7. Max Reger – Das Geistliche Lied Als Orgellied – Eine Gattung Entsteht
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143 _________________________________________________________________________ 7. Max Reger – Das Geistliche Lied als Orgellied – eine Gattung entsteht Unter meiner Begleitung,1 Lebensdevise und Anspruch an sein unmittelbares, partnerschaftliches Verhältnis mit den Sängerinnen und Sängern, die Max Reger für seine Lieder in langatmiger Prozedur auszusuchen pflegte, macht deutlich: Im Lied – mit Klavier- oder Orgelbegleitung –, weltliches oder geistliches Lied, ist der bestimmende Partner nicht der Vokalsolist sondern der begleitende Max Reger; Tausch der Rollen, so scheint es um das Lied mit dem Organisten der Jahrhundertwende zu stehen, Max Reger steht dafür; die Kritik bescheinigt ihm höchste Fähigkeiten, die in Begleitung als Leitung, die in den Partner mitreißende, motivierende, ja zwingende Kraft Gestalt finden. Wenige Uraufführungen sind nachweisbar: Mit dem Bariton Joseph Loritz musiziert Reger am 26. Januar 1902 die Zwei Geistlichen Lieder ohne opus-Zahl (1900) Wenn in bangen, trüben Stunden und Heimweh (Erlöserkirche München-Schwabing), eine frühere Interpretation ist nicht bekannt; sie stehen zwischen den beiden Uraufführungen der Choralfantasie Halleluja! Gott zu loben op. 52/3 und der Symphonischen Phantasie und Fuge op. 57 für Orgel. Jungvermählt, ein dreiviertel Jahr nach der kirchlichen Trauung mit seiner Frau Elsa, geschiedene von Bercken, geb. Bagenski, schreibt er den Trauungsgesang Wohl denen ohne opus-Zahl für mittlere Stimme und Orgel; das Geistliche Lied kommt durch Elsa und Max Reger gemeinsam zur Uraufführung, am 19. September 1903 (Ev. Kirche Berchtesgaden, Trauung der Eheleute Oskar und Berthel Sensburg). Viermal verbringen die Regers ihren ausgedehnten Sommerurlaub, zunächst allein, später mit beiden Adoptivkindern, in Kolberg an der Ostsee. Das erste der beiden Geistlichen Lieder op. 105 (1907) Ich sehe dich in tausend Bildern musizieren Martha Eichenberger (Sopran) und Reger am 27. August 1907 (Kolberger St. Mariendom), das zweite Meine Seele ist still zu Gott erklingt mit der Altistin Gertrud Fischer-Maretzki am 5. Mai 1910 (Reinoldikirche Dortmund), knapp drei Jahre dazwischen, in denen Tief und Hoch im privaten Umfeld neue Kräfte für Großwerke freisetzten. Überdies konnte sich Reger zum ersten großen Fest seines Namens in Dortmund (Mai 1910) als Höhe- und Mittelpunkt der musikalischen Szene fühlen. Allein diese Auswahl der Geistlichen Lieder Max Regers lassen folgendes Bild zu: - Das Geistliche Lied (Solostimme/n und Orgel) der Jahrhundertwende steht in seinem künstlerischen Anspruch, seinem kompositorischen Gesicht, in seiner für beide Duopartner höchsten emotionalen Anforderung in Richtung eines idealen Verschmelzungsgrades einem sichtbaren, eigenständigen und unverzichtbaren Stellenwert innerhalb des reichen Schatzes an Orgelmusik gegenüber; Begriff, ja Gattung entsteht. - Bei dieser von Reger geforderten Qualität an Vokalsolisten ist deren Auswahl (auch je nach Charakter der Lieder) allererste Prämisse! - Zählen wir die für Karl Straube und Max Reger so schicksalsträchtige Begegnung in der Frankfurter Paulskirche hinzu (Regers