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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Titel, Ehrung, Nazi-Gold ewinn ist gut, aber nicht alles“, sagte einst Hermann Josef Abs, der legendäre GVorstandssprecher der Deutschen Bank. Und wie denkt darüber Rolf-Ernst Breuer, der demnächst diesem mächtigen Institut vorstehen soll? Beim Mittagessen mit spiegel-Leuten im 34. Stock des Frankfurter Bankhauses erwies sich der bald einflußreichste Mann des deutschen Geldgewerbes als einer, der streng auf Rendite und Aktienkurs ach- ten wird. Das Wirtschaftsbild Breuers und seine Er- fahrungen mit den Kapitalmärkten der Welt flossen ein in die Titelgeschichte über den neuen Aktienkult und die Massenarbeitslosigkeit, den die Redakteure Ulrich Schäfer und Gabor Steingart schrieben (Sei- te 92). Mit den Aktien-Analysten, jener geheimnis- vollen Truppe, die mit ihren Kauf- oder Verkaufs- empfehlungen Milliarden bewegt, beschäftigte sich

der Berliner spiegel-Mann Jan Fleischhauer (Seite SCHUMANN / DER SPIEGEL F. 104). Gleichsam die Gegenseite, die für die Inve- Schäfer, Steingart storenbetreuung zuständigen Manager der Groß- konzerne, befragte Finanzkorrespondent Christoph Pauly, sein Kollege Rüdiger Jungbluth untersuchte das wissenschaftliche Konzept des „Shareholder-value“, modische Zauberformel von der Steigerung des Aktionärsvermögens (Seite 98). Sie hatten sich so etwas schon gedacht, aber dann waren die spiegel-Leute doch über- rascht: Bei ihren Gesprächen mit den Wirtschafts- und Finanzgrößen war ständig von Wachstum die Rede – nur für die Schaffung von Arbeitsplätzen fühlte sich nie- mand so recht verantwortlich. Abs hatte das noch anders gesehen: „Die Wirtschaft wird an ihren Leistungen für die Gesellschaft gemessen.“

ine Goldmedaille für Zeitschriftentitel gab es diesmal nicht Ebei der Medien-Olympiade des „Art Directors Club für Deutschland“ (ADC) letzte Woche in – eine silberne ging an das Titelblatt-Team des spiegel. Der ADC-Preis genießt hohes Ansehen, ihren Erfolg holten sich die Titelbildgestalter Thomas Bonnie, Ursula Morschhäuser und Oliver Peschke mit der Frontseite des spiegel 11/1996: „Das Netz – Die Welt online“.

it sich selbst standen die Schweizer immer im reinen: So gut wie sie war sonst Mkein Volk auf Erden. Doch inzwischen ist die Selbstgefälligkeit, mit der sich das Alpenland der verdorbenen Welt präsentiert, stark erschüttert – seit herauskam, wie eng einst die Geschäfte mit dem NS-Regime waren. Es geht um Nazi-Raubgold und die Vermögen von Holocaust-Opfern, aber auch um die Behandlung jüdischer Flüchtlinge oder die Lieferung von KZ-Baracken. Wie sehr sich das Bild nun ge- wandelt hat, erfuhr spiegel-Autor Siegfried Kogelfranz in Washington bei einem Besuch des US-Senators Alfonse D’Amato, der sich besonders hartnäckig um die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels bemüht (Seite 162).Auf dem Computer-Bild- schirm des D’Amato-Bürochefs Gregg Rickman flimmerte der Schirmschoner-Text: „Bye, bye, Iran, Libya, Switzerland“ – die Biedermänner im Verein mit Staatster- roristen. „Die Schweizer Banken“, so der deutschstämmige Washingtoner Anwalt Michael Hausfeld zu Kogelfranz, „sollen keinen Cent behalten, der ihnen nicht gehört.“ Schwer vorstellbar, daß es so ausgeht: Bis vor kurzem noch reagierten die derart Attackierten mit schroffer Arroganz. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg erläutert im spiegel-Gespräch (Seite 179) diesen Reflex: „Wer gewohnt war, die Geschichte als eine Art kaltes Buffet zu betrachten, von dem man holt, was ei- nem schmeckt, der schluckt das nicht.“

der spiegel 12/1997 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Aktienboom und Arbeitslosigkeit – die Börse belohnt die Jobkiller ...... 92 Zauberformel Shareholder-value ...... 98 Die Analysten der Deutschen Bank...... 104

Deutschland Panorama: Zahlentricks für Maastricht / Bundesanstalt für Arbeit registriert Scientology ...... 16 Regierung: Sieg der Konsensgesellschaft ...... 22 Gewerkschaften: Bergarbeiterführer Hans Berger...... 24 SPD: spiegel-Gespräch mit Oskar Lafontaine über den Kohle-Kompromiß und die Regierung ...... 26 Sozialkonflikte: Subventionen verzögern den Wandel...... 28 Die letzte Zechenstillegung verändert das Leben in Lünen ...... 30 Der plötzliche Widerstand gegen die Bonner Regierung ...... 31 DPA Steuern: Die FDP bedient ihre Klientel...... 33 Bergarbeiter-Demonstration in Düsseldorf Spionage: Verfassungsschutz gegen CIA...... 34 CDU: spiegel-Gespräch mit Kurt Biedenkopf über sein Modell einer Grundrente...... 37 Karrieren: Ein Grüner ohne Öko-Visionen Kumpel Lafontaine trumpft auf Seiten 22, 26 regiert im Konstanzer Rathaus...... 49 Jubiläen: Rudolf Augstein zu Der Protest der Bergarbeiter hat die Regierung noch einmal zurück in die alte Hans-Dietrich Genschers 70. Geburtstag ...... 56 Konsensgesellschaft gezwungen. SPD-Chef Oskar Lafontaine fühlt sich als Sieger Familienrecht: Die Nöte im Kampf der Kumpel. Im spiegel-Gespräch fordert er von der Koalition nun auch prominenter Politiker...... 63 bei der Steuerreform Kompromisse. Die höheren Einkommen der „Weltmeister Justiz: Wie sich Egon Krenz im Berliner im Suchen nach Schlupflöchern“ will der SPD-Chef stärker belasten als bisher. Politbüro-Prozeß verteidigt...... 66 Prozesse: Teure Rechtsfindung im Verfahren gegen acht Bernauer Polizisten...... 76 Kommunikation: Geheimdienste wollen verschlüsselte elektronische Nachrichten mitlesen...... 80 Vorsicht, Freund hört mit Seite 34 Umwelt: spiegel-Streitgespräch zwischen Bundesumweltministerin Angela Merkel und Fast drei Jahre forschten CIA-Agenten einen Ministerialbeamten über deutsche Iran- Greenpeace-Chef Thilo Bode...... 82 Geschäfte aus – die Bonner Regierung tat sich mit Konsequenzen schwer. Jetzt gibt Sprache: 3000 neue Wörter für den es Indizien dafür, daß viele US-Agenten hierzulande Konzerne ausspionieren. Die deutschen Osten ...... 88 deutschen Dienste wollen das wilde Treiben der amerikanischen Freunde unterbinden.

Wirtschaft Trends: Neuer Partner für die Lufthansa / Gesamtmetall-Chef fordert neue Tarifpolitik... 91 Handel: Der Machtkampf bei Karstadt ...... 106 Welche Spielräume hatte Krenz? Seite 66 Digital-TV: Die Zuschauer bleiben aus...... 107 Medien: RTL-Chef Thoma über Boxen Ein „gewaltiges Stück Welt- im TV / „Liebe Sünde“ sucht Verlag...... 109 geschichte“ stehe vor dem Bahn: Der Staatsbetrieb will Berliner Landgericht, meint Strecken streichen ...... 112 der Angeklagte Egon Krenz. Euro: Siemens prescht vor...... 114 Im Politbüro-Prozeß gegen vier führende Parteifunk- Gesellschaft tionäre will die Staatsanwalt- Szene: Vom Nutzen des Vergessens / schaft dagegen nur nachwei- Streit um Spaniens Kampfstiere...... 117 sen, daß der letzte DDR- Kindesmißbrauch: Schlampereien der Staats- und Parteichef „hin- belgischen Justiz im Fall Dutroux...... 120 reichend Spielräume“ gehabt Unterhaltung: In einer „Kopier-Bar“ habe, um die Schüsse an der können Gäste CDs bespielen ...... 134 Aberglauben: Elfenspuk als Berliner Mauer zu verhindern. Den Touristenattraktion...... 136 Angeklagten Günter Scha- bowski, der eine moralische Sport Mitschuld einräumt, ärgert die Abrechnung mit der vor Fußball: Bodo und Bianca Illgners lukrative Arbeitsteilung bei Real Madrid...... 138 / OSTKREUZ RÖTZSCH J. sieben Jahren untergegange- Eishockey: Wie ein Klubchef sein Amt Angeklagter Krenz nen DDR: „Alles Kokolores.“ für Privatgeschäfte mißbraucht ...... 144

6 der spiegel 12/1997 Ausland Belgiens „nationale Tragödie“ Seite 120 Panorama: Rußlands Angst Der Kinderfänger von Charleroi, der vor den Taliban / Der Kampf gegen mutmaßliche Mörder Marc Dutroux, die Militärdiktatur in Nigeria ...... 147 war keineswegs nur ein psycho- Albanien: Am Rande der Anarchie ...... 148 pathischer Einzeltäter: Im Brüsseler Nato: Interview mit dem ehemaligen Bosnien-Unterhändler Richard Holbrooke Untersuchungsausschuß, der jetzt über die Ost-Erweiterung ...... 151 seine Anhörungen beendete, kamen Nahost: Attentat auf den Friedensprozeß ..... 154 Spuren in ein weitverzweigtes Netz Sekten: Scientology gegen die von Pädophilen ans Licht, zu denen US-Finanzbehörde ...... 157 Spitzen der belgischen Gesellschaft Zaire: Pater Léopold Tanganagba gehören. Teile der Justiz gerieten über die Rebellion in seiner Heimat...... 160 in Verdacht, bei der Suche nach Ägypten: Nilwasser für die Wüste...... 161

SYGMA verschwundenen Kindern sträflich Schweiz: Geschäfte mit den Nazis ...... 162 Verhafteter Dutroux geschlampt zu haben. spiegel-Gespräch mit dem Schriftsteller Adolf Muschg über die Selbstgerechtigkeit der Eidgenossen ...... 179

Wissenschaft + Technik Scientologen-Druck auf Washington Seite 157 Prisma: Fallende Lebenserwartung US-Richter geißelten den Kult in Rußland / Energieeinsparung durch helle Dächer? ...... 185 als „korrupt und gefährlich“, Hirnforschung: Vier Speicher für der Fiskus fürchtete die Aus- die Gedächtnisinhalte...... 186 beutung von Mitgliedern – Boten der Erinnerung...... 188 auch in den USA haftete der Computer: Bücher mit sich Church of Scientology ein änderndem Inhalt...... 192 schlechter Ruf an. Zeugen ent- Schatzsuche: Inka-Gold am hüllten jetzt, wie die Sciento- Meeresgrund?...... 194 logen es dennoch schafften, Tiere: Werkzeuge von Vögeln ihre Anerkennung als Kirche und Insekten ...... 196 und damit ihre Steuerbefrei- Evolution: Warum wird der ung durchzusetzen. Ein trick- Mensch krank? ...... 198 reicher Sekten-Feldzug gegen Automobile: Neuer V6-Motor

Washingtons Steuerbehörde K. KULISH / SABA von Mercedes...... 204 wurde inszeniert. Scientologen-Hauptquartier in Los Angeles Kultur Szene: Rapperkrieg in den USA / Übersetzerprotest auf der Leipziger Buchmesse ...... 207 Wie das Gedächtnis arbeitet Seite 186 Kunst: Katharina Sieverding vertritt Deutschland bei der Biennale in Venedig ...... 212 In vier verschiedenen Datenspeichern hortet das Menschenhirn Erinnerungen. Bei Kino: Wieder „Star Wars“ ...... 215 der Ein- und Ausgabe passieren die Informationen ein kompliziertes Leitungsnetz. Film: „Das Leben ist eine Baustelle“...... 216 Schon winzige Störungen können riesige Löcher ins Gedächtnis reißen. Interview mit Regisseur Wolfgang Becker ..... 217 Stars: Muß Liedermacher Konstantin Wecker ins Gefängnis? ...... 220 Theater: Die „Dreigroschenoper“ in Moskau ...... 224 Schloßfräulein als Racheengel Seite 236 Verlage: Turbulenzen im Haus des Zürcher Verlegers Gerd Haffmans...... 226 Den Illustrierten galt sie als Autoren: Das literarische Testament „Romantik-Frau“ mit „süßem eines völlig Gelähmten...... 228 Schmollmund“ – nach ihrem Bestseller...... 229 Erfolg in der TV-Adelsserie Pop: Späte Anerkennung für die Bee Gees ... 232 „Schloß Hohenstein“ schien Nachruf: Jurek Becker...... 234 die Schauspielerin Sophie von Schauspieler: Sophie von Kessel trotzt Kessel für immer festgelegt ihrem blaublütigen TV-Image ...... 236 aufs Burgfräulein-Fach. Nun Fernseh-Vorausschau...... 246 probt sie nicht nur im Theater den Ausbruch aus dem Kli- schee, sondern beweist auch als grimmiger Racheengel in Briefe ...... 9 einem ZDF-Fernsehspiel, daß Impressum...... 14, 240

S. ROCK / FOTEX sie mehr zu bieten hat als Register...... 242 Schauspielerin von Kessel bloß ein schönes Gesicht. Personalien ...... 244 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 250

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Werbeseite Briefe „Wird der spiegel auf seine alten Tage religiös, oder wie ist der ,Sündenfall‘ zu verstehen? Es liegt in der Natur der Medizin, Machbarkeitsdenken zu verkörpern – ohne diese Haltung würden wir Krankheit fatalistisch hinnehmen müssen.“ Dr. P. Markus Deckert aus New York zum Klon-Titel

Dinge erforscht und auch viele Technolo- Auf dem inhumanen Trip gien entwickelt. Aufgabe des Arztes hin- (Nr. 10/1997, Titel: Der Sündenfall – Wissenschaft auf gegen ist es, Krankheiten oder Krank- dem Weg zum geklonten Menschen) heitsfolgen zu heilen oder zu lindern und entsprechend auf bestimmte Maßnahmen Die Aufregung um Dolly kann ich nicht zurückzugreifen, die hierzu sinnvoll sind. teilen. Die ganz richtige Frage eines Jesui- Wir behandeln in unserer Klinik nur Ehe- ten-Paters, ob ein Mensch und sein Klon paare. Eizellspenden, Samenspenden und wohl dieselbe Seele haben, behandelt doch dergleichen nehmen wir nicht vor: „Jung- genau den Punkt, der hier im- frauengeburten“ und ge- mer wieder nicht gesehen bärende Greisinnen gibt es wird: Ist meine Seele denn an unserer Klinik nicht. ausschließlich von dem be- München Priv.doz. Dr. W.Würfel stimmt, was ich körperlich frauenklinik Dr. W. Krüsmann bin? Fühlen sich die Klone der Natur, eineiige Zwillinge, denn Machen wir uns nichts vor. als ein Individuum? Natürlich Fast alles, was denkbar ist, ist nicht! Mit dem Absprechen auch Wirklichkeit geworden. der persönlichen Willensfrei- Der Mensch spielt mit allem, heit sind wir doch schon selbst und wenn das Klonen ein auf dem inhumanen Trip! Spiel bleibt, dann macht sich Neuberend (Schlesw.-Holst.) der Mensch zum Gott des Le- Andreas Jäger SPIEGEL-Titel 10/1997 bens. Es gibt nur einen Rich- ter: das Fragen nach dem Sinn Mit etwas Nachdenken wären Ihnen si- und nach der Verantwortung.Wie glücklich cherlich auch einige berühmte Frauen für wäre mancher Patient, mit Hilfe einer Ihr Titelbild eingefallen, doch das war wohl phantasievollen verantwortlichen Wissen- gar nicht die Intention. Schade, daß der schaft am Leben erhalten zu werden. Das spiegel seine gesellschaftliche Aufgabe, ein 11. Gebot würde vielleicht heißen: „Du anderes, zeitgemäßes Frauenbild zu ver- sollst nicht verantwortungslos klonen.“ mitteln, so wenig ernst nimmt. Marl (Nrdrh.-Westf.) Horst Schmidt Riede (Nieders.) Dr. Beate Hoecker In Ihrem Bericht hat man immer wieder Aus gutem Grund dagegen den Eindruck, daß sich die Würde des Men- (Nr. 9/1997, Panorama und Nr. 10/1997 schen offensichtlich von seiner Herkunft Zeitgeschichte: Empörung in München über die her definiert. Mit anderen Worten: ist man Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“) geklont, so verliert man diese Würde. Dem ist strikt entgegenzutreten. Die Würde des Die Ausstellung wird nicht nur von der Menschen definiert sich schlichtweg aus CSU und in München angegriffen. Der seiner Existenz und nicht aufgrund seiner frühere Bundeskanzler Schmidt hat sich Herkunft. Alles andere ist quasi „Her- von dieser Veranstaltung genauso deutlich kunftsrassismus“. Und bitte verwechseln distanziert wie Bundespräsident a. D. Dr. Sie nicht Ärzte mit Grundlagenforschern. Richard von Weizsäcker in Berlin. Profes- In der Grundlagenforschung werden viele sor Christian Meier, langjähriger Vorsit-

Vor 50 Jahren der spiegel vom 15. März 1947

SED mit 1,6 Millionen mitgliederstärkste Partei SED-Funktionäre wer- ben für Verschmelzung mit Westzonen-Kommunisten. US-Präsident Tru- man fordert Hilfe für Griechenland und Türkei gegen kommunistische Machtbestrebungen Stalin ruft Botschafter zurück. Ostflüchtlinge hof- fen weiterhin auf Rückkehr Polen sieht Oder-Neiße-Grenze als sicher und erlebt wirtschaftlichen Aufschwung. Expedition von US-Admiral Byrd Eisfreie Seen im Antarktisgebiet entdeckt. Tübinger und Heidelber- ger Studententage Politische Zurückhaltung soll aufgegeben werden. Das Titelbild: Moderne katholische Kirche in Amerika – Musizierende Nonnen

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Werbeseite Briefe zender des Verbandes der Historiker deutsche Volk“, wenn man die Gesichter Deutschlands, schreibt sogar von einer der Mörder zeigt? Nicht wenige der ehe- „haarsträubenden demagogischen Aus- maligen Wehrmachtsoldaten sind gewiß stellung“. Niemand bestreitet ernsthaft, aus gutem Grund gegen diese Ausstellung. daß es unter der Wehrmachtsverantwor- Wer wird schon gern von den eigenen Kin- tung auch schwere Kriegsverbrechen ge- dern auf den Exponaten wiedererkannt. geben hat. Den Ausstellern wird vorge- Berlin Christian Schnebel worfen, daß sie deutsche Soldaten in ihrer Gesamtheit – die Gefallenen, die Überle- benden, die Kriegsversehrten und die Auf schnellere Erfolge gehofft langjährig Gefangenen – generell herab- (Nr. 8/1997, Außenpolitik: Das Auswärtige Amt würdigen und faktisch auf eine Stufe mit sieht schwarz für Bosnien) Kriegsverbrechern stellen. In ihrem „Aus- stellungs-Katalog“ ereifern sie sich, daß Trotz Verzögerungen und Rückschlägen ist „Millionen deutsche und österreichische Bosnien kein „absoluter Mißerfolg“ wie beschrieben. Die Wiederauf- bau-Programme der interna- tionalen Gemeinde geben den Bosniern greifbare Ergebnisse und eine Chance für die Zu- kunft. Nach nur einem Jahr des Friedens sind wichtige Straßen und Brücken repa- riert, der Flughafen von Sara- jevo wieder offen für den zi- vilen Flugverkehr, 23000 Häu- ser und Wohnungen instand- gesetzt, und in 31000 Wohnun- gen gibt es wieder Heizungen. Kurz, die bescheidenen Ziele des Wiederaufbaus im ersten Jahr – die Wirtschaft anzukur- beln und Beschäftigung zu schaffen – sind im großen und

DPA ganzen erreicht worden. Sie Wehrmachtsausstellung im Münchner Rathaus schreiben, daß die Weltbank Was sollen die Verrenkungen gewisser Politiker? aufgrund ihrer Vertrautheit mit traditioneller Entwick- Soldaten“ zu Unrecht von der Geschichts- lungsarbeit schlecht vorbereitet sei für die wissenschaft „freigesprochen“ worden sei- komplexen Bedingungen in Bosnien. In en. Dieses Urteil wollen die Ausstellungs- Wirklichkeit haben wir äußerst schnell rea- macher jetzt auf ihre Weise nachholen. Sie giert und Projekte im Wert von 1,2 Milli- widersprechen mit dieser kollektiven Ent- arden Dollar in ganz verschiedenen Berei- ehrung Urteilen aller ehemaligen Kriegs- chen wie Infrastruktur, Gesundheit, Land- gegner Deutschlands, die der Haltung deut- minenbeseitigung,Arbeitsbeschaffung und scher Soldaten auch nach dem Krieg im- Flüchtlingsrückkehr vorbereitet. Wir ha- mer wieder höchste Anerkennung zollten. ben im ersten Jahr 205 Millionen Dollar München Dr. Peter Gauweiler von den zur Verfügung stehenden 357,6 Millionen Dollar an günstigen Krediten Die Ausstellung bestätigt doch nur, daß es ausgegeben. Vielleicht haben wir alle auf keinen anständigen Krieg gibt, daß Krieg schnellere Erfolge gehofft. Die Herausfor- vielmehr ein unbeschreiblicher Horror ist derung für 1997 liegt darin, den Prozeß und daß der seinem Gewissen folgende auszuweiten und zu beschleunigen und Be- und sich einem Tötungsbefehl verweigern- dingungen herzustellen, die eine Rückkehr de Soldat wie ein Schwerstverbrecher be- der Flüchtlinge auf breiter Basis erlaubt. straft wird. Das ist Fakt.Was sollen also die Paris Christine L. Wallich Verrenkungen gewisser Politiker? Weltbank Siegen Brigitte Gaschler Die gesammelten Peinlichkeiten der CSU Bestätigte Echtheit haben mit dem momentanen Nazi-Schmu- (Nr. 10/1997, Affären: Versteigert Sotheby’s sekurs einen neuen Höhepunkt erreicht. Schmuggelware?) Daß eine demokratische Partei derart hart- näckig historische Fakten ignoriert, läßt Das Bild „Die Heilige Familie“ von dem politisches Kalkül vermuten. Wieso ei- Maler Wtewael habe ich im Schaufenster gentlich hat der Schutz der Täter hierzu- eines öffentlichen Ikonengeschäfts in Ber- lande immer noch mehr Gewicht als Ge- lin Schöneberg entdeckt. Da ich das Bild zu rechtigkeit für die Opfer? Und wieso ist es kaufen beabsichtigte, gab man es mir, gleich ein „Vernichtungskrieg gegen das zwecks Begutachtung durch einen Spezia-

12 der spiegel 12/1997 listen im Museum Dahlem, mit. Dort wur- de die Echtheit des Bildes bestätigt, und man informierte mich über seine Herkunft. Die Polizei beschlagnahmte das Bild. Nach zirka 4 Monaten gab mir der Staatsanwalt das Bild offiziell zurück mit der Begrün- dung, daß Anspruch von Dritten nicht er- mittelbar wäre. Einige Tage später bekam ich einen Brief vom Berliner Kultursenator mit der Mitteilung, das Bild stehe auf dem Deutschen Index (Ausfuhrverbot für na- tionales Kulturgut). Ich gab es an den Be- sitzer, nämlich das Ikonengeschäft, zurück. Wochen später erfuhr ich, daß das Aus- fuhrverbot für das Bild aufgehoben worden war, was mir völlig unverständlich ist. Sie sehen, ich bin ein Kunsthändler und habe mit „Hehlerei“ nichts zu tun. Berlin Holger Martin

Eine schmerzliche Wahrheit (Nr. 10/1997, Europa: Der Brite Andrew Gimson über die falschen Versprechungen des Helmut Kohl)

Recht hat der Brite Gimson, aber was soll man in Deutschland anderes erwarten. Das Volk ist durch eine dekadente und kor- rupte Politikerkaste mit Opiaten wie „Weiter so Deutsch- land“ oder „Modell Deutschland“ seit Jahren stillgestellt worden. Kritisches Denken hat man durch ein gutes Ge- fühl, sprich: hohe So- zialleistungen, ver- bannt. Aber was soll man in Deutschland erwarten: Ein voller

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. Bauch denkt eben Gimson nicht gern. Blähun- gen oder der Ruf nach einem „starken Mann“ machen dann gern die Runde. Windhagen (Rhld.-Pf.) A. Teusch

Wenn im Kanzleramt Aufregung herrscht, so hat das seine triftigen Gründe. So tref- fend wie Gimson hat noch kaum jemand den Kanzler und seine Konsorten gekränkt und beleidigt.Warum ist die Beleidigung so gründlich? Dazu muß man die psychologi- schen Grundlagen der„Beleidigung“ ken- nen. Eine Beleidigung wird nur dann schlimm, wenn sie eine schmerzliche Wahr- heit ausspricht.Wenn man behauptet, Mo- zart sei unmusikalisch, Ludwig Erhard in Wirtschaftsfragen ahnungslos oder Arnold Schwarzenegger ein Mickerling, würde man den „Beleidiger“ nur auslachen, er sei ein Dummkopf und nicht ernst zu neh- men. Wenn man aber einem Lügner sagt, daß er bloß ein Lügner sei, ist das eine sehr böse Beleidigung, die sehr ernst genom- men wird und die echt weh tut. Kehl Zoltan T. Egey

der spiegel 12/1997 Briefe Bewirken tut das nichts (Nr. 10/1997, Norwegen: Der letzte intakte Sozialstaat) Die Anzahl Verkehrsflughäfen in Bezug zur Bevölkerung zu setzen, gibt ein schmei- chelhaftes, aber schiefes Bild. Norwegen hat immerhin eine Küstenlänge von 2600 Kilometern und ist somit das Land in West- europa mit der größten Ausdehnung in eine Richtung. Bei den Untersee-Tunneln zu den Inseln darf man sich auch nicht gera- de aufwendige Bauwerke wie den Elbtun- nel vorstellen, sondern ein bergmännisch in den Granit getriebenes Loch mit einer asphaltierten Straße drin. Dietzenbach Stein SjØlie

Man bekommt den Eindruck, daß sich das Land in fast göttlichen Verhältnissen be- finden muß. Nun, ich studiere hier seit Au- gust 1995 und habe mir seitdem ein Bild von den Verhältnissen machen können.

H. OBERÜCK Das Land hat soviel Geld, daß es nicht Anlieferung eines Herzens für eine Transplantation: Der schönste Tag im Leben weiß, wohin damit. Und davon sieht man auch an einigen Stellen eine ganze Menge: Auf Ihre Frage: „Wann ist der Mensch Gewaltige Brücken- und Tunnelprojekte Nur eine ehrliche Antwort? wirklich tot?“ gibt es nur eine ehrliche Ant- verbinden kleinste Dörfer miteinander, (Nr. 10/1997, Medizin: Der Streit um den Hirntod wort: „Wenn alle seine Organe wirklich sind aber ökonomisch alles andere als sinn- und ein neues Transplantationsgesetz) tot sind.“ Diese aber kann man zur Trans- plantation nicht mehr gebrauchen. Fazit: Erst wenn der letzte Explanteur mit dem Organverpflanzung ist abzulehnen. letzten Assistenten wie auch alle OP-Hel- Neuenrade (Nrdrh.-Westf.) Helmut Sprenger fer in voller Überzeugung einen Organ- spenderausweis mit sich tragen und die ei- Sie machen unbefangenen Lesern die Hoff- gene Verwandtschaft bekniet und von der nung, daß man als Nicht-Organspender Sicherheit des Hirntodkriteriums sowie der und Hirntoter weiter leben wird. Tatsache Notwendigkeit einer Organspende über- ist: Auch dann wird nach 48 Stunden Null- zeugt haben werden, lasse ich mir den Hirnstromkurve das Beatmungsgerät ab- Bären aufbinden und glaube den ver- gestellt und der Mensch für tot erklärt. harmlosenden Metzgern im weißen Kittel, Wiesbaden Ulrich Hegenberg daß ein Sterbender ein Toter ist und nichts mehr wahrnimmt. Winkelhaid (Bayern) Wolfgang Zimmer Für Europa – gegen Euro (Nr. 10/1997, Leserbriefe zum Euro-Titel)

Diejenigen, die so sehr gegen Organtrans- K. BOSSEMEYER / BILDERBERG plantationen sind, sollten sich einmal in Da hat sich wohl der Druckfehlerteufel Straße in Norwegen die Lage eines Menschen versetzen, dessen eingeschlichen. Ich habe keine „Nein zu Wohin mit dem ganzen Geld? Leben von einem gespendeten Organ ab- Europa“-, sondern „Nein zu Euro“-Auf- hängt. Nach einer Organtransplantation kleber herstellen lassen. Für Europa bin voll. Und fast alle diese Brücken und Tun- aus der Narkose aufzuwachen und zu wis- ich allemal. nel sind gebaut für Autos, das Eisenbahn- sen, daß man wieder ein relativ normales Nürnberg Jürgen Hösl netz befindet sich in einem Zustand, der Leben führen kann, ohne ständig den ei- eher an ein Entwicklungsland erinnert. genen Tod vor Augen zu sehen, wird ver- Daß Norwegen Geld für den Umwelt- mutlich der schönste Tag im Leben eines schutz ausgibt, mag ja sein. Doch bewir- solchen Menschen sein. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe ken tut dies nichts. Beim Einkaufen wird für Panorama, Regierung, Gewerkschaften, SPD, CDU, Marbach a. N. Hendrik Berger Familienrecht: Dr. Gerhard Spörl; für Sozialkonflikte, Steu- der Motor ruhig mal länger laufengelas- ern, Trends, Titelgeschichte, Handel, Digital-TV, Medien, sen. Bahn, Euro: Armin Mahler; für Bergbau, Spionage, Pro- Grimstad (Norwegen) Alexander Stettin Es wäre doch so einfach: Bei Antrag für zesse, Kommunikation, Umwelt, Sprache: Heiner Schim- den Personalausweis kreuzt jeder an, ob er möller; für Szene, Unterhaltung,Aberglauben, Kino, Film, im Falle seines Hirntodes zur Organspen- Theater,Verlage, Bestseller, Pop, Nachruf, Fernseh-Voraus- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu schau: Wolfgang Höbel; für Belgien, Panorama Ausland, veröffentlichen. de bereit ist. Menschen, denen die Hirn- Albanien, Nato, Nahost, Sekten, Zaire,Ägypten, Schweiz, todregelung oder die Organspende suspekt Autoren: Dr. Romain Leick; für Fußball, Eishockey: Alfred Weinzierl; für Prisma, Hirnforschung, Computer, Schatz- In Heftmitte ist ein vierseitiger Beihefter von Lamy, ist, verweigern ihr Einverständnis. Wer suche, Tiere, Evolution, Automobile: Johann Grolle; für Heidelberg, in der Gesamtauflage beigeheftet. Der Ge- nicht bereit ist, Organe zu spenden, kommt namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, samtauflage dieser spiegel-Ausgabe ist eine Postkarte nach ganz unten auf die Transplantations- Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Man- der DKV Dt. Krankenversicherung, Köln, beigeklebt. fred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Hausmittei- Einer Teilauflage klebt eine Postkarte des spiegel-Ver- Wartelisten, falls er mal selbst ein Spen- lung: Hans Joachim Schöps; Chef vom Dienst: Thomas lages/Abo, , bei. Eine Teilauflage dieser spiegel- deorgan benötigt. Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTOS: action press; ap; dpa Ausgabe enthält eine Beilage der Günther Staatl. Lotte- Lübeck Stefan Friedrichsdorf rie, Bamberg, sowie der Bank 24, Bonn.

14 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Panorama W. STECHE / VISUM W. Autobahnausbau in Deutschland

SCHULDEN der Staat Etatbelastungen so nur in die Zu- kunft verschiebt, sie aber nicht vermeidet, muß er sie sich nach einer Entscheidung Mauscheln für den Euro des Statistischen Amts der EU bereits jetzt anrechnen lassen. undesfinanzminister Theo Waigel merlichen Leistungen der Sozialkasse zu Alle Bilanztricks aber wären vergebens, B(CSU) jongliert mit Milliarden-Beträ- verbessern, haben wenig Chancen. wenn sich eine interne Berechnung des gen, um die Schuldengrenzen des Maas- Mit einem zusätzlichen Aufschlag kann Bundeskanzleramts, Stand Ende Februar, tricht-Vertrages einhalten zu können. So Waigel auch bei der Bundesbank rechnen. bewahrheiten sollte. Danach würde die sollen ihm die zum Teil gewaltigen Über- Die Währungshüter haben etwa fünf Milli- Neuverschuldung bis Ende 1997 auf 4,15 schüsse der Sozialkassen und öffentlichen arden Dollar mehr als üblich im Tresor. Prozent ansteigen. In der jüngsten offiziel- Unternehmen helfen, das für den Euro- Beim Verkauf des Devisenschatzes entsteht len Stellungnahme hingegen spricht Bonn Start maßgebliche Limit staatlicher Neu- aus der Differenz des in der Bundesbank- von gerade mal 2,9 Prozent. Und die Brüs- verschuldung (drei Prozent des Bruttoin- Bilanz kalkulierten Dollar-Kurses und dem seler EU-Kommission geht derzeit von ei- landsprodukts) einzuhalten. tatsächlich etwa um 35 Pfennig höheren nem Haushaltsdefizit der Deutschen in Während in den Etats der Finanzminister Marktwert rechnerisch ein Extragewinn Höhe von 3,4 Prozent aus. große Löcher klaffen, bringt es die Ren- von 1,75 Milliarden Mark. Dazu kommt der Bei einer solchen Annäherung an das tenversicherung, dank einer kräftigen Bei- ohnehin erwartete Überschuß in Höhe von Drei-Prozent-Kriterium wäre es vertretbar, tragserhöhung zum Jahresbeginn, 1997 vor- rund zehn Milliarden Mark. so die Kommission, die Deutschen zur aussichtlich auf einen Überschuß von zehn Dafür wächst, zumindest in der Maastricht- Währungsunion zuzulassen. CDU/CSU- Milliarden Mark. Weitere knapp acht Mil- Rechnung, das öffentliche Defizit an ande- Fraktionschef Wolfgang Schäuble hat in liarden Mark erwartet Waigel aus Über- rer Stelle um vier bis fünf Milliarden Mark. der vergangenen Woche bereits erklärt, schüssen der Pflegeversicherung.Auch dort Etliche Straßenbauprojekte des Bundes und die „Richtmarke drei Prozent“ werde „dar- sind die Beitragseinnahmen in diesem Jahr der Länder werden, um die Staatskassen über entscheiden, ob wir den nächsten weit höher als die Ausgaben. Forderungen zu schonen, von privaten Geldgebern vor- Bundestagswahlkampf gewinnen oder Betroffener, mit dem Überschuß die küm- finanziert und erst später angekauft. Weil verlieren“.

SCIENTOLOGY bis Ende April „auf dem Dienstweg“ ihrer Nürnberger Zentrale mitteilen, daß sie die Kennzeichen „S“ „Eingabe“ vollzogen haben. Die Kennzeich- nung der Sekten-Betriebe, so der Präsident der etriebe, die „der Scientology-Organisation Bundesanstalt Bernhard Jagoda an sämtliche Bangehören“, werden seit Anfang des Jah- Dienststellen, sei „aus datenschutzrechtlicher res in allen Arbeitsämtern mit dem Kennzei- Sicht“ zulässig, da sie „der Aufgabenerfüllung“ chen „S“ erfaßt, sofern sie „amtlich bekannt- diene. Die Erlaubnis zum Speichern des Kenn- geworden“ sind. Ab Mitte des Jahres soll auch zeichens „S“ geht auf Arbeitsminister Norbert die Berufsberatung mit neuer Software ausge- Blüm zurück. Begründung: Scientologen-Be- stattet sein, so daß der Hinweis auf Scientolo- triebe besäßen nicht die „erforderliche Zuver- gy im EDV-Programm für alle Arbeitsvermitt- lässigkeit“ etwa für private Arbeitsvermittlung. ler erscheint. Welche Folgerungen aus der Kennzeichnung

Laut Rundschreiben der Bundesanstalt für Ar- DPA gezogen werden sollen, läßt das Schreiben der beit vom Dezember müssen alle Arbeitsämter Jagoda Bundesanstalt offen.

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VISUMPFLICHT SPIEGEL: Überlegungen, das Staatsbürger- Am Rande schaftsrecht zu reformieren, gibt es auch „Mehr Druck aus der bei jungen CDU-Bundestagsabgeordneten. Sehen Sie Chancen für parteiübergreifen- Literarischer Ausflug Gesellschaft nötig“ de Initiativen? ÖZDEMIR: Der Spielraum der sogenannten or vielen, vielen Jahren, als deut- Der bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Jungen Wilden in der CDU ist sehr eng. Vsche Dichter von einem amtieren- Cem Özdemir, 31, zur Visumpflicht für Das hat die Diskussion um die Visumrege- den Bundeskanzler noch als „Pinscher, Ausländerkinder und zur doppelten Staats- lung gezeigt.Aber wir müssen dennoch auf Uhus und Banausen“ geschmäht wur- bürgerschaft einen interfraktionellen Antrag hinarbei- den, konnten sie sich wenigstens in dem ten. Gefühl sonnen, ernst genommen zu SPIEGEL: Die Verordnung des Bundesin- SPIEGEL: Wie könnte ein All-Parteien-Kom- werden: von den einen als subversive nenministers zur Visumpflicht für Auslän- promiß aussehen? Elemente, von den anderen als literari- derkinder wurde letzte Woche ÖZDEMIR: Die Grünen und Tei- sche Wahlhelfer, die im Sonderzug von von Bundestag und Bundesrat le der Linken müßten sich von Willy Brandt mitreisen durften. Dann in einem wichtigen Punkt ent- der Ideologie verabschieden, waren sie eine Weile für den Erhalt des schärft: Ein Großteil der hier daß die doppelte Staatsbür- Weltfriedens verantwortlich, weswegen aufgewachsenen Kinder muß gerschaft die Lösung aller sie immerzu an Friedenskonferenzen eine Aufenthaltsgenehmigung Menschheitsprobleme ist. Die teilnehmen und Friedensresolutionen nicht beantragen, sondern be- ist kein Selbstzweck. Für die unterschreiben mußten. kommt diese von deutschen Gastarbeitergeneration sollten Doch seit dem Fall der Mauer wissen Ämtern automatisch erteilt. wir die doppelte Staatsbürger- viele Dichter nicht mehr, was sie mit Sind damit Ihre wichtigsten schaft großzügig anerkennen. sich und ihren Energien anfangen sol- Bedenken ausgeräumt? Die folgenden Generationen len. Die einen zürnen der Geschichte,

ÖZDEMIR: Nein, wir haben A. VARNHORN sollten die doppelte Staats- weil die sich nicht an ihre Ratschläge ge- jetzt die Visumpflicht light. Özdemir bürgerschaft nur bis zum 21. halten hat, andere stählen ihre Lei- Die SPD-Länder hätten die Lebensjahr bekommen, da- denswilligkeit im Pen-Zentrum, wo die Regelung zu Fall bringen müssen, statt nach müssen sie sich für die eine oder die Frage, wer Präsident wird, wer beitreten Herrn Kanther aus der Patsche zu helfen. andere Staatsbürgerschaft entscheiden. darf und wer rausgeekelt wird, die li- Der integrationsfeindliche Charakter der SPIEGEL: Warum hat es nicht bisher schon terarische Geschäftsordnung bestimmt. Verordnung ist gar nicht aus der Welt zu überparteilich geklappt? Das ist nicht viel, aber mangels größe- kriegen. Das Papier, das für die Kinder ÖZDEMIR: Möglicherweise sind wir nicht rer Projekte die einzige verbliebene aus den ehemaligen Anwerbeländern kräftig genug. Da ist mehr Druck aus der Option, eine Art Seifenkisten-Derby für angemessen wäre, ist nicht eine Aufent- Gesellschaft nötig. Vielleicht müßte sich ehemalige Grand-Prix-Fahrer. haltsgenehmigung, sondern ein deutscher auch der Bundespräsident einschalten, um Doch nun sollen wieder bessere Zeiten Paß. uns weiterzuhelfen. anbrechen.Außenminister Klaus Kinkel hat angekündigt, er werde demnächst auf seinen Auslandsreisen neben Ver- dem ein Szenario wie beim tretern der Wirtschaft auch Künstler Golfkrieg 1991 zugrunde liegt, und Literaten mitnehmen. Deutschland nicht zum Einsatz. Vielmehr sei nicht nur ein Industriestandort, son- schickt die Marine „Roland“- dern auch „eine Kulturnation“. Als er- Flugabwehrraketen, die sonst ste Reisebegleiter sind Martin Walser Flugplätze der Marineflieger und Erich Loest im Gespräch. in Nordholz und Eggebek Das zerstreut endlich alle Zweifel am beschützen. Sie sollen in dem Sinn der auswärtigen Kulturpolitik. zweiwöchigen Kriegsspiel Den Goethe-Instituten werden welt- den mit Raketen der Typen weit die Mittel gekürzt, „unrentable“ „Patriot“, „Hawk“ und Filialen geschlossen. Und um den „Stinger“ ausgerüsteten Ver- Image-Schaden wieder wettzumachen, bänden der Luftwaffe und wird Minister Kinkel seinen Gastge-

A. SZANDAR / DER SPIEGEL des Heeres helfen, El Paso bern demnächst praktizierende Dichter Manöver „Roving Sands“ (1996) gegen Luftangriffe zu vertei- vorführen. Die Moldawier werden für digen. Gelernt haben die eine Begegnung mit Hera Lind ewig BUNDESWEHR Deutschen aus einer peinlichen Panne des dankbar sein, die Mongolen eine Soirée vorigen Jahres. Damals mußten eilends mit Friedrich Schorlemmer nie verges- Marine in der Wüste 1000 Paar Kampfstiefel eingeflogen wer- sen. Schwierig wird es nur, wenn Kin- den, weil vielen Landsern im heißen Sand kel mal wieder in den Iran fährt, wo der n dem amerikanisch-deutschen Wü- die Sohlen abgefallen waren. Jetzt beka- von ihm gepflegte „kritische Dialog“ so Astenmanöver „Roving Sands“ (Wan- men die gut 2300 Soldaten, die nächsten stimulierend auf das Verhältnis zwi- derdüne) in den US-Bundesstaaten Texas Monat in die Wüste geschickt werden, vor- schen Politik und Literatur gewirkt hat. und New Mexico nehmen in diesem Jahr sorglich hitzefestes Schuhwerk. Dessen Dann wird er ein Buch von Salman erstmals auch Kräfte der Bundesmarine Kosten machen indes nur einen kleinen Rushdie mit auf die Reise nehmen und teil. Die texanische Stadt El Paso, fast tau- Bruchteil des finanziellen Aufwands von es heimlich vor dem Einschlafen lesen send Kilometer vom Meer entfernt und knapp 20 Millionen Mark aus: Weit mehr – als Beweis dafür, daß kluge Kultur- umgeben von Wüste und Bergen, wird für als die Hälfte des Geldes wird allein dafür politik auch in heiklen Situationen die Übung zur „Hafenstadt“ erklärt. benötigt, Hunderte von Fahrzeugen per nicht verzagt. Kriegsschiffe kommen bei dem Manöver, Schiff über den Atlantik zu schaffen.

der spiegel 12/1997 17 Panorama Deutschland

STIFTUNGEN Warten auf 2004 er Bundestag soll noch in diesem Jahr eine Stiftung ins Le- Dben rufen, die mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte fortfahren sowie die Opfer des SED-Regimes unterstützen soll. Das fordern die Obleute von Koalition und Opposition in der Bon- ner Enquete-Kommission, die sich bislang mit der DDR-Vergan- genheit beschäftigte. Die Finanzierung der Stiftung – jährlicher Bedarf: etwa acht bis zehn Millionen Mark – ist allerdings un- geklärt. Mittel aus dem Vermögen von SED und Blockparteien der DDR, die der Stiftung zufließen könnten, sind anderweitig verteilt. Bis zum Jahre 2004, erklärte Finanzminister Theo Waigel den Obleu- ten in vertraulichem Gespräch Ende Februar, sei kein Geld dar- aus zu erwarten. Den Löwenanteil der rund 800 Millionen Mark kassierte der Bund für sogenannte Altschulden der Ostländer. Die ostdeutschen Bundesländer selbst bekamen etwas ab: Sachsen beispielsweise mehr als 116 Millionen Mark als Ausgleich für den Rückgang der Kulturfinanzierung durch den Bund. Berlin bezu- schußte mit gut 14 Millionen Mark seine Opern und Theater; al- lein das Revuetheater im Friedrichstadtpalast erhielt 2,8 Millio-

S. RITTER nen Mark. 80 Verbände und Initiativen dagegen, die sich um die Revue im Berliner Friedrichstadtpalast Opfer des SED-Regimes kümmern, gingen bislang leer aus.

COMPUTER lung damit, solche Angriffe abzuwehren. Erst Ende letzten Jahres hatte AOL eine Online ohne Grenzen verbesserte Zugangssoftware eingeführt, die auch von Computerfreaks als „ziemlich em zweitgrößten deutschen Online- sicher“ respektiert wurde. Im Internet ist DDienst, AOL Bertelsmann Online, die Gegensoftware allerdings schon an- steht eine neue Runde im Kampf gegen gekündigt. Der Gebührenbetrug wird Computerhacker bevor. In den USA arbei- durch den Online-Dienst selbst erleichtert: ten Hacker derzeit an einer neuen Version Auf Messen wie der Cebit verteilt AOL die des Programms „AOL umsonst“. Damit neue Software in großen Mengen. Später wird im Zentralrechner von AOL der Ge- läßt sich nur mühsam nachprüfen, ob ein bührenzähler für die verbrauchte Online- Neukunde seinen richtigen oder einen Zeit gleichsam ausgeschaltet – die Hacker falschen Namen angegeben hat. Bis der können sich beliebig lange im Online- Schwindel auffliegt, können Hacker weit

Dienst tummeln. In der AOL-Zentrale in mehr als die ihnen zugestandenen zehn S. SIMON Virginia beschäftigt sich eine ganze Abtei- Stunden freier Online-Zeit genutzt haben. Strauß

FLUGBENZIN VERFASSUNGSRICHTER Stellenzulage; der Vize dagegen wurde bis- her wie ein Bonner Staatssekretär bezahlt, Verrat an FJS Kuriose Besoldung freilich ohne dessen Stellenzulage – just das führte bei Henschel ins Minus. er Finanzausschuß des Bundestages as Kabinett hat eine saftige Gehaltser- In Zukunft soll der Vize deshalb sieben Dfordert eine Steuer auf Flugbenzin. Dhöhung auf den Gesetzgebungsweg Sechstel des Gehalts eines Staatssekretärs Die Bundesregierung solle in Brüssel für gebracht: 40 100 Mark mehr im Jahr soll (derzeit 17200 Mark Grundgehalt) verdie- ein EU-weites Ende der Steuerfreiheit wer- von 1998 an der Vizepräsident des Bundes- nen und so näher an die Präsidentin her- ben, beschloß der Finanzausschuß – und verfassungsgerichts (BVG) verdienen. anrücken. Jutta Limbach, neben dem Bun- zwar mit den Stimmen der Koalitionsab- Damit beseitigt Bonn ein besoldungs- despräsidenten und der Bundestagspräsi- geordneten. Die bündnisgrüne Finanzex- rechtliches Kuriosum, das erst dentin eine der höchsten Re- pertin Christine Scheel hat errechnet, daß dem Verfassungsrichter Johann präsentantinnen des Staates, sich die nationalen Steuereinnahmen mit Friedrich Henschel aufgefallen wird mit einem Grundgehalt der Flugbenzinsteuer um 14 Milliarden war.Als Henschel 1994 vom ein- von 22930 Mark wie ein Bun- Mark erhöhen ließen. fachen Mitglied des höchsten desminister besoldet. Auch die CSU-Expertin im Ausschuß, Ger- Gerichts zum Karlsruher Vize- Vom Aufgeld profitiert Otto da Hasselfeldt, stimmte der Forderung zu präsidenten aufstieg, stellte er Seidl, Nachfolger des inzwi- – obwohl der einstige CSU-Chef und Hob- fest, daß er monatlich 160 Mark schen pensionierten Henschel. bypilot Franz Josef Strauß eine Kerosin- weniger Grundgehalt bezog. Aber auch für den Ex-Vize und Steuer seinerzeit stets heftig bekämpft Des Rätsels Lösung: Einfache dessen Vorgänger Ernst Gott- hatte. Hasselfeldt verlangt allerdings, die Verfassungsrichter bekommen fried Mahrenholz hat die Ge- Steuerfreiheit solle nicht nur EU-weit, son- das Grundgehalt der Präsiden- setzeskorrektur einen ange- dern gleich weltweit abgeschafft werden –

ten der obersten Bundesgerich- / GRAFFITI G. STOPPEL nehmen Effekt: Ihre Pensionen dazu müßten 130 bilaterale Abkommen te inklusive der dort gezahlten Seidl erhöhen sich entsprechend. geändert werden.

18 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Panorama Deutschland

EXPO 2000 Schweben für 100 Mark ie umstrittene Magnetschwebebahn DTransrapid wird Ausstellungsstück auf der Weltausstellung Expo 2000. Im Mai soll der Vertrag unterschrieben werden, der die Teststrecke des Transrapid im Emsland zum sogenannten dezentralen Projekt der Expo macht. Bei derlei Projekten handelt es sich um Musterbeispiele, die von den Expo-Machern als innovativ und „lö- sungsorientiert“ bewertet werden, die aber nicht am eigentlichen Ort der Ausstellung,

in Hannover, gezeigt werden können. DPA Für Besucher der Expo soll ein Shuttle ein- Solana, Primakow gerichtet werden, der sie ins Emsland zur Teststrecke bringt. Maximal 500 Interes- NATO-OSTERWEITERUNG sierte täglich dürfen dann eine Probefahrt mitmachen – gegen ein happiges Eintritts- geld: Gedacht ist an 100 Mark für Erwach- Verzicht auf das Veto sene und 230 Mark für Familien. Im Preis inbegriffen ist der Zubringer-Bus und eine oskau und die Nato haben sich weit- Die Nato verzichtet zudem auf das Anlegen Führung übers Gelände. Als Abschluß im Mgehend über die Bedingungen der größerer Depots und die Stationierung um- Angebot: ein mit „regionaltypischen Ost-Erweiterung des Bündnisses verstän- fangreicher Verbände in den neuen Mit- Gerichten“ aus dem Emsland. digt. Gegenüber Nato-Generalsekretär Ja- gliedsländern. Eine entsprechende einsei- vier Solana hat der russische Außenmini- tige Erklärung des Nato-Rates von vergan- ster Jewgenij Primakow das Veto gegen den genem Freitag steht allerdings unter dem Ausbau der militärischen Infrastrukturen Vorbehalt, daß diese Regelung nur für die in den Beitrittsstaaten zurückgenommen. voraussehbare Sicherheitslage gilt.Auf die- Dafür verspricht der Westen, daß die Ein- se Beschlüsse soll dann in der Charta über führung von Nato-Standards und der Aus- die Zusammenarbeit mit Rußland verwie- bau des Luftverteidigungssystems zeitlich sen werden, die auf einem Sondergipfel der weit gestreckt werden und die Fähigkeiten Staats- und Regierungschefs, voraussicht- zur Offensive keinesfalls erhöhen sollen. lich im Mai, unterzeichnet werden könnte.

BÜNDNISGRÜNE ben und wieder integrativ werden“. Zu- gleich verurteilt ein Beschluß der Grünen- Mehr Disziplin Landtagsfraktion den „teilweise aus der Fraktion organisierten unkontrollierten er linke Flügel der nordrhein-westfä- Wettlauf um die Meinungsführerschaft in Dlischen Bündnisgrünen will sich ab so- der Partei“. Der Vorwurf richtet sich vor fort mehr Selbstdisziplin auferlegen, um allem gegen eine Handvoll Fundamentali- die rot-grüne Koalition in Düsseldorf zum sten unter Führung des parlamentarischen Erfolg zu führen. Ein Strategiepapier des Fraktionsgeschäftsführers Manfred Busch. wiederbelebten „Linken Forums“ fordert Dieser hatte mit Alleingängen immer wie- von allen Beteiligten: „Unter den Bedin- der für Koalitionskrach gesorgt und An- gungen einer Regierungsbeteiligung gibt fang Januar mit einer umfangreichen Ne- es kein belangloses Strategiepapier oder gativ-Bilanz die Koalition faktisch für ge- Interview mehr.“ Die Parteilinke in NRW scheitert erklärt. Signal für den Aufbruch:

GAMMA / STUDIO X müsse sich „strategisch und analytisch wei- Busch soll abgewählt und durch einen „ko- Transrapid terentwickeln, will sie mehrheitsfähig blei- operativen Linken“ ersetzt werden.

FDP Anlaß des Rauswurfs: Beeg, 52, hatte sich des Arbeitsverhältnisses in jeder Beziehung massiv gegen eine neue Betriebsvereinba- unzumutbar“ gemacht zu haben – ähnli- Betriebsrat auf Linie rung gewehrt, mit der die von der FDP che Formulierungen verwandte Bundesge- durchgepaukte gesetzliche Kürzung der schäftsführer Hans-Jürgen Beerfeltz im drei er Betriebsrat der Bonner FDP-Zen- Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die Tage später übergebenen Kündigungs- Dtrale folgt brav der Parteilinie – wenn Beschäftigten der Bundesgeschäftsstelle schreiben. Der Fall wird vor dem Bonner es sein muß, auch gegen die Interessen der übernommen wurde. Arbeitsgericht demnächst verhandelt. Mitarbeiter. Ohne den Betroffenen an- In einer von der Vorsitzenden Heidrun Im Verlauf des Streits hatte Beeg auf die zuhören – was der dreiköpfige Rat laut Be- Tampe unterzeichneten „Stellungnahme“ Herkunft der Betriebsratsvorsitzenden triebsverfassungsgesetz lediglich „soll“ –, warf der Betriebsrat dem Redakteur der Tampe aus der DDR-Blockpartei LDPD stimmte er Ende Februar der fristlosen Mitgliederzeitung die liberale depesche verwiesen. Tampe ist jetzt persönliche Re- Kündigung des dienstältesten Mitarbeiters obendrein vor, mit „maßlosen, ehrverlet- ferentin des FDP-Generalsekretärs Guido im Thomas-Dehler-Haus, Reiner Beeg, zu. zenden“ Behauptungen eine „Fortsetzung Westerwelle.

20 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

REGIERUNG „Die Machtfrage stellen“ Nach dem Kohle-Kompromiß trumpft Oskar Lafontaine auf. Eine Steuer- und Rentenreform soll es nur zu SPD-Bedingungen geben. Doch kann er nicht sicher sein, daß ihm seine Partei in die Konfrontation mit der Regierung folgt.

er SPD-Chef schwebte hoch oben über allem. „Ich kreise wie ein DRaubvogel über dem Feld“, be- schrieb Oskar Lafontaine vor Vertrauten schon im vergangenen Sommer seinen po- litischen Höhenflug, „und ich warte, bis die Koalition mir eine Blöße bietet.“ Vorige Woche erspähte der Raubvogel mitten im Bonner Regierungsviertel „den strategischen Punkt, wo ich zustoßen kann“. Der Aufmarsch der streikenden Bergarbeiter von Saar und Ruhr, den die Regierung mit ihrem Ungeschick beim Streit um weitere Kohle-Subventionen pro- voziert hatte, schien Lafontaine die er- sehnte Gelegenheit, Beute zu machen. Die postmodernen Sozialdemokraten verwandelten sich auf der Bonner Mu- seumsmeile in Windeseile zurück in kämp- ferische Arbeiterführer. „Es ist wirklich Zeit, daß wir diese verrottete Republik wieder verändern“, rief Lafontaine den aufgebrachten Kumpeln zu, „wir brauchen wieder Solidarität.“ Leichtfertig habe die Regierung Kohl, dieser „Haufen von Irregeleiteten“, den sozialen Grundkonsens der Gesellschaft aufgekündigt. In Zeiten mit Rekordzahlen von Arbeitslosen und Massenentlassungen kletterten Aktienkurse und Unterneh- mensgewinne „auf einsame Höhen“. Der Kanzler mahne zu „Lohnzurückhaltung“, aber den Reichsten im Lande schiebe er mit der geplanten Steuerreform einige zehntausend Mark zusätzlich in die Ta- schen, wetterte Lafontaine. „Wie verkom- men ist doch diese Republik.“ Mit dem Kampf um die Kohle will La- fontaine die Wahlschlacht um das Ende der Ära Kohl eröffnen. Die Fronten stellt er sich ganz einfach vor: Da drüben im Kanz- leramt Kapitalismus pur, ein Standort Deutschland für Shareholder – hier bei den Kumpeln ein Land mit neuer Solidarität und Gerechtigkeit, in dem Arbeitsplätze wichtiger sind als Aktienkurse. Der Protest aus dem Ruhrpott, hoffen die Genossen, könnte der Anfang einer neuen Widerstandsbewegung sein. „Der Kampf im Bergbau“, rief SPD-Fraktions- chef Rudolf Scharping den demonstrieren- den Bergleuten zu, „ist ein Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland.“ K. MÜLLER * Im Saarbergwerk Ensdorf (1985). Kanzler Kohl, Kumpel*: „Wir weichen nicht zurück“

22 der spiegel 12/1997 Von den fast fünf Millionen amtlich reit“, läßt Lafontaine erwidern. Gnädig tur ist nur der zweifelhafte Versuch, die registrierten Erwerbslosen, die derzeit stellt er im spiegel-Gespräch nur „eine Bauarbeiter zu beruhigen. Gegen auslän- gemeldet werden, hatten sich immerhin einzige Bedingung: daß die Regierung uns dische Billigarbeiter helfen keine Zinsver- eine ganze Masse auf die Straße begeben. nicht immer wieder dasselbe sagt“ (siehe billigungen für Hausbauer. Die marktradi- In Berlin blockierten fast die ganze Woche Seite 26). kalen Kohl-Freunde in der frankfurter Tausende von arbeitslosen Bauarbeitern Auch über die Zukunft der Atomenergie allgemeinen sehen mit Entsetzen das Ge- den Potsdamer Platz und warfen mit Kohl- soll wieder geredet werden – aber anders spenst des Keynesianismus auftauchen, köpfen. Auf der größten Baustelle Euro- als sich die Regierung erhofft. Sie strebe „als hätte ein herumirrender Beamter des pas sind kaum deutsche Maurer und Ei- nun „einen Konsens mit der SPD über die Kanzleramtes willkürlich in eine Schubla- senbieger beschäftigt – fast alles erledigen Kernenergie“ an, verkündete Kohls Spre- de des Archivs der Schmidt-Ära gegriffen“. billige Arbeitskräfte aus dem Ausland. cher Peter Hausmann frohgemut. Doch die Ein Modell der Zukunft ist auch für die Gleichzeitig streikten, kaum noch recht Opposition mag allenfalls „über die Ent- Kumpel nicht in Sicht. Die höheren Sub- bemerkt, 2500 deutsche Zivilangestellte sorgung von Atommüll“ verhandeln. ventionen bis zur Jahrtausendwende, wie der alliierten Truppen gegen bevorstehende Entlassungen. Die Bonner Regierung, mit Kohl an der Spitze, fühlte sich wohl erstmals durch Demon- strationen in der Bundesstadt nicht bloß gestört, sondern auch verstört. War dies der Wendepunkt zu einem Mas- senprotest gegen das Sparregi- ment, gar schon ein Hauch von Weimarer Verhältnissen? Im Hof des Kanzleramts, so was hatte man im Zentrum der Macht noch nicht gesehen, wurde ein Wasserwerfer in Stellung gebracht. Innenmi- nister Manfred Kanther flog seinen Amtssitz sogar mit ei- nem Hubschrauber an, um die bedrohliche Lage zu demon- strieren. Ein aufgebrachter Helmut Kohl malte vor seiner Unions- fraktion düstere Bilder aus.

„Wer mit Radikalen Politik M. DARCHINGER macht, wird von Radikalen auf- SPD-Chef Lafontaine, demonstrierende Bergleute*: „Die verrottete Republik verändern“ gefressen“, zog er über die SPD her, sie bedenke „nicht den Schaden für Das Gespür für die Wirklichkeit seines Regierung und Opposition sie vergangene das Land“. Die Bilder von Anti-Castor- Landes ist dem Kanzler offenbar zuneh- Woche aushandelten, verhindern zwar die und Pro-Kohle-Demos gingen im Rahmen mend abhanden gekommen. Die Wucht Entlassung in unmittelbare Arbeitslosig- der „Kriegsberichterstattung“ vor allem der Kumpel-Wut hatte die Kohle-Planer keit, für neue Jobs aber ist kein Geld da. von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstal- im Bonner Treibhaus ebenso überrascht Wenn es wirklich um Solidarität mit Ar- ten wie des Westdeutschen Rundfunks „um wie die heftige Reaktion der Sozial- beitslosen gehen sollte, meint der Bochu- die Welt“, wütete der Kanzler. demokraten auf die Kürzungspläne der Re- mer Innovationsforscher Erich Staudt im Vor seiner versammelten Gefolgschaft gierung. Als NRW-Finanzminister Heinz handelsblatt, „muß jeder Pfennig für machte sich Kohl noch mal richtig stark. Er Schleußer den Ausstieg aus den Steuer- neue Arbeitsplätze ausgegeben werden“, lasse sich „nicht kleinkriegen“, rief er in verhandlungen mit der Bonner Koalition anstatt „Privilegien zu sichern und Geld den Saal, „wir weichen nicht zurück“. verkündete, war der CDU-General sicht- unter Tage zur Herstellung von weiteren Doch in vertrautem Kreise zeigte der Re- lich verdutzt: Das sei ja, stammelte Hintze, Bergschäden zu verbuddeln“. gierungschef in jüngster Zeit schon öfter, „ein Hammer“. Doch es war nicht die Woche der Ehr- daß er sich seiner Zukunft nicht mehr so si- Angestachelt von ihrem kleinen libera- lichkeit in Bonn. Einige Unionsstrategen cher ist. Nachdenklich fragt er dann in die len Partner, wollte die Regierung Kohl die hatten zwar schon mal kühl kalkuliert, daß Runde, „ob man sich vielleicht überlebt“ alte Republik ein wenig reformieren, jenes auch ein Kahlschlag die CDU kaum Stim- habe. angeblich so träge gewordene Land der men im Revier kosten könnte, weil das Das ist für Lafontaine, den Greifvogel, Anspruchsdenker und Besitzstandswahrer. Herz der Kumpel ohnehin links schlägt. natürlich keine Frage. Er fühlt sich als Sie- Doch der Kohle-Kompromiß ist noch ein- Es bestehe „Einigkeit“, so notierte die ger des Kohle-Kampfes und glaubt nun, mal ein Sieg des in Jahrzehnten gewachse- CDU/CSU-Arbeitsgruppe Wirtschaft im der Regierung die Bedingungen diktieren nen Parteien-, Interessenten- und Verbän- vorigen November für Fraktionschef Wolf- zu können, etwa wenn es um Steuer- oder destaates, der im Zeichen des globalen gang Schäuble, „daß die CDU den Wett- Rentenreform geht. Wettbewerbs sonst allseits als überholt ver- bewerb gegen SPD und IG Bergbau, wer Die Verhandlungen zur Steuerreform dammt wird. am meisten für die Bergleute unternehme, müßten jetzt zügig fortgesetzt werden, Auch das eilig ausgerufene Milliarden- ohnehin nicht gewinnen“ könne. drängt schon wieder CDU-Generalsekretär Programm zur Belebung der Baukonjunk- Unionsabgeordnete aus kohlefreien Zo- Peter Hintze die Opposition. „Ich bin zu ei- nen im Norden und Süden der Republik, nem Gespräch mit dem Bundeskanzler be- * Am vergangenen Donnerstag in Bonn. aber auch aus dem Osten und sogar einige

der spiegel 12/1997 23 Deutschland

„Ich kann die Kumpel verstehen“, meint Berger tapfer. „Die haben Angst heimzufahren und von ihren Frauen Angst vor den Kumpeln gefragt zu werden, wie es weitergeht.“ Schließlich war er, ehe er zum Ge- werkschaftsfunktionär aufstieg, selbst Hans Bergers wilde Bonner Tage für ein paar Jahre Kumpel. 1953 fuhr er, da war er 15, als Berg- ie Nachricht, die Hans Berger suchen seine Augen in der Men- lehrling auf der Grube Anna 1 in Als- erreicht, ist eine Wohltat an die- schenmenge die Ordner, die Zeichen dorf ein; er wurde erst Knappe, dann Dsem grauenhaften Vormittag. geben sollen, falls Bergleute in Rage Hauer. Sein Hörgerät am linken Ohr Der Kanzler hat in der morgendlichen geraten, weil er ihnen abverlangt, sich ist eine Erinnerung ans Dasein als Pro- Fraktionssitzung seinen Namen in nach Köln in die Etappe zurückzu- letarier: „Das kommt vom Gruben- freundlichem Ton erwähnt. ziehen. lärm.“ Das freut den Belobigten. Spitzbü- Lafontaine ist Bergers Retter. In „Man muß die Psyche der Kumpels bisch lächelnd läßt sich der Chef der einer flammenden Rede fordert er, kennen“, sagt ihr erster Repräsentant. IG Bergbau und Energie im Sessel „die Regierungsflaschen“ zu entsor- Weil er sie kennt, verschanzt er sich zurückfallen und entspannt sich zum gen, zieht über „Sesselfurzer“ her und tagelang in der Düsseldorfer Landes- erstenmal seit Tagen. bittet die Kumpel um Nachsicht für vertretung. Er verhandelt mit Politi- Nun wird alles gut, nun kehrt die ihren mutigen Vertreter, den kleinen, kern, fährt zur Gewerkschaftssitzung fast schon verlorene Gewißheit wie- kompakten Hans Berger. „Danke“, nach Bochum und zum Schlafen ins der: Mit seiner Kompromißbereitschaft flüstert ihm Berger zu, „vielen Dank, Bonner Hotel Maritim. liegt er richtig; sämtliche Kumpel Oskar.“ Als der Kohle-Kompromiß endlich werden ihm noch, wie so oft, auf Soviel Charisma wie der SPD-Vor- gefunden ist, atmet Hans Berger auf. Knien danken für sein Verhandlungs- sitzende hätte der IG-Bergbau-Chef Jetzt nur noch die lästige Pressekonfe- geschick. auch gern. Weder seine chronisch hei- renz, dieses Affentheater, die Inter- Seine Kanzler-Nähe und views. Raus will er, sagt er, seine Nachgiebigkeit haben ins wirkliche Leben. Doch ihm die Bergleute zuletzt zu den wartenden Berg- furchtbar übelgenommen. leuten nach Köln schickt Unvergessen, daß Berger er sicherheitshalber einen im Juni mit Helmut Kohl Stellvertreter. zur Fußball-Europamei- Erleichtert ist er am Ende sterschaft nach London ge- und erlöst: Die Betriebs- fahren ist – was verbindet ratsvorsitzenden und Ver- Männer mehr? Oder die ge- trauensleute, die er sofort meinsame Asienreise im unterrichtet hat, feiern ihn vergangenen Oktober – mit stehenden Ovationen. war das nötig? Diese Ein- Auch die Vertrautheit zum tracht ist Verrat, finden die Kanzler ist wieder herge- Kumpel von der Ruhr bis stellt. „Der hat gleich ge- an die Saar. So sind sie per scherzt, als wir heute mor- Motorrad, Auto oder Bahn gen zusammenkamen. Ihr selbst nach Bonn geeilt und seid doch sicher frisch, ihr halten drei Tage lang das kommt doch aus dem Regierungsviertel besetzt. Schwimmbad …“ Als Ber- Von solchen Machtde- ger das wilde Hupen der monstrationen träumen Motorräder hört, wird er andere Gewerkschaftsfüh- ein letztes Mal nervös. rer ein Leben lang. Für den Kommen etwa unzufriede- ordnungsbedachten Berger ne Kumpel nach Bonn

ist der Aufmarsch der M. DARCHINGER zurück? Nein, sie drehen 80000 Ruhr-Bergleute ein Gewerkschaftschef Berger: „Die holen mich da runter“ nur eine Ehrenrunde vor Alptraum. der Heimfahrt ins Revier. Unsicher und verängstigt duckt er sere Stimme noch seine Statur gibt den So wendet sich Hans Berger, der sich auf der Lkw-Bühne hinter Rudolf Auftritt als Klassenkämpfer her. ja auch für die SPD im Bundestag Scharping und Oskar Lafontaine, die Kein Kumpel hält Berger auf, nie- sitzt, seinem Alltag zu. An diesem wortgewaltig Solidarität mit den Kum- mand klopft ihm auf die Schulter, als er Freitag stehen noch zwei namentliche peln üben und zum Glück auch mit sich nach der lautmalerischen Kundge- Abstimmungen im Parlament auf Berger. „Ich wußte, ein falscher Ton bung mit Lafontaine in die nordrhein- der Tagesordnung. Welche? Keine Ah- genügt, und die holen mich da runter“, westfälische Landesvertretung im nung, darum wird Berger sich gleich sagt er später erleichtert. Schatten des Kanzleramtes zurück- kümmern. „Judas“, „Lügner“, „Betrüger“, zieht. „Wer ist das denn?“ spotten die Gemütlich schlendert er zum Parla- schreien die um ihren Job bangenden Bergleute, während er die Absperrgit- ment, ganz so, als habe es die wilden Bergleute Berger entgegen. Nervös ter passiert. Tage am Rhein nie gegeben.

24 der spiegel 12/1997 H. LOHMEYER / JOKER H. LOHMEYER Kumpel-Protest vor der Bonner FDP-Zentrale: „Geld zur Herstellung weiterer Bergschäden“

Modernisierer aus Nordrhein-Westfalen ar- gegenkommen, hoffte Gewerkschaftschef gungen“ geben. Damit verhinderte die Ko- gumentierten in der Fraktionssitzung Hans Berger, werde der Kanzler den Kum- alition eine weitere Konfrontation, mit der während der Protestwoche ebenfalls ge- peln noch Schlimmeres ersparen. sie wohl nicht gerechnet hatte. Denn bei be- gen die Kohle-Hilfen. Sie wollen wie viele Wie eine Verhöhnung mußte deshalb in triebsbedingten Kündigungen müssen nach Freidemokraten den „Auslaufbergbau“. den Ohren der Bergleute klingen, was deutschem Sozialrecht erst mal die jungen Erst Kohls Mahnung, „solange ich Kanz- Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) Mitarbeiter ohne Familie und Kinder ent- ler bin, ist das mit mir nicht zu machen“, am vorvergangenen Freitag als „großzügi- lassen werden. Das wären bei den Kum- brachte die Frondeure auf Linie. „Hätte ges, faires Angebot“ der Regierung offe- peln überwiegend die Deutschen gewesen. Kohl nicht sein ganzes Gewicht reingelegt, rierte: die Kürzung der Bundeszuweisun- Ihre türkischstämmigen Kollegen – rund wäre die Fraktion nicht gefolgt“, berichte- gen von heute neun auf vier Milliarden ein Drittel der Belegschaft und meistens te ein Teilnehmer. Mark im Jahr 2005. mit mehreren Nachkommen gesegnet – hät- Die Vorgeschichte des Kohle-Schlamas- Noch schlimmer als die niedrige Ziel- ten weiter in den Schacht fahren dürfen. sels begann vor mehr als zwei Jahren. Da- marke nach der Jahrtausendwende wirkten Das Verhandlungsergebnis der vergan- mals, im Oktober 1994, hatte das Karlsru- die Kürzungen für die Zeit davor. Bis zum genen Woche kann Lafontaine auch als her Verfassungsgericht den „Kohlepfen- Jahr 2000 sollten knapp zwei Milliarden sehr persönlichen Erfolg feiern – sein Saar- nig“ für grundgesetzwidrig erklärt. Es Mark in die Förderung der Kokskohle, den land kommt dabei weit besser weg als das setzte damit der altbewährten Praxis ein Brennstoff für die Stahlindustrie, fließen. Ruhrgebiet. Nur eine der drei Saar-Zechen Ende, über einen 8,5-Prozent-Aufschlag soll geschlossen werden, von 15000 Berg- auf den Strompreis die Kunden der Ener- Die Nähe zur Parteibasis hat arbeitsplätzen bleiben 10 000 übrig. In gieunternehmen für den teuren Bergbau viele SPD-Politiker Nordrhein-Westfalen muß bis zum Jahr zahlen zu lassen. 2005 fast jeder zweite Bergmann aufgeben. Als sich dann die FDP dem Ansinnen erfrischt wie ein Jungbrunnen Die kumpelige Nähe zu ihrer fast schon ihrer Koalitionspartner CDU/CSU wider- verschwunden geglaubten alten Parteiba- setzte, das Kohle-Geld durch Einführung So hatten es die Unterhändler des Bundes sis hat viele SPD-Politiker in der vergan- einer Energiesteuer aufzubringen, war der lange versprochen. Doch nun verlangte genen Woche offenbar erfrischt wie ein Konflikt vorgezeichnet: Die fehlenden Mil- Bonn, die Kokskohle-Subventionen mit aus Jungbrunnen. liarden-Beträge mußten durch Einsparun- dem ohnehin gekappten Etat für die Koh- Als die SPD-Fraktion vergangenen gen im Bundeshaushalt aufgebracht wer- le-Verstromung zu berappen. Dienstag wie zum Betriebsausflug ge- den. Angesichts der klammen Kassenlage Statt des anvisierten Gleitflugs drohte schlossen zur Protestkundgebung mar- konnte dies nur bedeuten, daß auch die der Absturz. Rund 36 000 Bergleute hätten schierte, empfing sie ein Spalier aus ju- Subventionen selbst drastisch gekürzt vorzeitig ihre Jobs verloren, rechnete die belnden Bergleuten, die skandierten: werden. Ruhrkohle AG vor. Binnen vier Jahren hät- „Kohl muß weg! Der Dicke muß weg!“ Die Bergbau-Gewerkschafter und Gru- ten nicht nur vier, sondern sieben Zechen „Die Leute kommen endlich wieder auf ben-Unternehmen legten gemeinsam von dichtmachen müssen – zwei davon mitten uns zu“, strahlte der SPD-Bundestagsab- sich aus einen Plan vor, der bereits die Ver- im Wahljahr 1998. geordnete Wolf-Michael Catenhusen, nichtung jedes zweiten der verbliebenen Nach dem Rückzieher der Regierung „nachdem sie sich jahrelang von uns mit 85000 Arbeitsplätze vorsah. Bei soviel Ent- wird es keine „betriebsbedingten Kündi- Schauder abgewandt haben.“ Das beob-

der spiegel 12/1997 25 Deutschland achte er nicht nur bei den ohnehin SPD- treuen Kumpeln, sondern überall im Land. „Das Vertrauen der arbeitenden Menschen SPIEGEL-GESPRÄCH in die SPD kehrt zurück“, jubelte auch Heidemarie Wieczorek-Zeul, die sich nachts von Demonstranten mit Lyoner „Da haben wir den Salat“ Wurst versorgen ließ. Das neuerwachte Klassenbewußtsein in Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine über seine der SPD, das die Union mit ihrer unge- schickten Taktik erst geschürt hatte, ver- Verhandlungsstrategie für die Steuerreform ändert die Machtverhältnisse im Sozi-La- ger. Seit vergangener Woche spüren be- SPIEGEL: Herr Lafontaine, hat die Kon- wie leichtfertig manche, denen es gutgeht, sonders die Genossen Auftrieb, die nur mit frontation um die Kohle, hat der Marsch über das existentielle Schicksal anderer ur- Bauchgrimmen in die Steuergespräche ge- der Kumpel auf Bonn die innenpolitischen teilen und sprechen. gangen waren, die sich statt Schmusekurs Koordinaten dieser Republik verändert? SPIEGEL: Ein Schuß Populismus war schon ein klares Oppositionsprofil wünschen. LAFONTAINE: Ja, weil der Protest der Berg- dabei. Vor allem Parteilinke stützen Lafontaine leute zum Erfolg geführt hat. Es wird kei- LAFONTAINE: Nein. Ich kann es nicht ertra- in seinem Streben nach einem härteren ne Entlassungen im Bergbau geben. Die gen, wenn so mit Menschen umgegangen Konfrontationskurs. „Das ist doch ein blö- Arbeitnehmer sehen anhand dieses Bei- wird, die um ihren Arbeitsplatz fürchten. des Signal – wir kämpfen gegen die Politik spiels: Es lohnt sich, mit ihren Gewerk- SPIEGEL: Ihr Vorwurf, wir lebten heute in der Regierung und setzen uns mit ihr an ei- schaften für die eigenen Rechte zu kämp- einer verrotteten und verkommenen Re- nen Tisch“, warnt Wieczorek-Zeul. fen. In diesen Tagen ist auch vielen klar- publik, ist ziemlich harsch. „Letztendlich ist es immer die Regie- LAFONTAINE: Sie müssen den rung, die als Macher dasteht und von einer inhaltlichen Zusammenhang Lösung profitiert“, macht auch Gerd An- sehen: Der Bundeskanzler dres, Wortführer des rechten Seeheimer sagt den Arbeitnehmern, die Kreises in der SPD, Stimmung gegen den Angst um ihre Arbeitsplätze Konsens. haben: „Ihr müßt den Gür- Doch Andres und Freunde ziehen daraus tel enger schnallen, Real- einen anderen Schluß als die Parteilinken: lohnzuwächse sind ausge- Jene sind für Rot-Grün, die Seeheimer wie schlossen.“ Damit übersieht Andres oder auch der niedersächsische Mi- er zunächst einmal, daß seit nisterpräsident Gerhard Schröder wollen 1982 immer wieder Real- eher eine Große Koalition: „Die SPD muß lohnverluste aufgetreten jetzt die Machtfrage stellen.“ sind. Und eine dritte Gruppe muß Lafontaine Und wenn der Kanzler in seiner Partei hinter sich bringen, will er zum gleichen Zeitpunkt ein nicht alte Flügelkämpfe neu aufleben las- Steuergesetz vorlegen läßt, sen: die Genossen, die weiterhin auf Ko- das denjenigen mit hohen operation und Gespräche mit der Regie- Einkommen – wozu ja die rung setzen. Die Bevölkerung habe kein gesamte politische Führung Verständnis dafür, sorgen sie sich, daß die gehört – eine Steuererleich- SPD die notwendigen Reformen blockiert. terung in Höhe von 20000 „Es ist zu früh, den Verhandlungskurs ab- bis 30000 Mark netto jähr- zubrechen“, sagt etwa der Stuttgarter Ab- lich bringt – das ist so viel, geordnete Peter Conradi, und der Mainzer wie einige der Demonstran- Regierungschef Kurt Beck glaubt: „Die Ar- ten im ganzen Jahr verdie- beitslosenzahlen sind so dramatisch, daß nen –, dann frage ich mich: gehandelt werden muß.“ Wohin sind wir eigentlich Parteichef Lafontaine, so Conradi, be- gekommen?

finde sich auf einer „schwierigen takti- M. DARCHINGER SPIEGEL: War das schon der schen Gratwanderung“. Die spannende Lafontaine beim SPIEGEL-Gespräch: „Ja zum Sozialstaat“ Grundakkord für den kom- Frage sei, „wie wir weitere Verhandlungen menden Wahlkampf, die mit dem Konfrontationskurs verbinden, geworden, daß die Regierung Kohl die Ar- Gegenüberstellung zweier Gesellschafts- der für den Wahlkampf nötig wird“. Denn beitslosigkeit nicht mehr in den Griff be- modelle: Hier die neoliberale Shareholder- der Vorwurf der Reform-Verweigerung sei kommt. Gesellschaft und dort die Rückbesinnung „ein empfindlicher Punkt für die SPD“ SPIEGEL: Sie haben die Bonner Regenten auf eine Solidargemeinschaft? und die größte Gefahr für den Wahlkämp- hart rangenommen, als „Flaschen“ und LAFONTAINE: Ja. Die Politik der Bundesre- fer Lafontaine. „Irregeleitete“ etikettiert. Ging mit Lafon- gierung führt zur Entsolidarisierung unse- Die Sorge um neue Flügelkämpfe hatte taine da der Demagoge durch? rer Gesellschaft. Die Unternehmensteuern den SPD-Chef schon geplagt, als er den LAFONTAINE: Nein. Das war die Empörung werden gesenkt, die Sozialleistungen wer- Genossen seine Raubvogel-Phantasie an- über die Vorgehensweise der Regierung den gekürzt, es wird Lohnzurückhaltung vertraute. Wenn er das Ziel geortet habe und über einen Bundeskanzler, der das De- gefordert. Wir aber sagen Ja zum Sozial- und auf die Beute niederstürze, gebe es ei- monstrationsrecht außer Kraft setzen woll- staat, der Sozialabbau ist viel zu weit ge- nen riskanten Moment, fürchtete Lafon- te, ein Grundrecht unserer Demokratie. gangen. Wir sind auch für Reallohnzu- taine, nämlich „daß mir dabei die Truppen Und es war auch die Empörung darüber, wächse, wenn die Produktivität es hergibt. meiner Partei womöglich nicht folgen“. SPIEGEL: Stehen denn nun die Zeichen Da würde dann aus dem Sturzflug ein Das Gespräch führten die Redakteure Annette Groß- weiter auf große Konfrontation oder doch Absturz. bongardt, Olaf Ihlau und Hans-Jürgen Schlamp. wieder auf Kooperation?

