

111 Die Uhr (Horloge, tais-toi!) ist vermeintlich eine Humoreske der besonderen Art für Frauen- chor und Klavier. Eigentlich ein surreales Theater, das uns vor Augen führt, wie schnell die Zeit abläuft. Jetzt gerade. Das Lachen bleibt im Halse stecken, das unerbittliche Ende kommt immer näher und entlädt sich in mehrmaligen Akkordschlägen des Klaviers. Kaija Saariahos großes Werk Nuits, Adieux für vier Solisten und Chor lebt vom Bild der Nacht und vom Abschied. Beide Texte werden ineinander geschoben und geraten damit je- weils zur Deutung des anderen Textes. In der Nacht ist viel Abschied, und im Abschied gibt es viel Nacht. Die Komponistin nutzt geräuschartige Klänge für das Substanzlose, für den Rest, der uns nach einer Nacht voller Abschied übrigbleibt, und sie beschreibt den Zustand in ihrer Komposition, der die Kehle voller Angst und Verzweiflung zuschnüren lässt. Hier gerät die Musik an den Abgrund, wo alles nur noch dunkel erscheint. Sie stammelt, hechelt, sie ringt um Atem, würgt und bewegt sich auf eine Katastrophe hin. Kraftlos wird sie im Aushauchen. Im Text wird aber auch die Transformation beschrieben, der – überraschen- de – Wechsel vom Einen zum Anderen. Jedoch auch diese Verwandlung führt ins Leere, denn nicht einmal der Glaube und die Liebe bleiben übrig – ein endgültiger Abschied, der zur Nacht ins Dunkel führt. Zum Schluss bleibt die Verlassenheit der eisigen Landschaft im Winterbild, leblos und gestaltlos. Gesungen wird hier am Ende nicht mehr, nur noch Geräusch, schemenhafter Klang, menschenleer. Adieux… Eckhard Manz

Nuits, Adieux von Kaija Saariaho Das Werk Nuits, Adieux (Nächte, Abschiede) entstand im Jahr 1991 in einer ersten Fassung für Vokalquartett und Elektronik für das Ensemble Electric Phoenix. Fünf Jahre später, im Jahr 1996, schrieb Saariaho auf Bitten des Ensembles Joyful Company of Singers eine zweite Version für vier Solisten und achtstimmigen Chor. Hier übernehmen und imitie- ren die Sänger den Elektronik-Part der Originalfassung von 1991 wie Echos, Verzögerun- gen und andere Effekte. Die Uraufführung dieser Fassung für Solisten und Chor fand am 20. März 1997 statt mit dem Ensemble Joyful Company of Singers. Dirigent war Peter Broadbent. Bei der Aufführung von Nuits, Adieux im Konzert mit dem Vocalensemble Kassel handelt es sich um die zweite Version von 1996 für Chor und vier Solisten.

Kaija Saariaho zu Nuits, Adieux (erste Fassung von 1991 für Vokalquartett und Elektro- nik) Nuits, Adieux traite du chant, du souffle, du chuchote- ment, de la nuit et de l’adieu. La pièce est formée de dix sections : les cinq premières sont intitulées Nuits, les cinq autres Adieux.

112 Deux sources différentes ont été utilisées pour les textes, en relation avec les deux divisions de l’œuvre : des extraits du livre de Jacques Roubaud Échanges de la lumière (dans Nuits) et un fragment du roman de Balzac Séraphîta (dans Adieux). Les voix sont amplifiées et transformées pendant l’exécution. Chaque chanteur utilise deux micros. L’un est utilisé pour une amplification générale : les sons captés sont envoyés vers différents programmes de traitement et modification du son. Les transformations les plus audibles sont cependant obtenues avec le matériau chanté dans le deuxième micro. J’utilise ici un système qui contrôle le temps de réverbération par les changements de dynamique des voix. En général, ce temps est conçu pour être relativement long : le résultat auditif est celui d’une texture changeant continuellement, et qui forme une toile de fond mouvante pour les événements chantés dans le premier micro. La meilleure introduction à Nuits, Adieux est de lire les textes que j’ai sélectionnés pour la pièce. Nuits, Adieux est une commande de la WDR. Sa création a été donnée à Cologne le 11 mai 1991 par l’ensemble Electric Phoenix. La pièce est dédiée à la mémoire de ma grand-mère.

(In diesem Werk geht es um das Singen, das Atmen, das Flüstern, um die Nacht und den Abschied. Formal ist das Stück in zehn Abschnitte unterteilt: die ersten fünf Abschnitte sind Nuits (Nächte) benannt, die fünf anderen Adieux (Abschiede). Zwei unterschiedliche Quellen wurden − entsprechend den beiden Teilen der Kompositi- on − für die Texte herangezogen: Auszüge aus dem Buch Échanges de la lumière von Jacques Roubaud (in Nuits) und ein Fragment aus der Novelle Séraphîta von Balzac (in Adieux). Die Singstimmen sind durch Lautsprecher verstärkt, sie werden während der Aufführung elektronisch beeinflusst und verändert. Jeder Sänger hat zwei Mikrofone; das eine dient einer allgemeinen Verstärkung: die eingefangenen Klänge werden an verschiedene Pro- gramme von Schallbehandlung und Klangmodifikation gesendet. Die auffallendsten Trans- formationen der gesungenen Partien werden allerdings über das zweite Mikrofon erzeugt. Hier verwende ich ein System, das die Dauer des Nachhalls durch den Dynamikwechsel der Singstimme steuert. Im Normalfall sollen diese Dauern relativ lang sein: das akustische Resultat ist das eines sich ständig verändernden Klangteppichs, der einen leicht bewegten Hintergrund für die über das erste Mikrofon gesungenen Ereignisse bildet. Den besten Zugang zu Nuits, Adieux bekommt man über die Lektüre der Texte, die ich für die Komposition ausgewählt habe. Nuits, Adieux ist ein Kompositionsauftrag des WDR. Die Uraufführung durchElectric Phoenix fand in Köln am 11. Mai 1991 statt. Das Stück ist dem Andenken meiner Groß- mutter gewidmet.) Übersetzung: Otfrid Nies

113 Nuits, Adieux aus Échanges de la lumière von Jacques Roubaud (*1932) In die Luft steigt das Licht auf von der Erde ins Dunkel und spuckt es in die Luft. Herbe Nacht auf der Erde bis in die Wipfel der Bäume. …

Nacht, du bist gekommen, das Licht zog weiter über die Wiesen, die Hügel, von denen das Licht wich, das Licht ist dunkel geworden …

Im Gras krallen sich die Samen, Wogen des Lichts an die Erde im Dunkeln und spucken sie ins Gras, dunkle Nacht bis in die Wurzeln der Bäume unter der Erde. …

Das ist die Nacht: Ein dunkler, ehrwürdiger Haarschopf. Das Licht ist nur dazu da, sie zu begrenzen. So wich die erste Nacht dem Tage.

(Übersetzung: Editions A. M. Métailié)

114 Honoré de Balzac (1799–1850) aus der Novelle Séraphîta: Adieu, granit, tu deviendras fleur ; Leb wohl, Granit, du wirst eine Blume sein; adieu, fleur, tu deviendras colombe ; Leb wohl, Blume, du wirst eine Taube sein; adieu, colombe, tu seras femme ; Leb wohl, Taube, du wirst eine Frau sein; adieu, femme, tu seras souffrance ; Leb wohl, Frau, du wirst Schmerz sein; adieu, homme, tu seras croyance ; Leb wohl, Mann, du wirst Glaube sein; adieu, vous qui serez tout amour Lebt wohl, die ihr ganz Liebe sein werdet et prière. und Gebet.

Aus: Nuits, Adieux von Kaija Saariaho

Das Vocalensemble Kassel widmet sich hauptsächlich der Auseinandersetzung mit Neuer Musik. Seit seiner Gründung 1965 arbeitet es mit führenden Komponisten zusammen. So hat es Werke von Dieter Schnebel, Lucia Ronchetti, Isabel Mundry, Gerhard Stäbler, Hans Darmstadt, Ulrich Lehmann, Hans Stein, Charlotte Seither, Sergej Newskij und zahlreichen anderen Komponisten uraufgeführt. Unter der Leitung seines Gründers Klaus Martin Ziegler wurde das Vocalensemble Kassel schnell überregional bekannt. Aufregende Programme in einer starken Auseinandersetzung mit theologischen Grundfragen gestal- tete es unter der Leitung von Hans Darmstadt, dem Nachfolger Zieglers als Kantor an St. Martin in Kassel. Der jetzige Leiter, Kantor Eckhard Manz, hat das Vocalensemble Kassel in ein projektbezogen arbeitendes Ensemble mit variabler Kammerchorstruktur überführt, um die Arbeit flexibler den Anforderungen entsprechend zu gestalten. Die Begegnung mit Kompositionen der Gegenwart prägt nach wie vor die Arbeit. Das Vocalensemble Kassel

115 wird immer wieder zu Festivals wie der Ruhr-Triennale, den Donaueschinger Musiktagen, dem Festival Europäischer Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd und dem Kultursommer Nordhessen eingeladen.

Eckhard Manz ist seit 2006 Kantor an St. Martin. Diesem Ort, den Chören, der Orgel, den Konzerten, der Stadt und nicht nicht zuletzt den Gottesdiensten gilt sein gan- zes Engagement. Studiert hat er Kirchenmusik und Cembalo, im Aufbaustudium Chor- und Orchesterleitung in Düsseldorf, Würzburg und Köln. Aber viel früher, in der zweiten Orgelstunde in Gießen, mit 14 Jahren, stand fest, dass er Kirchenmusiker werden würde. An der Orgel und mit den verschiedenen Chören gibt er Konzerte, natürlich in Kassel, er ist aber auch immer wieder unterwegs. Viele Reisen führen ihn in andere Länder und zu verschiedenen Festivals. Im Zentrum seiner Arbeit als Kantor der Martinskirche steht aber die Musik im Gottesdienst.

HNA Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 30. Juni 2015 (Werner Fritsch)

116

Anfahrt Komponistinnen und ihr Werk Institut für Musik die andere Konzertreihe Mönchebergstr. 1 25 JAHRE 34125 Kassel KOMPONISTINNEN UND IHR WERK UNIVERSITÄT KASSEL Die in Kassel beheimatete Veranstaltungsreihe wurde

1990 von Christel Nies gegründet, um das unter- ÖPNV Straßenbahn Nr. 3 oder 7 bis Katzensprung repräsentierte Schaffen von Komponistinnen aus Ver- Nr. 1 oder 5 bis Holländischer Platz gangenheit und Gegenwart vorzustellen und zu Gehör zu bringen. Mit zahlreichen Konzerten in Kassel und anderen europäischen Städten sowie den Aufführungen von hunderten Komponistinnen-Werken mit vielen

Uraufführungen und deutschen Erstaufführungen bildet die mehrfach ausgezeichnete Konzertreihe einen besonderen Schwerpunkt im Musikleben der Stadt

Kassel. Komponistinnen wie Sofia Gubaidulina, Elena Firsova, Doina Rotaru, Jacqueline Fontyn, Violeta SYMPOSIUM Dinescu, Ursula Mamlok, Younghi Pagh-Paan, Franghiz Ali Sade, Graciela Paraskevaidis und die inzwischen Impressum CHANCENGLEICHHEIT FÜR KOMPONISTINNEN verstorbenen Komponistinnen Grete von Zieritz und Konzept und Durchführung der Veranstaltung Myriam Marbe kamen zu ihren Porträtkonzerten nach Christel Nies und Prof. Dr. Frauke Heß ANNÄHERUNG AN DAS ZIEL

Kassel. Sie stellten ihre Werke vor, die von namhaften AUF UNTERSCHIEDLICHEN WEGEN Das Symposium ist eine Veranstaltung der Reihe Künstlern und Ensembles aufgeführt wurden, darunter Komponistinnen und ihr Werk Arditti Quartet, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Vocal- in Kooperation mit dem ensemble Kassel, Minguet Quartett, Klenke Quartett, Institut für Musik der Universität Kassel

Boulanger-Trio, Kolja Lessing, Margit Kern, Ensemble www.komponistinnen-konzerte.de Recherche, Spohr-Ensemble Kassel und viele andere. www.uni-kassel.de/fb01/institute/musik

Die meisten Konzerte sind in Tonaufnahmen und Rund- Anmeldungen unter funkmitschnitten dokumentiert, ausführliche Programm- [email protected] hefte geben Auskunft über die jeweiligen Komponis- Tel. 0561 872151 tinnen und ihre Werke. In den bisherigen vier Buchaus- oder beim Institut für Musik unter gaben finden sich außer der Dokumentation der Kon- [email protected] zerte von 1990 bis Ende 2010 themengebundene

Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren sowie

Biografien von mehr als 100 Komponistinnen. Mit freundlicher Unterstützung von Die fünfte Buchdokumentation mit den Veranstaltungen SONNTAG, 12. JULI 2015 der Jahre 2011 bis 2016 erscheint im Jahr 2016 bei 12 UHR – CA. 19.00 UHR kassel university press. UNIVERSITÄT KASSEL, MÖNCHEBERGSTR. 1

117 Dem Thema Schöpferische Frauen in der Musik widmen sich in Deutschland unter- schiedliche Initiativen und Institutionen, eine jede mit ihren individuellen Schwerpunkten und Zugängen. Und doch verfolgen sie ein gemeinsames Ziel: die Chancengleichheit für Komponistinnen aus Vergangenheit und Gegenwart. Orchesterwerke und Opern von Komponistinnen finden heute trotz langjähriger Aufklä- rungsarbeit kaum Eingang in die Programme von Sinfoniekonzerten und repräsentativen Musikfestivals sowie in das Repertoire der Opernhäuser. Wer oder was ist hierfür verant- wortlich? Ursachenforschung und die Suche nach Lösungen des Problems sollen in diesem Symposi- um thematisiert werden. Namhafte Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Initia- tiven für Komponistinnen berichten über Inhalte, Erfolge und Zukunftsperspektiven ihrer Arbeit.

Zu den weiteren Themenbereichen des Symposiums zählen: Musiksendungen über Kom- ponistinnen, Genderstudies in der Lehre, Komponistinnen im Kontext des Musikunter- richts, die Konzertreihe „Frau Musica (nova)“, „Frau und Musik“, eine persönliche Bilanz nach 40 Jahren, Notenfunde in Archiven sowie die Reihe „Komponistinnen und ihr Werk“, die ihr 25-jähriges Bestehen zum Anlass nimmt, dieses Symposium in Kooperation mit dem Institut für Musik der Universität Kassel zu veranstalten. Ein Konzert mit Werken von Clara Schumann, Luise Greger, Fanny Hensel, Alma Mahler und Galina Ustwolskaja rundet das Programm ab. Es musizieren Dozent_innen des Institutes für Musik.

PROGRAMM

12.00 Uhr Begrüßung Unerhörtes Entdecken – 25 Jahre Komponistinnen und ihr Werk Christel Nies, Kassel

12.40 Uhr Komponistinnen in Geschichte und Gegenwart – (m)ein Radioversuch. Frank Kämpfer, Deutschlandfunk

13.15 Uhr PAUSE

14.00 Uhr Schwester, Ehefrau, Ausnahmegestalt – Komponistinnen im Kontext des Musikunterrichts. Prof. Dr. Frauke Heß, Universität Kassel, Institut für Musik

118 14.35 Uhr Genderstudies in der Lehre: Das Forschungszentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien, Hannover. Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann, Hochschule für Musik Theater und Medien, Hannover

15.10 Uhr PAUSE

15.45 Uhr Frau Musica (nova): Das „Neue“ fördern und dokumentieren. Dr. Martina Homma, Köln

16.20 Uhr Informationsdienste zur besseren Auffindbarkeit von Notenmaterial für Aufführungen von Komponistinnen-Werken. Mary Ellen Kitchens, Archiv Frau und Musik, Frankfurt; Bayerischer Rundfunk; musica femina, München

17.00 Uhr Konzert Petra Schmidt, Sopran – Nikita Kopylov, Klavier – Stefan Hülsermann, Klarinette Lieder von Clara Schumann, Luise Greger, Fanny Hensel, Alma Mahler Werke für Klarinette von Dora Cojocaru und Betsy Jolas 5. Sonate für Klavier von Galina Ustwolskaja

18.00 Uhr Seit 40 Jahren dabei: Versuch einer kritischen Bilanz. Prof. Dr. Freia Hoffmann, Sophie Drinker Institut, ; Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg

18.30 Uhr Abschlussdiskussion Moderation Frank Kämpfer

119 12. Juli 2015, Institut für Musik, Universität Kassel

Dozentenkonzert im Rahmen des Symposiums

Chancengleichheit für Komponistinnen Annäherung an das Ziel auf unterschiedlichen Wegen

Alma Mahler Laue Sommernacht (Gustav Falke) 1879–1964 Die stille Stadt (Richard Dehmel)

Luise Greger Schließe mir die Augen beide (Theodor Storm) 1862–1944

Dora Cojocaru Refrène (1997) *1963 für Klarinette

Galina Ustwolskaja Sonate No. 5 für Klavier (1986) 1919–2006

Betsy Jolas Épisode Neuvième „Fortem magnum coloratum“ (1990) *1926 für Klarinette

Luise Greger Ich wollt, ich wär’ des Sturmes Weib (Anna Ritter)

Clara Schumann Volkslied (Heinrich Heine) 1819–1896 Lorelei (Heinrich Heine)

Petra Schmidt, Sopran Nikita Kopylov, Klavier Stefan Hülsermann, Klarinette

120 HNA Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 14. Juli 2015 (Georg Pepl)

121 9. Dezember 2016 Rathaus Kassel, Bürgersaal

Mit Nachhall und fluktuierender Spannung 4 Streichquartette aus 3 Jahrhunderten

Emilie Mayer Streichquartett e-Moll 1812–1883 Allegro maestoso Adagio Scherzo. Allegro vivace Finale. Allegro

Ursula Mamlok Streichquartett Nr. 2 (1998) 1923–2016 1. With fluctuating tension 2. Larghetto 3. Joyful

Konstantia Gourzi 2. Streichquartett op. 33/2 *1962 P-ILION, neun fragmente einer ewigkeit (2007) I. einatmen II. ausatmen III. tettix IV. jasmin V. geheimnis VI. ode VII. windig VIII. tanz IX. nachtblume

Hanna Kulenty Streichquartett Nr. 6 (2014) *1961 with echo-delay

Leipziger Streichquartett Conrad Muck, Violine Tilman Büning, Violine Ivo Bauer, Viola Matthias Moosdorf, Violoncello

122 Emilie Mayer Streichquartett e-Moll Das viersätzige Streichquartett in e-Moll von Emilie Mayer ist eines von acht Streichquar- tetten, die in den 1850er Jahren entstanden. Lässt sich in den frühen Werken von Emilie Mayer eine gewisse Anlehnung an den Kompositionsstil von Haydn und Mozart feststel- len, so sind die späteren Werke (etwa ab 1852), darunter die Streichquartette, geprägt von ihrer Begeisterung für Beethoven und dessen Spätwerk. Dies ist nicht zuletzt zurückzu- führen auf ihre Ausbildung bei dem Musikwissenschaftler und –theoretiker Adolf Bernhard Marx (1795-1866), der sich mit Nachdruck für das Spätwerk Beethovens einsetzte und eine Beethoven-Biografie verfasste. In einem Artikel der Neuen Berliner Musikzeitung von 1850 findet sich dieser Beitrag über Emilie Mayer und ihre Streichquartette: Erwägt man, dass die strengeren Formen der Instrumental-Musik und die der Fuge männli- cher Kraft selbst zu schaffen machen, so wächst das Ausserordentliche. Bisher hat Frauenhand höchstens das Lied überwunden […] aber ein Quatuor und gar eine Symphonie mit all den Künsten im Satze und in der Instrumentation – dies möchte als ein besonderer, höchst seltener Fall gelten können. […] [Die Werke] sind gesunde, frisch geschriebene, an dieses und jenes Vor- bild, besonders an Mozart und Rossini sich anlehnende, recht einnehmende Sätze, welche von vieler Schreibfertigkeit und von sichrer Beherrschung des vorhandenen Stoffes […] zeugen […]. Was weibliche Kräfte, Kräfte zweiter Ordnung vermögen – das hat Emilie Mayer errungen und wiedergeben.

Meine Heimat ist meine Musik – sie war immer bei mir (Ursula Mamlok) Ursula Mamlok Streichquartett Nr. 2 Mamloks Streichquartett Nr. 2, vollendet 1998, ist ein kompaktes dreisätziges Werk, das sich von ihrem Streichquartett Nr. 1, das mehr als dreißig Jahre früher entstand, erheblich unterscheidet. Während das erste Quartett die intensive Rhetorik zeigt, die typisch war für ihren Kompositionsstil in den sechziger Jahren, ist das zweite Quartett grundsätzlich neoklassizistisch angelegt. Den ersten und dritten Satz verbindet ein verschlungenes, hüp- fendes Thema, das in vielen Gestalten in Musik präsentiert wird, die abwechselnd spiele- risch und lyrisch ist. Die Sätze verbindet auch eine formale Verwandtschaft: Der erste Teil jedes Satzes wird in Umkehrung wiederholt. Im zweiten Satz wechseln lange Legato-Linien von einer fast an Gabriel Fauré erinnernden Zartheit mit kurzen agitato-Zwischenspielen. Gegen Ende des Finales führt Mamlok wieder das Thema des zweiten Satzes ein, um eine dicht geschlossene Gesamtform zu schaffen. Das Quartett endet mit einem eindrückli- chen Moment, wenn das Anfangsthema des ersten Satzes in seiner originalen Lage wieder- kehrt, aber in flexibler Bewegung von hoch und tief, was an den Beginn von Alban Bergs Lyrischer Suite erinnert. Streichquartett Nr. 2 war ein Auftrag der Fromm Music Foundation der Harvard University für das Cassatt Quartet und wurde von diesem Ensemble 1998 an der Syracuse University (New York, USA) uraufgeführt. Es ist der Erinnerung an Anna Cholakian gewidmet, einem der Gründungsmitglieder des Quartetts. Text von Barry Wiener, Übersetzung: Albrecht Dümling aus CD-Beilage URSULA MAMLOK, BridgeRecords 9360

123 Konstantia Gourzi 2. Streichquartett op. 33/2, P-ILION, neun fragmente einer ewigkeit Bei diesem Werk handelt es sich um eine Auftragskompo- sition der Kasseler Musiktage 2007. Oft dauert ein starkes Erlebnis nicht lange und trotzdem denken wir, dass es eine Ewigkeit anhält. Wie die Zeit des Ein- und Ausatmens: sie ist kurz, aber man hat das Gefühl, dass sie lange dauert. Diese Momente sind es auch, die uns lebendig halten. Ich merke immer deutlicher, dass der Fluss der Zeit schneller wird, so dass die Gefahr immer größer wird, den Puls des Lebens zu verlieren. Pilion ist eine Region in Griechenland. Die Natur dort ist pur und intensiv. Ich war dort, als ich anfing, das Stück zu komponieren. Das griechische große „P“ ist das Π (Pi), was im Alt-Griechischen u. a. als ein Zeichen für Tor oder Tür interpretiert wurde. ILION kommt von griechisch ILIOS=Sonne=Licht. Ich habe also mit dem Titel eine Art „Tor zum Licht“ gemeint – gleichzeitig meine Sicht auf Pilion, wie ich es erlebte. Die Miniaturen sollen die Momente, die zum Licht führen, beschreiben. Sie sollen eine solche Ausdrucksintensität erzeugen, so dass der Nachklang in der Gefühls- welt länger wirkt, als das Spielen der Musik selbst. Die Nummern neben den Titeln sind die Uhrzeiten. Die Zeit bleibt in einem Moment stehen, weil das Geschehen intensiv ist und sich die Wahrnehmung der Zeit damit verändert. Konstantia Gourzi

Hanna Kulenty Streichquartett Nr. 6 with echo-delay Die abwechselnd in Arnhem (Niederlande) und Warschau lebende Komponistin Hanna Kulenty bediente sich schon mehrfach in ihren Kompositionen elektronischer „Instru- mente”, um dem musikalischen Ablauf klangliche, zeitli- che und räumliche Dimensionen zu eröffnen. Ihr Werdegang führte sie nach der Schul- und Studi- enzeit in Warschau ans Königliche Konservatorium in Den Haag. Mehrfach nahm sie an den Darmstädter Fe- rienkursen teil und besuchte Kurse von Iannis Xenakis, Witold Lutosławski, Thomas Kessler und François- Bernard Mâche. Ihr Œuvre umfasst Werke fast aller Gat- tungen. Mehrere Opern, Theater- und Filmmusiken, etliche Orchester- sowie zahlreiche Solo- und Kammermusikwerke entstanden, vielfach im Auftrag renommierter Institutionen und Ensembles. Die mit vielen Preisen ausgezeichnete Komponistin ist mittlerweile selbst als Jurymitglied bei nationalen und internationalen Kompositionswettbewerben gefragt.