Besuch von zwei Orgelkonzerten Straubes am 29.3. und 1.4.1898), so werden in den daraus resultierenden Zwei Geistlichen Gesängen Passionslied und Doch du ließest ihn im Grabe nicht op. 19 (Ende April 1898) die Bezüge zwischen eigener Biographie, körperlich-seelischer Verfassung und Auseinandersetzung um Wort und Musik deutlich. - Unmittelbar darauf kehrte Reger von Wiesbaden nach Weiden zurück. Ich will schaffen,2 waren seine Worte bei der Wiederbegegnung mit seinem früheren Lehrer 144 _________________________________________________________________________ Adalbert Lindner; dieser Schaffensdrang hatte stets das Nebeneinander von Großform und Kleinform zum Inhalt, von gegenseitiger Befruchtung darf gesprochen werden. - Der exzellente Pianist Reger wird gerühmt, mit wenigen Ausnahmen, der hochsensible Klavierbegleiter („ein zarteres Piano habe ich nie gehört“)3 zu sein. Im Vergleich zur Klavierbegleitung wissen wir ihn nur selten als Organist, Improvisator, als Interpret von Orgelmusik sowie Orgelbegleiter – so dürfte die Priorität sein. Um so wichtiger sind uns die entsprechend bekannten Kirchen mit ihren Orgeln, um Symptomatisches für Klangbild, Struktur (Manualwechsel), Schwellbarkeit, Phrasierung, Akzidentien der Geistlichen Lieder zu gewinnen, damit ihren Charakter zu definieren. Um mit dem Geistlichen Lied eines Max Reger, oder weiter gefaßt um Max Reger (so der Titel des ersten Bandes zur Editionsreihe Das Geistliche Lied) einen ersten Höhepunkt wie die hiermit angestoßene Entwicklung in das 20. Jahrhundert hinein aufzeigen zu können, bedarf es einer eingehenden Analyse aller Symptome für den sich festigenden Begriff; eine Art Modul mündet dann in die Gattung Geistliches Lied. 7.1. Das Geistliche im Lied Die geistlichen Aspekte im Lied, ihre Wurzeln, ihre Herkunft im Individuum Komponist wie dessen spirituelle Heimat sind im folgenden Gegenstand der Erörterung. 7.1.1. Der religiöse Mensch Die Umbruchzeit der Jahrhundertwende begründet den einen Aspekt im Geistlichen des Liedes, m. E. muß der Mensch Max Reger in seiner religiösen Erziehung, seinem Leben und Wirken für das (Geistliche) Lied beleuchtet werden. Generell ist zu betonen, daß Reger in seiner Zwiespältigkeit als Mensch und Künstler, Pädagoge und Organisator, sein kirchenmusikalisches Schaffen insgesamt auf religiösem Fundament baut. Es ist nicht das Entscheidende, den katholischen (so erzogenen) Menschen einem protestantischen Komponisten gegenüberzustellen, sondern seine absolute Überlegenheit bei der Qualitätsfindung des lutherischen Chorals wie sein Leben in diesem zu entdecken: Ein nach außen oftmals im Exzeß Erscheinender vernahm in Einsamkeit (er konnte sie kaum ertragen) Kraft, Ausstrahlung, Tiefe, Trost und Glück, Chance für heute und morgen; dies alles vornehmlich in stets neu aufbrechender schmerzlicher Auseinandersetzung mit dem Werk Johann Sebastian Bachs, synchron zu seinen Lebenskrisen (Bach das A und O aller Musik). Der Vorwurf an den Protestantismus – „sie wissen nicht, was sie an ihrem Choral haben“4 – gilt auch noch heute, ist zudem herausragendes Indiz für seine Verarbeitung des Choralmaterials. Wenn der Ausspruch Elsa Regers seine Gültigkeit hat, daß ihr Mann vom Schöpfer empfängt, was er anschließend