26 der spiegel 12/1997 LAFONTAINE: Ich bin zu einem Gespräch mit dem Bundeskanzler bereit. Dabei muß es zu Entscheidungen kommen, die beim Kampf um die Arbeitslosigkeit tatsächlich helfen. SPIEGEL: Wo verläuft Ihre Kompromiß- linie? LAFONTAINE: Dazugehören müssen Steu- erentlastungen für Arbeitnehmer und Fa- milien schon zum 1. Januar 1998 und eine spürbare Senkung der Sozialabgaben. An- gesichts von 4,7 Millionen Arbeitslosen fordere ich den Bundeskanzler auf, nicht länger stur an seinen falschen Konzepten festzuhalten. Die Bundesregierung muß sagen, wie sie das riesige Finanzloch ihres Steuerreform-Entwurfs von sage und schreibe 56 Milliarden Mark decken will. Die bisherigen Vorschläge der Koalition sind keine seriöse Verhandlungsgrundlage. SPIEGEL: Die von der SPD wegen der Koh- le-Krise abgesagte Gesprächsrunde mit drei Experten auf jeder Seite findet dem- nach nicht mehr statt? tz, münchen LAFONTAINE: Ich hatte schon im ersten Ge- spräch mit dem Bundeskanzler klargestellt, beitslosenversicherung, mit höheren Mehr- land um, weil hier die Einkommensteuer daß wir auch in Erinnerung an seine wertsteuern finanziert? gesenkt wird. Mit solchen Albernheiten be- Gespräche mit den Gewerkschaften beim LAFONTAINE: Wir haben vorgeschlagen, schäftigt sich die SPD nicht. Bündnis für Arbeit keine endlosen dafür die Umweltverbrauchsteuern zu er- SPIEGEL: Wenn Steuersenkungen nicht Ihr Verhandlungen führen wollen. Wir wollen höhen. Das wäre ein Einstieg in die ökolo- Reformziel sind, was dann? konkrete Vorlagen und zügige Entschei- gische Steuerreform. Wir sind auch zu LAFONTAINE: Unser Anliegen ist mehr Steu- dungen. Kompromissen bereit, wenn sie in die ergerechtigkeit. Wir sagen: Die Leistungs- SPIEGEL: Setzen Sie sich damit nicht dem richtige Richtung gehen. Das kann in einem träger, die zwischen 40000 und 90000 Mark Verdacht aus, einen Konsens mit der Telefonat geklärt werden. verdienen, sind am stärksten von Steuern Koalition eigentlich gar nicht zu wollen? SPIEGEL: Über höhere Mehrwertsteuern und Sozialabgaben belastet. Die müssen LAFONTAINE: Nein, wir haben bei all den zur Teilfinanzierung niedrigerer Einkom- wir vorrangig entlasten.Wir wollen, im Ge- Steuerverhandlungen der letzten Jahre im- mensteuern ist mit Ihnen nicht zu reden? genzug, diejenigen stärker zur Finanzie- mer wieder gezeigt, daß wir zu Kompro- LAFONTAINE: Nein. Wir halten den Vor- rung heranziehen, die bisher Weltmeister missen bereit sind. Die Koalition muß das schlag, die Mehrwertsteuer zur Finanzie- im Suchen von Schlupflöchern waren.Aber neue Angebot nicht öffentlich machen. Das rung von Verbesserungen im Einkommen- auch die großen Vermögen müssen ange- kann auch mit einem Telefonat geschehen. steuertarif einzusetzen – vor allem für die messen besteuert werden. Es muß auch nicht unbedingt Herr Kohl höheren Einkommen –, für falsch. SPIEGEL: Kommt bei einer SPD-Steuer- selbst sein. Nur muß ich wissen, über was SPIEGEL: Akzeptieren Sie denn den Grund- reform denn unterm Strich eine Nettoent- wir reden sollen. satz der Steuerreformkommission: Nied- lastung heraus? SPIEGEL: Laufen Sie nicht Gefahr, mit die- rige Steuersätze, weniger Ausnahmen? LAFONTAINE: Eine Nettoentlastung halten ser Taktik am Ende als der große Verwei- LAFONTAINE: Steuersystematisch ist das wir aufgrund der Situation der Staats- gerer dazustehen? richtig. Aber die Steuerreformkommission haushalte nur in sehr bescheidenem Um- LAFONTAINE: Dieses Lied wird die Koali- hat es versäumt, durchzurechnen, was es fang für möglich.Wir haben schließlich die tion in der öffentlichen Diskussion bis zur heißt, wenn Arbeitnehmer die Steuerfrei- drittniedrigste Steuerquote in der Eu- Bundestagswahl singen. Aber wir vertrau- heit bei den Schichtzulagen verlieren, ropäischen Union. en auf die Kraft unserer Argumente. Ich be- wenn bei der Kilometerpauschale Abstri- SPIEGEL: Eine geringe Nettoentlastung hilft obachte, daß wir in der Bevölkerung dafür che vorgenommen werden oder wenn die der Kaufkraft wenig – von der Sie sich so- immer mehr Zustimmung bekommen. Arbeitnehmerpauschale gekappt wird. Das viel versprechen. SPIEGEL: Dann werden Sie doch mal kon- führt nämlich zu Einkommensverlusten ge- LAFONTAINE: Das ist falsch.Wir haben dazu kret: Über das Steuerreform-Konzept der rade bei den Arbeitnehmern, die im Rah- eine ganze Reihe von Berechnungen vor- Koalition für 1999 wollen Sie am liebsten men der industriellen Produktion große liegen, zum Beispiel vom Deutschen Insti- gar nicht reden? Belastungen durch Wechselschichten und tut für Wirtschaftsforschung.Wenn wir die LAFONTAINE: Über unseriöse Wahlverspre- lange Anfahrtswege haben. Insofern sind kleinen und mittleren, die konsumintensi- chungen brauchen wir tatsächlich nicht zu die Vorschläge nicht durchdacht. ven Einkommen steuerlich entlasten, dann reden. Wir müssen jetzt über steuerliche SPIEGEL: Wenn die Senkung des Spitzen- belebt das die Nachfrage. Möglichkeiten reden – ganz schnell und steuersatzes an der SPD scheitert, so hält SPIEGEL: Unionsfraktionschef Wolfgang dann auch zügig handeln –, die 1998 wir- Ihnen die Koalition entgegen, bleiben die Schäuble wird Ihnen antworten: Die Re- ken, wenn es geht, noch eher. Denn wir erhofften zusätzlichen Investitionen am zepte von Keynes sorgen in Zeiten der Glo- wollen damit die Konjunktur ankurbeln, Standort Deutschland aus. balisierung nicht unbedingt dafür, daß hier die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Da warten LAFONTAINE: Das ist der neueste Witz der mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. wir auf Vorschläge. Standort-Ideologen. Bei der Forderung LAFONTAINE: Herr Schäuble übersieht, daß SPIEGEL: Wie würden Sie einen Vorschlag nach einem niedrigen Spitzensteuersatz seit Jahren die Binnennachfrage stagniert, aufnehmen, der eine Senkung der Lohn- für Privateinkommen geht es nach dem sie macht aber 80 Prozent unserer Wirt- nebenkosten, etwa der Beiträge zur Ar- Motto: Familie Ford zieht nach Deutsch- schaftsleistungen aus. Seine Analyse ist

der spiegel 12/1997 27 Deutschland falsch und daher auch seine Antwort. Der LAFONTAINE: Ich habe von Anfang an gera- amerikanische Ökonom Paul Samuelson ten, die monetären Kriterien des Maas- SUBVENTIONEN hat einmal gesagt: Man muß einem geleh- tricht-Vertrages, also Zinsen, Wechselkur- rigen Papagei nur zwei Wörter beibringen, se und Preisstabilität – sehr ernst zu neh- Falsche nämlich „Angebot“ und „Nachfrage“, und men. Das jahresbezogene Defizit und den schon gilt er als Nationalökonom. Wenn Schuldenstand zu einem entscheidenden man das Repertoire aber auf das Wort Kriterium aufzubauen halte ich für falsch. Sicherheit „Angebot“ reduziert, dann haben wir den In Zeiten der Arbeitslosigkeit muß eine be- Salat, den wir jetzt haben. schäftigungsorientierte Wirtschafts- und Staatliche Hilfen für bedrohte SPIEGEL: Haben Sie Angst, daß Sie Refor- Finanzpolitik gemacht werden. men mittragen, die am Ende ein FDP- oder SPIEGEL: Und wenn dann in Frankreich Branchen verfehlen meist CDU-Etikett aufweisen, und Sie dann als oder in Deutschland am Jahresende ein ihr Ziel – und verzögern den der Gelackmeierte dastehen? Staatsdefizit von 3,5 oder 3,6 Prozent her- notwendigen Strukturwandel. LAFONTAINE: Diese Gefahr sehe ich deshalb auskommt, würden Sie sagen: Das ist, öko- nicht, weil wir wissen, was wir wollen. nomisch gesehen, nicht schlimm? it gut zehn Prozent hat Mülheim Wir haben ein anderes wirtschafts- und LAFONTAINE: Die Aussage des Bundesfi- die niedrigste Arbeitslosigkeit im finanzpolitisches Konzept. Wir sind der nanzministers „3,0 ist 3,0“ steht nicht im Mganzen Revier, eine Zeche gibt es Auffassung, daß Sozialkürzungen, Lohn- Maastricht-Vertrag. Der läßt vernünftiger- dort schon seit 20 Jahren nicht mehr. In zurückhaltung und jährliche Unterneh- weise einen gewissen Spielraum zu. Ich Gelsenkirchen, wo auch heute noch Kohle gefördert wird, liegt die Zahl der Leute ohne Job dagegen mit mehr als 16 Prozent über dem Durchschnitt des Ruhrgebiets. Ökonomen wundert das nicht: Subven- tionen bewirken selten, was sie bezwecken sollen. Die deutschen Steinkohlehilfen soll- ten die Probleme der Arbeitslosigkeit in den angeschlagenen Regionen an der Ruhr lindern – statt dessen haben sie den über- fälligen Strukturwandel eher behindert und falsche Hoffnungen geweckt. Der Geldsegen aus öffentlichen Kassen verleitete viele junge Menschen dazu, im Bergbau einen Job zu suchen. „Es ist per- vers, wenn nach 40 Jahren Bergbaukrise das Durchschnittsalter der Beschäftigten bei 33 Jahren liegt“, sagt Heinz Schrumpf vom Rheinisch-Westfälischen Institut für

SIPA Wirtschaftsforschung in Essen. Konsum in Deutschland*: „Weltmeister im Suchen von Schlupflöchern“ Wegen der Kohle, so Schrumpf, habe ein rechtzeitiges Nachdenken über die Mono- mensteuersenkungen der falsche Weg will nicht maßloser Verschuldung das Wort strukturen – und was danach kommt – nie sind. reden, aber in Zeiten hoher Arbeitslosig- eingesetzt. Die Subventionen hätten sich SPIEGEL: Bei den Steuern auf gewerbliche keit ist das sture Beharren auf den Haus- als Fluch erwiesen, „weil sowohl die Kom- Einkünfte wollen Sie doch auch auf 35 Pro- haltskriterien wirtschaftspolitisch falsch. munen als auch die Menschen immer in zent runtergehen. Die Leidtragenden sind die Arbeitnehmer der falschen Sicherheit gehalten worden LAFONTAINE: Ich habe den Unternehmen in Europa. Der Bundesregierung scheint sind, daß die Kohle eine langfristige Per- immer erklärt: Wenn ihr nominal geringe- langsam ein Licht aufzugehen. Kohl kün- spektive hätte“. re Sätze haben wollt und einverstanden digt zur allgemeinen Überraschung ein „Keine Mark mehr für die Kohle“, lau- seid, daß dafür viele Ausnahmeregeln weg- Konjunkturprogramm an. tet daher die Parole von Erich Staudt, ei- fallen, dann können wir das machen. Ich SPIEGEL: Herr Lafontaine, letzte Woche nem streitbaren Professor für Innova- sage aber – um Advokatenspitzfindigkeiten waren Sie ganz offenkundig der Gegen- tionsforschung an der Ruhr-Universität in vorzubeugen – dazu: Wenn man daraus spieler des Kanzlers. War das auch eine Bochum. Das Geld sollte nach seiner Mei- schließt, daß dann auch der Einkommen- Vorentscheidung in der Frage des sozial- nung besser für zukunftsgerichtete Inve- steuersatz für private Einkommen zwin- demokratischen Kanzlerkandidaten? stitionen eingesetzt werden. „Die Kohle- gend deutlich heruntergehen müsse, weil LAFONTAINE: Da können Sie bohren, soviel subventionen absorbieren die Kraft der die Sätze nicht so weit auseinanderklaffen Sie wollen. Unser Zeitplan liegt fest: Wir Landesregierung zum Wandel“, sagt der dürfen, dann kann der Steuersatz für ge- werden die Entscheidung in dieser Frage Ökonom. werbliche Einkünfte eben nicht so weit ge- rechtzeitig vor der Bundestagswahl 1998 Solche Mahnungen fruchten wenig: Sub- senkt werden. treffen. ventionen haben die kostspielige Eigen- SPIEGEL: Wenn Sie eine Kehrtwende in der SPIEGEL: Sie gehen fest davon aus, daß schaft, daß sie, wenn sie erst einmal be- Wirtschaftspolitik fordern, mit aktiver Be- Kohl wieder antritt? schlossen wurden, kaum wieder abge- lebung der Nachfrage, sollten Sie dann LAFONTAINE: Ich würde das begrüßen. Denn schafft werden können. nicht auch ehrlich sagen: Ich muß den Start derjenige, der die politische Verantwortung Auch nach den jüngsten Bonner Be- der Währungsunion verschieben? Denn die trägt für Rekordarbeitslosigkeit, Rekord- schlüssen bleibt die Steinkohle, gemessen Defizitgrenze von maximal drei Prozent staatsverschuldung und Rekordbelastung an der Zahl der Beschäftigten, der ge- ist so nicht zu schaffen. bei Steuern und Abgaben, sollte sich dem fräßigste deutsche Subventionsbezieher. Urteil der Wählerinnen und Wähler stellen. Rund 120000 Mark werden pro Jahr und * Eröffnung des Berliner Kaufhauses Lafayette im Fe- SPIEGEL: Herr Lafontaine, wir danken Beschäftigten im Kohlebergbau bezahlt. In bruar 1996. Ihnen für dieses Gespräch. absoluten Zahlen allerdings rangieren die

28 der spiegel 12/1997 angeschlagenen Zechen gerade mal auf schlagsteuern sowie dem Solida- Rang vier der vom Staat Begünstigten. ritätszuschlag einnahm. In der Statistik unter dem schönenden „Die Subventionen haben ein Aus- Teure Arbeitsplätze Tarnnamen „Verkehr“ geführt, bekommt maß erreicht, das die Frage nach ei- Subventionen allein der Bahntransport jedes Jahr über ner Kompatibilität mit einer markt- je Beschäftigten 40 Milliarden Mark von Bund, Ländern wirtschaftlichen Grundordnung auf- in Mark und Gemeinden. Damit hält er einen ein- wirft“, tadeln die Kieler Forscher. samen Rekord. Die staatliche Bauförde- „Die Masse der Unternehmen wird Stand: 1995 Steinkohlebergbau: 1996 rung ist mit 35 Milliarden der zweitdickste durch hohe Steuern belastet, damit Schiffbau, Luft- und Brocken, und die Landwirtschaft folgt mit ein enger Kreis von Begünstigten Raumfahrt: 1993 rund 30 Milliarden Mark pro Jahr aus Bonn staatliche Hilfe erhält.“ und Brüssel auf Rang drei. Trotzdem neigen Regierungen Ohne öffentliche Gelder gäbe es in nach wie vor dazu, ausgewählte Be- Deutschland schon lange keine Zeche völkerungsgruppen mit Wohltaten zu Steinkohlebergbau mehr und nur noch wenige Bauern. Die versehen. An Begründungen fehlt es Land- und Forstwirtschaft, Fischerei Wohnungsbau Luft- und Raumfahrt Zahl der Stahlwerke wäre ebenfalls nahe nie. Die Kohle soll laut Subventions- Schiffbau Verkehr bei Null. bericht trotz massenhaft vorhande- 117100 29500 13300 Es gäbe aber auch keinen Airbus, der ner und billiger Kohlevorkommen in 11800 wäre ohne staatliche Subventionen gar der westlichen Welt „als Beitrag zu 23900 23000 nicht erst entwickelt worden. Öffentlicher einer sicheren Energieversorgung“ Quelle: ifo Nahverkehr wäre vermutlich weitaus teu- bezuschußt werden. rer, und eine Karte für den abendlichen In Deutschland wird die Landwirtschaft 40 Jahre nachdem die ersten Schutz- Opernbesuch würde nicht 50, sondern im Zeichen weit offener Weltmärkte noch maßnahmen gegen billige amerikanische wahrscheinlich über 200 Mark kosten. heute mit der Begründung gefördert, daß Importkohle verhängt wurden, ist die deut- Das alles läppert sich. Für das Jahr 1995 „die Versorgung der Bevölkerung mit sche Steinkohle noch immer eine Krisen- hat das Kieler Institut für Wirtschaftsfor- hochwertigen Produkten zu angemessenen branche. Und die Mehrzahl der Werften schung die stolze Summe von rund 300 Preisen“ sichergestellt werden müsse. an Nord- und Ostseeküste konnte auch mit Milliarden Mark errechnet, mit der Bund, In ihrer Entschlossenheit, der eigenen massiven Hilfen nicht vor dem Untergang Länder und Gemeinden Unternehmen, Wählerschaft auf Kosten anderer Gutes zu bewahrt werden. Branchen oder Bevölkerungsgruppen un- tun, schafft es die bayerische Staatsregie- Die kräftige Unterstützung der Land- ter die Arme gegriffen haben. Die Kieler rung sogar, ihren Bauern aus dem Bun- wirtschaft ernährt vor allem ein Heer von Forscher, die den Subventionsbegriff ex- destopf 700 Millionen Mark und aus Mit- Bürokraten. Mittlerweile werden schon 55 trem weit fassen, wagen sogar die Be- teln der Europäischen Union über eine Prozent des EU-Haushalts in den europäi- hauptung, daß die staatlichen Geschenke Milliarde Mark mehr an Agrarsubventio- schen Agrarbereich gepumpt, einen Sektor, sich insgesamt zu 370 Milliarden Mark nen zuzuschanzen, als dem weiß-blauen der nur noch fünf Prozent der Erwerbs- summierten. Das ist ungefähr genausoviel Flächenanteil entspricht. tätigen beschäftigt. wie das, was der Staat mit Lohn- und Ein- Das mag Wählerstimmen bringen – viel In der Stahlindustrie konnten zwei mas- kommen-, Körperschaft- und Zinsab- mehr bewegen die Milliarden aber nicht. sive Verbotsbeschlüsse der Europäischen Gemeinschaft die in den siebziger Jahren begonne- nen Hilfen für die Stahlwer- ke der Mitgliedsländer nicht mehr aus der Welt schaffen. Der Airbus war – von Rest- beträgen abgesehen – nur vom Dauertropf des Staa- tes wegzubringen, weil die amerikanische Regierung den europäischen Sündern mit einem massiven Han- delskrieg drohte. Ruhrkohle-Chef Gerhard Neipp muß nun in den kom- menden Jahren zwar etliche marode Zechen schließen und seine Belegschaft mehr als halbieren, Lehrlinge aber wird er auch weiterhin aus- bilden. Sind die Auszubildenden von heute die Demonstran- ten, die im Jahr 2005 für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze auf die Straße gehen wer- den? Neipp glaubt nicht daran: „Nur zehn Prozent der Lehrlinge“, prophezeit

H. SCHWARZBACH / ARGUS H. SCHWARZBACH er, „gehen in Bergarbeiter- Subventionsbranche Schiffbau: Trotz massiver Hilfe nicht vor dem Untergang bewahrt berufe.“

der spiegel 12/1997 29 FOTOS: D. HOPPE / NETZHAUT FOTOS: Colani-Turm, Bergarbeitersiedlung in Lünen: „Mindestens eine Generation für den Strukturwandel“

Gelände der Landesgartenschau den BERGBAU Eindruck von Tristesse, den viele end- gültig geschlossene Rolläden vor Ge- schäften und Kneipen hinterlassen. „Das halten wir nicht aus“ „Mindestens eine Generation braucht der Strukturwandel“, prophe- zeit Stadtdirektor Hans Wilhelm Sto- Die letzte Zechenstillegung an Rhein und Ruhr dollick. Um bis dahin durchzuhalten, veränderte das Leben in Lünen nachhaltig. gaben die Stadtverwalter Geld, um das Kaufhaus Hertie zu halten. Dem Berg- ie Kohle hätte noch für 100 Jah- rhein-Westfalen an zweiter Stelle hin- bauzulieferer Westfalia kauften sie ein re gereicht“, sagt Manfred Pöh- ter Gelsenkirchen – die Folgen der Ze- Grundstück ab, um das Überleben der Dland, der mit 14 Jahren seine chenschließung sind auch fast fünf Jah- Firma zu sichern. Für Stodollick ist das Lehre unter Tage begann und heute „in re später zu spüren. eine Investition in die Zukunft, „weil ja der Anpassung“ ist, wie die Arbeitslo- Ein Drittel der Kumpel ging damals in den nächsten 25 Jahren weltweit sigkeit bei Bergleuten heißt. in die Anpassung, ein weiteres suchte 4000 Milliarden Dollar in Bergbau- Deshalb haben der gelernte Schlos- sich neue Jobs außerhalb des Berg- technik investiert werden sollen – und ser Pöhland und die Kumpel der Zeche baus, das letzte wurde auf andere Ze- da ist Westfalia führend“. „Minister Achenbach“ in Lünen auch chen verteilt. Diese Kumpel, inzwischen Wie überall, wo Stadtväter nicht wei- erst nicht geglaubt, was Ende der acht- im Durchschnitt 38 Jahre alt, werden terwissen, wurden auch in Lünen Ge- ziger Jahre der DDR-Rundfunk mel- täglich in die Zechen am Niederrhein werbeparks en masse geschaffen. Doch dete: Die Zeche am nördlichen Rand gefahren, ein Weg von drei Stunden – auf dem alten Achenbach-Gelände des Reviers werde dichtgemacht. und dort droht wieder Arbeitslosigkeit. konnte im vergangenen Jahr gerade Offiziell beteuerten Politiker und Im jetzt zechenfreien Lünen kom- mal ein Grundstück verkauft werden. Kohlebosse, bis zur Jahrtausendwende men 50 Arbeitslose auf eine offene Stel- Die Kommunalpolitiker griffen nach könnten die Bergleute weiter in Lünen le, bei den Schlossern bewerben sich jedem Strohhalm. So versprach der einfahren, doch dann wurde der Zeit- gar 65 um einen verfügbaren Job. „Eine quirlige Selbstdarsteller Luigi Colani raum immer kürzer – Mitte 1992 war Katastrophe für die Stadt“, sagt Schi- der Stadt ein Designstudio, wenn man schließlich Schluß für die 2800 Kum- mek, sei zudem der Verlust von 500 nur ein gewaltiges, von ihm entworfe- pel; „Minister Achenbach“ wurde zum Ausbildungsplätzen. nes Kunststoff-Ei auf einen Förderturm bisher letzten Beispiel einer Zechen- „Rund 150 Millionen Mark jährlich baue. Die Stadt tat’s, doch Colani kam stillegung an Rhein und Ruhr. brachte die Zeche nach Lünen“, rech- nicht. Erst zwei Jahre später konnte das Wenn jetzt nach dem Kompromiß net Bürgermeisterin Christina Dörr- „Lüntec-Ufo“ vermietet werden. von Bonn in den nächsten drei Jahren Schmidt vor. Den Kaufkraftverlust ha- Was in den nächsten Jahren droht, ist 4 von 18 Zechen geschlossen, wenn ben Zuweisungen von rund 100 Millio- für Bürgermeisterin Dörr-Schmidt 48000 der 85000 Arbeitsplätze auf lan- nen Mark aus Brüssel, Bonn und Düs- schlimmer als alles, was man bisher ge Sicht „sozialverträglich abgebaut“ seldorf in den letzten fünf Jahren nicht durchgemacht hat: ein Identitätsverlust werden müssen – dann, sagt Pöhland, ausgleichen können. der Stadt, in der bisher die zehn Pro- 52, „werden etliche Kumpel die Unsi- Einen Teil der Hilfe nutzte die Kom- zent ausländischen Bürger als „gut in- cherheit ein drittes oder viertes Mal mune, um die Stadt vor dem Ausbluten tegriert“ gelten. Wenn aber als Folge durchmachen“. zu bewahren. „Die Bergleute mit ihren der jetzt vereinbarten Anpassungen die Die Erklärungen, daß „die hochqua- Familien wären abgewandert, wenn wir schon lange vor Ort arbeitenden türki- lifizierten Bergleute immer eine Stelle uns nicht bemüht hätten, Lünen at- schen Kumpel den jüngeren deutschen finden“, mag der Leiter des Arbeits- traktiver zu machen“, glaubt die Bür- Kollegen vorgezogen würden, gehe der amtes Lünen, Karl-Heinz Schimek, germeisterin. So kaschieren Grün- unter Tage geprägte und über Tage ge- nicht mehr hören. Mit 17,2 Prozent Er- flächen, Baumalleen, stilsicher reno- lebte Zusammenhalt verloren: „Das werbslosen steht die Stadt in Nord- vierte Bergarbeitersiedlungen und das halten wir dann nicht mehr aus.“

30 der spiegel 12/1997 Deutschland

DEMONSTRATIONEN „Jeden Tag eine böse Tat“ Bauarbeiter besetzen den Reichstag, Bergarbeiter stürmen die Bannmeile, Bauern blockieren Atomtransporte – der wildgewordene Widerstand gegen die Bonner Regierung.

ährend letzte Woche die Bergar- rungsgebäude mit Subunternehmen gebaut Hosemann hat diese Woche blau ge- beiter vor den Toren mit Ketten werden, „zu Sklavenlöhnen“, während macht, steht die Nächte bei der Mahnwa- Wrasselten, warfen sich innerhalb 17000 Berliner Bauarbeiter die „Zeugen che durch und läuft morgens bei den Be- des Hohen Hauses die Abgeordneten die Jagodas“ spielen müssen – „dann reicht sichtigungen mit. Wahrheiten an den Kopf. Der Rechtsstaat Verhandeln nicht mehr. Dann müssen wir Er liebt freche Aktionen, fährt jeden drohe zu zerbrechen, warnten Redner der eskalieren“. Tag nur zum Spaß durchs Brandenburger Regierungsfraktion, wenn „die Straße“ das Deswegen Hosemanns Plan. Wenn der Tor – „weil es verboten ist“ – und hat Handeln diktiere, so wie es in den vergan- Hydraulikkran erst mal seine Panne hat, an seinem Blaumann ein Schild: „Böser genen beiden Wochen in Gorleben und im kann er auch gleich ein Plakat hochzie- Buben Club.“ Bonner Regierungsviertel versucht wor- hen: „Für Mindestlohn“ soll draufstehen Motto: „Jeden Tag eine böse Tat.“ den sei. oder „Kohl muß weg“ oder „Schnauze So eine Art kriminelle Vereinigung? Die 665 Strafanzeigen gegen Castor- voll“. Was die Kollegen eben gern rufen „Noch nicht. Mal sehen, wat passiert. Demonstranten waren der Anlaß der De- dieser Tage. Aber dann nur als e. V.“ batte, aber sie wurde zu einer Fernsehen habe „ja ooch wat Auseinandersetzung über den Jutet“, sagt Hosemann, „man neuen Widerstand in Deutsch- lernt wat“. Man trillert wie die in land. Als versuchten sie, den Belgrad, klemmt Kabel ab wie Blockierern des Atomtransports die von Greenpeace und hat mit- nachzueifern, hatten die Bau- bekommen, wie Kreuzungen arbeiter und Kohlekumpel Au- straftatbestandsfrei besetzt wer- tobahnen gesperrt, Polizisten den: „Einfach im Kreis rumlau- überrumpelt, Rathäuser besetzt. fen. Solange ich mich bewege, Ganz normale Menschen waren blockier’ ich nicht.“ plötzlich auf seltsame Ideen ge- Maurerlehrlinge setzen die kommen. Gewerkschaftskappen verkehrt „Wäre dumm, wenn so ein herum auf wie Hip-Hop-Kids riesiger Autokran Hydraulik- und pöbeln die Polizisten in schaden hat, mitten auf dem ihren dieselnden Kleinbussen Potsdamer Platz“, sagte sich an: „Umweltverschmutzer!“ zum Beispiel der Berliner Bau- brüllten sie, das Dosenbier in der arbeiter Klaus Hosemann. Hand.Als sei das die schlimmste „Aber es soll ja vorkommen.“ Beleidigung in diesem Land. Vieles kommt vor. Daß am „Auf dem Bau“, sagt Hose-

Montag der Sicherungskasten PAPARAZZI mann, „bin ick dazu da, Proble- bei Debis am Potsdamer Platz Baustellenleiter Hosemann in Berlin: „Wir müssen eskalieren“ me zu lösen. Und nicht, um zu plötzlich defekt war und die erklären, weshalb etwas nicht Grube voll Wasser lief, kommt lösbar ist.“ In jedem Bauarbeiter vor. Oder daß kreative Bauma- steckt folglich ein Sponti. Man schinenfahrer die berühmten muß ihn nur lassen. „Kräne auf Europas größter Auch die IG Bau hat zum er- Baustelle“ einfach ausknipsten. stenmal im Handbuch der sub- „Das hat allet eine neue Qua- versiven Aktion nachgeschlagen. lität“, sagt Hosemann, der seit Regel Nr. 1: „Wir wissen von 27 Jahren Bauleitung macht und nichts. Aber tut, was ihr tun aus der Berliner SPD austrat, als müßt, Kollegen.“ Seid spontan, er sah, wie ein damaliger Bau- doch erwartet nicht, daß man stadtrat im Puff in der Waitz- euch per Mikro dazu auffordert. straße mit lokalen Baugrößen Nachdem der Oberordner sich die Pfründen aushandelte. In der erkundigt hat, ob Handys ab- Gewerkschaft ist Hosemann seit hörsicher sind, wird Wichtiges vier Wochen: „Bin ick damals übers D1-Netz geregelt. aus Faulheit nicht rein. Aber Für den Notfall gibt’s die ge- jetzt, wenn ich eine halbe Stun- tarnte Sicherheitstruppe „Top de in der Grube rumrennen und Flop“. Denn was auch vor- muß, um einen zu finden, der kommt, ist der Satz: „Wir Deut-

deutsch redet …“ Wenn er sieht, / JOKER ALBAUM P. schen demonstrieren, und die wie ausgerechnet die Regie- Bergarbeiter Jünger (r.) in Bonn: „Geht nach Hause“ Polacken arbeiten.“ Klaus Ho-

der spiegel 12/1997 31 Deutschland semann sagt dann: „Idioten gibt es über- zeiuniformen vorbeidrängeln. Aber dann les muß man neu sortieren, denn es ist ei- all.“ Und gesoffen wird auch ganz schön. liegt der Bauzaun so verlockend platt am niges durcheinander geraten in diesen zor- Am Donnerstag morgen ist aus Hose- Boden, und wenn man schon mal da ist – nigen Tagen von Bonn. manns Plan dann doch nichts geworden: und dann gehen sie in die Grube mit ihren Jünger ist jetzt 40 und dabei ganz plötz- „Die Kumpels haben gekniffen. Versteh’ durchweichten roten Fähnchen und ma- lich radikaler geworden und wundert sich ick. Wenn die Kündigung auf dem Tisch chen die Baustelle dicht. Spontan und ohne selbst ein bißchen, aber Spaß, so sagt er, liegt, ist das nicht mehr so lustig. Aber wir Plan. mache das schon. Es sei „nichts Besonde- haben es probiert. Das zählt.“ „Wir sind nicht berechenbar“, lautet die res mehr“, eine Durchgangsstraße wie die Als der Kran eigentlich planmäßigen Botschaft in diesen Tagen beim Protest in B 9 im Bonner Regierungsviertel dichtzu- Hydraulikschaden haben sollte, stehen die Gorleben, Bonn oder Berlin: „Wir sind vie- machen. Kein Zögern mehr, am Dienstag IG-Bauarbeiter am Zaun der Sony-Bau- le, wir sind wütend, und wir können auch abend ist er einer der ersten, die blockie- grube. Plötzlich liegt der Bauzaun am Bo- anders, als die Gewerkschaft will.“ ren.Weil er ja kein Feigling ist. Und weil er den. Kommt vor. „Liebe Arbeiter“, spricht Darum gilt es zu klären, ob Karl-Heinz hofft, daß die Frau und die drei Kinder ihn die Polizei, „lassen Sie uns Ihr Anliegen Jünger und seine Kollegen von der saar- in der „Tagesschau“ sehen. weiterführen. Bitte gehen Sie weiter.“ ländischen Zeche Warndt-Luisenthal ei- Seit Jahren kriegt er zu hören, daß sich „Los, macht die Baustelle dicht“, mega- gentlich Idioten sind. Manchmal meinen die Republik ihn und seine Arbeit nicht phont ein bärtiges Unikum. „Nee“, brüllt sie nein und manchmal ja. mehr leisten könne – mit rund 120 000 ein anderer, „zur SPD-Zentrale, haben sie In einem Kopf ohne Schlaf wirbeln die Mark pro Jahr sei sie derzeit subven- gesagt.“ Es nieselt. Bei der SPD soll’s Kaf- Sätze durcheinander, da bohren sich Wör- tioniert. fee geben, und außerdem müßte man sich, ter fest wie „Erpressung“ und „Provoka- Er lächelt dann immer so ein bißchen, um in die Grube zu steigen, an den Poli- tion“ und dann wieder „Feigheit“. Das al- weil er ganz andere Zahlen kennt. Und weil das immer so klingt, als ob sie Hät- schelbabys seien, die nur dasitzen und die Hand aufhalten. Dann denkt er an seine Wirbelsäule und an den üblen Tag 1988, als ihm da unten ein paar Kilo Kohle und Geröll ins Kreuz geflogen sind. Er hat Glück, daß er lebt. Selbstverständlich ist er nach Bonn ge- fahren, „um Druck zu machen“. Und als er dann dastand vor der FDP-Zentrale, den blauen Grubenhelm auf dem Kopf und die weiße Wolldecke unterm Arm und dieses verlorene Lächeln im Gesicht, da kam plötzlich ein neues Gefühl auf, das trägt er seitdem mit sich herum: Verachtung, schar- fen Unwillen gegen diejenigen, die sich von Führern und Funktionären alles sagen las- sen, die folgen wie die Schafe. „Geht nach Hause“, hatte Gewerk- schaftschef Hans Berger befohlen, und mehr als 10000 Bergleute aus dem Ruhr- gebiet zogen tatsächlich ab. Jünger blieb, seine saarländischen Kumpel blieben auch. Tagelang hatten sie diese Bilder im Fern- sehen gesehen: Gorleben. Da saßen diese Milchbärte unter Wasserwerfern; ent- schlossene Leute, die nicht einfach nach Hause gingen, wenn jemand sagte: Jetzt ist Schluß. Man hat viel Zeit zu überlegen, wenn man so eine Nacht lang dasteht, am Ab- sperrgitter zur Bannmeile, immer mit dem Gesicht zum Parlament. Mißtrauen hat der Bergmann Jünger mitgebracht aus dieser Nacht. Und den Gedanken, daß er jetzt vielleicht weiß, wie Politik gemacht wird. Wären er und seine Kumpel so ordent- lich und gesittet durch Bonn gezogen, wie das am 1. Mai üblich ist, wären sie wahr- scheinlich als zukünftige Arbeitslose nach Hause gefahren. Das Herumrennen mit einem Transpa- rent in der Hand kann niemanden mehr beeindrucken, und darum gehen solche Demonstranten wie Mihai Dobberthien schon lange nicht mehr auf solche „Latsch-

L. KNÖPKE Demos“. Der 26jährige Handwerker aus Gleisblockierer Dobberthien: Die zukünftigen Generationen hinter sich dem Teutoburger Wald will, daß man ihn

32 der spiegel 12/1997 wirklich sieht und hört, und so kam es, daß werk, den Theo Waigel am vergangenen er sich am 3. März gegen 17 Uhr an der STEUERN Freitag mit viel Eigenlob vorstellte. Eisenbahnstrecke Lüneburg–Dannenberg Doch die Zweifel an der Haltbarkeit sei- einfand und auf einen Betonklotz im Gleis- Erster Treffer ner Gesetzesvorlagen sind wieder ge- bett stieß. Wer den da eingepaßt hatte, wachsen. Schließlich war die Abschaffung weiß Mihai bis heute nicht, jedenfalls sagt Die FDP kommt der Unter- des Steuervorteils für meist Wohlhabende er es. im Referentenentwurf bislang rückwirkend Die beiden Röhren im Klotz boten Platz nehmerlobby entgegen, sie will schon für das gesamte Jahr 1997 verankert. für den Arm von Mihai und den Arm sei- die vereinbarte Streichung In der Fassung, die am Dienstag dem Ka- nes Freundes Udo.Am Ende dieser Röhren von Steuervorteilen aufweichen. binett vorgelegt wird, ist die anstößige Ge- war eine Stahlschlaufe, und an der ketteten setzesänderung getilgt. sie sich an. ermann Otto Solms, Fraktionsvor- Der Erfolg des Solmschen Vorstoßes Zwei Menschen lägen im Gleisbett, teil- sitzender der Liberalen, sah in der bringt den Finanzminister in den Jahren ten die beiden Blockierer über ein Handy Hvergangenen Woche wieder einmal 1997 und 1998 um Steuereinnahmen von der Polizei mit; die könnten sich nicht eine Chance, den Ruf der FDP als Partei etwa 5,5 Milliarden Mark. Für 1998 hält selbst befreien, und darum könne leider der Besserverdiener zu festigen – und er Waigel sich schadlos: Er verschlechtert die der Zug, der vor kurzem den Bahnhof Lü- nutzte sie. Abschreibungsbedingungen für Unterneh- neburg verlassen habe, diese Stelle in der In einem rauhen Brief forderte der Frak- mer bereits ein Jahr früher als geplant. Nähe von Dahlenburg nicht passieren. tionschef den Finanzminister Theo Waigel Damit macht der Finanzminister aller- Es dauerte nur fünf Minuten, bis die (CSU) auf, Sportstars, Managern, Mittel- dings eine schöne Hoffnung zunichte, die Staatsmacht über die beiden Angekette- ständlern und Freiberuflern eine Steuer- er selbst genährt hat: Waigel hatte pro- ten kam. Hubschrauber hingen über ih- vergünstigung noch zwei volle Jahre zu er- phezeit, seine Ankündigung, vom Jahr 1999 nen, gepanzerte Polizisten umstellten sie, halten, die Waigel schon gestrichen hatte: an Abschreibungsvorteile zu kappen, wer- Bundesgrenzschützer zerrten an ihnen herum, Befehlshaber brüllten sie an. Pa- nikmacher in Uniform drohten, den Arm zu amputieren. Während stumme Männer mit Preßluft- hämmern dem Beton rund um seinen Arm zu Leibe rückten, hatte Mihai drei Stunden Zeit, über diesen Atomzug nachzudenken, dessen Lok er in 50 Metern Entfernung warten sah; über die Pflicht, die er emp- findet, die Atomkraft zu bekämpfen, weil sie die Menschheit bedroht; über das Wi- derstandsrecht, daß er sich selbst gibt, weil er glaubt, die Mehrheit der Deutschen hin- ter sich zu wissen und die zukünftigen Ge- nerationen sowieso; über die Strafe, die er sich einhandeln könnte. Als sie ihn schließlich befreit hatten von seinem Klotz, war sein linker Arm taub und ramponiert vom Preßlufthammer. Als der Atomzug vorbeirollte, war er nicht ent- täuscht, sondern glücklich. Ihm reichte die Gewißheit, alles getan zu haben, was er konnte; nicht wieder nur irgendwo geses- sen zu haben und sich verprügeln zu lassen

wie bei den beiden Castor-Transporten da- M. DARCHINGER vor; sondern ein halbes Jahr lang über eine Steuerreformer Solms, Waigel: Zweifel an der Haltbarkeit des Kompromisses Tat nachgedacht zu haben, die beweist, wie ernst es ihm ist mit seinem Protest gegen Abfindungen, Erlöse aus Firmenverkäufen de die Unternehmer veranlassen, Investi- die Weltvergiftung. oder Kanzleiübergaben bis zur Höhe von tionen massenhaft auf 1998 vorzuziehen, Angesichts ihrer großen Existenzängste 30 Millionen Mark sollen vorerst weiter- das Jahr, in dem letztmals zu günstigen müsse man bewundern, sagte der SPD-Ab- hin nur mit einem Steuersatz von höchstens Steuerbedingungen abgerechnet werden geordnete Otto Schily in der Bundestags- 26,5 Prozent belegt werden. Die geplante kann. Nun wird es so nichts mit dem Inve- debatte, wie friedlich die Kohlekumpel de- Erhöhung auf höchstens 35,3 Prozent ent- stitionsboom. Der Rest des Jahres 1997 monstrierten. Und das veranlaßte den fällt. währt nicht mehr lang genug, um kompli- FDP-Generalsekretär, vor einer „Demon- Waigel gab nach: Auch Millionäre müs- zierte Großaufträge abzuwickeln. tage des Rechtsstaates“ durch Bergarbeiter sen dem Fiskus weiterhin von solchen Ein- Solms’ Vorstoß stiftet aber mehr Scha- und Castor-Blockierer zu warnen. künften prozentual nur etwa soviel abge- den. Erstmals rührt ein mächtiges Mitglied Aber: Der nächste Castor soll nicht nach ben, wie der Staat derzeit jedem Hilfsar- der Waigelschen Steuerkommission an ei- Gorleben rollen, und die Bergarbeiter ste- beiter vom Lohn oberhalb des Existenz- nem wichtigen Baustein des vereinbarten hen als Sieger da – das wird wohl, hofft minimums abfordert. Kompromisses. Die Legitimation der Re- Dobberthien, auch andere Verzweifelte er- Dieser nicht begründbare Steuervorteil former, die Begehren anderer Interessen- muntern, aus ihren Demonstrationen wie- wird nun erst im Jahr 1999 mit der großen klubs abzuwehren, ist schon geschwächt, der mehr zu machen als eine folgenlose Steuerreform abgeschafft. So steht es zu- bevor die Schlacht richtig begonnen hat. Veranstaltung latschender Mahner. mindest im Referentenentwurf für das im Die Gefahr sieht auch Solms. Deshalb Alexander Smoltczyk, Barbara Supp Hausjargon „Jumbo“ genannte Reform- begründet er seine Attacke auf Waigels

der spiegel 12/1997 33 Entwurf auch nicht damit, daß Freiberufler und Mittelständler ihn gedrängt hätten, um anstehende Firmenverkäufe etwa zur Fi- nanzierung des Ruhestandes noch ohne Eile nach altem Muster abwickeln zu kön- nen. Vielmehr klagt der Liberale den Fi- nanzminister – teilweise zu Recht – an, mit seinem Entwurf über die gemeinsam ge- faßten Beschlüsse hinausgegangen zu sein. Für die Unternehmerlobby ist das Er- gebnis jedenfalls ein voller Erfolg, darauf hatte sie bei der internen Anhörung im Fi- nanzministerium in der vorletzten Woche noch nicht zu hoffen gewagt. Dort gab es zaghafte Wünsche, der Finanzminister möge doch erwägen, den Steuervorteil nicht ganz zu streichen. Ein Beamter fragte entgegenkommend, ob die Unternehmerschaft denn mit 35 Prozent leben könne, dem künftigen Spit- zensteuersatz auf gewerbliche Einnahmen. Doch das ging dem Steuerabteilungsleiter Abhörstation des amerikanischen Geheimdienstes NSA in Bad Aibling: „Das geht nicht, was die Heinrich Rendels entschieden zu weit. Grundlage der Anhörung seien die Koali- tionsbeschlüsse. Rendels: „Wir haben kei- SPIONAGE ne Dispositionsbefugnis.“ Erfahrungsgemäß sind die internen An- hörungen im Finanzministerium relativ Dinner for two sachliche Diskussionen. Die grobe Lobby- Arbeit folgt erst später, trotzdem aber lan- Fast drei Jahre wurde ein Referatsleiter im Bonner deten die Bilanzjuristen der Wirtschaft einen ersten Treffer. Wirtschaftsministerium von CIA-Agenten ausgeforscht. Das Zur Finanzierung des niedrigeren wilde Treiben der US-Dienste ist jetzt kein Tabu mehr. Steuertarifs für gewerbliche Einkünfte – er sinkt 1998 im ersten Schritt von 47 auf er Beamte Klaus Dieter von Horn, se Plant doch wissen. Der Amerikaner ver- 40 Prozent – will Waigel unter anderem 60, ist schon von Amts wegen vor stand, ließ sich aber nicht abschütteln. ein „Wertaufholungsgebot“ einführen. Das DSpionen auf der Hut – der Ministe- Im Mai vorigen Jahres lud er Horn wie- bedeutet: Eine in der Bilanz längst auf rialrat ist im Bundeswirtschaftsministeri- der zum Abendessen ein. Er verlasse die eine Mark abgeschriebene Werkzeug- um zuständig für den arabischen Raum. Botschaft, teilte er mit, und überreichte maschine, die aber noch für zwei Millionen Kundschafter aus Nahost, aber auch dem zum Abschied noch einen Montblanc- verkauft werden könnte, muß wieder Späher anderer Regionen, weiß der Leiter Kugelschreiber im Wert von fast 300 Mark. mit diesem Wert geführt werden. Aus ei- des Referats VB7, Schwerpunkt Iran, in- Außerdem stellte er seinen Nachfolger vor: nem verdeckten Gewinn wird so ein offe- teressiert brennend, welche Akten auf sei- Peyton K. Humphries, einen Diplomaten ner, auf den der Fiskus zugreifen kann. Das nem Schreibtisch landen. mit dem Arbeitsfeld Iran. Plant bat, den soll dem Staat von 1998 an Jahr für Jahr Dennoch schenkte der Bonner Beamte Namen nicht zu vergessen. fünf Milliarden Mark Mehreinnahmen den Bemühungen von Geoffrey Plant Das war garantiert. Andere Behörden bringen. zunächst keine große Beachtung, stand der erwarteten den neuen zweiten Sekretär Wolfgang Ritter, Steuerexperte beim doch im diplomatischen Dienst des großen der US-Botschaft schon mit großem Inter- Bundesverband der Deutschen Industrie, Bruders USA. Horn und Plant hatten sich esse: Die deutschen Geheimdienste wollten machte sich über Waigels Gesetze lustig. Ende 1994 kennengelernt, und alle drei, vier prüfen, ob die Amerikaner das Agenten- Ob denn Siemens, wollte er wissen, zur Wochen bat der Amerikaner den Deut- spiel mit diplomatischem Undercover wei- Feier seines 150jährigen Jubiläums jetzt schen zum Dinner for two. Der II. Secretary tertreiben wollten. rückwirkend alle in der Bilanz aus alten der US-Botschaft plauschte dabei gern über Denn schon im Sommer 1995, nach den Zeiten aufgeführten Posten neu bewerten seinen Arbeitgeber und stellte noch mehr ersten Gesprächen mit Plant, hatte sich der solle. Im Prinzip, so der Steuerprofessor Fragen über Horns Ministerium. mißtrauische Horn mit dem Bundesnach- der Industrie, könne man mit einem Den politischen Hintergrund des Berli- richtendienst (BND) und dem Bundesamt Wertaufholungsgebot leben, aber nur von ner Mykonos-Prozesses ließ er sich er- für Verfassungsschutz (BfV) in Verbindung nun an. Die Schätze der Vergangenheit klären, auch die Hermes-Kredite für Iran- gesetzt. Offenbar seien, berichtete er, ame- müßten unangetastet bleiben. Exporte interessierten ihn. Als Bonn im rikanische Spione auf ihn angesetzt. Geändert wird der Referentenentwurf August 1995 den Iran bat, zwei als Spione Korrekt unterrichtete er das BfV über trotz Ritters Intervention zwar nicht.Aber entlarvte Mitarbeiter der Bonner Residen- die diversen Treffen und lieferte auch man einigte sich locker auf eine gemeinsa- tur ohne Rückfahrkarte in den Urlaub zu Präsente wie Kugelschreiber und Champa- me Interpretation: Die Neubewertung geht schicken, wollte Plant alle Details hören. gner ab. Als ihn dann Humphries nach sei- nur bis zum Jahr 1986 zurück, dem Jahr, in Ein anderes Mal bat er ganz höflich um ner Rückkehr von einer Teheranreise über dem das geltende Bilanzrichtlinien-Gesetz eine Liste jener Firmen, die Waren aller den geplanten Weiterbau des Kernkraft- wirksam wurde. Art, vor allem High-Tech, in den Mullah- werks Busher ausforschte, schilderte Horn „Das kostet Waigel“, so ein Industrie- Staat lieferten. Der Ministerialrat blieb zu- das US-Interesse bis ins letzte Detail. experte, „höchstens eine Milliarde.“ Also vorkommend, lehnte aber ab. Solche Pa- Was da ablief, war für die Agentenjäger sei es ein guter Kompromiß. ™ piere dürfe er nicht herausgeben, das müs- des BfV ein Fall aus dem Lehrbuch: Späher

34 der spiegel 12/1997 ACTION PRESS ACTION hier treiben, die sollen sich an Recht und Gesetz halten“

einer fremden Macht wollten einen deut- wurf des CIA-Mannes bietet die Chance, zapfen ohne Rücksprache neue Quellen schen Spitzenbeamten anwerben. Zum das Spionieren unter Freunden nicht länger an, und wer immer zwischen Alpen und kleinen Einmaleins der Agentenschule als Tabu behandeln zu müssen. Ostsee zum Telefonhörer greift, muß ge- gehört – wie im Fall Horn – der Quelle Sechseinhalb Jahre nach der Wieder- wärtig sein, daß auch die NSA aufgeschal- zunächst Probeaufträge wie die Beschaf- vereinigung und dem Ende der Sonder- tet ist – Vorsicht, Freund hört mit. fung offenen Materials zu stellen. Und es rechte alliierter Streitkräfte sind die Deut- Allgegenwärtig waren die amerikani- paßte auch, daß der Deutsche mit nie- schen auf konspirativem Gebiet immer schen Lauscher vor der Wende. Sie unter- mandem, auch nicht mit anderen An- noch nicht Herren im eigenen Haus. hielten einen Horchposten auf dem Berli- gehörigen der US-Botschaft, über die Be- Nach wie vor agiert manch ner Teufelsberg, um Ost-Berlin gegnungen reden sollte. Humphries: „Da westlicher Dienst – die Ame- in der Leitung zu haben, und gibt es zwei konkurrierende Lager.“ Der rikaner vornweg – hier unge- den Westen wohl auch. In Frank- Geheimdienst CIA und die Wirtschaftsab- hemmt wie auf dem eigenen furt am Main, gleich an der teilung der Botschaft sind sich nicht grün. Hinterhof. Zeil, war auch eine imposante Nachdem die Spezialisten der deutschen Hortensie I, so das Synonym Lauschstation untergebracht. Spionageabwehr alle Pläne verworfen hat- des BND für die CIA, und In der Lech-Ebene bei Gab- ten, die wie eine Festung am Rhein lie- Hortensie III, wie der unheim- lingen errichteten die Amerika- gende US-Botschaft an der Deichmanns lichste amerikanische Ge- ner ein mächtiges, kreisförmiges Aue 29 zu knacken oder Humphries Tele- heimdienst, die Lauscher von Antennengitter – etwa 300 Me- fon abzuhören, lud im Februar dieses Jah- der National Security Agency ter im Durchmesser und 100 Me- res BfV-Chef Peter Frisch den Bonner CIA- (NSA), genannt werden, sind ter hoch. Oben hörten sie auf

Chef Floyd L. Paseman zum Gespräch. wie die gleichnamige Blume: L. KUCHARZ Kurzwelle die Marschbefehle Humphries, forderte Frisch, solle das Land ein strauchiges Gewächs mit BfV-Chef Frisch der östlichen Generalität und verlassen, auch das Kanzleramt und das starken Wurzeln. der Kriegsherren auf dem Bal- Auswärtige Amt seien verärgert. Die „befreundeten Dienste“ würden zu- kan ab.Was sie unter der Erde taten, ist ihr Paseman bestritt zwar die Spionagever- nehmend in der deutschen Hauptstadt Geheimnis geblieben. sion, sicherte aber Anfang März den Abzug tätig, berichtete im Februar der Berliner Der Teufelsberg ist geräumt, da die Ame- des CIA-Agenten bis zum 30. Mai zu. Ein- Innen-Staatssekretär Kuno Böse (CDU). rikaner weiter gen Osten gezogen sind. dringlich bat er, den Fall äußerst diskret zu Mitte vergangenen Monats trafen sich in Auch die Frankfurter Filiale ist geschlossen, behandeln. Bad Neuenahr die Chefs der Verfassungs- Gablingen soll im kommenden Jahr aufge- Daraus wurde nichts. Seit der spiegel schutzbehörden, um die „Abwehrarbeit geben werden. vorige Woche erste Einzelheiten der Aus- neu zu strukturieren“. Eine „Ostfixierung Aber der Stolz der Amis, „ihr Riesen- spähaktion berichtete, sind die Beziehun- der Blickrichtung“, notierten sie unter ohr“ in Deutschland, wird bleiben, und es gen zwischen der Bundesregierung und Punkt 4, „würde nicht mehr der politischen läßt den gewöhnlichen Lauschangriff ziem- Washington nicht frei von Irritationen. Realität entsprechen“. Es dürfe „keine Ver- lich gewöhnlich erscheinen: Die Anlage In den USA wurden Vergleiche zu dem engung des Blickfeldes nach Osten geben“. steht im oberbayerischen Bad Aibling. In Rauswurf von vier CIA-Agenten im Jahre Der Blick gen Westen zeigt erstaunliche einer Landschaftsidylle breitet sich un- 1995 in Frankreich angestellt. „Warum Aktivitäten: Über 1000 Lauschtechniker übersehbar das Reich von Hortensie III spionieren die Vereinigten Staaten ihre und 100 gelernte US-Agenten tummeln aus. Gigantische Antennenanlagen, die un- Freunde aus?“ fragte das wallstreet- sich nach Schätzungen von Sicherheitsex- ter ihren geriffelten Schutzhauben wie rie- journal. „Schande“, leitartikelte die chi- perten noch auf deutschem Boden. Allein senhafte Golfbälle die Ebene überragen, cago tribune. Washington behandele in der amerikanischen Residenz am Rhein horchen das russische Militär aus. Russi- Deutschland immer noch als Agentenzen- werden 20 Nachrichtendienstler vermutet. sche Satelliten werden angepeilt, der Tele- trale wie „zu Zeiten des Kalten Krieges“. Die Späher der befreundeten Macht sit- fonverkehr der Führung der früheren In Bonn fürchten die Zaghaften nun Är- zen in Konsulaten, alliierten Oberkom- Sowjetarmee mitgeschnitten. ger mit dem großen Bruder.Aber es macht mandos und Kasernen. Sie versuchen, Gleich nebenan, in der deutschen Mang- sich auch Erleichterung breit. Der Raus- Agenten in Deutschland anzuwerben, sie fall-Kaserne, residiert die sogenannte Fern-

der spiegel 12/1997 35 Deutschland meldeweitverkehrsstelle des BND. Die Begründung, habe nichts Gleichwertiges sprechen, aus der gesamten Bundesrepu- Pullacher Tarneinrichtung (Objekt „Ori- zu bieten. blik nach München. Pro forma wird der on“) darf die amerikanischen Antennen Es geht aber wohl eher darum, den BND um Zustimmung gebeten, aber die nutzen, knapp hundert Horcher werten das Deutschen nicht zu verraten, was man Gespräche finden zumeist ohne deutsche kyrillische Sprachgewirr aus. wirklich tut. Wenn amerikanische und Beteiligung statt, von möglichen Rekrutie- Aber der Friede täuscht. Das Nachrich- deutsche Sicherheitsexperten recht haben, rungen für die CIA erfährt der BND nichts. tenimperium NSA (geschätzter Etat: drei- werden von Bad Aibling aus europäische So quetschten die Amerikaner überge- einhalb Milliarden Dollar, rund 100 000 Konzerne systematisch ausgespäht. laufene russische Soldaten, Bürgerkriegs- Mitarbeiter) unterhält in Bad Aibling einen Schon vor Jahren hatte US-Präsident Bill flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien oder Asyl- weitläufigen Komplex, der für deutsche Clinton den amerikanischen Geheimdien- bewerber aus der Nahostregion aus. Den Geheimdienstler Terra incognita ist. Und sten ein größeres Engagement bei der Wirt- VIPs unter den Befragten wird Asyl in den da geht es längst nicht mehr um das legiti- schaftsspionage verordnet. Als der eu- USA angeboten. Selbst Antragsteller, die me Sicherheitsbedürfnis der Amerikaner. ropäische Flugzeugriese Airbus Industrie, sich in Übersee melden, werden zum Ver- Mitten in Deutschland sitzt eine Steuer- an dem Deutschland zu 37,9 Prozent be- hör zu den Münchner Spezialisten ge- zentrale für die vielen amerikanischen teiligt ist, mit zwei US-Konzernen um ei- bracht. Spionagesatelliten, die, so ein Bonner Si- nen Großauftrag für Saudi-Arabien kon- Lange Zeit hat die deutsche Politik vor- cherheitsexperte, „längst nicht mehr nur kurrierte, mischte die NSA mit. Sie fischte wiegend mit Verdrängung auf das Treiben den Osten ausspähen“. Die im nahen Or- alle Faxe und Telefonate zwischen Airbus des außer Kontrolle befindlichen Dienstes bit kreisenden Himmelskörper amerikani- und den Saudis ab. Die Amerikaner kann- reagiert. Im Herbst 1994 richtete das Kanz- leramt, natürlich streng vertraulich, eine Arbeitsgruppe ein, um die Amerikaner und andere befreundete Dienste in den Griff zu bekommen. Drei Ministerien und drei Geheimdien- ste saßen an den Tischen, den Vorsitz hat- te der damalige Abteilungsleiter im Kanz- leramt, Rudolf Dolzer, ein Professor für Völkerrecht. „Das geht nicht, was die hier treiben“, erregte sich Dolzer, „die sollen sich an Recht und Gesetz halten.“ Den Amerikanern, so plante die forsche Männerrunde, sollte verboten werden, ohne deutsche Beteiligung Asylbewerber auszuhorchen, in Bad Aibling sollten BND- Spezialisten den Amerikanern über die Schulter schauen, die Werbung von Quel- len untersagt werden. Schließlich unterlä- gen auch Spionageaktivitäten befreundeter Staaten – so das Fazit – keinem politi- schen Schutz. 1995 erlahmte der Abwehrwille plötz- lich. Die Abstände zwischen den Sitzungen wurden immer länger, schließlich kam überhaupt keine Einladung mehr aus dem

J. H. DARCHINGER J. Kanzleramt. Vor allem das BfV, das schon Amerikanische Botschaft in Bonn: Champagner für Geheimes Listen mit den Namen verdächtiger Agen- ten angelegt hatte, war enttäuscht. „Da scher Provenienz saugen sich über ten so den Gegner und waren bei ihren muß“, so ein Geheimdienstler, „jemand Deutschland, einem riesigen Staubsauger Angeboten nicht mehr zu schlagen – im- ganz oben den Stecker gezogen haben.“ gleich, mit elektronischen Signalen voll. merhin ging es um Bestellungen im Wert Ob der Fall des CIA-Spions Humphries Über codierte Signale ruft Bad Aibling die von sechs Milliarden Dollar. jetzt die Amerikaner zur Umkehr bewegen Speicher der Satelliten ab und durchforstet Während Briten und Franzosen die Sou- wird, erscheint zweifelhaft. Helmut Kohl die aufgestauten Telefonate, Faxe und den veränität Deutschlands einigermaßen re- jedenfalls, der das Agentengewerbe nicht Computerverkehr nach aufregendem Stoff. spektieren, gebärden sich die Amerikaner, für sonderlich bedeutend hält, liegt viel an Bis 1995 firmierte die Station offiziell als deren Ziehkind der BND war, wie eine Sie- der Freundschaft mit den Amerikanern. Einrichtung der NSA. Um den Schein zu germacht. Sie pochen auf Zusatzabkom- Den Kanzler kann auch die unheimli- wahren, übernahm dann ein Oberstleut- men zur nachrichtendienstlichen Zusam- che NSA nicht schrecken. Zwar hat er Te- nant der U. S. Air Force das Kommando, menarbeit mit „den alliierten Entsende- lefone, die garantiert abhörsicher sind. die Fahne der Militärs flattert demonstra- streitkräften“. Danach müssen die Deut- Selbst wenn er in Urlaub an den Wolf- tiv im Wind. Aber immer noch arbeiten schen „die Erfordernisse der militärischen gangsee fährt, baut ihm der BND jedes- auf dem riesigen Komplex nach BND- Sicherheit“ bei den hiesigen Nato-Kontin- mal eine Anlage auf, die auch von der NSA Schätzungen über 1000 Abhörer. Schät- genten berücksichtigen. Da bleibt reichlich nicht zu knacken ist. Doch die abhörsiche- zungsweise 150 kommen direkt von der Spielraum für die Heimlichtuerei auf deut- ren Apparate haben einen entscheidenden NSA, die das Controlling leitet und die schem Boden. Nachteil: Der Partner muß erst einmal aus- Aufgaben stellt. In ihrer Dienststelle „Westport“ im sprechen, bevor man selbst reden kann. Trotz vieler Anfragen hat Hortensie III Münchner Osten unterhält die CIA bis Deshalb greift der Kanzler zum Verdruß einen Austausch aller Informationen aus heute eine sogenannte Befragungsstelle. der Sicherheitsleute lieber zum alten der „nichtmilitärischen Aufklärung“ in Bad Die Amerikaner bitten Asylbewerber oder Telefon – ein Freund traut eben dem Aibling strikt abgelehnt. Der BND, so die Aussiedler, von denen sie sich Material ver- Freund. ™

36 der spiegel 12/1997 P. FRISCHMUTH / ARGUS FOTOARCHIV P. Rentenempfänger von heute, von morgen: „Ganz Deutschland ist jetzt in einer Ausnahmesituation“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Wahrheit sagen“ Zwischen zwei Rentenmodellen soll sich die CDU auf einem Parteitag in Bonn entscheiden. Norbert Blüm will die Rentenversicherung sanieren, Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf will sie abschaffen – aber eine Grundrente garantieren.

SPIEGEL: Herr Biedenkopf, haben Sie den Widerstand der Bergleute gegen den Kurt Biedenkopf sen aber noch die Beiträge zur Kran- Abbau der Kohlesubventionen für berech- wirbt seit Jahren für sein Gegenmodell ken- und Pflegeversicherung bezahlt tigt gehalten? zur gesetzlichen Rentenversicherung. werden. Einkalkuliert sind dazu eine BIEDENKOPF: Ich hielt ihn für überzogen. Nach dem Konzept des sächsischen Anhebung der Lohn- und Einkommen- Allerdings glaube ich, daß durch rechtzei- Ministerpräsidenten soll steuer sowie der Mehr- tige Aufklärung eine sanftere Landung die Rente künftig durch wertsteuer.Am Mittwoch möglich gewesen wäre. Steuern statt Versiche- wird ein kleiner CDU- SPIEGEL: Sie haben also Verständnis für die rungsbeiträge finanziert Parteitag über die kon- Wut der Bergarbeiter? werden. Eine staatliche kurrierenden Rentenkon- BIEDENKOPF: Wer die schlechte Botschaft Grundrente – Biedenkopf zepte von Biedenkopf so vermittelt, muß mit einer heftigen Ge- spricht von einer „Bür- und Bundesarbeitsmini- genreaktion rechnen. Die Sonderbehand- gerrente“ – bekommt so- ster Norbert Blüm ab- lung der Kumpels ist nicht zu rechtfertigen, mit jeder, der als Erwach- stimmen. Blüm will aber das hätte den Betroffenen früher und sener mindestens 25 Jah- die Rentenversicherung klarer gesagt werden müssen. re in Deutschland gelebt durch eine langfristige SPIEGEL: Das hat auch die CDU nicht ge- hat und älter als 65 ist. Senkung des Rentenni- macht. Die Höhe hängt dabei veaus und Verlängerung BIEDENKOPF: Richtig. Als Norbert Blüm vom Volkseinkommen der Lebensarbeitszeit 1987 den CDU-Vorsitz in Nordrhein-West- ab, in das Einkünfte aus stützen. Die Rentenkasse falen übernahm, wurde ihm eine Gruben- unselbständiger Arbeit, soll zudem durch einen

lampe und der Handschuh eines Stahlwer- aus Unternehmertätigkeit M. DARCHINGER höheren Bundeszuschuß kers überreicht. Er hätte einen Computer und aus Vermögen flie- von versicherungsfrem- bekommen müssen. Das wäre ein Zeichen ßen. Biedenkopf, 67, schlägt einen Satz den Leistungen entlastet werden. Der für die Zukunft gewesen. von 55 Prozent des Volkseinkommens CDU-Parteivorstand entschied sich am pro Kopf vor – das wären derzeit rund vergangenen Freitag mit deutlicher Das Gespräch führten die Redakteure Winfried Didzo- 1540 Mark pro Monat. Hiervon müs- Mehrheit für das Blüm-Modell. leit, Martin Doerry und Elisabeth Niejahr.

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SPIEGEL: Vergangene Wo- mehr, daß die abverlang- deutsche Wohlstandsgesellschaft – oder zu- che hat der Bundeskanzler ten Opfer wirklich nötig mindest die CDU – reformunfähig? versprochen, daß der Berg- sind. BIEDENKOPF: Das läßt sich erst am Ende bau, wenn auch in kleine- BIEDENKOPF: Meine Erfah- der Debatte beantworten. Fest steht nur, rem Umfang, auf Dauer er- rung aus Ostdeutschland daß die Rentenreform heute viel dringli- halten bleiben soll. lehrt mich, daß das nicht so cher ist als vor zwölf Jahren. Deshalb ist BIEDENKOPF: Eine Verrin- sein muß. Ich habe meinen die Unterstützung in der CDU auch ge- gerung der Belegschafts- ersten Wahlkampf in Sach- wachsen. zahlen wäre schon mal sen auch mit der Aussage SPIEGEL: Mit welchen Argumenten wollen ein wichtiger Schritt. Alles bestritten: Wir werden bis Sie Ihre Parteifreunde überzeugen? andere läßt sich bei uns zu 40 Prozent Arbeitslo- BIEDENKOPF: Erstens wachsen die heute 30- in Ostdeutschland auch gar sigkeit bekommen, aber in bis 40jährigen bereits in ein System hinein, nicht vermitteln. In Sach- fünf Jahren werdet ihr stolz das die alten Versprechen der Alterssiche- sen, Brandenburg und M. DARCHINGER sein auf das, was ihr ge- rung nicht einlösen wird. Zweitens wirkt Sachsen-Anhalt sind seit „Man darf beim macht habt … die bisherige Sozialpolitik verheerend auf 1992 über 100 000 Berg- SPIEGEL: … das mag in Aus- den Arbeitsmarkt. Mit den gegenwärtigen bau-Jobs abgebaut worden ersten Widerstand nahmesituationen funktio- Lohnnebenkosten werden wir den Aufbau – mehr Arbeitsplätze, als es nicht gleich nieren. Ost nicht schaffen. Der dritte Grund ist Eu- derzeit im gesamten Stein- zurückstecken, BIEDENKOPF: Aber ganz ropa: In der Währungsunion wird es fle- kohlebergbau noch gibt. sonst gerät ein noch Deutschland ist jetzt in xiblere Arbeitsmärkte geben. Dann min- SPIEGEL: Die Sozialdemo- einer Ausnahmesituation. dern die hohen Lohnnebenkosten die kraten haben ihr Wahl- so geschlossenes Wir haben die Währungs- Chance deutscher Arbeitnehmer ganz kampfthema gefunden: die Konzept union vor uns, Europa öff- enorm. soziale Kälte der Kohl-Re- ins Rutschen“ net sich nach Osten, und SPIEGEL: Warum hat sich Ihr Rentenkon- gierung. Was folgt daraus wir müssen mit der Globa- zept, das fast allen nur Vorteile verspricht für die Union ? lisierung der Märkte fertig und außerdem noch billiger sein soll, nicht BIEDENKOPF: Oskar Lafontaine spielt doch werden. Wenn wir das alles mit den ge- schon längst durchgesetzt? nur mit der Angst der Menschen. Etwa 75 burtenstarken Jahrgängen, die jetzt auf BIEDENKOPF: Wir haben es derzeit noch bis 80 Prozent bezeichnen ihre eigenen dem Arbeitsmarkt sind, nicht schaffen, mit einem System zu tun, das lange Zeit wirtschaftlichen Verhältnisse als gut bis voll werden wir es überhaupt nicht mehr be- außerordentlich erfolgreich war. Wer als befriedigend, nur die gesamtwirtschaftli- wältigen. Lediger 1930 seine Arbeit aufnahm und che Situation als schlecht. Mit ihren SPIEGEL: Vielleicht ist ja das System Kohl nach durchschnittlichem Verdienst 1975 in Attacken entfernt sich die SPD von der überfordert. Lassen sich die großen Pro- Rente ging, hat für jede eingezahlte Mark Realität. bleme nur mit einer Großen Koalition 2,06 Mark herausbekommen. Das ent- SPIEGEL: Diese Realität besteht aber lösen? spricht einer Realverzinsung von 4,7 Pro- aus fast fünf Millionen Arbeitslosen und BIEDENKOPF: Das glaube ich nicht. Es zent. Wer aber ab 1970 Beiträge gezahlt Hunderttausenden, die um ihren Job kommt darauf an, die Probleme zu benen- hat und im Jahre 2014 ausscheidet, be- fürchten. nen und anzupacken. Ich habe jedenfalls kommt für jede eingezahlte Rentenmark BIEDENKOPF: Die Verstärkung von Ängsten ist keine Politik, sondern Populismus. Ent- scheidend ist doch, was wir tun. Erzeugen Grundrente für alle? wir die Illusion, auf dem bisherigen Wege „Die gesetzliche Rentenversicherung könnte langfristig gesichert werden, könne man das Ziel, den Abbau der Ar- wenn aus geringeren Beiträgen künftig nur noch eine Grundrente finanziert würde. beitslosigkeit, immer noch erreichen? Oder Darüber hinaus müßte jeder privat für seine Altersversorgung aufkommen. sagen wir den Menschen schonungslos, was Würden Sie diesen Vorschlag befürworten?“ wirklich los ist? SPIEGEL: Bonn hat eine ganze Menge ver- ja, auf nein, auf BEFÜRWORTER NACH ALTER jeden Fall keinen Fall sprochen: die Halbierung der Arbeitslosig- 18 – 24 25 – 29 30 – 44 45 – 59 über 59 keit, niedrige Lohnnebenkosten und einen 15 27 69 44 57 42 45 stabilen Euro – bisher ohne jeden erkenn- baren Erfolg. Angaben NACH EINKOMMEN* in Prozent BIEDENKOPF: Richtig. Das bedaure ich auch. bis 1999 . . .2999 ...3999 ...4999 ab 5000 SPIEGEL: Woran liegt es denn, daß die Po- 35 22 litik sich ständig im Wirrwarr der Interes- 52 47 53 47 58 sen verheddert – zum Beispiel bei der eher ja eher nein Steuerreform, für die ein diskutables Kon- * Haushaltsnettoeinkommen in Mark; Emnid-Umfgrage vom zept vorlag? an 100 fehlende Prozent: keine Angabe 17. und 18. 2.1997, 1000 Befragte BIEDENKOPF: Erst wurde vieles aufgescho- ben, und jetzt kommt alles auf einmal. Man nicht die geringsten Schwierigkeiten, je- nur noch 98 Pfennig. Das widerspricht je- kann den Menschen zum Beispiel durchaus dem beliebigen Auditorium zu erklären, der ökonomischen Vernunft. erklären, warum die Besteuerung von Ren- was zum Beispiel bei der Rente getan wer- SPIEGEL: Seriöse Berechnungen, etwa vom ten prinzipiell sinnvoll wäre, zumal sie nur den muß. Verband Deutscher Rentenversicherungs- für eine kleine Zahl von Rentnern wirksam SPIEGEL: Aber schon seit zwölf Jahren for- träger, kommen zu einem ganz ande- würde. Nur darf man beim ersten Wider- dern Sie einen radikalen Systemwechsel ren Ergebnis, nämlich zu einer positiven stand nicht gleich korrigieren und zurück- in der Rentenpolitik.Auf dem kleinen Par- Rendite. stecken, sonst gerät auch ein noch so ge- teitag der CDU in dieser Woche werden Sie BIEDENKOPF: Diese Rechnungen kenne ich schlossenes Konzept ins Rutschen. ein weiteres Mal Ihre Idee einer steuerfi- nicht. SPIEGEL: Offensichtlich glauben viele nanzierten Grundrente präsentieren – und SPIEGEL: Noch haben aber auch Sie keine Menschen den Politikern inzwischen nicht wahrscheinlich wiederum scheitern. Ist die genauen Zahlen für Ihr Modell vorgelegt.

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BIEDENKOPF: Wir haben schon viele Zahlen Jahren, nämlich 69,8 Pro- wird sagen, das sei unsoli- vorgelegt, das gesamte Rechenwerk wird zent. Und in anderen darisch. folgen. Es ist unstrittig, daß die Renditen in Industrieländern wie der SPIEGEL: Wo ist da der der Rentenversicherung schlechter werden. Schweiz und den USA ist große Unterschied zum be- Nach den neuen Vorschlägen von Blüm fal- diese Quote jahrelang ge- stehenden System? Auch len die Leistungen aus der Rentenkasse im stiegen. Norbert Blüm sagt den al- übrigen noch geringer aus, und die Beiträ- BIEDENKOPF: Die Situation ten Menschen, daß ihre ge sinken trotzdem nicht. in diesen Ländern ist nicht Renten kaum mehr steigen SPIEGEL: Seit Jahrzehnten prophezeien vergleichbar. Die Arbeits- werden. viele kluge Leute den Untergang des plätze sind in den USA BIEDENKOPF: Norbert Blüm Rentensystems. Trotzdem funktioniert es weniger kapitalintensiv, es stützt die Last der Alterssi- immer noch. gibt mehr Niedriglohnjobs. cherung nur auf die Arbeit. BIEDENKOPF: Das beeindruckt mich nicht, Ich rechne jedenfalls mit Das entläßt alle Leute, die weil die wichtigsten Voraussetzungen für einer fallenden Quote. Al- M. DARCHINGER Vermögen bilden und sich das System entfallen: erstens eine norma- lein die Tatsache, daß man „Wollen wir selbständig machen, aus le Bevölkerungsstruktur mit ausreichend über diesen Trend streiten der Solidarität. Wenn wir Nachkommen und zweitens ein klassischer kann, sollte uns zwingen, an der Illusion dieses System behalten, Arbeitsmarkt. In Zukunft werden Rentner eine sichere Basis aller festhalten, daß die wird die Zahl derer noch immer häufiger auf die Sozialhilfe zurück- Berechnungen zu suchen. überwältigende kräftig steigen, die sich greifen müssen. Wer lange arbeitslos war, Und das ist das Volksein- Mehrheit der selbständig machen, um wegen kleiner Kinder zu Hause geblieben kommen. aus der Rentenversiche- ist oder immer nur Teilzeitjobs hatte, wird SPIEGEL: Aber auch Ihr Mo- Bürger unfähig ist, rung ganz aussteigen zu weniger Geld aus der gesetzlichen Ren- dell kommt in Schwierig- für sich selbst können. tenversicherung bekommen, als die So- keiten, wenn wenig junge zu sorgen?“ SPIEGEL: Deswegen muß zialhilfe zahlt. Menschen für viele Alte man ja nicht gleich das Sy- SPIEGEL: Trotz aller dramatischen Progno- sorgen müssen. stem wechseln. sen sind heute weniger als zwei Prozent BIEDENKOPF: Jetzt sind wir beim Kern des BIEDENKOPF: Doch, um die Basis der Soli- der Rentner Sozialhilfeempfänger. Problems – der Frage, was wir unter Soli- darität zu verbreitern. Es geht letztlich um BIEDENKOPF: Die Zahlen von Herrn Blüm darität verstehen. Lassen Sie mich das eine viel tiefer gehende Frage: Wollen halte ich für wenig seriös. Wir wissen sehr an einem Bild von Johann Peter Hebel wir an der Illusion festhalten, daß die wenig über die wahre Altersarmut. Wenn deutlich machen, der Geschichte von dem überwältigende Mehrheit der Bürger heute eine Witwe eine Rente unter Sozial- Bauern mit drei Broten, den der Wanderer unfähig ist, für sich selbst zu sorgen? hilfeniveau bekommt und zum Sozialamt fragt: Wozu brauchst du drei Brote? Der Müssen wir die Menschen in ein System geht, muß sie damit rechnen, daß ihre Kin- Bauer sagt: Ich brauche ein Brot für mei- der Vollversorgung zwängen, das immer der zur Kasse gebeten werden. Davor ne Frau und mich, eins für meine Eltern, weiter um sich greift? Ich jedenfalls bin schrecken viele alte Menschen zurück. Mit und ein Brot für meine Kinder. Wenn die- strikt dagegen. der Bürgerrente ginge es gerade den sozial ser Bauer eine schlechte Ernte einfährt, SPIEGEL: Die steuerfinanzierte Rente ist Schwachen besser. muß er kleine Brote backen – für sich, sei- doch auch ein Zwangssystem. SPIEGEL: Liegt denn diese Rente soviel ne Eltern und seine Kinder. Und keiner BIEDENKOPF: Aber wir bezahlen dann im höher als die Sozialhilfe? Ergebnis aus dem gesamten Volkseinkom- BIEDENKOPF: Für das Jahr 1997 würde sie Öffentlicher Mißbrauch men zehn Prozent für die alten Menschen. immerhin 1540 Mark pro Monat betragen. Das ist keine überwältigende Solidarlei- SPIEGEL: Nach Abzug der Beiträge zur Versicherungsfremde Leistungen stung, finde ich. Und wir finanzieren nicht Kranken- und Pflegeversicherung und der der Rentenversicherung 1995, die Sicherung eines besonderen Lebens- Zusatzlast durch höhere Konsumsteuern in Milliarden Mark standards – dafür soll und kann in Zukunft bleibt nicht viel mehr übrig als bei der So- Kriegsfolgelasten 23,5 jeder selber sorgen. zialhilfe. SPIEGEL: Den Sozialpolitikern in ihrer vorgezogene Altersrenten 18,7 BIEDENKOPF: Die Bürgerrente ist höher und eigenen Partei ist das offenkundig zu gewährt ein menschenwürdiges Dasein. Anrechnungszeiten 15,5 wenig. SPIEGEL: Mehr Teilzeitjobs und mehr Ar- z.B. Studium BIEDENKOPF: Der Widerstand der Sozial- beitslosigkeit wirken sich nicht nur auf die politiker ist heute genauso stark wie vor Berufsausbildungszeiten 8,5 Rentenversicherung, sondern auch auf das z.B. Höherbewertung von Lehrzeiten drei, fünf oder zehn Jahren. Die wollen Steueraufkommen aus, aus dem Ihre Krankenversicherung der Rentner 6,6 einfach das Risiko nicht eingehen, daß die Grundrente finanziert wird. Warum sollte Bevölkerung stärker als bisher Vorsorge Ihr System mit dem Strukturwandel besser Kindererziehung 6,4 treffen muß. fertig werden? Zuschläge für Ostrenten 5,4 SPIEGEL: Sie behaupten, daß die Bundes- BIEDENKOPF: Die Höhe der Bürgerrente regierung die heutige Rentnergeneration arbeitsmarktbedingte Erwerbs- hängt vom gesamten Volkseinkommen und Berufsunfähigkeitsrenten 5,3 auf Kosten der Jüngeren fördert. Warum ab, nicht nur vom Einkommen aus un- sollte eigentlich die Union diese treue und selbständiger Arbeit. Das Volkseinkom- sonstige 12,3 an Bedeutung von Jahr zu Jahr gewinnen- men umfaßt auch Erträge aus Kapital- de Wählerklientel durch einen Kurswech- vermögen oder selbständiger Arbeit. Sie eigentliche Renten Summe sel verärgern? nehmen zu, der Anteil der unselbständigen BIEDENKOPF: Die Union wird keine Zu- Arbeit am Volkseinkommen geht dagegen 195,6 102,2 kunft haben, wenn sie die unter 48jährigen zurück. verliert. Schon heute wird diese Gruppe SPIEGEL: Darüber läßt sich streiten. Die benachteiligt, und immer mehr Betroffene sogenannte Lohnquote, die genau diesen Quelle: merken das auch. Verband Anteil mißt, ist heute in Deutschland Deutscher SPIEGEL: Herr Biedenkopf, wir danken Ih- fast genauso hoch wie in den siebziger Rentenversicherungsträger nen für dieses Gespräch.

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KARRIEREN Ein grüner Preuße Als ein Grüner in Konstanz Oberbürgermeister wurde, feierten die Alternativen das als Signal. Jetzt haben sie erkannt: Horst Frank ist kein Visionär, sondern ein spröder Pragmatiker.

lte Lehrer und ehemalige Klassen- Frank redet viel über die Grenzen grü- kameraden erzählen heute noch ner Kommunalpolitik, aber wenig über Avon der frühen Karriere des Gym- deren Chancen. Am liebsten verweist der nasiasten Horst Frank – wie er Systemkri- OB auf seinen erlernten Beruf: „Ich bin

tiker wurde. Mit langem Bart und Mao- Jurist.“ Geht es um Sachzwänge, ist er M. WEBER W. FOTOS: isten-Fahne sei er durch das idyllische „Pragmatiker“, ansonsten vor allem Oberbürgermeister Frank Städtchen am Bodensee gestürmt, habe „Realist“. Der Mann handelt so, wie er „Ich bin keine 20 mehr“ Sitzblockaden gegen den Vietnamkrieg or- redet. ganisiert und wegen der Notstandsgesetze Der Pragmatiker Frank setzt den Bau läßt sich nicht zum persönlichen Engage- zum Schulstreik aufgerufen. eines riesigen Einkaufszentrums am Ufer ment für einen rechtskräftig abgelehn- Als mitten in Konstanz ein Lehrling, fast des Bodensees mit Dutzenden Geschäften ten kurdischen Asylbewerber bewegen, 30 Jahre liegt das zurück, wegen seiner lan- und Kneipen, 10 Kinosälen und fast 500 der schließlich vor der drohenden Ab- gen Haare von einem alkoholisierten Erz- Parkplätzen gegen den Widerstand einer schiebung in eine Konstanzer Kirche flüch- konservativen erschossen wurde, verteilte Bürgerinitiative und auch den der eigenen tete. der junge Wilde Flugblätter an die Badener Partei durch. Nur eins ist Frank am wenigsten – ein Bürger: „Mord, Mord, Mord – auch ihr seid Der Realist befürwortet, trotz der Pro- Grüner. schuld daran.“ teste vieler Anwohner, den Ausbau einer Er ist kein Vollblutpolitiker wie Josch- Wenn sich der Revoluzzer von damals Bundesstraße, deren Trasse ein Naherho- ka Fischer, auch kein Visionär, der grüne heute an die Bürger von Konstanz wen- lungsgebiet zerschneidet. Und der Jurist Utopien durchzusetzen versucht. Wenn det, stimmt die Kleiderordnung. Er ver- zichtet nie auf die akkurat sitzende Kra- watte, der Sakko paßt genau zum Hemd, der Bart ist gepflegt. Bei der modischen Brille hat Frank Wert auf Entspiegelung gelegt – das macht sich besser auf den Fo- tos in der Zeitung. Horst Frank, 47, hat es inzwischen vom Bürgerschreck zum ersten Mann in seiner Heimatstadt gebracht – und ist damit der erste grüne Oberbürgermeister Deutsch- lands. Franks überraschende Direktwahl im vergangenen Juli feierten grüne Bonner Promis mit Glückwunschtelegrammen. Sie wurde als Signal für eine grüne Offensive auf großstädtische Rathäuser verstanden, als Beweis dafür gewertet, daß im ganzen Land Alternative im direkten Vergleich die Kandidaten der großen Parteien besiegen können. Grün, so die Botschaft aus dem buntbe- malten Konstanzer Renaissance-Rathaus des 16. Jahrhunderts, ist fürs 20. Jahrhun- dert auch eine Farbe der Macht. Jetzt zeigt Frank seiner Stadt wieder mal, wie es geht – und bekommt viel Lob dafür. Der ehemalige Vorsitzende der städ- tischen CDU-Fraktion, ein Lehrer, erteilt ihm die Note „gut“. Der Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer zollt Respekt: „Hut ab.“ In der Altstadtkneipe „Laugele“, wo sonst über die Kommunalpolitiker gelästert wird, reden die Gäste nur Gutes: „Der Horst wird täglich beliebter“, berichtet der Wirt. Die bürgerliche Zustimmung kommt nicht von ungefähr. Weltreisender Frank in Indien (1969): Läßliche Jugendsünden

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Werbeseite Deutschland über Ideale diskutiert wird, über Vorstel- Heute freuen sich die Bürger, daß sich in lungen von einer gerechteren Welt, läßt er Konstanz nichts geändert hat. Weder wur- meist einen Hinweis auf sein Alter ein- den Krokodile im Bodensee angesiedelt, fließen: „Ich bin keine 20 mehr.“ Und es wie Witzbolde nach der Wahl prophezei- hört sich an, als bitte da einer für läßliche ten, noch Straßen zu Fahrradwegen umge- Jugendsünden um Vergebung. baut. Ganz so realo haben sich die Partei- Und auch die Manager des Kaufhauses freunde die grüne OB-Premiere nicht vor- Hertie haben sich beruhigt. Sie hatten nach gestellt. Doch selbst im Mikrokosmos Kon- Franks Sieg ernsthaft erwogen, den ge- stanz, da wo die grüne Seele am schwär- planten Umbau ihrer klotzigen Konstanzer zesten ist, läßt sich offenbar nicht verhin- Filiale zu stoppen – aus Angst vor grüner dern, was den Grünen schon in Bund und Wirtschaftsfeindlichkeit. Ländern widerfuhr: Macht bedeutet auch Die hielt nicht lange an. Grün geriert Identitätsverlust. sich der Grüne Frank nur bei Kleinig- Was aber im Großen, in Nordrhein- keiten. Um Umweltbewußtsein zu de- Westfalen oder Schleswig-Holstein, zum monstrieren, strampelte er anfangs selbst Aufstand der Fundis führte, war am bei strömendem Regen mit dem Fahrrad Bodensee nach über 150 Amtstagen des zum Dienst, kam völlig durchnäßt ins alternativen Bürgermeisters nur für die Büro. Inzwischen nimmt er meist den Bus; Narren ein Thema. in Ausnahmefällen ordert er schon mal Von Frank, der nach dem seinen Dienstwagen mit Jurastudium noch drei Jahre Chauffeur. als Rucksacktourist durch die „Ein Defizit Auch die Kunde, daß der halbe Welt bis nach Indien können wir uns spröde Advokat erst richtig trampte, verlangten sie beim nicht mehr auftaut, wenn es gilt, Haus- Fastnachtstribunal in der Alt- haltskürzungen im gesell- stadt Antwort auf die tücki- leisten, Sie schaftlichen und kulturellen sche Frage: „Was ist eigentlich wissen doch, Bereich zu begründen, beru- grün am grünen Oberbürger- daß wir sparen higte das Establishment. meister?“ müssen“ „Ein Defizit können wir uns Doch die grüne Basis in nicht mehr leisten“, hat der Konstanz ist nur stolz auf Oberbürgermeister den ver- ihren Repräsentanten, jedenfalls noch. dutzten Mitarbeitern der städtischen Wein- Selbst als der redliche Stadtverwalter kellerei eingebleut, den Betreibern des Frank vor kurzem einer bei den Bürgern Konstanzer Kulturladens erklärt: „Sie wis- verpönten Erhöhung der Busfahrpreise sen doch, daß wir sparen müssen.“ Und die zustimmte („aber eher widerwillig“), dringendst um Unterstützung bittenden machten seine Parteifreunde mißmutig Vorständler eines Tanzvereins vertröstet mit. er: „So wie bisher können wir wirklich Eins haben in Konstanz inzwischen aber nicht weitermachen.“ alle begriffen: daß Horst Frank nicht we- So wird Franks parteiloser Vorgänger, gen, sondern trotz seiner Parteizugehörig- ein praller Patriarch, der gern mal ein keit für die nächsten acht Jahre gewählt Späßchen machte, allenfalls im Rathaus wurde. vermißt. Seit Franks Amtsübernahme ach- Bei der Abstimmung im traditionell tet man dort verstärkt auf Pünktlichkeit konservativen Konstanz, zu der CDU und und Disziplin, auch wenn der Ex-Bürger- SPD ortsfremde Außenseiter aufgestellt schreck sich noch sichtlich schwertut, mit hatten, besaß Frank einen klaren Vorteil. der ihm zugewachsenen Macht souverän Von 28 Kandidaten, darunter ein einge- umzugehen. bürgerter italienischer Radrennfahrer, ein Wenn er an seinem Schreibtisch sitzt österreichischer Autolobbyist und ein und zuhören muß, rutscht er unruhig auf ehemaliger Soldat der russischen Ar- seinem Stuhl, holt angestrengt Luft, blickt mee, war er neben einem chancenlosen immer mal wieder zur Decke. Eigentlich Handwerker der einzige Konstanzer – möchte er langatmigen Referenten früher „Einer von uns“, wie seine Werbung sug- das Wort abschneiden, lästige Besucher gerierte. schneller abwimmeln, säumige Mitarbei- Den Wählern gefiel, daß der Kandidat in ter heftiger ruzzeln. ihrer Stadt geboren war, ihren Dialekt Und statt zu bitten, würde er manchmal schwätzte, ihr altehrwürdiges humanisti- auch lieber befehlen: „Morgen um acht sches Gymnasium besucht hatte, später als liegt die Vorlage auf dem Tisch!“ So wird Rechtsanwalt erfolgreich war, zuletzt bei die Ankündigung des neuen Chefs, jeden Wiedergutmachungsverfahren in den neu- der 2700 städtischen Mitarbeiter in den en Bundesländern. nächsten Monaten persönlich am Arbeits- Kurz: Frank ist ausgestattet mit lauter platz aufzusuchen, nicht von allen unge- Eigenschaften, die in Baden-Württemberg duldig herbeigesehnt. hoch geschätzt sind. Er ist strebsam, fleißig, Doch weil das alles nicht zum Bild eines sparsam – „mein Grundprinzip heißt grünen Chefs paßt, kocht sich der Ober- Pflichterfüllung“: ein grüner Preuße aus bürgermeister, wie seine Parteifreunde Südbaden. auch, den Kaffee selbst. Bruno Schrep

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Werbeseite Deutschland R. JANKE / ARGUS R. JANKE Jubilar Genscher: Er wollte belegen, wie alles gewesen ist und was er dazu beigetragen hat

JUBILÄEN Genschman ganz oben Rudolf Augstein zu Hans-Dietrich Genschers 70. Geburtstag ls Hans-Dietrich Genscher 1995 sei- ne Memoiren herausbrachte, waren Aviele seiner engsten Bekannten ent- täuscht. Dieser witzige und stets mit Anek- doten befrachtete Politiker hatte genau das nicht getan, was man von ihm erwartet hat- te: ein noch so dickes Buch, randvoll mit witzigen Erinnerungen und Anekdoten ge- schrieben. Er hatte etwas anderes getan, was sich auf die Dauer mehr auszahlen wird, nicht in Geld, das er nicht braucht und auf das er keinen Wert legt. Er hatte für den aufmerksamen Leser ein Kompendium der Außenpolitik verfaßt, das jeder zur Hand nehmen muß, der sich mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der politischen jedenfalls, beschäftigen will. Vergnügen kann einem das zu umfang- reiche Buch nicht durchweg bereiten, Gen- schers Genauigkeit auch in biographischen Details läßt das nicht zu.Aber hier liegt sei-

ne Stärke ohnehin nicht, und das hat er S. SIMON zweifelsfrei gewußt. Wahlkämpfer Genscher, Augstein 1972 in Rheda-Wiedenbrück: „Und den Kandidaten loben?“

56 der spiegel 12/1997 Man kann die Leute nicht backen, man muß sie nehmen, wie sie sind. Genschers Anliegen war eben nicht, als geistreicher Witzbold in die Geschichte der Diploma- tie einzugehen, niemand kann wider seine Natur. Vielmehr wollte er belegen, wie al- les gewesen ist und was er dazu beigetra- gen hat. Da gibt es wenige, die sich mit ihm messen können. Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich meinerseits eine selbsterlebte und darum wahre Anekdote erzählen. Im Wahlkampf 1972 hatte ich mir den un- dankbaren, aber lehrreichen Wahlkreis Pa- derborn aussuchen können. Da dies der Wahlkreis des damaligen Kanzlerkandida- ten Rainer Barzel war, hatte ich dort die ge- samte FDP-Prominenz zu Gast. Genscher und mir war die gloriose Auf- gabe zugefallen, abends auf dem Markt- platz der Stadt Rheda zu den Massen zu sprechen.Wir hatten jeweils 300 Leute vor uns, von denen aber kaum einer länger als fünf Minuten stehenblieb. Unterwegs hat- te mich der Minister des Inneren, Hans- Dietrich Genscher, gefragt, was er sagen solle. Ich antwortete: „Das Übliche.“ Er fügte hinzu: „Und den Kandidaten loben?“ – „Ja, natürlich, auch das.“ Vor Ort erfuhren wir, daß sich die beiden Stadtteile Rheda und Wiedenbrück feind- lich zueinander verhielten, weil man sie zur Stadt Rheda-Wiedenbrück zwangsver- einigt hatte. Dies mußte also das spezielle Thema sein. Nach wenigen Minuten sah ich, daß der Minister sein Manuskript gar nicht mehr umblätterte, sondern frei das sozusagen „Übliche“ von sich gab. Hinterher fragte ich ihn, wozu er überhaupt das Manuskript mitgebracht habe. „Um mich daran fest- zuhalten“, war seine Antwort, die unmit- telbar einleuchtete. Man kann nicht sagen, daß wir beide die Veranstaltung als einen riesigen Erfolg betrachtet hätten. Er fuhr nach Bonn, ich flog nach Hamburg. Am nächsten Morgen um sieben Uhr früh – es war ein Samstag – rief mich des Ministers Referent Klaus Kinkel in Ham- burg an, zu einer für mich ungewohnten Stunde also. Ja, er wolle mir nur mitteilen, sagte er, und zwar im Auftrag des Mini- sters, daß der Minister mit hohem Fieber im Bett liege. Nur so sei es zu erklären, daß er vergessen habe, den Kandidaten zu lo- ben. Ich war schwer beeindruckt, aber auch schwer sauer. Als Genscher nach dem Rücktritt Willy Brandts Außenminister werden sollte, stemmten sich Brandts Leute dagegen. Er kam mich besuchen und fragte, ob er denn unbedingt darauf bestehen müsse, Außen- minister zu werden. Ich ahnte, welche Ant- wort er erwartete, war aber im übrigen auch überzeugt davon, daß ein gegenteili- ger Rat nichts bewirkt hätte. Er mußte es werden, er wußte das, aber Bestätigung von möglichst vielen Leuten tat ihm wohl. Noch war er nicht der legendäre Gensch-

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Werbeseite Deutschland A.F.P. / DPA A.F.P. Außenminister Genscher, Kollegen 1990*: Große Rolle im Vereinigungsprozeß man, und Angst vor sprachlichen Proble- beschallten Unterton. Er sagt das nicht, und stens so große Rolle gespielt hat wie Hel- men hatte er auch. hat er das etwa nötig? Wer so viel geleistet mut Kohl selbst. Man kann nicht von ihm Als Innenminister ließ er kein Mittages- hat wie er, darf sich getrost mit 65 Jahren verlangen, daß er auch noch ein guter Öko- sen vorübergehen, ohne sich dreimal zu sei- aus dem strapaziösen Amt entfernen. Daß nom ist (Helmut Schmidt: „Herr Genscher nem Funkauto Forelle I oder Forelle II hin- er die Strapazen nunmehr vermißt, ist bei ist ein Rechtsanwalt“). ausrufen zu lassen. Als Außenminister hat- Genscher ebenfalls selbstverständlich. Auch was er zu Maastricht gedacht und te er das nicht mehr nötig, da gab es genug Seine Frau Barbara beteuert, sie könne getan hat, kann nicht als entscheidend gel- Gelegenheiten, sich sehen zu lassen, und er ihren Mann nicht ändern, und das glaubt ten. Erstens mag es ja klappen, obwohl zur nutzte sie alle, zum Wohle aller Deutschen, man ihr gern. Worüber viele von uns sich Zeit wenig dafür spricht. Und zweitens wird wie sich später herausstellte. Man konnte manchmal mokiert haben – er saß ja mehr er nie etwas tun, wenn er sicher sein kann, mit ihm Freund sein, auch wenn er in manch im Flugzeug als sogar Rita Süssmuth –, das damit aufzulaufen. Sicher ist nur, daß der wichtiger Frage, siehe Nachrüstung, anderer eben hat sich ausgezahlt, als es auf einen in Vertrag von deutscher Seite lückenhaft, Ansicht war als man selbst. wenn nicht stümperhaft behandelt worden Oder besser, man konnte mit ihm wegen Hans-Dietrich Genscher kannte ist. Die Folgen sehen wir bereits, aber das einer sachlichen Meinungsverschiedenheit alle, die man kennen ist nicht in erster Linie die „Schuld“ Gen- nicht sein Feind werden. Er war doch zu schers und auch nicht der FDP. Es hat auch sehr Profi. Und niemals konnte man wis- mußte, und er genoß Vertrauen die Opposition die gewichtigen Einwände sen, wer wen am Ende noch einmal brau- nicht gesehen und nicht vorgebracht. Und chen würde. den Geschäften derart erfahrenen Außen- Wunder gibt es ja auch. Die Bevölkerung spürte das, und so stand minister ankam. Er kannte alle, die man Mir bedeutet die Bekanntschaft, die Genschman ganz oben auf der Skala der kennen mußte, und er genoß Vertrauen. dann in Freundschaft übergegangen ist, Beliebtheit. Von Macken, wie etwa seinem Dies allerdings nicht für ein halbes Jahr sehr viel. Ich verdanke ihr Einblicke, die ich gelben Pullunder, ließ er sich nicht abbrin- in Washington. Dort hielt man 1990 für sonst nicht gewonnen hätte. gen. Und auch Forelle I und Forelle II sind möglich, daß Genscher auf eigene Faust Man wird Geschichte, wie wir sie zu le- im Ruhestand wiederaufgetaucht, er trägt eine nicht abgestimmte Außenpolitik sen gewohnt sind, im nächsten Jahrhun- sein Handy beim Berliner Presseball. zwecks Wiedervereinigung betreiben wür- dert vielleicht gar nicht mehr schreiben. Hier muß ich mich berichtigen. Es kann de, und das auch noch mit Erfolg. Wer im- Der Strukturwandel in der Welt erlaubt für Hans-Dietrich Genscher, notabene samt mer das gedacht hat, sagen wir George die noch übliche Personalisierung vielleicht Frau Barbara, natürlich nur einen Unru- Bush, kann von Genschers geprägtem Na- gar nicht mehr.Wenn aber doch, wird man hestand geben. Das Wappen der Insel Man turell nicht die geringste Ahnung gehabt den Außenpolitiker Hans-Dietrich Gen- könnte zu ihm passen: „Er steht, wohin haben. Er würde nichts tun, was ohne jede scher nicht in einer Fußnote unterbringen Du ihn auch wirfst.“ Erfolgsaussicht war, er würde sich immer können. Weder Schläge noch Ratschläge Man hat ihn oft gefragt, warum er denn abstimmen. Tatsache ist, in Camp David kann man einem 70jährigen geben. Bisher überhaupt zurückgetreten sei, manchmal saß Kohl ohne seinen Genscher, Bush aber hat er ja offensichtlich gewußt, was er ge- mit einem bösen, aus dem Kanzleramt nicht ohne dessen Pendant James Baker. wollt hat. Im übrigen: „das Übliche“. Die Phantasie reicht nicht aus, sich ande- re Gründe einfallen zu lassen. * James Baker, Eduard Schewardnadse, Roland Dumas, Rudolf Augsteins Artikel erscheint als Beitrag in einer Markus Meckel, Douglas Hurd bei einer Zwei-plus-Vier- Für mich steht nicht in Frage, daß Gen- vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Festschrift Verhandlung in Bonn. scher im Vereinigungsprozeß eine minde- anläßlich Genschers 70. Geburtstags am 21. März.