124 Ihre vielgestaltigen Werke eint eine Spannungsdramaturgie, die sie selbst als „Polyphonie der Bögen” bezeichnet, und die sich in den Klangschichten, Spannungsverläufen, Steige- rungen, Höhepunkten, aber auch der Reduktion und Konzentration ihres 6. Streichquar- tetts wiederfindet Lange Zeit musiziert nur das Violoncello. Die Quartettkollegen hüllen seine Linie in nebu- löse Flageolett-Klangwolken. Vage rhythmische Konturen eines Dreiermetrums zeichnen sich ab. Mehr als in Melodik, Harmonik und Rhythmik, den traditionellen kompositori- schen Gestaltungselementen, ereignet sich in der Dynamik, im hochdifferenzierten Wech- selspiel fein nuancierter Lautstärkegrade. Die gängigen Stufen unseres Tonsystems genügen der 1961 in Polen geborenen Kompo- nistin Hanna Kulenty nicht für die farbenreiche Klangkulisse: Feinste Rückungen im Vier- telton-Bereich rufen immer neue Schattierungen des unwirklich flirrenden Streicherklangs hervor. Auch das Cello gleitet oft frei, ohne Bindung an Stufen und Skalen in Glissandi durch den Tonraum. Alles schwebt schwerelos, kein Bass erdet die Töne. Doch damit nicht genug: Ein Tonband entrückt die Klänge aus ihrem zeitlichen Ablauf, zur räumlichen kommt zeitliche Unschärfe, künstlich erzeugter Nachhall. Zum Erklingenden gesellt sich das bereits Erklungene – aus dem Nacheinander wird Gleichzeitigkeit, was die Auffassungsgabe des Hörenden mit zunehmender Komplexität des musikalischen Gesche- hens vor keine geringe Herausforderung stellt. Denn es bleibt nicht bei der elektronisch gespiegelten Monodie, dem einsamen Gesang eines Violoncello und seinem Widerhall. Nach und nach breiten sich chromatische Bewegungen und rhythmische Impulse über das ganze Ensemble aus, die Lautstärke schwillt imposant an, die Ereignisdichte nimmt zu. Gelegentlich lässt das „reale” Ensemble seinen elektronischen Klangschatten hinter sich, entflieht ihm für kurze Momente, bis sich der Hall wieder hartnäckig an seine Fersen heftet. Einzelne Zonen sind durch unterschiedliche Klanghintergründe und Bewegungsmuster, aber auch durch deutliche formale Einschnitte klar voneinander geschieden. Eine Mittel- zone, frei von elektronischen Zutaten, belebt die Musik mit einem grundierenden Puls des Violoncello und lässt rhythmisch-melodische Gestalten fasslich werden. Doch bleibt dies ein kurzer Ausflug in die Gefilde traditioneller Musizierweisen. Bald schon meldet sich, das zeitliche Nacheinander erneut aus den Angeln hebend, das elektronische Echo und damit auch die rauschhaft wirre Satzfaktur zurück. Bruchstückhaft kehren in der Folge Elemente dieses Mittelteils wieder, die Klangwolken reißen noch einmal auf, doch die Schatten lassen sich nicht mehr abschütteln. Wo zu vieles zugleich und in zu dichter Folge geschieht, ver- wandelt sich Geschehen in Zustand. Wie kann dieses Tönen jemals enden? Selbst die Pausen klingen, nichts hat Festigkeit, nir- gends schafft erkennbare Ordnung eine Orientierung, keine fassliche Struktur gibt mehr Halt. Tonhöhe, Tondauer, Tonstärke – alle Parameter der Musik zerfließen, selbst das zeitli- che Nacheinander ist aufgehoben. Ein Ende wird möglich durch Reduktion und Rückkehr. Allmählich wird sich der Anfangszustand wieder einstellen – verwandelt zwar, doch dorthin führend, wo er herkam: In die Stille. Ann-Katrin Zimmermann

125 28. Dezember 2016, Rathaus Kassel, Bürgersaal

Rückblick

Fanny Hensel Das Jahr (1841) 1805–1847 12 Charakterstücke für das Fortepiano

Karlheinz Stockhausen Tierkreis op. 41 (1974/75) 1928–2007 Zwölf Melodien der Sternzeichen für Klavier

Holger Groschopp, Klavier

Die Aufführung und Gegenüberstellung von zwei unterschiedlichen Klavierzyklen, die bei- de den Ablauf eines Jahres beschreiben, ist eine reizvolle und höchst spannende Idee. Fanny Hensel komponierte den Zyklus Das Jahr 1841 und Karlheinz Stockhausen den Tierkreis 1974; zwischen beiden Kompositionen liegt ein zeitlicher Abstand von 133 Jahren. Fan- ny Hensel ordnete jedem der 12 Monate des Jahres ein eigenes, ihn charakterisierendes Musikstück zu, sie komponierte im Stil der Romantik, Karlheinz Stockhausen schrieb für jedes der 12 Sternzeichen eine spezielle Musik mit den Möglichkeiten der freien Wahl von kompositorischen Ausdrucksmitteln in der Musik des 20. Jahrhunderts. Bei aller zeitlich und kompositorisch bedingten Unterschiedlichkeit eint Hensel und Stockhausen hier der gleiche, interdisziplinär zu nennende Ansatz, dass Musik entstehen kann durch Inspiration von Texten, Bildern, Esoterik, Astrologie, Jahreszeiten…

126 Fanny Hensel Das Jahr 12 Charakterstücke für das Fortepiano Fanny Hensel hatte 1839/40 mit ihrem Mann und ihrem Sohn Sebastian in Italien eine in jeder Hinsicht glückliche Zeit verlebt. An ihre Eltern und Geschwister schrieb sie: „…und das Leben ist mir nie lieber gewesen als jetzt!“ Vermutlich noch unter dem Eindruck und in Erinnerung an diese Zeit komponierte sie 1841 den Klavierzyklus Das Jahr, 12 Charak- terstücke für das Fortepiano. Jedes der Stücke spiegelt mit seiner Musik den Charakter des entsprechenden Monats. So scheint der Februar vom venezianischen Karneval inspiriert zu sein, der kapriziöse April findet seine Darstellung in einem Capriccio. Dem Mai ist ein Frühlingslied ohne Worte zugeordnet, und im Oktober rufen die Jagdhörner zur Jagd. Der Januar mit der Überschrift „Ein Traum“ führt ein Thema ein, das sich in teils veränderter Form in verschiedenen Monaten des Zyklus wiederfindet. Mit seinen Variationen über den Choral „Christ ist erstanden“ erinnert der März an Johann Sebastian Bach wie auch der Dezember mit dem Choral „Vom Himmel hoch“. Mit einem Choralnachspiel endet der Zyklus. Fanny schenkte ihrem Mann Wilhelm Hensel den Zyklus zum Weihnachtsfest 1841. Er malte für die einzelnen Monate Vignetten, die er jeweils am Anfang der Partitur einfügte. Jeder Monat erhielt zudem einen zu seinem Charakter passenden kurzen Text und eine far- bige Papierseite. So wurde aus Fanny Hensels Werk Das Jahr ein kleines Gesamtkunstwerk.

Karlheinz Stockhausen Tierkreis Zwölf Melodien der Sternzeichen für Klavier Stockhausen schrieb: Ich begann, mich mit den 12 menschlichen Charakteren des „Tierkreises“ zu beschäftigen, von denen ich bis dahin nur eine vage Ahnung hatte. Beim Erfinden jeder Melodie dachte ich an das Wesen von Kindern, Freunden, Bekannten, die im betreffenden Sternzeichen geboren sind, und ich studierte die Menschentypen gründlicher. Jede Melodie ist jetzt in allen Maßen und Proportionen im Einklang mit den Charakterzügen ihres Sternzeichens komponiert, und man wird viele Gesetzmäßigkeiten entdecken, wenn man eine Melodie oft hört und ihre Konstruktion genau betrachtet. Jede Melodie ist so komponiert, dass man sie wenigstens dreimal spielen soll, und wenn man mehrere oder alle nacheinander spielt, so soll man jede dreimal oder viermal unmittelbar nacheinander spielen. Jede dieser Melodien hat also einen eigenen Charakter mit einem eigenen Zentralton. AQUARIUS (Wassermann) ist die erste Melodie, und sie hat den Ton Es als Hauptton, PISCES (FISCHE) das E, usw. chromatisch aufwärts; LEO (LÖWE) steht in der Mitte und hat das A als Hauptton, und schließlich CAPRICORN (STEINBOCK) das D. Das Werk, 1974 ursprünglich für Spieluhren komponiert, gibt es in unterschiedlichen Solo-, Duo- oder Ensemble-Fassungen für Instrumente, Sänger oder Orchesterformationen. Bei den von Stockhausen empfohlenen Wiederholungen des jeweils einem Sternzeichen zuge- ordneten kurzen Stückes können Dynamik, Artikulation, Oktavlage, Instrumentenwahl, Melodievariation etc. verändert werden.

127 Der Monat Dezember aus dem Klavierzyklus Das Jahr von Fanny Hensel

128 Beiträge zum Symposion

Chancengleichheit für Komponistinnen – Annäherung an das Ziel auf unterschiedlichen Wegen

129 Freia Hoffmann, Sophie Drinker Institut Bremen

Seit 40 Jahren dabei – Versuch einer kritischen Bilanz

Der 6. September 1981 war für mich ein denkwürdiger Tag. Zum ersten Mal nach über 100 Jahren erklang der 1. Satz der 3. Symphonie von Louise Farrenc (1804–1875), einer französischen Komponistin, auf die ich schon lange neugierig war: Sie hatte – im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen im 19. Jahrhundert – nicht nur Klavierwerke und klein besetzte Kammermusik komponiert, sondern mit drei Symphonien und zwei Ouvertüren auch mittelgroß besetzte Orchesterwerke. Es wurde uns damals – in den Anfangsjahren der Frauen-Musik-Bewegung – sehr bewusst, wie bewundernswert und außergewöhnlich Farrencs Griff zur Orchesterkomposition war. Immerhin hatten Frauen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht die Möglichkeit einer institutionellen Kompositionsausbildung, sie hatten selten Gelegenheit, selbst praktisch mit einem Orchesterinstrument Erfahrungen zu sammeln, und sie standen natürlich niemals als Dirigentin öffentlich vor einem Orchester. Grund genug also, mit Louise Farrenc eine unserer mutigen „Schwestern von gestern“ genauer kennen zu lernen. Ich bestellte von den drei ungedruckten Symphonien Filme der in der Pariser Bibliothèque nationale liegenden Autographe. Stimmen gab es nicht. Die Aufführung des besagten 1. Satzes war keine Glanzleistung. Ich spielte damals als Flötistin im Orchester der Universität Bremen - einem Orchester, das meine Neugier und mein Engagement glücklicherweise teilte. Wir wollten, bevor wir eine öffentliche Aufführung ins Auge fassten, das Stück erst einmal kennen lernen und versammelten uns eines Abends, eben an dem besagten 6. September, in einer alten Bremer Kaufmannsvilla. Jemand hatte einen Diaprojektor beschafft, durch den eine Mitspielerin den Film Seite für Seite hindurchzog. Von den Orchestermitgliedern waren einige Streicher, ein Oboist dabei, und der Dirigent, Klaus Mävers, ergänzte am Klavier einige der fehlenden Stimmen. Und so erklang, in diesem dunklen, nur durch die beleuchteten Partiturseiten erhellten Raum, zum ersten Mal die langsame Einleitung der dritten Symphonie in g-Moll op. 36. Das Oboen-Solo, welches die Symphonie eröffnet, schien tatsächlich aus der Tiefe eines hundertjährigen Schlafes aufzusteigen. 1857 hatte Marie Pierre Escudier, Herausgeber der Musikzeitschrift „La France Musicale“, renommierter Musikkritiker und sachkundiger Beobachter des Pariser Musiklebens, geschrieben: MmeFarrenc est une de ces grandes organisations musicales qui honorent un pays et une époque. Nous l’avons souvent dit, les œuvres de toute nature dont elle a enrichi l’art musical peuvent hardiment soutenir la comparaison avec les plus belles productions de l’art ancien et contemporain, étranger et français. [...] En France, ceux qui la connaissent et qui ont étudié ses compositions l’honorent et l’admirent; mais la foule n’a jamais acclamé son nom, par cette raison qu’étant femme, par conséquent créature trop faible pour se frayer elle-même la route encombrée par les forts, elle n’a trouvé constamment sur ses pas que des résistances et des jalousies obstinées. Un

130 jour viendra où les œuvres, les chefs-d’œuvre, plutôt, de MmeFarrenc trouveront parmi nous des interprètes dévoués qui en feront briller à tous les yeux les rares beautés; alors, on sera étonné du long silence qui s’est fait autour de la savante musicienne et l’on exhumera jusqu’à ses travaux le plus obscurs. Oui, ce jour arrivera, nous en sommes fermement convaincus.1 (Mme. Farrenc ist in der Musik eine der großen Erscheinungen, die einem Land und einer Epoche zur Ehre gereichen. Wir haben es oft gesagt: Die verschiedenartigen Werke, mit denen sie die Tonkunst bereichert hat, können ohne weiteres den Vergleich mit den schönsten Kunstproduktionen der Vergangenheit und Gegenwart bestehen, im Ausland und in Frankreich. […]Diejenigen in Frankreich, die sie kennen und ihre Kompositionen studiert haben, schätzen und bewundern sie; aber die Menge hat ihrem Namen niemals applaudiert, und zwar deshalb, weil sie eine Frau ist und folglich nicht in der Lage, sich allein den Weg zu bahnen, der von Mächtigeren verstellt ist. Sie hat auf diesem Weg immer nur Behinderungen und Missgunst erfahren. Es wird ein Tag kommen, wo die Werke, die Meisterwerke von Mme. Farrenc unter uns geneigte Interpreten finden werden, die deren ausnehmende Schönheiten wieder vor aller Augen zum Leuchten bringen. Dann wird man erstaunt sein über die lange Stille, die sich über diese feingebildete Musikerin gelegt hat, und man wird auch ihre verborgensten Werke wieder beleben. Ja, dieser Tag wird kommen, davon sind wir fest überzeugt.)

Eine Erfolgsgeschichte... Dass der von Escudier vorausgesagte Tag erst über 100 Jahre später kommen sollte, hatte tatsächlich damit zu tun, dass Louise Farrenc eine Frau war, dass sie keine Nachkommen oder SchülerInnen hatte, die für ein Weiterleben der Werke hätten sorgen können, und dass Komponistinnen fast ausnahmslos in der Musikgeschichtsschreibung aus dem Blick gerieten. Erst die Frauen-Musik-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre setzte eine Wiederentdeckung von Komponistinnen und ihren Werken in Gang, die im Einzelnen oft ähnlich mühsam vor sich ging wie im Fall von Louise Farrencs 3. Symphonie: Mitglieder des Universitätsorchesters schrieben die Stimmen ab, das Werk wurde geprobt und kam am 12. Februar 1982 im Rahmen einer Tagung des Arbeitskreises „Frau und Musik“ in Bremen zur Erstaufführung. Einige Zeit später interessierte sich der Dirigent Klaus Bernbacher für die Symphonie und wagte es, sie mit Hilfe unseres handschriftlichen Stimmenmaterials mit dem Bremer Philharmonischen Staatsorchester zu spielen, einige andere Aufführungen folgten. Und mit Hilfe von Kassetten-Aufnahmen konnten Jahre später die anonymen Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft – die vermutlich vorher kaum den Namen Farrenc gekannt hatten – davon überzeugt werden, der Finanzierung einer Werkausgabe Louise Farrenc zuzustimmen, die unter meiner Leitung an der Universität Oldenburg besorgt wurde, im Florian Noetzel Verlag erschien und im Jahr 2005 mit dem 15. Band abgeschlossen werden konnte. Seitdem stehen die wichtigsten Klavierwerke, die Kammermusik, drei Symphonien und zwei Orchesterouvertüren mit Stimmenmaterial in einer quellenkritischen Ausgabe

1 La France musicale 29. 3. 1857, S. 104.

131 zur Verfügung. Prominente MusikerInnen haben Klavierwerke, die Kammermusik (eine Violoncello-Sonate, vier Klaviertrios, zwei Klavierquintette, ein Bläsersextett, ein Nonett), auf CD eingespielt, die Symphonien liegen in Aufnahmen der NDR Radiophilharmonie (Leitung: Johannes Goritzki) und des Orchestre Symphonique de Bretagne (Leitung Stefan Sanderling) vor. Die Einspielung der beiden Klavierquintette durch das Linos Ensemble erhielt 1994 den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Zum Thema des Symposiums „Chancengleichheit für Komponistinnen“ wäre also zunächst die Frage zu stellen: Wie gut zugänglich ist das Notenmaterial? Verglichen mit dem Jahr 1981 kann man mit Sicherheit von einer Erfolgsgeschichte sprechen. In Musikverlagen sind seitdem zahlreiche Kompositionen erschienen (im Lauf der Zeit auch in philologisch akzeptableren Editionen), was in Deutschland vor allem dem Kasseler Furore Verlag zu danken ist. Die großen Verlage (Henle, Breitkopf & Härtel, Ries & Erler) haben sich vorzugsweise um die „großen Namen“ gekümmert, also um Clara Schumann und Fanny Hensel geb. Mendelssohn. Aber auch im Ausland hat die Frauen-Musik-Bewegung einen Schub an Veröffentlichungen ausgelöst. Der Katalog z. B. von Cid-Femmes in Luxembourg verzeichnet 3.000 Partituren, im Archiv Frau und Musik in Frankfurt stehen rund 14.000 gedruckte Kompositionen zur Verfügung – in beiden Fälle sind die Sammlungen bibliothekarisch gut erschlossen und im Netz leicht recherchierbar. Nicht zu vergessen sind die neuen Möglichkeiten digitalen Zugangs: So ergeben Stichproben zu französischen Komponistinnen des 19. Jahrhunderts im Petrucci-Portal für Cecilia Chaminade 216, Augusta Holmès 20, Pauline Viardot-Garcia 9, Marie Jaëll 5, Louisa Puget 4, Sophie Gail 3 und Hortense de Beauharnais 2 Titel – immerhin genug, um sich unkompliziert und kostenlos einen Eindruck von der Musik zu verschaffen und sie auch aufzuführen. Ausnahmen bezüglich der Verfügbarkeit stellen immer noch groß besetzte Werke dar. Ausgerechnet diejenigen Gattungen, auf die man Komponistinnen gerne reduziert (Klavierkompositionen, Lieder, klein besetzte Kammermusik), vermitteln sich auf dem Musikmarkt am leichtesten. So wird im Umkehrschluss wieder der Eindruck von bescheiden im Kleinen wirkenden Musikerinnen bestärkt, während z. B. die Opern-Komponistinnen weithin ungehört bleiben: Ich denke etwa an die vier Opern von Louise Bertin, von denen ich eine (Esmeralda nach dem Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo) beim Montpellier-Festival 2008 in einer konzertanten Aufführung erlebt habe – hinreißende, komplexe, originelle Musik. Auch die Opern von Ethel Smyth und Louise Adolpha Le Beau wird weiterhin kein Haus ins Programm nehmen, solange das Notenmaterial nicht unkompliziert greifbar ist. Dass Orchesterwerke von Komponistinnen im Repertoire von Konzerten und Rundfunkprogrammen so selten sind, ist aber grundsätzlich nicht mit einem Mangel an Material entschuldbar: Siegrun Schmidt, Irène Minder-Jeanneret und Barbara Dietlinger haben eine Liste von 588 Orchesterwerken von Komponistinnen zusammengestellt, die auf der Homepage des Sophie Drinker Instituts einsehbar ist: Partituren und Stimmen zum Kaufen oder Leihen, deutsch/französisch/englisch, mit Besetzung, Verlag und Bezugsadressen. Ähnlich üppig steht es mit Einspielungen auf CD. Sie sind unzählbar und haben die frühen, teils unbefriedigenden Schallplattenaufnahmen längst überflügelt, wobei man zur Ehrenrettung der alten LPs immerhin einräumen muss, dass sie Musik von Frauen

132 meist zum ersten Mal überhaupt hörbar gemacht haben. Längst sind Einspielungen von Komponistinnen in der Mitte des CD-Marktes angekommen, und unter den InterpretInnen finden sich durchaus klingende Namen. Eine weitere Voraussetzung, Komponistinnen hörbarer in Konzerte, Festivals, Rundfunk- und Fernsehprogramme, aber auch in Materialien für die Instrumental- und Gesangsausbildung, in Schulbücher einzubringen, ist die Verfügbarkeit von Informationen, von wissenschaftlicher Aufarbeitung. Verglichen mit den Anfängen in den 1970er und 1980er Jahren können wir auch in dieser Hinsicht von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Während anfangs vor allem ausübende Musikerinnen Pionierarbeit geleistet haben und Verlage die Nachfrage nach einschlägiger Literatur durch schnell und mit viel Enthusiasmus geschriebene Texte befriedigten, ist die musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung inzwischen an einigen Hochschulen und Universitäten etabliert. Professuren mit entsprechender Denomination sind in unserem Fach zwar seltener als in den Sozialwissenschaften, aber es gibt in unserem Gebiet interessierte Hochschullehrerinnen, und seit den 90er Jahren sind zahlreiche gut betreute Qualifikationsarbeiten, Masterarbeiten, Dissertationen sowie gewichtige Habilitationsschriften entstanden. Auch in spezialisierten Einrichtungen hat sich die musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung etabliert. Mit dem Gründungsjahr 2001 ist das „Sophie Drinker Institut für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung“ in Bremen die älteste einschlägige Institution. Die Bibliothek enthält zurzeit rund 3.200 Bücher, Noten und Tonträger, die Aufsatzsammlung ca. 6.000 Titel. Das Institut verwahrt den künstlerischen Nachlass der rumänischen Komponistin Myriam Marbe (1931–1997). Er wurde dort wissenschaftlich erschlossen und mit einer Biographie, einem Werkverzeichnis, einem Publikations- und Tonträger- Verzeichnis versehen. Auf Veranlassung des Nachlassverwalters, Thomas Beimel, sind 60 von Marbes Kompositionen auf der Homepage des Instituts veröffentlicht. Sie bleiben zwar urheberrechtlich geschützt, können aber für Aufführungen und nicht-kommerzielle Zwecke kostenfrei heruntergeladen und ausgedruckt werden. Unserer Meinung nach ist dies eine beispielhafte Möglichkeit, die Verbreitung von Kompositionen, vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts, zu befördern. Die Schriftenreihe des Instituts (zurzeit 12 Bände) enthält Monographien über Mel Bonis, Louise Farrenc, Anna Bon di Venezia und Clara Schumann. Weitere Aktivitäten und Publikationen des Sophie Drinker Instituts, vor allem das 700 Artikel umfassende „Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts“, sind auf der Homepage nachzulesen: http://www.sophie-drinker-institut.de. Eine Datenbank, die thematisch deutlich weiter gefasst ist als das Instrumentalistinnen- Lexikon des Sophie Drinker Instituts, stellt MUGI dar: Musik und Gender im Internet, herausgegeben seit 2003 von Beatrix Borchard und Nina Noeske an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Das „Musikerinnen-Lexikon“ präsentiert Komponistinnen, ausübende Musikerinnen, Musikpädagoginnen und Mäzeninnen. Zurzeit etwa 480 Artikel werden ergänzt durch 20 multimediale Präsentationen. Auch hier können Interessierte über viele wichtige Komponistinnen ausführliche Informationen finden. http://mugi.hfmt- hamburg.de. Das Forschungszentrum Musik und Gender, geleitet von Susanne Rode-Breymann, ist an

133 die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover angegliedert und wurde 2006 gegründet. Es wird in diesem Band ausführlich auf S. 137 vorgestellt. http://www.fmg. hmtm-hannover.de/de/das-fmg. Zeitgenössische Komponistinnen sind im Musikleben präsent, sie sind international vernetzt, erfolgreich und vielfach mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet. Ein Gradmesser sind etwa die Kompositions-Professuren allein im deutschsprachigen Raum, die mit Frauen besetzt sind: Salzburg, Oldenburg, Berlin, Hannover, Zürich und München. Die Erfolgsgeschichte der Frauen-Musik-Bewegung erstreckt sich auch auf Fortschritte jenseits des Themas „Komponistinnen“: So hat sich die Zahl der Dirigentinnen erheblich vermehrt, wie an einem Dirigentinnen-Reader des Archivs Frau und Musik in Frankfurt a. M. abzulesen ist. In gedruckter Form2 ist er 2003 mit 90 Porträts erschienen, die erweiterte Internet-Präsentation enthält annähernd 100 Seiten von professionellen europäischen Dirigentinnen (www.dirigentinnen.de). Die Zahl der Studentinnen in den Dirigierklassen der Musikhochschulen wächst, auch sie sind in Wettbewerben präsent und erfolgreich. Die Erfolgsgeschichte lässt sich schließlich auf Orchestermusikerinnen erweitern. Auch in den Kulturorchestern besetzen immer mehr Musikerinnen die Pulte. Eine Vollerhebung aus dem Jahr 20023 beziffert den Frauenanteil an den Violinen mit 43,1 %, an den Violoncelli mit 26,3 %, an den Kontrabässen mit 10 %. Flötistinnen machen 54,8 % aus, Oboistinnen 22,7 %, Fagottistinnen 14,8 %, Hornistinnen 14,9 %. Lediglich bei Klarinette (7,3 %), Trompete (2,4 %), Posaune (1 %), Tuba (2,7 %) und Schlagzeug (2,3 %) blieben Musikerinnen im einstelligen Bereich. Heute dürften sich auch diese Zahlen noch erhöht haben.

... und eine Misserfolgsgeschichte Ist also alles auf einem guten Weg? Skepsis ist angebracht. Den Titel von Christel Nies’ Symposium „Chancengleichheit für Komponistinnen“ könnte man auch mit einem Fragezeichen versehen. Als ihre Reihe „Komponistinnen und ihr Werk“ 1990 gegründet wurde, gingen wir optimistisch davon aus, dass Frauen nicht lange ‚Sonderprogramme‘ benötigten, um an allen Bereichen der Gesellschaft gleichberechtigt teilzuhaben, dass etwa das „Internationale Festival Komponistinnen gestern – heute“ in Heidelberg, das Internationale Komponistinnen-Festival „Vom Schweigen befreit“ in Kassel und dass Wettbewerbe speziell für Komponistinnen wie in Mannheim bald nicht mehr notwendig sein würden. Die ‚Sonderprogramme‘ sind zum Teil eingestellt, aber werden Komponistinnen tatsächlich im Musikleben so aufgeführt, wie wir es uns wünschen? Meine „Erfolgsgeschichte“ von oben zeigt: Es gibt eigentlich keine Entschuldigungen dafür, Komponistinnen nicht aufzuführen: Noten, CD-Einspielungen, wissenschaftliche Aufarbeitung sind vorhanden. Man muss hier allerdings nachtragen, dass diese Entwicklung mit dem Rückenwind einer überaus

2 Archiv Frau und Musik, Internationaler Arbeitskreis e. V. (Hrsg.), Europäischer Dirigentinnen-Reader, Kassel 2003. 3 Sabrina Paternoga, „Orchestermusikerinnen. Frauenanteile an den Musikhochschulen und in den Kul- turorchestern. Geschlechts- und instrumentenspezifische Vollerhebung an deutschen Musikhochschulen und in den Orchestern“, in: Das Orchester 5 (2005), S. 8–14.

