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Sendung vom 27.10.2006, 20.15 Uhr

Senta Berger Schauspielerin im Gespräch mit Hans Oechsner

Oechsner: Grüß Gott, liebe Zuschauer, ich begrüße Sie zu einer neuen Ausgabe von alpha-forum. Wir haben heute einen ganz besonderen Star zu Gast, eine der beliebtesten deutschen Filmschauspielerinnen, eine der wenigen Schauspielerinnen, die sich auch international durchgesetzt haben. Unser Gast ist Senta Berger. Frau Berger, Sie haben in über 100 Filmen mitgespielt, Sie haben zig Fernsehproduktionen gemacht wie z. B. "Kir Royal" oder "Die schnelle Gerdi". Sie haben am Theater klassische Rollen gespielt, Sie sind mit Preisen überhäuft worden, Sie haben als Produzentin gearbeitet und jetzt haben Sie sogar noch ein Buch geschrieben. Wie bekommt man das alles in ein Leben hinein? Berger: Indem man das nicht parallel nebeneinander macht, sondern eben hintereinander. Und das hat alles ja auch eine ganze Weile gebraucht. Ich bin in diesem Jahr 65 Jahre geworden: Diese Zahl hat mir doch mehr Eindruck gemacht, als ich gedacht hatte und sie hat mich dazu gebracht, mein Leben ein bisschen zu überdenken. So ist auch dieses Buch entstanden, das ich vor etwa einem Jahr begonnen habe zu schreiben. Es hat sehr viel mit Erinnerungen zu tun, von denen man mir erzählt hat: Das sind die Erinnerungen meiner Mutter, die ich aufschreiben wollte. Und es hat eben auch mit meinen eigenen Erinnerungen zu tun. Ich habe gar nicht gedacht, dass ich bereits so einen Buckel voll Erinnerungen zu tragen habe. Oechsner: Bleiben wir kurz bei diesem Buch; es trägt den Titel "Ich hab ja gewusst, dass ich fliegen kann". Berger: Das ist ein merkwürdiger Titel, nicht wahr? Oechsner: Es ist ein schöner Titel und vielleicht können Sie ihn uns auch kurz erklären. Berger: Ich kann ihn schon erklären. Aber eigentlich war es so, dass auch ich selbst überrascht war von diesem Titel: Er war einfach plötzlich da. Mit einem Mal war er nämlich in meinem Kopf und dann habe ich ihn hingeschrieben. Natürlich habe ich dann auch darüber nachgedacht, warum ich das jetzt hingeschrieben hatte. Ich hatte nämlich als Kind wirklich diesen wunderbaren Traum, dass man sich auf ein Fensterbrett stellen und sich weich in die laue Luft hineinlegen könnte, dass man sich das zutraut, dass man über alle Schwierigkeiten hinwegkommen könnte. Sie haben als Kind sicherlich auch so einen Traum gehabt. Aber man verliert dann als Erwachsener diesen Traum wieder – was eigentlich schade ist. Oechsner: Ich finde, man versteht diesen Titel ganz gut, wenn man Ihr Buch liest. Berger: Wie interpretieren Sie denn diesen Titel? Oechsner: Ich finde, Sie haben in diesem Buch eine Grundhaltung: Sie erzählen all das, was Ihnen widerfahren ist, mit einem gewissen Staunen. So, als wollten Sie sagen: "Wieso passiert mir das eigentlich? Ich kann es gar nicht glauben!" Berger: Ich glaube, es geht eben auch immer wieder um Anfänge. Ich finde nämlich die Anfänge immer am interessantesten: der erste Schultag, der erste Tag am Reinhardt-Seminar als Schauspielschülerin, meine Anfänge am Theater usw. Ich glaube, damit hängt auch zusammen, dass ich mir so sehr viel zugemutet habe – vielleicht aus der Unwissenheit und Unerfahrenheit einer 17-Jährigen heraus. Ich habe z. B. als junges Mädchen behauptet, ich könne Englisch sprechen, als das überhaupt noch nicht der Fall war. Das war ganz schön frech - aber auch mutig. Ich bin damals wirklich keinem Wagnis aus dem Wege gegangen. Deshalb passt dieser Titel vielleicht doch zu meinen Anfängen. Oechsner: Man muss sagen, dass auch dieses Buch es nicht schafft, alles unterzubringen, was Sie erlebt haben, denn Sie hören am Ende des Buches mit den achtziger Jahren auf. Waren Sie einfach erschöpft? Oder ging nicht mehr rein in dieses Buch? Berger: Ich war einfach überrascht. Ich war überrascht, dass ich so schreibe, wie ich schreibe. Ich wusste allerdings davor schon, dass ich gerne schreibe und dass ich es auch kann. Gut, das klingt jetzt eitel, es soll jedoch nicht eitel klingen. Aber ich wusste nicht, dass es so werden würde. Ich wollte jedenfalls keine übliche Schauspielerbiographie schreiben: so mit dem Abhaken sämtlicher Rollen, die man gespielt hat usw. Sie haben mich vorhin auch ein wenig in Verlegenheit gebracht mit Ihrer Aufzählung. Mir ging es in diesem Buch jedenfalls nicht um die quantitative Aufzählung meiner Arbeiten, denn diese Zahlen bedeuten ja nichts. Ich habe dann gemerkt, dass ich eigentlich mehr und mehr Stimmungen beschreibe, dass ich eine ganze Zeit, eine Epoche beschreibe: die fünfziger Jahre, die sechziger Jahre. Das hat dann plötzlich so breiten Raum eingenommen, dass ich gesehen habe: Ich werde mit der Art, wie ich erzähle, niemals im Heute landen. Also lass ich es lieber sein, das krampfhaft zu versuchen! Letztlich finde ich diese Beschränkung auch gar nicht schlecht. Oechsner: Schreiben Sie denn jetzt weiter? Berger: Nein, aber es schreibt schon ein wenig im Kopf. Oechsner: Ihr Buch ist ja auch sehr unterhaltsam und mich hat vor allem amüsiert, dass Sie immer so eine gewisse ironische Distanz einnehmen. Sie schreiben darüber, dass Sie von Anfang an immer schon Schauspielerin werden wollten – was ja auch sehr interessant und sehr erstaunlich ist. Sie erlebten dann die verrücktesten Dinge auf diesem Weg, in diesem Beruf und manchmal hat man das Gefühl, Sie halten jetzt inne und denken an die kleine Wohnung in Wien in der Lainzerstraße und sagen sich: "Das kann doch nicht wahr sein! Bin ich das jetzt wirklich?" Berger: Das habe ich eigentlich nicht so schreiben wollen. Das Staunen, dass ich fliegen kann, liest man sicherlich heraus, das stimmt. Aber ironische Distanz? Ich glaube, das ist einfach eine Unsentimentalität, mit der ich sehr sentimentale Gefühle beschreibe. Und genau das empfinden Sie wahrscheinlich als Distanz. Ich bin diesem jungen Mädchen, das ich einmal war, sehr nahe gekommen durch das Schreiben. Wieder nahe gekommen. Oechsner: Sie haben vorhin schon so ein paar Stationen genannt, aber wir müssen ein bisschen langsam machen, damit wir alle noch hinterherkommen. Man kann sagen, es fing bei Ihnen im zarten Alter von fünf Jahren bereits an, als irgendjemand Sie zum ersten Mal entdeckt hat. Das war nämlich eine Frau, die meinte, Sie müssten unbedingt Ballett lernen, also tanzen können. Berger: Das war meine erste Ballettlehrerin. Meine Mutter und ich haben sie an einer Straßenbahnhaltestelle in Wien kennengelernt. Ich konnte ja als Kind nie ruhig stehen: Ich musste immer irgendetwas machen, gehen, laufen, springen, hüpfen usw. In diesem Fall, es war gerade Frühlingsanfang, spielte ich da vor der Straßenbahnhaltestelle während des