an die Musik abgibt, dann hier: Oftmalige Gefühle des Scheiterns, Phasen des Glückes lassen seine Seele sprechen. Der Chronologie nach wird op. 19 ein dreifaches Reagieren sein: Die einschneidende persönliche wie künstlerische Begegnung mit Karl Straube fiel in die Kirchenjahreszeit von Hochpassion und Ostern, ebenso seine unmittelbar einsetzende kompositorische Arbeit; seine erste große, vielleicht schlimmste Lebenskrise mit physisch-psychischem Zusammenbruch trieb dem Höhepunkt zu, und schließlich sein Entwicklungsweg von Gottesdienst und Ritus des katholischen Elternhauses (schon als 13-jähriger katholischer Orgeldienst in Weiden) hin zur Öffnung, später zur engen Bindung an den evangelischen Choral! Christi Leiden und Sterben, des Menschen eigene Vergänglichkeit, beides findet sich wie ein roter Faden durchgängig in Regers Oeuvre. Das Passionslied enthält Orgelzitate des Liedes Es ist das Heil uns 145 _________________________________________________________________________ kommen her (Dichter: Paul Speratus; er schrieb das Trostlied 1523 aus dem Kerker an seine Gemeinde, mit dessen Gesang 1535 in Württemberg die Reformation erzwungen worden sein soll) wie das Vokalzitat von O Haupt voll Blut und Wunden (Dichter: Paul Gerhardt, von dessen fünf Kindern vier nach den Wirren des 30-jährigen Krieges starben). Das zweite Lied Doch du ließest ihn im Grabe nicht (Zitat aus dem Messias von G. F. Händel) zitiert zweifach: Herzliebster Jesu (Dichter: Johann Heermann, 1630 im Krieg entstanden), in Sopran-, Tenor- und Baßlage, und wiederum Es ist das Heil uns kommen her, variantenreicher als im ersten Lied. In Ergänzung und Abänderung zur einzigen mir bekannten Kurzbetrachtung5 wird die Choralbehandlung Regers noch zu spezifizieren sein. Im Anschluß an den Choralfantasien-Zyklus op. 52 (u. a. Alle Menschen müssen sterben) entstehen im Oktober 1900 seine Zwei Geistlichen Lieder ohne opus-Zahl: Ist es die Angst vor erneutem Rückfall in den Jahren zwischen Wiesbaden und München, schaffensreich besonders im Orgel- und Liedbereich, daß sowohl in Wenn in bangen, trüben Stunden (Novalis) als auch in Heimweh (Julius Sturm) Ewigkeits- und Friedenssehnsucht in wunderbar plastisch-bildhafter Wort-Ton-Sprache gelingen? Karl Hasse nennt solchen vollendeten Ausdruck innerlich seelisch Erlebtes5. Seufzer von kleiner Sekunde, quasi Himmelsfarbe G-Dur, das Auf und Ab des Lebensschiffes auf den Meereswogen, dramaturgischer Ausdruck seiner Lyrik. Das Spektrum geistlichen Inhaltes weitet sich. Das Trauungslied Befiehl dem Herrn deine Wege (Psalm 37/5) für Sopran, Alt und Orgel (UA am 3. August 1902 im Ulmer Münster durch die Solistinnen Scheerer und Stutenrieth, den Organisten Karl Beringer) ist kurz vor Regers Verlobung mit Elsa von Bercken entstanden, auch ihr gewidmet. Im Mittelpunkt steht die Hoffnung auf einen guten gemeinsamen Lebensweg, gewiß symbolisiert u. a. durch zwei Solostimmen, einen verklärten Farbtupfer (Orgel) vor dem einmündenden verdichtenden Schlußteil. Das zweite trauungsbezogene Geistliche Lied Wohl denen: Lebenswandel als harmonisches Labyrinth beruht auf Psalm 119, dem umfangreichsten Lied im Psalter. Wohl denen, die ohne „Wandel“ leben (Reger), ... die ohne „Tadel“ leben (Psalmtext)