134 lebendigen und aktiven Frauenbewegung stattgefunden hat. Nicht nur Musikerinnen waren in Bewegung, sondern Hörerinnen waren neugierig auf „Frauentöne“, Leserinnen griffen nach Büchern über Clara Schumann und Fanny Mendelssohn, selbst Dramaturgen- Büros und Redaktionen von Feuilletons, Kulturzeitschriften und Radiosendern waren von der Frauenbewegung infiltriert. Die Frauen-Musik-Bewegung war integraler Teil einer politischen Bewegung, die unsere Gesellschaft wacher, offener und veränderungsbereit gemacht hat. Die französische Politologin Camille Froidevaux-Metterie hat in ihrem 2015 erschienenen Buch „La révolution du féminin“ die Frauenbewegung als die Vollendung des bürgerlichen Aufklärungsprozesses beschrieben: „En quelques décennies, les femmes sont devenues des individus de droits en tous points similaires à leurs homologues masculins. Nous en avons ainsi fini avec leur séculaire minoration. Plus de division sexuée des tâches, plus de hiérarchie implicite des rôles, plus d’exclusivité d’aucune sorte, mais le seul principe de l’égalité des Sexes“ 4 (In wenigen Jahrzehnten sind die Frauen Individuen geworden, mit gleichen Rechten in allen Bereichen wie ihre männlichen Partner. Wir haben so ihre über Jahrhunderte andauernde Zurücksetzung beendet. Keine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung mehr, keine stillschweigend vorgegebene Rollenhierarchie, keinerlei Ausschlussmechanismen mehr, sondern das alleinige Prinzip der Gleichwertigkeit der Geschlechter.) Der Prozess, der die Anerkennung der Frauen als freie und gleiche politische Subjekte erkämpfte, eine Revolution ohne Krieg und Blutvergießen, so fährt die Autorin fort, werde allerdings in seiner historischen Bedeutung durchaus unterschätzt und – in Teilen durch die Entwicklungen der jüngsten Zeit auch gefährdet. Die Unterbewertung der Frauenbewegung und die Gefährdung ihrer Errungenschaften gibt mir das Stichwort, um für unser Thema auch die Misserfolge zu benennen. Wir müssen nüchtern feststellen, dass die politische Bewegung als Basis für unsere Bemühungen nicht mehr vorhanden ist. Institutionen, die aus der Frauenbewegung entstanden sind, sehen sich zu veränderten Zielsetzungen veranlasst, leiden unter einem Mangel an öffentlicher Unterstützung und – was wesentlich bedenklicher ist – unter einem Mangel an engagierter Mitarbeit und Inanspruchnahme. Das über viele Jahrzehnte beispielhaft arbeitende FrauenMusikForum in der Schweiz hat sich umbenannt und umdefiniert in „ForumMusikDiversität“ – mit dem Ergebnis, dass seine Zielsetzung nach außen hin kaum mehr erkennbar ist. Das Archiv Frau und Musik in Frankfurt muss wegen fehlender öffentlicher Unterstützung um den Erhalt seiner langjährig erfolgreichen Zeitschrift „Vivavoce“ kämpfen und neue Wege der Existenzsicherung suchen. Die „Internationale Komponistinnen-Bibliothek“ in Unna, die früher von Studierenden mit einschlägigen Interessen gerne aufgesucht wurde, ist ein weiteres Beispiel für Institutionen, die unter einem spürbaren Mangel an öffentlicher Resonanz leiden und sich allenfalls durch Stiftungen noch am Leben halten können. Die Bilanz ist auch im Hinblick auf Wissenschaftlerinnen in Universitäts- oder Hochschulkarrieren gemischt. Einerseits hat sich ihr Prozentsatz erfreulich erhöht. Aber das Kriterium des Handelns ist meist nicht mehr die Unterstützung von Frauen und

4 Camille Froidevaux-Metterie, La révolution du féminin, Paris 2015, S. 9.

135 das Engagement in der Sache, sondern die eigene Karriere. Im Begriff der „Frauen- und Geschlechterforschung“ steckte noch die sozialkompensatorische Seite unseres Anliegens, die „Genderforschung“ hat unter einem falsch verstandenen Begriff von Objektivität ihre politische Zielsetzung aufgegeben und sich damit von einer Tradition politisch engagierter Wissenschaft, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, verabschiedet. An die Stelle von Solidarität sind Seilschaften getreten, die in erster Linie dem eigenen Fortkommen dienen. Besonders enttäuschend muss die Entwicklung für die zahlreichen Wissenschaftlerinnen sein, durch deren Anstrengungen Professuren für Geschlechterforschung geschaffen wurden, und die ihren jüngeren Kolleginnen den Weg zur Habilitation gebahnt haben. Dass Geschichte sich gradlinig entwickelt, ist bekanntlich ein Irrtum. Es ist deshalb fraglich, ob sich die Verbesserungen, die für Frauen in den vergangenen Jahrzehnten erreicht worden sind, von allein fortsetzen. Gleichstellung und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen sind immer ein Ergebnis von politischen Anstrengungen, von Arbeit und auch von Konflikten mit Vertretern des Status quo gewesen. Die Aktiven der Frauenbewegung scheiden zurzeit aus ihren beruflichen Positionen, aus Verwaltungen, Parteien und Gewerkschaften aus. Ob also in Zukunft noch die notwendige Schubkraft für Veränderungen vorhanden ist oder neu entsteht, ist offen. Daher werden Frauen wie Christel Nies, die sich seit 25 Jahren unbeirrt und mit großer Resonanz für Komponistinnen einsetzt, noch lange unentbehrlich bleiben...

136 Susanne Rode-Breymann

Gender Studies in der Lehre: Das Forschungszentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Ein Fallbeispiel

I. Die musikbezogene Frauen- und Geschlechterforschung kann auf einen fast vierzigjährigen Institutionalisierungsprozess1 zurückblicken: 1978 wurde der „Internationale Arbeitskreis Frau und Musik“ gegründet. Es folgten 1982 das „FrauenMusikForum“ in der Schweiz sowie 1989 das „Archiv Frau und Musik“ in Kassel (inzwischen in Frankfurt am Main) und die „Internationale Komponistinnen-Bibliothek Unna“. Diese außeruniversitären Ein- richtungen wollten Wissen über komponierende und musizierende Frauen gewinnen und archivieren, Werke und Texte von Komponistinnen edieren und deren Kompositionen auf- führen und einspielen. In den späten 1980er Jahren begann auch an Hochschulen und Universitäten die Institu- tionalisierung der Frauenforschung: In Bielefeld, Bremen, Hildesheim, Oldenburg wurden unter Mitbeteiligung der Musikwissenschaft Zentren für Geschlechterforschung gegrün- det. Die erste musikwissenschaftliche Professur mit dem Schwerpunkt „Genderforschung – Musik von Frauen“ wurde in Detmold/Paderborn geschaffen und im Jahr 2000 mit Beatrix Borchard besetzt. Sie wechselte 2002 an die Musikhochschule in Hamburg und baute dort die Informations- und Forschungsplattform Musik und Gender im Internet auf. Ebenfalls 2002 wurde in Bremen das Sophie Drinker Institut unter Leitung von Freia Hoffmann ge- gründet, das seit 2003 An-Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ist. 2006 folgte das Forschungszentrum Musik und Gender (=fmg) an der Hochschule für Musik und Theater Hannover (=HMTMH). Die ersten Impulse für eine musikbezogene Genderforschung an der HMTMH gingen vom Frauenbüro der Hochschule aus. Ab 1995 wurden zunächst vor allem künstlerische Projekte etabliert, wie z. B. die Reihe „unerhört“, in der zeitgenössische Komponistinnen vorgestellt wurden. Die Reihe wurde von Darlén Bakke, einer der ersten vom Land Nie- dersachsen im Rahmen des Dorothea-Erxleben-Programms an der HMTMH geförderten Künstlerinnen, konzipiert, seitens der Musikwissenschaft theoretisch begleitet und mit Un- terstützung des Frauenbüros durchgeführt. Aus der richtungweisenden Arbeit der hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten der HMTMH entstanden ab 2000 zahlreiche künstlerisch-wissenschaftliche Projekte wie die Vorlesungsreihe „Gender Studies“ über Genderthemen aus diversen Fachdisziplinen oder Veranstaltungsreihen der musikwissenschaftlichen Genderforschung wie die Ringvorlesung „Von Idealbildern und Quotenfrauen: Frauenfiguren der Musikgeschichte“. Die Ergebnisse beider Reihen wurden in der Publikation „Musik. Frau. Sprache. Interdisziplinäre Frauen-

1 Vgl. dazu Nina Noeske, Susanne Rode-Breymann und Melanie Unseld: Artikel „Gender Studies“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart 2, Supplement, Kassel usw. 2008, Sp. 239-251, insbesondere Sp. 248.

137 und Genderforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover“2 veröffent- licht. In diesem Kontext entstand ein wissenschaftliches Klima, in dem sich Nachwuchswissen- schaftlerInnen dem Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung öffneten und 2003 die Ausschreibung einer C4/W3-Professur für Historische Musikwissenschaft mit einem Schwerpunkt in Gender Studies möglich wurde. Susanne Rode-Breymann brachte bei ihrer Berufung auf diese Professur im Jahr 2004 das aus Mitteln der Mariann Steegman Founda- tion geförderte Projekt „Orte der Musik“ mit, baute 2005 eine musikwissenschaftliche For- schungsgruppe3 zum Thema „Orte der Musik“ auf und entwickelte ein großes Forschungs- projekt zum ThemaOrte der Musik – Kulturelles Handeln von Frauen in der Frühen Neuzeit, das in drei internationalen interdisziplinären Kongressen (siehe unten) sichtbar wurde. Diese Ausgangssituation an der HMTMH machte es möglich, 2006 gemeinsam mit einem Netzwerk von Akteurinnen um Eva Rieger 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender als Forschungs-, Kompetenz-, Vernetzungs- und Fortbildungszentrum mit Anbindung an die künstlerische Praxis zu gründen. Die Hochschule bot ideale Bedingungen, denn in der langjährig wissenschaftsorientierten Musikhochschule bestanden hervorragende Vorausset- zungen für die Etablierung eines Forschungszentrums auf diesem Gebiet, und die hohe künstlerische Qualität der Hochschule gewährleistete, dass wissenschaftliche Neusichten in der künstlerischen Praxis erprobt und nachhaltig in die kulturelle Tradition eingebracht werden konnten. Die Gründung des fmg, das zunächst bis 2016 aus Mitteln der Mariann Steegmann Foun- dation gefördert wurde, war ein zukunftsweisender Schritt für die institutionelle Etablie- rung und Verstetigung der Gender Studies in der musikwissenschaftlichen Forschung und Lehre. Das unterdessen hervorragend in die HMTMH integrierte fmg wurde in diesen Jah- ren zu einem Ort, von dem aus Kolleginnen und Kollegen starke Impulse in die deutsch- sprachigen Gender Studies gegeben haben. Möglich wurde dies durch die Mariann Steegmann Foundation. Aus deren Fördermitteln werden neben Miete für die Räumlichkeiten des fmg der Aufbau einer Fachbibliothek, Arbeitsgespräche und Kongresse, (bisher 31) Stipendien sowie Stellen von Mitarbeiterin-

2 Kathrin Beyer und Annette Kreutziger-Herr (Hrsg.): Musik. Frau. Sprache. Interdisziplinäre Frauen- und Genderforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, Herbolzheim 2003 (=Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte 5). 3 Jan Bäumer: The Sound of a City? New York und Bebop 1941–1949, Münster: Waxmann, 2014 (=Populäre Kultur und Musik 10); Fabian Bien: Oper im Schaufenster. Die Berliner Opernbühnen in den 1950er-Jahren als Orte nationaler kultureller Repräsentation, Wien: Böhlau 2011 (=Die Gesellschaft der Oper. Musikkultur euro- päischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert 9); Florian Hobert: Exilmetropole New York. Zur Situation geflüchteter Komponisten aus Europa 1940–1945 (nicht abgeschlossen); Anna Langenbruch: Topographien musikalischen Handelns im Pariser Exil 1933–1939, Hildesheim: Olms 2014; Carolin Stahrenberg: Hot Spots zwischen Café und Cabaret. Musikalische Handlungsräume im Berlin Mischa Spolianskys 1918–1933, Münster: Waxmann 2012; Katharina Talkner: Singen und Sammeln. Liedpraktiken in den Lüneburger Klöstern der Frühen Neuzeit, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2012. Die fünf abgeschlossenen Disser- tationen greifen alle, wenn auch in verschiedenem Ausmaß Genderfragen auf. Im Zusammenhang mit dieser Forschungsgruppe entstand auch die Studie von Susanne Rode-Breymann: Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677–1705, Hildesheim: Olms 2010.

138 nen im wissenschaftlichen, bibliothekarischen und archivarischen Bereich4 finanziert. Die HMTMH bringt ihrerseits eine Professur5 und eine wissenschaftliche MitarbeiterInnen- Stelle6 in das fmg ein. Selbstverständlich geht es im Forschungszentrum Musik und Gender um Themen – in der ersten Förderdauer stand das kulturelle Handeln von Frauen und der Themenkomplex „Orte der Musik“ im Zentrum der Forschung. Das fmg hat klare inhaltliche Perspektiven, aber zuerst geht es um Menschen, die sich an diesem Ort entwickeln können.7 Es war bei der Gründung des fmg nicht absehbar, dass im ersten Jahrzehnt so viele Mitarbeiterinnen und Stipendiatinnen, Hilfskräfte, Studierende und Doktorandinnen das Forschungszen- trum durchlaufen würden. Das Team der Gründungsphase etwa hat sich inzwischen er- folgreich etabliert und die Ideen und Erfahrungen aus dem fmg an viele verschiedene Orte getragen: Melanie Unseld ist inzwischen Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Nina Noeske war nach Melanie Unseld die zweite, die sich an der HMTMH habilitierte, das fmg 2012 als Assistenzprofessorin für Musikwissenschaft an der Universität Salzburg verließ und seit 2014 Professorin an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg ist. Heinrike Buerke, die erste Bibliothekarin des Forschungszentrums, leitet inzwischen die Abteilung Musik und Tanz der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen. Das Mäzenatentum von Mariann Steegmann führt ins Zentrum des Forschungsinteresses im fmg, dem es nicht nur um Komponistinnen geht. Musikwissenschaftler interessierten und interessieren sich für geniale Komponisten und ihre Schöpfungen (Männer) und für herausragende Interpreten (Männer, dann und wann eine Frau). Darüber hinaus scheint es, bezogen auf die Musikkultur, nichts Wichtiges gegeben zu haben und zu geben. Das greift zu kurz: Aufführen und Sammeln von Werken, Fördern und Anwerben von Musikern, Impulsgeben innerhalb von Gattungsentwicklungs- oder -etablierungsprozessen – all das sind für die Kultur wichtige kulturelle Handlungen, die in der Musikgeschichte oft in den Händen von Mäzeninnen lagen. Sowohl an Höfen wie auch im Stadtbürgertum finanzier- ten Mäzeninnen Aufführungen. Die Tradition privater Hauskonzerte durchzog die gesamte Frühe Neuzeit und erreichte in der Salonkultur des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.8 Mit der Mäzenin ist ein Typ kulturell handelnder Frauen in der Musikgeschichte aufgeru- fen, denen das forschende und sammelnde Augenmerk im fmg gilt: Es gab Sammlerinnen, es gab Mäzeninnen, die die musikalische Kultur förderten, es gab Instrumentenbauerinnen,

4 Seit Gründung des fmg arbeiteten/arbeiten Anna Fortunova, Stefan Körner, Nina Noeske, Carolin Stahrenberg, Nicole K. Strohmann, Katharina Talkner, Antje Tumat und Melanie Unseld als wissenschaftliche MitarbeiterInnen, Heinrike Buerke, Anne Fiebig und Christine Weber im bibliothekarischen/archivarischen Bereich am fmg. 5 Diese Professur wurde während der Präsidentschaft von Susanne Rode-Breymann von Nils Grosch, Florian Heesch, Nina Noeske, Melanie Unseld und Antje Tumat vertreten. 6 Dies waren bisher Katrin Eggers und Maren Bagge. 7 Vgl. dazu die Einleitung von Susanne Rode-Breymann zu: Frauen erfinden, verbreiten, sammeln, bewerten Musik. Werkstattberichte aus dem Forschungszentrum Musik und Gender. Eva Rieger und Mariann Steeg- mann gewidmet, hrsg. von Susanne Rode-Breymann, Hannover: Wehrhahn 2015 (=Beiträge aus dem For- schungszentrum Musik und Gender 3). 8 Vgl. dazu Susanne Rode-Breymann: Artikel „Mäzen“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. von Friedrich Jäger, Bd. 8, Stuttgart 2008, Sp. 186–188.

139 es gab Druckerinnen, die wie etwa in Nürnberg am Druck von Musikalien, Gesangbüchern und Liedflugschriften beteiligt waren.9 Musikbezogenes kulturelles Handeln adliger Frauen war an Höfen der Frühen Neuzeit nichts Ungewöhnliches: Sie erlernten und spielten Instrumente, sangen, gaben Werke in Auftrag, empfahlen oder rekrutierten Musiker, manche von ihnen komponierten, alle mussten sie tanzen können. Hörend waren diese Frauen in eine Kultur eingebunden, in der zu vielen Anlässen Repräsentationsmusik gespielt wurde und es in der Kirche zu regelmäßi- gem Kontakt mit Musik kam. Kulturelles Handeln von Frauen sichtbar zu machen, erfordert einen Paradigmenwechsel, eine über die Geschichte von (Noten-)Texten hinausgehende Forschung, die den hand- lungsorientierten Teil musikbezogenen Tuns in den Blick nimmt. Auf diesem Gebiet taucht eine Vielzahl von musikbezogen aktiven Frauen auf. In der Stadt der Frühen Neuzeit etwa geht das bis hin zu den Spielfrauen, die in die Städte kamen, und bis hin zu den mu- sizierenden Frauen, die in Wirtshäusern und Bordellen auftraten. Übersieht man solche Räume, in denen „Frauen als [musikalisch] handelnde Personen“ agierten, übersieht man solche „nicht zu den anerkannten, ‚wichtigen’ Schauplätzen der Geschichte“ gehörenden „Frauenräume“10, auf die Karin Hausen hingewiesen hat, bleiben viele musikalisch aktive Frauen unsichtbar.

II. Sammeln Die in den Anfängen der Frauenforschung gegründeten Archive und Bibliotheken sam- melten vor allem Kompositionen von Frauen. Ihre Arbeit war von enormem Pioniergeist erfüllt, weniger von bibliothekarischer Professionalität getragen, was teils zu fotokopiert zusammengetragenen Beständen führte. Der bibliothekarisch professionelle Sammlungs- aufbau im fmg umfasst zwei große Bereiche: Zum einen werden unter der Perspektive des kulturellen Handelns von Frauen Bücher und Nachschlagewerke aus dem Bereich der mu- sikwissenschaftlichen Genderforschung sowie interdisziplinäre und kulturwissenschaftliche Literatur gesammelt. Im Buchbestand befinden sich zudem derzeit 1200 Biographien von Komponistinnen, Sängerinnen und Instrumentalistinnen. Ebenso gehören CDs, DVDs und Noten zur Bibliothek. Die fmg-Bibliothek unterstützt die Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des fmg in Forschung und Lehre, versorgt Studierende der HMTMH und externe NutzerInnen mit Informationen und unternimmt gezielte Ankäufe und Sammlungs- ergänzungen für BA- und MA-Studierende, die in ihren Abschlussarbeiten Genderthemen wählen, wie natürlich ebenso für DoktorandInnen, die über Genderthemen promovieren. Zum anderen entsteht im fmg eine Rara-Sammlung, die inzwischen auf 3400 Medienein- heiten angewachsen ist. Der überwiegende Teil davon sind seltene Notendrucke. Hinzu

9 Vgl. dazu den Band: Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt, hrsg. von Susanne Rode- Breymann, Köln usw. 2007 (=Musik – Kultur – Gender 3) und den Beitrag von Katharina Talkner zu diesem Thema in: Frauen erfinden, verbreiten, sammeln, bewerten Musik (s. Anm. 7). 10 Karin Hausen: Frauenräume, in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hrsg. von K. Hausen und H. Wunder, Frankfurt/Main, New York 1992 (=Reihe Geschichte und Geschlechter, 1), S. 21-24, hier S. 22.

140 kommen 109 Musikhandschriften, die jüngst in der Arbeitsstelle des Répertoire Interna- tional des Sources Musicales (RISM) an der Bayerischen Staatsbibliothek in München ka- talogisiert wurden und somit über diesen internationalen Quellenkatalog zugänglich sind, sowie 600 Briefe und Autographen von weit über hundert verschiedenen Absenderinnen (darunter von Lola und Désirée Artôt de Padilla, Nadia Boulanger, Amy Beach, Cécile Chaminade, Geraldine Farrar, Sophie Gail, Marie Gutheil-Schoder, Augusta Holmès, Alma Mahler-Werfel, Lina Ramann, Wilhelmine Schröder-Devrient, Clara Schumann, Ethel Smyth, Pauline Viardot-Garcia und Cosima Wagner), 578 Postkarten, 92 Bildquellen (Li- thographien, Fotographien). Über die finanzielle Grundausstattung des fmg hinausgehend wurden diese Quellen von der Mariann Steegmann Foundation finanziert und bei interna- tionalen Antiquariaten und Auktionen erworben.

Forschen In der ersten Förderperiode wurden im fmg verschiedene Formate – Vorlesungsreihen, Ar- beitsgespräche, interdisziplinäre Kongresse, Kolloquien für die Stipendiatinnen und Sti- pendiaten des Forschungszentrums, Ausstellungen – entwickelt, um Forschungsfragen auf- zuwerfen und zu diskutieren, um Forschungsergebnisse zu präsentieren, zur Diskussion zu stellen und zu publizieren: Die Vorlesungsreihen wurden zumeist veröffentlicht, wie etwa Blickwechsel Ost | West. Gender Topographien (2007/08 unter der Leitung von Nina Noeske und Melanie Unseld) als Band 2 des „Jahrbuch Musik und Gender“. Das Arbeitsgespräch Rohe Beats, harte Sounds. Konstruktivität von Aggressivität und Gender in populärer Musik im Februar 2013, für das Florian Heesch verantwortlich zeichnet, erscheint demnächst als Band 7 des „Jahrbuch Musik und Gender“. Die Vorlesungsreihe Bühnenkünstlerinnen des 19. Jahrhunderts, im Sommersemester 2013 von Nicole K. Strohmann und Antje Tumat durchgeführt, wird demnächst in den „Beiträgen aus dem Forschungszentrum Musik und Gender“ publiziert. Natürlich gab es im fmg auch Arbeitsgespräche über Komponistinnen, wie 2011 über Sofia Gubaidulina im Rahmen eines großen, von der Akkordeonistin Elsbeth Moser initiier- ten künstlerischen Festivals „Sofia Gubaidulina – Ein Fest zum 80. Geburtstag“, bei dem u. a. Anne-Sophie Mutter im NDR-Hannover auftrat, oder musikk || musik. Möglichkeits- räume norwegischer Komponistinnen, das in Händen von Lilli Mittner, Darlén Bakke und Ulf Pankoke lag. Ziel war die Etablierung von Veranstaltungsformaten, die auf den Dialog zielen, auf einen Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft, auf einen interdisziplinären Dialog, aber auch auf einen intergenerationellen Dialog wie im Arbeitsgespräch Gender Studies in der Mu- sikwissenschaft – Quo vadis? im Oktober 2009, dessen Erträge 2010 als Festschrift für Eva Rieger im Band 3 des „Jahrbuch Musik und Gender“ veröffentlicht wurden. Seinerzeit dis- kutierten vier Wissenschaftsgenerationen, im Arbeitsgespräch 1914: Krieg.Mann.Musik 11

11 Das Arbeitsgespräch war Teil eines umfangreichen Kooperationsprojektes des fmg und der HMTMH mit dem Deutschlandfunk, dem Staatstheater Hannover und dem Ensemble Schwerpunkt, für das Jung-Eun Park (mit einem Kompositionsstipendium des fmg) das Stück Krieg komponierte, welches im Deutschlandfunk ur- aufgeführt wurde.

141 (November 2014) betrug der Altersunterschied zwischen ältestem und jüngstem Referen- ten vierzig Jahre. Auf diese Weise können Studierende und Promovierende die Vielfältigkeit des Zugangs zu Musik und Kultur, des Verstehens von Musik und Kultur und des Spre- chens über Musik und Kultur erfahren und in ein diskursives Feld mitgenommen werden.12 Bezüglich der Kategorie des Ortes sowie des kulturellen Handelns setzten die internatio- nalen Symposien über Die Stadt (2006), Das Kloster (2008 in Kooperation mit der Klos- terkammer Hannover und mit dem Mädchenchor, der eine CD mit Kompositionen von Frauen aus italienischen Frauenklöstern einspielte) und Der Hof (2010 in Kooperation mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) als Orte kulturellen Handelns von Frauen in der Frühen Neuzeit. Diese Kongresse13 förderten den interdisziplinären und internationa- len Dialog und verknüpften Fragestellungen der musikwissenschaftlichen Gender Studies mit solchen anderer Wissensgebiete wie Urbanistik und Raumsoziologie, Kunstgeschichte, Sprach- und Theaterwissenschaften.