Wartens einen Schmetterling. Das war halt sehr auffällig und diese Dame – das war eine etwas ältere, sehr merkwürdig gekleidete und auch stark geschminkte Frau mit russischem Akzent – meinte dann: "Diesäs Kind ist begabt! Diesäs Kind muss lärnen tanzen!" Sie meinte dann zu meiner Mutter, dass sie dafür nichts bezahlen müsse, sie wolle lediglich, dass ihr meine Mutter, wenn sie mir bei uns zu Hause Unterricht gibt, mal einen Rocksaum hoch näht oder eine Bluse weiter macht. Und so war es dann: Meine Mutter nähte in der Küche Knöpfe an und Jenny, also Eugenia Nikolajewna, meine erste Ballettlehrerin, zeigte mir die ersten Schritte; aus einem umgedrehten Stuhl wurde eine Ballettstange und so lernte ich eben bei ihr meine ersten Ballettpositionen. Das war sehr schön und hat mich sehr inspiriert. Nach einiger Zeit bin ich dann auch in eine wirkliche Ballettschule gekommen. Ich glaube, mit sieben Jahren war ich dann in der ersten richtigen Ballettschule. Oechsner: Sie sind dort dann auch aufgetreten und haben bereits während Ihrer Schulzeit immer schon Schauspielerin werden wollen. Woher kam das denn? Denn Sie sind ja nicht in eine Künstlerfamilie hineingeboren worden, wie das bei vielen Schauspielern der Fall ist, wo Vater und Mutter bereits Schauspieler waren. Berger: Eigentlich doch schon. Oechsner: Stimmt, Ihr Vater ging wohl schon so ein bisschen in diese Richtung. Berger: Mein Vater war von seinem ganzen Naturell her ein Künstler. Man kann sagen, meine Mutter war eine richtige Lebenskünstlerin – aber bitte, welche Frau war das unter diesen Umständen nach dem Krieg nicht? Aber mein Vater war wirklich Künstler: Er hatte Musik studiert, er war in den zwanziger Jahren in der Dirigenten- und Kompositionsklasse am Wiener Konservatorium gewesen. Aber er hat es doch nie ganz geschafft, sich völlig aus dem bürgerlichen Leben seiner Eltern zu befreien. Und er ist auch seinem eigenen Käfig nie entkommen: Er konnte nie von seiner Kunst leben. Dennoch hat er mir sehr viel vererbt: zwar nicht so sehr diese Zerrissenheit, wie er sie besessen hat, aber doch eine ganz schön kräftige künstlerische Ader. Ich bin wirklich eine Symbiose meiner Eltern: Meine Mutter war ein sehr lebensfroher und praktischer Mensch und mein Vater war eben, so empfand er sich selbst, ein Künstler, der dem Leben nicht gerecht werden konnte. Er war, wie er sich selbst nannte, ein "zerrissener Kasperl". Davon habe ich schon auch etwas abbekommen. Nun, warum war das so? Warum wollte ich unbedingt Schauspielerin werden? Meine Eltern hatten zwar überhaupt kein Geld, aber sie hatten trotzdem immer ein Abonnement in der Oper oder ein Abonnement im Volkstheater. Meine Mutter sagte dazu übrigens immer "Abollement"; sie dachte ihre Leben lang, das würde sich mit "l" schreiben. Aber sie hatte einfach dieses Abonnement: Damals spielte man am Wochenende auch am Nachmittag Theater, das war das billige Abonnement. So haben mich meine Eltern eben am Samstagnachmittag sehr oft mitgenommen. Dort im Theater habe ich sehr viel Ermutigendes, Inspirierendes erfahren. Das hat also einfach eine Stimmung gesetzt in meinem Leben. Und später, so ab meinem zwölften Lebensjahr, war ich ganz und gar der Magie des Kinos verfallen. Es war daher vollkommen klar, dass ich in diese Richtung gehen möchte: als Tänzerin, als Schauspielerin. Ich habe mir damals nämlich vorgestellt, dass man das vereinen könnte. Oechsner: Sie schreiben sehr liebevoll über Ihre Kindheit und Sie haben ja soeben auch mit sehr viel Empathie darüber gesprochen. Sie sagen von sich, Sie hätten eine sehr schöne und behütete Kindheit gehabt. Aber wenn man liest, wie Sie damals gelebt haben - das war ja während des Krieges und kurz nach dem Krieg –, dann erfährt man, dass das ein sehr ärmliches, ein sehr bescheidenes Leben gewesen ist. Woher kam dieser Zauber in Ihrer Kindheit? Berger: Alle hatten wir nichts! Und ich hatte keine Wünsche – wenn doch, dann zumindest nur erfüllbare Wünsche wie z. B. ein Eis, ein Stück Zucker, einen Riegel Hershey's-Schokolade, den jemand aus einem PX aufgetrieben hat. Es gab kein Wetteifern um Markenkleider oder um die richtigen CDs, um die richtigen Platten. Wir hatten alle nichts, und das war wunderbar. In unserem Haus herrschte auch eine große Verschworenheit unter uns Nachbarn. Die Türen unserer Nachbarn waren z. B. nie zugesperrt. Man konnte nach einem kurzen Klopfen die Tür aufmachen, eintreten und sagen: "Hallo, Frau Lukas, was gibt's 'n heut bei Ihnen zum Essen?" "Wir hab'n heut Griesnockerlsuppn!" "Ah, davon hätt' ich auch gern was!" "Ja, bitte Senta, komm doch rein!" So war das ganze Haus. Ich hatte wirklich das Gefühl, das ist meine Familie. Als ich dann in der Schule auf die Frage antworten musste, ob ich Geschwister habe, sagte meine Mutter an meiner statt "keine". Ich war ganz erstaunt in diesem Moment, weil ich ja das Gefühl hatte, dass ich selbstverständlich mit vielen anderen Kindern aufwuchs in diesem Haus und deswegen fühlte ich mich auch keineswegs als Einzelkind. Ich glaube nicht, dass ich das glorifiziere, denn ich habe jetzt, nachdem mein Buch auch in Österreich erschienen ist, viele Briefe von ehemaligen Schulkolleginnen und Freundinnen aus der Volksschulzeit bekommen, und natürlich auch Briefe und Anrufe von den drei Buben, mit denen ich aufgewachsen bin in der Lainzerstraße 148. Die sagen alle: "Du hast es genauso beschrieben, wie es gewesen ist!" Wir hatten wirklich eine wunderschöne Kindheit unter diesen objektiv gesehen ärmlichen Verhältnissen, die ich jedoch subjektiv überhaupt nicht als solche wahrgenommen habe. Oechsner: Daher stammt wohl auch Ihr Optimismus, der sich immer wieder gezeigt hat, wenn Sie weiterkommen wollten als Schauspielerin. Berger: Ob dieser Optimismus von meiner Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen kommt? Sicherlich hat das etwas damit zu tun, dass ich dann irgendwann einmal auch ein eigenes Zimmer haben wollte. Meine Disziplin und mein Fleiß, die ja für eine 18-Jährige doch erstaunlich waren, hatten sicherlich auch damit zu tun, dass ich halt auch raus wollte aus dieser kleinen Wohnung, in der ich zuerst einmal über die Klappbetten meiner Eltern kraxeln musste, um überhaupt in mein Bett zu kommen. Das kann natürlich schon auch ein Motor sein. Aber die Motivation, diesen Beruf zu ergreifen, war das ganz bestimmt nicht. Ich wollte halt einfach immer schon spielen, Schicksale erleben usw. In jedem jungen Menschen ist sicherlich so eine Art von Exhibitionismus angelegt: Jeder junge Mensch möchte gerne wahrgenommen werden. Und dann denkt man sich eben, dass man gerade in diesem Beruf am besten wahrgenommen wird. Wenn man erwachsener wird, sieht man jedoch, wie