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Werbeseite Deutschland lich Vater geworden, allerdings nicht vor Lebensverhältnissen Rechnung trägt. Die FAMILIENRECHT dem Gesetz. Die Mutter des Kindes, die guten Absichten scheiterten zuverlässig am RTL-Journalistin Doris Müller, war bei der Desinteresse der männlichen Mehrheit im Unordentliche Niederkunft zwar schon geschieden, aber Bundestag. Da half auch der Hinweis auf leider nicht lange genug: Es fehlten einige die Wirklichkeit wenig: Zigtausende Kind- Tage an der notwendigen 302-Tage-Spanne. schaftsverfahren à la Fischer, Schmidbau- Verhältnisse Ihr Nicht-mehr-Ehemann hat damit alle er und Dressler beschäftigen jedes Jahr die Rechte auf das Kind, dessen Vater er nicht Amtsgerichte. ist. Mit ihm mußte, um dem Gesetz genü- Profis in Sachen Familienrecht wie Edith Lehrmeister Wirklichkeit: ge zu tun, sogar der Name des kleinen Niehuis (SPD) registrieren den prominen- Prominente Bonner Dreßler-Sohnes – Tim heißt er – abgespro- ten Zulauf aus dem Lager männlicher Be- Politiker entdecken, wie seltsam chen werden. troffenheit mit sarkastischer Genugtuung: das Kindschaftsrecht ist. Auch dem CDU-Geheimdienstkoordina- „Da verstehen plötzlich immer mehr et- toren Schmidbauer war neu, wie wenig was vom Thema“, meint die Vorsitzende ernd Schmidbauer, der Staatsmini- Rechte er auf sein Kind hat. Der anderwei- des Familienausschusses im Bundestag. ster im Kanzleramt, kennt sich schon Baus, und auch Rudolf Dreßler, an- sonsten ein unermüdlicher Streiter für den guten alten Wohlfahrtsstaat, weiß jetzt not- gedrungen, „was für ein Blödsinn da drin steht“. Zum unfreiwilligen Fachmann für Familienrecht ist ebenfalls Joschka Fischer geworden, der sich ansonsten fürs große Ganze bei den Grünen zuständig fühlt. Die drei mußten sich aus Eigeninteresse ins deutsche Kindschaftsrecht vertiefen und fanden ganz erstaunt heraus, wie antiquiert das ist – jedenfalls dann, wenn die Betroffenen in Familienverhältnissen leben, die Juristen nach geltender Geset- zeslage für unordentlich halten. Fischers Ehefrau Claudia bekommt in voraussichtlich fünf Wochen ein Kind. Das Kindschaftsrecht will es so, daß Ehemann Joschka der Vater ist; in der Wirklichkeit lebt das Paar seit geraumer Zeit getrennt, und Fischer ist keineswegs der Vater. Der leibliche Vater hinwiederum hat laut Ge-

setz mit seinem Baby nichts zu schaffen. DPA Um das Recht der Wirklichkeit anzupas- Ehepaar Fischer: Auskunft über Zeugungszeitraum sen, müssen der Ehemann, die Mutter und der tatsächliche Vater erst die Gerichte tig verheiratete Mann hat mit der Compu- Gleich nach Ostern steht eine Debatte bemühen. ter-Expertin Elke Zicker eine Tochter na- über die Reform des Kindschaftsrechts Der Abgeordnete Fischer müßte die Va- mens Sarah, die mittlerweile 18 Monate alt im Bundestag an. Was in etlichen euro- terschaft anfechten. Formal würde der Pro- ist. Nach dem Gesetz muß er Unterhalt zah- päischen Ländern gilt, soll möglichst auch zeß gegen das Baby geführt, das vor Ge- len; ob, wann und unter welchen Umstän- in Deutschland Recht werden: Ganz ohne richt von einem Jugendpfleger oder einem den er die Kleine sehen darf, ist der Mutter Beschäftigung der Gerichte sollen Frauen Rechtsanwalt vertreten würde. Die Mutter vorbehalten. Stieße Mutter Elke etwas zu, zu Protokoll geben können, wer der Vater dürfte als „Befangene“ für die Sache des dürfte nicht etwa Vater Schmidbauer seine des Kindes ist, das sie geboren haben. Kindes nicht eintreten. Sie würde allerdings Sarah erziehen. Jeder entfernte Verwandte Nichteheliche Väter könnten dann ähnliche als Zeugin geladen und wäre gezwungen, der Familie Zicker besäße darauf mehr Rechte erhalten wie eheliche, nichteheli- Auskunft über ihr Geschlechtsleben im ge- Anspruch als der leibliche che Kinder weitgehend die setzlich relevanten Zeugungszeitraum – bis Vater. gleichen Rechte wie ehe- 302 Tage vor der Geburt – zu erteilen. Die- Immerhin dürfte es nun liche. ses für alle Parteien demütigende Verfahren drei weitere Befürworter Für die Reform gibt es ist nun einmal gesetzlich vorgeschrieben. einer Reform des Kind- womöglich auch einen In- Wenn der Nicht-Vater Fischer von der schaftsrechts im Deutschen teressenten in Hannover. Vaterschaft befreit ist, geht das Spießru- Bundestag geben. Bisher Gerhard Schröder will im tenlaufen für Mutter Claudia erst richtig waren es fast ausschließlich Sommer mit seiner Lebens- los. Sie bekommt Besuch vom Jugendamt, die Parlamentarierinnen, gefährtin Doris Köpf und ein Vormund wird dem Kind zugeteilt, der die für Anpassung des Re- deren sechs Jahre alten sie auf „Erziehungstauglichkeit“ überprüft. likts aus Bismarcks Zeiten Tochter Clara eine gemein- Sie hat ja ein uneheliches Kind zur Welt an die herrschenden Le- same Wohnung beziehen. gebracht, und das Kindschaftsrecht stammt bensverhältnisse eintraten. Nach geltendem Recht aus wilhelminischer Zeit, als dieser Um- In den letzten zehn Jahren könnte er, weil über 5o, stand eine Schande in der bürgerlich ge- unternahmen sie allerlei bei der Adoption der Klei- ordneten Welt war. Anläufe auf ein neues Re- nen Schwierigkeiten be-

Anders als Fischer ist der eherne So- gelwerk, das den weitver- M. MÜLLER / BILD ZEITUNG kommen, auch wenn er die zialdemokrat Dreßler im Juni 1996 tatsäch- breiteten unordentlichen Vater Dreßler, Sohn Tim Kindsmutter heiratet. ™

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JUSTIZ Letzter Kapitän der DDR Im Berliner Politbüro-Prozeß möchten die Verteidiger mit einem Aufgebot an Experten die Vergangenheit im großen Stil bewältigen. Von Hans-Joachim Noack Zumindest bemüht sich der für den ab- gelehnten Vorsitzenden Hansgeorg Bräuti- gam nachgerückte Josef Hoch um Sach- lichkeit – ein Versuch, den selbst Egon Krenz als „durchaus kulturvoll“ belobigt. Und der Obermaschores des dahingegan- genen Arbeiter-und-Bauern-Staates profi- tiert ja auch davon: Während die Genossen Günter Schabowski, Günther Kleiber und der tatterige Horst Dohlus der zähflüssigen Beweisaufnahme zunehmend apathisch zu folgen scheinen, darf der Hauptangeklag- te kräftig hinlangen. Der nach eigener Definition „letzte Ka- pitän der DDR“ in seiner Lieblingspose: Kaum ein Tag verstreicht, an dem er sich nicht massiv in das Geschehen einschaltet oder die in nächtlicher Heimarbeit auf dem PC angefertigten weitschweifigen „Er- klärungen“ zu Protokoll gibt. Mal schmäht er den Anklagevertreter Bernhard Jahntz, der sei ein „Sonderstaatsanwalt“. Mal gefällt es ihm, gar mit Clausewitz zu argumentieren, als es darum geht, die sogenannte Vergatterungsformel seiner Grenzsoldaten auszulegen. Verlesen wird da von Hoch das „Be-

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. weisstück T2“, eine aus den sechziger Angeklagter Krenz: „Vor dem Richter steht ein gewaltiges Stück Weltgeschichte“ Jahren stammende Order, nach der die bewaffneten Organe am „antifaschisti- erade mal wenige Minuten alt ist Darüber hinaus gilt es ja einer besonde- schen Schutzwall“ darauf gedrillt wurden, an diesem frühen Nachmittag, dem ren Spezies von kritischer Öffentlichkeit alle „Grenzverletzer zu … vernichten“. G90. Sitzungstag, die Hauptverhand- den peniblen Rechtsstaat vorzuführen: Im Für Krenz ist das eine „mißverständlich“ lung vor dem Berliner Landgericht gegen einschüchternd wirkenden Monumental- in das Verfahren eingeführte Anweisung. „Egon Krenz u. a.“, als es im ehrwürdigen bau des Moabiter Kriminalgerichts, in dem „Töten“, lehrt er das Gericht, bedeute die Justizpalast Moabit eine kleine Panne zu der legendäre Hauptmann von Köpenick furchtbare Vokabel nämlich nicht unbe- beheben gibt. Der Wachtmeister informiert seine Eskapaden gestand, drängeln sich fast dingt, sondern, wie es schon der preußische die Verfahrensbeteiligten, daß ein für das ausnahmslos abgewickelte SED-Kader hin- General und Militärtheoretiker dargelegt Publikum bestimmtes Portal – Tor 5 – einen ter der Balustrade. habe, „den Gegner besiegen“. Moment lang zugesperrt blieb. Von wegen „Siegerjustiz“, wie dieser Man darf es dem Ziehsohn Honeckers Also schickt sich der Vorsitzende Josef verlorene Troß des Egon Krenz, eine ver- wohl abnehmen, daß er damit die Opfer Hoch nach einem entsprechenden Be- bitterte, weil um ihre Pri- schluß seiner 27. Strafkammer an, die in vilegien gebrachte Nomen- der Zeit zwischen 13.53 und 14.01 Uhr be- klatura, vor sich hinzu- gonnene Zeugenvernehmung zu wieder- mosern beliebt. In den bis- holen. Doch selbst das genügt den Richtern lang 16 Monaten, in denen letztlich nicht: Aus Bammel, es könne auch sich der Ex-Generalsekre- nur einer unter den Zuhörern vor der ge- tär und seine in die Jahre schlossenen Tür umgekehrt und kurzer- gekommene Korona des hand nach Hause gegangen sein, vertagen mächtigen Politbüros dem sie den Prozeß. einstigen Klassenfeind aus- Die Kammer hütet sich. Der Verteidi- geliefert fühlen, präsentiert gung in diesem Verfahren, in dem sich sich ein in Formfragen stets die ehemaligen DDR-Hierarchen für die korrektes Gericht. Todesschüsse an Mauer und Stacheldraht zu verantworten haben, soll kein billiger * Gegenüber der Stelle, wo am

Revisionsgrund in die Hände gespielt 5. Februar 1989 Chris Gueffroy RONDHOLZ werden. erschossen wurde. Kreuze für Maueropfer*: „Persönliche Negativbilanz“

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Werbeseite Deutschland nicht noch zusätzlich verhöhnen will – nein, nen vorwirft, muß dann auch erwiesen sein. des DDR-Grenzkommandos Mitte, Gün- sie tun ihm leid, und er zeigt sich ja auch all- In Mauerschützen-Prozessen verkündete ter Bazyli, was sich angeblich nur von no- zeit bereit, diese „besonderen Vorkomm- und inzwischen rechtskräftig gewordene torischen Ignoranten bestreiten läßt: nisse“ seiner „persönlichen Negativbilanz“ Schuldsprüche haben bisher lediglich be- „Krenz war für uns alle der Stellvertreter zuzurechnen. Symptomatisch wirkt die legt, daß es eine lückenlose Befehlskette des Generalsekretärs und für die Sicherheit Szene deshalb, weil der forsche Rückgriff von den Mitgliedern des Nationalen Ver- insgesamt verantwortlich.“ auf den alten Kriegsstrategen Krenzens ge- teidigungsrats der Republik bis hinunter Doch wie begründet er seinen schlichten ronnene Vorstellungswelt offenbart. zu den schießenden Grenzern gab. Diese Satz? Aus welchen Papieren ergibt sich, Denn, nicht wahr, was kann er dafür, Befehlszentrale (Kürzel: NVR) sei aber ih- bohrt in einem scharfen Kreuzverhör der daß anno 1945 das in Trümmern liegende rerseits dem „übergeordneten, steuernden Verteidiger Robert Unger nach, daß sein Europa auf die schrecklichste Weise zu ei- Einfluß“ des Politbüros unterworfen ge- Mandant auf die todbringende Praxis im ner riesigen Front einzufrieren begann! Die wesen, glaubt die Strafkammer. Sperrgebiet einwirkte oder den Militärs nun vor Gericht gezerrten Todesfälle wer- Um das zu bekräftigen, bietet der Ober- gar Weisungen erteilte? Er bestimme die tet der Angeschuldigte als die bedauerns- staatsanwalt nach mehreren Fehlversuchen Rolle des vormaligen Führungsgenossen werte „Begleiterscheinung“ einer von einen zunächst verheißungsvollen Zeugen aus dem „allgemeinen Sprachgebrauch“, schließlich höheren Mächten geformten auf. Stundenlang schildert der Stabschef sagt der Ex-Oberst da etwas kläglich. historischen Epoche. An der „Außengren- ze des Warschauer Vertrages“ habe einzig die Sowjetunion das Sagen gehabt. Noch weniger leuchtet ihm ein, was sei- ne Funktion im Politbüro mit diesen Zu- ständen zu schaffen hat. Ihm und seines- gleichen anzulasten (worauf die Anklage aufbaut), sie hätten es „unterlassen“, das menschenverachtende Grenzregime zu hu- manisieren, hält er für wirklichkeitsfremd. Natürlich ist da ein cleverer Rabulist zu- gange, der sich zielstrebig kleiner zu ma- chen versucht, als es seinem ehedem hohen Rang entspricht. Der richterliche Eröff- nungsbeschluß geht davon aus, das Polit- büro des Zentralkomitees der SED – jener vielzitierte „Rat der Götter“ – sei in der DDR das „Führungs- und Machtzentrum“ gewesen und wer ihm angehört habe, für „aktives Tun“ verantwortlich. Egon Krenz poltert dagegen, die dort versammelten Herren hätten sich nie „irgendwelche Rechtsetzungsbefugnisse“ angemaßt. Im Saal 500 des Moabiter Justizpalastes, wo sich über der Richterbank noch die alte pompöse Kaiserloge von Wilhelm II. be- sichtigen läßt, malt der Angeklagte inso- weit seine implodierte Republik als ein rundum normales Staatsgebilde. Das ver- abschiedete Gesetze – etwa über den Schußwaffengebrauch –, und es hatte sei- ne Verfassungsorgane. Das Politbüro, bemüht sich Krenz den in solchen Fragen wenig geschulten Prozeß- beteiligten in die Köpfe zu hämmern, zähl- te eben nicht dazu – ein womöglich formal gravierender Einwand. Zwar versteift sich der Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz dar- auf, dieses Gremium habe, wie überall im Ostblock, „faktisch über den Normen des gesetzten Rechts in der DDR“ gestanden, aber die juristisch relevante Beleglage dafür läßt zur Zeit noch zu wünschen übrig. Daß der Brain-Trust aus dem roten Par- tei-Olymp überhaupt zu belangen ist, fußt auf einem Beschluß des Bundesverfas- sungsgerichts. Das rettende „Rückwir- kungsverbot“, demzufolge jeder bloß nach den Strafvorschriften beurteilt werden kann, die zur Tatzeit galten – DDR-Deut- sche also nach ihrem damaligen DDR- Recht –, dürfen die Angeschuldigten nicht für sich reklamieren. Freilich, was man ih-

68 der spiegel 12/1997 Sicher ist das keine befriedigende, son- gungsrat. Seine Behauptung, damals seien Eindruck, daß sie das so genau nicht dern eine für diesen Prozeß eher typische die „härtesten Entscheidungen sämtlich ge- mehr wissen will. Einlassung. Wo konkretes Wissen zu for- troffen gewesen“, muß indessen bis auf In diesem Prozeß, der nach der Sprach- dern wäre, schlägt der gesunde Menschen- weiteres als unwiderlegt gelten. regelung des Oberstaatsanwalts „Politik verstand durch, der sich zuweilen als Wer aber darüber urteilen möchte, in zum Gegenstand hat, ohne ein politischer selbstgenügsam entlarvt. Die beträchtliche welchem Ausmaß die verbliebenen Grö- zu sein“, geschieht in der Tat Erstaunli- Mitverantwortung des letzten Staats- und ßen der geborstenen Einheitspartei ge- ches: Die Politik bleibt gänzlich außen vor Parteichefs der Vorwende-DDR scheint in gen die Menschenrechte verstießen, sollte – alle Anstrengungen der Krenz-Pflicht- allem so plausibel zu sein, daß daran kaum die unerläßlichen Fragen beantworten verteidiger Robert Unger und Dieter Wiss- mehr Zweifel geknüpft werden. können: Hatte das Politbüro wirklich gott, dem Schwurgericht mit sachverstän- Zu ermitteln hat das Gericht allein die jene „hinreichenden Spielräume“, wie digen Zeugen aufzuhelfen, sind bislang individuelle Schuld der Angeklagten – und Jahntz es unterstellt, um das mit dem Mau- zurückgewiesen worden. zumindest im Falle des Egon Krenz gibt es erbau 1961 installierte Grenzregime aus „Die alte Lebenslüge der Bundesre- ja auch erhebliche Anhaltspunkte dafür. den Angeln zu heben? Die Berliner publik lautete, den Staat DDR zu leugnen, Immerhin saß der Musterschüler Erich Strafkammer erweckt nach mehr als die neue, ihn als souverän zu bezeichnen“, Honeckers seit 1983 im DDR-Verteidi- 9o Tagen Verhandlung den irritierenden hätte da zum Beispiel Egon Bahr gesagt – aber die Kammer mochte ihn ja nicht an- hören. Sie begegnete dem ehedem engsten Vertrauten Willy Brandts wie allen anderen von den Anwälten offerierten westdeut- schen Amts- und Funktionsträgern aus der Phase der aktiven Ostpolitik mit dem Schachzug der „Wahr-Unterstellung“. Ein paar Tage lang sieht es danach so aus, als erlebe das seit Ende 1995 vor sich hin dümpelnde Hauptverfahren seine „Wende“ (Wissgott). Zahllose Zeitungen

Die Berliner Strafkammer hält sich ängstlich alle Zeitzeugen vom Leibe

widmen sich dem vermeintlich hochbe- merkenswerten Beschluß und machen ihre Leser glauben, was dann etwa die frank- furter rundschau gar zur spektakulären Schlagzeile aufputzt: „Gericht übernimmt Krenz-These.“ Doch die spürbar erschrockene Kammer korrigiert die News. Mit der in Umlauf ge- brachten Einschätzung, wonach die DDR im Sicherheitsbereich keine eigenen Ent- scheidungen treffen konnte, sei nicht ihre Ansicht dazu wiedergegeben worden. Sie habe lediglich als wahr unterstellt, daß die benannten Politiker dies so werteten. Auf solche Weise hält man sich Zeitzeu- gen vom Leibe, deren persönliches Er- scheinen vermutlich für Furore sorgen wür- de. Deutsch-deutsche Vergangenheit aufar- beiten zu müssen – und die noch eingebet- tet in die komplizierten Zusammenhänge einer weltweiten Nachkriegsordnung –, möchte das kleine Berliner Landgericht offenkundig nicht riskieren. So bleibt die Verteidigung einstweilen auf ihren Beweisanträgen sitzen, mit denen sie das Ziel verfolgt, neben deutschen Po- litikern sowjetische Diplomaten und hoch- rangige Militärs vor Gericht zitieren zu las- sen.Aus deren Briefen glaubt sie zu wissen, was in Moskau angeblich immer unstrittig gewesen ist: Die DDR war, soweit es um den territorialen Bestand des Warschauer Pakts ging, für den großen Bruder der klas- sische Satellitenstaat. Nein, die Ost-Berliner Republik habe sich mit einschlägigen Verträgen schon seit

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Werbeseite Deutschland 1955 vollauf emanzipiert, kontert der An- klagevertreter Jahntz – eine ziemlich ver- blüffende Interpretation. Ein dem Gericht vorliegendes Schriftstück aus der Feder des einstigen Oberkommandierenden der So- wjetischen Streitkräfte in Deutschland, Ar- meegeneral P. G. Luschew, hebt dagegen auf den 14. September 1961 ab: An diesem Tage seien vom Marschall I. Konjew stren- ge Grenzmaßnahmen verfügt worden, die für die DDR „faktisch bindend waren“. Als Richter Hoch die Verhandlungs- führung übernahm, frohlockten die An- wälte. Endlich sitze der Kammer ein Jurist vor, priesen sie unisono, der die dringend gebotene Unvoreingenommenheit bereits vom Alter her verkörpere. Doch die Be- geisterung für den Youngster, der ein Jahr vor dem Mauerbau geboren wurde, ist längst kaum verhülltem Groll gewichen. Nun ärgert ihn der ebenso junge Robert Unger mit dem respektlosen Satz, er habe ja in der deutschen Schicksalszeit leider

noch „in den Windeln gelegen“. Der Ver- SIPA teidiger bezichtigt das Gericht, sich im Militärparade in Ost-Berlin (1989): „Vernichten heißt nicht unbedingt töten“ fruchtlosen Kleinklein zu verheddern. Die wahre Dimension des vielschichtigen Sach- Kette schuldig gesprochen worden sind, sich windende neue Republik scheint dem verhalts läßt sich nach seiner Auffassung vermutet selbst Egon Krenz, daß man ihn halbherzigen Hickhack um den unterge- nur dann ordentlich würdigen, wenn dabei schwerlich laufenlassen wird. Denn darin gangenen SED-Staat zunehmend gleich- die „geschichtswissenschaftliche Metho- besteht ja gerade für den Ex-Parteichef der gültig zu begegnen. Und ein Teil dieses dik“ gebührend berücksichtigt wird. „leicht durchschaubare Trick“: Die Staats- wachsenden Desinteresses spiegelt sich Wer wie die Berliner Strafkammer „al- anwaltschaft habe zunächst mit Bedacht auch im Gerichtssaal von Moabit. Er habe len Quellen konsequent aus dem Wege die Kleinen angeklagt, um dann die ver- dort im Zuschauerraum „seit Wochen kei- geht, hätte die Beweisaufnahme schon meintlich Großen unter dem Aspekt der nen Wessi mehr gesehen“, sagt grinsend nach 14 Tagen schließen können“, rügt so Gleichbehandlung „um so unproblemati- ein Justizwachtmeister. auch Schabowskis Anwalt Ferdinand von scher abfertigen“ zu können. Aber natürlich ficht das einen wie Schirach. Aber den netten Kollegen Vor- Gemessen an solcher Halsstarrigkeit, be- Egon Krenz kaum an. Der sieht sich, sitzenden bringt er damit nicht aus dem reitet der zweite Promi im Quartett der wenn er denn schon gescheitert ist, ir- Gleichgewicht. Der mahnt bloß gelegent- Einheitssozialisten, Günter Schabowski, gendwie als Opfer – und anders als die lich leise „der komplexen Materie ad- der Kammer weniger Schwierigkeiten. Er müden Genossen es empfinden mögen, äquate Umgangsformen“ an. empfinde „Schuld und Schmach“ bei dem steht für ihn ein „gewaltiges Stück Welt- Unter der Inschrift „Fiat Justitia“ – es Gedanken an die Getöteten, räumte der geschichte vor dem Richter“. Im Klar- geschehe Gerechtigkeit – klammert sich eloquente Journalist, einst Chefredakteur text heißt dieser pathetische Satz des des neuen deutschland, in einer furiosen einstigen Lehramtskandidaten, der auf Rede beizeiten ein und hüllt sich seither der Moskauer Parteihochschule sein Di- meistens in Schweigen. plom als Gesellschaftswissenschaftler er- Doch auch Erich Honeckers Ober-Hof- warb, daß er zunächst einmal an die eige- berichterstatter, dem es an jenem 9. No- ne Haut denkt. vember ’89 unterlief, aus einer gewissen Ist der Erbfolger Erich Honeckers nun Schusseligkeit heraus die Mauer zu öffnen, tatsächlich jener im Gewand des Schreib- bekennt sich im Kern nur moralisch zur tischtäters daherkommende vielfache Tot- Mitverantwortung. Immerhin hat er dem schläger gewesen – oder nicht eher das „fi- Gericht großmütig zu verstehen gegeben, nale Unglückshuhn“ der DDR, als das ihn daß es sich dennoch für ihn zuständig etwa die zeit beschreibt? Um ihn vom

J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. fühlen darf.Von „rhetorischen Zungenrol- Ruch der blindwütigen Regierungskrimi- Angeklagter Schabowski lern wie Siegerjustiz“ hält der pragmati- nalität zu befreien, plant die Verteidigung „Überflüssiges Zeugs – alles Kokolores“ sche Überlebenskünstler nichts. eine neue Offensive. Sie hofft darauf, Ex- Vieles, worüber da angestrengt palavert perten wie Egon Bahr oder Günter Gaus, Hoch an den Aktengebirgen fest. Erkenn- werde, sagt Schabowski mit der andau- den langjährigen Ständigen Vertreter bar, so empfindet es auf alle Fälle die Ver- ernden Leichenbittermiene des sich lang- Bonns in Ost-Berlin, doch noch in den teidigung, hat ihm das Karlsruher Grund- weilenden Intellektuellen, sei halt „über- Zeugenstand bugsieren zu können. satzurteil den Rücken gestärkt. Seit dem im flüssiges Zeugs – alles Kokolores“. Im Darüber hinaus arbeitet der Anwalt Herbst vorigen Jahres vom Bundesverfas- Jahre 8 nach der deutsch-deutschen Wen- Wissgott an einer „erhellenden Doku- sungsgericht geschaffenen Präjudiz sei von de spricht er aufreizend lakonisch nur mentation“ über das Verhalten seines Man- dieser Kammer „ein Wunder kaum mehr noch von einem „Gesteinsbrocken namens danten in den brandgefährlichen Tagen der zu erwarten“. DDR, der im All herumfliegt“. Wen küm- Wende. Er wisse ja, sagt Egon Krenz und Und wahrscheinlich wäre das auch mert der noch? legt dabei die starken Zähne frei, was er zuviel verlangt. Nachdem in Serie bereits Er könnte damit durchaus richtig liegen. seinerzeit „aktiv getan“ respektive „un- die so bezeichneten letzten Glieder der Die in Standort-Debatten und Euro-Furcht terlassen“ habe. ™

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Werbeseite Deutschland im Januar 1996 begann der Prozeß, ein zum Thema der Verhandlungstage – als PROZESSE Ende ist noch immer nicht in Sicht. würde dies am Vorwurf gegen die Polizi- So wird das Verfahren zu einer beson- sten etwas ändern. Den Vietnamesen sei es Teure Taktik ders teuren und unappetitlichen Rechts- wohl um die Ausschaltung der Polizei- findung: Einige der Opfer sind bereits Schicht gegangen, behauptete ungeniert abgeschoben worden, müssen also zur Anwalt Michael Kaps: „Das Verfahren hat Der Prozeß gegen die Bernauer Zeugenaussage aus Vietnam eingeflogen dazu geführt, daß der Zigarettenhandel Polizisten, die Vietnamesen werden, die meisten Anwälte reisen ohne- wieder floriert.“ mißhandelt haben sollen, zieht hin zu den Prozeßtagen stets aus dem „Die Justiz lähmt die Polizei“, tönt auch Westen an. Und die beurlaubten Polizisten Brandenburgs Landeschef der Polizeige- sich hin. Nun möchte haben scheinbar das Gefühl verloren, über- werkschaft (GdP), Andreas Schuster. Für die Polizeigewerkschaft sparen. haupt Angeklagte zu sein. ihn ist der Prozeß eine „ABM-Maßnahme Verschleppung und Verdrängung sind für die Justiz“. Auch er verbreitet die Ver- ie acht Männer machen nicht den Folgen der Strategie der Verteidiger. Von schwörungstheorie der Verteidiger: „Eine Eindruck von Angeklagten, eher Prozeßbeginn an versuchten sie, die Viet- abgekartete Sache“ seien die Aussagen der Dvon Fußballspielern, die auf der Er- namesen als Kamarilla von Kriminellen Zeugen, die doch „alle aus einer Bande“ satzbank auf ihren nächsten Einsatz war- vorzuführen. Während die Anwälte ihre stammten. Dabei belasten nicht nur die ten. Mandanten zum Schweigen verpflichteten, Aussagen der Vietnamesen die Polizisten, „Grunz und andere“, wie die ange- taten sie alles, um die vietnamesischen sondern auch die eines deutschen Bauar- klagten Polizisten auf dem Aushang am Zeugen einzuschüchtern: „Haben Sie ge- beiters. Er hat gesehen, so erklärte er im Landgericht (Oder) genannt schrien? Wie lange? Können Sie das mal Zeugenstand, wie ein Vietnamese vor werden, sind eine muntere Truppe. Grunz vormachen?“ Schmerzen gebückt die Wache von Ber- und andere schlürfen im Gang vor dem Dennoch belasteten mehrere Zeugen die nau verließ. Sitzungssaal ihren Kaffee, hauen sich auf drei Hauptangeklagten schwer, in denen Anwalt Kaps trieb die Diffamierung der die Schultern, rempeln sich kumpelhaft sie ihre Peiniger wiedererkannten. Joachim Opfer auf die Spitze, als er gegen einen an und klopfen Sprüche. Grunz, den die Zeugen nur den „Glattra- der Zeugen Strafanzeige stellte – wegen Dabei steht für die Angeklagten viel auf sierten“ nennen, soll besonders brutal vor- versuchten Betruges. Der Vietnamese habe, dem Spiel: Die Staatsanwaltschaft wirft gegangen sein: Über 20 Mißhandlungen so Kaps, beim Antrag auf Prozeßkosten- den acht Polizisten Mißhandlung von 14 werden ihm zur Last gelegt. hilfe seine Einnahmen aus dem Zigaret- Vietnamesen „durch Tun oder Unterlas- Derart unter Druck, machten die Ver- tenhandel nicht angegeben. sen“ vor. Gedächtnisprotokolle und Zeu- teidiger verstärkt die Delikte der Zeugen Dieter Hummel, Anwalt der Vietname- genaussagen sollen belegen, daß die Ziga- sen und Nebenkläger, kann die Sprüche rettenhändler 1993 und 1994 auf der Wache über die „Vietnamesen-Mafia“ kaum im brandenburgischen Bernau brutal ge- mehr ertragen. Er bestreitet nicht, daß die schlagen wurden, sich nackt ausziehen und mutmaßlichen Opfer der Mißhandlung zum Gespött der Beamten Grimassen mit Zigaretten handelten. Doch warum, schneiden mußten. Die Mehrheit der An- fragte er die angeklagten Polizisten, hät- geklagten diente bereits in der DDR- ten sie nie die deutschen Käufer belangt, Volkspolizei. Einer von ihnen, Bernd S., die sich der Steuerhinterziehung schuldig war als Trainer Offizier im Stasi-Wach- machten. Diese Tatenlosigkeit ist für regiment „Felix Dserschinski“, Dienstein- Hummel ein Beleg für das „rassistische heit Kampfsport. Moment“, das zu den vorgeworfenen Ge- Trotz der nach Ansicht der Staatsanwäl- walttaten an den Vietnamesen geführt

te eindeutigen Sachlage zieht sich das Ver- LANGROCK / ZENIT P. habe. fahren in die Länge: Im Februar 1995 er- Polizeirevier Bernau Nach bald 60 Verhandlungstagen weicht hoben die Frankfurter Ermittler Anklage, „Haben Sie geschrien?“ die Front aus Verteidigern und Polizeige- werkschaft auf. Warum die Angeklagten vor Gericht schweigen, „ist das Geheimnis der Verteidiger“, sagt GdP-Mann Schuster verärgert. Die Zweifel der Gewerkschaft an der Taktik der Verteidiger hat auch finanzielle Gründe. Die GdP zahlt die Anwaltskosten für sechs der acht Mandanten, pro Mann sind das inzwischen über 100000 Mark. Bis zum Herbst wird der Prozeß mit Sicherheit dauern. Zumindest die drei Hauptangeklagten müssen mit einer Ver- urteilung rechnen.Auch die Verteidiger ha- ben sich darauf offenbar eingestellt. Ihre zahllosen Anträge, so ein Prozeßbeobach- ter, würden nur noch dazu dienen, später die Revision zu begründen. Sogar die GdP stellt sich auf Schuld- sprüche ein. Ganz offen spricht Schuster von der möglichen Revisionsverhandlung. Die Gewerkschaft wappnet sich bereits

DPA dafür – sie ist auf der Suche nach neuen Angeklagte Polizisten, Anwalt (M.): Teure und unappetitliche Rechtsfindung Anwälten. ™

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Werbeseite Deutschland sich die „Vertraulichkeit, In- nehmigt und der Schlüssel für KOMMUNIKATION tegrität und Authentizität der die Entzifferung zuvor bei Daten in offenen Kommuni- einem sogenannten Trust- Schlüssel kationsnetzen“ zuverlässig Center, einer unabhängigen gegen Wirtschaftsspionage dritten Stelle, hinterlegt wird. schützen. Nach den vor allem vom für den Staat Selbst wer mit seiner Bank Kanzleramt und Innenmini- kommuniziert oder in seinem sterium favorisierten Plänen elektronischen Kaufhaus müßte jeder, der ungeneh- Zum Schutz vor Datenklau sollen Shopping macht, soll sich per migte Schlüssel benutzt, mit elektronische Nachrichten Krypto-Code legitimieren und dem Besuch des Staatsan- codiert werden – aber Polizei und so persönliche Daten und walts rechnen. Privatsphäre vor Lauschern Um derart strenge Rege- Geheimdienste wollen mitlesen. schützen. US-Experten erwar- lungen durchzusetzen, die in ten, daß die Wachstumsbran- den USA und den Niederlan-

as Gremium pflegt solche Diskreti- che Krypto bis zur Jahrtau- DARCHINGER F. den gescheitert sind, wird das on, daß es selbst Bonner Insidern sendwende weltweit 100 Milli- Innenminister Kanther Krypto-Gesetz wie eine Ver- Dkein Begriff ist: Der „Staatsse- arden Dollar umsetzen wird. schlußsache behandelt. „Ge- kretärsausschuß für das geheime Nach- Soviel Schutz bereitet, obwohl ge- radezu konspirativ geht es zu“, kritisiert richtenwesen und die Sicherheit“ berät wünscht, der Polizei und den Verfassungs- der Berliner Datenschutzbeauftragte Hans- über die Fragen der nationalen Sicher- schützern aber auch großen Kummer. jürgen Garstka. Dabei sei das Thema heit nur in abhörsicheren Räumen. Den „Eine gewaltige Herausforderung für die „für den Bürger wichtiger als der große Vorsitz führt des Kanzlers Mann für Strafverfolgungsbehörden“ hat Bundes- Lauschangriff“. die Geheimdienste, Staatsminister Bernd innenminister Manfred Kanther (CDU) Eine Allianz aus Wirtschafts- und Ju- Schmidbauer. ausgemacht. Die „in alle Lebensbereiche stizministerium sowie der deutschen Indu- Seit Monaten beschäftigt die Herren ein vordringende Informationstechnik“ habe strie müht sich, die Krypto-Regelung zu dringender Wunsch der Bundesregierung. „das Risiko einer kriminellen Schädigung stoppen. Sie fürchtet bei einem nationa- Sie möchte in aller Eile ein sogenanntes spürbar gesteigert“. len Alleingang weltweite Verwicklungen Krypto-Gesetz verabschieden, mit dem Der Staat fürchtet, „Terroristen, Heh- und Rechtsunsicherheiten. Zudem stünden jede Verschlüsselung per Telefon, Telefax lerbanden, Anbieter harter Pornographie, Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis. oder Computer unter Strafe gestellt wer- Drogenschmuggler und Geldwäscher“ „Nur um ein paar Kriminelle zu treffen“, den soll – sofern der Staat keinen Zugriff könnten „künftig ihr Vorgehen durch kryp- spottet ein hoher Ministerialer, „können auf den Code hat. tographische Verfahren schützen“. Schon wir doch nicht allen Bürgern vorschreiben, Der Kryptographie, einst eine Domäne jetzt würden Rechtsradikale mit ver- in einer für uns verständlichen Sprache zu der Geheimdienste, kommt angesichts der schlüsselten Botschaften über Mailbox verkehren.“ Kommunikation auf weltweiten Daten- oder im Internet kommunizieren. Telefon- Die Strafverfolger dagegen fürchten, daß autobahnen auch im privaten Bereich eine und Postkontrolle, heute noch ein wirksa- der Staat mit der rasanten technischen Ent- zunehmende Bedeutung zu. Im Gegensatz mes Mittel der Strafverfolger, würden nutz- wicklung nicht mehr Schritt halten kann. zu Regierungen, die ihre Botschaften von los. Der Präsident des Bundesamtes für Gleichsam als Trauma erlebten Fahnder jeher durch immer raffiniertere Codes Verfassungsschutz, Peter Frisch, mahnt die Einführung des Handys – die Betreiber schützen, sind verschlüsselte Privat- und zur Eile: „Wir müssen verschlüsselte hatten keine Mithörmöglichkeiten für die Firmennachrichten bis heute noch die Aus- Botschaften lesen können.“ Polizei geschaffen.Alles andere als ein Ver- nahme. Sogar Kreditkartennummern, ver- Das aber geht nur, wenn jedes Ver- schlüsselungsverbot, behauptet der Berli- trauliche Betriebsunterlagen oder sensible schlüsselungssystem vom Staat einzeln ge- ner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU), medizinische Daten werden „käme dem Eingeständnis ungeschützt durch den Cy- gleich, daß der Staat bereits berspace gesendet. vor der Technik kapituliert Dabei sind schon für ein hat“. paar hundert Mark Ver- Dabei zweifeln selbst die schlüsselungschips auf dem Befürworter der Regelung am Markt zu haben, im Internet technischen Nutzen des Vor- kursiert gar kostenlos die habens. In Wiesbaden de- „Pretty Good Privacy“-Soft- monstrierte der hessische Da- ware, die vertrauliche Kom- tenschutzbeauftragte Rainer munikation garantiert. Algo- Hamm vergangenen Monat rithmische Codes, die selbst vor Fachkundigen wie einfach mit Hilfe von Supercompu- selbst die Tatsache der ver- tern kaum zu knacken sind, deckten Nachrichtenüber- schützen Schriftstücke nahe- mittlung zu tarnen ist. In ei- zu perfekt. Auf dem Bild- nem Computerbild der Mona schirm erscheint nur unleser- Lisa versteckte er eine kryp- licher Buchstaben- und Zah- tierte Meldung mal in der Au- lensalat. genbraue, dann tarnte er sie Der „breite Einsatz siche- in Form einer leichten Farb- rer Verschlüsselungstechno- veränderung. Hamms Fazit: logien“ sei „äußerst wün- „Einschränkungen von Ver- schenswert, teilweise zwin- schlüsselungstechniken sind gend“, befand das Geheim- praktisch überhaupt nicht Gremium jüngst. Nur so lasse Verschlüsselungssoftware im Internet: Besuch vom Staatsanwalt? machbar.“ ™

80 der spiegel 12/1997 Werbeseite

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SPIEGEL-STREITGESPRÄCH „Ein Spiel mit dem Feuer“ Sind Greenpeace-Aktionen legitim? Schadet die Bonner Umweltpolitik der Demokratie? Bundesumweltministerin Angela Merkel und Greenpeace-Chef Thilo Bode über den rechten Weg in eine ökologisch sichere Zukunft.

MERKEL: Darum geht es doch gar nicht, zu- mal ich in der Sache die Entscheidung der Bahn begrüße. Wenn aber Bahnhofsbeset- zungen oder Straßenblockaden Schule ma- chen, nimmt unser demokratisches System Schaden. Denn nicht die Straße entscheidet, was die Politik zu tun oder zu lassen hat. BODE: Wollen Sie Greenpeace unterstel- len, wir seien Totengräber der Demokratie? Offensichtlich waren Sie doch unfähig, das konkrete Problem zu lösen. MERKEL: Es geht nicht nur um das Ziel, sondern auch um die Wege dorthin. Die Besetzung eines Bahnhofs – und damit die Behinderung des Zugverkehrs – ist ein Re- gelverstoß, bei dem eindeutig eine Grenze überschritten wird. BODE: Gott sei Dank entscheiden darüber nicht Sie, sondern die Gerichte… MERKEL: …wenn sie überhaupt damit be- faßt werden. BODE: Regelverstöße müssen nicht rechts- widrig sein. Als Greenpeace 1994 zwölf Stunden lang die Europabrücke bei Straß- burg besetzte, um die Rücknahme von deutschen Pestiziden aus Albanien durch- zusetzen, hat uns das Amtsgericht Kehl anschließend sogar bescheinigt, das Anse- hen der Bundesrepublik gefördert zu ha- ben. Greenpeace ist in Deutschland noch nie strafrechtlich verurteilt worden. MERKEL: Das hat doch ganz unterschiedli- che Gründe und sagt nichts über die Le- galität Ihres Vorgehens aus. Und vermutlich leisten Sie sich auch gute Juristen. BODE: Auch das ist legitim. MERKEL: Das bestreite ich nicht. Aber uns unterscheidet: Während Sie sich mit Ak- tionen und Aufrufen zum zivilen Unge- horsam zumindest am Rande der Legalität bewegen, stütze ich mich als gewählte Po- litikerin auf eindeutige Mehrheiten. Das ist die Chance und die Schwierigkeit der

SIMS / GREENPEACE Demokratie. Besetzung der Ölplattform „Brent Spar“ 1995: „Nicht sonderlich sportlich“ BODE: Und deshalb fühlen Sie sich berech- tigt, Ihre Atompolitik mit massiver Gewalt SPIEGEL: Frau Merkel, was halten Sie von mich nicht akzeptabel, beispielsweise wenn gegen eine Mehrheit der Bevölkerung Greenpeace? Greenpeace den Frankfurter Hauptbahn- durchzusetzen, siehe die Castor-Transpor- MERKEL: Manches, was sie machen, ist gut, hof besetzt, um die Deutsche Bahn zu te nach Gorleben? etwa die Förderung des Drei-Liter-Autos. zwingen, keine Pestizide mehr zur Un- MERKEL: Was heißt hier massive Gewalt? Es Anderes ist unseriös wie die Behauptungen krautbekämpfung auf Gleisen einzusetzen. gibt Gesetze, die sind einzuhalten und über Krebserkrankungen durch Ozon. Zu allem Überfluß hat die Deutsche Bahn durchzusetzen. Genauso gehören friedli- Ebenso sind die Methoden mitunter für auch noch sofort gekuscht. che Demonstrationen zur Demokratie, SPIEGEL: Neidisch, weil die Umweltschüt- aber die Proteste in Gorleben waren nicht Das Gespräch moderierten die Redakteure Petra Born- zer mehr Power haben als die Bundesum- gewaltfrei. Da mußten wir Recht und Ge- höft und Michael Sontheimer. weltministerin? setz durchsetzen. Das hat nichts mit mas-

82 der spiegel 12/1997 den Energieverbrauch auf ein umweltver- Gegenspieler trägliches Maß reduzieren wollen. Sie kön- in der Öko-Debatte sind Bun- nen die Kraftwerke sofort abschalten und desumweltministerin Angela die Brennstäbe dort abklingen lassen. Merkel, 42, und der Geschäfts- SPIEGEL: Bei der Atomenergie können Sie führer der Internationalen Um- sich offenbar nicht zusammenraufen. Und weltorganisation Greenpeace, in den übrigen Umweltbereichen ? Thilo Bode, 50. Merkel setzt BODE: Wir müssen – und diesbezüglich lie- auf freiwillige Vereinbarungen gen unsere Meinungen sicher nicht so weit mit der Industrie, Bode hinge- auseinander – den Ressourcenverbrauch gen will mit Kampagnen, fi- ganz erheblich vermindern. Nur so kön- nanziert durch über 60 Millio- nen wir weltweit überhaupt zu einem trag- nen Mark an Spenden, den baren Wirtschaften kommen. Um den Ver-

J. H. DARCHINGER J. ökologischen Umbau voran- brauch wirklich zu senken, müssen Sie Merkel, Bode treiben. höhere Energiesteuern erheben – natür- lich aufkommensneutral, damit der Wirt- schaft nicht das Geld für Investitionen ent- siver Gewalt zu tun. Gegen eine Mehrheit Konsens in der Energiepolitik. Herr Bode, zogen wird. Solange sich das nicht ändert machen wir auch keine Politik. Im übrigen wozu ist Greenpeace bereit? und Sie statt dessen im wesentlichen ein haben wir alle vier Jahre Wahlen. BODE: Solange CDU und SPD in bezug auf bürokratisches Verordnungsgestrüpp auf- SPIEGEL: Herr Bode, woher nimmt Green- Atomenergie und Kohlesubventionen ei- türmen, haben wir ein Problem. peace das Recht, gegen geltende Regeln zu nen Kuhhandel betreiben, werden wir zu MERKEL: Es läßt sich so leicht vom Verord- verstoßen? keinem Konsens kommen. Gegenüber der nungsgestrüpp reden. Welche wollen Sie BODE: Es geht darum, geltendes Umwelt- Atomwirtschaft gibt es von unserer Seite denn so einfach mal streichen? Aber natür- recht durchzusetzen, wenn die Politik dazu keinen Kompromiß: Es wird ja nur so getan, lich halte ich es auch für richtig, in der Um- nicht fähig ist. Wir verteidigen dabei ein als ließe sich Atommüll sicher entsorgen. weltpolitik ein paar wenige, überschauba- hochrangiges Recht, nämlich den Schutz Die Atomindustrie handelt, als ob man ein re Ziele zu definieren. Zunächst mal müs- unserer Lebensgrundlagen. Flugzeug starten läßt, ohne daß es eine Lan- sen wir unsere Atmosphäre schützen, Stich- MERKEL: Da irren Sie. Das ist überhaupt debahn gibt. Ein Spiel mit dem Feuer. worte sind FCKW, Ozon und Klima. Die kein Grund, es mit der Wahrheit nicht im- MERKEL: So kommen wir doch nicht weiter. Bundesregierung hat gesagt: Europaweit mer sehr genau zu nehmen. Es ist bekannt, Ohne Kompromißfähigkeit geht es doch soll eine Kohlendioxidbesteuerung einge- daß die Strahlenbelastung durch Castor- nicht. Mit einer solchen Haltung verhin- führt werden. Es nützt uns nichts, wenn alle Behälter geringer ist als die in den Alpen. dern Sie doch genau die Landebahn, also Zementwerke nach Polen und in die Nie- Warum schüren Sie trotzdem die Angst? die Entsorgung. Wir können die Entschei- derlande gehen. Nur eine CO2-Besteuerung BODE: Hinsichtlich der Auswirkungen ra- dung über Neubauten aufschieben, weil ja ist zur Zeit in Europa nicht erreichbar. dioaktiver Strahlung hat man sich in der überhaupt keiner ein Kraftwerk bauen will. BODE: Wenn die Bundesregierung sich für Vergangenheit sehr oft getäuscht.Wir han- In der Zwischenzeit entwickeln wir für die eine Energiesteuer so ins Zeug legen wür- deln nach dem Grundsatz: Wenn es um das nächsten 20 Jahre Energieszenarien, wel- de wie für das Reinheitsgebot deutscher Leben von Menschen geht, kann man gar che die Belange der Umwelt, der Versor- Biere, dann wäre schon viel gewonnen. nicht vorsichtig genug sein. gungssicherheit und der Wirtschaft berück- MERKEL: Ein deutscher Alleingang nutzt MERKEL: Nach diesem Prinzip handele ich sichtigen. Dabei sind alle Energieträger zu niemandem, und ich muß im Gegensatz zu auch. bewerten, auch die Kernenergie. Ihnen Mehrheiten schaffen. SPIEGEL: Nach den Auseinandersetzungen BODE: Wir brauchen die Atomenergie nicht BODE: Sie setzen sich doch für vieles gar um Castor rufen alle Parteien nach einem und dürfen sie gar nicht nutzen, wenn wir nicht erst ein. Werbeseite

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MERKEL: Damit machen Sie es sich sehr Automobilindustrie die Meinung zu sa- einfach. Ich muß Kompromisse suchen, In- gen. teressen ausgleichen. MERKEL: Aber damit sind die fünf Liter BODE: Die Umweltpolitik wird heutzutage Flottenverbrauch noch nicht geschafft. vom Forschungs-, Wirtschafts-, Verkehrs- BODE: Bei den beiden wichtigsten ökologi- und Finanzminister gemacht. schen Problemen, in der Energiepolitik und MERKEL: Na klar. Ich werde Sie an Ihre bei der Artenvielfalt, reicht die Bonner Verbündeten bei Gelegenheit erinnern.Wir Kraft hinten und vorn nicht. sollten wieder sachlich werden: Im neue- MERKEL: Nehmen Sie doch mal die Kon- sten Worldwatch-Bericht kommt Deutsch- vention der Vereinten Nationen zur Erhal- land in Sachen Klimaschutz relativ gut weg. tung der Artenvielfalt. Da sind selbst Auch der World Wide Fund for Nature hat uns gerade gelobt als eines der führenden „Es ist bedauerlich, daß es Länder in der Klimapolitik. nur an sehr wenigen BODE: Deutschland hatte sich 1992 beim Weltklimagipfel in Rio de Janeiro als Vor- Punkten Solidarität gibt“ reiter in der internationalen Umweltpolitik Angela Merkel profiliert. Mittlerweile wird im Ausland klar, daß die Bundesrepublik nicht mehr als unsere schärfsten Kritiker der Meinung, Durchschnitt ist und die Bundesregierung daß wir diese Konvention wesentlich mit ihr damaliges Versprechen, die CO2-Emis- vorantreiben. sion bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent zu BODE: Ihr Dilemma ist: Sie reden über reduzieren, nicht einhalten wird. Konventionen, fehlende Mehrheiten und MERKEL: Das ist eine Unterstellung. Ge- über das, was Sie nicht machen können. wiß, wir müssen mehr machen. Deshalb Währenddessen geht die Welt an der Um- wird die Bundesregierung auch bis Mitte weltzerstörung zugrunde. des Jahres ein Szenario vorlegen, mit wel- SPIEGEL: Warum können Sie sich eigent- chen zusätzlichen Maßnahmen wir die lich nicht in den Punkten, in denen sie ähn- noch fehlenden acht Prozent CO2-Redu- liche Ziele formulieren, unterstützen? zierung erreichen werden. Das können MERKEL: Ich halte es für bedauerlich und für marktwirtschaftliche Anreize, Selbstver- einen strategischen Fehler, daß es nur an pflichtungen der Industrie oder auch ord- sehr wenigen Punkten Solidarität zwischen nungsrechtliche Schritte sein. Umweltpolitik und Umweltverbänden gibt BODE: Wenn Sie weiter die Wünsche der – das schwächt die Umwelt.Wirtschaftsmi- Automobilindustrie erfüllen, kommen wir nister und Wirtschaftsverbände gehen häu- ökologisch nicht voran. Solange Sie in fig gemeinsam vor, auch der Sozialminister Brüssel nicht dafür kämpfen, daß der und die Gewerkschaften oder die Autopro- durchschnittliche Verbrauch aller verkauf- duzenten und der Verkehrsminister. ten Autos im Jahre 2005 bei drei Litern BODE: Wir können mit Ihnen nicht solida- risch sein, solange Sie vor der Industrie in „Währenddessen geht die Knie gehen und solange Ihre Politik die Welt an der nicht ausreicht, die Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen wirklich zu Umweltzerstörung zugrunde“ sichern. Der Schutz künftiger Generatio- Thilo Bode nen ist nach Artikel 20a Grundgesetz Staatsziel. Ihre Politik erfüllt diese Aufga- liegt, haben wir ein Problem. Der Ver- be nicht.Wenn Sie weiter so wursteln, wird kehrssektor wird der allergrößte CO2-Pro- unser Planet ökologisch kollabieren. Des- duzent – aber Sie machen da nichts. halb stelle ich mittlerweile die Legitimität MERKEL: Was die CO2-Reduzierung an- Ihres Handelns in Frage. geht, stellt der Verkehr das größte Problem MERKEL: Sie machen es sich sehr einfach. dar. Darin stimme ich mit Ihnen überein. Sie stellen schöne Maximalforderungen auf Ich habe der Automobilindustrie – da gab – um mir dann immer vorzuwerfen, daß ich es viel Ärger – die Verpflichtung abgehan- sie nicht verwirkliche. Daß Umweltschutz delt, den CO2-Ausstoß bis 2005 um 25 Pro- Staatsziel ist, ist dieser Bundesregierung zent zu vermindern. Das sind konkrete zu verdanken – und meine gesamte Politik Schritte nach vorn. ist daran ausgerichtet. BODE: Real ist: Die Bundesregierung hat SPIEGEL: Bevor Sie vor das Bundesverfas- bei der Umweltkommission in Brüssel, als sungsgericht ziehen: Wie wäre es, wenn das Fünf-Liter-Auto für 2005 anstand, die- Sie mal vier Wochen die Jobs tauschen? ses Ziel auf 2010 verschoben. BODE: Keine schlechte Idee. MERKEL: Erstens stimmt das so pauschal MERKEL: Da ich nicht sonderlich sportlich nicht. Außerdem ist es einfach, viel zu for- bin, würde ich nicht ins Schlauchboot stei- dern. Aber damit kann ich mich im Ge- gen. Wenn ich Zeit hätte, würde ich gern gensatz zu Ihnen nicht begnügen. mal vier Wochen gucken, wie bei Green- BODE: Mit dieser Argumentation werden peace das Drei-Liter-Auto gebaut wird. Sie selbst im Jahre 2030 noch nicht das Aber ich bin ganz gern Politikerin. Fünf-Liter-Auto haben. Sie müssen mal SPIEGEL: Frau Merkel und Herr Bode, wir den Mut und die Kraft aufbringen, der danken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 12/1997 85 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland Zwischen 2000 und 3000 westdeutsche Wörter, hat Hellmann errechnet, mußten die Ostdeutschen nach der Vereinigung büffeln: „Vokabellernen gehörte zu den Hauptbeschäftigungen der DDR-Bürger nach dem Mauerfall.“ Der Mannheimer Sprachforscher bewundert die im Westen weithin ignorierte Anpassungsleistung der Ostbürger geradezu: „Was für ein furcht- barer Identitätsverlust.“ Die Westdeut- schen ihrerseits übernahmen gerade mal ein Dutzend ostdeutscher Ausdrücke wie Broiler, Datsche und Grüner Pfeil oder Fakt ist, abnicken und etwas andenken. „Mehr als 800 Wörter aus der DDR lan- deten auf dem Müllhaufen der Sprachge- schichte“, sagt Hellmann bedauernd. In vielen Fällen waren Ostwörter Dubletten westdeutscher Begriffe und damit über- flüssig – etwa Kaufhalle (westdeutsch: Su- permarkt), Plastebeutel oder Kaderakte.

M. JEHNICHEN / TRANSIT Millionen Menschen fanden sich über Imbißstube in Zwickau (1989): DDR-Wörter auf dem Müllhaufen Nacht zu Schülern degradiert, mußten sich mit Wörtern quälen, die in ihrem Leben bis beln mit; in seiner kleinen engen Hand- dahin nie vorgekommen waren – Arbeits- SPRACHE schrift hatte er die Sprachtrouvaillen aus losengeld und Einkommenssteuerer- dem Osten notiert. klärung, Fußgängerzone und Konkurs, Mauerspecht Aus Hellmanns Sammelwut entstand Makler, Rendite und Zwangsversteigerung. schon 1980 am Mannheimer Institut für Massenweise riefen in den Monaten nach Deutsche Sprache ein „Kleines Wörterbuch dem Mauerfall verunsicherte Ostler in Zei- und Wendehals des DDR-Wortschatzes“ mit insgesamt 800 tungsredaktionen an. Ratgeberseiten lehr- Kernvokabeln des SED-Staates. 1992 folg- ten die Ostdeutschen das ABC des Westens. Zwischen 2000 und 3000 Wörter te ein dreibändiges Konvolut – „Wörter Noch 1993, drei Jahre nach der Einheit, und Wortgebrauch in Ost und West“. richtete das germanistische Institut der Uni- mußten die Ostdeutschen Derzeit arbeitet Hellmann an einem versität ein „Sprachberatungstele- nach der Wende neu lernen, die Wörterbuch der Wendezeit.Aus insgesamt fon“ ein. Bis heute haben 7000 Menschen Westler nur ein Dutzend – 3,4 Millionen Wörtern, aufgelesen in Flug- angerufen, um sich aufklären zu lassen oder ungerechte Folge der Einheit. blättern, Volkskammer- und Bundestags- ihre linguistische Not zu beklagen. protokollen sowie Zeitungsartikeln vom Inzwischen haben die Neubürger der Re- ine nostalgische Kaffeerunde im Jahr Mai 1989 bis Ende 1990, hat er 1600 Schlüs- publik ihre Lektion gelernt – mit in 40 Jah- sieben der deutschen Einheit. Einer selbegriffe gefiltert – darunter schnell wie- ren Sozialismus antrainierter Gründlichkeit. Ebekennt, er habe sein Plansoll nicht der verschwundene Wörter wie Exodus, Selbst Experten können Ost- und West- erfüllt, sein Kollege droht mit einem Ein- das im Herbst 1989 zum Synonym für die deutsche am Wortschatz mittlerweile kaum trag ins Brigadetagebuch. Unwörter wie Massenflucht aus dem SED-Staat wurde, noch unterscheiden, allenfalls am Dialekt. Kader, Kollektiv oder Zielstellung schwir- aber auch Dauerbrenner wie Mauerspecht Als Hellmann von einer Frau aus Sachsen ren um den Tisch. oder Wendehals. wissen wollte, wo sie zur Schule gegangen Der Plausch im schönsten DDR-Deutsch Wer unter bevormunden nachschlägt, sei, antwortete die: „In Halle aufs Gymna- gehört zu den Lieblingsspielen des Sprach- findet chronologisch geordnet sowohl ein sium.“ Erst als Hellmann, weil es in der forschers Manfred Hellmann, die er mit Zitat von Erich Honecker, der im Juli 1989 DDR kein Gymnasium gab, nachfragte, kor- seinen drei Kollegen aus Ostdeutschland, die Bundesrepublik davor warnte, die DDR rigierte sie sich: „Ich meine natürlich auf die allesamt Wissenschaftler am Institut für bevormunden zu wollen, als auch Christa EOS, die erweiterte Oberschule.“ Deutsche Sprache in Mannheim, betreibt. Wolfs Satz auf der Ost-Berliner Großdemo Mit einigen ideologisch befrachteten ge- Der 60jährige ist einer der wenigen West- am 4. November 1989: „Es ist wahr: dumpf, samtdeutschen Wörtern haben die Ostdeut- deutschen, die sich seit langem professio- geduckt, bevormundet haben wir gelebt.“ schen noch immer Probleme. Für DDR-Bür- nell mit der Sprachentwicklung in Deutsch- ger etwa war Solidarität die euphemistische Ost beschäftigen. Umschreibung dafür, daß die Arbeiterklas- Seit den sechziger Jahren hat Hellmann se zu machen hatte, was die Partei wollte. an Sprachbesonderheiten gesammelt, was Kein Wunder, wenn Ostdeutsche noch im- ihm bei Besuchen drüben aufgefallen war mer zusammenzucken, sobald Gewerk- und was er bei der Lektüre des SED-Zen- schafter die Solidarität der Arbeitnehmer tralorgans neues deutschland nicht ver- einfordern. Und wenn ein Westdeutscher für standen hatte; das nicht erfaßte Zimmer Überzeugungsarbeit wirbt, denkt der Deut- ebenso wie die Reko-Wohnung, die terri- sche Ost bloß an Agitation und Propaganda torialen Bindungen ebenso wie das Ab- für den real existierenden Sozialismus. produkt und das Zielprogramm. Nicht zu Hellmanns Kollegen frotzeln, mit dem vergessen der Volkspolizist, der seiner Wa- Wende-Wörterbuch gehe dem Sprachfor-

che 35 Personen zugeführt hatte. Von je- HELLER / ARGUM F. scher nun endgültig sein Lieblingsthema dem DDR-Ausflug brachte der Sprachex- Sprachforscher Hellmann verloren. Doch der lächelt nur milde: Er perte einen Zettelkasten mit neuen Voka- Spiele mit Ostvokabeln hat da bereits „etwas angedacht“. ™

88 der spiegel 12/1997 Werbeseite

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AFFÄREN Intrige in Wolfsburg? olkhard Köhler, Vize-Chef der VW- VTochter koda, wehrt sich gegen schwere Anschuldigungen der Wolfsbur- ger Konzernzentrale. Der vor eineinhalb Wochen bei koda gefeuerte Manager sieht sich als Opfer einer Intrige. Köhler wird von der VW-Spitze intern vorgewor- fen, die Aufklärung der Schmiergeldaffäre beim Bau einer koda-Lackiererei behin- dert zu haben. Er sei ferner in dubiose Grundstücksgeschäfte verwickelt, heißt es. Die Auftragsvergabe für die Lackiererei, All-Nippon-Airways-Jumbo erklärt dagegen Köhler, sei ausschließlich von dem ehemaligen VW-Chefeinkäufer LUFTFAHRT José Manuel Gutiérrez abgewickelt wor- den. Abwegig seien auch die Vorwürfe über unkorrekte Immobiliengeschäfte. Die Japanische Partner gesucht VW-Revision habe dafür keine Belege vor- weisen können. Auch die ermittelnden ie Deutsche Lufthansa (LH) will ihr und seine Kollegen zur Zeit mit der japani- Staatsanwälte in haben kei- Dweltumspannendes Netz von Allian- schen Fluggesellschaft All Nippon Airways ne Anhaltspunkte für die zen erweitern und so ihre Ausgangsposition über eine Aufnahme ins weltweite Strecken- Anschuldigungen gegen für die bevorstehende Liberalisierung im netz der Lufthansa. Gleichzeitig wollen die den koda-Manager finden europäischen Luftverkehr verbessern. Ver- Deutschen den Zusammenhalt zwischen können. In Wolfsburg wur- gangene Woche verkauften die Lufthansa- ihren Allianzpartnern stärken. Der neue de schon seit langem mit Manager dem österreichischen National- Strategievorstand Hemjö Klein soll dazu der Ablösung Köhlers, ei- carrier Austrian Airlines knapp die Hälfte eine Dachmarke entwickeln. Über das ge- nem engen Mitarbeiter des ihrer Anteile am Wettbewerber Lauda-Air, meinsame Logo wollen die Lufthansa-Ma- einstigen VW-Chefs Carl um den Weg für eine engere Kooperation nager ihre Kollegen zwingen, die Service- Hahn, gerechnet. Konzern- zwischen den Gesellschaften zu ebnen. In und Sicherheitsstandards der Deutschen boß Ferdinand Piëch hat Asien verhandeln LH-Chef Jürgen Weber einzuhalten. bereits über ein Dutzend

J. GIESEL J. Vertraute seines Vorgän- Köhler gers aus Führungspositio- TARIFPOLITIK nungsklauseln. Fällt Ihnen denn nichts nen gedrängt. Nach dem anderes ein? Abgang Köhlers will er jetzt den Schluß- Echter Mindeststandard STUMPFE: Ganz im Gegenteil. Uns sind vie- strich unter die Ära Hahn ziehen. Mit der le Neuerungen eingefallen. Wir möchten VW-Hauptversammlung im Juni verliert Werner Stumpfe, 59, Gesamtmetall-Prä- den Flächentarifvertrag zum Beispiel durch Hahn sein VW-Aufsichtsratsmandat. sident, über die Reform des Flächen- zusätzliche, attraktive Optionen ergänzen. tarifvertrages Wir wollen, daß die aktuelle Ertragslage der Unternehmen stärker berücksichtigt LADENSCHLUSS SPIEGEL: Herr Stumpfe, IG-Metall-Vize wird. So könnten zum Beispiel die vermö- Walter Riester spricht sich für Härtefall- genswirksamen Leistungen an den Unter- Teurer für die Großen regelungen aus, der Vorsitzende Klaus nehmenserfolg gekoppelt werden: In Zwickel denkt über Branchentarifverträge schlechten Zeiten gibt es weniger oder gar roßbetriebe sind gleichzeitig Gewin- nach. Erkennen Sie diese Ge- kein Geld, dafür wird in guten Gner und Verlierer der verlängerten Öff- werkschaft noch wieder? mehr als heute gezahlt. Die nungszeiten im Einzelhandel. Zu 80 Pro- STUMPFE: Ich begrüße sehr, daß Öffnungsklauseln sind beson- zent haben sie seit November vorigen in die sehr starren Positionen ders wichtig, um Unternehmen Jahres mehr als fünf Stunden wöchentlich der IG Metall etwas Bewegung und Arbeitsplätze zu retten. länger geöffnet. Ein Drittel meldet Um- kommt, wenn auch erst spät. SPIEGEL: Unterschiedliche Er- satzsteigerungen, bei einem Fünftel ist aber Wir müssen den Flächentarif tragslagen in einer Branche auch der prozentuale Anteil der Kosten um vor allem den Anforderungen gehören zur Marktwirtschaft. mehr als einen Punkt gestiegen. Wie der der globalisierten Wirtschaft Müssen Öffnungsklauseln des- Hauptverband des Deutschen Einzelhan- anpassen. Es geht um die halb nicht zu Wettbewerbsver- dels ermittelte, sieht die Ertragsrechnung großen Unterschiede zwischen zerrungen führen? bei Betrieben mit weniger als 16 Beschäf- den Betrieben. Betreffen diese STUMPFE: Wettbewerb bei den

tigten besser aus. Zwar melden nur 10 bis Unterschiede eine ganze Bran- DARCHINGER F. Arbeitsbedingungen gehört 20 Prozent Umsatzplus, dafür haben aber che oder Region, sind wir ganz Stumpfe ebenfalls zur Marktwirtschaft. auch nur rund 15 Prozent ähnlich hohe nahe bei Herrn Zwickel. Aber Am schönsten wäre, wir be- Kostensteigerungen wie die Großen. 15 große Differenzen bestehen auch innerhalb nötigten keine Öffnungsklauseln, weil Prozent aller Einzelhandelsbetriebe haben vieler Branchen. Hier brauchen wir Bewe- die Tarifverträge nicht nur juristisch, son- zusätzlich Personal eingesetzt, und zwar gungsräume für die Betriebe. dern auch ökonomisch echte Mindestbe- zu knapp 60 Prozent Voll- und Teilzeit- SPIEGEL: Die Gewerkschaft bewegt sich, dingungen enthielten. Davon sind wir lei- beschäftigte. Sie fordern stereotyp betriebliche Öff- der weit entfernt.

der spiegel 12/1997 91 Bauarbeiter in Berlin*: „Das ist so pervers, das ist nur schwer zu ertragen“ Horror und Erfolg Gewinne rauf, Arbeitsplätze weg – ein Wirtschaftswunder besonderer Art verschreckt die Nation. In die Unternehmen ist eine neue Generation von Konzernchefs eingezogen: Sie huldigen nach US-Vorbild dem Kult um die Aktie. Das Fatale: Die Börse belohnt Jobkiller.

ewinn ist gut, aber nicht alles“, sag- stand, fügte er gern hinzu: „Ich verwende schriller. „Profit, Profit, Profit“ sei sein te der langjährige Chef der Deut- bewußt das Wort dienen.“ Ziel, verkündete der Reuter-Nachfolger Gschen Bank. Und auch sonst hatte Der Chef des größten deutschen Indu- Jürgen Schrempp gleich zum Amtsantritt. der oberste Respräsentant des deutschen striekonzerns, Daimler-Benz, ging noch Die Chefs der drei großen deutschen Kapitalismus für seine Mitarbeiter wär- weiter. Bei einer Tagung in New York ließ Chemiekonzerne stimmen zu, und auch mende Worte parat: er seiner Antipathie für die Aktionäre, die die Traditionsfirma Veba hat sich der neu- Natürlich brauche das Unternehmen nur auf möglichst großen Profit lauern, en Bewegung angeschlossen: „Unsere Kul- Profit, um zu atmen. Aber: „Wie der freien Lauf: „Ich habe keine Zeit“, sagte er tur und Zielsetzung ist, daß jeder im Mensch nicht lebt, um zu atmen, so be- ihnen offen, „mir den ganzen Tag zu über- Konzern kapitalmarktorientiert denkt“, so treibt er auch nicht seine wirtschaftliche legen, wie ich den Börsenwert der Aktie die Vorgabe des Vorstandschefs Ulrich Tätigkeit, nur um Gewinn zu machen.“ sexier mache.“ Hartmann. „Dauerhafte Wertvernichter So sah das auch der Chef der Firma So klang das früher. Hermann Josef Abs, werden nicht im Portfolio gehalten oder Bosch, eine Wirtschaftswunder-Legende: damals Chef der Deutschen Bank, ist längst durch Quersubventionierung durchge- Der Erfolg eines Unternehmers lasse sich tot. Bosch-Lenker Hans Merkle lebt im Ru- schleppt.“ nicht allein in Geld ausdrücken. Der „idea- hestand. Und der Daimler-Chef mit der Hartmann läßt sogar T-Shirts drucken, le Unternehmer“ müsse der Volkswirt- schnöden Absage an den Aktienkult hieß auf denen der Kurswechsel in obszöner schaft „dienen“ – und damit jeder ihn ver- Edzard Reuter, er wurde im Jahr 1995 vor- Direktkeit postuliert wird: „We do it for zeitig abgelöst. value“ – Wir arbeiten für den Wertzuwachs * Auf einer Demonstration am Montag vergangener Die Töne der neuen Zeit klingen anders unserer Firma. Die Hemdchen werden als Woche. – oft merkwürdig fremd und in jedem Fall Geschenk an Analysten verteilt.

92 der spiegel 12/1997 Titel abgelaufenen Jahr 207 Milliarden Mark – daß der deutsche Bergbau seine Zukunft eine Summe so groß wie die Landeshaus- hinter sich hat. Wütend demonstrieren halte von Hessen, Bayern, Hamburg und Zehntausende von Bauarbeitern gegen die Nordrhein-Westfalen zusammen. europäische Billigkonkurrenz, obwohl por- Knapp 15 Prozent aller deutschen Haus- tugiesische und britische Wanderarbeiter halte besitzen Aktien. Sie profitieren von zum gemeinsamen Binnenmarkt gehören dem neuen deutschen Wirtschaftswunder, wie Pizza und Beaujolais. das andere mit ihrem Job bezahlen – eine Der neue Kapitalismus ist logisch und gigantische Verschiebung der Vermögens- grausam zugleich: Sein Erfolg, eine hoch- verhältnisse ist im Gange. profitable Produktionsmaschine, die im- Derweil die Konjunktur im Einzelhandel mer neue Exportrekorde aufstellt, ist eng lahmt, wissen die Verkäufer so mancher mit dem Mißerfolg, der abnehmenden Zahl Luxusware von Champagner-Stimmung zu von Jobs, verknüpft. Der Boom der Börse berichten: Auf das neue Mercedes-Cabrio – ohne die Baisse am Arbeitsmarkt ist er so SLK müssen die Interessenten derzeit bis wenig denkbar wie ohne den technischen zu zwei Jahre warten. Auch beim Porsche- Fortschritt, der die Rationalisierungs- Boxster kommen die Autofabriken mit der sprünge ermöglicht. Lieferung kaum nach. Die Gleichzeitigkeit der Phänomene, das Die Jubelstimmung an den Finanzmärk- scheinbar wahllose Nebeneinander von ten macht die Nicht-Anleger nervös. Denn Horrormeldung und Erfolgsstory, verwirrt P. LANGROCK / ZENIT P.

Arbeitsmarkt in Deutschland Erwerbstätige 1991: 36,6 Millionen Erwerbstätige Ende 1996: 34,3 Millionen –2,3 Millionen MELDE PRESS Krisen-Kanzler Kohl: Kein Gefühl mehr für die Lage im Land Aktienmarkt in Deutschland die Nebenwirkungen des Börsenwunders und reizt auf. Die Arbeitnehmer verstehen Anstieg des Deutschen-Aktien-Index (Dax) sind gravierend, zuweilen tödlich: Viele Fir- ihre Konzernbosse nicht mehr.Warum auf seit Anfang 1991 men, die das ehrgeizige Renditeziel nicht einmal diese Priorität des Profits? Wer packen, werden zerschlagen, verkauft oder treibt die Chefs zu der – zwar unerklärten, +247 Prozent ins Ausland verlagert. aber de facto eingetretenen – Abkehr vom Hunderttausende von Jobs starben seit Modell der Sozialpartnerschaft? 1993 dahin: minus 60000 in der Chemiein- Viele Politiker sind genauso verstört. Sie Die Aktionäre dürfen frohlocken, denn dustrie, minus 190000 im Maschinenbau, appellieren – wie zuletzt Bundespräsident die neuen Chefs haben – dank massiven minus 184000 in der Automobilindustrie. Roman Herzog – an Vaterlandsliebe und Technikeinsatzes – ihre Firmen straff Die Arbeitslosigkeit brandete im Februar Verantwortungsgefühl. Doch warum rea- durchrationalisiert. Im vergangenen Jahr auf den neuen Nachkriegsrekord von 4,7 giert niemand mehr? Warum diese Kälte in waren in Deutschland 60 Prozent mehr In- Millionen hoch – inoffiziell sind über sechs den Konzernspitzen? dustrieroboter am Werk als 1992. Kein Millionen ohne Job. Die Unternehmer fühlen sich mißver- Wunder also: Die Produktivität steigt, die Die noch immer gewaltigen Soziallei- standen. Sie kämpfen einen weltweiten Personalausgaben sinken – und den Ge- stungen im Wohlfahrtsstaat Deutschland – Kampf – gegen Firmen, die weniger Lohn winnen hat das gutgetan. das Sozialbudget betrug im vergangenen und kaum Steuern zahlen, die auf Umwelt Deshalb boomen die Börsen auch hier- Jahr 1,2 Billionen Mark – verhindern, daß und Gewerkschaften keine allzu große zulande. Neue Rekorde machen geschickte die Krise zur Katastrophe à la Weimar wird. Rücksicht zu nehmen brauchen. Anleger binnen kurzem reich: Daimler plus Doch allmählich macht sich Hoffnungslo- Hilflos agieren Bundesregierung und 75 Prozent, Bayer plus 55 Prozent, Hoechst sigkeit breit, der Glaube an eine Besserung Bundestag, Regierungsmehrheit wie Op- plus 48 Prozent,Veba plus 44 Prozent – und ist vielen längst abhanden gekommen. position. Offenbar ohne sein früheres Ge- das in einem Jahr. Der Wertzuwachs für die Verzweifelt kämpfen die Bergleute an fühl für die Lage im Land schafft es der Anleger in Deutschland erreichte allein im Rhein und Ruhr um jede Zeche, wissend, Kanzler nicht, Maßnahmen zur Änderung

der spiegel 12/1997 93 des sozialen Besitzstandes plausibel zu be- letzten fünf Jahren ein Führungswechsel gründen: Das Gesetz zur Lohnfortzahlung statt. Kühl kakulierende Manager, die vor im Krankheitsfall geriet ihm zum Fiasko. allem den Aktionär, ihren Geldgeber und Der Subventionsabbau im Kohlebergbau Eigentümer, mit reichlich Rendite be- – unstrittig eine ökonomische Notwendig- glücken wollen, ersetzten die Patriarchen keit – wurde zur Provokation. alten Typs. Selbst viele Konzernchefs können mit Im Ausland sorgte der Antritt der neuen diesem Kanzler, dessen Machtantritt sie Firmenführer für Furore. BUSINESS WEEK ist einst beklatscht hatten, nicht mehr viel an- - PRESS VARIO begeistert: „Lean, mean and german“, fangen. Bayer-Chef Manfred Schneider for- VW-Chef Ferdinand Piëch schlank, gemein und deutsch, schreibt das derte eine große Koalition zur Lösung der Blatt in seiner Story über die „hart durch- Probleme. Beschäftigte bei VW greifenden Männer“, die angetreten sind, Die Herren der Wirtschaft glauben, sich 1990: 261 000 1996: 241 000 eine neue Firmenkultur zu begründen. Zeitverzug kaum mehr leisten zu können Neu ist diese Entwicklung nur in – und Sentimentalität auch nicht. Die Bör- Deutschland. Der Siegeszug der Aktio- se, das kalte Herz des Kapitalismus, gibt ih- –20 000 närskultur begann bereits Mitte der acht- nen den Takt vor. ziger Jahre – in den USA. Ihre Geldgeber waren einst deutsche VW-Aktienkurs Viele Firmen hatten die Euphorie der Banken und Kleinaktionäre – die waren Gründerzeit hinter sich, waren zu Hoch- jahrzehntelang mit bescheidenen Rendi- Anstieg seit Anfang 1996 burgen von Bürokraten geworden. Der Jah- ten zufrieden. Der Aktionär ist dumm und resgewinn war nur eine Größe von vielen. frech, lautete eine der deutschen Spruch- +93 Prozent Die Börse reagierte auf die miese Verfas- weisheiten: Dumm, weil er sein Geld in sung von Corporate America mit Lustlo- Aktien anlegt, frech, weil er dafür auch sigkeit – die Aktienkurse dümpelten da- noch eine Dividende verlangt. Börsenguru André Kostolany faßte die hin. Kein Boom, kein Bonus, dem Börsen- So sahen das bis vor kurzem auch die gesammelte Mißachtung gegenüber den Fi- roulette fehlte jede Phantasie. Spitzenmanager, die sich, obwohl nur lei- nanzmärkten in einem Bonmot zusammen: Aktionär zu sein war Anfang der acht- tende Angestellte, als die eigentlichen Un- „Die ganze Börse hängt davon ab, ob es ziger Jahre ein schlechtes Geschäft. Im Be- ternehmer fühlten. Seit Jahren attackiert mehr Aktien gibt als Idioten oder mehr ziehungsgeflecht der Unternehmen – Ar- der Würzburger Wissenschaftler Ekkehard Idioten als Aktien.“ beitnehmer, Gläubiger, Kunde und Liefe- Wenger die Manager deutscher Großkon- Die Zeiten der Arroganz sind vorbei. ranten – war ausgerechnet der Geldgeber zerne auf Hauptversammlungen, weil sie Heute haben die „Idioten“ das Sagen, Ak- auf einen hinteren Platz gerutscht. das Vermögen ihrer Aktionäre verschleu- tionäre und ihre Fondsmanager stellen For- Plötzlich war manche Firma auf dem Pa- dern würden. Ein „Klub der Milliarden- derungen, sie machen Druck auf die Kon- pier nicht mehr viel wert. Das Verrückte: vernichter“ sei da am Werk, die perma- zernmanager, wenn die Gewinne nicht den Die tatsächlichen Werte – Produktionsan- nente „Mißwirtschaft der Konzernfürsten“ Erwartungen entsprechen. lagen, Immobilien, stille Reserven – lagen vergraule potentielle Kapitalanleger, ver- Die Folge: Ein neues Denken hielt Ein- zum Teil über den Börsennotierungen. hindere neue Investitionen und schade der zug in die Chefetagen. In nahezu allen Das rief die sogenannten Raider auf den gesamten Volkswirtschaft. Großkonzernen des Landes fand in den Plan: Spekulanten, die sich mit mächtigen M. PETERSON / SABA Börse in New York: „Alles hängt davon ab, ob es mehr Aktien gibt als Idioten oder mehr Idioten als Aktien“

94 der spiegel 12/1997 Titel

Globales Kursfeuer Entwicklung internationaler Aktienindizes Quelle: Datastream New York Sydney Tokio 2600 6000 Dow-Jones-Index All Ordinaries 40000 Nikkei-Index 35000 1800 30000 4000 25000 1000 20000 15000 2000 85 90 95 97

85 90 95 97 85 90 95 97 Tokio Sydney Hong Kong 3000 Frankfurt Toronto Dax Singapur New York 2000 Frankfurt 12000 Hongkong Hang-Seng-Index

1000 10000

85 90 95 97 8000

Singapur 2600 Straits Times Industrial 6000 6000 Toronto Composite 2200 5000 1800 4000 4000 1400 3000 1000 2000 2000 600 85 90 95 97 85 90 95 97 85 90 95 97 Geldgebern verbündeten, um die erlahm- den. Noch immer blieben Millionen als Ein Großangriff der Firmenaufkäufer ten Firmen zu attackieren. Die scheinbar Beuteprämie übrig. folgte: Die Haie gerieten in einen Rausch. wertlosen Firmen wurden aufgekauft und Einer der ersten Spekulanten jener Schillernde Figuren wie der Spekulant Ivan dann ausgeweidet. Die Amerikaner spra- wilden Jahre war der Brite Sir James Boesky („Man kann habgierig sein und sich chen von den Firmenjägern oder den Goldsmith. Er trat an, den Reifenhersteller trotzdem wohlfühlen“) schnappten zu. Sharks, den Haien. Goodyear mitsamt seinen 100 000 Mitar- Zwischen 1987 und 1989 wurden in den Die Idee der Raider war bestechend: Sie beitern zu übernehmen – einer der spek- USA rund 2730 Firmen übernommen. Es mußten sich nur irgendwo ausreichend takulären Versuche eines „unfriendly war jene Zeit, in der die Manager und ihre Geld leihen, um ihren Beutezug zu finan- takeover“. Belegschaften zitterten vor jenen Spieler- zieren. Sie hielten nach schlecht geführten Im Jahr 1986 erwarb Goldsmith knapp naturen, die über beides verfügten – Geld Unternehmen mit hohem Substanzwert zwölf Prozent der Aktien und kündigte und Showtalent. und niedrigem Aktienkurs Ausschau – um den Kauf weiterer Pakete an. Von Heim- Doch Ende der achtziger Jahre hatten es sie zu fleddern. lichkeit keine Spur. Goldsmith liebte den die Raider eindeutig überzogen. Die Sym- Zunächst kauften sie die unterbewerte- großen Auftritt – als Robin Hood der Ak- pathie verflog, die Pose des mutigen An- ten Papiere auf Pump. Dann übertrugen tionäre belagerte er die Reifenstadt Akron greifers beeindruckte nicht mehr.Auch die sie die aufgenommenen Schulden auf das in Ohio. Banken, die an den Übernahmegefechten gekaperte Unternehmen und zwangen das Er wolle die „lebensnotwendige Verbin- so prächtig verdient hatten, setzten sich Management, mit der Situation fertig zu dung zwischen Eigentümer und Manage- allmählich ab. werden. Entweder durch Rationalisierung ment wiederherstellen“, die Konzerne Plötzlich war überall nur noch von Ex- oder durch Verkauf von Unternehmens- „von den Bürokraten befreien“ und so die zessen die Rede, die der Volkswirtschaft teilen: Fix it or sell it. Stagnation überwinden, tönte er. schwer geschadet hätten: „Ein System, das War die Firma übernommen, konnte Ihn treibe doch nur die Profitsucht, rie- die Verfügung über vorhandene Vermö- durch Rationalisierung, Immobilienver- fen seine Gegner. Na und, erwiderte Gold- genswerte stärker belohnt als die Erzeu- käufe und das Losschlagen von Tochterfir- smith kühl: „Gibt es denn ein anderes Mo- gung neuer Aktiva, wird langfristig seine men der Kaufpreis mühelos finanziert wer- tiv für unternehmerisches Engagement?“ Dynamik einbüßen“, schrieb Stanley

der spiegel 12/1997 95 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel Primärziel ist Cash Alfred Rappaport entwickelte das Shareholder-value-Konzept

er Mann besitzt keine Aktien. Wie viele US-Bürger steckt Al- Dfred Rappaport sein Erspartes lieber in Fonds, die das Geld für ihn an der Börse anlegen. Mit ihren großen Vermögen, weiß er, können Anlage- profis den Firmen mehr Druck machen. Als Wissenschaftler und Unterneh- mensberater hat Rappaport wesentlich dazu beigetragen, die Manager großer Konzerne auf Profitmaximierung ein- zuschwören. Er gilt als der geistige Va- ter eines ökonomischen Konzeptes, das die Aktiengesellschaften weltweit in den letzten zehn Jahren stark verän- dert hat. Rappaport ist der Erfinder des Shareholder-value-Gedankens. Sein 1986 erschienenes Buch (Deut- scher Titel: „Shareholder-value – Wert- steigerung als Maßstab für die Unter- nehmensführung“) ist mittlerweile ein

Klassiker, aber den Nobelpreis wird der / PHOTOGRAPHY A. KOESTER Wirtschaftsprofessor dafür nicht be- Ökonom Rappaport: Einziger Maßstab ist der Börsenkurs kommen. „Nicht gerade neu“, urteilte die harvard business review nach Ein Sparer oder Investor, der einer nung, so Rappaport. Nur was in der Erscheinen des Buches, aber „genau Firma Geld zur Verfügung stelle, er- Kasse ist, ist Fakt. zum richtigen Zeitpunkt und wichtig“. warte dafür eine bestimmte Rendite. Für die Aktionäre interessant ist da- Im Grunde habe Rappaport „nur Tri- Dieser Ertrag müsse höher sein als das, bei nur der Teil der liquiden Mittel, der vialitäten aufgeschrieben“, meint der was ein Sparbuch abwirft. Denn würde an sie verteilt werden kann. Von den Würzburger Ökonom Ekkehard Wen- der Sparer sein Geld zur Bank brin- Erlösen abgezogen werden müssen da- ger. „Sensationell war das Konzept nur gen, hätte er kein Risiko. her nicht nur die Kosten für Mitarbei- deshalb, weil zu viele Leute aus den Au- Erfolgreich ist ein Unternehmen für ter, Material und Ersatzmaschinen, son- gen verloren hatten, worum es bei den Rappaport nur dann, wenn es die Er- dern auch die Zinsen für Kredite. Aktiengesellschaften eigentlich geht.“ wartungen der Geldgeber zufrieden- Was dann noch übrigbleibt, nennt Daß dieser Unternehmenstyp nütz- stellt. Aber wie geht das? Zentrale Rappaport den Free-Cash-flow – das lich ist, um kleine Beträge für große Größe in Rappaports Konzept ist der ist das Geld, das den Eigentümern Projekte zu bündeln, ist spätestens seit Cash-flow, ein Zahlungsstrom, der dann überwiesen werden könnte. Und der dem 17. Jahrhundert bekannt. Ebenso entsteht, wenn die Einzahlungen in die wahre Wert eines Unternehmens ist die alt ist die Erkenntnis, daß diese Ge- Firmenkasse die Auszahlungen über- Summe dieser Überschüsse. sellschaften ihren Zweck nur dann er- steigen. Bei der Analyse einzelner In- Es muß allerdings berücksichtigt füllen können, wenn sie den Anteils- vestitionen ist die Kalkulation dieser werden, daß Beträge, die erst in weiter eignern eine ordentliche Rendite auf Größe seit Jahrzehnten der entschei- Zukunft fließen, weniger wert sind als ihr Kapital verschaffen: Ihr Primärziel dende Faktor, der Ökonom übertrug das Geld, das schon nächstes Jahr in ist Cash. die Methode auf ganze Unternehmen. die Kassen kommt. Künftige Zahlungs- Uneinigkeit herrschte jedoch dar- Der Gewinn, argumentiert er, tauge ströme werden daher abgezinst, wie es über, wie sich diese Zielsetzung kon- als Maßstab nicht, denn bei seiner Be- im Jargon der Betriebswirte heißt. kret erreichen lasse, schreibt Rappa- rechnung haben die Buchhalter große Unter dem Druck ihrer milliarden- port in seinem Buch. Der Ökonom, der Bewertungsspielräume. So ist der bi- schweren Großanleger nutzen heute heute als Unternehmensberater arbei- lanzielle Überschuß beispielsweise zu Tausende US-Firmen Rappaports An- tet, gab den Managern das Handwerks- niedrig, wenn Maschinen schneller ab- satz, das Konzept nahm immer stärker zeug, mit denen sie die Interessen der geschrieben werden, als sie tatsächlich die Züge einer „Religion“ (Wenger) an. Aktionäre besser befriedigen können. verschlissen sind. Er ist zu hoch, wenn Shareholder-value, ursprünglich nur als Wachstum und Gewinne, so seine bestehende Vorräte mit einem unreali- Methode zur planmäßigen Steigerung Lehre, sagen über den Unternehmens- stisch hohen Anschaffungspreis bewer- von Unternehmenswerten konzipiert, erfolg wenig. Für den gebe es nur einen tet werden. Der Cash-flow dagegen ist wurde zum alles übertönenden Schlag- echten Maßstab: den Börsenkurs. nicht manipulierbar. Gewinn ist Mei- wort eines revitalisierten Kapitalismus.