Lehren Um Studierende zu gewinnen, über die Quellenbestände des fmg Abschlussarbeiten zu schreiben, muss man sie an die Arbeit im Archiv heranführen. Unter dem Titel „Spürnasen in’s Archiv! Erinnerungskultur und wissenschaftliches Arbeiten im Archiv des fmg“ entwi- ckelten Antje Tumat und Melanie Unseld im Wintersemester 2014/15 als Kooperation zwi- schen der HMTMH und der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ein neues Semi- narformat: Die Studierenden lernten Archive zu Genderthemen kennen und diskutierten Fragen des kulturellen Gedächtnisses und der Überlieferung. Vor Ort erhielten sie anhand der Bestände des fmg grundlegende Einblicke in die Arbeit im Archiv, arbeiteten mit den Archivalien, lernten die Quellen kennen und entwickelten eigene Forschungsfragen. Die besten Seminararbeiten wurden im Band „Frauen erfinden, verbreiten, sammeln, bewerten Musik“14 publiziert. Das Seminarformat fand großen Anklang und wird in der zweiten Förderperiode des fmg bis 2026 verstetigt. Wenn man Masterstudierende an Archivarbeit herangeführt hat, muss man sie als Dokto- randInnen nur weiter begleiten, was auf Forschungsexkursionen in die nahegelegene Her- zog August Bibliothek Wolfenbüttel oder in Bibliotheken und Archive in Wien geschah und geschieht. Bei einer Forschungsexkursion nach Wien mit sechs MA-Studierenden, bzw. Doktorandinnen wählten vier ein Genderthema, das sie in den Wiener Archiven bearbeite- ten. Im Rahmen des dreijährigen Promotionsprogramms „Erinnerung – Wahrnehmung –

12 Es handelt sich bei dem voranstehenden Passus um eine leicht modifizierte Passage aus: Frauen erfinden, verbreiten, sammeln, bewerten Musik (s. Anm. 7). 13 Die Erträge der drei Symposien wurden publiziert: Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt, hrsg. von Susanne Rode-Breymann, Köln/Weimar/Wien 2007 (=Musik-Kultur-Gender 3); Musikort Kloster. Kulturelles Handeln von Frauen in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Susanne Rode-Breymann unter Mit- arbeit von Katharina Talkner, Köln/Weimar/Wien 2009 (=Musik-Kultur-Gender 6); Der Hof. Ort kulturellen Handelns von Frauen in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Susanne Rode-Breymann und Antje Tumat, Köln/ Weimar/Wien 2013 (=Musik-Kultur-Gender 12). 14 Vgl. die Beiträge von Carolin Holl und Juana Zimmermann in: Frauen erfinden, verbreiten, sammeln, bewerten Musik (s. Anm. 7).

142 Bedeutung“, das die HMTMH zusammen mit den Universitäten Göttingen, Oldenburg und Osnabrück durchführte und in dem sich zwei Professoren und zwei Professorinnen als Antragstellende zusammenfanden, wurden sechs Doktorandinnen und zwei Doktoranden aufgenommen. Von diesen acht wählten vier Genderthemen für ihre Dissertation. Aus die- ser Graduiertenkolleggruppe arbeiteten Lilli Mittner und Karina Seefeldt ab Oktober 2009 im fmg an ihren Dissertationen über Genderthemen. Es ist ein Beispiel, wie die Gender Studies in die Mitte des Fachs geholt werden können. Gleiches gilt für den im Juli 2008 erfolgreich akkreditierten musikwissenschaftlichen Master-Studiengang „Musikforschung und Musikvermittlung“ an der HMTMH, innerhalb dessen die Möglichkeit besteht, Gen- der Studies als Nebenfach zu studieren.

Wissenschaftlich-künstlerisch kooperieren Es war erklärtes Ziel des fmg, wissenschaftliche Neusichten in der künstlerischen Praxis zu erproben. So wurden zahlreiche wissenschaftlich-künstlerische Projekte initiiert. Dabei ent- standen vielfältige Verknüpfungen der wachsenden Sammlung mit Projekten und (Lehr-) Veranstaltungen der Hochschule. Zum einen wurde – wie im Rahmen einer Aufführung der Oper Cendrillon von Pauline Viardot-García – für ergänzende Vorträge und Programm- hefte auf Quellen des fmg zurückgegriffen, in diesem Fall auf rund 30 Originalquellen (Briefe, Noten, Visitenkarten und andere Dokumente) von Pauline Viardot-García. Zum anderen wurden aus den Forschungen im fmg verschiedene konkrete künstlerische Umsetzungen entwickelt wie im Projekt „In a Persian Garden. Ein szenischer Liederabend“, der in Zusammenarbeit von Maren Bagge und Sabine Ritterbusch entstand. Im Zentrum stand der Liederzyklus In a Persian Garden der englischen Komponistin Liza Lehmann für vier Solostimmen mit Klavierbegleitung nach Texten des persischen Dichters Omar Khayyam in der Übersetzung von Edward Fitzgerald. Dieser liegt im Rara-Bestand des fmg in der Sammlung „Englische Komponistinnen“ vor und wurde für die Musikerinnen und Musiker reproduziert. Der Zyklus wurde aus den knapp 900 Notendrucken des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Sammlung „Englische Komponistinnen“ umfasst, ausgewählt, weil sich Liza Lehmann mit ihm in England als Komponistin von Liederzyklen etablierte und mit ihm einen beispiellosen Erfolg in England und den USA erzielte. Das Projekt brach- te das heute kaum bekannte Werk auf die Bühne und gab Einblicke in Leben und Wir- ken der zu Lebzeiten anerkannten und erfolgreichen Komponistin, Sängerin und Pianistin sowie ihr kulturelles Umfeld. Gemeinsam mit Lehrenden der Hochschule entwickelten die Studierenden ein szenisches Gesamtkonzept aus Musik, Texten, Tanz, Kostümen und Bühnenbild. Ergänzt wurde das Programm durch Werke orientalischen Sujets von Anton Rubinstein und Maurice Ravel, persische Musik, Lyrik und Tanz.

Ausstellen Eine andere Form, das, was im fmg gesammelt und erforscht wird, nach außen zu tra- gen, sind Ausstellungen in den Räumlichkeiten des fmg oder im Foyer des Haupthau- ses der HMTMH am Emmichplatz. In den Ausstellungen, die auch Nicht(gender)-

143 expertInnen Verstehensbeteiligung anbieten, kann die Vielfalt der Quellen im fmg präsen- tiert und das fmg sichtbar gemacht werden. Die von Maren Bagge, Stefanie Denz, Anne Fiebig und Nicole K. Strohmann konzipierte Ausstellung „’...gedenke ich des Wunderwei- bes...’– Aus der Schatzkammer eines Angebeteten. Raritäten um Wagner aus dem Bestand des fmg“ z. B. zeigte Handschriften und Drucke aus dem 19. und 20. Jahrhundert rund um das Thema Richard Wagner. Zu sehen waren u. a. Briefe aus dem Familienkreis, insbeson- dere von Cosima Wagner, sowie von Sängerinnen und Wagner-Verehrerinnen, Rollenfotos von berühmten Wagner-Interpretinnen bis hin zu zeitgenössischem Bildmaterial, darunter Porträtfotografien und eine Wagner-Karikatur von der Titelseite der Wochenzeitung „Der Floh“ von 1896. Die ausgewählten Exponate gaben Einblicke in das facettenreiche Leben und das musikalische Handeln der Frauen um, mit und nach Wagner. Frauen wie Cosima Wagner, Mathilde Wesendonck, Judith Gautier, Winifred Wagner, Friedelind Wagner, Lilli Lehmann, Wilhelmine Schröder-Devrient – um nur einige zu nennen – waren die Prota- gonistinnen der Ausstellung, die alle an der Konstruktion des teilweise bis heute aktuellen Wagner-Bildes mitwirkten.

144 Frank Kämpfer

Komponistinnen in Geschichte und Gegenwart – (m)ein Radioversuch

Als ich im Sommer 1989, nur wenige Monate nach meinem beruflichen Wechsel zum Ra- dio, im DDR-Rundfunk-Archiv erstmals zu diesem Thema zu recherchieren begann, war ich überrascht: Dort, wo von mittags bis nachts Klassik zu hören war – Mozart, Telemann, Haydn, Brahms und Hanns Eisler – waren 58 komponierende Frauen vermerkt, lagerten Tonbänder mit 360 Aufnahmen von Kompositionen aus weiblicher Hand! Angesammelt hatten sie sich im Laufe der Jahre – viele als Teil von Konzertmitschnitten, manche via Programmaustausch mit Rundfunk-Anstalten im einstigen Ostblock; dazu ka- men ca. 100 Aufnahmen von und mit Ruth Zechlin. – Angeregt durch einen halbprivaten Arbeitskreis „Frauen und Literatur“ in Ostberlin und von Antje Oliviers gerade erschie- nenem Lexikon „Komponistinnen aus 800 Jahren“, war ich für das Themenfeld bereits sensibilisiert, allein bisher fehlte jede Wirkungsmöglichkeit. Die Implosion der DDR und das gefundene Material, ergänzt um Schallplatten aus Stadtbibliotheken in Berlin/West, lieferten mir diese. Im Hörfunkprogramm Radio DDR II und später beim Deutschland- sender Kultur gab es alsbald höchst Erstaunliches: zunächst eine 29-teilige Sendereihe Kom- ponistinnen der Gegenwart, die am 7. 1. 1990 um 22:07 Uhr mit Myriam Marbe’s Rituel pour le soif de la terre begann und am 26. 1. 1992 mit der Klaviermusik Figure von Michèle Revèrdy endete; weiterhin im Sommer 1991 eine vierteilige, insgesamt vierstündige Wort- Musik-Sendung, in der ich einen ersten Gesamtüberblick zu geben versuchte: Weibliches Komponieren von den Anfängen bis zur Gegenwart sowie 15 je einstündige Porträts von Nannerl Mozart über Fanny Mendelssohn bis zu Barbara Kaiser. 1992 folgte dann beim Deutschlandsender Kultur, dem Ostberliner Radioprogramm, das die deutsch-deutsche Entwicklung im Zuge der Wiedervereinigung dokumentierte und mit vorantrieb, das Jah- resprojekt Komponistinnen in Geschichte und Gegenwart. Das war kommentiertes Abspiel: Freitags 17:00 Uhr bis 17:30 Uhr. Jeweils zwei vom Genre her vergleichbare, historisch aber gegensätzliche Werke wurden einander gegenübergestellt: Teil 1 der insgesamt 38 Folgen konfrontierte eine lange Opernarie der Wilhelmine von Bayreuth mit Adriana Hölszky‘s Kommentar für Lauren. Am 18. 12. 1992 endete die Reihe mit Marianne Martinez’ Sinfonia C-Dur und dem Concerto grosso von Ellen Taaffe Zwilich. Ein Jahr später, Ende 1993, war ich auf dem Weg nach Köln. Im Zuge der Gründung von Deutschlandradio ging ich als Redakteur vom Deutschlandsender Kultur in Berlin zum Kölner Deutschlandfunk. Deutsche Wiedervereinigung, so meine Vision, könne nichts Einseitiges sein. Hier in der Kölner Radio-Welt war es ungleich schwerer, das The- ma „komponierende Frauen“ auf die Tagesordnung zu setzen. Immerhin: Abteilungsleiter Wolf Werth hatte soeben eine CD mit Kammermusik von Emilie Mayer, Clara Faisst und Luise Adolpha Le Beau produziert. Und Reinhard Oehlschlägel, Redakteur für Neue Musik, und seine Frau Gisela Gronemeyer initiierten nur wenige Jahre darauf in Köln

145 das Festival Frau Musica (nova), aus dem eine bis heute existierende, in meiner Redaktion angesiedelte jährliche Konzertveranstaltung im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks hervorgehen sollte. In Köln begann ich als Redakteur für Oper und Lied und moderierte die Sendung Musik- journal. Komponierende Frauen schienen in die Ferne gerückt. Wichtig in unserem Zusam- menhang war allerdings mein Bestreben, in Beiträgen, Sendungen, Planungen Blickwinkel zu ändern. Das ging nicht immer und nicht überall, doch manche AutorInnen ließen sich mit der Zeit darauf ein, Aspekte wie Weiblichkeit, Männlichkeit, Geschlecht oder Geschlech- terentwurf zu erkennen, zu berücksichtigen. Und ich initiierte Kurzberichte: vom Kolloqui- um Gender Studies im Herbst 1996 an der Humboldt Universität, vom Halberstädter Sym- posium zu Fanny und Felix Mendelssohn 1997, von Ruth Zechlins neuer Oper am Theater Saarbrücken, von einer Konzertreihe Hildegard von Bingen im Konzerthaus Berlin. Meine Initiative, Frauen in der Musik zu einem Thema werden zu lassen, erstreckte sich weiter auf aktuelle CD-Kritik und auf Buchrezensionen. Vor allem aber erinnere ich mich an be- merkenswerte Musikfeatures, die dann persönlicher und fundierter Forschung entwuchsen: Beatrix Borchard 1995 über Das Netzwerk der Nadia Boulanger, Anna Bianca Krause eben- falls 1995 zu Macht und Ohnmacht der weiblichen Stimme/n, Christine Lemkes Reflexion über Tod, Weiblichkeit und Poesie 1996, Beatrix Borchards Stimme und Geige – Frau und Mann. Amalie und Joseph Joachim, Irene Constantins langjährige Begleitung der Arbeit der Opernregisseurin Vera Nemirova bis hin zum Frankfurter Ring der Nibelungen von Richard Wagner, oder Barbara Steins Feature über 35 Jahre Frauenmusikbewegung in Deutschland. Nach und nach kam die Musik-Produktion ins Spiel: zum Beispiel beim Berliner Musike- rinnen-Festival Wie es ihr gefällt, das Inge Morgenroth und Angela von Tallian organisier- ten. Eine andere Avantgarde gab es hier, jenseits „gestrenger“ Neuer Musik, mit Melangen aus Jazz, Rock, Avantgarde, Theater und Song, dargeboten ausschließlich von Musikerin- nen. Hier schnitten wir mit, ich mischte alles zu lebendigen Sendecollagen. Der Deutsch- landfunk gab dem Festival medial Aufmerksamkeit, so wie später auch dem Heidelberger Festival Gegenwelten, einer Initiative von Roswitha Sperber. Hier in Heidelberg gab es aus- schließlich Neue Musik, Werke weiblicher Urheberinnen erklangen im Wechsel mit denen von Männern. Das fand ich mutig in der wiederum strengen Enklave Frau und Musik. Ich zeichnete auch hier auf, moderierte, sendete, kooperierte – im Laufe der Jahre etablierte sich der Deutschlandfunk als fester Medienpartner für den Heidelberger Künstlerinnen-Preis. Resümierend meine ich, alle diese Aktivitäten, Reflexionen und Versuche veränderten nicht das kulturelle Denken im Land – doch man konnte Werke von Komponistinnen hin und wieder bundesweit hören. Auf den Frequenzen des Deutschlandfunks bekamen sie ein ge- wisses Gewicht. Doch dies war und blieb ein Einzelweg. Andere Redakteure und Redak- teurinnen bei Deutschlandradio gingen diesen Weg grundsätzlich nicht mit. Natürlich gab und gibt es immer wieder Programme, in denen Kammermusikwerke von Clara Schumann, Fanny Hensel, Louise Farrenc auftauchen. Das gehört zum guten Ton, geschlechtersozio- logische Reflektion ist damit nicht verbunden. „Frauen in der Musik“ – das klang anfangs nach Ideologie, das ließ sich lange als feministisch abtun; heute gilt dies als Fragestellung von gestern. Ich frage mich: Warum ist das kein Thema für die heute Jungen? Welches Bindeglied, welche Erfahrung fehlt da? Als ich zu den Jungen gehörte, Mitte/Ende der

146 1990er Jahre, konnte ich Kollegen anderer Häuser dafür gewinnen: Michael Schmidt vom Bayerischen Rundfunk und ich moderierten im Münchener Gasteig zum Beispiel gemein- sam ein Symposium Hat Musik ein Geschlecht? Rolf W. Stoll wagte mit mir 1996 ein The- menheft der Neuen Zeitschrift für Musik. Und Frank Hilberg vom WDR beauftragte mich 1998, ein erklärendes Feature zu verfassen für den Festivalstart von Frau Musica (nova) in Köln. Ich meine, dass sich ARD-weit bis heute durchaus die eine oder andere Sendung zu Kom- ponistinnen gestern und heute finden lässt. Das Thema wird als Spezialfall akzeptiert – eigentlich handelt es sich aber hier um eine Daueraufgabe, um einen programmatischen Auftrag, ein langfristig zu veränderndes Feld. Hinzu kommt, dass man in Massenmedien unter „Frauen in der Musik“ gern gänzlich anderes versteht, wie etwa die Inszenierung weiblicher Stars als Diven, als sexualisierte Idole im Rahmen tradierter Geschlechterkli- schees. Ein Ausnahmefall ist die Neue Musik. Hier gibt es heute in Deutschland zumindest kaum ein Festival, kein CD-Label, kein Radioprogramm und auch kein Ensemble-Reper- toire, in dem Komponistinnen grundsätzlich fehlen. Auf dem Markt der zeitgenössischen E-Musik sind komponierende Frauen heute durchaus etabliert – das soziale Geschlecht wird allerdings nicht mit reflektiert, sie sind als Komponistinnen mit einer jeweils individuellen stilistischen Handschrift dabei. Im Sommer 2001 übernahm ich von Reinhard Oehlschlägel im Deutschlandfunk die Redaktion Neue Musik. Der neue Arbeitsbereich umfasste den aktuellen Musikjournalis- mus, die wöchentliche Fachsendung Atelier neuer Musik, CD-Koproduktionen im DLF Sendesaal, Mitschnitte deutschlandweit sowie die Programmierung und Organisation des Deutschlandfunk-Festivals Forum neuer Musik. – Ruth Zechlin war die erste: Ihr 75. Ge- burtstag im Jahre 2001 war Anlass für eine Uraufführung beim Forum neuer Musik 2002. Beim Forum neuer Musik 2003 gab es drei Protagonistinnen: Katja Tchemberdji spielte Werke von Galina Ustwolskaja; von Maria de Alvear und Juliane Klein wurden abendfül- lende Arbeiten uraufgeführt. In den Folgejahren realisierten wir Projekte mit Komponistin- nen aus den baltischen Staaten, je einen Abend mit Iris ter Schiphorst und Jamilia Jazylbe- kova, ein Programm rund um Karin Haussmann, ein Orgelkonzert von Adriana Hölszky, Schwerpunkte mit Werken komponierender Frauen aus Mexiko und Südkorea. Ich plante das sehr genau und lud die gesellschaftspolitischen Themen der „Foren neuer Musik“ mit Gender-Aspekten noch einmal zusätzlich auf: Frauen in Balkanländern, Frauen in Süd- amerika – das enthielt potenziell immer Sprengstoff! 2015 zeigte das Forum eine ganz neue, junge, selbstbewusste Generation ostasiatischer Frauen. Im Vorjahr, im Zusammenhang mit dem Weltkrieg vor 100 Jahren, thematisierte das Forum Zusammenhänge von Fort- schritt, Krieg, Männlichkeit, Kunst. 2016 wurden Komponistinnen jüdischer Herkunft in den Fokus gerückt – Sarah Nemtsov, Chaya Czernowin, Brigitte Schiffer und Myriam Marbe. – Das jeweilige Kernteam, die Programmbuch-AutorInnen und ich, wir eigneten uns theoretische Grundlagen an, auf denen die Konzerte, Texte, Debatten dann mutig fuß- ten: Männlichkeitsforschung, Gender, postkoloniale Theorie und anderes, was sich für ein erweitertes Verstehen von „Frau und Musik“ als hilfreich erwies. Die Statistik zeigt die Relationen des Ganzen. Von 2002 bis 2015 wurden beim Forum neuer Musik 101 Werke komponierender Frauen gespielt – neben 252 Werken von Män-

147 nern. 1 : 2,5 lautet die Quote, ich hätte sie intuitiv als besser geschätzt. 41 Kompositions- aufträge vergab ich im Rahmen des Forum im selben Zeitraum an Männer, 32 an Frauen. In 15 Jahren Redaktion Neue Musik habe ich insgesamt 125 Kompositionsaufträge verge- ben, davon 43 an Frauen. In der Welt der CD-Koproduktion sind die Relationen weitaus ungünstiger. In den letzten acht Jahren jedoch haben wir im Deutschlandfunk eine Reihe qualitativ hochwertiger Studioproduktionen mit Werken komponierender Frauen reali- siert: auf dem CD-Markt erschienene Tonträger mit Werken von Kaija Saariaho, Violeta Dinescu, Karin Haussmann, Charlotte Seither, Adriana Hölszky, Ursula Mamlok, Maria de Alvear, Carola Bauckholt und Gloria Coates tragen das blaue Deutschlandfunk-Logo. Dazu kommen die Tonträger der Reihe Frau Musica (nova). Und in der Edition Zeitgenössi- sche Musik des Deutschen Musikrats hat der Deutschlandfunk zuletzt die Porträt-CDs von Jamilia Jazylbekova, Annesley Black, Malika Kishino, Jagoda Szmytka und Marina Khorkova koproduziert. Lisa Streich und Oxana Omelchuk werden bald folgen. Seit nun bald 30 Jahren engagiere ich mich im Themenbereich Frauen in der Musik. An- fangs im Printbereich, später vor allem im Hörfunk in Berlin und in Köln. In Gestalt von Sendungen, Produktionen, Konzert- und Gesprächsveranstaltungen war und ist es mir möglich, auf diesem Feld aktiv gestaltend tätig zu sein. Eine weibliche Ästhetik habe ich in den Werken der Komponistinnen an keiner Stelle gefunden, dafür aber viele individuelle Persönlichkeiten mit ihren Handschriften. Mit manchen sind stabile und kreative Arbeits- Partnerschaften gewachsen: mit Komponistinnen, Musikerinnen, mit Radioautorinnen. Ich bin mir heute bewusst, dass der politische Umbruch 1989/90 in Ostberlin für mich ein entscheidender Katalysator war, um das Themenfeld zu erkennen, mich dafür zu ent- scheiden und sogleich mit dem Anspruch zu beginnen, die Geschichte der komponierten Musik um ihren weiblichen Anteil zu ergänzen. Der heute kaum mehr erinnerbare medien- politische Freiraum in jener Zeit ermöglichte solche Visionen. Spontan, euphorisch und mit Energie habe ich aus dem damals Vorhandenen geschöpft. Heutige Aktivisten müssen anders vorgehen, tiefer loten – sie können sich aber auch in ganz anderem Maß auf schon geleistete wie auf die laufende Forschung stützen bzw. an dieser mitarbeiten. Es gibt heute neben Sendeplätzen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch andere Formate dafür; das Hamburger Projekt Musik und Gender im Internet sei als Beispiel genannt. Die Aufarbeitung, das erste Wiederentdecken und Wiederaufführen komponierender Frauen und ihrer Werke ist in umfänglichem Maße geleistet. Eine Reihe bekannter Initia- torinnen stehen dafür: Mascha Blankenburg, Eva Rieger, Eva Weissweiler, Christel Nies, Roswitha Sperber, Barbara Kaiser und andere mehr. Das vergleichsweise kleine, historisch beschränkte Œuvre der Frauen in den gegenwärtigen Konzert- und Medienbetrieb zu brin- gen – nicht als Sonderfall, sondern als Normalität – ist hingegen eine Aufgabe, die immer neuer persönlicher Initiativen bedarf. Hier müssen Staffelstäbe übergeben werden an Jünge- re! Wir müssen Nachfolger finden, die sich um Vielgestalt bemühen, um Erhalt kultureller Bandbreite und Widersprüchlichkeit. Komponierende Frauen dürfen dabei keinesfalls zu- rück in Spezial- und Sonderformate, deshalb verweise ich hier noch einmal auf den Heidel- berger Künstlerinnenpreis, den Roswitha Sperber an die Aufführung von Orchesterwerken in Abonnement-Konzerten zu knüpfen verstand. Wann endlich eine Frau an der Spitze der Wiener oder der Berliner Philharmoniker steht,

148 das ist ganz sicher kein Maß für eine gewachsene Gleichwertigkeit von Frauen auf dem Ge- biet der Musik. Viel bemerkenswerter ist, dass sich der Anteil der Frauen in vielen Musik- berufen hierzulande immer weiter vergrößert – nicht nur in Spitzenpositionen. Die Kom- plettierung der Geschichte der komponierten Musik um ihren weiblichen Teil umfasst aber viel mehr. Viele schöpferische Wechselbeziehungen von und mit Frauen auf dem Gebiet der Musik in Geschichte und Gegenwart liegen noch immer im Dunkeln. Mittlerweile haben Gender Studies an deutschen Hochschulen Einzug gehalten – und es gibt vielversprechende Beispiele, auch auf dem Gebiet der Musik soziobiographische Zusammenhänge des Wir- kens von Frauen aufzuarbeiten. Entsprechende Lehrangebote, Tagungen, Publikationen, nicht zuletzt die bemerkenswerte Buchreihe Musik – Kultur – Gender beim Böhlau Verlag stehen dafür. Aber auch dies hängt an Einzelpersonen. In vielen Bereichen der Gesellschaft, nicht nur in Wirtschaft, Medien und Politik, ist Gender noch immer ein eher gering ge- schätzter Begriff. Anders gesagt, die Perspektive von Gender ist noch zu wenig ins öffent- liche Alltagsbewusstsein gedrungen. Was aber viel wichtiger ist: Gender ist nicht mehr nur eine Sache der Frauen! Genderforschung und Genderpolitik schließen Männer mit ein, was perspektivisch dringend notwendig ist. Männer benötigen nicht nur in der Musik dringend jene soziale Selbstreflektion, die Frauen in Deutschland seit mindestens 35 Jahren öffentlich demonstrieren. Entsprechende politische wie mentale Kurswechsel, die derzeit vielleicht utopisch erscheinen, einmal vorausgesetzt: die Medien, das Radio, der Deutschlandfunk hätten hier ein ungeahnt weites Feld.

