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Kippbilder der Familie

Nationale und transnationale Adoption als Medien des Sentimentalen

Inaugural-Dissertation

zur

Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie

in der

Fakultät für Philologie

der

RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

vorgelegt

von

Anja Michaelsen, M.A. Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum

Referentin: Prof. Dr. Astrid Deuber-Mankowsky

Koreferentin: Prof. Dr. Eva Warth

Tag der mündlichen Prüfung: 12.01.2012

Inhalt

Einleitung: Die „negative Aufladung“ von Adoption. Zum Verhältnis von sentimentaler Unterhaltung und Kritik 6

Das Versprechen der Adoption 8 „Depressed? … It Might Be Political“. Sentimentale Unterhaltung und Kritik 14 Das „Management“ sentimentaler Unterhaltung 16 „Okayness“ 19 Moderne fürsorgerische Adoption 24 Mutteropfer und Identitätskrise. Sentimentale Topoi von Adoption 26 Adoption als Medium des Sentimentalen 32

Teil 1: Nationale Adoption als Medium „idealer“ Mutterschaft 37

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram. Biopolitik und elterliche Entlastungsfantasie 40

1.1 Das Rettungsnarrativ der modernen Adoption 40 1.1.1 „Supreme maternal sacrifice“. Heroisierung der „abgebenden“ Mutter 41 1.2 „Der Fall Stella Dallas“. Feministische Kritik und sentimentales Genießen 44 1.2.1 Drei Küsse. Eine Entwicklungsreihe 51 1.3 Die Affektivität der modernen Familie (Mildred Pierce)53 1.4 Biopolitische Familienökonomie 57 1.4.1 Die Entstehung der Familie aus der Sexualität des Kindes 57 1.4.2 Verantwortung für „alle“ 59 1.5 Mütterliche Entlastungsfantasie 64

2 Klassendifferenz und das ambivalente Erkennen „idealer Mutterschaft“ 67

2.1 Die Klassenfrage in Stella Dallas 67 2.1.1 Einführen und Ausstreichen patriarchaler Drohung 70 2.1.2 Stellas Erkennen 73 2.2 Klassenspezifische Familienökonomien 78 Inhalt

2.2.1 All I Desire: Bürgerliche Familienordnung 81 2.2.2 Die Soziale Frage. Das heroische Mutteropfer als Technik der Selbstregulierung 84 2.3 Die Zuschauerin als „ideale Mutter“ 90 2.4 Das ambivalente Wissen der „idealen Mutter“ 95

Teil 2: Transnationale Adoption als Medium der Krise 99

3 Zurück zu den Wurzeln. Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 104

3.1 Das Krisennarrativ transnationaler Adoption 104 3.1.1 Ein eigenes „Genre“ transnationaler Adoptionsgeschichten 106 3.1.2 Die Krise in Daughter from Danang und First Person Plural 108 3.2 „Ein Farmer aus Oregon“. Kritische Perspektiven auf die Rettungsnarration transnationaler Adoption 112 3.2.1 „Key children“ 118 3.2.2 Die Unsichtbarkeit der Väter 120 3.3 Bilder der Gleichgültigkeit 123 3.3.1 „Attached through the mail“. Mediengenerierte Beziehungen 128 3.3.2 „Öffentliche Elternschaft“. Erkennen/Verkennen 131 3.3.3 Gleichgültigkeit/Zugehörigkeit 135

4 Ambivalente Rassifizierungen. Nicht-Sehen von ‚Rassen’-Differenz und „Racial Melodrama“ 138

4.1 Meine Eltern: „Two white American people“ 138 4.2 Widersprüchliche Wahrnehmungen von ‚Rassen’-Differenz141 4.2.1 Farbenblindheit 145 4.2.2 Passing 146 4.3 Transformation als Rassifizierung 148 4.3.1 Amerikanisierung und ‚Weißwerdung‘ 151 4.4 „Racial Melodrama“ in Daughter from Danang 155 4.4.1 Selbstmarginalisierungen 158 4.4.2 ‚Rassen’-Differenz als „Kulturkonflikt“ 162 4.5 „It runs in the family“. ‚Rassen’-Differenz als intimer Familienscherz in First Person Plural 164

Inhalt

5 „We‘re going home.“ Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 168

5.1 Die Adoptionserzählung als Reise- und „Heimatfilm“ 170 5.1.1 „Home“: Zwischen „Zuhause“ und „Heimat“ 172 5.2 Erkenntnis der Heimatfantasie in Daughter from Danang175 5.2.1 „Here is the moment“. Flüchtige Verwirklichung der Heimatfantasie 180 5.3 Die Heimatfantasie gleichzeitiger Zugehörigkeit in First Person Plural 185 5.3.1 Ein Familienalbum für zwei Familien 188 5.3.2 Nicht artikulierte Beziehungen – Bilder der Trennung 192 5.3.3 Erkennen der nostalgischen Kindheitsfantasie 195 5.4 Wiederherstellung der Heimatfantasie/Normalisierung von Adoption 197 5.4.1 „Closed but not locked“. Fortsetzung des Heimatfilms im ‚Anderswo’ 200

6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder. Schlussbemerkung 205

Konventionelle Filme, konventionelle Botschaften 205 Queere Biologie? 209

7 Filme/Videos/Fernsehserien 212

8 Literatur 213

9 Abbildungen 221

Danksagung 222

Einleitung: Die „negative Aufladung“ von Adoption. Zum Verhältnis von sentimentaler Unterhaltung und Kritik

In der US-amerikanischen Comedy-Serie MODERN FAMILY adoptieren Mitchell und Cameron ein Mädchen aus , das sie Lily nennen. In einer Folge der Serie wundert sich Mitchell über Cameron, der ein enthusiastisches „Yay!“ aus- ruft, jedes Mal wenn das Wort „adopt“ fällt:

CAMERON [Lily auf dem Schoß]: Adopt, yay!

MITCHELL: What‘s going on here?

CAMERON: I‘m taking the negative charge out of the word adopted (yay!).

MITCHELL: What did Oprah do now?

CAMERON [hält Lily die Ohren zu]: Well, she had a girl on, 16, found out that she was adopted and felt be- trayed, ran away and became a strip- per.1

Emotionalisierende Adoptionsgeschichten wie die des 16-jährigen Mädchens, das zur Stripperin wird, als sie herausfindet, dass sie adoptiert wurde, scheinen so ver- traut und plausibel, dass sie in der Serie ironisierend zitiert werden können. MO-

DERN FAMILY kann die „negative Aufladung“ von Adoption als Allgemeinplatz populärkulturellen Wissens voraussetzen. Die Darstellung von Adoption in MO-

DERN FAMILY wird nicht zufällig als negativ aufgeladen zitiert. In dieser Arbeit gehe ich der Frage nach, worin die Negativität von Adoption besteht. Einen ersten Hinweis liefert die historische Adoptionsforschung, die ihren Gegenstand immer wieder als „sentimental“ bezeichnet, ohne jedoch diese Cha-

1 MODERN FAMILY, ABC, Staffel 2, Folge 17 (USA 2010, Steven Levitan, Christopher Lloyd). Ich zitiere hier und im Folgenden im englischen bzw. amerikanischen Original. Die akademische Dis- kussion von Adoption wird fast ausschließlich im Englischen geführt, auch die Film- und Fern- sehbeispiele, die ich betrachte, kommen aus den USA. Adoption ist aufgrund historischer Bedin- gungen, auf die ich in den Kapiteln eingehe, ein ‚amerikanisches’ Phänomen, die Fragen, die da- mit verbunden sind, sind jedoch auch von hiesigem Interesse. So weit möglich übersetze ich wich- tige Begriffe und Formulierungen ins Deutsche. Einleitung 7

rakterisierung zu erläutern. Wayne E. Carp verweist auf ein Verständnis von Adoption, motiviert durch eine sentimentale, christliche Überzeugung, das den Akt der Adoption im 19. Jahrhundert in Zusammenhang mit Seelenrettung und Wohltätigkeit bringt.2 Auf ähnliche Weise zitiert Ellen Herman eine Diskussion sentimentaler Adoption als humanistische Handlung, „as an altruistic and loving act“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch die Kinder aus elenden Um- ständen in ehrenhafte Bürger/innen transformiert werden sollen. Sentimentale Adoption erscheint hier als moralische Bürgerpflicht.3 Julie Berebitsky dagegen unterscheidet eine solche moralische Verpflichtung zur Adoption von sentimenta- ler Adoption, die sie als vollständig voraussetzungslose Annahme ohne morali- sche oder humanitäre Motivation versteht, „solely to create a family“ und die sich erst später im 20. Jahrhundert durchsetzt.4 Die Bezeichnung von Adoption als sentimental ist gleichermaßen geläufig wie widersprüchlich. Dass beide Formen von Adoption als sentimental gelten, er- klärt sich, so meine These, daraus, dass sowohl ein humanistisch, moralisches als auch ein ‚nur’ auf emotionale Familienbeziehungen bezogenes Verständnis von Adoption sentimentale Darstellungen, das Erzählen sentimentaler Geschichten von Adoption begünstigen. Ich meine im Weiteren mit Adoption den Gegenstand sentimentaler Darstellungen, in denen sowohl das Motiv der Kindsrettung als auch familiärer Liebe virulent sind. Kindsrettung und emotionale familiäre Bezie- hungen bieten sich für sentimentale Geschichten an, sie evozieren vertraute Figu- ren und Topoi sentimentaler Unterhaltung, wie leidende Mütter und verlassene Kindern, Täuschungen und Missverständnisse, Trennung, Verlust und Wiederver- einigung mit lange verloren geglaubten Angehörigen, Heimkehr zu fremd gewor- denen Orten der Kindheit. Gerade die konfliktuöse Verbindung beider Sichtwei-

2 Wayne E. Carp: „Introduction. A Historical Overview of American Adoption“, in: ders. (Hg.): Adoption in America. Historical Perspectives. Ann Arbor 2002, S. 1-26, hier S. 6. 3 Ellen Herman: Kinship by Design. A History of Adoption in the Modern . Chicago, London 2008, S. 42. 4 Julie Berebitsky: „Rescue a Child and Save the Nation. The Social Construction of Adoption in the Delineator, 1907-1911“, in: Wayne E. Carp (Hg.): Adoption in America. Historical Perspecti- ves. Ann Arbor 2002, S. 124-139, hier S.132.

Einleitung 8

sen bringt Adoption als Gegenstand sentimentaler Unterhaltung im 20. Jahrhun- dert hervor. Sentimentale Adoption generiert Geschichten wie die des 16-jährigen Mädchens, das von zu Hause wegläuft und zur Stripperin wird.

Das Versprechen der Adoption

Ironisierend distanziert sich MODERN FAMILY von sentimentalen Adoptionsge- schichten. Die Serie präsentiert Adoption stattdessen als ein Mittel, ein konven- tionelles Familienverständnis hinsichtlich Geschlecht, Sexualität und ‚Rasse’5 zu erweitern. MODERN FAMILY bezieht sich auf Adoption als Bestandteil eines pro- gressiven Denkens von Familie. Befürworter/innen von Adoption betonen, dass das Denken von Fürsorge und Erziehung unabhängig von ‚natürlichen‘ biologi- schen Beziehungen ermöglicht, Familien jenseits von Heteronormativität und über kulturelle, nationale und rassifizierte Grenzen hinaus zu bilden. Aus dieser Per- spektive stellt Adoption konventionelle Vorstellungen von linearen Genealogien, die Bedeutung von Abstammung und Herkunft für verbindliche Beziehungen in Frage: „[Adoption] is advancing the ethnic, racial, and cultural diversity that is a hallmark of twenty-first-century America, and it is contributing to a permanent realignment in the way we think of family structure.“6 Die Trennung von Familienbeziehungen von biologischer Reproduktion nimmt konventioneller Gleichsetzung von Elternschaft und Familie mit natürli- chen und biologischen Beziehungen die Selbstverständlichkeit. Denkt man Adop- tion in diese Richtung weiter, dann erscheint sie als subversives Instrument, um die „elementaren Strukturen“ moderner westlicher Verwandtschaft und Gesell- schaft zu unterlaufen. Elternschaft wird in dieser Sicht nicht nur unabhängig von heteronormativen Geschlechterbeziehungen, sondern in potentiell unendlicher Vervielfältigung von Müttern und Vätern wird auch das konventionell als einma- lig gedachte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern flexibel und instabil. Ge-

5 Die einfachen Anführungszeichen sollen ‚Rasse’ als wirkmächtige Zuschreibung markieren. S. zur ambivalenten Definition von ‚Rasse‘ auch Kapitel 4. 6 Adam Pertman: Adoption Nation. How the Adoption Revolution is Transforming America. New York 2000, S. 7. Pertman ist Direktor des Evan B. Donaldson Adoption Institute in New York und (s. http://www.adoptioninstitute.org/index.php (zuletzt aufgerufen am 20.07.2011).

Einleitung 9

schlechtsspezifische Codierungen von Fürsorge und Erziehung und geschlechts- spezifische Arbeitsteilung verlieren durch die Trennung von Reproduktion und Elternschaft an Zwangsläufigkeit. Ausschluss aufgrund von Klasse, ‚Rasse‘, Eth- nizität oder Nationalität wird auf der Ebene der Familie unterlaufen. Über diese transgressiven Möglichkeiten hinaus öffnet Adoption potentiell den Blick für die „kontingenten Grundlagen“7 jeder Identitätsbildung und Sub- jekthaftigkeit. Aus einer solchen Sicht erinnert das utopische Potential von Adop- tion an die Effekte der Überschreitung der hierarchisierenden Dichotomie Na- tur/Kultur, die mit dem Aufkommen der Technosciences möglich werden, wie sie Donna Haraway beschrieben hat.8 Adoption lässt sich zugleich in sehr spezifi- schen und sehr allgemeinen Zusammenhängen denken. Spezifisch in dem Sinne, als dass sich ein eigener Adoptionsdiskurs herausgebildet hat, in der Forschung wie auch in der medialen Öffentlichkeit, der außerhalb der direkt betroffenen Kreise kaum wahrgenommen wird.9 Zugleich erklärt sich ein Interesse an Adop- tion als Gegenstand von populärkultureller Unterhaltung durch den darin enthal- tenen Hinweis auf die immer schon bestehende Kontingenz intimer Beziehungen. Mit Adoption lässt sich der zugleich beunruhigenden wie verheißungsvollen kollektiven Fantasie alternativer Biographien nachgehen, die Sigmund Freud als „Familienroman“10 bezeichnet hat: was wäre wenn die Eltern nicht die Eltern wä- ren. In dieser Hinsicht ist Adoption eine Figur, die ausgehend vom Imaginieren einer anderen Familie einen alternativen Selbstentwurf ermöglicht. Hierin besteht, so meine ich, der generelle Reiz, Adoptionsgeschichten zu erzählen. Nachdenken über Adoption heißt, mit den kontingenten Grundlagen nicht nur familiärer, ver- wandtschaftlicher Beziehungen sondern von Subjektbildung konfrontiert zu sein,

7 Judith Butler: „Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der ‚Postmoderne‘“, in: Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell, Nancy Fraser: Der Streit um die Differenz. Femi- nismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1993, S. 31-58. 8 Vgl. Donna Haraway: „A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century“, in: dies.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York 1991, S. 149-181. 9 Ich gehe auf in den einzelnen Kapiteln genauer auf diesen spezifischen Adoptionsdiskurs ein. 10 Sigmund Freud: „Der Familienroman der Neurotiker“ (i.O. 1909), in: ders.: Gesammelte Werke 1893-1939, Band 7. Frankfurt am Main 1999, S. 227-231.

Einleitung 10

mit der Kontingenz von gesellschaftlicher und emotionaler Zugehörigkeit, Heimat und Intimität. Wie aber verhalten sich das hier beschriebene utopische Potential und das po- pulärkulturelle Zitat der „negativen Aufladung“ von Adoption zueinander? MO-

DERN FAMILY selbst spielt auf den utopischen Gehalt von Adoption, das Ver- sprechen größerer Freiheit für diejenigen, die sich an den Grenzen der modernen Normalfamilie bewegen, an. Der Titel legt nahe, dass die Autoren der Serie, Ste- ven Levitan und Christopher Lloyd, eine aktualisierte Darstellung des klassischen Themas von Fernsehunterhaltung Familie präsentieren wollen. Die Präsenz von Adoption in einer populärkulturelle Fernsehsendung ist dabei keine Neuheit, kaum eine erfolgreiche beziehungs- und familienbezogene US-amerikanische Se- rie verzichtet auf eine Adoptionshandlung. MODERN FAMILY stellt insofern eine Aktualisierung dar, als dass hier ein schwules Paar mittels Adoption eine Familie begründet. Das Moderne an MODERN FAMILY besteht in der Erweiterung konven- tionellen Denkens von Familie. Die Serie zeichnet sich jedoch selbst durch eine Ambivalenz hinsichtlich dieser Erweiterung mittels Adoption aus, die sie durch die Distanzierung zu sentimentalen Adoptionsgeschichten zu verbergen versucht. Diese Ambivalenz lässt sich an dem Werbebild für die Serie veranschaulichen, das einer Anordnung von Zentrum und Peripherie folgt [Abb. 1].

Einleitung 11

[Abb. 1] „One big (straight, gay, multi-cultural, traditional) happy family“

Im visuellen wie symbolischen Zentrum befindet sich die „traditionelle“ Weiße, heterosexuelle Normalfamilie, gerahmt von der „multikulturellen“ Patchworkfa- milie (oben) und der gleichgeschlechtlichen Adoptivfamilie (unten). Adoption qualifiziert hier die schwule Beziehung als eigenständige Kernfamilie in das, was zum jetzigen Zeitpunkt als Familie definiert werden kann, integriert zu werden. So werden Mitchell und Cameron in der ersten Folge mit der ‚Geburt‘ Lilys ein- geführt, das heißt auf dem Rückflug der neu begründeten Familie aus Lilys Ge- burtsland Vietnam in ihre Adoptivheimat USA. MODERN FAMILY repräsentiert die erweiterten Möglichkeiten mittels Adoption Familie zu denken und ordnet diese alternative Familienform zugleich ausgerichtet an der Normalfamilie an den Grenzen dieser an. Die schwule Adoptivfamilie ‚ergänzt‘ die Normalfamilie als Gegenstand populärkultureller Unterhaltung und bestätigt als Ergänzung deren normativen Status. MODERN FAMILY scheint die Verwirklichung des Verspre- chens von Adoption darzustellen. Zugleich besteht in der Anordnung von Periphe- rie und Zentrum ein Machtbezug auf Heteronormativität, der das utopische Po- tential von Adoption begrenzt. Auch und gerade liberale Darstellungen wie MO-

Einleitung 12

DERN FAMILY bestätigen indirekt die „negative Aufladung“ von Adoption, trotz des offensichtlichen Versuchs, sich von dieser zu distanzieren.

Obwohl MODERN FAMILY für ein progressives Verständnis von Adoption und Familie steht, lässt sich die Anordnung der Familieneinheiten auf ein ambivalen- tes Machtwissen hin deuten, in diesem Fall auf Adoption als Instrument zur Er- weiterung der Normalfamilie und der gleichzeitigen Bestätigung ihres hegemo- nialen Anspruchs. MODERN FAMILY ist exemplarisch für Darstellungen von Adoption, in denen sich ein Machtwissen andeutet, das jedoch nicht ausformuliert wird. Ich argumentiere im Folgenden, dass die „negative Aufladung“ von Adop- tion auf solche Formen indirekten Machtwissens zurückzuführen ist. Dieses Machtwissen erscheint indirekt, etwa als ein Zögern, Adoption uneingeschränkt zu befürworten. So formuliert die Medienwissenschaftlerin Lisa Cartwright, zum Gebrauch von Fotografien im transnationalen Adoptionsprozess:

I should be clear about my stakes in this essay. I write as a participant critic in the transnational adoption world, occupying the roles of agency client, adoptive parent, and volunteer adoption coordinator. […] The material I reference could easily be used to support a critique of the practice of transnational adoption or its use of images. However, it would be misguided to condemn transnational adoption in total, to fault agencies for using images, or to criticize clients for looking at or for using these portraits. To argue for the restriction of these practices would be to overlook the positive potential of global humanitarian movements that recognize the uses of global market systems.11

Cartwright betont ihre Involviertheit in den Adoptionsprozess, zugleich weist sie auf Aspekte hin, die zu kritisieren wären. Ihre ambivalente Haltung gegenüber dem Gebrauch von Fotografien und einer marktorientierten Adoptionspraxis for- muliert Cartwright als eine zögernde Befürwortung, die sich nicht auf den utopi- schen Gehalt von Adoption bezieht, sondern erneut auf eine humanitäre, morali- sche Legitimation. Cartwrights Zögern ist in Zusammenhang mit einer in den letz- ten Jahren deutlich schärfer formulierten Kritik insbesondere an transnationaler Adoption zu verstehen. In zugespitzter Weise formuliert der Koreanist Tobias

11 Lisa Cartwright: „Photographs of ‚Waiting Children‘. The Transnational Adoption Market“, Social Text 74, Vol. 21, No.1 (Spring 2003). Sonderausgabe zu transnationaler Adoption, hg. von Toby Alice Volkman. S. 83-109, hier S. 84.

Einleitung 13

Hübinette, ebenfalls einführend zu seiner Studie der Repräsentation von Adoption in südkoreanischen Medien:

Before starting, it must also be said that my readings, interpretations and findings are naturally influenced by my specific situatedness of being an adopted Korean myself, as well as a long-time political activist in the adopted Korean movement. I am here making no secret of the fact that I am totally against any kind of continuation of in- ternational adoption from Korea […].12

Wie Cartwright positioniert sich Hübinette in seiner eigenen Involviertheit im Adoptionsdiskurs. Allerdings formuliert Hübinette eine eindeutige Ablehnung transnationaler Adoption. Diese beiden Positionen sind exemplarisch für eine po- larisierte und widersprüchliche Diskussion innerhalb der ‚Adoptionsöffentlich- keit‘. Adoption ist sowohl als eine Form humanitärer Hilfe13 als auch als Zwangsmigration14 beschrieben worden, als „Geschenk“15 und Geschäft16, als Zeichen emotionaler Zuwendung und Gegenstand von „social engineering“17 und familienplanerischem Design18. Adoption wird als antirassistische Maßnahme wie als Ausdruck von „Farbenblindheit“19 angesehen. Ich behaupte, dass die Wider- sprüchlichkeit der Darstellungen dadurch zu erklären ist, dass sich Adoption in

12 Tobias Hübinette: Comforting an Orphaned Nation. Representations of International Adoption and Adopted Koreans in Korean Popular Culture. Paju 2006, S. 4. 13 Vgl. Berebitsky, Rescue a Child und Kapitel 1 und 3 zum Rettungsnarrativ von Adoption. 14 S. Richard H. Weil: „International Adoptions. The Quiet Migration“, International Migration Review 18, Nr. 2 (1984), S. 276-293; Tobias Hübinette: „From Orphan Trains to Babylifts. Colo- nial Trafficking, Empire Building, and Social Engineering“, in: Jane Jeong Trenka, Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 139-150. 15 Vgl. Barbara Yngvesson: „Placing the ‚Gift Child‘ in Transnational Adoption“, Law and Society Review, Vol. 36, Nr. 2 (2002), S. 227-256. 16 S. Kim Park Nelson: „Shopping for Children in the International Marketplace“, in: Jane Jeong Trenka, Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 89-104; vgl. auch Berebitsky, Rescue a Child; Ann Anagnost: „Scenes of Misrecognition. Maternal Citizenship in the Age of Transnational Adoption“, Positi- ons. East Asia Cultures Critque, Vol. 8, Nr. 2 (2000), S. 389-421. 17 S. Brian Paul Gill: „Adoption Agencies and the Search for the Ideal Family, 1918-1965“, in: Wayne E. Carp (Hg.): Adoption in America. Historical Perspectives. Ann Arbor 2002, S. 160-180. 18 S. Herman, Kinship by Design. 19 S. Pamela Anne Quiroz: Adoption in a Color Blind Society. Lanham u.a. 2007; David Eng: The Feeling of Kinship. Queer Liberalism and the Racialization of Intimacy. Durham, London 2010.

Einleitung 14

unterschiedlichen Machtzusammenhängen und auf unterschiedliches Machtwissen hin betrachten lässt. Während MODERN FAMILY implizit auf ein heteronormatives Verständnis von Familie verweist, betrachtet etwa David Eng transnationale Ad- option in Zusammenhang mit Rassismus und Nationalismus als eine der privile- giertesten Formen von Migration, basierend auf dem Ausschluss all jener, denen das Recht auf Immigration verweigert wird.20 Je nach Perspektive erscheint Adop- tion als utopisches, kritisches oder affirmatives Instrument. So ist auch der

Machtbezug in MODERN FAMILY vor allem ambivalent. Familie wird durch Ad- optionsbeziehungen erweitert und zugleich erneut begrenzt. Adoption zeichnet sich durch Bezüge zu verschiedenen, gleichzeitig und in Verschränkung beste- henden Machtverhältnissen aus. Das Denken von Adoption, so lässt sich schlie- ßen, zeichnet sich vor allem durch Ambivalenz aus. Ambivalenz im Bereich des Privaten, Emotionalen und Familiären aber ist Hauptschauplatz sentimentaler Un- terhaltung.

„Depressed? … It Might Be Political“. Sentimentale Un- terhaltung und Kritik

„Popular genres are about the management of ambivalence“, schreibt Lauren Ber- lant21 und ich behaupte, dass die Präferenz in der Darstellung von Adoption für einen sentimentalen Modus mit den vielfältigen, widersprüchlichen, ambivalenten Perspektiven begründet ist, die sowohl von Machtkritik als auch von Kon- solidierung geschlechter-, klassen- und ‚rassen’-differenter Verhältnisse erzählen. Ich zeige in meiner Arbeit, dass das Erscheinen von Adoption in sentimentaler Form symptomatisch für die Ambivalenz von Kritik und Affirmation komplexer Machtverhältnisse ist, die Adoption heute auszeichnet. In dieser Arbeit geht es nicht darum, das Sentimentale als bloße Reduzierung zu kritisieren oder es als manipulativ22, heuchlerisch oder eskapistisch zu verurtei-

20 Eng, Feeling of Kinship, S. 101. 21 Lauren Berlant, The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture. Durham, London 2008, S. 5. 22 Vgl. Linda Williams: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O.J. Simpson. Princeton 2002, S. 11.

Einleitung 15

len.23 Stattdessen nehme ich die sentimentale Darstellungsform von Adoption selbst zum Ausgangspunkt der Analyse. Zwei Aspekte sentimentaler Unterhaltung sind hier von besonderer Bedeutung: 1. die ambivalente Konstellationen, die Kon- fliktstoff für sentimentale Darstellungen liefern; 2. das „Management“ von Ambi- valenz als Fokus der Darstellungen und Lösung der Konflikte. Der Modus des Sentimentalen stellt insofern eine angemessene Repräsentation von Adoption dar, als dass darin deren Ambivalenz erfasst wird. Zugleich sind die Machtbeziehun- gen, die Adoption so komplex und ambivalent machen, aufgrund des „Manage- ments“ sentimentaler Unterhaltung nur bedingt benennbar. Mit Berlant lässt sich der sentimentale Modus der Adoption als eine Form „kritisch zu sein ohne Be- wusstsein“ bezeichnen:

[What] does it mean to think about the aversive emotions of negativity as kinds of at- tachment? […] What does it mean to think of negativity not as an effect of bad po- wer but as a way of being critical without consciousness, as we currently understand its cultivated form? […] Depressed? … It Might Be Political.24

Berlant versteht Negativität, anstatt als bloße Form von Destruktivität, als Aus- druck nicht vollständig artikulierter Kritik. Ich folge in dieser Arbeit dem Vor- schlag Berlants und deute in dieser Arbeit die „negative Aufladung“ von Adop- tion als begrenzte Artikulation von Kritik. Worin besteht diese in den sentimenta- len Darstellungen von Adoption, auf welche implizite Machtverhältnisse bezieht sie sich? Was bedeutet Artikulation von Kritik „ohne Bewusstsein“? Wodurch wird sie begrenzt, worin besteht das „Management“ von Ambivalenz? Inwiefern lässt sich der Ausdruck von Leiden in den hier untersuchten Adoptions- geschichten als politisch verstehen?

23 Vgl. zur Geschichte der Kritik sentimentaler Unterhaltung seit der Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert: Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melo- drama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin 2004, S. 13ff; Williams, Race Card, S. 10ff. 24 Lauren Berlant: „Critical Inquiry, Affirmative Culture“, Critical Inquiry, Nr. 30 (2004), S. 445- 451, hier S. 450f. „Depressed? … It Might Be Political“ war der Slogan des Feel Tank Chicago, einem Verbund von feministischen Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen, den Berlant mitbegründet hat (s. ebd., S. 450, Fußnote 12).

Einleitung 16

Das „Management“ sentimentaler Unterhaltung

Sentimentale Unterhaltung zielt zunächst auf die Produktion sentimentaler Emo- tionalität, auf ein „sentimentales Genießen“ des Gefühls von Rührung, Traurigkeit und Empathie.25 Sie will das Publikum zu Tränen bewegen.26 Linda Williams hat das melodramatische Kino aufgrund dieser angestrebten körperlichen Reaktion des Publikums als „emotional porn“ bezeichnet.27 Dafür präferiert es Themen und Konflikte, die eine besondere emotionale Involviertheit des Publikums nahelegen, insbesondere Familienbeziehungen und soziale Konflikte im Raum des Privaten.28 Diese sind von den zentralen Differenz- und Machtachsen ‚Rasse’, Klasse und Geschlecht bestimmt. In dieser Nähe zum Privaten und Alltäglichen besteht der Realitätsbezug sentimentaler Unterhaltung. Sie ‚übersetzt‘ reale Konflikte in eine ästhetisches Prinzip von Wiederholung und Differenz, das heißt, sie ist zugleich an Konventionen sentimentaler Unterhaltung orientiert und an „kultureller Plausi- bilität“ bezüglich dessen, was in einem bestimmten historischen Moment als real, gerecht und aktuelle Utopie verstanden wird:

Heteroglossia and dialogism are built into the genre product’s need both to repeat, bringing from the past acculturated generic motifs, and to maintain credibility with changing audiences by connecting with the signifiers of contemporary verisimilitude, including signs of struggles to shift its terms in the name of the real, of justice, of utopian hope.29

Gledhill weist darauf hin, dass sich sentimentale Unterhaltung sowohl auf frühere Genre-Motive, als auch auf sich wandelnde Zuschauerschaften beziehen muss. Vertraute Motive werden wiederholt und neue Aspekte im Sinne kultureller Plau- sibilität eingeführt.

25 Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 13. 26 Vgl. Steve Neale: „Melodram und Tränen“, in: Christian Cargnelli, Michael Palm (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film. Wien 1994, S. 147-166. 27 Linda Williams: „Film Bodies. Gender, Genre, and Excess“, in: Robert Stam, Toby Miller (Hg.): Film and Theory. An Anthology. Malden, MA 2000, S. 207-221, hier S. 207. 28 Vgl. Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 23f. 29 Christine Gledhill: „Rethinking genre“, in: dies., Linda Williams (Hg.): Reinventing Film Stu- dies. London 2000, S. 221-243, hier S. 238.

Einleitung 17

Um sentimentales Genießen zu erzeugen privilegiert das Sentimentale Opfer- perspektiven. So wird etwa im melodramatischen Film Tugend durch Leiden dar- gestellt, da Leiden, wie Linda Williams feststellt, im Gegensatz zu Tugend visuell darstellbar ist.30 Sentimentalität entsteht dort, wenn wir mit konflikthaften Macht- verhältnissen konfrontiert sind, die aus Gründen diskursiver wie ästhetischer Konventionalität nicht verbalisiert werden können. Stattdessen äußert sich die Konfrontation in exzessiv erscheinender, sentimentaler Emotionalität. Dies hat mit dem spezifischen Verhältnis sentimentaler Unterhaltung zum Politischen zu tun. Berlant bezeichnet dieses Verhältnis als „juxtapolitical“, als nicht auf offen- sichtliche Weise politisch, aber sich in der Nähe zum Politischen befindend.31 Sentimentale Unterhaltung beziehe sich kritisch auf gesellschaftliche Machtver- hältnisse, formuliere diese Kritik jedoch innerhalb ästhetischer wie ideologischer Grenzen. Berlant veranschaulicht dies an der US-amerikanischen „Frauenkultur“ („women‘s culture“). Sie fragt, worin das Genießen sentimentaler Unterhaltung besteht, obwohl wie im Fall von „Frauenkultur“ vielfach an dem angesetzt wird, was an der Existenz als Frau als beklagenswert gilt. Diese potentiell kritische Perspektive auf die Bedingungen von Weiblichkeit dient jedoch im Rahmen sentimentaler Unterhaltung nicht politischen Interessen oder der Zerstörung von Lust, sondern der Erzeugung von Lust am Leiden. Diese Lust am Leiden erklärt sich aus einem performativen Akt, der ein Gefühl von Zu- gehörigkeit hervorbringt. Weiblichkeit wird durch spezifisches Leiden definiert, das Empfinden von Leiden in der Rezeption produziert wiederum Kollektivität.

30 Williams, Race Card, S. 29. Die bis zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts zurück- reichende Tradition sentimentaler Unterhaltung zielt auf ein Weinen des Publikums ab, weil sich darin seine Empfindungsfähigkeit und „moralische Begabung“ zeige (Kappelhoff, Matrix der Ge- fühle, S. 13). Nach Peter Brooks entsteht das Melodram im Kontext einer säkularisierten Welt, in der auf keine eindeutige moralische und soziale Ordnung zurückgegriffen werden kann. Das Me- lodram verlagere diese Suche nach moralischer Legitimität in den Bereich des Privaten (Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven, London 1976; vgl. auch Williams, Race Card, S. 18). Auf ähnliche Weise versteht Thomas Elsaesser das Hollywoodmelodram als Ausdruck der Widersprüche amerikani- scher Gesellschaft in den 1940er und 50er Jahren (Thomas Elsaesser: „Tales of Sound and Fury. Anmerkungen zum Familienmelodram“ (i.O. 1972), in: Christian Cargnelli, Michael Palm (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film. Wien 1994, S. 93- 130). 31 Berlant, Female Complaint, S. x.

Einleitung 18

Ausgehend von generalisiertem Leiden zielt sentimentale Unterhaltung auf die Herstellung emotionaler Gemeinschaften. Durch das Angebot der Identifikation mit dem in sentimentaler Unterhaltung aufgenommenen weiblichen Leiden werde performativ und zirkulär eine „intime Öffentlichkeit“ hergestellt, die sich als weiblich identifiziert:

By ‚intimate public‘ I do not mean a public sphere organized by autobiographical confession and chest-baring, although there is often a significant amount of first-per- son narrative in an intimate public. What makes a public sphere intimate is an ex- pectation that the consumers of its particular stuff already share a worldview and emotional knowledge that they have derived from a broadly common historical expe- rience.32

„Women‘s culture“, so Berlant, gehe davon aus, dass ihre Konsumentinnen eine gemeinsame Erfahrung als Frauen teilen und biete Geschichten an, die als expres- siv für diese geteilte Erfahrung gelten. Dabei wird zugleich die Erwartung dessen geformt, was als weibliche Erfahrung verstanden wird:

[Expressing] the sensational, embodied experience of living as a certain kind of being [z.B. als Frau] in the world, [an intimate public] promises also to provide a bet- ter experience of social belonging – partly through participation in the relevant commodity culture, and partly because of its relevations about how people can live.33

Der Bezug auf soziale Konflikte, die mit Machtverhältnissen, in diesem Fall mit dem Geschlechterverhältnis zu tun haben, dient, so Berlant, im Interesse des Kon- sums sentimentaler Unterhaltung in erster Linie der Erzeugung eines Gefühls von Gemeinschaft, dem Versprechen eines Allgemeinwerdens durch affektive Kom- munikation und weniger einer politisch motivierten Artikulation von Kritik.34 Sentimentale Unterhaltung verspricht: „Du bist nicht allein.“35 Die Geschichten von Adoption erfüllen als sentimentale Unterhaltung diese Funktion der Herstel- lung eines sich im Mitleiden als kollektiv verstehenden Publikums. Worin besteht

32 Ebd., S. viii. Herv. i.O. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 28. 35 Ebd., S. ix.

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das vergemeinschaftende Leiden in den Darstellungen von Adoption? Welche emotionale Gemeinschaft stellen sie her?

„Okayness“

Die Artikulation von Kritik ist durch eine weitere Eigenschaft sentimentaler Un- terhaltung begrenzt, die mit dem Ziel, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen, zusammenhängt. Zugehörigkeit erfordert ein gewisses Maß an Konventionalität, was in sentimentaler Unterhaltung gleichermaßen soziale wie ästhetische Kon- ventionalität bedeutet.36 Während durch Machtverhältnisse bedingte Ungerechtig- keit beklagt und kritisiert werden kann, so scheint es dennoch notwendig, an einer Fantasie festzuhalten, dass es möglich ist, zu einer „normalen“ Welt dazuzugehö- ren, ein Bedürfnis, das Berlant als Streben nach „Okayness“ bezeichnet: „to desire belonging to the normal world, the world as it appears, is at root a fantasy of a sense of continuity, a sense of being generally okay; it is a desire to be in proxi- mity to okayness, without passing some test to prove it.37 Sentimentale Unterhal- tung ist daher selbst durch eine grundsätzliche Ambivalenz geprägt:

The texts of women‘s intimate public worry about what it means to live within the institutions of intimacy, across all kinds of domestic, laboring, cosmopolitan, rural, and political spaces, but they worry even more about what it would mean not to be framed by them.38

Auf der einen Seite bezieht sich sentimentale Unterhaltung auf soziale Konflikte und Machtverhältnisse, um eine intime Öffentlichkeit zu adressieren und als (Konsum-)Gemeinschaft zu formen, das heißt, Zweifel an den Bedingungen von Normalität im Bereich intimer Beziehungen zu artikulieren. Hierin besteht das kritische Potential sentimentaler Unterhaltung. Auf der anderen Seite kann Kritik nicht ausformuliert werden, wenn an Vorstellungen von Normalität und „Okay- ness“ als erreichbares, erstrebenswertes Ziel festgehalten wird. Berlant veran-

36 Ebd., S. 12. 37 Ebd., S. 9. 38 Ebd., S. 27.

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schaulicht dies an der präferierten Thematisierung patriarchaler Familienbezie- hungen:

For example, the critique of patriarchal familialism that sentimental texts constantly put forth can be used to argue against the normativity of the family; at the same time, the sacred discourse of family values also sustained within this domain works to pre- serve the fantasy of the family as a space of sociability in which flow, intimacy, and identification across difference can bridge life across generations and model intimate sociability for the social generally.39

Wie am Beispiel von MODERN FAMILY zu sehen, ist die Familie zugleich Gegen- stand von Kritik an Normalisierung, als auch der Ort, an den weiterhin das Ver- sprechen sozialer Zugehörigkeit, Intimität und Identifikation gebunden ist. Der Modus des Sentimentalen ist aufgrund dieses konstitutiven Spannungsverhältnis- ses von Kritik und Affirmation von dem Versuch geprägt, Unversöhnbares ver- söhnen zu wollen („to reconcile the irreconcilable“40). Das Melodram sucht Lö- sungen für Probleme, die nicht gelöst werden können, ohne die emotionale Si- cherheit aufzugeben, die es wiederherzustellen verspricht.41 Daher treffen im Me- lodram an realen Machtverhältnissen orientierte Konflikte auf ‚fantastische‘ Lö- sungen. Williams veranschaulicht dies unter anderem am Beispiel von James

Camerons TITANIC (USA 1997). Darin werden das Konfliktpotential einer realen Klassengesellschaft in der Liebesgeschichte von Jack und Rose verdichtet und Klassengrenzen metaphorisch aufgehoben. Zugleich hält der Film jedoch am Be- gehren nach der Eleganz und dem Lebensstil der Oberschicht als erstrebenswert fest, wie sie nur in der kritisierten Klassengesellschaft möglich ist. Die moralische Legitimation, die der Unterschicht in der Figur des Jack zuge- schrieben wird, bleibt ohne Konsequenzen, Jack muss im Eismeer sterben.42 Der Bezug auf reale Machtverhältnisse ist von zentraler Bedeutung für das Sentimen- tale, jedoch werden sie in individualisierte Beziehungen und emotionale Begriffe übersetzt. Aus diesen ‚übersetzten‘ Machtverhältnissen werden die sozialen Kon-

39 Ebd., S. 21. 40 Williams, Race Card, S. 37. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 40.

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flikte, das Material sentimentaler Geschichten entwickelt. Zugleich generiert die Begrenzung in der Konventionalität die typischen „sensation scenes“43, in denen, was nicht artikuliert werden kann in Emotionalität dargestellt wird, entweder durch körperliches sichtbares Leiden oder wie Elsaesser für die Filme Douglas Sirks und Vicente Minelli beschrieben hat, im Décors, der Mise-en-scène und der Musik.44 Welche Figuren des Leidens von sentimentaler Unterhaltung präferiert wer- den, ist historisch spezifisch: „[Melodramatic modality] asks of the protagonists and actors available: who can personify – body forth in their physical presence, in the particularities of personality in their social representativeness – the cause of innocence, justice, hope?“45 Welche Figuren, welche Machtverhältnisse verallge- meinerndes Leiden herstellen, ist durch den jeweiligen historischen Kontext der Geschichte und der Rezeption bestimmt. Aufgrund dieser Mischung aus Reali- tätsbezug und symbolischer Funktion sind die Darstellungen sentimentaler Unter- haltung nur bedingt als authentische Artikulation derjenigen, die sonst nicht ge- hört werden zu verstehen,46 ihre Artefakte sind häufig von Vertreter/innen domi- nanter Positionen produziert.47 Das Melodram präferiert Opferperspektiven und subalterne Figuren, jedoch immer in der doppelten Funktion, reale Konflikte auf- zunehmen und sie zum Zweck sentimentaler Unterhaltung zuzuspitzen und zu- gleich Ambivalenz zu „managen“, so dass eine kritische Darstellung begrenzt ist. So ist zu verstehen, dass ausgerechnet US-amerikanische Massenunterhaltung marginalisierte, potentiell kritische Figuren präferiert.48 Unter Voraussetzung eines solchen Verständnisses kann sentimentale Unter- haltung als Ausdruck sowohl der kritischen wie affirmativen Aspekte von Adop-

43 Ebd., S. 18. 44 S. Elsaesser, Tales of Sound and Fury. 45 Gledhill, Rethinking genre, S. 238. 46 Elsaesser spricht von der „Eloquenz der Stummheit“, die sich im Melodram artikuliere (Thomas Elsaesser: „Melodrama: Genre, Gefühl oder Weltanschauung?“, in: Margrit Frölich, Klaus Gro- nenborn, Karsten Visarius (Hg.): Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram. Marburg 2008, S. 11-34, hier S. 14). 47 Vgl. Berlant, Female Complaint, S. ix; 6. 48 Vgl. Elsaesser, Melodrama: Genre, Gefühl oder Weltanschauung.

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tion verstanden werden. Adoption bezieht sich – wie in den anschließenden Ka- piteln zu sehen sein wird – auf vielfältige Machtverhältnisse, auf heteronormative Geschlechterordnung wie auch auf Klassen- und ‚Rassen’-Hierarchie. Im 20. Jahrhundert betrifft das Denken von Adoption die Frage, welche ökonomischen und klassenspezifischen Fähigkeiten die Definition guter Elternschaft und insbe- sondere Mutterschaft bedingen. Mit der Entstehung transnationaler Adoption stellt sich diese Frage auch bezüglich der Machtbeziehungen zwischen Nationen des politischen Nordens und Südens und des Verhältnisses zwischen Angehörigen Weißer und Nicht-Weißer ‚Rasse’. Mit seinen komplexen ambivalenten Machtbe- zügen liefert Adoption umfangreiches Material für sentimentale Geschichten. Ich verstehe sentimentale Unterhaltung hier als Ort der Artikulation von Machtver- hältnissen und als Ort, an dem die Möglichkeit der Artikulation von Kritik an die- sen Verhältnissen durch das Begehren nach Normalität begrenzt: „Utopianism is in the air, but one of the main utopias is normativity itself, here a felt condition of general belonging and an aspirational site of rest and recognition in and by a so- cial world.“49 Geschichten von Adoption bringen ein Unbehagen an der Normati- vität von Adoptivbeziehungen zum Ausdruck. In der Artikulation des Unbehagens liefern sie Hinweise auf die Machtbeziehungen, die Adoption bedingen. Zugleich scheinen sentimentale Adoptionsgeschichten besonders gut geeignet, das Verspre- chen von Normativität und Konventionalität zu reformulieren. In den hier untersuchten sentimentalen Darstellungen finden sich zahlreiche Hinweise auf die spezifischen Machtbeziehungen und Bedingungen, die Adoption im 20. Jahrhundert ihre Ambivalenz verleihen. Dies betrifft die Frage, unter wel- chen Umständen Kinder von den Herkunftseltern getrennt und mit den Adoptiv- eltern zusammengeführt werden, auf welche Weise das Adoptivverhältnis und das Verhältnis zu den ersten Eltern gedacht werden, wie mit der Differenz von Adop- tivbeziehungen im Gegensatz zu ‚normalen’ Familienbeziehungen umgegangen wird, wie mit Differenzen innerhalb der Adoptivfamilie bezüglich biologischer Beziehungen, Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ‚Rassen’, Nationen, Kulturen,

49 Berlant, Female Complaint, S. 5.

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Sprachen, Klassen. Adoptionsbeziehungen sind immer von einer ambivalenten Gleichzeitigkeit geprägt. Adoptierte sind zugleich Mitglieder der einen und der anderen Familie, Nation, Klasse, und im Fall transnationaler Adoption häufig auch ‚Rasse’. Die Konflikte in den Geschichten von Adoption rühren aus der Fra- ge, wie diese Gleichzeitigkeit wahrgenommen wird, ob als hierarchisches oder gleichwertiges Verhältnis, als Pluralität oder als Entweder/Oder. Hier geht es vor allem die Frage, inwiefern die Machtbeziehungen und ambivalenten Gleichzeitig- keiten von Adoption ein sentimentales Genießen befördern, worin das mit Adop- tion aufgerufene, zum Mitfühlen anregende Leiden besteht und mittels welcher diskursiver und ästhetischer Strategien Leiden gelindert, Normalität hergestellt wird. Unter Berücksichtigung, dass es sich um Darstellungen sentimentaler Unter- haltung handelt, wird verständlich, warum eine kritische Sicht von Adoption dort, wo sie droht, Vorstellungen von Normalität in Frage zu stellen, nur begrenzt arti- kulierbar ist. Trotz des Leidens und Klagen über die Bedingungen von Adoption in den diskutierten Darstellungen wird an einer erstrebenswert scheinenden Nor- malität festgehalten. Diese besteht hier am Festhalten an eindeutigen, einmaligen, ‚wahren‘ Familienbeziehungen und Identitäten. Das bedeutet jedoch, dass das utopische Potential von Adoption in den Geschichten unsichtbar wird. Ich argu- mentiere, dass diese Unsichtbarkeit des transgressiven Potentials von Adoption nicht als bloßes Zeichen reaktionärer Politik zu verstehen ist, sondern als Effekt der Konventionen des Sentimentalen. Dass das Sentimentale präferierter Darstel- lungsmodus ist, ist jedoch im Bezug auf die Machtverhältnisse zu verstehen, die Adoption bedingen. Eine Diskussion sentimentaler Darstellungen von Adoption in Begriffen progressiver und reaktionärer Politik greift zu kurz. Ich untersuche in dieser Arbeit die doppelte Botschaft sentimentaler Darstel- lungen von Adoption. Ich frage, wie in den sentimentalen Darstellungen Kritik an den Bedingungen und Machtverhältnissen artikuliert wird, die Adoption im 20. Jahrhundert auf historisch spezifische Weise formen. Außerdem betrachte ich die Begrenzungen dieser Kritik, die zugleich durch die Konventionen des Sentimen- talen bestehen und die auf diese Weise hergestellte Normalität. Die „negative

Aufladung“ von Adoption, auf die sich MODERN FAMILY so selbstverständlich

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beziehen kann, ist, so meine ich, ein verdichtetes Bild des Zusammenhangs zwi- schen Kritik, Affirmation und Sentimentalität, zwischen sentimentaler Unterhal- tung und Realitätsbezug in den Darstellungen von Adoption, der über die Grenzen des Fiktionalen hinaus die Emotionalität und das Denken von Adoption formt. In dieser Arbeit geht es um den Zusammenhang zwischen sentimentalen Darstellun- gen von Adoption, medial hergestellter Affektivität und den Möglichkeiten und Grenzen, Adoptivbeziehungen als eine zu konventionellen Familienformen kriti- sche Alternative zu denken, also auch um das Verhältnis von Sentimentalität und Kritik.

Moderne fürsorgerische Adoption

Bevor ich zu den Kapiteln und den darin untersuchten Darstellungen komme, möchte ich hier noch auf die historische Form von Adoption eingehen, die in die- ser Arbeit und in den Darstellungen vorausgesetzt wird. Als historisches Phäno- men verändern sich die als Adoption bezeichneten Praktiken wie auch ihre sozia- len Bedeutungen. Die Form der Adoption, die hier gemeint ist, setzt ihrerseits ein Konzept der modernen, abendländischen, auf Intimität basierenden Kernfamilie voraus, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert entsteht.50 In diesem Zusammenhang ist mit Adoption hier die Aufnahme eines fremden Menschen in den Bereich emo- tionaler Nähe und Fürsorge gemeint. Diese Form von Adoption wird mittels der Figur des „Adoptionsdreiecks“ gedacht, bestehend aus der „abgebenden“ Mutter, den Adoptiveltern und den Adoptivkindern.51 Historiker/innen setzen eine Zäsur in der Geschichte der Adoption mit dem 1851 in Massachusetts kodifizierten „Act to Provide for the Adoption of Chil- dren“, das als erstes modernes Adoptionsgesetz gilt. An diesem historischen Wendepunkt werde Adoption zum ersten Mal im modernen Sinn als Fürsorgever- hältnis definiert und nicht mehr als privatrechtlicher Vertrag zur Erbschaftsrege-

50 Vgl. zur Geschichte der Kernfamilie Philippe Ariès: Die Geschichte der Kindheit. München 1978 (i.O. 1960); Rebekka Habermas: „Bürgerliche Kleinfamilie – Liebesheirat“, in: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Köln u.a. 2001, S. 287-309. 51 S. Annette Baran, Arthur D. Sorosky, Reuben Pannor: The Adoption Triangle. Sealed or Opened Records: How They Affect Adoptees, Birth Parents, and Adoptive Parents. New York 1978.

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lung oder Besitzanzeige über ein Kind, das als Hausangestellte oder Lehrling („indenture“) ins Haus genommen wird.52 Die moderne Form der Adoption wird von einer antiken römischen Rechtstradition abgegrenzt, nach der Adoption die Funktion zukommt, Besitz und Namen der Familie zu erhalten. In dieser Funktion bedeutet Adoption einen privatrechtlichen Vertrag zwischen Adoptierten und Ad- optierenden zu schließen.53 Im römischen Sinn gilt Adoption als ein rechtliches Instrument des pater familias, die Unterbrechung natürlicher Nachkommenschaft durch „künstliche“ Nachfolge zu verhindern.54 Adoption in dieser Funktion der formalen Aufrechterhaltung der Genealogie gilt als Instrument der Führungs- schicht mit vorrangig politischer Bedeutung.55 Diese Form der Adoption ist männ- lich kodiert, die für moderne Adoption zentrale Frage der Mutterschaft ist in die- sem Zusammenhang nebensächlich.56 Ein solches Verständnis von Adoption ist tatsächlich ganz anderer Natur als das uns heute vertraute. Mit dem Gesetz von Massachusetts Mitte des 19. Jahr- hunderts wird Adoption als Instrument definiert, eine Familie nicht nur im materi- ellen, sondern im moralischen und emotionalen Sinn zu begründen. Vorausset- zung ist ein richterlicher Akt, der alle rechtlichen Bindungen zwischen biologi- schen Eltern und Kind aufhebt und das Verhältnis zwischen Adoptiveltern und - kindern dem biologisch begründeter Familienverhältnisse gleichsetzt.57 Dies ent- spricht der bis heute praktizierten jugendfürsorgerischen Form der Adoption.58 Adoption wechselt von einer Sonderform des Erbrechts, ohne familienrechtliche Effekte, zu einem Instrument an der Grenze von öffentlicher und privater Für- sorge, die das „Kindeswohl“, die „best interests of the child“, zur primären Orien-

52 Carp, Introduction. 53 Anneke Napp-Peters: Adoption. Das alleinstehende Kind und seine Familien. Geschichte, Rechtsprobleme und Vermittlungspraxis. Neuwied, Darmstadt 1978, S. 11. 54 Christoph Neukirchen, Die rechtshistorische Entwicklung von Adoption. Frankfurt am Main. 2005, S. 5f. 55 Ebd., S. 3. 56 Ebd., S. 30; 45; vgl. auch Bernhard Jussen: Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Göttingen 1991. 57 Carp, Introduction, S. 5f.; Napp-Peters: Adoption, S. 11f. 58 Napp-Peters, Adoption, S. 10.

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tierung hat.59 Das Verständnis moderner Adoption ist an einem Prinzip des „Kin- deswohls“ ausgerichtet, einhergehend mit der radikalen Auflösung der Beziehun- gen zwischen Herkunftseltern und Kind und staatlicher Aufsicht des Adoptions- prozesses. Das Gesetz von Massachusetts definiert die Aufgabe der Adoption im Gegensatz zum antiken Modell dadurch, eine emotionale Familie zu begründen, Familienbildung unabhängig von blutsverwandtschaftlichen Bindungen zu ermög- lichen: „Instead of defining the parent-child relationship exclusively in terms of blood kinship, it was now legally possible to create a family by assuming the responsibility and emotional outlook of a biological parent.“60 Verstanden als Instrument emotionaler Beziehungen verschränken sich im Laufe des 20. Jahrhunderts im Denken von Adoption hierarchische Beziehungen zwischen Nationen, Geschlechtern, ‚Rassen‘ und Klassen mit individuellen Be- ziehungen, Liebe und Verlust im engsten Familienraum. Politische Machtverhält- nisse sind in Zusammenhang mit Adoption auf untrennbare Weise mit Intimität und Emotionalität verbunden.61 Die Untrennbarkeit überindividueller Machtver- hältnisse und intimer Beziehungen produziert die charakteristische Ambivalenz von Adoption und die Schwierigkeit, Kritik zu formulieren. Zugleich ist Adoption aufgrund dieser komplexen Verschränkung von Macht und Emotionalität so at- traktiv für das Erzählen sentimentaler Geschichten.