98 der spiegel 12/1997 Wright, ein ehemaliger Banker von Nach komplizierten Berechnungsmethoden Lazard. (siehe Seite 98) wird seither unter Analysten Doch der Kult um die Aktie überlebte. taxiert, was eine Firma wirklich wert ist. Seit jenen Jahren achten Manager in Ame- Deutschlands Großindustrie stellte sich rika peinlich darauf, daß der Börsenwert zunächst taub. Der Aktionär hatte hierzu- hoch ist und sich Frust der Aktionäre gar lande noch nie viel zu bestellen – und das nicht erst aufstaut. Nichts schreckt die Kon- hat historische Gründe. zernlenker mehr als die Angst, eine neue Die Banken, die selbst dicke Aktienpa- Welle von Übernahmespekulationen könn- kete besitzen, schirmten die Unternehmen E. FIEGEL te sie davonschwemmen. ab: Raider hatten in Deutschland nie eine BASF-Chef Jürgen Strube Shareholder-value – zu deutsch: Wert- Chance. steigerung für den Aktionär – wurde zur Den Banken ging es in erster Linie dar- Beschäftigte bei BASF Zauberformel für erfolgreiches Manage- um, die Konzerne als Kunden ihrer Kre- 1990: 135 000 1996: 107 000 ment: Der Börsenkurs wird seither als Note ditabteilung zu halten. Mit übermäßigen interpretiert, jeder neue Aufwärtsruck in Renditeerwartungen wollte man die Kre- der Fieberkurve als Lob verstanden. Sacken ditnehmer nicht verschrecken. –28 000 die Kurse nach unten, stehen dem Top-Ma- Auch die Überkreuzverflechtung der In- nagement turbulente Tage ins Haus. dustrie – die großen Unternehmen besitzen BASF-Aktienkurs Als erste erhoben Konzerne wie Libbey- oft sogar Aktien der Konkurrenz – mach- Owens-Ford, Marriott und Westinghouse te die deutschen Manager weitgehend Anstieg seit Anfang 1996 die Pflege des Shareholder-value zur Ma- immun gegen Attacken von außen. Kein nagementaufgabe. Coca-Cola-Chef Rober- Konzernherr trieb den anderen an. Das +98 Prozent to Goizueta und General-Electric-Chef Renditedenken der Amerikaner galt als Jack Welch folgten. Sie zählen zu den er- kurzfristige Gewinnmaximierung und war folgreichsten Geldvermehrern des Jahr- verpönt. weniger – eine Schonfrist für das deutsche zehnts. Seit 1985 erhöhte Coca Cola seinen Auf freie Aktionäre brauchten die Un- Modell. Marktwert um 88 Milliarden Dollar auf 101 ternehmen – die ihr Kapital zumeist in Doch die Kapitalmärkte werden mit je- Milliarden. General Electric steigerte ihn Deutschland akquirierten – keine allzu dem Tag ein Stück internationaler. Deut- um 91,8 Milliarden Dollar auf 126,5 Mil- große Rücksicht zu nehmen. Die Banken sche Anleger drängen ins Ausland, auslän- liarden. bündelten die Millionen von Kleinak- dische Investoren kaufen deutsche Aktien. Das System des Shareholder-value hat tionären – dank des deutschen Depot- Rund 40 Prozent aller Geldanleger an der mittlerweile alle US-Firmen durchdrungen. stimmrechts. Frankfurter Börse sind mittlerweile Aus- Zwischen 1985 und 1995 bereicherten die Aktionäre, die nicht auf ihrem Stimm- länder – japanische Geldhäuser, britische zehn besten Konzerne ihre Aktionäre um recht bestehen, so die für viele Firmen be- Investmentbanken, US-Pensionsfonds. Die über 300 Milliarden Dollar. queme Regel, treten ihre Stimme an die Beteiligung der Ausländer hat sich in den Professor Alfred Rappaport lieferte die Banken ab. Die Kontrolle blieb auf der letzten 15 Jahren verdoppelt. wissenschaftliche Basis für den neuen Kult. Hauptverstammlung stets in den Händen Die deutsche Gemütlichkeit ist seither dahin. Die Profi-Anleger aus Übersee müs- sen schließlich wählen zwischen deutschen, japanischen, britischen, italienischen oder amerikanischen Wertpapieren – ein Wett- lauf um die heißeste Aktie begann. Wer hat die schlankeste Fabrik? Wer wird den dicksten Gewinn produzieren? Welche Firma investiert in Wachstums- märkte? Mittlerweile sind deutsche Großunter- nehmen wie die Telekom oder Daimler- Benz auch an der Wall Street notiert – sie werben täglich um die Gunst der Broker und Analysten.Wer nicht die Phantasie der Großanleger beflügelt, wer keine Superge- winne in Aussicht stellt, hat im großen Ka- sino keine Chance. Der Siegeszug des Shareholder-value hat deshalb auch in Deutschland begonnen. Manager wie Daimler-Lenker Jürgen Schrempp und Veba-Vorstandschef Ulrich Hartmann gelten hierzulande als die pro- minentesten Verfechter. Sie haben eine hit- zige Debatte ausgelöst, die vor kaum ei- nem Betriebstor haltmacht. Die Beschäftigten fühlen sich an den Rand gedrängt. Wer kümmert sich noch um ihr Wohlergehen? Wen interessiert die Steigerung ihres Einkommens, die Qualität ihrer Arbeitsbedingungen?

L. PSIHOYOS / MATRIX L. PSIHOYOS Die neuen Bosse reden wie Börsianer, US-Manager Goizueta, Welch: Hohepriester der Shareholder-value-Sekte ihre zentrale Denkgröße ist die Rendite,

der spiegel 12/1997 99 ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem Welt- werken und Fernsehsendern. Seit Jahren markt. Mit der Heimat Deutschland ver- treibt Welch Gewinn und Dividende mit binden viele nur noch die Erinnerung an einer ebenso einfachen wie radikalen Stra- die Kindheit und den Mißmut über hohe tegie nach oben: Rendite rauf – oder weg Löhne und komplizierte Genehmigungs- damit. verfahren. Wenn ein Geschäftsbereich von General Sie wollen „Global Player“ sein, nicht Electric nicht auf Dauer die weltweite Patriarchen. Ihre Philosophie haben sie Nummer eins oder zwei in seinem Markt allesamt den US-Managementschulen ent- D. HOPPE / NETZHAUT werden kann, trennt sich Welch eben da- liehen: Sie wollen ihre Firmen „downsi- Thyssen-Chef Dieter Vogel von. Die Zahl der Jobs reduzierte der Un- zen“, also entfetten, um dann auf der ternehmer aus Fairfield im US-Bundesstaat Suche nach gewinnträchtigen Geschäfts- Beschäftigte bei Thyssen Connecticut binnen 15 Jahren von über feldern Growth Management,Wachstums- 400000 auf etwa die Hälfte. 1990: 149 000 1996: 123 000 management, zu betreiben. Sexy ist, was Durch den Einsatz neuer Robotertech- Superrenditen verspricht: Medien, Tele- nik hat Welch ganze Fabrikhallen entvöl- kommunikation, Gentechnologie und das –26 000 kert. So trieb er den Börsenkurs immer Pharmageschäft. weiter nach oben. Er gilt mit seinen 61 Jah- Der Arbeitnehmer ist in dieser Denk- Thyssen-Aktienkurs ren noch immer als Mann mit Zukunft. schule vor allem ein Kostenfaktor. Steuert Nur bei den Gewerkschaften kann der seine Fabrik oder auch nur die Abteilung Anstieg seit Anfang 1997 Mann nicht punkten. Unter Anspielung auf keinen ausreichend großen Profit zur Kon- die Neutronenbombe – die Menschen tötet zernbilanz bei, ist schnell von Schließung +29 Prozent und Gebäude verschont – schmähen sie die Rede. Umstrukturierung heißt das, oder ihn als „Neutronen-Jack“. Portfolio-Bereinigung. Noch haben aber erst ein Viertel der 250 Weil Belegschaften und Öffentlichkeit Gentz. Richtig ist: Die Firmen wurden wie- größten deutschen Konzerne die Steige- empört auf den neuen Kult reagieren, ist der wettbewerbsfähig. Genauso richtig ist rung des Shareholder-value zum ober- das Wort Shareholder-value aus vielen Re- auch: Das Land wurde kälter. sten Unternehmensziel erklärt, wie das demanuskripten fürs erste wieder ver- Für die Lösung der Arbeitsmarktpro- Münchner Büro der internationalen Un- schwunden. In Deutschland wolle er diese bleme fühlen sich viele Unternehmens- ternehmensberatung LEK in einer Umfra- Vokabel nicht wieder in den Mund neh- führer – anders als die Gründergeneration ge ermittelte. Gleichwohl finde das Kon- men, sagt Schrempp. Die IG Metall hatte – nicht mehr zuständig. Heinz Dürr, Bahn- zept bei immer mehr Managern großen ihn als „Rambo“ bezeichnet. chef und von Hause aus Multimillionär, Anklang. Seither reden Schrempp und Hartmann sprach einst vom Unternehmen als „ge- Nur wenige Konzernlenker scheinen un- lieber davon, daß sie den Wert ihrer Un- sellschaftlicher Veranstaltung“. Davon ist entschlossen. Einer von ihnen ist Siemens- ternehmen steigern wollen. Die fINANCIAL heute kaum noch die Rede. Chef Heinrich von Pierer: Soll er den ver- times hat für die deutsche Scheinheilig- Als Vorbild gilt nun auch unter Deutsch- nachlässigten Anteilseignern mehr Bedeu- keit nur Spott übrig: „Bye-bye, Share- lands Bossen ausgerechnet Jack Welch, tung einräumen? Oder soll er, um des Be- holder-value. Hello, Unternehmenswert- Chef von General Electric. Der Amerika- triebsfriedens willen, die Reformen lieber steigerung“. ner ist so etwas wie der Hohepriester der behutsam vorantreiben? In Wahrheit sind die Unternehmen sogar Shareholder-value-Sekte. Der Konzernoberste, der rund 380000 stolz, daß sie den Anschluß an den welt- Als Chef eines der größten Konzerne Mitarbeiter beschäftigt, schwankt: Mal hält weiten Trend geschafft haben. Da sei eine der Vereinigten Staaten gebietet er über er es für „eine perverse Übersteigerung „Kulturrevolution“ in Gang gekommen, ein weitverzweigtes Reich von Elektronik- des Shareholder-value-Gedankens, wenn sagt Daimler-Finanzvorstand Manfred und Haushaltsgerätefabriken, Turbinen- amerikanische Konzerne Massenentlas-

Geldmaschine Börse Chronik des Aktienhandels 1409 Erste Börse in Brügge, benannt nach der 1840er In Deutschland allgemeiner Aufschwung 1987 Schwarzer Montag: Börsencrash in New Kaufmannsfamilie Van der Buerse des Aktienhandels durch den Eisenbahnbau York mit weltweiten Auswirkungen; der 1540 Gründung der ersten deutschen Börsen in 1873 Kurzfristige Schließung der New Yorker Dow Jones fällt innerhalb eines Monats Nürnberg und Augsburg Börse wegen Zahlungsunfähigkeit großer um über 25 Prozent US-Eisenbahngesellschaften 1988 „Feindliche Übernahme“ des Lebensmit- 1554 Gründung der Royal Exchange in London 1929 „Schwarzer Freitag“: Der Börsencrash in tel- und Tabakkonzerns RJR Nabisco (Ca- 1602 Erste Aktie der Niederländischen Ostindi- New York steht am Anfang der Weltwirt- mel) durch die auf Buy-outs spezialisierte schen Kompagnie in Amsterdam, der da- schaftskrise; der Dow Jones fällt in den Firma Kohlberg Kravitz Roberts für etwa mals welweit wichtigsten Börse 25 Milliarden Dollar darauffolgenden drei Jahren um über 2442 900 Prozent 1992 Beginn des weltweiten 1720 Erster Börsenkrach der Geschichte: Überbe- Börsenbooms wertung der South Sea Company, nachdem 1971 In New York wird die erste elektronische 2000 ein Teil der britischen Staatsschuld in Aktien Börse NASDAQ (National Association of 1820 der South Sea Company umgewandelt wurde Deales Automated Quotation System) 1500 gegründet 1756 Die ersten deutschen Aktien werden in 1415 1986 Alfred Rappaport begründet die Idee des Berlin gehandelt 1000 Shareholder-value 849 Aktienumsätze 1792 New York Stock Exchange gegründet 1986 Die Zahl der „feindlichen Übernahmen“ an deutschen Börsen 1820 Beginn des Aktienhandels an der Börse (Leverage-buy-outs) steigt auf über 100 in Milliarden Mark 500 Frankfurt im Jahr Quelle: Deutsche Bundesbank 1953 55 60 65 70 75 80 85 90 95 96

100 der spiegel 12/1997 Titel sungen ankündigen und daraufhin sofort die Kurse steigen“. Dann legt er dem Aufsichtsrat geheime Pläne vor, die nach Shareholder-value klin- gen. Danach sollen alle Unternehmenstei- le, die keine Chance auf Marktführung be- sitzen, zügig abgestoßen werden. Es werde keine Quersubventionierungen mehr ge- ben, verkündete er im engen Kreis der Auf- sichtsräte. So redet auch Jack Welch. Nach Bekanntwerden der Pierer-Pläne (spiegel 7/1997) zog der Aktienkurs sofort an. Doch dann zögerte Pierer schon wieder. Auf der Hauptversammlung Mitte Februar erteilte er dem Turbo-Kapitalismus erneut eine demonstrative Absage. Der Siemens- Kurs, der ohnehin vom jüngsten Börsen- boom kaum profitiert hat und mittlerwei- le einer Mißtrauenserklärung der Investo- ren gleichkommt, sackte prompt ab. Die Großanleger werden ungeduldig, wenn den Reden keine Taten folgen.Vor al- lem die institutionellen Investoren – Ban- ken, Versicherungen, die riesigen Finanz- anlagegesellschaften und Pensionsfonds – verfügen über Milliardenvermögen, mit de- nen sie die Unternehmensführer gehörig unter Druck setzen können. In der vergangenen Woche bekam das auch Hoechst-Chef Jürgen Dormann zu spüren. Er hatte den Anlegern viel ver- sprochen, womöglich zuviel. Das Pharma- geschäft wollte er in eine Aktiengesellschaft ausgliedern – die Pläne sind nun verscho- ben. Einen Rekordgewinn hatten die Anle- ger erwartet – Dormann mußte aber einen Verlust im vierten Quartal einräumen. Das war dann doch zuviel für den stets nervösen Kapitalmarkt. Die Hoechst-Aktie sackte gewaltig nach unten. Die faz kom- mentierte: „Wer sich in die Zwänge des Shareholder-value begibt, muß damit rech- nen, auch mal gezaust zu werden.“ Längst sind Fondsmanager nicht mehr nur passive Betrachter. Denn ihre Anlage- gelder müssen – im Auftrag von Lebens- versicherungskunden oder künftigen Pen- sionären – eher langfristig investiert wer- den.Also mischen sie sich auch aktiv in die Politik der Unternehmen ein. „Der Druck ausländischer Aktionäre auf die deutschen Unternehmen steigt“, sagt Bayer-Finanz- chef Helmut Loehr. Michael Price etwa, Geldverwalter der amerikanischen Mutual Series Fonds, saß als Outside Director im Verwaltungsrat der Kaufhauskette Macy’s – und war so immer bestens informiert, ob sein Investment in die richtige Richtung läuft. Sehr zielstrebig ging auch Dale Hanson vor, der Chef des California Public Em- ployees Retirement System. Calpers ver- waltet die Pensionen von rund einer Milli- on Kaliforniern, die im Öffentlichen Dienst arbeiten. Und um sein Vermögen von über hundert Milliarden Dollar auf Dauer zu si- chern, agierte er bei vielen Konzernen als Nebenchef. Als Vertreter der Shareholder beeinflußte er die Wahl des Vorstandschefs

der spiegel 12/1997 von General Motors. Und wenn Unter- mitglieder profitieren. Der Chef von Daim- nehmen nicht genügend Erträge erwirt- ler-Benz und weitere 170 Top-Führungs- schaften, setzt er sie kurzerhand auf eine kräfte des Konzerns sind über sogenannte „schwarze Liste“. Das Papier kursiert im- Wandelanleihen am Wohlergehen der mer wieder in den Medien – und verstärkt Daimler-Aktie beteiligt. so den Druck auf die Manager. Sobald der Kurs um 15 Prozent gestiegen Die Konzerne spüren jeden Tag, welche ist, können die Anleihen in Aktien umge- Macht auch die Analysten (siehe Seite 104) tauscht werden. Da der Kurs des Stuttgar- besitzen, die mit ihren Kauf- oder Ver- GEIGER T. ter Autoriesen seit Juli vergangenen Jahres kaufsempfehlungen die Fondsmanager be- Daimler-Chef Jürgen Schrempp um gut 50 Prozent nach oben schnellte, liefern. Neben der altbekannten Presseab- konnten Schrempp und andere Manager teilung existiert deshalb in vielen Unter- Beschäftigte bei Daimler-Benz ihr Vermögen um jeweils über eine Million nehmen ein neuer Bereich der Öffentlich- Mark steigern. Die Löhne der Arbeiter und 1990: 377 000 1996: 290 000 keitsarbeit: „Investor Relations“. Angestellten stagnierten. Früher hörten die Aktionäre nur einmal Als Vorbild dienen – na klar – die USA, im Jahr auf der Hauptversammlung ein –87000 wo die Manager noch großzügiger mit Ak- paar Worte vom Vorstand.Wenn sie Glück tienoptionen versorgt wurden. Kein Bör- hatten, wurden sie mit Würstchen versorgt, Daimler-Benz-Aktienkurs senboom ohne Bonus: Louis Gerstner von Henkel teilte Waschpulver aus, Lebens- IBM kam 1995 auf 14 Millionen Dollar, Jack mittelkonzerne spendierten Pralinen. Anstieg seit Anfang 1996 Welch kassierte 1996 sogar insgesamt 30 Die neue Generation von Unterneh- Millionen Dollar, ein Drittel mehr als 1995. menslenkern hat den Bereich Investor Re- +75 Prozent In dieser Woche werden die neuen Ge- lations längst zur Chefsache erklärt. Daim- haltssprünge der US-Manager für das Bör- ler-Chef Schrempp bestreitet im Jahr mehr senjahr 1996 verkündet – ein Gehaltsschub als 30 Gespräche mit Portfolio-Managern, Angelsachsen nichts anfangen. Sie verlan- in Rekordhöhe gilt als sicher. die den Strom des internationalen Kapi- gen mehr Transparenz – um besser kon- Auch in Amerika wird die Kritik an die- tals dirigieren. trollieren zu können. sem Entlohnungssystem immer lauter. Der Sobald die Halbjahres- und Jahreszahlen Die Ratingagentur Standard & Poor’s Mechanismus verführt die Manager dazu, vorliegen, reist sein Finanzvorstand Gentz klagt noch immer, „daß die Interessen der den Aktienkurs in die Höhe zu treiben – zu einer aufwendigen Veranstaltung, die Aktionäre in Deutschland bestenfalls auch mit Tricksereien. sich „Roadshow“ nennt, nach London, zweitrangig“ seien. In der deutschen Rech- Wer Entlassungen verkündet und Im- Edinburgh, Paris, Zürich, New York und nungslegung könnten die Zahlen nach Be- mobilien versilbert, wer spektakuläre Boston, um den Großinvestoren persön- lieben nach oben geschönt oder nach un- Ankündigungen macht, wird von den lich die Konzernstrategie zu erläutern. ten gedrückt werden. „Mit der betriebli- Geldmärkten belohnt. Ohne Mehrarbeit Auch Veba-Chef Hartmann ist regel- chen Wirklichkeit“ habe das nichts zu tun. und ohne Garantie für den Erfolg. mäßig auf Roadshows in aller Welt unter- Männer wie Schrempp, Hartmann oder Und der tritt oft genug gar nicht ein. So wegs. „Brillante, rational denkende Indu- Dormann stellen deshalb nun auf den In- warnt der kalifornische Pensionsfonds Cal- striespezialisten lassen sich nicht mit vagen ternational Accounting Standard (IAS) pers, daß es etliche Unternehmen mit dem Ankündigungen und großen Worten ab- oder die amerikanischen Bilanzierungs- Shareholder-value-Gedanken bereits über- speisen“, schwärmt er von seinen Ge- vorschriften um. Das erleichtert die Kom- treiben.Vorstände seien oftmals bereit, kri- sprächspartnern. munikation mit den internationalen Inve- tisiert Calpers, „Humankapital auf dem Neuerdings drängen Analysten und storen – und hat womöglich erneut nega- Altar kurzfristiger Kursgewinne zu op- Fondsmanager die Firmen sogar, ihre Kon- tive Folgen für die Beschäftigten. fern“. zernbilanz anders aufzustellen. Mit der Wenn Daimler-Benz im April zum er- Auch der New Yorker Ratingexperte Ed- deutschen Rechnungslegung können die stenmal seine Zahlen durchgängig nach ward Emmer warnt vor dem Kult um die US-Standard präsentiert, wird der opera- Aktie: „Es haben sich bereits die unmög- tive Gewinn für 23 verschiedene Ge- lichsten Exzesse ereignet. Vieles, was da schäftsbereiche auch offiziell zur zentralen getan wird, ist verantwortungslos.“ Dut- Spekulanten Angestellte 37% und Beamte Steuerungseinheit. Das eingesetzte Kapital zende von Firmen seien im Namen des der Länder muß mit mindestens zwölf Prozent ver- Shareholder-value bereits in den Bankrott Wem gehören zinst werden, hat Schrempp versprochen. getrieben worden. die Aktien? Leitende Wenn ein Bereich das Ziel nicht erreicht, Selbst Stephen Roach, Chefökonom der 20% Angestellte werden die Finanzanalysten Konsequen- New Yorker Investmentbank Morgan und Beamte zen verlangen. So machte Daimler-Chef Stanley, zählt sich inzwischen zu den Skep- private Haushalte 14% Rentner Schrempp kurzerhand die traditionsreiche tikern. Ende der Achtziger und Anfang der in Deutschland AEG dicht und verkaufte den verlust- Neunziger hatte er als Vorkämpfer einer 11% Selbständige trächtigen Flugzeugbauer Fokker. schlanken Wirtschaft noch das „Downsi- Das harte Durchgreifen lohnt sich nicht zing“ gepredigt. Inzwischen warnt er, „daß 10% Arbeiter nur für die Aktionäre. Auch die Vorstands- wir zuviel wegschneiden – nicht nur vom 7% Hausfrauen 1% Studenten FRANK- GROSS- USA sonstige 13,0% 14,6% private REICH 14,6% BRITANNIEN 13,9% 4,1% Anleger Haushalte 19,4% 29,6% 36,4% 8,0% Unter- 44,5% 30,3% 42,1% nehmen 58,0% 52,4% 4,1% Fonds/ 15,0% Versicherun- DEUTSCHLAND gen/Banken

102 der spiegel 12/1997 Titel D. HOPPE / NETZHAUT Opel-Werk in Bochum: Durch den Einsatz moderner Industrieroboter wurden ganze Fabrikhallen entvölkert

Fett, sondern zunehmend auch von den Chef Klaus Zwickel, „würde den Weg in Kapitalrendite von 15 Prozent verlangt Muskeln der Firmen“. eine andere Republik bereiten helfen.“ wird, fasse ich mir an den Kopf.“ Der ultrakonservative Republikaner Pat Zwickel sieht einen „Kapitalismus pur“ „Warum reichen nicht auch acht Pro- Buchanan attackierte im US-Wahlkampf heraufziehen. zent?“ fragt Wenger. Mit dieser Rendite unter dem Jubel seiner Fans die ungezü- Viele teilen die Sorge. Denn schon jetzt seien die Aktionäre bereits zufrieden – wie gelte „Profitgier“. Amerikas Bosse dürf- wird deutlich, daß die in den Unterneh- sich langfristig nachweisen lasse. Mehr zu ten nicht so tun, als gehe sie das soziale men gesparten Kosten woanders anfallen – fordern, hält der Kapitalmarktexperte so- Gleichgewicht im Lande nichts an, mahn- zum Beispiel beim Staat und seinen Sozi- gar für schädlich. te William McDonough, Präsident der Fe- alkassen. Ausgerechnet Scharfmacher Wenger, der deral Reserve Bank in New York. Anders als in Amerika steht in Deutsch- die deutschen Konzernchefs bisher als Auch in Deutschland hat die Debatte land ein Wohlfahrtsstaat bereit, die in den müde Truppe beschimpft hatte, plädiert über den Aktienkult begonnen. Totales Fabriken und Büros Ausgezählten aufzu- nun für ein sanfteres Vorgehen: „Zu schar- Profitdenken ist mit der in der Verfassung fangen. Längst spüren die sozialen Siche- fe Gewinnvorgaben schaden allen, dem verankerten Sozialpflichtigkeit des Eigen- rungssysteme den Druck. Unternehmen, seinen Aktionären und auch tums unvereinbar. Die Kosten für Arbeitslosenunterstützung der Gesellschaft.“ „Dem Shareholder-value zu huldigen ist haben sich in Westdeutschland seit 1992 Auch manche Konzernlenker erkennen in den vergangenen Jahren schwer in Mode nahezu verdoppelt. Mit jeder schlanken allmählich, daß sie den Kult um die Ak- gekommen“, meint Hoechst-Gesamtbe- Firma werden die Lasten des Sozialstaats tionäre nicht übertreiben dürfen – und daß triebsratschef Arnold Weber, „aber der Be- schwerer – und die Defizite des öffentlichen sie nicht allein auf die Börse, sondern auch griff darf nicht zum Götzen werden, Un- Haushalts noch ruinöser. Geht der Arbeits- auf Angestellte und Kunden mehr Rück- ternehmenschefs haben doch auch eine platzabbau unvermindert weiter, ist das Mo- sicht nehmen müssen. Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, dell Deutschland schnell am Ende. Selbst Daimler-Chef Schrempp, der im in der wir leben.“ Im Unternehmerlager wird deshalb vergangenen Jahr mit seiner starren Hal- Der Chemiekonzern baute seit dem Jahr ebenfalls für Augenmaß geworben. Dieter tung wilde Streiks provoziert hatte, gibt 1990 rund 25000 Arbeitsplätze ab. „Allein von Holtzbrinck, Inhaber der gleichnami- sich neuerdings einsichtig. Er bekannte die Ankündigung von weiteren Stellen- gen Verlagsgruppe, mahnt, daß der Share- jüngst in der US-Autostadt Detroit, daß streichungen lösten regelmäßig einen Kurs- holder-value „nicht allein die Richtung „wir nicht einfach anglo-amerikanische sprung aus“, empört sich Weber, „das ist so bestimmen“ dürfe: „Deutschland könnte Geschäftspraktiken auf die europäische In- pervers, gerade als Arbeitnehmervertreter sonst zu einer öden Wüste werden.“ dustrie übertragen dürfen“. Eine Synthese kann man das nur schwer ertragen.“ Auch der Würzburger Aktionärsvertre- beider Welten sei nötig. Gewerkschaften und Sozialpolitiker sind ter und Ökonomieprofessor Wenger fürch- Schrempp: „Damit wir unsere Mission bereits in Alarmstimmung: „Die Um- tet nun, daß Deutschlands Manager drauf erreichen können, brauchen wir Ange- setzung des Shareholder-value-Konzepts und dran sind, über das Ziel hinauszu- stellte, die sich mit dem Unternehmen in die Konzernpraxis“, warnt IG-Metall- schießen: „Wenn ich höre, daß überall eine identifizieren können.“

der spiegel 12/1997 103 Titel lich den Aktienbestand zu halten und an- sonsten abzuwarten, hat sich als goldrich- tig erwiesen. „Die Zahlen sind in line zu unserem forecast“, verkündet Schnatz zufrieden auf der morgendlichen Schaltkonferenz den Händlern und Anlageberatern, die von den Analysten die Marschrichtung für den Tag wissen wollen. Das heißt soviel wie: locker bleiben, keine größeren Käufe oder Ver- käufe bei Krupp Hoesch. Es ist 8.40 Uhr und der Tag bereits ein voller Erfolg für den „Head of Steel Industry“ und „Senior Associate Director“ der Deutschen Morgan Grenfell, als den ihn seine Visitenkarte aus- weist. Der Investmentbanker, der von Frank- furt aus seit einem halben Jahr den eu- ropäischen Stahlmarkt beobachtet, gehört zu den Vorzeigekräften einer Boombran- che, die sich als Herold der neuen Heils- lehre des Shareholder-value versteht und von der Gewinnmaximierung im Ak- tionärsinteresse selbst kräftig profitiert. Alle großen Banken beschäftigen in Kompaniestärke sogenannte Research- teams, die börsennotierte Unternehmen auf ihre Rentabilität hin abklopfen und professionellen Anlegern wie den milliar- denschweren Pensionsfonds oder Versi- cherungsgesellschaften detaillierte Rat- schläge geben, wo die ihr Geld möglichst gewinnbringend parken können – gegen ordentliche Provision natürlich. Die Deutsche Bank hat den Stamm ihrer Analysten seit dem Jahr 1995 in Europa um knapp 50 Mitarbeiter auf nunmehr rund 80 aufgestockt, das amerikanische In- vestmenthaus Merrill Lynch verfügt allein in London über knapp 90 Kapitalmarktex- perten. Insgesamt sind bei den Berufsver- bänden in Amerika und Europa inzwischen rund 12000 Aktienanalysten eingetragen. Die jungen Investmentprofis, Durch- schnittsalter 33, sehen sich als die neue Eliteeinheit der Bankenwelt: Was für die achtziger Jahre der Broker als Prototyp

F. HELLER / ARGUM F. des kapitalistischen Erfolgsmenschen war, Analysten Schnatz, Benner*: Hosenträger sind tabu dem Hollywood mit „Wall Street“ das fil- mische Denkmal gesetzt hat, wollen die Analysten für die Neunziger sein: kühle Strategen, die den globalen Kapitalstrom in die richtigen Kanäle lenken – die Akade- „Wir handeln die Zukunft“ miker des Börsenhandels gewissermaßen. Der Analyst erscheint im dunklen Tuch Die Analysten sind die Wegbereiter des zur Arbeit, vorzugsweise Einreiher mit We- ste. Hosenträger sind tabu („Das tragen Shareholder-value-Denkens: Personal ist für sie vor doch nur Trader“), die bei den Devisen- allem ein Kostenfaktor. Die Rendite zählt. händlern so beliebte - oder Taucher- uhr ist selbstredend völlig indiskutabel, ie Zahlen, die über den Reuters- nen weniger als im Jahr zuvor, und Schnatz Handys gelten als überflüssig. Bildschirm laufen, sehen gut aus, hat es vorausgesehen. „Wir sind eher konservativ gesonnen“, Dsehr gut sogar – wenn man sie mit Hastig vergleicht der Aktienanalyst von sagt Christoph Benner, 27, der bei der den Augen von Oliver Schnatz, 32, liest. Morgan Grenfell, dem Investmenthaus Deutschen Morgan Grenfell in Frankfurt Der Stahlkonzern Krupp Hoesch meldet der Deutschen Bank, noch einmal die für die „Small Caps“ zuständig ist, also für für das Jahr 1996 einen Gewinn von 208 wichtigsten Daten des Stahlriesen mit der kleinere Aktiengesellschaften. „Wir mö- Millionen Mark, immerhin fast 300 Millio- eigenen Schätzung, die er zuletzt Anfang gen nicht so auftragen.“ Januar an alle großen Anleger weltweit Dem entspricht auch die Arbeitsatmo- * Vor der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt. verschickt hatte. Seine Empfehlung, ledig- sphäre im 22. Stock des Frankfurter Tria-

104 der spiegel 12/1997 non-Hochhauses neben der Zentrale der Die glorreiche Vergangenheit eines Tradi- einwandfreiem“ Verhalten zu verstehen Deutschen Bank, wo die Morgan-Grenfell- tionsunternehmens, in dem die Erinnerung hat: „Die Wahrung der Interessen des An- Leute mit Panoramablick auf die City ihr und Arbeitsleistung ganzer Generationen legers ist für ihn Richtschnur seines Han- Tagewerk versehen. Hier muß niemand steckt, wischen sie mit einer Armbewegung delns.“ adrenalingepeitscht Kauf- und Verkaufsor- zur Seite. Tradition ist ein verstaubter Die Analysten wissen die Milliarden ders in drei Telefone gleichzeitig brüllen. Wert. „Wir handeln die Zukunft“, sagt ihrer Kunden hinter sich, und entsprechend Bei Bedarf tauschen sich die Investment- selbstbewußt treten sie auf. Spätestens die banker allenfalls im Plauderton über auf- Wenn die Analysten Macht über die Börsennotierung, die ihnen fällige Kursentwicklungen aus („Hi Frank, den Daumen senken, kippt der Kapitalmarkt verleiht, beseitigt jeden sag mal, was ist da eigentlich bei Conti der Kurs ab Zweifel.Wenn die Aktienprofis der Invest- los?“) oder erläutern einem Kunden auf mentbanken mehrheitlich den Daumen Nachfrage eine aktuelle Unternehmens- senken, „untergewichten“ lautet in die- einschätzung. Small-Cap-Spezialist Benner, „die Vergan- sem Fall lapidar der Börsentip, kippt der Der größte Teil der Arbeitszeit geht in genheit interessiert uns nicht.“ Kurs ab. die sogenannte Zahlenpflege. Da gilt es, Personal kennen die Analysten vor allem Schon die Verkaufsempfehlung nur einer die neuesten Geschäftsberichte zu sezieren als Kostenfaktor, und Massenentlassungen großen Research-Abteilung kann einem und in Verbindung zu Preisentwicklungen tauchen unter der Überschrift „Head- Konzern einen deutlichen Kursverlust und Kursschwankungen zu bringen. Alle count“ in übersichtlichen, profitverspre- bescheren, wie die Finanzleute bei Morgan großen Wirtschaftszeitungen und -dienste chenden Grafiken auf. Grenfell erst kürzlich an ihren Moni- müssen auf brauchbare Informationen aus- Wer bereit ist, sich „auf Kernaktivitäten toren beobachten mußten, als Reuters irr- gewertet werden. zu konzentrieren“, und seine „Produk- tümlich per Eilmeldung verbreitete, die Regelmäßig stehen auch Inspektionen tionstiefe zurückfährt“, wie das Abstoßen Deutsche-Bank-Tochter habe Thyssen in den Firmen an – „man muß ein Gefühl von Unternehmensbereichen im Analy- überraschend abgewertet – binnen Minu- ten verloren die Aktien des Stahlkonzerns rund drei Mark. Kurzfristigen Manipulationen sind aller- dings enge Grenzen gesetzt. „Der Markt ist auf Dauer stärker als der einzelne“, sagt Benner. Wenn sich die Anlagestrategen in ihrem Urteil irren, wird es vor allem für die Investoren schmerzhaft teuer. Die Liste der Flops ist nicht klein. So blies Goldman, Sachs über mehrere Wo- chen zum Kauf von Aktien des Rolltrep- penherstellers Orenstein & Koppel und handelte sich den Spott der Konkurrenz ein, als der Kurs steil nach unten ging. Auch den Deutsche-Morgan-Grenfell- Experten unterlief schon mancher Schnit- zer.Anfang vergangenen Jahres setzten sie bei Gildemeister auf einen ordentlichen Jahresgewinn und empfahlen Aktien- zukäufe. Tatsächlich mußte der Maschi- nenbauer im Februar 1996, nach einer Rei- he schwerer Jahre, einen erneuten Verlust eingestehen, der Kurs sank schlagartig um fast 30 Prozent. Von der Talfahrt des Bre-

DPA mer Vulkan wurden die Deutsch-Banker Frankfurter Börse: „Der Markt ist auf Dauer stärker als der einzelne“ ebenfalls kalt erwischt. So betreiben einige Großanleger inzwi- für das Produkt bekommen“, sagt Schnatz; sten-Deutsch heißt, wird mit der Kauf- schen aktive Risikominimierung und ha- außerdem will der Analyst hin und wieder empfehlung „übergewichten“ belohnt.Wer ben dazu eigene Researchteams aufgebaut, ganz gern von der Unternehmensführung die Rentabilität nicht zügig steigert, kann die als sogenannte By-side-Analysten wie- wissen, wie die sich ihre Strategie für die froh sein, wenn er die Börseneinstufung derum die Analysen der Analysten analy- Zukunft denkt. „neutral“ behält. sieren. Benner und Schnatz ficht das nicht „Wir nehmen so ein Unternehmen wie Natürlich sei Arbeitslosigkeit, gesell- an; das sei, sagen sie, eben Wettbewerb. ein Fertighaus auseinander und bauen es schaftlich gesehen, auch für ihn „irgendwo Was sie den Anlegern wert sind, können anschließend neu zusammen“, beschreibt schon ein Thema“, sagt Schnatz. Aber er- die beiden Bankangestellten am Ende des Schnatz seine Arbeitsweise. Das klingt sehr stens sei er kein Manager und damit fürs Jahres eh genau in einer Umfrage unter technisch und kalt und ist auch genauso ge- „operative Geschäft“ nicht verantwortlich, Großinvestoren ablesen, bei der die Kapi- meint. Denn was interessiert den Anleger und zweitens, erläutert er, habe er in der talgeber die Qualität jedes einzelnen Ana- der Gewinn, den eine Aktiengesellschaft Stahlindustrie geradezu exemplarisch se- lysten mittels Punktetabelle bewerten. Je am Ende des Jahres ausweist? Er will wis- hen können, was mit Firmen geschehen höher ein Aktienstratege und seine Mann- sen, wie es mit seiner Aktienrendite oder sei, die das „Gesetz des Überlebens“ zu schaft dabei auf der Rankingliste steigen, dem „Croci“ steht, dem „cash return on ca- spät befolgten: „Von denen bleibt am Ende desto höher fällt auch die Provision aus. pital invested“. nichts übrig.“ Im vergangenen Jahr belegte das Frank- Daß sie perfekt das Klischee des seelen- Die Standesrichtlinien der Branche de- furter Team der Deutschen Morgan Gren- losen Kapitaltechnokraten erfüllen, ist Leu- finieren denn auch eigenwillig, aber ent- fell Platz eins. ten wie Schnatz und Benner herzlich egal. schieden, was ein Analyst unter „ethisch Jan Fleischhauer

der spiegel 12/1997 105 HANDEL Unfeine Attacken Die Ablösung von Karstadt-Chef Walter Deuss ist keinesfalls sicher. Im Aufsichtsrat regt sich Widerstand.

eim letzten Treffen Anfang Februar schien alles in bester Ordnung. Rund Bzweieinhalb Stunden lang hatte sich der 20köpfige Karstadt-Aufsichtsrat im jüngst zum „Erlebniskaufhaus“ aufgemö- belten Berliner KaDeWe über die neue Konzernstrategie aufklären lassen. Alles sei „wirklich sehr überzeugend“, gab sich Chefaufseher Guido Sandler nach

einem Rundgang durch den glitzernden, / ARGUS R. JANKE beispielhaften Konsumtempel zufrieden. Karstadt-Haus (in Hamburg): Für Hertie Investitionen in den eigenen Häusern gestreckt „Bei der zügigen Umsetzung der Pläne auch in den anderen Häusern“, so Sandler im Frankfurter Airport Club zu entmach- Rendite der Aktionäre zu kümmern.Als im im Anschluß an die Erläuterungen von Kar- ten, droht zu scheitern. Deuss, seit 1967 im Februar öffentlich über den Abgang von stadt-Chef Walter Deuss, „wünschen wir Karstadt-Vorstand, kündigte intern an, er Deuss spekuliert wurde, stieg die Aktie auf dem Vorstand eine glückliche Hand.“ werde den Chefsessel nicht freiwillig räu- über 600 Mark. Offenbar verfügt Sandler, entsandt von men. Die Arbeitnehmerseite im paritätisch „Die Diskussion um Deuss bringt Phan- der Hertie-Stiftung – die 30 Prozent der besetzten Aufsichtsrat will geschlossen für tasie in den Karstadt-Wert“, sagt Jörg Chri- Karstadt-Aktien hält – über einiges schau- ihn stimmen. Sie kann die Abwahl von stians, Einzelhandelsanalyst beim Privat- spielerisches Talent. Denn trotz der sal- Deuss und die Bestellung eines Nachfolgers bankhaus Trinkhaus & Burkhardt. Er emp- bungsvollen Worte hatte er zu dem Zeit- zwei Monate lang blockieren. fiehlt Spekulanten bis 640 Mark dabeizu- punkt bereits mit den Vertretern der an- Sandler und seine Verbündeten, allen bleiben. Im letzten capital-Ranking der deren Hauptaktionäre Deutsche Bank und voran Deutsche-Bank-Vorstand Ulrich deutschen Top-100-Börsenwerte findet sich Commerzbank (je 10 Prozent) darüber be- Cartellieri und Commerzbank-Chef Mar- Karstadt ganz hinten wieder. Die Empfeh- raten, wie Deuss zu stürzen wäre. tin Kohlhausen, haben offenbar nicht mit lung der Tester (damals kostete das Papier Daß der Karstadt-Chef nicht mehr ge- solchem Widerstand gerechnet. Noch am 496 Mark): „Verkaufen“. wünscht ist, hat ihm bis heute keiner der vergangenen Donnerstag versuchte der Die Diskussion um Karstadt und seinen Aufseher mitgeteilt, jedenfalls nicht per- Aufsichtsratschef, die Arbeitnehmerver- Chef trifft das Unternehmen zum denkbar sönlich. Statt dessen wurde, sonst nicht ge- treter bei einem eiligen Treffen in Hanno- schlechtesten Zeitpunkt. Die allgemeine rade Stil der Frankfurter Banker, über die ver auf seine Seite zu ziehen, ohne Erfolg. Konsumflaute macht dem Konzern ebenso Presse lanciert, Karstadt werde für das ver- Die Aktionärsvertreter sitzen in der zu schaffen wie die noch nicht verdaute gangene Jahr einen Verlust von 300 Mil- Zwickmühle: Schießen sie Deuss ab, ris- Übernahme von Hertie vor gut drei Jahren. lionen Mark ausweisen. Der Kaufhaus- kieren sie eine öffentliche Schlamm- Vorsichtig gerechnet hat die Eingliederung konzern (Umsatz 1996: rund 27 Milliarden schlacht und heftigen Streit mit der Beleg- der maroden Kette bislang weit über hun- Mark) müsse jetzt schnell restrukturiert schaft. Geben sie nach, verlieren sie nicht dert Millionen Mark gekostet, dafür wur- werden, statt der geplanten 18 sollten bis zu nur ihr Gesicht, sondern auch viel Geld: den Investitionen in den eigenen Häusern 50 der noch 242 Filialen dichtgemacht wer- Der Karstadt-Aktie, gepuscht durch den gestreckt. den. Dazu sei ein neuer Mann an der Spit- angeblich bevorstehenden Machtwechsel Doch mit der Hertie-Fusion, so ließen ze erforderlich. (wirtschaftswoche: „Geht Deuss noch sich die Hauptaktionäre bisher vernehmen, Doch der Plan, den eigenwilligen Kon- im März?“), droht ein massiver Kurssturz. war Deuss voll im Plan. Erst im vergange- zernlenker in einer außerordentlichen Auf- Deuss ist kein Liebling der Analysten. nen Jahr hatten sie seinen Vorstandsver- sichtsratssitzung am kommenden Samstag Die werfen ihm vor, sich wenig um die trag um weitere fünf Jahre verlängert. Und

Mark 612 620

UMSATZ 600 27,1 27,0 26,9 608 in Milliarden Mark Stand 580 14. 3. 560

AKTIENKURS 540 20,9 520 Walter Deuss Guido Sandler geschätzt Quelle: Datastream 500 Vorstands- Aufsichtsrat- vorsitzender 1993 1994 1995 1996 496 Februar März 480 vorsitzender M. DARCHINGER H. DARCHINGER J.

106 der spiegel 12/1997 Wirtschaft am 30. April sollte Deuss die neuen Un- grammrechte bei den Filmstudios in Hol- ternehmensleitlinien – auf der Februar-Sit- DIGITAL-TV lywood, mietete Dutzende von Satelliten- zung in Berlin vom Aufsichtsrat abgenickt kanälen, baute ein hochmodernes Sende- – rund 500 leitenden Karstadt-Angestellten Weißer Ritter zentrum und bestellte eine Million neuar- in den Düsseldorfer Messehallen verkün- tiger Decoder-Empfangsgeräte („d-Box“), den. Das digitale Fernsehen wird die digitale TV-Signale empfangen und um- Statt Aufbruchstimmung herrscht im wandeln. Karstadt-Management nun gespanntes teurer als gedacht, die Zuschauer Eine Trumpfkarte kam zur anderen, und Mißtrauen. Wichtige Entscheidungen wer- bleiben aus. Pionier Leo am Ende hatte Kirch ein starkes Blatt. Das den seit Wochen hinausgezögert, keiner Kirch braucht einen Partner. Problem: Keiner spielte mit ihm. will einen Fehler machen, das Direktions- Seine Hauptrivalen, der Medienkonzern kasino ist meist verwaist. Niemand will mit on starken Sprüchen in der Öffent- Bertelsmann und der Telefonriese Tele- den falschen Leuten gesehen werden. lichkeit hält der Münchner Medien- kom, scheuten die hohen Preise, die Kirch Die meisten der sieben Vorstände stehen Vunternehmer Leo Kirch, 70, nicht zahlte. Sie warteten lieber ab. Und auch die zu Deuss, mit zwei Ausnahmen: Klaus viel. Doch als Ende Juli vergangenen Jah- Verbraucher, die das kostspielige Digital- Eierhoff, Ex-Bertelsmann-Controller, und res sein Unternehmen „DF 1 - das Digita- TV finanzieren sollen, reagierten kaum. Wolfgang Momberger, Schwiegersohn des le Fernsehen“ startete, machte der PR- Kirch blieb allein mit seiner Idee. Hoteliers Steigenberger. Beide sind in der scheue Kirch eine Ausnahme. Nun zeigt sich, acht Monate nach dem Essener Konzernzentrale als Technokraten Das sei „etwas wirklich Neues“, DF-1-Start: Die Sache mit dem Zukunfts- verschrien, beide wurden von Cartellieri schwärmte er in der welt am sonntag,es fernsehen ist weit schwieriger als gedacht, ins Unternehmen geholt. gebe jetzt eine „größere Freiheit der Kon- es fehlt an der Nachfrage. Ein einziges Un- Auch hinter den unfeinen Attacken sumenten“. Aus vielen Kanälen, klar nach ternehmen allein ist in dieser Lage über- Sandlers sehen Branchenkenner den Deutsch-Banker als Drahtzieher. Deuss, so die Vermutung, sollte durch die geziel- ten Indiskretionen soweit gebracht wer- den, von sich aus zu gehen. Schon seit Monaten, so berichten Aufsichtsratsmit- glieder, sei das persönliche Verhältnis zwischen Cartellieri und Deuss „deutlich angespannt“. Dabei ist gerade Cartellieri für die Pro- bleme bei Karstadt maßgeblich verant- wortlich. Dem Hertie-Kauf hat er als da- maliger Aufsichtsratsvorsitzender zuge- stimmt, als Antwort auf einen gelungenen Deal der Konkurrenz. Doch während der zur Metro gehörende Kaufhof sich mit Horten und seinem Galeria-Konzept ein modernes Unternehmen einverleibt hatte, entpuppte sich Hertie als millionenschwe- rer Sanierungsfall. Auch an der ungewöhnlichen Gesell- schafter-Konstruktion hat Cartellieri mit- gestrickt. Die Hertie-Stiftung hatte ihr Ak- tienpaket als Teil des Kaufpreises bekom- men. Einige Kaufhäuser allerdings haben

die Ex-Eigentümer behalten und sie an UNIVERSAL Karstadt verpachtet. Geht es um die Miet- Kirch-Film „Ein Schweinchen namens Babe“: „Eine Gummiwand vorgefunden“ höhe oder fällige Umbauten, etwa bei der längst nötigen Sanierung des Hamburger Programmfarben wie Heimatfilm oder fordert, den vermuteten Markt aufzu- Alsterhauses, muß Hertie-Vertreter Sand- Cartoons getrennt, wähle der Zuschauer reißen. Nun ist Kirch auf Partnersuche – ler schon mal zwei Interessen bedenken. künftig sein eigenes TV-Menü aus. und spricht mit Kabelfirmen und dem Ber- Bei der geplanten Ablösung von Deuss Seit dem Digital-Start glaubt Kirch, er telsmann-Konzern. Eine Einigung mit den durch den Technokraten Eierhoff allerdings halte den Schlüssel in der Hand für die Bertelsmännern liegt in greifbarer Nähe. glaubt Sandler im Interesse aller Aktionä- schöne neue Welt der Bilder, für die „Ver- Erst 30000 Abonnenten hat Kirchs Ka- re zu handeln. Eierhoff sei, trotz mangeln- schmelzung von Fernsehen mit Multime- sten gelockt, über 200 000 waren einge- der Handelserfahrung, als „ein sehr zu- dia, Online-Diensten und Dienstleistungen plant. packender, konzentrierter Manager“ der wie Home-Banking“, wie er das nennt. Schon jetzt zahlen 17 Millionen Deut- ideale Mann für die Karstadt-Spitze. Was immer das Publikum verlangt, bei sche pro Monat 50 Mark für die allgemei- Tatsächlich ist der für die Logistik zu- ihm soll es, gegen Gebühr und weitgehend ne Rundfunkgebühr und für rund 30 Pro- ständige Vorstand bislang besonders durch werbefrei, auf speziellen Kanälen zu se- gramme im Kabel (siehe Grafik Seite 108). sein Projekt eines virtuellen Kaufhauses hen sein: der Kinohit und das klassische Und noch einmal 1,5 Millionen geben 50 aufgefallen. Die Idee einer bunten Shop- Konzert, Fußball live und das erotische Mark für den etablierten Pay-TV-Sender ping-Meile im Computer ist hübsch, aber Lichtspiel, der Western und das Auto- Premiere aus. Warum sie dann zusätzlich bislang zumindest finanziell ein Flop: Pro rennen aus der Perspektive des Piloten. für das neue DF 1 zahlen sollen, ist vielen Tag klicken sich zwar mehrere tausend Be- Für die große Vision vom Fernsehen satt nicht klargeworden. sucher ein, die Umsätze aber bewegen sich hat sich Kirch alles gesichert, was nötig ist: Der Markt sei „spekulativ überzahlt nahe Null. ™ Er kaufte fast komplett Pay-TV-Pro- worden“, sagt Premiere-Chef Bernd Kun-

der spiegel 12/1997 107 Wirtschaft Sieben, Kabel 1, Deut- gischen Prenzlau und im oberbayrischen sches Sport-Fernsehen) Dorfen. könnten schnell Druck Entscheidend aber ist eine Übereinkunft 91% Null Bock auf digital von ihren Geschäftsban- mit Bertelsmann. Auf eine solche Lösung ken bekommen, resümie- arbeitet auch Bertelsmann-Vorstand Mi- Wieviel Prozent der 33 Millionen ren die Investmentprofis chael Dornemann, 51, seit Monaten hin. Re- TV-Haushalte in Deutschland von First Boston. gelmäßig telefoniert er mit Kirch. Jetzt, nach fürs Fernsehen zahlen Intern hat Kirch die Murdochs Abschied von DF 1, sieht er eine Planungen bereits korri- neue Chance. Im Urlaubsort Zermatt küm- giert. Er gehe stets „kal- merte sich der Stratege vergangene Woche 51% kulierte Risiken ein“, um die Einigung. „Wir reden seit langem sagt DF-1-Chef Gottfried über Kooperationen zu vernünftigen wirt- Zmeck, es sei aber im schaftlichen Lösungen“, sagt Dornemann. voraus nicht zu erahnen Er sei „guter Hoffnung“, daß es klappt. gewesen, daß die Tele- In die Kooperation brächten die Ber- kom ihre Kabelnetze für telsmänner den von ihnen kontrollierten DF 1 nicht öffnen wür- Sender Premiere ein, der einen hohen 4% de. „Wir haben eine Marktwert hat und dann zur Plattform für Gummiwand vorgefun- weitere Programme avancieren würde. Die 28,25 M 0 Mark ark mind. 22 ,50 Mark 49,80 Mark 20 bis 6 den“, klagt Zmeck. „Wir DF-1-Kanäle würden zusammen mit Pre- monatlich müssen den Markt allein miere vermarktet. machen.“ Kommt es zu dieser Lösung, hätte der drun, 39, über Kirch und befindet: „Der Der Mißerfolg ist zum Teil hausgemacht. bisherige Minderheitsgesellschafter Kirch Run auf das digitale Fernsehen ist durch So räumte Kirch den Händlern eine zu bei Premiere mehr mitzureden als bisher, eine technische Faszination ausgelöst wor- kleine Gewinnspanne für das erklärungs- die Führung freilich bliebe bei Bertels- den. Das neigt sich dem Ende zu.“ bedürftige Digital-TV-Produkt ein und mann. Kirchs Anteil von 25 Prozent soll Das Basler Forschungsinstitut Prognos schreckte Kunden mit Gesamtkosten von auf Kosten des Pay-TV-Unternehmens Ca- korrigierte seine Erwartungen für das Jahr mindestens 890 Mark. In einigen Wochen nal plus aufgestockt werden, das wie Ber- 2000 deutlich nach unten: Nur 3 bis 5 Pro- will Kirch seine Decoder für rund zehn telsmann bisher 37,5 Prozent hält. Dafür zent der Haushalte würden dann digitales Mark pro Monat vermieten. „Die Qualität soll sich Kirch verpflichten, seine Preise Pay-TV nutzen, 1994 hatten die Schweizer der Präsenz im Handel muß verbessert für Filmlieferungen transparent zu halten. Forscher mit 8 bis 11 Prozent gerechnet. werden“, erklärt Zmeck. In dem anstehenden Digital-TV-Verbund Zudem drängen neue Medienangebote In der Werbung fördert Kirch nun ag- würde Bertelsmann Marketing, Vertrieb in den digitalen Markt und mindern die gressiv eigene Spitzenfilme wie „Ein und Service steuern, Kirch übernähme zen- Chancen von DF 1 und ähnlicher Projekte. Schweinchen namens Babe“ und „Apollo tral das Programmgeschäft. Microsoft und Bertelsmann etwa arbeiten 13“. Noch 1997 soll ein deutschsprachiger Das wäre dann die Rettung für Kirch. an Programmen für Fernsehen im Inter- Disney-Channel laufen. Und von der Eu- Der würde „langfristig in die Pleite ren- net. Und Sony puscht mit Riesenaufwand phorie im Motorsport glaubt Kirch beson- nen“, wenn jetzt „nicht ein weißer Ritter eine neue leistungsstarke CD für Musik- ders profitieren zu können: Er hat mit For- aus dem Busch tritt“, urteilt Helmut Tho- produktionen und Spielfilme. mel-1-Chef Bernie Ecclestone ein Kame- ma, Chef des Bertelsmann-Senders RTL. Schon gehen die Banken auf Distanz. rasystem entwickelt, das Rennen aus meh- Das digitale Fernsehen sei Kirchs „letz- Angesichts des „vielfältigen Angebotes“ reren Perspektiven zeigt. Dafür sollen die tes großes Spiel“, erklärt Thoma. Wenn er scheine „nur eine geringe Bereitschaft zu Zuschauer künftig extra zahlen. gewinne, sei Kirch „der Allergrößte“, wenn bestehen, für den Empfang weiterer Pro- Ohne Partner aber können Kirchs Kraft- er verliere, müsse „halt eine deutsche Bank gramme zu bezahlen“, heißt es in einer akte nicht fruchten. Zunächst setzt Kirch einsteigen und den Rest des Konzerns zu- Studie der DG Bank, dem langjährigen auf Unternehmen, die wie er einen schnel- sammenhalten“. ™ Hausinstitut Kirchs. Und die BHF-Bank, len Erfolg des Digitalfern- ein weiterer Kirch-Finanzier, analysiert, für sehens brauchen: die Ka- Deutschland sei „ein wesentlich schwieri- belnetzbetreiber. geres Pay-TV-Umfeld zu erwarten als in Eine Verständigung mit Großbritannien oder in Frankreich“. der Telekom scheiterte Die ungeheure Finanzlast zur Ein- bisher, weil Kirch bei- führung des Digital-TV in Deutschland spielsweise 90 Prozent trägt Kirch bisher allein. Erst kürzlich sag- der Pay-TV-Einnahmen te sich der TV-Tycoon Rupert Murdoch von für sich reklamiert. Erste einer Allianz mit Kirch wieder los. Die An- Erfolge hat Kirch dage- laufverluste von DF 1, die täglich bei über gen bei den privaten Ka- einer Million Mark liegen dürften, waren belfirmen. Ihnen offeriert ihm zu hoch. Davon hätte er knapp die er eine Monatszahlung Hälfte tragen müssen. von einem Pfennig pro Nach einer detaillierten Studie des In- Haushalt, wenn sie DF 1 vestmenthauses CS First Boston macht anbieten, sowie 40 Pfen- Kirch mit DF 1 bis Ende 1997 rund 570 Mil- nig für ein gewonnenes lionen Mark minus. Erste Gewinne fahre DF-1-Abo und 100 Mark das Unternehmen erst im Jahr 2004 ein, für einen Kirch-Deco- vier Jahre später als geplant; bis dahin sei- der. Seit Anfang März en knapp drei Milliarden Mark zu inve- wird DF 1 in einige pri- stieren. Der Filmhändler und TV-Besitzer vate Netze eingespeist, Kirch und sein Sohn Thomas (Sat 1, Pro wie etwa im brandenbur-

108 der spiegel 12/1997 Medien Wirtschaft

FERNSEHEN von der Verlagsgruppe Milchstraße her- ausgegebene Frauenzeitschrift amica der- zeit unter dem Signum von „Liebe Sünde“ Sünde am Kiosk regelmäßig eine breitangelegte Rubrik ver- öffentlicht, wird der Verlag die Printver- ach Begleitheften und -büchern zu sion des TV-Magazins nicht herausgeben. NFernsehserien sollen jetzt erstmals Pro Sieben verhandelt mit anderen Häu- auch TV-Magazine den Kiosk erobern. sern. Wunschkandidat ist Gruner + Jahr. Dem Vorbild von Verlagen fol- gend, die erfolgreiche Zeitun- gen oder Zeitschriften im TV vermarkten, wird der Sender Pro Sieben zwei seiner Mar-

S. SIMON kenartikel weiterverwerten. Boxer Michalczewski, Rocchigiani Vom Herbst an sollen gedruck- te Lizenzausgaben von „Liebe BOXEN Sünde“, dem von Andrea Thilo präsentierten Magazin zur Se- „Jetzt regiert wieder xualität, und von „Welt der Wunder“, einer Dokumentar- die Currywurst“ filmreihe, vorliegen. Das Ero- tikmagazin wird 14täglich, der RTL-Geschäftsführer Helmut Thoma, 57, populärwissenschaftliche Titel

zur Zukunft des TV-Boxgeschäfts monatlich in hochwertiger Aus- PRESS ACTION stattung erscheinen. Obwohl die Moderatorin Thilo (r.), Gast Dolly Buster SPIEGEL: Am 22. März boxt das erste Mal als RTL-Star. Vorweg beschimpfte er Ihren Sender, weil NACHRICHTENAGENTUREN Michael Bloomberg seine Entscheidung, in er nicht den Maske-Bezwinger Zukunft nicht nur Finanzexperten, sondern als Gegner bekam. War der zu teuer? Neuer Wirtschaftskanal auch das breite Publikum anzusprechen. THOMA: Hill hätte uns eine ungeheure fi- In Deutschland rechnet er mit rund 50000 nanzielle Kraftanstrengung gekostet. Das er internationale Wirtschaftsnachrich- interessierten Haushalten. Bloomberg, des- ging uns zu weit. Deshalb darf Rocky in ge- Dtendienst Bloomberg will auf dem sen Umsatz in den USA bei rund einer Mil- wissen Grenzen auch seinen Sender belei- deutschen Markt einen eigenen TV-Kanal liarde Dollar liegt und der 30prozentige digen. Wir sind ja nicht auf starten. Bloomberg ist damit nach CNN, Zuwachsraten hat, beschäftigt in Frankfurt ewig verheiratet, sondern NBC, BBC, Euronews und EBN der sech- bereits knapp hundert Mitarbeiter. Sein nur für drei Kämpfe. ste News-Sender, der n-tv Konkurrenz ma- neuer Sender wird mit der Deutschen Pres- SPIEGEL: Rocky verlegt sei- chen wird. Die hessische Landesmedien- se-Agentur kooperieren. Auch der Burda- ne Pressekonferenzen gern anstalt hat einen entsprechenden Lizenz- Verlag denkt über eine Zusammenarbeit in Gerichtssäle: Mal schlug antrag positiv beschieden. „Deutschland nach, zumal Bloomberg außer einem gut er einen Hausmeister kran- ist nach den USA, Großbritannien und Ja- funktionierenden Internet-Angebot mit ab- kenhausreif, mal wurde er pan der wichtigste Markt der Welt für uns“, rufbaren Radio- und TV-Archiven auch wegen Beleidigung und begründete der 55jährige Amerikaner Buchreihen und Magazine publiziert. Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verur- teilt. ZEITSCHRIFTEN TV-Programmzeitschriften,

DPA THOMA: Wenn er sich drei verkaufte Auflage 3,0 Thoma Tage vorm Kampf irgend- Billig macht das Rennen in Millionen 2,90 wo rumprügelt, ist das doch 2,78 die beste Promotion, die wir haben kön- nter den 17 deutschen TV-Programm- nen. Beim nächsten Kampf muß dann viel- zeitschriften, die es auf eine Gesamt- HÖR ZU leicht ich selber ran.Aber im Ernst: Rocky auflage von rund 21,5 Millionen Exem- TV HÖREN 2,5 UND SEHEN können Sie nicht mehr domestizieren. Den plaren bringen, machen vor allem die 2,42 braven Schwiegersohn à la Henry Maske billigeren das Rennen. Das bewies TV MOVIE würde ihm eh niemand abnehmen. der Programmtitel tv today, mit dem 2,0 SPIEGEL: Lösen Schläger die Gentleman- Gruner+Jahr vor Jahresfrist zu einem TV SPIELFILM boxer ab? Kampfpreis von einer Mark den Markt 1,92 THOMA: Nach all der Haute Cuisine regiert durchschüttelte. Zu den billigen zählen am Ring jetzt zumindest wieder die außer Wochenblättern wie tv klar auch Currywurst. die großformatigen 14tägigen Hefte wie 1,47 1,5 SPIEGEL: Für die steht auch Dariusz tv spielfilm, die Klassikern wie hör zu Michalczewski, der demnächst für Pre- und tv hören und sehen zunehmend das 1,35 miere und Sat 1 gegen Hill um die Welt- Geschäft verderben. Sie kosten TV KLAR meisterschaft kämpft.Wenn er gewinnt … zwar ebenfalls zwischen 1,04 1,0 THOMA: … sehen wir blöd aus. Aber ein zwei und drei Mark – Star wird Michalczewski auch nie. Er ist aber pro Woche sind sie TV NEU TV TODAY keine nationale Identifikationsfigur. Das um die Hälfte billiger Durch- könnten aber in Zukunft Axel Schulz, als ihre etablierten Quartal schnitt Thorsten May oder andere werden. Konkurrenten. 0,5 1994 1995 1996 1997 der spiegel 12/1997 109 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft rollen derzeit hundert Züge und mehr in beiden Richtungen, etwa zwischen BAHN Bünde und Osnabrück oder zwischen Cottbus und Guben. Tatsächlich offenbart das politische Ge- Schienen schlachten zerre um die Bahngleise mehr als nur einen Streit um Ideologien. Es ist ein Zank ums Die Bahn möchte mehr als ein Viertel ihres Gleisnetzes Geld zwischen Bund, Ländern und der Bahn. Mit der Bahnreform wurde der de- abstoßen. Die Pläne machen keinen Sinn. fizitäre Behördenbetrieb 1994 in eine schul- denfreie Aktiengesellschaft umgebaut. Sie ie deutsch-französische Bummel- Fast 5ooo Kilometer dieses Netzes gel- ist nicht mehr dem Gemeinwohl verpflich- bahn wurde vor zwei Wochen mit ten als echte „Schwachlaststrecken“, die tet, sondern soll Gewinne einfahren. Dviel Pomp und Prominenz einge- als erste vor der Ausmusterung stehen. Las- Wer Leistungen bei der Bahn ordert, weiht. Politiker hielten feierliche Reden, sen sich keine privaten Betreiber finden, muß diese bezahlen. Abgerechnet wird historische Sonderzüge dampften von die diese Gleise übernehmen, droht die nach sogenannten Trassenpreisen. Für den Neustadt an der Weinstraße ins elsässische Stillegung. Personennahverkehr sind seit dem vergan- Wissembourg. Seit der spiegel (9/1997) die Pläne pu- genen Jahr die Länder zuständig. Das Geld Mehr als 20 Jahre lang lag die Strecke blik gemacht hat, gibt es heftige Proteste. für ihre Bestellungen, in diesem Jahr rund still, seit Anfang März rollen die Perso- Die Koalition wolle die Bahn „schamlos zwölf Milliarden Mark, stiftet der Bund. nenzüge wieder. Sie seien, lobte Klaus ausplündern“, argwöhnten Sozialdemo- Die Bonner wissen jedoch, daß einige Län- Daubertshäuser, Nahverkehrschef der kraten. Übrig bliebe eine „Spielzeugbahn der davon reichlich Mittel abzwacken, um Deutschen Bahn AG, ein lebendiges Bei- für die Herren der S-Klasse“, attestierte Löcher im eigenen Haushalt zu stopfen. spiel dafür, wie die europäischen Regio- die PDS in einer hitzigen Debatte im Die Länder wiederum meinen, daß die nen zusammenwachsen. Bundestag. Bahn sie beschummelt. Für den Nahver- Vielleicht auch nicht. Denn die frisch Gewiß führen manche abrißgefährdeten kehr, so ihr Verdacht, würden sie viel zu eingeweihte Grenzlinie müßte eigentlich Nebenstrecken über bröckelnde Schwel- hohe Trassenpreise zahlen, über die dann gleich wieder ausgemustert werden. Sie len ins Nirgendwo, etwa von Salzwedel in andere Bahnsparten alimentiert werden, gehört zu jenen 700 Strecken, die, so eine ein Nest in Sachsen-Anhalt namens Dies- beispielsweise der dahinsiechende Güter- interne Vorstandsvorlage, aus Sicht der dorf.Viele Gleise im Osten rosten seit Jah- verkehr, neuerdings DB Cargo genannt. Bahn unrentabel sind. ren, sie müssen wirklich abgebaut werden. Die Eisenbahner schließlich verweisen Rund 11 700 Kilometer Gleisstrecken Zur Disposition stehen jetzt aber auch auf Bonn. Nach der Verfassung nämlich würde der Staatsbetrieb gern abstoßen, so wichtige Linien, die mehr als hundert Ki- muß der Eigentümer zum Wohl der Nation ist in den vertraulichen Papieren zu lesen, lometer lang sind wie die Bäderbahn der für den „Ausbau und Erhalt“ des Netzes mehr als ein Viertel des gesamten Netzes. Sylt-Urlauber zwischen Itzehoe und Nie- sorgen. Drückt aber der Bund immer mehr Sie seien auf Dauer wirtschaftlich nicht zu büll oder die Werrabahn entlang des teure Hochgeschwindigkeitstrecken durch betreiben. Thüringer Waldes. Über viele Strecken – und dazu etwa noch den Transrapid –,

Zur Strecke gebracht Stillegungspläne der Bahn 1224 23,4 SCHLESWIG-HOLSTEIN 1825 62,9 MECKLENBURG-VORPOMMERN 27,5 3842 550 7,0 NIEDERSACHSEN 36,9 BERLIN 39,4 2684 3095 V. KOHLBECHER / LAIF KOHLBECHER V. 5361 BRANDENBURG Bahnhof Diesdorf in Sachsen-Anhalt: Gleise ins Nirgendwo 19,1 SACHSEN-ANHALT NORDRHEIN- 34,2 WESTFALEN 66,4 3041 2655 1993 SACHSEN 19,0 THÜRINGEN HESSEN 2250 Bahnstrecken des 20,3 Bundeslandes in RHEINLAND-PFALZ Kilometer 25,7 6439 Anteil der von 499 Stillegung bedrohten 17,2 21,0 BAYERN SAARLAND Strecken in Prozent 3885 BADEN- WÜRTTEMBERG BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH Strecke Neustadt–Wissembourg: Neu, aber unrentabel

112 der spiegel 12/1997 dann steigen zwangsläufig die Kosten für den Fahrweg und damit die Preise. Das Dilemma ist bekannt. Bahnchef Heinz Dürr fordert seit langem, daß die Kosten für die Trassen halbiert werden müßten. In dieser Not haben seine Beam- ten einen uralten Plan aus dem Jahr 1975 ausgegraben. Damals wurde das „be- triebswirtschaftlich optimale Netz“ erfun- den, kurz BON genannt. Das Schienennetz sollte rigoros abgebaut werden, doch BON war in Bonn nicht durchsetzbar. Das wird jetzt kaum anders sein. Es ist kaum vorstellbar, in Thüringen oder Meck- lenburg-Vorpommern rund zwei Drittel der Gleise abzureißen (siehe Grafik). Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) bezweifelt zudem, daß die Bahn sauber kalkuliert hat. Die Strecken werden, so die GdED, „totge- rechnet“. Die Eisenbahner unterstellen nämlich, daß sie ein Viertel der Kosten einsparen, wenn sie ein Viertel der Gleise abstoßen. Doch die Rechnung geht nicht auf. So werden hohe Kosten für die Gleis- pflege auch für die Zukunft angenommen, bei Nebenstrecken beispielsweise 75 000 Mark jährlich für jeden Kilometer. Dage- gen stellen die Eisenbahner lediglich jene Erlöse, die direkt auf der Strecke anfallen. Vergessen wird dabei, daß regionale Strecken oft nur Zubringer sind, viele Kun- den reisen auf Hauptstrecken weiter. So gerechnet taucht auch die Strecke von Offenburg nach Singen als unrentabel in der Vorstandsvorlage auf. Die zwei Glei- se sind 149 Kilometer lang, auch elektrifi- ziert, 160 Züge rollen täglich über die Strecke. Rund 27 Millionen Mark nimmt die Bahn ein. Rein theoretisch reicht das nicht. Die Kosten liegen nach Bahnangabe über 31 Millionen Mark. Häufig wird die Unwirtschaftlichkeit auch mit hohen Investitionen begründet. In die Strecke von Eisenach nach Eisfeld müs- se die Bahn mehr als 70 Millionen Mark in- vestieren, zwischen Itzehoe und Niebüll gar über 300 Millionen, heißt es. Solche Ausgaben würden nicht lohnen. Die Stilleger der Bahn schneiden sogar tief in ihr ureigenstes Leistungsnetz. Strecken wie die von Bad Segeberg nach Bad Oldesloe oder von Buchholz nach Walsrode waren bisher als Hauptstrecken für den Güterverkehr, das Netz 21, einge- plant. Nun stehen sie auf der Streichliste. Würden solche Verbindungen abge- schafft, selbst zwischen scheinbar unwich- tigen Orten wie Flieden und Gemünden in Osthessen, wären die geplanten Haupt- strecken völlig sinnlos. Das hat mittlerweile auch der Bahnchef erkannt. Derzeit gehe es nur um den Ab- bau von 400 Kilometer Strecke, wiegelt Dürr ab, an denen kein Mensch lebe und die man längst abklemmen könnte. Das rund 40000 Kilometer lange Netz, so Dürrs gewandelte Einsichten, sei doch „der größte Aktivposten“. ™

der spiegel 12/1997 Wirtschaft Die Siemens-Buchhaltung und die Steu- EURO erverwaltung des Konzerns haben das glei- che Problem mit dem Euro wie der Fi- Totales Chaos nanzminister – aber genau gegenläufige In- teressen: Beide wollen vermeiden, in der Übergangszeit ihre Computer sowohl mit Wann sollen und wann dürfen Mark-Werten als auch mit Euro-Kursen füt- die Konzerne auf tern zu müssen. die Euro-Währung umstellen? Siemens hält daran fest, die Handelsbi- Siemens will vorpreschen. lanz samt aller dem Rechenwerk zugrun- de liegenden Geschäftsvorgänge von 1999 nbeirrt setzt Helmut Kohl darauf, an ausschließlich in Euro darzustellen. Die- daß der Euro pünktlich zum 1. Ja- se Handelsbilanz ist Grundlage für die Unuar 1999 zum europäischen Zah- Steuerbilanz und damit auch der Steuer- lungsmittel wird. Die Herren von Daim- erklärung des Konzerns. ler, IBM, Siemens oder BMW mahnt der Die Steuererklärung aber ist ein „ho- Kanzler immer wieder, den Start in das heitlicher Akt“. Und damit dürfen Fi- Zeitalter der einheitlichen europäischen nanzbeamte sie nach der Vorgabe ihres Währung nur ja nicht zu verschlafen. obersten Dienstherren eben nur anneh- Die Unternehmensführer, so Kohl, soll- men, wenn sie auf Mark lautet. Das wie- ten ihre Buchhalter zwingen, gleich von derum würde den Konzern zwingen, im Beginn an mit dem Euro zu bilanzieren, Rechnungswesen zwei Jahre lang zwei- auch wenn sie sich damit nach den Regeln gleisig zu arbeiten. von Maastricht noch bis zum Jahr 2002 Zeit „Wir werden uns vehement dafür lassen könnten. einsetzen, daß die öffentlichen Institutio- Denn der Euro hat zwar vor Beginn der nen während der gesamten Übergangs- dreijährigen Übergangsphase schon einen phase beide Währungen bereitstellen festen Wert im Verhältnis zur Mark. Aber und akzeptieren“, heißt es in einem Scheine und Münzen gibt es erst im Jahre Argumentationspapier der Konzernex- 2002. Firmen und Bürger sind jedoch frei in perten. Auf einer Sitzung der Bundes- der Entscheidung, entweder bis zum letzten Tag in altge- wohnter Währung zu kalku- lieren oder früh zum Euro überzulaufen. Daimler, IBM und BMW haben sich prinzipiell bereit erklärt, rasch umzustellen. Musterschüler aber ist Sie- mens-Chef Heinrich von Pie- rer. Vom 1. Oktober 1999 an, dem Beginn des Siemens-Ge- schäftsjahres, soll bei dem tra- ditionsreichen Multi die Ära der Mark enden. Dem reibungslosen Früh- start in die neue Geldära stellt sich nun ein Mann in den Weg, von dem Kanzler- Freund Pierer am wenigsten Widerstand erwartet hätte: Finanzminister und Euro- Freund Theo Waigel. In einem Entwurf für das

Szenario des Übergangs, der - PRESS VARIO in der vergangenen Woche im Euro-Freund Pierer: Frühstart in die neue Ära Bonner Finanzministerium fertiggestellt wurde, haben sich Waigels Beamte eindeu- tig festgelegt: „Wo die öf- fentliche Verwaltung hoheit- lich tätig ist, erfolgt die Um- stellung zum 1. Januar 2002.“ Was das für die Unterneh- men bedeutet, haben die Ver- fasser ebenso klar niederge- schrieben: Steuererklärungen

vor diesem Zeitpunkt seien MELDE - PRESS „in D-Mark zu erstellen“. Neues Euro-Geld: Waigels Beamte bremsen

114 der spiegel 12/1997 vereinigung der Arbeitgeberverbände vor zwei Wochen warf der Siemens- Vertreter Uwe Liebig dem Finanzmini- sterium vor, mit seiner starren Haltung den politische Willen des Kanzlers zu unterlaufen. Doch einer vorzeitigen Euro-Umstellung für alle steht aus Waigels Sicht „das schutzwürdige Interesse“ jener Bürger ent- gegen, „die mehr Zeit benötigen, um sich auf den Euro einzustellen“, heißt es in dem Papier des Finanzministeriums. Die Steu- erverwaltung wäre deshalb, würde sie auf die Forderung des Siemens-Konzerns ein- gehen, „zu einer Dualität in ihren Abläu- fen“ gezwungen. Diese „Dualität“ ist den beamteten Steuerexperten genauso zuwider wie den Siemens-Fachleuten die eigene Zwei- gleisigkeit. „Die Steuerverwaltungen der Länder“, heißt es im Szenario des Fi- nanzministeriums, verfügten „nicht über die technischen Voraussetzungen für die gleichzeitige Handhabung von zwei Währungssystemen“. Dennoch will Waigel der Industrie ent- gegenkommen. Zwar soll es bei der steu- errechtlichen Verpflichtung bleiben, den Jahresabschluß in Mark vorzulegen. Dar- aus folgt für den Finanzminister aber neu- erdings nicht mehr zwingend, „daß die Un- ternehmen auch das den Bilanzen zugrun- de liegende Buchwerk in D-Mark führen müssen“. Die Mühe, wenigstens die Steuerbilanz umzurechnen, will der Finanzminister den Unternehmen allerdings nicht ersparen. „Ich nehme an“, spottet ein Waigel-Beam- ter, „das werden so große Konzerne doch noch schaffen.“ Es wird ihnen nichts anderes übrigblei- ben. Weit schwieriger ist der Plan des Sie- mens-Konzerns umzusetzen, den Beschäf- tigten von 1999 an das Gehalt in Euro zu überweisen. Die Sozialversicherungen sperren sich, auch sie wollen nicht zweigleisig fahren. Rentenkasse wie Krankenversicherung nehmen Beiträge von Arbeitgebern wie Ar- beitnehmern bis zum 1. Januar 2002 nur in Mark an. Mit Schrecken stellt sich Wilfried Kles- ser vom Verband der Rentenversiche- rungsträger vor, plötzlich kämen Über- weisungen in Euro und Mark an, berechnet nach Beitragsbemessungsgrenzen in un- terschiedlichen Währungen. Klesser: „Das würde ein totales Chaos.“ Die Banken dagegen haben auf der Ta- gung der Arbeitgeberverbände signalisiert, sie seien bereit, Gehaltsüberweisungen in Euro bereits dann zu tätigen, wenn es das neue Geld nur auf dem Konto, aber noch nicht in bar gibt. Umrechnung und Bar- auszahlung in Mark würden sie schon er- ledigen. Die Frage der Gebühren ist jedoch noch offen. Das, meint ein Bankenvertreter, „re- gelt der Wettbewerb“. ™

der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

BUCH Zweifel an der Lethe enschen, die nicht vergessen können, Mwerden depressiv; sie stoßen immer wieder auf ihre Kränkungen und Verluste, auf begangene Fehler und erlittenes Un- recht. Sie können aber auch zu „Gerech- tigkeitsfanatikern“ werden, zu brandschat- zenden Rächern, zum Michael Kohlhaas. Die alten Griechen-Seelen tranken, um Erinnerung zu tilgen, aus dem Fluß des Vergessens, Lethe. Casanova, der Glücks- ritter, vergaß einfach Unbill, die er, man- gels Ressourcen, nicht heimzahlen konnte. Und für Friedrich Nietzsche schien es „ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt nur zu leben“. „Vom Nutzen des Vergessens“ handelt ein