149 Christel Nies

Komponistinnen und ihr Werk – eine unendliche Geschichte von Entdeckungen und Aufführungen

Erst seit Beginn der 1980er Jahre weiß ich, dass es Komponistinnen gibt und auch immer schon gab. Weder in meiner frühen Klavier- und Gesangsausbildung noch im Musikun- terricht des Gymnasiums und während des Musikstudiums hatte ich von ihrer Existenz erfahren. Die Programme der Sinfoniekonzerte und Opernhäuser in Düsseldorf, Köln, Philadelphia, New York und später in Kassel waren ausschließlich mit Komponisten-Wer- ken bestückt, sie sind es bis heute. Dass Namen von Komponistinnen in den Konzertpro- grammen nicht vorkamen, schien ein Indiz dafür zu sein, dass es sie nicht gibt. Es muss im Jahr 1981 gewesen sein, als ich mit unserer Tochter Gabriele in Düsseldorf auf das noch ganz junge Archiv des Internationalen Arbeitskreises Frau und Musik stieß. Hier fanden wir einige wenige Noten von Komponistinnen, darunter die Lieder von Alma Mahler, Clara Schumann, Fanny Hensel, die wir an Ort und Stelle „vom Blatt“ mit Stimme und Klavier in Klang umsetzen konnten. Der kleine Fund bedeutete für mich so etwas wie ein Aha-Erlebnis und war der Auslöser für mein inzwischen jahrzehntelanges Engagement für die Komponistinnen, für ihre Wahrnehmung und anzustrebende Chancengleichheit. Die Bücher von Eva Rieger Frau Musik und Männerherrschaft, von Eva Weissweiler Kompo- nistinnen aus 500 Jahren, das Komponistinnen-Lexikon Komponistinnen von A-Z von Antje Olivier sowie das Rundfunkfeature meiner Nichte Ursula Weck über die Komponistin Ethel Smyth taten ein Übriges, sie klärten auf und bestärkten mich in dem Vorhaben, mit meinen Möglichkeiten für die totgeschwiegenen Komponistinnen etwas zu tun. Es gab und gibt sie also, die Komponistinnen in Vergangenheit und Gegenwart, nicht wahrgenommen von der Musikgeschichte, unbeachtet von Konzertveranstaltern und Opernhäusern und in früheren Zeiten oftmals der Lächerlichkeit preisgegeben von Kritikern und den „Tonangebenden“ des Musiklebens. Frauen hätten keine schöpferischen Fähigkeiten und seien auf dem Gebiet der Komposition unfähig, so hieß es. Komponieren ist ausschließlich Männersache, meinte , und Arnold Schönberg ließ wissen: „Eine Frau kann nicht Schöpferin von Musik sein“. Dies ist umso unverständlicher, da zu seinem Schülerkreis auch Frauen zählten wie beispielsweise Vilma von Webenau und Natalie Prawossudowitsch. Ich wurde Mitglied im neu gegründeten Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik. Die Zusammenkünfte waren geprägt von einer regelrechten Aufbruchsstimmung. Hier begeg- nete ich Musikerinnen mit den gleichen Intentionen und lernte vor allem Komponistin- nen und ihre Werke kennen. Welch ein Unterschied zum „Imponiergehabe“ so mancher Komponisten, die ich bei diversen Musikfestivals erleben konnte. Bei allem schöpferischen Selbstbewusstsein waren die Komponistinnen, die mir begegneten, bescheiden und zugäng- lich, Menschen wie wir!

150 Musik wird von schöpferischen Menschen erfunden und aufgeschrieben, damit sie auf- geführt wird. Hinter jedem Werk steht der Name des Erfinders, der Erfinderin. Über das Hören von Musik wird Interesse geweckt, und man möchte weitere Werke kennenlernen. Nuria Nono brachte es auf den Punkt mit der Aussage „…denn das Wichtigste bei der Musik ist ja die Aufführung“. Das war auch meine Maxime, denn ich selbst hatte über das Hören und Erleben von Musik wunderbare Werke und ihre Schöpfer kennengelernt. Meinen Beitrag zur Wahrnehmung der Komponistinnen sah ich also darin, ihre Werke zur Aufführung zu bringen, was schließlich zu den drei großen Internationalen Komponistin- nen-Festivals Vom Schweigen befreit und zur Gründung der Reihe Komponistinnen und ihr Werk führte. Die Suche nach Werken und Aufführungsmaterial glich dabei oftmals einem Abenteuer. Zunächst aber enthielten die Programme meiner eigenen Konzerte und Liederabende vor- wiegend Werke von Komponistinnen – meist zur Freude und zum Staunen des Publikums. 1984 gab es in Paris den 4ème Congrès femmes et musiques mit circa 80 Komponistinnen- Konzerten. Eines davon war das Konzert im Théatre Jean Louis Barrault, wo ich Lieder von Ethel Smyth, Lili und Nadia Boulanger, Alma Mahler und Viera Janárčeková sang. Auch Jean Louis Barrault, den großen Pantomimen selbst traf man hier in seinem Theater. Wie freute ich mich über sein Autogramm in meinem Programmheft! Weniger freute ich mich dann über die ironische Überschrift in einer deutschen Musik-Zeitung zu meinem Bericht über das Pariser Festival: „In jeder Komponistin steckt ein Beethoven!“. Ähnliches geschah mit einem meiner anderen Berichte über ein unvergessliches Komponistinnen-Festival in Beer-Sheva (Israel). Hier fand ich in einer Kasseler Zeitung meinen Beitrag unter der Über- schrift: „Wohin Frauen, zu weit zu gehen, imstande sind“. Bei meinen diversen Konzertreisen in europäische Länder, nach Japan und Israel, hatte ich immer die Komponistinnen und ihre Werke im Gepäck und im Programm. In einer Ver- anstaltung von Radio France „Débat sur Alma Mahler“ im Jahr 1990 sang ich alle Lieder von Alma Mahler, am Klavier begleitet von der Pianistin Deborah Richards. Hier zählten zu der Diskussionsrunde auch der Gustav-Mahler-Biograf Henry-Louis de la Grange und Anna Mahler, die Enkelin von Alma Mahler. Ihre Widmung in meiner Notenausgabe erin- nert mich an die Begegnung mit ihr. Die Veranstaltung selbst wurde mit großem Interesse wahrgenommen und in Frankreich ausgestrahlt. Es folgten in Kassel die drei großen Internationalen Komponistinnen-Festivals „Vom Schweigen befreit“ in den Jahren 1987, 1990, 1993, die wir zu zweit, Roswitha Aulenkamp und ich, planten, organisierten, künstlerisch leiteten und mit großem Erfolg durchführten. Diese Festivals sind in drei Buchausgaben dokumentiert. 1989 holten wir das Archiv des Internationalen Arbeitskreises Frau und Musik nach Kassel, denn in Düsseldorf konnte es nicht bleiben. Die ehrwürdige Murhardsche Bibliothek mit der Angliederung an die Uni- versität Kassel wurde zur neuen Adresse. Wir ordneten die Bestände des Archivs, bauten es auf, betreuten die täglichen Besucherinnen und Besucher und freuten uns über die vielen Anfragen. Erstmals erreichten wir für das Archiv eine großzügige finanzielle Förderung vom Land Hessen. Durch Neu-Ankäufe konnten wir die Bestände jetzt erheblich erweitern und sogar einen Computer anschaffen! 1990, beim zweiten Festival „Vom Schweigen befreit“ haben wir das Archiv als gelungene und wichtige Institution präsentiert. Die hessische Lan-

151 desregierung stellte das Archiv und unsere Arbeit im Rahmen einer speziellen (Konzert-) Veranstaltung in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn vor. Bis zum Jahr 1991 galt neben Konzerten, Festival-Vorbereitung, Unterrichten und einem Lehrauftrag zum Thema Kom- ponistinnen am Institut für Musik der Universität Kassel unser vornehmlicher Einsatz dem Aufbau und der Betreuung des Archivs. Große Komponistinnen-Festivals, meine eigenen Konzertprogramme mit Werken von Komponistinnen und die Sammlungen des Archivs sind unverzichtbare Möglichkeiten, auf das Thema „Frau und Musik“ aufmerksam zu machen. Notwendig und effektiv erschien mir zudem die Garantie einer Nachhaltigkeit in Form von kontinuierlich stattfindenden Konzerten im Rahmen einer speziellen Konzertreihe für Komponistinnen. Hierfür fand ich offene Ohren bei der damals neu gegründeten Heinrich-Böll-Stiftung, die dann in den Jahren 1990/91 die neue Veranstaltungsreihe Komponistinnen und ihr Werk begleitete, finanziell großzügig unterstützte und die erste Buchdokumentation herausgab. Seit 1991 erhält die Reihe von der hessischen Landesregierung und der Stadt Kassel jährlich eine finanzielle Förderung, die einen Teil der anfallenden Kosten deckt. Die Finanzierung der Reihe mit der Suche nach Sponsoren ist sehr zeitaufwändig und für mich als ehrenamtlich tätige Konzertveranstalterin oftmals ein Balance-Akt. Die zuweilen angemahnte Gefahr einer Ghettobildung bei einer Konzertreihe ausschließlich für Komponistinnen habe ich von mir gewiesen, gibt es doch eine solche Zuordnung für die herkömmlichen, „normalen“ Konzertprogramme mit ausschließlich „Männer-Werken“ auch nicht! In der Reihe Komponistinnen und ihr Werk sehe ich außer einer ausgleichenden Gerechtigkeit die unbedingte Notwendigkeit, zumindest eine Zeit lang kontinuierlich und mit Nachdruck auf das Vorhandensein der Komponistinnen und ihrer Werke hinzuweisen.

Mein Konzept für die Programmgestaltung der Konzertreihe beinhaltet mit einer Mischung aus Alter und Neuer Musik und mit Porträtkonzerten ein breites Spektrum. Die Qualität der Konzerte muss durch gute und ambitionierte Musiker gewährleistet sein, und alle Ver- anstaltungen der Reihe werden in Buchform, Tonaufnahmen oder Rundfunkmitschnitten dokumentiert. Je nach dem inhaltlichen Konzept eines Konzertprogrammes wird auf Wer- ke von Komponisten nicht verzichtet, auch im Hinblick auf den erhofften Idealzustand, wo das Geschlecht bei der Programmgestaltung keine Rolle mehr spielen wird. Mit der Aufführung der Werke von Komponistinnen der Vergangenheit lässt sich beweisen, dass es die Komponistinnen immer schon gab, dass die Musikgeschichte ohne sie unvoll- ständig ist. Für die Komponistinnen heute ist es wichtig zu wissen, dass sie nicht die ersten Komponistinnen sind, die seit dem 20. Jahrhundert urplötzlich da sind, sondern dass sie sich in einer langen weiblichen Tradition befinden. Die Aufführungen von Werken zeitgenössischer Komponistinnen wie Adriana Hölszky, Sarah Nemtsov, Kaija Saariaho, Olga Neuwirth, Annette Schlünz, Sofia Gubaidulina, Lera Auerbach, Olga Neuwirth, Charlotte Seither, Younghi Pagh-Paan, Violeta Dinescu, um nur einige zu nennen, zeugen von ihrem kompositorischen Können und sollen zu ihrer ange- strebten Chancengleichheit beitragen. Auch sind diese Aufführungen ein Tribut an die lei- der vernachlässigte Wahrnehmung der Musik unserer Zeit. Hier stellen sich zwei Probleme gleichzeitig: Die Schwierigkeit der Akzeptanz von Neuer Musik, dazu die Novität: Werke

152 von Komponistinnen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage einer Kasseler Politikerin: „Neue Musik zu hören, fällt mir leichter, wenn sie von einer Komponistin stammt.“ Musik von Komponistinnen darf keinesfalls als eine der Sparten des Musiklebens (Alte Musik, Neue Musik, Geistliche Musik...) gesehen werden, allenfalls als ein Äquivalent zu „Komponisten und ihr Werk“, wenn es diese Sparte denn gäbe!

Unter dem Label Komponistinnen und ihr Werk fanden allein in Kassel jährlich drei bis fünf Konzerte statt. Vorträge, Filme, Diskussionsrunden, Rundfunksendungen und das Sympo- sium „Chancengleichheit für Komponistinnen“ ergänzten das Angebot. In nunmehr fünf Buchausgaben1) sind alle Veranstaltungen dokumentiert. Die Konzerte folgten meinem Konzept und boten erstaunliche Entdeckungen und Hör- erlebnisse, die nicht nur den musikalischen Horizont von Besuchern und Interpreten erwei- terten, sondern einen wichtigen Beitrag dazu leisteten, die Musikgeschichte mit der Inte- gration von Komponistinnen zu komplettieren. Bei vielen der aufgeführten Werke handelte es sich um Uraufführungen oder Deutsche Erstaufführungen, die nun viele Jahrhunderte oder Jahrzehnte nach dem Tod einer Komponistin stattfanden. Mit einem Porträtkonzert für die damals 90-jährige Komponistin Grete von Zieritz wurde die Reihe Komponistinnen und ihr Werk am 22. Februar 1990 im Kasseler Rathaus unter großem Medien- und Publikumsinteresse in Anwesenheit der Komponistin aus der Taufe gehoben und im gleichen Jahr in der Kölner Musikhochschule und im Palais Wittgenstein in Düsseldorf wiederholt. Grete von Zieritz, 1899 in Wien geboren, und 2001 in Berlin verstorben, ist die einzige Komponistin, deren Lebensdaten drei Jahrhunderte umspannen! Bei den insgesamt mehr als 140 Konzerten in einem Zeitraum von 26 Jahren in Kassel und anderen Städten zählen zu den Highlights die Konzerte und Porträtkonzerte mit den jeweils anwesenden Komponistinnen: Franghiz Ali Sadé, Maria de Alvear, Carmen Cârneci, Violeta Dinescu, Markéta Dvořáková, Susanne Erding-Swiridoff, Elena Firsova, Lenka Foltynová, Jacqueline Fontyn (mehrmals), Konstantia Gourzi, Sofia Gubaidulina (mehrmals), vier Komponistinnen der Komponis- tinnengruppe Hudbaby, Viera Janárčeková, Vineta Lice, Ivana Loudová, Myriam Marbe, Selga Mence, Younghi Pagh-Paan, Graciela Paraskevaidis, Doina Rotaru, Annette Schlünz, Charlotte Seither, Mihaela Vosganian und Grete von Zieritz. Sie alle konnte man in „ihren“ Konzerten hautnah erleben, viel über ihre Musik erfahren und darüber, was überhaupt ein Komponistinnenleben so ausmacht. Sofia Gubaidulina und Franghiz Ali Sadé wurden gebeten, sich in das Goldene Buch der Stadt Kassel einzu- tragen. Unvergesslich sind die Begegnungen in Kassel mit Sofia Gubaidulina, die in einem der Konzerte mit der Gruppe Astraea auch selbst als Musikerin agierte, unvergesslich auch der Besuch der inzwischen verstorbenen rumänischen Komponistin Myriam Marbe, die meh-

1 Komponistinnen und ihr Werk, Dokumentation I der Jahre 1990/91, Köln 1992 (Heinrich-Böll-Stiftung) Unerhörtes Entdecken, Dokumentation II der Jahre 1992 bis Mai 1995, Kassel 1995 (Bärenreiter-Verlag) Gut zu hören – gut zu wissen, Dokumentation III, Juni 1995 bis 2002, Kassel 2002 (Bärenreiter-Verlag) Entdeckt und aufgeführt, Dokumentation IV der Jahre 2003 bis 2010, Kassel 2010 (kassel university press) Nachhall, Dokumentation V der Jahre 2011 bis 2016, Kassel 2016 (kassel university press)

153 rere Tage lang unser Gast war. Ihr für uns (Sopran, Violine und Perkussion) geschriebenes Werk Cantare, Cantarellare probten wir mit ihr zwischen Kochen, Mahlzeiten, intensiven Gesprächen und sehr wenig Schlaf. Die mehrfachen Besuche von Jacqueline Fontyn und Ursula Mamlok, wie auch die Besuche der anderen Komponistinnen sind in bleibender Erinnerung. Komponistinnen, Interpreten und Ensembles waren oftmals Gäste in unserem Haus. Das sparte nicht nur Hotelkosten, sondern das gegenseitige persönliche Kennenler- nen führte zu Freundschaften und war immer ein Gewinn für alle Beteiligten. Es war meistens ein Leichtes, sehr gute interessierte Musiker und Ensembles zu finden, die als wunderbaren multiplikatorischen Effekt die einstudierten Komponistinnen-Werke auch in die Programme ihrer anderen Konzerte übernahmen. Viele Ensembles und Musiker bewarben sich um Auftritte im Rahmen der Reihe Komponistinnen und ihr Werk; sie such- ten selbst nach Komponistinnen-Werken und machten Programmvorschläge. Erfreulich war das Interesse und die Qualität solch junger Ensembles wie Anima Quartet, Boulanger Trio, Trio Passionata und von Interpreten wie dem Bariton Andreas Beinhauer und dem Pianisten Markus Hadulla. Garant für Konzerte von besonders hoher Qualität waren Ensembles und Interpreten wie: Moskauer Streichquartett, Arditti-Quartet, Leipziger Streichquartett, Kaprálová Quartett, Minguet Quartett, Klenke Quartett, Ensemble Recherche, Linos-Ensemble, Klarinetten- duo Beate Zelinsky und David Smeyers, SingerPur Vokalsextett, Vocalensemble Kassel, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Ensemble VocaMe, Trio Contraste, Dauprat Hornquartett, die Akkordeonistinnen Mie Miki und Margit Kern, der Posaunist Mike Svoboda, der Gei- ger Kolja Lessing, der Lautenist Stephen Stubbs, die Sopranistinnen Lauri Reviol, Traudl Schmaderer und Britta Stallmeister, der Blockflötist Jeremias Schwarzer… Auch der legen- däre Sänger Dietrich Fischer-Dieskau kam nach Kassel und las in einer Doppel-Veranstal- tung über die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot-Garcia (1821–1910) aus seinem Buch Wenn Musik der Liebe Nahrung ist. Das Projekt Komponistinnen und ihr Werk – Spurensuche in Europa 2) mit dem Focus auf Rumänien (2004) und dem Focus auf Tschechien (2005) zählt zu den Höhepunkten der Reihe und führte zu einem bleibenden Austausch zwischen allen an diesem Projekt Betei- ligten. Aus beiden Ländern reisten Komponistinnen, Musikwissenschaftler, Musiker und Ensembles an, und unter den Kasseler Einwohnern gab es viele, die bereitwillig und gerne Quartiere zur Verfügung stellten. Das Projekt Rumänien fand in Zusammenarbeit mit der rumänischen Organisation ARFA (Association of Women in Art) auch in Bukarest seine Fortsetzung mit einem Komponistinnen-Konzert im Muzeul National und einem Workshop an der Universitatea Naţională de Muzică Bucureşti. In Brno/ČSSR konnte ich die zum Tschechien-Projekt eingeladenen Komponistinnen und Musiker zuvor ken- nenlernen und mich an Ort und Stelle über die Situation von Komponistinnen und das Musikleben in diesem Land informieren. Zu weiteren Höhepunkten der Reihe zählen die Konzerte im documenta-Jahr 2007, die Entdeckung der Ragtime-Komponistinnen, das Konzert mit den byzantinischen Hymnen

2 Entdeckt und aufgeführt, Dokumentation IV der Jahre 2003 bis 2010, Hrsg. Christel Nies, Kassel 2010 (kassel university press)

154 der Kassia, die Jubiläumskonzerte 2015, die Murnau-Filme Tabu und Nosferatu mit der Musik von Violeta Dinescu und vieles mehr. In einer einstündigen Sendung des Hessischen Rundfunks Vergessen und wiederentdeckt – Die Musik von Ethel Smyth konnte ich in der Hörfunkreihe „Kaisers Klänge“ diese Kom- ponistin vorstellen und in einer weiteren Sendung die Komponistin Lili Boulanger. Auch meine diversen Vorträge und PowerPoint-Präsentationen in Kassel und anderen Städten waren dem Thema Komponistinnen und ihr Werk gewidmet.

Dieser fünfte Band der Reihe Komponistinnen und ihr Werk dokumentiert die Konzerte und Veranstaltungen der Jahre 2011 bis 2016, die mit Aufführungen Alter und Neuer Musik dem gleichen Konzept folgten wie die Konzerte der Jahre zuvor. Der Titel Nachhall ist dem Untertitel des 6. Streichquartetts von Hanna Kulenty entnommen „with echo delay“. Er impliziert Ausdeutungen wie: nachwirkend, nachhaltig, nicht gleich verklingend… Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, sich hierzu ihre eigenen Gedanken zu ma- chen. 26 Jahre Komponistinnen und ihr Werk waren für mich eine spannende, intensive, (erkennt- nis-)reiche, und zuweilen abenteuerliche Zeit. Die Begegnungen mit den Komponistinnen und ihrer Musik, die individuell, aber nicht von einer speziellen, „weiblich“ zu nennenden Ästhetik geprägt ist, zählen für mich zu den wichtigen Ereignissen in meinem Leben; sie haben mich in der Überzeugung bestärkt, dass durch die Aufführung von Kompositionen neue Erkenntnisse in Musik und Musikgeschichte gewonnen werden können. Die Reihe Komponistinnen und ihr Werk leistet mit ihren Konzerten und Veranstaltungen einen wichti- gen Beitrag zur Wahrnehmung und angestrebten Chancengleichheit von Komponistinnen.

155 Die Komponistinnen in alphabetischer Folge

Auerbach, Lera (*1973) Bacewicz, Graźyna (1909–1969) Bauckholt, Carola (*1959) Bosmans, Henriëtte (1895–1952) Boulanger, Lili (1893–1918) Boulanger, Nadia (1887–1979) Clarke, Rebecca (1886–1979) Cojocaru, Dora (*1963) Dinescu, Violeta (*1953) Farrenc, Louise (1804–1875) Fontyn, Jacqueline (*1930) Fuchs, Lillian (1901–1995) Fung, Vivian (*1975) Gourzi, Konstantia (*1962) Greger, Luise (1862–1944) Gubaidulina, Sofia (*1931) Hensel, Fanny (1805–1847) Hölszky, Adriana (*1953) Jolas, Betsy (*1926) Kaprálová, Vítězslava (1915–1940) Kassia (ca. 810–ca.865) Kulenty, Hanna (*1961) Le Beau, Adolpha (1850–1927) Mahler, Alma (1879–1964) Mamlok, Ursula (1923–2016) Mayer, Emilie (1812–1883) Nemtsov, Sarah (*1980) Neuwirth, Olga (*1968) Paredes, Hilda (*1957) Saariaho, Kaija (*1952) Schlünz, Annette (*1964) Schumann, Clara (1819–1896) Seither, Charlotte (*1965) Sirmen, Maddalena (1745–1818) Smyth, Ethel (1858–1944) Sokolović, Ana (*1968) Tailleferre, Germaine (1892–1983) Ustwolskaja, Galina (1919–2006)

156 Biografien der Komponistinnen

Lera Auerbach wurde 1973 in Tscheljabinsk (Ural) geboren. Sie absolvierte die New Yorker Juilliard School in den Fächern Klavier und Komposition. Daneben studierte sie Vergleichende Literaturwissenschaft an der . Am 1. Mai 2002 gab sie ihr Debüt in der Carnegie Hall, wo sie ihre eigene Suite für Violine, Klavier und Streichorchester op. 60 mit Gidon Kremer und der Kremerata Baltica aufführte. Sie trat bereits als Pianistin in der New Yorker Carnegie Hall, im Lincoln Center, dem Münchner Herkulessaal, im Konzerthaus von Oslo und im Kennedy Center Washington auf. Lera Auerbachs Musik scheint vordergründig traditionellen Einflüssen stark verpflichtet zu sein. Für sie ist es kein Widerspruch, Tonalität und klassische Formsprache zu nutzen, um neue Wege zu finden. Bei näherem Hinhören eröffnet sich ein ganzer Kosmos ungewohnter Klänge, Farben und Verfah- rensweisen, die in vielerlei Hinsicht einen weit entwickelten Personalstil prägen. Ihr umfangreiches kompositorisches Œuvre beinhaltet sowohl Opern, Orchestermusik, Kammermusik für verschiede- ne Besetzungen wie auch Vokalmusik und elektronische Musik. Quelle: Sikorski-Verlag www.leraauerbach.com

Graźyna Bacewicz, 1909 in Łódź geboren, war Komponistin, Geigerin, Pianistin, Pädagogin und Schriftstellerin. Ersten Klavier- und Violinunterricht erhielt sie von ihrem Vater. Ab 1928 studierte sie an der Musikaka- demie in Warschau Violine, Klavier und Komposition (bei Kazimierz Sikorski) sowie Philosophie an der Warschauer Universität. Anfang der 1930er Jahre ging sie nach Paris, um hier Komposition bei Nadia Boulanger und Violine bei André Touret und Carl Flesch zu studieren. In den Jahren 1934/1935 und nach 1945 unterrichtete Bacewicz am Konservatorium in Łódź, danach lebte sie in Warschau und lehrte hier am Konservatorium Komposition. Als gefeierte Violinvirtuosin gab sie Konzerte in ganz Europa und gewann zahlreiche bedeutende Wettbewerbe. Sie war Jurorin bei inter- nationalen Wettbewerben und stellvertretende Vorsitzende des polnischen Komponistenverbandes. Ab Mitte der 1950er Jahre gab sie das Konzertieren auf und widmete sich ausschließlich der Kom- position. Es entstanden insgesamt mehr als 200 Werke: 6 Sinfonien, mehrere Instrumentalkonzerte, darunter 7 Violinkonzerte, 3 Ballette, eine Funkoper, eine Kantate, Lieder, 7 Streichquartette und weitere Kammermusikwerke. Die meisten Kompositionen wurden zu ihrer Zeit in vielen Ländern mit großem Erfolg aufgeführt und erhielten höchste Auszeichnungen. Nach ihrem Tode im Jahr 1969 geriet Bacewicz mehr und mehr in Vergessenheit. In Polen jedoch wird sie als eine der wich- tigsten Komponistinnen und bedeutende Vertreterin der neuen polnischen Musik wahrgenommen. Hier kommen ihre Werke auch weiterhin zur Aufführung und finden Eingang in CD-Produktionen.