Mutteropfer und Identitätskrise. Sentimentale Topoi von Adoption

Diese Arbeit besteht aus zwei Teilen, in denen von zwei zentralen Topoi62 des Leidens im sentimentalen Denken von Adoption ausgegangen wird. Ich untersu-

59 Carp, Introduction, S. 5, Napp-Peters, Adoption, S. 10. 60 Carp, Introduction, S. 6. 61 Vgl. zu einer ähnlichen Verschränkung im kolonialen Diskurs Ann Laura Stoler: Carnal Know- ledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule. Berkeley, Los Angeles 2002. 62 Topoi, rhetorische Gemeinplätze, formelhafte Wendungen, Metaphern, sind als Gemeinplätze allgemein bekannt und in diesem Sinne real und wirkmächtig. Das bedeutet auch als solches von vielen geteilt zu werden, das heißt, sie sind Orte der Mitteilung, Vermittlung und Kommunikation. Zugleich weisen Topoi verschliffene Bedeutungen auf, deren Geschichtlichkeit nicht wahrge- nommen wird, die selbstverständlich erscheinen. Als gleichermaßen rhetorische Elemente wird deutlich, dass diese Selbstverständlichkeit normativ, von Interessen bestimmt ist. Ein Topos ist

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che die Topoi des Leidens als Verdichtungen kritischer Darstellungen von Macht- verhältnissen und affirmativer Bewegung. Wie in den Darstellungen das Leiden begründet und aufgelöst wird, ist entscheidend für die Frage der Artikulations- möglichkeiten von Kritik und der Konsolidierung von Konventionalität. Der erste Topos betrifft die Figur der „abgebenden“ Mutter. Im Adoptionsdiskurs des 20. Jahrhunderts wird die „abgebende“ Mutter zugleich heroisiert und ausgeblendet. Die Trennung von Mutter und Kind wird auf eine als heldenhaft und freiwillig gedachte Entscheidung der Mutter zurückgeführt. Zugleich ist die Entscheidung zur Abgabe des Kindes der Moment, in dem die „abgebende“ Mutter aus dem Denken der Adoptionsbeziehungen verschwindet. Das Muttersein der „abgeben- den“ Mutter besteht in diesem als selbst gewählt dargestellten Unsichtbarwerden. Insofern ist die Figur der „abgebenden“ Mutter für das Denken von Adoption von zentraler Bedeutung aufgrund ihrer Entscheidung zur Abwesenheit. Auf welche Machtverhältnisse ist dieses spezifische Denken „abgebender“ Mutterschaft zu- rückzuführen? Inwiefern ermöglicht und fördert die Figur der „abgebenden“ Mut- ter sentimentales Mitleiden und Genießen? Um diese Fragen zu beantworten betrachte ich im ersten Teil den Topos he- roischer, leidender Mutterschaft in ihrer spezifischen Verkörperung im Holly- woodmelodram. Das Hollywoodmelodram hat eine eigene Tradition von Figuren von Mutterschaft entwickelt, mütterliches Leiden zu heroisieren.63 Die von Willi- ams beschriebene für sentimentale Unterhaltung typische Opferposition nehmen im hier diskutierten Hollywoodmelodram mütterliche Figuren ein, die Kritik und Affirmation dominanter Vorstellungen von Weiblichkeit, Mutterschaft und Fami- lie verkörpern. Ich betrachte einen der diesbezüglich prominentesten Filme, STEL-

LA DALLAS (USA 1937, R: King Vidor). In einer Revision untersuche ich die spe- zifische Inszenierung leidender Mutterschaft in STELLA DALLAS. Im Gegensatz zu anderen Hollywoodmelodramen besteht das mütterliche Leiden in STELLA DAL-

LAS nicht darin, sich für das Kind aufzuopfern, sondern Mutterschaft selbst zu op-

eine lokale, räumliche Größe, womit auf Materialität und räumliche Grenzen Bezug genommen wird. In diesem räumlichen, performativen Sinn kennzeichnen Topoi zugleich Vorstellungsgren- zen (vgl. Donna Haraway: Modest_Witness@Second_Millenium.FemaleMan©_Meets_ On- coMouse™. Feminism and Technoscience. New York, London 1997, S. 11). 63 Vgl. Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 42.

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fern und dadurch die Adoption des Kindes von einer ‚angemesseneren’ Familie zu ermöglichen. Diese wichtige Differenz in STELLA DALLAS‘ ist bisher nicht be- schrieben worden. Meine These ist, dass sich das spezifische Mutteropfer in

STELLA DALLAS aus der Hollywood-Konvention heroischer Mutterschaft ergibt, diese jedoch zugleich variiert, da es eine Verbindung zu Adoption herstellt. Ich behaupte, dass in STELLA DALLAS ein Bild der „abgebenden“ Mutter entworfen wird, wie es im sentimentalen Denken von Adoption bis heute virulent ist. Heroi- sche, leidende Mutterschaft, wie sie die Protagonistin Stella verkörpert, ist charak- teristisch für das sentimentale Denken von Adoption. Ich möchte argumentieren, dass die Widersprüchlichkeit und Sentimentalität der Figur der „abgebenden“ Mutter in Hinblick auf die sentimentalen Konventionen zu verstehen sind, aus de- nen sie generiert wird.

Die fiktive Darstellung in STELLA DALLAS bezieht sich auf eine ‚reale’ Machtkonstellation, in der sich die Frage ‚guter’ Mutterschaft mit ökonomischer Privilegierung und Klassendifferenz verschränken. Ich gehe in diesem ersten Teil den Hinweisen auf eine klassenspezifische Familienordnung und den Konsequen- zen für die Legitimierung von Mutterschaft nach. Dabei lässt sich anhand von

STELLA DALLAS neben hierarchischen Geschlechterverhältnissen insbesondere ein Bezug auf einen biopolitisch bestimmten Familiendiskurs nachvollziehen, wie er von Michel Foucault und Jacques Donzelot beschrieben wird. Wie entscheidend für STELLA DALLAS der Bezug zur Klassendifferenz ist, lässt sich in einem Ver- gleich mit anderen Hollywoodmelodramen, MILDRED PIERCE (USA 1945, R: Mi- chael Curtiz), ALL I DESIRE (USA 1953, R: Douglas Sirk) und THE BLIND SIDE

(USA 2009, R: John Lee Hancock) erkennen. Anhand von STELLA DALLAS lässt sich nachvollziehen, wie sich aus der Konvention sentimentaler Darstellung her- aus die Notwendigkeit ergibt, die Figur der „abgebenden“ Mutter zu heroisieren. Biopolitisch bestimmte Klassenhierarchie wird darin zugleich benannt und konso- lidiert. In Betrachtung der sentimentalen Inszenierung „abgebender“ Mutterschaft in STELLA DALLAS wird die Ambivalenz dieser zentralen Figur in ihren kritischen – bezüglich des impliziten Wissens um die Klassenhierarchie – und affirmativen Aspekten – in Bezug auf die Konsolidierung von Klassenhierarchie durch die He- roisierung der „Abgabe“ – nachvollziehbar. Ich behaupte, dass die Figur der „ab-

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gebenden“ Mutter aufgrund dieser, in sentimentalen Konventionen bedingten Ambivalenz, für die „negative Aufladung“ moderner Adoption wesentlich ist. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich einem weiteren zentralen Topos im sentimentalen Denken von Adoption, die Identitätskrise der Adoptierten. Eine kri- senhafte Adoptionsidentität ist nicht nur Gegenstand umfangreicher psychologi- scher und Ratgeberliteratur, sie ist auch Allgemeinplatz eines Diskurses, der von erwachsenen Adoptierten selbst geführt wird.64 Die Krisenrhetorik beinhaltet das Sprechen von einem Gefühl der ‚Entwurzelung’, das auf die Trennung von Her- kunftsmutter und -kultur zurückgeführt wird.65 Ich argumentiere, dass sich ausge- hend von der sentimentalen und nostalgischen Figur der ‚Entwurzelung’ die Machtverhältnisse nachvollziehen lassen, die Adoption seit Ende des 20. Jahrhun- derts bestimmen. Klassen- und Geschlechterverhältnisse sind dabei weiterhin wichtig, sie werden jedoch um Fragen von ‚Rassendifferenz’ und zum Verhältnis zwischen „abgebenden“ und „annehmenden“ Nationen erweitert. In diesem zwei- ten Teil betrachte ich, inwiefern der Topos der Identitätskrise als sentimentaler verstanden werden kann. Wie artikuliert sich darin ein implizites Machtwissen und wodurch wird dieses wiederum begrenzt? Worin besteht die Attraktivität der Adoptionskrise für sentimentale Darstellungen? Diese Fragen lassen sich anhand eines eigenen „Adoptionsgenre“ betrachten, das gegen Ende des 20. Jahrhunderts entsteht.66 Dabei handelt es sich um meist autobiographische und dokumentarische Darstellungen erwachsener transnational Adoptierter. Zeitpunkt und Inhalt dieser Darstellungen ist historisch durch das Aufkommen institutionalisierter, transnationaler Adoption Mitte des 20. Jahrhun- derts bedingt. Im Kontext infrastruktureller und medialer Aspekte der Globalisie- rung (internationaler Flugverkehr, weltweite Berichterstattung und Kommunikati- onsmöglichkeiten) und internationaler politischer und militärischer Beziehungen

64 Vgl. Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin, Jane Jeong Trenka: Introduction, in: dies. (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 1-15. 65 Ich komme auf die Figur der ‚Entwurzelung’ im dritten Kapitel zurück. 66 Vgl. zur Herausbildung eines spezifischen Adoptions-„Genre“: Eleana Kim: „Korean Adoptee Auto-Ethnography. Refashioning Self, Family and Finding Community“. Visual Anthropology Review, Vol. 16, Nr. 1 (2000), S. 43-70.

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(alliierte Besatzungen in Europa und Asien nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges) erweitert sich das Denken moderner Adoption nach dem Zweiten Weltkrieg um die Frage nach ‚rassischer‘ und nationaler Differenz. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird transnationale Adoption symbolisch zur signifikanten Form von Adoption, die, wie im eingangs zitierten

Beispiel aus MODERN FAMILY, als ‚Rassen’-Grenzen überschreitende Konstella- tion Weißer Eltern und Nicht-Weißer Kinder gedacht wird. Die hier betrachteten Darstellungen erwachsener Adoptierter sind eine Folge dieser spezifischen Adoptionsgeschichte. Auch sie folgen einer sentimentalen Konvention, der Narration der Heimkehr. Sie verbinden Reise- und Heldenerzäh- lung. Von den zahlreichen ‚kleinen’ Produktionen betrachte ich exemplarisch zwei bekanntere Beispiele, DAUGHTER FROM DANANG (USA 2002, R: Gail Dol- gin, Vicente Franco) und FIRST PERSON PLURAL (USA 2000, R: Deann Borshay Liem). Es handelt sich in beiden Fällen um Fernsehproduktionen, die einem grö- ßeren Publikum zugänglich sind. Ich betrachte die Darstellungen von Adoption entlang dreier zentraler narrativer Stränge: 1. Entstehungsgeschichten sowohl transnationaler Adoption als auch individueller Adoptivfamilien; 2. Thematisie- rung von ‚Rassendifferenz‘ und 3. ambivalentes Heimatbegehren. Alle drei Strän- ge werden in den Filmen vom Topos der Identitätskrise der Protagonistinnen aus entwickelt. Ich betrachte, wie sich in den narrativen Strängen niederschlägt, was bezüglich des Verhältnisses von ‚Rasse’, Klasse und Geschlecht und transna- tionaler Adoption zu kritisieren ist und wie die Artikulation von Kritik wiederum durch sentimentale Konventionen begrenzt wird. Ein Vergleich von DAUGHTER

FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL bietet sich an, da beide bereits als ge- gensätzliche Strategien verfolgend diskutiert werden.67 Ich möchte anhand der Ähnlichkeiten der Figuren, Narrationen und Emotionalisierungen zeigen, wie die Darstellung von Adoption über individuelle Autorschaft hinausgehend von den kritischen und affirmativen Konventionen des Sentimentalen bestimmt wird.

67 Paul Gregory Choy, Catherine Ceniza Choy: „What Lies Beneath. Reframing Daughter from Danang“, in: Jane Jeong Trenka, Julia Chinyere Oparah, Sun Yung Shin (Hg.): outsiders within. Writing on Transracial Adoption. Cambridge, MA 2006, S. 221-231.

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Während sich der erste Teil dieser Arbeit der Diskussion von Weiblichkeit, Mutterschaft im Verhältnis zu Klassendifferenz und Hollywoodkino widmet, geht es im zweiten Teil um das Verhältnis von sozialer, kultureller Identität, ‚Rasse’ und dokumentarischem Fernsehen. In den im zweiten Teil betrachteten autobio- graphischen Fernsehdokumentationen sind andere Machtbezüge nachvollziehbar, aber auch der Modus des Sentimentalen ändert sich. Die Thematisierung globali- sierter Familienbeziehungen korrespondiert mit der globalen Sicht, die das Me- dium Fernsehen zu vermitteln scheint. Der Topos der Krise der Identität der Ad- optierten wird in seinen Machtbezügen betrachtet, wie auch in Hinblick auf die Wiederherstellung einer Fantasie von Zugehörigkeit, die an konventionellen Fa- milienbeziehungen, trotz aller Widersprüche, Ambivalenzen und Nichtsagbarkei- ten als einzig denkbarer Antwort festhält. Die gegenwärtige „negative Aufladung“ von Adoption hat entscheidend mit dem Topos der Identitätskrise der Adoptierten zu tun, die in der Erfahrung der Trennung von den Herkunftseltern und von ‚Ent- wurzelung’ begründet scheint. Ich argumentiere, dass die Dominanz von Krisen- erzählungen – die „negative Aufladung“ – transnationaler Adoption in Zusam- menhang mit den Konventionen des Sentimentalen zu verstehen sind.

Neben dem Zitat der „negativen Aufladung“ von Adoption beinhaltet MO-

DERN FAMILY eine These zum Verhältnis von Unterhaltungskultur und dem ernst- haften Sprechen von den darin behandelten Gegenständen. Oprah, die außer- ordentlich erfolgreiche und für ihre melodramatischen Geschichten bekannte Talkshow,68 droht die negative Aufladung von Adoption über das Fernsehen hin- aus zu vermitteln. Die Serie formuliert in diesem Verweis auf Oprah eine weitere Voraussetzung dieser Arbeit. Ich gehe davon aus, dass ein produktiver Zusam- menhang zwischen den hier untersuchten sentimentalen Darstellungsweisen und dem Denken von Adoption jenseits von Unterhaltungskultur hinaus. Ich meine, dass der Modus der Darstellung, der uns aus massenmedialer Unterhaltungskultur vertraut ist, auf komplexe Weise unsere Anschauung der darin behandelten Dinge beeinflusst.69 In diesem Fall wird der Möglichkeitsraum und die Grenzen des

68 Vgl. Elsaesser, Melodrama: Genre, Gefühl oder Weltanschauung. 69 Zum Modus der Darstellung anstelle des Genre-Begriffs vgl. Gledhill, Rethinking genre.

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Denkens von Adoption durch die Art und Weise, wie es in sentimentaler Unter- haltung erscheint, mit bestimmt. Ich setze eine Wechselwirkung zwischen senti- mentaler Unterhaltung und ernsthaftem Sprechen von Adoption voraus, die weder bloße Reflexion von Realität in den Medien bedeutet70 noch einseitige Manipula- tion durch die mediale Darstellung. Die „negative Aufladung“ von Adoption in- spiriert das Erzählen unterhaltsamer und ernsthafter Geschichten, wodurch die „negative Aufladung“ von Adoption wiederum verstärkt wird.

Adoption als Medium des Sentimentalen

Worin besteht das sentimentale Genießen dieser Geschichten biopolitisch be- dingter Elternschaft und krisenhafter ‚Entwurzelung’? In Zeiten in denen sich Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen zunehmend unterschiedlich zusam- mensetzen, temporär sind, globalisiert, (durch Reproduktionsmedizin) technisiert können mittels Adoptionsgeschichten Ängste artikuliert werden, die aufkommen, wenn der Freudsche Familienroman ‚real‘ zu werden scheint und uneindeutige Familienbeziehungen konventionell werden. Die Annahme, Verwandtschaftsbe- ziehungen setzten bestimmte biologisch definierte, körperliche Beziehungen vor- aus, verliert spätestens mit der Geburt des ersten IVF-Kindes Louise Brown 1978 an Selbstverständlichkeit. Was aufgrund des Einsatzes von Reproduktionsmedizin offensichtlich wird, ist seit längerem ein Aspekt der Familienbildung durch Ad- option. Adoption und der Einsatz von reproduktionsmedizinischen Techniken er- zeugen eine neue Qualität intendierter und offensichtlicher „kontingenter Grund- lagen“ von Verwandtschaft. Der Umgang mit dieser neuartigen Kontingenz von Verwandtschaft, dem Umstand, dass die Grundlagen intimer, fürsorgerischer Be- ziehungen in einem gewissen Maß diffus und dem Zufall ausgesetzt sind, stellt für das Denken von Familie und Verwandtschaft, das konventionell Eindeutigkeit be- hauptet, keine kleine Herausforderung dar. Adoptionsgeschichten erzählen zu- gleich von historisch spezifischen Bedingungen von Adoption und von allgemein gültiger Konfrontiertheit mit der Kontingenz der Grundlagen sozialer Sicherheit.

70 Vgl. Williams, Race Card, S. 240.

Einleitung 33

Adoption kann als Stellvertreterfigur und Medium verstanden werden, mittels de- rer die vielfältigen berührten Aspekte Geschlecht, ‚Rasse’, Klasse, Globalisierung, Biopolitik, Technisierung in ihrer verschränkten Bedeutung für Familie in den Blick genommen, Hoffnungen und Ängste artikuliert und gebannt zu werden scheinen. Diese Arbeit verfolgt das Anliegen, auf die polarisierte Diskussion von Ad- option eine andere Perspektive einzunehmen. Die Darstellungen von Adoptierten selbst können als biologistisches Verkennen verstanden werden. Die Frage der Biologie, die doch gerade durch Reproduktionstechniken wie der Adoption als obsolet verabschiedet wurde, wird hier von den Kindern der progressiven Politik und Theorie wieder eingeführt, häufig verbunden mit der Äußerung der Hoffnung, im Zusammentreffen mit Herkunftseltern und -land eine emotionale und identitäre Stabilität zu erlangen, die innerhalb von Adoptivbeziehungen nicht möglich scheint. Ein ähnliches Phänomen zeichnet sich auch hinsichtlich der Reprodukti- onsmedizin ab. „Stina“, die Begründerin der ersten deutschsprachigen Internet- seite von mittels Samenspende gezeugter Menschen („Donor-Kinder“) informiert die digitale Öffentlichkeit darüber, wie schockiert sie war, zu erfahren, dass sie mittels einer Samenspende gezeugt wurde.71 Auch Stina versucht, ihren biologi- schen Vater ausfindig zu machen und beruft sich auf das „Recht eines Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung“.72 Auf der einen Seite scheinen Praktiken wie Adoption und der Einsatz von Re- produktionsmedizin einer ent-essentialisierenden Weltsicht Vorschub zu leisten. Auf der anderen Seite begünstigt der Blick auf die Macht durchzogenen materiel- len Bedingungen dieser Praktiken biologistische Positionen. Mit Donna Haraway lässt sich dieses Dilemma als Konflikt zwischen Körper und Sprache, Sozialkon- struktivismus und Empirismus, Relativismus und Positivismus beschreiben.73 Auf der einen Seite steht die Vorstellung, dass ‚alles‘ kulturell konstruiert ist, also

71 S. www.spenderkinder.de/Main/Startseite (zuletzt aufgerufen am 7.10.2011). 72 S. www.spenderkinder.de/Main/DieRechtlicheSituation (zuletzt aufgerufen am 7.10.2011). 73 Donna Haraway: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frau- en. Frankfurt am Main 1995, S. 73-97.

Einleitung 34

auch das, was wir als Verwandtschaft verstehen, was eine gewisse Beliebigkeit in der Herstellung dieser Beziehungen impliziert. Auf der anderen Seite steht das Zögern, ein Verständnis von Körperlichkeit und Materialität voreilig aufzugeben und damit möglicher Weise Machtverhältnisse nicht adäquat beschreiben zu kön- nen. Für Haraway kann dies keine Frage des Entweder/Oder sein, wie sie in ihrem methodisch-epistemologischen Aufsatz „Situiertes Wissen“ schreibt:

Daher glaube ich, daß mein und ‚unser‘ Problem darin besteht, wie wir zugleich die grundlegende historische Kontingenz aller Wissensansprüche und Wissenssubjekte in Rechnung stellen, eine kritische Praxis zur Wahrnehmung unserer eigenen be- deutungserzeugenden, ‚semiotischen Technologien‘ entwickeln und einem nicht- sinnlosen Engagement für Darstellungen verpflichtet sein könnten, die einer ‚wirk- lichen‘ Welt die Treue halten […].74

Ich verstehe hier den Modus des Sentimentalen als „semiotische Technologie“. Die Beschreibung der Produktion von Sichtweisen ermöglicht eine Darstellung der Welt, die weder einer konstruktivistischen Beliebigkeit der Verhältnisse das Wort redet, noch empirisch unvermittelt zugängliche Wahrheiten und Körper be- hauptet. Ich möchte behaupten, dass die ‚biologistischen‘ Rückwendungen der Adoptierten selbst im Zusammenhang mit dem gesehen werden müssen, was die sentimentale Form sowohl an Kritik ermöglicht, als auch verstellt. Eine Betrach- tung der Darstellungen von Adoption als sentimentale Unterhaltung ermöglicht es sowohl nachzuvollziehen, was an Adoption als historischer Praxis zu kritisieren ist, als auch was jenseits eines Rückbezugs auf konventionelle Familie und Hei- mat nicht artikuliert werden kann. Aufgrund der sentimentalen Darstellung er- scheint die Kritik als Einforderung dessen, was als normal verstanden wird, ein- deutige Familienbeziehungen und Zugehörigkeit. Das Denken von Adoption zeichnet einen ähnlichen Konflikt aus, wie ihn Ju- dith Butler in ihrem Aufsatz bezüglich liberaler schwul/lesbischer Familienpolitik beschreibt. Der Einsatz für die Ausweitung von Ehe- und Familienrechten auch für homosexuelle Paare bestätigt auf der einen Seite konventionelle (patriarchale) Konzepte exklusiver Verwandtschaft und nationaler Identität und produziert neue

74 Ebd., S. 78. Herv. i.O.

Einleitung 35

Bereich des Illegitimen.75 Auf der anderen Seite argumentieren konservative Posi- tionen gegen Adoptionsrechte und Ansprüche auf Reproduktionstechnologien für Schwule und Lesben, mit der Behauptung, gleichgeschlechtliche Elternschaft stel- le eine Bedrohung der Grundlagen abendländischer Kultur und kultureller In- telligibilität selbst dar.76 Butler verortet die im rechten Lager formulierten Positio- nen in einer übergeordneten Diskussion nationaler und ‚rassischer Reinheit‘, in- nerhalb derer sich die ‚Verteidigung der Kultur‘ mit der Verteidigung der hetero- sexuellen, Weißen Familie überlagert.77 Eine kritische Haltung gegenüber libera- len Forderungen sieht sich also in unangenehmer Nähe zu homophoben und ras- sistischen Positionen. Wie bereits in früheren Texten78 versucht Butler, in der ta- gespolitischen Auseinandersetzung das weiter gehende Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, den Bereich dessen, was als Verwandtschaftsbeziehung denkbar ist und Gültigkeit beanspruchen kann, zu erweitern. Ihre kritische Haltung gegenüber liberaler schwul/lesbischer Politik rührt aus der Frage danach, was verloren geht, wenn an Ehe und Kernfamilie (ob homo- oder heterosexuell) als einzigem legiti- men Ort der Fürsorge, Sexualität und sozialen Beziehung festgehalten wird:

[The] task at the end is to rework and revise the social organization of friendship, se- xual contacts, and community to produce non-state-centered forms of support and al- liance, because marriage [und Adoption, A.M.], given its historical weight, becomes an ‚option‘ only by extending itself as a norm (and thus foreclosing options), one that also extends property relations and renders the social forms for sexuality [und Ge- schlecht, ‚Rasse’, Klasse, A.M.] more conservative.79

Mit Butler stellt sich die Frage nach neuen Formen von Verwandtschaft hinsicht- lich nicht nur einer Wahlfreiheit verschiedener Lebensmodelle, sondern vor allem hinsichtlich der Denk- und Lebbarkeit von Formen des Sozialen, die sich tatsäch- lich jenseits konventioneller Formen familiären, verwandtschaftlichen Zusam-

75 Judith Butler: „Is Kinship Always Already Heterosexual?“, in: dies.: Undoing Gender. London, New York 2004, S. 102-130, hier S. 105. 76 Ebd., S. 110ff. Butler zitiert die französische Philosophin Sylviane Agacinski. 77 Ebd. 78 Vgl. Judith Butler: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of „Sex“. New York, London 1993; dies.: Antigone‘s Claim. Kinship between Life and Death. New York 2000. 79 Butler, Is Kinship Always Already Heterosexual, S. 109.

Einleitung 36

menlebens befinden. Diesen Raum denk- und lebbarer Verwandtschaftsformen zu erweitern, ist notwendig, um nicht immer wieder neue Verwerfungen zu produzie- ren, die als melancholischer Untergrund auch das prägen, was als Norm angese- hen wird: „The life of sexuality, kinship, and community that becomes unthinka- ble within the terms of these norms constitutes the lost horizon of radical sexual politics, and we find our way ‚politically‘ in the wake of the ungrievable.“80 Adoption birgt das utopische Potential eines Denkens von Familie, Verwandt- schaft und Zugehörigkeit jenseits konventioneller Normen. Die sentimentalen Darstellungen von Adoption können als kritischer Ausdruck der historischen Machtverhältnisse von ‚Rasse’, Klasse und Geschlecht verstanden werden, die der Entfaltung des transgressiven Potentials von Adoption entgegenstehen. Zugleich beschränken sie die Möglichkeiten einer wirklichen Neuformulierung von Fami- lie, aufgrund des sentimentalen Versprechens, an vertrauten Begriffen und Bezie- hungen festhalten zu können. Um die Möglichkeiten der Kritik und die Produkti- vität der Affirmation im Denken von Adoption als alternativer Verwandtschaft zu verstehen, ist eine gleichzeitige Betrachtung seiner sentimentalen Form wie seiner diskursiven und historischen Bezüge notwendig.

80 Ebd., S. 130.

Teil 1: Nationale Adoption als Medium „idealer“ Mutterschaft

Das sentimentale Denken von Adoption ist von der Vorstellung eines „Adop- tionsdreiecks“ bestimmt, das aus der „abgebenden“ Mutter, den Adoptiveltern und dem (Adoptiv-)Kind besteht. Die Figuren der „abgebenden“ Mutter und des Kin- des sind in den hier untersuchten Beispielen stärker sentimental aufgeladen als die Figur der Adoptiveltern. Diese sind im sentimentalen Adoptionsdiskurs eher indi- rekt, als diejenigen, aus deren Perspektive der Diskurs geführt wird, präsent. Ihre tendenzielle Unsichtbarkeit als Blickinstanz ist in Bezug auf die untergründigen Machtverhältnisse von Adoption aufschlussreich. Im ersten Teil dieser Arbeit be- trachte ich die Figur der „abgebenden“ Mutter, die entscheidend für die „negative Aufladung“ von Adoption ist. Dabei geht es immer auch um das Verhältnis zur Figur der tendenziell unsichtbaren Adoptivmutter. Ich betrachte zunächst das dominante Adoptionsnarrativ der Kindesrettung und der ambivalenten Wahrnehmung der „abgebenden“ Mutter, die zwischen Schuldzuweisung und Heroisierung schwankt. Im ersten Teil dieser Arbeit geht es um die Frage, worin die Schuldzuweisung an die „abgebende“ Mutter im senti- mentalen Denken von Adoption besteht und wie sich zugleich die Notwendigkeit ihrer Heroisierung verstehen lässt. Exemplarisch betrachte ich die Darstellung der

„abgebenden“ Mutter im „Muttermelodram“ STELLA DALLAS. Im Kontext der Darstellungskonvention leidender Mutterschaft im Hollywoodmelodram frage ich nach der spezifischen Sentimentalität der Stella. Mit Blick auf zwei weitere ‚klas- sische’ Hollywoodmelodramen – MILDRED PIERCE und ALL I DESIRE – zeigt sich die zentrale Bedeutung von Klassendifferenz für die jeweilige Darstellung müt- terlichen, heroischen Leidens.

Im Vergleich von STELLA DALLAS und MILDRED PIERCE weise ich auf den Unterschied zwischen Entlastung von mütterlicher Verantwortung und mütterli- cher Verantwortung als Entlastung von Mutterschaft hin. Beide Formen heroi- schen mütterlichen Leidens verweisen auf ein biopolitisches Machtwissen, das ich anhand der Darstellung moderner Familienökonomie bei Foucault nachvollziehe. Ich argumentiere in einem ersten Schritt, dass die Sentimentalität des Mutterop- Teil 1: Adoption als Medium „idealer“ Mutterschaft 38

fers im Hollywoodmelodram als Gefühlsbild biopolitischer elterlicher Ver- antwortung zu verstehen ist. Eine weibliche intime Öffentlichkeit adressierend, widmet sich das Hollywoodmelodram insbesondere der ambivalenten Machtposi- tion der Mütter. Deren Autorität gegenüber dem Kind leitet sich aus der allumfas- senden Verantwortung für dasselbe ab, das heißt sie unterläuft sich permanent selbst. Ich argumentiere, dass das Muttermelodram Hollywoods ein Bild des Ge- fühls dieser paradoxen Position mütterlicher Autorität entwirft . In einem weiteren Schritt verweise ich auf einen klassenspezifischen diskur- siven Bezug auf Familie, der auch ein anderes sentimentales Genießen zur Folge hat. Die spezifische Differenz der Figur heroischer „abgebender“ Mutterschaft wird deutlich, wenn die Verschränkung ‚legitimer’ Elternschaft mit der Klassen- frage berücksichtigt wird, wie sie in STELLA DALLAS inszeniert wird. Während sich das sentimentale Genießen in MILDRED PIERCE auf die Legitimierung der

Trennung vom Kind durch eine äußere Instanz richtet, bezieht es sich in STELLA

DALLAS auf die Inszenierung einer ‚Selbsterkenntnis’ der Unterschichtsmutter. Diese Figur der Selbsterkenntnis wird in Bezug auf einen klassenspezifischen Diskurs des Sorgerechtsentzugs, wie ihn Donzelot darstellt, erkennbar als Refe- renz auf biopolitische Regulierung, die sich als Selbststeuerung niederschlägt. Der spezifische Machbezug besteht in STELLA DALLAS im Wissen um die Verschrän- kung von Elternschaft und Klassenzugehörigkeit und Erkenntnis als Instrument der Selbstsanktionierung. Die „negative Aufladung“ von Adoption rührt auch aus dem untergründigen Wissen um Adoption als Folge dieser klassenspezifischen

Familienökonomie, das die sentimentale Inszenierung in STELLA DALLAS andeu- tet. Das Hollywoodmelodram bezieht sich auf ein klassenspezifisches Familien- gefühl. Im Vergleich von STELLA DALLAS mit ALL I DESIRE wird deutlich, dass sentimentales Genießen in Bezug auf die bürgerliche Familie auf Wiederherstel- lung der Familieneinheit ausgerichtet ist, während es in der Darstellung der Un- terschichtsfamilie die Trennung von Mutter und Kind durch die biopolitische Fi- gur der Selbsterkenntnis legitimiert. Sentimentalität entsteht in STELLA DALLAS nicht allein aus diesem untergründigen Wissen um biopolitische Klassenhierar- chie. Ich argumentiere weitergehend, dass in STELLA DALLAS nicht nur die Tren-

Teil 1: Adoption als Medium „idealer“ Mutterschaft 39

nung von der Unterschichtsmutter und dem Kind Gegenstand des Sentimentalen ist, sondern auch eine bürgerliche Perspektive, aus der das Mutteropfer als macht- bedingte Selbstsanktionierung erkannt und zugleich befürwortet wird. Das spezi- fische Mutteropfer der „abgebenden“ Mutter hält den hegemonialen Status bür- gerlicher Elternschaft aufrecht. STELLA DALLAS erzeugt im empathischen Blick auf Stella eine Position, die um das unausgesprochene Machtverhältnis, das ‚gute’ Elternschaft an Klassenhierarchie bindet, weiß und dennoch an der Normativität bürgerlichen Familienideals festhält. Das Gefühlsbild, das STELLA DALLAS ent- wirft, entspricht nur bedingt der Perspektive der Unterschichtsmutter. Sentimen- tales Genießen richtet sich auch auf eine Perspektive ambivalenten Mitleidens und Befürwortens hierarchischer Verhältnisse.

STELLA DALLAS erzeugt das Gefühlsbild eines nicht artikulierten Machtver- hältnisses zwischen Müttern unterschiedlicher sozialer Schichten. Die These, dass sich die Sentimentalität des heroischen Mutteropfers der „abgebenden“ Mutter auf die ambivalente Legitimierung einer bürgerlichen Perspektive richtet, wird im

Vergleich mit einer aktuellen Darstellung unterstützt. Anhand von THE BLIND SI-

DE zeige ich, dass die Figur der heroischen „abgebenden“ Mutter weiterhin prä- sent ist, jedoch eine stärkere Notwendigkeit zur Rechtfertigung bürgerlicher Nor- mativität besteht. In STELLA DALLAS und THE BLIND SIDE überlagern sich die Perspektive einer innerdiegetischen „idealen Mutter“, Zuschauerperspektive und die einer „annehmenden“ Mutter. Den ersten Teil dieser Arbeit abschließend ar- gumentiere ich, dass die „negative Aufladung“ von Adoption mit dem nicht arti- kulierten Wissen um eine in die Machtbeziehungen involvierte Position der Ad- optiveltern zu tun hat, zugleich aus der ambivalenten Position „idealer Eltern“ ei- nen empathischen Blick auf die „abgebende“ Mutter richtend.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram. Biopo- litik und elterliche Entlastungsfantasie

1.1 Das Rettungsnarrativ der modernen Adoption

Im Jahr 1907 initiiert der in New York ansässige Delineator. A Journal of Fa- shion, Culture and Fine Arts auf Betreiben seines Herausgebers George Wilder eine besondere Reihe, die „Child Rescue Campaign“. Der Delineator ist zu dieser Zeit drittgrößte Frauenzeitschrift der USA mit fast einer Million Abonnent/innen, deren empathisches und moralisches Empfinden mit der „Child Rescue Cam- paign“ gefordert ist. Jeden Monat veröffentlicht die Zeitschrift Fotografien und Biografien von Kindern in öffentlichen Einrichtungen und ruft ihre Leser/innen dazu auf, eines davon zu adoptieren. Auf die ersten beiden auf diese Weise vorge- stellten Biografien gehen hunderte von Anfragen ein.81 Mehr als 2000 Kinder werden in den folgenden drei Jahren durch den Delineator zur Adoption vermit- telt.82 Der Historikerin Julie Berebitsky zufolge wird durch die „Child Rescue Campaign“ zum ersten Mal in der Geschichte der USA moderne, fürsorgerische Adoption in einer größeren Öffentlichkeit diskutiert. Die Zeitschrift bemühe sich in der Darstellung ihrer Kampagne darum, mögliche Vorbehalte der Leser/innen gegenüber der Adoption fremder Kinder auszuräumen. So wirbt sie für ein Ver- ständnis von Mutterschaft unabhängig von biologischen Beziehungen und als all- gemeine weibliche Fähigkeit, ein Kind zu lieben und aufzuziehen. Außerdem werde der Eindruck vermittelt, Adoption sei eine Art patriotischer Bürger/innen- pflicht, da die Kinder eine potentielle Bedrohung für die gesamte Gesellschaft darstellten, sollten sie nicht unter den Einfluss mütterlicher Fürsorge gelangen.83 Eine weitere Strategie, die Leser/innen des Delineator für die „Child Rescue Campaign“ zu gewinnen, sieht Berebitsky in der formalen Präsentation der Bio-

81 Julie Berebitsky, Rescue a Child, S. 124. 82 Ebd. S. 125. 83 Ebd. S. 127. Bei den vorgestellten Kindern handelt es sich mehrheitlich um migrantische Kind- er, weshalb mit einem nationalistischen Interesse argumentiert wird (s. ebd. S. 128). 1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 41

grafien. Diese folgt einer literarischen Konvention, die Berebitsky als „rescue fic- tion“ bezeichnet. Das Rettungsnarrativ stellt die Kinder als Opfer tragischer Schicksale, als von den Eltern vernachlässigt oder als verwaist dar. Adoption er- scheint als glückliche Fügung: „The rescue plot gave readers the thrills of a tra- gedy with the comfort of a happy ending.“84 Aufgrund der aus fiktionaler Litera- tur vertrauten Narration sei es den Leser/innen möglich gewesen, einen direkten Zusammenhang zwischen den geschilderten Schicksalen der Kinder und ihrer ei- genen Position herzustellen:

Familiarity with the rescue convention provided the readers with a clear blueprint for action: the stories described children in desperate circumstances – all that was left was for the Delineator‘s readers to step in and rescue the children from their immi- nent fate.85

Der Delineator ermöglichte so nicht nur den sentimentalen Genuss tragischer Ge- schichten, sondern verstärkte zusätzlich ihren Reiz durch die Aussicht, selbst in- volviert zu werden und das happy ending durch eigenes Engagement herbeizufüh- ren.

1.1.1 „Supreme maternal sacrifice“. Heroisierung der „abge- benden“ Mutter

Rettungsnarrationen wie sie Berebitsky anhand der „Child Rescue Campaign“ un- tersucht, sind in der Darstellung von Adoption bis heute populär.86 Aus der spezi- fischen Involviertheit der Leser/innen, die Berebitsky auf die Mischung von Fakt und Fiktion zurückführt, lässt sich die Bedeutung des Topos der Kindesrettung für das Denken von Adoption leicht nachvollziehen. Das Verhältnis zwischen Adop- tiveltern und -kindern scheint in einer einfachen Gleichung beschreibbar: „The [Child Rescue] campaign hoped to match up the nation‘s childless homes and homeless children […].87“ Berebitsky weist jedoch auf die Existenz einer weiteren

84 Ebd. S. 129. 85 Ebd. S. 130. 86 Ich komme in Kapitel 3 in Zusammenhang mit der Involviertheit potentieller Adoptiveltern durch das Medium Fernsehen noch einmal auf das Rettungsnarrativ zurück. 87 Ebd. S. 124.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 42

Figur, die der „abgebenden“ Mutter,88 hin, die das Rettungsnarrativ ambivalenter und komplexer macht. Berebitsky paraphrasiert die Darstellung im Delineator:

Women who adopted had a ‚mother consciousness‘; women who abandoned their in- fants and children to the mercy of the city lacked such a consciousness. The fact that a woman might give up her child to an institution did not necessarily mean she lacked a maternal instinct: women who acknowledged they could no longer care for their children and consciously surrendered them for their best interest were portrayed as heroes, having made the supreme maternal sacrifice.89

In Berebitskys Darstellung der „Child Rescue Campaign“ wird die Abgabe eines Kindes zugleich als Zeichen fehlenden mütterlichen Bewusstseins angesehen und als Ausdruck eines besonderen „Mutterinstinkts“, als „supreme maternal sacrifi- ce“, als größtes denkbares mütterliches Opfer. Berebitsky zitiert direkt aus dem Delineator:

[A] birth mother, „however low her lot has fallen, surrenders her baby willingly, fee- ling, with the remnant of mother-love that lives within her, that her child must have a better chance in life than that which has come to her.“90

Das Rettungsnarrativ der Adoption beinhaltet zwei weibliche Heldinnen, die „ret- tende“ Adoptivmutter und die „abgebende“ Mutter, deren Bedeutung jedoch we- niger eindeutig ist. Das widersprüchliche und ambivalente Denken der Figur der „abgebenden“ Mutter als zugleich schuldhaft und heroisch, wie es Berebitsky an- hand der „Child Rescue Campaign“ beschreibt, ist symptomatisch für das, was bis heute an Adoption schwer artikulierbar ist und daher im Modus des Sentimentalen erscheint. Ich möchte im Folgenden den für das Denken von Adoption zentralen und ambivalenten Topos des „supreme maternal sacrifice“ genauer betrachten. An diesem lassen sich die spezifische Sentimentalität des Denkens von Adoption und die sich darin andeutenden und zugleich nicht artikulierten Machtverhältnisse nachvollziehen. Wie kommt es zu der widersprüchlichen Beurteilung der „abge-

88 Es ist für das Denken moderner fürsorgerischer Adoption im Allgemeinen charakteristisch, dass von Vätern, weder von „abgebenden“, noch von Adoptivvätern die Rede ist. Ich komme auf die Unsichtbarkeit der Herkunftsväter in Kapitel 3 zurück. 89 Berebitsky, Rescue a Child, S. 127f. 90 Ebd. S. 136. Berebitsky zitiert aus dem Delineator, Nr. 72 (July 1908), S. 114.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 43

benden“ Mutter als gleichzeitig schuldhaft und heroisch? Worin besteht ihre ‚Schuld‘ und worin ihr heldenhaftes Opfer? Zu beachten ist, dass es sich um eine Figur innerhalb einer sentimentalen Narration handelt, die sich an ein Publikum richtet, das als potentielle ‚rettende‘ Adoptiveltern adressiert wird. Die Figur der „abgebenden“ Mutter ist nicht identifikatorisch und handlungsorientiert angelegt. Worin besteht die Notwendigkeit, einer moralischen Bewertung der Abgabe des Kindes, die diese nicht nur legitimiert, sondern darüber hinaus als ganz besonders bewundernswert fasst? Berebitsky beschreibt die Geschichten der „Child Rescue Campaign“ im Delineator als eine Mischung aus sentimentaler Unterhaltung und einer Rhetorik, die auf reales Handeln abzielt. Welche Bedeutung kommt der Fi- gur der heldenhaften „abgebenden“ Mutter im Denken von Adoption zwischen Fakt und Fiktion zu? Inwiefern verstärkt der für Adoption zentrale Topos des „supreme maternal sacrifice“ das Genießen sentimentaler Unterhaltung? Auf wel- che diskursiven Machtverhältnisse bezieht er sich zugleich? Exemplarisch gehe ich diesen Fragen im Folgenden anhand der Figur der

„abgebenden“ Mutter in King Vidors Hollywoodmelodram STELLA nach. Das Ki- nomelodram hat in Bezug auf Mutterschaft eigene Formen der Darstellung des

Nicht-Artikulierbaren entwickelt. STELLA DALLAS ist einer der meist diskutierten, Mutterschaft problematisierenden Hollywoodmelodramen.91 Der Film wurde bis- her nicht auf die Frage der Adoption hin betrachtet und es stehen darin nicht die Konflikte, die sich aus Adoption ergeben im Mittelpunkt, wie dies für die Filme, die im zweiten Teil dieser Arbeit untersucht werden, gilt. Ich behaupte dennoch, dass sich gerade an diesem Film besonders gut nachvollziehen lässt, welche Be- deutung das Opfer der „abgebenden“ Mutter im Denken moderner fürsorgerischer Adoption hat. Betrachtet man den Film aus der Perspektive der Adoption, dann

91 S. exemplarisch für die umfassende Diskussion des Films: E. Ann Kaplan: „The Case of the Missing Mother. Maternal Issues in Vidor’s Stella Dallas“ (i.O. 1983), in: Patricia Erens (Hg.): Issues in Feminist Film Criticism. Bloomington 1990, S. 126-136; Linda Williams: „Something Else Besides a Mother. Stella Dallas and the Maternal Melodrama“ (i.O. 1984), in: Patricia Erens (Hg.): Issues in Feminist Film Criticism. Bloomington 1990, S. 137-162; Stanley Cavell: „Stella‘s Taste. Reading Stella Dallas“, in: ders.: Contesting Tears. The Hollywood Melodrama of the Unk- nown Woman. Chicago 1996, S. 197-222; Annette Brauerhoch: „Der ‚Fall’ Stella Dallas“, in: dies.: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodram und Horror. Marburg 1996, S. 91- 131; Kappelhoff, Matrix der Gefühle.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 44

kann mit Stella Schritt für Schritt eine moralische Argumentation für die Abgabe des Kindes nachvollzogen werden, gerade weil Adoption nur indirekt thematisiert wird. Im Kontext der Darstellungstradition leidender Weiblichkeit und Mutter- schaft, möchte ich in einer Revision von STELLA DALLAS zeigen, dass die beson- ders bewegenden Momente des Films der Emotionalität und Sentimentalität der Figur der „abgebenden“ Mutter entsprechen, die das Denken moderner fürsorgeri- scher Adoption über fiktionale Darstellungen hinausgehend bis heute bestimmt. Was macht die Figur so sentimental? Was kann darin nicht artikuliert werden? Auf welche Machtverhältnisse bezieht sie sich? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, die Differenz zwischen der Darstellung eines allgemeinen melo- dramatischen Mutteropfers und dem spezifischen Opfer der „abgebenden“ Mutter zu berücksichtigen. In der feministischen Kritik ist STELLA DALLAS in Bezug auf patriarchale Geschlechterverhältnisse gedeutet worden. Dabei konnte jedoch nur bedingt erklärt werden, wodurch ein sentimentales Genießen des Films gerade für ein weibliches Publikum ermöglicht wird. Ich schlage deshalb vor, einen Bezug zu einer über patriarchale Machtverhältnisse hinausgehenden spezifisch modernen definierten Familienökonomie herzustellen. Das melodramatische Mutteropfer bezieht sich auf einen allumfassenden Topos der Verantwortung gegenüber dem Kind, der in Zusammenhang mit einer sexualisierten und emotionalisierten bio- politisch bestimmten Familie zu verstehen ist. STELLA DALLAS bezieht sich auf diesen Topos der Verantwortung, jedoch, wie im Vergleich mit einem anderen klassischen Hollywoodmelodram, MILDRED PIERCE, zu sehen sein wird, klassen- spezifisch.

1.2 „Der Fall Stella Dallas“. Feministische Kritik und sentimentales Genießen

Als eine der bewegendsten Momente in King Vidors STELLA DALLAS wird die Abschlussszene diskutiert, in der die Heldin Stella im Regen vor einem eleganten Gebäude der New Yorker Fifth Avenue steht. Verschiedene Helligkeiten verstär- ken den Kontrast zwischen Außen und Innen, der Zuschauerposition Stellas und dem Geschehen im Haus. Von der dunklen Straße aus blickt sie, umringt von ei-

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 45

ner Menge anonymer Passanten, gebannt zu einem hell erleuchteten Fenster auf [Abb. 2 und 3]. Das Publikum weiß, dass im Gebäude die Hochzeit von Stellas Tochter Laurel stattfindet, die ihrerseits nicht weiß, dass ihre Mutter von draußen zuschaut. Stella hat Laurel zuvor unter Angabe irreführender Gründe in die Obhut einer anderen Frau, Helen, gegeben. Laurel, enttäuscht darüber, dass ihre Mutter nicht zu ihrer Hochzeit erschienen ist, wird von Helen in dem Glauben gelassen, Stella habe davon nichts erfahren. Die Abschlussszene verdichtet noch einmal das Spiel von Wissen und Nicht-Wissen, das die Darstellung der Beziehungen zwi- schen den drei Frauenfiguren, zwei Müttern und einer Tochter, in STELLA DALLAS bestimmt. Die daraus entstehende Ambivalenz und emotionale Spannung wird in der Großaufnahme von Stellas Gesicht zugespitzt, wenn Tränen und Regen inein- ander übergehen [Abb. 4].

[Abb. 2] Blick auf Stella

[Abb. 3] Stellas Blick

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 46

[Abb. 4] Regen und Tränen

Schließlich drängt ein Polizist die Menge zum Weitergehen. Auf Stellas Bitten: „Oh, let me see her face when he kisses her, please“, gewährt er ihr einen weiteren Moment. Es folgt der Hochzeitskuss. Mit Tränen in den Augen und strahlendem Lächeln wendet sich die Heldin schließlich vom Geschehen ab, ihr Blick ist voll zufriedener Gewissheit. Sie läuft auf die Kamera zu, der Film endet [Abb. 5].

[Abb. 5] Stella verlässt die Szene

Thomas Elsaesser hat diese Szene in seinem grundlegenden Aufsatz zum Holly- woodmelodram als eine der „archetypischen“ melodramatischen Situationen be- 92 zeichnet. STELLA DALLAS gilt als Inbegriff des Melodramatischen, als besonders wichtig für die Diskussion einer bestimmten Art sentimentaler Unterhaltung im

92 Elsaesser, Tales of Sound and Fury, S. 125.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 47

Hollywoodkino, die in erster Linie ein weibliches Publikum adressiert.93 Mit Ber- lant kann man sagen, dass in STELLA DALLAS ein als konventionell weiblich ver- standenes Leiden inszeniert wird, das der durch den Film entstehenden intimen Öffentlichkeit empathisches Mitleiden verspricht, zugespitzt in der Figur des 94 „Mutteropfers“ . Ich komme hier auf STELLA DALLAS zurück, weil der Film das sentimentale Mutteropfer in beispielhafter Weise präsentiert und zugleich eine Revision des Mutteropfers in Hinblick auf das Denken von Adoption ermöglicht.

Anhand von STELLA DALLAS möchte ich zeigen, wie auf überraschende und indi- rekte Weise die Abgabe eines Kindes zur Adoption legitimiert wird, in einer spe- zifischen Differenz zwischen einem allgemeinen melodramatischen „Mutteropfer“ und dem „supreme maternal sacrifice“ der „abgebenden“ Mutter.

Der Film STELLA DALLAS basiert auf dem 1923 erschienenen gleichnamigen 95 Roman von Olive Higgins Prouty. King Vidors STELLA DALLAS spielt im Jahr 1919 im fiktiven Millhampton, Massachusetts. Stella (Barbara Stanwyck), aus ei- ner Arbeiterfamilie stammend, verliebt sich in den Millionärssohn Stephen (John Boles). Sie heiraten, Tochter Laurel (Anne Shirley) wird geboren, Stephen und Stella trennen sich und als Laurel schon beinahe erwachsen ist, veranlasst Stella deren weiteren Verbleib beim Vater und dessen zweiter großbürgerlichen Frau Helen Morrison (Barbara O‘Neil). Der Film endet mit besagter Hochzeit von Lau- rel mit Richard Grosvenor, III. Anfänglich scheint der Film die romantische Lie- besgeschichte von Stella und Stephen zu erzählen, aber nach der Geburt Laurels verschiebt sich der Fokus auf das Verhältnis von Mutter und Tochter. Aufgrund dieser Thematisierung von Weiblichkeit und Mutterschaft war der Film besonders für die Anfänge feministischer Filmtheorie wichtig, wie Annette Brauerhoch schreibt:

93 Vgl. Brauerhoch, Der Fall Stella Dallas. Der Titel dieses Unterkapitels ist Brauerhoch entliehen. 94 Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 42. 95 Die Schriftstellerin stand der Suffragetten- und Frauenbewegung nahe und war spätere Mentorin Silvia Plaths. Der Roman war sehr erfolgreich, ein Jahr nach Erscheinen entstand ein gleichnami- ges Bühnenstück, bereits 1925 folgte eine erste Stummfilmversion von Henry King. Im selben Jahr startete eine der ersten Soap Operas in Anlehnung an den Roman, sie wurde über 18 Jahre täglich im Radio ausgestrahlt. 1990 entstand unter dem Titel STELLA ein weiteres, zeitlich aktu- alisiertes Remake von John Erman mit Bette Midler in der Hauptrolle.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 48

Kaum ein anderer Film hat unter feministischen Filmtheoretikerinnen eine so lang anhaltende Diskussion und solche Kontroversen ausgelöst wie STELLA DALLAS. Die Diskussion scheint mir deshalb so wichtig, weil es in den verschiedenen Texten, die sich mit dem Film auseinandersetzen, immer auch ganz grundsätzlich um die Be- deutung der feministischen Filmtheorie geht, die Bedeutung von Mutterschaft in so- zialen und symbolischen Systemen und um die Potenz der weiblichen Zuschauerin gegen die des sozialen und des Repräsentationssystems.96

Ich will kurz auf die feministische Deutung der letzten Szene eingehen. STELLA

DALLAS wird von der Forschung als exemplarisch für das so genannte Mutterme- lodram betrachtet, das von uneingeschränkter mütterlicher Liebe und der voll- kommenen Entsagung eigener Bedürfnisse, dem Mutteropfer, erzählt. Die Hoch- zeitsszene ist als Resultat eines solchen Mutteropfers zu verstehen, das hier im widersprüchlichen und genauer zu betrachtenden Verschwinden Stellas aus dem Leben ihrer Tochter besteht. Stellas Verschwinden wurde in der feministischen Diskussion als Metapher für die Aufopferung der Mutter im Dienste ihrer Familie angesehen. Aus psychoanalytisch-patriarchatskritischer Perspektive formulierte Ann E. Kaplan 1983 die These, Stella durchlaufe die Prozesse einer Unterwerfung weiblichen Begehrens unter patriarchale Familienstrukturen.97 Stella, so Kaplan, stelle eine Bedrohung für ein patriarchales Verständnis guter Mutterschaft dar, da sie sowohl als Frau, als auch als Mutter Lust empfinde. Damit widerspreche sie patriarchalen Vorstellungen einer sich vollständig aufopfernden Mutter, die kein eigenes Begehren kennt.98

Das Mutteropfer in STELLA DALLAS wurde als Manifestation patriarchaler Ideologie verstanden. Belege für Kaplans These wurden insbesondere in der Dar- stellung von Stellas lustvoller und exzessiver Weiblichkeitsinszenierung mittels überladener Kleidung, Hüten und Schmuck gesehen. Tatsächlich ist der von Ka- plan beschriebene Widerspruch zwischen weiblichem Begehren und Anforde- rungen ‚guter‘ Mutterschaft zunächst an Stellas Art sich zu kleiden besonders an- schaulich.99 In der sich anschließenden kontroversen Diskussion fand Kaplans Be-

96 Brauerhoch, Der Fall Stella Dallas, S. 91. 97 Kaplan, The Case of the Missing Mother. 98 Ebd., S. 132f. 99 Brauerhoch, Der Fall Stella Dallas, S. 80.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 49

fund einer durch patriarchale Ordnung bestimmten problematischen Weiblichkeit Zustimmung, kritisiert wurden jedoch Kaplans Schlussfolgerungen hinsichtlich der Reaktionen des Publikums. Kaplans These war, dass das weibliche Publikum zwar mit Stella mitleide, es jedoch gleichzeitig das durch ihr Mutteropfer erreichte Ziel, Laurels Hochzeit mit einem jungen Aristokraten, unterstütze.100 Dadurch „lehre“ der Film das Publikum Stellas Position der ‚guten‘ Mutter als passive Zu- schauerin.101 Während Kaplans Deutung des patriarchalen Mutteropfers unproblematisch schien, widersprach etwa Linda Williams der Darstellung des Publikumseffektes als zu vereinfachend und monolithisch.102 Das weibliche Publikum stimme dem Mutteropfer nicht einseitig zu und akzeptiere nicht ungebrochen die Anforderun- gen patriarchaler Ordnung, so Williams. Es fühle mit Stella mit, wisse jedoch auch um den Preis, den sie für das Happy Ending zahlt.103 Das weibliche Publi- kum empfinde die Diskrepanz zwischen Mitleiden und Zustimmung und nehme dadurch einen doppelten Blick ein, der die Widersprüchlichkeit des Mutteropfers und auch der eigenen Situation bewusst mache. STELLA DALLAS ermögliche es, das Verschwinden Stellas aus dem Blickfeld als patriarchal bedingt zu erkennen und zu kritisieren.104 Nicht erklärt werden konnte jedoch auf diese Weise die Lust am Leiden, das sentimentale Genießen, das gerade die letzte Szene produzierte. Indem sie die Frage der Rezeption noch einmal betrachtet, unterzieht Williams ihre Kritik an Kaplan später einer Revision, indem sie sich von repräsentationstheoretischen Ansätzen abwendet und den Blick auf die medialen Eigenschaften des Melodrams richtet.105 Was in der früheren Diskussion nicht thematisiert wurde, so Williams,

100 Kaplan, The Case of the Missing Mother, S. 134. 101 Ebd. 102 Williams, Something Else Besides a Mother. 103 Ebd., S. 156. 104 Ebd. 105 Linda Williams: „Melodrama Revised“, in: Nick Browne (Hg.): Refiguring American Film Genres. History and Theory. Berkeley u.a. 1998, S. 42-88.