Buch, das auch die Gefahren des Verges- FOCUSR. SMITH / AGENTUR sens nicht vergißt. Es wurde inspiriert von Stierkampf einem Kolloquium des Potsdamer „Ein- stein Forums“, mit Beiträgen einer inter- TIERZUCHT nationalen Gelehrtengarde von Jerusalem bis Harvard, vom Psychoanalytiker bis zum Historiker – mithin von Nutzen. Das Blut der Toros Denn der Blick aus vielen Richtungen macht das Psycho-Phänomen zu einem Po- uch tapferste Stiere sind wehrlos in fes: „Damit dieses einzigartige und außer- lit-Faktor ersten Ranges. Nur die „model- Ader Arena der Finanzmärkte. Die „Pa- gewöhnliche Blut weiterhin unvermischt in lierende Selektionsleistung“, das Katz- blorromeros“, die edelsten unter Spaniens den Venen unserer Toros fließt“, wurde und-Maus-Spiel von Erinnern und Verges- Kampfstieren, stehen vor dem Ende. eine Stiftung der „Freunde Pablo Rome- sen, kann Kultur und Geschichte sinnvoll Trockenheit und hohe Zinsen zwingen den ros“ gegründet. Mit den Spenden, bislang und überschaubar halten, manchmal nur Züchter zum Verkauf seiner 500-Tiere- gut eine Million Mark, soll die Zucht in unter Schmerzen. Ranch – voraussichtlich an einen Immobi- der Nähe von Sevilla übernommen wer- Der Holocaust etwa, das grausigste Ex- lienspekulanten. Nun sehen Aficionados in den. Unter den etwa 3000 Subskribenten ist empel. Führt nicht eine Dominanz Frankreich, Italien und Spanien rot: Sie be- auch ein stierliebender Deutscher aus Bad der Erinnerung, fragte fürchten die genetische Verwässerung einer Waldsee. Dagegen hält sich das Engage- ein Israeli, zum „tragi- Paarhufer-Rasse, in deren fast 300jährigem ment zur Rettung der schwarzen Kampf- schen und paradoxen Stammbaum vier der sechs legendären maschinen unter der Hauptzielgruppe, Sieg Hitlers?“ Im wich- Kampfstierrassen Spaniens zu finden sind. den berühmten Stierkämpfern, in Gren- tigsten Tempel des Wegen ihres athletischen Körperbaus und zen. Verständlich: Wenn ein Matador vom antiken Athen stand ein ihrer Todesverachtung gelten die Pablorro- Platz getragen werden muß, sind meist „Altar für das Verges- meros als die Mike Tysons des Stierkamp- Pablorromeros schuld. sen“. Den hätten die Deutschen wohl auch gern. LABEL PATROL deutsche Zoll erstmals auf der Internatio- Neue Anforderungen nalen Tourismusbörse in Berlin. Bunte Pro- stellt zudem die neue Achtung Zollkontrolle ! spekte deckten den Tresen, edle Waren Technik. Die „Gedenk- zierten die Vitrinen: Rolex-Uhren, Yves- industrie“ und die uf dem Weg von der Arbeits- in die Rocher-Gürtel und Louis-Vuitton-Köffer- „Speichermedien“ nährten die „Illusion ADienstleistungsgesellschaft verändert chen. Die Broschüren waren echt, der Rest eines totalen Gedächtnisses“; dieses „an- sich auch der deutsche Zöllner: Statt in war Tand, Billigduplikate aus Übersee. „20 onyme Aufbewahren“ könne zu einer Zer- Koffern zu schnüffeln, berät er jetzt den Tonnen von dem Zeug haben wir im letz- störung des kulturellen Gedächtnisses Grenzkunden in Fragen des Luxus und der ten Jahr auf dem Flughafen Tegel beschlag- führen, jener historischen Gemeinsamkeit, Moden. So jedenfalls präsentierte sich der nahmt“, sagt Zollamtmann Detlef Szesny. die ein überzeugender Beleg sei für die Selbst die Levi’s 501, Symbol amerikani- „Identität eines Gemeinwesens“. scher Einzigartigkeit, entgeht nicht dem Ein Gespenst geht offenbar um in der Welt, ultimativen Labeltest. Die geschulten Au- die „Konjunktur des Gedächtnisses“. gen der grau-grünen Herren sehen alles: Nietzsche, vom Nutzen des Vergessens „Die Uhrentasche läuft beim Original spitz überzeugt, schlug sich gleichwohl mit zu, Fälschungen sind gerade genäht – mei- Zweifeln herum. „Man vergißt nicht“, stens mit nur einer Naht.“ Falschkleidung schrieb er, „wenn man vergessen will.“ von Fußballfans verlangt weniger Marken- Know-how. Achselzuckend zeigte Szesny eine vermeintliche Borussia-Mütze, auf die Gary Smith und Hinderk M. Emrich (Hrsg.): „Vom

Nutzen des Vergessens“. Akademie Verlag, Berlin; / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING schwarz-gelb gestickt ist: „Dortmund 1996 296 Seiten; 48 Mark. Zöllner Szesny – Deutscher Mister“.

der spiegel 12/1997 117 Werbeseite

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Werbeseite Blumen vor dem Elternhaus der ermordeten Mélissa Russo bei Lüttich: „Ein perverser und uneinsichtiger Psychopath“

KINDESMISSBRAUCH „Kleine blonde Pferdchen“ Ein geldgieriger Triebtäter, ein weitverzweigtes Pädophilen-Netz ohne moralische und humanitäre Grenzen: Die Aufklärung der belgischen Tragödie um den Kinderfänger Dutroux hat Einblicke in einen verborgenen Markt eröffnet, dessen Kunden aus besten Kreisen stammen.

ené Michaux kann die Stimmen die Stimmen vernahm, so leise, daß sie entfernt, die hinter einer dünnen Wand ge- nicht vergessen. Dieses Flüstern der kaum zu hören waren. „Seid still!“ rief er fangen waren, aber nicht um Hilfe zu rufen RKinder im Keller der Rue Philippe- seinen Kollegen zu, die hinter ihm die Trep- wagten. Der Entführer hatte ihnen ein- ville geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. pe herunterkamen. Und das Flüstern ver- geschärft, daß sie das Allerschlimmste zu Denn er hat sie zum Schweigen gebracht. stummte. befürchten hätten, wenn sie keine Ruhe Am 13. Dezember 1995 durchsuchte der Heute weiß der Gendarm, daß er nicht gäben. Gendarm zusammen mit drei Kollegen ein im Nachbargarten spielende Kinder gehört Nicht nur die leisen Stimmen der Kinder unansehnliches Haus in Marcinelle an der hat, wie er damals meinte. Die Stimmen hat Michaux falsch gedeutet. Auch die im Schnellstraße nach Charleroi. Er wollte den gehörten den Mädchen Julie und Mélissa, Haus gefundenen Gegenstände machten Hinweis eines anonymen Informanten beide acht Jahre alt. Sie waren seit dem die Polizisten nicht stutzig. Sichergestellt überprüfen, wonach der Eigentümer, ein 24. Juni vermißt – eingesperrt in der Kel- wurden der Mitschnitt einer Fernsehsen- arbeitsloser Elektriker namens Marc Du- lerzelle von Dutroux. dung über die verschwundenen Mädchen, troux, hier Verstecke ausgebaut habe, in Wachtmeister Michaux hat versagt. dazu nicht beschriftete, mit Chloroform denen entführte Kinder gefangengehalten Zweimal leitete er Durchsuchungen bei gefüllte Arzneifläschchen sowie ein gynä- würden. Dutroux; der Hausherr saß zu der Zeit we- kologisches Spekulum. Die oberen Räume, alle gleichermaßen gen Autodiebstahls und Freiheitsberaubung Julie und Mélissa starben Wochen später verwahrlost und mit Gerümpel vollgestellt, drei Monate im Gefängnis. Zweimal wa- in ihrem Verlies einen qualvollen Hunger- hatten die Beamten schon durchkämmt, ren Michaux und seine Kollegen nur we- tod. Dutroux’ Frau Michèle Martin, die mit als Michaux auf der Kellertreppe plötzlich nige Meter von den beiden Freundinnen ihren zwei Kindern in Sars-la-Buissière

120 der spiegel 12/1997 Gesellschaft Mädchen.“ Alle anderen, Staats- chette gehörte. Und sie fanden nach langer anwälte, Untersuchungsrichter, Suche auch die alte Akte des Kinder- Kommissare und Polizeichefs, schänders im Gerichtsarchiv.Sie war unter hatten dagegen vor dem Aus- einem falschen Namen eingeordnet. schuß immer wieder beteuert, Die Fahrlässigkeit hatte System: Auch den Namen Dutroux niemals mit im Fall Dutroux verschwanden Informa- der Entführung in Verbindung ge- tionen über dessen kriminelle Aktivitäten, bracht zu haben. schriftliche Protokolle über Verhöre und Gendarm Michaux hat die Le- Hausdurchsuchungen wurden nicht ange- gende von den Ahnungslosen in fertigt, Ermittlungen abgeblockt. den höheren Etagen bei Polizei In Lüttich suchte die zuständige Unter- und Justiz zerstört. Nunmehr suchungsrichterin Martine Doutrèwe ein steht fest, daß der Kinderfänger Jahr lang nach Julie und Mélissa, ohne je

SIPA SIPA Dutroux, 40, und sein wichtigster von den zahlreichen Verdachtsmomenten Opfer Mélissa, Julie (u.) Komplize, der dubiose Brüsseler gegen den vorbestraften Dutroux aus der Geschäftsmann Michel Nihoul, Gegend von Charleroi zu erfahren. Die 54, lange in einem quasi geset- Gendarmerie hatte die Informationen nicht zesfreien Raum agieren konnten. weitergegeben. Ein undurchdringlicher Filz aus Ähnlich erging es Kripo-Chef Luc Van Korruption und Protektion hin- Thiegem aus Brügge, der die Ermittlungen derte Polizei und Justiz daran, nach zwei anderen vermißten Teenagern, Belgiens Bürger und ihre Kinder An und Eefje, leitete: „Fast auf Knien“ vor den Triebtätern zu schützen. habe er das Zentrale Ermittlungsbüro der So hätte auch Loubna Benaïs- Gendarmerie in Brüssel um Amtshilfe ge- sa, deren Leiche vorletzte Woche beten. Er wollte überprüfen, ob sich ein im Keller einer Brüsseler Tank- Zusammenhang zwischen seinem Fall und stelle gefunden wurde, noch le- dem Verschwinden von Julie und Mélissa ben können. Doch im August sowie den vermißten Geschwistern Kim 1992, als die neunjährige Marok- und Ken aus Antwerpen herstellen lasse. kanerin aus der Rue Gray nur mal Van Thiegem blitzte bei der Brüsseler Zen- eben einen Becher Joghurt kau- trale ab: Es gebe keine konkreten Hinwei- fen wollte und nicht wiederkehr- se für eine solche Verbindung. te, reagierte die Polizei erst mit Es gab sie doch. Wenige Tage zuvor hat- tagelanger Verspätung. Das Alibi te dasselbe Büro eine „nicht eilige Auf- REPORTERS / LAIF REPORTERS SIPA SIPA des Verdächtigen Patrick Dero- forderung“ an alle Dienststellen des chette, eines vorbestraften Trieb- Landes verschickt, Informationen über ei- wohnte, brachte es nicht über sich, den täters aus der Nachbarschaft, wurde nicht nen gewissen Marc Dutroux einzuziehen. „schrecklichen Ort“ im Keller der Rue überprüft. Der Mann habe sich möglicherweise kri- Philippeville zu betreten. Gefüttert hat sie Eine Schulfreundin glaubte, Loubna 13 mineller Handlungen gegenüber Minder- während des Knastaufenthalts ihres Man- Tage nach ihrem Verschwinden in einem jährigen schuldig gemacht. Aufgeführt nes nur dessen Hunde. schwarzen Golf gesehen zu haben. Sie hat- wurden die Kennzeichen und Marken Fünfmal wurde der Gendarm Michaux te sich das Kennzeichen notiert und dabei von sechs Personen- und Lastwagen, die in Brüssel vor den parlamentarischen Un- einen Buchstaben verwechselt. Die Unter- Dutroux besaß – darunter der graue tersuchungsausschuß zitiert, der die un- suchungsrichter entdeckten erst jetzt, daß Citroën CX 25, der am Tag des Verschwin- glaublichen Fehler und Pannen von Polizei der Wagen einem Verwandten von Dero- dens von An und Eefje in Ostende und und Justiz bei der Suche nach den ver- mißten Kindern aufzudecken versucht. Und das ganze Land schaute dabei wie ge- bannt zu. Die im Fernsehen live übertra- genen Anhörungen von Staatsanwälten, Richtern, Polizisten und Kripo-Beamten erreichten höchste Einschaltquoten. Jetzt wartet die Nation auf den Abschlußbericht. So verhängnisvoll seine Fehleinschät- zungen auch waren, dem um Fassung und Worte ringenden Zeugen Michaux be- scheinigte der Ausschußvorsitzende Marc Verwilghen dennoch, ein „ehrlicher Mann“ zu sein. Denn der Wachtmeister, niederge- drückt von seinem Schuldgefühl, hat mit seinen Aussagen als erster das Gespinst aus Halbwahrheiten und Lügen durchlöchert, das die Hintergründe dieser „nationalen Tragödie“, wie König Albert die Affäre nennt, verschleiern sollte. Michaux gab zu, daß Dutroux tatsäch- lich schon damals in Verdacht stand, Julie

und Mélissa entführt zu haben: „Im Keller / LAIF REPORTERS des Hauses suchte ich auch die beiden Verhafteter Kinderschänder Dutroux: Meister der Camouflage

der spiegel 12/1997 121 Gesellschaft REPORTERS / LAIF REPORTERS Befreites Entführungsopfer Sabine, Vater „Offensichtliche Lücken“

partys, sogenannte Partouzes (französi- scher Slang für „nettes Beisammensein“), eine gewisse Tradition. Gerichtskundig wurden diese freizügigen Feten, auf denen sich Ärzte, Advokaten, Politiker und Ju- stizbeamte mit Edelnutten und willigen Damen der besseren Gesellschaft ver- gnügten, Anfang der achtziger Jahre: Eine Frau starb auf mysteriöse Weise, nachdem sie auf einer dieser Partouzes gedroht hat- te, sie werde über die Teilnahme Minder- jähriger auspacken. Nihoul, der Komplize von Dutroux, war damals schon dabei. Als im vergangenen November die Staatsanwaltschaft von Neufchâteau eine eigene Telefonnummer einrichtete, über die sich Zeugen und Opfer pädophilen Mißbrauchs vertraulich melden sollten, rie- fen eine ganze Reihe Frauen und Männer an, die früher an solchen Partouzes teilge- nommen hatten – und noch immer unter dem Schock des Erlittenen standen. Die Zeugen leben heute gefährlich, wie sich herausstellt. Eine der Frauen, die von

AFP / DPA Orgien berichtete, an denen Politiker und Demonstration vor dem Brüsseler Justizpalast (Oktober 1996): Fahrlässigkeit mit System hohe Polizeibeamte aus Lüttich beteiligt gewesen sein sollen, entging nur knapp ei- Umgebung mehrfach von Zeugen gesichtet Neufchâteau viereinhalb Jahre nach dem nem Anschlag: Zwei Autos versuchten sie worden war. Verschwinden der kleinen Loubna den Tä- auf dem Brüsseler Ring von der Fahrbahn Schlamperei? Wohl mehr. Es muß Hin- ter – und nicht die Brüsseler Justiz, die abzudrängen. termänner gegeben haben, die Interesse über so viele Hinweise verfügte? Warum Und niemand mochte so recht an Zufall daran hatten, Dutroux und seine Kompli- wurde auch Dutroux von den Ermittlern glauben, als im Februar ein Dokumentar- zen zu schützen. Daß Protektion im Spiel aus Neufchâteau dingfest gemacht und filmer mit Beziehungen ins Pädophilen- gewesen ist, glaubt auch Staatsanwalt Mi- nicht von der Polizei in Charleroi, die fast Milieu, der bei der Staatsanwaltschaft in chel Bourlet aus Neufchâteau, der die bei- alles über ihn wußte? Neufchâteau wichtige Informationen an- den Schülerinnen Sabine und Laetitia im Je tiefer die Parlamentarier in die Affäre gekündigt hatte, auf dem Weg zur Verneh- vergangenen August befreite – sie befan- eindringen, desto deutlicher zeigt sich: Die mung tödlich verunglückte. den sich ebenfalls in den Fängen des Psy- Geschichte des mutmaßlichen Mörders und Die fieberhaften Recherchen der Er- chopathen Dutroux, konnten aber gerettet Kinderschänders Dutroux, der nach den mittler bringen jetzt immer neue Einblicke werden. Anders kann sich Bourlet „die of- bisherigen Erkenntnissen sechs Mädchen in einen pädophilen Sumpf, dessen Klien- fensichtlichen Lücken“ in den Ermittlun- entführt und vier umgebracht hat, ist nicht ten aus allen gesellschaftlichen Schichten gen nicht erklären. nur die eines isolierten Triebtäters. stammen. Was auf den ersten Blick zu- Die Mutter der ermordeten An Marchal Die Verbrechen von Dutroux und sei- sammenhanglos erscheint, könnte durch- wird noch deutlicher: „Die Mädchen sind nen Mittätern sind auch Symptome einer aus miteinander vernetzt sein. Immer wie- von Kriminalbeamten und Polizisten getö- kranken Gesellschaft, in der ein kleiner der weisen Spuren zu Dutroux und seinem tet worden, nicht nur von Marc Dutroux.“ Ganove als Zulieferer für einen pädophilen umtriebigen Partner Nihoul. Sogar Regierungschef Jean-Luc Dehae- Markt ohne moralische und humanitäre Beispiel: In einer Tiefgarage der Brüsse- ne stellte jetzt öffentlich die Frage, die alle Grenzen arbeitete. ler Innenstadt betrieb ein 34jähriger Gen- Belgier bewegt: Warum überführte die Im katholisch prüden Belgien mit seiner darm aus Mechelen ein Kinderbordell für Staatsanwaltschaft des Provinzstädtchens diskreten Bourgeoisie haben private Sex- schwule Pädophile. Ein angesehener libe-

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Werbeseite Gesellschaft sax bis vor kurzem in einer Brüsseler Druckerei herstellen – die von einem vor- bestraften Pädophilen geführt wurde. Doch als die Staatsanwaltschaft Neufchâteau am 21. Dezember die Büro- und Kulträume der Satanisten durchsuchen ließ, waren al- le Räume sauber. Hoherpriester Anubis Moloch, mit bürgerlichem Namen Francis Desmedt, erklärte, es müsse sich um eine Verwechslung handeln. Später stellte sich heraus, daß vier Polizisten aus Charleroi Mitglieder dieser Satanskirche waren, ei- ner amtierte sogar als Schatzmeister. Ein gleichbleibendes Muster wird in der Affäre um die Kindesentführer und -mör- der sichtbar, das auch in allen anderen großen Kriminalfällen des Landes auf- scheint, als wären es Inszenierungen ein

GAMMA / STUDIO X und desselben Regisseurs. Ob es sich um die blutigen Überfälle der „Mörder von Brabant“ in den Achtzigern oder um die Ermordung des sozialisti- Polizeifahnder in Weinsteins Haus: „Geschenk für die hohe Priesterin“ schen Lütticher Parteibosses und Ex-Ministers André raler Gemeinderat der Brüsseler Kommu- behandelte. Es habe ver- Cools im Jahr 1991 handelte: ne Etterbeek wurde verhaftet, weil er elf- schiedene Hinweise gegeben, Stets sind Polizisten darin und zwölfjährige Jungen mißbraucht hatte, ein Mann wurde verhört, verwickelt, und stets deuten die er auf Spielplätzen oder auf der Straße doch das Protokoll ist heute, Spuren auf einflußreiche auflas. Der Mann war ein Bekannter da die Behörden endlich mit Hintermänner aus dem po- Nihouls und Gast im „Le Dolo“, einer an- neuer Energie um Auf- litischen und juristischen rüchigen Bar, die von einer Freundin klärung bemüht sind, nicht Establishment. Nihouls geführt wurde. mehr aufzufinden. Jedesmal wurden diese Oder: Bei der Hausdurchsuchung eines In den verlassenen Kohle- Spuren verwischt, sobald sie

Pädophilen in Verviers entdeckten die Be- minen von Jumet, einem in / SYGMA PARYS VAN heiß zu werden versprachen. amten Videofilme, auf denen zu sehen ist, Armut und Hoffnungslosig- Dutroux-Helfer Weinstein Wenn rechtsradikale Gen- wie unter Drogen gesetzte Kinder verge- keit versunkenen ehemali- darmen, Mitarbeiter der waltigt und gefoltert werden, bis sie leblos gen Bergarbeiterort, graben Staatssicherheit oder gar Mi- zusammensinken.Auch die Ermordung der nun schon seit Wochen nister ins Visier der Ermittler von Dutroux und einem Kumpanen ent- Suchtrupps nach den Über- gerieten, wurden Untersu- führten Schülerinnen An und Eefje soll auf resten kindlicher Leichen. chungsrichtern die Verfahren einem solchen „Snuff“-Video festgehalten Hier vermuten die Ermittler entzogen, Polizisten straf- worden sein. weitere Opfer. versetzt. 4497 Kleidungsstücke, Schmuckstücke, Ganz in der Nähe, in ei- Nach einer kurzen Peri- Uhren, Schuhe, Taschen oder auch Spielsa- nem Vorort von Charleroi, ode der „Wut und Revolte“, chen stellte die Staatsanwaltschaft in den hat die okkulte Sekte „Abra- beobachtete der belgische Unterschlupfen der Bande um Dutroux sax“ ihr Hauptquartier. Die Filmemacher Olivier Ri- und anderswo sicher. 20000 in den unter- Fahnder hofften, dort eine chard, kehre alles wieder „in schiedlichsten Verstecken gefundene Haa- heiße Spur in das Innere ei- die geordneten Bahnen der re werden derzeit gentechnisch analysiert, nes pädophilen Zirkels ge- großen Unordnung zurück“. um herauszufinden, ob sie einem der mehr funden zu haben. Und wie- Eine Unordnung, die in die-

als 20 Kinder oder einer der jungen Frauen der schien Dutroux im Spiel: / LAIF REPORTERS FOTOS: sem kleinen und durch einen zuzuordnen sind, die in den vergangenen Im Holzhaus eines seiner Dutroux-Frau Michèle hartnäckigen Sprachenstreit Jahren in Belgien spurlos verschwanden. Komplizen, Bernard Wein- zerrissenen Staat nach einem Die Mutter von Sylvie Carlin, die seit stein, entdeckte die Polizei für Außenstehende undurch- Dezember 1994 vergebens auf ein Lebens- einen Brief, der den Empfän- schaubaren Beziehungsge- zeichen ihrer Tochter wartet, glaubt einen ger „an das Geschenk für die flecht geordnet ist. Ring ihrer Tochter unter den Fundstücken hohe Priesterin“ erinnerte. Justiz, Polizei und öffent- erkannt zu haben. Die Mutter der in Brüs- Angefügt war eine Art Be- liche Verwaltung sind zer- sel am hellichten Tag verschwundenen stellschein für 17 Personen gliedert wie in keinem ande- Agnès Moens erkannte ein Armband wie- weiblichen Geschlechts zwi- ren Staat Europas. Im Land der. Die damals 22 Jahre alte Agnès woll- schen 2 und 20 Jahren, die für der Surrealisten Magritte te vor fast acht Jahren in Brüssel die pas- anale, orale und vaginale und Delvaux hat sich eine senden Schuhe zu ihrem Kleid als Braut- Sexualpraktiken gebraucht hintergründige Machtstruk- jungfer kaufen. Sie war zur Hochzeit einer würden. Unterzeichnet hatte tur gebildet, die offenbar alle Freundin eingeladen. das Schreiben der Satans- öffentlichen Institutionen be- So wie alle anderen Eltern beklagt auch priester „Anubis“. herrscht. Die Clans, die diese Mutter, wie gleichgültig und nach- Ihre Publikationen ließen großen Familien des Landes, lässig die Polizei ihre Vermißtenanzeige die Teufelsanbeter von Abra- Dutroux-Komplize Nihoul Gesinnungsvereine und Par-

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Werbeseite Gesellschaft teien – Sozialisten, Christdemokraten, Li- pend arbeitender Justiz erstaunlich lange Als Nihoul vorigen August wegen sei- berale, antiklerikale Freimaurer und reak- funktionierte: Er kassierte bei seinen Kun- ner mutmaßlichen Beteiligung an den tionäre Anhänger des katholischen Laien- den, aber die Rechnungen seiner Lieferan- Kindesentführungen verhaftet wurde, er- ordens Opus Dei – haben Posten und ten bezahlte er nicht. klärte er, nur deshalb ständig in Kon- Pfründen unter sich aufgeteilt. Mit seinem Verein „Confrérie des bras- takt mit Dutroux gestanden zu haben, Loyalität gegenüber dem Staat wurde seurs“ hielt er bei Kneipeneröffnungen und weil er sich nach der Reparatur seines durch Klientelismus ersetzt, Rechtssicher- Marketing-Events Tuchfühlung mit der lo- Audi 80 erkundigen wollte. Der Beamte heit durch Protektion. Und jede der regie- kalen Politprominenz.Wer eine Genehmi- der Brüsseler Sittenpolizei, der die Bezie- renden Parteien kassierte bis vor kurzem gung von der Kommune brauchte, so ein hungen des Lebemanns zur Pädophilen- ganz selbstverständlich ihre Schmiergeld- szene für die Staatsanwaltschaft Neuf- quote bei großen Staatsaufträgen. Die Mit- château recherchieren sollte, wurde nicht glieder des jeweiligen Clans genießen wie fündig. Kein Wunder, denn Kommissar in einer sizilianischen Mafiafamilie den Georges Marnette hat eingestehen müs- Schutz ihres Paten. sen, selbst die von Nihoul organisierten Diesmal allerdings, nach dem Schock Partouzes besucht zu haben. Neufchâteau über die Affäre Dutroux, könnte die Wahr- hat auf seine Mitarbeit inzwischen ver- heit eine Chance haben. Denn Scham und zichtet. Entsetzen über das, was in Belgien ge- Bei der rein dienstlichen „Infiltration schehen ist, sind bei den Bürgern so groß, des Milieus“ habe er sich natürlich an die daß im Land des Laisser-faire und des Spielregeln dieser ausgelassenen Abende Durchmauschelns der Wunsch nach kom- gehalten, so Marnette: „Wenn alle mit ei- promißloser Aufklärung übermächtig ge- nem Handtuch um die Hüfte oder im Ba- worden ist. Der stille Zorn, der sich am 20. demantel herumspazierten, konnte ich Oktober vergangenen Jahres beim Marsch doch nicht in Jeans und Lederjacke blei- von 300000 Bürgern auf Brüssel manife- ben.“ Die wahren Protektoren Nihouls, so stierte, ist nicht verraucht. erklärte der Kripo-Mann jetzt, säßen in Dutroux, der Verbrecher aus der sozia- den oberen Rängen der Justiz. len Randszene des heruntergekommenen Auch Dutroux war kein unauffälliger Industriereviers Charleroi, und Nihoul, der Einzelgänger, keiner, der sich wegduckte. undurchsichtige Geschäftsmann mit der In der grauen Stadt Charleroi und ihren

bürgerlichen Fassade, sind zwei kriminel- / LAIF REPORTERS FOTOS: noch graueren Vororten, wo die arbeitslo- le Prototypen dieses Landes, in dem Recht Opfer Eefje, An sen Nachfahren der Stahlkocher und Berg- und Ordnung offenbar lange Zeit partiell Ermordet, verbrannt und verscharrt arbeiter gegen Mittag den Platz vor der außer Kraft gesetzt waren. Flimmerkiste verlassen und in ihren grell- Nihoul, mutmaßlicher Agent und Mit- bunten Jogging-Anzügen in den nächsten telsmann für den Kinderräuber Dutroux, Supermarkt schlurfen, um sich für den Rest hatte ein langes Strafregister wegen Be- des Tages mit Bier und Schnaps einzu- trugs. Dennoch wurde er in Brüssel als Ge- decken, hier im Revier der Verlierer war richtsexperte für Immobilien geführt. Er Dutroux ein Gewinner. habe derart gute Kontakte ins Justizmini- Doppelt soviel wie andere Interessen- sterium gehabt, rühmte er sich in einem ten hatte er 1992 bei der Ersteigerung sei- Prozeß, daß er „mehr als einmal persön- nes Hauses in Marcinelle geboten und bar lich“ in den oberen Etagen zugunsten eines auf den Tisch bezahlt. Er kam damals ge- Visumantrags oder sogar einer Strafmin- rade aus dem Gefängnis. Niemand fragte, derung interveniert habe. woher er, der offiziell von einer Invaliden- Seine Sexpartys in der Brüsseler Rue rente lebte, das Geld hatte. des Atrébates wurden nachweislich auch Seine Vergangenheit wußte Dutroux ge- von Kripo- und Justizbeamten frequen- schickt zu kaschieren. Er war schon 1989 zu tiert. Seinen Einladungen zu den Partouzes dreizehneinhalb Jahren Haft verurteilt in dem von der Kommune Etterbeek ge- worden, weil er mit einem Komplizen fünf mieteten Schloß Faulx-Les-Tombes bei Na- Mädchen entführt, sie in einem Lieferwa- mur folgten Richter, Banker und Politiker. gen mit Drogen betäubt und vergewaltigt Besonderer Leckerbissen einer solchen hatte. Seine Frau, eine bis dahin unbe- „grande soirée“ war laut Einladung das scholtene Grundschullehrerin, die Dutroux „dessert surprise!!!“ beim Schlittschuhlaufen kennengelernt Nihoul ist ein Stehaufmann. Als er 1992 Ans Vater Marchal hatte, filmte die schrecklichen Szenen mit nach einer auf undurchsichtige Weise ver- „Auch von der Polizei getötet“ der Videokamera. Die Kassetten verkauf- kürzten Haft wegen eines betrügerischen te das Ehepaar teuer. Konkurses von seinem Anwalt Jean-Paul Freund, „wurde auf Michels Empfehlung Doch schon nach gut sechs Jahren wur- Dumont abgeholt wurde und seine Habse- sogar vom Bürgermeister persönlich emp- de der vom Gefängnisdirektor als „per- ligkeiten in einer Plastiktüte verstaute, ver- fangen“. verser und uneinsichtiger Psychopath“ kündete er: „Morgen um sieben Uhr fahre Doch es gab auch den anderen Nihoul: eingestufte Häftling vom damaligen Ju- ich nach Holland und kaufe Blumen.“ Ein Mädchen will ihn als jenen „Onkel Mi- stizminister Melchior Wathelet vorzeitig Es war der Beginn eines florierenden chel“ wiedererkannt haben, der sie ge- entlassen. Zwei Kommissionen hatten ge- Kommerzes. Zunächst importierte er meinsam mit ihrem Stiefvater mißbraucht gen die Haftverschonung gestimmt, eine Tulpen, dann spezialisierte er sich auf Fisch habe. Und die Ex-Frau eines Brüsseler Pä- dritte sprach sich dafür aus. Auch der par- und Meeresfrüchte, schließlich verkaufte dophilen sagte jetzt bei dessen Prozeß aus, lamentarische Untersuchungsausschuß hat er Küchengeräte für Restaurants – immer sie habe ihren Mann und Nihoul über „klei- bislang nicht aufklären können, weshalb nach demselben Schema, das dank schlep- ne blonde Pferdchen“ sprechen hören. ausgerechnet diesem Dutroux die Gnade

der spiegel 12/1997 129 Gesellschaft des sonst unnachsichtigen Christdemo- mal ohne Schnauzer oder Bart, mal mit, kraten Wathelet widerfuhr. mal ohne Brille. Vor der Sozialarbeiterin, Wieder auf freiem Fuß, sammelte der die ihn regelmäßig besuchte, spielte er den Häftling auf Bewährung eine Schar ge- kranken und desorientierten Mann, ge- scheiterter Existenzen und Krimineller um zeichnet von der Haft. Von seiner Frau sich. Dutroux, Abonnent der Finanzzei- habe er sich getrennt, um sie vor seinen tung l’echo de la bourse und Handy-Be- Wutanfällen zu schützen, erzählte er der sitzer, stieg zum Boß einer kleinen Gang Betreuerin. auf: Der 24jährige Michel Lelièvre, vorbe- „Einen Machthungrigen ohne Skrupel straft wegen Kokainhandels, gehörte dazu; und ohne Mitleid“ nennt ihn hingegen sei- ebenso Bernard Weinstein, ein Ex-Häft- ne Mutter. Sie bedauert inzwischen öf- ling, der sich nach mehreren Raubüberfäl- fentlich, „am 6. November 1956 einem len aus Frankreich abgesetzt hatte, und der Monster das Leben geschenkt zu haben“. Grieche Michael Kostavrianos. Der wohn- Der Vater, ein Grundschullehrer, war jäh- te bei Dutroux zur Miete und verschob zornig und gewalttätig; vor den Augen der alte Reifen und geklaute Autos nach Polen Klassenkameraden in der Schule von Roux und Tschechien.Auch Dutroux hatte seinen verprügelte er seinen Sohn, bis ihm ein Nachbarn erklärt, er handele mit Autos für Kollege in den Arm fiel. den osteuropäischen Markt. Der Versager und Einzelgänger Dutroux, Bei der Kriminalpolizei der Nachbar- der nur mit Mühe seine Ausbildung als staaten ist die marode Industriestadt Elektriker beendet hatte, schien besessen Charleroi als internationales Zentrum für von dem Gedanken, auf die Seite der Autohehlerei berüchtigt. Im Revier der Gewinner zu wechseln. Während seines Kneipen, Kfz-Werkstätten und Schrott- sechsjährigen Gefängnisaufenthalts wurde handlungen gelten Autodiebstahl und er zum Musterhäftling, nahm an Informa- -schieberei als Kavaliersdelikte. Sogar Kri- tik-, Buchführungs- und Sprachkursen teil. minalbeamte und Richter, so heißt es, hin- „Er zeigte sich von seiner besten Seite“, gen in den dunklen Geschäften mit drin. beobachtete der Diakon Henri Bialecki, Das ist vermutlich der Schlüssel, der Du- der ihn mehrmals beim Hafturlaub beglei- troux’ besondere Beziehungen zur Polizei tete. Als Freund klassischer Musik habe er erklärt. Bei ihm wurde eine vertrauliche sich gegeben, als sorgender Familienvater Liste aller Bars und Kneipen gefunden, de- – aber keinerlei Reue oder Mitgefühl für ren Besitzer oder Mitarbeiter Spitzeldien- seine Opfer gezeigt. „Vielmehr fühlte er ste für die Polizei leisteten. 1994 bekam er sich selbst als verfolgtes Opfer“, so sogar einen Waffenschein für ein halbau- Bialecki. tomatisches Kleinkalibergewehr bewilligt. Sechs Häuser besaß Dutroux bei seiner Es sei nichts Nachteiliges über den An- Verhaftung im vorigen Jahr – armselig und tragsteller bekannt gewesen, erklärt heute heruntergekommen zwar, aber die Immo- der zuständige Polizeibeamte aus Char- bilien, für die er, wie sich jetzt herausstell- leroi. Wirklich nicht? te, noch nicht einmal Grundsteuern zahl- Ein Jahr zuvor waren mehrere Häuser te, gaben ihm in der Gegend um Charleroi von Dutroux durchsucht worden. Schon mit ihren 30 Prozent Arbeitslosen den Sta- damals gab es Gerüchte, er wolle Minder- tus eines „propriétaire“, verschafften ihm jährige entführen. Einem seiner Mieter, der Nebeneinkünfte und abhängige Mieter. in Geldnöten steckte, hatte er 7500 Mark Außerdem verfügte er über einen für jedes geraubte Kind geboten.Vier Ton- ganzen Wagenpark: zwei Lastwagen, ein nen Material, das aus verschiedenen Ein- Motorrad, einen Wohn- und einen Liefer- brüchen stammte, beschlagnahmte die Po- wagen sowie zwei Personenwagen. Seine lizei damals in einer seiner Garagen. An- Frau Michèle begleitete Dutroux auf Ge- klage wurde nicht erhoben. schäftsreisen in die Slowakei, nach Tsche- Seiner Anwältin Marie-France Nicaise chien und Polen. Er verscherbelte gestoh- präsentierte sich Dutroux damals als „bri- lene Autos, und auf dem Rückweg brachte colo“, der seine Arbeitsunfähigkeitsrente er auch mal junge Frauen als Darstellerin- mit kleinen Gefälligkeiten und Reparatur- nen für Pornofilme mit. arbeiten aufbesserte – ein ganz normaler Im vergangenen Sommer, kurz vor sei- Familienvater, wie er da mit Frau und zwei ner Verhaftung, stellte er einen Antrag auf Kindern im Wartezimmer saß, aber auch Namensänderung. Dutroux, was auf fran- ein Prozeßhansel, fordernd und rechtha- zösisch so klingt wie „aus dem Loch“, berisch, wenn es um einen strittigen Miet- schien ihm wohl ein unpassender Name vertrag oder den Erbschaftskonflikt mit für einen Aufsteiger. Er habe einen gro- seiner Mutter ging. ßen Coup gelandet, berichtete er zur glei- Und äußerst clever: Um seine Einkünf- chen Zeit stolz einem Kumpanen – kurz te aus der Sozialkasse auf 4000 Mark mo- nach dem 24. Juni, als Julie und Mélissa natlich zu verdoppeln, ließ er sich von in Grâce-Hollogne bei Lüttich vermißt seiner Frau pro forma scheiden. So hat- wurden. ten beide Haushalte Anspruch auf Unter- Knapp zwei Monate später entführte er stützung. mit seinem Kumpel Michel Lelièvre in Ein Meister der Camouflage: Nicht nur Ostende die beiden Schülerinnnen An, 17, sein Äußeres änderte er ständig, mal mit, und Eefje, 19, die nach einer Veranstaltung

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Werbeseite Gesellschaft zurück in das Feriencamp ih- darf wieder gehen. Der ver- den er offenbar selbst gestohlen hatte. Die rer Theatergruppe trampen nehmende Beamte ist Ober- jungen Leute wurden schließlich von der wollten. inspektor Georges Zicot. Polizei befreit. Zicot erklärte den gestoh- Einen ganzen Tag lang, er- Zwei Monate später wird lenen Lastwagen für gefunden, die Ge- zählte er den Polizeibeam- in Obaix ein junges Mädchen schichte verlief im Sande. ten nach seiner Festnahme, vergewaltigt und mit lebens- Dutroux wälzte alle Schuld auf Wein- seien Lelièvre und er an der gefährlichen Schnittwunden stein ab, der als flüchtig galt. Tatsächlich Küste herumgefahren. Ohne an der Kehle aufgefunden. aber saß er zu diesem Zeitpunkt, wie sich Erfolg. Bis sie in der letzten Die örtliche Polizei verdäch- erst viel später herausstellte, im Kellerver- Straßenbahn die beiden jun- tigt wiederum Dutroux, der steck der Rue Philippeville, aus dem Julie

gen Frauen sahen, eigentlich / LAIF REPORTERS FOTOS: sich am selben Tag in der und Mélissa vorübergehend ausquartiert viel zu alt und zu groß für Inspektor Zicot Nähe aufgehalten hat. Wie- wurden. Mit dem Mittel Rohypnol betäub- ihre Zwecke. der sitzt er dem Inspektor Zi- te Dutroux den gefährlich gewordenen Mit- Doch die Gelegenheit cot gegenüber, der darauf wisser und verscharrte ihn anschließend schien zu günstig. Dutroux verzichtet, Haare und Blut bei lebendigem Leib nur wenige Meter von und Lelièvre lockten An und von Dutroux analysieren zu dem Platz entfernt, wo die in Plastiksäcke Eefje in ihr Auto, betäubten lassen, so wie er es bei zwei gehüllten Leichen von Julie und Mélissa sie und brachten sie nach anderen Verdächtigen ange- aufgefunden wurden. Marcinelle. „Das Haus war ordnet hatte. Inspektor Zicot kam vorübergehend in übervölkert“, klagte der Die Ermittlungen gegen Haft, ist inzwischen aber wieder im Dienst. Menschenräuber, „ich habe den vorbestraften Sexualtä- René Michaux, der unglückliche Polizist, ist keine Minute mehr Ruhe be- ter ohne Alibi werden einge- in der Gendarmerie Charleroi nicht mehr kommen.“ Julie und Mélissa stellt. Inzwischen fand die tragbar. Er hat um die Versetzung zur Fi- saßen im Keller, An und Staatsanwaltschaft Neufchâ- nanzpolizei nach Brüssel gebeten, wohin Eefje wurden im ersten teau, die den Fall noch ein- auch drei andere Kollegen transferiert wur- Stock festgehalten. mal aufrollte, in einem auf den, die sich kritisch über das Verhalten Er habe die beiden Weinstein zugelassenen Ford von Kollegen geäußert hatten. „großen Frauen“, berichtete Fiesta Haare des Vergewal- Der einzige, der bisher penibel bestraft Dutroux weiter, bald darauf Gendarm Michaux tigungsopfers von Obaix. wurde, ist der Untersuchungsrichter Jean- seinem Komplizen Weinstein Für Staatsanwalt Bourlet be- Marc Connerotte, der gemeinsam mit übergeben. An und Eefje lebten nur noch stehen keine Zweifel: „Hier wurde bewußt Staatsanwalt Bourlet den Kinderschänder wenige Tage. Sie wurden ermordet, ver- das Notwendige nicht getan.“ Dutroux überführte und unnachsichtig alle brannt und verscharrt, nachdem ihre Hin- Derselbe Zicot, bei seinen Kripo-Kolle- Spuren verfolgte. Er, der das Vertrauen der richtung wohl auf einem Video festgehalten gen in Köln und Luxemburg wegen enger Eltern besaß, hatte einen Formfehler be- worden war. Beziehungen ins Autoschieber-Milieu be- gangen und im vergangenen September an Im September 1995 wird die 15jährige kannt, hilft wenig später Dutroux erneut einem Solidaritätsessen zugunsten der Op- Alexandra Scalon in der Nähe von Charle- aus der Patsche: Mit seinem Gehilfen Wein- fer teilgenommen. roi mißbraucht und mit zerschmettertem stein hatte Dutroux zwei junge Männer Das brachte ihn um die Zuständigkeit Schädel aufgefunden. Dutroux gerät in Ver- und eine Frau eingesperrt, um von ihnen im Verfahren. So streng kann die belgische dacht und wird zur Kripo einbestellt. Er den Verbleib eines Lastwagens zu erfahren, Justiz sein. ™ A. NOGUES/ SYGMA Gedenkmarsch in Brüssel: Stiller Zorn und der übermächtige Wunsch nach Aufklärung

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Werbeseite Gesellschaft moderne Digitaltechnik installieren lassen. Beim Kaffee allein soll es aber nicht blei- UNTERHALTUNG Mit deren Hilfe dürfen sich die Gäste dann ben. „Wir setzen auf ein futuristisches Bar- als Musikproduzenten versuchen und sich Konzept“, sagt Peter Schulz, der für Ruff Schwäbischer von LP,Tonband, Kassette oder Schellack- die „Kopier-Bar“-Idee im Franchisever- platte ihren Wunschsound auf CD kopieren fahren vermarktet. An den Verträgen mit – allerdings ausschließlich fürs private Wirten in Leipzig, Rostock und Dresden Eisenbahn-Blues Vergnügen. feilt er bereits, Interessenten gibt es in Ruff achtet peinlich darauf, mit seiner Stuttgart, Hannover, St. Petersburg und multifunktionalen Kneipe nicht in den Ge- Marseille. In Berlin lockt eine neue ruch des Raubkopierens zu geraten. Brav Seine Franchisepartner lockt Schulz mit Kneipenattraktion: Beim Bier überweist er pro bespielter CD 1,34 Mark dem Angebot, sie könnten schon mit acht können die Gäste der an die Gema und läßt seine Gäste unter- Prozent Eigenkapital Wirt einer „Kopier- „Kopier-Bar“ CDs bespielen. schreiben, daß sie mit ihren Selfmade-CDs Bar“ werden. Den Rest finanzierten Braue- keinerlei Geschäfte machen. reien und Ausstattungsfirmen. eine beiden Aldi-Tüten hat Janusz Nicht alle von Ruffs Kunden kommen Der Musikliebhaber Rolf Ruff, ein gebo- Szymecki, 39, mit alten Singles und in so offensichtlich unkommerzieller renen Schwabe aus Schopfloch, gelernter SLP gefüllt. Er ist unterwegs in seine Absicht wie jene Frau, die Kauf-CDs Bankkaufmann und Betriebswirt, spricht Stammkneipe – eine Cola trinken und eine für rund 600 Mark anschleppt, um dar- nicht über Zahlen, sondern lieber über eine CD brennen: Heute abend, so sagt der In- aus in der „Kopier-Bar“ zwei Geschenk- „Revolution auf dem Musikmarkt“. dustriekaufmann und ehemalige Disk- Discs für ihren Mann zusammenzustellen Immerhin beansprucht Ruff den Ruhm, jockey, „geht’s darum, ein paar Italo-Tanz- – mit aufgedrucktem Familienfoto, ver- 1981 in Berlin das erste Walkman-Fachge- helden der achtziger Jahre wie Gazebo, steht sich. schäft der Welt eröffnet zu haben: Die Idee aber auch Laura Branigan aus der Vinyl- Möglich wurde die selbstgemachte CD dazu habe er während einer Zugfahrt zwi- Vergessenheit zu retten“. als Geburtstagspräsent erst durch die in schen Sydney und Melbourne ausgetüftelt, Nach zweieinhalb Stunden hat Szy- jüngster Zeit stark gefallenen Preise für als er mit seinem in Singapur gekauften, mecki 16 Titel für seinen persönlichen High-Tech-Geräte. Noch vor wenigen Jah- damals gerade neu auf den Markt gewor- Hitmix zusammengestellt und digital auf ren waren sogenannte CD-Brenner nur in fenen Walkman Haydn hörte. Für „kleine Gruppen, die bei Sony oder Warner sowieso nie eine Chance hätten“, ent- wickelte der Tüftler 1995 eine CD-Duplikationsmaschine. „In Zeiten wegbrechender Subven- tionen sind solche neuen Wege des Marketings gefragt“, sagt Gunther Haupt, ein Cellist, der vor drei Jahren das Orchester „Kammer Sinfonia Berlin“ gründete. Dessen beste Stücke werden nun in der „Kopier-Bar“ auf ein paar Dutzend CDs ge- brannt. Mit denen will Haupt auf Sponsoren- und Veranstal- tersuche gehen. Ruff träumt bereits davon, die „Kopier-Bar“-Produktionen auch im Internet anzubieten, so daß jeder Netsurfer sich seine individuelle CD aus den ange- botenen Stücken zusammenstel- len kann.

D. KONNERTH / LICHTBLICK D. KONNERTH Bislang allerdings kommen „Kopier-Bar“-Gründer Ruff (r.), Kunde Szymecki: Jeder Gast sein eigener Produzent nur die anwesenden Bargäste in den Genuß, den dilettierenden einer CD konserviert. Am Tresen der Profiqualität zu haben und kosteten rund CD-Machern bei der Arbeit zuzuhören. „Kopier-Bar“ bezahlt er 30 Mark für die 10 000 Mark, heute gibt es die Technik in „Und bevor das Bier geleert ist, können die 60-Minuten-CD und 2,50 Mark für die „Consumer-Ausführung“ schon für unter Leute die CD auch schon kaufen“, sagt Cola. 1000 Mark. Ruff.Wie bei Karaoke-Shows läßt er jeden Der kreative Kneipenbesuch in der „Ko- Ruff, der seit 1990 in seinem „Sound- ans Mikro – egal ob verwegener Nach- pier-Bar“ in Berlin-Kreuzberg gilt als neu- man-Shop“ teure Hi-Fi-Ware verkauft und wuchsrocker, süddeutscher Religionsleh- ester Szene-Spaß der Hauptstadt – und CDs für Profis herstellt, fühlt sich zuneh- rer, der im Blues-Stil „Auf der schwäbi- „Kopier-Bar“-Gründer Rolf Ruff, 43, hat mend durch die Schleuderpreise großer schen Eisenbahn“ intoniert, oder verlasse- bereits große Pläne für den Siegeszug sei- Elektronik-Märkte bedrängt – „auch des- ner Liebhaber, der für seine Angebetete ner „deutschen Antwort auf die Planet- halb verlege ich mich mit der ,Kopier-Bar‘ eine Versöhnungs-CD aufnimmt. Hollywood-Kette“. jetzt mehr auf Dienstleistung. Früher Aufnahmen klassischer Musik legt Ruff Kneipiers aus anderen deutschen Städ- habe ich unseren Kunden den Kaffee ein- nur auf Sonntagvormittage. Dann ist es re- ten, die zum Mitmachen bereit sind, sollen fach so hingestellt, jetzt kann ich Geld lativ ruhig im Kreuzberger Kiez – und die Billardtisch und Flipper rauswerfen und dafür verlangen“, sagt der „Kopier-Bar“- Gefahr am geringsten, daß eine Polizei- statt des traditionellen Unterhaltungsgeräts Chef. sirene die Aufnahme stört. ™

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Werbeseite Gesellschaft Seitdem der Glaube für den Elfenspäher die Nibelungensage deshalb als ideolo- ABERGLAUBEN – angeblich in einer Herbstnacht – Ge- gisch bedenklich. wißheit wurde, trägt er einen grünen Punkt Die vergleichsweise harmlosen Prinzen, Stille Kraft auf der Stirn. „Elfen wissen dann, daß ich Ritter, Feen und Zwerge der Grimmschen für sie offen bin.“ Schnell gewann Grafe so Märchenwelt überstanden den Mythen- das Vertrauen scheuer Fliedermaidas, mu- spuk der Nazis dagegen unbeschadet. Bei Geisterzauber in Blumen- sikalischer Wallinen und anderer Elfenar- der Entnazifizierung wären sie wohl als beeten, Zwergenspuk zwischen ten, die, so schrieb der Märchendichter Mitläufer eingestuft worden. Mietskasernen: Ein „Elfen- Jacob Grimm in seiner „Deutschen My- Im Berlin des Jahres 8 nach der Wende Rundgang“ ist die wohl kurioseste thologie“, „nur durch Zufall oder Drang wird die Renaissance der Elfenliebe sogar der Umstände bewogen werden, mit offiziell unterstützt: 1000 Mark Zuschuß ge- Touristenattraktion . Menschen zu verkehren“. währte die Schöneberger Bezirksbürger- Im nordischen Volks- meisterin Elisabeth Zie- ie schnöde Vernunft hat Hausver- glauben verkörpern Elfen mer (Bündnis 90/Grüne) bot in Berlin-Schöneberg, Monu- die geheimnisvollen, in für den Druck einer El- Dmentenstraße 37, zweiter Hinter- der Stille wirkenden fenkarte, die fein säuber- hof. Zwischen falschen Jasminbüschen Kräfte der Natur. Als lich alle Orte verzeichnet, dreht sich Ogar Grafe, 34, wie ein Krei- Lichtgeister beseelen sie an denen die hochflüch- sel und stimmt ein helles Summen an. vom Wind bewegte Äh- tigen Naturgeister bisher Sirenenartig hallt der Gesang die Wän- renfelder, das wogende aufgetreten sein sollen. de hoch. „Der Spinner ist wieder da“, Wasser oder den rau- „Wir sind gegenüber al- wettert eine Frauenstimme aus dem drit- schenden Wald.Wer Spei- lem Neuen sehr aufge- ten Stock. sen und Trank genießt, schlossen“, begründet die Grafe ist Ärger mit Anwohnern ge- den die zuweilen lüster- grüne Politikerin den lo- wohnt. Er hält inne. „In der Nacht er- nen Elfen in Goldbechern kalpolitischen Vorstoß ins scheinen Duftelfen unter Linden und darbieten, ist ihnen fortan Fabelreich. Jasminbüschen. Ihr betörender Geruch verfallen. Das gleiche Rentnerin Elisabeth führt zum Tanzwahn“, keucht der Der- Schicksal droht auch je- Poppe, 61, fühlt sich dort wisch im Matrosenlook in Richtung seiner dem, der ihre nächtlichen schon länger heimisch. 60 Zuhörer. Tanzkreise auf taufeuch- „Meine Frühlingsblumen

Sie alle sind beim „Schöneberger Elfen- tem Rasen stört. VERLAG STALLING werden von Zwergen Rundgang“ dem Lockruf der Elfen gefolgt. „Bei uns ist die ger- Mythengespinst Elfen hochgeboxt. Gutes Zu- Die Fabelwesen, da ist sich der Sänger und manische Mythenwelt reden hilft auch.“ Sie Schriftsteller Grafe ganz sicher, bevölkern seit der Nazizeit tabuisiert“, klagt Wolf- glaubt fest an die Beseeltheit der Dinge, nicht nur die Märchenwelten der Brüder gang Müller, 39, der zusammen mit Grafe spricht schon mal mit ihrer Heizung oder Grimm und J. R. R. Tolkiens, sondern hau- den Elfen-Rundgang organisiert. Aus Ni- dem defekten Fahrstuhl. Den Elfen-Rund- sen unter efeuberankten Mauern oder auf belungensage und den Volksmärchen gang findet sie bezaubernd. „Man kann Kastanienbäumen, beleuchten die Hänge saugten sich nationalistische Ideologen nicht immer nur in die Kaufhäuser gehen.“ vom S-Bahn-Gelände und veranstalten alles heraus, was ihren Vorstellungen Derlei Bestätigung gibt es selten bei nächtliche Tanzreigen in den Parks der germanischen Heldentums entsprach. einer Führung. Müller zupft verlegen an Hauptstadt. Meist wohlwollend, aber mit- Besonders am blonden Siegfried und seiner schwarzen Zipfelmütze: „Letztens unter rachsüchtig, greifen die Leichtflügler blutgierigen Hagen fanden die braunen meinte jemand, die Geschichte mit den in den Alltag ein. Herren Gefallen – nach dem Krieg galt Elfen habe sich Fontane einfallen lassen, als er betrunken war. Für den war das alles Quatsch.“ Fachmann Müller weiß es bes- ser: „Wenn auf Island eine neue Straße gebaut wird, fragt man vorher die Elfen- beauftragte, ob man das an dieser Stelle darf. Das ist eine Art praktizierter Um- weltschutz.“ Kühn gesprochen – nur: Die Rundge- führten wollen endlich Elfen sehen. Auf dem St.-Matthäus-Friedhof soll es mit der Kontaktaufnahme klappen. Auf dem Grab der Brüder Grimm tanzen angeblich Erdelfen, gemeinhin Zwerge genannt. Die Sonne ist längst hinter dem Horizont verschwunden, ein kühler Luftzug weht. Es duftet nach Efeu und Flieder. War da was? Still ragen die Granit- blöcke der Grimmschen Grabstätte in den Abendhimmel. Ein Knacken. Wer wirft hier mit Eicheln? Sind es die angekün- digten Zwerge, die das Grab ihrer Schöp- fer pflegen? „Die Beetzwerge“, flüstert Grafe, „sind zur Zeit durch die Tarnkappen leider nicht sichtbar.“ ™ F. SIEMERS / DRUCKREIF F. Elfensucher Grafe (M.), Müller (r.)*: „Wegen Tarnkappe leider nicht sichtbar“ * Am Grab der Brüder Grimm.

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Werbeseite Sport

FUSSBALL Pan con Leberwurst Die Arbeitsteilung von Bodo und Bianca Illgner – er hält Fußbälle, sie regelt die Geschäfte – hat das Paar in das Luxusleben bei Real Madrid geführt. Dank Illgners Paraden ist der Klub auf dem Weg zur Meisterschaft, die Gemahlin will künftig auch andere Spieler managen.

er Jüngling Jerome ist elf Monate alt und hat es mächtig an den Bron- Dchien. Auch die Nase ist dicht. Nichts hilft: kein warmer Tee, keine Sand- kiste, und die Fettcreme, die ihm der Vater zum Schutz vor dem spanischen Sonnen- strahl ins Gesicht schmiert, schon gar nicht – das Kind ist schwer verquengelt. Aus der Küche eilt die Hausdame Rosa zur Hilfe. Sie fährt eine Leberwurststulle auf, akkurat geschnetzelt in viele kleine Planquadrate. „Ah, pan con Leberwurst“, entfährt es dem Vater. Bodo Illgner, 29, schiebt seinem Sohn die wurstigen Würfel zwischen die Zähne, und sogleich legt sich Frieden über das Eckgrundstück im Madrider Villenvor- ort „La Moraleja“. Aus der Ferne weht das Gebell von Hun- den in den Garten, auf dem Pool schwimmt noch etwas Unrat, den der Winter hinter- lassen hat. Der Hausherr zieht sich die Son- nenbrille vor die Augen und sagt: „Wir kommen schon zurecht.“ In die Sonne tritt Gattin Bianca. Ihre Lip- pen tragen die Farbe vollreifer Tomaten, an ihren Körper schmiegt sich ein schwar- zer Stretch-Anzug mit weißen Streifen an der Seite und der Nummer fünf über der Brust. „Hab’ ich doch ganz gut ausgesucht hier, oder?“ Sodann bittet Frau Illgner an den Tisch – „ich habe ein paar Kleinigkei- ten herrichten lassen“. Bloß nichts Schweres um die Mittags- zeit, zumal sie das Frühstück wie gewöhn- lich erst um zwölf eingenommen hat. Rosa trägt Platten mit südländischen Köstlich- keiten ins Freie, Scampi und Tintenfisch- ringe und Schinkenhappen mit halben Oli- ven obendrauf und einen Teller Nudeln für die große Tochter Joline. Kein Zweifel, das Ehepaar Illgner ist auf dem Gipfel angekommen. Seine Arbeits- teilung hat sich mal wieder als richtig er- wiesen: Er hält Fußbälle, sie hält die Hand auf. Er betreibt Sport, sie betreibt das Geschäft. Einfach fabelhaft, wie die 34jährige ihren Bodo im August letzten Jahres von Köln nach Madrid dirigierte. Um drei am Nach- mittag ging das Telefon, und jemand sagte ihr, daß Real Madrid ihren Mann kaufen

* Am Montag der vorigen Woche beim 2:1 gegen Racing / SPORTIMAGE COVER Santander im Bernabeu-Stadion in Madrid. Real-Profi Illgner*: „Ich bin eben der gute Torwart“

138 der spiegel 12/1997 wolle. Um fünf kam Bodo nach Hause, und tor zur Stelle: „Herr Illgner, haben Sie sich Gesindekammer für ein philippinisches sie sagte ihm, daß sie gleich zusammen mit Ihrer Frau im Hotel getroffen?“ Ehepaar, das von morgens um sieben bis nach Madrid flögen. Um neun saßen sie Daß der Bannstrahl des Fußballsports abends um elf den Haushalt ins Lot bringt im Learjet und sagten sich, daß es sich loh- immer auf solche Damen zielt, die in der und inzwischen sogar selbstgeraspeltes nen müsse. Um Mitternacht unterschrieb Welt von Soll und Haben zu Hause sind, Müsli herrichten kann. er, was sie ausgehandelt hatte: 2,3 Millio- hat früher schon Gaby Schuster erfahren Derzeit sind die Filipinos auf Heimatur- nen Mark netto für die Saison, drei Jahre und später Martina Effenberg oder Ange- laub, sie hatten es überhaupt ziemlich gut lang. Haus nach Wahl und Auto nach Wahl, la Häßler. Bloß ist Bianca Illgner immer bisher bei den neuen Herren: Das Haus ist natürlich auf Klubkosten. eine Idee greller gewesen als die anderen; nämlich so raffiniert verkabelt, daß die An- Ein vergleichbares Husarenstück ist und sie tritt mit künstlicher Haarverlänge- gestellten theoretisch von jedem Zimmer nicht mal solchen Kollegen gelungen, die rung im Fernsehstudio auf, weil ihr das aus über einen Klingelknopf erreichbar ihr Vertragswerk von hauptamtlichen Spie- eben so gefällt; und sie trägt eine Garde- wären. Wenn die Deutschen nur wollten, lerberatern austüfteln lassen. Wo andere robe, die manchmal so aussieht, als habe wären die Filipinos ständig auf Achse, aber Prozente abdrücken, schickt Bodo seine Bianca vor. Daß nach vorn strebende Menschen ihre Angelegenheiten selbständig ordnen, ist zwar so ungewöhnlich nicht – im Fall Illg- ner allerdings lagen die Dinge immer etwas anders. Schon Ende der Achtziger, da Frau Illg- ner noch Fräulein Öttinghaus war, steht der Sohn eines Berufssoldaten mit bemer- kenswerter Offenheit Modell für eine neue Gattung des Fußball-Profis. Bodo Illgner spielt Torwart, weil er damit so viel Geld verdienen will, daß es sich auch später noch nett leben läßt. Die Branche reicht ihn als ihren Yuppie durch, weil er karrierebewußt ist, erfolgs- orientiert und eigennützig, weil er Abitur hat und eine druckreife Sprache. Nie kommt ihm dabei Männerbündlerisches über die Lippen, die Fußballmannschaft als Elf-Freunde-Verein kennt er nicht, weil es solche Lagerfeuerromantik nicht

mehr gibt in einem Kreis von Unter- / BONGARTS A. HASSENSTEIN nehmern, die sich im Fünfsternehotel Ehepaar Illgner*: „Hab’ ich doch ganz gut ausgesucht hier, oder?“ treffen. Suspekt wird Illgner seinem Publikum sie denselben Kostümschneider wie Ko- die Deutschen wollen nicht, es sei denn, sie erst, als Fräulein Öttinghaus zur Frau Illg- miker Wigald Boning, nur etwas stärker sitzen zu Tisch. Da klingeln sie dann doch ner wird.Weil die von forschem Wesen ist, auf Figur geschnitten und irgendwie auch schon mal. „Sonst würden die ja ständig setzt sie das in die Tat um, was ihr Bodo lie- luftiger. stören“, weiß die Chefin aus der Erfah- ber nur denkt. Während der Weltmeister- In der Summe ist das offenkundig im rung der ersten Zeit. schaft vor drei Jahren in den Vereinigten Sinne des gesellschaftlichen Konsenses Daß die Illgners nun ausgerechnet beim Staaten merkt er, daß ihm Fußball im Kreis über dem Limit. Die süddeutsche zei- weltberühmten Real Madrid ankamen, ist der Nationalspieler „keinen Spaß mehr tung mokiert sich über „die Frauenrecht- im Grunde nur konsequent. Real ist das macht“. lerin in Hot pants“, und daß Harald Zentrum des Kapitals, Real definiert sich Und weil es zudem in der seinerzeit dar- wie kein zweiter Fußballverein über Geld niederliegenden Auswahl nichts mehr zu Suspekt wird es erst, und Gloria. verdienen gibt, weder Geld noch Ansehen, als Fräulein Öttinghaus zur Täglich sind in der „Sala de Trofeos“, ei- tritt er zurück – auf ausdrückliches Zura- ner Gedenkstätte, die wirkt, als sei hier ten der Gemahlin. Frau Illgner wird der Kalif von Cordoba einbalsamiert, meh- Nicht, daß die sich je als Schrittmache- rere blaubekittelte Damen mit Silberputz- rin für die Rechte der Frauen im allgemei- Schmidt nach Bettina Böttinger ein neues tüchern dabei, die 1200 Pokale im Glanz zu nen verdächtig gemacht hätte. Sie gerät Frauenopfer gefunden hatte, war eh klar: halten. bloß in den Clinch mit den zuweilen etwas Das erste Wort, das Bianca im Spanischen Zwar lasteten im Sommer noch 180 Mil- verpupten Wertbegriffen der deutschen aus dem Effeff beherrsche, war vorgeblich lionen Mark Schulden auf dem Klub, aber Fußballwelt. Die hält etwa für die Ehe- „la ola permanente“: „die Dauerwelle“. dennoch hat er ungerührt 50 Millionen für frauen ihrer Mitglieder das Fachwort Ja, und? „Alles Komplexe“, wirft sie je- neues Personal ausgegeben, man ist hier „Spielerfrau“ bereit, was immer so klingt, nen entgegen, die sie in Deutschland an- nicht so pingelig. als werde die Stute dem Hengste zuge- gefahren haben. So was treffe sie nicht Wer ein anständiger Profi von Real ist, führt. mehr, sagt sie mit demonstrativer Selbst- trägt gleich zwei Funktelefone bei sich, eins Bianca Illgner allerdings hat nicht nur ei- gewißheit. Ist ja nicht so, als würde man es für den geschäftlichen Belang, das andere nen feinen Sinn für den galoppierenden mit ihrer Art zu nichts bringen. für private Angelegenheiten. Und weil die Geschäftsgang, sie nimmt sich auch das Der schnieke Bungalow hat einen BMW meisten sehr aufwendige, zum Teil mit Recht, ihren Angetrauten im Mannschafts- vor der Tür und sieben Zimmer und eine Lenkrädern aus Mahagoniholz ausgestat- quartier heimzusuchen. Und prompt ist tete Automobile lenken, ist auf dem Trai- bild in Vertretung der Nation als Inquisi- * Im Wohnzimmer ihres Madrider Hauses. ningsgelände sogar der Parkplatz umzäunt

der spiegel 12/1997 139 Werbeseite

Werbeseite Sport und wird von Wachmännern ständig be- Ché Guevara, Bernd Schuster mit dem Wi- obachtet. derstand aller Art. Illgner leistet sich nicht Eine knappe Hundertschaft wichtiger mal eine kleine Macke: „Ich bin eben der Menschen im Range von Klubdirektoren ist gute Torwart.“ für den sechsmaligen Europapokalsieger Und von dem gibt es im Fanshop be- tätig, zu viel, als daß sich auf der Ehren- stenfalls eine Autogrammkarte für 100 Pe- tribüne noch freie Plätze fänden. Für seten. Die richtig Großen, Raúl, Suker oder Zugereiste ist das gewöhnungsbedürftig, Mijatoviƒ, sind hier auf Wimpelchen zu ha- Frau Illgner hatte anfangs ihre Probleme ben, für 495 Peseten das Stück. damit. Der Mann aus Deutschland kann, wenn Ausgerechnet vor Bodos erstem Heim- er etwa nach dem Spiel vorige Woche ge- spiel hatte man ihr einen Platz auf dem gen Santander geduscht hat, von Fans und schäbigen Seitenrang zugewiesen. Sie ist Reportern weitgehend unbehelligt in sei- dann stracks mit ihrer Karte in die Ge- nen Peugeot steigen – mit einer Paketsen- schäftsstelle gelaufen und hat „den Her- dung aus der Heimat unter dem Arm: Sein ren“ Bescheid gesagt. Wann immer sie es Ausrüster hat neue Badelatschen und einen neuen Bademantel geschickt. Die Ehefrau muß nur den Bestellschein ausfüllen, und schon ist die Ware da. Solche

Was gut war für Bodo, kann nicht schlecht sein für die Nachfahren

Arbeiten macht sie mal eben nebenbei, denn es ist weiß Gott nicht so, daß sie sonst nichts zu tun hätte. Wenn Bianca Illgner nicht gerade im Keller an ihren Fitneß- geräten übt („anderthalb Stunden täglich“), sorgt sie dafür, daß das Geld auch anstän- dig arbeitet: „Man kann das ja nicht einfach rumliegen lassen.“ Gelegentlich muß sie auch den Spaniern aufs Dach steigen – Net- to-Verträge haben ihre Tücken, das deut- sche Finanzamt will Bescheinigungen se- hen, und in Spanien bleiben die Bescheini- gungen meistens irgendwo stecken. „Aber das bring’ ich denen auch noch bei.“

WEREK Während er wieder mit Erste-Hilfe-Maß- Real-Stars Netzer, Breitner (1976) nahmen für den schwächelnden Jerome be- Ché Guevara und Mao Tse-tung faßt ist („Soll ich ihm jetzt noch etwas über- ziehen?“), ist sie bereits bei den Heraus- in Zukunft wünscht, soll es nun ein besse- forderungen, die die Zukunft mit sich brin- res Ticket geben, Tribüne Mitte. gen wird. Solche Irritationen sind zu verkraften, Bianca Illgner will beim Internationalen solange es im wesentlichen stimmt. Und da Fußball-Verband eine Lizenz als Spieler- gibt es wirklich gar nichts: Bodo und Bian- beraterin erwerben. Was gut war für den ca Illgner haben in Madrid ihre Lebens- Bodo, kann nicht schlecht sein für die Nach- stellung gefunden. In der Zeitung liest er fahren. So ein Gewerbeschein kostet aller- meistens nur freundliche Sachen über sich dings erst einmal 200000 Schweizer Fran- und sonst gar nichts, er ist hier „der deut- ken, und deshalb guckt sie jetzt auch ver- sche Schrank“ oder auch bloß „el Grande“. schärft auf die Pesete. Sein Trainer Capello sagt, ohne el Grande Dem Ehepaar von den Philippinen dürf- wäre Madrid jetzt nicht Tabellenführer. te das zum Verhängnis geworden sein. So- Früher in Köln mußte der Weltmeister bald der Heimaturlaub vorbei ist, wird von 1990 nicht nur Bälle fangen, sondern auch bei den Illgners Schluß sein. Bianca gelegentlich auch zu seiner Überzeugung läßt sich nämlich „nicht gern bescheißen“. stehen, was er eigentlich nur dann tat, Neulich, sagt sie, sei sie ihnen auf die wenn mal wieder jemand Beschwerden Schliche gekommen. Die beiden mußten über Illgners Ehefrau hatte. Dann gab er In- auf den Markt, zum Einkaufen, für die Illg- terviews und keilte zurück. Wenn er die ners. Bei der Abrechnung war die Chefin Gesprächsmanuskripte noch mal gegenlas, über eine satte Forderung von der Fisch- erschrak er meistens und entschärfte die theke gestolpert. Sie durchkämmte den Sprengsätze. Mülleimer und fand einen Beleg über Lan- Bodo Illgner hat nichts von dem, was gusten. seine deutschen Vorfahren bei Real Madrid Die Filipinos hatten nicht aufgepaßt. Fa- hatten. Günter Netzer hielt es mit den milie Illgner ißt nämlich keine Langusten. 68ern, Paul Breitner mit Mao Tse-tung und Jedenfalls nicht jeden Tag. ™

der spiegel 12/1997 141 Werbeseite

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Werbeseite Sport kompletter Verein dieser Philosophie zum Opfer fällt. EISHOCKEY Letztlich, hält Banghard dagegen, sei mit seiner Halle „doch allen geholfen“, der S-Bahn, der öffentlichen Hand, ganz Ber- „Die machen alles kaputt“ lin. Das habe der Regierende Bürgermei- ster Eberhard Diepgen schon vor Jahren Um den Bau einer Veranstaltungshalle zu realisieren, ließ sich erkannt, als er ihn bekniete: „Herr Bang- hard, können Sie eine solche Halle nicht ein Berliner Immobilienkaufmann zum Präsidenten des privat finanzieren?“ örtlichen Eishockeyklubs wählen – jetzt ist der Verein ruiniert. Der Sohn eines schwäbischen Immobili- enkaufmanns wußte einen Weg, schließ- ntschlossen kreist Axel Banghard, 30, Sport ist Entertainment, und Entertain- lich sei „Berlin ein Markt, der sich rech- mit der vergoldeten Spitze eines Ku- ment ist Geschäft, lautet die moderne De- net“. Erst verfolgte er die Idee einer großen Egelschreibers über dem Modell seiner vise. Gute Unterhaltung aber läßt sich nur Olympiahalle für 20000 Menschen, dann Konzert- und Sporthalle. Wenn zukünftig in einem properen Umfeld produzieren, schwenkte er um auf jenes 130 Millionen S-Bahn-Züge in die derzeit noch brachlie- und dafür ist wiederum Immobilienfach- Mark teure Projekt, bei dem er den S- gende Haltestelle am Olympiastadion ein- mann Banghard zuständig. Bahnhof am Olympiastadion mit einer gefahren seien, trägt der Immobilienkauf- Daß die neuen Macher mit ihrer Hal- Arena nebst Geschäften, Parkhaus und Ho- mann vor, bräuchten die Fahrgäste nur eine tung das Denken und die Ideen der Sport- tel überbauen will. Rolltreppe hinaufschweben,und schon be- väter Neckermann und Daume unter die Einmal in Schwung, entwarf er ein Be- fänden sie sich in der „Arena Berlin“ – als Räder bringen, regt niemanden mehr ernst- treiberkonzept, in dessen Kern der Eis- Konsumenten von Eishockeyspielen, Pop- lich auf. Banghard und Kollegen sind längst hockeysport steht. Mit einem simplen Kniff konzerten oder Operngalas. einen Schritt weiter: Sie nehmen billigend fand er auch den potentiellen Dauermieter: Druckreif kommen dem Gesellschaf- in Kauf, daß, wie beim Berliner Eis- Er ließ sich zum Präsidenten des BSC Preus- ter der Unternehmensgruppe Prinz zu hockeyklub BSC Preussen geschehen, ein sen wählen. Und dessen Eishockeyteam soll Hohenlohe & Banghard die die Berlin-Arena nun an 35 Ta- Grundzüge seiner „Vision“ über gen im Jahr füllen. die Lippen. Technisch betrach- Banghards rigorose Strategie tet stelle die multifunktionale hat Wunden hinterlassen in der Veranstaltungsstätte eine „Fort- Berliner Sportgemeinde. Der schreibung des Madison-Square- Geschäftsmann mit der Vorliebe Garden-Konzepts“ aus New für Gelhaar, so wirft ihm Herr- York dar; und erst einmal in Be- mann Windler, sein Vorgänger trieb, liefere sie einen „wichti- auf dem Präsidentenstuhl vor, gen Part für das Hauptstadt- habe sich „der Spieler und Marketing dieser Stadt“. Sogar damit des Vereinsvermögens sozialpolitisch, führt der alerte bemächtigt“ – allein mit dem Manager aus, sei das Projekt Ziel, seine persönlichen Interes- wertvoll: „Wir wollen den Eis- sen durchzusetzen. hockeysport zum Event für die Wenn Windler, 60, in seinem ganze Familie verändern.“ argentinischen Steakhaus am Was der ehrgeizige Ge- Berliner Funkturm über die ver- schäftsmann bei der Aufzählung gangenen Monate seines Klubs gern unterschlägt, ist sein Ei- räsoniert, treten dem Mann mit gennutz. Der muß beträchtlich der großen Goldrandbrille re- sein, denn um zum Ziel zu kom- gelmäßig Tränen in die Augen- men, hat Banghard das Präsi- winkel. „Ich habe alles mit dem dentenamt des örtlichen Eis- Herzen gemacht“, sagt der Ga- hockey-Erstligisten besetzt, den stronom, „doch die machen al- Ruin des Klubs vorangetrieben les kaputt, die haben den Un- und wohlmeinende Sportförde- tergang der Preussen bösartig rer verprellt. vorbereitet.“ Banghard, der seine Entwick- Windler führte den Verein lungsgesellschaft Phidias mbH zwölf Jahre lang wie ein Patri- nach dem obersten Bauleiter auf arch. „Sicher hatten auch wir der Akropolis (5. Jahrhundert kleine Tricks parat“, bekennt er, vor Christus) benannt hat, steht doch die dienten nur dazu, die als Musterbeispiel für eine neue kostspielige Eishockeytruppe Generation von Sportfunk- bezahlen zu können. Windlers tionären; Leute wie er oder Mi- Hände streichen fast zärtlich chael Payne, Marketingdirektor über den Bildband „Preussen – des Internationalen Olympi- 10 Jahre eine eiskalte Leiden- schen Komitees, folgen nur ei- schaft“. „Nicht nur der Verein nem Antrieb: Sie wollen den ist am Abgrund“, sagt er schließ- Sport höchst profitabel verkau- lich tonlos, „die machen auch fen – als handelten sie mit mich fertig.“

Wurstwaren, Büroflächen oder ENGLER J. Insgeheim wirft sich der ehe- Versicherungspolicen. Eishockeyfunktionär Banghard: „Event für die ganze Familie“ malige Präsident vor, Banghards

144 der spiegel 12/1997 Weg an die Klubspitze unterstützt zu ha- „jegliche Möglichkeit genommen, Einnah- habe. Zudem beschied ihm der Deutsche ben. Er selbst war nach den vielen aufrei- men aus dem Eishockey-Spielbetrieb zu Eishockey-Bund, daß er sich nicht einfach benden Jahren amtsmüde, und Banghard erzielen“. der Amateur- und Jugendabteilung entle- brachte zwei einflußreiche Geschäfts- Es könne nicht angehen, ergänzte Weiss digen könne, und drohte mit Spielsperren freunde mit ins Präsidium: David Gold- in einem zweiten Brief, daß „Du als Pri- für die Profimannschaft – seine Hallen- berg, den „Diamanten-König“ (bild) von vatperson und Gesellschafter der Devils und Eishockeypläne schienen dem Schei- Berlin, und Alfred Weiss, einen stadtbe- GmbH, Dich an dem Aktivvermögen be- tern nah. kannten Großhotelier. dienst und auf der anderen Seite nicht be- Banghard verordnete sich für einige Die wahren Ziele seines Nachfolgers er- reit bist, im Gegenzug schriftliche Ver- Monate Zurückhaltung, unternahm kos- schlossen sich Windler erst, als Banghard pflichtungen gegenüber dem BSC Preussen metische Korrekturen, indem er beispiels- auf der Jahreshauptversammlung begann, einzugehen“. In einem persönlichen Ge- weise die Berlin Devils hauptstadtwürdig den Schuldenstand der Preussen hochzu- spräch mit Weiss erfuhr Windler im De- in „Capitals“ umtaufte, und trat als Präsi- rechnen – was dazu führte, daß dem abge- dent des Altvereins BSC Preussen zurück: wählten Präsidenten von den Mitgliedern „Ich kann es mir nicht bieten lassen, für die Entlastung versagt blieb. alte Steuerschulden persönlich haftbar ge- Später warf ihm der neue Machthaber macht zu werden.“ öffentlich vor, ein Finanzloch von acht Während die Preussen nun schon seit Millionen Mark hinterlassen zu haben, zu- rund vier Monaten ohne Vorstand daste- dem habe der Verein „Steuerhinterzie- hen, hat Banghard als Vorstandsvorsitzen- hung“ und „doppelte Buchführung“ be- der der Capitals GmbH weiter den Zugriff trieben – Windler wurde in die Rolle des auf die Eishockeyprofis. Sorgen bereitet Buhmanns („Rück die Millionen raus“) ge- dem Jungunternehmer nur die sportliche drängt. Entwicklung des Teams, das in der Mei- Wenig später gelang es Banghard mit ei- sterschaftsrunde so schlecht abschnitt wie nem zweiten Schachzug, die Eishockey- lange nicht mehr. Etliche Sponsoren und mannschaft aus dem Verein herauszulösen Tausende von Zuschauern haben sich vom

und zur „Preussen Devils Eishockey 4 CAMERA Klub abgewandt. Spieler berichten, ihnen GmbH“ umzuwandeln. Banghard und Ehemaliger Vereinspräsident Windler seien bereits Gehaltskürzungen angekün- Goldberg wurden Hauptteilhaber, später „Alles mit dem Herzen gemacht“ digt worden. verkaufte Goldberg seine Anteile unter an- Derweil rüstet auch Herrmann Windler deren an Banghards Vater Egon. Für den zember 1995, daß seine Nachfolger von zum letzten Gefecht. Mit 950000 Mark hat- Altverein meldete das Präsidium alsdann Beginn an in Kauf genommen hätten, te der Gastronom einst für seinen Verein Konkurs an. die „Preussen in Konkurs zu treiben“ und gebürgt, nun verlangen die Banken das Banghards Gangart war so forsch, daß es sich die Eishockeyprofis „umsonst“ anzu- Geld für die Kredite zurück. selbst den Vorstandskollegen bald zuviel eignen. Sein Nachfolger habe das „Vereinsver- wurde: Goldberg und Weiss ließen dem Nach den Interventionen seiner Vor- mögen verschleudert“ und „bestehende Chef ein Einschreiben zukommen, in dem standskollegen, die um ihren guten Ruf in Forderungen nicht eingetrieben“, sagt sie ihn aufforderten, die alten Preussen zu Berlin bangten, wurde es einsam um Bang- Windler. Er will Banghard deshalb verkla- sanieren und die öffentlich zugesagte Ent- hard. Er zog den Konkursantrag zurück gen. Denn wenn er wirklich noch für alte schuldung einzuleiten. Denn durch die und gab öffentlich zu, daß Windler nicht Klubdarlehen aufkommen müsse, klagt der „übereilte Gründung“ der Devils, klärten acht Millionen Mark Schulden, sondern kaltgestellte Eishockeyfan, „dann bin ich sie ihren Vorsitzenden auf, sei dem Verein weniger als vier Millionen hinterlassen kurz vor meiner Rente ruiniert“. ™

Modell der Veranstaltungshalle über dem S-Bahnhof Olympiastadion: „Wichtiger Part für das Hauptstadt-Marketing dieser Stadt“

der spiegel 12/1997 145 Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

CHINA teidigungsminister auf einem Geheimtreffen Spalter des in Taschkent fest. Eine der Varianten sieht Mutterlandes? die gemeinsame Auf- stellung von zwei mo- er Dalai Lama betritt diese Woche torisierten Divisionen Derstmals wieder chinesischen Boden, vor. Selbst Usbeki- seit er 1959 ins indische Exil geflüchtet war. stan, bislang engster Aber nicht heim in die Volksrepublik Chi- Verbündeter des im na will das Oberhaupt des buddhistischen afghanischen Norden Lamaismus reisen, wie Peking immer wie- herrschenden Taliban- der gefordert hat; vielmehr besucht der Gegners Abdul Ra- Friedensnobelpreisträger die unabhängige schid Dostam, traut „Republik China“, die chinesische Insel der Abwehrfront in Taiwan. Deren frei gewählter Präsident Lee Afghanistan nicht

Teng-hui gilt in Peking als „Separatist, der REUTERS mehr. Verteidigungs- das Mutterland spalten will“ – gleiches Taliban in Afghanistan minister Achmedow werfen die Kommunisten auch dem Dalai läßt deswegen Reser- Lama vor. „Wenn es zu einem Treffen MITTELASIEN visten mobilisieren. Das benachbarte Ta- kommt“, warnte Chinas Außenministe- dschikistan hat sich bereits aktiv in den rium, „wird das schwere Konsequenzen Furcht vor Taliban Kampf gegen die fundamentalistischen Ta- haben.“ Den Christen Lee kümmern die liban eingeschaltet: Es stellte dem früheren Drohungen wenig, zumal er innenpolitisch ußland und die Armeen der mittelasia- Kabuler Verteidigungsminister Ahmed nur von dem Dalai-Lama-Besuch profitie- Rtischen GUS-Republiken wappnen sich Schah Massud den Militärflugplatz Kuljab ren kann. Neun Millionen Taiwaner be- gegen einen weiteren Vormarsch der af- als ständige Basis zur Verfügung. Von dort ghanischen Taliban-Krieger. Sollten sich aus starten dreimal täglich Transporter mit die Truppen der neuen Kabuler Macht- Waffen nach Afghanistan. In Kuljab werden haber der südlichen GUS-Grenze nähern, angeblich auch tadschikische Freiwillige für werde „adäquat reagiert“, legten die Ver- Massuds Armee ausgebildet.

RUSSLAND Werktätigen soll der starke Mann des Ka- binetts, der neue Erste Vizepremier Ana- Streik wegen Schulden tolij Tschubais, die Massenaktion ausreden. Fehlendes Geld will Macher Tschubais vor

GAMMA / STUDIO X räsident Boris Jelzins neue Regierung allem beim Volk eintreiben und die Mieten Dalai Lama Psteht vor ihrer ersten Herausforderung. stark anheben. Wie das trotz Lohnschul- Am 27. März wollen Arbeiter und Staats- den funktionieren soll, ist schleierhaft. Bei kennen sich zum Buddhismus. Lees stärk- bedienstete landesweit in den Streik treten. Mißerfolg könnte der in Kaderfragen raffi- ste Konkurrenz, die oppositionelle Demo- Ihre Forderung: Auszahlung von umge- nierte Jelzin seinen Wahlkampfmanager kratische Fortschrittspartei, ließ in einigen rechnet etwa 15 Milliarden Mark an aus- und Kanzleichef Tschubais rasch der Op- Städten schon die Flagge Tibets hissen. stehenden Löhnen. Den aufgebrachten position zum Opfer darbieten.

AFRIKA schwörungen; er hat deshalb SOYINKA: Nein, aber wir for- Offiziere umbringen lassen, an- dern, Maßnahmen der Junta „Unsere Waffe ist dere wurden inhaftiert oder zu boykottieren, etwa die aus der Armee entlassen. Der für das Frühjahr angesetz- ein Sender“ Junta-Chef macht sich immer ten Kommunalwahlen. Solche mehr Todfeinde in den Streit- „Demokratisierungsschritte“ Nigerias Militärregime hat den Schriftstel- kräften; die wissen, wie man sind nichts als Täuschung. ler Wole Soyinka, 62, wegen Landesver- mit Sprengstoff umgeht. Abacha will der Welt etwas rats angeklagt. Dem im Exil lebenden SPIEGEL: Und mit welchen Mit- vorgaukeln. Nobelpreisträger droht die Todesstrafe. teln kämpft Ihre Oppositions- SPIEGEL: Wie sollte der Westen bewegung gegen die Junta? auf Abacha reagieren?