gefährlich das ist und stellt sich die Frage, ob man überhaupt auf diese Weise wahrgenommen werden möchte. Diese Identifikation mit dem Beruf ist auf der einen Seite etwas sehr Schönes: Das ist ein Privileg. Auf der anderen Seite hat das aber auch etwas sehr Zerstörerisches an sich. Denn es stellt sich einem als freischaffendem Künstler natürlich immer die Frage: "Wieso wird mir diese und jene Kollegin vorgezogen?" Man führt das dann zunächst einmal zurück auf sein eigenes Unvermögen: Man muss da schon sehr stabil sein, um das auszuhalten. Oechsner: Sie haben in Ihrer Jugend ja ein paar recht riskante Entscheidungen getroffen, wie man sagen kann: Sie haben das Abitur nicht gemacht, weil sie bereits vorher an der Schauspielschule, also an der Schule aufgenommen worden waren. Und Sie haben dann wiederum die Schauspielschule "geschmissen", weil Sie nämlich etwas taten, was damals Schauspielschülerinnen verboten war: Sie haben nämlich eine Filmrolle angenommen. War das damals Naivität oder Frechheit? Berger: Es war beides. Es war Naivität und Frechheit und auch das Unvermögen, nein zu sagen, wenn in der Klasse der Schauspielschule plötzlich leibhaftig Yul Brunner vor einem steht. Gut, heute weiß man über ihn vielleicht nicht mehr so viel, aber damals war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere und eine wirklich sehr imposante Persönlichkeit. Es stand jedenfalls Yul Brunner vor uns und sagte genau zu mir: "Würdest du eine kleine Rolle in meinem nächsten Film spielen wollen?" Da möchte ich mal eine 16-Jährige sehen, die dann sagt: "Ach, nein, Herr Brunner, denn die Regeln meiner Schule verbieten das!" Gedacht habe ich das zwar, denn ich wusste ja, dass die Regeln meiner Schule das verbieten, aber gesagt habe ich: "Yes, of course, Mister Brunner!" Und so habe ich dann eben diese kleine Rolle gespielt. Ich glaube, ich habe in meinem Buch aus Platzgründen nicht geschrieben, dass ich dann wenige Jahre später als Schauspielerin mit ihm gearbeitet habe, und zwar in einem Film, den wir in Israel drehten. An unserem ersten gemeinsamen Drehtag holte er ein großes Schwarzweißfoto heraus – er hat nämlich immer sehr schöne Fotos gemacht –, ein Foto von mir, von der kleinen, erst 16-jährigen Senta, die damals in seinem Film "The Journey" , "Die Reise", eine kleine Rolle gespielt hat. Er hatte mich damals nämlich fotografiert und konnte sich dann einige Jahre später noch an mich erinnern. Ich war wirklich gerührt. Oechsner: In Ihrer Pubertät haben Sie dann auch noch eine dritte Erfahrung gemacht, die Sie vorhin schon einmal kurz angesprochen haben und die man als Schauspielerin eben auch macht: diese Angst, ob man akzeptiert wird als Schauspielerin, ob es Bessere gibt, die einem vorgezogen werden. Das war natürlich im Theater in der Josefstadt in Wien so. Dort bekamen Sie nämlich irgendwann keine Rollen mehr und hingen dann in der Luft. Wie fühlten Sie sich damals? Denn es war ja plötzlich aus. Berger: Tja, so ein Gefühl verlässt einen irgendwie nie mehr so ganz. Es ist für alle Künstler so, dass sie natürlich einen Raum brauchen, in dem sie sich entfalten können: Man ist sogar als Maler davon abhängig, obwohl man sich doch "nur" mit der Leinwand verabredet, auch als Schriftsteller ist man davon abhängig, obwohl man nur mit der Schreibmaschine bzw. dem Computer und der eigenen Phantasie arbeitet: Irgendwann braucht man halt einen Raum, in dem die eigenen Bilder ausgestellt werden, irgendwann braucht man einen Verlag, der die eigenen Bücher druckt. Wenn die eigene Kunst also nicht einfließen kann in ein Produkt, das man dann auch begutachten kann, dann bleibt das eine sehr einsame Kunst. Ich hatte das Gefühl, dass ich sozusagen wie ein junges Pferd im Stall mit den Hufen scharre und rausgelassen werden möchte. Dieses Gefühl der Kraft habe ich wirklich gespürt und war deswegen frustriert und unglücklich, als ich dann auf der Bühne des Theaters in der Josefstadt nicht mehr diese Rollen bekam, die ich mir vorgestellt hatte und die ich für mich als angemessen empfand. Aber damit muss man halt einfach fertig werden: Man muss diesen Schrecken in Energie umsetzen. Ich glaube nämlich, es kostet genauso viel Energie, unglücklich zu sein, wie zu versuchen, glücklich zu sein. Wobei ich hier "glücklich" durchaus in Anführungszeichen setzen möchte. Oechsner: Das ist natürlich auch eine wichtige Erfahrung, aus der man dann neue Kraft schöpfen kann. Berger: Für mich war das eine sehr wichtige Erfahrung. Ich finde ja, dass Misserfolge gerade am Anfang einer solchen Karriere gar nicht so schlecht sind, weil man dann gleich sieht, wie es ist in diesem Beruf - oder wie es überhaupt im Leben ist. Im Leben gibt es einfach Wellen, die runter und rauf und runter und rauf gehen. Manchmal sitzt man ganz unten und dann muss man halt schauen, dass man wieder nach oben kommt. Oechsner: In Ihrem Buch gibt es eine ganz tolle Szene, als Hollywood in Ihr Leben tritt. Man denkt beim Lesen: Das kann ja nur ein Filmdrehbuch sein, das kann doch in der Realität nicht so abgelaufen sein. Da fuhr nämlich plötzlich ein Auto hinter Ihnen her – aber vielleicht könnten Sie das selbst ein wenig ausführlicher erzählen? Berger: Na ja, es war so. Ich hatte direkt nach der Ankündigung, dass mein Vertrag am Theater nicht verlängert werden würde – das war zwar kein Rausschmiss, aber schlimm genug – all meine Frustration, meine Wut und meinen Zorn und auch meine Tränen, die ich runtergeschluckt hatte, in eine Aktion gesteckt, die folgendermaßen aussah: Ich fuhr nach Hause und suchte dort nach einem ganz bestimmten Foto, das die Theaterfotografin von mir gemacht hatte. Und dann bin ich damit in das große Filmstudio in Wien gefahren, zum Rosenhügel. Dort wollte ich dann einem Aufnahmeleiter oder irgendjemandem dieses Foto in die Hand drücken und sagen: "Ich bin jetzt frei, verstehen Sie? Durch Zufall frei! Wann immer irgendwer so jemanden wie mich braucht: Geben Sie ihm bitte dieses Foto!" Das war natürlich unglaublich naiv, aber andererseits stand das eben auch für meinen Glauben, dass es schon irgendwie weitergehen würde. Und es ist ja auch weitergegangen. Dieses Foto ist dann auf dem Schreibtisch eines amerikanischen Schauspielers gelandet, nämlich auf dem Schreibtisch von , der gleichzeitig Produzent seines ersten eigenen Films war. Dieser Film spielte in Wien in der Zeit des Kalten Kriegs: In dieser Geschichte ging es um Kommunisten und Amerikaner und Ungarn, als damals der Aufstand in Ungarn niedergeschlagen wurde. Ich fuhr also eines Tages mit meinem Freund vom Strandbad nach Hause und gondelte da so mit dem Fahrrad im, wie man heute sagen würde, Freizeitlook die Hauptstraße lang, als auf einmal