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war die Fähigkeit des Melodrams, zu emotionalisieren.106 Diese Eigenschaft des Melodrams sei in der damaligen Diskussion ausgeklammert worden, weil im Fe- minismus der 1980er Pathos als Agent weiblicher Unterdrückung angesehen wur- de. Pathos drohte die Zuschauerin in einer masochistischen „Überidentifikation“ mit der Opfer-Protagonistin zu überwältigen.107 Es musste also nach einer Deu- tungsmöglichkeit gesucht werden, die es zuließ, ein kritisches Potential des Melo- drams jenseits empathischer Einfühlung, in einer distanzierten Reflexion zu for- mulieren. Das hieß jedoch auch, die medienspezifischen, besonders bewegenden Eigenschaften auszublenden.108 Im Nachhinein gesehen, so Williams, ging es da- rum, einen Umgang mit der gleichzeitigen Attraktion wie Abstoßung des weib- lichen Publikums angesichts des Pathos‘ tugendhaften Leidens zu finden.109 Die Suche nach Möglichkeiten weiblicher Blickpositionen jenseits einer unkritisch sich den Herrschaftsstrukturen unterwerfenden, mit der leidenden und sich aufop- fernden Protagonistin identifizierenden Zuschauerin, führte zu der Frage, ob Me- lodramen auch ‚subversiv’ rezipiert werden können: „Is the female viewer so identified with Stella’s triumphant tears […] that she has no ability to criticize or resist the patriarchal value system that makes her presence in her daughter’s newly acquired social milieu excessive?“110 Williams formulierte daher eine kriti- sche, das heißt distanzierte Position des Publikums. Eine kritische Zuschauerposi- tion kann jedoch nicht das sentimentale Genießen und die Ambivalenz der Hoch- zeitsszene erklären. Ich möchte argumentieren, dass das Genießen der Darstellung des Mutteropfers besser zu verstehen ist, wenn die Art des Mutteropfers selbst und das und die Machtverhältnisse, auf die es referiert, nicht nur als patriarchale, sondern darüber hinausgehend als biopolitische betrachtet werden. Die biopoliti- schen Bezüge sind als Topos der Verantwortung beschreibbar.

106 Ebd. 107 Mary Ann Doane: The Desire to Desire. The Woman‘s Film in the 1940’s. Bloomington 1987, nach Williams, Melodrama Revised, S. 47. 108 Williams, Melodrama Revised. 109 Ebd., S. 45. 110 Ebd., S. 46.

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1.2.1 Drei Küsse. Eine Entwicklungsreihe

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal zum eingangs beschriebenen sentimenta- len Höhepunkt der Hochzeitsszene zurückkommen. Der Hochzeitskuss, den sehen zu dürfen Stella dem Polizisten abringt, korrespondiert mit zwei anderen Küssen zu Beginn des Films. Der erste Kuss ist ein ‚Film-im-Film‘-Kuss. Stella und Ste- phen gehen, kurz nachdem sie sich kennengelernt haben, ins Kino. Aus dem dunklen Kinosaal blicken wir mit den beiden auf die helle Leinwand. Stellas Blickposition in der Hochzeitsszene, in der sie zum Fenster aufschaut, wird hier vorweggenommen. Gezeigt wird ein romantischer Liebesfilm, der mit dem Kuss des heterosexuellen Paares endet [Abb. 6].

[Abb. 6] Film-im-Film-Kuss

[Abb. 7] Stella und Stephen: Imitation

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[Abb. 8] Finaler Hochzeitskuss

Dem Film-im-Film-Kuss folgen in einer zeitlich versetzten mise en abyme-Struk- tur ein Kuss zwischen Stella und Stephen, der die Liebesbeziehung zwischen den beiden besiegelt [Abb. 7] und der finale Hochzeitskuss Laurels [Abb. 8]. Der Film legt mit dieser Reihung von Küssen eine Entwicklung vom Konsum einer roman- tischen Fantasie über die zweifache innerdiegetische Realisierung dieser Fantasie, einmal für die Mutter und einmal für die Tochter nahe. Zwischen zweitem und drittem Kuss liegt das Mutteropfer Stellas. Während Stellas Kuss durch den Kon- sum romantischer Unterhaltung vorbereitet wird, geht Laurels Kuss das Mutterop- fer voraus. Betrachtet man die Reihe der Bilder sich küssender Paare, dann fällt auf, dass im abschließenden Hochzeitsbild die Positionen von Mann und Frau umgekehrt sind. Wir sehen Laurels Gesicht, so wie es Stella zuvor wie in einer Regieanweisung erbeten hat („let me see her face when he kisses her“). Die Ent- wicklungsreihe des Films ist auf das im Moment des Hochzeitskusses auf ihrem Gesicht sichtbare Glück der Tochter gerichtet. Stellas Happy Ending erscheint als Kopie romantischer Unterhaltung, Stephen und Stella scheinen die Posen der Protagonisten ihres Films zu imitieren. Laurels Hochzeit dagegen stellt das wahre Happy Ending dar, das jedoch durch das Mut- teropfer herbeigeführt wurde. Die ‚Regieanweisung‘ in der letzten Szene erinnert an diese paradoxe Aktivität Stellas.111 Wenn stimmt, was Kaplan resigniert fest-

111 Auch durch den Umstand, dass kein Hochzeitskuss von Stella und Stephen gezeigt wird (die Hochzeit wird nicht inszeniert), wird Stellas Fantasie weniger filmische ‚Realität‘ eingeräumt.

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stellt, dass die Handlung des Films auf die Fantasie romantischer Liebe ausge- richtet ist, auf das, „what we have all been socialized to desire – romantic mar- riage into the upper class“112, dann wird diese im Film bezüglich Stella als illusio- när dargestellt, bzw. als sich für Stella erst in der Hochzeit des Kindes erfüllend. So lässt sich der Film im Ganzen als Verwirklichung einer mit dem Film-im- Film-Kuss installierten Fantasie verstehen, die nicht Stellas Zukunft anzeigt, son- dern die ihrer Tochter. Die Figur der Stella aber schwankt zwischen einer Position der passiven Zuschauerin und der ‚Regisseurin‘, die die Handlung steuert. Auf- grund dieser Ambivalenz zwischen Passivität und Aktivität der Mutterfigur ist die Ausrichtung der Handlung auf das Glück der Tochter nicht allein in patriar- chatskritischen Begriffen zu fassen. Das sentimentale Genießen der letzten Szene bezieht sich auf ein Machtverhältnis, das über patriarchale Geschlechterverhält- nisse hinausgehend, das Verhältnis von Mutter und Tochter, bzw. die Familie im Ganzen und eine spezifische Form familiärer Verantwortung betrifft. Eine ge- nauere Betrachtung des in der feministischen Kritik benannten diskursiven Be- zugs auf die Familie und ihrer spezifische Emotionalität macht verständlicher, worin das sentimentale Genießen des Mutteropfers besteht.

1.3 Die Affektivität der modernen Familie (Mildred Pierce)

Das Melodramatische zielt eher darauf, ein „Bild des Gefühls“113 zu entwerfen, als einen spezifischen ‚Inhalt‘ zu vermitteln. Das vorrangige Interesse an der In- szenierung eines Gefühls führt zur spezifischen Diskrepanz zwischen dem, was im Film „Raum und Zeit“ gewinnt und dem, was als Handlung zusammengefasst 114 werden kann. Während sich die Handlung in STELLA DALLAS in ein paar Zeilen wiedergeben lässt, nimmt die Darstellung der mit diesem Konflikt verbundenen Affekte den Hauptteil des Films ein. Für Hermann Kappelhoff ist diese Darstel- lung des Gefühls der eigentliche Gegenstand des sentimentalen Genießens, also

112 Kaplan, The Case of the Missing Mother, S. 134. 113 Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 32. 114 Ebd., S. 35.

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des Begehrens des Publikums, nicht aufgrund einer übersteigerten Affektivität – das hieße das Melodramatische an Konventionen realistischer Erzählweise messen – sondern einer eigenen formalen Logik folgend, gewissermaßen einer anderen, aber nicht weniger realen, emotionalen Realität.115 Das „Bild des Gefühls“ hat eine präferierte „Szene“, wie Kappelhoff es nennt, von den Briefromanen des 18. Jahrhunderts bis zum melodramatischen Kino: „[D]ie Phantasietätigkeit des senti- mentalen Publikums [trifft] auf die immer gleiche Szene – den Konflikt von Liebe und Sexualität – […]. Es handelt sich um die Szene der bürgerlichen Familie […].“116 Mit Blick auf die Kontinuität in den Topoi lässt sich schließen, dass es im sentimentalen Genießen um die Vermittlung und Modulierung des Gefühls der modernen (bürgerlichen) Familie geht. Es ist kein Zufall dass STELLA DALLAS als charakteristisches Beispiel des Melodramatischen das Gefühl ambivalenter Mut- terschaft inszeniert. Das „Bild des Gefühls“ sentimentaler Unterhaltung bezieht sich auf die Affektivität der modernen Familie, die Philippe Ariès als Familien- sinn bezeichnet hat.117 Ariès‘ Geschichte der Kindheit ist, wie am französischen Originaltitel L‘enfant et la vie familiale sous l‘Ancien Régime zu sehen, zugleich eine Geschichte der Familie.118 Ariès beschreibt das besondere Verhältnis zwi- schen Eltern und Kindern in Abgrenzung zu früheren Familienformen:

Nichts erinnert mehr an den alten Geschlechterverband […]. Die Probleme, die mit der Ehre der Sippe zusammenhängen, sei es nun die Ungeteiltheit des Erbgutes oder die Altehrwürdigkeit und das Fortbestehen des Namens, werden ihr immer fremder. Das Familiengefühl hat seine Wurzeln ausschließlich in der unvergleichlichen Ver- bindung von Eltern und Kindern. […] Worauf es dabei hauptsächlich ankommt, ist

115 Ebd., S. 36. Kappelhoff grenzt sich damit von Brooks ab, der die hyperbolische Aufladung des Alltäglichen mit einem Übermaß an Bedeutungen „moral occult“ bezeichnet hat. Die Überladung mit Bedeutung bringt nach Brooks den Schein einer moralisch begründeten moralisch lesbaren Welt hervor. Für Kappelhoff ist das ästhetische Begehren der Zuschauer nicht auf die Offenbarung einer Moral gerichtet. Der Gegenstand des Genießens ist nicht die Illusion eines transzendental begründeten Guten und Bösen. 116 Ebd., S. 25f. 117 In der Melodramenforschung wird die bürgerliche Familie als zentrales Konfliktfeld vorausgesetzt, ohne diesen Umstand selbst genauer zu betrachten. 118 Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 479.

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die gefühlsmäßige Anteilnahme, die man dem Kind als dem lebenden Abbild seiner Eltern nunmehr entgegenbringt.119

Der Familiensinn, der die moderne Familie kennzeichnet, ist durch die besondere Emotionalität des Verhältnisses zwischen Kindern und Eltern bestimmt.120 Auf dieses Familiengefühl referiert das melodramatische „Bild des Gefühls“ und in der Tradition sentimentaler Unterhaltung die Szene des melodramatischen Holly- woodkinos. Es bezieht sich in seinen dargestellten Konflikten auf die Emotiona- lität und die Machtverhältnisse, die die moderne Familie bestimmen und die das Verhältnis zwischen Eltern und Kind betreffen. Die Muttermelodramen Holly- woods stehen in dieser Tradition sentimentaler Modulierung des „Bilds des Ge- fühls“ der Familie, allerdings auf historisch und medienspezifische Weise. Das Bild des Familiensinns im Hollywoodmelodram referiert, unter Einfluss der Psy- choanalyse auf die Emotionalität einer ‚deformierten‘, dysfunktionalen Familie.121 Dieses „Bild des Gefühls“ der dysfunktionalen Familie Hollywoods lässt sich anhand eines anderen bekannten Beispiels veranschaulichen. Auch in dem eben- falls viel diskutierten Muttermelodram MILDRED PIERCE steht der Topos des Mut- teropfers im Zentrum. Nach dem Unfalltod ihrer jüngeren Tochter Kay widmet Mildred (Joan Crawford) alle ihre emotionalen und finanziellen Anstrengungen ihrer Tochter Veta (Ann Blyth). Die Opferbereitschaft der Mutter scheint grenzen- los, nicht nur ist sie bereit jeden materiellen Wunsch der Tochter zu erfüllen, sie opfert ihr auch die Ehe mit Bert (Bruce Bennett), der sein Leben nicht auf diesel- be Weise durch die Interessen Vetas bestimmen lassen will. Diese ist (im Gegen- satz zu Laurel) eine verzogene Göre, a real brat, die nicht nur eine Affäre mit dem Liebhaber (Zachary Scott) der Mutter eingeht, sondern diesen auch noch im Strandhaus erschießt, als sie von ihm zurückgewiesen wird, nachdem Mildred die beiden dort entdeckt. In scheinbar vollständiger Überzeichnung erscheint das Mutteropfer, als die Tochter die Mutter für ihr Fehlverhalten verantwortlich macht und Mildred daraufhin erneut versucht, sie zu schützen. Die missratene Tochter

119 Ebd., S. 500f. 120 Ebd., S. 499. 121 Vgl. Elsaesser, Tales of Sound and Fury.

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fleht die Mutter an, den Mord am gemeinsamen Liebhaber zu verheimlichen, mit einem invertierten Appell an mütterliches Verantwortungsbewusstsein:

VETA: Think what will happen if they find me. […]

MILDRED: I don‘t care anymore, Veta.

VETA: Yes, you do, yes, you do. Give me another chance, it‘s your fault as much as mine. […]

VETA: I‘ll change, I promise I will, I‘ll be different, just give me another chance … It’s your fault. I‘m the way I am!

Diese Adressierung für die kindliche Schuld verantwortlich hält Mildred, die den Telefonhörer bereits in der Hand hält, schließlich davon ab, die Polizei zu rufen [Abb. 9].

[Abb. 9] „It‘s your fault …“

Auf welches Bild des Gefühls bezieht sich diese Schuldzuweisung? Worin besteht das sentimentale Genießen der Szene? Es wird, wie im Melodram üblich, nicht ausformuliert. Gerade die nicht explizierte Referenz erzeugt sentimentales Genie- ßen, in dem sie an ein vertrautes, jedoch nicht rational fassbares Gefühl erinnert. Das Bild des Gefühls ist, so meine ich, in Hinblick auf einen noch genauer zu cha- rakterisierenden modernen Familiensinn zu verstehen. Im Hollywoodmelodram erscheint der Familiensinn klaustrophobisch und sexualisiert, in psychoanalyti-

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schen Begriffen gefasst.122 Entscheidend ist dabei die dramatisierte Opferbereit- schaft für das Kind und die Schuld, einer umfassenden Verantwortung nicht ge- recht worden zu sein. Es bedarf einer spezifisch modernen, biopolitischen Defini- tion, um die Szene der Familie im Hollywoodmelodram verständlich zu machen und nachvollziehen zu können, auf welche emotionale Not insbesondere der Müt- ter es sich bezieht. Um diesen Bezug zu verdeutlichen, möchte ich exkurshaft auf Foucaults Überlegungen zum wissensgeschichtlich und biopolitisch eingebetteten Sexualitätsdispositiv eingehen, das ich zugleich als sentimentales Familiendispo- sitiv verstehe.

1.4 Biopolitische Familienökonomie

1.4.1 Die Entstehung der Familie aus der Sexualität des Kin- des

In Zusammenhang mit dem Sexualitätsdispositiv beschreibt Foucault die moderne Familie, wie Ariès, als um das Kind zentriert, jedoch in wissenshistorischer und biopolitischer Kontextualisierung. Foucault erklärt die Entstehung der modernen Familie aus einer neuen Sorge insbesondere um die kindliche Sexualität. Er be- schreibt die spezifische Gestalt der Familie seit dem 18. Jahrhundert als aus den Anforderungen kindlicher Sexualität abgeleitet. Ähnlich wie in Der Wille zum Wissen betrachtet Foucault in den Vorlesungen zu den Anormalen das moderne Sexualitätsdispositiv, jedoch wird es in letzteren ausführlicher in seiner Materiali- sierung in familiären Figuren beschrieben. Ausgehend von Überlegungen zu einer Theorie der „Degeneration“ betrachtet Foucault in seinen Vorlesungen zu den Anormalen die Figur des „masturbierenden Kindes“123, die für Foucault konstitu-

122 Dies ist insbesondere in Bezug auf die Filme Douglas Sirks diskutiert worden, s. Elsaesser, Tales of Sound and Fury. 123 Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel. Frankfurt am Main 2007. Die Vorlesungen sind zeitlich wie systematisch zwischen Überwachen und Strafen (1975) und Der Wille zum Wis- sen (1976) angesiedelt und untersuchen vor allem psychiatrische Gutachten des 19. Jahrhunderts. Foucault unterscheidet drei Figuren, die den Bereich der Anomalie abstecken, das „Menschen- monster“, das „zu bessernde Individuum“ und das „masturbierenden Kind“. Die drei Figuren un- terscheiden sich sowohl zeitlich wie auch wissenssystematisch voneinander, sie gehören für Foucault jedoch zusammen, weil sie in einer übergeordneten Theorie der „Degeneration“ aufgehen

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 58

tiv für ein neues Verhältnis zwischen Sexualität und Familie ist und zu einer neu- en Organisation der Familie führt:

Der Onanist. Eine ganz neue Figur im 18. Jahrhundert. Er taucht auf im Wechselspiel mit den neuen Bezügen zwischen Sexualität und Organisation der Familie, mit der neuen Stellung des Kindes inmitten der Elterngruppe, mit der neuen Bedeutung, die dem Körper und der Gesundheit beigemessen wird. Erscheinen des sexuellen Kör- pers des Kindes.124

Foucault betrachtet die Sexualisierung der Familie von der Sexualisierung des Kindes aus. Die besondere Bedeutung des „masturbierenden Kindes“ besteht da- rin, dass, so Foucault mit der ‚Entdeckung‘ der Sexualität des Kindes alle bio- graphisch später auftauchenden Anomalien auf sie als ursächlich zurückgeführt werden. Von daher werden die ‚Gefahren‘ des kindlichen „Autoerotismus“ als Gefahren am „Anfang einer endlosen Reihe physischer Störungen, deren Auswir- kungen in allen Formen und allen Lebensaltern spürbar werden können“, als Ge- fahren für die gesamte Bevölkerung dargestellt.125 Die medizinische Herleitung biographisch späterer Schäden von kindlicher Sexualität begründe einen „Kreuz- zug gegen die Masturbation“. Den Eltern aber obliegt die Verantwortung für die Durchführung dieses „Kreuzzugs“, der vor allem in der aufmerksamen und steti- gen Kontrolle des Kindes besteht. Dies erfordert höchste Intimität im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und führt zu einem folgenreichen und grundsätzli- chen Wandel der Familie und ihrer Organisation, die nun durch die Sorge um das Kind bestimmt ist:

Durch diese Kampagne [dem „Kreuzzug gegen die Masturbation“] hindurch zeichnet sich der Imperativ eines neuen Verhältnisses von Eltern und Kindern und, weiter ge- faßt, eine neue Ökonomie der interfamiliären Verhältnisse ab: Festigung und Intensi- vierung der Bezüge zwischen Vater, Mutter und Kindern (zu Lasten der mannigfalti- gen Bezüge, die die ‚Hausgemeinschaft‘ im weiten Sinne charakterisierten), Umkeh- rung des Systems der familiären Verpflichtungen (die einst für die Kinder gegenüber den Eltern bestanden und die jetzt dahin gehen, das Kind zum ersten und unaufhörli- chen Objekt der elterlichen Pflichten zu machen, die als moralische und medizini- sche Verantwortung zugewiesen wird, die bis ins tiefste Innerste ihrer Nachkommen- schaft hinein gilt), Auftauchen des Prinzips der Gesundheit als Grundgesetz der fa- und gleichermaßen „in Verteidigung der Gesellschaft“ einem institutionellen Netz „an der äußers- ten Grenze von Medizin und Justiz“ unterworfen sind (ebd., S. 428f). 124 Ebd., S. 425. 125 Ebd., S. 426.

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miliären Bande, Verteilung der Kernfamilie rund um den Körper – und zwar den se- xuellen Körper – des Kindes herum, Organisation eines unmittelbaren physischen Bandes von Körper zu Körper zwischen Eltern und Kindern, in dem auf komplexe Weise Begehren und Macht verknüpft werden, und schließlich die Notwendigkeit ei- ner Kontrolle und eines externen medizinischen Wissens, um diese neuen Bezüge zwischen der pflichtgemäßen Wachsamkeit der Eltern und dem so zerbrechlichen, reiz- und erregbaren Körper der Kinder zu entscheiden und zu regulieren. Der Kreuzzug gegen die Masturbation bringt die Ausgestaltung der eingeschränkten Fa- milie (Eltern, Kinder) zu einem neuen Macht-Wissen-Apparat zum Ausdruck. […] Die für unsere Gesellschaften charakteristische inzestuöse Kleinfamilie und der se- xuell saturierte winzige Raum der Familie, in dem wir aufgezogen werden und in dem wir leben, ist dadurch gebildet geworden.126

Foucault beschreibt die Eltern in dieser neuen Familienökonomie als Instrument einer externen Medizin, die alles familiäre Handeln durch die Ausrichtung auf die Gesundheit und Entwicklung des Kindes bestimmt. Von der Sexualität des Kindes aus gestaltet sich die Familie, wie wir sie heute verstehen, ihre Zeitlichkeit, ihr Bereich, ihre Moral, ihr Funktionieren. Dies bedeutet die Umkehrung bisheriger familiärer Organisation und Machtverhältnisse in der neuen Familienform: Macht geht über von den Eltern auf die Kinder, von der Ausrichtung auf den Erhalt des Namens der Vorfahren zu den Interessen der Nachkommen.127 Alles ist auf die Zukunft des Kindes ausgerichtet. Der neue „Macht-Wissen-Apparat“ unterschei- det sich grundsätzlich von früheren Familienformen und ist durch Exklusivität, hochgradige Affektivität und absolute Verantwortung auf Seiten der Eltern, durch Zukunftsorientierung und Definition des kindlichen Körpers als Interventionsfeld medizinisch-biologischen Wissens charakterisiert. Ich behaupte, dass sich das me- lodramatische Bild des Gefühls auf diese klaustrophobische, sexualisierte, emoti- onalisierte Familie bezieht.

1.4.2 Verantwortung für „alle“

In den Vorlesungen zu den Anormalen gibt Foucault der Ausformulierung dieser neuen familiären Ökonomie viel Raum, in Der Wille zum Wissen ist sie in die Ge- genüberstellung von Allianz- und Sexualitätsdispositiv integriert. Wenn Foucault

126 Ebd., S. 427f. Herv. A.M. 127 Foucault grenzt hier Allianz- und Sexualitätsdispositiv voneinander ab.

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anhand von Allianz- und Sexualitätsdispositiv unterschiedliche Formen der Orga- nisation der Sexualbeziehungen in einer Gesellschaft beschreibt, dann beschreibt er zugleich die jeweils gültige familiäre Ökonomie.128 Foucault betrachtet das Al- lianz- und Sexualitätsdispositiv als Taktiken zweier verschiedener Machtformen, der Souveränitäts- und der Biomacht, wobei die Macht des Souveräns darin be- steht, „sterben zu machen und leben zu lassen“129, sollte seine Existenz gefährdet sein. Auch dieses Recht beschreibt Foucault im Rahmen familiärer Ökonomie:

Eines der charakteristischsten Privilegien der souveränen Macht war lange Zeit das Recht über Leben und Tod. Es leitet sich von der alten patria potestas her, die dem römischen Familienvater das Recht einräumte, über das Leben seiner Kinder wie über das seiner Sklaven zu ‚verfügen‘: er hatte es ihnen ‚gegeben‘, er konnte es ihnen wieder entziehen.130

Das Sexualitätsdispositiv dagegen ordnet Foucault der Biomacht zu, die nicht im Namen eines Souveräns ausgeübt wird, sondern eine Machtform ist, die „das Le- ben verwaltet und bewirtschaftet“.131 Die Biomacht nimmt „das Leben in ihre Hand […], um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kon- trollieren und im gesamten zu regulieren […] im Namen der Existenz aller.“132 „Alle“, bzw. „die Bevölkerung“ nehmen den diskursiven Platz des Souveräns ein. Bevölkerung wird dabei als biologisches Phänomen gefasst, deren „pulsierende Zelle“ die Familie ist.133 Foucault führt die neue Ökonomie der Familie, ihre Zentrierung auf und Steuerung durch die kindliche Sexualität auf die Anforderun-

128 Im Allianzdispositiv ist das ganz offensichtlich, es bezeichnet bei Foucault ein System des Hei- ratens, der Festlegung und Entwicklung der Verwandtschaften, der Übermittlung der Namen und der Güter. Es zielt darauf ab, bestehende Machtverhältnisse, eine bereits vorhandene Genealogie und bestehende Beziehungen zu erhalten. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main. 1983 (i.O. 1976), S. 105f. 129 Ebd., S. 132. Herv. i.O. 130 Ebd., S. 132. 131 Ebd., S. 132. 132 Diese Orientierung an der Existenz „aller“ im Gegensatz zur Orientierung an der Existenz des Souveräns hat damit zu tun, dass Biomacht eine nationalstaatliche Machtform beschreibt, deren Kern die Konstitution der Bevölkerung ist. Vgl. Mauro Bertani: „Zur Genealogie der Biomacht“, in: Martin Stingelin (Hg.): Biopolitik und Rassismus. Frankfurt am Main 2003, S. 228-259. 133 Ebd.

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gen der Biomacht zurück, die Konstitution und das Leben der Bevölkerung zu steigern. Ich verstehe die elterliche Verantwortung für die Sexualität und das Le- ben des Kindes als Konkretisierung der Verantwortung für das Leben der Bevöl- kerung. Der Sexualität bzw. dem Sexualitätsdispositiv kommt in Foucaults Macht- analyse so große Aufmerksamkeit zu, weil sie eine der wichtigsten Technologien der Biomacht ist. Sie bildet ein „Scharnier“ zwischen den einzelnen Körpern und „aufgrund seiner Globalwirkungen“134 der abstrakten, statistischen Größe der Be- völkerung. Verantwortung für die Bevölkerung zu übernehmen erfordert eine Machtform, in der über die Sexualität auf die Körper der Einzelnen zugegriffen wird. Der Sex öffnet „den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung“.135 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Sex zu beobachten, erforschen, messen, normalisieren und regulieren und die Familie als Ort und In- stanz dieser Regulierung einzuführen. Entsprechend Foucaults Kritik an einer „Repressionsthese“ und seiner Darstellung einer Diskursivierung und Produktivi- tät des Sex‘, ist die Familie bei Foucault nicht Unterdrückungsinstanz, sondern konstituiert sich innerhalb des Sexualitätsdispositivs und durch die Funktion, die dem Sex als Schaltstelle zwischen individuellem und Bevölkerungskörper zu- kommt. Entsprechend Foucaults Intervention gegen die These der sexuellen Re- pression ist die Kernfamilie nicht als Instanz der Repression kindlicher Sexualität zu verstehen, sondern sie konstituiert sich erst aus der Funktion, die sie bezüglich der Sexualität des Kindes erhält:

Weit davon entfernt, das Resultat dieser Konstitution einer Familie neuen Typs zu sein, war die Jagd auf die Masturbation meines Erachtens im Gegenteil ihr Instru- ment: Durch diese Jagd, durch diesen Kreuzzug hindurch hat sich nach und nach die- se eng beschränkte und substantielle Familie gebildet. Dieser Kreuzzug mit all den praktischen Anweisungen, die er mit sich brachte, war ein Mittel, die Familienbande enger zu knüpfen und das zentrale Rechteck des Eltern-Kind-Verhältnisses zu einer substantiellen, festen und gefühlsmäßig gesättigten Einheit zusammenzuschließen. Und eines der Mittel, die eheliche Familie zusammenbacken zu lassen, war ebendies, die Eltern verantwortlich zu machen, und zwar über die Vermittlung eines drohenden

134 Foucault, Wille zum Wissen, S. 140. 135 Ebd., S. 141.

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Autoerotismus, der im medizinischen Diskurs und durch ihn sagenhaft gefährlich gemacht worden ist.136

Die medizinischen Anweisungen zum familiären Umgang mit der kindlichen Se- xualität haben einen doppelt produktiven Effekt: Sie bringen sowohl die Sexuali- tät des Kindes als Gegenstand der Sorge hervor, wie auch die Familie als ihre Agentin. Die Sorge um die kindliche Sexualität ist Motivation für die immer en- gere räumliche wie affektive Bindung der Mitglieder der Kernfamilie. Die Ver- antwortung für die Sexualität des Kindes und daraus abgeleitet die Verantwortung für seine Zukunft wie die Zukunft der Gesellschaft im Allgemeinen ist nicht nur eine Aufgabe der modernen Familie – die moderne Familie existiert in einem wis- sens- und machttheoretischen Sinn nicht ohne diese. Aus dieser Sorge um die Konstitution der Bevölkerung und ihrer Konkretisierung in der kindlichen Sexua- lität ist die „Aufwertung der Familienzelle“ als ein „großes Manöver“ gesell- schaftlicher Organisation im 17. und 18. Jahrhundert zu verstehen.137 Foucault begründet die sich neu konstituierende Machtform in einer neuen Bedeutung des Lebens: „Der Tod hört auf, dem Leben ständig auf den Fersen zu sein.“138 Die neue Bedeutung des Lebens (und der für die Entwicklung und Siche- rung des Lebens zuständige Familie) ist jedoch nicht nur als Folge größerer Über- lebenschancen innerhalb eines linearen technischen und medizinischen Fort- schritts zu verstehen. Die verminderte Drohung des Todes im Alltag ermöglicht erst eine Vorstellung von Leben im epistemologischen Sinn. Durch Beobachtun- gen und Messungen der Prozesse des Lebens bildet sich das Leben in einem per-

136 Michel Foucault, „Vorlesung vom 12. März 1975“, in: ders.: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel. Frankfurt am Main 2007, S. 344-379, hier S. 346. Herv. A.M. Ein bezeichnendes Bild findet Foucault bei dem zeitgenössischen Frauenarzt Rozier, der das Verhältnis der Mutter zur Tochter mit dem einer Beutelratte vergleicht, die ihre Jungen bei Gefahr „an ihrem Busen“ birgt: „Verges- sen Sie nicht das Bild der Beutelratte, das Rozier gerade gegeben hat. Es geht darum, eine Kängu- ruh-Familie zu bilden, worin der Kinderkörper das Kernelement des Familienkörpers abgibt“ (Mi- chel Foucault: „Vorlesung vom 5. März 1975“, in: ders.: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel. Frankfurt am Main 2007, S. 300-343, hier S. 328). 137 Ebd., S.100. Der Wandel der Familie ist im Grunde kein Wandel, die Familie, wie wir sie heute verstehen, entsteht erst. 138 Ebd., S. 137.

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formativen Akt als messbar und beschreibbar, als Gegenstand von Wissen und Macht erst heraus:

Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in ei- ner lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Le- benserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Ge- schichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. Die Tatsache des Lebens ist nicht mehr der unzugängliche Unterbau, der nun von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt. Sie wird zum Teil von der Kon- trolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt.139

Nicht nur sind die Menschen dem Tod nicht mehr willkürlich ausgesetzt, sondern das Leben tritt auf der Ebene der Erkenntnis und des Zugriffs überhaupt erst in Erscheinung, im Sinne seiner Messbarkeit, seiner beschreibbaren und in Folge beeinflussbaren Prozesse.140 In diesem Zusammenhang einer neuen Form von Le- ben und der an dieser ausgerichteten Biomacht ist Kindheit ‚historisch‘ und wird als eigenständige Lebens- und Entwicklungsphase mit spezifischen Eigenschaften und entsprechenden spezifischen Formen der Sorge (bezüglich seiner Sexualität) „entdeckt“141. So ist die „Aufwertung der Familienzelle“ als Effekt und Instru- ment einer neuen Machtform zu verstehen, die das Leben der Bevölkerung und in seiner Konkretisierung in der kindlichen Sexualität als Priorität setzt. Unter biopo- litischen Bedingungen bringt das kindliche Leben die moderne Familie hervor, seine Fürsorge stellt zugleich die Legitimation der in der Familie herrschenden Macht- und Kontrollverhältnisse dar. So ist der Konflikt zwischen elterlicher Au- torität und kindlichen Interessen zu verstehen. Durch die Priorität kindlicher In- teressen, die elterliche Autorität erst legitimiert, ist die Allmacht des pater fami- lias gebrochen, weil sie im Namen der Interessen „aller“, der Bevölkerung, ver- körpert durch die Kinder, argumentieren und handeln muss.

139 Ebd. 140 Vgl. Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Aus dem Französischen von Michael Bischoff und Walter Seitter. Herausgegeben von Wolf Lepe- nies. Frankfurt am Main 1979; François Jacob: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Ver- erbung. Aus dem Französischen von Jutta und Klaus Scherrer. Frankfurt am Main 2002 (i.O. 1970). 141 Ariès, Geschichte der Kindheit.

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 64

1.5 Mütterliche Entlastungsfantasie

Das melodramatische Bild des Gefühls der modernen Familie bezieht sich auf dieses komplexe und ambivalente Machtverhältnis zwischen Eltern und Kindern, indem elterliche Autorität in der allumfassenden Sorge um das Kind zugleich be- gründet und unterlaufen wird. In der Schuldzuweisung Vetas an die Mutter wird der Topos elterlicher Verantwortung, die sich durch kindliche Interessen legiti- miert, aufgegriffen. Foucault thematisiert nicht, dass es sich insbesondere um eine mütterliche Verantwortung handelt. Das Hollywoodmelodram des Mutteropfers erfasst die besondere emotionale Konflikthaftigkeit der Mütter und produziert ei- ne spezifische intime Öffentlichkeit derjenigen, die sich mit der widersprüchli- chen mütterlichen Macht/Ohnmacht gegenüber dem kindlichen Interesse, bzw. dem Interesse „aller“ identifizieren können. Der sentimentale Genuss des Mutter- opfers im Melodram besteht in einer doppelten Anerkennung, sowohl des aus die- ser Verantwortung resultierenden mütterlichen, weiblichen Leidens an der erfor- derten Ausblendung eigener Interessen wie der erbrachten Leistung, mütterliche Macht ‚richtig‘ eingesetzt zu haben.

Die komplexe Schuldzuweisung in MILDRED PIERCE lässt sich in diesem Be- deutungszusammenhang als Inszenierung einer mütterlichen Entlastungsfantasie verstehen. In einem für den film noir typischen Kriminalszenario wird die „Schuldhaftigkeit“ der Mutter revidiert und die allumfassende mütterliche Ver- antwortung für das Verhalten des Kindes zurückgewiesen, indem die Mutter als Täterin entlastet wird. Als Veta schließlich auf der Polizeistation überführt wer- den soll, belastet sich Mildred selbst. Aber die Polizei weiß bereits, wer die Schuldige ist und nimmt der Mutter die Verantwortung für das Handeln der Toch- ter ab.

MILDRED: I thought maybe, in a way, it was my fault. So I tried to help her. I wanted to take the blame for it.

POLIZEIKOMMISSAR: Not this time, Mrs. Beragon. This time your daughter pays for her own mistake.

In MILDRED PIERCE stellt die Staatsgewalt familiäre Gerechtigkeit wieder her, in einer indirekten Kritik an der biopolitischen Familienökonomie. Veta wird verur-

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 65

teilt, Mildred aber kommt wieder mit Bert zusammen, jenem Vater Vetas, der sie wegen ihrer exzessiven Sorge um das Kind verlassen hatte. An einem neuen Tag, vom ‚Schmutz‘ selbstzerstörerischen mütterlichen Schuldgefühls bereinigt, geht Mildred in der Vorhalle des Polizeipräsidiums – am Reinigungspersonal vorbei – auf Bert zu, gemeinsam treten sie ins Licht der Freiheit, die Freiheit von elterli- cher allumfassender Verantwortung bedeutet [Abb. 10].

[Abb. 10] Vom Schmutz befreit

Ich deute die Verbindung aus Kriminalgeschichte und Muttermelodram als Insze- nierung einer innerhalb des biopolitischen Familiendispositivs unsagbaren Zu- rückweisung mütterlicher Verantwortung. MILDRED PIERCE erzeugt ein Gefühls- bild der dysfunktionalen modernen Kernfamilie und elterlicher Entlastungsfan- tasie.

Auch STELLA DALLAS bezieht sich in der Figur leidender Mutterschaft auf das biopolitische Familiendispositiv ambivalenter elterlicher Macht/Ohnmacht. Auch hier kann das Mutteropfer als eine wenngleich gemilderte Rachefantasie verstan- den werden, einer allumfassenden Verantwortung für das Kind zu entkommen. Die Abgabe des Kindes entspräche so betrachtet einer weniger drastischen Entla- 142 stungsfantasie. Im Vergleich zwischen MILDRED PIERCE und STELLA DALLAS lässt sich jedoch ein signifikanter Unterschied im Verhältnis zwischen dem Mut- teropfer und dem Topos der Verantwortung erkennen. Im Gegensatz zu MILDRED

142 Williams hat das Mutteropfer in diese Richtung gedeutet (vgl. Williams, Something Else Besi- des a Mother).

1 Das Mutteropfer im Hollywoodmelodram 66

PIERCE führt die Entlastung nicht zur Relativierung mütterlicher Verantwortung, indem das Kind für sein Handeln selbst verantwortlich gemacht wird. Stattdessen erfüllt sich Stellas mütterliche Verantwortung gerade darin, sich dieser zu entledi- gen. Die Befreiung von der Last mütterlicher Verantwortung wird als wahre De- monstration mütterlicher Verantwortung dargestellt, die schließlich zur Hoch- zeitsszene und zur Reproduktion der heterosexuellen Kernfamilie führt. STELLA

DALLAS bezieht sich auf ein Denken mütterlicher Verantwortung als Entlastung,

MILDRED PIERCE inszeniert eine Entlastung von Verantwortung. In beiden Fällen geht es um die Trennung von Mutter und Kind. In MILDRED PIERCE erscheint die- se als gegen den „Mutterinstinkt“ von einer staatlichen Gewalt auferlegt, zum Wohl der Mutter. Sentimentales Genießen wird als guilty pleasure ermöglicht, als heimliches Vergnügen an der Fantasie der Befreiung von mütterlicher Verant- wortung/Schuld, legitimiert durch eine höhere Instanz. MILDRED PIERCE könnte als Inszenierung einer mütterlichen Emanzipationsfantasie verstanden werden, die jedoch der äußeren, institutionellen Legitimierung bedarf. Das Mutteropfer in

STELLA DALLAS wird in entgegengesetzter Weise als selbstgewählt dargestellt, freiwillig und zum Wohl des Kindes. Das Mutteropfer des Hollywoodmelodrams bezieht sich auf eine biopolitisch definierte Familienökonomie. Das sentimentale Genießen lässt sich aus der Insze- nierung gleichzeitiger mütterlicher Macht und Ohnmacht erklären und, wie in

MILDRED PIERCE, aus der Fantasie einer Befreiung aus dieser ambivalenten Posi- tion. Der Wunsch, von der allumfassenden Verantwortung enthoben zu werden, kann nicht artikuliert werden, stattdessen bietet er sich für die Inszenierung eines

Kriminalstücks um mütterliche Schuld und Unschuld an. In STELLA DALLAS be- zieht sich das sentimentale Genießen jedoch auf eine Verwirklichung mütterlicher Verantwortung, nicht darauf sich dieser zu entledigen. Dies betrifft sowohl andere Machtverhältnisse als auch ein anderes nicht sagbares Begehren. Im nächsten Ka- pitel betrachte ich genauer, worin die Variation des Mutteropfers in STELLA DAL-

LAS besteht, auf welche, insbesondere klassenhierarchischen Machtverhältnisse sich STELLA DALLAS bezieht und was in diesem Bezug nicht artikuliert werden kann. Es geht dabei vor allem um ein hierarchisches Verhältnis zwischen den weiblichen Figuren und dem Zuschauerblick auf diese

2 Klassendifferenz und das ambivalente Erkennen „idealer Mutterschaft“

Anstatt sich für ihr Kind aufzugeben, wie es im Hollywoodmelodram erwartbar wäre, durchzieht STELLA DALLAS die Frage, was die Protagonistin Stella davon überzeugen wird, ihre Tochter Laurel aufzugeben.143 Die Darstellung einer Opfe- rung von Mutterschaft unterscheidet sich von der Darstellung einer Aufopferung als Mutter auch in ihren Effekten für sentimentales Genießen. STELLA DALLAS ist in Zusammenhang mit der im vorangehenden Kapitel beschriebenen Konvention leidender, sich aufopfernder Mutterfiguren in sentimentaler Unterhaltung zu ver- stehen. Deren Bedeutung verschiebt sich jedoch in Wiederholung und Differenz. Das Sentimentale des Mutteropfers bezieht sich typischer Weise auf ein Gefühl mütterlicher Verantwortung, innerhalb dessen eine Trennung von Mutter und

Kind dem Bereich des Nichtsagbaren zugehört und wie in MILDRED PIERCE nur als Effekt äußerer Gewalt imaginiert werden kann. In STELLA DALLAS erscheinen die Trennung von der Tochter und die Aufgabe von Mutterschaft dagegen als Verwirklichung mütterlicher Verantwortung. Sie entspricht dem „supreme mater- nal sacrifice“, wie es in Bezug auf die „abgebende“ Mutter der Adoption gedacht wird. Ich betrachte im Folgenden, worauf sich die Heroisierung der „abgebenden“ Mutter und die Legitimierung der Trennung von Mutter und Kind beziehen, wel- che Machtverhältnisse sich darin andeuten und was diesbezüglich innerhalb der Konventionen sentimentaler Unterhaltung nicht artikuliert werden kann. Wie lässt sich verstehen, dass in STELLA DALLAS die Aufgabe von Mutterschaft als Erfül- lung mütterlicher Verantwortung moralisch legitimiert und heroisiert wird?

2.1 Die Klassenfrage in Stella Dallas

Dem spezifischen Mutteropfer geht in STELLA DALLAS eine komplexe Problema- tisierung legitimer bzw. defizitärer Mutterschaft in Verschränkung mit der The-

143 Robert Lang: American Film Melodrama. Griffith, Vidor, Minelli. Princeton 1989, S. 138. 2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 68

matisierung von Klassendifferenz voraus. Die Klassenfrage wird jedoch nicht of- fen verhandelt, sondern in zahlreichen Verweisen und Bezugnahmen angedeutet. So beginnt der Film mit einer Kamerafahrt über die monotone Architektur der fik- tiven Arbeiterstadt Millhampton [Abb. 11]. In der sich anschließenden Einstellung verlassen die Arbeiter die Fabrik, in der auch Stellas Bruder und Vater arbeiten [Abb. 12].144 In der nächsten Einstellung ziehen die Arbeiter an Stella vorbei, die im Vorgarten des elterlichen Hauses steht [Abb. 13].

[Abb. 11] Millhampton

[Abb. 12] Die Arbeiter verlassen die Fabrik

144 Die Szene erinnert an LA SORTIE DE L‘USINE (F 1895) der Brüder Lumière.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 69

[Abb. 13] Die Arbeiter ziehen an Stella vorbei

[Abb. 14] India’s Love Lyrics

[Abb. 15] Die Blicke kreuzen sich

Unter den vorbeiziehenden Männern ist auch Stephen, der durch Kleidung und Haltung als einer ‚höheren‘ Schicht zugehörig markiert wird. Stephens und Stellas Blicke treffen sich über den Rand von Stellas Lektüre India’s Love Lyrics hinweg

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 70

[Abb. 14 und 15]. In diesen ersten sprachlosen Bildern wird Klassen- und Ge- schlechterdifferenz mit romantischer Liebe und sozialem Aufstieg verknüpft. Die Menge der anonymen Arbeiter wird zu potentiellen und verworfenen Ehemän- nern, in dem Moment, in dem sich Stella und Stephen sehen. Die romantische Aufladung dieser Szene wird durch Stellas Lektüre verstärkt. Die Frage nach der Bedeutung von Klassendifferenz ist konstantes Thema das Films, sie wird zu- nächst in Bezug auf eine geschlechterspezifische Aufstiegsfantasie gestellt.

2.1.1 Einführen und Ausstreichen patriarchaler Drohung

Während die Klassendifferenz in der Liebesbeziehung zwischen Stella und Ste- phen zunächst überwunden scheint, manifestiert sie sich nach der Geburt Laurels umso deutlicher bezogen auf Stellas Status als Mutter. Die Verschränkung von Mutterschaft und Klassenzugehörigkeit wird durch eine von Stephen formulierte Drohung, Stella das Kind „wegzunehmen“, eingeführt. Der Drohung geht eine harmlos erscheinende Feier Stellas mit Freunden voraus. Der Bildaufbau unter- streicht, dass die Szene auf das Kind Laurel fokussiert ist [Abb. 16].

[Abb. 16] Fokus auf Laurel

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 71

[Abb. 17] Stephen kommt nach Hause

[Abb. 18] Stephens Perspektive

Als Stephen unerwartet nach Hause kommt, wechselt die Perspektive zu ihm, in Großaufnahme ist der Kinderstuhl mit einem mutmaßlich mit Alkohol gefüllten Glas und einer Zigarre auf Laurels Kinderteller zu sehen [Abb. 17 und 18]. Da- raufhin spricht Stephen besagte Drohung aus, die Stella vehement zurückweist [Abb. 19 und 20].

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 72

[Abb. 19] Streit um Laurel

[Abb. 20] Nobody is ever going to take you away

STEPHEN: Stella, I can‘t have our child living this way.

STELLA: What‘s wrong this time? […] Because there was a couple of drinks? What‘s wrong with that? Coming in here with that icebergy way of yours.

STEPHEN: I‘m sorry, I didn‘t mean to be rude, but she‘s my child, too, and I won‘t have this. I haven‘t wanted to take Lau- rel away from you, but if you …

STELLA: Take her away from me? What are you talking about? How dare you say such a thing? Give her to me! STELLA: You‘re here with Mommy, and nobody in the whole world is ever going to take you away. Nobody. Nobody.

Aufgrund der Einführung der Klassendifferenz zu Beginn des Films kann Ste- phens Verurteilung „living this way“ klassenbezogen gedeutet werden. Die Ver- schränkung von ‚angemessenem‘ Verhalten und Klassendifferenz setzt sich im

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 73

Weiteren fort und entscheidet die Frage nach Stellas Qualifikation als guter Mut- ter. Zum Zeitpunkt von Stephens Drohung ‚weiß‘ das Publikum aufgrund der wechselnden Perspektiven, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Während Stephen an Alkohol und Zigarre Anstoß nimmt, legt das durch Perspektivwechsel erzeugte Mehrwissen nahe, sein Urteil an dieser Stelle als ungerechtfertigt zu empfinden. Die Sympathien sind noch auf der Seite der um ihr Kind kämpfenden Mutter. Die väterliche Machtbehauptung bleibt eine Drohung – mit dem Effekt, die Frage nach der Trennung von Mutter und Kind als dramatischen Horizont des weiteren Geschehens einzuführen, Stephen als ausführende Gewalt jedoch gleich- zeitig aus dem Blick zu rücken. Im weiteren Verlauf wird die Beurteilung Stellas als gute oder schlechte Mut- ter verstärkt mit ökonomischen Bedürfnissen und kultureller Distinktion ver- knüpft. In einer herzzerreißenden Szene sehen wir Stella und Laurel vergeblich auf Geburtstagsgäste warten. Stella hat eine aufwändige Feier für den Geburtstag ihrer Tochter vorbereitet aber nach und nach sagen die Freundinnen ab. Das Pu- blikum weiß, dass in der vorangehenden Szene eine Lehrerin Laurels beobachtet, wie Stella in der Öffentlichkeit mit einem Freund lacht und herumalbert, und dass sie dieses Verhalten verurteilt. Wie in der Szene mit Stephen erzeugt das Mehr- wissen des Publikums Mitleid mit Stella und Laurel, die nicht ahnen, weshalb sie allein bleiben. Auch hier erscheint das gesellschaftliche Urteil, von der Lehrerin verkörpert, ungerecht und dadurch Empathie erzeugend. Szenen wie diese, in de- nen die Figur der Stella aufgrund ‚unkonventionellen‘ Verhaltens Missfallen er- regt, werden durch Szenen ergänzt, die ökonomische Abhängigkeit darstellen. So wird betont, dass Stella Laurels Kleider selbst näht, dass sie aus finanzieller Not die Haushaltshilfe entlässt.

2.1.2 Stellas Erkennen

Wir sehen Stella als hart arbeitende Mutter und Hausfrau, deren Lebensstil sich erst ändert, als sie in die Scheidung von Stephen einwilligt und einen opulenten Unterhalt erstreitet. In diesem Moment jedoch gehen Zuschauerperspektive und Stellas Perspektive auseinander. Zuvor sichert die Kamera die Sympathien für Stella, die für das Wohlergehen der Tochter auf alles zu verzichten scheint und

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 74

allein aufgrund von Klassendünkel von einer Gesellschaft verurteilt wird, auf die die Kamera einen distanzierten und kritischen Blick wirft. In dem Moment, in dem Stellas finanzielle Abhängigkeit offen benannt wird, ändert sich die Darstel- lung. Erst jetzt wird sie als selbstbezogener Lust ‚schuldig‘ dargestellt, wie exem- plarisch von Kaplan und Williams aus feministischer Sicht beschrieben.145 Stella nutzt Stephens Unterhalt für exzentrische Frisuren, Kleider und Schmuck und für den Aufenthalt in einem exklusiven Ferienresort, in dem Laurel Richard Grosve- nor, III kennenlernt und sich mit ihm verlobt. Während Laurel sich problemlos in die ‚Gesellschaft‘ integriert, gipfelt der Aufenthalt in Stellas greller Selbst- und Weiblichkeitsinszenierung und einem spektakulären Auftritt auf der Hotelterrasse [Abb. 21-23]. Dabei wechselt der Modus der Darstellung vom Sentimentalen zum Komischen. In klamaukhafter Überzeichnung wird gezeigt, wie sich Stella ‚kos- tümiert‘, mit Schmuck und Pelz ‚behängt‘ und sich dabei versonnen in verschie- denen Spiegeln betrachtet.146

[Abb. 21] Spiegel 1

145 S. Kapitel 1, S. 47f. 146 Vgl. zur Komik in STELLA DALLAS: Brauerhoch, Der Fall Stella Dallas; Cavell, Stella‘s Taste.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 75

[Abb. 22] Spiegel 2

[Abb. 23] Spiegel 3

[Abb. 24] Fokus auf Stella

Fertig ausstaffiert zieht Stella die spöttischen Blicke der anderen Hotelgäste auf sich. Im Unterschied zu den vorangegangenen Szenen, nimmt die Kamera hier jedoch keinen mit Stella empathischen Blick ein, sondern stellt sie als den Reak-

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 76

tionen ihrer Umgebung gegenüber ignorant dar [Abb. 24]. Es findet kein Perspek- tivwechsel statt, der Blick bleibt auf Stella gerichtet, anstatt sich in sie einzufüh- len. In einer Perspektivverschiebung überlagert sich hier der Zuschauerblick mit dem Blick der dargestellten ‚Gesellschaft‘, anstatt wie zuvor den innerdiegeti- schen Blick auf Stella und den Zuschauerblick in Opposition anzuordnen. Als Ef- fekt wird Empathie mit Stella nicht aufgehoben, jedoch ambivalent. Stella hat sich auch im Kamera- und Zuschauerblick ‚lächerlich‘ gemacht. Während zuvor die Figur der Stella als moralisch weitgehend unzweifelhaft dargestellt wurde, legt diese Szene einen übereinstimmenden verurteilenden Blick der ‚Gesellschaft‘ und des Publikums nahe. Die Distanz zwischen innerdiegetischem Blick auf Stella und Zuschauerperspektive wird aufgehoben.147 Der zentrale sentimentale Konflikt in

STELLA DALLAS besteht in der Verknüpfung von Stellas exzentrischem Auftritt mit der Frage nach ihrer Qualifikation als gute Mutter. Der Film verknüpft öko- nomische Abhängigkeit mit ‚unangemessenem’ Verhalten und legt eine kritische Einschätzung von Stellas Legitimation als Mutter auch für das Publikum nahe. An diesen Perspektivwechsel des Publikums schließt wiederum die Darstel- lung einer veränderten Selbstwahrnehmung Stellas an. Nachdem sich Stella zum Gegenstand öffentlichen Gespötts gemacht hat, belauscht sie im Setting eines klaustrophobisch engen, dunklen Zugabteils das Gespräch von Freundinnen Lau- rels:

FREUNDIN 1: She was quite a number! Dresses up to here and paint an inch thick and bells on the shoes that tink- led all the time […] You never saw such a sight! Anyway, you know who she was? -- Laurel Dallas’ mother.

FREUNDIN 2: I can’t believe it! You mean that pretty little girl Dick Grosvenor’s been rushing? […] She seemed so lovely and sweet.

FREUNDIN 1: I know, and isn‘t it weird? To have such a common looking creature for a mother?

147 Vgl. Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 43.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 77

FREUNDIN 2: Poor thing.

FREUNDIN 1: Poor nothing. She’s wearing Dick Grosvenors fra- ternity pin.

FREUNDIN 3: She won’t be wearing it long when Mrs. Grosvenor hears about it.

Die Szene wird als ein Moment der Selbsterkenntnis inszeniert. In dieser zentralen „sensation scene“ ‚erkennt‘ sich Stella im herablassenden Sprechen der ‚Gesell- schaft‘, sie ist nicht länger ignorant gegenüber ihrer Wirkung auf andere. Wäh- rend das diffamierende Reden aus dem Off zu hören ist, unterlegt mit melancholi- scher Streichermusik, zoomt die Kamera langsam an Stella heran, bis der Aus- druck schmerzlicher Realisierung auf ihrem Gesicht in Großaufnahme erscheint. Hier legt die Kamera wieder eine mit Stella empathische Perspektive nahe [Abb. 25].