Carola Bauckholt wurde 1959 in Krefeld geboren. Nach mehrjähriger Mitarbeit im Krefelder Theater am Marienplatz (TAM) studierte sie von 1978 bis 1984 an der Musikhochschule Köln bei . 1985 gründete sie mit Caspar Johannes Walter den Thürmchen Verlag und 1991 das Thürmchen Ensem- ble. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, u. a. 1986 das Bernd Alois Zimmermann Stipendium der Stadt Köln, 1997 den Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom. 1998 wurde sie mit dem Künstlerinnenpreis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet und vertrat Deutschland

157 bei den Weltmusiktagen in Mexiko 1992, in Kopenhagen 1996, in Seoul 1997 und in Zürich 2004. 2010 wurde ihr in der Kategorie Experimentelle Musik der Deutsche Musikautorenpreis der GEMA verliehen. Mit ihrem Musiktheaterstück hellhörig war sie 2011 nach der Premiere bei der 11. Biennale in München auch in Köln, Basel, Rheinsberg, Warschau, Santiago de Chile und Buenos Aires zu Gast. Als Gastdozentin wirkte sie in Santiago de Chile, Ostrava, Amsterdam, Krakau, Zürich, Apel- doorn, Kiev, Oslo, Mexiko City und im Inland. Seit 2013 ist sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. 2015 wurde sie zur Professorin für Komposition mit dem Schwerpunkt zeitgenössisches Musiktheater an die Privatuniversität in Linz berufen. Ein zentrales Moment bei der Komposition ist bei Carola Bauckholt das Nachdenken über das Phänomen der Wahrnehmung und des Verstehens. Ihre Kompositionen vermischen oft Elemente aus visueller Kunst, Musiktheater und konzertanter Musik. Dafür bedient sie sich gerne geräuschhafter Klänge, die oft mit ungewohn- ten Mitteln erzeugt werden und nicht in ein vorgegebenes Kompositionsraster eingearbeitet, son- dern in ihrer freien Entfaltung beobachtet und fortgeführt werden. Das Werkverzeichnis von Carola Bauckholt beinhaltet mehr als 80 Werke. www.carolabauckholt.de

Henriëtte Bosmans, 1895 in Amsterdam geboren, war die Tochter eines Cellisten und einer Konzertpianistin und Dozen- tin am Konservatorium in Amsterdam. Hier studierte Henriëtte Bosmans Klavier bei ihrer Mutter und absolvierte mit 17 Jahren das Abschlussexamen mit Auszeichnung. Es folgten zahlreiche Kon- zerte der erfolgreichen Pianistin. Erste Kompositionen, vor allem Werke für Violoncello, entstanden bereits im Alter von 15 Jahren. In den 1920er Jahren studierte Bosmans Orchestration bei Cornelis Dopper und später bei Willem Pijper. Waren die frühen Kompositionen eher dem romantischen Stil verhaftet, so verwandte Bosmans nach dem Studium bei Willem Pijper auch Modernismen wie beispielsweise Bitonalität, Quart- und Quintparallelen. Bald sah man in ihr die begabteste hollän- dische Komponistin. Aufgrund persönlicher Umstände und dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges komponierte Bosmans in den Jahren 1936 bis 1945 keine weiteren Werke; mit Beginn der deutschen Besatzungszeit im Jahr 1941 erhielt sie wegen ihrer jüdischen Herkunft ein Berufs- und Auftrittsver- bot. Während dieser Zeit unterhielt sie eine enge Briefkorrespondenz mit Benjamin Britten. Nach 1945 führte sie dessen Klavierkonzert auf und war Duo-Partnerin des Sängers Peter Pears. Auch ihre kompositorische Tätigkeit nahm sie nach 1945 wieder auf und komponierte vor allem zahlreiche Lieder auf Texte von Paul Fort, Jacques Prévert, Paul Eluard und André Verdet. Die Komponistin starb 1952. Unter ihren Werken befinden sich Kompositionen für Cello und für Klavier, mehrere Solokonzerte und Lieder.

Lili Boulanger, 1893 in Paris geboren, war eine der großen kompositorischen Begabungen im Frankreich des be- ginnenden 20. Jahrhunderts. Sie komponierte in ihrem von schwerer Krankheit gezeichneten Leben Werke von unerhörter Schönheit und Eindringlichkeit. Schon im Alter von 5 Jahren begleitete sie ihre um 6 Jahre ältere Schwester Nadia zum Harmonielehreunterricht am Pariser Conservatoire. Mit 8 Jahren debütierte sie als Geigerin, mit 11 als Pianistin und mit 16 Jahren entschloss sie sich, Komponistin zu werden. Lili Boulanger arbeitete mit großer Gewissenhaftigkeit, mit Willenskraft und Leidenschaft zunächst mit ihrer Schwester Nadia, dann mit Georges Caussade und Paul Vidal. Ab 1912 studierte sie am Pariser Conservatoire und 1913, im Alter von 19 Jahren, wurde sie für ihre Kantate Faust et Hélène mit dem 1er Prix de Rome ausgezeichnet. Sie war die erste Komponistin

158 in der Geschichte dieses Preises. Ihre Werke wurden danach beim Verlag Ricordi verlegt und zum großen Teil auch aufgeführt. Lili Boulanger komponierte Psalmen, Kammermusik für verschiedene Besetzungen, Klaviermusik, den Liedzyklus Clairières dans le ciel, Lieder, Chorwerke und eine Oper nach Maeterlincks La Princesse Maleine, die vermutlich Fragment geblieben ist. Die Komponistin starb 1918 im Alter von 24 Jahren.

Nadia Boulanger, 1887 in Paris geboren, zählt zu den großen Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Sie war Komponistin, Pianistin und Organistin, sie dirigierte die großen Orchester in den USA und Eng- land und setzte sich für das kompositorische Werk ihrer früh verstorbenen Schwester Lili ein. Im Alter von 30 Jahren beendete sie ihre kompositorische Tätigkeit und widmete sich ausschließlich dem Unterrichten. Gabriel Fauré bezeichnete es als ihren größten Fehler, das Komponieren so früh aufgegeben zu haben. Nadia Boulanger unterrichtete in den 75 Jahren ihrer Lehrtätigkeit mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler aus aller Welt, darunter solch namhafte Komponisten wie Aaron Copland, Jean Françaix, Astor Piazolla, die schottische Komponistin Thea Musgrave und die Polin Grażyna Bacewicz. Zur Boulangerie, wie der Kreis ihrer Freunde und Schüler genannt wurde, zähl- ten viele geistige Größen ihrer Zeit: Maurice Ravel, Igor Strawinsky, Yehudi Menuhin, Leonhard Bernstein, George Gershwin, Igor Markevitch, die Schriftsteller Saint-Exupéry, Paul Valéry, André Gide und Francis Jammes, der Maler Marc Chagall und auch Prinz Rainier und Prinzessin Grace von Monaco. Nadia Boulanger starb 1979 in Paris; sie ging als bedeutende Musikpädagogin in die Geschichte ein. Das Leben im Reich der Musik ist eine solche Quelle der Freude, dass ich mich dazu bestimmt fühlte, diese durch meine Unterrichtstätigkeit mit Anderen zu teilen mit allen meinen Kräften.(Nadia Boulanger)

Rebecca Clarke wurde 1886 in Harrow, einem Londoner Vorort, geboren und wuchs in einem musikalisch gepräg- ten Elternhaus auf. Mit acht Jahren erhielt sie Violinunterricht, und mit sechzehn begann sie ein Violin- und Kompositionsstudium an der Royal Academy of Music in London, wo sie als erste Frau in die Kompositionsklasse von Charles Villiers Stanford aufgenommen wurde. Sie wechselte das In- strument und studierte nun Viola bei Lionel Tertis. Als hochbegabte Bratschistin verdiente Rebecca Clarke fortan ihren Lebensunterhalt. Sie wurde als eine der ersten Frauen festes Mitglied im Queens Hall unter der Leitung von Sir Henry Wood, auch war sie Mitglied in verschiedenen Frauen-Kammermusikgruppen, einer speziellen Modeerscheinung dieser Zeit. 1916 besuchte Clarke erstmals die USA, wo sie zunehmend Anerkennung als Komponistin und Solistin erhielt. Um mehr Aufmerksamkeit als Komponistin zu erlangen, legte sie sich mit dem Namen Anthony Trent ein männliches Pseudonym zu. 1919 gewann sie mit ihrer Sonate für Viola und Klavier den zweiten Preis beim Berkshire Kammermusikfestival in Pittsfield (USA). Als gefeierte Solistin und im Besitze einer Grancino-Viola ging Rebecca Clarke mit der Cellistin May Mukle auf Welttournee. Als Kammer- musikpartnerin konzertierte sie u. a. mit Casals, Rubinstein, Thibaud, Heifetz, Schnabel und Szigeti. 1944 heiratete Clarke ihren langjährigen Kollegen und Freund, den Pianisten und Komponisten James Friskin und lebte mit ihm in New York. Hier unterrichtete sie, machte Kammermusiksen- dungen für den Rundfunk und hielt Vorträge. Ihr kompositorisches Œuvre beinhaltet insgesamt 58 Lieder und 24 Instrumental- und Kammermusikwerke. Rebecca Clarke starb im Jahr 1979.

159 Dora Cojocaru wurde 1963 in Baia-Mare, einem kleinen Städtchen in den Karpaten, geboren. Sie studierte an der Musikakademie von Cluj-Napoca und erwarb dort 1986 Diplome in den Fächern Kompositi- on, Pädagogik und Klavier. Ein weiteres Kompositionsstudium absolvierte sie in Köln bei Johannes G. Fritsch. 1997 promovierte sie im Fach Musikgeschichte mit einer Arbeit über György Ligeti, die 1999 veröffentlicht und in Rumänien mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Dora Cojocaru war Mitarbeiterin beim WDR in Köln und bis 2001 Dozentin für Komposition an der Musikaka- demie Gheorghe Dima in Cluj. Die Komponistin wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Sie repräsentiert eine Gruppe junger rumänischer Komponistinnen und Komponisten, die in Verges- senheit geratene Methoden der Avantgarde wiederentdeckt haben und weiter entwickeln. In ihren Kompositionen verbindet Cojocaru die Traditionen rumänischer Musik mit Kompositionstechni- ken neuer westlicher Musik und schafft damit einen eigenen Stil. Ihr umfangreiches Werkverzeichnis enthält Orchesterwerke und Kammermusik für verschiedene Besetzungen. Cojocaru lebt seit 2002 in , wo sie an der McGill University unterrichtet.

Violeta Dinescu, 1953 in Bukarest geboren, studierte zwischen 1972 und 1976 am Bukarester Ciprian-Porumbes- cu-Konservatorium Klavier, Komposition und Musikpädagogik. Anschließend war sie ein Jahr lang Schülerin der rumänischen Komponistin Myriam Marbe. 1980 wurde sie Mitglied des Rumäni- schen Komponistenverbands, unterrichtete zwischen 1978 und 1982 am George-Enescu-Lyzeum in Bukarest Klavier, Musiklehre und Ästhetik, siedelte 1982 nach Deutschland über und setzte ihre Lehrtätigkeit dort an der Hochschule für Evangelische Kirchenmusik Heidelberg (1986–1991), an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (1989–1992) und an der Fachakademie für Evangelische Kirchenmusik Bayreuth (1990–1994) fort. 1996 erhielt Dinescu eine Professur für An- gewandte Komposition an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Dort initiierte sie die Veran- staltungsreihe Komponisten-Colloquium, regelmäßige Symposien mit dem Titel Zwischen Zeiten und gründete das Archiv für Osteuropäische Musik mit dem Sammlungsschwerpunkt Rumänien sowie eine gleichnamige Schriftenreihe. Darüber hinaus leitet sie regelmäßig Kompositions- und Improvi- sationskurse und Workshops in Europa und Amerika. Dinescus Werkverzeichnis umfasst Partituren nahezu aller Gattungen: vom Musiktheater über Ballette, Stummfilm-Musik, Oratorien und Vokal- musik bis hin zu Werken für kleines und großes Orchester und Instrumentalmusik in Solo-, Duo-, Trio-, Quartett-, Quintett-, Sextett- und Septett-Besetzung, deren individuelle Instrumentenkom- binationen häufig auf die persönliche Zusammenarbeit mit ihren Interpreten zurückgehen oder die Folge einer speziellen Auftragssituation sind. Für ihr Schaffen erhielt Dinescu zahlreiche Stipendien, Auszeichnungen und Preise. CD-und DVD-Einspielungen geben ein plastisches Bild ihrer künstle- rischen Kreativität. www.uni-oldenburg.de/musik/violeta-dinescu Kadja Grönke

Louise Farrenc siehe Seite 103

160 Jacqueline Fontyn, 1930 in Antwerpen geboren, erhielt als Kind Klavierunterricht bei Ignace Bolotine. Sie studierte Musiktheorie und Komposition bei Marcel Quinet und bei Max Deutsch in Paris und besuchte die Kapellmeisterklasse von Hans Swarowski in Wien. Von 1963 bis 1970 war sie Professorin für Musiktheorie am Antwerpener Konservatorium und von 1970 bis 1990 Professorin für Kompositi- on am Conservatoire Royal de Bruxelles. Jacqueline Fontyn wurde regelmäßig zu Gastvorträgen und Meisterklassen an Universitäten und Musikhochschulen in der ganzen Welt eingeladen. In Kassel ist die Komponistin durch zahlreiche Aufführungen im Rahmen der Reihe Komponistinnen und ihr Werk bekannt. Zum 500-jährigen Bestehen des Staatsorchesters Kassel im Jahr 2001 erhielt sie von diesem einen Kompositionsauftrag. Es entstand das Werk Au fil des siècles (Im Lauf der Jahrhun- derte), welches in einem Festkonzert im November 2001 in der Kasseler Stadthalle vom Kasseler Staatsorchester uraufgeführt wurde. Zu den zahlreichen Auszeichnungen ihres kompositorischen Schaffens zählen u. a. der „Prix Arthur Honegger“ (Paris), der erstmals seit seinem Bestehen an eine Komponistin vergeben wurde, sowie ein Kompositionsauftrag der „Koussevitzky Foundation“ der Library of Congress (Washington D.C.). Jacqueline Fontyns umfangreiches kompositorisches Œuvre beinhaltet Orchesterwerke, Werke für Blasorchester, Solokonzerte, Vokalwerke und Kammermusik für verschiedene Besetzungen.

Lillian Fuchs wurde 1901 in New York geboren und wuchs in einer Musikerfamilie auf. Ihr Bruder, Harry Fuchs, wurde Cellist und der Bruder Joseph Fuchs ein berühmter Geiger und Geigenlehrer. Obwohl Lillian Fuchs zunächst als Pianistin reussierte und Konzerte gab, studierte sie, ihrem Herzenswunsch folgend, am New York Institute of Musical Art (Juilliard School) Geige bei Louis Svecenski und Franz Kneisel und gleichzeitig Komposition bei Percy Goetschius. Die junge Künstlerin gewann zahlreiche Preise und Auszeichnungen sowohl als Geigerin wie auch als Komponistin. 1926 wechselte sie das Instrument und entschied sich für die Viola. Von 1925 bis in die Mitte der 1940er Jahre war sie Mit- glied des Perole String Quartet. Als Solistin bereiste Lillian Fuchs Europa und die USA, widmete sich aber auch der Kammermusik und trat oftmals mit ihren Brüdern auf. Sie war Mitglied der Musician Guild in , welche mit einem umfangreichen Repertoire fester Bestandteil des Musikle- bens in New York war. Lillian Fuchs inspirierte mit ihrem Spiel namhafte Komponisten zu Werken für Viola, darunter auch Bohuslav Martinů zu seiner Sonata for Viola and Piano und einer Madri- galsammlung für Violine und Viola. Als passionierte Lehrerin unterrichtete Lillian Fuchs zunächst in New York an der Manhattan School of Music, ab 1971 an der Julliard School und in den 1980er Jahren am Mannes College of Music. Sie komponierte mehrere Werke für Viola wie u. a. die Sonata Pastorale für Viola solo (1956). Wichtige Elemente für die technische Ausbildung auf diesem Instru- ment sind ihre drei Sammlungen von Solostücken: Zwölf Capricen (1950), Sechzehn Fantasie-Etüden (1959) und die Fünfzehn charakteristischen Studien (1965). Ferner veröffentlichte Lillian Fuchs u. a. Jota und Caprice Fantastique für Violine und Klavier. Für ihren Bruder Joseph Fuchs schrieb sie Kla- vierbegleitungen zu den Paganini-Capricen. Lillian Fuchs war 60 Jahre lang mit dem Geschäftsmann Ludwig Stein verheiratet bis zu dessen Tod im Jahr 1992. Ihre beiden Kinder, die Zwillinge Barbara und Carol wurden als Cellistin und Violinistin angesehene Musikerinnen. Lillian Fuchs starb 1995.

161 Vivian Fung, als Kind chinesischer Eltern 1975 in Edmonton (Kanada) geboren, studierte Komposition bei Violet Archer und bei Narcis Bonet in Paris, sie promovierte an der New Yorker Juilliard School. Die Kom- ponistin lebt und arbeitet sowohl in New York wie in San Francisco. Ihre „bewegende Musik“ (New York Times) zeichnet Vivian Fung als kraftvolle Komponistin aus mit einem Repertoire, das formal westliche Musik mit Einflüssen asiatischer Musik vereint wie beispielsweise aus Bali, Java oder aus entlegenen Regionen Chinas. Ihre Kompositionen wurden mehrfach ausgezeichnet, darunter 2013 mit dem JUNO Award für ihr Violinkonzert. Stipendien erhielt sie von der New York Foundation for the Arts, von der Guggenheim Foundation, vom American Music Center und dem Canada Council for the Arts. Bei mehreren Orchestern wirkte sie als composer in residence. www.vivianfung.ca/music

Konstantia Gourzi, 1962 in Athen geboren, ist Komponistin und Dirigentin. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Entwicklung neuer Aufführungskonzepte für Moderne Musik. Sie gründete verschiedene Ensembles wie attacca berlin, ebenfalls in Berlin ensemble echo, 2002 das ensemble oktopus für musik der moderne an der Hochschule für Musik und Theater in München, wo sie auch als Professorin lehrt, und 2007 opus21musikplus. In Berlin leitete sie von 1991 bis 1997 die internationalen Konzertreihe Zeitzonen. Sie möchte Neue Musik mit anderen Kunstformen und Musikrichtungen kombinieren. Gourzi gilt als eine der wichtigsten Mentorinnen für zeitgenössische Musik. Sie komponiert Orchesterwerke, Opern, Filmmusik und Kammermusik. Ihre Werke wurden bei internationalen Festivals in verschie- denen Ländern aufgeführt, zuletzt 2016 beim Luzern Festival. www.konstantiagourzi.com

Luise Greger wurde 1862 als jüngstes von vier Kindern des Unternehmers und Senators August Sumpf in Greifs- wald geboren. Ab ihrem fünften Lebensjahr erhielt sie Klavierunterricht und begann bereits mit 11 Jahren zu komponieren. Der Greifswalder Musikdozent Carl Ludwig Bemmann (1807–1893) er- teilte ihr Klavier- und Kompositionsunterricht und ließ sie bald öffentlich konzertieren. Er förderte Luise Gregers Talent, so dass früh ein Lieder-Album mit 18 Vertonungen der jungen Komponistin entstand, welches zu ihren Lebzeiten in vier Auflagen erschien. Nach einer einjährigen für sie enttäu- schenden Ausbildung an der königlichen Musikhochschule in Berlin entschied sie sich für das Selbst- studium. 1894 zog die Familie nach Kassel, wo sie mit ihrem Mann eine Kuranstalt gründete. Neben der wirtschaftlichen Leitung dieses Betriebes komponierte sie und trat als Sängerin und Pianistin im eigenen Salon auf. Luise Greger komponierte mehr als 100 Lieder. Ihr Märchenspiel Gänseliesel mit der Opuszahl 170 wurde 1933 im Stadttheater Baden-Baden uraufgeführt. Die Komponistin starb 1944 im Alter von 81 Jahren.

Sofia Gubaidulina wurde 1931 in Tschistopol (Tatarische Republik) geboren. 1954 beendete sie ihre Ausbildung am Konservatorium von Kasan in den Fächern Klavier (bei Grigori Kogan) und Komposition und setzte dann bis 1959 ihr Kompositionsstudium bei Nikolai Pejko, einem Assistenten von Dmitri Schostakowitsch, am Moskauer Konservatorium fort. Seit 1963 ist Sofia Gubaidulina als freischaf- fende Komponistin tätig. Seit Beginn der achtziger Jahre gelangten ihre Werke – insbesondere dank

162 des tatkräftigen Einsatzes von Gidon Kremer – rasch in die westlichen Konzertprogramme. Sofia Gubaidulina, die seit 1992 in der Nähe von Hamburg lebt, ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, der Freien Akademie der Künste in Hamburg, der Königlichen Musikakademie Stockholm sowie Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters. Im Jahre 1999 wurde sie in den Or- den Pour le mérite aufgenommen. Sie erhielt zahlreiche Preise, u. a. den Koussevitzky International Record Award (1989 und 1994), den Heidelberger Künstlerinnenpreis (1991), den Russischen Staats- preis (1992), den japanischen Kaiserpreis Praemium Imperiale (1998), das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (2002) und den Europäischen Kulturpreis (2005). Sie erhielt Kompositionsaufträge namhafter Institutionen. Wenn Sofia Gubaidulina auch auf Grund ihrer Erziehung dem russischen Kulturkreis zuzurechnen ist, so spielt doch ihre tatarische Abstam- mung in ihrem Schaffen eine nicht unbedeutende Rolle. Sie ist dabei aber keine Nationalkomponis- tin nach romantischem Verständnis, sondern eine Komponistin unserer Zeit, die alle Techniken ihres Handwerks beherrscht und sich Erkenntnisse der europäischen und amerikanischen Avantgarde für ihre Zwecke nutzbar macht. Auch Elemente östlicher Philosophie sind in ihre Musik eingeflossen. Sofia Gubaidulina waren in der Reihe Komponistinnen und ihr Werk in Kassel zwei Porträtkonzerte gewidmet, bei denen sie jeweils anwesend war. Quelle: Sikorski-Verlag

Fanny Hensel wurde 1805 in Hamburg als ältestes Kind des Bankiers Abraham Mendelssohn und seiner Frau Lea geboren. Ihr Großvater war der Philosoph Moses Mendelssohn. Gemeinsam mit ihrem um vier Jahre jüngeren Bruder Felix erhielt sie Klavierunterricht bei Ludwig Berger und Kompositionsunterricht bei Karl Friedrich Zelter, in dessen Singakademie sie Mitglied wurde. Trotz gleicher Begabung und Ausbildung hatte Fanny als Frau jedoch nicht annähernd die gleichen beruflichen Chancen im Be- reich der Musik wie Felix. Lediglich die legendären Sonntagsmusiken im elterlichen Salon in der Leipziger Straße in Berlin boten ihr Gelegenheit, einige ihrer Kompositionen aufzuführen. 1829 heiratete sie den preußischen Hofmaler Wilhelm Hensel, der sie als Komponistin unterstützte und zur Veröffentlichung ihrer Werke riet. Auch Felix gab seiner Schwester hierzu 1846 seinen „Hand- werkssegen“. Ein längerer Italienaufenthalt mit ihrem Mann und Sohn Sebastian gehörten für Fanny zur schönsten Zeit ihres Lebens. Hier erfuhr sie viel Anerkennung. Fanny Hensel starb am 14. Mai 1847 in Berlin. Ihr Bruder Felix sollte sie nur um wenige Monate überleben, er starb am 4. Novem- ber des gleichen Jahres. Die Komponistin hinterließ mehr als 400 Werke, die nach vielen Jahren des Vergessens wiederentdeckt wurden.

Adriana Hölszky Die deutschstämmige Komponistin wurde 1953 in Bukarest geboren. Hier besuchte sie das Musik- lyzeum und studierte nach dem Abitur an der Universitata Nazionale de Musica Bucuresti Kompo- sition bei Stefan Niculescu. Nach der Übersiedlung in die BRD im Jahre 1976 setzte sie das Kom- positionsstudium an der Stuttgarter Musikhochschule bei Milko Kelemen fort, bei Günter Louegk belegte sie das Fach Klavierkammermusik und bei Erhard Karkoschka das Fach Elektronik. In den Jahren 1977 bis 1980 konzertierte sie als Pianistin in dem von Antonio Janigro gegründeten Lipatti- Trio. Von 1980 bis 1997 lehrte Adriana Hölszky an der Stuttgarter Hochschule für Musik, von 1997 bis 1999 war sie Professorin für Komposition an der Hochschule für Musik und TheaterRostock und seit 2000 ist sie Professorin für Komposition am Mozarteum in Salzburg. Im Jahr 2002 wurde sie als Mitglied in die Akademie der Künste in Berlin aufgenommen. Zu ihren SchülerInnen zählen u. a.