dieses Auto stehen blieb und dann stieg dieser Mann aus. Ich erkannte, dass das Richard Widmark war. Er kam auf mich zu und sagte: "Ich habe Ihr Foto auf meinem Schreibtisch liegen!". Er sprach natürlich Englisch: "I have your photo on my desk, young lady!" Er lud mich zu Probeaufnahmen ein und ich bekam auch tatsächlich diese Rolle. Das war der Anstoß zu der, wie Sie vorhin gesagt haben, internationalen, genauer gesagt amerikanischen Karriere. Oechsner: In Amerika arbeiten zu können, war damals sicherlich ein Traum. Berger: Ja, schon, aber ich neige immer mehr dazu, dieses Wort nicht zu mögen. Das ist ja auch wirklich etwas ganz Merkwürdiges. Zuerst einmal denkt man ja: "Das kann gar nicht passieren! Du wirst doch nicht mit 18 Jahren aus purem Zufall diese Rolle bekommen!" Aber dann gewöhnt man sich doch ganz schnell daran. Warum? Weil man einfach arbeitet, weil man gefordert wird durch diese Arbeit, sodass man gar keine Zeit mehr hat, über irgendeinen Traum nachzudenken und ob das alles jetzt wirklich Wirklichkeit ist. Nein, das wird alles ganz schnell Wirklichkeit. Man ist ganz schnell Kollegin. Von dir wird etwas verlangt und man selbst darf auch etwas verlangen und z. B. sagen: "Darf ich das bitte noch einmal versuchen?" Das wird also ganz schnell Alltag, guter Alltag, provokativer Alltag. Oechsner: Wie hat das denn diese kleine, enge Welt, die Sie vorhin beschrieben haben, aufgenommen, als Sie plötzlich und durchaus sichtbar ein amerikanischer Star wurden? Sie sollten ja sogar, wenn ich mich recht erinnere, in den USA als "Wiener Sexbombe" verkauft werden. Berger: Wissen Sie, das war ja damals das Lieblingswort der Presse überhaupt. Es gab kaum eine junge Schauspielerin, die nicht mindestens einmal mit diesem Attribut versehen worden ist. Irgendwie war das natürlich auch ein Kompliment. Eine wie Marilyn Monroe sein? Natürlich! Sophia Loren und Brigitte Bardot, das waren ja alles "Sexbomben". Bitte schön, wenn ich denn auch so beschrieben worden bin, dann hat mich das im Grunde genommen nicht gestört. Das hat mich erst dann gestört, als ich gesehen habe, dass es da eben auch die Gefahr der Reduzierung auf dieses Wort, auf dieses Image gibt und dass mich das in meiner Entwicklung beschneiden kann. Und das war ja auch tatsächlich so, bis ich mich dagegen gewehrt habe. Aber als ich mit 18 Jahren das gelesen habe, war ich ein bisschen amüsiert: "Pah, jetzt bin ich auch schon groß! Jetzt bin auch ich eine Sexbombe! Tatsächlich!" Das hat mich also eher verwundert. Meine Eltern haben das alles gar nicht so wahrgenommen, denn meinen Eltern war immer nur wichtig, dass ihr Kind glücklich ist. Ihre erste Frage war immer: "Geht es dir gut? Bist du glücklich?" Und Richard Widmark? Sie konnten ja noch nicht einmal seinen Namen richtig aussprechen. Sie wussten überhaupt nicht, wer das war. Als ich dann später mal einen Film mit gemacht habe und wieder zurück nach Wien kam und davon erzählte, war meine Mutter vollkommen unbeeindruckt davon, denn "Kirke Duglas" kannte sie einfach nicht. Ihr war, wie sie auch immer wieder gesagt hat, einfach wichtig: "Gehst schon wieder zurück zum Theater, gell? Du bist mir halt doch auf der Bühne am liebsten!" Damit hatte sie einfach auch Recht. Denn auf der Bühne war das Ganze unverstellt: Sie war mir einfach näher, wenn sie mich da oben gesehen hat. Oechsner: Sie lassen so nebenher alle möglichen großen Namen aus den USA fallen. Und Sie haben ja auch wirklich mit sehr vielen großen Stars gearbeitet. Wenn man Ihr Buch liest, dann kommt einem das vor wie ein Film-ABC. Sie haben also mit allen zusammengearbeitet, die Rang und Namen hatten bzw. immer noch haben: von bis Orson Welles. Berger: Ja, das mit Orson Welles war schon schön. Oechsner: Auch mit Peter Bogdanovich haben Sie gearbeitet. Berger: Mein Buch ist aber kein Name-Dropping-Buch. Oechsner: Nein, überhaupt nicht. Berger: Ich hasse es ja, wenn man immer mit Anglizismen so um sich wirft. Also, das ist kein Buch ... Oechsner: ... in dem nur Namen genannt werden. Und Sie erwähnen diese Namen schon gleich gar nicht, um damit anzugeben, denn das haben Sie auch gar nicht nötig, dazu haben Sie einfach viel zu viel erlebt. Berger: Vielen Dank. Genau zu dieser Aussage wollte ich Sie provozieren. Oechsner: Sie haben dann nach ungefähr fünf Jahren Amerika sausen lassen, obwohl Sie dort viele Filme gedreht hatten. Einige Dinge hatten Sie jedoch auch abgelehnt. Waren Sie da auch wieder frech oder nur naiv? Berger: Nein, da war ich dann schon vernünftig. Oechsner: Sie haben sich also auch da nicht alles gefallen lassen. Sie haben sich ohnehin nicht alles gefallen lassen, und von Männern schon gar nicht bzw. auch nicht von Männern. Nach fünf Jahren Hollywood haben Sie jedenfalls gesagt: "So, jetzt ist Schluss!" Warum haben Sie das gemacht? Denn an sich ist es ja schon ein Traum für viele Schauspieler, in den USA Fuß fassen zu können und eine internationale Karriere zu machen. Berger: Das kam einfach durch die gesellschaftliche Entwicklung in den sechziger Jahren, die eine sehr starke Polarisierung mit sich brachte. Diese Polarisierung hat man ja in Deutschland ganz stark beobachten können. In den USA jedenfalls hatte man mit dieser sehr starken Polarisierung auch im eigenen Land überhaupt nicht gerechnet. Entstanden, entflammt, entzündet hat sich das am Vietnamkrieg, der eine ganz klare und eindeutige Trennung in "Falken" und "Tauben", wie man das damals genannt hat, bewirkte. "Falken" waren: rechts, militant, aggressiv. "Tauben" waren: links, liberal, nach Verständnis suchend für die Situation dieses Landes namens Vietnam. Und die "Tauben" fragten natürlich auch: "Was macht unsere Armee überhaupt in Vietnam? Was machen wir dort?" Das war die entscheidende Frage. Und plötzlich bekamen die Filme, die vorher in den USA alle so im luftleeren Raum gespielt hatten, einen politischen Hintergrund. Davor hatte es diese verschiedenen Filmgenres gegeben: Da gab es die klassische Filmkomödie mit Rock Hudson und Doris Day usw.; es gab z. B. auch viele Filme, die den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg zum Inhalt hatten. Das war ja übrigens auch der Grund, warum in den fünfziger und sechziger Jahren so viele europäische Schauspieler in die USA geholt worden waren. Curd Jürgens und Max Schell hatten in den USA eigentlich immer eine Uniform an: Sie hatten immerzu Nazispione oder Nazioffiziere zu spielen. Mir selbst ist das zwar erspart geblieben, aber auch ich habe nie eine Amerikanerin spielen können. Ich spielte immer eine Tschechin, die in den USA lebt; eine Russin, die spioniert; eine israelische Widerstandskämpferin; eine Deutsche usw. Aber eine Amerikanerin ließ man mich nie