[Abb. 25] Stellas Erkennen

Dies ist einer der zugespitzten Momente sentimentalen Genießens, in denen ein Bild des Gefühls, die „innere Sicht der Figur“, entworfen wird. Anhand einer ähn- lichen Szene aus APPLAUSE (USA 1929, R: Rouben Mamoulian) beschreibt Kap- pelhoff, dass das Melodram kein objektives Geschehen darstellt, sondern durch die mise-en-scène einen „Raum des Empfindens“ entsteht, „so als wäre das kine- matographische Bild das nach außen gestülpte Empfindungssensorium der Prota-

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 78

gonistin“.148 In den „sensation scenes“ des Melodrams artikuliert sich in den äs- thetischen Mitteln des Films ein Erkennen, das nicht verbalisiert werden kann149, jedoch weitgreifende Konsequenzen für die Narration hat.150 Das Erkennen führt in STELLA DALLAS zum eigentlichen Mutteropfer. In der anschließenden Szene besucht Stella Helen und leitet die ‚Adoption‘ Laurels ein. Ich werde auf diese Begegnung zwischen den beiden Müttern am Ende des Kapitels zurückkommen. Für den Moment möchte ich festhalten, dass sich in der Logik des Films direkt aus Stellas Selbsterkennen das spezifische Mutteropfer ableitet, das darin besteht, Mutterschaft selbst „abzugeben“. Warum aber das spezifische Mutteropfer plausi- bel auf Stellas Erkennen folgen kann, lässt sich nicht aus dem Film selbst schlie- ßen. Hier ist wiederum ein diskursiver Bezug zu berücksichtigen, der über senti- mentale Unterhaltung hinausgeht.

2.2 Klassenspezifische Familienökonomien

Wie beschrieben ruft der Film ein Konfliktpotential auf, dass sich auf das Ver- hältnis von Geschlechter- und Klassendifferenz bzw. auf das Verhältnis guter Mutterschaft und Klassenzugehörigkeit bezieht. Im ersten Kapitel dieser Arbeit habe ich das melodramatische Mutteropfer in Bezug auf eine biopolitisch defi- nierte Familienordnung dargestellt. Weil STELLA DALLAS die Klassenfrage stellt, besteht jedoch ein anderer diskursiver Bezug auf Familie. Dies lässt sich wie- derum mit Blick auf die von Foucault beschriebene Verschränkung von Sexuali- täts- und Familienordnung verstehen. Wie bereits Ariès151 führt Foucault die spe- zifische Konstitution der modernen Familie mit ihrer Zentrierung um das Kind auf ein bürgerliches Distinktionsbedürfnis gegenüber sowohl Adel als auch Kleinbür-

148 Ebd., S. 45. Kappelhoff vergleicht diese Szene aus APPLAUSE zudem mit der Hochzeitsszene in STELLA DALLAS und bemerkt, dass letztere in ihrem Entwurf eines Bild des Gefühls uneindeutiger sei. Ich meine, dass es vielmehr die hier beschriebene Szene im Zug ist, in der sich ein melodrama- tisches Erkennen im Sinne Kappelhoffs vollzieht. 149 Vgl. Williams, Race Card, S. 18. 150 In Kappelhoffs Beispiel APPLAUSE führt das Erkennen der Protagonistin zum Suizid. 151 Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 550.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 79

gertum zurück. Foucault spricht von der „Selbstaffirmation einer Klasse“152, in- dem sich das Bürgertum einen Körper und eine Sexualität gibt und in Abgrenzung zu anderen Klassen die Sorge um ihre Nachkommen formuliert.153 Sexualität und die an sie gebundene Familie versteht Foucault zunächst als bürgerlich, in relati- ver Gleichgültigkeit gegenüber dem Körper der Unterschicht. Das Bürgertum ha- be lange gezögert, dem Proletariat einen Körper und eine Sexualität zuzuerken- nen. Erst Konflikte des 19. Jahrhunderts im städtischen Raum und ökonomischer Druck machen es erforderlich, auch den proletarischen Körper, Bevölkerungs- bewegungen und Demographie der Arbeiterschaft zu erfassen und der Kontrolle zugänglich zu machen. Erst in diesem Moment kommt es nach Foucault zur Ver- allgemeinerung des Sexualitätsdispositivs154, das jedoch klassenbezogen unter- schiedlich greift:

Man muß darum wieder zu Formulierungen zurückkehren, die seit langem in Verruf sind. Man muß sagen, daß es eine bürgerliche Sexualität gibt, daß es Klassensexua- litäten gibt. Oder vielmehr daß die Sexualität in ihrem historischen Ursprung bürger- lich ist und daß sie in ihren sukzessiven Verschiebungen und Übertragungen zu spe- zifischen Klasseneffekten führt.155

Folgt man Foucault, dann bezieht sich das Hollywoodmelodram auf eine spezi- fisch bürgerliche Familienordnung, von der sich zu einem historisch späteren Zeitpunkt das Denken der Arbeiterfamilie auf klassendifferente Weise ableitet. Auch wenn das Proletariat in den Bereich des Sexualitäts- und Familiendisposi- tivs rückt, so erfolgt dies entsprechend der unterschiedlichen Funktionen nicht in einer einfachen Übertragung. Foucault veranschaulicht dies wiederum anhand der Inzestthematik: Der für die moderne Familie konstitutive „Anti-Masturbations- kreuzzug“ ist der bürgerlichen Familie gewidmet. Auf die Familien des städti- schen Proletariats zielt, so Foucault, zeitlich verschoben, eine andere Kampagne. Um die Stabilität der Arbeiterklasse in den Städten zu gewährleisten, sind Strate- gien „der Überwachung und der politischen Kontrolle, der Nichtmobilität und

152 Foucault, Wille zum Wissen, S. 120. 153 Ebd., S. 122. 154 Ebd., S. 124. 155 Ebd., S. 125.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 80

Nichtagitation“156 notwendig. Es sind Kampagnen zur „Moralisierung der armen Klassen“157, gegen die „wilde Ehe“158. Institutionen zur Förderung von Eheschlie- ßung und Familienbildung (Sparkassen, Wohnungspolitik etc.) werden eingerich- tet. Im Gegensatz zum Nähe-Gebot der bürgerlichen Familie herrscht hier das Ge- bot größtmöglicher Distanz.159 Symptomatisch ist hierfür wiederum die Problema- tisierung des Inzestbegehrens, das dieses Mal nicht als von den Kindern ausge- hend formuliert wird, sondern als Gefahr, die die Älteren (ältere Geschwister, Er- wachsene) für die Jüngeren (Kinder) bedeuten:

Während das Sexualitätsdispositiv seit dem 18. Jahrhundert die Gefühlsbeziehungen und die körperliche Nähe zwischen Eltern und Kindern intensiviert hatte, während in der bürgerlichen Familie ein ständiger Anreiz zum Inzest herrschte, zielt das auf die unteren Klassen gerichtete Sexualitätsregime auf die Ausschließung der Inzestprakti- ken oder zumindest auf ihre Verschiebung in andere Formen. […] Man darf nicht vergessen, daß die Entdeckung des Ödipus zeitlich mit den französischen Gesetzen von 1889 und 1898 zusammenfällt, die den Entzug des elterlichen Erziehungsrechts regeln.160

Foucault stellt hier einen Zusammenhang zwischen der Sexualisierung der Arbei- terklasse und dem „Entzug des elterlichen Erziehungsrechts“ her, also der Tren- nung von Eltern und Kind, die der Möglichkeit der Adoption vorausgeht. Im klas- senspezifischen Sexualitätsdiskurs der proletarischen Familie wird das Inzestbe-

156 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 352. 157 Foucault, Wille zum Wissen, S. 120. 158 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 351. 159 Ebd., S. 353. 160 Foucault, Wille zum Wissen, S. 127. Foucault erläutert: „In ihrem historischen Auftreten ist die Psychoanalyse nicht zu trennen von der Verallgemeinerung des Sexualitätsdispositivs und den damit zusammenhängenden Differenzierungsmechanismen. Das Problem des Inzests ist auch unter diesem Gesichtspunkt bedeutsam. Einerseits wird das Inzestverbot als absolut universales Prinzip angesehen, das sowohl das Allianzsystem wie auch das Sexualitätsregime zu denken gestattet; dieses Verbot gilt demnach in dieser oder jener Form für jede Gesellschaft und für jedes Individu- um. Aber in ihrer Praktik macht sich die Psychoanalyse anheischig, bei denen, die sich ihre Hilfe leisten können, die Wirkungen jener Verdrängung aufzuheben; sie gestattet ihnen, ihr inzestuöses Begehren zu artikulieren. Gerade zur selben Zeit aber setzte eine systematische Jagd auf inzestuö- se Praktiken ein, wie sie auf dem Land oder in bestimmten städtischen Milieus üblich waren – in solchen Milieus, zu denen die Psychoanalyse keinen Zutritt hatte. Ein enges administratives und gerichtliches Verfolgungsnetz wurde geknüpft, um diesen Praktiken ein Ende zu bereiten. Eine ganze Politik des Schutzes der Kindheit oder der gerichtlichen Bevormundung von ‚gefährdeten’ Minderjährigen zielte unter anderem darauf ab, sie aus Familien zu entfernen, die man – wegen Platzmangels, zweifelhaften Zusammenlebens, gewohnheitsmäßiger Ausschweifung, ‚Primitivität’ oder Entartung – inzestuöser Praktiken verdächtigte.“ (Ebd. 126f.)

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 81

gehren, im Gegensatz zur bürgerlichen Familie, als von den Erwachsenen ausge- hend und damit als Gefahr für die Kinder gedacht. Es handelt sich folglich um die im Vergleich zur bürgerlichen Familie entgegen gesetzte Intervention. Foucault beschreibt zwei unterschiedliche „Organisationsweisen der Familienzelle um die Gefahr der Sexualität herum, zwei Arten, die gefährliche und zugleich unver- meidbare Sexualisierung des familiären Raums zu erwirken, zwei Weisen, darin den Verankerungspunkt einer autoritären Intervention zu markieren“.161 Die Schutzbedürftigkeit der Kinder leitet sich hier von der Sexualisierung der Erwach- senen ab, nicht wie im Bürgertum von der kindlichen Sexualität selbst. Während die bürgerliche Familie durch die kindliche Sexualität hervorgebracht wird, die den Kern ihrer Zuständigkeit ausmacht, ist für die proletarische Familie, so lässt sich schlussfolgern, die permanente Drohung des Entzugs des Sorgerechts kon- stitutiv.

2.2.1 All I Desire: Bürgerliche Familienordnung

Ich möchte argumentieren, dass sich das Hollywoodmelodram in Referenz auf die unterschiedlichen Familienordnungen klassenspezifisch auf die Sexualisierung von Familie bezieht. Dies lässt sich im Vergleich zwischen STELLA DALLAS und einem anderen Beispiel, Douglas Sirks ALL I DESIRE verdeutlichen. In Bezug auf die bürgerliche Familie tendiert das Hollywoodmelodram dazu, die Kernfamilie zusammenhalten zu wollen bzw. ein Auseinanderfallen zu beklagen. In ALL I DE-

SIRE sehen wir Barbara Stanwyck in einer Rolle, die an die der Stella erinnert, aber gewissermaßen entgegengesetzt angeordnet ist.162 Zu Beginn des Films gibt es eine Szene, die wie die letzte Szene in STELLA DALLAS die Protagonistin von außen durch ein hell erleuchtetes Fenster blickend zeigt [Abb. 26].

161 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 355. 162 ALL I DESIRE basiert auf dem Roman STOPOVER von Carol Ryrie Brink (New York 1951). Der Film erinnert so sehr an STELLA DALLAS, dass man meinen könnte, Sirk habe eine Revision vor- nehmen wollen.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 82

[Abb. 26] Naomis Fensterblick

In ALL I DESIRE ist die Fensterszene jedoch Ausgangspunkt und nicht Schluss- punkt der Erzählung. Als Naomi Murdoch blickt Stanwyck von außen in das In- nere eines Hauses, in dem sich ihre Familie, Ehemann Henry (Richard Carlson) und zwei Töchter, Lily und Joyce (Lori Nelson, Marcia Henderson), am Esstisch versammelt haben.163 Naomi musste vor Jahren die Stadt und die Familie auf- grund einer skandalösen Affäre verlassen. Auch das Verhältnis zwischen Naomi und Henry ist von Klassendifferenz geprägt, jedoch sind die Unterschiede gemä-

ßigter. Anstatt Millionärssohn und Arbeitertochter streiten in ALL I DESIRE ein Schuldirektor und eine Schauspielerin miteinander. Die Verringerung der Klas- sendifferenz scheint aus Gründen der Plausibilität notwendig, weil der Film da- rauf angelegt ist, Naomi und Henry wieder zusammen zu führen.164 Naomi kommt zunächst nur zu Besuch und die Handlung wird von der Frage geleitet, ob sie bleiben darf oder ein weiteres Mal ihre Familie verlassen muss. In

STELLA DALLAS steht die Trennung von Mutter und Kind als ‚Lösung‘ am

Schluss der Erzählung, in ALL I DESIRE stellt die Trennung den zu lösenden Kon- flikt selbst dar. Naomi wird in die Familie und die Stadt ‚reintegriert’. Es ist schließlich der Vater, der die familiäre Ordnung wiederherstellt, in dem er Naomi

163 Elsaesser nennt beide Szenen „archetypisch“ (s. Elsaesser, Tales of Sound and Fury, S. 125). 164 So blickt Naomi auch auf derselben Ebene auf ihre Familie, während Stella in der Hoch- zeitsszene zum Fenster aufschaut.

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verzeiht und den Konkurrenten zur Rede stellt.165 Die Trennung zwischen der Mutterfigur und der Familie wird durch patriarchale Autorität wieder aufgehoben, symbolisiert dadurch, dass Henry Naomi den Schlüssel zum Haus gibt [Abb. 27].

[Abb. 27] Schlüssel zum Haus

Das Personal ist ein ähnliches wie in STELLA DALLAS: eine ‚unangemessene‘ Mutter, welche die Handlung vorantreibt und ein die gesellschaftliche Ordnung repräsentierender, statischer Vater. Zudem handelt es sich auch hier um einen Konflikt, der um die Frage kreist, inwiefern die Mutter Teil der Familie sein darf.

Während jedoch in STELLA DALLAS der Konflikt sehr schnell vom Verhältnis des heterosexuellen Paares auf das Verhältnis von Mutter und Kind verschoben wird und sich die Gefahr, die von der Mutter ausgeht, auf das Wohl des Kindes bezieht, steht in ALL I DESIRE die Beziehung der Eltern im Vordergrund. Während in

STELLA DALLAS sexuelles Begehren entdramatisiert wird, wird die Familie in ALL

I DESIRE als sexualisierte gezeigt. Dies ist insbesondere am Verhältnis zwischen

Eltern und Tochter zu sehen. In STELLA DALLAS wird das Verhältnis zwischen

Vater und Tochter als gänzlich unschuldig dargestellt, in ALL I DESIRE reagiert die ältere Tochter eifersüchtig auf die Rückkehr der Mutter und fürchtet außerdem, ihr Freund könne dem Charme der Schauspielerin unterliegen – ein ödipales Sze-

165 Henrys Autorität bleibt brüchig. Es sind auch hier die weiblichen Figuren, die die Handlung vorantreiben. Naomi hat ihren ehemaligen Liebhaber, der droht, die wieder auflebende Beziehung zwischen Naomi und Henry zu gefährden, im Streit verletzt Sie hat gehandelt, bevor sich auch Henry dazu durchringen kann. Männliche Autorität ist auch in ALL I DESIRE abhängig von weibli- cher Aktivität und wenn Henry Naomis ehemaligen Liebhaber im Krankenhaus aufsucht, dann wirken beide gleichermaßen ‚angeschossen‘.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 84

nario, das in STELLA DALLAS vermieden wird. Der Konflikt, der in STELLA DAL-

LAS in mütterlicher, biopolitischer Verantwortung besteht, wird in ALL I DESIRE als Begehrenskonflikt formuliert.

In ALL I DESIRE besteht der melodramatische Ausgangskonflikt in der unvoll- ständigen Kernfamilie, deren Einheit wiederhergestellt wird. In STELLA DALLAS steht der Verantwortungsentzug am Ende, als Lösung aller Konflikte. Väterliche

Präsenz wie Handlung sind so gut wie irrelevant. In ALL I DESIRE ist die Tren- nung der Mutter von der Familie Ausgangspunkt des Konflikts, die Lösung be- steht darin, diese rückgängig zu machen und in die ursprüngliche Konstellation zurückzukehren, was zugleich die (brüchige) Wiederherstellung väterlicher Auto- rität bedeutet. Für die Handlung entscheidend ist nicht der Topos mütterlicher Verantwortung, sondern patriarchaler Durchsetzungskraft gegenüber weiblichem

Begehren. Im Vergleich STELLA DALLAS und ALL I DESIRE lässt sich sehen, dass die melodramatische Logik auf die Zusammenführung der bürgerlichen Familie gerichtet ist, einhergehend mit der Wiederherstellung väterlicher Autorität, wäh- rend in Bezug auf die Unterschichtsfamilie eine Ordnung aufgerufen werden kann, die eine Trennung von Mutter und Tochter legitimiert. Die Inszenierung legt in STELLA DALLAS das sentimentale Genießen der Legitimierung der Tren- nung von Mutter und Kind nahe. Ich gehe im Weiteren der Frage nach, worin das Genießen dieser Figur besteht.

2.2.2 Die Soziale Frage. Das heroische Mutteropfer als Tech- nik der Selbstregulierung

So verschieden die Entstehungszusammenhänge und Formen der „Klassensexua- litäten“ sind, so verschieden sind auch die Interventionen, die sie hervorrufen. Die Gefahr, die von der Sexualität des Kindes ausgeht, bedarf des medizinischen und therapeutischen Wissens. Die Gefahr, die von den Erwachsenen ausgeht, verlangt nach repressiver Intervention durch Justiz, Polizei, Sozialarbeit.166 Es handelt sich

166 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 355f. Die Repressionsthese, die Foucault im Allgemeinen ablehnt, hat hier Berechtigung, jedoch nicht auf eine der Zivilisation äußerliche Sexualität bezogen, sondern als Begrenzung einer Sexualität, die gleichermaßen diskur- siv ist. Die Begrenzung bezieht sich auf die aus biopolitischen Gründen notwendig gewordene Sexualisierung des Proletariats: „Die Theorie der Repression, die das Sexualitätsdispositiv allmäh-

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 85

um Institutionen zur Erfassung der Familien des gemeinen Volkes, deren wesent- liche Aufgabe gerade nicht darin besteht, inzestuöse Kinderwünsche zu behan- deln, wie es die Psychoanalyse für die bürgerliche Familie tut, sondern ‚gefähr- dete Kinder’ vor dem Begehren von Vater und Mutter zu schützen und sie bei Be- darf aus der Familie herauszuholen:

D.h., im einen Fall gliedert die Psychoanalyse das Begehren wieder in den Schoß der Familie ein […], während man im andern Fall nicht vergessen darf, daß es symme- trisch dazu und in absoluter Zeitgenossenschaft diese andere ebenfalls ganz reale Operation gab, die darin bestanden hat, aus Furcht vor inzestuösen Übergriffen der Erwachsenen das Kind aus der Familie herauszunehmen.167

In beiden Fällen konstituiert sich die moderne Kernfamilie durch eine Schutz- funktion, die sich auf die Gesundheit und Sexualität des Kindes bezieht, aber die Formen, dieser Verantwortung gerecht zu werden, unterscheiden sich grundsätz- lich.168 Jacques Donzelot, ein Schüler Foucaults, nennt diese beiden Familienord- nungen „geschützte Freiheit“ (bezogen auf die bürgerliche Familie, die von sich aus ärztlichen Rat sucht und vor Dienerschaft und schlechtem sozialen Umgang geschützt werden muss) und „überwachte Freiheit“ (bezogen auf die proletarische Familie, die durch Zwänge und institutionelle Anreize diszipliniert wird).

STELLA DALLAS kann sich affirmativ auf diese spezifische Ordnung der Un- terschichtsfamilie und die darin denkbare Trennung von Eltern und Kind bezie- hen. Der Film beinhaltet eine implizite Kritik an der Verknüpfung von Klassen- differenz und Elternschaft und ist in dieser zugleich ambivalent, denn die Tren- lich überziehen und ihm den Sinn eines verallgemeinerten Verbots geben sollte, hat da ihren Ur- sprung. Sie ist historisch an die Ausbreitung des Sexualitätsdispositivs gebunden. Auf der einen Seite rechtfertigt sie seine gebieterische und zwingende Ausdehnung, indem sie das Prinzip durch- setzt, daß alle Sexualität dem Gesetz zu unterwerfen ist […]. Aber auf der anderen Seite kompen- siert die Theorie der Repression die allgemeine Ausbreitung des Sexualitätsdispositivs durch ein analytisches Untersagungssystem, das nach Gesellschaftsklassen differenziert.“ (Foucault, Wille zum Wissen, S. 125f.) 167 Foucault, Die Anormalen, Vorlesung vom 12. März 1975, S. 356. Foucault schlägt vor, eine auf das Proletariat bezogene soziologische von einer psychoanalytischen Inzesttheorie zu unterschei- den (ebd. S. 357). 168 Foucault geht dem im Weiteren nicht anhand der Familie nach, sondern er fragt, wie eine Macht, die sich über die Sorge um das Leben legitimiert, töten kann. Er formuliert dies als Frage nach den Möglichkeiten der ‚Binnendifferenzierung’, die sich auf die Notwendigkeit zur „Vertei- digung der Gesellschaft gegen die von innen drohenden Gefahren“ beruft und einen „internen Ras- sismus“ begründet (Michel Foucault: „Vorlesung vom 17. März 1976“, in: ders.: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt am Main 1999, S. 159-190).

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 86

nung von Mutter und Kind erscheint nicht als repressive Maßnahme, sondern als aus einem Moment des Selbsterkennens entstehend, als selbst gewählte Maß- nahme mütterlicher Verantwortung. Diese Figur der Selbstsanktionierung der Un- terschichtsmutter ist entscheidend für die besondere Sentimentalität und Am- bivalenz des Films, in ihr manifestiert sich sein spezifisches nicht artikulierbares Machtwissen. Die Figur der Selbstsanktionierung ist in Bezug auf eine erweiterte Betrachtung der klassenspezifischen Familienordnung als „soziale Frage“ zu ver- stehen, wie sie Donzelot ausführt. Donzelot knüpft bei den unterschiedlichen Formen der von Foucault beschriebenen Familialisierung an. Er fragt, wie die „überwachte Freiheit“ der proletarischen Familie innerhalb der „fortgeschrittenen liberalen Gesellschaften“ genau gestaltet ist.169 Auch die proletarische Familie unterliege, so Donzelot, nicht nur einer einfachen Repression, sie werde, wie die bürgerliche Familie, einem Prinzip der Selbstregulierung unterworfen. Donzelot untersucht die Mittel eines Staates, der sich aus politischer Verpflichtung zum Li- beralismus und aus ökonomischen Gründen auch der proletarischen Bevölkerung gegenüber nicht auf Repression als alleiniges Machtinstrument berufen kann.170 Die Drohung des Entzugs des elterlichen Erziehungsrechts stellt darin eine letzte Maßnahme dar, wenn eine Reihe vorangehender, regulierender Maßnahmen nicht die erwünschte Wirkung zeigen. Donzelot bezieht die Techniken der (Selbst-)Regulierung der proletarischen Familie auf eine „Politik des Sozialen“, die sich von einer vorangehenden Vor- stellung von Wohltätigkeit abgrenzt und die eng an die Familie als Ort und In- strument von Intervention gebunden ist.171 Nachdem mit der Erklärung der Men-

169 Jacques Donzelot: Die Ordnung der Familie. Frankfurt am Main 1980 (i.O. 1977). Vgl. zur liberalen Gouvernementalität als Prinzip und Methode der Rationalisierung der Regierungsaus- übung, die der internen Regel maximaler Ökonomie gehorcht im Gegensatz zu einer auf den Staat ausgerichteten disziplinierenden Gouvernementalität: Michel Foucault: „Die Geburt der Biopoli- tik“, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (1970-1975), Bd. 3. Aus dem Französischen von Michael Bischoff u.a. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt am Main 2003, S. 1020-1028. 170 Donzelot, Ordnung der Familie, S. 15. 171 Donzelot, Ordnung der Familie, S. 106. Vgl. Foucault zur Familie als Instrument zur Regierung der Bevölkerung: „Dagegen zeigt sich die Familie in diesem Moment als Element innerhalb der Bevölkerung und als grundlegendes Relais zu deren Regierung. Anders gesagt, die Regierungs- kunst konnte bis zum Aufkommen der Bevölkerungsproblematik nur vom Modell der Familie, von

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 87

schenrechte das Volk nicht mehr einfach weggesperrt werden könne, nimmt nach Donzelot die Philanthropie die Funktion ein, die Armen zu disziplinieren.

Das Problem ist um so heikler, als es nicht mehr wie unter dem Ancien Régime schlicht und einfach durch Repression aus der Welt geschaffen werden kann, weil die liberale Ökonomie auf die Anwendung von Verfahren zur Erhaltung und Bildung der Bevölkerung angewiesen ist. […] Wie lassen sich Praktiken zur Erhaltung und Bil- dung der Bevölkerung entwickeln, die von jeder direkten politischen Zuordnung aus- geschlossen sind, sich aber nichtsdestoweniger zur Beruhigung, Befriedung und In- tegration heranziehen lassen? Antwort: durch die Philanthropie. Die Philanthropie, die man nicht als eine naiv apolitische Formel zur privaten Intervention in der Sphäre der sogenannten sozialen Probleme verstehen darf, sondern als eine entschieden ent- politisierende Strategie bei der Einrichtung der öffentlichen Einrichtungen, wobei sie einen neuralgischen Punkt besetzt, der gleich weit von der Privatinitiative wie vom Staat entfernt ist.172

Donzelot unterscheidet die Philanthropie im liberalen Staat von der Armenfür- sorge im Ancien Régime. Diese sei ein individuelles Almosenwesen im Sinne christlicher Barmherzigkeit gewesen und habe eine Wohltätigkeit bedeutet, die an die Mitgliedschaft in der Kirche sowohl der Empfänger wie der Spender gebun- den war und der eine Prüfung auf Moral und Ehrbarkeit vorausging.173 Aus Per- spektive der neuen Philanthropen liegt diesem Prinzip eine „falsche Wahr- nehmung der Armut“174 zugrunde. Repression und Wohltätigkeit sind beides kei- ne angemessenen Mittel mehr, um die „soziale Frage“ anzugehen. Diese stellt sich in einer gemeinnützigen, ökonomischen, patriotischen Gesellschaft, die nicht mehr nur Bürger vereinigt, sondern sich mit dem sozialen Körper des ganzen Ge-

der als Verwaltung der Familie verstandenen Ökonomie her gedacht werden. Von dem Moment an, wo die Bevölkerung im Gegenteil als etwas auftaucht, das sich durchaus nicht auf die Familie reduzieren läßt, wechselt die Familie im Verhältnis zur Bevölkerung folglich auf eine niedrigere Ebene; sie erscheint als Element innerhalb der Bevölkerung. Sie ist also kein Modell mehr, sie ist ein Segment, ein einfach deshalb privilegiertes Segment, weil man, sobald man bei der Bevölke- rung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muß“ (Michel Foucault: „Die Gouvernementalität, Vorlesung 4, Sitzung vom 1. Februar 1978“, in: ders.: Geschichte der Gou- vernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977- 1978. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, herausgege- ben von Michel Sennelart. Frankfurt am Main 2004, S. 134-172, hier S. 157). 172 Donzelot, Ordnung der Familie, S. 67f. Vgl. auch Wolf Rainer Wendt: Geschichte der Sozialen Arbeit 1. Die Gesellschaft vor der sozialen Frage. Stuttgart 2008, S. 162; 239. 173 Donzelot, Ordnung der Familie, S. 72f. 174 Ebd., S. 73. Vgl. zum Übergang von Armenpolitik zu Sozialpolitik: Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit, S. 306. Auch Wendt unterscheidet zwischen Wohltätigkeit, Spende und mensch- licher Zuwendung der Wohlhabenden für die Armen und der eigentlichen „sozialen Frage“.

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meinwesens identifiziert und in der nicht individuelle Hilfen zu leisten sind, son- dern in der es gilt, den gesellschaftlichen Zustand insgesamt zu bessern. In diesem Sinn entstehen das Soziale und die „soziale Frage“ erst zu Beginn des 19. Jh.175 Philanthropie ersetzt Wohltätigkeit, an die Stelle der Barmherzigkeit tritt der pragmatische Ratschlag, an die der Repression die moralisierende Norm.176 Ziel ist eine Entlastung der Allgemeinheit von der Aufgabe, für die Armen zu sorgen, ohne repressive Mittel anzuwenden. Durch die Philanthropie werden die Ansprü- che an staatliche Unterstützung in die Privatsphäre zurückverwiesen, eine Frage des politischen Rechts wird in eine Frage ökonomischer Moral verwandelt.177 Die neue Politik des Sozialen regiere, so Donzelot, „durch die Familie“178. Da- bei gehe es zunächst ganz konkret darum, das Aussetzen von Kindern, wilde Ehen und Landstreicherei zu verhindern, indem die Familie und insbesondere Mutter- schaft aufgewertet werden. Donzelot betrachtet die Familie als Instrument, Anrei- ze zur Selbständigkeit zu vermitteln. Sie dient als „Stützpunkt“, um jene In- dividuen zu binden, die sich sonst in Unterhaltsbelangen an den Staat wenden. Gleichzeitig ist die Familie, so Donzelot, auch „Zielscheibe“, indem die Probleme innerhalb der Familie genutzt werden (insbesondere patriarchale Autorität), um die Normen (des Sparens, der Hygiene) in die private Sphäre einführen zu kön- nen.179 Die Familie entlastet den liberalen Staat als Versorgungseinheit und er- möglicht zugleich die moralisch-pragmatische Intervention. Damit die Familie

175 Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit, S. 7. Die „soziale Frage“ werde zuerst im Frankreich der 1820er, nach 1840 auch in Deutschland diskutiert, als Reaktion auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaften. Kritische Punkte sind die Ungleichheit der Einkommensentwicklung, das sittliche Problem allgemeiner Verwahrlosung in den Familien der Armen, Bedrohung durch Besitzlose, Gefahr des Umsturzes (ordnungspolitisch, polizeilich), hygienische Seuchengefahr in Wohngebie- ten der Armen, materielle Versorgung der Armen als Problem öffentlicher und privater Wohltätig- keit (ebd. S. 117). 176 Donzelot, Ordnung der Familie, S. 70. Norm wird hier im Sinne der „Normalisierungsgesell- schaft“ bei Foucault verstanden, als Verknüpfung von Norm der Disziplin und Norm der Regulie- rung (s. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 293; vgl. auch Thomas Lemke, Susanne Krasmann, Ulrich Bröckling: „Gouvernementalität, Neoliberalismus, Selbsttechnologien. Eine Einleitung“, in: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main 2000, S. 7-40, hier S. 13f. 177 Donzelot, Ordnung der Familie, S. 68f. 178 Ebd., S. 104. 179 Ebd., S. 71.

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ihre Aufgabe als Versorgungs- und Präventionsstätte erfüllt, werde mit der Instanz der Vormundschaft eine Drohung eingeführt, die jedoch als Anreiz zur Unabhän- gigkeit (durch Sparen, Hygiene, Erziehung) dargestellt wird.180 Ich möchte argumentieren, dass klassenspezifische Drohung und Selbstsank- tionierung – eine zugleich repressive und auf Selbstregulierung ausgerichtete Lo- gik des Sozialen, nach der Armut eine Frage des Charakters ist – den diskursiven 181 Horizont in STELLA DALLAS bilden. Die Bilder ökonomischer Abhängigkeit und sozialer ‚Unangemessenheit‘ rufen eine klassenspezifische moralische Legi- timation der Trennung von Mutter und Kind auf. In diesem Bezug ist zu verste- hen, dass sich mit Stephen die Drohung der Trennung nur andeutet. Er repräsen- tiert keine patriarchale Gewalt, sondern eine soziale Ordnung der Selbstregulie- rung. Im Horizont dieser spezifischen historischen Ordnung der modernen, prole- tarischen Familie wird die Figur mütterlicher Selbstsanktionierung zum Ausdruck moralischen Verantwortungsgefühls. Der Film greift eine unterschwellig wirk- same Drohung des Sorgerechtsentzugs auf, die in Bezug auf die bürgerliche Fa- milie nicht in derselben Form besteht. Die besondere Ambivalenz und Melodra- matik in STELLA DALLAS rührt nicht nur aus dem Klassenkonflikt, sondern vor allem aus der Inszenierung einer internalisierten Sanktion aufgrund gescheiterten sozialen Aufstiegs und ökonomischer Unabhängigkeit. STELLA DALLAS kann auf das hin gedeutet werden, was an Adoption kritisierbar ist und was ihre „negative Aufladung“ auf signifikante Weise ausmacht: In Bezug auf die verschiedenen Familienökonomien wird moderne Adoption als Effekt eines klassenspezifischen Instruments – der Drohung des Sorgerechts – zur Regulierung erkennbar. Die He- roisierung der „abgebenden“ Mutter im Denken von Adoption ist symptomatisch für die moralisierende Logik der Selbstsanktionierung.

180 Ebd. 181 Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit, S. 128.

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2.3 Die Zuschauerin als „ideale Mutter“

Warum aber eignet sich die Figur des Mutteropfers als Selbstsanktionierung für sentimentale Unterhaltung? Geht es darum, ein Bild des Gefühls abgebender Mut- terschaft zu entwerfen? Sentimentale Unterhaltung lässt sich nur begrenzt als Ar- tikulation subalterner Stimmen verstehen.182 Ich möchte stattdessen an die Tradi- tion sentimentaler Unterhaltung erinnern, durch Empathie mit Opferpositionen 183 den Beweis der Empfindungsfähigkeit des Publikums herzustellen. In STELLA

DALLAS verbindet sich diese Produktion einer moralisch legitimierten Zu- schauerperspektive mit einer Position, die das Verhältnis zwischen Müttern unter- schiedlicher Klasse legitimiert. Um dies zu veranschaulichen, ist es notwendig, die Darstellung des Verhältnisses Stellas zu jener Figur zu betrachten, an die sie sich Hilfe suchend wendet. An die Szene von Stellas ‚Erkennen‘ schließt, wie bereits erwähnt, der Be- such bei Helen Morrison, Stephens zweiter Frau und selbst Mutter zweier Söhne an.

[Abb. 28] Stellas Bitte 1

182 S. die Einleitung dieser Arbeit, S. 20. 183 S. ebd., S. 16.

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[Abb. 29] Stellas Bitte 2

[Abb. 30] Helens Mitleid

Das Hollywoodmelodram adressiert eine weibliche intime Öffentlichkeit und so wendet sich Stella nicht an den Vater Laurels, sondern an diese bis dahin weitest- gehend als außenstehend dargestellte Figur mit der Bitte, Laurel als ihre Tochter anzunehmen.

STELLA: You see … Lollie‘s growing up now, and she -- well, she‘s quite a responsibility. […] so I feel that I‘ve done about all I can for her. […] well, if you and Stephen got married, why, Lollie could come and live with you, and … your name being Mrs. Dallas, you see, everybody would naturally think she was … your little girl, and … than when you went places, you see, well … you see … you‘re the kind of a mother that … any girl would be proud of.

HELEN: I didn‘t know anyone could be so unselfish.

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Die Szene stellt insbesondere durch die Kleidung Differenz her, zugleich vermit- telt sie größtmögliche emotionale Nähe. Während Stella stockend und indirekt ihre Not und ihren Wunsch äußert, rückt sie immer näher an Helen heran [Abb. 28 und 29]. In dem Moment, in dem Helen Stellas Anliegen als „selbstlos“ erkennt, ist sie es jedoch, die Stellas Hand ergreift. Die Kamera erfasst nun neben Stellas hilfesuchender Geste auch Helens gequälte Mimik [Abb. 30]. Im Gegensatz zu den anderen Figuren ist Helen in der Lage, Stellas Mutteropfer in seiner ganzen Dimension zu erfassen. Dieses Verstehen wird nicht ausformuliert, sondern im Ausdruck stummen, empathischen Mitleidens dargestellt.

STELLA DALLAS zeichnet sich durch häufigen Perspektivwechsel aus, der „Mehrwissen“ des Publikums erzeugt. Der Perspektivwechsel trägt zudem zu ei- ner „liberalen“ mise-en-scène bei, die Elsaesser in Bezug auf die Filme Sirks be- schreibt und die den Effekt hat, alle Figuren als Opfer erscheinen zu lassen.184 Auf

ähnliche Weise hat Williams die Zuschauerposition in Bezug auf STELLA DALLAS beschrieben.185 Sie verweist dabei auf Tania Modleskis Konzept der ähnlich an- geordneten Zuschauerposition von Fernseh-Soap Operas. Die Soap Opera lege keine Identifikation mit einer einzigen handlungstragenden Figur nahe, sondern mit allen Figuren zugleich.186 Modleski bezeichnet diese, mit allen Figuren empa- thische Perspektive, wiederum metaphorisch als Position einer „idealen Mutter“ – eine Position, die über mehr Wissen verfügt, als alle ihre Kinder, die empathisch im Stande ist, die widersprüchlichen Anforderungen aller Familienmitglieder zu erfassen und die keine eigenen Interessen verfolgt, da sie sich zwar mit allen gleichzeitig, aber mit niemandem ausschließlich identifiziert.187 Für Williams stimmt in STELLA DALLAS diese Zuschauerposition der „idealen Mutter“ mit der Figur der Helen Morrison überein. Wie Modleskis „ideale Mutter“ könne die sich mit allen anderen identifizieren und als Einzige Stellas Leiden und Opfer als sol-

184 Elsaesser, Tales of Sound and Fury, S. 123; 125. 185 Williams, Something Else Besides a Mother, S. 153. 186 Tania Modleski: „The Search for Tomorrow in Today’s Soap Opera: Notes on a Feminine Nar- rative Form“, Film Quaterly 33, No.1 (Fall 1979), S. 12-21, hier S. 14. 187 Ebd.

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ches erkennen.188 Helen ist diejenige, die in der Hochzeitsszene am Schluss des Films veranlasst, dass der Vorhang des Fensters aufgezogen wird und somit der Blick für Stella von der Straße aus auf die Hochzeitszeremonie freigegeben ist. Helen ist jedoch auch diejenige, die Laurel vergewissert, dass Stella nichts von der Hochzeit weiß [Abb. 31]. Im Gegensatz zu Modleskis Zuschauerin ist sie nicht nur passive Beobachterin, die darunter leidet, nicht in das Geschehen ein- greifen zu können.

[Abb. 31] Helen und Laurel

Helen verkörpert Stellas Gegenpart als Repräsentantin einer im Überfluss leben- den Oberschicht. Während Stella in verschiedenen Stadien exzessiver Kleidung gezeigt wird, ist Helen stets elegant und makellos. Wo Stella laut, ungeschickt, ignorant erscheint, ist Helen zurückhaltend, verständnisvoll, umsichtig. Das heißt auch, dass sie für jene Klassenhierarchie steht, innerhalb derer Stella als gute Mut- ter disqualifiziert wird und die den Konflikt von Klassenzugehörigkeit und Mut- terschaft produziert. Zugleich stimme ich Williams darin zu, dass Helen die Posi- tion der Zuschauerin als „ideale Mutter“ verkörpert. In dieser Widersprüchlichkeit produziert STELLA DALLAS eine moralisch legitime Position der Figur der Ober- schicht, gleichzeitig Klassendenken kritisierend und affirmierend. Stellas Mutteropfer verkörpert in Bezug auf die Ökonomie des Sozialen eine

Form internalisierter Selbstsanktionierung. Das kritische Potential von STELLA

DALLAS besteht in der Darstellung eines Zusammenhangs zwischen Klassendiffe-

188 Williams, Something Else Besides a Mother, S. 153.

2 Klassendifferenz und „ideale Mutterschaft“ 94

renz und legitimer/defizitärer Mutterschaft. Dieses implizite Machtwissen deutet sich im stummen Leiden Stellas und Helens an. Helen unterscheidet sich jedoch von den anderen Vertreter/innen der Oberschicht – Stephen, Laurels Lehrerin und den Gästen des Ferienresorts – durch die Überlagerung mit der Zuschauerper- spektive im Mehrwissen. Das heißt, die Position der „idealen“ Mutter und die der

Oberschichtsfrau verschmelzen mit der Zuschauerperspektive. STELLA DALLAS legitimiert sowohl die als selbst gewählt dargestellte Trennung der „abgebenden“ Mutter vom Kind, wie auch die Position einer als „ideale“ Mutter gedachte Ober- schichtsfrau, in dem ihr eine Position empathischen Mehrwissens zugeschrieben wird. In STELLA DALLAS deutet sich auf für sentimentale Unterhaltung typische Weise ein Machtwissen an, das die Überlagerung von Klassenhierarchie und Le- gitimation von Mutterschaft betrifft. Indem die Position der Oberschichtsmutter als „ideale Mutter“ im Sinn der Zuschauerin moralisch legitimiert wird, wird Klassenhierarchie affirmiert. Aus der Perspektive der Oberschichtsmutter schafft Empathie Legitimierung der Trennung von Mutter und Kind und der eigenen Po- sition. Der heroisierende Blick erzeugt eine moralische Legitimierung der „idea- len“ Mutter – Oberschichtsfrau und Zuschauerin – gedacht als außen stehende und zugleich empathische Beobachterin.

STELLA DALLAS folgt der Tradition der moralischen Legitimierung dominan- ter Positionen im Sentimentalen, die Berlant als „soft supremacy“ bezeichnet hat.189 Berlant und Williams beschreiben diese Anordnung bezüglich melodrama- tischer Darstellungen des Verhältnisses Weißer und afroamerikanischer Figuren. Die US-amerikanische melodramatische „Tom tradition“ der Filme, die in Nach- folge von Harriet Beecher Stowes UNCLE TOM‘S CABIN (Boston 1852) Weiße Fi- guren in Sympathie für Schwarze Figuren zeigen, sei, so Williams, Ausdruck Weißen Schuldbewusstseins: „melodrama is the alchemy with which white sup- remacist American culture first turned its deepest guilt into a testament of vir- tue.“190 Die Demonstration Weißer Sympathie durch Weißes Mitleiden mit dem Leiden der Schwarzen habe neue Bilder ‚Rassengrenzen‘ überschreitender emoti-

189 Berlant, Female Complaint, S. 6. 190 Williams, Race Card, S. 44.

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onaler Intimität und Zuwendung entworfen: „tears to cross racial barriers“.191 So ist die Notwendigkeit der Präsenz empathischer Stellvertreterfiguren dominanter Positionen in sentimentaler Unterhaltung zu verstehen. Ähnlich zu dieser Logik des „Racial Melodrama“ stellt auch Helen eine solche Stellvertreterfigur dar im

Klassenmelodram. STELLA DALLAS lässt sich als „Management“ von Ambivalenz einer Zuschauerposition verstehen, die das klassenbezogene Machtgefälle in der Legitimation von Elternschaft (an)erkennt und zugleich aktiv an der Herstellung und Aufrechterhaltung dieses Machtverhältnisses beteiligt ist.

2.4 Das ambivalente Wissen der „idealen Mutter“

Wie diskursmächtig dieses sentimentale Denken von „abgebender“ und „anneh- mender“ Mutterschaft weiterhin ist, verdeutlicht ein aktuelles Beispiel. John Lee 192 Hancocks THE BLIND SIDE inszeniert eine ähnliche Konstellation. THE BLIND

SIDE stellt eine Verschränkung von „Racial Melodrama“, Klassen- und Mutterme- lodram dar. Die wohlhabende Leigh Ann Tuohy (Sandra Bullock) nimmt sich des verwahrlosten Michael Oher (Quinton Aaron) an, der mit ihrer Hilfe zum Foot- ball-Star avanciert. Bevor die Familie Tuohy Michael offiziell adoptiert, sucht Leigh Ann dessen Mutter Denise (Adriane Lenox) auf. In Denise’ düsterer Woh- nung wird eine der Szene in STELLA DALLAS ähnelnde therapeutische Couch- Situation inszeniert [Abb. 32-34].193

191 Ebd., S. 55. 192 Bullock hat für ihre Rolle der Leigh Ann Tuohy 2010 einen Oscar als beste Hauptdarstellerin erhalten, der Film war zudem als bester Spielfilm nominiert. 193 Ich danke Eva Warth für diesen Hinweis.

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[Abb. 32] Denise’ Erkennen

[Abb. 33] Leigh Ann nähert sich

[Abb. 34] Denise und Leigh Ann auf der Couch

Im Unterschied zu STELLA DALLAS ist THE BLIND SIDE offensichtlicher auf eine moralische Legitimierung der Position der Weißen Adoptivfamilie ausgerichtet. Die Handlung wird aus der Perspektive der zunächst vorurteilsbehafteten Leigh

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Ann erzählt, die sich gegen eigene Vorbehalte und die ihrer sozialen Umgebung erst dazu ‚durchringen‘ muss, Michael in ihre Familie zu integrieren. Der histori- sche Abstand zu STELLA DALLAS ist darin zu sehen, dass es hier Leigh Ann ist, die Denise aufsucht. Es geht nicht mehr darum, eine „abgebende“ Mutter darzu- stellen und klassenspezifische Elternschaft zu legitimieren, sondern die Position der Adoptivmutter, die um das Einverständnis bittet, das Kind annehmen zu dür- fen. Dies ist in Hinblick auf die in der Einleitung genannte Kritik an Adoption, das heißt in Hinblick auf veränderte Legitimationsverhältnisse zu deuten. Die Fi- gur der Selbstsanktionierung der „abgebenden“ Mutter ist allerdings weiterhin präsent. Sie kann als aus sentimentalem Familiendiskurs vertrautes Mutteropfer zitiert werden. In Anwesenheit von Leigh Ann ‚erkennt‘ auch Denise ihr ‚Versa- gen‘ als Mutter und legitimiert dadurch die sich anschließende offizielle Adoption Michaels durch die Familie Tuohy. Die empathische Heroisierung der „abgeben- den“ Mutter legitimiert die klassenhierarchisch definierte „ideale“, das heißt die „annehmende“ Mutter. Das sentimentale Genießen der heroischen Figur der „ab- gebenden“ Mutter bezieht sich auf diese Legitimierung der „idealen“/ „anneh- menden“/ Oberschichtsmutter. Helen bzw. Leigh-Ann verkörpern den ambiva- lenten Blick auf die „abgebende“ Mutter, im impliziten Wissen um die hierarchi- schen Klassenverhältnisse, die Adoption innerhalb einer biopolitischen Familien- ordnung als Effekt hervorbringen und die beide Frauen in ein verschleiertes Machtverhältnis zueinander versetzen.194 Sentimentale Unterhaltung zeichnet sich durch die Referenz auf nicht artiku- lierbare Machtverhältnisse aus. Im Fall von STELLA DALLAS bedeutet das ein im- plizites Machtwissen klassenhierarchischer Familienordnungen und einer konsti- tutiven Drohung des Sorgerechtsentzugs, einhergehend mit der Figur mütterlicher Selbstsanktionierung. Zugleich wird das implizite Machtwissen durch die affir- mativen und normalisierenden Eigenschaften sentimentaler Unterhaltung be- grenzt. Hier äußert sich dies in einer Normalisierung der Klassenhierarchie durch die empathische Stellvertreterfigur der Helen. Damit einhergehend wird Adoption

194 Sowohl Barbara Stanwyck als auch Sandra Bullock haben selbst ein Kind adoptiert. Vgl. zu Barbara Stanwyck: Herman, Kinship by Design, S. 44. Über Bullocks Adoption eines afroameri- kanischen Jungen aus New Orleans ist umfangreich in der Boulevardpresse berichtet worden.

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selbst normalisiert. Darin ist jedoch die Ambivalenz der „idealen“ Mutter als Zu- schauerin eingeschrieben, die auch um die eigene Involviertheit in die Klassen- hierarchie weiß. Die Sentimentalität der Figur der „abgebenden“ Mutter verweist auf die ambivalente Position der „annehmenden“ Mutter. Die „negative Aufla- dung“ von Adoption ist Ausdruck impliziten Machtwissens bezüglich der Ver- schränkung von Klassenhierarchie und Elternschaft. Die Heroisierung der „abge- benden“ Mutter normalisiert Klassenhierarchie und legitimiert Adoption als Ef- fekt dieser Normalisierung, zugleich scheint darin das ambivalente, nicht arti- kulierte Wissen von genau dieser Normalisierung auf.

Teil 2: Transnationale Adoption als Medium der Krise

Im ersten Teil dieser Arbeit habe ich das indirekte Machtwissen bezüglich der „abgebenden“ Mutter betrachtet, das zur „negativen Aufladung“ von Adoption beiträgt. Ich deute den Topos heroischer „abgebender“ Mutterschaft auch als Ausdruck einer ambivalenten Position „idealer“ Mutter- bzw. Elternschaft. Das heroische Mutteropfer ermöglicht den Ausdruck eines Wissens der Involviertheit in eine hierarchische Verschränkung von Klassendifferenz und Elternschaft, zu- gleich bedeutet sie deren Affirmation. Die „negative Aufladung“ von Adoption ist weniger als Ausdruck des Leidens „abgebender“ Mütter zu verstehen, denn als Gefühlsbild „idealer“ Elternschaft, die eine kritisches Wissen um die Bedingun- gen der eigenen Legitimierung beinhaltet und zugleich ausstreicht.