SPIEGEL: Die Militärregierung wirft Ihnen SOYINKA: Unsere wichtigste GAMMA / STUDIO X SOYINKA: Nach der Hinrich- vor, in Sprengstoffanschläge verwickelt zu Waffe ist „Radio Kudirat“, be- Soyinka tung meines Kollegen Ken sein. nannt nach Kudirat Abiola, der Saro-Wiwa im November 1995 SOYINKA: Eine dreiste Lüge, um mich und ermordeten Frau des eingekerkerten Sie- sah es so aus, als ob die internationale die demokratische Opposition zu verun- gers der Wahlen von 1993, Moshood Abio- Gemeinschaft die Diktatur ächten würde. glimpfen. Der Diktator Abacha will mich la. Über Kurzwelle aus dem Ausland und Einige Staaten zogen ihre Botschafter aus ausschalten. über mobile UKW-Sender innerhalb Nige- Nigeria ab,Wirtschaftskontakte wurden un- SPIEGEL: Wer ist denn nach Ihren Erkennt- rias agitieren wir gegen die Diktatur. Die terbrochen. Leider ist davon nichts übrig- nissen für die jüngsten Anschläge auf Ar- Militärs hassen die Sendungen, die Bevöl- geblieben. Ich bedaure, daß eine interna- mee-Einrichtungen verantwortlich? kerung liebt sie. tionale Boykottbewegung gegen das Ter- SOYINKA: Alles spricht dafür, daß es Solda- SPIEGEL: Rufen Sie zum bewaffneten rorregime in Nigeria nicht zustande ge- ten sind. Abacha fürchtet ständig Ver- Kampf auf? kommen ist.

der spiegel 12/1997 147 Ausland

ALBANIEN Selbstmord einer Nation Der Präsident entmachtet, die Regierung ohne Autorität, die Armee in Auflösung: In Albanien, dem Armenhaus Europas, herrscht Gesetzlosigkeit, bewaffnete Banden terrorisieren das Land. Der Westen überließ den Balkanstaat vorerst sich selbst.

eim Abflug rief der kleine Mann sei- Festival der Kalaschnikows im ärmsten In der Hauptstadt wollten manche wis- nen Anhängern noch zu: „Ich gehe Land Europas beenden zu können. Der sen, der Präsident sei untergetaucht, er Bnach Tirana, um den Präsidenten zu landesweite Waffenraub folgte längst eige- wolle sich in die Türkei absetzen, oder er stürzen. Wenn ich wiederkomme, feiern nen Gesetzen – angeheizt durch den Prä- befinde sich auf einer Jacht in der Adria; wir unseren Sieg.“ Die Menge jubelte, sidenten wie durch seine Widersacher. von dort gebe er über Funk Anweisungen Männer und Halbwüchsige feuerten Freu- Eine „Verwilderung der ganzen Gesell- an seine getreue Leibgarde, die Revolte denschüsse in die Luft, Frauen küßten schaft“ konstatierte der Schriftsteller Ismail weiter zu schüren. Gerüchten zufolge hat- ihren Helden auf die Wangen. Kadare. Es war, als holte Albanien, mehr als te Berisha vergebens versucht, Zuflucht in Bashkim Fino, 34, soeben zum Minister- 40 Jahre lang die bizarrste und stalini- der US-Botschaft zu finden. präsidenten ernannt, spreizte ein letztes stischste Diktatur des gesamten Ostblocks, Panik, Verzweiflung und eine mörderi- Mal Zeige- und Mittelfinger zum Victory- die eigene mörderische Vergangenheit wie- sche Wut schienen ganz Albanien im Griff Zeichen. Dann hob der Hubschrauber vom der ein: Schon 1942/43 hatte sich das Land zu halten. In das Vakuum, das der Zusam- Militärflughafen in Gjirokastra ab, wo Fino in ein kommunistisches und ein nationali- menbruch des Kommunismus hinterlassen hatte, schlich sich, so der Literat Kadare, ein „vollständiger Amoralismus“ ein. Min- destens hundert Menschen kamen bis Ende vergangener Woche ums Leben. Während gegen Ende letzter Woche erst- mals auch tagsüber Gewehrsalven durch die Straßen Tiranas peitschten, sorgten die 300000 Bewohner der Hauptstadt für die drohende Katastrophe vor. Die meisten Geschäfte blieben geschlossen, überall gin- gen die Rolläden herunter. Nur Bäckerei- en öffneten für wenige Stunden.Aus staat- lichen Vorratslagern schleppten Frauen Kartoffel- und Mehlsäcke nach Hause. Kin- der und Jugendliche streunten durch die Straßen und plünderten, was noch zu ha- ben war – als Notreserve für die befürch- teten Tage eines Bürgerkriegs. Die Armee ließ nur noch im Regie- rungsviertel Posten aufziehen, Polizei war nicht zu sehen, die Staatsmacht schien sich in der Hauptstadt verflüchtigt zu haben – ein Volk stand vor dem kollektiven Selbst- mord, wie Kadare klagte. Richtung Süden Präsident Berisha, Premier Fino: „Es gibt keinen Staat mehr“ wälzte sich ein dichter Strom von Flücht- lingen, auf Karren und Eseln. „Tirana, das bis zu seiner Absetzung vor einem Jahr stisches Lager gespalten, deren Anhänger Saigon Europas“, entsetzte sich der italie- Bürgermeister war, und entschwand hinter einander erbarmungslos bekämpften. nische corriere della sera in Erwartung den schneebedeckten Berggipfeln. Statt ihre Waffen gegen die Zusage einer eines Ansturms übers Meer. Doch schon nach ersten Begegnungen Amnestie abzuliefern, besorgten sich Auf- Von Süden nach Norden war Stadt um mit Präsident Sali Berisha wich Finos re- ständische immer mehr Kriegsgerät, gaben Stadt in die Hände von „Rebellen“ gefal- volutionäres Fieber jäher Ernüchterung. Berisha-Gefolgsleute auch noch die letzten len, die eigentlich eher Banditen als Be- Der neuerkorene sozialistische Regierungs- Depots auf. Aus dem Beraterkreis des So- freiungskämpfer waren. Am Beginn des chef Albaniens erkannte, daß er in eine zialisten Fino verlautete, der Präsident Aufruhrs stand auch in Tirana der Sturm Falle getappt war, daß es für ihn gar nichts habe seinen neuen Premier bei einem Vier- auf Kasernen und Waffendepots; dann zu regieren gab. Die Staatsgewalt war da- augengespräch angeherrscht: „Ihr Roten raubte der Mob alles, was er ausfindig bei, sich aufzulösen; Albanien versank in habt zum Bürgerkrieg aufgerufen, jetzt machen konnte. Nirgendwo trafen die Anarchie. sollt ihr ihn auch haben.“ Kalaschnikow-Gangs auf Gegenwehr der Finos Auftrag zur Bildung einer Über- In einem Anfall von Jähzorn habe Be- Armee oder der Polizei. gangsregierung mit Vertretern aus allen po- risha seiner Verbitterung freien Lauf ge- „Es gibt keinen Staat mehr in Albanien“, litischen Lagern und das Versprechen, Neu- lassen: Wenn er schon untergehe, solle bekannte Finos Beraterin Arta Dade im lo- wahlen abzuhalten, kamen zu spät, um das auch das Land in Schutt und Asche fallen. kalen Rundfunk, „alle fürchten sich vor

148 der spiegel 12/1997 der Gesetzlosigkeit, vor einer Situation, in der jeder bewaffnet ist, in der jeder von je- dem grundlos überfallen, niedergeschlagen oder erschossen werden kann“. Eine solche Auflösung aller Strukturen und aller Skrupel schien bisher nur in den verkommensten Ländern der Dritten Welt vorstellbar, etwa in Zaire, dem finsteren Herzen Afrikas, nicht aber in Europa, bei einem Volk, das zwar rückständig und iso- liert gelebt, aber nie Aggressionen gegen seine Nachbarn gezeigt hatte. Dennoch ist die albanische Rebellion keineswegs der Aufstand eines drang- salierten Volkes gegen ein unterdrückeri- sches Regime. In den Unruhen mischen un- belehrbare Kommunisten, schlechtbezahl- te, um frühere Privilegien gebrachte Ge- heimpolizisten und Mafiosi aller Art mit, die eine unheilige Allianz eingegangen sind. Die südliche Hafenstadt Vlora, in der die Explosion ihren Anfang nahm, gilt als Schlüssel zum Verständnis der gegenwärti- gen Ereignisse. Nach dem Abgang des al- ten Regimes 1992 bemächtigte sich eine fieberhafte Gier nach schnellem Reichtum der Stadt; die besten Verdienstmöglichkei- ten hatten Schmuggler, die Waren, Waffen und Flüchtlinge nach Serbien, Griechen- land und Italien schleusten. In das lukrati- ve Geschäft stiegen viele Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter ein. Vom neuen Regime in Tirana erwarteten die Profiteure völlige Passivität; jeder Ver- such, staatliche Autorität durchzusetzen, wurde als Rückkehr zum Kommunismus geschmäht. Die Menschen begriffen die neue demokratische Ordnung als Gele- genheit zur Bereicherung um jeden Preis – auch mit Verbrechen und Korruption. Berishas Regierung und die Demokrati- sche Partei schauten dem Treiben lange zu, sie ermutigten es sogar. In der allgemei- nen Permissivität konnten auch die betrü- gerischen Pyramidensysteme wuchern, die Kapital gegen hohe Zinsen anlockten. Politiker, die den Betrug durchschauten, verdienten eifrig mit. Erst im vergangenen Herbst versuchte Berisha, unter Druck gesetzt von Grie- chenland und Italien, der Mafia in Vlora das Handwerk zu legen. Schnellboote der Schmuggler wurden beschlagnahmt, die Unzufriedenheit wuchs – bis der Zusam- menbruch der dubiosen Bankinstitute zu einer Eruption des Volkszorns führte. Mafiosi, zwielichtige Schieber und Bank- rotteure konnten sich plötzlich als Voll- strecker des demokratischen Willens auf- spielen. In einem psychotischen Klima, wo jeder jeden verdächtigte, war es leicht, die Ver- unsicherung immer weiter zu schüren. Da hieß es in Tirana, der gefürchtete Geheim- dienst Shik, jener unsichtbare Feind, habe das Trinkwasser in einem Stadtbezirk ver-

SIPA giftet. Ein andermal wurden Berisha-Agen- Aufständische, erbeutete Waffen: „Allgemeine Verwilderung“ ten beschuldigt, Feuer in einer Bäckerei

der spiegel 12/1997 149 Ausland oder in einem Elektrizitätswerk gelegt zu mand wollte sich mit einer Intervention traulich – über „Optionen“ zur Rettung haben. den Anschein geben, Partei in diesem Kon- der Deutschen aus Tirana informiert. Da Um sich gegen vermeintliche Spitzel und flikt zu ergreifen, in dem es keine Fronten war noch nichts entschieden. Aber selbst Provokateure zu wehren, griff das Volk mehr gab. „Ich lehne einen militärischen die Grünen bedeuteten, sie würden den auch zur Selbstjustiz: Verdächtige wurden Einsatz ab“, so Bonns Verteidigungsmini- Einsatz nicht kritisieren. Erst nach Rück- ergriffen, mißhandelt und erschossen. ster Volker Rühe kategorisch: „Was sollen sprache mit Kanzler Kohl gab Rühe den In der allgemeinen Konfusion öffneten wir den Soldaten denn sagen?“ Einsatzbefehl. Diese Woche soll der Bun- sich selbst die Gefängnistore: Aus der Haft- Deutsche, Amerikaner wie Italiener be- destag die Aktion („Nothilfe“ laut Kinkel) anstalt im Zentrum der Hauptstadt bra- schränkten sich auf Evakuierungen. Ob- nachträglich gutheißen. chen alle 600 Insassen aus, neben Gewalt- wohl ein US-Helikopter am Freitag nach- Aber ein politisches Konzept zur Be- verbrechern so prominente politische Ge- mittag mit einer SA-7-Rakete beschossen friedung des Landes hatte der Westen fangene wie der letzte kommunistische wurde und die USA alle Rettungsflüge nicht. „Gequält und ausgesaugt bis aufs Staatspräsident Ramiz Alia und der Par- Blut nach einem halben Jahrhundert der teivorsitzende der Sozialisten, Fatos Nano. Bonn lehnt einen militärischen Diktatur, verdient das albanische Volk Albanien taumelte auf den Abgrund zu: Einsatz ab: „Was sollen nicht das grausame Schicksal, völlig al- Jede Familie wollte bewaffnet sein, 100000 leingelassen zu werden“, appellierte der Kalaschnikows, über 80 Panzer, 30 Kampf- wir den Soldaten denn sagen?“ Schriftsteller Kadare an das Gewissen der flugzeuge und die halbe Kriegsflotte be- Europäer. „Warum nicht eine militärische fanden sich nach Schätzungen westlicher stoppten, landeten fünf CH-53-Transport- Präsenz, die den Auftrag hätte, nicht zu Diplomaten in den Händen unkontrollier- hubschrauber der Bundeswehr nahe der unterdrücken, sondern dazwischenzuge- barer Banden. Und deren Anführer scher- deutschen Botschaft in Tirana. 25 Grena- hen, ein Puffer, der so lange vor Ort blei- ten sich nicht mehr um politische Verän- diere sicherten die Aktion. ben müßte, bis die Geister sich wieder be- derungen, ihnen ging es allein um den Ver- Unter Beschuß verzweifelter Albaner, ruhigt haben?“ kauf ihrer heißen Ware. die sich einen Platz erzwingen wollten, lu- Auch der frühere österreichische Kanz- In dieser ausweglosen Situation wandten den die Hubschrauber 20 Bundesbürger ler Franz Vranitzky, der sich als OSZE-Ver- sich Berisha und Fino an die Westeuropäi- und 100 Ausländer auf. 3 Albanern gelang mittler auf einem italienischen Kriegsschiff sche Union und die Nato mit der Bitte, es in dem Durcheinander, an Bord zu klet- mit Vertretern der Übergangsregierung und schnellstens Friedenstruppen zu entsen- tern und nach Deutschland mitgenommen der Rebellen traf, sah „keine Alternative den, „um die verfassungsmäßige Ordnung zu werden – wo sie vorerst auch bleiben zu einer Intervention von außen“. Doch wiederherzustellen und die Integrität Al- dürfen. er versprach Ministerpräsident Fino ledig- baniens zu bewahren“. Am Vormittag hatten Rühe und Außen- lich, sich um eine „Koalition der Willigen“ Doch die Europäer wehrten ab, zu un- minister Klaus Kinkel die Experten von zu bemühen. Nur, woher sollten die übersichtlich schien ihnen die Lage. Nie- Koalition und Opposition – streng ver- kommen? ™ A. ZAMUR / GAMMA STUDIO X Russisches Kontingent bei den internationalen Friedenstruppen in Bosnien (1994): „Unter dem Nato-Schirm ist Moskau dabei“

NATO „In Grauzonen entstehen Kriege“ Interview mit Amerikas früherem Bosnien-Unterhändler Richard Holbrooke über die umstrittene Ost-Erweiterung der Allianz

Holbrooke, 55, einer der führenden Außen- ren. Kampftruppen der Alliierten rückten SPIEGEL: Trotzdem gefällt Moskau die neue politiker der Demokraten, war Staatsse- nach Ende des Kalten Krieges erstmals in Nato überhaupt nicht. kretär im State Department unter Jimmy Krisengebiete ein, in Bosnien. Das war ein HOLBROOKE: Rußland ist ebensowenig Geg- Carter. Nach seiner Botschafter-Zeit in dramatischer Wendepunkt für das west- ner der Nato, wie das Bündnis der Feind Bonn (1993 bis 1994) hat er als Bosnien- liche Bündnis. Rußlands ist. Die Nato ist zu einem wich- Beauftragter der US-Regierung das Frie- SPIEGEL: Warum ist Bosnien für die Ent- tigen Element des strategischen Gleichge- densabkommen von Dayton entscheidend wicklung der Allianz so bedeutsam? wichts in Europa geworden. Die Geschich- mitgestaltet. HOLBROOKE: Erstens, der Auftrag dort lau- te lehrt, daß Deutschland nicht daran in- tet, Frieden schaffen und erhalten. Zwei- teressiert sein kann, die Ostgrenze einer SPIEGEL: Herr Botschafter, Präsident Bill tens, Moskau ist dabei – unter dem Nato- westlichen Sicherheitszone zu sein. Die Clinton wird seinem russischen Amtskol- Schirm. Drittens nehmen noch mehr Län- Deutschen sind daher die größten Nutz- legen Boris Jelzin beim Gipfeltreffen in der teil, die nicht dem Bündnis angehören. nießer der Nato-Ausdehnung nach Osten. Helsinki mitteilen, daß der Westen sich Und viertens machen sogar die Franzosen SPIEGEL: Wie auch immer die Sache ge- nicht davon abbringen läßt, Polen, Ungarn mit. Das alles belegt die dramatische Ent- dreht wird, für die Russen ist die Ost- und Tschechien alsbald in die Nato aufzu- wicklung der Allianz. Erweiterung der Nato eine Herausforde- nehmen. Warum die Hast? rung, weil sie draußen gelassen werden, HOLBROOKE: So eilig haben wir es doch also doch als der potentielle Feind gelten. gar nicht. Präsident Clinton kündigte schon HOLBROOKE: Die Russen wissen genau, daß 1994 – mit Wissen und Zustimmung der eine vergrößerte Nato nicht mehr Gefahr Alliierten – die Erweiterung der Nato an. für sie bedeutet als das Bündnis von heu- Nichts passierte, bis wir Ende dessel- te. Sie wissen, daß die westliche Allianz ben Jahres Verhandlungen mit beitritts- nicht länger wie gebannt auf Moskau starrt willigen Ländern aufnahmen. Nun ist es und Rußland auch nicht mehr als Gegner an der Zeit, den Schritt zu wagen, sonst ansieht. Das Ziel der Nato-Erweiterung – sieht es so aus, als hätten wir es nie ernst Stabilität in Mitteleuopa – liegt nicht nur in gemeint. unserem Interesse, sondern mindestens SPIEGEL: Der Kalte Krieg ist gewonnen, die ebenso im russischen. einst gefürchtete Sowjetarmee liegt am Bo- SPIEGEL: Für Sie sind Rußlands Sorgen also den. Die Nato ist ein Militärbündnis ohne bloße Hirngespinste? Feind; hat sie Schwierigkeiten, ihre Da- HOLBROOKE: Für die Haltung der Russen

seinsberechtigung zu beweisen? M. FEANNY / SABA gibt es drei Gründe: Erstens sehen sie die HOLBROOKE: Die Nato hat überhaupt kein Außenpolitiker Holbrooke Nordatlantische Gemeinschaft noch immer Problem, ihre künftige Rolle zu definie- „Deutsche sind die größten Nutznießer“ so, wie es ihnen im Kalten Krieg einge-

der spiegel 12/1997 151 Ausland hämmert wurde; zweitens wollen sie mit ren könnten den Zusammenhalt der Alli- SPIEGEL: Der Umfang der Nato-Erweite- ihrem Widerstand möglichst viele Zuge- anz gefährden … rung ist noch umstritten. Bonn und Wa- ständnisse herausholen, ehe sie schließlich HOLBROOKE: … ja, dazu besteht Anlaß. shington wollen nur die drei mitteleu- doch einlenken; und drittens haben wir bei SPIEGEL: Wie wollen Sie das in einer Or- ropäischen Anwärter aufnehmen. Rom der Aufklärung der Russen über die Nato ganisation verhindern, in der Rußland halb möchte Slowenien, Paris Rumänien auf- von heute ganz einfach versagt. drinnen und halb draußen ist? nehmen. Warum nicht die Balten, Bulgari- SPIEGEL: Wie hoch darf der Preis denn sein, HOLBROOKE: Wir müssen sorgsam zwischen en oder gar die Ukraine? Wodurch wird den die Russen für ihre Zustimmung be- Information, Konsultation und Koordinati- eigentlich die Ausdehnung der Nato be- kommen? Moskau beharrt schon jetzt dar- on unterscheiden. Statt die Russen nur zu grenzt – durch die Bedrohung, durch geo- auf, daß der neu zu schaffende Nato-Ruß- informieren, sollten wir mit ihnen beraten. graphische Grenzen oder einfach nur durch land-Rat und nicht die Versammlung der Keinesfalls dürfen wir jedoch erlauben, daß die politische Berechnung? HOLBROOKE: Das ist in der Tat die zentrale Frage. Fest steht, daß in der ersten Phase Polen, Ungarn und Tschechien dazustoßen werden. Danach wird es außerordentlich schwierig. Staaten, die früher zur Sowjet- union gehörten, müssen anders behandelt werden als die übrigen. Die baltischen Na- tionen waren zwar Teil der UdSSR, was aber von den USA nie anerkannt worden ist. Die Ukraine will gar nicht Mitglied wer- den. Das galt bislang auch für Bulgarien, obwohl sich die Einstellung dort vielleicht gerade ändert. SPIEGEL: Was soll denn mit denen gesche- hen, die jetzt nicht aufgenommen werden? HOLBROOKE: Moskau wird mit aller Macht darauf drängen, daß die erste Gruppe auch die letzte ist. Wir müssen diese Frage je- doch auf jeden Fall offenhalten. Im übrigen sollten wir diesen Aspiranten Sicherheits- garantien anbieten, die über die Teilnahme am Programm „Partnerschaft für den Frie-

H. HAGEMEYER / TRANSPARENT H. HAGEMEYER den“ hinausgehen, aber unterhalb der Manöver deutscher, dänischer und polnischer Soldaten (1995): „Die Neuen müssen ran“ Schwelle der Mitgliedschaft bleiben. SPIEGEL: Entsteht da nicht eine undurch- bisherigen Bündnispartner künftig die Moskau an der Koordination unserer Ak- sichtige Grauzone? wichtigen Entscheidungen treffen müsse. tivitäten, am eigentlichen Entscheidungs- HOLBROOKE: Das ist unvermeidbar und die HOLBROOKE: Das ist ein ganz kritischer prozeß, teilnimmt.Von allen europäischen eigentliche Gefahr. In Grauzonen entste- Punkt. Wenn Moskau über dieses neue Ländern sollte besonders Deutschland die- hen Kriege. Wenn dem Deutschen Reich Gremium mehr als nur beratenden Einfluß se Conditio sine qua non verstehen. 1914 unzweifelhaft klar gewesen wäre, daß gewinnen sollte, würde das die Allianz nicht SPIEGEL: Verstärken neue Mitglieder nicht der Einmarsch in Belgien nach dem Schlief- nur schwächen, sondern sie funktionslos die Gefahr, daß es – wie zwischen Grie- fen-Plan automatisch die Briten in den machen. Eine solche Entwicklung würde chenland und der Türkei – innerhalb des Krieg ziehen würde, hätten sie sich das im Kongreß in Washington außerordentlich Bündnisses zu Konflikten kommt? Ganze vielleicht noch einmal überlegt. feindselige Reaktionen auslösen. HOLBROOKE: Wenn die Zahl der Stimmen Und wenn die Westmächte 1938 die Tsche- SPIEGEL: Wird der US-Senat der Nato-Er- größer wird, wächst die Gefahr des Miß- choslowakei nicht faktisch zur Grauzone weiterung ohne Probleme zustimmen? klangs. Die Geschichte der Krisen zwi- erklärt hätten, wäre der Zweite Weltkrieg HOLBROOKE: Mit jedem neuen Mitglied vielleicht vermieden worden. Oder, um ein muß ein bilateraler Vertrag abgeschlossen „Moskau wird mit aller Macht aktuelleres Beispiel zu nehmen, wenn die werden, den der Senat mit Zweidrittel- darauf drängen, die Amerikaner 1991 in Belgrad unmißver- mehrheit ratifizieren muß.Wenn diese Ver- ständlich erklärt hätten, daß die Nato jeden träge 1999 vorliegen, werden sie problem- Neuzugänge zu begrenzen“ Angriff auf Bosnien oder Kroatien mit los verabschiedet, da bin ich sicher. Bomben beantworten würde, wäre es ver- SPIEGEL: Selbst angesichts der Kosten von schen Ankara und Athen ist allerdings nicht mutlich gar nicht zum Bürgerkrieg ge- vielleicht 125 Milliarden Dollar? nur besorgniserregend, sondern auch lehr- kommen. Wir müssen uns der Grauzonen HOLBROOKE: Das wird aufgeteilt. reich. Wären die beiden nicht Nato-Mit- daher besonders annehmen. SPIEGEL: Die Nato-Aspiranten klagen, daß glieder, hätten wir nicht nur eine Zypern- SPIEGEL: Glauben Sie, daß die erweiterte sie nicht zahlen können. Die Westeuropäer krise, sondern längst einen großen Krieg Nato denselben Einfluß auf die erste Hälf- scheinen nicht willens, Milliarden für etwas erlebt. Es ist allerdings außerordentlich te des nächsten Jahrhunderts haben wird aufzubringen, das sie als amerikanisches wichtig, daß Neumitglieder keinen un- wie die alte Allianz bisher? Projekt empfinden. Wird Washington den nötigen Ballast mit ins Bündnis bringen. HOLBROOKE: Die Nato ist mit Abstand Löwenanteil übernehmen? Zum Glück hat sich in dieser Frage ja auch die erfolgreichste Verteidigungsorgani- HOLBROOKE: Die Neumitglieder werden einiges getan: Deutschland und Tschechien sation in Friedenszeiten. Eines ist sicher: schon ranmüssen. Es gibt keinen Freifahrt- haben die Frage der Sudetendeutschen ge- Wenn die Nato keine neuen Mitglieder schein. Sie wollen hinein in die Allianz, regelt. Italien und Slowenien sind sich aufnimmt und friedenserhaltende Aufga- dann müssen sie auch zahlen. nähergekommen. Und auch Ungarn hat ben außerhalb ihres eigentlichen Kern- SPIEGEL: Selbst Befürworter der Nato-Er- Differenzen mit seinen Nachbarn Rumä- gebiets ablehnt, wird sie bedeutungslos weiterung befürchten, die neuen Struktu- nien und Slowakei abgebaut. werden. ™

152 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Zwei der in Rücken und Hals getrof- fenen Mädchen starben an Ort und Stelle, fünf weitere später in Krankenhäusern; sechs Mädchen und eine Lehrerin wur- den verletzt. Die Lehrer hatten gegen eindeutige Be- stimmungen ihrer Behörde verstoßen. Zwar ist Naharajim ein beliebtes Ausflugs- ziel für Israelis und Touristen, aber für Schulklassen ist der Ort tabu. Denn das is- raelische Erziehungsministerium schreibt vor, daß bei Ausflügen jeweils 15 Kinder von einem bewaffneten Erwachsenen be- gleitet werden müssen. Und die Jordanier, denen die Sicherheitsaufsicht über die In- sel des Friedens obliegt, dulden nicht mehr als vier bewaffnete Israelis gleichzeitig auf ihrem verpachteten Gebiet. Der Täter, Vater von drei Kindern, war bis dahin weder als Mann mit radikalen

DPA politischen Ansichten noch als religiöser Angegriffene Schülerinnen in Naharajim: Ausflüge nur mit bewaffneten Begleitern Fanatiker aufgefallen. Über seine Motive gibt es noch nicht einmal Spekulationen. Gewalt gesiegt hatte – so schien es jeden- Gleichwohl hatte der Wahnsinn Logik, NAHOST falls bis letzte Woche. war der Tatzeitpunkt nur scheinbar will- Doch dann wurde aus der Oase fried- kürlich gewählt. Mustafa folgte dem Bei- Rollende licher Koexistenz eine blutige Mordstät- spiel anderer Amokläufer, etwa dem jüdi- te, gefährdete ausgerechnet hier ein schen Siedler Baruch Goldstein, der in He- Massaker den nahöstlichen Versöhnungs- bron ein Massaker unter Palästinensern an- Bulldozer prozeß. richtete, oder dem israelischen Soldaten Als etwa 80 Mädchen der Amit-Fürst- Noam Friedman, der ebenfalls in Hebron Die Mordtat eines jordanischen Schule im israelischen Bet Schemesch ohne Vorwarnung auf Passanten feuerte. vorigen Donnerstag auf einem Ausflug in Die Mordschützen zeigen, wie tief der Haß Soldaten verschärft eine den Norden des Landes die Friedensgren- im Nahen Osten ist und wie plötzlich er explosive Situation – Premier ze besichtigen wollten, eröffnete ein jor- ausbrechen kann – vor allem, wenn Pro- Netanjahu brüskiert danischer Grenzsoldat das Feuer. „Du vokationen die politische Spannung wieder Arafat und König Hussein. Verrückter“, schrien seine Kameraden, einmal unerträglich gesteigert haben. während der Gefreite Ahmed Jussif Mu- Auch diesmal hatte sich die Entwicklung elmut Kohl schwieg bewegt und stafa aus einem Jeep anlegte; aber bevor im nahöstlichen Friedensprozeß unaufhör- ließ seinen Blick über die biblische sie ihm die Waffe entrissen, konnte er das lich zugespitzt. Mehrere Tage lang weiger- HLandschaft schweifen. Der Kanz- Magazin wechseln und aus 50 Meter Ent- te sich PLO-Chef Jassir Arafat vergangene ler war ganz offensichtlich beeindruckt fernung noch einmal abdrücken. Woche sogar, Telefonanrufe des israelischen von der Einzigartigkeit des Ortes. „Kein Premiers Benjamin Netanjahu entgegen- Platz kann besser veranschaulichen als zunehmen. Und Jordaniens König Hussein dieser, daß wir uns bereits im Frieden hatte dem Likud-Mann in einem bitteren befinden“, sagte Jordaniens König Hus- Brief das Vertrauen aufgekündigt – er ge- sein zu ihm. Israels Regierungschef fährde den Frieden mit seinem Plan, eine Jizchak Rabin nickte dazu. Siedlung für 35 000 Juden im arabischen Das war im Juni 1995, und seitdem trägt Ostteil Jerusalems bauen zu lassen: „Ihre das Gebiet von Naharajim an der Grenze Handlungsweise scheint darauf aus, alles zwischen Israel und Jordanien, wo die drei zu zerstören, woran ich glaube.“ Staatsmänner sich versammelt hatten, den Bibi Netanjahu hat sich die Verschär- Namen „Insel des Friedens“. Die beson- fung der Situation weitgehend selbst zu- deren politischen Umstände machten das zuschreiben. So ungeschickt und wider- etwa einen Quadratkilometer große Gelän- sprüchlich hat der Likud-Chef in den neun de zu einem Symbol für die Versöhnung Monaten seiner Amtszeit agiert, daß er sich der ehemaligen Todfeinde. nunmehr inmitten schier unlösbarer Wi- Hier, knapp zehn Kilometer südlich des dersprüche gefangen sieht. Sees Genezareth, wo der Jordan und der Mit seiner Entscheidung, auf dem Hügel Jarmuk zusammenfließen, überließ Jor- Har Homa eine Siedlung zu bauen, hatte er danien beim Friedensschluß mit Israel die Palästinenser bis aufs Blut gereizt.Auch 1994 jüdischen Bauern arabisches Land fiel der Umfang des angekündigten Rück- zur Pacht, das zuvor an Jordanien zurück- zugs aus dem Westjordanland mit nur neun gegeben worden war. Naharajim ist eine Prozent der besetzten Fläche für die er- der wenigen Stätten im Heiligen Land, wartungsvollen Palästinenser so gering aus, wo Vernunft über Ideologie, Religion und daß Arafat sie mehr als Demütigung denn

REUTERS als Befreiung empfinden mußte. „Netan- * Bei einer Gedenkfeier für den verstorbenen Premier Ministerpräsident Netanjahu* jahu will die Torte essen, ohne sie anzu- Menachem Begin am vergangenen Donnerstag. „Entschlossen gegen die ganze Welt“ schneiden“, spottete das israelische Blatt

154 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland haaretz über den friedenspolitischen Zickzackkurs. Der tief geschockte König Hussein SEKTEN wollte gleich nach der Bluttat auf der „Friedensinsel“ die trauernden Familien- angehörigen in Israel besuchen, und selbst „Den Gegner ruinieren“ Arafat zeigte Bereitschaft, sich wieder mit Netanjahu zu treffen. Doch der nutzte den Mit brutalen Methoden setzten Scientologen bei Moment der Betroffenheit nicht dazu, die Situation zu beruhigen – im Gegenteil. der Washingtoner Finanzbehörde ihre Anerkennung als Kirche Durch grobe Schuldzuweisungen und ra- durch – und verschafften so dem obskuren Kult Respekt. dikale politische Schlüsse legte er sogleich den Keim für neuen Streit. as Jahrzehnt des großen Durch- Es sei „immer wieder das gleiche“, be- bruchs begann schlecht für Ameri- klagte er sich telefonisch bei US-Präsident Dkas Scientologen. Vom schicken Bill Clinton: Wenn die Friedensverhand- Image eines Jungdynamiker-Kults mit lungen schwierig würden, schafften „die Schwerpunkt bei den Schönen und Schön- Araber eine Atmosphäre der Gewalt“, die lingen von Hollywood war Anfang der den Weg für Terror bahne. Die größte Neunziger noch nicht viel zu spüren; kein Gefahr für den Frieden gehe von „der Studiochef hätte es gewagt, für die bizarre Mentalität gewisser Elemente aus“. Glaubensgemeinschaft einen Finger zu Damit kränkte er seine Friedenspartner rühren, geschweige denn einen offenen Hussein und Arafat. Er sei, so Netanjahu Brief an Helmut Kohl zu unterzeichnen. weiter, gerade nach dem Tod der sieben Wenn irgendwo, fühlte die Sekte sich Schulmädchen „mehr denn je entschlos- damals nicht in Deutschland verfolgt, son- sen“, die umstrittene Siedlung Har Homa dern in dem Land, in dem der einstige zu bauen, „und wenn die ganze Welt Science-fiction-Autor L. Ron Hubbard sei- gegen uns ist“. ne Kirche 1954 gegründet hatte – in den Wenn es in seiner Absicht liege, den USA. Selbst in der angeblichen Heimat der „dann unvermeidlichen gewaltsamen Wi- Frommen und Freien, wo wirklich ein jeder Sektenchef Miscavige derstand unserer palästinensischen Brü- nach seiner Fasson selig werden kann, fie- Spontaner Besuch beim Steueramt der hervorzurufen“, warnte der Jordanier- len die Jünger des wirren Sternenkriegers König Hussein, dann solle er „die Bull- Hubbard unangenehm auf. Verlust ihrer Ersparnisse. Einige verklagten dozer ruhig anrollen“ lassen. Netanjahu Wie heute in Deutschland, galt Sciento- gar ihre mit viel Psycho-Schnickschnack müsse jedoch bedenken, daß damit gleich- logy anfangs auch in Amerika als gefährli- operierende Kirche wegen geistigen und zeitig „der Friedensprozeß für alle Zei- che Organisation. Ein Report des Nach- physischen Terrors. Cynthia Kisser, Direk- ten beerdigt“ würde. richtenmagazins time beschrieb 1991 das torin des Cult Awareness Network, einer Netanjahu sieht sich von allen Seiten Wirken der Sekte als „ungeheuer gewinn- Gruppe, die sich um Sektenopfer küm- unter Druck. Die Scharfmacher innerhalb trächtige Gaunerei im Weltmaßstab, die am merte, bezeichnete Scientology damals als seiner Partei und vor allem die natio- Leben gehalten wird durch eine mafiaarti- den „wohl rücksichtslosesten, terrori- nalistischen Koalitionspartner halten es ge Einschüchterung von Mitgliedern und stischsten, klagewütigsten und lukrativsten für politischen Verrat, auch nur ein Pro- Kritikern“. Kult, den dieses Land je gesehen hat“. zent des besetzten Westjordanlands auf- Hunderte von Aussteigern bezeugten In verschiedenen Urteilen geißelten US- zugeben. Sie drohen, zusammen mit der Horrorgeschichten, jammerten über den Richter Scientology als „korrupt, verderb- linken Opposition zu stimmen, welche die Regierung stürzen möchte. Netanjahu ist in eine filzige Affäre im Zusammenhang mit der Ernennung eines Generalstaats- anwalts verstrickt. Wie sehr der Premier nach Entlastung sucht, zeigte ein Treffen am vorletzten Wochenende mit dem Oppositionsführer Schimon Peres, den er auf die Möglich- keit einer Großen Koalition angesprochen haben soll. Peres winkte ab – vorläufig jedenfalls. Der Jerusalemer Bürgermeister Ehud Olmert, auch er ein Hardliner, fordert jetzt den unverzüglichen Baubeginn auf dem Har Homa. Falls der Friedensprozeß mit den Palästinensern deswegen „in die Luft fliegen“ sollte, so Olmert, sei es ihm immer noch „lieber, das passiere gleich als spä- ter“. Und die Versammlung der radikalen Siedler aus dem Westjordanland diskutiert mittlerweile offen, ob es „im nationalen Interesse“ nicht geboten sei, besser Krieg

zu führen, als den Palästinensern noch NYT mehr Land zu überlassen. ™ Celebrity Center der Scientologen in Los Angeles: Vollständiger Sieg

der spiegel 12/1997 157 Ausland lich und gefährlich“. Auch der Kampf um und langem juristischem Gezerre um die zufinden, was die Behörden über Hubbard Anerkennung als Kirche und um die damit Herausgabe von Dokumenten gelang es und seine Anhänger wußten. Sie brachen verbundene Steuerbefreiung blieb lange dem Reporter Douglas Frantz, die Tricks nachts in Büros ein und kopierten „ber- ohne Erfolg. Noch 1992 befand der US nachzuzeichnen, mit denen die Hubbard- geweise Dokumente“, so die new york Claims Court, daß der „kommerzielle Cha- Anhänger um ihre Anerkennung als Reli- times. rakter von Scientology“ offensichtlich sei. gionsgemeinschaft gekämpft hatten – Me- Selbst ein perfekter Lauschangriff ge- Doch dann kam, wie aus heiterem Him- thoden, die ganz und gar nicht zum Man- lang Hubbards Jüngern: Unmittelbar vor mel, die Wende: Völlig überraschend er- tel verfolgter Unschuld passen. einer wichtigen Sitzung über die künf- ließ Amerikas Steuerbehörde, der Internal Um Hubbards „Zivilisation ohne Wahn, tige Behandlung des Kults konnten die Revenue Service (IRS), am 13. Oktober ohne Kriminelle und ohne Krieg“ zu errei- cleveren Schnüffler den Konferenzsaal ver- 1993 fast 150 Scientology-Körperschaften chen, müssen Interessenten in Beratungs- wanzen. Die Codenamen für einzelne Ab- die Umsatzsteuer. „Der Krieg, der alle sitzungen, den sogenannten Auditings, von schnitte der Operation hatte Hubbard sich Kriege beendet“, war gewonnen, wie Sek- Problemen und Konflikten „gereinigt“ wer- selbst ausgedacht. Doch „Happy“, „Bash- tenchef David Miscavige jubelte; die Ab- full“, „Doc“ und die Namen der anderen gabebefreiung galt hinfort als amtliches „Operation Schneewittchen“ vier Zwerge brachten kein Glück – Opera- Gütesiegel. brachte die dritte tion Schneewittchen flog auf. Zusammen Schon vier Monate später erschien je- mit zehn weiteren Scientology-Führern denfalls im Menschenrechtsbericht des US- Mrs. Hubbard ins Gefängnis mußte Mrs. Hubbard wegen „Verabredung Außenministeriums erstmals der Hinweis, zu einer strafbaren Handlung“ ins Ge- der gerade erst im eigenen Land als Kirche den. Daß solche Seelenwäsche Geld kostet, fängnis. anerkannte Psycho-Konzern werde in hatte den IRS 1967 zu der Einschätzung be- Der nächste Angriff auf die verhaßten Deutschland diskriminiert. Während der wogen, daß die Aktivitäten der Sekte vor- Steuereintreiber verlief erfolgreicher. Sek- gereizten Kontroverse zwischen Bonn und nehmlich zur Vermehrung von Mr. Hub- tenmitglieder gründeten 1984 eine Organi- Washington zu Jahresanfang über die an- bards persönlichem Reichtum dienten; eine sation, die sich vornahm, angebliche Will- gemessene Behandlung von Scientology schon gewährte Steuerbefreiung wurde kürakte der Steuerbehörden aufzudecken. befand Außenamtssprecher Nicholas Burns wieder aufgehoben. Die Gruppe, deren Verbindung zu Scien- kategorisch: „Wir betrachten Scientology Die Scientologen schlugen zurück: Mit tology sorgsam getarnt war, enthüllte in als Religion, weil sie durch die amerika- der „Operation Schneewittchen“, ange- der Tat ein paar Korruptionsfälle. nische Regierung von der Steuer befreit führt von Hubbards dritter Frau Mary Die Scientology-Dissidentin Stacy wurde.“ Sue, starteten sie 1973 einen Generalan- Young, vor ihrem Ausstieg mit der Attacke Wie diese Steuerbefreiung wirklich zu- griff auf die staatlichen Steuereintreiber. auf die Steuerbehörde betraut, berichtet stande kam, enthüllte jetzt die new york Scientologen ließen sich im Justizministe- heute, daß gegenüber den Gegnern fast je- times. Nach Dutzenden von Interviews rium und beim IRS anheuern, um heraus- des Mittel recht gewesen sei: „Feinde ver- folgt man, setzt ihnen zu, von hochbezahlten Anwäl- Nicht einmal die Gerichtsentscheidung schüchtert sie ein und ver- ten aus prominenten Kanz- des Claims Court von 1992, die Scien- sucht, ihre Verbrechen auf- leien geführt wurden – ge- tology als kommerziellen Konzern be- zudecken, bis sie einlenken treu nach dem Motto des schrieb, konnte den IRS aufhalten. Der und kompromißbereit sind.“ Kultgründers: „Der Zweck zuständigen Abteilung für Steuerbe- Um ans Ziel zu gelangen, einer Klage ist die Störung freiung wurde per Dienstanweisung auf- heuerten die Scientologen und Entmutigung (eines erlegt, sich nicht darum zu kümmern, ob Privatdetektive an, die sich Gegners). Natürlich, falls sich die Kirche zu sehr als Unternehmen an wichtige IRS-Beamte möglich, sollte sie ihn auch aufführe oder ob sich ihre leitenden An- hängten. „Ich suchte nach vollständig ruinieren.“ gestellten exorbitante Gehälter geneh- wunden Punkten“, sagt Der juristische Druck war migten. Michael Shomers, der 18 Mo- immerhin so groß, daß Sek- Der Sieg der rabiaten Kultanhänger war nate lang für Scientology da- tenführer Miscavige ohne so vollständig, daß sich der IRS sogar ver- nach geforscht hat, welcher jede Anmeldung einen Ter- pflichtete, ein Informationsblatt über die

IRS-Agent zuviel trank oder / NEWS INTERNATIONATIONAL TOURTELLOTE J. min beim damaligen IRS- Sekte und ihren Gründer zu verteilen, das eine Affäre hatte. Ergebnisse Ex-Fiskus-Chef Goldberg Chef Fred Goldberg bekam. „vollständig und äußerst akkurat“ war, wie seiner Recherchen, etwa der Der Scientologe, so jeden- Miscavige triumphierte. Bericht über eine spesenaufwendige IRS- falls läßt er heute verbreiten, wollte sehen, Vor 10000 Anhängern in einem Stadion Konferenz in den Pocono-Bergen von ob sich die Probleme mit der Steuer- von Los Angeles, wo der smarte Kultführer Pennsylvanien, wurden in seriöse Zeitun- behörde nicht auf höchster Ebene lösen den Durchbruch zur Respektabilität feier- gen lanciert. ließen. te, pries er das Infoblatt der Steuerbehör- Zu der Schnüffelei bekannte sich Scien- Es klappte. Was Firmen oder Privatleu- de: „Wir selbst haben es geschrieben, und tology stolz im sekteninternen Hausblatt: ten, die sich die Feindschaft des IRS zuge- der IRS wird es an jede Regierung der Welt „Unser Angriff lähmt deutlich ihre Vertei- zogen haben, fast nie gelingt, schaffte ganz schicken.“ digungskraft, und unsere Aufdeckung ihrer offenbar der Sektenführer: Der Fiskus rich- Die Botschaft kommt auch heute noch Verbrechen zeigt langsam politische Wir- tete unabhängig vom üblichen Instanzen- an. Daß der Report der new york times kung. Ein Grabenkrieg hat begonnen, und weg einen Ausschuß ein, in dem alle dazu führen könne, die Sekte in den USA es gibt noch kein Anzeichen für einen Schwierigkeiten unbürokratisch aus dem neu zu bewerten, hielt Außenamtssprecher Sieger.“ Weg geräumt wurden. Der Vorsitzende die- Burns vorige Woche für wenig wahr- Um das Blatt zu wenden, setzte Scien- ser Gruppe kann sich in 30 Jahren IRS- scheinlich: „Der steuerfreie Status der tology auf ein weiteres erprobtes Mittel. Tätigkeit nur an einen weiteren Fall erin- Church of Scientology ist sicher, das Fi- Die Sekte überzog die Steuerbehörde mit nern, in dem ähnlich unkonventionell ver- nanzministerium hat nicht die Absicht, dar- insgesamt etwa 50 Klagen, die zum Teil fahren wurde. an etwas zu ändern.“ ™ Ausland Deshalb zählt Zaire trotz seiner giganti- schen natürlichen Reichtümer mit einem ZAIRE Bruttosozialprodukt von jährlich 200 Dol- lar pro Kopf zu den ärmsten Ländern der Erde. Südkorea, das 1961 etwa auf dem „Hunger treibt den Fuchs heraus“ gleichen Niveau wie Zaire stand, erwirt- schaftet heute ein Bruttosozialprodukt von rund 8200 Dollar. Dominikanerpater Léopold Tanganagba Die sogenannte Zairisierung begünstig- über den Zusammenbruch seines Heimatlandes te die Kleptokratie, hemmte das Wachs- tum und ließ die Menschen verarmen. 43 as seit Beginn Mobutu nutzte den kapitalistischen Li- Millionen Menschen hungern. Und Hunger des Aufstands beralismus, um einer kleinen Minderheit treibt den Fuchs aus dem Bau. Das erklärt Wim Osten Za- unkontrollierte Bereicherung zu verschaf- zum Teil, weshalb die Armee marodiert ires geschieht, ist einma- fen. Er übernahm die totalitären Methoden und sich die Bevölkerung mancherorts an lig: Das Volk wird von des Kommunismus, um seine Macht zu si- Plünderungen beteiligt. den eigenen Verteidi- chern. Mit seiner Profan-Philosophie der Die Masse der Zairer lebt unter er- gern gequält und ausge- „authenticité“ (Afrikanisierung von Na- bärmlichen hygienischen Bedingungen. raubt. Zunächst kom- men und Kleidung) versuchte er, seinem Wenn sie krank werden, können sich die men Regierungstruppen Nepotismus eine afrikanische Legitimation meisten Menschen keine Medikamente

J. H. DARCHINGER J. mit dem Auftrag, eine zu geben. Die Einheits- und Staatspartei leisten. Tanganagba Stadt zu schützen; spä- MPR diente als Fundament eines machia- Das Gesundheits- und das Erziehungs- ter treffen auch andere, vellistischen Systems. system sind zusammengebrochen. In wei- vor dem Feind zurückflutende Einheiten Weil der Diktator im Kalten Krieg auf ten Landesteilen haben die Schulen seit ein. Beide Gruppen tun sich zusammen, der richtigen Seite stand, unterstützten die Monaten geschlossen. Sich selbst überlas- stehlen und morden, und wenn sich westlichen Staaten Mobutu lange. Doch sene Kinder und Jugendliche gleiten in die die Rebellen nähern, machen sie sich aus 1990 zwangen sie ihn, demokratische Re- Kriminalität ab – und lassen sich von Re- dem Staub. formen einzuleiten: Eine unabhängige Na- bellen und Regierungstruppen als Kinder- So geschah es auch in Isiro, meiner Hei- tionalkonferenz wurde im Jahr darauf ein- soldaten mißbrauchen. matstadt; sie hat etwa 30000 Einwohner berufen. Sie kam nicht voran, weil das Wie kann man den Teufelskreis von und liegt 565 Straßenkilometer von Kisan- Regime freie Wahlen fürchtete. Zwar durf- Armut und Gewalt in Zaire aufbrechen? gani entfernt in Nordost-Zaire. Wegen der ten nun Parteien gegründet werden, aber „Ohne eine wirkliche Umkehr und die Kaffeeplantagen und Goldvorkommen in Mobutus MPR trichterte der Bevölkerung Einbeziehung aller politischen Kräfte in der Umgebung war Isiro eine blühende ein: Seine Partei bedeute Frieden und den Demokratisierungsprozeß“, sagt Fau- Stadt. Nun ist sie ruiniert: Wohnhäuser, Wohlstand, während die Demokratie nur stin Ngabu, der Bischof von Goma, „laufen Geschäfte, Schulen, sogar Kirchen wurden Unruhe und Gewalt bringe. die Bürger Gefahr, auf unbestimmte Zeit in geplündert und teilweise in Brand gesteckt. Heute, fünfeinhalb Jahre nach der Ein- einer Situation der Unsicherheit und der Soldaten vergewaltigten Frauen, entweih- berufung der Nationalkonferenz, steht Knechtschaft zu leben.“ Es muß einen Dia- ten liturgische Gewänder, stahlen Kelche Mobutu immer noch an der Spitze des Lan- log zwischen den Politikern geben. und tranken den Meßwein aus. des. Inzwischen hat sich Zaires wirtschaft- Gerade jetzt, mitten im Krieg, wol- „Wir sind von Mobutus fliehender Ar- liche Lage katastrophal verschlechtert. Der len die Menschen Verhandlungen. Zaires mee systematisch ausgeraubt worden“, be- Staat und die öffentlichen Unternehmen Politiker müssen sich an einem Runden richtete mir Pater Emmanuel Mbolihinihe, sind zahlungsunfähig. Die politische Ober- Tisch zusammensetzen, endlich Reife „wir haben keine Autos mehr, keine Fahrrä- schicht stiehlt die Einnahmen aus dem Ex- und Vaterlandsliebe beweisen. Die Macht der, keine Matratzen, kein Geld.“ Der Arzt port von Gold, Diamanten, Kupfer, Kobalt darf nicht mehr aus den Gewehrläufen Dr. Nembunzu mußte mit ansehen, wie me- und Mangan, die dem Staat gehören. kommen. ™ dizinische Geräte zerstört und Kranken- hausbetten abtransportiert wurden. Panik trieb die Bevölkerung in die Wälder. Dabei ist mein Kollege Pfarrer Dieudonné Mayele umgekommen; er hat- te sich einen offenen Bruch zugezogen und zuviel Blut verloren.Am 12. Februar haben die Rebellen Isiro ohne nennenswerten Wi- derstand eingenommen. Wie lassen sich die unverantwortlichen Taten der Armee und der Siegeszug der Aufständischen erklären? Drei Faktoren halte ich für entscheidend: die politische Konfusion, die Wirtschaftskrise und die ex- plosive soziale Lage. Präsident Mobutu, der 1965 durch einen Militärputsch an die Macht kam und die Wirren nach der Unabhängigkeit beende- te, führte ein „hybrides politisches System“ ein – so haben es jedenfalls Zaires Bischö- fe genannt. Es besteht aus einer Mischung

von Elementen aus Kapitalismus, Kommu- DPA nismus und afrikanischer Tradition: Verteilung von Nahrungsmitteln an Flüchtlinge: Teufelskreis von Armut und Gewalt

160 der spiegel 12/1997 ÄGYPTEN Geschenk der Vorsehung

Überschüssiges Wasser aus dem Assuan-Stausee soll Hunderttausende Hektar Wüste urbar machen und Ägyptens Ernteerträge steigern.

ie Baumeister der Pharaonen setz- ten ihre Zeitgenossen schon vor D4500 Jahren mit Weltwundern in Erstaunen. Nun haben sich die Inge- AFP / DPA nieure des modernen Herrschers Husni Präsident Mubarak, Baustelle des Nilkanals: „Weg in eine bessere Zukunft“ Mubarak vorgenommen, „das Meisterwerk des 20. Jahrhunderts“ zu errichten, wie in Das „zweite Geschenk der Vorsehung“ Kairo die regierungsnahe Tageszeitung al- 200 Kilometer (Radio Kairo) soll so rasch wie möglich ge- ahram frohlockt. nutzt werden. Seit Monaten haben Agrar- Die großen Worte gelten einem Mam- experten und Arbeiterkolonnen die Ufer- mutprojekt, das, falls es gelingt, tatsächlich Oase Kairo bänke in der Toschka-Senke für die Erst- eine geschichtliche Wende mit sich bringen Siwa ÄGYPTEN bewässerung vorbereitet. Planierraupen könnte: Rund 900 Kilometer südlich von ebnen die künftigen Anbaugebiete ein, Kairo heben Tausende von Fellachen zwei Oase Baharija Techniker legen Kanäle an. Innerhalb we-

Verbindungskanäle aus, die LIBYEN niger Monate, so hofft Landwirtschaftsmi- Oase aus dem 500 Kilometer lan- N nister Jussuf Wali, werden auf 50000 Hekt- Farafra i gen Stausee bei Assuan Nil- geplante Anbaugebiete l ar Wüstenboden Weizenfelder entstehen. wasser in die westliche Wü- Bewässerungskanäle im Bau Und das ist erst der Anfang. Zehn Kilo- ste leiten sollen. Scheich- Luxor meter östlich des Toschka-Durchstichs bag- Sajid-Kanal Oase Oase Der Aderlaß des längsten Dachla Charga gern Bulldozer einen zweiten Kanal aus, Stroms der Erde war drin- Assuan den „Scheich-Sajid-Kanal“, benannt nach Toschka Staumauern gend notwendig geworden. Reservoir Südliches dem Staatspräsidenten der Vereinigten Denn der Nil drohte nach „Neues Tal“ Nasser- Arabischen Emirate, der Ägyptens Zu- Toschka-Kanal Pump- Stausee ungewöhnlich regenreichen station kunftsprojekt mitfinanziert. Jahren über die Gefahren- Abu Simbel Abu Simbel Da entsteht auch Afrikas größte Pump- marke des Staudamms zu station, die nach Fertigstellung pro Sekun- SUDAN treten. Der See schwoll zu de 200 Kubikmeter Nilwasser aus dem kritischer Höhe. Stausee 60 Meter hochpumpen wird. Da- Dennoch ist eine Hochflut die Aus- der Nahrungsmittel muß das rohstoffarme mit sollen einmal 10000 Quadratkilometer nahme, weshalb die Ägypter seit bibli- Land importieren. Mehr Wasser ist gleich- Boden um die Oasen in der westlichen Wü- schen Zeiten vor allem die Dürreperioden bedeutend mit mehr Ackerland und rei- ste ergrünen – ein Kulturlandzuwachs von fürchten, die früher stets Hungersnöte cherer Ernte – und das Naß kann nur aus weiteren 20 Prozent. auslösten. Die Assuan-Dämme wurden dem großen Strom kommen. Die Feststel- Sachverständige behaupten, daß der weniger als Schutzschilde gegen Flutkata- lung des griechischen Historikers Herodot, Grundwasserspiegel durch die dauerhafte strophen entworfen als zur Schaffung daß „Ägypten ein Geschenk des Nils“ sei, Flutung auf jeden Fall steigen wird – selbst von Rückhaltebecken, in denen sich genug gilt heute noch so wie vor zweieinhalb dann, wenn der Nil wegen der neuen Ab- Wasser ansammeln sollte, um in trocke- Jahrtausenden. leitungen weniger stark strömen sollte. So nen Jahren eine gleichbleibende Versor- Überschüssige Wassermengen, die sonst könnten mehrere hunderttausend Hektar gung der Äcker und Haushalte sicherzu- ungenutzt ins Mittelmeer geflossen wären, Wüstenland unter den Pflug gebracht und stellen. werden nun in die von Geologen ausge- die trockenen Jahre, die unausweichlich Der Staudamm erfüllte diesen Zweck, suchte Toschka-Senke 50 Kilometer nord- wiederkehren, überstanden werden. trotz ökologischer Bedenken und Klima- westlich von Abu Simbel umgeleitet. Sie Aber auch die nächste Hochflut kommt veränderungen. Die urbare Fläche, die könnten den „Weg in eine bessere Zu- bestimmt – wenn nicht Äthiopien, wie knapp fünf Prozent des ägyptischen Ter- kunft“ weisen, wie das Staatsfernsehen schon lange angekündigt, selbst einen Stau- ritoriums von einer Million Quadratkilo- verheißt. damm am Blauen Nil baut und die Was- metern ausmachte, stieg um 20 Prozent. Das Fassungsvermögen des neuen Bek- serzufuhr entscheidend drosselt. Doch ob Doch die rasche Bevölkerungszunahme kens beträgt beachtliche 230 Milliarden Ku- die Regierung in Addis Abeba es wagt, die- (jährlich 2,2 Prozent) ließ Städte und Dör- bikmeter; noch vor Jahresende dürften ses Projekt zu verwirklichen, ist fraglich. fer ungezügelt wuchern – auf Kosten der über 150 Milliarden Kubikmeter dorthin In der ehemaligen Kaiserhauptstadt er- Ackerkrume. abfließen – dreimal soviel Wasser, wie innert man sich sehr wohl an die Drohung Für die über 60 Millionen Ägypter reicht Ägypten dem lebensspendenden Strom des damaligen ägyptischen Präsidenten die landwirtschaftlich nutzbare Fläche nach den Abmachungen mit den anderen Anwar el-Sadat: „Wer mit dem Nilwasser schon lange nicht mehr aus. Zwei Drittel Nilanrainern sonst jährlich entnimmt. spielt, erklärt uns den Krieg.“ ™

der spiegel 12/1997 161 Ausland SÜDD. VERLAG Nazi-Minister Goebbels, Funk (2. v. r.) mit Goldbarren in der Reichsbank (1944): Der moralische Bankrott ist der schlimmste von allen

SCHWEIZ Hitlers beflissene Hehler Die Nazis plünderten das Gold fremder Staatsbanken, raubten es in Ghettos und Lagern. Sie bezahlten damit Rohstoffe für den Krieg – über die Schweiz. Jetzt erst muß der einstige Musterstaat diese Vergangenheit bewältigen.

in Dreivierteljahr vor dem Zweiten Reichsmark, Schacht, den der Führer zuvor Rohstoffe bezahlt werden mußten, über Weltkrieg war die Macht, die bald hoch dekoriert hatte. Das letzte, was Hit- die Deutschland und seine Verbündeten Edas schlimmste Gemetzel der Ge- ler am Vorabend seines Krieges hören woll- nicht hinreichend verfügten – Erdöl, Eisen schichte anzetteln sollte, so gut wie pleite. te, war, daß seine wahnsinnigen Rüstungs- und rare Metalle wie Chrom, Mangan und „Gold- oder Devisenreserven sind bei der ausgaben den Staat ruiniert haben könn- Wolfram, wichtig für die Härtung von Waf- Reichsbank nicht mehr vorhanden“, teilte ten. 61,5 Milliarden Reichsmark hatte er fenstahl aller Art. deren Präsident Hjalmar Schacht dem seit der Machtergreifung von 1933 in die Puhls treueste Geschäftspartner, die ihn „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler Hochrüstung der Wehrmacht gesteckt, die bis zum bitteren Ende nie im Stich ließen, mit. Die Staatsfinanzen stünden am „Rand für ihn die Welt erobern sollte. saßen gleich nebenan: in der neutralen des Zusammenbruchs“. Nur zwei Reichsbank-Obere blieben Schweiz, dem einzigen Nachbarn, der nie Unterschrieben hatten diese „vertrauli- nach der Bankrotterklärung im Amt. Einer unter die Stiefel deutscher Divisionen geriet che Reichsbanksache“ vom 7. Januar 1939 von ihnen, der nun Vizepräsident wurde, – aber nicht, wie die Schweizer Legende alle acht Direktoren der deutschen Noten- sorgte fortan dafür, daß die Rüstungsma- lehrt, weil die wehrhaften Eidgenossen bank. Zwei der Namen unter dem Doku- schine wie geschmiert weiterlaufen konnte. 800000 Soldaten mobilisiert und sich in ihr ment tauchten bald nach dem Krieg in glei- Der gelernte Bankier Emil Puhl, seit Kaisers Alpenreduit zurückgezogen hatten. cher Funktion wieder auf: Die Herren Zeiten in der Reichsbank, seit 1937 Mit- Hitler ließ das „kleine Stachelschwein“, Vocke und Blessing, Fachmann bleibt Fach- glied der NSDAP, wurde Stellvertreter des wie die Schweiz im Nazi-Jargon genannt mann, waren Chefs der Bundesbank in den neuen Präsidenten Walther Funk. wurde, vielmehr in Frieden, weil es ihm als fünfziger und sechziger Jahren. Er wußte, wo zu beschaffen war, was die neutrale Insel mit ihren intakten Finanz- Damals freilich wurden sie gefeuert, Rüstung des Reiches so dringend brauchte: verbindungen in alle Welt inmitten des von samt dem 1923 erfolgreichen Sanierer der harte Devisen, mit denen im Ausland jene ihm unterjochten Kontinents nützlicher war.

162 der spiegel 12/1997 SYGMA Schließfächer der Schweizerischen Bankgesellschaft: Bewahrte das Gold die Schweiz davor, in den Krieg gezogen zu werden?

Deshalb stellt der Schweizer Autor Werner es viele Formen des Bankrotts gibt“, erei- Über das Alpenland bricht herein, was Rings, der die doppelbödige Rolle seines ferte sich das US-Magazin time, „und der die Nachbarn im Norden und Osten weit- Landes als „Golddrehscheibe“ zum Nutzen moralische ist der schlimmste von allen.“ gehend hinter sich haben – obwohl auch der Nazis detailgenau beschreibt, auch eher Mit unerwarteter Wucht traf es das klei- die sich, wie der Skandal um die Ausstel- rhetorisch die Frage*: „War es das Gold, ne Volk im Herzen Europas, das es immer lung „Verbrechen der Wehrmacht“ in das die Schweiz davor bewahrt hat, in den verstand, sich selbst als das gute zu sal- München zeigt, immer noch schwertun mit Krieg hineingezogen zu werden?“ ben. Nun sollen die Schweizer plötzlich der eigenen Geschichte. Erst jetzt, nach über einem halben Jahr- „Mittäter der Nazis“ gewesen sein, wie ei- Mit der Einrichtung eines Hilfsfonds von hundert, brachte die Diskussion über in ner der Ihren, der Schriftsteller Adolf bisher 265 Millionen Franken für Opfer des der Schweiz verschwundene Vermögen Muschg, seinen Landsleuten vorwirft (sie- Holocaust und einer noch zu gründenden von Holocaust-Opfern das gesamte ver- he Seite 179). Stiftung für Solidarität schaffte es die hängnisvolle Wirken der Schweiz als Heh- Vorige Woche stellte sich zum Entset- Schweizer Regierung zwar, sich vom größ- ler für Hitler wieder hoch. zen der Eidgenossen sogar heraus, daß ihr ten Druck zu entlasten. Aber damit ist der Kein Tag ohne neue Schlagzeile über schmerzhafte Prozeß der Gewissenserfor- Raubgold aus den Konzentrationslagern, Hinter dem Selbstbildnis des schung noch längst nicht abgeschlossen. über Tantiemen für Hitlers „Mein Kampf“, Biedermanns zeigen sich Hehler Neue Bücher, darunter eine provokan- über KZ-Baracken made in Switzerland, te Streitschrift des notorischen Nestbe- die an die SS geliefert wurden, und über und Mordkomplizen schmutzers Jean Ziegler und eine fakten- mindestens 30000 Juden – erkennbar an reiche Dokumentation des Londoner Au- dem auf eidgenössisches Verlangen in ihre beliebtes „Gold-Vreneli“, eine zu Taufe, tors Tom Bower, die im April auf den Markt deutschen Pässe gestempelten roten „J“ –, Konfirmation und Hochzeit gern ver- kommen, dazu ein offizieller Bericht der die an der Grenze abgewiesen und damit schenkte 20-Franken-Münze mit niedli- US-Regierung, aber auch die von Bern ein- in den Tod geschickt wurden. chem Mädchenkopf, nach dem Krieg mil- gesetzte internationale Historiker-Kom- „Die Geister von Auschwitz pochen an lionenfach aus Raubgold der Nazis herge- mission werden den Eidgenossen immer die Türen der Schweiz“, schrieb die stellt wurde. wieder den Spiegel vorhalten – und hinter international herald tribune. „Die Schweizer Banken, die mehr als ein Drit- dem jahrzehntelang sorgsam gepflegten Schweizer Banker sollten begreifen, daß tel des Weltprivatvermögens verwalten, Selbstbildnis des Biedermanns die Fratze sind durch ganz und gar eigenes Verschul- von Hehlern und Mordkomplizen zei- * Werner Rings: „Raubgold aus Deutschland“. Piper den dabei, das wichtigste Kapital einzu- gen**. Verlag, 244 Seiten; 29,80 Mark. büßen, das diese Branche hat, das Ver- Auszug aus einer Vernehmung von Dr. ** Jean Ziegler: „Die Schweiz, das Gold und die Toten“. trauen – ganz abgesehen von den Milliar- Landwehr, Chef der Devisenabteilung des C. Bertelsmann Verlag, 320 Seiten; 39,80 Mark. Tom Bower: „Das Gold der Juden“. Karl Blessing Verlag; 416 denforderungen, die vor amerikanischen Reichswirtschaftsministeriums in Berlin, Seiten; 44,80 Mark. Gerichten dräuen. US-Dokument vom 27. Mai 1946:

der spiegel 12/1997 163 Werbeseite

Werbeseite Dr. Landwehr schätzt die Summe aller deutschen Werte, die in die Schweiz ver- bracht wurden, auf mindestens 15 Mil- liarden Reichsmark. Die Schätzung der Schweizerischen Verrechnungsstelle, es handle sich nur um eine Milliarde, kostet ihn nur ein müdes Lächeln.

Der Schweizer Banken-Ombudsmann, der die Suche nach herrenlosen Vermögen organisiert, konnte dagegen nach neun Mo-

„Wir sind nicht in der Lage, die von Ihnen gewünschten Nachforschungen zu machen …“ naten gerade mal 1,6 Millionen Franken zuordnen, davon bloß 11000 an Holocaust- Opfer. Die Banken selbst fertigten Anfra- gende in gewohnt forscher Manier ab, als sei nichts geschehen. Eine Jüdin aus Bue- nos Aires, deren Großeltern in den dreißi- ger Jahren bei der Schweizerischen Kre- ditanstalt (SKA) Geld- und Sachwerte hin- terlegt hatten und 1942 im KZ umkamen, wandte sich an den Ombudsmann – und zum wiederholten Mal auch an die Bank.

Noch per 11. September 1996 erhielt sie / DPA KEYSTONE von der SKA folgenden Standard-Bescheid: Schweizer Posten, deutscher Soldat an der Grenze (1939): Deportation für 5,15 Franken Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, bezahlen: 5 Franken, 15 Rappen. Jenseits Erst im Juli 1996 fand Sohn Charles, un- daß wir nicht in der Lage sind, die von Ih- der Grenze spürten deutsche Häscher sie terdessen 65, in einem Schweizer Archiv nen gewünschten Nachforschungen zu ma- sogleich mit Suchhunden auf. Die Eltern das Polizeidossier über die Deportation chen … beträgt die gesetzliche Aufbe- kamen nach Auschwitz, wo sie im August der Familie, das auf 22 Seiten die Ge- wahrungspflicht für Geschäftsunterlagen 1942 ermordet wurden. Die beiden Kinder schehnisse vom August 1942 detailliert fest- in der Schweiz zehn Jahre. Demzufolge – Sabine, 15, und Charles, 11 – überlebten. hielt. Seine Suche nach Konten des Vaters sind wir nicht mehr in der Lage, allfällige Unmittelbar nach dem Krieg suchte Sa- verlief ergebnislos. vor 1986 saldierte Bankverbindungen fest- bine Sonabend nach dem Geld, das ihr Va- Als sich Journalisten für den Fall inter- zustellen. ter in der Schweiz deponiert hatte. Einer essierten, kam die stereotype Replik, es Im Klartext bedeutete das: Wenn eine seiner Geschäftspartner hatte ihr bestätigt, gebe keine Unterlagen, da diese nicht län- Bank in einem einzigen der 26 kantonalen daß es ein Konto über 200000 Franken auf ger als zehn Jahre aufgehoben würden.Auf Amtsblätter der Schweiz ein seit zehn Jah- den Namen ihres Vaters bei einer Schwei- erneutes Drängen fanden die Banker end- ren nachrichtenloses Konto ein einzi- zer Bank gebe. Zudem war aktenkundig, lich Hinweise auf die von der eigenen Po- ges Mal kündigte und sich der Besitzer daß ein Schweizer Uhrenfabrikant nach lizei dokumentierten 200 Dollar. etwa aus dem rumänischen Timi≠oara, aus der Abschiebung noch 200 Dollar auf das „Bis heute haben weder Charles noch Brooklyn, Australien oder sonstwo in der Sonabend-Konto bei der Berner Kanto- Sabine Sonabend irgend etwas von dem weiten Welt nicht prompt meldete, war das nalbank in Biel eingezahlt hatte. Die Bank Geld gesehen, das ihr Vater einer Schwei- Geldinstitut berechtigt, die Einlage auf ein aber behauptete, keinerlei Unterlagen zu zer Bank anvertraut hatte“, hält die Kla- Sammelkonto zu überweisen. haben. geschrift ihres US-Anwalts Michael Haus- Simon Sonabend besaß einst feld gegen die drei Schweizer ein Geschäft in Brüssel, das Großbanken fest. Schweizer Uhren importierte. Hausfelds Schriftsatz wird Über seine Partner hatte er vor laufend ergänzt durch neue Er- dem Krieg 200000 Franken bei kenntnisse von elf Archivfor- einer Schweizer Bank deponiert. schern, welche die Kanzlei auf Als er im Juli 1942 deportiert eigene Kosten engagiert hat. werden sollte, floh er mit seiner Den Beklagten wird darin vor- Familie in die Schweiz. geworfen, sie hätten In Biel, wo sie bei Freunden π Geldwäsche für das Nazi- untergekommen waren, wurden Regime betrieben, sie festgenommen, verhört und π Raubgut der Nazis angenom- trotz der Intervention von vier men, Schweizer Bürgern – Uhrenfa- π Profite aus Sklavenarbeit in brikanten und einem Abgeord- deutschen Firmen gezogen, neten – deportiert. Sie mußten π Nazi-Opfern deren auf sogar noch das Taxi, mit dem sie Schweizer Banken depo-

zwei Polizisten zur französi- BRUCKMANN VLG niertes Geld vorsätzlich schen Grenze schafften, selbst Deutsches Militär in Paris: Belgiens Schatz für die Besatzer vorenthalten.

der spiegel 12/1997 165 Ausland Aus alten Publikationen – die nie brei- bargos – auf Kredit. Dessen Rahmen belief das im März 1939 Hitler beim Goldraub tes Interesse fanden – und unlängst freige- sich anfangs auf 150 Millionen Franken, entgegenkommend zu Diensten war. gebenen Archivbeständen ergibt sich ein schwoll aber im Lauf des Krieges auf über Die Bank für Internationalen Zahlungs- Bild der Schweiz, das ganz und gar nicht zu eine Milliarde an. ausgleich (BIZ) in Basel war 1930 als „Bank jenem Muster an Neutralität paßt, als das Diese enge Verflechtung mit der deut- der Zentralbanken“ gegründet worden, um sie sich gern darstellte. schen Kriegswirtschaft bewog die Schweiz wieder Ordnung in die nach dem Ersten Daß die Rüstungsindustrie der neutralen dazu, im Interesse reibungsloser Ge- Weltkrieg zerrütteten Finanzsysteme zu Schweiz dem Aggressor Hitler Waffen in schäftsbeziehungen die Rolle der Außen- bringen. Eine ihrer Hauptaufgaben sollte Milliardenwert lieferte – 60 Prozent der handelsbank Hitlers zu übernehmen. Skru- die Abwicklung der Reparationen sein, einschlägigen Industrie arbeiteten im Krieg pel schienen um so weniger nötig, als es an- welche die Sieger nach dem Ersten Welt- für das Reich –, konnten ihr die Alliierten fangs durchaus danach aussah, als stünde krieg den Deutschen aufgebürdet hatten. nicht einmal vorwerfen. Denn das Aus- man dabei auf der richtigen Seite – der des Zwar war die phantastische, aus dem fuhrverbot für Waffen und Kriegsgerät al- Siegers. Versailler Vertrag resultierende Forderung ler Art, das Bern bereits Anfang 1939 er- Schon vor Kriegsbeginn hatte sich der nach Wiedergutmachung in Höhe von 226 lassen hatte, war nach Kriegsbeginn auf Bankenplatz Schweiz als Beutekumpan für Milliarden Goldmark längst an den Rea- Drängen der Briten und Franzosen wie- zwielichtige Requisitionen des Reiches be- litäten der Wirtschaftskrise gescheitert. deraufgehoben worden. währt. Es war allerdings kein schweizeri- Aber auch reduzierte Summen, die dem Deren Rüstung befand sich gegenüber sches, sondern ein internationales Institut, Deutschen Reich immer noch Milliarden- dem Angreifer Deutschland hoffnungslos zahlungen bis zum Jahr 1988 auferlegten, im Rückstand. So kauften sie in der ließen sich nicht eintreiben. Schweiz, was die an Waffen zu bieten hat- Die BIZ transferierte die Reparations- te – insgesamt Material für eine halbe Mil- zahlungen an die Siegermächte bis 1932, liarde Franken. Deutschland bezog derweil private ausländische Gläubiger des Reiches nur Kriegsgerät für acht Millionen. aber wurden sogar noch bis zum Kriegs- Deshalb ergab sich in den ersten Kriegs- ende korrekt mit regelmäßigen Überwei- monaten die groteske Situation, daß die sungen aus Berlin versorgt: mit immerhin eidgenössischen Waffenfabriken mit Kohle bis zu 245 Kilo Gold pro Monat, letzte Lie- und Eisen aus Deutschland – beides wur- ferung im März 1945. de traditionell vom nördlichen Nachbarn Mit ihrer ersten bedeutsamen interna- bezogen – im Akkord Kanonen und ande- tionalen Transaktion etablierte sich die BIZ res Kriegsmaterial für Deutschlands Fein- als „Hitlers Europabank“, wie der Schwei- de schmiedeten. Berlin, von Bern artig kon- zer Autor Gian Trepp enthüllt*: sultiert, hatte dagegen erstaunlicherweise Das Gold des widerstandslos ange- nichts einzuwenden. schlossenen Nachbarn Österreich war den Nach der Niederlage Frankreichs im Juni Nazis 1938 problemlos in die Hände gefal- 1940 übernahm das Reich kurzerhand die len, 46 Millionen Dollar wert. Als sie im für die Alliierten gedachten Waren und März 1939 Prag besetzten, griffen sie auch verpflichtete nun seinerseits die Schweiz, da nach dem Goldschatz der Zentral-

unbeschränkt alles an Kriegsmaterial zu SIPA liefern, was sie produzieren konnte, und Generalfeldmarschall Göring * Gian Trepp: „Bankgeschäfte mit dem Feind“. Rot- zwar – unter Androhung eines Kohle-Em- Schonung für das kleine Stachelschwein punktverlag, Zürich; 268 Seiten; 36 Mark. AP Sichergestellte Restbestände der Reichsbank in einem Salzbergwerk, US-Inspekteure (1945): Bis zuletzt die Kriegsmaschine geölt

166 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Ausland bank. Schon eine Woche vor der Beset- vor Kriegsbeginn etwa zwei Drittel ihrer Schiffes den Atlantikhafen Brest. Zehn zung durch die Wehrmacht wies Prag die Goldvorräte nach Übersee gerettet hatten. Tage später landeten die Goldkisten in Da- Schweizer an, das in Bern liegende tsche- Laut Ermittlungen der Sieger aus dem Jahr kar, in Französisch-Westafrika. chische Gold auf die Deutsche Reichsbank 1946 erbeutete Hitlerdeutschland in den Als die Deutschen davon Wind be- zu überschreiben. Die ließ die Beute um- besetzten Gebieten Gold für insgesamt kamen, forderten sie von der französi- gehend nach Berlin schaffen. Es waren 1013 etwa 700 Millionen Dollar, davon in Dan- schen Kollaborationsregierung des Mar- Goldbarren im damaligen Wert von 60,7 zig 4 Millionen, in Polen 12, in Holland 164 schalls Pétain die Herausgabe des Goldes. Millionen Franken. (als „Abschlag auf Besatzungskosten“ de- Zunächst weigerten sich die Franzosen, Weiteres Tschechengold lag in Depots, klariert), von Belgien 223, Jugoslawien 25, den Besatzern die kostbare Beute aus- die für Berlin unerreichbar schienen – in Luxemburg 5, Frankreich 53, Italien 64 zuhändigen. Dann gaben sie dem immer London, Paris und Washington. Doch wozu und Ungarn 32 Millionen Dollar. stärker werdenden Druck nach. gab es die BIZ, in der NS-Banker mit Kol- Auf abenteuerlichem Weg gelangte der Ab November 1940 setzten sich schwer- legen aus dem übrigen Europa und den größte dieser Schätze nach Berlin, der nach bewaffnete Karawanen in Bewegung, deren USA im Business vereint zusammensaßen? Geschichte von Karl May er- Am 15. März 1939 wies die gerade von dichtet sein könnte: In andert- Berlin übernommene Nationalbank für das halbjähriger Odyssee brach- Protektorat Böhmen und Mähren in einem ten französische Soldaten den Telegramm die Basler Bank an, die unter Schatz nach und nach von der dem Namen der BIZ in London deponier- Küste Westafrikas wieder nach ten 23,1 Tonnen Gold der Tschechen soll- Frankreich. Auf Lastwagen, Ei- ten der Reichsbank übertragen werden. senbahnwaggons, Flußschiffen, Das Gold blieb zwar in den Tresoren der Kamelen und in Flugzeugen ge- Bank of England liegen, dank der Umbu- langte das Gold durch afrikani- sche Steppen, auf dem Niger- Was für Hitler Rechtens Fluß, quer durch die Sahara und war, galt für das Mittelmeer nach Marseille, wo die Deutschen es beschlag- Stalin noch lange nicht nahmten und per Bahn in die Keller der Berliner Reichsbank chung auf dem BIZ-Konto aber konnten schafften. die Deutschen schon per 24. März über den Um den Diebstahl zu legali- Devisenwert verfügen. „Es ist nichts dar- sieren, bot Berlin der Belgischen über bekannt, daß die BIZ oder die Bank Nationalbank an, das Gold zum von England den freien Willen der Tsche- Preis von 2784 Reichsmark per chen bei dieser Transaktion in Zweifel ge- Kilogramm Feingold, „abzüg- zogen hätten oder auch nur versuchten, sie lich Transportkosten“, zu kau- hinauszuzögern“, beschrieb ein Bericht der fen. Als die Belgier trotz al- US-Militärregierung in Deutschland von ler Pressionen strikt ablehnten November 1945 den prompten Kunden- und dies auch den Franzosen dienst für den Golddieb Hitler. Banker McKittrick, Funk (1940): „Normale Geschäfte“ mitteilten, verzichteten die Der nur durch eine Indiskretion bekannt Deutschen kurzerhand auf die gewordene Vorgang ist um so bemerkens- Zustimmung. werter, als die BIZ sich gut ein Jahr später Unter Berufung auf das weigerte, die Golddepots der drei balti- Reichsleistungsgesetz vom 1. schen Nationalbanken nach der Besetzung September 1939 – dem Tag des durch die Sowjetunion an Moskau auszu- Kriegsausbruchs – deklarierte liefern: Das Gold der Balten wurde von Berlin 198 414,4006 Kilogramm der BIZ blockiert; was für Hitler Rechtens Feingold als sein Eigentum. Den war, galt für den Kommunisten Stalin noch belgischen und französischen lange nicht. Nationalbanken wurde schrift- Der Prager Schatz im Gesamtwert von lich mitgeteilt, auf Befehl des 14,1 Millionen Franken war die erste ge- Reichsmarschalls und Beauf- waltsam requirierte Goldbeute der Nazis. tragten für den Vierjahresplan Gleichzeitig mit dem Krieg begannen seien dafür Reichsschatzan- die Deutschen einen organisierten Raub- weisungen über die Summe zug. Sogenannte Devisenschutzkomman- Frühere BIZ-Zentrale in Basel: „Hitlers Europabank“ von 552 378 218,15 Reichsmark dos und Spezialisten für Schmuck und son- beim Amtsgericht Mitte in stige Wertsachen folgten der kämpfenden dem Krieg Hitlers willigen Schweizer Heh- Berlin zugunsten der Belgier hinterlegt Truppe auf dem Fuß und fahndeten syste- lern auch den meisten Ärger bereiten soll- worden. matisch nach Gold, Devisen, Juwelen und te – das Gold der Belgier. Das war ein damals außerhalb der Wertpapieren. Die Beute oder deren Erlös Die Belgische Nationalbank hatte vor Reichsgrenzen so gut wie wertloses Stück landete, wie aus alliierten Dokumenten Hitlers Überfall 4944 versiegelte Kisten mit Papier. Weder Belgier noch Franzosen ha- hervorgeht, meist auf dem sogenannten 221730 Kilogramm Gold bei der Banque de ben diesen Zwangstausch je akzeptiert. Asservat Der (für Devisenreserve). Die France deponiert. Es sollte nach Amerika Die Barren mit dem belgischen Stempel Zuständigkeit für dieses Plündergut lag bei in Sicherheit gebracht werden, doch die waren da schon längst von der Preußischen der Reichsbank und der Vierjahresplan- britische Korvette, die es abholen wollte, Münze umgeschmolzen und mit deut- Behörde, die Hermann Göring unterstand. kam zu spät. In letzter Stunde, am 18. Juni, schem Vorkriegsstempel versehen worden, Und da kam so einiges zusammen, ob- vier Tage vor dem Waffenstillstand, ver- um sie „international handelbar“ zu ma- wohl die europäischen Staaten rechtzeitig ließ der Schatz an Bord eines französischen chen. Dies verriet Reichsbankrat Karl

168 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Ausland Graupner den Alliierten bei einer Verneh- minister und kältester der Kalten Krieger dem verschafften die Deutschen sich über mung im August 1945. Washingtons. Dessen Bruder saß als ame- die Schweiz Material für jene Waffen, die Hauptabnehmer der germanisierten Bar- rikanischer Chefspion in Bern und pflegte auch an der Ostfront eingesetzt wurden. ren war jenes Institut, das schon seit auch Kontakte zur BIZ. Die BIZ nahm von dem NS-Raubgold Kriegsbeginn einen blühenden Goldhan- Zuweilen erreichten die Geschäfte zwi- aus Belgien, um damit noch 1944 rumäni- del mit dem Deutschen Reich betrieb: die schen den Feindstaaten kafkaeske Dimen- sche Öllieferungen ans Reich zu bezahlen. Nationalbank der neutralen Schweiz. sionen: Da ließ Hitler über BIZ-Konten in Sie zahlte Deutschland Dollardividenden Deren Franken war seit 1941 die einzige den USA 1940 seinen Verbündeten Stalin aus – auf die von Berlin requirierten BIZ- frei konvertierbare Währung, überall als mit Dollar dafür entlohnen, daß der über Anteile der Stadt Danzig sowie jene der Zahlungsmittel akzeptiert. die Transsibirische Eisenbahn Güter aus Niederlande und des Protektorats Böhmen So wurde die Schweiz zur lukrativen Asien in das von den Westalliierten blok- und Mähren. Und sie ließ sich von den Golddrehscheibe des Kontinents. Ihre Ban- kierte Deutschland transportierte. Stalin Deutschen 16 Tonnen italienisches Gold ken, vor allem die Nationalbank, die beim lieferte seinem späteren Erzfeind in Berlin frei Haus liefern, das ihr zustand. SS-Ober- Edelmetallhandel das letzte Wort hatte, bis kurz vor dem Überfall der Wehrmacht sturmbannführer Herbert Kappler, der spä- kauften der Reichsbank jede beliebige auf die Sowjetunion auch noch Gold, seit ter wegen Kriegsverbrechen in Italien ein- Menge ab. Zum Goldlieferanten Puhl, ei- Kriegsbeginn für 23 Millionen Dollar. Mit saß, hatte nach dem Abfall Roms von der nem gerngesehenen Gast in den Berner Kontoren, entwickelte sich bald ein Ver- trauensverhältnis, das nicht durch lästige Fragen nach der Herkunft des Segens ge- trübt wurde. Und das, obwohl die Eidgenossen auf- grund eigener Expertenschätzungen, aber auch aus Zeitungsberichten und diploma- tischen Hinweisen wissen mußten, daß die Deutschen unmöglich über derartige Men- gen eigenes Gold verfügen konnten. Die Alliierten warnten ausdrücklich vor dem Handel mit Raubgold und drohten, das unrechtmäßige Gut werde später zu- rückgefordert. Doch die Schweizer kauften weiter. Andere Neutrale, wie Spanien und Portugal – sehr spät erst Schweden – zier- ten sich, Reichsbank-Gold entgegenzu- nehmen, die Eidgenossen wuschen das gestohlene Gold der Nazis rein. Rohstoff- rechnungen der Portugiesen an die Reichs- bank beispielsweise wurden dann offiziell mit Schweizer Gold bezahlt, das die Reichsbank zuvor an die Nationalbank ge- liefert hatte. Solche Goldtransporte, per Lastwagen über die Pyrenäen, organisierte auch die BIZ in Basel, die dafür 85 Promille des Goldwertes als Gebühr kassierte. Die BIZ kaufte aber auch auf eigene Rechnung Gold von der Reichsbank und erledigte die komplizierten internationalen Transaktio- nen – eine aberwitzig anmutende Ge- schäftsverbindung mitten im totalen Krieg. Denn seit 1940 hatte die internationale Bank einen Amerikaner als Präsidenten, Thomas McKittrick. Ihm unterstanden Bri- ten, Franzosen, Italiener, Holländer, Schwe- den, aber auch sechs deutsche Banker.Vier von ihnen waren Nazis, einer spionierte für SD und SS internationale Finanzkreise aus. Paul Hechler, Generaldirektor der BIZ, un- terschrieb seine Briefe auf Bankpapier an den Reichsbank-Vizedirektor Puhl mit „Heil Hitler“ – Parteigenossen unter sich, über die Grenzen hinweg. Die hochbezahlten Bankherren in Ba- sel kamen prächtig miteinander aus, während die Soldaten ihrer Länder einan- der an allen Fronten außerhalb der neu- tralen Idylle erbarmungslos abschlachte- ten. Der amerikanische Anwalt der BIZ war John Foster Dulles, späterer Außen-

170 der spiegel 12/1997 Achse die Ware bei der Banca d’Italia ge- dem Gold, das ihr von der Deutschen Kriegsglück längst gewendet hatte und holt. Reichsbank verkauft wird, nicht ansehen, Nazi-Deutschland bereits ums Überleben Auch die Schweizer Nationalbank par- woher es kommt.“ kämpfte, mußte auch den Schweizern klar tizipierte an diesem gestohlenen italieni- Daß Weber über die trüben Quellen sehr sein, daß Berlin keinerlei Vorkriegsbestän- schen Gold, von dem sie gut sieben Tonnen wohl Bescheid wußte, zeigen Äußerungen de an Gold mehr besitzen konnte. als Ausgleich für Geld nahm, das Rom eid- im Kollegenkreis sowie ein Brief an Fi- Genau dies aber war jenes Jahr, in dem genössischen Banken schuldete. So leiste- nanzminister Ernst Wetter vom Herbst die Schweizer Nationalbank den größten te die SS willkommene Dienste als Schul- 1943. Darin drückte Weber die Hoffnung Batzen von der Reichsbank kaufte – Bar- deneintreiber für Schweizer Geldinstitute. aus, „daß der Nationalbank aus dem Gold- ren im Wert von 592 Millionen Franken. Nationalbank-Chef Ernst Weber war zu- geschäft mit der Reichsbank keine Nach- Das meiste war gestohlenes Belgiergold – gleich Verwaltungsrat bei der BIZ. Die teile erwachsen werden“, da, wie er vor- das die Schweizer, wie sie sich intern ver- mochte er zwar als lästige Konkurrenz sichtig andeutete, „nicht von der Hand zu ständigten, nun entgegen allen alliierten nicht besonders leiden, teilte aber mit ihr weisen ist, daß dieses Gold teilweise aus Warnungen zur rechtmäßigen Kriegsbeute die Maxime, daß auch Nazi-Gold nicht den besetzten Gebieten stammt“. der Deutschen ummünzten: „Die Requisi- stinke. Bedenken wischte man mit dem Ar- Das war zu dieser Zeit schon die schie- tion von Gold ist ein Recht, das einer Be- gument beiseite: „Die Nationalbank kann re Heuchelei. Denn Ende 1943, als sich das satzungsmacht nach den Bestimmungen des Völkerrechts zusteht“, heißt es in dem Brief des Nationalbank-Direktoriums an den Finanzminister. Und der antwortete im Namen der ge- samten Regierung, daß man mit der von der Nationalbank bisher geübten Praxis einverstanden sei. Jedoch würde man es begrüßen, „wenn diese Goldübernahmen für die Zukunft sich in eher bescheidenem Rahmen bewegen“. 1944 übernahm die Nationalbank aber immer noch Nazi-Gold für 85,7 Millionen

„Die Requisition von Gold ist ein Recht, das einer Besatzungsmacht zusteht“

Franken. Insgesamt kaufte sie im Lauf des Krieges von Berlin Gold im Wert von über 1,7 Milliarden Franken. Für das NS-Regime hatten die Goldge- schäfte mit der Schweiz vitale Bedeutung. Er könne „nicht einmal für zwei Monate auf die Möglichkeit verzichten, in der Schweiz Devisentransaktionen durchzu- führen“, sagte Reichsbankchef und Wirt- schaftsminister Funk Ende 1943 in kleinem Expertenkreis – stammten doch 90 Pro- zent der Devisen des Reiches vom freund- lichen Nachbarn. Die Alliierten, darüber erbost, daß das von allen Seiten eingeschlossene Reich im- mer noch kriegswichtige Rohstoffe erhielt, forderten alle neutralen Regierungen im Sommer 1944 in einer Note ultimativ auf, jedwede Gold- und Devisenoperationen mit Deutschland und dessen Verbündeten zu verbieten. Bern ließ diese Demarche unbeantwortet. Die Nationalbank stellte sich auf den Standpunkt, die Entgegen- nahme von Gold müsse aus Gründen der Neutralität für alle Länder gelten. Noch am 13. April 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, teilte die Reichsbank der Nationalbank mit, sie möge 1,7 Millionen Franken an die Rüstungsfirma Oerlikon überweisen – im Auftrag der Japanischen Marinemission in Berlin: die Schweiz ölte buchstäblich bis zuletzt die Kriegsmaschine. Auch die allerletzten dreieinhalb Ton- nen Goldbarren aus Deutschland über- nahmen die Eidgenossen nach mehrwö-

der spiegel 12/1997 171 Werbeseite

Werbeseite Ausland chigen dramatischen Verhandlungen mit Vom April 1945 datiert ein amerikani- nate dauerten, wahrte ein eidgenössischer Puhl noch im April 1945, obwohl die Ber- scher Geheimdienstbericht, wonach auf Querkopf besonderer Art: Walter O. Stucki, ner Regierung sich gegenüber den siegen- dem Gut des Barons von der Heydt bei Direktor im Politischen Departement, wie den Alliierten am Ende doch noch ver- Ascona „große Mengen Goldes, das 1944 das Berner Außenministerium sich nannte, pflichtet hatte, mit den Nazis keinerlei per Diplomatengepäck in die Schweiz ge- hatte während des Krieges als Gesandter Goldgeschäfte mehr zu tätigen. bracht wurde, im Keller vergraben“ seien. bei der Regierung Pétain in Vichy dem Mar- Dankbar pries Puhl gegenüber seinem Es sei schwierig, da etwas zu unterneh- schall öffentlich Bewunderung gezollt. Chef Funk in Berlin das große Verständnis men, weil der Baron Schweizer Bürger sei. Nun sah er die neutrale Schweiz „be- seiner eidgenössischen Freunde für die Das war er allerdings erst seit 1937.Vorher handelt wie ein okkupiertes Land“. Er Interessen des Reiches, das auch künftig- war von der Heydt deutscher Prominen- machte kein Hehl daraus, wie sehr es ihn hin „normale Geschäfte“ verheiße – also ten-Bankier gewesen. störte, daß er in Washington nicht nur we- nach dem Krieg. Und so war es wohl ge- Jedenfalls verlangte die US-Regierung gen des Raubgold-Handels in die Mangel meint. Auch der Eidgenosse Weber lobte im Juli 1945 von der Schweiz eine genaue genommen wurde, sondern auch wegen laut Puhl das Geschäft, das „weittragen- Aufstellung der Goldreserven ihrer Natio- auf Schweizer Konten versteckter Nazi- de, über die unmittelbare Gegenwart hin- nalbank bei Kriegsende. Die Berner Re- Beute und des gesamten deutschen Eigen- ausgehende Bedeutung“ genieße. gierung, empört über solch ein Ansinnen, tums in der Schweiz. Nach Kriegsende brachte Die Alliierten besaßen ge- Puhl seine Schweizer Kumpane genüber der Schweiz ein wirk- freilich in die Klemme, als er sames Druckmittel. Denn die alliierten Vernehmungsoffizie- USA hatten 1941 zusammen ren gestand, daß die Berner mit anderen kontinentaleu- Nationalbank-Direktion sehr ropäischen Guthaben alle wohl über das Raubgold Be- schweizerischen Werte in Ame- scheid gewußt habe – zumin- rika blockiert – über fünf Mil- dest „Präsident Weber und der liarden Franken. Dennoch zweite Mann nach ihm“. Er dachte Stucki nicht daran, klein habe auch niemals eine ein- beizugeben. deutige Aussage gemacht, nur Die Alliierten konfrontierten sauberes, also Gold aus zwei- ihn damit, daß die Schweiz felsfrei deutschem Vorkriegs- Gold im Wert von rund 400 besitz, geliefert oder angebo- Millionen Dollar entgegenge- ten zu haben. nommen habe, von dem etwa Da hatten die Sieger die drei Viertel Raubgut gewesen Schweiz bereits wegen anderer sei. Stucki bestritt kategorisch, Sünden im Visier. Im Rahmen daß die Schweiz überhaupt je einer Geheimdienstoperation, gestohlenes Gold gekauft habe. die sie „Safehaven“ nannten, Die Sieger reduzierten ihre hatten sie Hinweise gesammelt, Forderungen auf Gold für 130 daß die geschlagenen Nazi- Millionen Dollar. Da stieg Größen kurz vor dem Ende Stucki, wie er in Bern berich- versuchten, ihre Beute in die tete, „das Blut in den Kopf“: Er Schweiz zu retten. Und sie arg- brach die Verhandlungen ab.

wöhnten, daß damit sogar der / DPA KEYSTONE In Bern sah man jedoch Fundus für ein Viertes Reich ge- Berns Unterhändler Stucki: „Große Gefahr auf dem Goldgebiet“ „eine große Gefahr auf dem legt werden solle. Auf solche Goldgebiet herannahen“ und Pläne deuteten geheime Treffen von NS- das die „souveränen Rechte der Schwei- beschloß, im schlimmsten Fall ein „Löse- und SS-Größen mit führenden Wirtschafts- zerischen Eidgenossenschaft“ betraf, wei- geld“ anzubieten, das allerdings 250 Mil- führern in Straßburg im Herbst 1944 hin. gerte sich, über die amtlichen Veröffentli- lionen Franken keinesfalls überschreiten Bei der Zürcher Wehrli-Bank, deren In- chungen der Nationalbank hinaus etwas dürfe. Das war nicht einmal die Hälfte der haber ein bekannter Nazi-Sympathisant preiszugeben. letzten alliierten Forderung. war, existierte laut einem Safehaven-Re- Im März 1946 wurde jedoch in Wa- Die Alliierten sammelten weitere port ein Treuhandkonto der „Wilhelm- shington eine Konferenz der Sieger zur Trümpfe. Reichsbankvize Puhl hatte ihnen Gustloff-Stiftung“, benannt nach dem 1936 Klärung der Raubgold-Frage eröffnet, wo- bestätigt, daß seine eidgenössischen Ge- in der Schweiz von einem Juden ermorde- bei es vor allem um die unterdessen im schäftspartner durchaus über das Belgier- ten NS-Führer. In die Stiftung flossen „Mit- Detail bekanntgewordene Affäre des bel- gold Bescheid wußten. Es waren auch tel, welche Nazis den Juden in Deutschland gischen Goldes ging. Die USA, Großbri- Puhl-Briefe aufgetaucht, in denen er die und in den besetzten Gebieten abgenom- tannien und Frankreich, die für 15 weitere Schweizer Seite wegen ihres Entgegen- men haben“, meldete ein US-Bericht vom Alliierte sprachen, luden die Schweiz als kommens lobte. 12. Juni 1945. Beschuldigte vor. Darüber hinaus hatten Reichsbank-Mit- Auch privat hortete die NS-Prominenz Dabei spielte keine Rolle, daß die Belgier arbeiter und erbeutete Akten grausige De- Vermögen in der Schweiz. Meldungen gab bereits entschädigt waren: Frankreich hat- tails über das sogenannte KZ-Gold ans es über Göring,Außenminister Ribbentrop, te Brüssel das einst in Verwahrung genom- Licht gebracht: Münzen, Eheringe, golde- Gestapo-Chef Müller und viele andere, bis mene Gold schon 1944 aus eigenen Gold- ne Uhren, Goldbrillen, die Juden abge- hin zu den Bankiers Schacht und Abs. vorräten ersetzt. Nicht ganz freiwillig: Bel- nommen worden waren – ebenso wie die Hitlers Gesandter in der Türkei, der frühe- gien hatte zuvor in New York deponiertes Zahngoldfüllungen, die Opfern nach dem re Reichskanzler Franz von Papen, depo- Franzosengold blockieren lassen. Nun woll- Gastod aus dem Mund gezogen wurden. nierte eine halbe Million Franken im te Paris sich für diese Verluste an den Eid- 76 solcher Lieferungen der SS an die Namen seiner Kinder bei einer Bank in St. genossen schadlos halten. Deren Interes- Reichsbank waren ab Herbst 1942 akten- Gallen. sen bei den Verhandlungen, die zwei Mo- kundig. Reste davon hatten die Sieger noch

der spiegel 12/1997 173 Werbeseite

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Werbeseite Damals, 1946, hatte die für die Eidge- nossen äußerst günstige Lösung – Stucki warnte, man solle sich nicht zu laut darüber freuen – ein wenig bekanntes Nachspiel: Die Berner Regierung sah nicht ein, wes- halb sie für das zahlen sollte, was die Na- tionalbank der Schweiz eingebrockt hatte. Die Bank wiederum bestellte sich ein Gut- achten, wonach sie rechtens gehandelt habe. Man einigte sich darauf, daß die Na- tionalbank zum „Lösegeld“ aus ihrer Kas- se 100 Millionen Franken beitrug. Das war

Das Bußgeld wurde deklariert als „freiwilliger Beitrag zum Wiederaufbau Europas“

etwa das Doppelte ihres Reingewinns aus den Geschäften mit dem Raubgold. Durch bewährte Hinhaltetaktik gelang es der Schweiz auch noch, das Problem des deutschen Vermögens in ihrem Sinn zu lösen. Davon hatten die Alliierten zu- letzt die Hälfte beansprucht, während die andere Hälfte der Schweiz als Ausgleich für Schulden des Reiches bleiben sollte. Die Sieger, die zunächst mit Milliarden gerechnet hatten, wurden nach Jahr und Tag mit 121,5 Millionen Franken abge- speist.