spielen. Ich würde sagen, dass dann ab Mitte der sechziger Jahre die junge amerikanische Künstlergeneration damit begann, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Es gab plötzlich Filme über amerikanische Lebensverhältnisse! Über das College! Und es gab z. B. einen Film wie "M*A*S*H", also einen Film über die amerikanische Armee. Ein Film wie "The Graduate", also "Die Reifeprüfung", war ein Film über die amerikanische Familie und deren doppelte Moral. Und plötzlich gab es für mich keine Rollen mehr. Das heißt, es gab keine Rollen mehr, die mich wirklich interessiert hätten. Ich hätte natürlich schon noch eine ganze Menge Filme machen können, aber das, was ich selbst interessant fand, spielten dann eben die Jane Fonda oder die Julie Christie oder die Faye Dunaway. Ich war immer mit in der Auswahl, also beim Casting dabei. Ich war da auch immer unter den letzten drei Kandidatinnen und die Frage war immer: "Packst du das mit deinem Akzent? Bekommst du den weg?" Ich konnte das sehr wohl, denn ich habe ein musikalisches Ohr. Aber wenn ich dann gespielt habe und nicht mehr so stark auf mein amerikanisches Englisch geachtet habe, dann kam eben doch ganz stark dieser continental accent raus. Gut, nicht so stark wie z. B. bei Marlene Dietrich, die ja wirklich ihr Leben lang im Amerikanischen einen sehr starken deutschen Akzent gehabt hatte. Aber man hat dann eben nicht mehr wie damals noch für Ingrid Bergman - man sprach sie ja "Ingrid Börgmän" aus – oder für Marlene Dietrich entsprechende Rollen gesucht. Nein, ich musste jetzt in eine Geschichte hineinpassen. Und die Geschichten, in die ich hineinpassen sollte als Europäerin, haben mich nicht mehr interessiert. Ich war dafür einfach zu erwachsen geworden. Es kam damals überhaupt vieles zusammen: Ich war verheiratet und mein Mann machte bereits seine ersten Filme in Deutschland. Ich fand auch überhaupt das europäische Kino viel interessanter als das übliche Kino in Hollywood. In Europa hatte es im Kino ja auch wirklich einen Aufbruch gegeben: Es hatte in Frankreich die Nouvelle Vague gegeben, die dann auch das deutsche Kino inspiriert hat. In Deutschland wurde das halt ein bisschen plumper ausgedrückt mit dem Slogan "Opas Kino ist tot". Ich fand jedenfalls das europäische Kino viel interessanter und wollte dort mitspielen. Als ich dann einige sehr schöne Angebote aus Frankreich und Italien bekommen habe, ist es mir nicht schwergefallen, viele Schrankkoffer zu packen und nach fünf Jahren aus den USA wieder nach Europa zu kommen, mitsamt unseren Bildern und Tiffany-Lampen und all den anderen Dingen, die sich mit der Zeit so angesammelt hatten. Oechsner: Waren das im Nachhinein betrachtet für Sie verlorene Jahre oder hat sich das doch irgendwie gelohnt? Berger: Nein, das waren schon ganz wichtige Jahre. Ich war damals ja noch ein recht junges Mädchen mit Anfang Zwanzig: Dadurch jedoch, dass ich mich in den USA sehr viel in Emigrantenkreisen bewegt habe, habe ich sehr viel gelernt. Mit "Emigrantenkreise" meine ich z. B. Billy Wilder und seine Freunde, der sich ja als Amerikaner gefühlt hat und auch schon lange amerikanischer Staatsbürger war. Aber er war doch auch Berliner und Wiener und das konnte man ganz stark hören. Auch seine Lebensart zielte in diese Richtung. Oder nehmen Sie jemanden wie William Wyler: Er stammte aus dem Elsass und war ebenfalls Emigrant. Durch meinen Agenten Paul Kohner, der aus dem heutigen Tschechien kam, war ich sehr schnell in diesen Kreisen drin. Ich habe daher in den USA und damit aus der Distanz sehr viel früher als meine Altersgenossinnen sehr viel mehr über unsere jüngste Geschichte gewusst. Denn ich wurde ja tagtäglich quasi darauf geprüft. Ich musste einfach ganz genau wissen, worüber ich rede. Ich musste bestehen können in diesen Gesprächen. Ich konnte mich ja nicht einfach an die Wand drücken lassen, wenn man mir, wie das sehr, sehr oft vorgekommen ist, gesagt hat: "Dein Volk" – das war dann wirklich immer gleich "mein Volk" – "hat mein Volk umgebracht!" Das sagte mir z. B. Kirk Douglas, der sich sehr stark als Ukrainer fühlte und ursprünglich Issur Danielowitsch Demsky geheißen hat. Man musste da schon ganz genau Bescheid wissen, um aus solchen Attacken überhaupt erst einmal eine politische Debatte entstehen lassen zu können. Um dort also bestehen zu können, habe ich mich sehr viel früher, als ich das wahrscheinlich in Deutschland gemacht hätte, mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Oechsner: Sie kamen dann zwar nicht nach Deutschland, aber nach Europa zurück. Sie haben zunächst einmal in Rom gelebt und in italienischen, in französischen und deutschen Filmen gespielt. Ich habe am Anfang absichtlich nur mal summarisch zusammengefasst, was Sie alles gemacht haben in Ihrem Leben als Schauspielerin. Bei den vielen, vielen Produktionen, die Sie gemacht haben, wird es ja vermutlich auch "Lieblingskinder" geben, von denen Sie sagen: "Das ist ein Film, den ich auf keinen Fall missen möchte! Und diesen hier auch nicht!" Dazwischen gibt es vielleicht auch Filme, die man halt macht, weil man gerade eine Rolle gesucht hat... Berger: ... weil man die Miete bezahlen muss. Oechsner: Welche Filme möchten Sie denn auf keinen Fall missen? Welche Filme waren für Sie besonders wichtig? Berger: Ich fürchte, dass meine Antwort für Sie vielleicht nicht ganz so interessant sein könnte. Dennoch sage ich: Die Filme, die ich selbst produziert habe, sind die Filme, die mir am nächsten sind, weil sie mich auch am stärksten, am intensivsten begleitet haben, weil sie mich geprägt haben. Michael und ich haben bereits Ende der sechziger Jahre eine kleine Filmproduktion gegründet, um eigene Stoffe verwirklichen zu können, Stoffe, die wir gerne im Kino sehen wollten. Ich nenne mal die bekanntesten Filme, die dabei entstanden sind, obwohl wir sehr viele andere auch noch gemacht haben. Wir haben nämlich auch einige Leonhard-Frank-Romane für das ZDF verfilmt, die ich wunderschön finde. Aber zu den bekanntesten Filmen zählt doch z. B. dieser Film mit Heinz Rühmann und Mario Adorf: "Gefundenes Fressen". In diesem Film spielt Rühmann einen Penner und Adorf einen Polizisten: Sie treffen sich und wollen beide ihr Leben tauschen, weil jeweils der eine glaubt, dass der andere frei sei. Und wir haben natürlich auch "Die weiße Rose" gemacht. Dieser Film hat mich bereits in der Vorbereitungszeit durch viele, viele Jahre hindurch beschäftigt, auf das Intensivste, auf das Schönste beschäftigt. Natürlich hatten wir auch immer große Ängste, ob unsere Filme auch wirklich ein Publikum finden werden, ob wir die aufgenommenen Hypotheken zurückzahlen können usw. Das alles spielt natürlich mit, wenn