Anhand von STELLA DALLAS war nachvollziehbar, welchen diskursiven und dramaturgischen Aufwand die Legitimierung der Trennung von Mutter und Kind und des damit einhergehenden Blicks auf diese Trennung aus der Perspektive „idealer“, bürgerlicher Elternschaft (der sich mit der Perspektive des/der Zuschau- ers/in überlagert) erfordert. Mit Blick auf THE BLIND SIDE wird deutlich, dass der Topos heroischer Mutterschaft weiterhin wirkmächtig ist, jedoch nicht mehr der- selben Legitimierungsanstrengungen bedarf. Die Heroisierung der „abgebenden“ Mutter ist konventioneller Bestandteil des Denkens von Adoption, was ihre Prä- senz in zahlreichen Soap Operas, Fernsehserien und Spielfilmen, wie etwa VA,

VIES ET DEVIENS (Frankreich, Israel, Belgien, Italien 2005, R: Radu Mihaileanu) und MOTHER AND CHILD (USA, Spanien 2009, R: Rodrigo García) erklärt. Der zweite Teil dieser Arbeit wendet sich einer anderen Perspektive zu, die aus historischen Gründen mit Ende des 20. Jahrhunderts Bestandteil sentimentaler Unterhaltung wird. Die Perspektive erwachsener Adoptierter selbst ergibt sich nicht nur aus der historischen Entwicklung transnationaler Adoption seit dem Zweiten Weltkrieg, ihre mediale Präsenz ist auch in Zusammenhang mit ihrer spezifischen Attraktivität für das Erzählen sentimentaler Geschichten zu verste- hen. Wie die „abgebenden“ Mutter ist die Figur des/der transnational Adoptierten auf besondere Weise „negativ aufgeladen“. Erneut stellt sich die Frage, worin die- Teil 2: Transnationale Adoption als Medium der Krise 100

se „negative Aufladung“ besteht, auf welches Machtwissen sie verweist und wie die Artikulation dessen begrenzt wird. Die „negative Aufladung“ der Figur des/der erwachsenen Adoptierten manifestiert sich im Topos der Identitätskrise, der hier anhand dreier diesbezüglich dominanter Themen untersucht wird: den Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption und individueller Adoptivfami- lien (Kapitel 3), der Thematisierung von ‚Rassen’-Differenz in Zusammenhang mit transnationaler Adoption und innerhalb der Adoptivfamilie (Kapitel 4) und der Heimatfantasie einer Heimkehr und Vergewisserung eindeutiger Zugehörig- keit (Kapitel 5). Die aus dem ersten Teil der Arbeit vertraute sentimentale Ret- tungsnarration und das heroische Mutteropfer sind in den hier betrachteten Dar- stellungen weiterhin präsent, worauf ich insbesondere in Zusammenhang mit den offiziellen und inoffiziellen Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption eingehe. Rettungsnarration und Mutteropfer werden, unabhängig von fiktionaler oder dokumentarischer Form, in den Adoptionsgeschichten zitiert. Ihre Präsenz deutet auf ihre diskursive, das Denken von Adoptivverwandtschaft bestimmende Bedeutung hin. In den Darstellungen erwachsener Adoptierter – hier exemplarisch anhand von zweier Fernsehdokumentationen, DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PER-

SON PLURAL, betrachtet – kommen weitere sentimentale Figuren und Topoi hinzu. Die Darstellungen referieren selbst auf einen ihnen vorausgehenden Adoptions- diskurs und seine sentimentalen Figuren, sie beziehen sich ihrerseits auf sentimen- tale Weise auf diese sentimentalen Adoptionsfiguren. Sentimentalität vervielfäl- tigt sich in den diskursiven Bezügen. Da die Darstellungen von einem Topos der Krise ausgehen, sind kritische Perspektiven in ihnen offensichtlicher. Zunächst betrachte ich daher die in den Darstellungen explizit formulierte Kritik an den of- fiziellen Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption und frage, inwiefern die kritische Darstellung selbst zur sentimentalen Aufladung von Adoption bei- trägt. Ich zeige in einem ersten Schritt, wie im kritischen Blick auf die offiziellen Entstehungsgeschichten das ausgeblendet, was die offiziellen Geschichten mit den individuellen und biographischen Geschichten verbindet – die Bedeutung der ‚Geburtsväter’, das heißt die zu Beginn transnationaler Adoption mehrheitlich

Teil 2: Transnationale Adoption als Medium der Krise 101

US-amerikanischen Soldaten, die an der heiklen Grenze von Haus- und Sexarbeit die ersten Kinder transnationaler Adoption zeugen. Die Bedeutung der Väter ist nicht nur aufgrund der vergeschlechtlichten Gewaltverhältnisse der Zeugung pre- kär, sondern auch, weil sie den missing link zwischen „abgebenden“ und „anneh- menden“ Nationen, Herkunfts- und Adoptivfamilien darstellen. Ihre diskursive Abwesenheit lädt die Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption „negativ“ auf. Die ambivalente Position der Soldaten als Täter (sexueller Gewalt) und als Retter (in den Adoptionskampagnen) verweist auf eine ähnlich ambivalente In- volviertheit der Adoptivnationen und -familien. In einem zweiten Schritt betrachte ich, wie sich die sentimental aufgeladenen, prekären Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption auf das Erzählen indi- vidueller Entstehungsgeschichten auswirken. Ich zeige, wie der komplexen und problematischen Frage der Bedingungen der Zusammenführung von Adoptivfa- milie und -kind mit einer dominanten Strategie des Nicht-Sehens begegnet wird. Dies lässt sich insbesondere anhand der Darstellung mediengenerierter Adoptiv- beziehungen veranschaulichen. Die Zusammenführung von Adoptivfamilie und - kind wird häufig auf eine erste ‚Begegnung’ mittels Fotografien oder Fernsehbil- dern zurückgeführt. Ich betrachte, wie mittels der Referenz auf Medien in den in- dividuellen Entstehungsgeschichten die Frage nach den Bedingungen der Zu- sammenführung umgangen wird. Paradoxer Weise erweist sich die beliebte Refe- renz auf die konstitutive Bedeutung von Medien für die Herstellung von Adoptiv- beziehungen als Strategie des Nicht-Sehens. In den Darstellungen der erwachse- nen Adoptierten ist daher die Medienreferenz selbst Gegenstand des Sentimenta- len, da in ihr das Nicht-Sehen der Entstehungsbedingungen transnationaler Adop- tion im Kollektiven und im Einzelnen inhärent ist. Die in den Darstellungen sen- timental aufgeladene Figur des Nicht-Sehen von Differenz verkörpert ein doppel- tes Machtverhältnis der politischen und ökonomischen Bedingungen transnationa- ler Adoption und deren Ausblendung in der Medienreferenz. Das Nicht-Sehen von Bedingungen und Differenz ist für den hier referierten Adoptionsdiskurs im Allgemeinen zentral. Besonders deutlich wird das anhand von ‚Rassen’-Differenz, der sichtbarsten Markierung von Differenz im transnatio- nalen Adoptivverhältnis. Ich untersuche, wie in den Darstellungen die Nicht-

Teil 2: Transnationale Adoption als Medium der Krise 102

Thematisierung und Ausblendung von ‚Rasse’ sentimentalisiert wird, das heißt, inwiefern „Farbenblindheit“ und passing auf ‚Rassen’-Hierarchie als Bedingung von transnationaler Adoption zwischen Nationen und innerhalb der Adoptivnation hindeuten und wodurch zugleich die Artikulation einer Kritik an dieser Hierarchie begrenzt wird. In der Artikulation von Kritik an diesen durch ‚Rassen’-Differenz bestimmten Beziehungen betrachte ich Strategien der Vereindeutigung von ‚Ras- sen-Zugehörigkeit des/der transnational Adoptierten, sowohl als Weiß, als auch als Nicht-Weiß. Ich zeige, dass beide Formen der Vereindeutigung in Hinblick auf ein sentimentales Begehren nach „Ambivalenz-Management“ zu verstehen sind. Wie das Management von Ambivalenz die Darstellungen transnationaler Adoption im Gesamten bestimmt, frage ich im letzten Kapitel. Ausgehend vom Topos der Heimkehr betrachte ich die in den Darstellungen inszenierten Fantasien einer bedingungslosen, unschuldigen Zugehörigkeit. Das Begehren nach Zugehö- rigkeit, „Okayness“ und die Möglichkeit der Behauptung von Normalität bestim- men die hier untersuchten Darstellungen transnationaler Adoption. Zuvor habe ich die ‚Gespenster’ der Vergangenheit und der Machtbeziehungen betrachtet, die in den Darstellungen selbst aufgerufen werden und die ein uneingeschränktes Be- kenntnis zu einer der beiden Familien problematisch machen. Im letzten Kapitel dieser Arbeit frage ich danach, wie trotz der Artikulation direkten und indirekten Machtwissens, im Topos der Heimkehr eindeutige Zugehörigkeit (wieder-) herge- stellt wird. Dies geschieht, in dem das Scheitern der Behauptung einer eindeutigen Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie (bedingt in ‚geisterhaft’ präsenten Machtver- hältnissen) selbst wiederum als sentimentale Erkenntnis inszeniert wird, die die Rückkehr zur nun wirklich eindeutig erscheinenden Adoptivfamilie ermöglicht. „Ambivalenz-Management“ heißt in den Darstellungen transnationaler Adop- tion das Bekenntnis zur Adoptivfamilie. Ich verstehe dieses Bekenntnis zur Adop- tivfamilie als Effekt des sentimentalen Begehrens nach Herstellung eindeutiger Beziehungen. Dass diese der Adoptivfamilie zugeordnet werden können, verweist auf deren bereits konventionellen Status, zugleich werden die Adoptivbeziehun- gen durch die sentimentale Darstellung normalisiert. Dieses Normalisierung der Adoptivfamilie ist auch als Effekt sentimentaler Darstellungskonventionen zu verstehen, die aufgrund der gleichzeitigen Artikulation von Kritik und der Aus-

Teil 2: Transnationale Adoption als Medium der Krise 103

richtung an eindeutiger Zugehörigkeit und „Okayness“ eine Hinwendung zur Adoptivfamilie begünstigen. Die Nicht-Artikulation der Machtverhältnisse, die transnationale Adoption bedingen, führt in der sentimentalen Logik dazu, die Be- ziehungen zur Herkunftsfamilie zu verwerfen und die zur Adoptivfamilie zu af- firmieren. Aus dem Blick geraten dabei nicht nur die Beziehungen zwischen den Familien und Nationen, die gleichermaßen an der Herstellung und Gestaltung die- ser Form von Verwandtschaft beteiligt sind. Die sentimentale Wendung zur Adoptivfamilie blendet die Frage nach einem anderen Denken von Verwandt- schaft selbst aus, das notwendig ist, um adäquat auf die Krise transnationaler Adoption antworten zu können. Untergründig bleibt diese Frage jedoch als unbe- antwortet präsent. Erneut möchte ich argumentieren, dass die „negative Aufla- dung“ von Adoption im impliziten Machtwissen besteht, das den normalisierten und in den Darstellungen (wieder-) hergestellten Adoptivbeziehungen selbst inhä- rent ist.

3 Zurück zu den Wurzeln. Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption

3.1 Das Krisennarrativ transnationaler Adoption

Im zweiten Teil dieser Arbeit betrachte ich fernsehdokumentarische Darstellungen von erwachsenen transnational Adoptierten, die einen Topos der Identitätskrise als Ausgangspunkt haben. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstehen zahlreiche (au- to-)biographische Darstellungen von Adoptierten, in denen ein ambivalentes und konflikthaftes Verhältnis zu Fragen ethnischer, familiärer und sozialer Zugehörig- keit auf den Umstand der Adoption zurückgeführt wird.195 Dieses konflikthafte Verhältnis wird zumeist mit Bildern des Verlusts kultureller, biologischer, biogra- phischer „Wurzeln“ und einem Begehren nach „Ganzheit“ („wholeness“) und emotionaler „Schließung“ („closure“) beschrieben.196 Das Denken von Adoption als eine Form der ‚Entwurzelung‘ geht in diesen Darstellungen mit der Imaginati- on einer Rückkehr ins Geburtsland und der Wiedervereinigung mit den Geburtsel- tern einher. Rückkehr und Wiedervereinigung versprechen das Wiedererlangen eines Gefühls von Ganzheit und die Heilung der identitären Krise.197 David Eng hat in diesem Zusammenhang das Gefühl von Verlust, Trauer und Begehren nach Zugehörigkeit als „Racial Melancholia“ bezeichnet.198 Ich argumentiere im Fol-

195 Frühe Beispiele sind LIVING IN HALFTONES von Me-K Anh (USA 1994) und GREAT GIRL von Kim Su Theiler (USA 1993); besonders eindrücklich zuletzt in der Dokumentation des Verhältnis- ses einer 32-jährigen koreanischen Adoptierten zu ihrer US-amerikanischen Adoptivfamilie in ADOPTED. WHEN LOVE IS NOT ENOUGH (USA 2008, R: Barb Lee). Beeindruckend ist die Darstel- lung der Komplexität der Beziehungen in den Filmen von Sophie Bredier: NOS TRACES SILENCI- EUSES (F 1998, Regie gemeinsam mit Myriam Aziza), SÉPARÉES (F 2000, Regie gemeinsam mit Myriam Aziza) und CORPS ÉTRANGER (F 2004). S. auch Kim, Korean Adoptee Auto-Ethnography. Literarische Beispiele sind Jane Jeong Trenkas THE LANGUAGE OF BLOOD. A MEMOIR (Saint Paul, Minnesota 2003) und BERLIN, SEOUL, BERLIN. DIE REISE ZU MIR SELBST (Berlin 2008) von der deutschen Autorin Miriam Young Min Stein. 196 Barbara Yngvesson: „Going ‚Home‘. Adoption, Loss of Bearings, and the Mythology of Roots“, in: Toby Alice Volkman (Hg.): Cultures of Transnational Adoption. Durham, London 2005, S. 25-48, hier S. 27. 197 Ebd. 198 Eng, Feeling of Kinship, S. 121. 3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 105

genden, dass die Topoi von ‚Entwurzelung‘ und Identitätskrise innerhalb der Konventionen sentimentaler Unterhaltung zu verstehen sind. Ich betrachte die Darstellungen transnationaler Adoption nicht als unmittelbare Artikulation psy- chischer Dispositionen, sondern behaupte, dass das sentimentale Sprechen von Adoption als ‚Entwurzelung‘ mit den ambivalenten Machtverhältnissen zu tun hat, die Adoption im 20. Jahrhundert bedingen.

DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL erzählen beide von ei- nem krisenhaften Zustand zu Beginn der dargestellten Reise. In DAUGHTER FROM

DANANG wird die Krise mit einer problematischen Beziehung zur Adoptivmutter und dem Verlust der Geburtsmutter begründet. In Opposition zur Adoptivmutter wird zunächst die Figur der vietnamesischen Mutter als Fluchtpunkt des Begeh- rens nach Ganzheit und Heilung aufgebaut. Heidi und Kim sind zu Beginn ab- wechselnd zu sehen, sie erzählen jeweils von der schmerzhaften Trennung und ihren Hoffnungen auf ein heilsames Wiedersehen. Auch in FIRST PERSON PLURAL wird ein Zusammenhang zwischen der Depression, die sich die Regisseu- rin/Protagonistin Deann selbst diagnostiziert und ihrem Verhältnis zu ihrer Adop- tivfamilie nahegelegt. Deann schildert das Dilemma, als Kind ihre Erinnerungen an Korea bewahren und zugleich in ihrer Adoptivumgebung alles ‚richtig‘ machen und sich anpassen zu wollen. Nach und nach, so sagt sie, verliert sie die Erinne- rungen an ihre Zeit in Korea. Als Erwachsene wird sie jedoch in Traumbildern von diesen Erinnerungen ‚verfolgt‘.

DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL thematisieren den Ver- lust ihrer Beziehungen zu den Geburtseltern und dem Geburtsland als anhaltende

Krise, die ein Begehren nach Wiedervereinigung in DAUGHTER FROM DANANG und nach Vereinigung beider Familien in FIRST PERSON PLURAL produziert. Beide Filme knüpfen an das klassische sentimentale Setting emotionalisierter, dysfunk- tionaler Familienverhältnisse an und variieren es zugleich. Vertraut ist die Insze- nierung der Trennung von Beziehungen zwischen Familienmitgliedern und das Begehren nach der Wiederherstellung dieser Beziehungen. Neu ist die Themati- sierung aus der Perspektive von Adoptivkindern und die komplexeren Verhältnis- se durch die Verdopplung der Familien. Dadurch wird uneindeutig, auf welche Familie sich das Begehren nach Wiedervereinigung richtet. Auf exemplarische

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 106

Weise bilden in DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL ein Gefühl von Verlust, Gespaltenheit („incompleteness“) und Verfolgung durch die Vergan- genheit („haunted“) den Ausgangspunkt der Geschichte.199 Ich betrachte die hier diskutierten Filmbeispiele als exemplarisch für das sen- timentale Denken von Adoption am Ende des 20. Jahrhunderts, das heißt für den Wunsch, eine kritische Perspektive einzunehmen und zugleich an der Fantasie einer eindeutigen Zugehörigkeit und einem Gefühl von „Okayness“ festzuhal- ten.200 Mein Argument ist, dass die sentimentalen Topoi des Verlusts, der Ent- wurzelung und des Begehrens nach Ganzheit im Verhältnis zur Möglichkeit der Artikulation einer kritischen Perspektive auf politische, vergeschlechtlichte und rassifizierte Machtverhältnisse zu verstehen sind. Anhand der Darstellungen von drei zentralen Themen – den Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption, dem Sehen von ‚Rassendifferenz’ innerhalb der Adoptivfamilie und der in den Filmen verworfenen und reinstallierten Heimatfantasie folge ich den Verweisen auf begrenzt artikulierbare Machtverhältnisse und implizite Kritik, die in den Fil- men selbst enthalten sind. Die in diesem zweiten Teil betrachteten dokumentari- schen Beispiele thematisieren die Bedingungen der in ihnen dargestellten Konflik- te direkter als dies in den bisher diskutierten fiktionalen Hollywoodfilmen der Fall war. Sie beziehen sich auf vorangehende Diskussionen als Geschichten in Ge- schichten. Auch hier wird jedoch eine kritische Darstellung durch sentimentale Konventionen begrenzt.

3.1.1 Ein eigenes „Genre“ transnationaler Adoptionsgeschich- ten

Der spezifische historische Moment des Erscheinens dieses Phänomens hat mit der Geschichte transnationaler Adoption im 20. Jahrhundert zu tun. Mit der Stati- onierung US-amerikanischer Soldaten in Europa und Asien nach dem Zweiten Weltkrieg und den von ihnen gezeugten „Besatzungskindern“ entsteht die hier

199 Eleana Kim: Adopted Territory. Transnational Korean Adoptees and the Politics of Belonging. Durham. London 2010, S. 91. 200 S. die Einleitung zu dieser Arbeit S. 18.

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 107

betrachtete Form transnationaler Adoption unter anderem auch in Deutschland.201 Die Zahl der Adoptionen aus Deutschland sinkt im Zuge politischer und ökono- mischer Restitution schnell wieder. Im Gegensatz dazu etabliert sich transnationa- le Adoption nach den Kriegen in Korea und Vietnam in großem Umfang. Nach Hübinette werden zwischen 1953 und 2004 über 150.000 Kinder aus Korea zur Adoption vermittelt, zwei Drittel gehen in die USA, das letzte Drittel verteilt sich auf Frankreich, Skandinavien und andere westeuropäische Länder.202 In Folge dessen entsteht Ende des 20. Jahrhunderts eine komplementäre Bewegung in um- gekehrter Richtung. Etwa 2000 erwachsene Adoptierte kehren jedes Jahr nach Südkorea zurück, zu Besuch, für längere Studien- und Arbeitsaufenthalte bis hin zur vollständigen Emigration und Re-Migration.203 In Zusammenhang mit dieser neuen Form transnationaler Bewegungen erwachsener Adoptierter entstehen die hier diskutierten Darstellungen, die auch Reflexionen des Diskurses transnationa- ler Adoption sind. Aufgrund sich wiederholender oder ähnlicher Motive und Narr- rationen hat sich ein eigenes „Adoptionsgenre“ herausgebildet.204 Es handelt sich dabei in der Regel um dokumentarische Darstellungen, die auf sehr persönliche Weise emotionale Geschichten von Trennung, Verlust und der Suche nach Hei- mat, Herkunft und Identität erzählen.205 Ich verstehe die sentimentalen Krisen- und Rückkehrnarrationen transnationa- ler Adoption als Versuche des „Ambivalenz-Managements“, wie es Berlant als

201 Heide Fehrenbach: Race after Hitler. Black Occupation Children in Postwar Germany and America. Princeton, New Jersey 2005. 202 Hübinette, Comforting an Orphaned Nation, Appendix, S. 261f. Kein anderes Land hat eine so lang anhaltende Adoptionsgeschichte wie Südkorea. 203 S. Eleana Kim, „Wedding Citizenship and Culture: Korean Adoptees and the Global Family of Korea“, in: Toby Alice Volkman (Hg.): Cultures of Transnational Adoption. Durham, London 2005, S. 49-80, hier S. 58. Dies entspricht ungefähr der Anzahl der Kinder, die weiterhin jedes Jahr aus Südkorea zur Adoption ins Ausland vermittelt werden. Die Erfahrungen südkoreanischer Adoptierter sind für die Wahrnehmung transnationaler Adoption prägend. So sagt Toby Alice Volkman in ihrer Einleitung: „Everything I‘ve learned has been from the Korean adoptees.“ (Toby Alice Volkman: „Introduction: New Geographies of Kinship“, in: dies. (Hg.): Cultures of Trans- national Adoption. Durham, London 2005, S. 1-22, hier S. 10). 204 S. Kim, Korean Adoptee Auto-Ethnography. S. 46. 205 Die Anthropologin Eleana Kim, die sich umfassend mit der Konstitution einer transnationalen Community koreanischer Adoptierter befasst, bezeichnet die (auto-)biographischen Filme als „per- formances of the search for identity“ (ebd. Herv. i.O.).

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 108

Ziel sentimentaler Unterhaltung beschrieben hat.206 „Management“ von Ambiva- lenz heißt hier, an der Behauptung einer eindeutigen Zugehörigkeit festhalten zu können, trotz der komplexen Bedingungen transnationaler Adoption, die eine sol- che Zugehörigkeit in Frage stellen könnten. Die Rückkehrfantasien sind auch als Versuch zu verstehen, die Geschichten der Entstehung um Komplexität und Am- bivalenz zu vervollständigen.

3.1.2 Die Krise in Daughter from Danang und First Person Plural

Die typische Sentimentalität dieser Form von Adoptionsgeschichten lässt sich exemplarisch anhand der Fernsehdokumentationen DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL nachvollziehen. DAUGHTER FROM DANANG dokumen- tiert die „Wiedervereinigung“ der Protagonistin Heidi Bub/Mai Thi Hiep mit ihrer Geburtsfamilie im Jahr 1997 in Vietnam. Heidi/Hiep wurde am Ende des Viet- namkrieges 1975 im Alter von sieben Jahren im Rahmen der „“ aus Vietnam in die amerikanischen Südstaaten adoptiert. FIRST PERSON PLURAL ist die autobiographische Erzählung von Deann Borshay Liem, die 1966 aus Süd- korea adoptiert wird. Der Film porträtiert ihre Kindheit und Jugend in Kalifornien und das Verhältnis zu ihrer Adoptivfamilie. Auch dieser Film dokumentiert eine Reise, auf der Deann ihre Geburtsfamilie mit ihrer Adoptivfamilie zusammen- führt. Das sich wiederholende Reisemotiv bietet eine visuelle Darstellung an, die die Geschichten transnationaler Adoption gerade auch für das Medium Fernsehen attraktiv machen. Beide Filme sind offensichtlich Fernsehproduktionen, erkennbar an der typischen Verbindung mehrerer Darstellungsmodi, narrativer Stränge und Materialien. Die Filme folgen keiner einheitlichen Ästhetik und stellen heterogene 207 Elemente gleichwertig nebeneinander. DAUGHTER FROM DANANG bedient ver-

206 Vgl. die Einleitung dieser Arbeit, S. 14ff. 207 In dieser Mischung entsprechen beide Filme den Konventionen des Fernsehens, vielfältige Elemente („Segmente“) nebeneinander zu montieren, ohne dabei einer einzigen eindeutigen Be- deutung untergeordnet zu sein. Vgl. John Ellis: „Fernsehen als kulturelle Form“ (i.O. 1992), in: Ralf Adelmann u.a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie - Geschichte - Ana- lyse. Konstanz 2001, S. 44-73, hier S. 50.

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 109

schiedene Genres, neben der Darstellung historischer ‚Fakten‘ und dem emotiona- lisierenden, sentimentalen Porträt persönlicher Beziehungen enthält der Film auch die bunten Bilder der Reisereportage. FIRST PERSON PLURAL konzentriert sich stärker auf die Beziehung zwischen Adoptivtochter und -eltern, aber auch hier entsteht durch unterschiedliche Filmtechniken wie Interviews und beobachtende Kamera und Einsatz anderer Medien (Fotografien, historisches Fernseharchivma- terial, Briefe, Ausschnitte aus Home Movies) der Eindruck einer Collage. Beide Filme präsentieren eine Mischung aus historischer Dokumentation, Reisebericht und Entwicklungsgeschichte. In beiden Filmen lassen sich drei inhaltliche Stränge ausmachen, die in unter- schiedlicher Gewichtung auftreten: Darstellung der historischen Bedingungen der Adoption, Rückblick in die Jugendzeit der Protagonistinnen im Adoptivland und Dokumentation der Rückkehr ins Geburtsland. Die drei Stränge folgen keiner strengen Chronologie, sie sind, wie für das Fernsehen üblich, ineinander verwo- ben. Beide Filme fügen einzelne Episoden in ein nachträglich hergestelltes Gan- zes ein, dabei permanent zwischen der Perspektive der Protagonistin und der Sicht auf die Protagonistin wechselnd. In beiden Filmen ist das Biographische Aus- gangspunkt zur Thematisierung von sowohl politischen Zusammenhängen als auch zur Vermittlung einer emotionalen Sicht. Sie stehen in dem für diese Form des Dokumentarfilms typischen Spannungsverhältnis zwischen dem Dokumenta- rischen, das auf die ‚Welt draußen‘ gerichtet ist und dem Autobiographischen, das Private und Subjektive betonend. Die Filme sind mit kleinem Budget finanziert, die Thematisierung von Alltagsgeschehen und -beziehungen im Sinne einer „inof- fiziellen“ Geschichte steht im Vordergrund.208 Die Sentimentalität der Darstellun- gen hat insbesondere mit den nur schwer artikulierbaren Beziehungen zwischen den historischen Bedingungen und den individuellen Geschichten transnationaler Adoption zu tun.

208 Jim Lane: The Autobiographical Documentary in America. Madison, Wisconsin 2002, S. 4.

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 110

DAUGHTER FROM DANANG wurde zunächst auf Festivals gezeigt und hat als Langfilm Anerkennung bekommen.209 Beide Filme sind im US-amerikanischen 210 Fernsehen vom öffentlichen Sender PBS ausgestrahlt worden. DAUGHTER FROM

DANANG wurde in der Reihe , einer Dokumentarfilmreihe 211 zur US-amerikanischen Geschichte, gezeigt. FIRST PERSON PLURAL erschien in der Reihe Point of View, die subjektivere Darstellungen präsentiert. Die Filme un- terscheiden sich daher in ihren unterschiedlichen Formen von Autorschaft. In

DAUGHTER FROM DANANG filmt und beobachtet ein ‚unsichtbares‘ Filmteam das

Geschehen [Abb. 35], in FIRST PERSON PLURAL ist die Regisseurin und Produzen- tin mit der Protagonistin identisch [Abb. 36].

[Abb. 35] Blick auf Heidi

209 DAUGHTER FROM DANANG erhielt 2002 den Preis für die beste Dokumentation auf dem renommierten Sundance-Film-Festival und war 2003 für den Academy Award als bester Doku- mentarfilm nominiert. In Deutschland war der Film 2002 auf dem Internationalen Dokumentar- filmfestival in München und auf dem Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund/Köln zu sehen. 210 PBS (Public Broadcasting Service) ist ein Zusammenschluss nicht-kommerzieller Lokalsender, hauptsächlich durch Spenden und zu einem geringeren Anteil von staatlichen Zuschüssen finan- ziert und mit ‚Bildungsauftrag‘ (s. www..org/aboutpbs, zuletzt aufgerufen am 25.02.2011). DAUGHTER FROM DANANG war auch im deutschen Fernsehen zu sehen, am 22.4.2005 im WDR in der Reihe dok&Doku am Freitag um 23.55 Uhr ausgestrahlt. 211 „TV‘s Most-Watched History Series“ (s. www.pbs.org/wgbh/americanexperience/about). S. auch die umfassende Homepage zu DAUGHTER FROM DANANG www.pbs.org/wgbh/amex/daughter/

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 111

[Abb. 36] Direkte Adressierung

Als Regisseurin/Protagonistin dominiert Deanns Perspektive: Voice Over und zum Teil direkte Ansprache des Publikums vermitteln den Eindruck souveräner

Autorschaft. DAUGHTER FROM DANANG erlaubt eher einen voyeuristischen Blick auf die emotionalen Konflikte der Protagonistin, wofür der Film stark kritisiert wurde.212 Trotz der formalen Unterschiede und der daraus entstehenden Effekte für den Subjektstatus der Protagonistinnen, betrachte ich hier beide Filme auf die Ähnlichkeiten in der Darstellung, die Aufschluss über die sentimentale Diskursi- vität transnationaler Adoption geben. Beide Filme beziehen sich auf ähnliche Machtverhältnisse, deuten auf ähnliche Ambivalenzen hin und generieren ähnli- che Momente des Sentimentalen und Nichtartikulierbaren. Anhand der Ähnlich- keit der Filme in Bezug auf das Sentimentale frage ich nach den Möglichkeiten und Grenzen kritischen Denkens transnationaler Adoption in den Darstellungen. In diesem Kapitel betrachte ich Entstehungsgeschichten transnationaler Adop- tion, wie sie in den Filmen dargestellt werden. Es geht zum einen um die offizielle Entstehungsgeschichte, in der an die bereits im ersten Teil dieser Arbeit erwähnte Tradition der Rettungsnarration von Adoption angeknüpft wird. Zum anderen geht es um Entstehungsgeschichten auf der Ebene der einzelnen Adoptivfamilien. Die Betonung der Bedeutung von Medien für die Herstellung der Beziehungen zwischen Adoptivfamilie und -kind bezogen wird, ist wiederum eine kollektive

212 Vgl. Choy und Choy, What Lies Beneath; Natalie Cherot: „Transnational Adoptees: Global Biopolitical Orphans or an Activist Community?“, Culture Machine, Nr. 8 (2006), http://www.culturemachine.net/index.php/cm/article/viewArticle/46/54 (zuletzt aufgerufen am 16.10.2011).

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 112

Eigenschaft transnationaler Adoption. Ich argumentiere, dass die Topoi der Kindsrettung und der damit zusammenhängenden medialen Überwindung von Raum und Zeit in der Begründung der Adoptivfamilie zentrale Orte der begrenz- ten Artikulation von Kritik sind.

3.2 „Ein Farmer aus Oregon“. Kritische Perspektiven auf die Rettungsnarration transnationaler Adoption

Ich betrachte in diesem zweiten Teil der Arbeit das Verhältnis zwischen Krisen- rhetorik und den einzelnen narrativen Strängen der Darstellungen. Während ein narrativer Strang der emotionalen Krisenhaftigkeit folgt, wird in beiden Filmen in einem parallelen Strang historisches Wissen zu den Bedingungen transnationaler

Adoption vermittelt. In FIRST PERSON PLURAL berichtet Deann:

DEANN: The Korean war ended in 1953, leaving the country de- vastated. A huge international relieve effort began, aimed at helping thousands of destitute families and orphans. In 1955 Harry Holt began a small rescue operation of child- ren orphaned by the war. Tens of thousands of orphans were subsequently sent overseas for adoption by Ameri- can and European families.

[Abb. 37] Bilder des Krieges (Korea) 1

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 113

[Abb. 38] Bilder des Krieges (Korea) 2

[Abb. 39] Kinderheim

[Abb. 40] Rettungsaktion 1

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 114

[Abb. 41] Rettungsaktion 2

[Abb. 42] Harry und Bertha Holt empfangen die Kinder in den USA

Deann bezieht sich auf eine offizielle historische Entstehungsgeschichte transnati- onaler Adoption, die in Bildern des Krieges und der Kindsrettung erzählt wird [Abb. 37-41]. Die Anfänge transnationaler Adoption werden darin auf das Ende des Koreakrieges und die Figur des Harry Holt, einem US-amerikanischen Zivilis- ten und „Farmer aus Oregon“ zurückgeführt. Holt, so heißt es, habe angesichts des Elends im verwüsteten Nachkriegskorea 1956 auf eigene Initiative eine hu- manitäre Rettungsaktion, den ersten „babylift“, organisiert, im Rahmen derer 91 Waisenkinder ausgeflogen und in den USA und Westeuropa zur Adoption vermit- telt werden [Abb. 42]. Mit dieser Aktion habe Holt, der selbst mit seiner Frau Ber- tha acht Kinder adoptiert,213 den Anstoß zu tausenden Adoptionen weltweit und über Jahrzehnte hinweg gegeben. Allein zwischen 1953 und 1963 adoptieren US-

213 Kim, Adopted Territory, S. 43.

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 115

Amerikaner/innen 8812 Kinder aus Asien, die meisten von ihnen südkoreanischer Herkunft.214 Bertha und Harry Holt begründen die erste amerikanische und bis heute weltweit größte Agentur für internationale Adoption, Holt International Children‘s Services.215 Auf Holt werden Änderungen im US-amerikanischen Adoptions- und Immigrationsrecht zurückgeführt, so dass es möglich wird, durch die sogenannte „Proxy-Adoption“, stellvertretend für die zukünftigen Adoptivel- tern mehrere Kinder zugleich ins Land zu bringen.216 Holt International Child- ren‘s Services folgt, wie viele andere Adoptionsvermittlungsagenturen, einem christlichen Weltbild.217

In Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte nimmt FIRST PERSON PLU-

RAL eine kritische Perspektive auf die weitere Entwicklung transnationaler Adop- tion aus Südkorea ein:

DEANN: As the years passed the South Korean government began rebuilding the country, but there was no plan to deal with wide spread poverty, orphans or families in need. Even though the war was long over, the number of orphans in orphanages continued to multiply. The more children or- phanages had the more money they received from ab- road. By the 1960s when I was adopted the government was expediting overseas adoption at an unprecedented ra- te. What Harry Holt began as a humanitarian gesture right after the war became big business in the decades that followed. South Korea became the largest supplier of children to developed countries in the world, causing so- me to argue that the country’s economic miracle was due in part to the export of its most precious natural resource – its children.

Deann referiert hier eine jüngere kritische Diskussion der südkoreanischen Adop- tionspolitik, in der wirtschaftliche Interessen, eine diskriminierende gesellschaftli- che Haltung gegenüber unverheirateten Müttern und insbesondere ein fehlendes

214 Christina Klein: Cold War Orientalism. Asia in the Middlebrow Imagination 1945-1961. Ber- keley u.a. 2003, S. 175. 215 Ebd. S. zur Figur Holt auch Kim, Adopted Territory, S. 43f.; Herman, Kinship by Design, S. 221f. 216 Herman, Kinship by Design, S. 218. 217 S. http://www.holtinternational.org/ (zuletzt aufgerufen am 25.02.2011).

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 116

Sozialsystem für die Fortsetzung transnationaler Adoptionen in immer größerem Maßstab verantwortlich gemacht werden.218 In dieser begründeten Kritik an der südkoreanischen Sozialpolitik bleibt jedoch die Entstehungs- als Rettungsnarrati- on um die Figur des Harry Holt erhalten, indem eine humanitäre, ‚unschuldige‘ Motivation Holts einer späteren Opferung koreanischer Kinder insbesondere öko- nomischer Interessen gegenübergestellt wird.

Auch DAUGHTER FROM DANANG bezieht sich auf eine solche Entstehungsge- schichte transnationaler Adoption aus Vietnam. Hier gilt der US-amerikanische Präsident Ford als Initiator der Kindsrettung. Auf dessen Veranlassung werden zum Ende des Vietnamkrieges 3300 „Mischlingskinder“ ausgeflogen und größ- 219 tenteils in den USA zur Adoption vermittelt. Auch DAUGHTER FROM DANANG referiert auf diese Rettungsaktion als historischen Hintergrund. Der Film beginnt, wie FIRST PERSON PLURAL, mit Bildern von Krieg, Zerstörung und Rettung durch US-amerikanische Helfer und Ankunft in den USA [Abb. 43-47].

[Abb. 43] Bilder des Krieges (Vietnam) 1

218 Vgl. zur Kritik an der südkoreanischen Adoptionspolitik: Hübinette, Comforting an Orphaned Nation; Trenka, Oparah, Shin, outsiders within. 219 S. die Internetseite des Senders PBS zur „Operation Babylift“: www.pbs.org/wgbh/amex/daughter/peopleevents/e_babylift.html (zuletzt aufgerufen am 25.02.2011).

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 117

[Abb. 44] Bilder des Krieges (Vietnam) 2

[Abb. 45] Operation Babylift 1

[Abb. 46] Operation Babylift 2

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 118

[Abb. 47] Präsident Ford empfängt die Kinder in den USA

Die offizielle Entstehungsgeschichte transnationaler Adoption erzählt von einem individuellen, christlich motivierten, humanitären Vorgehen. Diese Erzählung be- stimmt die Vorstellung von Waisenkindern, die aus einer existentiellen Notsitua- tion heraus von gleichermaßen wohltätigen wie wohlhabenden Paaren aus dem Westen in ein besseres Leben ‚gerettet‘ werden. Sie entspricht der Rettungsnarra- tion zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sie in Teil 1 dieser Arbeit diskutiert wurde. Mitte des 20. Jahrhunderts wird diese auf das transnationale Verhältnis zwischen den USA und Südkorea bzw. Vietnam übertragen.

3.2.1 „Key children“

Im Gegensatz zu FIRST PERSON PLURAL bezieht sich DAUGHTER FROM DANANG auf eine kritische Einschätzung der Rettungsnarration selbst. In einem Kommen- tar bezeichnet ein ‚Experte‘ die „Operation Babylift“ als Versuch der Ford- Regierung, Sympathien in der US-amerikanischen Bevölkerung für den Krieg zu gewinnen.220 In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik der Amerikanistin Christina Klein. Klein untersucht die Diskussion um die tausenden „GI Babies“, die im Falle Südkoreas sowohl für die neue südkoreanische als auch für die US- amerikanische Regierung ein Problem darstellen. Transnationale Adoption bietet

220 Es handelt sich hierbei um den Kommentar eines Rechtsanwaltes, vgl. auch: http://www.pbs.org/wgbh/amex/daughter/peopleevents/e_babylift.html (zuletzt aufgerufen am 25.02.2011).

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 119

beiden Parteien eine geeignete Lösung und die US-amerikanische Regierung ist bereit, hierfür ein spezifisches privilegiertes Einwanderungsgesetz zu erlassen:

Stationed in countries around the world, U.S. soldiers fathered and then abandoned children that host countries neither wanted nor had the resources to care for. […] The Korean War, in combination with the passage of the Immigration and Nationality Act of 1952, which lifted the racial bar on Asian immigration, cleared the way for the adoption of Asian children.221

Klein beschreibt transnationale Adoption als politisches Instrument, um Kriegs- schuld in eine Geste des Schutzes zu transformieren und weitergehend ein beson- deres Verhältnis zwischen den USA und Asien zu begründen, das politische In- terventionen in Asien legitimieren soll:

During the postwar period the hybrid, multiracial, multinational family created through adoption […] offered a way to imagine U.S.-Asian integration in terms of voluntary affiliation: they presented international bonds formed by choice (at least on the part of the American parents), rather than by biology. In doing so they fore- grounded the idea of alliance among independent parties – the model of postwar in- tegration – rather than the idea of an empire unified by blood and force. […] it served as a model for a ‚free world‘ community that included Western and non-Western, developed and underdeveloped, established and newly created nations. The family became a framework within which these differences could be both maintained and transcended, and offered an imaginative justification for the permanent extension of U.S. power, figured as responsibility and leadership, beyond the nation‘s borders.222

Adoption bot sich als Instrument an, um Fragen politischen ‚Engagements‘ in Be- griffe individueller und familiärer Verantwortung zu übersetzen.223 Familiäre Lie- be wird mit Großzügigkeit und Selbstlosigkeit gleichgesetzt, sie ermöglicht, die- jenigen symbolisch zu integrieren, deren Humanität in Kriegszeiten in Frage ge- stellt wurde.224 Die familiale Imagination des Verhältnisses zwischen den USA und Asien, die Rhetorik der Fürsorge und kultureller Vermittlung, verschleiert, so Klein, ein postkoloniales Macht- und Dominanzverhältnis. Prominente Vertreterin dieser politischen Instrumentalisierung von Adoption ist die Schriftstellerin und

221 Klein, Cold War Orientalism, S. 174f.; vgl. auch Kim, Adopted Territory, S. 48. 222 Klein, Cold War Orientalism, S. 146. 223 Vgl. zu dieser Umkehrung des Prinzips „Das Private ist politisch“: Lauren Berlant: The Queen of America Goes to Washington. Essays on Sex and Citizenship. Durham, London 1997. 224 Klein, Cold War Orientalism, S. 150.

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Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck. Die als Missionarstochter in China aufgewach- sene Buck eröffnet 1949 in den USA das Welcome House, die erste Adoptions- agentur, die sich spezifisch um amerikanische Adoptivfamilien für asiatische und „Mischlingskinder“ bemüht. Bucks Engagement ist durch ein explizit politisches Interesse motiviert. In einem Zeitungsartikel stellt Buck 1952 ihr politisches Kon- zept vor. In der schwierigen Beziehung zwischen den USA und Asien mangele es vor allem an gegenseitiger Kenntnis. Diese sei jedoch durch die Herstellung von Adoptivfamilien auf einzigartige Weise zu vermitteln:

She proposed Welcome House as part of a solution to America‘s foreign policy prob- lems: in her view, the mixed-race children available for adoption were „key children“ who could facilitate relations between the U.S. and Asia and perhaps prevent further losses of Asian nations to communism.225

Die einst benachteiligten „Mischlingskinder“ werden in Bucks Utopie zu „key children“, vermittelnden Botschafter/innen zwischen beiden Nationen.

DAUGHTER FROM DANANG deutet eine Kritik an der Rettungsnarration trans- nationaler Adoption an, die in FIRST PERSON PLURAL durch den positiven Bezug auf die Figur des Harry Holt ausgeblendet wird. Diese positive Bezugnahme auf die Rettungsnarration in FIRST PERSON PLURAL dient einer wiederum kritischen Sicht auf die koreanische Adoptionspolitik.

3.2.2 Die Unsichtbarkeit der Väter

In der Kritik an der Instrumentalisierung der Kinder durch die US-amerikanische

Regierung in DAUGHTER FROM DANANG und durch die südkoreanische Regierung in FIRST PERSON PLURAL bleibt jedoch selbst wiederum ein entscheidender As- pekt der Entstehungsgeschichte transnationaler Adoption unausgesprochen. Diese Leerstelle betrifft die Verbindung zwischen den narrativen Strängen der emotio- nalen Krise und des historischen Kontextes und trägt entscheidend zur Sentimen- talität der Filme bei. Indem die Kritik auf die politischen Umstände der Adoption fokussiert, wird zugleich eine spezifische Unsichtbarkeit der individuellen Entste- hungsgeschichten und insbesondere der Bedeutung der Geburtsväter erzeugt. Der

225 Ebd. S. 144.

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Fokus auf die problematische Entstehungs- als Rettungsnarration blendet das Ge- schlechterverhältnis aus, das auf der Ebene individueller Beziehungen transnatio- nale Adoption bedingt.

In DAUGHTER FROM DANANG wird zunächst explizit auf die Umstände der Zeugung der Kinder der „Operation Babylift“ hingewiesen. Heidi erzählt, dass sie ihren Geburtsvater nicht kennengelernt hat und dass es sich um einen der US- amerikanischen Soldaten handelt, die in Danang stationiert waren. Kim erzählt, dass sie, nach dem ihr Ehemann sie verlassen hat, um im kommunistischen Wi- derstand zu kämpfen, wie viele andere Vietnamesinnen auf einer US- amerikanischen Militärstation arbeitet. In der Darstellung des prekären Verhält- nisses von Haus- und Sexarbeit gerät die Frage nach dem Geburtsvater aus dem Blick. Der Film stellt Kims Arbeit auf der Militärbasis, ihre Schwangerschaft und die Entscheidung zur Adoption als schicksalhaftes Mutteropfer dar, wie bereits als Konvention sentimentaler Unterhaltung aus dem ersten Teil dieser Arbeit vertraut. Wie in den zuvor diskutierten fiktiven Beispielen wird das Mutteropfer im Sinne einer alleinigen Verantwortung der Mutter heroisiert [Abb. 48]. Die Bilder der amerikanischen Besatzung vermitteln dagegen einen harmlosen und unterstützen- den Eindruck der Soldaten.

[Abb. 48] Mutteropfer: „I did it for my children, for food and clothes“

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[Abb. 49] „He brought food for her brothers and sisters“

[Abb. 50] Militärbasis

[Abb. 51] „My boss knew I was scared, so he approached me slowly“

Die amerikanischen Soldaten spielen Basketball und kümmern sich um ihre Kin- der [Abb. 49 und 50]. Prostitution wird angedeutet, im Ganzen entsteht jedoch der Eindruck fürsorglicher Beziehungen. Kims Voice Over unterstützt diesen Ein-

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 123

druck, Heidis Vater sei ein freundlicher Mann gewesen, der sich ihr „langsam ge- nähert habe“ [Abb. 51]. Die kontrastierenden Bilder von Kims Mutteropfer und den helfenden Vätern erzeugen eine sentimentale Spannung. Der Zusammenhang zwischen den Bildern, das prekäre Geschlechterverhältnis zwischen vietnamesi- schen Müttern und US-amerikanischen Soldaten, wird nicht direkt artikuliert. In- dem sich die in DAUGHTER FROM DANANG formulierte Kritik auf die Instrumenta- lisierung der „Operation Babylift“ durch die Regierung Ford konzentriert, rücken die Umstände der Zeugung der Kinder während der Besatzung in den Hinter- grund. In sentimentaler Tradition konzentriert sich die Thematisierung der Famili- enbeziehungen auf das Verhältnis von Müttern und Kindern. Ein gewaltvolles Ge- schlechterverhältnis deutet sich an, wird jedoch nicht direkt adressiert.

Auch in FIRST PERSON PLURAL sind in Bezug auf die Entstehungsgeschichte transnationaler Adoption die einzigen sichtbaren Soldaten diejenigen, die die Kinder in die rettenden Flugzeuge heben. Deanns Kritik an der Instrumentalisie- rung von Adoption durch die koreanische Regierung hat einen ähnlichen verde- ckenden Effekt bezüglich der vergeschlechtlichten Machtverhältnisse zu Beginn der Geschichte transnationaler Adoption. Die männlichen Akteure verschwinden aus dem Sichtfeld, sie treten erst als Akteure der Kindsrettung wieder auf. Es ent- steht eine Ambivalenz zugleich politischer artikulierter und nicht-artikulierter Ge- schlechterbeziehungen und Machtverhältnisse transnationaler Adoption. Kritik entzieht sich dort einer direkten Artikulation, wo sich politische, nationale Hierar- chien und Interessen in persönlichen Beziehungen manifestieren. Meine These ist, dass auf der Ebene einzelner Akteure kritisch beschreibbare Machtverhältnisse ambivalent werden. Der kritischen Artikulation entzieht sich die gleichzeitige Ge- genwart der US-amerikanischen Soldaten als Täter und Retter. Diese Ambivalenz produziert eine sentimentale Leerstelle in den Entstehungsgeschichten transnatio- naler Adoption. Die Beziehung zwischen offiziellen Machtverhältnissen und Ge- walt auf der Ebene intimer Verhältnisse ist in den Darstellungen nicht artikulier- bar. Indem der Film auf den vertrauten sentimentalen Topos des heroischen Mut- teropfers zurückgreift, werden gewaltvolle Geschlechterverhältnisse angedeutet und zugleich verschleiert.

3.3 Bilder der Gleichgültigkeit

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Die Entstehungs- und Rettungsgeschichten transnationaler Adoption sind kom- plex und beinhalten verschiedene Ebenen der Machtbeziehungen, die unterschied- lich offen benannt werden können. Die Leerstelle bezüglich der Ambivalenz von Vätern als Täter und Retter lädt die Entstehungsgeschichten sentimental auf. Das Erzählen der Entstehungsgeschichten wird aufgrund des nicht artikulierten Zu- sammenhangs zwischen individuellen und nationalen Beziehungen – Geschlechterverhältnis und Dominanzverhältnis zwischen „abgebenden“ und „an- nehmenden“ Nationen – problematisch. Auf der Ebene der individuellen Famili- engeschichten setzt sich die sentimentale Aufladung der Entstehungsnarration fort. Sie schlägt sich in der Ausblendung jener zuvor beschriebenen problemati- schen weil ambivalenten Bedingungen transnationaler Adoption nieder, das heißt auch in der Ausblendung individueller Biographien und Vorgeschichten der Adoptivkinder. In Zusammenhang mit den intimen Familienbeziehungen ist die Artikulation von Kritik noch uneindeutiger, in dem, worauf sie sich bezieht. Es dominieren Figuren des Nicht-Sehens von Differenz und von Gleichgültigkeit. Die individuellen Entstehungsgeschichten beginnen typischer Weise mit der Ankunft des Adoptivkindes am Flughafen. In beiden Filmen erscheint die An- kunft von ambivalenter Emotionalität, ohne dass offensichtlich ist, worin die Problematik des Zusammentreffens von Adoptiveltern und -kindern besteht. In

DAUGHTER FROM DANANG wählen die Filmemacher zur Veranschaulichung Ar- chivmaterial, in dem Bilder enthusiastischer Adoptiveltern Bildern von stummen und erstarrten Kindern gegenübergestellt werden [Abb. 52 und 53].

[Abb. 52] Glückliche Eltern

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 125

[Abb. 53] Stumme Kinder

Die hier nicht kommentierte emotionale Diskrepanz wird in FIRST PERSON PLU-

RAL ausformuliert. Deanns Mutter erzählt, wie sie die Ankunft Deanns am Flug- hafen erlebt hat.

ALVEEN: Well, when you arrived … little stoic face … bundled up in all those clothes … we couldn‘t talk to you, you couldn‘t talk to us … I realize now that you were terrifi- ed, but because we were so happy … you know, we just didn‘t think about that.

[Abb. 54] Stoic face 1

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[Abb. 55] Stoic face 2

Deann unterlegt diese Schilderung der Mutter mit unterschiedlicher Belichtung [Abb. 54 und 55]. Das Bild der Erstarrung wird auch visuell ‚eingefroren‘. Die Filme zeigen Bilder emotionalen Kontrastes, sie liefern jedoch keine offensichtli- chen Hinweise, worin das prekäre Zusammentreffen von Eltern und Kindern am Flughafen besteht. Dennoch weisen sie in Bezug auf die Entstehungsgeschichten der einzelnen Adoptivfamilien auf Bedingungen hin, die erklären, was bezüglich der Zusammenführung an Kritik nicht artikuliert werden kann. Es sind Hinweise darauf, dass die Problematik der Ankunft mit einer spezifischen Form medialen Verkennens zu tun hat, die für die Entstehung der Adoptivfamilien konstitutiv ist. In diesem medialen Verkennen werden die komplexen und ambivalenten Vorge- schichten einschließlich der Machtbeziehungen zwischen Geschlechtern und Na- tionen ausgeblendet. Insbesondere in FIRST PERSON PLURAL wird die Bedeutung medialer Bedingungen für die Herstellung der Adoptivbeziehungen betont. Die Entstehungsgeschichte der Borshays ist besonders aufgeladen, da Cha Jung Hee, das Mädchen, das die Borshays eigentlich adoptieren wollten, von ihrem Vater aus dem koreanischen Kinderheim abgeholt und Deann bzw. Ok Chin Kang an ihrer Stelle geschickt wird. Vor ihrer Abreise erhält Ok Chin neue Papiere, die sie als Cha Jung Hee ausweisen. Deann verliert nach ihrer Ankunft in den USA die Erinnerung an ihre erste Identität, wie auch an alle anderen Erinnerungen an ihre Zeit in Korea. Erst als sie als Erwachsene ihre Biographie recherchiert, erinnert sie sich wieder an den Namenswechsel. Deanns Adoptivmutter sagt über den Um- stand, dass Deann vor ihrer Adoption ‚ausgetauscht‘ wurde:

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 127

ALVEEN: Well, I didn‘t care that they had switched child on us. You couldn‘t be loved more and just because suddenly you weren‘t Cha Jung Hee you were Ok Chin Kang, Kung or whatever didn‘t matter to me -- you were Deann and you were mine.

[Abb. 56] Gleichgültigkeit

Die Kamera zeigt hierzu einen fassungslosen Blick Deanns, nicht artikuliert wird jedoch, was in Alveens Bekenntnis zu Gleichgültigkeit und Liebe Bestürzung aus- löst [Abb. 56]. Ich möchte argumentieren, dass die Gleichgültigkeit der Adoptiv- mutter Ausdruck eines medialen Verkennens ist, dass das fremde Kind bereits vor dem eigentlichen Zusammentreffen in ein eigenes transformiert, unabhängig der spezifischen Biographie. „You were Deann“ – „Deann“ existiert bereits vor der Adoption als Familienmitglied der Borshays. Aufgrund seines imaginären Status’ wird das tatsächliche physische Kind austauschbar. Die Medialität der Adoptivbe- ziehung produziert eine Gleichgültigkeit nicht nur gegenüber individuellen Bio- graphien, sondern blendet die komplexen und ambivalenten politischen, ökonomi- schen und vergeschlechtlichten Bedingungen transnationaler Adoption im Allge- meinen aus. Sie ermöglicht stattdessen, die Beziehung zwischen Adoptiveltern und -kind als voraussetzungslos zu denken. Ein solches Denken der ‚Geburt’ des Adoptivkindes aus den Medien erschwert die Artikulation der Bedingungen von Adoption im Geburtsland, aber auch des Machtverhältnisses zwischen Geburts- und Adoptivland. Das Denken einer medialen Herstellung von Adoptivbeziehun- gen ermöglicht ein Ausblenden der ambivalenten Bedingungen von Adoption, die eine Zugehörigkeit des Kindes zur Adoptivfamilie in Frage stellen könnten. Die Figur der medialen ‚Zeugung’ des Adoptivkindes ist entsprechend populär. Worin

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besteht die Medialität von Deanns Beziehung zur Adoptivfamilie und von trans- nationaler Adoption im Allgemeinen?

3.3.1 „Attached through the mail“. Mediengenerierte Bezie- hungen

Auf die Bedeutung medialer Darstellungen für die Herstellung intimer Adoptiv- beziehungen habe ich bereits im ersten Teil dieser Arbeit in Zusammenhang mit der „Child Rescue Campaign“ hingewiesen, in der mit sentimentalen Geschichten für Adoption geworben wurde. Diese Form der Berichterstattung setzt sich in Be- zug auf transnationale Adoption fort. So betont Fehrenbach die Bedeutung der Presse für transnationale Adoptionen afrodeutscher Kinder in die USA:

[Press] coverage played an important role in stimulating awareness and action among African Americans on behalf of black German children abroad. From the late 1940s through the mid-1950s […] stories about „brown babies“ fathered abroad by black American occupation troops appeared with regularity in the American press. News- papers such as the Pittsburgh Courier and the Baltimore Afro-American published appeals to their predominantly black readership, urging them to send special CARE packages to black German children residing in German children‘s homes or with their unwed mothers. The Pittsburgh Courier went so far as to publish the names and addresses of two hundred German mothers of black children. Readers were encoura- ged to contact the women directly and pledge long-distance material and moral sup- port over the long term.226

Fehrenbach beschreibt, dass die Berichterstattung nicht nur auf die Situation hilfsbedürftiger Mütter und Kinder aufmerksam macht, sie ermöglicht die direkte Kontaktaufnahme und begünstigt dadurch emotionale Beziehungen zwischen den helfenden und empfangenden Parteien. Diese medial generierten Beziehungen sind, aufgrund der räumlichen Distanz, für die Begründung von Adoptivfamilien im Allgemeinen konstitutiv. In den hier diskutierten Dokumentationen wird auf ein Zusammenwirken verschiedener Medien – Briefe, Fotografien, Fernsehen – hingewiesen, mittels derer der räumliche Abstand zwischen Adoptiveltern und - kind überwunden zu werden scheinen.

FIRST PERSON PLURAL betont die Bedeutung diverser Medien für die Herstel- lung der Adoptivbeziehungen. Die Adoptivmutter Alveen Borshay erzählt, wie sie

226 Fehrenbach, Race after Hitler, S. 133f.

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auf die Idee kam, ein Kind zu adoptieren. In den 1960er Jahren der wohlhabenden US-amerikanischen Weißen Mittelschicht zugehörig (der Vater handelte mit Im- mobilien) hat Alveen das Bedürfnis, „to do something for somebody“. Der Film illustriert den materiellen Wohlstand durch Home Movie-Aufnahmen, die nicht ohne Ironie die Familie Borshay, Vater, Mutter und zwei Kinder, unter dem Weihnachtsbaum zwischen ‚Bergen’ von Geschenken sitzend zeigen. In der Be- reitschaft „jemandem“ etwas Gutes zu tun, sieht Alveen im Fernsehen einen Be- richt über hungernde Kinder in Europa und Asien, an den sich der Hinweis auf eine populäre Spendenorganisation, den „Foster Parents Plan“, anschließt: „For fifteen dollars a month you can help a child.“ Die Borshays folgen dem über das Fernsehen vermittelten Spendenaufruf und übernehmen die Patenschaft für ein Kind in Südkorea [Abb. 57]. Sie überweisen Geld an ein Waisenheim und erhal- ten als Gegenleistung regelmäßig Briefe von ‚ihrem‘ Kind, bzw. von einer Mitar- beiterin des Heims, die den Borshays im Namen des Kindes schreibt [Abb. 58- 59].

[Abb. 57] Foster Parents Plan

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[Abb. 58] „Attached through the mail“ 1

[Abb. 59] „Attached through the mail“ 2

Durch die doppelte Vermittlung von Mitarbeiterin und Briefen entwickeln die Borshays ein Gefühl von Elternschaft:

ALVEEN: Then we got a letter saying that they have a little girl in Korea in the Sun-duk orphanage. Then the nurse sent us letters every month. We wrote for two and a half years I think. And … we became attached to you through the mail. And I found myself saying every time we did some- thing, I wonder what would Cha Jung Hee think about this, I wish Cha Jung Hee was here and it finally got to be an obsession with me … and I said to Daddy, I said, you know, I‘d like to adopt her.

Die Borshays entwickeln durch das Fernsehen, Fotografien und Briefe emotionale Nähe. Diese mediengenierte Bindung ist für viele Fälle transnationaler Adoption charakteristisch. Zahlreiche Spendenaufrufe legen nach dem Zweiten Weltkrieg die metaphorische Adoption eines Kindes aus einem der politischen „trouble

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 131

spots“, Indien, Korea, Japan und Deutschland, nahe. Im Rahmen des „Foster Pa- rents Plan“ bedeutet „Adoption“ zunächst die finanzielle Unterstützung eines Kindes über einen längeren Zeitraum, ohne eine physische Begegnung zu erfor- 227 dern. Dabei entsteht wiederholt jene imaginäre Bindung, die in FIRST PERSON

PLURAL beschrieben wird: Das Zusammenspiel verschiedener Medien transfor- miert die unbekannten Empfänger/innen materieller Unterstützung, „somebody“, in imaginäre Mitglieder des intimen Kreises der Familie:

The exchange of information played an important role in the ‚adoptive‘ relation. American ‚parents‘ and their ‚adoptees‘ exchanged personal narratives, letters, and photographs, thereby fostering a personal bond of intimacy that incorporated the Asian child, emotionally and textually, into the American family.228

Durch den Einsatz von Medien werden räumlich entfernte Fremde imaginär in den Kreis naher Angehöriger integriert. Für diese Familiengründung bedarf es keiner blutsverwandtschaftlicher Beziehungen, es ist darüber hinaus auch nicht notwendig, den selben physischen Raum zu teilen. Ann Anagnost, eine Anthropo- login, die sich insbesondere mit der Konstitution von Mutter- und Elternschaft in transnationaler Adoption befasst, beschreibt dieses für transnationale Adoption typische Phänomen in Bezug auf die ‚magische‘ Fähigkeit von Fotografien des Kindes, die prospektive Adoptiveltern von den Adoptionsagenturen erhalten, be- vor es zu einem physischen Zusammentreffen kommt.229 Diese Fotografien lösen vielfach das Gefühl einer „schicksalhaften“ Begegnung aus. Die Fotografie eines Kindes wird zur Abbildung meines Kindes.