KEYSTONE / DPA KEYSTONE Über 80 Prozent des deutschen Vermö- Bewachter Transport jüdischer Flüchtlinge in Zürich: „Der gute Ruf blieb gewahrt“ gens verblieb dessen Eigentümern. Und das waren nicht Nazi-Opfer, sondern Täter mit dem übriggebliebenen Reichsbankgold Das Schweizer Bußgeld kam zusammen oder zumindest überwiegend Nutznießer in einem Salzbergwerk bei Merkers in mit Nazi-Gold, das in Deutschland und des Systems. Thüringen gefunden. Österreich aufgefunden worden war, in ei- „Der gute Ruf der Schweiz bei dubioser Vieles aber war im Auftrag der Reichs- nen Dreimächte-Goldpool. Daraus wurden Klientel wurde gewahrt“, so ein eidgenös- bank bereits vorher von der Preußi- dann zu etwa zwei Dritteln die Verluste all sischer Banken-Kritiker, und er verbreite- schen Münze eingeschmolzen und in Bar- jener Länder ausgeglichen, deren Goldbe- te sich zu Nutzen für Diktatoren aus der ren gegossen worden. Niemand konnte stände von den Deutschen geplündert wor- Dritten Welt, Drogenhändler und Mafia- ausschließen, daß auch solches Gold in den waren. Banden. Schweizer Tresoren gelandet war, geliefert Auf einen Rest im Wert von rund 40 Mil- Die Schulden des Reiches ließ sich die vom Gentleman Puhl, den die Eidgenossen lionen Dollar, der aus diesem Topf bis heu- Schweiz 1952 von der Bundesrepublik mit so schätzten und den die Alliierten zu sechs te bei der Federal Reserve Bank und der satten 665 Millionen Franken ablösen. Geld Jahren verurteilten – um ihn nach sechs Bank of England liegt, erheben nun jüdi- aus Bonn holte sich auch die BIZ in Basel, Monaten Haft wieder freizulassen. sche Organisationen im Namen von Holo- die ihre Kollaboration mit dem NS-Regime Mit Puhls Aussagen konfrontiert, verlor caust-Opfern Anspruch. ebenfalls fast unbeschadet überstand und ein Mitglied der schweizerischen Delegati- nach dem Krieg als Clearing-Zentrale für on die Fassung. Nationalbank-Direktor Al- Marshall-Plan-Milliarden fungierte. Die fred Hirs sah sich als jener „zweite Mann“ BIZ kassierte für ihre Vermögenswerte in demaskiert, der laut Puhl vom belgischen Deutschland von der Bundesregierung 165 Gold wußte. Er stammelte „Das bin ich.“ Millionen Mark. Wenn man nun für 500 Millionen Franken Aus ihrem Goldgeschäft mit der Reichs- Gold zurückhaben wolle (die Zahl hatte bank – insgesamt 15,4 Tonnen – kamen der niemand genannt), würde man seine Bank BIZ lediglich 3740 Kilogramm abhanden: ruinieren. Dann ging er mit den Worten Das war nachweisbar Raubgold aus Belgi- „Mich braucht man hier wohl nicht mehr.“ en, Holland und Italien. Chef McKittrick Delegationschef Stucki stellte sich trotz kehrte nach dem Krieg dorthin zurück, wo- der Panne, die ihn in kalte Wut versetzte, her er gekommen war, an die Wall Street. weiterhin stur. Es waren die Briten, die sich Er übernahm einen Posten bei der Chase schließlich mit der Ansicht durchsetzten, National Bank in New York. man solle sich mit den offerierten 250 Mil- Die einzigen, die leer ausgingen, waren lionen begnügen, zahlbar in Gold. die Inhaber oder Erben der Holocaust- Mit dieser Summe, von Bern als „frei- Konten. Ihre Sache wurde in dem Trubel williger Beitrag zum Wiederaufbau Euro- ums Gold mehr oder minder vergessen.

pas“ deklariert, kaufte sich die Schweiz FOCUSWOODFIN / AGENTUR CAMP Nachdem die Banken zunächst treuherzig los; ihr in den USA blockiertes Vermögen Zahnfüllungen von KZ-Opfern mitgeteilt hatten, da seien bloß Beträge wurde freigegeben. „Man sah nicht, woher das Gold kam“ von insgesamt 482000 Franken, beschied

176 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Ausland die Berner Regierung 1952 die Alliierten kurz und bündig, es gebe in der Schweiz keine Vermögenswerte von Opfern des Na- tionalsozialismus ohne Erben mehr. Walter Stucki hatte schon nach den Wa- shingtoner Verhandlungen befriedigt ver- merkt, daß „dieser Punkt von keiner der beiden Seiten eigentlich ernst genommen worden ist“. Ein Jahrzehnt später, als jüdische Orga- nisationen die Frage wieder einmal auf- brachten, sah Stucki keinerlei Verpflich- tung der Schweiz – und „keinen Grund, den Alliierten nun nach Jahr und Tag noch mühevoll etwas in den Rachen zu jagen“. Als ein sozialistischer Parlamentarier nach jahrelangem zähen Ringen gegen die ehern abblockenden Banken ein Meldege- setz für nachrichtenlose Konten durch- setzte, brachten Nachforschungen magere zehn Millionen Franken zutage. Jahre spä- ter spendierte eine Großbank etliche Dollarmillionen aus solchen Geldern dem Internationalen Roten Kreuz in Genf – ob- wohl einige ihrer Mitarbeiter verdächtigt werden, beim Schmuggel von Nazi-Raub- gut mitgemischt zu haben. Israel Singer vom Jüdischen Weltkongreß nannte diese Geste denn auch eine „Gabe von jenen, denen das Geld nicht gehörte, an jene, die es nicht verdienten“. Es sind sol- che Zeichen der Verstocktheit, die dazu beitrugen, daß nach so langer Zeit die Ge- schichte der Schweizer Kollaboration unter dem Deckmantel der Neutralität neu auf- gerollt wurde und weltweit Empörung über die Moral der Eidgenossen auslöste. Die Schweiz habe sich nichts vorzuwer- fen, ihre Geschichte müsse auch nicht auf- gearbeitet werden – so denken auch im März 1997 immer noch viele Eidgenossen. Der rechte Abgeordnete der Volkspartei Christoph Blocher nannte vor johlenden Gesinnungsgenossen jede Form von Ent- schädigung „für eine angeblich verfehlte schweizerische Handels- und Wirtschafts- politik während des Zweiten Weltkriegs“ einen „Verrat an unserem Volke“. Die Ver- antwortlichen hätten „den Kopf verloren“. Blocher ist keinesfalls allein mit der Mei- nung, es sei bloß fremdländische Tücke, wenn die Schweiz wegen ihrer Vergangen- heit an den Pranger gestellt werde. Sieben aufrechte Bürger ließen im Februar 12000 Franken für eine ganzseitige Zeitungsan- zeige springen. Damit sollte „allen zwei- felnden, verunsicherten Bürgern guten Wil- lens ins Gedächtnis gerufen“ werden, was Winston Churchill Ende 1944 über die Schweiz geäußert hatte, nämlich: „Von al- len Neutralen hat die Schweiz das größte Anrecht auf bevorzugte Behandlung.“ Eine Arzneimittelfirma lieferte etwa zur gleichen Zeit eine Probe eigentümli- chen Humors. Sie warb für ihr Schmerz- mittel Siniphen mit dem Spruch: „Wenn Ihnen Nazigoldzähne Kopfschmerzen be- reiten.“ ™

der spiegel 12/1997 AP Anspielung auf das Raubgold in der Basler Fasnacht: „Wer Schuldigkeit anerkennen kann, kehrt in die Realität zurück“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Die stickige Luft wird fortgeweht“ Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über den Streit um das Nazi-Gold, die Verdrängung der Vergangenheit und die Selbstgerechtigkeit der Eidgenossen

SPIEGEL: Herr Muschg, der Schweizer Bun- versehens als Bösewicht vor der Welt da, dafür treten viele sogenannte Brandstifter despräsident hat zur allgemeinen Über- als ein Land, das sich am Erbe von Holo- von einst als ehrliche Leute auf. raschung eine Stiftung für Solidarität caust-Opfern vergriff und am Raubgold SPIEGEL: Mit Heldenrolle meinen Sie vorgeschlagen, die Opfern von Armut, der Nazis bereicherte.Wie fühlten Sie sich das Bild des wehrhaften Eidgenossen Katastrophen und Menschenrechtsverlet- in solch ungewohnter Rolle? in seinem angeblich kaum bezwing- zungen auf der ganzen Welt helfen soll. MUSCHG: Ich fühlte mich befreit. Der baren Alpenreduit. Die Mehrheit der Reicht das, um die Sünden der Vergan- Schweizer Sonderfall ist definitiv durch- Schweizer ist doch immer noch über- genheit verblassen zu lassen? gefallen. Auch bei uns wird jetzt nach ei- zeugt, man habe damals unter dem MUSCHG: Jedenfalls hat der Bundesrat mit nem neuen Skript gespielt. Die Helden- Zwang der Verhältnisse tun müssen, was einem starken Zug eine Position aufgeho- rollen für Biedermänner sind gestrichen, man getan hat. ben, die bisher nur auf Verlust MUSCHG: Es gibt eine Kollabo- stand. Aus der Erblast ist über ration aus Not und eine, die Nacht eine Beweislast gewor- sich die Not anderer zunutze den: Wie solidarisch ist die macht. Übrigens haben sich die Schweiz? Die Antwort darauf Banken nicht nur an der Plün- gibt sie jetzt in der Gegen- derung der Opfer beteiligt. Sie wartsform – oder sie bleibt sie haben dadurch auch den eige- schuldig, diesmal nicht den Ju- nen Soldaten an der Grenze die den, sondern sich selbst. Würde gestohlen. SPIEGEL: Hat der kühne Vor- SPIEGEL: Die Banken hatten schlag politisch überhaupt eine wohl eher ihre guten Gewinne Chance, durchgesetzt zu wer- im Sinn als Würde – nach dem den? Motto, auch Nazi-Gold stinkt MUSCHG: Die Rechnung ist ohne nicht. den Wirt gemacht. Das Volk MUSCHG: Als Kind habe ich da-

muß darüber abstimmen, was FOCUS / AGENTUR / MAGNUM MAYER F. mals auch keinen Unrat gero- ihm seine Glaubwürdigkeit wert chen, schon gar kein Gas. Nur ist, was seine Zukunft kosten Adolf Muschg Höhenluft und entfernten Pul- darf. Jetzt wird es lebendig bei trennt sorgfältig zwischen Literatur und Politik: Als Schrift- verdampf. „Wer nicht schwei- uns. Schon das ist etwas Neues, steller („Der Rote Ritter“) hält er künstlerische Distanz zum gen kann, schadet der Heimat“, und ich freue mich darauf. Zeitgeist, als Bürger und Mitglied der Sozialdemokratischen hieß es damals – das klang wie SPIEGEL: Die Schweiz, dieser Partei nimmt er leidenschaftlich Anteil am Alltag seines Lan- die Einladung zu einer Ver- einstige Musterknabe, stand un- des. Nach dem Tod der nationalen Kulturheroen Max Frisch und schwörung. Auch die abendli- Friedrich Dürrenmatt gilt Muschg, 62, als schärfster Kritiker che Verdunkelung war ein Das Gespräch führten die Redakteure Jürg schweizerischer Überheblichkeit und Eigenbrötelei. Abenteuer; ich wußte nicht ein- Bürgi und Siegfried Kogelfranz. mal, daß sie uns von den Deut-

der spiegel 12/1997 179 Ausland schen befohlen war. Die Schweiz saß in ei- nommen, um die Verhandlung über ein nem verdunkelten Zuschauerraum, und schweres abzubiegen. auf der Bühne spielte der Krieg. Wir durf- SPIEGEL: Diesen Zeitpunkt hat die Schweiz ten nur flüstern, sonst kam er zu uns. versäumt. Erst jetzt räumt sie nach langem SPIEGEL: Aber sonst schien Ihnen alles nor- Zaudern etliches ein, was ihr längst nach- mal, während die Nachbarn vor den Toren gewiesen wurde, und bietet auch Entschä- der Gott sei Dank neutralen Eidgenossen- digung an – viel zu spät, um sich die ganze schaft aufeinander einschlugen? Anklage zu ersparen. MUSCHG: Hinterher kommt mir an diesen MUSCHG: Das ist der Fluch eines Systems, Kriegsjahren in der Schweiz alles heimlich das aus dem Reagieren eine Tugend ge- vor: unsere Angst, unsere Sympathie, un- macht hat. sere Sprache, sogar unser Mut.Am meisten SPIEGEL: Warum haben die mächtigen Ban- verheimlichten wir, daß es uns immer noch ken mit ihren weltweiten Beziehungen die- gutging. Und daß wir wußten: Das war se Gefahr nicht früher erkannt? auch richtig so, wir waren die Guten, denn MUSCHG: Da staune ich auch. Die Schweiz wir waren ja Schweizer. läßt sich so etwas wie Außenpolitik ja SPIEGEL: Und nun, nach einem halben längst von Finanz und Wirtschaft besor- Jahrhundert, sind die Schweizer plötzlich gen. Damit glaubte sie fein heraus und die Schurken. doch professionell bedient zu sein. Nun ist MUSCHG: Die reine Katastrophe für eine auch diese Illusion geplatzt. Nach Kriegs- ganze Generation, deren Uhr damals ste- ende war es ja noch gelungen, sich für bil- hengeblieben ist. Sie sind aus der Ver- lige 250 Millionen von weiteren Fragen schwörung der Goldrichtigen nie mehr nach dem Verbleib der Beute loszukaufen. ausgetreten. Gott hatte sein Volk in zwei Gestellt wurden sie von den Amerikanern Weltkriegen bewahrt, und das mußte schon damals, und es waren sehr un- heißen, es hatte sich bewährt. Es brauchte freundliche Fragen. 1945 als einziges keinen Neubeginn. SPIEGEL: Die schnell wieder verdrängt SPIEGEL: Auch keinerlei kritische Bestands- wurden. aufnahme? MUSCHG: Im Kalten Krieg machte die MUSCHG: Wozu? Uns war ja nichts ge- Schweiz ja alles wieder gut.Will sagen: Sie schehen, und verbrochen hatten wir erst setzte das Doppelspiel der Kriegsjahre fort, recht nichts. Die Welt: das waren die an- diesmal wahrhaftig ohne Not. Jetzt wurde dern, mochten sie jetzt ihre Bescherung auch selber aufräumen. Damals hat das „Die alte Garde verlernt Schweizer Immunsystem eine entschei- die Sprache des Belagerungs- dende Impfung versäumt. SPIEGEL: So macht die Schweiz mit Jahr- zustands nicht mehr“ zehnten Verspätung auf einmal durch, was die Deutschen längst bewältigen mußten es ein reines Gewinnspiel. Gesinnungs- oder was den Österreichern mit der Wald- neutralität: um keinen Preis! Aber man heim-Affäre beschert wurde. Ist es da zahlte auch keinen, denn die politische verwunderlich, daß viele angesichts des Neutralität verpflichtete einen ja geradezu, Schocks wie betäubt dastehen und nicht von beiden Seiten zu kassieren. Auch sei- angemessen damit umgehen können? ne Feinde glaubte man damals besonders MUSCHG: Splendid war unsere Isolation preisgünstig zu bekommen. Man suchte sie schon lange nicht mehr. Doch erst nach unter den eigenen Mitbürgern, die dieses 1989 wurde sie absurd. Da begann vielen Vaterland nicht über jeden Zweifel erhaben Schweizern zu dämmern, daß nicht die fanden. Über ein Fünftel seiner Wohnbe- ganze Welt verkehrt sein könne, sondern völkerung legte der Staatsschutz im Kalten daß sie selbst verkehrt sein müssen. Krieg Akten an! Diese Notstandssimula- SPIEGEL: Wie geht es denn nun weiter? tion war ein teurer Schwachsinn. Das Land MUSCHG: Erst muß der Schmerz kommen, hat darauf viel von der Substanz ver- wie nach jeder Anästhesie. Aber wer schwendet, die ihm heute fehlt. Schuldigkeit anerkennen kann, kehrt in SPIEGEL: Weshalb haben Sie und andere die Realität zurück. Schriftsteller und Künstler in dieser bisher SPIEGEL: Diejenigen, die sich nach wie vor schwersten Krise der Schweiz ebensolan- für schuldlos halten, schrecken selbst vor ge wie die Banken und die Regierung ge- antisemitischen Ausfällen nicht zurück. zögert, bevor Sie klare Worte fanden? MUSCHG: Und merken nicht einmal, daß MUSCHG: Seit 30 Jahren warnten Intellek- sie sich damit genau in der Gesellschaft tuelle in Schrift und Bild. Glauben Sie, da zeigen, mit der sie niemals Verbindung ge- warten wir auf einen Senator, der in New habt haben wollen. York gewählt werden will, um unseren SPIEGEL: Kritiker meinen, die Schweiz rea- Landsleuten ins Ohr zu jubeln: Ätsch, wir giere auf Enthüllungen über ihre befleck- haben’s ja gesagt? Wer früher nachgedacht te Vergangenheit wie ein ausgebuffter Kri- hätte, brauchte jetzt nicht nach „Vorden- mineller, der immer gerade nur zugibt, was kern“ zu schreien. ihm bewiesen werden kann. SPIEGEL: Als größter Sündenbock steht MUSCHG: Echte Profis hätten doch lieber derzeit die Regierung da.Alle werfen dem gleich ein kleines Delikt auf die Kappe ge- Bundesrat Führungsmangel vor.

180 der spiegel 12/1997 Werbeseite

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MUSCHG: Armer Bundesrat! Als konkor- 50 Jahren rühren sich in der Schweiz die MUSCHG: Ja, zum Typus Pharisäer fallen danzpflichtiger Kompromißverwalter wur- Grenzen des Vorstellbaren. selbst der Bibel nur Flüche ein. Nicht ein- de er doch nicht zum Führen bestellt. Bis- SPIEGEL: Wer könnte denn diese Erschüt- mal ihre Sauberkeit hat die Schweiz so be- her reichte es der Wirtschaft auch, wenn terung in eine grundsätzliche Reform um- liebt gemacht, wie sie gern glaubte. Da lag die Regierung ihr den Standort begünstig- münzen? immer die Frage in der Luft: Und wo las- te, den Rücken freihielt, die Verluste so- MUSCHG: Die alte Garde der Wortführer sen die ihren Schmutz? zialisierte – auch die moralischen. Neu ist hat schon bewiesen: Sie verlernt die Spra- SPIEGEL: Jetzt endlich kommt alles auf den nur, daß sie weltweit auffallen. che des Belagerungszustands nicht mehr. Tisch. SPIEGEL: Ist es überhaupt möglich, sich un- Die andere Schweiz kommt nur mit einer MUSCHG: Wir haben uns als Sonderfall auf- ter Zwang mit der eigenen Geschichte ehr- Generation, die in anderen Horizonten geführt, jetzt bekommen wir sein volles lich auseinanderzusetzen? aufgewachsen ist. Maß auf den Hintern gezählt. Es hilft nicht, MUSCHG: Die Historiker haben ihre Haus- SPIEGEL: Mögen Sie die Schweiz? wenn wir schreien: Da waren wir aber aufgaben längst gemacht und – um Herrn MUSCHG: Die Schweiz, die sich selbst zum nicht allein! Kein Rabatt: Jetzt sind wir al- D’Amato zu zitieren – in die Ecke aufge- Maß aller Dinge macht, mag ich nicht. lein, und dafür haben wir selbst gesorgt. sagt. Davon ließ sich die Legenden- Schweiz nicht erschüttern. Sie hat sich seit der Schlacht von Marignano aus der Welt- geschichte verabschiedet*. Der Rest war im Prinzip immerwährende Neutralität mit ein paar Zwischenfällen. Und jetzt soll man auf einmal ein Täter gewesen sein, sogar durch Unterlassung. Ein Mittäter der Na- zis? Wer gewohnt war, die Geschichte als eine Art kaltes Buffet zu betrachten, von dem man holt, was einem schmeckt, der schluckt das nicht. SPIEGEL: Was ist die Folge dieser Erfah- rung? Führt sie zu weiterer trotziger Iso- lation oder doch zu einer Öffnung, wie Bundespräsident Koller jetzt hofft? MUSCHG: Das hängt davon ab, ob man jetzt eine Wunde behandelt oder sich damit be- gnügt, eine Blöße zu bedecken. SPIEGEL: Letzteres geht wohl nicht mehr. MUSCHG: Wenn ich an die Schweizerische

Bundesverfassung denke, die nächstes Jahr AP 150 Jahre alt wird, die konnte auch nur un- US-Senator D’Amato (r.) mit Archivdokumenten: „Volles Maß auf den Hintern“ ter schwerem Druck geboren werden. Es waren eigene Bür- Aber ich mag die Schweiz, die SPIEGEL: Wie ertragen Sie es denn, daß Ih- ger, die diesen Druck mach- mir jetzt in vielen Gesichtern nen und anderen, die die eigene Ge- ten, und sie trieben ihn 1847 und Gesprächen begegnet. Sie schichte immer kritisch kommentierten, bis zum Bürgerkrieg.Aber der ist pragmatisch und sensibel. nun von außen erklärt wird, was Sie zu siegreiche Freisinn verstand Bescheidenheit macht ihr denken haben? sich als Teil einer europäi- keine Mühe, und Konflikte MUSCHG: Unerträglich würde es, wenn der schen Bewegung. Der einzige wecken ihre Neugier.Wenn sie Druck die Ideen ganz ersetzte. Daß er sie Weg aus der heutigen Krise von einem Modell redet, liefern muß, ist in der Schweiz normal, und führt uns nach Europa zurück. meint sie nicht Vorbild. Dar- die Ideen sehen, wenn sie einmal ankom- SPIEGEL: Warum? um kann man mit solchen men, auch danach aus: verdrückt. Der So- MUSCHG: Weil unser Verhal- Partnern sogar über ein Mo- lidaritätsfonds mußte der Schweiz ab- ten zum erstenmal ohne Wenn dell Schweiz reden. genötigt werden. Was sie schuldig ist, muß und Aber mit dem Maß des TIME-Titelbild SPIEGEL: Heute fragt das Aus- sie zahlen. Aber in dem, was sie sich selbst übrigen Europa gemessen land nicht nach dem Modell, schuldig geworden ist, bleibt sie frei. Dies- wird. Erst wenn wir uns dieses Maß gefal- sondern danach, was unter der demokra- mal braucht, anders als im Zweiten Welt- len lassen, gewinnen wir auch ein gesell- tisch gelackten Oberfläche alles möglich krieg, der Phantasie keine Grenze gesetzt schaftsfähiges Verhältnis zu uns selbst.Wir war. Warum kommt das alles jetzt erst zu sein. brauchen uns weder kleiner noch größer hoch? Am Ende des Kalten Kriegs und an SPIEGEL: In der Präambel zu einem Ver- zu machen, als wir sind. Das Schwierigste, der Öffnung der Archive allein kann es fassungsentwurf formulierten Sie 1977 un- was wir zu lernen haben, ist Konflikt- doch nicht liegen. ter anderem, daß „frei nur bleibt, wer die fähigkeit. MUSCHG: Die schweizerische Art von De- Freiheit gebraucht“, und daß sich „die SPIEGEL: Der Schlag traf die Schweiz aus- mokratie beschleunigt moralische Prozes- Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen gerechnet zu einem Zeitpunkt, wo ihr se nicht. Sie begünstigt das Populäre, und mißt“. Aus dem ganzen Reformprojekt ist Selbstwertgefühl ohnehin durch hohe Ar- Selbstprüfung ist unpopulär. Der Zusam- seinerzeit nichts geworden. Ist die Aus- beitslosigkeit und schlechte Wirtschafts- menhalt der Schweiz war immer heikel. gangslage jetzt besser? aussichten angekratzt ist. Darum müssen patriotische Legenden hier MUSCHG: Die mentale Verfassung der MUSCHG: Ja, die verschnupfte Schweiz vielleicht länger dichthalten. Schweiz geht in Totalrevision, ob sie will steht in schwerem Durchzug, aber es weht SPIEGEL: Wenn man die Korrespondenzen oder nicht. Warum also soll sie, was sie auch die Stickluft fort. Zum erstenmal seit liest, die Schweizer Banken mit einzelnen doch muß, nicht wieder einmal wollen? Juden führten, schimmert ein unglaubli- SPIEGEL: Herr Muschg, wir danken Ihnen * Dort besiegte Frankreich 1515 die Eidgenossen. ches Maß an Selbstgefälligkeit durch. für dieses Gespräch.

der spiegel 12/1997 183 Werbeseite

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RUSSLAND Kurzes Leben n allen 15 Republiken der früheren So- Iwjetunion ist nach Angaben der Welt- gesundheitsorganisation WHO die durch- schnittliche Lebenserwartung in den neunziger Jahren gefallen. Sie liegt nach den WHO-Daten derzeit bei knapp unter 60 Jahren, also um 20 Jahre niedriger als im Westen.Alkohol, Nikotin und die stei- gende Zahl von Verkehrsunfällen und Ge- walttaten verkürzen das Leben russischer Männer. Russische Frauen haben, vergli- chen mit den Männern, eine um fünf Jah- re höhere Lebenserwartung, aber auch die ist rückläufig, teilweise als Folge des ge- stiegenen Zigarettenkonsums. Frauen im Westen oder auch in Japan hingegen, die jetzt auf die Welt kommen, können mit ei- P. BENTLEY / DAS FOTOARCHIV ner durchschnittlichen Lebenserwartung Vorort von Los Angeles von über 80 Jahren rechnen. STADTPLANUNG an den Überschuß-Temperaturen allenfalls zwischen einem Prozent (im Sommer) und zehn Prozent (im Winter). Hauptschuld an Inseln der Hitze der übermäßigen Erwärmung tragen die vielen dunklen Dächer und Straßen der twa ein Sechstel des Verbrauchs an Großstädte, die den größten Teil des auf sie Eelektrischer Energie in den USA dient fallenden Sonnenlichts absorbieren. Knapp der Kühlung von Gebäuden, die Kosten be- ein Fünftel der Stromkosten von jährlich tragen rund 40 Milliarden Dollar. Beson- 100 Millionen Dollar für den Betrieb ihrer ders hoch ist der Kühlaufwand in Groß- Klimaanlagen könnten die Bewohner von städten wie Los Angeles oder Washington, Los Angeles nach dem Szenario der Ex-

ACTION PRESS ACTION in denen die Durchschnittstemperaturen perten einsparen, wenn sie im Laufe der Entbindungsstation in Rußland stets um etwa drei Grad Celsius höher lie- nächsten 15 Jahre die 1250 Quadratkilo- gen als im Umland. Doch die Verbrennung meter Dachflächen mit hellen Dachziegeln von Benzin, Öl, Erdgas und Kohle in Autos, decken, die Straßen mit hellem Beton statt ELEKTROTECHNIK Wohnhäusern, Büros und Fabriken ist, wie mit dunklem Asphalt überziehen und zehn es in einer Studie amerikanischer Energie- Millionen Bäume pflanzen würden, vor- Glühlampen ohne Risiko fachleute heißt, nur zum geringsten Teil an zugsweise Eschen und Ahorn. Zugleich der Schaffung solcher städtischen Hitze- würde die Umwandlung der Stadt in eine ie mögliche Gefahr des Stromschlags, inseln beteiligt. Wie Forscher vom US- kühle Gemeinde auch die gesundheits- Dder von haushaltsüblichen Glühlam- Energieministerium in der Zeitschrift tech- schädlichen Ozonkonzentrationen über pen und deren Fassungen ausgeht, soll nology review mitteilen, schwankt der dem Häusermeer um durchschnittlich durch ein neues System gemindert wer- Anteil dieser menschengemachten Hitze zwölf Prozent senken. den, das nächsten Monat auf der Welt- lichtschau in Hannover vorgestellt wird. Bei der von der Meersburger Firma Prolite KOMETEN sogenannten Kepler-Teleskop zwar auf dem entwickelten „Snap-in“-Technik wird die Kopf“, sagt Hünig, „aber das stört bei der weitverbreitete Edison-Gewindefassung Teleskop aus Pappe Beobachtung von Himmelskörpern nicht durch eine Kombination aus Steckan- weiter.“ schluß, wie er bei Niedervolt-Halogen- n den nächsten Wochen ist der „Jahr- lampen angewandt wird, und der (zum Ihundertkomet“ Hale-Bopp in Deutsch- Beispiel in Frankreich üblichen) Bajonett- land die ganze Nacht über zu sehen. Pünkt- verriegelung ersetzt. „Snap-in“-Glühlam- lich zum Erscheinen des prächtigen pen sind mit zwei kurzen, kräftigen Steck- Schweifsterns hat der Würzburger Wal- kontakten versehen, die nach Art eines dorfschullehrer Klaus Hünig ein Billig-Te- Gerätesteckers in die Fassung eingestöpselt leskop zum Selbstbau entwickelt. Das Fern- werden. Ein Schnappverschluß im Innern rohr aus Pappe vergrößert 12fach, wiegt der Fassung bewahrt die Glühlampe vor nur etwa 50 Gramm und ist in einer halben dem Herausfallen aus einer Deckenleuch- Stunde zusammengebastelt. Schon seit 15 te. Eine komplette Umrüstung aller Licht- Jahren entwickelt Hünig astronomische quellen in einem Haushalt auf das neue Kartonmodelle. Auch das Kometen-Fern- Fassungssystem mit Berührungsschutz ist rohr wird, einschließlich der Kunststoff- nicht nötig: Prolite entwickelte einen Ad- Linsen, als Bastelbogen von seinem Astro-

apter, der in herkömmliche Gewindefas- Media-Verlag in Würzburg verschickt FRISCHMUTH / ARGUS P. sungen eingeschraubt werden kann. (Preis: 10 Mark). „Das Bild steht bei diesem Selbstbau-Fernrohr

der spiegel 12/1997 185 Wissenschaft

HIRNFORSCHUNG Störfall im Flaschenhals Wie funktioniert das menschliche Gedächtnis? Wie und wo im Gehirn werden Informationen gespeichert und abgerufen? Auf der Suche nach Antworten tasten sich die Gedächtnisforscher in ein Labyrinth vor.

it dem Fahrrad hatte sich der Gast- Erstaunlich viele Hirninstanzen, so hat Handlungs- oder Bewegungsabläufen, wirt frühmorgens auf den Weg sich dabei gezeigt, sind an der Daten- die oft mühsam erlernt wurden, später Mzum Bäcker gemacht. Dort war er verarbeitung speziell für das Langzeit- aber automatisch abgespult werden kön- nicht angekommen. Fünf Tage blieb der gedächtnis beteiligt. Mindestens vier nen – etwa beim Radfahren oder Ski- Familienvater, der Brötchen holen wollte, verschiedene Speichersysteme, jedes zu- laufen, Schwimmen, Tanzen und Kla- spurlos verschwunden. ständig für bestimmte Inhalte, hält das vierspielen. Dann tauchte er, mehr als 300 Kilome- Menschenhirn laut Markowitsch bereit: π „Priming“ nennen die Wissenschaftler ter weiter südlich, in der Bahnhofsmission π Im „episodischen“ oder „autobiogra- schließlich jenes Gedächtnissystem, das einer fremden Stadt auf. Statt zum Bäcker phischen“ Gedächtnis werden, chrono- Sinneseindrücke (Farben, Formen, Ge- zu fahren, war der Vermißte in panischer logisch geordnet, alle persönlichen Er- rüche) festhält und bei der Begegnung Unruhe rastlos den Rhein entlang geradelt. lebnisse aufbewahrt – besonders fest mit ähnlichen Reizen mehr oder minder Fragen nach Namen, Herkunft und Rei- haften jene Ereignisse, die mit starken deutliche Erinnerungen freisetzt – das seziel konnte der erschöpfte Irrfahrer nicht Emotionen verbunden sind. Priming, verankert in den sensorischen beantworten. Er wurde in die Psychiatrie π Das „Wissenssystem“, gleichfalls in der Feldern der Hirnrinde, erleichtert das eingewiesen. Den Ärzten erklärte er immer Hirnrinde lokalisiert, enthält das allge- Wiedererkennen schon einmal erlebter wieder, er wisse nicht mehr, wer er sei. meine und eher gefühlsneutrale Welt- Situationen (siehe Grafik). Irgendwo zwischen seiner Wohnung und und Faktenwissen – es umfaßt Vokabel- Wie sich die Gedächtnisspuren („En- dem Bäckerladen hatte der Radler sein Ich schätze wie Verkehrsregeln, Geschichts- gramme“) im Gehirn manifestieren, ist den verloren. Wenn er in den Spiegel blickte, kenntnisse oder Telefonnummern. Gelehrten bislang noch nicht klar. Sicher ist starrte ihn ein Fremder an. Körperlich π Im „prozeduralen“ Gedächtnis, das dem nur, daß alles bewußte Wissen in die krank war er offenbar nicht; einen Hirn- Kleinhirn und den Basalganglien zuge- Großhirnrinde eingraviert wird. Doch die schaden konnten die Mediziner bei dem ordnet wird, finden sich die Muster von Gedächtnisengramme sind dort nur zum Mann ohne Biographie nicht entdecken. Die Psychiater schickten ihn schließlich nach Köln ins Max-Planck-Institut (MPI) Bei der Worterkennung aktivierte für neurologische Forschung, wo sich Pro- Hirnareale (beim Rechtshänder) fessor Hans Markowitsch mit dem sonder- Vordere Großhirnrinde baren Fall beschäftigte. Markowitsch, Lehr- stuhlinhaber für Physiologische Psycholo- gie an der Uni Bielefeld und Mitarbeiter am Kölner MPI, gilt in Deutschland als Koryphäe auf dem Gebiet der Gedächtnis- forschung. Patienten, denen ein Großteil ihrer Er- innerung plötzlich abhanden kam, dienten Markowitsch und seinen Kollegen schon häufig als eine Art Forschungs-Pfadfinder, die den Gelehrten beim Vordringen in das Gedächtnislabyrinth weiterhalfen: Oft sind es Defekte im Gehirn der Patienten, die überraschende Einblicke in die überaus komplizierten Gedächtnisstrukturen ge- währen. In welchen Hirnregionen Gedächtnis- inhalte archiviert, wo und wie sie eingele- sen, sortiert, abgerufen oder auch blockiert werden – das alles läßt sich mit den Detek- torgeräten der modernen Gehirndiagnostik detailliert untersuchen. Studiert wird, etwa mit Hilfe von Positronen-Emissions-Tomo- graphen (PET), das Gehirn in Aktion: Auf den Farbmonitoren der Geräte wird sicht- Linke Gehirnhälfte bar, welche Hirnpartien ein Proband bei dem Versuch aktiviert, sich Erlerntes oder Erlebtes in Erinnerung zu rufen. Computer-Darstellung des Gehirns beim Erinnerungsvorgang: Vier Informationsspeicher von

186 der spiegel 12/1997 Teil an scharf umgrenzte Regionen gebun- Verteiltes Wissen den – selbst großflächige Verluste an Hirn- 1 Das episodische oder autobiographische Ge- masse beeinträchtigen das Gedächtnis oft dächtnis enthält persönliche, emotional gefärb- nur wenig. te Erinnerungen an Ereignisse der individuellen Entstanden, meint Markowitsch, sei das Lebensgeschichte Erinnerungsvermögen im Lauf der Evolu- 2 Im Wissenssystem, dem Depot für allgemeines tion vermutlich als „Mechanismus zur Faktenwissen, werden Schul- und Weltkenntnisse gespeichert Lebenserhaltung und -verlängerung“: Als erstes wurden Geruchs- und Geschmacks- 3 Im prozeduralen Gedächtnis finden sich die Programme für eintrainierte Bewegungsabläufe wahrnehmungen längerfristig gespeichert; 4 Priming, das entwicklungsgeschichtlich älteste das half bei der Nahrungssuche oder beim Gedächtnissystem, speichert Sinnesreize, die Aufspüren paarungsbereiter Geschlechts- ähnlich erlebte Situationen in Erinnerung rufen partner. Mit dem Wachstum des Menschen- hirns in Jahrmillionen wucherte der ur- WISSENSSYSTEM PRIMING tümliche Priming-Merker immer üppiger EPISODISCHES heran. GEDÄCHTNIS Die vier Gedächtnissysteme, die sich dabei entfalteten, allesamt Informations-

speicher von schier unermeßlichem Fas- D. HOPPE / NETZHAUT 113 x 8 = Gedächtnisforscher Markowitsch 123 x 710 PROZEDURALES sungsvermögen, bilden jedoch keine strikt GEDÄCHTNIS voneinander getrennten Erinnerungskam- Poststelle im Stammhirn 142 = 17 x 100 mern; sie wirken vielmehr, wie Marko- X witsch betont, auf höchst komplexe Weise verfügt über spezielle Hirnstrukturen, die zusammen. für das Einspeichern oder Abrufen von In- So werden etwa beim Vorgang des Spre- formationen zuständig sind. chens die Kehlkopfmuskeln vom prozedu- Allgemeinwissen beispielsweise wird ralen Gedächtnis koordiniert, während das stets von der linken Hirnhälfte abgefor- Wissenssystem Vokabeln, Grammatikre- dert, persönliche Erinnerungen dagegen Hirnrinde geln und Sachkenntnisse beisteuert. von der rechten Hemisphäre. Bei der Ein- Kommt die Rede auf Persönliches, liefert gabe passieren fast alle Informationen das autobiographische Gedächtnis Ge- zunächst das sogenannte limbische Sy- limbi- sches sprächsstoff, wobei das Priming ständig stem, eine entwicklungsgeschichtlich alte System emotionale Untertöne mitschwingen läßt. Hirnformation, die das Gefühlsleben be- Ein- und Ab- Erst vor kurzem entdeckten die Forscher herrscht. Dort werden neu eintreffende speicherung der Kleinhirn weitere Raffinessen der Gedächtnisarbeit: Gedächtnisinhalte wie Briefe auf dem vier Gedächtnissysteme Basalganglien Jedes Gedächtnissystem, so zeigte sich, Postamt sortiert und dann weitergeleitet – emotionsgeladene Daten kommen ins bio- graphische Fach, andere werden ins Wis- senssystem oder ins Priming-Depot ver- sandt. Auf dem Weg zum Bestimmungsort, aber auch auf dem Rückweg – beim Erin- nern –, wird die Gedächtnispost durch ei- nige Engpässe dirigiert, oftmals winzige Relaisstationen im weitverzweigten Lei- tungsnetz des Gehirns. Sowohl im limbi- schen System wie in der Hirnrinde finden sich Bündel von Nervenfasern, die für die Ein- oder Ausgabe von Informationen un- entbehrlich sind. Störfälle in diesen neuronalen „Fla- schenhälsen“ (Markowitsch) können rie- sige Löcher in das Gedächtnis der Betrof- fenen schlagen, wie die Forscher an Pa- tientenbeispielen eindrucksvoll demon- strieren. Nur ein millimetergroßes Stück Ner- vengewebe in der Gehirnmitte war bei ei- nem Medizinprofessor, den Markowitsch untersuchte, nach einem Schlaganfall zer- Hintere Großhirnrinde stört worden. Der Minidefekt versperrte für immer die Eingangspforte zum Lang- zeitgedächtnis des Akademikers. Seit 15 Jahren dringt dorthin nichts Neues vor. Namen, Gesichter, Zahlen und Fakten ver- Rechte Gehirnhälfte gißt der einstige Chefarzt spätestens nach einer Minute.

SCIENCE PHOTO LIBRARY / AGENTUR FOCUS / AGENTUR LIBRARY SCIENCE PHOTO Sein Altgedächtnis dagegen blieb ihm schier unermeßlichem Fassungsvermögen erhalten. Mühelos erinnert sich der Pro-

der spiegel 12/1997 187 Wissenschaft Boten der Erinnerung US-Forscher entdeckten, daß ein Wachstumsfaktor bei der Bil- dung des Langzeitgedächtnisses bestimmend ist.

ie herkömmliche Neuroanato- anderen biochemischen Abläufen ge- mie hat ausgedient: „Durch formt und modifiziert. Dkonsequentes Starren auf Ge- Nervenwachstumsfaktoren, soge- hirne“, meint Hirnforscher Dr. Ralf Ga- nannte Neurotrophine, stehen derzeit luske vom Max-Planck-Institut in im Rampenlicht der Forschung. Sie Frankfurt, „kann man heute einfach können Nervenzellen beeinflussen und nichts mehr rauskriegen.“ deren Aktivität verändern. Wo Neuroanatomen früherer Zeiten Viele Forscher waren daher über- im Alleingang das Wesen des Geistes rascht, daß gerade TGFβ die Gedächt- mit Hilfe des Mikroskops zu begreifen nisleistung von Nervenzellen beein- suchten, arbeiten heute Anatomen, flußt, gehört es doch gerade nicht zur Physiologen und Biochemiker Hand in Gruppe der Neurotrophine. Bislang

Hand. Methoden aus Biochemie, Mo- hatte man das Protein lediglich als ULLSTEIN lekularbiologie und molekularer Zell- wichtigen Regulator von Wachstum Psychoanalytiker Freud* biologie dienen als Werkzeug, um die und Differenzierung im Embryonalal- Gedächtnisschwund durch Moralschock? molekularen Veränderungen im Ge- ter und als Hemmstoff des Zellwachs- hirn, die als Basis unseres Gedächtnis- tums bestimmter Zellen im Erwachse- fessor an Ereignisse, Orte und Mitmen- ses gelten, zu analysieren und zu er- nenalter angesehen. schen aus seiner Schul- und Studentenzeit. klären. Jetzt, da Wissenschaftler die Boten- Auch das damals erworbene Fachwissen US-Wissenschaftlern unter der Lei- stoffe der Erinnerung entschlüsseln, hält er noch parat. Doch seit dem Schlag- tung des Neurobiologen John H. Byrne deuten sich auch deren Nutzungsmög- anfall steht die Zeit für ihn still. Wer ihn gelang dabei jetzt ein Durchbruch. Sie lichkeiten an: Krankhafte Veränderun- nach der laufenden Jahreszahl fragt, be- wiesen im Tierexperiment nach, daß gen des Nervensystems, bei denen die kommt stets zur Antwort: 1982. ein Protein, der Wachstumsfaktor TGFβ Gedächtnisleistung nachläßt, wie zum In anderen Fällen, die Markowitsch schil- (transforming growth factor beta), in Beispiel die Alzheimerkrankheit, lassen dert, verkraftete das scheinbar so störan- Nervenzellen dieselben Veränderungen sich durch Wachstumsfaktoren wie fällige Langzeitgedächtnis selbst ausge- hervorruft, die als bestimmend für die TGFβ möglicherweise positiv beein- dehnte Hirnschäden. Das Speichersystem Bildung von Langzeitgedächtnis gelten: flussen. Die Pharmaindustrie hält sich erwies sich als fähig, massive Erinnerungs- eine Zunahme der Verbindungen zwi- bereit: TFGβ und andere Wachstums- verluste zumindest halbwegs auszuglei- schen sensorischen Neuronen (Nerven, faktoren lassen sich mittels Gentechno- chen – so bei einem Geschäftsmann, der die Impulse zum Muskel leiten) und logie in beliebiger Menge produzieren. beim Reiten vom Pferd gestürzt war und Motoneuronen (Nerven, die den Mus- Hirnforscher Galuske warnt jedoch schwere Verletzungen vor allem am rech- kel steuern). davor, die Ergebnisse der US-Studie ten Schläfenlappen des Großhirns erlitten Die Arbeit der Forschergruppe aus ohne weiteres auf den Menschen zu hatte. Houston zeigt, so der Jenaer Zellbio- übertragen: Beim anatomisch simplen Der Unfall löschte alle autobiographi- loge Reinhard Wetzker, „die enorme Versuchstier, der Meeresschnecke Ap- schen Daten aus dem Gedächtnis des Ma- Plastizität des Nervensystems“. Entge- lysia, „kennt man jedes Neuron mit nagers; er konnte sich weder an seine Fa- gen früherer Annahmen wird es le- Vornamen“. Bei Menschen „ist das milienangehörigen noch an seinen früheren benslang von Wachstumsfaktoren und schon noch etwas komplizierter“. Beruf erinnern. Intakt geblieben war je- doch sein Wissenssystem. Es half ihm bei der Rekonstruktion und der Fortschrei- bung seiner Biographie. Anders als der zerstreute Medizinpro- fessor, der nur noch in der Vergangenheit lebt, kann sich der verunglückte Reiter nicht nur Sachwissen (darunter auch den eigenen, vergessenen Lebenslauf) neu ein- prägen; auch persönliche Erlebnisse aus der Zeit nach dem Unfall behält er zuver- lässig im Kopf. Nur wirkt er, selbst wenn er sich an Intimes erinnert, „merkwürdig un- beteiligt“, wie Markowitsch notiert; auch bewegende Ereignisse referiert er so emo- tionslos wie ein Nachrichtensprecher im Rundfunk. Offensichtlich, meint Markowitsch, ver-

OKAPIA buche das lädierte, seiner rechten Hemi- Meeresschnecke: „Bei Aplysia kennen wir jedes Neuron mit Vornamen“ sphäre weitgehend beraubte Gehirn des

* 1922, mit Enkel Stephen Gabriel.

188 der spiegel 12/1997 Unfallopfers jegliche Information wie trockenes Schulwissen – ein Erscheinungs- bild wie bei jenem verstörten Familienva- ter, der auf der Fahrt zum Bäcker die Er- innerung an sich selbst verlor. Bei Untersuchungen mit dem PET-Gerät zeigte sich, daß der Mann beim Versuch, Erinnerungen aus seinem früheren Leben hervorzukramen, stets nur sein Linkshirn mobilisierte, die Anlaufstelle für Sach- wissen. Rätselhaft blieb dabei, was die Blockade der rechten Hemisphäre aus- gelöst hatte; ein Hirndefekt lag nicht vor – war ein Psychoschock schuld an dem plötz- lichen Blackout? Dergleichen, so hatte einst der Psy- choanalytiker Sigmund Freud gelehrt, widerfahre in der frühen Kindheit jedem Menschen: Ein elterlicher Machtspruch, der den „polymorph perversen“ Trieben des Kleinkinds moralische Schranken setzt, tilgt laut Freud ein für allemal jede Er- innerung an die ersten drei, vier Lebens- jahre. Markowitsch und seine Fachkollegen glauben nicht an Freuds Theorie vom früh- kindlichen Moralschock. Bei Kindern im Alter von vier Jahren, so haben die For- scher nachgewiesen, ist die Entwicklung der Großhirnrinde noch längst nicht abge- schlossen. Erst später formieren sich all-

Mit der Erinnerung an das frühere Leben verschwand auch das Asthma mählich die nötigen Hirnstrukturen für das Langzeitgedächtnis, wobei der autobio- graphische Datenspeicher zuletzt einge- richtet wird. Eine Erklärung für den jähen Gedächt- nisschwund des sonst kerngesunden Rad- lers hat das Markowitsch-Team bislang nicht finden können. Psychotherapeutische Behandlungsversuche schlugen fehl. Wo- möglich, vermutet Markowitsch, erfülle die Psychoblockade den unbewußten Wunsch des Patienten, sich von seinem bisheri- gen glücklosen Leben endgültig zu verab- schieden. Das ist dem einstigen Gastwirt nur halb gelungen. Nach seiner Irrfahrt durch die Kliniken und Max-Planck-Labors ist er in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt, die ihn über eine Vermißtenanzeige wie- derfand. Anfangs sträubte er sich gegen die Zu- mutung, seine Ehefrau und die gemein- samen Kinder als Angehörige zu akzep- tieren; er hielt sie für Fremde. Auch die Wohnungseinrichtung daheim fand er scheußlich. Inzwischen hat er sich an die für ihn neue alte Umgebung gewöhnt. Seiner Gesundheit ist der Gedächtnisverlust gut bekommen. Mit den biographischen Erin- nerungen ist auch sein Asthma ver- schwunden. ™

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COMPUTER Elektronisch auf Papier Buchdruck aus dem Rechner Das Papier ist mit „elektronischer Tinte“ Zaubertinte aus einzeln steuer- 3 baren Partikeln beschichtet. Für den Umzug der Bon- im Datennetz ner Ministerien 1999 nach Berlin stehen genügend bundeseigene Büros in Ein elektronisches Buch, der Hauptstadt zur Verfü- gung, die derzeit gar das seinen Inhalt in nicht oder nur teilweise Partikel Das elektro- genutzt werden: Rund Sekundenschnelle ändert, ein Viertel aller Liegen- nische Buch schaften allein im künfti- Elektroden könnte Bildschirme kann per Com- WERKE WERKE DIGITALE DIGITALE gen Parlaments- und Re- gierungsviertel sind im Papier in vielen Bereichen ersetzen. puter oder Besitz des Bundes. Viele Datennetz Staatsgebäude drohen in wenigen Die „elektronische Tinte“ besteht aus Partikeln eit Jahren schon zittern die Liebhaber Sekunden neu mit von einigen tausendstel Millimetern Durchmes- des gedruckten Wortes, Bildschirme, Buchstaben und Zeichen ser. Das elektrische Feld zwischen haarfeinen SComputer und Datennetze könnten gefüllt werden. Elektroden dreht wahlweise die schwarze oder eines Tages die gebundenen Bücher über- weiße Seite der Partikel nach oben. flüssig machen. Zwar könne sich heute noch niemand vorstellen, schöngeistige nen schwarzen Punkt. Die Bläschen sind elektrischen Feldlinien auszurichten. Je Texte auf flimmernden Monitoren zu lesen, nur halb so groß wie der Durchmesser ei- nach Polung dreht es den weißen Bauch doch die Fortschritte der Bildschirmtechnik nes menschlichen Haares – fein genug, um oder den schwarzen Rücken nach oben. würden über kurz oder lang das Papier ob- Buchstaben und Grafiken mit der Kanten- Das elektrisch erzeugte Klecksmuster solet machen . schärfe heutiger Computerdrucker darzu- bliebe auch dann erhalten, wenn das digi- Die Sorge ist unbegründet, glaubt der stellen. tale Buch von seiner Ladestation abge- Physiker Joseph Jacobson. Ganz im Ge- Das Erscheinen und Verschwinden der stöpselt wird. „Die elektronisch bedruck- genteil: Er will das Buch zum modernsten Mini-Tintenkleckse läßt sich durch ein ten Seiten werden genauso robust sein wie Medium der Datenwelt entwickeln. Netz filigraner Leiterbahnen steuern, die gewöhnliches Papier. Man kann das digita- Jacobson forscht im Media Lab des ober- und unterhalb der Blasen auf das Pa- le Buch auch mit an den Strand nehmen“, Massachusetts Institute of Technology an pier aufgebracht sind. Wenn eine Steue- prophezeit Jacobson. „elektronischer Tinte“. Diese magische rungselektronik passende Spannungspul- Bis zu 20mal in der Sekunde, so hat Farbe kann wie ein Chamäleon beliebige se erzeugt, ist an den Kreuzungspunkten Jacobson im Labor gemessen, können die Muster aufs Papier bringen. „Stellen Sie zweier Leiterbahnen jeweils ein Partikel schwarz-weißen Pigmente ihre Orientierung sich ein Buch vor, das in wenigen Sekunden dem elektrischen Feld ausgesetzt. Die Po- ändern.Auf dieser Basis wären somit billige seinen Inhalt ändert“, malt sich Jacobson larität des Tintenpartikels zwingt das klei- und sogar flexible Bildschirme realisierbar. die Zukunft des Druckwerks aus. ne Kügelchen dann, sich entsprechend der Ein Buch, das Filme zeigt, läßt sich ebenso Das elektronische Buch könn- vorstellen wie ein Werk, das verschiedene In- te mit einer kleinen Buchse aus- halte in Speicherchips geladen hat. Ein gestattet sein, an die sein Besit- Knopfdruck könnte so ein technisches Le- zer einen PC anstöpselt. Oder xikon in einen Gedichtband verwandeln. der Band würde mit einem com- Mit Auskünften über die Details der puterisierten Bücherregal ver- Technik hält sich Jacobson zurück, solan- bunden. Über die Datenleitung ge die Patentverfahren in der Schwebe strömt neuer Inhalt auf die Sei- sind. Öffentlich demonstriert hat er aber ten des Buches. Ein ebenso ge- schon das beliebig oft wiederbeschreibba- füttertes Journal könnte augen- re Blatt Papier, dem ein spezieller Drucker blicklich neueste Nachrichten den sich wandelnden Inhalt aufprägt. Hier aus dem Internet enthalten, sorgt ein gebündelter Laserstrahl oder die Nachschlagewerke würden sich Wärme eines Thermodruckkopfes für die fortwährend aus Datenbanken Farbänderung der Partikel. aktualisieren. Die technischen Probleme des vollelek- Jacobsons elektronische Zau- tronisch beschriebenen Papiers seien je- bertinte ist keine Farbe im her- doch gleichfalls schon gelöst, erklärt der kömmlichen Sinn. Unter dem Physiker. Er habe ein Verfahren entwickelt, Mikroskop zeigt sich, daß die das sowohl die haarfeinen Elektrodennet- Schicht auf dem Papier winzige ze als auch die wohlgeordneten Tintenpig- Bläschen bildet, in die feine Par- mente durch eine Art Drucktechnik auf tikel eingebettet sind. Die klei- Papier oder andere Oberflächen aufbringt. nen Kügelchen haben eine weiße „Wir haben auch Möglichkeiten gefun- und eine schwarze Hemisphäre. den, mit der Unmenge von Leitungen fer- Je nachdem, welche Seite dem tig zu werden, an die jedes Blatt ange- Betrachter zugewandt ist, bleibt schlossen werden müßte“, behauptet der das Bläschen unsichtbar oder Forscher – wiederum ohne Einzelheiten zu zeigt einen mikroskopisch klei- verraten. Noch dieses Jahr will Jacobson den Prototyp eines digitalen Schriftstücks präsentieren. Das elektronische Buch, so * Mit einer Gutenberg-Bibel und mit

100fach vergrößerten Modellen der elek- CHAPPELL W. glaubt er, werde schon in etwa drei Jahren tronischen Tintenpartikel. Erfinder Jacobson*: Das Lexikon wird zum Gedichtband Realität sein. ™

192 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft Sinken gebracht hätte. Moe, der Schiffs- makler aus Oslo, hat maßlos übertrieben. SCHATZSUCHE Das bestätigt auch der Schiffbauinge- nieur Carsten Standfuß aus . Er verfügt – neben 400 alten Bänden und 200 „Wie im Märchen“ Seekarten – über ein einzigartiges elek- tronisches Archiv, in dem Angaben über Wurden norwegische Taucher mit einem Schlag zu insgesamt 17134 Schiffswracks gesammelt sind. 1800 von ihnen gelten als „Wracks Milliardären? Fachleute bezweifeln den Sensationsfund eines mit Wertladung“. In dieser Rubrik finden Inka-Schatzes auf dem Meeresgrund vor Ecuador. sich auch Einzelheiten über die 1654 ge- sunkene „La Capitana“. ie vier Galeonen, die im Mai 1654 Capitana“ wiederzufinden. Ist die Suche „Laut den Frachtpapieren“, so die Aus- von Callao in Peru aus in See sta- nach dem sagenhaften Inka-Schatz nun kunft von Standfuß, „hatte das Schiff Gold Dchen, waren mit Diebesgut voll be- endlich am Ziel? Letzte Woche berichteten und Silber im Wert von drei Millionen Pe- laden. Mehrere Jahre hatten die spanischen norwegische Schatztaucher, sie hätten das sos geladen, das entspricht ungefähr 75 Mil- Konquistadoren das Gold in dem eroberten legendäre Wrack 16 Meter tief auf dem lionen Mark.“ Inkareich zusammengeraubt. Doch mitten Grund des Pazifik entdeckt. „Entschieden“ widersprach Ende der in der Nacht geriet die Goldflotte in einen „Die Goldmünzen, die wir heraufgeholt Woche dann auch noch der Direktor der kräftigen Sturm. haben, erlauben keinen Zweifel mehr“, ecuadorianischen Handelsmarine der Be- Wie von einer Riesenfaust gepackt, wur- verkündete Christian Moe, Chef der Oslo- hauptung, die norwegischen Schatztaucher de das Flaggschiff „La Capitana Jesús er Schatzsucherfirma La Capitana Invest. seien auf das legendäre Galeonenwrack María“ auf ein Riff geschleudert und ging Schon Ende März würden seine Leute da- gestoßen. Solche „skandalösen“ Falsch- innerhalb weniger Minuten unweit der Kü- mit beginnen, den Schatz zu heben. Meldungen, so der Marine-Chef, kursierten ste von Ecuador unter. Fast alle Seeleute Beeindruckt hat Moe die Weltpresse vor leider immer wieder. ertranken. Nur dem Kommandanten Fran- allem mit seiner Schätzung, nach der die Doch Schwindeln gehört bei den Schatz- cisco de Sosa gelang es, an Land zu Schiffsfracht einen Wert von sieben Milli- suchern offenbar zum Handwerk. In den schwimmen. arden Mark haben dürfte. „Dafür kann letzten Jahren ist die Wracktaucherei zu Schon am anderen Morgen befahl der man sich eine Großbank kaufen“, staunte einem boomenden Gewerbe geworden, in gerettete Admiral den Männern der übri- BILD. Moe gab sich überglücklich: „Ich dem sich auch viele Glücksritter tummeln. gen Schiffe, die kostbare Fracht zu bergen. komme mir vor wie im Märchen.“ Zumindest für einige von ihnen ist die Tau- Aber die Strömung war stärker. Binnen Wahrhaftig: Als Märchen entpuppt sich cherei mittlerweile ebenso gewinnträchtig, kurzer Zeit hatte sie das Wrack in Stücke die gigantische Summe schon bei näherem wie es einst die Seeräuberei war. gerissen und unter Sand begraben. Hinsehen.An Bord des Holzschiffs müßten Doch der Konkurrenzkampf ist hart.Al- Seit fast 350 Jahren bemühen sich Aben- sich rund 350 Tonnen Gold befunden ha- lein vor der Küste Ecuadors liefern sich teurer aus aller Herren Länder, die „La ben – was die Galeone augenblicklich zum sechs Tauchunternehmen, darunter die nord- und südamerika 1 16 spanische 7 santissima trini- galeonen 1553 mit dad 1711 im Sturm Juwelen, Gold- und Silber- mit 4 Schwesterschif- barren untergegangen fen untergegangen (2 bereits geborgen) 700 Millionen Mark 3 Milliarden Mark 14 15 12 8 13 spanische 2 la madelena galeonen 10 13 Nur 16 von 300 Passa- 1715 gestrandet 9 11 gieren entkamen 1563 9 65 Millionen Mark 1 2 dem Schiffsunglück; 3 7 8 Ladung: Juwelen, Silber- n und Goldbarren 9 success ging 1761 5 100 Millionen Mark in einem Hurrikan 6 mit Gold- und Silber- 3 mendoza-flotte ladung unter Alle sieben Galeonen 74 Millionen 4 unter Admiral Mendoza sanken 1614 10 ss merida 1911 1,5 Milliarden Mark bei einer Kollision mit einem Dampf- 4 la capitana jesus schiff gesunken; maria 1654 mit Gold- die Goldbarren und Silberbarren auf dem konnten bis heute versunkene schiffe Weg von Callao, Peru, nicht gehoben und ihre schätze nach Panama gesunken werden 75 Millionen Mark 800 Millionen Mark am meeresgrund 5 la trompeuse heutiger Wert der Ladung Piratenschiff; 1668 von westeuropa den Briten versenkt 450 Millionen Mark 11 las cinque chagas 12 spanische ar- 13 spanisches Bei einer Schlacht ging 1594 mada 1588 mit flaggschiff 14 15 6 san josé sank 1708 die Ladung aus Goldbarren, Schmuck, Gold- 1647 gesunken; santa cruz sank la luitine 1799 mit mit Goldbarren und Silber, Edelsteinen, Elfen- dukaten und Kunst- Ladung: Golddukaten; 1679; Ladung: Truhen Münzen, Gold- und Silber- Smaragden bein und Porzellan unter werken versenkt 400 Menschen starben voll Gold und Silber barren untergegangen 700 Millionen Mark 74 Millionen Mark Wert: unschätzbar 40 Millionen Mark 100 Millionen Mark 100 Millionen Mark

194 der spiegel 12/1997 Moe-Firma, seit Jahren einen Wettlauf um die Überreste der „La Capitana“. Wer glaubhaft machen kann, das Wrack als erster gefunden zu haben, darf darauf hoffen, mit dem südamerikanischen Land einen lukrativen Vertrag über die Bergung abzuschließen. In aller Regel kassiert der Staat, in dessen Küstengewässern sich ein Schatz findet, 50 Prozent des Erlöses; die andere Hälfte teilen sich als Finderlohn die Taucherfirma und deren Geldgeber. Um ihre millionenteuren Expeditionen zu finanzieren, benötigen die Schatztau- cher risikofreudige Kapitalgeber. Die In-

„Dank modernster Technik lohnt sich die Schatzsuche jetzt wirklich“ vestoren werden mit astronomischen Ren- diten geködert. „Wir träumen nicht, wir verdienen Ihr Geld“, versprach unlängst die Hamburger Schatztaucherfirma Lex Rhodia in ihrem Werbeprospekt. Eine An- lageberatungsfirma für Ärzte war gleich mit fünf Millionen Mark dabei. „Wir erleben derzeit einen Goldrausch unter Wasser“, bestätigt der führende deut- sche Schatztaucher Klaus Keppler, Chef der Nautik GmbH in Sasbach. „Dank mo- dernster Technik lohnt sich die Schatzsu- che jetzt wirklich.“ Keppler gilt, neben einigen Amerika- nern, als einer der wenigen Profis in dem Geschäft. Sein Schatzsucherschiff „Jade“ ist mit High-Tech-Maschinen im Wert von einer Million Mark ausgerüstet: „Wir ha- ben alles an Bord, was man braucht.“ Vor allem das Satellitennavigationsgerät GPS, mit dem sich die Position des Suchschiffes auf weniger als einen Meter genau bestimmen läßt, erleichtert Keppler die Arbeit. „Wenn wir große Meeres- flächen absuchen müssen, können wir da- mit sicherstellen, daß wir kein Fleckchen Meeresboden übersehen.“ Für ebenso wichtig hält der Schatztau- cher sein sogenanntes Protonenmagneto- meter. Das äußerst empfindliche Suchgerät spürt jedes Metallteil Unterwasser auf. „Damit präsentiert sich uns der Meeres- grund wie ein Bilderbuch.“ Die Zahl der Wrackfunde, prophezeit der Schatztaucher, werde deshalb schon bald erheblich steigen. „Binnen weniger Jahre werden wir die wertvollsten Schätze geborgen haben“, glaubt Keppler, „und darunter ist dann sicher auch die ‚La Ca- pitana‘.“ In der Gegend der Chanduy-Sandbank, auf der die Osloer Schatztaucher die „La Capitana“ gefunden haben wollen, liegen nach Auskunft des Standfuß-Archivs noch fünf weitere Wracks aus alter Zeit verstreut. Vielleicht gab eines von ihnen die Gold- münzen her, mit denen der vermeintliche Multimilliardär Moe letzte Woche seinen Sensationsfund zu beweisen suchte. ™

der spiegel 12/1997 Wissenschaft konnt mit Stock und Stein hantieren, son- quem greifen sich die gefiederten Pyro- TIERE dern allerorten im Tierreich wird gebohrt, manen dann ihre Leibspeise, die Hasen, gehämmert, geschaufelt – ja sogar gestri- die vor dem auflodernden Feuer das Frühform chen, wie das Beispiel des Seidenlauben- nach ihnen benannte Panier ergreifen; vogels zeigt. Der Piepmatz träufelt ein aus π Grün- und Mangrovereiher in Amerika Beeren und Blüten zusammengespeichel- oder Afrika Insekten sowie Würmer ins tes Farbgemisch auf Faserbündel, die er Wasser werfen und sich dann die Fische des Heimwerkers wie einen Pinsel im Schnabel führt, um da- angeln, die nach den Ködern schnappen mit seinen (für die Balz errichteten) Lau- – auf diese Weise schaffen es die Ge- Angeln mittels Köder, Hasen- bengang blau auszumalen. schicktesten unter den stelzbeinigen treibjagd mit Feuer und Lange brauchte die Evolution von die- Grätenfressern, in einer halben Stunde Flamme – Werkzeuggebrauch ser Frühform des Heimwerkers bis zum über 20 Fische zu erhaschen. ersten Bombenschützen, den die Exper- Jungreiher hingegen benötigen etwa 60 ist im Tierreich viel ten bei ihren Streifzügen durch die Wälder Stunden, um sich einen einzigen Fisch zu verbreiteter als angenommen. Mittelamerikas in Form des Geoffroy- greifen – ein Beweis dafür, daß die Köder- Klammeraffen entdeckten: Der gewitzte jagd von den Tieren durch Nachahmung nvermutet in eine Höhe von über Baumbewohner läßt seinen Kot zielge- erlernt und durch Erfahrung perfektioniert 60 Metern gehoben zu werden, mag nau auf ihm mißliebige Bodengänger werden muß. Uzu den höchsten der Gefühle fallen. Nicht der Einsicht, sondern einem in en- zählen – aber nicht für eine Schildkröte, Je länger und mehr sie forschen, desto gen Grenzen variablen Reiz-Reaktions- die unter einem Adler hängt. verblüffender sind die Erkenntnisse, die Schema folgen beim Werkzeuggebrauch Noch mieser würde das Panzertier sich Experten über den Werkzeuggebrauch vor evolutionäre Einfach-Modelle wie die nim- fühlen, wenn es ahnte, was der Vogel aus allem bei den eher schlichteren Vertretern mersatte Raubwanze Salyavata variegata. Erfahrung weiß: daß fallende Gegenstände der Tierwelt gewonnen haben. Staunend Ihre Lieblingsspeise ist der Nachschlag, sich im Moment des Bodenkontakts zu ver- stellten sie fest, daß sogar die Vögel mit weshalb sie es sich angewöhnt hat, Termi- formen pflegen; und daß Schildkröten erst ihrem Spatzenhirn zu erheblichen Lern- ten mittels eines genialen Tricks zu fan- mit geknacktem Panzer genießbar sind, leistungen bei der Hilfsmittelnutzung be- gen: Nachdem die Wanze zu Beginn ihres dann aber ganz vorzüglich schmecken. fähigt sind*. Mahles die erste Termite ausgesaugt hat, läßt sie deren leere Hülle über den Rand der Nestöffnung pen- deln – worauf die Termite, die ihren toten Kameraden bergen will, an diesem nach oben gezo- gen, ausgelutscht und danach ebenfalls als Köder recycelt wird. Das wohl häufigste Objekt tie- rischer Beutegier ist jedoch das Ei. Besonderer Beliebtheit erfreut sich dabei das riesige Straußenei, das für die meisten Plünderdiebe eine ganze Mahlzeit darstellt, aber schwer zu knacken ist – al- lerdings nicht für den Schmutz- geier, der mit dem Schnabel bis zu einem Kilogramm schwere Steine so lange gegen das Ei schleudert, bis die harte Schale bricht. Weniger anstrengend mutet im OKAPIA PHOTO RESEARCHERS PHOTO Vergleich dazu das Schildkröten- Affe, Schmutzgeier beim Werkzeuggebrauch: Steinwurf gegen Straußeneier Abwurfverhalten der Steinadler an. Mit einem einfachen Plump- Immer wieder, bis die Konserve endlich Geradezu unglaublich, aber wissen- senlassen der Beute ist es allerdings auch platzt, lassen die Greife ihre delikate Beu- schaftlich gut gesichert, sind etwa die Be- hierbei nicht getan: Die Panzerknacker te deshalb aus der Höhe auf die Erde knal- obachtungen, daß setzen ihrem Opfer im Sturzflug nach und len – ein staunenswertes Spektakel für jene π Kolkraben in Schweden nächtens die rasen mit ihm, sozusagen Auge in Auge, Verhaltensforscher, die sich mit dem Phä- Angelschnüre einziehen, die arktische zur Erde nieder. Dabei dirigieren sie die nomen des Werkzeuggebrauchs bei Tieren Eisangler ausgelegt haben – das Garn Schildkröte per Flügelschlag, damit das beschäftigen. im Schnabel, laufen die Tiere so lange Reptil auf einer möglichst felsigen Stelle Das seltsame Gebaren des Steinadlers zurück, bis der Köderfisch oder die auftrifft. Nach Zählungen der Forscher sind gilt ihnen als ein weiterer Beleg für ihre gehakte Beute verspeisefertig aus dem im Schnitt drei Abwürfe erforderlich, bis These, nach der wesentlich mehr Lebewe- Eisloch glitscht; das Tier verzehrfähig ist. sen sich eines Werkzeugs oder werkzeug- π Schwarzmilane in Australien glimmen- Besonders hartleibige Schildkröten müs- ähnlicher Techniken bedienen, als die Zoo- de Holzstückchen von Feuerstellen sen bis zu achtmal fliegen – was aber ihre logie bisher vermutete. klauen und diese nach kurzem Flug auf Chance erhöht, es einer berühmten Kolle- In vielen Jahren transkontinentaler Frei- trockenes Grasland fallen lassen – be- gin gleichzutun: Die soll vor 2456 Jahren landbeobachtung unter schwierigsten Be- dem griechischen Düster-Dichter Aischylos dingungen haben die Ethologen nachge- auf den Kopf gefallen sein und dem Tra- * Peter-René Becker: „Werkzeuggebrauch im Tierreich“. wiesen, was früher keiner so recht glauben Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart; 136 göden so zu einem der komischsten Tode mochte: Nicht nur bei den Affen, die ge- Seiten; 38 Mark. aller Zeiten verholfen haben. ™

196 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

EVOLUTION Zweibeiner mit wehem Rücken Weshalb wird der Mensch krank? Warum hat die Evolution über die Jahrmillionen nicht alle Gene ausgemustert, die den Menschen quälen oder gar töten? In einem neuen Buch spüren zwei US-Forscher nach dem evolutionären Hintersinn von Krankheit und Leiden. AKG Von der Jagd heimkehrende Steinzeitmenschen: Gene aus ferner Zeit bereiten den Menschen Pein

illionen Jahre lang hat die Evolu- Aus all diesem Leid zieht der Mensch viele Plagen in ein – aus evolutionärer Per- tion an seinem Erbgut gebastelt. augenscheinlich keinen Vorteil im Überle- spektive – versöhnliches Licht*. MSie schenkte ihm den aufrechten benskampf – warum also hat die Evolution Manche Pein ist demnach keineswegs Gang und eine raffinierte Greifhand und diese genetischen Mängel nicht schon vor überflüssig wie ein Kropf. Wer sie lindere, obendrein das verblüffendste Gehirn weit Äonen beseitigt? könne seiner Gesundheit sogar schaden, und breit: der Homo sapiens, ein Meister- Zwei amerikanische Forscher wollen die- denn: „Die Fähigkeit zu leiden ist eine werk der natürlichen Zuchtwahl der Ar- se Rätsel lösen. Der Mediziner Randolph nützliche Verteidigung.“ ten – auf den ersten Blick. Nesse und der Evolutionsbiologe George Klassisches Beispiel ist das Fieber. Es Doch bei Beschau des Serienprodukts Williams, die beiden Begründer eines er- entstand als Abwehr gegen Infektion, denn drängt sich ein Verdacht auf: Als die Evo- kenntnisreichen Faches namens darwinisti- viele Bakterien können sich bei hohen Kör- lution den Menschen schuf, übte sie bloß. sche Medizin, spüren dem evolutionären pertemperaturen nicht mehr vermehren. Denn warum bürdete sie, die zu jedem Hintersinn der Krankheiten nach. In ihrem Anfang des Jahrhunderts, als Antibioti- Wunder fähig ist, dem Menschen Gene auf, Buch „Warum wir krank werden“, das jetzt ka noch nicht entdeckt waren, infizierte die ihn anfällig werden lassen für Diabetes auf deutsch erscheint, rücken die Experten der Arzt Julius Wagner von Jauregg Sy- und Gicht, Krebs und Schlaganfälle? philiskranke zusätzlich mit fiebertreiben- Zucker und Fett machen dick, viele der Malaria. Die Folge: 30 Prozent der Ge- Dicke erleiden einen Herzinfarkt, dennoch schlechtskranken überlebten, gegenüber trägt der Mensch Gene, die ihn geradezu nur einem Prozent zuvor. Der wagemutige zwingen, nach solch ungesunder Kost zu Experimentator erhielt dafür 1927 den No- gieren. belpreis. Töricht wirkt auch mancher Kampf des Wenn Ärzte Fieber mit Medikamenten Immunsystems: Oftmals beschränkt sich und Beinwickeln senken, schreiben Nesse die Abwehr nicht auf feindliche Viren und und Williams, dauerten manche Erkran- Bakterien, sondern streitet gegen gesunde kungen nur um so länger. Ebenso unglück- Zellen des eigenen Körpers. Als Folge die- selig sei es manchmal, Husten zu blockie- ser „friendly fire“-Attacken muß sich der

Mensch mit Autoimmunerkrankungen wie VISUALS D. BINDER / IMPACT * Randolph M. Nesse, George C. Williams: „Warum wir Arthritis, Rheuma und Multipler Sklerose Hot-dog-Wettessen krank werden“.Verlag C. H. Beck, München; 320 Seiten; quälen. Törichte Gier nach ungesunder Kost 48 Mark.