ich sage, dass mir diese Filme am nächsten sind. Zu diesen Filmen zählt z. B. auch "Das schreckliche Mädchen", das in den USA so großen Erfolg hatte. Es war vorgeschlagen für den Oscar und den Golden Globe und hat den New York Film Critics Circle Award bekommen, der immerhin der feinste Preis ist, den man sich in den USA überhaupt nur wünschen kann. Das sind wirklich Erfahrungen, die ganz tief sitzen in mir. Ich träume heute noch von den Ängsten damals – aber auch von den Freuden. Zu den Freuden gehört sicherlich "Die schnelle Gerdi". Das sind eigentlich schon meine Lieblingskinder. Sie hätten jetzt vielleicht gerne etwas anderes hören wollen, aber jetzt habe ich halt das gesagt. Oechsner: Nein, ich war jetzt einfach nur gespannt darauf, was Sie sagen werden. Denn man kann sich ja vieles denken, wenn man sich die Liste der Filme ansieht, die Sie alle gedreht haben. Dass das alles aber jeweils sehr viel mit Ihrer eigenen Biographie zu tun hatte, war sehr interessant zu erfahren. Berger: Ganz stark im Gedächtnis sind natürlich all die Sachen geblieben, die in einer Zeit passierten, als ich noch sehr stark beeindruckbar war als junger Mensch. Ich kann mich z. B. noch ganz genau an meine erste kleine Sprechrolle im Film erinnern, den ein Deutscher inszeniert hat, nämlich Hans Quest, obwohl das ein österreichischer Heimatfilm war: "Die Lindenwirtin vom Donaustrand". Da kann ich noch den ganzen Text: "Gnä' Frau, die Hendln sind da!" Das war mein erster Satz im Film. Oechsner: Von dieser Szene ist in Ihrem Buch ja auch ein Foto drin. Berger: Ja, das stimmt. Oechsner: Sie haben vorhin gesagt, dass Sie Ihre Mutter besonders gerne auf der Theaterbühne gesehen hat, weil Sie ihr dabei einfach näher waren. Sie haben dann ja auch wieder viel und gerne Theater gespielt, als Sie aus den USA wieder zurück waren. Sie haben dabei an den großen, deutschsprachigen Theatern gespielt. Was war denn für Sie der Unterschied zwischen dem Theater und dem Kino? Warum sind Sie immer wieder zurück zum Theater gegangen? Berger: Nun, ich komme ja vom Theater und insofern ist das eben nicht so abwegig. Ergeben hat sich das alles eigentlich mehr oder weniger zufällig durch die Salzburger Festspiele. Ich kam mit Mitte Dreißig aus Italien zurück, um in Salzburg im "Jedermann" mit Curd Jürgens die Buhlschaft zu spielen. Das war aber nicht nur eine Heimkehr nach Österreich, das war auch eine Heimkehr in meine eigene Sprache. Mir ist das damals nämlich sehr stark aufgefallen: dass ich Theater spiele in meiner eigenen Sprache, dass ich meine eigene Sprache wiedererkenne als erwachsene Frau! Denn ich hatte gleichzeitig auch ein kleines Kind, dem ich gerade seine Sprache, nämlich meine Sprache, beibrachte. Das war ganz abenteuerlich schön und sehr aufregend für mich. Ich habe dann auch begonnen, in Salzburg noch während der Festspiele meine ersten Rezitationsabende zu machen. Daraus haben sich dann mehr oder weniger logisch weitere Angebote ergeben. Ich glaube, das Engagement am Thalia Theater in war dann das erste. Danach ging ich nach ans Schillertheater, das damals eben noch nicht geschlossen war. - Wenn ich daran denke, dass dieses Theater dann geschlossen wurde nach der Wende! Ein absoluter Wahnsinn! - Und am habe ich dann eben auch gespielt. Das Schöne am Theater für mich war immer, dass man jeden Abend in Nuancen etwas Neues macht. Man hält zwar einerseits etwas fest, das man bereits ausprobiert hat: Man bricht ja nicht aus jeden Abend und macht jedes Mal etwas ganz anderes. Nein, ich meine damit Folgendes: Innerhalb dieser Verabredung mit der Inszenierung und den Kollegen kann man immer etwas ausprobieren. Man geht nach einer Vorstellung nach Hause und denkt nach, ob das nun dem eigenen Eindruck nach eine geglückte oder nicht so ganz geglückte Vorstellung gewesen ist, denn der starke Applaus am Ende der Vorstellung ist ja nicht immer der Gradmesser für die Güte eine Aufführung. Es gibt da schon auch noch andere Kriterien: Man spürt einfach, ob es eine geglückte oder weniger geglückte Vorstellung war. Man denkt also nach und kommt dann womöglich darauf: "An dieser oder jener Stelle könntest du noch etwas leiser sein! Denn die Leute hören dir auch dann noch zu. An dieser anderen Stelle muss die Pause etwas länger sein, weil das dann einfach vom Rhythmus her besser ist, weil dann die Spannung stärker wächst, was ich sagen werde. Das werde ich morgen ausprobieren!" Ich finde das wunderbar. Oechsner: Merkt es eigentlich Ihre Umgebung, wenn Sie eine neue Rolle einstudieren? Merken das Ihr Mann, Ihre Kinder? Ziehen Sie sich dann zurück? Berger: Nein, sie merken das nicht so direkt. Aber wenn es sein muss, dann ziehe ich mich schon auch mal ins Badezimmer zurück. Aber sonst merkt das bei mir zu Hause eigentlich niemand. Wir sind natürlich auch eine Familie, in der dieser Beruf etwas ganz Alltägliches ist. Dass ich Lampenfieber habe, dass ich nervös bin und Angst habe, das merkt man schon, das wissen auch alle. Sie versuchen auch immer, mir das auszureden, obwohl sie natürlich sehr gut wissen, warum ich Angst habe. Denn man kann halt auch abstürzen, man kann nicht immer fliegen: Man lernt im Leben, dass man vom Fensterbrett halt auch runterfallen kann. Oechsner: Aber Sie sind keine Schauspielerin von der Schule, nach deren Diktum man zuerst einmal ein halbes Jahr Taxi fährt, wenn man eine Taxifahrerin spielt. So etwas machen Sie also nicht. Denn das gibt es ja auch: Schauspieler, die sich auf diese Weise auf eine Rolle vorbereiten. Berger: Wir haben damals für "Die Schnelle Gerdi" wirklich sehr gut recherchiert. Wir hatten drei Taxifahrerinnen, deren Biographien wir dann ineinander verwoben haben. Bei diesen drei Frauen gab es immer den gleichen Ansatz. Alle drei haben gesagt, dass ihnen eine normale bürgerliche Existenz schlicht ihre Kraft rauben würde und dass sie deswegen ihr eigener Herr sein wollten. Genau das haben wir dann ganz stark in die "Gerdi" einfließen lassen. Aber deswegen musste ich nun nicht gleich den Taxischein für München machen. Die Recherche war selbstverständlich sehr, sehr wichtig, das ist klar. Andererseits entsteht aber auch sehr vieles aus der Beobachtung, aus der Phantasie, und genau das kann dann ganz stark sein. Gut, wenn ich meinetwegen eine Hebamme spielen würde, dann sollte ich schon wissen, welche Handgriffe ich da zu machen hätte. Ich muss zwar nicht selbst ein Kind zur Welt bringen, aber belehren lassen würde ich mich in dieser Richtung dann schon. Oechsner: Sie haben nun bereits ein paar Mal Ihren Mann erwähnt: Das ist ja eine weitere Erfolgsgeschichte in Ihrem Leben. Sie sind seit 40 Jahren verheiratet bzw. in diesem Jahr im September werden es 40 Jahre