3.3.2 „Öffentliche Elternschaft“. Erkennen/Verkennen

Insbesondere das Fernsehen verstärkt aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften der imaginären Überwindung von Raum und Zeit die Wirkmächtigkeit von Kam- pagnen wie der „Child Rescue Campaign“ und den Zeitungskampagnen wie sie Fehrenbach beschreibt. Lisa Cartwright schildert ein ähnliches Phänomen in Be-

227 Klein, Cold War Orientalism, S. 153ff. 228 Ebd., S. 158. 229 Anagnost, Scenes of Misrecognition.

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zug auf die drastische Berichterstattung der Situation in rumänischen Kinderhei- men nach dem Ende des politischen Regimes 1990. Die Mitleid erregenden Fern- sehbilder der medizinischen und sozialen Umstände, in denen die Kinder leben, produzieren in den Zuschauer/innen, so Cartwright, „elterliche Fantasien“. Die Bilder führen nicht nur dazu, sich zu Spenden und materiellen Zuwendungen auf- gefordert zu fühlen. Die Zuschauer/innen empfinden sich darüber hinausgehend in einem direkten Verhältnis zu den abgebildeten Kindern. In der Imagination eines Verhältnisses emotionaler Nähe zum dargestellten Kind produzieren die Fernsehbilder das Gefühl, direkt in das Geschehen eingrei- fen zu müssen, nicht nur vermittelt durch Spenden an Hilfsorganisationen, son- dern durch eigenen physischen Kontakt und Sorge. Cartwright berichtet, dass zahlreiche Fernsehzuschauer/innen am Tag nach der Berichterstattung ins Auto steigen, um nach Rumänien zu fahren und eines der Heimkinder zu ‚retten‘. Eini- ge suchen explizit nach dem Kind, das sie zuvor auf dem Bildschirm gesehen ha- ben, andere sehen in ihnen Stellvertreter für eines der anderen Kinder.230 Hier und in den anderen genannten Beispielen wird die Medialität der ‚Begegnung‘ zwi- schen Zuschauer/innen und abgebildeten Kindern ausgeblendet. Die mediale Dis- tanz zwischen Betrachtern und Betrachteten „bricht zusammen“.231 Das Gefühl jedoch, das Kind bereits zu kennen, es bereits als ‚eigenes’ anzusehen, produziert jene Gleichgültigkeit gegenüber individuellen und kollektiven Vorgeschichten und Beziehungen zwischen Adoptiv- und Herkunftsnation, wie sie in FIRST PER-

SON PLURAL exemplarisch dargestellt wird. Die „public parents“232 empfinden sich als Eltern potentiell ‚aller‘ Kinder, ein Phänomen imaginärer Nähe, das insbesondere durch das Medium Fernsehen pro- duziert wird. Die Imagination einer intimen Beziehung zu einem Kind, das ledig- lich als Fernsehbild bekannt ist und das dennoch als ‚eigenes‘ Kind angesehen wird, führt im Extremfall dazu, genau dieses Kind ‚retten‘ zu müssen. Dieses

230 Lisa Cartwright: „Images of ‚Waiting Children‘. Spectatorship and Pity in the Representation of the Global Social Orphan in the 1990s“, in: Toby Alice Volkman (Hg.): Cultures of Transnati- onal Adoption. Durham, London 2005, S. 185-212, hier S. 195. 231 Ebd. 232 Ebd., S. 198.

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Phänomen wird verständlicher, wenn es mit der Schwierigkeit der Distanznahme in Bezug gesetzt wird, die für das Fernsehen im Allgemeinen gilt, wie es Samuel Weber beschreibt. Weber versucht anhand alltagssprachlicher Darstellungen das spezifische Unheimliche des Mediums zu erfassen und führt dies auf die imaginä- re Überwindung von Raum und Zeit zurück, die das Fernsehen suggeriert:

Denn das Fernsehen ist uns so nah, daß wir Schwierigkeiten haben, den nötigen Ab- stand zu gewinnen, um zu einer Einschätzung zu gelangen. Gerade diese Schwierig- keit könnte uns aber auf eine wichtige Spur bringen. Denn vielleicht trifft gerade die- se Schwierigkeit etwas Wesentliches am Fernsehen, nämlich die Tendenz, Abstand an sich zu reduzieren. Diese Tendenz teilt das Fernsehen mit anderen Medien. Doch bei ihm wird sie wohl auf die Spitze getrieben.233

Das Fernsehen ist durch eine irritierende Gleichzeitigkeit vermeintlicher Nähe der Dinge und Distanzwahrung charakterisiert. Es ist von einem besonderen Verhält- nis zwischen der Sphäre des Privaten und Häuslichen und dem Entfernten, Frem- den geprägt. Im Gegensatz etwa zum Kino hat sich das Fernsehen als ‚Haushalts- medium‘ etabliert, das an die private Rezeption und an eine in den Alltag inte- grierte Umgangsweise gebunden ist.234 Dies erklärt die besondere Beziehung des Fernsehens zu Themen des Privaten, Familiären und Intimen. Ästhetik und Re- zeption konventionellen Fernsehens, die Präferenz für Großaufnahmen von Ge- sichtern, die Imitation von face-to-face-Situationen verstärken den Eindruck der Nähe. Fernsehen beansprucht, Medium der Unmittelbarkeit und Authentizität zu sein, durch einfache, das gesprochene Wort illustrierende Bilder mit scheinbar transparenten Bedeutungen. Durch Wiederholungen immer gleicher Orte, Situati- onen und Kontexte verstärkt das Fernsehen den Eindruck, es sei immer präsent, auch wenn wir nicht einschalten.235 Die medialen Eigenschaften des Fernsehens

233 Samuel Weber: „Zur Sprache des Fernsehens: Versuch einem Medium näher zu kommen“, in: Jean-Pierre Dubost (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig 2004, S. 72-88, hier S. 75. 234 Lynn Spigel: „Television in the Family Circle. The Popular Reception of a New Medium“, in: Patricia Mellencamp (Hg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington 1990, S. 73-97. 235 S. Ellis, Fernsehen als kulturelle Form. Dies gilt für eine konventionelle Form vor digitalem Fernsehen und „Quality TV“. Als Charakteristika einzelner Formate auch des „neuen“ Fernsehens halte ich diese Beschreibung für weiterhin gültig.

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legen nahe, dass wir uns als Zuschauer/innen direkt und als Privatpersonen ange- sprochen fühlen und dass wir das, was wir sehen, als aktuell und unmittelbar emp- finden, dabei die Medialität der Situation vergessend. Hinzu kommt, dass das Fernsehen Medium der ‚Fernsicht‘ ist, indem es einen scheinbar von jeder körperlichen Präsenz losgelösten Blick ermöglicht, der Ob- jekte in beliebiger Distanz betrachten kann. Entfernte Dinge scheinen in größte Nähe zu rücken, gleichzeitig bleiben sie in Distanz, weil sie nicht im wörtlichen Sinn nähergebracht werden.236 Das Fernsehen, so Weber, produziert keine Bilder oder Abbilder, also konkrete Gegenstände, die nahe gebracht werden könnten, sondern ein anderes, von körperlicher Präsenz unabhängig erscheinendes Se- hen237:

Das Unheimliche am Fernsehen hängt damit zusammen, daß sich Nähe und Ferne nicht mehr ausschließen: das andere Sehen ist sehr nah und sehr fern zugleich. Kurz- um, der Raum und seine Beziehung zur Zeit werden durch die Fernsehübertragung – d.h. durch das Fernsehen als Übertragung – verändert.238

Aufgrund dieser Irritationen der Dimensionen von Raum und Zeit und weil wir keine Abbilder wahrnehmen, sondern scheinbar selbst über die Fähigkeit eines erweiterten Sehens verfügen, schließt das Fernsehen das Entfernte mit dem Nahen ‚kurz‘ und erweckt den Eindruck, wir seien von dem, was wir in der Ferne zu se- hen meinen, in unseren ‚eigenen vier Wänden‘ gemeint. Das Sehen „entfernten Leidens“239 innerhalb der häuslichen Rezeptionssituation und der Ästhetik der Unmittelbarkeit legt die Schlussfolgerung nahe, ‚wir‘ seien als Instanz der Inter- vention angesprochen und die ‚Rettung‘ bestünde darin, die Sicherheit ‚unseres‘ Zuhauses zu gewährleisten, also physisch nachzuvollziehen, was das Fernsehen auf der Bildebene bereits zu ermöglichen scheint. Stärker als die Anzeige in der Zeitung suggeriert das Fernsehbild, keiner (medialen, infrastrukturellen, politi- schen) Vermittlung im Kontakt zum Gesehenen zu bedürfen, sowohl für die Über-

236 Weber, Sprache des Fernsehens, S. 76. 237 Ebd., S. 80. 238 Ebd., S. 79. 239 Luc Boltanski: Distant Suffering. Morality, Media and Politics. Cambridge UK 1999 (i.O. 1993).

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tragung der Bilder, als auch für das Verstehen der Situation und in der Konse- quenz für eine Intervention.240

3.3.3 Gleichgültigkeit/Zugehörigkeit

Wie im Fall der Borshays bedingt der mediale Kontakt über Fotografien, Briefe und Fernsehbilder transnationale Adoption. Physische Distanz und imaginäre emotionale Nähe schließen sich nicht aus. Die Schwierigkeit der Distanznahme im Mediendispositiv des Fernsehens trägt dazu bei, sich persönlich als „public parents“ adressiert zu fühlen.241 Die ‚magische‘ Begegnung mit dem zukünftigen Adoptivkind geht wie bei den Borshays vielfach als Anekdote in die Entstehungs- geschichten der einzelnen Adoptivfamilien ein. Paradoxer Weise liegt in dieser imaginären Besitzname des ‚eigenen‘ Kindes zugleich jene Verallgemeinerung, die das Kind austauschbar macht. So erzählt Deanns Schwester über deren An- kunft:

DENISE: I think mother went up to the wrong person.

DEANN: To the wrong girl?

DENISE: Yeah. I think we didn‘t know until we checked your na- me tag or someone told us who you are. [lacht] It didn‘t matter, I mean … one of them was ours. [Beide lachen]“

Das Kind, zu dem bereits eine imaginäre intime Beziehung besteht, ist an keinen physischen Körper gebunden. Die Darstellungen betonen die Gleichgültigkeit ge- genüber individuellen Geschichten. Die Medialität der Beziehungen selbst ist sen- timental aufgeladen, weil sie aus der Perspektive der Adoptierten eine problemati- sche Bedingungslosigkeit der Adoptivbeziehungen suggeriert. Indem die Darstel-

240 Vgl. die Diskussion der Adressierung und Mobilisierung angesichts des „Leidens anderer“ bei Boltanski, Distant Suffering, Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main 2003; Lisa Cartwright: Moral Spectatorship. Technologies of Voice and Affect in Postwar Re- presentations of the Child. Durham, London 2008. Die Diskussion bezieht sich auf Hannah Arendts Kritik am Mitleid, s. Hannah Arendt: Über die Revolution. München 1974 (i.O. 1963). 241 Der Berichterstattung der letzten Jahre waren ähnliche Reaktionen in Folge nicht nur politi- scher Umstürze und Kriegssituationen, sondern auch nach Umweltkatastrophen wie dem Tsunami 2004 in Thailand oder dem Hurrikan Katrina in den US-amerikanischen Südstaaten 2005 zu ent- nehmen.

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 136

lungen auf die wichtige Bedeutung des Medialen hinweisen, deuten sie an, was eine kritische Sicht auf Adoption erschwert und sich in den Bildern der Gleichgül- tigkeit niederschlägt: das Ausblenden der Vorgeschichten der Adoptivbeziehun- gen. Gleichgültigkeit deutet auf die Medialität der Beziehungen hin, das heißt auf das Verkennen der Bedingtheit in Machtverhältnissen zwischen Geschlechtern, Nationen und Familien. Die Bilder der Gleichgültigkeit repräsentieren eine kom- plexe Begrenzung der Artikulation einer kritischen Sicht. Die Bilder der Gleichgültigkeit sind jedoch darüber hinaus ambivalent, weil sie neben der Ausblendung der individuellen und kollektiven Vorgeschichten zu- gleich auf die Voraussetzung von Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie hinweisen. Dies lässt sich in einem zweiten Blick auf das Gespräch der Schwestern über De- anns Verwechslung sehen. Wie zuvor Alveen bringt auch Denise Gleichgültigkeit gegenüber der individuellen Identität und Geschichte Deanns zum Ausdruck. Das gemeinsame Lachen beider Schwestern deutet darauf hin, dass in der Gleichgül- tigkeit von Adoptivmutter und -schwester auch ein Verhältnis der Zugehörigkeit Deanns als Familienmitglied zum Ausdruck gebracht wird. Voraussetzungslose Gleichgültigkeit bezieht sich auch darauf, dass Deann Mitglied der Familie ist, trotz fehlender biologischer Beziehungen. Das Ausblenden der Bedingungen von Adoption ermöglicht so verstanden die Formulierung von Zugehörigkeit. Gleich- gültigkeit umfasst die doppelte Bedeutung von Nichtbeachten und Gleichwertig- keit. In Deanns Sprachlosigkeit artikuliert sich ihre ambivalente Einbindung in die Adoptivfamilie auf der einen Seite und die Voraussetzung medialen Verkennens und das Ausblenden der komplexen Bedingungen transnationaler Adoption auf der anderen. Die hier diskutierten Darstellungen transnationaler Adoption beziehen sich auf vorausgehende Entstehungsgeschichten. Dabei nehmen sie eine kritische Per- spektive auf die Bedingungen transnationaler Adoption ein. Die Möglichkeiten, Kritik zu formulieren sind jedoch dort begrenzt, wo politische, nationale Bezie- hungen mit individuellen, intimen zusammentreffen. In DAUGHTER FROM DAN-

ANG betrifft dies die spezifische Unsichtbarkeit der US-amerikanischen Väter und das ambivalente vergeschlechtlichte Gewaltverhältnis, das zugleich materielle Versorgung gewährleistet. Wie sich die Leerstellen in den offiziellen Entste-

3 Entstehungsgeschichten transnationaler Adoption 137

hungsgeschichten auf individuelle Familiengeschichten niederschlagen, ist anhand von FIRST PERSON PLURAL nachvollziehbar. Die Imagination medial hergestellter Adoptivbeziehungen ermöglicht das Denken voraussetzungsloser Zugehörigkeit. Ich verstehe das mediale Erkennen/Verkennen des Kindes von Seiten der Adop- tivfamilie als Strategie, Vorgeschichten und Bedingungen transnationaler Adopti- on auszublenden. Indem die Darstellungen auf die Medialität der Adoptivbeziehungen hinwei- sen, weisen sie auch auf das hin, was die Artikulation von Kritik begrenzt – Ausblenden von Bedingungen und Vorgeschichten als konstitutive Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie. Dass die Bilder der Gleichgültigkeit in den Darstellungen transnationaler Adoption sentimentale Ambivalenz vermitteln, deutet darauf hin, dass sie zugleich Ausdruck von Zugehörigkeit sind. Nicht- Sehen als Strategie, verbindliche Beziehungen zu behaupten, erweist sich auch im nächsten Kapitel als für die „negative Aufladung“ von Adoption entscheidend. Im nächsten Kapitel geht es um die Visualität von ‚Rassendifferenz’, die das Nicht- Sehen von Differenz am stärksten herausfordert – und damit auch die Utopie be- dingungsloser Zugehörigkeit.

4 Ambivalente Rassifizierungen. Nicht-Sehen von ‚Rassen’-Differenz und „Racial Melodrama“

4.1 Meine Eltern: „Two white American people“

In FIRST PERSON PLURAL beschreibt Deann das Verhältnis zu ihren Adoptiveltern in Begriffen des Sehens bzw. Nicht-Sehens von ‚Rassen’-Differenz:

DEANN: There‘s a way in which I see my parents as my parents, but sometimes I look at them … and I see two white American people that are so different from me that I can‘t fathom how we are related to each other and how it could be possible that these two people could be my parents.

Deann formuliert dies auf der Reise, die sie mit ihren Adoptiveltern gemeinsam nach Korea unternimmt. Wir sehen sie zwischen ihren Adoptiveltern Alveen und Arnold während der Autofahrt zum Haus ihrer koreanischen Mutter. Die Kamera nimmt nacheinander Deann und Alveen und Deann und Arnold in den Blick. Pa- rallel zu ihrer Beschreibung des Verhältnisses können Adoptiveltern und -tochter auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin betrachtet werden. Die Kamera unter- streicht die Intimität der Szene durch eine Großaufnahme der Hände Alveens und Deanns [Abb. 60-62].242

242 Ich komme auf das intime Bild der Hände von Adoptivmutter und -tochter am Ende dieses Ka- pitels zurück. 4 Ambivalente Rassifizierungen 139

[Abb. 60] Alveen und Deann

[Abb. 61] Arnold und Deann

[Abb. 62] Hände

Die Verbindung von Bildern gelebter Intimität und Deanns Beschreibung eines ambivalenten Verhältnisses der Zugehörigkeit zu ihren Adoptiveltern erzeugt eine sentimentale Spannung. Diese verweist, so möchte ich argumentieren, auf ein

4 Ambivalente Rassifizierungen 140

nicht artikuliertes Machtverhältnis, das um so schwerer zu formulieren ist, da es die Effekte von Machtverhältnissen auf intime Familienbeziehungen betrifft. Eine Artikulation der Machtbeziehungen droht, Behauptungen von Zugehörigkeit in

Frage zu stellen. FIRST PERSON PLURAL ist durch diese impliziten, nicht artiku- lierbaren Machtverweise geprägt, die sich in vielen Szenen wie dieser in senti- mentaler Weise andeuten. Auf welches implizite Machtwissen verweist diese Szene ambivalenter Inti- mität? Deann beschreibt das Verhältnis zu ihren Adoptiveltern in der Figur eines Kippbildes. Die Bilder von ihr und ihren Adoptiveltern ermöglichen es, entweder auf die Intimität der Szene zu fokussieren oder auf das, was Deann von diesen „weißen amerikanischen Menschen“ unterscheidet, was sie „so anders“ macht. Es ist kein Zufall, dass Deann die Distanz und Fremdheit, die ihre Beziehung zur Adoptivfamilie in Frage stellt, durch ‚Rassen’-Differenz markiert. Physische, ‚Rassen’-Differenz ist das sichtbarste Zeichen transnationaler Adoptivbeziehun- gen. Das Machtverhältnis, auf das sich die ambivalente Emotionalität zwischen

Adoptivfamilie und -kind in FIRST PERSON PLURAL bezieht, hat auch mit der Wahrnehmung und Möglichkeit der Thematisierung von ‚Rasse‘ zu tun. Ich un- tersuche im Folgenden, wie die Thematisierung von ‚Rassen’-Differenz in Bezug auf transnationale Adoption dargestellt wird, welche Machtverhältnisse sich darin andeuten und inwiefern eine Kritik an diesen formuliert wird. Ich verstehe die Thematisierung von ‚Rasse‘ in den Darstellungen transnationaler Adoption nicht als Rückbezug auf eine biologistisch begründete essentielle Differenz, sondern als Symptom für die nicht artikulierten Machtbezüge und Ambivalenzen in den Adoptivbeziehungen, die eine einfache Behauptung von Zugehörigkeit problema- tisch machen. Ich schließe hier an paradoxe Definitionen von ‚Rasse‘ an, die diese als ‚nicht existent‘, im Sinne einer wissenschaftlichen Legitimität verstehen und zugleich als unseren Alltag bestimmend, im Sinne anhaltender Rassifizierungen und Ras- sismen, aber auch im Sinne möglicher Selbstaffirmation und Selbstermächti-

4 Ambivalente Rassifizierungen 141

gung.243 Diese ‚Nicht-Existenz‘ bei gleichzeitiger diskursiver Wirkmächtigkeit von ‚Rasse‘ nimmt in Zusammenhang mit transnationaler Adoption eine eigene sentimentale Form an. ‚Rassen’-Differenz verstärkt die sentimentale Wahrneh- mung von Adoption. Deann entwirft ein für transnationale Adoption zentrales Kippbild von Intimi- tät und Distanz, das zugleich eines der ‚Rassen’-Differenz ist. Sie formuliert einen Gegensatz zwischen Amerikanisch-/Weißsein und intimen Familienbeziehungen. Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ‚Rassen‘ schließt sich in diesem Bild mit der Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie aus. Es impliziert, dass sich Deann nur dann als Mitglied der Adoptivfamilie versteht, wenn Differenz nicht gesehen, ausge- blendet wird. Die hier gezeichnete Unvereinbarkeit von ‚Rassen’-Differenz und Familienzugehörigkeit, das Entweder/Oder des Kippbildes emotionalisiert und sentimentalisiert das Verhältnis zwischen Deann und ihrer Adoptivfamilie.

4.2 Widersprüchliche Wahrnehmungen von ‚Rassen’- Differenz

Im Gespräch mit ihrer Schwester Denise beschreibt Deann ihre Frustration, sich durch physische Differenz von ihrer Adoptivfamilie zu unterscheiden:

DEANN: One of the ways I kind of learned how to be American was by observing you and Duncan and family and friends and the TV. I always thought you had the perfect eyes. It was always frustrating because I couldn‘t get my eyelas- hes to look like yours.

243 Vgl. Fatima El-Tayeb: Vorwort, in: Maisha Eggers u.a. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2005, S. 7-10; Patricia Williams: The Al- chemy of Race and Rights. Diary of a Law Professor. Cambridge, Massachusetts 1991.

4 Ambivalente Rassifizierungen 142

[Abb. 63] „Perfect eyes“ 1

[Abb. 64] „Perfect eyes“ 2

Sich mit ihrer Adoptivschwester vergleichend formuliert Deann ‚Rassen’- Differenz als ein auf ihrer Seite bestehendes Defizit, als ein nicht erreichbares Ideal von Weißsein, dem sich Deann anzupassen versucht.244 Sie illustriert dies durch Bilder, die erst Denise und dann Deann in ähnlicher Inszenierung – Perü- cke, weißes Make-up, getuschte Wimpern – zeigen [Abb. 63 und 64]. Die Reihen- folge der Bilder unterstreicht Deanns Schilderung des Versuchs, das Aussehen ihrer Schwester zu ‚kopieren‘. Zu den selben Bildern hören wir Denise sagen:

DENISE: People would see us or whatever and they say ‚is that y- our sister‘? You guys look just alike.

244 Eng erinnert an dieser Stelle an ein ähnliches Bild in Toni Morrisons THE BLUEST EYE. New York 1970 (Eng, Feeling of Kinship, S. 116).

4 Ambivalente Rassifizierungen 143

Während Deann das unterschiedliche Aussehen der Schwestern in Begriffen eines hierarchischen Verhältnisses thematisiert, betont Denise Familienähnlichkeit. Die Gegensätzlichkeit der Wahrnehmungen – unterstrichen durch melancholische Klaviermusik – lädt ‚Rassen’-Differenz sentimental auf. Wie zuvor in der Be- schreibung des Verhältnisses zu ihren Eltern erzeugt FIRST PERSON PLURAL ein Kippbild der ‚Rassen’-Differenz, das ermöglicht, entweder Deanns Wahrnehmung zu folgen und auf physische Differenz oder mit Denise auf die Ähnlichkeit der Schwestern zu fokussieren. Je nach Fokus können die sich anschließenden Bilder von Deann als Prom Queen und Cheerleader als scheiternde Versuche von Weiß- sein oder als Verkörperungen des Ideals Weißer Amerikanischer Weiblichkeit be- trachtet werden [Abb. 65 und 66].

[Abb. 65] Prom Queen

[Abb. 66] Cheerleader

Emotionalität und Sentimentalität entstehen hier nicht im Bezug auf Erfahrungen rassistischer Abwertung, sondern aus der Opposition von Sehen und Nicht-Sehen

4 Ambivalente Rassifizierungen 144

von Differenz. FIRST PERSON PLURAL gibt der Darstellung dieser oppositionellen Wahrnehmungen viel Raum. Nicht artikuliert wird, inwiefern das Nicht-Sehen von Differenz auf Seiten von Deanns Adoptivfamilie selbst Ausdruck eines Machtverhältnisses ist. Die Darstellung kreist um das Kippbild der ‚Rassen’- Differenz, der Machtbezug bleibt unausgesprochen. Die Kippfigur von Sehen bzw. Nicht-Sehen von Differenz deutet eine kon- flikthafte ‚Rassen’-Thematik in Zusammenhang mit transnationaler Adoption an, wird aber nicht als solche ausformuliert. ‚Rassen’-Differenz gehört zu den um- strittensten Aspekten von Adoption. Es ist kein Zufall, dass ein Verhältnis Weißer Adoptiveltern und Nicht-Weißer, insbesondere asiatischer Kinder zum Allge- meinplatz transnationaler Adoption geworden ist.245 ‚Rassen’-Konflikte prägen die Wahrnehmung transnationaler Adoption asiatischer Kinder auf indirekte Wei- se, da die Adoption aus asiatischen Ländern in den USA in Zusammenhang mit einer kontroversen Diskussion von Adoptionen afroamerikanischer Kinder popu- lär wird. Spätestens seitdem sich 1972 die NABSW (National Association of Black Social Workers) vehement gegen die Adoption afroamerikanischer Kinder durch Weiße Adoptiveltern ausspricht, ist ‚transrassische‘ Adoption in den USA umstritten. Die NABSW versteht die Adoption afroamerikanischer Kinder durch Weiße als Verstärkung von ‚Rassen’-Hierarchie, da die Kinder außerhalb einer stärkenden Community aufwachsen und dadurch noch ungeschützter gegen Ras- sismus aufwüchsen.246 Dass sich die Adoption asiatischer Kinder durchsetzt wird auch als Reaktion auf diese konfliktreiche und schuldbehaftete Auseinanderset- zung zwischen Schwarzen und Weißen Amerikaner/innen gedeutete.247 Die Adoption asiatischer Kinder scheint das Problem des ‚Rassen’-Konflikts zu umgehen, ‚Rassen’-Differenz scheint in diesem Verhältnis Weißer Eltern und asiatischer Kinder als weniger konflikthaft. Dieser indirekte Bezug zum heiklen ‚Rassen’-Konflikt zwischen Afroamerikaner/innen und Weißen schlägt sich im

245 Wie am Beispiel von MODERN FAMILY in der Einleitung dieser Arbeit zu sehen. 246 National Association of Social Black Workers: „Position Statement on Trans-Racial Adoption“, September 1972, s. The Adoption History Project, http://pages.uoregon.edu/adoption/archive/NabswTRA.htm (zuletzt aufgerufen am 18.09.2011). 247 Vgl. Herman, Kinship by Design, S. 252; Eng, Feeling of Kinship, S. 108.

4 Ambivalente Rassifizierungen 145

Denken von transnationaler Adoption asiatischer Kinder in einer Haltung nieder, die als Farbenblindheit bezeichnet wird.248 Im impliziten Wissen um die aufgela- dene Diskussion der Adoption afroamerikanische Kinder tendiert die Diskussion transnationaler Adoption dazu, ‚Rassen’-Differenz im Allgemeinen unsichtbar zu machen, in der ambivalenten Figur gleichzeitigen Sehens und Nicht-Sehens von Differenz. Farbenblindheit bedeutet einen Umgang mit Differenz, der darin be- steht, diese in ihrer Existenz und ihren Effekten zu negieren.249

4.2.1 Farbenblindheit

FIRST PERSON PLURAL präsentiert die Thematisierung von ‚Rassen’-Differenz in Bildern der Farbenblindheit, das heißt in Bildern des Nicht-Sehens von Differenz. Alle Mitglieder der Adoptivfamilie werden mit Kommentaren zitiert, die auf un- terschiedliche Weise einen Akt der Ausblendung physischer und biographischer Differenz zum Ausdruck bringen. So beschreibt die Adoptivschwester Denise die Ankunft Deanns am Flughafen:

DEANN: From the moment you came here you were my sister and we were your family and that was it. And even though we may look different and different nationality or whatever, we were your family.

Auf ähnliche Weise antwortet der Adoptivbruder Duncan auf Deanns Frage nach ihrem Verhältnis:

DEANN [Off]: Do you feel like I‘m your sister? Did you ever question that I am your sister?

DUNCAN: You didn‘t come from my mommy's womb, but I don‘t care. You don‘t have the family eyes, but I don‘t care [al- le lachen] … You got the family smile … Color and look doesn‘t make any difference … so, yah, you‘re my sister [lacht verlegen].

248 Eng, Feeling of Kinship, S. 117. 249 Die Benennung von Differenz erscheint innerhalb dieser Logik selbst als rassistisch, vgl. El- Tayeb, Vorwort.

4 Ambivalente Rassifizierungen 146

Farbenblindheit äußert sich hier in Bildern trotziger Gleichgültigkeit („or whate- ver“, „I don‘t care“). Diese deutet zugleich an, dass das Nicht-Sehen von Diffe- renz einen permanenten performativen Akt des Ausblendens erfordert. Im Akt des Ausblendens und Verneinens erhält ‚Rassen’-Differenz als etwas Signifikanz, das keine Bedeutung haben darf. So erinnert sich auch Alveen an die erste Zeit De- anns in den USA in einem Gestus gleichzeitigen Anerkennens und Leugnens von Differenz:

ALVEEN: Some people would ask and others would kind of look, you know, and you knew they were wondering but we didn‘t care.

Differenz wird in dieser Wahrnehmung durch ihre Negation hergestellt. Differenz findet ihre Bedeutung darin, dass sie keine Bedeutung haben darf. „Farbenblind- heit“ führt nicht das Ende von ‚Rassen’-Differenz ein, sondern übersetzt sie in einen anderen, „geisterhaften“ („ghostly“) Zustand.250

4.2.2 Passing

Diese Äußerungen von Farbenblindheit zeigen im Moment ihrer Äußerung ihren prekären Status, in der Notwendigkeit, immer wieder zu betonen, dass ‚Rasse‘ keinen Unterschied macht. Die Bedeutung von ‚Rassen’-Differenz für die Adop- tivbeziehungen wird gerade durch das Betonen ihrer Irrelevanz unterstrichen. Das verlegene Lachen des Bruders deutet die Fragilität der Behauptung an, die nicht im Zweifel besteht, dass Deann die Schwester sei, sondern darin, dass dieses Be- kenntnis nur unter der Bedingung möglicht ist, ‚Rassen’-Differenz auszublenden. Eng beschreibt diese für transnationale Adoption typische farbenblinde Wahr- nehmung als eine neue Form des passing:

Unlike previous historical incarnations of passing that demand the concealment of racial (or sexual) difference […] here we witness not the suppression of difference, but the collective refusal to see difference in the face of it.251

250 Eng, Feeling of Kinship, S. 11. 251 Ebd., S. 95.

4 Ambivalente Rassifizierungen 147

Passing beschreibt das Phänomen als Weiß ‚durchzugehen‘, was zugleich heißt von Körperlichkeit selbst „abstrahieren“ zu können, wie Berlant in ihrer Betrach- tung von passing anhand Nella Larsens gleichnamigem Roman schreibt.252 Lar- sens Roman kreist um die Drohung, als ‚unangemessener‘ Körper ‚entdeckt‘ zu werden. ‚Rasse‘ ist in dieser früheren Form zugleich körperlich und unsichtbar. Im Gegensatz dazu besteht das passing der transnational Adoptierten darin, sicht- bare, physische Differenz nicht zu sehen. Es ist ein passing, das weniger von der betreffenden Person selbst ‚durchgeführt‘ wird. Die transnational Adoptierte pas- ses in den Augen ihrer Betrachter.

Auch DAUGHTER FROM DANANG präsentiert Bilder des passing. Eine Freun- din der Familie stellt fest:

FREUNDIN: Heidis features and her complexion and everything -- it‘s just like an American that‘s had a sun tan. When she was growing up and even ’till now I still look at her as a whi- te American. Uhm, because there‘s really not much ori- ental in her.

Der Film unterstreicht Heidis passing durch das Bild eines dunkelhaarigen Mäd- chens und suggeriert, Heidi sehe so wenig „oriential“ aus, wie dieses Mädchen.

[Abb. 67] „Not much oriental“

Die Aufnahmen zeigen in dieser Sequenz eine Gruppe unbekannter Kinder, aus der ein dunkelhaariges Mädchen hervorgehoben wird [Abb. 67]. Die Entschei-

252 Berlant, Female Complaint, S. 108f.; Nella Larsen: PASSING. New York 1929.

4 Ambivalente Rassifizierungen 148

dung, das Bild eines beliebigen Mädchens mit dunklen Haaren zu zeigen, um zu veranschaulichen, dass Heidi als Weiß gesehen werden kann, lässt sich als Ver- such der Filmemacher verstehen, die Ambivalenz der Bilder von Heidi selbst zu vereindeutigen, das heißt, Rassifizierung als eindeutig Weiß zu behaupten. Auch diese Strategie der Filmemacher deutet auf die Instabilität der Rassifizierung als Weiß hin. Die farbenblinde Negierung von ‚Rassen’-Differenz produziert eine für transnationale Adoption spezifische Form der instabilen Rassifizierung als auf indirekte Weise different. Das implizite Machtwissen in den hier betrachteten Darstellungen besteht in dieser spezifischen indirekten Rassifizierung.

4.3 Transformation als Rassifizierung

Farbenblindheit wird in FIRST PERSON PLURAL zugleich als Ignorieren von Diffe- renz auf Seiten der Adoptivfamilie und als Anpassung auf Seiten Deanns darge- stellt. Das Nicht-Sehen von Differenz korrespondiert mit einem spezifischen Un- sichtbarwerden. In FIRST PERSON PLURAL wird dies in Referenz auf die Geschich- ten dargestellt, die die Adoptiveltern von Deanns Kindheit in den USA erzählen und die eine Figur der Transformation beinhalten. In Kapitel 3 wurde beschrieben, wie die medienspezifischen Eigenschaften imaginärer Aufhebung von Raum und Zeit des Fernsehens die Transformation eines räumlich entfernten Kindes in ein ‚eigenes‘ begünstigen. An diese ‚magische‘ Transformation schließen Geschich- ten einer weiteren Transformation nach der physischen Ankunft des Kindes im

Raum der Adoptivfamilie an. In FIRST PERSON PLURAL verweist Deann zu Beginn des Films auf diese zweite Transformation, indem sie die verschiedenen Namen und Geburtsdaten aufzählt, die ihr im Laufe ihrer Kindheit gegeben wurden:

DEANN: My name is Kang Ok-Jin, I was born on June 14th 1957. I feel like I‘ve been several different people in one life. My name is Cha Jung-Hee, I was born on November 5th 1956. I‘ve had three names, three different sets of histo- ries. My name is Deann Borshay. I was born on March 3rd 1966, the moment I stepped off the airplane in San Francisco. I‘ve spoken different languages and have had different families.

Kang Ok-Jin bzw. Cha Jung-Hee verwandelt sich in dem Moment, in dem sie ihre Adoptivfamilie auf amerikanischem Flughafen-Boden trifft, in Deann Borshay.

4 Ambivalente Rassifizierungen 149

Eng beschreibt diese Verwandlung als Transformation eines anonymen, hilfsbe- dürftigen Objekts in ein Subjekt, dem die Vorteile der „privilegiertesten Form der Migration“253 zu gute kommen. Die Ankunft am Flughafen repräsentiert das Überschreiten nationaler Grenzen und den damit verbundenen Statuswechsel von einem anonymen Objekt ohne Rechte in sein Gegenteil:

[Through] her adoption and crossing over an invisible national boundary, a needy […] object is miraculously transformed into an individuated and treasured U.S. sub- ject, one worthy of investment – that is, economic protection (capital accumulation), political rights (citizenship), and social recognition (family).254

Im Moment der Adoption werden der transnational Adoptierten Rechte und Sub- jektstatus zugesprochen, die sie als Bürgerin des Adoptivlandes vollständig natu- ralisieren. Im Vergleich zu anderen Formen der Migration erfährt die transnatio- nal Adoptierte ganz besondere Privilegien. Diese privilegierteste aller Migratio- nen wird jedoch kaum als solche wahrgenommen, weil transnationale Adoption kaum als Migrationsform diskutiert wird.255 Dieser Umstand deutet selbst auf eine Form von Privilegierung hin, die darin besteht, als Privilegierung unmarkiert und unsichtbar zu sein.256 Das Privileg der transnational Adoptierten besteht darin, (scheinbar) nicht um Aufenthaltsstatus, Ressourcen und soziale Anerkennung konkurrieren zu müssen. Die Unsichtbarkeit dieser Privilegierung wird bei dem Versuch deutlich, die transnational Adoptierte mit anderen Migrant/innen, Flücht- lingen (Bsp. Boat People), Arbeitsmigrant/innen oder „Mail Order Brides“ ins Verhältnis zu setzen. Transnationale Adoption scheint ganz anderer ‚Natur‘ zu sein.257 Der Migrationsforscher Richard H. Weil hat transnationale Adoption auf- grund ihrer spezifischen Unsichtbarkeit bereits 1984 als „stille Migration“ („Quiet

253 Eng, Feeling of Kinship, S. 94. 254 Ebd., S. 99. 255 Ebd., S. 94. 256 Vgl. Ruth Frankenberg: White Women, Race Matters. The Social Construction of Whiteness. Minneapolis, Minnesota 1993, S. 447. 257 Eng, Feeling of Kinship, S. 2.

4 Ambivalente Rassifizierungen 150

Migration“) bezeichnet.258 Weil führt verschiedene Gründe an, worin diese feh- lende Wahrnehmung begründet sein könne. So konzentriere sich die Forschung auf die Migration von entweder Erwachsenen oder Gruppen. Transnationale Adoption stelle außerdem eine ungewöhnliche Form der Migration dar, weil die Entscheidung zur Migration nicht von den Migrant/innen selbst getroffen werde. Es handele sich daher um eine Form von „forced migration“.259 Aufgrund dieser Eigenschaften verlaufe Adoptionsmigration in die USA als kontinuierlicher, aber „stiller Fluss“.260 Seit dieser Beobachtung Weils wird transnationale Adoption stärker als Mig- rationsform beschrieben.261 In Hinblick auf die rassifizierende Wahrnehmung als Weiß ist jedoch entscheidend, dass sich transnationale Adoption erst auf einen zweiten Blick als Migrationsform erkennen lässt. Das heißt, anhand der von Weil genannten Kriterien betrachtet, dass transnational Adoptierte ohne Verbindung zu Erwachsenen, Eltern und Verwandtschaft erscheinen und trotz ihrer wachsenden Anzahl nicht als Gruppe wahrgenommen werden. Ich verstehe dies als Zeichen der Wirkmächtigkeit der Figur der Transformation, die rückwirkend die Wahr- nehmung transnationaler Adoption bestimmt: Die Imagination einer Transforma- tion der Adoptierten in ein Mitglied der Adoptivfamilie macht deren Status als Migrantin unsichtbar. Durch die Figur der Transformation erscheint die Adoptier- te als allein stehend, ohne Familienangehörige, das heißt auch ohne Vergangen- heit. Das Bild der Transformation beinhaltet die Vorstellung von Singularität und Geschichtslosigkeit. Die Imagination der Transformation setzt das Denken des Kind als beziehungs- und geschichtslos voraus. Die Ankunft am Flughafen, das Bild, das sich in so vielen Erzählungen transnationaler Adoption findet, steht für eine zeitlich und räumlich nicht fixierbare Transformation. Dass Deann ihre An- kunft am Flughafen in San Francisco als „Geburt“ metaphorisiert, ist symptoma- tisch. Der Moment der Ankunft am Flughafen erscheint als voraussetzungsloser

258 Weil, International Adoptions. 259 Ebd. 260 Ebd. 261 Vgl. Peter Selman: „Intercountry Adoption in the New Millennium: The ‚Quiet Migration‘ Re- vised“, Population Research and Policy Review, Nr. 21 (2002), S. 205-225.

4 Ambivalente Rassifizierungen 151

Neubeginn. Das „bedürftige Objekt“ verschwindet im Moment der Transformati- on aus der Wahrnehmung transnationaler Adoption.

4.3.1 Amerikanisierung und ‚Weißwerdung‘

Farbenblindheit setzt, in Verbindung mit der Figur der Transformation Bezie- hungs- und Geschichtslosigkeit der transnational Adoptierten voraus. In der wei- teren Darstellung der in Deanns Adoptivfamilie erzählten Kindheitsgeschichten deutet sich darüber hinaus an, dass Farbenblindheit nicht heißt, transnationale Adoption außerhalb von ‚Rassen’-Hierarchie zu denken, sondern eine wiederum indirekte Positionierung innerhalb dieser beinhaltet. Dies deutet sich in Bildern von Amerikanisierung an, die in den Kindheitsgeschichten aufgerufen werden. Im Rückblick auf die Zeit nach Deanns Ankunft stellt Alveen deren Transformation als erfolgreiche Progression dar [Abb. 68].

[Abb. 68] „Blossomed like a flower“

ALVEEN: You just went from being stoic into smiling and … you just blossomed like a flower.

Die Schilderung der Transformation wird durch Videoaufnahmen des Vaters illus- triert. Sie zeigen Bilder einer unbeschwerten Kindheit, von bunten Reisen, wir sehen Deann im Schwimmbad, als Prinzessin verkleidet. Die Bilder deuten zu- gleich darauf hin, dass Transformation mit der Annahme nationaler Identität ein- hergeht. Diese ist jedoch zugleich eine rassifizierte: In DAUGHTER FROM DANANG schildern Bekannte von Heidi, wie sich diese in eine „Südstaatlerin“ verwandelt. In kürzester Zeit wird sie nach Aussage einer Grundschullehrerin „typical all

4 Ambivalente Rassifizierungen 152

American“, mit einer Vorliebe für „baloney“, so eine Freundin der Familie. „We made her a southerner real quick“, verkündet die Leiterin der girl scouts voller

Stolz. Auch in FIRST PERSON PLURAL wird ‚Amerikanisierung‘ anhand von Attri- buten amerikanischer Populärkultur veranschaulicht: Wir sehen Deann mit Mickey-Mouse-Ohren und verkleidet zu Halloween [Abb. 69].

[Abb. 69] Transformation

Die Darstellung von Amerikanisierung überlagert sich jedoch mit einer Positio- nierung in eine ‚Rassen’-Hierarchie. So sind in die Reihe der Bilder aus Deanns Zeit der Transformation Aufnahmen eingefügt, die auf einem Familienausflug in ein Lokal der Pfannkuchenhaus-Kette Aunt Jemima entstehen [Abb. 70 und 71].

[Abb. 70] Aunt Jemima

4 Ambivalente Rassifizierungen 153

[Abb. 71] Rassifizierung im Konsum

Das Logo der Aunt Jemima nimmt einen prominenten Platz in der Geschichte amerikanischer Populärkultur ein. Es zierte die Verpackung eines Ende des 19. Jahrhunderts eingeführten Fertigpulvers für Pfannkuchen, eines der ersten Pro- dukte, die mit einer „Persönlichkeit“ beworben werden.262 Aunt Jemima, so Ber- lant, steht für eine Tradition konsumierbarer ‚Rassen’-Differenz, sie vereint Exo- tik und Primitivität mit tröstlicher Häuslichkeit und verspricht, die Weiße Mittel- schichtsfrau von der „Sklaverei“ der Hausarbeit zu befreien, wie es in einer zeit- genössischen Reklameanzeige heißt.263 „[T]he exoticization of Aunt Jemima would surely mark the limit of what the consuming public could bear in the linka- ge of African and American.“264 Berlant verweist auf die Ikonographie der Aunt Jemima und ihre Reinkarnation als Aunt Delilah in ihrer Diskussion des Verhält- nisses von Geschlechter- und ‚Rassen’-Differenz in den verschiedenen Roman- 265 und Filmversionen von IMITATION OF LIFE [Abb. 72]. So wie die Emanzipie- rung der Weißen Hausfrau durch das Fertigpulver mit der Objektivierung der Schwarzen Frau einhergeht, so ist der berufliche Erfolg der Weißen Bea Pullman in Hursts und Stahls IMITATION OF LIFE an die Bereitschaft ihrer Schwarzen

262 Berlant, Female Complaint, S. 122. 263 Ebd. 264 Ebd. Berlant bezieht sich auf Hazel Carby: Reconstructing Womanhood. The Emergence of the Afro-American Woman Novelist. New York 1987. 265 Der Roman IMITATION OF LIFE stammt von Fannie Hurst (New York 1933). John Stahl verfilmt den Roman 1934, die zweite Verfilmung von Douglas Sirk kommt 1959 in die US-amerikanischen Kinos.

4 Ambivalente Rassifizierungen 154

Haushälterin Delilah Johnson geknüpft, nicht nur ihr Pfannkuchenrezept zur Ver- fügung zu stellen, sondern sich selbst in eine Marke transformieren zu lassen.266

[Abb. 72] IMITATION OF LIFE (USA 1934, R: John Stahl)

Das flüchtige Bild von Deann und ihrer Mutter Pfannkuchen essend bei Aunt Je- mima deutet auf eine Einschreibung der transnational Adoptierten in eine nationa- le Ikonographie Schwarzer ‚konsumierbarer Weiblichkeit’ hin. Amerikanisierung heißt auch, eine Position innerhalb einer in Verschränkung rassifizierten und ver- geschlechtlichten Ordnung einzunehmen. Innerhalb des ‚Rassen’-Dispositivs von

Schwarz und Weiß verweist FIRST PERSON PLURAL auf eine Verortung der trans- national Adoptierten auf der Seite der Weißen Konsumentin. Farbenblindheit und die Figur der Transformation werden als Elemente von Amerikanisierung erkenn- bar, die zugleich die Affirmation von ‚Rassen’-Hierarchie impliziert.

In FIRST PERSON PLURAL deutet sich an, dass die Transformation der transna- tional Adoptierten vom entfernten Kind in ein Mitglied der amerikanischen Fami- lie als ‚Weißwerdung‘ gedacht wird, die mit Geschichtsvergessenheit und Indivi- duierung einhergeht. Sie macht die transnational Adoptierte als Migrantin mit Be- ziehungen zu Verwandten und anderen Adoptierten unsichtbar. Zugleich bedeutet Transformation das Einfügen in eine rassifizierte Hierarchie konsumierbarer Dif-

266 Lauren Berlant: „National Brands, National Body: Imitation of Life“, in: dies.: The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture. Durham, London 2008, S. 107-144. Berlant zeigt in ihrer vergleichenden Analyse der Filme, wie in Douglas Sirks Version Schwarze und Weiße Weiblichkeit im Vergleich der Figuren Lora Meredith und Sarah Jane auf unterschiedliche Weise der Kommodifizierung unterliegen.

4 Ambivalente Rassifizierungen 155

ferenz, die der Adoptierten die Position dominanten Weißseins zuweist. Das sen- timentale Kippbild der ‚Rassen’-Differenz, der sich gegenseitig ausschließenden Bilder intimer Beziehungen und Weiß-/AmerikanischseinS, verkörpert, was im Adoptivverhältnis nicht artikulierbar ist: die Produktion einer spezifischen, auf indirekte Weise rassifizierten Differenz, die darin besteht, eine Beziehung zu An- gehörigen unsichtbar zu machen und die Adoptierte in ein binär gedachtes ‚Ras- sen’-Dispositiv einzuschreiben. Das Kippbild deutet jedoch auch auf den Um- stand hin, dass beides, Geschichtslosigkeit und Rassifizierung, Produkte perma- nenter performativer Akte sind, die herstellen, was in der Figur der Transformati- on als lineare Abfolge in der Zeit, als einmalig und abgeschlossen gedacht wird.

Die Referenz auf Farbenblindheit in FIRST PERSON PLURAL weist auf den Konflikt nicht artikulierter Affirmation von ‚Rassen’-Hierarchie hin. Das ambiva- lente Kippbild der ‚Rassen’-Differenz beinhaltet eine tendenziell kritische Per- spektive auf die affirmativen Eigenschaften transnationaler Adoption hinsichtlich ‚Rasse‘. Zugleich deutet sich im Kippbild auch an, was Kritik an den Bezügen transnationaler Adoption zur ‚Rassen’-Hierarchie begrenzt. Eine Kritik an den hier aufgerufenen Machtverhältnissen ist um so schwerer zu artikulieren, da Far- benblindheit und Transformation die transnational Adoptierte als Mitglied der Adoptivfamilie in eine privilegierte Position versetzen. Eine Kritik an der Affir- mation von ‚Rassen’-Differenz droht, die Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie in Frage zu stellen. Darin besteht das Paradox der sentimentalen Kippfigur: die Ver- bindung zwischen Rassismus und transnationaler Adoption produziert ein implizi- tes Machtwissen. Zugleich erfordert der Wunsch, an der Zugehörigkeit zur Adop- tivfamilie festhalten zu können, dieses Machtwissen nicht auszuformulieren und eine Kritik an ‚Rassen’-Hierarchie zu begrenzen.

4.4 „Racial Melodrama“ in Daughter from Danang

Während in FIRST PERSON PLURAL ‚Rassen’-Differenz als Ursache des ambiva- lenten Verhältnisses zur Adoptivfamilie nur angedeutet wird, folgt DAUGHTER

FROM DANANG einer Strategie der direkten Kritik rassistischer Bedingungen transnationaler Adoption. Auch hier wird die Kritik jedoch durch sentimentale

Konventionen begrenzt. DAUGHTER FROM DANANG tendiert dazu, ‚Rasse‘ zu ver-

4 Ambivalente Rassifizierungen 156

eindeutigen. Dies geschieht zunächst, indem eine kritische Sicht auf die „Operati- on Babylift“ präsentiert wird. Nicht nur habe es sich, so heißt es im Kommentar, um ein politisches Instrument der Regierung gehandelt, für Sympathien und Fi- nanzierung für den Krieg in Vietnam zu werben. Die ‚geretteten‘ Kinder seien, so heißt es im Film, vielfach nicht, wie offiziell behauptet, Waisen gewesen, sie sei- en häufig unter dubiosen Umständen von ihren Eltern getrennt worden. Durch das eingesetzte Archivmaterial wird der Eindruck verstärkt, es habe sich um forcierte Trennungen gehandelt. Eine historische Szene zeigt eine namenlose amerikani- sche Sozialarbeiterin, die versucht, eine vietnamesische Mutter davon zu überzeu- gen, ihr das Kind zu überlassen, damit es in den USA ein „gutes Zuhause“ („a good home“) erhalte. Dies sei, so sagt sie, „besser für alle“ [Abb. 73 und 74].

[Abb. 73] „A good home“

[Abb. 74] „Better for everyone“

Die Szene ist kurz und es bleibt unklar, unter welchen Umständen sie gedreht und ausgestrahlt wurde. Sie suggeriert einen kolonialen Gestus einer Weißen Frau na-

4 Ambivalente Rassifizierungen 157

he, die über das Schicksal einer Nicht-Weißen Frau und deren Kind zu entschei- den versucht. DAUGHTER FROM DANANG folgt hier dem Prinzip des „Racial Me- lodrama“, einer in sentimentaler Unterhaltung tradierten Überlagerung eines Tä- ter-Opfer-Verhältnisses mit ‚Rassen’-Differenz.267 Während das Melodram im Allgemeinen moralisch vereindeutigende Effekte hat, sieht Williams im „Racial Melodrama“ eine spezifisch US-amerikanische Form der Auseinandersetzung mit Sklaverei und Rassismus.268 Rassifiziertes Leiden, so Williams, erfährt als Folge der in der Sklaverei begründeten Krise der USA „moralische Legitimität“ („moral legibility“), von der aus Ansprüche auf Inklusion und Bürgerrechte abgeleitet werden.269

Die Darstellung in DAUGHTER FROM DANANG legt nahe, dass die Kinder ame- rikanischer Interessenspolitik, verkörpert in der Figur der Weißen Sozialarbeite- rin, zum Opfer gefallen seien und mit Gewalt von ihren vietnamesischen Familien getrennt wurden. DAUGHTER FROM DANANG begünstigt hier eine emotionalisie- rende Identifikation mit Kim und Heidi als rassifizierte Opfer US-amerikanischer Politik. Die kritische Sicht auf die Bedingungen transnationaler Adoption am Bei- spiel der „Operation Babylift“ produziert eine Zuschauerposition moralischer In- telligibilität, wie sie Williams für das „Racial Melodrama“ beschreibt. Wir bli- cken aus einer Perspektive empathischer und empörter moralischer Überlegenheit auf die sich (ihrerseits in moralischer Überlegenheit wähnende) Vermittlerin transnationaler Adoption. Indem der Film den Prinzipien des „Racial Melodramas“ folgt, werden Posi- tionen moralischer Intelligibilität, sowohl für die dargestellten Opfer, als auch für diejenigen, die sich angesichts des Films mit ihnen identifizieren, erzeugt. Heidi und Kim werden in einer Position rassifizierten Leidens vereindeutigt. Nicht nur sind Kim und Heidi Kriegsopfer, sie erscheinen außerdem der Gewalt einer ame- rikanischen, Weißen und hegemonialen Macht ausgesetzt, die die Kriegssituation

267 Williams, Race Card. 268 Ebd., S. 44. S. Kapitel 2, S. 94f. 269 Ebd., S. 9. Williams schließt an den Begriff der „moral legibility“ bei Peter Brooks an (Brooks, The Melodramatic Imagination).

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für politische Zwecke instrumentalisiert und sich selbst in moralischer Überlegen- heit wähnt, verkörpert in der Figur der Weißen Vermittlerin. Effekt des „Racial Melodrama“ ist hier jedoch auch die Rassifizierung von Heidi als Nicht-Weiß, in Opposition zu einem Weiß gedachten Amerika und Weißen Adoptiveltern. Auch in DAUGHTER FROM DANANG erscheinen Adoptivverwandtschaft und Nicht- Weißsein aufgrund der Überlagerung mit rassifizierten Opfer-/Täterpositionen unvereinbar. Während jedoch in FIRST PERSON PLURAL Deanns Positionierung als ambivalent dargestellt wird, verortet die melodramatische Darstellung in DAUGH-

TER FROM DANANG die transnational Adoptierte als Nicht-Weiß, dadurch ‚Ras- sen’-Differenz vereindeutigend.