163 die Komponistinnen Olga Neuwirth und Karola Obermüller. Hölszky erhielt zahlreiche interna- tionale Kompositionspreise und Auszeichnungen, darunter 1990 den Schneider-Schott-Musikpreis, 1991 den Rom-Preis der Villa Massimo und 2003 den Bach-Preis Hamburg. Das Musiktheater zählt zu den Schwerpunkten in Hölszkys umfangreichem Schaffen. 1983 wurde ihr Orchesterwerk Space bei den IGNM World Music Days in Aarhus aufgeführt, 1988 die Oper Bremer Freiheit bei der ersten Münchener Biennale, 1995 ihre Oper Die Wände bei den Wiener Festwochen, im Jahr 2000 die Oper Giuseppe e Sylvia an der Staatsoper Stuttgart in einer Inszenierung von Hans Neuenfels und 2004 die Oper Der gute Gott von Manhattan in Schwetzingen. Ihr Werkverzeichnis enthält ne- ben Orchester- und Chorwerken zahlreiche Kammermusikwerke für verschiedene Besetzungen. Ihre Werke sind bei Breitkopf & Härtel verlegt. www.breitkopf.com/composer/427

Betsy Jolas, 1926 in Paris geboren, emigrierte 1940 mit ihren Eltern in die USA und studierte am Bennington College in New York Harmonielehre, Kontrapunkt, Orgel und Klavier. 1946 kehrte sie nach Paris zurück, um ihre Studien am dortigen Conservatoire zu vervollständigen. Zu ihren Lehrern zählten hier Darius Milhaud, Simone Plé-Caussade und Olivier Messiaen, dessen Assistentin sie 1971 wur- de. 1975 erhielt sie am Pariser Conservatoire eine Professur für Komposition und Analyse. Betsy Jolas lehrte ebenso an den amerikanischen Universitäten von Yale, Harvard, Berkeley, USC, San Diego sowie am Mills College (Lehrstuhl von Darius Milhaud). Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Vorliebe der Komponistin gilt vor allem der menschlichen Stimme in all ihren Ausdrucksweisen wie Sprache, Poesie, Deklamation etc. Ihr umfangreiches kompositorisches Œuvre mit mehr als 300 Werken beinhaltet viele Vokalwerke, darunter Opern, Kammermusik für Stimme und Instrumente, Werke für Kammerchor und Lieder. Alle ihre Werke wurden bereits aufgeführt. www.betsyjolas.com

Vitězslava Kaprálová wurde 1915 in Brno (Brünn) geboren. Ihr Vater, der Komponist Vaclav Kaprál, hatte bei Leoš Janáček studiert und war Klavierpädagoge und Professor am Konservatorium für Musik in Brno. Schon als Kind begeisterte sich Vitězslava Kaprálová für die Kunst des Komponierens; erste ernst zu nehmende Kompositionen datieren aus der Zeit als sie neun Jahre alt war. Ab ihrem 15. Lebensjahr studierte sie fünf Jahre lang am Brünner Konservatorium Komposition bei Vilem Petrzelka und Dirigieren bei Zdenek Chalabala. Danach absolvierte sie bis 1937 ein weiterführendes Studium am Prager Konservatorium bei Vitězslav Novák (Komposition) und bei Vaclav Talich (Dirigieren). Ein Stipen- dium ermöglichte der Zweiundzwanzigjährigen eine weitere Ausbildung in Paris bei dem Dirigenten Charles Munch. Auch hatte sie die Absicht, bei Nadia Boulanger Unterricht zu nehmen, doch diese lehrte zu dieser Zeit in den USA. Kaprálová nahm in Paris Kontakt auf zu dem tschechischen Kom- ponisten Bohuslav Martinů, der sie als Privatschülerin für Komposition aufnahm. Zwischen Lehrer und Schülerin entstand bald eine sehr enge Beziehung. Neben der intensiven kompositorischen Tätigkeit widmete sich Kaprálová vor allem dem Dirigieren. So war sie 1937 die Dirigentin bei einem Konzert mit der Tschechischen Philharmonie, in dem u. a. ihre „Militär-Sinfonietta“ urauf- geführt wurde. 1938 spielte das BBC Orchestra in London das gleiche Werk unter ihrer Leitung zur Eröffnung des Festivals der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik). Im gleichen Jahr dirigierte sie in Paris Martinůs Konzert für Cembalo und Orchester. Nach der Besetzung der Tsche- choslowakei durch die Deutschen im März 1939 entschied sich Kaprálová, zunächst in Frankreich

164 im Exil zu bleiben. 1940 heiratete sie den Schriftsteller Jiri Mucha, Sohn des tschechischen Malers Alfons Mucha. Als die Kriegswelle auch Paris erreichte, wollte Kaprálová über Südfrankreich in die USA emigrieren. Geschwächt von den Strapazen der Flucht, erkrankte sie jedoch in Montpellier an Tuberkulose und starb 1940 im Alter von fünfundzwanzig Jahren. Die Komponistin hinterließ etwa 40 vollendete Werke sowie einige Skizzen und Fragmente. 25 Werke sind mit Opus-Zahlen versehen. www.kapralova.org

Kassia siehe Seite 37

Hanna Kulenty wurde 1961 in Bialystok (Polen) geboren. Sie studierte Komposition bei Włodzimierz Kotoński an der Chopin-Musikakademie in Warschau und bei Louis Andriessen am Königlichen Konservatori- um in Den Haag. Seit 1989 arbeitet Kulenty als freischaffende Komponistin, sie erhält zahlreiche Kompositionsaufträge. Sie war Gast-Komponistin beim Künstlerprogramm des DAAD (deutsch- amerikanischer Austauschdienst), composer-in-residence beim Het Gelders Orkest (Niederlande) und hält Gastvorträge und Seminare u. a. in den USA, Kanada und Holland. Ihre Werke werden von re- nommierten Künstlern und Orchestern aufgeführt und wurden mit diversen Preisen ausgezeichnet. 2003 gewann Kulenty für ihr Konzert für Trompete den ersten Preis des 50th International Rostrum of Composers der UNESCO. Ihre Werke sind bei dem Verlag Donemus verlegt. www.hannakulenty.com

Luise Adolpha Le Beau, 1850 in Rastatt geboren, erhielt ersten Klavierunterrricht zunächst bei ihrem Vater und später bei dem Hofkapellmeister Wilhelm Kalliwoda in Karlsruhe. Mit 17 Jahren debütierte sie als Pianistin mit Beethovens Es-Dur Konzert und dem g-Moll Konzert von Felix Mendelssohn Bartholdy. In den Sommermonaten des Jahres 1873 war Clara Schumann in Baden-Baden ihre Klavierlehrerin. Mehr als für eine Pianistinnenkarriere interessierte sich Le Beau inzwischen für die Komposition, und dank eines Empfehlungsschreibens von Hans von Bülow nahm der Komponist Joseph Rheinberger sie als Privatschülerin auf. Mit der Sängerin Aglaja Orgeni und der Geigerin Bartha Haft unternahm sie eine Konzerttournee durch Bayern, wobei die Konzertprogramme jetzt auch eigene Kompositionen enthielten. 1878 gründete Le Beau den Privatmusikkurs für Musik und Theorie für Töchter gebilde- ter Stände, auch schrieb sie als Kritikerin Konzert-Rezensionen für die Allgemeine Deutsche Musik- Zeitung. Zu den für sie wichtigsten Begegnungen zählten die mit , Johannes Brahms, Eduard Hanslick und später in Berlin mit Woldemar Bargiel und Joseph Joachim. Für ihre Kompo- sitionen (Sinfonien, sinfonische Dichtungen, Klavierwerke, Lieder und Kammermusikwerke) erhielt Le Beau viel Anerkennung und Preise, wurde aber auch oft mit den gängigen Vorurteilen gegenüber komponierenden Frauen konfrontiert. 1910 schrieb sie ihre Autobiographie Lebenserinnerungen einer Komponistin. Luise Adolpha Le Beau starb 1927 in Baden-Baden.

165 Alma Mahler, geborene Schindler, wurde 1879 in Wien geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters Emil Schindler (1892) heiratete die Mutter dessen Freund und Schüler Carl Moll. Die musikalisch hochbegabte Alma Schindler erhielt schon früh Klavier- und Kompositionsunterricht, ab 1900 war Alexander von Zemlinsky ihr Kompositionslehrer. Nach der Heirat mit Gustav Mahler musste sie ihre kom- positorische Tätigkeit beenden: Er verlangte von ihr, dass sie fortan seine Musik als die ihre ansehen solle, was ihn zu späterer Zeit jedoch gereute. Der Ehe mit Mahler entstammten zwei Töchter, Maria Anna, die im Alter von vier Jahren verstarb, und Anna Justine. 1910 begann Alma Mahler eine Affaire mit Walter Gropius, was Gustav Mahler in eine existentielle Krise stürzte. Im Laufe dieser Krise kam Mahler zur Einsicht, dass seine Forderung nach kreativer Selbstaufgabe für Alma mit zu diesem Konflikt beigetragen habe. Er initiierte daraufhin die Publikation von einigen ihrer Lieder bei der Universal Edition. Erhalten sind heute 17 Lieder von Alma Mahler. Gustav Mahler starb am 18. Mai 1911 in Wien. Nach einer dreijährigen Liaison mit Oskar Kokoschka heirateten Alma Mahler und Walter Gropius 1915. Die 1916 geborene gemeinsame Tochter Manon starb 1935. Alban Berg widmete ihr mit seinem Violinkonzert ein bewegendes Andenken. Nach der Scheidung von Gropius heiratete Alma Mahler 1920 den jüdischen Schriftsteller Franz Werfel, dessen Gedicht Der Erkennende sie schon 1915 vertont hatte. Sie nannte sich fortan Alma Mahler-Werfel. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich emigrierte das Ehepaar Mahler-Werfel in die USA und ließ sich in Los Angeles nieder. Nach Franz Werfels Tod im Jahr 1945 zog Alma Mahler-Werfel 1952 nach New York, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1964 lebte.

Ursula Mamlok wurde am 1. Februar 1923 in Berlin geboren, wo sie schon früh mit ihrer musikalischen Ausbildung begann. Einer ihrer wichtigsten Lehrer war Gustav Ernest, Dozent an der Humboldt-Universität in Berlin. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten verfolgt, verließ sie gemeinsam mit ihren Eltern Berlin und wanderte 1939 mit ihnen nach Ecuador aus. 1940 gelang es ihr, ein Stipendium für die Mannes School of Music in New York zu bekommen und sie konnte im Oktober 1940 ihr Studium dort beginnen. Einer ihrer ersten Kompositionslehrer war der Dirigent George Szell. Ihren Bachelor und Master of Music schloss sie bei Vittorio Giannini an der Manhat- tan School of Music ab. Ein dreimonatiges Stipendium ermöglichte ihr den Besuch des berühmten Black Mountain College, wo sie u. a. eine Meisterklasse für Komposition bei Ernst Krenek besuchte und bei Eduard Steuermann Klavierunterricht nahm. Sie studierte in den folgenden Jahren Kompo- sition bei Roger Sessions, Stefan Wolpe und bei dessen Schüler Ralph Shapey, der einen besonders nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung ihres Kompositionsstils hatte. Ausgehend von Schönbergs Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen modifizierte Ursula Mamlok im Lauf der Jahre ihr Ausgangsmaterial nach eigenen Mustern. Charakteristisch für ihre Werke sind komplexe, oft gegeneinander gesetzte Rhythmen. In unterschiedlichsten Besetzungen gelingt es ihr, abwechslungsreiche Klangfarben und immer neue Atmosphären zu schaffen. Ursula Mamlok unter- richtete Komposition an der New York University, der Temple University und über 40 Jahre lang an der Manhattan School of Music in New York. Ihr Werkverzeichnis umfasst circa 75 Werke, darunter Solostücke und Kompositionen für die verschiedensten Kammermusikbesetzungen wie auch Werke für Orchester. Sie erhielt u. a. folgende Auszeichnungen: 1968 und 1981 National Endowment for the Arts, 1989 Preis der Koussevitzky Foundation, 1995 Stipendium der John Simon Guggenheim- Foundation. Seit 2006 lebte Ursula Mamlok wieder in ihrer Geburtsstadt Berlin, wo sie am 4. Mai 2016 im Alter von 93 Jahren starb. Bettina Brand www.ursulamamlok.com

166 Emilie Mayer, 1812 in Friedland (Mecklenburg) geboren, entschied sich mit 29 Jahren für den Beruf der Kompo- nistin. Ersten Unterricht nahm sie in Stettin bei dem Komponisten Carl Loewe, der als Dirigent des Städtischen Stettiner Orchesters außer sämtlichen Beethoven Sinfonien auch zwei frühe Sinfonien seiner genialen Schülerin zur Aufführung brachte. 1847 setzte Emilie Mayer ihre Studien in Berlin fort bei dem Musiktheoretiker Adolf Bernhard Marx und bei Wilhelm Wiprecht, dem Direktor der Berliner Garde-Musikchöre. In ihrer Berliner Zeit komponierte Mayer jährlich eine Sinfonie, die dank der Unterstützung von Wiprecht und seinem Orchesterverein Euterpe oftmals sogar mehr- fach im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt aufgeführt wurden. Die Rezensenten be- wunderten die große Begabung der Komponistin, vergaßen dabei aber selten, auf die Besonderheit ihrer Geschlechtszugehörigkeit hinzuweisen. Eine Frau, die nicht nur ihr kompositorisches Hand- werk bestens beherrschte, sondern sich sogar an die große Form der Sinfonie wagte – und das nach Beethovens 9. Sinfonie! –, war zu der Zeit etwas ganz und gar Außergewöhnliches. Emilie Mayer setzte sich in Berlin selbst für Aufführungen und den Druck ihrer Werke ein, sie kümmerte sich um Werbung und Raummiete und finanzierte häufig die Konzerte aus eigener Tasche. Beim Verlag Bote & Bock erschienen 1860 die ersten Druckausgaben, denen bald weitere folgten. Auch in ande- ren großen europäischen Städten wurden Werke von Emilie Mayer mit großem Erfolg aufgeführt. Sie erreichte zu Lebzeiten einen derartigen Bekanntheitsgrad, dass man von ihr sogar als dem „weib- lichen Beethoven“ sprach. Die letzten Lebensjahre verbrachte die Komponistin in Berlin, wo sie 1883 nach kurzer Krankheit starb. Emilie Mayer hinterließ ein kompositorisches Œuvre von 200 Wer- ken, darunter acht Sinfonien, fünf Konzertouvertüren, ein Klavierkonzert, acht Streichquartette und zahlreiche Kammermusik- und Vokalwerke. Wie die meisten Komponistinnen der Vergangenheit geriet auch sie nach ihrem Tod in Vergessenheit. Ihr Nachlass befindet sich in der Berliner Staats- bibliothek und dient heute der Wiederentdeckung dieser außergewöhnlichen Komponistin.

Sarah Nemtsov (geb. Reuter), 1980 in Oldenburg geboren, erhielt 1987 ihren ersten Musikunterricht. Im Alter von 14 Jahren begann sie zu spielen, und von 1998 bis 2000 war sie Jungstudentin für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Hannover bei Nigel Osborne. Ab 2000 studierte sie die Fächer Oboe bei Klaus Becker und Komposition bei Johannes Schöllhorn am gleichen Institut. Ihr Oboen- studium setzte sie ab 2003 bei Burkhard Glaetzner in Berlin fort. Nach dem Diplom-Abschluss in beiden Fächern im Jahr 2005 studierte sie als Meisterschülerin bei Walter Zimmermann an der Universität der Künste Berlin. 2003 bis 2007 war sie Stipendiatin für Komposition bei der Studien- stiftung des deutschen Volkes. 2007 erhielt sie den Hanns-Eisler-Preis für Komposition sowie ein Stipendium der Aribert-Reimann-Stiftung und 2009 ein Stipendium der Wilfried-Steinbrenner-Stif- tung. 2011 wurde sie Stipendiatin der Villa Serpentara und erhielt ein Kompositionsstipendium des Berliner Senats. Sie arbeitete mit renommierten Ensembles zusammen wie den Neuen Vocalsolisten Stuttgart, dem Ensemble Accroche Note und dem Nomos Quartett; Nemtsovs Werke werden bei inter- national renommierten Festivals aufgeführt. Sie ist Mitglied im Komponistenverein Klangnetz e.V. Ihre Kammeroper „Herzland“ wurde 2006 in Hannover uraufgeführt und 2009 in einer Neu- instrumentierung in München präsentiert, sowie 2011 in einer Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper. Ihre abendfüllende Oper L’ABSENCE (2006–2008) nach dem Buch der Fragen von Edmond Jabès wurde 2012 bei der Münchener Biennale uraufgeführt. www.sarah-nemtsov.de

167 Olga Neuwirth wurde 1968 in Graz geboren. Ab dem siebten Lebensjahr erhielt sie Trompetenunterricht und von 1987 bis 1993 studierte sie Komposition an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Wien. In den Jahren 1985 bis 1986 studierte sie am Conservatory of Music, San Francisco Kom- position und am dortigen Art College Malerei und Film. Wesentliche Anregungen erhielt sie durch die Begegnungen mit Adriana Hölszky, Luigi Nono und Tristan Murail, bei dem sie ein weiteres Kompositionsstudium in den Jahren 1993/94 in Paris absolvierte. 1994 war sie Jurymitglied der Münchener Biennale für Neues Musiktheater und des Komponistenforums der Darmstädter Feri- enkurse. 1999 erhielt sie den Förderpreis der Ernst von Siemens-Stiftung sowie den Hindemith-Preis des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals. In den Jahren 1999/2000 entstanden verschiedene Bühnen- musiken und Klanginstallationen. Bei den Wiener Festwochen 1999 wurde ihr Musiktheater Bählamms Fest uraufgeführt. Sie schrieb für Pierre Boulez und das London Symphony Orchestra das Werk Clinamen/Nodus, und bei der Expo 2000 in Hannover wurde ihr Ballett Der Tod und das Mäd- chen aufgeführt. Olga Neuwirth war 2000/01 Composer in residence sowohl beim Koninklijk Filharmonisch Orkest van Vlaanderen, Antwerpen wie auch 2002 gemeinsam mit Pierre Boulez bei den Luzerner Festwochen. Im Jahr 2016 war sie wiederum Composer in residence bei den Luzerner Festwochen. Neuwirth komponierte außer dem Musiktheater Bählamms Fest mehrere Orchester- und Ensemblewerke – oftmals unter Einbeziehung von Live-Elektronik – sowie zahlreiche Vokalwerke mit Instrumenten und Live-Elektronik. Einige ihrer Werke entstanden in Zusammenarbeit mit der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek. www.olganeuwirth.com

Hilda Paredes, 1957 in Tehuacán, Puebla (Mexiko) geboren, begann ihr Musikstudium (Flöte, Klavier, Komposi- tion) am Konservatorium von und setzte es ab 1979 in London fort. Hier entstanden ihre ersten Kompositionen und auch Arrangements von Popularmusik und Klassik für verschiede- ne Ensembles, mit denen sie als Flötistin regelmäßig auftrat. Als Komponistin war sie aktive Teil- nehmerin in Meisterklassen der Dartington Summer School u. a. bei Harrison Birtwistle, Franco Donatoni und Peter Maxwell Davies. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den Preis von Sistema Nacional de Creadores und vom Fund for Culture Mexico/USA sowie den der Guggenheim Fellowship Foundation. 1990 kehrte Paredes in ihr Heimatland Mexiko zurück. Hier komponierte sie, ermöglicht durch einen Preis des Arts Council, ihre Oper The Seventh Seed, die in- zwischen auf CD eingespielt wurde. Sie unterrichtete an der Universität von Mexico, schrieb Artikel für verschiedene Musik-Magazine und produzierte eine Radiosendung über Neue Musik. In Zusam- menarbeit mit dem Orchestra of Baja California machte sie Bearbeitungen und Orchestrationen von alten spanischen und mexikanischen Liedern. Seit 1995 lebt Paredes als freischaffende Komponistin in London. Sie lehrt Komposition an verschiedenen Universitäten in den USA und in Barcelona. Paredes erhielt Kompositionsaufträge von namhaften Ensembles und Orchestern aus verschiedenen Ländern. Für das Arditti-Quartett schrieb sie ihr Streichquartett UY U TÁN, welches sie zu ihren wichtigsten Werken zählt. Das Werk CAN SILIM TUN für vier Sänger und Streichquartett, welches sie für die Neuen Vokalsolisten Stuttgart und das Arditti-Quartett schrieb, basiert auf alten Maya- Texten und Sprüchen der Maya-Medizinmänner. Paredes, deren familiäre Wurzeln in Yucatan, der Hochburg der Maya-Kultur, zu finden sind, befasst sich mehr und mehr mit der Tradition der Maya und ihrer Kultur und lässt dies in ihre Werke mit einfließen. Viele Ihrer Kompositionen wurden bei renommierten internationalen Musikfestivals aufgeführt und auf CD eingespielt. www.hildaparedes.com

168 Kaija Saariaho Die 1952 in Helsinki geborene und seit 1982 in Paris lebende Komponistin absolvierte ihr Kom- positionsstudium an der Sibelius-Akademie in Helsinki bei Paavo Heininen und in Freiburg bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber. Ab 1982 studierte sie computergestützte Komposition und Live-Elektronik am IRCAM, dem Zentrum für Neue Musik in Paris. Werke mit der Verwendung von Live-Elektronik sind Verblendungen (1984), ein Wechselspiel zwischen Orchester und Tonband sowie Du Cristal (1989) und …á la Fumée (1990). Unter dem Einfluss der „Spektralisten“, einer französischen Komponistengruppe, deren Kompositionen auf der Computeranalyse des Klangspek- trums einzelner Töne auf verschiedenen Instrumenten basieren, wandte sich Saariaho einem Stil zu, der u. a. von der Verwendung mikrotonaler Intervalle geprägt ist. Großen Erfolg haben ihre später entstandenen Opern wie L’Amour de loin auf ein Libretto von Amin Maalouf, für die Saariaho den begehrten Grawemeyer Award für Musik erhielt. Weitere Opern von Saariaho sind Adriana Mater und Emilie und La Passion de Simone. Eine große Anzahl von Werken schrieb Saariaho für Stimme(n) in Kombination mit Elektronik und Instrumenten. Die hierbei gemachten Erfahrungen haben ei- nen nicht geringen Einfluss auf die Weiterentwicklung ihres Kompositionsstils ausgeübt. Werke von Saariaho wurden bisher mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. http://saariaho.org

Annette Schlünz, 1964 in Dessau geboren, studierte von 1983 bis 1991 Komposition bei Udo Zimmermann und Paul-Heinz Dittrich sowie Klavier, Tonsatz, Elektronische Musik und Dirigieren an der Dresdner Musikhochschule und der Berliner Akademie der Künste. Ab 1987 arbeitete sie am Dresdner Zen- trum für zeitgenössische Musik, wo sie bis 2006 spezielle länderübergreifende Projekte organisierte. Annette Schlünz komponierte Orchester- und Kammermusik, elektronische Musik, 3 Opern und realisierte Performances mit Klavier und Videoprojektion. Auf Einladung der Goethe-Institute gab sie Kompositionskurse in Südamerika, Vietnam, Kopenhagen, Madrid, Riga und Chicago. Sie war vielfach Dozentin beim Bundeswettbewerb Jugend komponiert, und unterrichtet in den Ferienkursen der Komponistenklassen Dresden und Sachsen-Anhalt. Annette Schlünz ist seit 2010 Lehrbeauf- tragte an der Universität Strasbourg. 2012 war sie Dozentin für Komposition an der Académie Conservatoire Strasbourg und setzt diese Tätigkeit seit 2013 in Kompositionsworkshops fort. Seit 2013 organisiert sie in Rosheim/Elsass mit Thierry Blondeau den Aufbau einer Komponistenklasse für Jugendliche. Sie ist Jurymitglied internationaler Kompositionswettbewerbe. Die Komponistin erhielt 1990 den Hanns-Eisler-Preis, 1998 den Heidelberger Künstlerinnen-Preis und sie war 2002 Preisträgerin beim 2. Forum junger Komponisten des Ensemble Aleph. Sie erhielt Stipendien von der Deutschen Akademie Villa Massimo Rom (1999), von Schloss Solitude Stuttgart (1999/2000), Höge (2003) und dem Künstlerhof Schreyahn (2006 und 2017). Sie war mehrfach composer in residence bei verschiedenen bedeutenden Institutionen und Festivals. Seit 2010 ist sie Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, seit 2011 der Freien Akademie Hamburg und seit 2013 im Künstlerischen Beirat der HEAR (Haute École des Arts du Rhin) Strasbourg-Mulhouse. Annette Schlünz lebt freischaffend in Süddeutschland und Frankreich. www.ricordi.de/schluenz-annette

Clara Schumann (geb. Wieck) wurde 1819 als Tochter des Musikpädagogen Friedrich Wilhelm Wieck und der Konzertpianistin und Sängerin Marianne Tromlitz in Leipzig geboren. Ab ihrem fünften Lebensjahr wurde sie von

169 ihrem Vater systematisch zur Klaviervirtuosin ausgebildet. Mit neun Jahren spielte sie bereits in ei- nem Konzert des Leipziger Gewandhauses und gab zwei Jahre später hier ihr erstes eigenes Konzert. Gemeinsam mit dem Vater unternahm sie viele Konzertreisen. Schon früh begeisterte Clara Wieck auch durch ihre Improvisationen und eigenen Kompositionen. Wenngleich sie sich auch in erster Linie als Pianistin verstand, so bedeutete ihr das Komponieren doch sehr viel. Sie schrieb 1853, nach dreizehnjähriger Ehe mit Robert Schumann, in ihr Tagebuch: „Es geht doch nichts über das Vergnügen, etwas selbst komponiert zu haben und dann zu hören... natürlich bleibt es immer Frauenzimmerarbeit, bei denen es immer an der Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt.“ Robert Schumann ermunterte Clara immer wieder zum Komponieren. Sie aber stellte generell die Fähigkeit hierzu bei Frauen in Frage, zumal sie von der Existenz anderer Komponistinnen nichts wusste. Zudem fand sie als Ehefrau und Mutter zum Komponieren kaum die notwendige Ruhe und Zeit (in einer Zeitspanne von 13 Jahren hatte sie acht Kinder zur Welt gebracht). Nach dem Tode Robert Schumanns widmete sich die berühmte Pianistin vornehmlich dem eigenen Konzertieren und der Verbreitung der Werke ihres Mannes. Clara Schumann starb 1896 in Frankfurt/Main. Ihr kompositorisches Œuvre umfasst neben unveröffentlichten Werken 23 gedruckte Kompositionen, darunter zwei Klavierkonzerte, Lieder, Chorwerke, ein Klaviertrio, drei Romanzen für Violine und Klavier und vor allem viele Klavierwerke.

Charlotte Seither, 1965 in Landau in der Pfalz geboren, studierte Komposition, Klavier, Musikwissenschaft und Ger- manistik in Hannover und Berlin und ist Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. 1998 promovierte sie zum Dr. phil. Sie ist Mitglied im GEMA-Aufsichtsrat und im Vorstand des Deutschen Komponistenverbands (DKV). Daneben ist sie eine gefragte Jurorin und Kuratorin in internationalen Gremien. Sie ist Gast bei Festivals wie Wien Modern, Biennale Venedig, ISCM Weltmusiktage Tongyeong, Warschauer Generationen Festival, Gaudeamus Amsterdam oder IFWM Seoul. Als Artist in residence lebte sie in der Cité des Arts Paris (1999), Akademie Schloss Solitude Stuttgart (1995), in der Villa Concordia Bamberg (2013), im Palazzo Barbarigo Venedig (1993), in der Villa Aurora Los Angeles (2000) und im ArtLab Johannesburg (2015). 2009 lebte und arbeitete sie als Stipendiatin in der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. Als erste Deutsche erhielt sie 1995 den 1. Preis beim Internationalen Kompositionswettbewerb Prager Frühling. Weitere Aus- zeichnungen bekam sie mit dem Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (2002), dem Praetorius Musikpreis des Landes Niedersachsen (2010) und dem Deutschen Musikautorenpreis (2014). Im August 2013 kam ihr Orchesterstück Language of Leaving bei den BBC Proms in London zur Urauf- führung. Regelmäßig arbeitet sie mit renommierten Interpreten zusammen wie dem BBC Symphony Orchestra London, dem ASKO Kamerkoor und dem Ensemble Modern. Das Werkverzeichnis von Charlotte Seither beinhaltet bisher 80 Kompositionen, die im Verlag Bärenreiter erschienen sind. www.charlotteseither.de

Maddalena Laura Lombardini Sirmen, 1745 als Maddalena Laura Lombardini in Venedig geboren, erhielt ab ihrem achten Lebensjahr eine umfassende musikalische Ausbildung im Ospedale dei Mendicanti, einer der vier venezianischen sozialen Einrichtungen, wo weibliche Zöglinge eine musikalische Ausbildung erhielten. Die Ospe- dali waren wegen ihrer Frauenorchester und -chöre im 18. Jahrhundert in ganz Europa berühmt. Aufgrund ihrer besonderen musikalischen Begabung bekam Maddalena im Alter von vierzehn Jah-

170 ren Unterricht bei dem berühmten Violinvirtuosen Giuseppe Tartini. Schon bald trat sie selbst als Violinvirtuosin in Italien auf. 1767 heiratete sie den Violinisten und Komponisten Lodovico Maria Gaspar Sirmen aus Ravenna, mit dem sie eine zeitlang Konzertreisen in verschiedene Städte Europas unternahm. Während einer dieser Reisen wurde ihre Tochter Alessandra geboren. In London gab die Künstlerin in den Jahren 1770 bis 1773 circa 200 Konzerte, in denen sie u. a. ihre eigenen Violin- konzerte aufführte. 1774 wechselte Sirmen überraschend das Fach und wurde eine gefeierte Sängerin mit Engagements an den großen Opernbühnen Europas: Als Violinistin war sie zu ihrer Zeit zwar eine Ausnahmeerscheinung, jedoch ohne finanzielle Absicherung. Als hochtalentierte Sängerin und Primadonna hingegen erhielt sie feste Anstellungen an den großen Opernhäusern mit einem ge- sicherten Einkommen. Auch als Komponistin genoss Sirmen zu ihrer Zeit hohes Ansehen. Sie schrieb ausschließlich weltliche Instrumentalwerke, darunter je sechs Violinduette, Trios, Streichquartette, Violinkonzerte und eine virtuose Solosonate, Werke, die damals internationale Verbreitung fanden durch Veröffentlichung bei mehreren Verlagen u. a. in London, Amsterdam und Paris. Sie zählte mit Joseph Haydn zu den ersten Komponisten, die Streichquartette komponierten. Sirmen versuchte später in Paris nochmals an ihre früheren Erfolge als Geigerin anzuknüpfen, aber man bemängelte ihre veraltete, durch Tartini geprägte Technik. Nach 15 Jahren Bühnenpräsenz kehrte sie auf Wunsch der venezianischen Regierung nach Venedig zurück, wo sie als inzwischen vermögende Frau auf eine ungewöhnliche und höchst erfolgreiche Karriere zurückblicken konnte. Sie starb 1818 in Venedig.