sein, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Berger: Wieso sollen Sie das überhaupt in Erinnerung haben? Hauptsache, ich habe es in Erinnerung. Oechsner: Ich muss mich ja doch ein bisschen vorbereitet haben auf Sie. Wenigstens ein bisschen. Berger: Na gut. Oechsner: Wenn man den Statistiken glauben kann, ist es ja heute ohnehin eine ungewöhnliche Zeitspanne, 40 Jahre mit dem gleichen Partner verheiratet zu sein bzw. zusammengelebt zu haben. In Ihrem Beruf dürfte das eher noch erstaunlicher sein. Was ist denn das Geheimrezept dafür? Wie haben Sie das hinbekommen? Berger: Ich glaube, dass der Beruf auch eine große Klammer ist. Oechsner: Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Berger: Ja? Ich weiß es nicht. Ich glaube jedenfalls, dass das sehr starke gemeinsame Interesse, die große Liebe zu und die Leidenschaft für dieses Medium Film bzw. Theater und überhaupt für Sprache etwas ganz Schönes ist, wenn man das teilen kann. Wenn aus diesem gemeinsamen Interesse allerdings möglicherweise eine Art von Konkurrenzdenken erwachsen würde, dem man dann nicht mit Humor oder Ironie begegnet, dann könnte das schwierig sein. Aber das hat es ja bei uns nie gegeben. Mein Mann hat mich immer ermutigt: Er war und ist heute immer noch stolz – das ist jetzt vielleicht ein dummes Wort – auf mich, er freut sich über meinen Erfolg. Er freut sich sehr darüber, er freut sich vielleicht sogar ein bisschen mehr als ich, weil ich selbst ja immer so voller Zweifel bin und immerzu frage: "Wirklich? Hat es dir wirklich gefallen? Findest du das wirklich gut? Denkst du nicht, ich hätte da noch etwas anders, besser machen sollen?" Denn das ist ja ein ständiger Dialog, den ich da mit mir selbst führe. Ich bin nicht so besoffen von mir, dass ich das ständig und immer machen würde, aber wenn ich mitten in einer Arbeit stecke, dann gibt es diesen Dialog mit mir selbst sehr stark. Ich bin also mein eigenes Korrektiv und das ist auch ganz gut so: Ich glaube, es ist schon in Ordnung, wenn man sich selbst immer wieder erdet. Oechsner: So eine Beziehung lebt aber selbstverständlich nicht nur von den hehren Momenten, in denen man über die Kunst nachdenkt, sondern auch und vor allem vom Alltag. Berger: Das ist natürlich vollkommen richtig. Ich hatte das nur deswegen gesagt, weil Sie meinten, der Beruf würde uns trennen. Ich wollte demgegenüber erwähnen, dass wir halt nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Mein Mann ist Autor, Produzent und Regisseur und ich bin Schauspielerin und schon auch noch Produzentin – dies aber in einem ganz anderen Maße als mein Mann. Und sonst? Was soll ich Ihnen sagen? Wir lieben uns. Punkt. Oechsner: Und es hat nie so richtig geknallt mit Türen zuschlagen, mit dem Ausruf "Jetzt reicht's mir, jetzt gehe ich!" usw.? Berger: Türenknallen hat es selbstverständlich gegeben, denn das gehört ja alles auch mit dazu. Und so einen dummen Satz wie "Dann kann ich ja gehen!" habe ich sicherlich auch schon mal gesagt. Natürlich hat es auch solche Geschichten gegeben wie beleidigte Leberwurst spielen usw. oder solche Vorwürfe wie: "Du hättest vielleicht gar keine Familie haben dürfen!" Denn wenn mein Mann schreibt, dann schreibt er. Am Anfang habe ich nicht wirklich begriffen, dass er seine Ruhe nicht nur braucht, sondern dass er sie auch sucht und dass das nicht ein Zeichen von Vernachlässigung oder Desinteresse an den anderen schönen Dingen des Lebens ist. Nein, das macht ihn einfach glücklich. Ich glaube, es gehört einfach mit dazu, dass wir uns so weit respektieren und kennengelernt haben und auch ganz realistisch einschätzen können, was am Gegenüber nicht zu ändern ist, was einfach so bleiben wird. Die Frage ist dann halt nur: Kann man das aushalten oder kann man das nicht aushalten? Oechsner: Es geht also einfach um diesen gegenseitigen Respekt. Berger: Ja, und auch darum, dass man das aushalten möchte. Denn ich halte ihn ja wirklich für einen tollen Kerl – wenn ich das mal so sagen darf. Oechsner: Trotzdem staune ich immer noch darüber. Denn wenn man sich die Statistiken anschaut, dann stellt man fest, dass es nicht mehr allzu viele Menschen gibt, die so lange zusammenbleiben. Berger: Gut, das hat aber sicherlich auch noch sehr viele andere Gründe. Ich weiß noch, dass es in meiner Klasse damals auf dem Gymnasium – was ja schon lange her ist! – nur ein einziges Kind aus einer geschiedenen Ehe gegeben hat. Als mein zweiter Sohn Luca im Gymnasium war, war er eines der ganz wenigen Kinder, die aus einer intakten Familie kamen. Und auch in meiner eigenen Familie bin ich die einzige Frau, die noch verheiratet ist. Alle meine Cousinen sind geschieden oder von Haus aus allein erziehend. Das bedrückt mich, denn das Leben ist nicht schön, wenn man es nicht mit jemand anderem teilen kann. Es ist ein großes Glück, dass ich das kann, das weiß ich. Ich glaube, dass sich meine Mutter, die mit meinem Vater nicht immer nur eine glückliche Ehe geführt hat, deshalb nicht hat scheiden lassen von ihm, weil sie alleine nicht hätte existieren können. Eine Frau hatte damals noch keinen Beruf, meine Mutter hatte keinen eigenen Beruf und daher auch kein eigenes Einkommen. Als Straßenbahnschaffnerin hat man sie damals nämlich nicht genommen, weil sie nur 1,54 Meter groß gewesen ist und sie deswegen nicht an das Klingelseil gekommen ist, das es damals noch gegeben hat. Sehr viel an Versorgung hat heute einfach der Staat übernommen: Dies macht es heutzutage Frauen leichter, sich zu trennen. Sie können sich heute sagen: "Das muss ich mir nicht mehr gefallen lassen. Ich muss dich nicht deswegen heiraten, weil ich schwanger bin von dir! Ich kann das auch alleine schaffen und ich schaffe das auch alleine! Und ich freue mich auch alleine auf das Kind!" Es gibt da allerdings auch die kompliziertesten Biografien und deswegen sollten wir das hier nicht zu arg vereinfachen. Auf jeden Fall ist es doch so, dass heute sehr viele Aufgaben von der Gesellschaft, vom Staat übernommen werden, die früher ausschließlich von der Ehe geleistet werden mussten. Oechsner: Das ist richtig. Damit sind wir bei der Gesellschaftspolitik angekommen – und damit auch bei der Tatsache, dass Sie sich immer wieder auch politisch engagiert haben. Sie haben vorhin schon von Ihrer Zeit in den USA erzählt und davon, dass und wie Sie damals politisiert worden sind. Sie haben sich dann aber auch in Deutschland politisch engagiert. Sie haben sich damals z. B. für eingesetzt, Sie haben sich in die damalige Abtreibungsdebatte sehr stark eingemischt, Sie haben sich für Asylanten eingesetzt und setzen sich bis heute für sie ein. Warum tun Sie das? Denn das machen ja nicht alle Schauspieler so. Berger: Ob das