4.4.1 Selbstmarginalisierungen

In der Logik des „Racial Melodrama“ deuten Dolgin und Franco in DAUGHTER

FROM DANANG eine Kritik an, die eine Verbindung zwischen hegemonialen Ver- hältnissen und globalisierten Ökonomien nahelegt. Eine ähnliche Kritik wird von transnational Adoptierten selbst formuliert. In den letzten Jahren ist eine Commu- nity insbesondere in Südkorea geborener erwachsener Adoptierter entstanden, die sich auch im akademischem Kontext mit transnationaler Adoption beschäftigen. In Seoul wird von ihnen seit 2009 das Journal of Korean Adoption Studies her- ausgegeben, 2006 erschien outsiders within. Writing on Transracial Adoption, der erste nur von Adoptierten herausgegebene Sammelband. Die Herausgeberinnen von outsiders within betonen die Bedeutung von ‚Rassen’-Differenz für die Dis- kussion transnationaler Adoption:

Discussions about adoption have typically separated adoptees who were adopted across racial lines within their country of origin (often referred to as ‚transracial‘ adoptees) from those who were adopted transnationally (referred to as ‚international‘ or ‚intercountry‘ adoptees). This separation prevents us from recognizing our com- monalities as a source of solidarity. It also suggests that the problems facing transna- tional adoptees are primarily related to finding a family and adapting to a new count- ry, rather than to the traumatic experience of racism, marginalization, and discrimi- nation, both systemically and on the personal level, within our adoptive communi- ties.270

270 Oparah, Shin, Trenka, Introduction, S. 2.

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Die Herausgeberinnen weisen auf eine etablierte Unterscheidung zwischen trans- nationaler Adoption und ‚Rassen’-Grenzen überschreitender Adoption im Adopti- onsdiskurs hin, die Gemeinsamkeiten in der alltäglichen Erfahrung von Rassismus verschleiert und dadurch Solidarisierung verhindert. Im Sinne einer performativen Selbstermächtigung wählen die Herausgeberinnen daher eine Umbenennung als „transracial“:

Increasingly, many of us who have been described in the adoption literature as inter- country or international adoptees have decided to redefine ourselves as transracial adoptees. This redefinition emphasizes how relentless our racialization has been throughout our lives. In this book, we use the term ‚transracial adoption‘ to highlight the connection between adoptees of color, whether we were adopted domestically or internationally.271

Die Markierung als transracial soll die gemeinsame Erfahrung von Rassismus verdeutlichen und transnationale Adoption als Effekt, als „intimate face“ von Ko- lonialismus und Rassismus sichtbar machen.272 Die Verschiebung des Blicks von nationalen zu ‚rassischen‘ Grenzen produziert auch hier eine Position der transna- tional Adoptierten, die sie im Sinne des „Racial Melodrama“ moralisch intelligi- bel macht. So kann Solidarität und Identifikation nicht nur mit afroamerikani- schen „transracial adoptees“ in den USA formuliert werden, sondern auch mit an- deren migrantischen Gruppen und people of color:

As transracial adoptees, we share experiences of border-crossing, family disruption and reinvention, racism, and survival with non-adopted people of color. We do not have to separate ourselves along the heavily policed borders of ethnicity […].273

Die Herausgeberinnen konstruieren eine ‚rassische’ Identität durch geteilte Ge- schichten traumatisierender Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen und verwei- sen auf die Ursprünge von Adoption im Kolonialismus, in dem sie einen Bezug zwischen transnationaler Adoption und Zwangsadoptionen und Assimilationen von Native Americans im Kolonialismus und in christlicher Mission herstellen.274

271 Ebd., S. 2f. Herv. i. O. 272 Ebd., S. 7. 273 Ebd., S. 14. 274 Ebd., S. 9.

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Indem die Adoptierten eine Verbindung zur Geschichte und Erfahrung anderer rassifizierter Gruppen herstellen, produzieren sie für sich selbst eine Position als Opfer von Rassismus und Kolonialismus. „Selbstmarginalisierung“ transnationa- ler Adoptierter ermöglicht Allianzbildung und Identifikation. Transnationale Adoption wird in dieser Argumentation als rassifiziertes Phänomen zugleich sichtbar und hervorgebracht. Den Prinzipien des „Racial Melodramas“ folgend, konstruieren die Herausgeberinnen eine Position der transnational Adoptierten als zum Schweigen gebrachte Minderheit, aus der heraus moralische Legitimität be- ansprucht werden kann:

The voices of transracial adoptees have been silenced, our experiences overshadowed and overruled by the glossy public image created by adoption agencies and some- times even our own families. Our overall goal has been to provide a counter- narrative to the dominant story, which has been about us but not authored by us. […]. Our lives are impacted by the larger forces of colonization, racism, sexism, and glo- balized capitalism, as well as the intimate conditions of grief, rage, loneliness, and longing. But we are survivors – not victims.275

Repräsentationen wie diese dienen dazu, historische Bezüge und Machtverhältnis- se zwischen transnationaler Adoption, Kolonialismus und globalen Ökonomien sichtbar zu machen, andere Ursprungserzählungen zu erzählen und die zum „Ver- stummen“ gebrachten Stimmen zum Sprechen zu bringen. Die Figur des Zur-Sprache-Bringens betrifft die Frage der Repräsentation. In Zusammenhang postkolonialer Kritik hat Gayatri Spivak auf die „doppelte Lekti- on der Repräsentation“ hingewiesen, die darin besteht, dass Repräsentationen immer zugleich auch herstellen, was sie darstellen.276 In diesem Fall führt die Re- präsentation der Adoptierten zur „Selbstmarginalisierung“277 und -viktimisierung.

275 Ebd., S. 15. 276 Gayatri Spivak, „Can the Subaltern speak?“ (i.O. 1999), Die Philosophin, Nr. 28 (2003), S. 42- 58, hier S. 48; vgl. auch Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: „Postkolonialer Feminismus und die Kunst zur Selbstkritik“, in: Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster 2003, S. 270-290, hier S. 276; vgl. zur „doppelten Lektion der Repräsentation“ auch: Astrid Deuber-Mankowsky: „Kon- struktivistische Ursprungsfantasien. Die doppelte Lektion der Repräsentation“, in: Urte Helduser u.a. (Hg.): under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis. Frankfurt am Main 2004, S. 68-80. 277 Do Mar Castro Varela, Dhawan, Postkolonialer Feminismus, S. 274.

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Nicht problematisierte Selbstviktimisierung tendiert jedoch dazu, die hegemoniale Unterscheidung zwischen Zentrum und Rand zu stärken, die rassifizierte Hierar- chie erst möglich macht.278 Maria Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan be- schreiben Selbstmarginalisierung mit Spivak als eine Taktik, um als „token vic- tims“ Zugang zum Zentrum und seinen Privilegien zu erhalten.279 Anstatt durch Selbstmarginalisierung und -viktimisierung hegemoniale Machtstrukturen zu re- produzieren, müsse die Gewalttätigkeit, die in der Unterscheidung zwischen Zent- rum und Rand besteht, berücksichtigt werden, das heißt auch, den „Marginalisie- rungsdynamiken“ zu widerstehen.: „Und dazu zählt auch die ‚Selbstmargina- lisierung‘.“280 Die Frage der Repräsentation wirft immer auch die Frage auf, aus welcher Position, aufgrund welcher Privilegien es bestimmten Subjekten möglich ist, im Namen derjenigen, die nicht sprechen können, die Stimme zu erheben. Dies be- trifft die kritische Verortung der ‚subalternen Intellektuellen’.281 Es wirft generell die Frage auf, aufgrund welcher Voraussetzungen eine Sprecherposition und sei es eine viktimisierte, beansprucht werden kann. Im Fall transnationaler Adoption bedeutet das, eine Position Nicht-Weißer Viktimisierung zu produzieren und da- mit eine Struktur zu bestätigen, die eindeutige ‚Rassen’-Differenz behauptet. Den Prinzipien des „Racial Melodramas“ folgend, wird dadurch eine Überlagerung von ‚Rassen’-Differenz und Opfer-/Täterpositionen festgeschrieben. Die transna- tional Adoptierte wird viktimisiert, um so mehr, wenn sie sich als „Überlebende“ darstellt. Die hier und in DAUGHTER FROM DANANG formulierte Kritik nach dem Prinzip des „Racial Melodrama“ tendiert dazu, ‚Rassen’-Identität der transnatio- nal Adoptierten als Nicht-Weiß zu vereindeutigen. Dabei wird jedoch die Produk- tion einer ambivalenten Differenz ausgeblendet, die der transnational Adoptierten eine privilegierte Position gegenüber denen, die ‚zurückgelassen‘ wurden und in- nerhalb des US-amerikanischen ‚Rassen’-Konflikts zuweist.

278 Ebd. 279 Ebd., S. 277. 280 Ebd., S. 174. 281 Vgl. Spivak, Can the Subaltern speak, S. 51; vgl. auch do Mar Castro Varela, Dhawan, Postko- lonialer Feminismus, S. 277.

4 Ambivalente Rassifizierungen 162

4.4.2 ‚Rassen’-Differenz als „Kulturkonflikt“

Die transnational Adoptierte kann je nach Fokus als privilegierte Migrantin oder Opfer amerikanischen Imperialismus‘, als souveräne Sprecherin oder zum Schweigen gebrachte Subalterne angesehen werden. Die Geschichten transnatio- naler Adoption stellen diese verschiedenen Positionen nebeneinander, entweder in der ambivalenten Kippfigur von ‚Rassen’-Differenz oder wie in DAUGHTER FROM

DANANG, in verschiedenen narrativen Strängen. Das Medium Fernsehen begüns- tigt eine Darstellung, in der heterogene Elemente nebeneinander stehen können, ohne sich zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufügen. So stehen in

DAUGHTER FROM DANANG verschiedene widersprüchliche Formen der Rassifizie- rung nebeneinander, bis zu dem Moment, an dem Heidi mit ihrer vietnamesischen Familie zusammentrifft. Erst im Zusammentreffen mit der Herkunftsfamilie kollidieren die unter- schiedlichen Rassifizierungen der Adoptierten von Weißwerdung und Selbstmar- ginalisierung. Vorher war es möglich, je nach narrativem Strang, Heidi bzw. De- ann als Nicht-Weißes, stummes Opfer zu sehen (in den Szenen des historischen Archivmaterials, in den rückblickenden Erzählungen) oder als sprachfähiges,

‚amerikanisiertes‘, Weißes, privilegiertes Subjekt. In DAUGHTER FROM DANANG werden beide Subjektpositionen mit verschiedenen Zeiten und Räumen verbun- den. Zeit und Raum der Viktimisierung sind an eine entfernte kindliche Unschuld geknüpft, Privilegierung und Weißwerdung an eine spätere Kindheit und Jugend, die in die Gegenwart hineinreicht. In dem Moment, in dem Heidi als Erwachsene auf ihre vietnamesische Familie trifft, kollidieren auch die Wahrnehmungen Hei- dis als Nicht-Weißes kindliches Opfer und als Weiße Erwachsene. In DAUGHTER

FROM DANANG wird diese Kollision durch die Inszenierung eines „Kulturkon- flikts“ dargestellt: Die erwachsene, ‚Weiße‘ Amerikanerin trifft auf ihre Nicht- Weiße, bedürftige Familie. Die privilegierte Position der transnational Adoptier- ten ist hier als „ghosted“, überschattet von der Existenz illegalisierter Immig- rant/innen, Arbeitsmigrant/innen und jenen „left behind – consigned to outcast

4 Ambivalente Rassifizierungen 163

status and confined to the margins of globalization“282 erkennbar. Die Darstellung Heidis als privilegierte Migrantin steht jedoch in Konflikt mit ihrer eigenen Rassi- fizierung als Nicht-Weißes Opfer. In der Szene der Familienzusammenführung zeigt sich die Widersprüchlich- keit der verschiedenen Rassifizierungen der transnational Adoptierten, erst hier wird ‚Rassen’-Differenz in DAUGHTER FROM DANANG ambivalent. Bis dahin war es möglich, zwischen den verschiedenen Bildern der Adoptierten als Weiß oder Nicht-Weiß, als privilegiert oder rassifiziertes Opfer, als kindliches Objekt von Wohltätigkeit oder erwachsenes Subjekt der Repräsentation hin und her zu sprin- gen. Sentimentale Unterhaltung folgt dem Bedürfnis, Ambivalenz zu ‚managen‘.

In DAUGHTER FROM DANANG und auch in FIRST PERSON PLURAL wird daher eine ‚Lösung‘ dieses Konflikts unvereinbarer Positionen und Wahrnehmungsweisen gewählt, die darin besteht, eine ‚Entscheidung‘ für die eine oder andere Familie, Identität, ‚Rasse‘ zu treffen. Ich werde auf die Darstellung dieser ‚Entscheidung‘ im nächsten Kapitel genauer eingehen.

In FIRST PERSON PLURAL besteht die Begrenzung von Kritik in Machtverhält- nissen, die die eigene Privilegierung hervorbringen. Die Kippfigur der ‚Rassen’- Differenz beinhaltet die Ambivalenz einer Rassifizierung, die zugleich Differenz erzeugt und privilegiert. In DAUGHTER FROM DANANG ist eine kritische Sicht wie- derum dadurch beschränkt, dass die Ambivalenz dieser Rassifizierung nicht er- fasst wird und, den Konventionen des „Racial Melodramas“ folgend, eine einsei- tige Viktimisierung dargestellt wird. Die Grenzen dieser Darstellung führen in der Konfrontation von Heidi mit ihrer vietnamesischen Familie wiederum zu einer sentimentalen Spannung, die der Film als „Kulturkonflikt“ rationalisiert. In dieser Erklärung wird die ambivalente Rassifizierung, die zur spezifischen „negativen Aufladung“ transnationaler Adoption beiträgt, erneut ausgeblendet.

282 Eng, Feeling of Kinship, S. 101.

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4.5 „It runs in the family“. ‚Rassen’-Differenz als in- timer Familienscherz in First Person Plural

Ich möchte noch einmal auf das zu Beginn des Kapitels eingeführte Kippbild von ‚Rassen’-Differenz und Familienzugehörigkeit zurückkommen. Die eingangs be- schriebene Szene von Intimität und Distanz auf der Autofahrt in Korea korres- pondiert mit einer früheren Szene im Film. Darin stellt Deann dem Publikum ihre Adoptiveltern vor. Zunächst sind Deann und ihr Adoptivvater Arnold zu sehen, die sich gegenseitig filmen. Der Vater wird in direktem Zusammenhang mit dem Medium Video eingeführt [Abb. 75 und 76].

[Abb. 75] Deann filmt Arnold

[Abb. 76] Arnold filmt Deann

Der Film integriert immer wieder die typischen Home Movies, die der Vater seit den 1950er Jahren von der Familie gedreht hat. Deanns eigener Film greift das Material des Vaters auf und stellt es in neue Zusammenhänge. Ihre eigene Arbeit als Filmemacherin ist von ihrer „Obsession“, wie sie sagt, mit diesen Home Mo-

4 Ambivalente Rassifizierungen 165

vies inspiriert.283 Das Nebeneinander von Einstellungen, in denen Deann ihren Vater filmt und dann wieder von ihrem Vater gefilmt wird, entspricht der Struktur des Films, in der Ausschnitte aus den väterlichen Home Movies und Deanns eige- nes Material einander gegenüberstehen und kommentieren. Das Verhältnis zwi- schen Deann und ihrem Vater wird als intime, nicht spannungsfreie, über das Me- dium Video vermittelte Konversation dargestellt. Vater und Tochter kommunizie- ren über die Kamera, sich wechselseitig zum Objekt des Blicks machend. In der Konsequenz sind Vater und Adoptivtochter kaum gemeinsam im Bild zu sehen. Die Frage der sichtbaren, körperlichen Differenz wird entsprechend eher in Bildern virulent, in denen Deann und ihre Adoptivmutter durch die Augen des Vaters zu sehen sind. Dies ist symptomatisch für die Wahrnehmung von (transna- tionaler) Adoption, die von Bildern von Mütterlichkeit und Weiblichkeit bestimmt wird. Vaterfiguren tendieren auch auf der Seite der Adoptiveltern zur Unsichtbar- keit.284 Der Kontakt zwischen Mutter und Tochter wird dagegen direkter, körper- licher dargestellt. In einer Intimität und Vertrautheit vermittelnden Situation la- ckiert Deann ihrer Adoptivmutter im elterlichen Esszimmer die Fingernägel [Abb. 77].

[Abb. 77] Mutter und Tochter

283 In ihrem jüngsten Film, IN THE MATTER OF CHA JUNG-HEE (USA 2010), in dem Deann nach dem Mädchen sucht, an deren Stelle sie von den Borshays adoptiert wurde, spricht sie von ihrer „Obsession“ mit den väterlichen Home Movies. 284 S. zur Unsichtbarkeit der Väter, Kapitel 3, S. 119ff.

4 Ambivalente Rassifizierungen 166

Die Szenen des wechselseitigen Filmens zwischen Vater und Tochter und des Fingernägellackierens gehen ineinander über, sie vermitteln den Eindruck, dass sich Eltern und Tochter, mittels verschiedener Medien kommunizierend, nahe ste- hen. Die drei scherzen miteinander, die Mutter mokiert sich über die bestimmende und kontrollierende Art des Vaters und Deann antwortet, sie teile diese Eigen- schaft mit ihm. Während dieses kurzen Wortwechsels sind Mutter und Tochter nebeneinander beim besagten Lackieren der Fingernägel zu sehen. Aus dem Off ist Arnold zu hören.

ALVEEN: He’s very bossy.

DEANN: I’m that way.

ARNOLD: It runs in the family … It‘s part of the gene pool [alle la- chen].

Der geteilte familiäre „Genpool“, auf den hier referiert wird und der als Grund für die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter angeführt wird, ist jedoch ein ‚Fami- lienwitz‘, der auf das implizite Wissen anspielt, dass es diesen gemeinsamen „Genpool“ nicht gibt. Intimität und gegenseitige Sympathie der Szene rühren aus diesem Witz, der damit spielt, dass familiäre Beziehungen, Vertrautheit und Ähn- lichkeit in Adoptivbeziehungen keine biologische Grundlage haben. FIRST PER-

SON PLURAL beginnt also mit einer Szene, in der gerade der ironische Umgang mit dem Fehlen geteilter biologischer, ‚rassischer‘ Voraussetzungen intime familiäre Nähe demonstriert und zugleich herstellt. Auf der Bildebene wird der Scherz wie- derholt [Abb. 78].

[Abb. 78] Familienwitz

4 Ambivalente Rassifizierungen 167

Durch die identische Pose, die Mutter und Tochter einnehmen, visualisiert das Bild Nähe und Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter. Gleichzeitig durch- kreuzt die physische, rassifizierte Differenz diese Behauptung der Familienähn- lichkeit. Dass Alveens Fingernägel in Rot leuchten, Deanns jedoch nicht lackiert sind, ist eine ironische Verdoppelung dieses Spiels mit Ähnlichkeit und Differenz. Es gibt keinen sichtbaren ‚Grund‘ für Ähnlichkeit, Nähe und Vertrautheit zwi- schen Mutter und Tochter, im geteilten Wissen dieser Grundlosigkeit wird jedoch genau dieses intime Verhältnis hergestellt.

5 „We‘re going home.“ Der ‚Heimatfilm‘ transna- tionaler Adoption

Zu Beginn ihrer Reise nach Danang sehen wir Heidi im Flugzeug, begleitet von der amerikanisch-vietnamesischen Journalistin Tran Tuong Nhu. Diese hatte den Kontakt zwischen Heidi und ihrer vietnamesischen Familie mit hergestellt, in dem sie den Brief von Heidis Mutter an Holt weitergeleitet hatte. Nhu begleitet Heidi als Übersetzerin bei ihrer Reise der „Wiedervereinigung“ mit ihrer vietnamesi- schen Familie. Die Kamera zeigt Heidi voller Vorfreude [Abb. 79].

[Abb. 79] „Going home“

HEIDI: We‘re going home!

Das Bild steht für das Versprechen dieser Art von Geschichten transnationaler Adoption, nicht einfach nach Hause zu gehen, sondern ein Zuhause, Heimat aller- erst herzustellen. Wie zu Beginn des zweiten Teils dieser Arbeit ausgeführt, ge- winnen die Geschichten transnationaler Adoption ihre emotionale Aufladung aus der Gegenüberstellung eines ‚entwurzelten‘ Zustandes im Adoptivland und dem Versprechen einer Heilung durch die Rückkehr ins Geburtsland. Das Geburtsland wird zur Projektsfläche dessen, was an Heimat- und Zugehörigkeitsgefühl im Adoptivland vermisst wird. Die Geschichten transnationaler Adoption sind auf- grund der Inszenierung dieses Versprechens, ein Gefühl wahrer Zugehörigkeit zu 5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 169

erfahren, so emotional aufgeladen. Daher ist das Motiv der Reise und Rückkehr für die Geschichten transnationaler Adoption von so großer Bedeutung. Die Darstellung folgt drei Momenten sentimentalen Genießens: die zunächst aufgerufene Fantasie einer konfliktfreien Wiedervereinigung mit der Familie am Geburtsort, der Moment des ‚Erkennens‘ des eigenen Verkennens von Heimat und Familie und der Vergewisserung ‚wahrer‘ Heimat und Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie. Das sentimentale Genießen der hier betrachteten Darstellungen rührt zunächst aus der Inszenierung dieser Heimaterwartung, die sich auf das Her- kunftsland richtet. Auf exemplarische Weise ist jedoch in DAUGHTER FROM DAN-

ANG und FIRST PERSON PLURAL nicht nur das Versprechen von Heimaterfahrung Gegenstand sentimentaler Unterhaltung, sondern auch die Inszenierung des Nichterfüllens dieses Versprechens. In beiden Filmen wechselt der Fluchtpunkt des Sentimentalen vom Heimatversprechen hin zur Enttäuschung und zur Insze- nierung der Erkenntnis, das Heimat unter ‚falschen‘ Voraussetzungen im Geburts- land vermutet wurde. Nach Ankunft der Protagonistinnen im Geburtsland deutet sich in den Filmen an, was ein Festhalten an der Heimatfantasie erschwert. Die Konfrontationen mit den Herkunftsfamilien zeichnen sich durch Bilder aus, in denen sich die Beteilig- ten sprachlos gegenüber stehen. In dem, was in den Begegnungen nicht artikuliert werden kann, deuten sich die Machtverhältnisse – die nicht vollständig erzählba- ren Entstehungs- und Vorgeschichten, die vergeschlechtlichten und rassifizierten Bedingungen transnationaler Adoption – an, die in den vorangehenden Kapiteln beschrieben wurden. Die Szenen scheiternder Kommunikation stellen die zu Be- ginn der Filme aufgerufenen sentimentalen Fantasien der Rückkehr und Heimater- fahrung in Frage. Ich argumentiere, dass in den Filmen, in Folge dieser Verunsi- cherung der Heimatfantasie, ein Moment des Erkennens der Heimatfantasie als Fantasie inszeniert wird. Aufgrund dieser Erkenntnis, so wird suggeriert, wenden sich die Protagonistinnen von der Herkunftsnation und -familie ab und der Adop- tivnation und -familie als Ort ‚wahrer‘ Zugehörigkeit zu. Ausgeblendet bleiben die nicht artikulierten Machtverhältnisse zwischen beiden Ländern und Familien, die zur Verunsicherung der Heimatfantasie geführt haben.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 170

Die Inszenierung des Erkennens des Verkennens sentimentaler Heimatfanta- sie selbst ist der sentimentalen Form der Darstellungen geschuldet. Die Inszenie- rung von Enttäuschung und Erkenntnis unterstützt sentimentales Genießen. Sie stellt die Fantasie einer unschuldigen eindeutigen Zugehörigkeit nicht in Frage, sondern hält daran fest, dass eine solche Heimat möglich und erreichbar ist. Die- ser sentimentalen Logik folgend wird die zuvor als problematisch dargestellte Adoptivheimat zur ‚wahren‘ Heimat. Die Geschichten, die als Heimkehr in das Herkunftsland angelegt sind, werden zu Geschichten der Heimkehr ins Adoptiv- land. Die sentimentalen Darstellungen der Heimkehr tragen so zur Normalisierung der Adoptivbeziehungen bei und beruhigen, was an Uneindeutigkeit und Unbe- stimmbarkeit auf der Reise sichtbar wird. Ich verstehe diese Normalisierung der Adoptivfamilie als Effekt des Sentimentalen. Die darin nicht artikulierten Macht- verhältnisse schlagen sich jedoch in der „negativen Aufladung“ der normalisierten Adoptivfamilie nieder.

5.1 Die Adoptionserzählung als Reise- und „Heimatfilm“

Die hier diskutierten Darstellungen transnationaler Adoption folgen einem Reise- narrativ. Die Zuschauer/innen begleiten die Protagonistinnen Heidi und Deann bei ihrem Aufbruch aus ihrer Adoptivheimat, den USA, in ihr jeweiliges Geburtsland Vietnam bzw. Korea, während ihres dortigen Aufenthalts und bei ihrer Rückkehr zum Ausgangspunkt der Reise und des Films. Parallel zu den Stationen der Reise beschreiben die Filme eine Auseinandersetzung der Protagonistinnen mit der Fra- ge, was Heimat für sie bedeutet.285 Wenn Heidi zu Beginn ihrer Reise sagt „We‘re going home“, dann ist mit „home“ hier Vietnam gemeint, der Ort, an dem Heidi die ersten Jahre ihrer Kindheit verbracht hat.286 Das Ziel von Deanns Reise ist da- gegen ein Ort, an dem sich beide Familien gleichermaßen als Familie denken las- sen, der im Film zuerst in Korea verortet wird.

285 Vgl. zur zentralen Frage von Heimat und Zugehörigkeit in den Geschichten transnationaler Adoption: Kim, Korean Adoptee Auto; Kim, Adopted Territory. 286 Auf die semantische Differenz zwischen der deutschen „Heimat“ und dem englischen „home“ gehe ich im Folgenden genauer ein.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 171

Die Reisen an den Heimatort sind in den Geschichten transnationaler Adopti- on zugleich Projekte unterschiedlicher Formen der Familienzusammenführung. In

DAUGHTER FROM DANANG will die ‚verlorene‘ Tochter mit ihrer vietnamesischen

Mutter und Familie „wiedervereinigt“ werden, in FIRST PERSON PLURAL versucht Deann ihre beiden Familien im selben physischen und emotionalen Raum zu- sammenzubringen. Heimat wird, wie für sentimentale Unterhaltung typisch, als „Ort der Unschuld“287 imaginiert, als konfliktfreier Raum, insbesondere familiä- ren Einheit, Liebe und Fürsorge. Als solcher steht Heimat für einen Ort, an dem die Spuren sozialer, politischer, ökonomischer Machtverhältnisse ausgelöscht sind und das Gefühl uneingeschränkter Zugehörigkeit zu einer Familie nicht in Frage gestellt ist. Ein solcher Topos von Heimat ist zentraler Ausgangs- und Flucht- punkt sentimentaler Unterhaltung.288 Sentimentale Unterhaltung erzeugt und ant- wortet auf ein Begehren, den Verlust dieses als unschuldig gedachten Kindheit- sortes zu beklagen und eine Wiederherstellung einzufordern.289 Die Geschichten transnationaler Adoption versprechen das sentimentale Vergnügen an der Fantasie der Wiederherstellung unschuldiger Heimat im Motiv der Rückkehr, da sie die buchstäbliche „Wiedervereinigung“ mit der Mutter und dem Geburtsland imagi- nieren lassen. Im Gegensatz zu dieser zunächst eingeführten Heimatfantasie bestimmt Heidi am Ende des Films im Wohnzimmer ihrer amerikanischen Großmutter Heimat neu, wenn sie sagt: „You are who I know.“

Auch Deann bekennt sich am Ende von FIRST PERSON PLURAL zu ihrer Adop- tivfamilie. Heidi und Deann kehren zunächst in der Hoffnung an den Ort ihrer Kindheit zurück, dort unschuldige Verwandtschaftsbeziehungen wieder aufzu- nehmen, bzw. herzustellen. Dort angekommen werden die Protagonistinnen damit konfrontiert, dass ihre Beziehungen zur Herkunftsfamilie keine unschuldigen sind. Auf solche Weise ‚desillusioniert‘ enden die Geschichten mit der Einsicht, dass sich die ‚wahre‘ Heimat und Familie im Adoptivland, den USA befinden.

287 Williams, Race Card, S. 28. 288 Ebd.; s. auch Neale, Melodram und Tränen, S. 159. 289 Vgl. ebd.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 172

Zwischen „We‘re going home“ und „You are who I know“, entfalten sich in den Geschichten transnationaler Adoption der Raum und die Grenzen, Heimat und Familie zu denken. Auf den ersten Blick scheinen die zirkulären Reiseerzählun- gen einen Erkenntnisprozess von einer nostalgischen und essentialisierenden Kindheitsfantasie, die Heimat und Familie an biologische Beziehungen bindet, zu einem ‚aufgeklärten‘ Erkennen ‚wahrer‘ Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie nach- zuvollziehen. Die Filme suggerieren einen Lernprozess, aus dem die Protagonis- tinnen mit einem aufgeklärten Verständnis vorausgehenden Verkennens der Be- ziehungen zur Herkunftsfamilie hervorgehen. Die Darstellung eines solchen Er- kenntnisprozesses trägt selbst jedoch zur Sentimentalisierung und Reinstallation der Heimatfantasie bei, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

5.1.1 „Home“: Zwischen „Zuhause“ und „Heimat“

Die Bedeutung des angloamerikanischen „home“ und des deutschen Begriffs der Heimat sind nicht identisch. Während „home“ eher ein Zuhause benennt, das temporär sein kann und sich durch geteilte Zeit auszeichnet,290 bezieht sich „Hei- mat“ auf eine nostalgische Fantasie, die insbesondere in Zusammenhang mit dem deutschen Heimatfilm der 1960er Jahre diskutiert wird und die einen Ort der Kindheit als Ort authentischer Zugehörigkeit essentialisiert.291 Nun imaginiert Heidi zu Beginn der Reise und des Films ein „home“, der ihr, nach Jahren der Abwesenheit nicht mehr vertraut ist, wie ein Zuhause. „Home“ entspricht hier e- her der Bedeutung von Heimat, einem nostalgischen Kindheitsort. In den hier diskutierten Geschichten transnationaler Adoption schwankt die Bedeutung von „home“ zwischen einem vertrauten Adoptiv-Zuhause und einer fremd gewordenen Geburts-Heimat. Im Adoptionsdiskurs ist im Allgemeinen eine

290 Vgl. David Morley, Kevin Robins: „No Place Like Heimat: Images of Home(land) in European Culture“, in: Erica Carter, James Donald, Judith Squires (Hg.): space&place. theories of identities and location. London 1993, S. 3-32. 291 Johannes von Moltke: No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema. Berkeley, Los Angeles 2005. Die Bedeutung des Heimatbegriffs ist sehr viel komplexer als sie hier darge- stellt werden kann, so weist etwa von Moltke auf das spezifische Verhältnis von Heimat und Deutschsein hin. Ich beziehe mich hier auf eine nostalgische Heimatfantasie, die auf einen Ort der Kindheit ausgerichtet ist und grenze diese von der ‚zweiten Heimat‘, dem Adoptiv-Zuhause ab.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 173

Tendenz zu beobachten, diese Ambivalenz aufheben zu wollen, indem die Not- wendigkeit inszeniert wird, sich zwischen „home“/Zuhause und „home“/Heimat als Ort eindeutiger Zugehörigkeit entscheiden zu müssen.292 Sowohl Heidi als auch Deann verabschieden sich zum Schluss von ihrer „Heimat“, Vietnam bzw. Korea, und der Geburtsfamilie und bekennen sich zum „Zuhause“ in den USA und ihrer Adoptivfamilie. In einem komplexen Zusammenwirken aus diskursiven und medialen Konventionen werden die USA, vermeintlich von Ambivalenz be- reinigt, zum ‚eigentlichen‘, eindeutigen „home“.

In einer zirkulären Bewegung erzählen DAUGHTER FROM DANANG und FIRST

PERSON PLURAL von einer Rückkehr, die nicht an den Ort der Kindheit führt, son- dern an den Ort, der den Ausgangspunkt der Filme darstellt. Die Filme folgen, so ließe sich schließen, einem klassischen Reise- und Entwicklungsnarrativ von Aufbruch, Erkundung und Rückkehr des/der Protagonisten/in. Die Rückkehr in die USA folgt so verstanden aus der konventionellen Erzählform. In der klassi- schen Erzählung, wie sie Johannes von Moltke in seiner Studie zum Heimatfilm einführend anhand von THE WIZARD OF OZ (USA 1939, R: Victor Fleming) be- schreibt, ergibt sich die narrative Notwendigkeit der Rückkehr zum Ausgangs- punkt aus der Erkenntnis, dass Heimat einen unersätzlichen Wert darstellt, der nur durch die Kontrastierung mit der Fremde erkannt werden kann.293 Die Konventio- nalität der Erzählform überlagert sich mit der Konventionalität der ‚Botschaft‘ von Regionalismus und Nationalismus. In den Geschichten transnationaler Adop- tion lässt sich dieses konventionelle Narrativ wiederfinden, der Aufbruch in die Ferne (Vietnam bzw. Südkorea) führt die Protagonistin zum Ausgangspunkt (USA) zurück und lässt sie diesen als ‚wahren‘ Ort der Zugehörigkeit erkennen. Dieses Narrativ von Aufbruch, Erkundung und Rückkehr in die Heimat USA steht jedoch in den Erzählungen der transnationalen Adoption in Konkurrenz zu einem ähnlichen aber nicht identischen Rückkehrnarrativ, das aus Darstellungen

292 Drucilla Cornell beobachtet eine ähnliche Notwendigkeit im Adoptionsdiskurs, sich zwischen den beiden Müttern entscheiden zu müssen (Drucilla Cornell: „Adoption and Its Progeny: Rethin- king Family Law, Gender, and Sexual Difference“, in: Sally Haslanger, Charlotte Witt (Hg.): Adoption Matters. Philosophical and Feminist Essays. Ithaca, London 2005, S. 19-46). 293 Ebd., S. 2f. Von Moltke weist jedoch mit Bezug auf Freud auf die instabile Unterscheidung von heimlich, heimatlich und unheimlich, fremd auch in THE WIZARD OF OZ selbst hin.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 174

von Migration und Diaspora vertraut ist.294 Diese erzählen von einer Reise in die Heimat der Vorfahren. Ort des Aufbruchs und Heimat werden in diesen Geschich- ten nicht als identisch vorausgesetzt, der Ausgangspunkt der Narration hat dem- entsprechend nicht dieselbe eindeutige Bedeutung. Diese Geschichten sind offe- ner für die Ambivalenz von Heimat und Herkunft.295 Auch sie folgen in der Regel einer zirkulären Struktur, die eine Rückkehr in das diasporische Zuhause beinhal- tet, dieses erscheint jedoch als transformiert, hybride.296 Durch die Rückkehr in die Heimat der Vorfahren ist das diasporische Zuhause gleichermaßen als Zuhau- se und als hybrid wahrnehmbar. Die Geschichten transnationaler Adoption deuten eine ähnliche Ambivalenz der Reise- und Heimatnarration an, aufgrund hier ge- nauer zu betrachtender Umstände wird diese jedoch mit der Hinwendung zur Adoptivfamilie wieder vereindeutigt. Während das diasporische Reisenarrativ die Vermischung von Heimat und Zuhause betont, tendieren die Geschichten transna- tionaler Adoption zur Darstellung wiederum eindeutig erscheinender Beziehun- gen. In den Geschichten transnationaler Adoption konkurrieren klassische und diasporische Reisenarrative miteinander, wobei eine Vereindeutigung von Hei- mat, wie aus dem klassischen Reisenarrativ bekannt, dominiert.

FIRST PERSON PLURAL ist zunächst auf eine Zusammenführung von Adoptiv- und Geburtseltern ausgerichtet. Deann sucht nach einer Möglichkeit, eine Gleich- zeitigkeit beider Familien zu denken und zu leben. In FIRST PERSON PLURAL er- scheint die Frage nach Heimat als Frage nach dem Verhältnis zwischen Her- kunfts- und Adoptivfamilie. Obwohl von unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehend, nehmen beide Narrationen dieselbe Wendung. Auch FIRST PERSON

PLURAL endet mit einem Bekenntnis zur Adoptivfamilie, bzw. zur Adoptivmutter als ‚wahrer‘ Mutter, obwohl der Film zunächst den Versuch darstellt, Zugehörig- keit und Heimat mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Erzählungen, Identitäten

294 Vgl. Linda Williams: „Home Sweet Africa: Alex Haley‘s and TV‘s Roots“, in: dies.: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O.J. Simpson. Princeton 2002, S. 220-251; Stuart Hall: „Cultural Identity and Cinematic Representation“, Framework, Nr. 36 (1989), S. 68-82. 295 Vgl. Hall, Cultural Identity. 296 Ebd. S. 80. Vgl. auch Roger Bromley: Narratives for a New Belonging. Diasporic Cultural Fiction. Edinburgh 2000.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 175

und Herkunftsorte zu versöhnen. Die Darstellung wechselt von einer Perspektive, die nach der Denkbarkeit heterogener Zugehörigkeit und Heimat fragt, zu einer Perspektive, die das Thema der Heimat wieder als Frage eindeutiger Beziehungen bestimmt. Der emotionale Konflikt, der sich aus der gleichzeitigen Existenz von „home“ als Zuhause und Heimat ergibt, ist zugleich konflikthaft für die konventi- onelle Narration. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Adoptiv- und Geburts- familie wird als Frage ‚wahrer‘ Zugehörigkeit reformuliert. So werden in der ver- wirrenden Gleichzeitigkeit zweier gleichermaßen imaginärer Heimatfantasien ‚klare Verhältnisse‘ geschaffen. Nachträglich werden Ausgangs- und Zielpunkt der Reise modifiziert und die komplexe Situation mehrerer Herkunftsorte erneut in eine konventionelle, zirkuläre Erzählform eingepasst.

5.2 Erkenntnis der Heimatfantasie in Daughter from Dan- ang

DAUGHTER FROM DANANG beginnt mit dem aus sentimentaler Unterhaltung ver- trauten Topos von Heimat als Kindheitsort und Ort einer imaginären konflikt- freien Einheit mit der Mutter. Die Geschichten transnationaler Adoption bieten sich aufgrund der Ambivalenz von Heimat/Home für die buchstäbliche Themati- sierung dieser sentimentalen Fantasie an. Im Modus des Sentimentalen antizipiert Heidi den glücklichen Ausgang der Erzählung:

HEIDI: It‘s going to be so healing for both of us, you know, to see each other … it‘s gonna make all those bad memories go away and all those lost years, you know, just not mat- ter anymore.

Der/die empathische Zuschauer/in kann zunächst gemeinsam mit Heidi die Ima- gination dieser Heimatfantasie genießen. Wie bereits im vorangehenden Kapitel erwähnt, wird Heidis Zusammentreffen mit ihrer vietnamesischen Familie als Ent- täuschung, misslingende Kommunikation und Kulturkonflikt dargestellt. Die Fan- tasie einer unschuldigen Kindheit wird sowohl für Protagonistin als auch für den/die Zuschauer/in problematisch. Während die Erwartung der Erfüllung der sentimentalen Heimatfantasie zu- nächst enttäuscht wird, bietet sich den Zuschauer/innen das sentimentale Genie-

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 176

ßen der ‚Erkenntnis‘ der Heimatfantasie selbst als uneinholbare Fantasie an. Dies geschieht, vom Moment der Enttäuschung aus, im Rückblick auf die Inszenierung der Heimatfantasie. Rückblickend legt der Film nahe, die erlebte Enttäuschung der Heimatfantasie auf ihren imaginären Status zurückzuführen. Dieses rückbli- ckende Erkennen von Heidis Vorhaben der Wiedervereinigung als auf ‚bloßer‘ Fantasie beruhend wird durch die Art der Inszenierung dieser Fantasie als mediale begünstigt. Im Rückblick ist die Fantasie als Fantasie erkennbar, da der Film die Mittel ausstellt, die zuvor die sentimentale Erwartung der Erfüllung der Heimat- fantasie vorangetrieben haben. Das von Kappelhoff beschriebene sentimentale „Erkennen“ bezieht sich hier auf die Vergegenwärtigung von inszenierter Senti- mentalität selbst.297 Diese Inszenierung sentimentaler Fantasie als solche lässt sich etwa an der Geschichte der Suche nachvollziehen, die der physischen Wiederbegegnung von Mutter und Tochter vorausgeht. Die Herkunftsmutter Kim habe, so heißt es, seit der Trennung im Rahmen der „Operation Babylift“ nach ihrer Tochter gesucht. Sie sei dabei in Vietnam auf das „Orderly Departure Program“ gestoßen, einem Programm, das die Emigration in die USA regelt. Dort sei Kim auf einen Freund von Nhu, der Journalistin, die Heidi im Film nach Vietnam begleiten wird, getrof- fen, der seiner Freundin von der Mutter erzählt, die ihre Tochter in den USA sucht. Nhu kontaktiert in den USA die Holt Adoption Agency und hinterlegt dort einen Brief von Kim an Heidi. Heidi stößt ihrerseits einige Zeit später im Internet auf Holt. Sie erfährt, dass es bei Holt eine Akte über sie gibt und dass darin ein Brief ihrer Mutter enthalten ist. Heidi kann, so sagt sie, zunächst nicht glauben, dass es sich bei der Verfasserin des Briefes tatsächlich um ihre Mutter handelt. Erst als sie eine Fotografie von ihr erhält und sich vergleichend im Spiegel be- trachtet, ‚weiß‘ sie, dass es sich um ihre Mutter handelt. Die Filmemacher illust-

297 Vgl. zum melodramatischen „Erkennen“ Kapitel 2, S. 77.

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rieren dieses ‚Wiedererkennen‘, in dem sie die Fotografie Kims mit dem der Auf- nahme Heidis überblenden [Abb. 80-82].298

[Abb. 80] Wiedererkennen 1

[Abb. 81] Wiedererkennen 2

298 Die ästhetisch etwas verunglückte Überblendung kann als ungewollte Darstellung der ‚geister- haften‘ Präsenz der Geburtsfamilie im Leben der Adoptierten betrachtet werden, die in FIRST PER- SON PLURAL explizit thematisiert wird, wie ich im Folgenden ausführe.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 178

[Abb. 82] Wiedererkennen 3

Durch die Überblendung wird fotografische ‚Beweiskraft‘ physischer Ähnlichkeit suggeriert. Wieder wird ein Kippbild von Ähnlichkeit und Differenz erzeugt, nicht wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben zwischen Adoptivfamilie und -tochter, sondern zwischen der Protagonistin und ihrer Geburtsmutter. Dem physi- schen Wiedersehen geht ein mediales ‚Erkennen‘ voraus, das nach der Enttäu- schung der Heimatfantasie im Rückblick als Verkennen identifiziert werden kann. Das Ziel der Rückkehr, die „Wiedervereinigung“ mit der Mutter deutet sich hier als medial bedingte Fantasie an. Im Rückblick erscheint die antizipierte heilende Nähe als von ‚bloßer’ fotografischer Suggestion physischer Ähnlichkeit abgelei- tet. Dieses medial bedingte Wiedererkennen wird erneut betont, nachdem Heidi bereits in Vietnam angekommen ist. Dort ‚erkennt‘ sie den Bruder, nachdem sie sich gemeinsam mit ihm auf einer Fotografie sieht [Abb. 83-85].

[Abb. 83] „Instant connection“ 1

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 179

[Abb. 84] „Instant connection“ 2

HEIDI: And I saw a picture of my brother, that‘s when I really connected with him, it was just like instant connection there and I just stared and stared at his picture, you know, and remembering how he used to hold me and play with me all the time …

Erst die Fotografie ermöglicht es Heidi, sich in einer Beziehung mit ihrem viet- namesischen Bruder zu imaginieren. Die Filmemacher verstärken diesen Moment des medialen ‚Wiedererkennens‘ durch Aufnahmen singender und spielender Kinder [Abb. 85]. Weichzeichner und Farbgebung suggerieren einen Rückblick, als handele es sich um Erinnerungen Heidis an eine unbeschwerte Kindheit, also jenen Ort der Unschuld – Heimat – den Heidi wiederzufinden hofft.

[Abb. 85] Heimatfantasie

In diesen Momenten des medialen Wiedererkennens und der Imagination von Nä- he und Beziehung scheint Heidis Vorhaben der Rückkehr gelungen zu sein. Die

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Aufnahmen haben keine narrative Funktion, es sind reine Stimmungsbilder. Sie halten die Erzählung für einen Moment des Verweilens in der nostalgischen Kindheitsfantasie an. Sie ermöglichen das sentimentale Genießen von Heidis in diesen Bildern anscheinend gelungener Rückkehr an den Ort ihrer Erinnerungen. Die Fotografien stehen für die vergangenen real gelebten Beziehungen, die Heidi bei ihrer Rückkehr nach Vietnam wieder aufnehmen will und für den imaginären Status von Heimat in der Gegenwart. Sie konstituieren eine Fantasie von Heimat, auf die sich der Wunsch der Rückkehr und Wiedervereinigung richtet und die im Nachhinein anhand der Fotografien als illusionäre Fantasie identifizierbar ist, ein wiederum sentimentales Genießen des ‚Erkennens‘ gewährleistend.

5.2.1 „Here is the moment“. Flüchtige Verwirklichung der Heimatfantasie

Weichzeichner und Zeitlupe sind die ästhetischen Techniken der Heimatfantasie. Die Betonung der Fantasie als Fantasie wird in der Szene des tatsächlichen Wie- dersehens von Mutter und Tochter noch deutlicher. Der Film erzählt zunächst sehr schnell, in kürzester Zeit werden zahlreiche narrative Elemente zusammengefügt. In den ersten drei Minuten werden der Vietnamkrieg, die „Operation Babylift“, Heidis Erinnerungen an die Trennung von der Mutter, Kims verzweifelte Suche nach der Tochter und der Flug „home“ zusammengefasst. Die narrative Fluchtli- nie wird in diesen ersten Minuten auf das Zusammentreffen von Mutter und Toch- ter, dem mit diesem Beginn angekündigten emotionalen Höhepunkt, ausgerichtet. Bis zur Darstellung des Wiedersehens wird dann genauer von der „Operation Ba- bylift“ und Kindheit und Jugend Heidis in ihrer amerikanischen Familie berichtet. Dieser ‚Mittelteil‘ erfüllt zwei verschiedene Funktionen. Zum einen informiert er zu unterschiedlichen Themen und erweitert das potentielle Publikum, über ein vorrangig an affektiver Bewegung interessiertes hinaus, in dem historische und politische Aspekte angesprochen werden. Zum anderen wird dabei der Moment von Pathos hinausgezögert.299

299 Vgl. zu diesem „melodramatischen Masochismus“: Elsaesser, Tales of Sound and Fury, S. 123.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 181

Um den Moment sentimentalen Suspense‘ noch zu stärken, wird vor allem die Zeit unmittelbar vor dem Wiedersehen in mehrere Segmente unterteilt und dadurch verlängert. Während an anderer Stelle das Geschehen von Jahrzehnten in wenigen Bildern zusammengefasst wird, wird hier Heidis Reise nach Vietnam in quälend vielen Einzelschritten dargestellt. Nachdem Heidi im Flugzeug von Nhu lernt, „I love you mother“ auf Vietnamesisch zu sagen, sehen wir sie während ei- ner Zwischenstation durch die Straßen Hanois laufen, sich im Hotelzimmer die Haare bürsten, die Hände wringen, wir sehen, wie sie ein kleines Inlandsflugzeug nach Danang besteigt und im Flughafenbus zur Wartehalle transportiert wird. Wir sehen die vietnamesische Familie hinter der Glasscheibe nach ihr Ausschau halten und schließlich sehen wir, wie Heidi die Wartehalle betritt. Nach diesem zeitlich gedehnten Vorlauf erst fallen sich Mutter und Tochter in die Arme. Es ist jedoch der Moment vor dem eigentlichen Zusammentreffen, der als Moment der Ver- wirklichung des sentimentalen Begehrens nach „Wiedervereinigung“ und „Hei- mat“ präsentiert wird, in dem die letzten Schritte vor dem Wiedersehen von Mut- ter und Tochter werden durch Zeitlupe sentimentalisierend verlangsamt werden. Als Heidi den Flughafenbus in Danang verlässt, um die letzten Schritte zur War- tehalle zu gehen, dreht sie sich zur Kamera zurück und ruft: „Here is the moment“ [Abb. 86].

[Abb. 86] „Here is the moment“

Anschließend betritt sie das Gebäude. Diese letzten Schritte im Flughafengebäude sind durch Zeitlupe sentimentalisiert, nicht jedoch, wie zu erwarten wäre, der Moment des tatsächlichen Zusammentreffens von Mutter und Tochter, der auf

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einen harten Schnitt folgt. Der Moment des sentimentale Genießens wird hier nicht auf das tatsächliche Zusammentreffen von Mutter und Tochter, sondern auf diesen Moment vor dem Zusammentreffen verlegt. Wenn Heidi „diesen“ Moment benennt, steckt darin die Ambivalenz zwischen genau diesem, vorgelagerten Mo- ment und dem Moment des Wiedersehens. „Here“ ist der Moment des eigentli- chen sentimentalen Genusses, weil er der Verwirklichung der Fantasie der „Wie- dervereinigung“ – wie im Rückblick erkennbar – am nächsten kommt. Die Ge- wissheit, dass der Wunsch erfüllt wird, ist hier am stärksten, bevor er mit dem tat- sächlichen physischen Wiedersehen der Gefahr ausgesetzt ist, enttäuscht zu wer- den – und enttäuscht wird. Die Zeitlupe markiert den Moment vor dem Moment des eigentlichen Wiedersehens als Moment des sentimentalen Genießens. Die Heimatfantasie, die Fantasie der „Wiedervereinigung“ wird als Fantasie markiert. Sie wird durch die filmischen Mittel der Zeitlupe und des Weichzeichners als Imagination einer konfliktfreien Zusammenkunft von der konflikthaften ‚Realität‘ der darauf folgenden physischen Begegnung zwischen Mutter und Tochter abge- grenzt. Anschließend wird das Auseinanderfallen von Heimatfantasie, wie sie die Fo- tografien und die Bilder in Zeitlupe repräsentieren und Vietnam, wie es in der Dokumentation von Heidis Wahrnehmung in der Gegenwart erscheint, dargestellt. Heidis Hoffnung, in Vietnam eine Mutter und Familie zu finden, die sie bedin- gungslos lieben „no matter what“, wird mit einer anderen, ökonomischen Form von Bedürftigkeit von Seiten ihrer vietnamesischen Familie konfrontiert. Beide Seiten werden enttäuscht. Heidi findet nicht die emotionale Bindung, die das Trauma der Trennung von ihrer Familie aufheben könnte, ihre vietnamesische Familie findet nicht die ökonomische Unterstützung durch die Verwandte aus Amerika. Auch auf Seiten der vietnamesischen Familie wird mediales Verkennen angedeutet. So wie Heidi Mutter und Geschwister durch Fotografien ihrer Kind- heit ‚erkennt‘ und emotionale Nähe von einem vergangenen, durch die Abbildun- gen vergegenwärtigten Moment ableitet, so sieht sich Kim in einer imaginären Beziehung zu Heidis Töchtern, die durch Fotografie vergegenwärtigt werden [Abb. 87].

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 183

[Abb. 87] „I’m their grandmother“

Der Film erzeugt einen Kontrast zwischen den mittels Fotografien und filmischen Techniken wie Zeitlupe und Weichzeichner dargestellten Heimatfantasien und einer dokumentarischen ‚Realität‘, die sich nicht vereinbaren lassen. Der Kontrast legt für die Zuschauer/innen das Erkennen von Heidis Fantasien im Rückblick als Fantasien nahe. Das „Erkennen“ des medialen Verkennens wird für die Zuschauer/innen selbst Gegenstand des sentimentalen Genießens. Der affektive Höhepunkt des Films bildet der Moment der Erkennens des medialen Verkennens von Heimat und Familie und nicht, wie zu Beginn des Films zu erwarten, der Moment der „Wiedervereinigung“ von Mutter und Tochter. Der Film inszeniert die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung der Protagonistin und enttäuschender ‚Realität‘ im Rückblick als eigentlichen sentimentalen Konflikt. Heidi artikuliert ihr ‚Erken- nen‘ indirekt, in dem sie sich am Ende ihrer Reise unter Tränen in einen Zustand des Verkennens zurückwünscht [Abb. 88].

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[Abb. 88] Heidis Erkennen

HEIDI: I wish this didn‘t happen … I wish I could have just kept the memories I had, they were so happy … I wish this trip never happended now … because I‘m gonna leave with all those bad memories and all these bad feelings … this is not how I wanted it to be.

Heidi ‚erkennt‘ hier, was den Zuschauer/innen durch den Einsatz verschiedener Medien und ästhetischen Techniken bereits nahe gelegt wurde. Auf melodramati- sche Weise fallen hier die zuvor disparaten Perspektiven von Protagonistin und Zuschauer/in zusammen, Tränenfluss provozierend.300

DAUGHTER FROM DANANG selbst problematisiert mit ästhetischen Mitteln die zu Beginn von der Protagonistin entworfene nostalgische Heimatfantasie vergan- gener Unschuld und familiärer Einheit. Ausgehend von dieser sentimentalen Fan- tasie nutzt der Film das wiederum sentimentale Potential der Erkenntnis, dass der Ort der Fantasie bereits aufgrund seiner Eigenschaft als zeitlich zurückliegend in der Gegenwart immer schon uneinholbar und nicht physisch aufsuchbar ist. Indem die filmische Darstellung den medialen, imaginären Status der Heimatfantasie be- tont, verbirgt sie jedoch zugleich, dass die dokumentierte ‚Realität‘ eine gleicher- maßen mediale ist, worauf ich an späterer Stelle in Bezug auf das Zuschauerge- fühl der „Okayness“ zurückkomme. Zuvor möchte ich zeigen, wie trotz der kom- plexeren Anordnung in FIRST PERSON PLURAL eine ähnliche Gegenüberstellung imaginärer Heimatfantasie und dokumentarischer ‚Realität‘ erzeugt wird. Fantasie

300 Vgl. Neale, Melodram und Tränen.

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und ‚Realität‘ sind, wie in DAUGHTER FROM DANANG, dem Verhältnis der Prota- gonistin zu ihren beiden Familien, Geburts- und Adoptivfamilie zugeordnet.

5.3 Die Heimatfantasie gleichzeitiger Zugehörigkeit in First Person Plural

Während in DAUGHTER FROM DANANG Heimat zu Beginn scheinbar eindeutig in Vietnam und bei Deanns vietnamesischer Familie zu verorten ist, ist die Aus- gangssituation in FIRST PERSON PLURAL ambivalenter. Der Film beginnt damit, dass Deann die verschiedenen Namen und Geburtsdaten aufzählt, die sie als Kind erhalten hat. Mit diesen sind verschiedene „sets of histories“, verschiedene Spra- chen und Familien, wie sie sagt, verbunden. Der Film beginnt mit der Darstellung einer für Deann beunruhigenden Gleichzeitigkeit verschiedener Erzählungen, Fa- milien, Herkünfte, Identitäten. Chronologisch schildert Deann ihre Ankunft als Cha Jung Hee in der Adoptivfamilie und ihre Kindheit und Jugendzeit als Deann Borshay in Kalifornien, während derer sie alle Erinnerungen an Korea und ihre vorangehenden Identitäten vergisst. Als junge Erwachsene, erzählt sie, beginnt ihre koreanische Vergangenheit sie in Form von unverhofft wiederkehrenden Er- innerungen zu ‚verfolgen‘. Sie ‚sieht‘ Bilder, in Träumen und in wachem Zustand, die sie als Erinnerungen versteht:

DEANN: Over the course of a year or so I started realizing that the- se must be … these must be memories coming back from Korea, that they weren‘t just dreams, that there had to be something about them that were [sic] real.