Ethel Smyth, 1858 in Sidcup/England geboren, wuchs in einem bürgerlich viktorianischen Elternhaus auf. 1877 ging sie – gegen den Willen ihrer Eltern – nach Leipzig, und wurde am dortigen Konservatorium als erste Frau in die Kompositionsklasse von Carl Reinecke aufgenommen. Nach einem Jahr verließ sie das Konservatorium und wurde Privatschülerin von Heinrich von Herzogenberg. Im Musiksa- lon von Elisabeth von Herzogenberg lernte sie wichtige Persönlichkeiten des europäischen Musikle- bens kennen, darunter Johannes Brahms, Clara Schumann, Antonín Dvorák, und Edvard Grieg. Es war vor allem Brahms, dessen Kompositionsstil großen Einfluss zumindest auf ihre frühen Werke hatte. Intensiv setzte sie sich auch mit der Musik Johann Sebastian Bachs ausein- ander. Bis 1887 komponierte Ethel Smyth ausschließlich Kammermusikwerke. Dem Rat von Peter Tschaikowsky folgend, beschäftigte sie sich vor allem mit der Kunst des Instrumentierens. In den Jahren 1890/91 entstanden die Serenade in D-Dur, und die Messe in D-Dur, die nach langen Be- mühungen und der Fürsprache von Queen Victoria 1893 in der Royal Albert Hall in London ur- aufgeführt wurde. Ermutigt durch die Aufführungserfolge entschloss sich Ethel Smyth verstärkt zur Komposition von Opern und Orchesterwerken. So entstanden bis zum Jahr 1924 insgesamt sechs Opern, die zu ihrer Zeit sowohl in England wie auch in Deutschland aufgeführt wurden. Ihr erstes öffentliches Konzert als Dirigentin absolvierte Ethel Smyth 1911. In den Jahren 1911 bis 1913 en- gagierte sie sich aktiv im Rahmen der Suffragettenbewegung für das Frauenwahlrecht, was ihr zwei Jahre Gefängnis einbrachte. Mit zunehmendem Alter stellte sich ein Ohrenleiden ein, das schließ- lich zur völligen Taubheit führte. 1913 reiste Ethel Smyth nach Ägypten, wo ihre vierte Oper The Boatswain’s mate entstand. In ihren späteren Jahren widmete sie sich verstärkt schriftstellerischen Arbeiten. Ihr erstes Buch Impressions that remained, dem sechs weitere Bücher folgen sollten, erschien 1919. Ihrer langjährigen Freundin Virginia Woolf widmete sie 1939 das Buch As Time went on. 1922 wurde Smyth von König Edward VII der Adelstitel „Dame Commander of the Order of the British Empire“ verliehen, auch wurde sie mit zwei Ehrendoktortiteln der Universitäten Durham und Ox- ford geehrt. 1927 schrieb sie ein Konzert für Violine, Horn und Orchester und danach die Vokalsym-

171 phonie The Prison sowie einige kleinere Werke. Nach ihrer völligen Ertaubung im Jahr 1939 beende- te Ethel Smyth ihre kompositorische Tätigkeit. Sie starb 1944 im Alter von 86 Jahren.

Ana Sokolović, 1968 in Belgrad geboren, lebt heute in Kanada. Sie studierte Komposition an der Universität von Novi Sad bei Dusan Radic und an der Universität Belgrad bei Zoran Eric. Den master-degree er- warb sie an der Universität von Montreal. Ana Sokolović komponierte bisher Werke für Orchester und Klavier sowie Kammermusik- und Bühnenwerke. 2005 entstand ihre erste Oper The Midnight Court, die mit großem Erfolg in Kanada wie 2006 auch im Royal Opera House in London aufge- führt wurde. Ana Sokolović wurde mehrfach mit renommierten Preisen in Kanada und den USA ausgezeichnet und war composer in residence in Ottawa. Im Rahmen der Société de Musique Contem- poraine du Québec wurden ihre Werke in mehr als hundert Veranstaltungen und Konzerten aufge- führt. Ana Sokolović lehrt Komposition an der Universität von Montreal. www.anasokolovic.com

Germaine Tailleferre wurde 1892 in Saint-Mur-de-Fossés bei Paris geboren. Schon früh zeigte sich ihre pianistische und kompositorische Begabung; im Alter von zwölf Jahren besuchte sie das Pariser Conservatoire. Hier galt sie als Wunderkind und erhielt in den kommenden Jahren zahlreiche Preise und Auszeichnun- gen. Auf Empfehlung von Erik Satie, der Tailleferre als seine „musikalische Tochter“ bezeichnete, wurde sie 1917 in die Gruppe der Nouveaux Jeunes aufgenommen, einer Vereinigung ambitionierter junger Komponisten. Wenig später wurde sie als einzige Frau Mitglied in der legendären „Groupe des Six“ mit den Komponisten Darius Milhaud, Francis Poulenc, Arthur Honegger, George Auric und Louis Durey. Geistiger Wortführer der Gruppe war Jean Cocteau. Die Groupe des Six setzte sich für eine antiromantische Richtung in der Musik ein und wandte sich vom impressionistischen Stil von Debussy und Ravel ab. Die Wahrung der individuellen kompositorischen Eigenständigkeit war bei allen Mitgliedern oberstes Prinzip. Es entstanden zwei Gemeinschaftskompositionen, das Album des Six für Klavier (1920) und das Ballett Les Mariés de la Tour Eiffel (1921). Von 1925 bis 1930 stu- dierte Germaine Tailleferre Orchestration bei Maurice Ravel, mit dem sie freundschaftlich verbun- den war. In den Jahren 1942 bis 1946 lebte sie in den USA und heiratete hier einen amerikanischen Karikaturisten. Zu ihrem engeren Bekanntenkreis zählte auch Charlie Chaplin, der sie für die Musik zu seinen Filmen gewinnen wollte. Diesem Wunsch kam sie jedoch nicht nach. Zurück in Paris erhielt Germaine Tailleferre eine Professur an der Schola Cantorum. Sie wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, darunter 1973 mit dem Grand Prix Musical der Académie des Beaux Arts Paris. Ihr kompositorisches Œuvre beinhaltet sechs Opern, ein Konzert für zwei Klaviere und Orchester, Kammermusik, Lieder und Klavierwerke. Germaine Tailleferre starb im Jahr 1983.

Galina Ustwolskaja wurde 1919 in Petrograd (heute St. Petersburg) geboren. Sie studierte in ihrer Heimatstadt von 1937 bis 1939 an der Musikfachschule und anschließend bis 1947 am Rimski-Korsakow-Konservatorium. Ihr Kompositionslehrer war Dimitri Schostakowitsch, der ihren Werken eine weltweite Anerkennung voraussagte und ihr seine eigenen Werke zur Beurteilung schickte. Von 1947 bis Ende der 1970er Jahre unterrichtete Ustwolskaja dann selbst Komposition an der Musikfachschule in Leningrad (St. Petersburg). 1966 heiratete sie ihren Schüler Konstantin Makukhin. Die Musik Ustwolskajas

172 ist nicht avantgardistisch im landläufigen Sinn. Der Komponist Boris Tischchenko, der sowohl bei ihr wie bei Schostakowitsch studierte, verglich die sogenannte „Enge“ ihres Stils mit dem gebündelten Licht eines Laserstrahls, der in der Lage ist, Metall zu durchdringen. Der Komponist Viktor Suslin vergleicht ihren Standort mit einer einsamen Felseninsel, weil sie sich und ihrem kompositorischen Credo kompromisslos treu geblieben ist. Er resümiert, dass eine solche Selbstgenügsamkeit und ästhetisch-stilistische Geschlossenheit in der Musik kaum ein zweites Mal zu finden seien. Ustwolskaja selbst ließ wissen: „Meine Werke sind auf keinen Fall Kammermusik, auch dann nicht, wenn es sich um eine Solosonate handelt.“ In ihrem umfangreichen kompositorischen Œuvre finden sich solch ausgefallene Instrumentalbesetzungen wie das Oktett für zwei Oboen, vier Violinen, Kessel- pauke und Klavier, ein Werk für acht Kontrabässe, Percussion und Klavier oder die vierte Sinfonie für Alt, Trompete, Tam-Tam und Klavier. Die Komponistin starb im Jahr 2006 in St. Petersburg.

Hinweis auf ein Lexikon im Internet mit ausführlichen Biografien und Werkverzeichnissen der Komponistinnen: MUGI (Musik und Gender im Internet): mugi.hfmt-hamburg.de/Lexikon

173 Autorinnen und Autoren Referentinnen und Referenten

Frauke Heß, Professorin für Musikpädagogik an der Universität Kassel. Nach dem Lehramtsstudium in Essen, dem Referendariat in Duisburg und der Schultätigkeit an Gymnasium und Gesamtschule arbeitete sie von 1995–2003 als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Köln. 2004 erfolgte der Ruf an die Universität Kassel. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen: Musikbezogene Bildungsvorstel- lungen, Kunstmusik im Unterricht und Genderfragen. Ihr aktuelles Forschungsprojekt ist: Musik- unterricht im Spannungsfeld von femininem Fachimage und instrumentellem Geschlechtsrollen- Selbstbild (gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst). Freia Hoffmann, Direktorin des Sophie Drinker Instituts Bremen und Professorin für Musikpädagogik an der Uni- versität Oldenburg. Lehrtätigkeit an den Universitäten Bremen, Bielefeld, Hildesheim und Olden- burg. Zahlreiche Publikationen zur Musikpädagogik, Musikgeschichte und musikwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung. DFG-finanzierte Werkausgabe Louise Farrenc in 15 Bänden, Wilhelmshaven 1998–2005). Zuletzt: Herausgeberin des Online-Lexikons „Europäische Instru- mentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts“ (z. Zt. ca. 700 Artikel), „Quellentexte zur Geschichte der Instrumentalistin im 19. Jahrhundert“, Hildesheim 2013 (mit Volker Timmermann). Frank Kämpfer, Redakteur für Neue Musik im Deutschlandfunk. Studierte 1981–87 Germanistik und Musik- erziehung an der Berliner Humboldt-Universität. 1987–89 Redakteur der Zeitschrift „Musik und Gesellschaft“. Ab 1989 Redakteur für Oper/Musiktheater beim Deutschlandsender Kultur, ab 1994 beim Deutschlandfunk. 1992 und 2001 Buchpublikationen über den Regisseur Peter Konwitschny. Seit 2001 Redakteur, Produzent und Veranstalter für Neue Musik im Deutschlandfunk und Künstle- rischer Leiter des Kölner „Forum neuer Musik“. Seit 2003 Mitarbeit in Fachbeiräten des Deutschen Musikrats. Juror und Medienpartner beim Heidelberger Künstlerinnenpreis. Seit 1988 publizistisch, seit 1990 als Programmgestalter, später als Produzent und Veranstalter für „Frauen in der Musik“ sowie „Musik und Gender“ engagiert. Mary Ellen Kitchens, 1959 in Houston, Texas geboren. Studium an der Yale University (USA), der Sorbonne, der École Normale de la Musique in Paris und der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hier mit dem Master-Abschluss im Hauptfach Musikwissenschaft. Dirigierkurse bei Rodney Wynkoop (Yale University, Connecticut), Pierre Dervaux (Paris), Sergiù Celibidache (München) und Julius Kalmar (Wien). Von 1984 bis 1991 Leitung des von ihr gegründeten Haydn Orchesters in München. Seit 1986 musikalische Leitung der Munich International Choral Society und seit 2004 Leiterin des Re- genbogenchors München. 1991 Beginn der Tätigkeit im Audioarchiv des Bayerischen Rundfunks, hauptberufliche Leitung desselben von 2004 bis Anfang 2015. Seit April 2015 Leitung der Abtei- lung Bestandsmanagement und Digitalisierung beim Bayerischen Rundfunk. Von 1994 bis 1998 Vorstandsfrau bei musica femina münchen. Seit 2013 Vorstandsfrau beim Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik. Seitdem ehrenamtliche Tätigkeit im Archiv Frau und Musik in Frankfurt/Main. Kolja Lessing, einer der vielseitigsten Musiker unserer Zeit, hat als Geiger und Pianist durch seine Verbindung von interpretatorischer und wissenschaftlicher Arbeit dem Musikleben prägende Impulse verliehen.

174 Durch seinen Einsatz wurden z. B. Georg PhilippTelemanns Violinfantasien und Johann Paul West- hoffs Violinsuiten ebenso für den Konzertsaal wiederentdeckt wie auch viele bedeutende Klavier- werke des 20. Jahrhunderts, u. a. von Berthold Goldschmidt, Philipp Jarnach, Ignace Strasfogel und Wladimir Vogel. International ausgezeichnete CD-Produktionen dokumentieren diese stilistisch dif- ferenzierte Auseinandersetzung mit Repertoire vom Barock bis zur Moderne, das Standardwerke wie Raritäten gleichermaßen umfasst. In Anerkennung seines Engagements für verfemte Komponisten erhielt er 1999 den Johann-Wenzel-Stamitz-Sonderpreis, 2008 wurde er mit dem Deutschen Kriti- kerpreis für Musik ausgezeichnet. Zahlreiche Uraufführungen von Violinwerken, die Komponisten wie Haim Alexander, Tzvi Avni, Abel Ehrlich, Jacqueline Fontyn, Berthold Goldschmidt, Ursula Mamlok und Dimitri Terzakis eigens für Kolja Lessing schrieben, spiegeln sein internationales Re- nommee ebenso wie regelmäßige Einladungen zu Meisterkursen in Europa und Nordamerika. Nach Professuren für Violine und Kammermusik an den Musikhochschulen Würzburg und Leipzig wirkt er seit dem Jahre 2000 in gleicher Funktion an der Musikhochschule Stuttgart Christel Nies, Initiatorin und Leiterin der Reihe Komponistinnen und ihr Werk, studierte Gesang, Klavier und Kirchenmusik in Düsseldorf, Philadelphia und Kassel. Neben der Lehrtätigkeit an der Musikakademie Kassel und einem Lehrauftrag im Fachbereich Musik der Universität Kassel gab sie zahlreiche Kon- zerte und Liederabende im In- und Ausland mit dem Schwerpunkt Neue Musik und Werke von Komponistinnen. Seit 1981 setzt sie sich intensiv für das Schaffen unbeachteter Komponistinnen aus Vergangenheit und Gegenwart ein. Sie war (Mit-)Initiatorin und künstlerische Leiterin der drei internationalen Komponistinnen-Festivals Vom Schweigen befreit in den Jahren 1987, 1990 und 1993 in Kassel. 1990 gründete sie die Konzertreihe Komponistinnen und ihr Werk in Zusammenar- beit mit der Heinrich Böll-Stiftung. Sie hält Vorträge und Seminare zu den Themen „Komponistin- nen“ und „Neue Musik für Stimme“ und ist Autorin zahlreicher Texte zum Thema Komponistin- nen sowie Herausgeberin von 5 Buchdokumentationen der Reihe Komponistinnen und ihr Werk. Zu ihren verschiedenen Auszeichnungen zählen die Ehrenurkunde für Kultur und Kunst des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, der Kasseler Kunstpreis, der Kulturförderpreis der Stadt Kassel und die goldene Ehrennadel der Stadt Kassel. Susanne Rode-Breymann, Musikwissenschaftlerin und seit 2010 Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, studierte in Hamburg Alte Musik sowie Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Lite- raturwissenschaft. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Bayreuth und Bonn und erhielt Forschungsstipendien von der Paul Sacher Stiftung Basel sowie dem Österreichischen Fonds für wissenschaftliche Forschung. Nach der Habilitation 1996 lehrte sie in Hannover, dann 1999 bis 2004 als Ordinaria für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Köln. In gleicher Funktion wechselte sie 2004 an die Hochschule in Hannover und gründete dort 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender. Sie hat über Alte Musik, Neue Musik, Gender Studies und Musiktheater (zuletzt 2010: Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677 bis 1705) publiziert, ist (Mit-)Herausgeberin verschiedener Jahrbücher und Reihen und Fachherausgeberin Musik der Enzyklopädie der Neuzeit. 1997 editierte sie (gemeinsam mit Antony Beaumont) die Tagebuch-Suiten 1898–1902 von Alma Mahler-Werfel, 1999 erschien ihr Buch Die Komponistin Alma Mahler-Werfel, 2014 die Biographie Alma Mahler-Werfel. Muse, Gattin, Witwe bei C. H. Beck. Als Präsidentin wur- de sie im Juni 2015 für eine zweite Amtszeit ernannt. Sie ist Vorstandsmitglied der Landeshochschul- konferenz Niedersachsen und stellvertretende Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen.

175 Bildnachweis

Boris Rhein, wissenschaft.hessen.de Bertram Hilgen, kassel-live.de Betsy Jolas, © E. Mathon, Centre de Presse Monaco Olga Neuwirth, Foto S. 28, Harald Hoffmann Der Monat Dezember aus dem Klavierzyklus Das Jahr von Fanny Hensel, © 2000 Furore Verlag

Andere Fotos: Archiv Komponistinnen und ihr Werk

Website Komponistinnen und ihr Werk: www.komponistinnen-konzerte.de

176 Komponistinnen und ihr Werk

Dokumentation I der Jahre 1990/91 Hrsg. Christel Nies, Heinrich-Böll-Stiftung, 178 Seiten, ISBN 3-927760-11-0, Köln 1992 Die erste Buchdokumentation enthält u. a. Beiträge von Beatrix Borchard „Da liegt mein Leben“, Gedanken zum Thema Frauen als Komponistinnen, S. D. Gallwitz „Gibt es eine weibliche Kunst“, Dorothea Redepenning „Zur Musik von Sofia Gubaidulina, Kolja Lessing: Werkanalyse zu „Autobiographie für Violine solo“ von Grete von Zieritz. Christel Nies zieht nach 2 Jahren eine erste Bilanz der neuen Veranstaltungsreihe. 6 Konzerte in der Zeit zwischen Februar 1990 und November 1991 sind mit reichem Bild- material ausführlich dokumentiert: Porträtkonzert Grete von Zieritz, Komponistinnen in Europa, Porträtkonzerte Ilse Fromm-Michaels, Jacqueline Fontyn, Alma Mahler und Sofia Gubaidulina.

Unerhörtes Entdecken Dokumentation II der Jahre 1992–Mai 1995; Hrsg. Christel Nies, 208 Seiten ISBN 3-7618-1214-0, Kassel 1995 Essayistische Beiträge prominenter Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaft- ler reflektieren über Komponistinnen als Hofdamen, Nonnen und Kurtisanen (Joachim Steinheuer), über „Koffer und Schubladen“ im Zusammenhang mit der unbeleuchte- ten Seite der Musikgeschichte (Beatrix Borchard), über den Gesang der Sirenen (Nanny Drechsler) oder über Weibsbilder in Wagners Ring der Nibelungen (Silke Leopold). Elf Komponistinnen geben in Interviews Einblicke in ihre Kompositionswerkstatt und beantworten Fragen zur eigenen wie zur generellen Situation von schöpferischen Frauen in der Musik. Mit informativen Texten, Werkverzeichnissen, Diskographien, Literatur- angaben und Bildmaterial zu 43 Komponistinnen aus Vergangenheit und Gegenwart sind 15 Konzerte der Reihe Komponistinnen und ihr Werk in der Zeit von September 1992 bis Mai 1995 dokumentiert.

Gut zu hören – gut zu wissen Dokumentation III der Jahre 1995 – 2002; Hrsg. Christel Nies, 280 Seiten ISBN 3-7618-1514-X, Kassel 2002 Der dritte Band dokumentiert für die Zeit zwischen Oktober 1995 und Dezember 2002 43 Konzerte mit Werkbeschreibungen, Bildmaterial und Biografien von 88 Komponistinnen. Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren geben Auskunft über Clara Schumann und ihre Familie, über Barbara Strozzi oder „Amor & Morte - Liebe und Tod in Venedig“ (Joachim Steinheuer), die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot-Garcia (Christel Nies) und über Ruth Crawford und ihr musikalisches Umfeld (Kirsten Reese). Der Beitrag „Ein Mythos auf dem Seziertisch“ von Melanie Unseld befasst sich mit dem Werk „Der

177 Tod und das Mädchen II“ von Elfriede Jelinek und Olga Neuwirth. Eine Recherche von Silvia Kordes über Aufführungen von Komponistinnen-Werken an renommierten deut- schen Musikinstitutionen zwischen 1990 und 2000 informiert darüber, welche Chancen Komponistinnen heute im offiziellen Musikbetrieb haben. Christel Nies selbst zieht Bilanz nach 12 Jahren „Komponistinnen und ihr Werk“. entdeckt und aufgeführt Dokumentation IV der Jahre 2003 – 2010; Hrsg. Christel Nies, 299 Seiten ISBN 3-89958-942-9; Kassel 2010 Der vierte Band der „anderen Konzertreihe“ Komponistinnen und ihr Werk dokumentiert für die Jahre zwischen 2003 und 2010 über 50 Konzerte mit Werkbeschreibungen, reichem Bildmaterial und den Biografien von 121 Komponistinnen. Neun zeitgenössische Kompo- nistinnen äußern ihre Gedanken zum Thema Komponieren und geben Auskunft über ihre Arbeit. Bettina Brand schreibt über das bewegte Leben der Komponistin Ursula Mamlok und Marcus Schwarz berichtet von den Ragtime-Komponistinnen in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Musikszene der Länder Rumänien und Tschechien wird im Rahmen des Projektes Komponistinnen und ihr Werk – Spurensuche in Europa umfassend dargestellt unter dem Blickwinkel weiblichen Musikschaffens. Renommierte Autorinnen und Autoren schreiben über das Musikleben und Komponistinnen in Rumänien, über das Liedschaffen von Vitězslava Kaprálová und über Neue Musik in Rumänien und in Tschechien.

Tonträger, DVD Die CD „Die Landschaft in meiner Stimme“ (ARS 33445) enthält Werke für Stimme solo sowie für Stimme und Instrumente von Betsy Jolas, Viera Janárčeková, Violeta Dinescu, Jacqueline Fontyn, Myriam Marbe, Sylva Smejkalová, Doina Rotaru, Sofia Gubaidulina und Klaus Hinrich Stahmer. Christel Nies, Stimme; Hellmuth Vivell, Klavier; Bernhard Betzl, Percussion; Otfrid Nies, Violine; Almut Steinhausen, Viola Im Handel erhältlich und über [email protected] Herkules + documenta Das Schönste an Kassel: Klasse Kultur! ist der Titel einer DVD des Hessischen Rundfunks, darin der Filmbeitrag „Ein Leben für Komponistinnen: Christel Nies“. Von den meisten Konzerten der Reihe existieren Video- und/oder Tonaufnahmen. Die Projekte „Blickpunkt Rumänien“ und „Blickpunkt Tschechien“ sind außerdem in zwei Filmen dokumentiert, die im Offenen Kanal Kassel gesendet wurden.

178 Christel Nies

Der fünfte Band der Reihe Komponistinnen und ihr Werk doku- mentiert für die Jahre 2011 bis 2016 einundzwanzig Konzerte und Veranstaltungen mit Werkbeschreibungen, reichem Bildmaterial und den Biografien von 38 Komponistinnen.

Sieben Komponistinnen beantworten Fragen zum Thema Komponistinnen und ihre Werke heute. Olga Neuwirth gibt in einem Interview mit Stefan Drees Auskunft über ihre Er- fahrungen als Komponistin im heutigen Musikleben. Freia Hoffmann (Sofie Drinker Institut), Susanne Rode-Breymann­ Christel Nies (FMG Hochschule für Musik, Theater und Medien, Han- nover) und Frank Kämpfer (Deutschlandfunk) spiegeln in ihren Beiträgen ein Symposium mit dem Titel Chancengleich- heit für Komponistinnen, Annäherung auf unterschiedlichen Wegen, das im Juli 2015 in Kassel stattfand. Christel Nies berichtet unter dem Titel Komponistinnen und ihr Werk, eine unendliche Geschichte von Entdeckungen und Aufführungen über ihre ersten Begegnungen mit dem Thema Frau und Musik, den darauf folgenden Aktivitäten und über Erfolge und Erfahrungen in 25 Jahren dieser „anderen Konzertreihe“.

Der Buchtitel Nachhall entspricht mit Ausdeutungen wie: nachwirkend, nachhaltig, nicht gleich verklingend dem Anliegen des Buches und der Reihe Komponistinnen und ihr Werk. Nachhall

Komponistinnen und ihr Werk V ISBN 978-3-7376-0238-9 ISBN 978-3-7376-0238-9 Komponistinnen und ihr Werk V 9 783737 602389