nun am Beruf des Schauspielers liegt, weiß ich nicht. Es gibt halt immer und in jedem Beruf Menschen, die sich interessieren für den Staat, in dem sie leben, und welche, die sich nicht dafür interessieren. Denjenigen, die sich dafür interessieren, ist die Tatsache, dass sie alle vier Jahre zur Wahl gehen und ihre Stimme abgeben, einfach zu wenig und deswegen engagieren sie sich auch sonst auf diesem Gebiet. Vielleicht hat das auch mit der Liebe zu tun, die man für sein eigenes Land empfindet. Ich kann das bei mir eigentlich ohnehin nicht so genau sagen: Ich kann nämlich nicht so genau unterscheiden zwischen meinem Vaterland Deutschland und meinem Mutterland Österreich. Ich weiß das gar nicht so genau, denn für mich verwischen sich hier die Grenzen doch sehr. Ich finde es aber auch ganz schön so: Ich brauche diese beiden Temperamente einfach, wobei man sagen muss, dass sie ohnehin nicht so weit auseinander liegen. Ich glaube jedenfalls, dass mir dieser sehr lange Auslandsaufenthalt zuerst in Amerika, dann in Frankreich und Italien geholfen hat, aus der Distanz zu erkennen, wie wichtig jemand wie Willy Brandt für Deutschland eigentlich gewesen ist. Denn er hatte einen wunderbaren Ruf im Ausland und er war auch der erste Politiker, der für sich quasi eine Sprache gefunden hat, der also nicht nur in Klischees und in Floskeln gesprochen hat. Nein, man hörte wirklich auf ihn, man horchte auf, wenn er sprach: Er berührte einen, er brachte einen auch in Verlegenheit. Ich empfand also bereits zu der Zeit, als ich noch im Ausland lebte, diesen Willy Brandt als sehr wichtig für Deutschland. Als ich dann gefragt worden bin, ob ich in die Wählerinitiative gehen möchte, habe ich gesagt: "Ihr müsst wissen, dass ich nicht immer in Deutschland lebe. Aber ich mache das gerne, denn ich bin davon überzeugt!" Das hat mir dann aber auch eine große Kontroverse mit deutschen und österreichischen Landsleuten eingebracht, weil sie gesagt haben: "Was mischt die sich denn überhaupt ein? Die lebt doch hauptsächlich in Italien! Wieso votiert die in der Öffentlichkeit für Kreisky?" Denn bei Kreisky hatte ich eine ganz ähnliche Motivation wie bei Willy Brandt: Ich war von diesen beiden Männern als Politikern wirklich ganz stark überzeugt. Und genau das habe ich dann eben in der Öffentlichkeit auch gesagt. Nun, Deutschland ist natürlich genauso polarisiert wie Österreich. Wir haben ja bei der letzten Wahl gesehen, dass es auf der einen Seite die Roten und auf der anderen die Schwarzen gibt. Aber diese beiden Lager gibt es ja eigentlich schon immer. Gut, dann gibt es immer noch ein Zünglein an der Waage und das ist auch gut so. Man macht sich mit seinen politischen Äußerungen bei einigen Leuten natürlich nicht sehr beliebt, das stimmt. Trotzdem sollte man meiner Ansicht nach auf eine eigene Meinung nicht verzichten. Es ist ja nicht so, dass ich sie penetrant vor mir hertragen würde. Aber wenn ich dazu befragt werde, dann sage ich sie auch – und fühle mich dabei wohler, als wenn ich sie verschweigte - sagt man überhaupt "verschweigte"? Oechsner: Verschwiege. Berger: Ich wollte auch gerade sagen, das heißt doch "verschwiege". Oechsner: Aber man wird es schon verstehen. Ich dachte jetzt, das sei Österreichisch. Berger: Wirklich? Bitte, vielleicht ist es das. Oechsner: Wenn ein "normaler" Mensch arbeitet, dann geht er irgendwann in Rente. Das hat, wie ich mir denke, zumindest einen ganz wichtigen Vorteil: Da ich selbst ja auch eines Tages in Rente gehen werde, muss ich mir überlegen, dann endlich etwas zu machen, was ich in meinem Leben immer schon hatte machen wollen, wozu ich aber nie gekommen bin. Ich kann dann also etwas ganz Neues, etwas ganz anderes machen. Sie werden nicht in Rente gehen, weil Sie auch noch in zehn und zwanzig Jahren eine großartige Schauspielerin sein werden. Gibt es trotzdem auch für Sie so etwas ganz anderes, das Sie in Ihrem Leben noch gerne machen würden? Vielleicht mit Ihrem Mann zusammen oder auch alleine? Berger: Na ja, vielleicht gehe ich ja doch in Rente. Ich weiß es nicht so genau. Ich habe schon gesagt, dass mich diese Zahl "65" doch mehr beeindruckt hat, als ich gedacht hatte. Denn jetzt wird das Leben doch überschaubar. Gut, ich hätte diesen Gedanken auch schon vor fünf Jahren haben können, aber da hatte ich ihn einfach noch nicht. Jetzt jedoch denke ich mir: "Na, noch 15 Jahre?" Das wäre ja schon ein großes Glück. Mal sehen. Oechsner: Wenn Sie daran denken, wie alt Ihre Mutter geworden ist, dann haben Sie noch ein paar Jahre mehr vor sich. Berger: Ja, meine Mutter wurde tatsächlich 98 Jahre alt. Aber meine Mutter war auch ein ganz anderer Mensch: Ich bin da schon ein bisschen schwieriger. Ich würde in der Tat gerne reisen mit dem Michael. Ich würde mich gerne mehr für karitative Ziele engagieren, als ich das bereits mache. Denn meine Popularität – ich meine das jetzt ganz uneitel – kann auch eingesetzt werden für einen guten Zweck. Sie ist also nicht nur dafür da, dass man irgendwo auf der Warteliste oder in einem Restaurant einen besseren Platz bekommt. Ich engagiere mich heute für "Plan International" und habe jetzt gerade gemeinsam mit dieser Organisation ein Programm mit dem Namen "Weil wir Mädchen sind" entwickelt. Dabei geht es um die Zurücksetzung der Mädchen nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in Europa. Es ist nämlich so, dass gerade bei wirtschaftlichen Flauten - egal, ob es sich dabei um ein westlich-zivilisiertes Land wie z. B. Deutschland handelt oder um ein Land, das nicht so genau weiß, ob es zu Europa gehören will oder nicht wie z. B. die Türkei – die Mädchen sofort, direkt und eins zu eins die Arbeitslosigkeit des Vaters abbekommen. Denn sie gehen dann einfach nicht weiter zur Schule, sie werden dann meinetwegen als Verkäuferin oder als Friseurin arbeiten oder sie heiraten sehr früh. Demgegenüber sagt man bei den Söhnen bis heute immer noch: "Nein, das ist doch ein Mann, der muss eines Tages seine Familie ernähren, der braucht einen Beruf." Der wird deswegen weiter zur Schule geschickt! Oechsner: Frau Berger, jetzt geht es uns wie Ihnen in Ihrem Buch: Wir bringen das alles gar nicht mehr unter. Berger: Schade, wo es doch gerade interessant wird. Oechsner: Beim nächsten Gespräch können wir da ja anknüpfen. Berger: Es war natürlich auch vorher schon interessant. Aber vielleicht mache ich in Zukunft wirklich mehr in dieser Richtung, die ich soeben angesprochen habe. Oechsner: Ich danke Ihnen ganz herzlich. Es war sehr spannend Ihnen zuzuhören. Berger: Danke für Ihr Interesse. Oechsner: Das war eine neue Ausgabe von alpha-forum. Unser Gast war heute Senta Berger.

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