Zur Veranschaulichung dieser ‚echten‘, geisterhaften Erinnerungen zeigt Deann historische Schwarz-Weiß-Fotografien, der Zeit ihrer Kindheit in Korea entspre- chend [Abb. 89-91].

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[Abb. 89] Koreanische Geister 1

[Abb. 90] Koreanische Geister 2

[Abb. 91] Koreanische Geister 3

Deanns koreanische Vergangenheit erscheint zunächst, visualisiert in Schwarz- Weiß-Fotografien, auf immaterielle ‚geisterhafte‘ Weise in ihrem amerikanischen Alltag präsent.

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An die Darstellung dieser Träume/Erinnerungen anschließend erzählt Deann von der Suche nach ihrer koreanischen Familie, die sie wiederfindet, nachdem sie ihr koreanisches Kinderheim kontaktiert hat. Das Wiedersehen in Korea ist nicht Teil der eigentlichen Filmhandlung, es wird in wenigen Bildern zusammengefasst. Das ambivalente Wiedersehen mit ihrer koreanischen Familie, die berührende Er- fahrung physischer Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Distanz durch fehlende Sprach- kenntnisse wird nur kurz angesprochen.301 Zu diesem Zeitpunkt des Films betont Deann die gleichzeitige und gleichwertige Existenz beider Familien in ihrem Le- ben. Das ‚geisterhafte‘ Personal ihrer Träume und Fantasien wird, so scheint es hier, durch ihr Wiedersehen ‚real‘. Die gezeigten Fotografien sind jetzt moderne, ‚lebendige‘ Farbfotografien [Abb. 92 und 93].

[Abb. 92] Koreanische Familie in Farbe 1

301 Hall beschreibt eine ähnliche Erfahrung des „shock of ‚doubleness‘ of similarity and diffe- rence“ in Bezug auf karibische Rückkehrnarrationen (Hall, Cultural Identity, S. 72).

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[Abb. 93] Koreanische Familie in Farbe 2

Die gelungene „Wiedervereinigung“ mit ihrer koreanischen Familie ist in FIRST

PERSON PLURAL Teil der ‚Vorgeschichte‘ zur eigentlichen Filmhandlung, sie ist zu diesem Zeitpunkt Voraussetzung, um die gleichzeitige Präsenz beider Familien in Deanns Leben thematisieren zu können.

5.3.1 Ein Familienalbum für zwei Familien

Die Gleichzeitigkeit beider Familien wird durch das Bild des Familienalbums symbolisiert. An den kurzen Rückblick auf Deanns Wiedersehen mit ihrer korea- nischen Familie schließt eine Szene an, in der Deann Fotografien ihrer koreani- schen Familie in ein Fotoalbum ihrer amerikanischen Familie hinzufügt. Abwech- selnd sind Fotografien der einen und der anderen Familie zu sehen [Abb. 94-97].

[Abb. 94] Familienalbum 1

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[Abb. 95] Familienalbum 2

[Abb. 96] Familienalbum 3

[Abb. 97] Familienalbum 4

Für Marianne Hirsch hat das Familienalbum als konstitutives Medium der Famili- eneinheit beschrieben. Es dient gleichermaßen der Dokumentation vergangenen Familienlebens wie es Medium zur Herstellung von Zugehörigkeit zur Familie ist

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 190

und Familienmythen generiert.302 Bourdieu beschreibt als eine der wichtigsten Funktionen der Fotografie im alltäglichen Gebrauch, die Einheit insbesondere der Familie zu bestätigen. Ihr eigentliches Objekt seien nicht die abgebildeten Indivi- duen, sondern die (familiären) Beziehungen zwischen ihnen. Das Fotoalbum be- wahrt geteilte Erinnerungen und produziert auf dieser Grundlage Zusammengehö- rigkeit.303 In Anschluss an Bourdieu und Hirsch lässt sich das Anlegen des Fami- lienalbums als Symbol verstehen, eine neue Familieneinheit zu imaginieren, die beide Familien zugleich umfasst. Auch in FIRST PERSON PLURAL wird zunächst eine komplexere aber dennoch unschuldig gedachte Heimatfantasie erzeugt, die in der Imagination eines Ortes besteht, an dem sich beide Familien zusammenführen lassen und eine im selben Familienalbum vereinbare Einheit bilden.

Das Bild des Familienalbums in FIRST PERSON PLURAL nimmt die ‚reale‘ Zu- sammenführung beider Familien visuell vorweg. Auch Deann formuliert die Hoffnung auf eine emotional stabilisierende Vereinigung:

DEANN: Over time I realized I needed to see both families toge- ther at the same time in the same room. I thought that if I could actually see them come together in real life that somehow both families could then live within myself. So I asked my parents to go to Korea with me.

Zu einem früheren Zeitpunkt beschreibt Deann, dass insbesondere das Verhältnis zwischen ihr und ihren beiden Müttern der Klärung bedarf:

DEANN: I had a particular difficulty talking to my American mother about my Korean mother. […] Emotionally there wasn‘t room in my mind for two mothers. […] I didn‘t know how to talk to my mother about my mother … because she was my mother.

Deanns Heimatfantasie bezieht sich nicht auf einen fernen Ort der Kindheit und biologischer Verwandtschaft, sondern auf einen Raum, der von beiden Müttern

302 Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory. Harvard 1997, S. 13. 303 Pierre Bourdieu: „Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede“, in: ders. u.a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie. Hamburg 2006 (i.O. 1965), S. 25-84, hier S. 43.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 191

und Familien zugleich widerspruchsfrei bewohnbar ist. Bereits das Bild des Fami- lienalbums deutet jedoch darauf hin, dass dieser Raum überschattet (haunted) ist, denn die Fotografien der koreanischen Familie entsprechen nicht den ‚lebendigen‘ Farbfotografien gleichzeitiger Präsenz, sondern den Bildern, mit denen Deann zu- vor die ‚geisterhafte‘ Erscheinung ihrer koreanischen Vergangenheit veranschau- licht hat [Abb. 91 und 97].

[Abb. 91] Koreanische Geister 3

[Abb. 97] Familienalbum 4

Die Bilder des Familienalbums lassen bereits erahnen, dass auch die Zusammen- führung in FIRST PERSON PLURAL durch einen Kontrast zwischen der Imagination eines Raumes konfliktfreier Kommunikation und einer ‚überschatteten’ Realität bestimmt dargestellt wird. An dieser Stelle deutet sich in FIRST PERSON PLURAL an, dass Deanns Projekt der Familienzusammenführung unausgesprochen eine Versöhnung mit den ‚Geistern‘ ihrer koreanischen Vergangenheit erfordert. Geis- terfiguren werden häufig als Repräsentationen subalterner Geschichten betrachtet,

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 192

als Metapher für nicht artikulierte Trauer.304 Die Art und Weise, wie Deann sie zuerst einsetzt, lässt sich dementsprechend verstehen. Ein gleichzeitiges Denken beider Familien würde daher die Artikulation jenes traumatischen Moments der Trennung zwischen Deann und ihrer Geburtsfamilie voraussetzen, der die parado- xe Verbindung beider Familien darstellt. Eine solche Artikulation von Verlust und Trauer setzt jedoch auch die Thematisierung der diskursiven, sozialen, ökonomi- schen und politischen Machtverhältnisse zwischen Geburts- und Adoptivland, Geburts- und Adoptivfamilie voraus.

5.3.2 Nicht artikulierte Beziehungen – Bilder der Trennung

Die Darstellung der Begegnung zwischen Deanns amerikanischer und koreani- scher Familie beinhaltet nicht auch die Konfrontation mit den ‚Geistern‘ der Ver- gangenheit, die das gleichzeitige Denken beider Familien in der Gegenwart mög- lich machen würde. Stattdessen sehen wir Szenen, die die Trennung beider Fami- lien verstärken, ironischerweise wiederum am Symbol des Familienalbums nach- vollziehbar. Eine der ersten Szenen nach Ankunft der Borshays bei Deanns korea- nischer Familie zeigt, wie Alveen Deanns koreanischer Mutter ein Fotoalbum überreicht, das Deanns Zeit bei den Borshays dokumentiert, beginnend mit einer Fotografie, das am Tag ihrer Ankunft entstanden ist [Abb. 98].

[Abb. 98] Geschenk

304 Vgl. Arnika Fuhrmann: Ghostly Desires. Sexual Subjectivity in Thai Cinema and Politics after 1997. Unveröffentlichte Dissertation, eingereicht an der Universität Chicago 2008.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 193

Wir sehen die koreanische Familie das Familienalbum der amerikanischen Fami- lie betrachten. Nicht artikuliert wird, dass die Zeit, die das Familienalbum reprä- sentiert, zugleich die Zeit ist, die sie in der koreanischen Familie abwesend ist. Die Kluft zwischen beiden Familien, die dieser Umstand bedeutet, deutet sich nur in der Gegenüberstellung von „Dankbarkeit“ auf Seiten der koreanischen und „Freude“ auf Seiten der amerikanischen Mutter an. Nachdem Deanns koreanische Mutter die Bilder im Fotoalbum betrachtet hat, bedankt sie sich bei Alveen dafür, gut für Deann gesorgt zu haben [Abb. 99].

[Abb. 99] „It was our joy.“

DOLMETSCHERIN: She said she‘s very happy … She‘s very thankful that you brought her up well“

ALVEEN: It was our joy.“

Das Fotoalbum, das den Verlust Deanns bezeugt, weil es ihre Anwesenheit in ih- rer amerikanischen Familie dokumentiert, führt zu dieser Geste des Dankes, die noch am ehesten das verbindende Element zwischen beiden Familien benennt. Im Dank scheint der Moment der Übergabe Deanns von ihrer koreanischen Familie an ihre amerikanische Familie auf und bestätigt zugleich die Trennung von Deann und ihrer koreanischen Familie und zwischen den beiden Familien. Das emotiona- le Gefälle zwischen den beiden Müttern deutet auf die asymmetrischen, diskursi- ven, sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen hin, die zunächst die Trennung von Mutter und Kind und dann das Zusammentreffen von Adoptiv- und Herkunftsfamilie bestimmen, sie werden jedoch nicht ausformuliert. Im An-

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 194

schluss an den Moment des Dankes wendet sich Deanns koreanische Mutter ab, beide Mütter weinen stumme Tränen, ohne sich anzusehen [Abb. 100].

[Abb. 100] Stumme Trauer

Die Bilder zeigen zugleich die Zusammenführung beider Familien und Mütter im selben Raum und ihre Unvereinbarkeit in den Bildern nicht artikulierter Trauer. Die Bilder deuten an, dass die nicht thematisierten komplexen und ambivalenten Beziehungen eine Verständigung verhindern. Stattdessen wird die Trennung wie- derholt und verstärkt.305 Sowohl Deanns koreanische Mutter, als auch ihr koreani- scher Bruder betonen, dass sie Deann als Teil ihrer amerikanischen Familie anse- hen:

DOLMETSCHERIN: She says that although she is your mother, she only gave birth to you and so you should really love and do everything you can for your adoptive parents.

In einer längeren Rede erläutert Deanns koreanischer Bruder, wie es zur Trennung kam. Er bezieht sich auf die prekäre finanzielle damalige Situation der Familie. Mutter und Bruder rufen Bilder des melodramatischen „Mutteropfers“ eines ‚bes- seren Lebens‘ auf, das Deann durch die Adoption ermöglicht werden sollte.

BRUDER: By sending her away we thought … she might have better opportunities than us. […]

305 Eng, Feeling of Kinship, S. 129

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 195

It‘s not that they [adoptees] were abandoned. The children were sent for a better life.

MUTTER: We had to send her to be educated and to have a worthwhile life.

Der Bruder vergrößert die Distanz zwischen Deann und ihrer koreanischen Fami- lie, indem auch er sich auf eine „kulturelle Differenz“ bezieht:

BRUDER: She really needs to consider the cultural dif- ference between us. Only then will she un- derstand us.

Deanns Heimatfantasie einer Zusammenführung beider Familien im selben Bild wird mit dem nicht artikulierbaren emotionalen und Machtgefälle zwischen bei- den Familien und der ‚Realität‘ der Distanz, wie sie Mutter und Bruder (ähnlich

Heidis vietnamesischer Familie) formulieren, kontrastiert. Was in DAUGHTER

FROM DANANG durch den Einsatz anderer Medien und durch Filmtechnologie ver- anschaulicht wird, wird in FIRST PERSON PLURAL durch gesprochene Rede artiku- liert. Der Fantasie einer gleichzeitigen Zugehörigkeit Deanns auch zur koreani- schen Familie wird die von der koreanischen Familie beschriebene ‚Realität‘ ent- gegengehalten. Die Heimatfantasie in FIRST PERSON PLURAL beinhaltet einen Ort, an dem sich beide Familien vereinen lassen. Der Film stellt dieser Fantasie eine Situation unartikulierbarer Trauer und artikulierter Abgrenzung gegenüber, visua- lisiert dadurch, dass beide Familien kaum im selben Bild gezeigt werden. Zu- gleich sind beide Mütter nur in den Szenen des Dankes zu sehen, die jedoch Sze- nen der wiederholten Trennung sind. Es entsteht kein ‚Familienbild‘, das am An- fang eines gemeinsamen Familienalbums stehen könnte.

5.3.3 Erkennen der nostalgischen Kindheitsfantasie

Der Versuch, Bilder der Gleichzeitigkeit beider Familien zu denken, wird nach dem in dieser Hinsicht enttäuschenden Aufenthalt in Korea aufgegeben. An Stelle einer Auseinandersetzung mit der Frage, warum ein Bild, das beide Familien zu- gleich beinhaltet, kein unschuldiges sein kann, vollzieht sich jedoch wiederum eine Verschiebung der Heimatfantasie, in dem Deann das ursprüngliche Ziel ihrer Reise auf eine zunächst überraschende Weise neu formuliert. Am Schluss ihrer

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 196

Reise spricht Deann nicht mehr von dem Wunsch, beide Mütter im selben (emoti- onalen) Raum zu sehen. Stattdessen führt sie die Motivation zur Reise auf eine, wie sie nun erkennt, nostalgische Kindheitsfantasie zurück. Die ‚Erkenntnis‘, die in DAUGHTER FROM DANANG mittels anderer Medien und Filmtechnologie nahe gelegt und den Zuschauer/innen vorbehalten war, wird hier von der Protagonistin selbst ausformuliert:

DEANN: When I was younger I held on to this fantasy that if I was good enough in my new home and good enough with my American parents, that if everything was perfect and I behaved properly, did well in school and all of that, that I would somehow be send back to Korea to be with my Korean family. … What‘s happening is that that child- hood fantasy of returning to my family is starting to … get away from me … and that I have to develop another relationship, a different kind of relationship with my Ko- rean family. It‘s not that I can just plop back in as a child. It‘s no longer my childhood fantasy. It‘s … approaching them as an adult.

Von dem Bedürfnis, das Verhältnis zwischen beiden Familien zu klären, ist an dieser Stelle keine Rede mehr. Stattdessen problematisiert Deann das Verhältnis zu ihrer Geburtsfamilie als imaginäres und ihre Heimatfantasie als Fantasie. Die Komplexität des Konflikts der Gleichzeitigkeit wird auf einen anderen bereits in sentimentalen, konventionellen Begriffen fassbaren Konflikt des Verken- nens/Erkennens der Heimatfantasie reduziert. Auch Deann scheint, wie Heidi, ei- nen Erkenntnisprozess durchlaufen zu haben, der ihr zu einer „erwachseneren“, ‚aufgeklärten‘ Sichtweise von Heimat und Verwandtschaft verhilft. Im Gegensatz zu DAUGHTER FROM DANANG war jedoch Deanns Ausgangsfantasie nicht die ei- ner essentialisierenden, eindeutigen Heimat, die im Geburtsland verortet ist, son- dern die Fantasie eines utopischen Ortes, an dem die Gleichzeitigkeit mehrerer

Familien denkbar und lebbar wäre. FIRST PERSON PLURAL verschiebt diese Hei- matfantasie und den darin enthaltenen Konflikt von der Frage der Gleichzeitigkeit beider Familien zur Frage der ‚richtigen‘ Familie. Dadurch wird es möglich, den

Film, wie auch DAUGHTER FROM DANANG durch die Einführung einer anderen, nicht weniger sentimentalen Heimatfantasie zu beenden, wie im Folgenden ge- zeigt werden soll.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 197

5.4 Wiederherstellung der Heimatfantasie/Normalisierung von Adoption

Beide Protagonistinnen sehen ihre Heimatfantasien in der physischen Begegnung enttäuscht. Für Protagonistinnen und Zuschauer/innen entsteht dadurch – durch ästhetische Mittel verstärkt – der Eindruck einer Diskrepanz zwischen einer medi- alen, imaginären Heimatfantasie unschuldiger Kindheit bzw. unschuldiger Gleichzeitigkeit und einer ‚Realität‘, in der der Ort der Adoptivfamilie als ‚wahre‘ Heimat privilegiert wird. An Heidis Erkenntnis, die sie ihre Reise ungeschehen wünschen lässt, schließt sich die Rückkehr in die USA zu ihrer ‚eigenen‘ Familie und zu ihrer amerikanischen Adoptivfamilie, verkörpert durch die Mutter ihrer Adoptivmutter, an. Zum Schluss des Films besucht Heidi mit ihrem Ehemann und ihren zwei Töchtern ihre Großmutter in den USA. Diese wurde zuvor als strenge Erzieherin ihrer Adoptivmutter vorgestellt, die zu drastischen Prügelstrafen neig- te. Das von Gewalt geprägte Verhältnis zwischen Großmutter und Adoptivmutter, so wurde zuvor suggeriert, sei für das schlechte Verhältnis zwischen Heidi und ihrer Adoptivmutter verantwortlich. Am Ende des Films wird dieses Bild der Großmutter durch ein wirkmächtigeres Bild überlagert.306 Mit ihren Ur- Enkelinnen, Heidis Töchtern, betrachtet sie Fotografien, die auf der Reise nach Vietnam entstanden sind [Abb. 101].

[Abb. 101] „This is what I know“

306 Es spricht wiederum für die enorme Integrationskraft des Fernsehens, sich widersprechende Darstellungen nebeneinander stellen zu können und sogar wie hier einer Figur die entscheidende, der vorangegangenen Schilderung entgegengesetzte Bedeutung zuschreiben zu können.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 198

Heidi kommentiert das Bild ihrer, die Fotografien ihrer vietnamesischen Familie betrachtenden, amerikanischen Familie: „This is what I know, this is what I grew up with.“

Heidis amerikanische Großmutter steht zum Schluss von DAUGHTER FROM

DANANG für das ‚wirkliche‘ „home“, zu dem die Protagonistin zurückkehrt, nach- dem sie ihre Heimatfantasien in Vietnam enttäuscht sieht. Heidis Vorstellung von Heimat scheint sich durch ihre Reise nach Vietnam vollständig gewandelt zu ha- ben. Die Verortung von Heimat an einem nostalgischen, zeitlich und räumlich entfernten Kindheitsort ist einem pragmatisch anmutenden Verständnis gewichen. Heimat ist, was vertraut ist, „home“. Zum Schluss scheint sie verstanden zu ha- ben, dass sie in ihrer Suche nach Heimat und Zugehörigkeit einer Täuschung auf- gesessen ist und dass das, was zählt, gelebte Beziehungen sind.

Obwohl das Heimatbegehren enttäuscht wird, hält DAUGHTER FROM DANANG an der Behauptung einer eindeutigen Zugehörigkeit fest. Die Gegenüberstellung von imaginärer Heimatfantasie und ‚realem‘ Zuhause führt zu einer wiederum vereindeutigen Zuordnung, in der die Adoptivfamilie als ‚wahre‘ Familie essen- tialisiert wird. Ausgeblendet wird dadurch, dass zuvor die Beziehungen zu beiden Familien als prekäre dargestellt wurden. Die Enttäuschung der Heimatfantasie in Vietnam führt eine bedrohliche, grundsätzliche Unentscheidbarkeit von Zugehö- rigkeit ein. Indem der Film seine eigene vorangegangene Darstellung ausstreicht, wird es möglich, der Konvention sentimentaler Unterhaltung gerecht zu werden, Fantasien der Zugehörigkeit herauszufordern und zu enttäuschen, jedoch nicht endgültig aufzugeben.307

Diese Bestätigung sentimentaler Konvention gilt auch für FIRST PERSON PLU-

RAL. An die Darstellung der Unvereinbarkeit beider Familien im selben Bild – der Undenkbarkeit gleichzeitig bestehender vervielfältigter Verwandtschaft – schließt Deann als Resümee die Feststellung an, ihre koreanische Mutter sei die letzten Jahre nicht ihre Mutter und ihre amerikanische Mutter sei ihre ‚wahre‘ Mutter gewesen. In FIRST PERSON PLURAL schließt an den Besuch der Borshays bei De-

307 Vgl. Berlant, Female Complaint, S. 4.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 199

anns koreanischer Familie ein Gespräch zwischen Adoptivmutter und -tochter an, indem sich Deann zur Adoptivfamilie bekennt:

ALVEEN: After all that’s your real mother […]

DEANN: I think … you‘re my real mother [beide lachen].

ALVEEN: Well, I feel like that … I really do.

Die Erzählungen transnationaler Adoption gehen von einem imaginären „Ort der Unschuld“ aus, die Rückkehr an diesen Ort verspricht die Klärung von Familien- beziehungen, Zugehörigkeit, Identität. In beiden Erzählungen werden diese Er- wartung enttäuscht. Es ist in der sentimentalen Darstellungsform begründet, dass die Erzählungen nicht an dieser Stelle enden können. In beiden Filmen stellt die Erkenntnis der Protagonistinnen der Zugehörigkeit zur Adoptivfamilie einen Bruch zu den vorangehenden Szenen der Enttäuschung der Rückkehr dar. Sie wird in einfachen Bildern plausibilisiert. In DAUGHTER FROM DANANG soll das gemeinsame Kochen mit der Großmutter Nähe und Zugehörigkeit vergegenwärti- gen, in FIRST PERSON PLURAL bekennt sich Deann tränenreich zur Adoptivmutter.

In DAUGHTER FROM DANANG gibt es dieselbe Szene zuvor mit Heidis vietnamesi- scher Mutter, in FIRST PERSON PLURAL war die emotionale Distanz, die Deann zu ihren Adoptiveltern empfindet, Anlasse für Reise und Film. In beiden Filmen er- schließt sich nicht inhaltlich, inwiefern die Erfahrung der enttäuschten Rückkehr den Protagonistinnen die Möglichkeit eröffnet, ihre Adoptivheimat als ‚wahre‘ Heimat anzuerkennen. Es handelt sich um eine überraschende Wendung, einen sentimentalen deus ex machina.

In DAUGHTER FROM DANANG findet eine einfache Umkehrung der Heimatfan- tasie von der Geburts- zur Adoptivfamilie statt. In FIRST PERSON PLURAL wird die Komplexität gleichzeitiger unterschiedlicher Familienbeziehungen auf die verein- fachende Figur des Entweder/Oder reduziert. Die Filme folgen einem sentimenta- len Begehren, trotz aller Enttäuschungen der Heimatfantasie an dieser und an der Vorstellung von Normalität der Zugehörigkeit zu einer eindeutigen, einmaligen Familie festhalten zu können. Sie folgen der paradoxen Logik sentimentaler Un- terhaltung, Unbehagen an den Anforderungen von Normalität zu artikulieren und

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 200

zugleich das Versprechen aufrecht zu erhalten, diesen Anforderungen doch ge- recht werden zu können. Sentimentale Unterhaltung strebt danach, ein Zuschauergefühl zu erzeugen, das Berlant als „Okayness“ bezeichnet, das heißt, die Gewissheit zu haben, sich innerhalb den Grenzen des konventionell denkbaren zu befinden.308 Die Wendun- gen der Protagonistinnen zur Adoptivfamilie als Ort eindeutiger Zugehörigkeit sind weniger als ‚aufgeklärte‘ Erkenntnis einer grundsätzlichen ‚Konstruiertheit‘ von Verwandtschaft zu verstehen, sondern als notwendige Bedingung, um ein Ge- fühl von „Okayness“ aufrecht erhalten zu können. Als sentimentale Erzählungen unterstützen DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL die konventi- onelle Utopie, eine ‚wahre‘ Familie, eine eindeutige Heimat behaupten zu können und dadurch jene Ambivalenz der Beziehungen zu beseitigen, die sie zuvor sicht- bar gemacht haben. Indem die Adoptivfamilie abschließend als ‚wahre‘ Familie präsentiert wird, wird der Konflikt uneindeutiger Zugehörigkeit verdeckt, der den Ausgangspunkt der Narration darstellt.

5.4.1 „Closed but not locked“. Fortsetzung des Heimatfilms im ‚Anderswo’

Die ‚Geister‘ der Vergangenheit, die die Geschichten transnationaler Adoption zuerst generiert haben, lassen sich jedoch weder für die Protagonistinnen noch für die Zuschauer/innen ganz ausblenden. Der letzte Kommentar Heidis hält die Mög- lichkeit offen, in einer unbestimmten Zukunft den Kontakt zu ihrer vietnamesi- schen Familie wieder aufzunehmen, die Heimatfantasie doch noch am Ort ihrer Kindheit zu verwirklichen [Abb. 102].

308 Ebd., S. 9.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 201

[Abb. 102] „Closed but not locked“

HEIDI: I guess I have closed the door on them“, sagt sie und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „but I didn‘t lock the door. [lacht] It‘s closed, but not locked …

Heidi richtet den Blick an der Kamera vorbei und deutet damit einen ungewissen Ort an, an dem ein Happy End für alle Beteiligten möglich sein soll. Indem die Hoffnung auf diesen Ort aufrecht erhalten und zugleich im Vagen gehalten wird, entsteht ein paradoxer Effekt. Die ‚Geister‘ der Vergangenheit werden in der Am- bivalenz, die sie erzeugen, benannt, in gewisser Weise wird anerkannt, dass die Rückkehr zur Adoptivfamilie keine einfache Lösung darstellt. Zugleich ermög- licht die Andeutung des ‚Anderswo‘ die ‚Geister‘ für den Moment ruhig zu stel- len. Die „geschlossene“ aber nicht „verschlossene“ Tür birgt ein doppeltes Ver- sprechen: das einer allen Beteiligten gerecht werdenden Lösung und das weiterer Geschichten vom Suchen und Finden dieser Lösungen. Die Andeutung einer Fort- setzung verspricht auch die Fortsetzung des sentimentalen Genießens, darin aber besteht der größte sentimentale Genuss.309 Der Blick ins ‚Anderswo‘ dient der Be- ruhigung von Protagonistin und Zuschauer/in, dass eine Wiedervereinigung mit der Mutter doch noch möglich sein wird, im nächsten Film, in der nächsten Folge und dass das sentimentale Genießen der Heimatfantasie mit dem Ende des Films nicht auch an sein Ende gekommen ist. Die ‚Anerkennung‘ der ‚Geister‘ (und der emotionalen und Machtgefälle für die sie stehen), führt paradoxer Weise dazu, sie

309 Vgl. Neale, Melodram und Tränen.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 202

erneut in einer sentimentalen Bewegung ausblenden zu können. Die Zuschau- er/innen können sich darüber hinaus an der Fortsetzung der Heimatfantasie aktiv beteiligen, in dem sie dem Vorschlag der Filmemacher/innen folgen, Heidis viet- namesische Familie finanziell durch Spenden zu unterstützen und dadurch dazu beitragen, das ‚Anderswo‘ zu ermöglichen.310

Was in DAUGHTER FROM DANANG als narratives Mittel angedeuteter medialer Fortführung und gleichzeitiger politischer Beruhigung eingesetzt wird, findet im

Fall von FIRST PERSON PLURAL eine konkrete Umsetzung. Deann dreht einen wei- teren Film, der nicht erklärtermaßen Fortsetzung von FIRST PERSON PLURAL ist, jedoch thematisch anknüpft und ein Wiedererkennen ermöglicht. In ihrem jüngs- ten Film IN THE MATTER OF CHA JUNG HEE geht Deann erneut, wiederum verfolgt von den ‚Geistern‘ ihrer koreanischen Vergangenheit, auf Reise. Sie macht sich auf die Suche nach dem Mädchen, an deren Stelle sie in die USA adoptiert wurde. Im Lauf der Begegnung mit verschiedenen Frauen namens Cha Jung Hee, die sich alle nicht als die Cha Jung Hee herausstellen, scheinen wir erneut dem Prozess einer identitären Stabilisierung Deanns zu folgen. Am Ende kehrt sie wiederum zu ihrer amerikanischen Familie in den USA zurück, gestärkt durch die Erkenntnis, dass die Geschichte von Cha Jung Hee ihre eigene Geschichte ist. Wieder muss das Ende jedoch vorläufig bleiben, denn die ‚wahre‘ Cha Jung Hee wurde nicht gefunden. Die Erzählungen transnationaler Adoption zeichnen einen Kontrast zwischen einer Heimatfantasie eines unschuldigen Ortes der Kindheit und einer ‚erwachse- nen‘ Einsicht in die ‚Realität‘ gelebter Adoptivbeziehungen. Diese ‚aufgeklärte‘ Position, die die Filme zu vertreten scheinen, ist ihrerseits als sentimental zu ver- stehen. Sie vereindeutigt Familie erneut und reinszeniert eine verschobene Hei- matfantasie. Ausgeblendet wird in dieser Erfüllung sentimentaler Konvention, den Glauben an einen Ort der Unschuld aufrecht erhalten zu können, das, was sich im „Mittelteil“ der Filme an Beunruhigen andeutet: die Medialität jeder Heimatfanta- sie, also auch der Fantasie einer eindeutigen Adoptivheimat und die unartikulier-

310 S. die Internetseite zum Film: http://www.daughterfromdanang.com/about/family_fund.html (zuletzt aufgerufen am 25.09.2011).

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 203

ten Bedingungen, die der Imagination einer unschuldigen Adoptivheimat voraus- gehen – die diskursiven, politischen, sozialen Asymmetrien, die die Praxis trans- nationaler Adoption in diesem Fall ermöglichen und das nicht artikulierbare Trauma der Trennung einer Familie, das die Verbindung zwischen Adoptiv- und

Geburtsfamilien bedingt. In DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLU-

RAL lassen sich die diskursiven und medialen Widerstände nachvollziehen, ein Bild von Familie und Verwandtschaft zu denken, das der asymmetrischen Gleich- zeitigkeit beider Familien gerecht würde. Dass das Entweder/Oder, die diskursive Notwendigkeit einer Entscheidung zwischen beiden Familien für die Adoptivfa- milie ausfällt, zeigt die diskursive Konventionalität der Adoptivbeziehungen, wie wir sie heute kennen. Die sentimentalste Fantasie ist die einer unschuldigen Adoptivheimat. Die zu Beginn aufgerufene Fantasie eines „Ortes der Unschuld“ wird in Frage gestellt und durch die Verschiebung des Heimatortes in die USA wieder einge- führt. Berlant beschreibt die paradoxe Logik sentimentaler Unterhaltung, nach der die Fantasie einer besseren (unschuldigen) Welt der permanenten Bedrohung durch die Herausforderungen der Realität ausgesetzt wird, nur um die Zuschau- er/innen am Ende darin zu vergewissern, dass eine bessere Welt an einem anderen Ort trotz aller Herausforderungen und Ambivalenzen möglich ist.311 Die zirkuläre Struktur und die Rückkehr in eine ihrerseits als „Ort der Unschuld“ gedachte Adoptivheimat ist im Rahmen dieser sentimentalen Konvention zu verstehen. Da- bei wird letztlich eine Wahrnehmung der Beziehungen zur Adoptivfamilie als im Vergleich zu den Beziehungen zur Geburtsfamilie unschuldiger, konfliktfreier und eindeutiger produziert. Bemerkenswert ist, dass Adoptivverwandtschaft prob- lemlos als ‚unschuldig‘ imaginiert werden kann. Daran ist zu erkennen, wie kon- ventionell das damit verbundene Familien- und Verwandtschaftsverständnis be- reits ist. Durch die Verschiebung von Heimat verschwinden die im Laufe der Dar- stellung angedeuteten geisterhaften Figuren der Vergangenheit und nicht artiku- lierbaren Machtverhältnisse, die zunächst zur Aufgabe der Heimatfantasie geführt haben, aus dem Blickfeld. Die Reisegeschichten transnationaler Adoption, die mit

311 Berlant, Female Complaint, S. 4.

5 Der ‚Heimatfilm‘ transnationaler Adoption 204

dem Ziel der Rückkehr ins Geburtsland beginnen, werden so zu Medien einer am Ende als unschuldig und legitim gedachten Adoptivverwandtschaft. Aus dem Blick gerät dabei die Komplexität der in der Adoption hergestellten Beziehungen, die die Fantasie einer eindeutigen und unschuldigen Familieneinheit zuvor in Fra- ge gestellt hat. Obwohl die Geschichten transnationaler Adoption von einer kritischen und ambivalenten Haltung gegenüber Adoptivland und -familie ausgehen, werden die- se letztlich als unschuldiger Ort ‚wahrer‘ Zugehörigkeit installiert, in dem Ver- such, die Geister der Vergangenheit, der Ambivalenz und der unartikulierten Machtbeziehungen zu beruhigen, die drohen, die Heimatfantasie ‚wahrer‘ Familie immer wieder von neuem erzählen zu müssen. Nicht denkbar wird durch die sen- timentale Darstellung, die Reisegeschichte transnationaler Adoption nicht als Er- kundung einer fernen Fremde und die Bestätigung einer eindeutigen Heimat zu erzählen, sondern als Versuch, das Verhältnis zwischen „home“/Zuhause und „home“/Heimat zu klären, das heißt einen Ort der Zugehörigkeit zu bestimmen, der in den Beziehungen zwischen beiden besteht.

6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder. Schlussbemerkung

Konventionelle Filme, konventionelle Botschaften

Die in dieser Arbeit diskutierten Darstellungen von (transnationaler) Adoption sind sentimental, das heißt, nach Berlants Definition, der ich zustimme, konventi- onell, ästhetisch wie ideologisch. Konventionelle Darstellungen vermitteln kon- ventionelle Botschaften, das ist wenig überraschend. Es überrascht also auch nicht, dass sich die diskutierten Filme einem konventionellen Ende zuwenden. Im

Fall von STELLA DALLAS wird eine klassenhierarchische Familienordnung bestä- tigt, einer besonders perfiden Logik moralisierter Selbstsanktionierung folgend. Heroisierung der „abgebenden Mutter“ ist hier als Manifestierung einer Ordnung zu verstehen, in der versucht wird, repressive Maßnahmen zu vermeiden. Im Fall von DAUGHTER FROM DANANG und FIRST PERSON PLURAL werden komplexe, plu- rale soziale – Familien-, ‚Rassen’-, nationale und kulturelle – Beziehungen auf vermeintlich eindeutig bestimmbare Zugehörigkeiten reduziert. Auch hier führt die Sentimentalität der Darstellung dazu, Familie und Verwandtschaft in konven- tionellen Begriffen zu denken. Auf dem Weg zu diesem konventionellen Ende – der kein Weg ist, weil er kaum vorbereitet, was in Form eines sentimentalen deus ex machina (den klas- senhierarchisch ‚angemessenen’ Adoptivbeziehungen bzw. dem scheinbar von Ambivalenz befreiten Bekenntnis zur Adoptivfamilie) wieder eingeholt wird – weisen die Darstellungen auf die Machtverhältnisse und Ambivalenzen hin, die die sentimentalen Adoptionsgeschichten zuerst generieren. Ein wichtiges Anlie- gen, das ich mit dieser Arbeit verfolgt habe, ist, auf das implizite Machtwissen um die Bedingungen von Adoption in den sentimentalen Geschichten hinzuweisen und die Komplexität des Sentimentalen sichtbar zu machen. Aufgrund dieser Komplexität, die im konventionellen Ende reduziert, jedoch nicht vollständig aus- gelöscht wird, ist zu verstehen, warum die Rezeption sentimentaler Geschichten Genuss bereiten kann, der nicht bloße Regression bedeutet, sondern auch in der empfundenen Anerkennung historisch spezifischer Machtverhältnisse und intimer Öffentlichkeiten besteht. 6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder 206

Komplexität sentimentaler Unterhaltung ist jedoch nicht alles, was sich an- hand der hier diskutierten Darstellungen erkennen lässt. Ich erinnere daran, dass die konventionellen ‚Lösungen’ der Klassen- und Zugehörigkeitskonflikte in bei- den Fällen in der (Wieder-) Herstellung von Adoptivbeziehungen besteht, also in der Verwirklichung eines Familienkonzepts, das an anderer Stelle als unkonventi- onelle Abwendung von einer biologisch definierten Definition von Verwandt- schaft angesehen wird. Welche Schlussfolgerung ergibt sich aus der Zuwendung zu dieser un/konventionellen Familienform? Man könnte sagen, dass in den sen- timentalen Adoptionsgeschichten zwischen verschiedenen heute gleichermaßen als konventionell ansehbaren Lösungen abgewogen wird. Man könnte aber auch sagen, dass die sentimentalen Adoptionsgeschichten zwischen verschiedenen gleichermaßen unkonventionellen Lösungen (Stärkung der Unterschichtsfamilie vs. Zuwendung zur klassenbewussten Adoptivfamilie bzw. Einsatz für die margi- nalisierte Herkunftsfamilie vs. Unterstützung der ‚transrassischen’ Adoptivfami- lie) schwanken. Durch Adoption werden nicht nur sentimentale Kippbilder der Intimität/Distanz produziert, sie erweist sich selbst als eines der Un/Konventionalität. Deutlich wird dabei, dass eine Opposition konventioneller und unkonventioneller, progressiver und reaktionärer Modelle und Denkweisen den Beziehungen, die heute als Verwandtschaft formulierbar sind, nicht gerecht wird. Zu beachten ist, dass die Darstellungen die am Ende als konventionell(er) er- scheinende Botschaft durch die antagonistische Gegenüberstellung der Familien- modelle im Sinne eines Entweder/Oder erst herstellen. Hier kommt wieder die Frage nach den Machtverhältnissen ins Spiel, im Rahmen derer die jeweiligen Lö- sungen betrachtet werden. Dass sich die Adoptivbeziehungen gegenüber den bio- logisch begründeten Beziehungen durchsetzen, deutet darauf hin, dass die Frage der Biologie dann keine entscheidende Rolle mehr spielt, wenn Klassen-, ‚Ras- sen’- und nationale Machtverhältnisse die Beziehungen komplexer machen. Die Darstellungen lassen darauf schließen, dass Adoptivbeziehungen unter bestimm- ten – weit verbreiteten – Umständen nicht größere Konventionalität, sondern schlicht die potentere Machtposition verkörpern.

6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder 207

In den Adoptionsgeschichten ist nicht von vornherein offensichtlich, welche ‚Lösung’ die konventionellere Botschaft beinhaltet: die Rückkehr zur Herkunfts- oder zur Adoptivfamilie. Das ist vielleicht das überraschende an Adoption, das in einem Setting, das so globalisiert und postmodern erscheint, die möglichen denk- baren Botschaften so konventionell sind. Das Kippbild unterschiedlicher, aber gleichermaßen konventioneller Botschaften trifft meiner Meinung nach für das Denken ‚neuer’ Familienformen im Allgemeinen zu, wie ein weiteres Beispiel veranschaulicht. Die Anordnung in THE KIDS ARE ALL RIGHT (USA 2010, R: Lisa Cholodenko) ist auf ähnliche Weise ambivalent. Der Film erzählt von dem lesbi- schen Weißen Mittelschichtspaar Nic (Annette Bening) und Jules (Julianne Moo- re), deren Kinder Joni (Mia Wasikowska) und Laser (Josh Hutcherson) den Mann ausfindig machen, durch dessen Samenspende sie gezeugt wurden und der „alles möglich gemacht hat“, wie es auf dem Filmplakat heißt [Abb. 103].312

[Abb. 103] THE KIDS ARE ALL RIGHT

Während Paul (Mark Ruffalo) eine freundschaftliche Beziehung zu den Kindern entwickelt, eskaliert die Situation, als Nic herausfindet, dass Jules eine Affäre mit

312 Der Untertitel auf dem Filmplakat lautet: „Nic and Jules had the perfect family, until they met the man who made it all possible“.

6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder 208

ihm hat und Paul daraufhin unter Androhung von Waffengewalt ihres Hauses verweist. Der Film ist insbesondere für die Darstellung einer ‚ganz normalen’ les- bischen Familie gefeiert worden, einschließlich alltäglicher Ehe- und Erziehungs- problemen. Die ‚Normalität’ der Darstellung lesbischer Eltern und durch Samenspende gezeugter Kinder ist Gewinn und Krux zugleich. Sie erweitert das Denken von

Familie, aber noch deutlicher als MODERN FAMILY visualisiert THE KIDS ARE ALL

RIGHT auch den Preis, mit dem Normalität erkauft ist. Jasbir Puar und Karen Tongson sprechen von einem Fall von „Homonationalismus“. In selbstreflexiver

Weise bezeichnen sie THE KIDS ARE ALL RIGHT als einen „ugly“ Film, weil er auf unangenehme Weise Vertrautes zeigt: „[We] catch glimpses of ourselves doing terrible things in order to exert a tighter grasp on the people, places and things we 313 imagine belong to us alone“ ermögliche. Auch THE KIDS ARE ALL RIGHT in- szeniert ein Kippbild gleichermaßen konventioneller Botschaften, indem die hete- ronormative Kernfamilie der „homonationalistischen“ gegenübergestellt wird.

Puar und Tongson schreiben eine bissige und humorvolle Kritik zu THE KIDS

ARE ALL RIGHT, der vom Mainstream Hollywoodkino-Publikum als liberale Be- freiungskomödie gefeiert und von kritischen Queer-Forscherinnen als eben „ho- monationalistisch“ verdammt wurde.314 Puar und Tongson schlagen, angesichts dieser aus kritischer Perspektive fast reflexhaften Ablehnung vor, den Film als Sichtbarmachung all dessen zu verstehen, was „ugly“ ist an dem von ihnen zuge- gebenermaßen geteilten Bedürfnis nach ‚ganz normalen’, liberalen schwul/ lesbi- schen Familien. Während Puar und Tongson einen ähnlichen Perspektivwechsel bezüglich dieser letztlich sentimentalen Darstellung ‚neuer’ Familien vornehmen, wie ich ihn in dieser Arbeit verfolge, würde ich auch im Fall von THE KIDS ARE

ALL RIGHT weniger von einer subversiven Intention der Regisseurin ausgehen, sondern die Darstellung als symptomatisch für die Begrenzungen deuten, die sich

313 Jasbir Puar, Karen Tongson: „The Ugly Truth about why The Kids ARE All Right“, Oh! In- dustry. Pop Culture, Media, Fashion. Eintrag vom 8. Februar 2010, http://www.ohindustry.com/2010/08/ugly-truth-about-why-kids-are-all-right.html (letzter Zugriff 15.10.2011). 314 S. ebd. zu Kommentaren von Jack Halberstam und anderen.

6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder 209

aus dem auch hier vorausgesetzten sentimentalen Kippbild der Beziehungen für eine Artikulation von Kritik ergeben.

Queere Biologie?

Die Konventionalität der Botschaften von Geschichten wie dieser ist für diejeni- gen desillusionierend, die das utopische Versprechen von Adoptiv- und ‚neuen’ Familien im Allgemeinen in Erinnerung haben, aber auch für diejenigen, die sich in kritischer Weise in Zusammenhang mit Adoption für marginalisierte Positio- nen, insbesondere Herkunftsmütter einsetzen. Es gilt also aufmerksam für die Produktivität der Kippbilder selbst zu sein, die im Adoptionsdiskurs so virulent sind. Nicht nur verkörpern sie eine Ambivalenz, die jetzt als Ambivalenz ver- schiedener Machtbezüge, aber gleichermaßen un/konventioneller Familienkon- zepte zu verstehen ist, sie beschränken auch das Denken der Alternativen, die zur Verfügung zu stehen scheinen. Die Frage ist nicht so sehr, welche Position pro/contra mittels Adoption oder Reproduktionsmedizin hergestellter nicht nur schwul/lesbischer Familien wir einnehmen, sondern unter welchen materiellen und diskursiven Voraussetzungen diese jeweils gebildet werden und welche ande- ren Formen sozialer Gemeinschaft dabei undenkbar und unsichtbar werden. Dies beinhaltet ironischerweise auch die Überlegung, inwiefern biologische Verwandt- schaft eine legitime Begründung für intime Beziehungen sein kann, die über kon- ventionelle eindeutige, einmalige Verhältnisse hinausgehen. Richtigerweise stel- len Puar und Tongson fest, dass THE KIDS ARE ALL RIGHT dann am ‚unkonventi- onellsten’ ist, wenn die fragilen Beziehungen zum Samenspender inszeniert wer- den:

The family in TKAAR [THE KIDS ARE ALL RIGHT, A.M.] is the most queer when it is porous to Paul’s presence, the lines of affiliation arising and dissipating – an as- semblage of alliances uncertain and open to changes, unexpected, convivial encoun- ters and sudden, random intimacies.315

315 Ebd.

6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder 210

Es geht hier sicherlich nicht darum, die Figur des biologischen Vaters zu idealisie- ren. Ich verstehe sie stellvertretend für die komplexen, ambivalenten, sich entzie- henden Bedingungen ‚neuer’ Familien, ob homo- oder heterosexuell. An dieser Stelle sei auch betont, dass sich an der Frage der Normativität schwul/lesbischer Familien lediglich zuspitzt, was in Bezug auf heterosexuelle Familien grundsätz- lich gilt. Das Ausblenden des biologischen Vaters zur Herstellung von (Homo-)

Normativität in THE KIDS ARE ALL RIGHT und das Ausblenden biologischer Müt- ter in Zusammenhang mit Adoption, Eizellspende und Leihmutterschaft führt die Frage des Biologischen und Materiellen auf ‚verquere’ Weise wieder ein. Sie stellt sich nicht mehr im Sinne der Affirmation der normativen Kernfamilie. Im Gegenteil weist der Blick auf biologische Beziehungen unter Umständen ‚neuer’ Familienbildung gerade auf das hin, was in der Anstrengung, ‚ganz normale’ Be- ziehungen herzustellen, ausgeblendet wird und was der Sichtbarmachung erfor- dert, um die Ambivalenzen und „negativen Aufladungen“ zu verstehen. Die Frage nach der Bedeutung des Körperlichen, Materiellen ist aus der Geschlechterge- schichte nur zu gut bekannt. Im Zusammenhang ‚neuer’ Verwandtschaftsformen stellt sie sich erneut, jedoch in einer gewissen Abstraktion (nicht vollständigen Verabschiedung) von Geschlechterhierarchie. Diese neue Relevanz der Frage nach den materiellen Bedingungen erfordert auch eine Revision dessen, wodurch Geschlecht zu ‚ersetzten’ oder erweitern wäre. Sentimentale Unterhaltung ist ein zuverlässiger Seismograph für im kol- lektiven Bewusstsein nicht vollständig erkennbare aber empfundene, geisterhaft erahnbare Machtverhältnisse. Sie ist ein guter Ausgangspunkt für die Artikulation von Kritik. Sie ist zugleich, wie am Beispiel der Adoptionsgeschichten zu sehen, Indikator für das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits als konventionell denkbar ist, für die sich verschiebenden Ränder des ‚Normalen’. Darin besteht ihr doppelter Erkenntnisgewinn. Die Geschichten ‚neuer’ Familienformen fordern das Funktionieren des Sentimentalen auf besondere Weise heraus, weil unklar ist, welches die konventionelle Lösung ist, der sich abschließend zugewendet werden kann. Jede Lösung wird von der anderen, gleichermaßen als konventionell be- schreibbaren, verfolgt. Diese Herausforderung des Sentimentalen ist zugleich höchst produktiv, weil sich aus der Unentscheidbarkeit, welche die konventionel-

6 Zur Produktivität sentimentaler Kippbilder 211

lere – größere Nähe zu „Okayness“ versprechende – Lösung sei, immer neue Ge- schichten generieren lassen. Die Allgegenwärtigkeit des Sentimentalen rührt viel- leicht weniger aus einem zunehmenden Eskapismus angesichts globalisierter und technisierter Alltagsbedingungen, als aus einem allgemeinen Zögern, sich für die eine oder andere konventionelle Lösung entscheiden zu wollen.

7 Filme/Videos/Fernsehserien

ADOPTED. WHEN LOVE IS NOT ENOUGH (USA 2008, R: Barb Lee) ALL I DESIRE (USA 1953, R: Douglas Sirk)

APPLAUSE (USA 1929, R: Rouben Mamoulian) CORPS ÉTRANGER (F 2004, R: Sophie Bredier)

DAUGHTER FROM DANANG (USA 2002, R: Gail Dolgin, Vicente Franco) FIRST PERSON PLURAL (USA 2000, R: Deann Borshay Liem)

GREAT GIRL (USA 1993, R: Kim Su Theiler ) IMITATION OF LIFE (USA 1934, R: John Stahl)

IMITATION OF LIFE (USA 1959, R: Douglas Sirk) IN THE MATTER OF CHA JUNG-HEE (USA 2010, R: Deann Borshay Liem)

LA SORTIE DE L‘USINE (F 1895, R: Auguste und Louis-Jean Lumière) LIVING IN HALFTONES (USA 1994, R: Me-K Anh )

MILDRED PIERCE (USA 1945, R: Michael Curtiz) MODERN FAMILY, ABC, Staffel 2, Folge 17 (USA 2010, Steven Levitan, Christo- pher Lloyd) MOTHER AND CHILD (USA, Spanien 2009, R: Rodrigo García)

NOS TRACES SILENCIEUSES (F 1998, R: Sophie Bredier, Myriam Aziza) SÉPARÉES (F 2000, R: Sophie Bredier, Myriam Aziza)

STELLA (USA 1990, R: John Erman) STELLA DALLAS (USA 1937, R: King Vidor)

THE BLIND SIDE (USA 2009, R: John Lee Hancock) THE KIDS ARE ALL RIGHT (USA 2010, R: Lisa Cholodenko)

THE WIZARD OF OZ (USA 1939, R: Victor Fleming) TITANIC (USA 1997, R: James Cameron)

VA, VIES ET DEVIENS (F, IL, BE, IT 2005, R: Radu Mihaileanu)

8 Literatur

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9 Abbildungen

Abb. 1: Werbebild von MODERN FAMILY (The Internet Movie Database, http://www.imdb.com/title/tt1442437, zuletzt aufgerufen am 16.10.2011)

Abb. 2-8; 11-25; 28-31: Screenshots aus STELLA DALLAS (DVD, Metro Goldwyn Mayer 2005)

Abb. 9, 10: Screenshots aus MILDRED PIERCE (DVD, Warner Home Video 2005)

Abb. 26, 27: Screenshots aus ALL I DESIRE (DVD, Universal Studios, o.D.)

Abb. 32-34: Screenshots aus THE BLIND SIDE (DVD, Warner Home Video 2010)

Abb. 35; 43-53; 67; 73, 74; 79-88; 101, 102: Screenshots aus DAUGHTER FROM DANANG (DVD, PBS 2003)

Abb. 36-42; 54-66; 68-71; 75-78; 89-100: Screenshots aus FIRST PERSON PLURAL (DVD, Mu Films 2000)

Abb. 72: Screenshot aus IMITATION OF LIFE (DVD, Universal Studios 2009)

Abb. 103: Filmplakat von THE KIDS ARE ALL RIGHT (The Internet Movie Database, http://www.imdb.com/title/tt0842926, zuletzt aufgerufen am 16.10.2011)

Danksagung

Ich möchte mich an dieser Stelle bei denjenigen bedanken, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass diese Arbeit entstehen und beendet werden konnte. Da ist zunächst meine Erstgutachterin Prof. Dr. Astrid Deuber-Mankowsky, der ich für ihre kontinuierliche Unterstützung, zahlreiche richtungsweisende Diskussionen, anhaltendes Wohlwollen und kritische Beharrlichkeit danke. Herzlicher Dank geht auch an meine Zweitgutachterin Prof. Dr. Eva Warth für ihre Offenheit ge- genüber dem Projekt, ihre kritische und kenntnisreiche Lektüre während der Ent- stehung des Manuskripts und pep talk zur richtigen Zeit. Den Teilnehmer/innen des Kolloquiums „Medien und Gender“ am Institut für Medienwissenschaft Bochum gilt mein Dank für ihre kritischen und unterstützen- den Kommentare und ihre Geduld. Dem Rektor der Ruhr-Universität Bochum danke ich für die Förderung eines einmonatigen Rechercheaufenthaltes in Seoul im Rahmen des Rektoratsprogramms zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Diese Arbeit ist auch durch eine Mitgliedschaft in der Ruhr- University Research School ermöglicht worden. Daewon Wenger, Tammy Ko Robinson, Kelsey Hyesun March und Do-Hyun Kim habe ich kontroverse Dis- kussionen und hilfreiche Informationen zur Adoptionsgeschichte Koreas zu ver- danken, die dieser Arbeit entscheidende Impulse verliehen haben. Antke Engel und dem Queer Salon Berlin danke ich für die Möglichkeit, Aspekte der Arbeit in einer freundlichen und aufmerksamen Atmosphäre vorzustellen. Ich danke insbesondere auch Deann Borshay Liem für die großzügige Bereit- stellung ihrer Filme. Mein besonderer Dank gilt Katja Rothe, Maja Figge und Ar- nika Fuhrmann für anhaltenden Zuspruch, Einspruch und die Bereitschaft, ihr um- fangreiches Wissen mit mir zu teilen. Lena Meierkord, Aline Oloff, Jenniver Seh- ring und Maja Löffler danke ich sehr herzlich für Kommentare und Korrekturen. Katja Rothe, Claudia Schaefer, Sun-ju Choi und Kimiko Suda danke ich für das Teilen von Mahlzeiten und Getränken. Anja Michaelsen – Kurzdarstellung des Bildungsgangs

2012 Promotion am Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, mit der Arbeit Kippbilder der Familie. Nationale und transnationale Adoption als Medien des Sentimentalen (summa cum laude)

2008-2010 Mitglied der Ruhr-University Research School, Cluster: Organisation and Transformation of Semantic Spaces

2006-2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft, Ruhr- Universität Bochum

2006-2014 Mitglied des Direktoriums Gender Studies, Ruhr-Universität Bochum

1996-2003 Stipendiatin des evangelischen Studienwerks Villigst e.V.

1996-2003 Studium der Germanistik/Neueren deutschen Literatur und Gender Studies an der Universität Köln, der Humboldt-Universität zu Berlin und der McGill University Montréal, Kanada