198 der spiegel 12/1997 Werbeseite

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Werbeseite Wissenschaft ren. Sein Sinn besteht darin, die Lunge von Im Körper des Menschen vermuten Nes- zuviel Schleim und Krankheitserregern zu se und Williams „ein ganzes Bündel solcher reinigen. „Wenn man ihn unterdrückt“, spe- Kompromisse“. Als Evolutionstheoretiker kulieren die Autoren, „stirbt der Patient staunen sie vor allem darüber, daß nicht womöglich an Lungenentzündung.“ alle Menschen an Krebs sterben. Der Gegen fast alle Bedrohungen hat der menschliche Organismus besteht aus mehr Feinschliff der Evolution Körper und Psy- als zehn Billionen Zellen, die sich täglich che des Menschen gewappnet. Einige Arten millionenfach teilen und erneuern. Die von Durchfall stellen eine ausgeklügelte Qualitätskontrolle bei dieser Zellvermeh- Reinigungsaktion zum Ausschwemmen rung ist eine von der Evolution geschaffe- etwa von Shigella-Bakterien dar. Angst und ne Glanzleistung an Komplexität und Prä- Schmerz schützen vor gefährlichen Verlet- zision, die nur selten versagt. zungen. Die morgendliche Übelkeit von Bestimmte Gene signalisieren der Zelle, Schwangeren soll sie davon abhalten, ihr zum Beispiel bei einer Wundheilung, daß Ungeborenes mit Giften, die in der Nah- das Gewebe nun wieder ausreichend ge- rung enthalten sind, zu schädigen. wachsen ist – die Zellteilung wird gestoppt. Manche Krankheitsgene schützen sogar Zusätzlich sind Tumorsuppressorgene ak- vor anderen Seuchen, zumindest wenn der tiv, die übertriebenes Wachstum unter- Träger nur eines der betreffenden Gene drücken. Das System ist mehrfach gesi- von Mutter oder Vater geerbt hat. Wer die chert bis hin zu einem genetisch veranker- Mutation für Sichelzellenanämie besitzt, ten Notfallbefehl, daß sich eine Zelle lieber ist fast immun gegen Malaria, eine Anlage umbringen soll als zu entarten. für Mukoviszidose bewahrt vielleicht vor Verschleiß, natürliche Gifte und früher manchen Durchfällen. Doch krank wird unbekannte Schadstoffe wie Tabakrauch der Mensch trotzdem, denn zum Nachteil oder Chemieprodukte machen diesem der heute Lebenden stammen ausgeklügelten Mechanismus seine Gene aus ferner Zeit. jedoch zu schaffen. Daß die Viele zehntausend Jahre lebte Niemals Menschen ihren Krebs nun in Homo sapiens als umherstrei- werden die höherem Lebensalter erleben, fender Jäger und Sammler in Menschen den ist auch der Preis dafür, daß den Savannen Afrikas. Sein mit Hilfe der Medizin die Überlebenskampf gegen Lö- Kampf gegen Lebenserwartung gesteigert wen, Parasiten und Hunger Viren und wurde. hat seine genetische Ausstat- Bakterien Nach wie vor aber bleiben tung geprägt. gewinnen die meisten Menschen in jun- Bis auf 0,005 Prozent stim- gen Jahren davon verschont: men die Erbanlagen der Ur- Zumindest über die gesamte zeitler mit denen der heutigen Menschen Lebensspanne eines Steinzeitmenschen überein – und damit beginnt das Elend funktioniert die Krebsabwehr blendend. der Zivilisationskrankheiten: „Aus der Wenn Nesse und Williams auch ein- Kluft zwischen unserer Anlage und unse- räumen, daß ihre darwinistische Medizin rer Umwelt“, sagen Nesse und Williams, zum Teil ein Wucherfeld der Spekulation „entsteht ein Großteil moderner Erkran- darstellt, in einem Punkt sind sie sich si- kungen.“ cher: Niemals werden die Menschen den Nach Fett, Zucker und Salz zu lechzen Kampf gegen die Mikroorganismen ge- machte einst im kargen Afrika Sinn: winnen. Als Kalorien knapp waren, hatten Indi- Sie sind den Viren und Bakterien unter- viduen, die mehr davon aßen, als sie legen, weil diese sich viel rascher vermeh- brauchten, einen klaren Überlebensvorteil. ren. „Die Bakterien-Evolution erreicht in- Auch Bewegungsfaulheit war einst eine op- nerhalb eines Tages Entwicklungen, für die timale Strategie, mit knapper Energie spar- wir tausend Jahre benötigen.“ sam umzugehen. Daß diese archaischen Wann immer sich das Immunsystem auf Anlagen, als Mitauslöser von Herzkrank- einen dieser winzigen Erreger eingeschos- heiten und Diabetes, mittlerweile lebens- sen hat, kommt er in getarnter Gestalt gefährlich werden können, ist evolutionä- zurück und beginnt den Kampf von neu- res Pech. em. Das Immunsystem wurde von der Andere augenscheinliche Fehler der natürlichen Selektion daher zu paranoider Evolution sind Nesse und Williams zufolge Wachsamkeit getrimmt. Davon profitiert keine Designschwächen, sondern notwen- jeder Mensch, mancher jedoch büßt mit dige Kompromisse. „Jeder Vorteil hat sei- Autoimmunkrankheiten. nen Preis, und auch der wertvollste Vorteil Auch menschlicher Erfindungsgeist hilft kann auf Kosten der Gesundheit gehen.“ gegen die mikroskopisch kleinen Killer auf Der aufrechte Gang zum Beispiel hat Dauer nicht weiter. Immer häufiger über- den Aufstieg der Hominiden zum Homo winden Bakterien die für sie einst tödli- sapiens erst möglich gemacht – doch dafür chen Antibiotika.Auch das HI-Virus rüstet muß er nun mit Rückenschmerzen zahlen: wieder auf: Über die natürliche Selektion Der schwachgerüstete untere Teil der Wir- drohen sich einige Stämme dem Zugriff belsäule ist eben ein Originalbaustein für der brandneuen Aidsmedikamente schon Vierbeiner. wieder zu entziehen. ™

der spiegel 12/1997 201 Werbeseite

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Werbeseite Technik Motorenchef Kurt Obländer: „Einen V6- chend mehr Raum bleibt für die Knautsch- AUTOMOBILE Zylinder können wir uns nicht leisten.“ zone. Der inzwischen erfolgte Sinneswandel Auch bei BMW haben sich die Kon- Schamloses hat ebenfalls zwei Ursachen. Einerseits ist strukteure über diese Vorteile Gedanken er die Folge einer radikal geänderten Mo- gemacht. Sie entwickelten Anfang der dellstrategie. Der Mercedes-Vorstand be- neunziger Jahre zwei V6-Versuchsmotoren Schnurren schloß Anfang des Jahrzehnts, kleinere Au- mit Zylinderwinkeln von 60 und 90 Grad. tos zu bauen mit Frontantrieb und quer- Der erste hätte im Verbund mit dem V12, Mit dem ersten V6-Zylinder wagt liegenden Motoren. Reihensechszylinder der zweite mit dem V8-Motor von BMW sind jedoch zu lang, als daß man sie in hergestellt werden können. Mercedes einen Kompromiß: Querrichtung verbauen könnte. Beide Aggregate scheiterten letztlich an Das neue Aggregat soll Kosten Die A-Klasse wird zwar voraussichtlich der mangelnden Laufruhe. In der motor- sparen und trotzdem so nie mit sechs Zylindern angeboten. Doch technischen zeitschrift, dem Insider- ruhig laufen wie ein Reihenmotor. noch vor der Jahrtausendwende wird Mer- blatt der Maschinenbauer, zogen die BMW- cedes eine etwas größere B-Klasse heraus- Konstrukteure Gerhard Schmidt und Heinz arl Kollmann, 59, verantwortlich für bringen, in der stärksten Version mit ei- Niggemeyer Bilanz: Der Reihensechs- die Entwicklung „Pkw-Motoren nem vorn querliegenden V6-Motor. zylinder, urteilten sie, sei im Schwin- Kund Triebstrang“ bei Mercedes- Auch was die Kosten angeht, bringt die gungsverhalten deutlich besser und in der Benz, befaßte sich jüngst mit einem Ton. V-Anordnung inzwischen Vorteile. Im neu- Summe das „technisch überlegene Kon- Er vernahm „ein ganz anderes, viel kla- en Motorenwerk Bad Cannstatt montiert zept“. reres Klangbild“ und wußte auch, woran es Mercedes den neuen Sechszylinder im Ver- Der Mercedes-Motor soll dieses Grund- lag. Der neue V6-Zylinder von Mercedes bund mit den V8-Aggregaten, unter Ver- satzurteil nun widerlegen. Um störende hat ein Gehäuse aus Alumi- Eigenfrequenzen zu elimi- nium. „Das strahlt heller ab.“ Aus der Reihe getanzt nieren, trieben die Entwick- Der bisherige Sechszylinder ler reichlich Aufwand: war aus Grauguß und klang Sechszylindermotoren in Reihen- und V-Anordnung Eine zwischen den Zylin- vergleichsweise grau. derreihen plazierte Aus- Die akustische Reinheit des V-Anordnung gleichswelle soll, ähnlich wie neuen Motors soll den Glau- VORTEIL: ruhiger Lauf Je drei Zylinder ragen bei schon bekannten V6-Ag- NACHTEIL: große Baulänge schräg empor. Bei dieser ben des Kunden an ein elitä- Bauweise teilen sich je gregaten von General Mo- res Qualitätsbewußtsein der zwei Pleuel einen Hub- tors, Renault oder Peugeot, Marke Mercedes stärken. Die zapfen der wesentlich Massenmomenten entgegen- Bauform jedoch könnte eher kürzeren Kurbelwelle. wirken, die allerdings dank Anlaß zu Zweifeln geben. besonders leichter Kolben Zum erstenmal in der Ge- und Pleuel ohnehin nicht schichte des Unternehmens sehr groß seien. setzt Mercedes einen V6-Zy- Kolben Zwei Zündkerzen pro Zy- linder in Pkw ein – und ver- Pleuel linder, die das Kraftstoff- läßt damit einen ehernen Hubzapfen Luft-Gemisch in kurzer Folge Grundsatz im Maschinenbau nacheinander zünden, erzeu- der renommierten Oberklas- Reihensechszylinder gen einen sanften, vibrati- Alle sechs Zylinder sind se. Der lautete: Es ist immer hintereinander angeord- onshemmenden Druckan- diejenige Anordnung der je- Kurbelwelle stieg bei der Verbrennung. net. Jeder Kolben ist über VORTEIL: geringer Platzbedarf weiligen Zylinderzahl zu ein Pleuel mit einem ein- In Verbindung mit der neu wählen, die die höchste NACHTEIL: geringere Laufruhe; eingeführten Dreiventiltech- zelnen Hubzapfen der laut Mercedes wurde diese Laufruhe verspricht. Kurbelwelle verbunden. Schwäche technisch behoben nik soll die Doppelzündung Im Falle des Sechszylin- zudem einen niedrigeren ders gibt es zwei Möglichkei- Schadstoffausstoß bewirken. ten: den Boxer mit je drei einander waa- wendung möglichst vieler Teile, die auf Eingeführt wird der neue Motor gerecht gegenüberliegenden Zylindern, wie Grund des gemeinsamen Zylinderwinkels zunächst in der E-Klasse. Zwei Varianten, ihn Porsche einsetzt, und den Reihenmotor von 90 Grad in beide Motortypen passen. den E 280 (204 PS, ab 68080 Mark) und den mit allen sechs Zylindern in einer Linie, Reihensechszylinder lassen sich in ei- E 320 (224 PS, ab 79810 Mark) konnten in- von BMW und Jaguar und bislang auch nem gemeinsamen Herstellungsprozeß nur ternationale Fachjournalisten in der ver- von Mercedes bevorzugt. mit Reihenvierzylindern fertigen. Vierzy- gangenen Woche probefahren. auto bild Nur diese beiden Konstellationen sind linder werden aber gewöhnlich in so großer pries die Laufruhe des anfangs verpönten völlig frei von Massenmomenten, die den Menge gebaut, daß die Stückzahlkosten Motors ohne Vorbehalt: Die „hochmoder- Motor in störende Vibrationen versetzen. durch einen Montagezusammenschluß mit nen Antriebe“, urteilte Tester Manfred Kol- Bei sechs Töpfen in V-Anordnung hingegen anderen Motoren kaum noch zu senken be, würden „schamlos verführen, ge- neigt das Aggregat zu Eigenschwingungen, sind. Viel teurer kommt dagegen die Pro- schmeidig aufs Gas ansprechen und leise die dazu führen können, daß der Motor duktion des wesentlich selteneren Acht- schnurren“. Der Ausgleich der Schwin- die geringste Gaspedal-Bewegung mit ei- zylinders. Die kleine Koalition von V6 und gungen sei gelungen, „und zwar perfekt“. nem mürrischen Knurren quittiert. V8 senkt die Preise beider Aggregate er- Rudolf Thom, 49, der die Entwicklung Darüber hinaus ist die Herstellung von heblich. aller V-Motoren bei Mercedes leitet, wer- V-Motoren im Prinzip aufwendiger. Zwei Auch das Crashverhalten der Fahrzeuge tet solche Rückmeldungen schon als Vor- getrennte Zylinderreihen bedingen zwei profitiert von der V-Anordnung der Zylin- boten eines nicht minder wohlwollenden getrennte Ventilsteuerungen und zwei ge- der. Der lange, in Fahrtrichtung eingebau- Kundenechos: „Wenn der Fahrer keine Vi- trennt zu bearbeitende Dichtflächen an te Reihenmotor dringt beim Aufprall wie brationen spürt, dann muß es ihm doch den beiden Zylinderköpfen. In doppelter ein Rammbock in den Innenraum. Der V6 schnurzegal sein, was da für ein Motor Hinsicht erklärte der frühere Mercedes- ist kürzer als ein Vierzylinder. Entspre- drinnen ist.“ ™

204 der spiegel 12/1997 Werbeseite

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Werbeseite Szene Kultur

LITERATUR Die Wut des Gao Yang in Bauer wird verhaftet, weil er an- Egeblich der Rädelsführer bei der Ver- wüstung der Kreisverwaltung war – und schon bald setzen ihm die Mißhandlun- gen, die er als Gefangener der korrupten Dorfpolizei zu ertragen hat, böse zu. „Wenn das so weitergeht, dachte er, bin ich in einem Monat tot“, heißt es im jüngsten Roman des chinesischen Autors Mo Yan, „alles, was er tat, war falsch“. Immerhin schafft es der Häftling Gao Yang trotzdem, mit knapper Not zu überleben. Der Mann und seine Familie ernähren sich seit Generationen vom Knoblauch-Anbau – so wie die meisten Bauern in Gaomi im Osten Chinas. Nur schrumpfen neuerdings die Gewinne der durch Preiserhöhungen und Steu-

ern drangsalierten Bauern. K. BOSSE FOTOS: Als sich die Behörden des Bosse-Fotografien Kreises – der den trügeri- schen Namen „Paradies“ FOTOGRAFIE als eine zeitgemäße Variante des Trompe- trägt – im Jahr 1987 auch d’œuil. Bosse, 29, zeigt nur, was man sieht: noch weigern, die Ernte ab- Nobodys im Irgendwo Pose, Kleidung, Styling. Und je länger man zunehmen, breitet sich der hinschaut, desto größer ist der Sog der Bil- Gestank faulender Knob- urchsichtig, vordergründig und platt: der. Plakative Leerräume, die der Betrach- lauchknollen über den DKatharina Bosse pfeift auf das, was ter mit eigenen Phantasien füllt. Vom 21. Dörfern aus, und der Volks- man landauf, landab so als Information be- März an zeigt die Kölner Galerie Lukas & zorn kocht hoch. Die Bau- zeichnet. Wer, wann, wie, wo, was? Egal. Hoffmann eine Ausstellung ihrer Porträts, ern brüllen vor der Kreisverwaltung ihre Die Menschen auf ihren Fotoporträts sind die so unpersönlich und fern sind, daß sie Wut heraus. Gao Yang will sich zunächst Figuren ohne eigene Geschichte, Nobodys fast schon vertraut wirken. Nicht Ort und davonschleichen. Doch dann wird er, vor im Irgendwo. Was zunächst wie ein bloßer Zeit und Namen zählen, sondern allein die Aufregung dem Weinen nahe, vom Furor Oberflächenreiz wirkt, ist nichts anderes Magie des Augenblicks. der Menge mitgerissen – und als er sich, eher versuchsweise, einen Blumentopf greift und diesen durch eine Fensterschei- RAP be schleudert, erfüllt ihn plötzlich ein selt- sames Hochgefühl. Der Mut des Rebellen verläßt Gao Yang Das Lied vom Tod nicht mehr, auch wenn er sich vor Angst mitunter in die Hosen macht. Jinjü, Gao Ma rimmige Ironie des amerikanischen gangenen September war; damit erreiche und „Tante Vier“, seine Gefährten, verlie- GGangsteralltags: In zwei Wochen soll der Krieg der Ostküstenrapper gegen die ren diesen Mut und machen ihrem Leben, das neue Album des New Yorker Rap-Stars Konkurrenz von der Westküste eine neue das fast nichts war außer Ungerechtigkeit, Christopher Wallace alias Biggie Smalls Eskalationsstufe. In dem Machtkampf geht Prügel und Schufterei, ein Ende. alias Notorious B. I. G. erscheinen, es trägt es darum, wer den echten Gangsta-Rap Der 1956 geborene Autor Mo Yan be- den Titel „Life After Death“ – und Wallace macht, wer wem den geschuldeten Respekt schreibt mit viel Sinn für Spannung den wurde am vorvergangenen Sonntag in Los nicht zeigt und wer mehr Alben verkauft. Kampf des einzelnen gegen die Übermacht Angeles erschossen. Er hatte gerade eine Die großen Plattenfirmen, die am Vertrieb staatlicher Willkür im heutigen China. Mit- Party des Musik-Magazins VIBE verlassen der aggressiven Hip-Hop-Produktionen be- unter scheint die Handlung im Gewirr der und saß auf dem Beifahrersitz stens verdienen, stehen unter detailliert nacherzählten Greuel verloren- seines Kombis GMC Suburban, öffentlichem Druck: Dürfen sie zugehen, doch die Stärke des Romans ist als ein dunkler Wagen neben sich an Musik bereichern, deren dessen Mischung aus bitterem Realismus ihm hielt und ein junger Künstler Opfer der eigenen und Poesie. Mo Yans absurder Humor Schwarzer mit einer Neun-Mil- aggressiven Ghetto-Ideologie ähnelt dem der revolutionären Balladen limeter-Waffe auf ihn schoß. werden? An Wallace jedenfalls des Volkssängers Zhang Kou, mit denen er Wallace, 24, starb im Kranken- werden sie verdienen. Dessen seine Erzählung gliedert: „Von überall kam haus. Es ist wahrscheinlich, daß erstes Album „Ready To Die“ die Polizei“, heißt es in einem der Gesän- der Mörder nie gefaßt wird, wie wurde mehr als einmillionen- ge, „nahm 93 Menschen fest. Ob tot oder auch der Killer des Westküsten- mal verkauft. Und Shakurs CD verhaftet – wann wird das Volk endlich Rappers Tupac Shakur immer „Don Killuminati“, knapp zwei den blauen Himmel sehen?“ noch frei herumläuft. US-Zei- Monate nach dessen Tod ver- tungen spekulieren, daß die Er- öffentlicht, hielt sich lange auf

Mo Yan: „Die Knoblauchrevolte“. Deutsch von Andreas mordung von Wallace die Blut- M. GERBER / CORBIS den obersten Plätzen der US- Donath. Rowohlt Verlag, Reinbek; 384 Seiten; 42 Mark. rache für Shakurs Tod im ver- Wallace Hitparaden.

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Am Rande AUSSTELLUNGEN Pinsel ahoi Teuflischer Doppelsinn s spritzt der Gischt, es weht der Pul- ein oder Nichtsein, das ist allerorten Everdampf, doch dem Gottesfürchtigen Sdie Frage. Hamlet gibt, nach geta- winkt im Hafen ein ewig friedlicher An- nem Monolog, seiner Ophelia den Ab- kerplatz. Triumphaler Kaufmannsstolz, schied: „Geh in ein Kloster“, spricht er todesmutiger Kampfgeist und tiefere reli- zu ihr, „get thee to a nunnery“ im Ori- giöse Bedeutung waren an Bord, wenn ginal. Und da fangen die Probleme des holländische Maler des 17. Jahrhunderts Übersetzens schon an: „Nunnery“ Seegefechte oder Flottenparaden auf ihre meinte, teuflischer Doppelsinn, zu Leinwände brachten. Nationalstolz bläh- Shakespeares Zeiten auch Bordell. te ihnen die Segel: Kein anderer Staat war Deutschlands Literatur-Übersetzer sind so auf Schiffahrt angewiesen wie die jun- gegenwärtig weniger mit Klosterge- gen Niederlande, keiner dadurch in so heimnissen als mit Sein oder Nichtsein kurzer Zeit so mächtig und so reich ge- beschäftigt. Am Donnerstag dieser Wo- worden, wobei auch die Kultur aufblühte. che, bei der Leipziger Buchmesse, wol- „Herren der Meere – Meister der Kunst“: len die Dolmetscher des Schönen mit Unter diesem Titel zeigt eine große Aus- einem „Memorandum“ Alarm geben: stellung, die, nach ihrem Start in Rotter- Sie „rutschen wirtschaftlich immer dam, nun ins Berliner Bodemuseum geht, mehr ins Abseits“. 110 Prachtbeispiele landestypischer Mari- Das Abseits sieht so aus: 35 Mark er- nemalerei (21. März bis 25. Mai). Idylli- zielt der Übersetzer günstigstenfalls schen Flaute-Szenen stehen stürmische pro Manuskriptseite; vier Seiten pro Schlachten gegenüber, porträthafte Ge- Tag schafft er; nach Abzug aller Ne- nauigkeit bei der Schilderung von Schiffs- benkosten bleiben ihm vor Steuern aufbau und Takelage verbindet sich mit 2000 Mark monatlich. Es möchte kein dem Pathos großer Natur- und Ge- Hund so länger leben (Goethe). schichtsdramen. „Die Seeschlacht bei Texel am 21. August 1673“, Dabei gibt es Arbeit bergeweise. Fast je- des zweite Belletristik-Buch, das in Deutschland erscheint, kommt aus INTERNET fremden Landen. Deutschland, indu- striell ein Exportland, ist literarisch ein Trojanows Pferd Importland geworden; das Wort Kul- tur-Standort Deutschland hat einen ie Zukunft lauert dunkel und be- Beigeschmack von Wehmut. Ddrohlich: Über eingemauerte Straßen Es sei schwer, einen deutschen Prosa- donnern Lastwagen voll kontaminierter band zu finden, „den man im Ausland Fracht. Ob Sexualtriebtäter, Leistungsver- empfehlen kann“, so klagt etwa, im weigerer, Chemiemüll oder Atomabfall – jüngsten buchreport, der Literatur- alles muß „ausgeschafft“ werden. „Auto- Professor Alexander von Bormann; es pol“ heißt die Welt in dieser spätkapitali- gebe zu wenige Titel, die „internatio- stischen Zeit, und die Welt ist Gift. Die nalen Rang“ haben. Kann natürlich dunklen Visionen, die der Autor Ilija Tro- auch sein, daß es schon am nationalen janow in seinem Thriller „Autobahnwelt“ Rang hapert, weil die Autoren ihrer ausbreitet, sind so bedrohlich wie betu- Landessprache nicht mächtig sind. lich. Denn sein Blick nach vorn endet im Tatsächlich ist es ein verführerischer Pessimismus der Vergangenheit – Huxley Gedanke, die geballte Macht der deut- läßt grüßen. Das Besondere: Trojanow, 32, schen Dolmetscher auf die deutsche schreibt in einem Medium, das als Inbegriff Gegenwartsliteratur anzusetzen; krum- der schönen neuen Medienwelt gehandelt me Sätze, wolkige Sentenzen, gram- wird, im Internet. Der Jungautor, dem mit matische Kapriolen ins geliebte einem konventionellen Buch ein beachtli- Deutsch übertragen zu lassen und dar- cher Erstlingserfolg gelang („Die Welt ist auf zu achten, daß das rechte Wort ge- groß und Rettung lauert überall“), schreibt wählt werde. im Auftrag der ZDF-Sendung „Aspekte“ Das ergäbe auch mehr deutsche Politi- eine „Novel in Progress“, den Fortset- ker, die man im Ausland empfehlen zungsroman für ein vernetztes Publikum. kann. In seiner Neujahrsansprache Unter www.zdfmsn.de kann man dem etwa verirrte sich der Bundeskanzler Autor über die Schulter schauen: Griesig- zu dem unvergänglichen Satz: „Gott graue Fotos geben die Stimmung vor für segne unser deutsches Vaterland.“ Je- eine Prosa, die zwischen schwarzem Kul- der Ausländer mußte da grübeln: Hat turpessimismus und glatten Fehlleistun- der Mann denn noch ein Vaterland, das gen schwankt („schnupper regenbogen nicht deutsch ist? Oder ihm nicht schnupper“). Trojanows Pferd – er ver- gehört? Sein oder nicht sein? Das war steckt eine ganz alte Geschichte im Bauch hier die Frage. des Cyber-Raums. Oder wie er sagen wür- Zukunftsvisionen in „Autobahnwelt“ de: „eine beule verwirrung“.

208 der spiegel 12/1997 Kultur

KABARETT Weinende Wessis enn der ehemals parteitreue Herr WZieschong die Brigadekasse aus alten Zeiten hortet, wenn die Wendegewinnlerin Frau Bähnert über den aktuellen Kurs ih- rer Konsum-Wertmarken räsoniert, dann wird klar: Der Schritt vom Leben zur ge- steigerten Wirklichkeit des Kabaretts ist auch im deutschen Osten winzig klein. Jetzt, zur Leipziger Buchmesse, erschei- nen die Zieschong-Bähnert-Dialoge, mit denen die beiden Sachsen Uwe Steimle und Tom Pauls schon seit vier Jahren im mdr-Fernsehen auftreten, erstmals als Buch*. Die „Ostalgie“ ist nicht nur das Reizwort im Titel, sondern auch Programm für den satirischen Realismus des Kaba- rettduos. Steimle behauptet sogar, er selbst habe das Neuwort Ostalgie 1992 erfunden – zumindest hat er es sich beim Bundes- patentamt schützen lassen (Urkunden- nummer 2053569). Wer freilich glaubt,

Gemälde von Willem van de Velde dem Jüngeren (1687)

KULTURPOLITIK meister Hanspeter Sänger spöttelte und ihn gar als „Schwarzbaumeister im Rampen- Wer schläft, scherzt nicht licht“ bezeichnete, weil ein Gericht den Bau einer Straße gestoppt hatte. Auch verlä- er Kabarettist Matthias Deutschmann, sterte Deutschmann den Müllheimer „City- Dim Erdenken absurder Possen geübt, Bus“ als „nahezu fahrgastfrei“. Die eher sieht sich durchs reale Leben übertroffen: matten Späße fand der attackierte Bürger- Steimle, Pauls Vor zwei Jahren rief Deutschmann in sei- meister, offenbar mit wenig Verständnis fürs nem Wohnort, dem badischen Städtchen satirische Fach ausgestattet, „krampfhaft, Ostalgie sei nur ein anderer Ausdruck für Müllheim, einen Kulturpreis ins Leben, geistlos, zynisch und an den Haaren her- ostdeutsche Larmoyanz, muß sich von mit dem bislang der Kabarettist Georg beigezogen“, sie seien eine „die Gefühle Steimles Frau Bähnert belehren lassen: Schramm und der Sättigungsexperte Wolf- der Müllheimer Bürger verletzende Schrei- „Ham Sie schon mal en Westler weinen ram Siebeck geehrt wurden. Die örtliche berei“. Einen Monat später stoppte die sehen? Das is was ganz Furchtbares!“ Zustimmung hielt, bis Deutschmann, Träger Stadt dann Deutschmanns „Gutedel-Preis“. des Deutschen Kleinkunstpreises 1994, in Den Grund erklärte der Kulturamtsleiter * Uwe Steimle: „Uns fragt ja keiner – Ostalgie mit Frau Lokal-Glossen der nah beheimateten bas- dem Kabarettisten am Telefon: „Man Bähnert und Herrn Zieschong“. Eulenspiegel Verlag, ler zeitung über den Müllheimer Bürger- scheißt nicht dahin, wo man schläft.“ Berlin; 128 Seiten; 24,80 Mark.

Kino in Kürze

„Michael“. Kurz nach seinem letzten Film „Phenomenon“ ist John Travolta wieder transzendental entrückt. Diesmal ist er der kämpferische Erzengel Michael, der mit Flügeln umherrennen muß. Zum Ausgleich darf er sich schmierbäuchig, unrasiert und mit hängender Kippe im Mund zu großen Taten aufschwingen: Er läutert drei zynische Reporter (Andie MacDowell, William Hurt, Robert Pastorelli), die ihn zum cholerischen Boß (Bob Hoskins) ihres Sensationsblattes nach Chicago schleppen. Un- terwegs holt der Flügelmann den verunglückten Redaktions- hund Sparky ins Diesseits zurück, träufelt MacDowell und Hurt die Liebe ins kalte Herz und beglückt die Welt mit einer wahr- haft himmlischen Tanzeinlage. Warum das alles sein muß, er- schließt sich allerdings kaum, und so muß Michael scheiden – vor den Augen der Freunde schmilzt er ins Trottoir. Doch fürch- tet euch: Zwei Ecken weiter ersteht er neu, denn kleine Wun-

CONCORDE der erledigt Michael mit links – das große Wunder, Nora Szene aus „Michael“ Ephrons entgleiste Komödie zu retten, gelingt ihm leider nicht.

der spiegel 12/1997 209 Werbeseite

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Werbeseite Kultur

KUNST Die gehäutete Sphinx Polizisten in Roth-Händle-Purpur, Paßbilder als trügerische Ikonen: Katharina Sieverding irritiert mit eindringlich verfremdeten, mitunter wirr betitelten Foto-Motiven – in diesem Sommer vertritt sie Deutschland auf der Biennale in Venedig. Von Jürgen Hohmeyer

Sieverding-„Kristallisationen“ (1996): Unter Eisblumen ein Selbstporträt mit schicksalhaftem Make-up

m Anfang ihrer Karriere ist Ka- worden. Sie lehrt als Professorin in Berlin; leugnen: nicht die Experimentierlust der tharina Sieverding gern als „Kul- sie ist bei internationalen Themenausstel- späten sechziger Jahre, auch nicht deren Aturschaffende im Nachtleben“ auf- lungen gefragt wie bei der Kunst- und Ge- politischen Missionarsgeist. getreten. Freitag- und samstagabends bot schichtsschau „Face à l’histoire“ derzeit Und vor allem jene Frage, mit der sie sie im Düsseldorfer „Lover’s Club“ Ge- im Pariser Centre Pompidou; das Amster- schon im „Lover’s Club“ spielte, die nach tränke an oder war „einfach nur anwe- damer Stedelijk Museum bereitet für den Identität und Verwandlungsfähigkeit des send“. Der androgyne Aufputz der – wie Herbst eine Retrospektive vor. Noch vor- Individuums, klingt auf Sieverding-Wer- ein Zeitzeuge schwärmt – „scharfen Tante“ her, vom 15. Juni an, wird Sieverding (zu- ken bis heute an – auf großen Bildtafeln, brachte manchen Gast ins Grübeln. Wenn sammen mit dem Modellbau-Bildner Ger- wo Gesichter verschwimmen und ver- einer nach ihrem Namen fragte, gab sie hard Merz) Deutschland auf der Biennale glühen, wo Flammen und Flüssigkeitsströ- leichthin zur Antwort: „Karl“. von Venedig vertreten. Und die, sagt die me kaum unterscheidbar durch kosmische Heute, drei Jahrzehnte später, erklärt zuständige Kommissarin Gudrun Inboden, oder anatomische Visionen treiben. Ihr die Künstlerin Sieverding, 52, ihren Spaß an sei schließlich „kein Experimentierfeld“, Thema und Kunstprinzip, sagt die Tochter derlei Glamour und Verwirrspiel mit dem sondern ein Ort für „reifere Positionen“. eines Radiologen und einer Goldschmie- „Zeitgeist“ der Epoche; so hätten junge Wie gereift auch immer: Ihre Anfänge din, seien „Transformationsvorgänge“. Leute sich damals eben aufgeführt. „Sie kann die Künstlerin, die sich mit dem Foto- Sie sind zuallererst das Prinzip ihres etwa nicht?“ Künstler Klaus Mettig als Lebens- und Ar- Mediums: der Fotografie. Nur kurz hat die Aus der irrlichternden Anfängerin ist beitspartner in einem Düsseldorfer Hin- Adeptin sich einst mit Malen und Model- längst eine Respektsperson der Szene ge- terhaus-Gebäude festgesetzt hat, nicht ver- lieren versucht – „völlig unbefriedigend“.

212 der spiegel 12/1997 Schon in der hektischen Zeit von Nacht- nem Selbstversuch hat sich klub und Studentenrevolte, als sie „täg- Katharina Sieverding damals lich 16 bis 18 Stunden auf Trab“ war, fand ihr Arbeitsmaterial, acht sie es „wunderbar“, danach noch kurz schlichte Paßbilder, besorgt. in die Ruhe der Dunkelkammer einzu- Die nahm sie dann ins Labor, kehren und mit Entwickler und Fixierbad machte Repro-Aufnahmen, zu planschen. Fotochemische Prozesse ka- griff mit kurz eingeschaltetem men ihr wie geheimnisvolle Schöpfungs- Licht in die Entwicklung akte vor. transparenter Vergrößerungen Denn das Lichtbild als Dokument, das ein und projizierte diese wie- „Einfrieren von Erinnerungen“, war nie derum auf riesige Bögen eines die Sache dieser Künstlerin. Entschieden speziellen, faserigen Fotopa- setzt sie sich von der Sachlichkeit der Düs- piers. Aus Kalkül und Zufall seldorfer Wasserturm- und Hochofen-Fo- entstanden acht Paare von Bil- tografen Bernd und Hilla Becher ab. Und dern und Spiegelbildern. In gegen jene, wie sie meint, „veredelte“, idealer, bislang nie verwirk- „leichter konsumierbare“ Ware, mit der lichter Anordnung würden sie eine Nachfolgergeneration reüssiert, hegt eine Ikonenwand nach dem sie gar „eine richtige Allergie“ – obwohl Muster von Andy Warhols doch Becher-Schüler Thomas Ruff auf der multiplizierten Marilyns oder Biennale 1995 auch sehr verfremdete „An- Jackies ergeben. dere Porträts“ gezeigt hat. „Wie gehäutet“ wirken die Oberflächen aufbrechen, nicht glätten: Porträts auf die Frau, die ihre Wie das im Glücksfall gelingt, demonstriert Schöpferin und ihr Modell ist, jetzt (bis 29. März) eine Ausstellung der deren Person sich aber in den Berliner Galerie Franck + Schulte mit ei- Flüssigkeitsbädern des Fotola- nem Sieverding-Geniestreich von 1969, ei- bors fast aufzulösen scheint. nem düster-suggestiven Werk, das den Selbsterforschung? Nur be- schwierigen Titel „Stauffenberg-Block“ dingt. „Es sollten einfach Men- trägt. 16 gerahmte Fototafeln von 1,90 Me- schenbilder entstehen“, sagt ter Höhe plakatieren ein und dasselbe Ge- Sieverding. Doch niemals hät- sicht: das der Künstlerin. te sie sich getraut, die Entstel- Auf anderen Fotos dieser Frühzeit strahlt lung so weit ins „Ernste“, „In- sie Sexappeal und den Glanz einer großen tensive“, ja „Ungeschlechtli- „Stauffenberg-Block“ von Sieverding (1969, Teilansicht) Diva aus; nichts davon hier. In engem Bild- che“ voranzutreiben, wenn es Voran ins Ernste und Ungeschlechtliche ausschnitt und starker Vergrößerung, in wa- um fremde Gesichter gegan- bernden Rottönen und verfremdenden gen wäre. Ihr eigenes hat sie später auch der Überschrift eines wenig älteren Stra- Umkehreffekten tritt die damals 25jährige mit dem eines Freundes verschmolzen, so tegie-Reports für den Fall eines Dritten dem Betrachter als unergründliche Sphinx daß zwitterhaft-lockende Trugbilder ent- Weltkriegs, „Schlachtfeld Deutschland“. entgegen – Auge in Auge, mal milde schau- standen. „Die Eroberung eines anderen Das bewaffnete Kommando scheint nun, end, mal eher glasigen Blicks. Bei nähe- Geschlechts“, erklärte sie, „findet zunächst dank Mehrfachkopie wie dynamisch zit- rem Zusehen aber blühen reiche Farbab- in einem selber statt.“ ternd und durch den Purpurton von Roth- stufungen auf, als hätte der Pinsel eines Fotos mediengerecht, ausdrucks- und be- Händle-Packungen plakativ-bedrohlich feinfühligen Malers sie hingetupft. Die deutungsvoll zu manipulieren, das ist ihre aufgepeppt, zum letzten Gefecht um den Oberfläche wechselt zwischen gestochener Stärke. Ihre Schwäche ist es, solche Arbei- Rechtsstaat angetreten zu sein. So weit, so Schärfe und grober Körnigkeit. Um die Pu- ten mit ungenau herbeizitierten Titeln und expressiv und leidlich plausibel. pillen glänzt es hektisch. Schrift-Inserts zu belasten. Was eigentlich Wie aber soll sich der Betrachter die Das ist der Reflex des Blitzlichts aus ei- der „Stauffenberg-Block“ mit dem ge- zeit-Schlagzeile „Deutschland wird deut- nem Foto-Automaten: In denkbar profa- scheiterten Attentäter vom 20. Juli 1944 zu scher“, die euroskeptische Tendenzen tun haben soll, kann sie auch auf hart- nach der Wiedervereinigung umschrieb, näckige Fragen nicht recht erklären. mit dem schemenhaften Bild eines von Daß sie selber 1944 im Nazi-besetzten Messern eingekreisten Frauenkopfs zu- Prag geboren ist, daß ihre Kindheitserin- sammenreimen? nerungen in tschechische Internierungsla- Das Foto aus dem Fundus der Künstle- ger zurückreichen, daß 25 Jahre später un- rin zeigt wiederum sie selbst, in einer Epi- ter jungen Leuten besonders hitzig disku- sode vom Anfang der siebziger Jahre. Da- tiert wurde, wie bloß seinerzeit „das deut- mals hatte es sie in die „volkstümlicheren sche Wesen so abrutschen“ konnte, und Zusammenhänge“ der Schaustellerei ge- endlich, daß Claus Graf Schenk von Stauf- zogen. Sie tingelte mit einem Zirkus durchs fenberg ihr auch als Stefan-George-Jünger Ruhrgebiet, ließ sich von einer Messer- sympathisch ist – gut und schön. Schlüssi- werferin am Brett „silhouettieren“ und ge Verbindungen stiftet das nicht. wurde bisweilen auch von einem Wurfge- Einen „intuitiven Vorgang“ nennt es Sie- schoß gestreift. Als „leuchtende Venus“ verding, wenn sie Bildmotive und Textfet- ließ sie sich – eine leicht prickelnde Erfah- zen, gefundene wie erfundene, frei kom- rung – unter Schwachstrom setzen, so daß biniert: aus dem spiegel-Jahrgang 1977 Neonröhren, die sie an den Körper hielt,

G. STRAUSS zum Beispiel das Foto einer Polizei- geheimnisvoll erglommen. Künstlerin Sieverding Schießübung, das im Zusammenhang der Offen bleibt indes, wer denn nun im Vage Parolen vom deutschen Wesen Schleyer-Entführung erschienen war, mit deutscheren Deutschland, wenngleich

der spiegel 12/1997 213 schonend, mit Messern beworfen wird. In 18 schwäbischen Städten sollten 1992 zum regionalen Kunstprojekt „Platzverfüh- rung“ große Sieverding-Fototafeln mit die- sem Motiv öffentlich aufgestellt werden. Daß der Oberbürgermeister von Esslingen mit der Begründung ablehnte, das Werk – „wie immer auch gemeint“ – könne Aus- länder einschüchtern, und daß schließlich allein die Leonberger zustimmten, ist Ka- tharina Sieverding unverständlich. Es lag nahe, die politisch ambitionierte Künstlerin auch einzuladen, als 1992 im Berliner Reichstagsgebäude ein Gedenk- raum für Nazi-Opfer unter den einstigen Abgeordneten gefragt war. Sie gewann den Wettbewerb mit einer symbolschweren Bildwand – überzeugend gerade deswe- gen, weil da kein Schlagwort auftrumpft. Die Motivkombination aus lodernden Flammen und Röntgenaufnahmen, auf de- nen sich eine Krebsgeschwulst abzeichnet, hatte Sieverding längst in der Schublade gehabt. Denn diese strahlende, bestrahlte und verstrahlte Welt drückt sinnfällig vieles von dem aus, was die Künstlerin ständig be- schäftigt: die Furcht vor schleichenden Ge- fahren, den Wunsch, in sonst unsichtbare Bereiche hinüberzuschauen, und die Fas- zination durch Naturkräfte, die sich – im Medium Fotografie – wie alchimistisch selbst abbilden. Sie hat diese Thematik mit Fotos aus dem zerstörten Hiroschima und mit sol- chen von Kernkraftreaktoren inszeniert, sie hat ihr vervielfältigtes Selbstporträt mit Eruptionen der Sonne überblendet und, ziemlich theatralisch, den Blick über die Schwelle zwischen Leben und Tod gemimt – Goldstaub im Gesicht, weil ihr das „schicksalhafter“ vorkam. Dieses Make-up legt sie auch auf, wenn sie neuerdings die „Außensignatur“ ihrer Züge absichtsvoll mit der „Innensignatur“ eisblumenartiger Blut-Bilder verbindet. Solche bizarren Visionen sind beinahe di- rekt aus dem Leben, aus einer eigenen schweren Krise, in die Kunst geholt: Nach dem Tod des Vaters und angesichts einer tödlichen Krankheit der Mutter war Ka- tharina Sieverding mit Magenblutungen zusammengebrochen – nur massive Trans- fusionen konnten ihr helfen. Während sie in ihrem Klinikbett darüber nachsann, wann all das fremde Blut wohl zu ihrem ei- genen würde, erfuhr sie auch von Versu- chen, Krankheiten aus den Kristallen mit Kupferchlorid versetzter Blutproben ab- zulesen. Der Befund sei unverwechselbar wie ein Fingerabdruck. Davon ist die Künstlerin derart gefes- selt, daß sie wohl auch den Biennale-Pa- villon in Venedig mit ihren „Kristallisatio- nen“ zu einer Art von fotografisch-medi- zinischem Demonstrationslabor ausbauen wird.Aber soviel ist versprochen: Deutsch- land und das deutsche Wesen stehen dies- mal nicht auf dem Programm. ™

der spiegel 12/1997 Kultur raum-Geschwader und der Laserkanonen: Doch nur der wahre Fan wird die Ver- KINO 323 Millionen Dollar spielte der erste Teil änderungen würdigen, wird die neue Fal- der Saga ein, 30mal mehr, als er gekostet te im Speck der Monster und die aufge- Das Imperium hatte. Es wurde der bis dahin erfolgreich- rüschten Kulissen im Hintergrund über- ste Film aller Zeiten – erst 1982 spielte sich haupt bemerken. Allen anderen bleibt nur Spielbergs Weltraumgnom „E.T.“ an die die Verwunderung: über einen Film, der schlägt zurück Spitze der Bestenliste. so kühl und blankgeputzt wirkt wie Mi- Doch seit ein paar Wochen schlägt das chelangelos Sixtina-Fresken nach der Re- Das erste der „Star Wars“- Imperium zurück: Der Krieg der Sterne staurierung. Der dahinstottert, daß man und die beiden 1980 und 1983 gedrehten am liebsten eine halbe Stunde heraus- Weltraumabenteuer, in den USA Fortsetzungsfilme sind wieder in den Kinos schneiden möchte. Der in etwa so zeit- sensationell erfolgreich, kehrt zu sehen, und prompt kehrte „Star Wars“ gemäß erscheint wie Vader Abraham und auf deutsche Leinwände zurück – auf Platz eins zurück. In nur vier Wochen die Schlümpfe vor deren Mutationssprung als Generationen-Lehrstück. brachte der Film in den USA 116 Millionen ins Techno-Zeitalter. Dollar in die Kassen, und von diesem Don- Warum stürmen dennoch abermals Hun- m Anfang gab’s nur Ärger: nerstag an wird er auch in Deutschland für derttausende in die Kinos, um sich Robo- „George, du kannst diesen Mist ja volle Lichtspielhäuser sorgen. ter anzugucken, die wie Faxgeräte piep- Agerne schreiben“, sagte der Schau- Eigentlich, so die aktuelle Hollywood- sen, und dunkle Bösewichte, die fauchen spieler Harrison Ford, als er das Drehbuch Legende, war das Kino-Comeback nur als wie Dampfbügeleisen? gelesen hatte, „aber sprechen läßt sich das nette kleine Aufmerksamkeit für einge- In den USA wird die Star-Wars-Neuauf- bestimmt nicht!“ schworene Fans gedacht. Trotzdem inve- lage vor allem als Familienspaß gefeiert: Ein echtes Desaster, das fanden auch die stierten die Produzenten 15 Millionen Viele junge Väter versammeln sich da vor Studiobosse in Hollywood, als sie 1977 den Dollar in eine digitale Aufbereitung der al- den Großleinwänden, um ihrem Nach- Rohschnitt des Weltraumabenteuers das ten Folgen und noch einmal geschätzte 20 wuchs zu beweisen, daß die Welt auch vor erstemal sahen.An den Kinokassen würde Millionen in eine gigantische Werbekam- Nintendo und Internet schon aufregend Lucas den „Krieg der Sterne“, so der Titel pagne – angeblich nur, um George Lucas war. Unter heute erwachsenen Sternen- seines Films, verlieren, da waren sich selbst gnädig zu stimmen: Schließlich will der krieg-Begeisterten gilt der Kinostart der seine Freunde sicher. Nur sein alter Kum- Meister in den nächsten Jahren drei neue Saga sowieso als Zeitenwende – die Pop- pel und Rivale, der Regisseur Steven Spiel- Folgen drehen. In der Hoffnung, auch die- gruppe Ash nannte angeblich nur aus die- berg, erkannte: Bei soviel Unschuld und se weltweit vermarkten zu dürfen, gaben sem Grund eines ihrer Alben „1977“. Naivität seien bestimmt 100 Millionen die Produktions-Chefs Lucas alle Freiheit, Vielen Teenagern gilt der Film gleichfalls Dollar zu verdienen. die er wollte. als großes Erlebnis: Obwohl durch Spek- Sie irrten alle: Lucas hatte nicht bloß ir- Der 52jährige Regisseur ließ den Staub takel wie „Independence Day“, aberwit- gendeinen Erfolgsfilm gedreht, sondern der letzten beiden Jahrzehnte von den Ne- zige Action und Apokalypse verwöhnt, den Grundstein für eine Milliarden-Indu- gativen entfernen, motzte den Ton auf, so beklatschen die Kids die kühnen Manö- strie gelegt – und bis heute hält der Sog der daß es nun aus allen Ecken des Kinos ver der klapprigen Raumgleiter und be- „Star Wars“-Saga unvermindert an. schnarrt und surrt und quietscht – und er grüßen die Star-Wars-Helden wie alte Be- Schon als Lucas’ Sternenkrieg erstmals bastelte mit dem Computer einige wenige kannte. in die Kinos kam, störte sich das Publikum zusätzliche All-Ungeheuer in den Film. Im- Überlebt hat das Weltraumabenteuer nicht an den dürren Dialogen, sondern be- merhin wurde außerdem eine ganze Sze- die zahlreichen Wiederholungen im Fern- jubelte den Kampf der sirrenden Welt- ne neu hinzugefügt. sehen und auf Video vor allem dank des EVERETT COLLECTION Kultfilm „Krieg der Sterne“: Roboter piepsen wie Faxgeräte, Bösewichte fauchen wie Dampfbügeleisen

der spiegel 12/1997 215 andauernden Handels mit Star-Wars-Spiel- zeugen und Devotionalien. Mehrere hun- dert Produkte zelebrieren die Sternensa- ga, angefangen bei Computerspielen über Weihnachtskarten bis zu lebensgroßen Nachbildungen der Filmfiguren. Star Wars ist der erste Film, der mehr Geld in den Warenhäusern als an der Kinokasse ein- brachte. Noch im letzten Jahr waren die Plaste- Helden in den USA das bestverkaufte Spielzeug für Jungs, und neue Bücher der Weltraumsaga klettern regelmäßig in die Bestsellerlisten. Mehr als vier Milliarden Dollar hat Lucas bislang mit Merchandising verdient – nun wollen die Teenager auch den Film zur Puppe sehen. Was den Erfolg befördert: Lucas plün- dert die große Schatzkiste der Mensch- „Baustellen“-Stars Paul, Vogel: Liebe in den heitssagen. Die Ritter der Tafelrunde zi- tiert er ebenso wie die Rebellenlegende von Robin Hood oder das biblische Vorbild FILM der Heiligen Familie. Als Bindemittel sei- ner Mythensuppe mengte Lucas noch eine Was nun, Jan? Großdosis Esoterik („Die Macht sei mit Dir“) dazu. „Das Leben ist eine Baustelle“, Star Wars ist kein Film für Technik-Gläu- behauptet Wolfgang Beckers bige: Viel wichtiger ist jene Macht, der man sich einfach hingeben muß. Im letzten Ge- Berliner Beziehungs-Puzzle – und fecht schaltet der junge Held Luke Skywal- beweist es auch. ker den Computer seines X-Wing-Fighters einfach aus und läßt sich von der kosmi- ein Name ist Nebel. Jan Nebel. Und schen Macht zum Bombensieg lenken. In wie dieser Name schon sagt: Der der Zukunft, so die Botschaft, zählen nicht SMann tappt im dunkeln, im undurch- technische Raffinessen, zum Erfolg verhilft dringlich wabernden Nebel der Welt. Er allein das Festhalten an den Idealen der hat keine Ahnung, was die Zukunft bringen Vergangenheit. wird, und schon die Gegenwart macht ihm Wo kalte Großproduktionen wie „Inde- schwer zu schaffen. Jan hat kein Geld, kei- pendence Day“ den technischen Tricks und ne Frau, keine eigene Wohnung und nur ei- der Allmacht des Powerbooks huldigen, nen Aushilfsjob im Schlachthof.Außerdem setzt Star Wars noch auf Herz und un- ist er vielleicht HIV-infiziert. schuldiges Pathos. Vielleicht aber trifft der traurige Jan Die Filmindustrie ist auf den Erfolg der (besser als je zuvor: Jürgen Vogel) gerade Neuauflage erstaunlich gut vorbereitet: Im jetzt die Liebe seines Lebens. Eines Nachts Kinojahr 1997 erleben gleich mehrere Klas- rempeln ihn fliehende Demonstranten an, siker ihre Auferstehung. Im Sommer soll unter ihnen die atemlose Vera (Christiane Wolfgang Petersens deutsches Kriegsdra- Paul), und ihretwegen schlägt Jan spontan ma „Das Boot“ nach Lothar-Günther einen Zivilfahnder mit einem Sechserpack Buchheims Vorlage wieder anlaufen. Bier nieder. Vera und Jan hauen ab, aber Außerdem gibt es ein Wiedersehen mit eine Horde Polizisten im Anti-Terror-Out- Francis Ford Coppolas Mafiaepos „Der fit kriegt ihn, und anderntags wird Jan zu Pate“, und ein junger Dustin Hoffman er- einer Geldstrafe verurteilt, die er nicht be- lebt noch einmal seine „Reifeprüfung“. zahlen kann.Wahlweise 90 Tage Haft. Und Von vielen Großkinos wird dieser Vera ist auch weg. Was nun, Jan? Nostalgie-Trend freudig begrüßt, und man Der Film „Das Leben ist eine Baustelle“ erwartet wachsende Besucherzahlen: Mit schickt Jan taumelnd durch das Berlin der bequemeren Sitzen und anspruchsvolle- ausgehenden neunziger Jahre, durch die rem Programm setzen sie schon seit eini- Schattenstadt der Arbeitslosen, Träumer gen Jahren bewußt auch auf Zuschauer und Alkoholiker, der Nachtwächter, Durch- über 30. wurschtler und Proletarier in Joggingho- Sternenkrieger Lucas allerdings gibt sich sen: zwangsläufig das Gegenteil all der gänzlich ahnungslos gegenüber solchen neuen deutschen Klamotten, die jeden La- Markt-Kalkulationen: Nicht ums Geld, cher, jede Zuschauerträne von Anfang bis nicht um den Ruhm sei es ihm bei der Neu- Ende durchgeplant haben. „Das Leben ist auflage seiner alten Filme gegangen. Ei- eine Baustelle“ wagt einen Ausflug ins Un- gentlich, sagt er, sei ihm nur wichtig gewe- gewisse. Im Leben weiß man ja auch nicht, sen, daß sein kleiner Sohn Jett das Mei- was morgen kommen wird. sterwerk endlich im Kino sehen kann. Und Und daran, daß ein Film im wirklichen der Markt war mit ihm. ™ Leben wurzeln, nach dem Muff des All-

216 der spiegel 12/1997 Kultur „Normalos kommen nicht vor“ Regisseur Wolfgang Becker über die Unordnung der Wirklichkeit und die Ängste vor der Jahrtausendwende

SPIEGEL: Alle bejubeln den Erfolg der Wirklichkeit begegnet: Die Leute ha- Unterhaltung, der neuen deutschen ben Angst davor, aber wenn sie geil Leichtigkeit auf der Leinwand. Liegt sind und miteinander schlafen wollen, da ein ernster Film wie „Das Leben ist verdrängen sie das Gummi. Und am eine Baustelle“ nicht ziemlich neben Tag danach haben sie ein schlechtes dem Trend? Gewissen. Die Figuren im Film erleben, BECKER: Nein, ich glaube, viele Leute was wir alle kennen, daß einem die ver- haben langsam genug von flacher Un- schiedensten Dinge gleichzeitig zu-

FOTOS: SENATOR FILM SENATOR FOTOS: terhaltung. Ich jedenfalls will mich stoßen – die Liebe, jemand stirbt, man Zeiten der Kohl-Ära nicht darauf einlassen, daß ein Film hat kalte Füße, die Angst vor Aids, der nicht mehr als eine 90minütige Achter- Job ist futsch, und man hat auch noch tags und gar der Politik riechen sollte, dar- bahnfahrt sein soll. Ärger mit der neuen Freundin. an glaubt Wolfgang Becker, 42, mit gera- SPIEGEL: Wenn nicht Achterbahn, was SPIEGEL: Manchmal geschieht derart dezu orthodoxer Inbrunst. „Die Liebe in dann: Film als Erziehungsanstalt? viel gleichzeitig, daß einen die Ahnung den Zeiten der Kohl-Ära“ steht als Graffi- BECKER: Das bestimmt nicht, aber ich beschleicht, Sie hätten Ihr Drehbuch to an einer Bretterwand, und wenn Beckers vermisse Filme, die unseren eigenen Er- nicht ganz im Griff gehabt. Film überhaupt ein Motto hat, dann dieses. fahrungen Rechnung tragen. Die Mehr- BECKER: Die Arbeit war lang, und wenn Die Kohl-Ära als Pest und Cholera – kein heit der Leute, die in deutsche Filme wir noch länger am Drehbuch gearbei- Wunder, daß der wuchtige Westfale gehen, die Normalos, kommen auf der tet hätten, wäre ich langsam vor die Becker, der seit Mitte der siebziger Jahre in Leinwand gar nicht mehr vor. Statt des- Hunde gegangen. Dann hätte ich ir- Berlin lebt, im vergangenen Jahrzehnt nur sen tummeln sich dort Rundfunkmode- gendwann ein perfektes Buch gehabt, mit Not vier Filme verwirklichen konnte, ratoren oder Werbefuz- darunter „Kinderspiele“, der ihm 1993 den zis, all die 30jährigen Hip- Preis der Deutschen Filmkritik eintrug. Berufler in albernen Iden- Becker ist ein Autorenfilmer alten Kali- titätskrisen, die in Wirk- bers (diesmal stammt das Drehbuch von lichkeit wenige Prozent al- ihm und Tom Tykwer).Wer seine Arbeiten ler Deutschen ausmachen. anschaut, begreift, warum der Autorenfilm Das ergibt eine extreme einmal als Hoffnung galt: Becker ent- Schieflage, eine krasse wickelt genau jenen Hunger auf Gegen- Verschiebung in der Dar- wart, der auch Fassbinder trieb, jene Lust stellung von Realität. am Hier und Jetzt, jene Neugier darauf, SPIEGEL: Vielleicht stimmt wie die Leute leben und denken und reden. es, daß Normalos sich Jener Bestattungsunternehmer zum Bei- selbst auf der Leinwand spiel, der, nachdem Jan seinen Vater tot in gar nicht sehen wollen. dessen Wohnung gefunden hat, in der gu- BECKER: Ach, es gibt ten Stube hockt und „umweltverträgliche doch Hunderte von Fil- Sterbewäsche“ feilbietet, wahlweise das men, die das Gegenteil „Leistungspaket 2“. Als der Kerl endlich beweisen, etwa aus der gegangen ist, muß Jans Schwester (Marti- amerikanischen Indepen- Schauspieler Becker (r.)* na Gedeck) lachen und lachen, weil sie gar dent-Szene, oder ein „Kino soll nicht wie Achterbahnfahren sein“ nicht mehr weiß, wie man weint. australischer Film wie „Das Leben ist eine Baustelle“ ist ein „Muriel’s Wedding“, aber auch aus aber nicht mehr die geringste Lust, es ganz und gar ernsthafter Film, in dem die Großbritannien, die spannenden Ar- zu verfilmen. Jetzt habe ich ein nicht Zuschauer dennoch erstaunlich viel zu la- beiten von Mike Leigh, teils auch von ganz perfektes Buch, aber einen guten chen haben, ein großartig lakonischer Film Ken Loach oder Stephen Frears. Film. Ist doch auch was. aus Deutschland ohne Eitelkeiten, ohne SPIEGEL: Leigh führt am Ende seines SPIEGEL: Warum sind Happy-Ends in Angst und ohne angestrengtes Schielen auf jüngsten Familiendramas „Secrets & Becker-Filmen ausgeschlossen? den Markterfolg – und darum verzeiht der Lies“ die diversen Geschichten zusam- BECKER: Orson Welles hat gesagt: „Ein Zuschauer der „Baustelle“ auch, daß sich men. In Ihrem Film bleiben so gut wie Happy-End ist eine Geschichte, die ihre Handlung gegen Ende gelegentlich ver- alle Fragen offen. Wollen Sie Ihre Zu- nicht richtig zu Ende gedacht ist.“ Das zettelt: zu viele Ideen, zu viele Figuren. schauer frustrieren? kann ich nur unterstreichen. Außer- Denn wann schafft es ein Film schon, BECKER: Nein, mein Film hat einfach dem: Wenn ich ein Happy-End drange- daß sein Titel gleich zum geflügelten Wort eine ungewohnte Dramaturgie – nicht klatscht hätte, wo wäre der Stoff für wird? „Das Leben ist eine Baustelle“ – das die Hollywoods, sondern die des Le- Teil II: „Die Baustelle schlägt zurück?“ trifft’s. Nicht nur am Potsdamer Platz, nicht bens.Wann werden im Alltag schon alle nur in Berlin, sondern im ganzen Land, das Fragen geklärt? Aids etwa kommt im * Als Schlachthofleiter in „Das Leben ist eine Bau- ziemlich ratlos in die Zukunft schaut, in Film so vor, wie es den meisten in der stelle“, mit Ricky Tomlinson. diesen verdammten Jahren vor der Jahr- tausendwende. Susanne Weingarten

der spiegel 12/1997 217 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur der Stadt, der Bundestagsgrünen Waltraud Schoppe; hier, wo Koks allenfalls in den Kohleöfchen alter Damen landet, ließ Wecker verlauten, genieße er mit Ehefrau und seinem Erstgeborenen eine hübsche Zwei-Zimmer-Wohnung. Wo könnte sich der Mann, der von sich singt: „Ich bin ein Baum“, besser von dem Urteilsspruch – zweieinhalb Jahre wegen Drogenbesitzes – erholen? Nun, in der Gaststube des Kellers am Wiener Platz vielleicht. Hier jedenfalls hockt der Bayer, so oft es geht, am Fenster, und derzeit geht es ziemlich oft. Denn erst im April, wenn es „Frühling werds und ois wui wieder himmelwärts“, wie er mal in ei- nem Lied schrieb, entscheidet das Beru- fungsgericht, ob der Gestrauchelte sitzen muß oder singen darf. „Saublöde Alternative“, brummt Wecker und schiebt die obere Schmollippe so weit vor, als wolle sich die untere endgültig be- leidigt zurückziehen. Er muß singen. Für zwei Millionen Mark Schulden muß selbst einer wie er ganz schön viele Lieder brin- gen. Und fast täglich treffen neue Klagen

ACTION PRESS ACTION ein: Hier eine Zechprellerei, dort ein Kon- Entertainer Wecker: „I lass’ halt richtig die Sau raus“ kursverfahren – wer jahrelang kofferweise Kokain bestellt und seine Dealer per Eu- roscheck bezahlt, bleibt eben manch ande- STARS res schuldig. Grau geworden ist der ewige Vorstadt- Strizzi, und die Igelhaare, die er regelmäßig Kraftprotz im Schwitzkasten auf Drogen untersuchen lassen muß, schir- men widerborstig den Dickschädel ab. Ein Im April entscheidet das Berufungsgericht, ob der seltsamer Stammgast, mit seinen nicht mal 50 Jahren noch zu jung, um wie die ande- Sänger Konstantin Wecker ins Gefängnis muß – der gestrauchelte ren hier Nachmittag für Nachmittag Schaf- Held übt sich in Reueposen. Von Bettina Musall kopf zu dreschen. Und in seinem Glas schäumt kein Weißbier, sondern Apfel- er Biergarten des Hofbräukellers Hauptbahnhof, der die labile Weckerseele schorle. „I lass’ halt richtig die Sau raus“, am Wiener Platz im Münchner jahrzehntelang schutzlos ausgeliefert war. sagt er. Das klingt bitter. DStadtteil Haidhausen wirkt ohne Ti- Selbst im Tennisclub Bassum kann von Von dem Kraftstrotz, dem bayerischen, ist sche und Stühle so anheimelnd wie eine Bussigesellschaft keine Rede sein, auch augenblicklich nur das haarige Gekräusel Kiesgrube. Kein Zapfhahnzischen, kein wenn der Apotheker nach dem Tie-Break auf terrakottabrauner Brust zu sehen, die Kindergeschrei. Eine alte Frau teilt ihre mal die Arztgattin küßt. sich auch bei Minusgraden aus dem T-Shirt Laugenbrezel mit Spatzen und Tauben. In Bassum wird die Schickeria inkorpo- wölbt. Mit seinem Goldkettchen, an dem Wenn der Frühling nicht mehr weit ist riert von der berühmtesten Rothaarigen ein Kreuz, ein Christophorus und ein und die Kastanien zarte Knospen tragen, drängt es empfindsame Naturen zu we- sentlichen Fragen. Dem Sänger Konstantin Wecker, der das Grübeln gern in Reime schmiedet, wird an solchen Tagen in sei- nem Münchner Stammlokal „die Frage zur Qual: Wer weiß, ob ich noch bin beim nächstenmal?“ Schwer zu sagen. Nein, dies ist nicht Weckers Zeit. Die geliebte Toskana scheint unerreichbar fern, denn der Liedermacher pendelt zwischen Tourneehallen und dem niedersächsischen Bassum, wo er nach sei- nen jüngsten Drogenexzessen zwecks Ruhe und Reue erst mal eine Familie gegründet hat. Dabei ist Bassum ein echter Glücksfall. In dem Örtchen an der Bahnstrecke von Bremen nach Sulingen, da gibt’s koa Sünd’.

Nichts erinnert dort an jene Münchner SCHNEIDER / PEOPLE PICTURE W. Halbwelt zwischen Hertie, Siegestor und Suchtkranker Juhnke, Ehepaar Wecker: „Diesmal schafft er’s“

220 der spiegel 12/1997 Schutzengel baumeln, sieht der Altstenz aus wie ein gestrandeter Sonnenstudiobesitzer. Ein halbes Jahr hätte Wecker noch ab- zusitzen, genug Zeit, um irgend etwas von dem anzufangen, wovon er seit Jahren re- det: eine Operette schreiben, das abgebro- chene Dirigentenstudium fortsetzen,einen Roman beenden. Aber so kann er das nicht sehen. Weni- ger das Strafmaß macht ihm zu schaffen, als vielmehr die persönliche Kränkung. Er atmet ein, bis das Hemd spannt: „Ich bin kein Jammerlappen. Aber dieser Richter hat mir die Flügel gestutzt. Er hat mir das Gefühl gegeben, nichts mehr wert und nie was wert gewesen zu sein.“ Hat er das wirklich? Hat er den Ange- klagten nicht einfach nur behandelt wie jeden anderen? Damit hat der „Blitzdonnerwetterbur- sche“ (NEUES DEUTSCHLAND) allerdings nicht gerechnet. Ein „Rustikal-Charmeur“ (PLAYBOY) wie er kriegt schon mal Lokal- verbot, weil er auf dem Kneipenklo so laut mit einer Dame vögelt, daß halb Schwa- bing neidisch wird. So einem zog vor ein paar Jahren ein Musiker-Freund die Gitar- re über den Kopf, weil Wecker sich allzu dreist an dessen Frau zu schaffen machte. Und wer den Helden aller Zukurzgekom- menen bei der Arbeit kennengelernt hat wie der Münchner Musiker und Journalist Karl Forster, entdeckt „in dem Alt-68er den Landvogt“ , der „seine Leute wie Leib- eigene behandelt“. Aber Knast? Ganz öffentlich und mit dem Segen ei- nes Millionenpublikums hat der Musiker seit Ende der sechziger Jahre das Wildsein zum Beruf gemacht. Nie hat er so getan, als ob er maßhalten könnte. Leben, lieben, singen, saufen, abstürzen und wieder auf- erstehen, von all dem gibt es bei Wecker immer die Überdosis – auf der Bühne und privat. Wecker und seine Lieder sind so sehr eins, daß man kaum sagen könnte, was zu- erst da war. Wenn der Meister singt und Klavier spielt, dann haut er rein, bis Hemd und Haare am Körper kleben. Wenn der Künstler liebt, dann verausgabt er sich, bis ihm „das Fleisch von der Seele fällt“. Sein Publikum nimmt der Leistungssän- ger in den Schwitzkasten, als gelte es, Freu- de durch Kraft zu spenden; nach demsel- ben Motto hat er jahrelang die Frauen flachgelegt, „alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war“. Aber Konstantin, dem Kini (bayerisch für König) aller Lausbu- ben, ist nicht mal die Mutti böse, wenn er in Filmen Marke „Oh mei, haben die Ost- friesen Riesen“ mitrammelt. Was will man einem vorhalten, der von sich sagt: „Hab’ mich öffentlich verstiegen und verirrt, meine Feinde, meine Lieben oft verwirrt, hab’ nie konstatiert, perfekt zu sein, hab’ mich stets bemüht, nicht so ge- leckt zu sein“? Freimütig besingt und beschreibt er sein „verkokstes Dasein“ und präsentiert mit

der spiegel 12/1997 Kultur vorauseilender Bußfertigkeit die blanke das „Nessun dorma!“ von einer Reinheit, Dafür reißt der Sänger mit seinem See- Brust, bevor ihm ein anderer die Knöpfe sagt der Sohn, „die nur den Allergrößten len-Gebrüll einen repräsentativen Durch- aufreißen kann. Die Zivilfahnder, die Ende gelang“ – leider völlig unbemerkt von der schnitt des deutschen Sprachraums hin, 1995 einen nach exzessivem Crack-Kon- Öffentlichkeit. Dem Junior ging im Stimm- vom Bauarbeiter bis zur Esoterikerin, sum völlig verwahrlosten Wecker in seiner bruch ein engelsgleicher Chorsopran ver- vom Gymnasiasten bis zum Gewerk- Wohnung überraschten, begrüßte der loren, für den er nie wieder Ersatz gefun- schaftsfunktionär. Ewig halbstark und da- Hausherr: „Kommt rein, Jungs, ihr habt den hat. bei ein ganzer Kerl ist er der Macho, mit mir das Leben gerettet.“ Das Musikstudium hat dem Wecker- dem Alice Schwarzer herzhaft lachen Im Prozeß legte der zeitweilig beken- schen Œuvre gewisse Harmonien ge- kann, und der Traum der Hausfrau beim nende Katholik mit der Inbrunst eines reu- schenkt, die selbst neue Werke rasch ver- Bügeln, wenn er weckert: „Ja, Freunde ja. igen Sünders die dunkle Seite seiner Ek- traut erscheinen lassen. Die Sehnsucht Ich liebe diese Hure.“ Zum 50. Geburts- stasen offen: Ungewaschen habe er sich nach dem Philharmonischen geht dem tag der bayerischen IG Metall war er ge- dem Zustand der „Verwesung“ genähert, Meister an die Grenze der Tonkunst. Ein nauso willkommen wie Ministerpräsident weil er in der Dusche schlecht Crack rau- Selbstversuch als Papageno steht aus. Edmund Stoiber. Derzeit kann sich chen konnte – trauriges Mannsbild. Mozart-Freunde sehen ein Crashendo Wecker seine Freunde wirklich nicht aus- Schonungslos wie gewohnt gegen sich voraus. suchen. selbst und das Auditorium, gab Wecker über den Zustand seiner ungeschnittenen Zehnägel Auskunft: „Die Füße paßten in kaum einen Schuh mehr.“ Seiner Neigung für Nudelgerichte tat das keinen Abbruch, so daß der Süchtige nicht nur kiloweise Koks, sondern Übergewicht mit sich her- umtrug. Wie er da lustvoll zwischen Selbst- anklage und Selbstmitleid pendelte, blitz-

„A wenn i mi verrenn’ und mi dabei verbrenn’, i muaß ma heut’ das Leb’n so richtig geb’n“ te im Gerichtssaal endlich wieder jenes „Weckerleuchten“ auf, nach dem er vor 20 Jahren eine LP benannt hatte. Genug ist nun genug, versprach der Delinquent in Abwandlung eines seiner Lieder sinn- gemäß und stimmte auf der Anklage- bank an: „Meine Seele fliegt dahin, Kokain, Kokain ...“ – was wie so oft bei seinen Auftritten in letzter Zeit dazu führte, daß weniger das Publikum als vielmehr der Barde selbst in Tränen aus- brach. Wer derart leidenschaftlich beichtet, dem wird selbst beim Jüngsten Gericht ver- ziehen, und der liebe Gott ist einer von „Konnis“ engsten Freunden, noch enger als Rudolf Scharping. Mit ihm (mit dem lieben Gott) würde der Sänger gern mal „einen Nachmittag lang durchs Universum fliegen“. Aber in Bayern sind sogar die Amts- richter unberechenbar. „Bringen Sie Ihre Tränen unter Kontrolle“, befahl dieser barsch, ohne jedes Verständnis, daß eben das doch das Schwierigste für einen Trieb- dichter ist: seine Glut, seine Flut und all das in den Griff zu kriegen, was sich auf Tier, Bier und Gier reimt. Hat der Richter möglicherweise einfach nicht kapiert, wen er da vor sich hat? Wie- so kann eine irdische Instanz jemanden belangen, der mit den Größten Zwiespra- che hält – „Ich und Goethe“ – und sich – „Ach, du lieber Kurt“ – mit Tucholsky ver- gleicht? Wecker, Vorname: Konstantin Amade- us. Schon der Vater, ein Freizeit-Tenor, sang

222 der spiegel 12/1997 Die meisten seiner Fans sind treu wie tig geb’n“, haben ihn die Ängstlichen zu Wie ein Handelsreisender in Sehnsüch- Evelyn: „I mog einfach ois an ihm.“ Die ihrem Robin Hood und die Möchtegern- ten aller Art preist er unverändert Lust, Oberösterreicherin ging seit 1972 in über Draufgänger zu ihrem Stellvertreter erkoren. Genuß und Übermaß: „Um alles zu er- 200 Konzerten mit ihrem Star auf „Lie- Sie lieben ihn auch dafür, daß er all das fahren, beschloß ich, vor der Hölle nicht zu besflug“ – so heißt ihre Lieblingsplatte von tut, was sich die meisten nicht trauen – das fliehen.“ Da steigen Tränen auf in Evelyn. ihm. Nun sitzt die Verkäuferin, 48, mit ih- macht es ihm besonders schwer, erwachsen Seine wahren Freunde fühlen mit ihm, rer Tochter, 25, im Stadtsaal zu Steyr bei zu werden. Warum auch? Wie es aussieht, auch wenn sie nicht ganz so weit gehen. Linz, wo der Musiker vor einer Tournee gibt Harald Juhnke das Steuer im deut- Wecker-Kumpel Scharping stürzte letztes durch Süddeutschland und Österreich ein schen Suchtzweier bald ab. Dann könnte Jahr beim Fahrradfahren ohne Helm, was Übungskonzert absolviert. Wecker endlich einmal irgendwo die Spit- ihn um Fingerbreite das Leben gekostet Mahner oder Minnesänger, Götterlieb- zenposition übernehmen. Schon kokettiert hätte. Nicht daß der Sozialdemokrat ra- ling oder Teufelskerl, Links- oder Rolex- er bei Auftritten wieder mit der Rolle, die deln und koksen gleichsetzen wollte, aber träger – hier darf Wecker endlich wieder al- ihn fast das Leben gekostet hat: „Ich be- was da innerlich abgeht, „diese Mischung les gleichzeitig sein.Wegen seiner Maxime: wundere euch, daß ihr das Konzert eines aus Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, „A wenn i mi verrenn’ und mi dabei ver- drogensüchtigen, vorbestraften Bankrot- die einen anfällig macht dafür, sich und brenn’, i muaß ma heut’ das Leb’n so rich- teurs besucht.“ anderen etwas beweisen zu wollen und da- bei zu weit zu gehen“, kann der Politiker gut nachvollziehen. Der ganze Kosmos zwischen Seele und Unterleib ist des Weckers Element. Koks hin, Knast her – vor den Türen in Steyr warten die Mädchen mit den roten Lippen und dem drallen Hinterteil. Doch der Jungvermählte beläßt es diesmal dabei, sinnlich zu gucken und Wangen zu tät- scheln. „Ich halte mich von Räuschen je-

„Von allen meinen großen Lieben ist mir nur eine treu geblieben: der Selbstbetrug“

der Art fern“, sagt er entschlossen auf hochdeutsch. Davon muß er den Richter und vor allem sich selbst überzeugen. Da nimmt er sogar die angeordnete Therapie auf sich, obwohl kaum jemand sicherer sein dürfte als der Patient, daß er im Grunde keinen Thera- peuten braucht. „Von allen meinen großen Lieben ist mir nur eine treu geblieben: der Selbstbetrug.“ Das Lied ist nicht ganz neu, so wenig wie das ganze Wecker-Phänomen. Jetzt braucht er Freunde wie Evelyn, die ihrem Kon- stantin, ohne ihm je begegnet zu sein, rest- los vertrauen: „Diesmal schafft er’s, mit dem Kind und der lieben Frau.“ Die liebe Frau Annik, 23, wickelt den kleinen Wecker daheim in Bassum, in ihrem Jugendzimmer, zwischen Plüschtie- ren und Puppen im Elternhaus. Dort gaben sich in jüngster Zeit die freudigen Ereig- nisse gewissermaßen die Klinke in die Hand, indem doch Weckers Schwiegerma- ma, 48, ihrem Schwiegersohn, 49, gleich noch eine Schwägerin gebar – das Wecker- Lied zu dem Segen war Gott sei Dank schon da: „Stilles Glück, trautes Heim, kei- ner schaut zum Fenster rein.“ Der Anfang für ein neues Leben ist ge- macht. „I find’s richtig liab“, sagt der Spät- Papa. Und es fällt ihm sein Gedicht „über die Zärtlichkeit“ ein: „Ich kenne Men- schen“, sagt er da, „die dich mit einer Selbstverständlichkeit in ihre Herzen auf- nehmen, daß dir schwindlig wird.“ Da wäre es doch schön, wenn der Schwindel diesmal eine lange Weile anhielte. ™

der spiegel 12/1997 223 Kultur sengeschüttelte Theater gewann dafür die Kommunikationsfirma „Bee Line“ als THEATER Sponsor: Der Betreiber eines expandie- renden Mobiltelefonnetzes stieg mit einer halben Million Dollar ein. Die für Mos- Einladung zum Mitschießen kauer Theaterverhältnisse ungeheure Sum- me wurde, so Regisseur Maschkow, loh- Die Moskauer begeistern sich für Brechts „Dreigroschenoper“. nend in Ausstattung angelegt. Das Büh- nenbild läßt mit 1000 Lämpchen die Stadt Von Wladimir Koljasin an der Themse aufleuchten, dazu gibt’s Pyrotechnik nach Western-Art – wie eine Koljasin, 41, ist Germanist in Moskau. Eine Talkshow spürt der „Dreigroschen- Einladung zum Mitschießen. oper“-Mode nach – und viele Feuilletoni- Als der Vorhang sich zur Premiere hob, anz Moskau pfeift das Lied vom sten zeigen sich verblüfft und entzückt, waren sie alle da – und sind es seither Mann, „den man Mackie Messer wie lebensecht Brechts Verbrecher aus dem Abend für Abend: Banker und Kasinoma- Gnennt“: Der wilde Osten, wo Ban- heutigen Rußland entlehnt scheinen. nager, leitende Angestellte und Spekulan- ditismus und Staatsmacht längst so eng ver- Die sozialen Verwerfungen von heute ten, in teurem Tuch und mit Handys am wachsen sind wie einst im frühkapita- spiegeln zwei Moskauer Versionen des Ga- rechten Fleck. Anfangs mochten sie auf listischen London des Mr. Peachum, erlebt noven-Singspiels: Die teure Mackie-Show den Gebrauch dieser Statussymbole auch einen bizarren Brecht-Boom. im Satirikon-Theater – Ausländer zahlen während der Vorstellung nicht verzichten. Nicht dem „Kaukasischen Kreidekreis“ bis zu 100 Dollar pro Billett – zeigt den Inzwischen bittet eine Lautsprecheransage oder der „Mutter Courage“ gilt die Begei- Helden als Gauner von Format, der bereits die „glücklichen Besitzer“ solcher Spiel- sterung, sondern dem anarchischen, kuli- die halbe Stadt kontrolliert und an die ganz zeuge um Enthaltsamkeit. narischen Brecht der zwanziger Jahre. große Macht will. Das vergleichsweise Vor allem die neureichen Bosse amüsie- Marxistische Dialektik, selbst in Brecht- preiswerte Spektakel in Andrej Rossinskis ren sich köstlich. Hauptdarsteller Kon- scher Verfremdung, ist gegenwärtig wenig Labortheater dagegen präsentiert einen stantin Raikin, Sohn des großen Sowjet- gefragt in Rußland. Um so mehr die „Drei- blutjungen Mackie-the-Kid, der noch auf Entertainers Arkadij Raikin, hält ihnen in groschenoper“. dem Wege ist vom ordinären Straßen- der Rolle des Macheath den Spiegel vor. Er Gleich vier Versionen des Gangsters Schlagetot zum etablierten Mafia-Paten. ist einer von ihnen, mit derselben Spieler- Macheath sind gegenwärtig auf Moskaus Die Satirikon-Inszenierung sei „das er- mentalität – wie gewonnen, so zerronnen. Bühnen zu betrachten. Der Mackie-Song ste Projekt im Broadway-Format, von Raikins Mackie hätte alle Chancen, sich ist nicht nur auf protzigen Empfängen von Regisseur Wladimir Maschkow nach allen draußen im brodelnden Moskau Respekt Neureichen der Hit der Saison, auch der Regeln des Show-Geschäfts vermarktet“, zu verschaffen, als „Bisnisman“ und Ban- Fernsehwerbung dient er als Erkennungs- berichtete kommersant-daily, Hausblatt denführer: ein Frechling, der besticht, lügt, melodie fürs Anpreisen von Luxusgütern. der Moskauer Jung-Pfeffersäcke. Das kri- phantasiert und mit charmantem Lächeln über ein Minenfeld tanzt. Seine Bootsfahrt mit betörend schicken Mädchen, in deren Kreis er hofhält wie ein Sultan mit seinen Kebsweibern, muß den Phantasien russi- scher Mafiosi geradezu Flügel machen. Das „Dreigroschenoper“-Gegenstück zur Satirikon-Pracht wird in einem We- stentaschen-Theater gegeben. Es wohnt zur Untermiete in einem riesigen, längst un- rentabel gewordenen Kulturpalast, dem viele bunte Kioske inzwischen die Atmo- sphäre eines Flohmarktes übergestülpt ha- ben. Das Publikum stellen jugendliche Außenseiter und alte Theaterfans; großes Geld fände niemals den Weg hierher. Im Labortheater ist Macheath noch jung, empfindlich, ein Mann ohne Glanz und Er- fahrung. Ins Gauner-Metier mag er frisch aus einem Studentenheim oder einem kleinen Forschungslabor geraten sein. „Mit Geld läßt es sich leben“, heißt das russische Pendant des Brechtschen „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!“ Das Schmarotzer-Virus ist im Visier dieser „Dreigroschenoper“-Parodie – und der Spaß daran, leicht zu Geld zu kommen. Beide sonst so unterschiedlichen Auf- führungen haben eines gemeinsam: die un- gläubige Angst in Mackies Augen ange- sichts des Todes. Seit der wilde Markt in Rußland ausgebrochen ist, wird menschli- che Existenz nur am Tode gemessen – Aus-

W. POMIGACOW W. druck einer Zeit, in der das Geld alles und Satirikon-Version der „Dreigroschenoper“: Neureichen-Spektakel nach Broadway-Art das Leben nichts gilt. ™

224 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Kultur Verleger Haffmans in Zü- VERLAGE rich versteht die ganze Aufre- gung nicht. Von einer Krise Das Ende könne „überhaupt nicht“ die Rede sein, sagt er. „Der Verlag steht hervorragend da.“ Für der Fahnenstange ihn, einen Mann der raschen Entschlüsse, der auch gleich Turbulenzen beim Zürcher noch einer jungen Lektorin fristlos kündigte, ist das alles Haffmans-Verlag: Der langjährige „eher ein Generationskon- Vertriebsleiter geht, und flikt“. Zwar habe er eine Teil- ein wichtiger Geldgeber droht haberschaft Haags durchaus abzuspringen. erwogen, doch ihm nicht zu- sätzlichen Einfluß auf das Pro- escheidenheit war seine Sache nie. gramm zugestehen wollen. Als Gerd Haffmans sich 1982 vom Den Verdacht, daß ihn dabei BSchweizer Diogenes-Verlag trennte Furcht auch vor Machtverlust und unter seinem Namen ein eigenes Un- geleitet habe, weist der Verle- ternehmen gründete, versprach er, eine ger von sich. neue literarische Generation vorzustellen, Hinter sich weiß Haffmans die „die Führungsrolle im gegenwärtigen seinen zweiten großen Geld- deutschsprachigen literarischen Schaffen“ geber: Jan Philipp Reemtsma, übernehmen sollte. Autoren wie Robert der zu einem Viertel am Gernhardt, Eckhard Henscheid und Hans Unternehmen beteiligt ist – Wollschläger standen ihm zur Seite. und die schwarzen Zahlen des Das mit der Führungsrolle klappte nicht vergangenen Jahres, die zum ganz, doch immerhin hat Haffmans, 53, großen Teil auf Sammel- den Verlag bis heute über die Runden ge- verkäufe an Buchversand- bracht. Gelegentlich geriet sein Verlags- Unternehmen zurückgehen:

schiff ins Schlingern, etwa als 1992 die Bi- KLINK / ZEITENSPIEGEL T. So wurde allein eine Shake- lanz durch die Taschenbuchproduktion zu Verleger Haffmans: „Wir stehen hervorragend da“ speare-Ausgabe fast 40000mal stark belastet wurde. Immer aber stellte verkauft. sich rechtzeitig ein Geldgeber ein, der Ge- Jahren im Haus ist und an der positiven Solche Aktionen, besonders aber fallen am Wirken des Verlegers und am Bilanz im Geschäftsjahr 1996 wesentlichen Ramschverkäufe, schätzen die Gegenwarts- Glanz des kleinen, aber feinen Verlags mit Anteil hat, der Stuhl vor die Tür gesetzt. autoren nicht besonders. Auch wegen des dem Raben als Wappentier fand. „Mich hat das kalt erwischt“, sagt Haag, „unberechenbaren“ Umgangs mit seinen Seit Mitte vergangener Woche ist die der – plötzlich ganz förmlich per „Sie“ – Büchern fühlt sich der Schriftsteller Hen- Welt im Zürcher Steinfels-Areal, wo das schriftlich gebeten wurde, seinen Schreib- scheid („Die Vollidioten“) dem Haus nur Unternehmen seit 1995 seinen Sitz hat, tisch noch am selben Tag zu räumen. noch vage verbunden. Sein nächstes Buch nicht mehr in Ordnung. Völlig überra- Mehr noch als die Trennung von Haag wird bei Reclam erscheinen. Henscheids schend wurde dem Vertriebs- und Werbe- könnte für den Zürcher Verlag die damit Kollege Wollschläger („Herzgewächse“) leiter Peter Haag, 37, einem bedächtigen einhergehende Verärgerung eines Frank- fühlt sich bei Haffmans ebenfalls nicht und qualifizierten Strategen, der seit zwölf furter Geldgebers zum Problem werden. mehr gut aufgehoben. Das Verhältnis sei Der Geschäftsmann Thomas Eimer, 51, hat abgekühlt, wobei er dem Verleger persön- Haffmans Anfang 1995 ein langfristiges lich gegenüber immer noch die „alten Darlehen in Höhe von einer Million freundschaftlichen Gefühle“ habe. Schweizer Franken eingeräumt, er wäre Jeder literarische Verlag lebt von und sogar bereit gewesen, daraus – zusammen mit seinen Autoren – das gilt zumal für ein mit Haag – eine Beteiligung zu machen. Haus wie Haffmans, das bei seinem Publi- Die Gespräche darüber waren weit gedie- kum zuweilen Kultstatus erreichte, indem hen, Haag hatte im Vertrauen auf die an- Verleger und Autoren nach außen fast wie stehende Beteiligung das Arbeitsverhält- eine Einheit wirkten. Die Schriftsteller nis vorsorglich von sich aus gekündigt. schauen daher mit Bangen auf die Turbu- Doch eine endgültige Antwort auf das An- lenzen und hoffen, daß der Krach mit Haag gebot blieb beharrlich aus. und der Konflikt zwischen Eimer und Haff- Eimer, der dem Verlag zwischenzeitlich mans den Verlag nicht in finanzielle Be- noch einen weiteren Kredit zur Verfügung drängnis bringen werden. stellte, beklagt eine seit längerem mangel- Vor allem der Allroundkünstler Robert hafte Kommunikation und verspätete Zins- Gernhardt („Wörtersee“) wünscht, daß es zahlungen. Der Rausschmiß von Haag, der sich nicht um eine Krise, sondern „ein Kri- auch das Ende der Beteiligungspläne be- seln“ handelt. Mit ein wenig Pathos sagt er: deutet, hat ihn verärgert: Gleich am näch- „Ich brauche diesen Typus von Verlag.“ sten Tag schaltete er einen Schweizer An- Im Herbst wird bei Haffmans ein neuer walt ein, um prüfen zu lassen, ob eine vor- Lyrikband von ihm erscheinen. Hinter dem zeitige Kündigung des bis 1999 laufenden fröhlichen Titel „Lichte Gedichte“ verber-

L. ZANETTI / LOOK AT L. ZANETTI / LOOK Darlehens möglich ist: „Die sollen begrei- gen sich freilich Verse mit finsterer Erfah- Ex-Verlagsmitarbeiter Haag fen, daß das Ende der Fahnenstange er- rung: Gernhardt berichtet darin von einer Vom Verleger vor die Tür gesetzt reicht ist.“ bedrohlichen Herzerkrankung. ™

226 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Kultur

AUTOREN Hirn im Glas Total gelähmt, in seinem Körper eingeschlossen, diktierte ein französischer Journalist vor seinem Tod ein Buch über sein Schicksal – per Lidschlag. ahles Licht fällt durch herabgelassene Jalousien auf die starr und mit ver- Frenkten Gliedmaßen auf einem Kran- kenhausbett liegende Gestalt. Künstliche Beatmung und eine Ernährungssonde hal- ten den einst vitalen Pariser Journalisten Jean-Dominique Bauby an einem Leben, von dem so gut wie nichts mehr wahr- nehmbar ist. Und dennoch: In dem stillgelegten Kör- per, der allein noch das linke Augenlid be- wegen konnte, existierte der Franzose wie

ein Astronaut in einem führungslos durchs ELLE All schlingernden, nur noch durch Pieptö- Bauby vor seinem Schlaganfall ne mit der Erde korrespondierenden „In einer Nacht ohne Ende“ Raumschiff. Kaputt die Instrumente, intakt der Geist und die Persönlichkeit – Bauby, der Gestrandete seinen Zustand. „Wenn 44, konnte hören, sehen, denken, lesen; eine Tür mich von der Freiheit trennt, so nur der Kontakt zur Außenwelt war abge- habe ich nicht die Kraft, sie zu öffnen.“ rissen. „Locked-in“ (eingeschlossen) nen- Der Vater zweier Kinder war dennoch nen die Mediziner diesen Zustand. glücklicher dran als andere der auf 250 bis Vorletzten Sonntag starb der in seinem 500 geschätzten Locked-in-Opfer in Frank- Leib eingekerkerte Häftling an einer In- reich, die von ihren Ärzten als hoffnungs- fektion. Doch der unter Kollegen so be- lose Wachkoma-Fälle aufgegeben worden liebte „Jean-Do“ hatte vorher genug Zeit, sind. Bauby wurde dank richtiger Diagno- seinem teuflischen Schicksal ein Schnipp- se in ein Spezialkrankenhaus für Gelähm- chen zu schlagen. Nur drei Tage vor seiner te in Berck an der Kanalküste eingeliefert. „Mutation“ (Bauby) aus dem provisori- Weil dieser „schlaffe und verrenkte Kör- schen ins endgültige Jenseits konnte der per“ ihm nur noch „gehört, um mich leiden ehemalige Chefredakteur der Pariser Frau- zu lassen“, konzentrierte sich das „Hirn enzeitschrift elle ein Buch vorlegen, wie es im Glasbehälter“ aufs Träumen, Denken noch kein Mensch vor ihm zustande ge- und Formulieren. Daß er die Außenwelt bracht hat: Der Eingeschlossene diktierte über seine Innenwelt informieren konnte, „Le scaphandre et le papillon“ (Der Tau- war das Verdienst der jungen Lektorin cheranzug und der Schmetterling) mit Claude Mendibil. Die Frau verfügte über 200000 Zeichen seines intakten Augenlids. ein besonderes Kommunikationssystem: Millionen Franzosen vernahmen in einer Sie benutzte das Alphabet in der Rangfol- TV-Dokumentation („Unter Hausarrest“) ge der im Französischen am häufigsten ge- das Vermächtnis des Zwangseinsiedlers an brauchten Buchstaben: E S A R I N … allzu umtriebige Zeitgenossen: „Macht Dann begann eine Herkulesarbeit zu weiter, aber werdet nicht Gefangene eurer zweit. Im Morgengrauen formulierte Bau- eigenen Rastlosigkeit. Auch Bewegungslo- by im Geist seine Sätze und lernte sie sigkeit ist eine Quelle der Freude“. Noch auswendig. Anschließend las ihm seine bevor Bauby beerdigt wurde, stand sein li- Partnerin das Spezial-Alphabet vor. Per terarisch anspruchsvoller und oft humor- Lidschlag pickte der Autor die richtigen voller Report aus dem Zwischenlager nach Buchstaben heraus – einmal Zwinkern dem Leben und vor dem Tod bereits auf hieß „ja“, zweimal „nein“. der Bestsellerliste. So entstanden in monatelanger Arbeit Den Absturz des geistreichen Pariser 137 Seiten über den Mann, der durch Dandys vom Bücherfreak und Motorrad- die dicke Scheibe des Taucherhelms den fan aufs Niveau von „Gemüse“ löste ein Schmetterlingen nachträumte. Als Mendi- Schlaganfall am 8. Dezember 1995 aus.Als bil nach hartem Diktat in einem Pariser die Ärzte den Chefredakteur nach 20 Ta- Bistro einen Kaffee bestellte und der Bar- gen Koma ins Leben zurückgeholt hatten, keeper der Frau zuzwinkerte, „kriegte die war die Verbindung zwischen Hirn und einen Lachkrampf“, amüsierte sich Bauby Körper abgebrochen: „Ich bin zur Statue in einem Lidschlag-Interview mit dem erstarrt, mumifiziert, eingeglast“, beschrieb Schriftsteller Erik Orsenna.

228 der spiegel 12/1997 „Wie ein Eremit auf einem Felsen“ be- wertet, was letztlich an Wesentlichem obachtete der Gelähmte durch das ihm bleibt – das Leben selbst“. verbliebene Fenster, das linke Auge, Pfle- Der Verstorbene, so erfahren die Fran- ger und Mitpatienten. Er empfand Mitleid zosen, trug sein Schicksal mit erstaunli- für 20 Koma-Patienten, „diese armen Teu- cher Gelassenheit. Man müsse, so gab er zu fel, die an der Pforte des Todes in eine Protokoll, seine „Würde bewahren und Nacht ohne Ende getaucht sind“. auch ein wenig seinen Stolz“. Denn „im Das einmalige Protokoll dieser Selbst- Rennen wird nur den besten Pferden das erfahrung begeisterte die Kritiker und be- schwerste Handicap auferlegt“. stätigte den Medizinern, daß der Journalist Einer seiner Freunde erlebte in der Kli- in seinem „neuen“ Leben, wie der Autor nik noch einmal Bauby original. Als ein die andere Existenz nennt, er selbst ge- dem Gelähmten unsympathischer, arro- blieben war. Orsenna bewunderte „das ganter Augenarzt wieder einmal fragte, ob literarische Werk mehr als die Willenslei- er doppelt sehe, zwinkerte dieser: „Ja, statt stung“, weil es Literatur darstelle, die „ver- eines Arschlochs sehe ich zwei.“ ™

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt Bestseller vom Fachmagazin BUCHREPORT

Belletristik Sachbücher

1 (1) Grisham Der Regenmacher 1 (1) Ehrhardt Gute Mädchen kommen in Hoffmann und Campe; 48 Mark den Himmel, böse überall hin W. Krüger; 32 Mark 2 (2) McCourt Die Asche meiner Mutter 2 (2) Knopp Hitlers Helfer Luchterhand; 48 Mark C. Bertelsmann; 46,80 Mark

3 (3) Follett Die Brücken der Freiheit 3 (3) Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Lübbe; 46 Mark Scherz; 46 Mark

4 (4) Crichton Airframe 4 (4) Goeudevert Wie ein Vogel im Blessing; 45 Mark Aquarium Rowohlt Berlin; 38 Mark

5 (6) Noll Kalt ist der Abendhauch 5 (6) Goleman Emotionale Intelligenz Diogenes; 36 Mark Hanser; 49,80 Mark

6 (5) Proulx Das grüne Akkordeon 6 (5) Goldhagen Hitlers willige Siedler; 59,80 Mark Luchterhand; 48 Mark Vollstrecker

7 (7) Gaarder Sofies Welt 7 (7) Krämer/Trenkler Lexikon der populären Irrtümer Hanser; 39,80 Mark Eichborn; 44 Mark 8 (8) Walters Dunkle Kammern 8 (8) Reemtsma Im Keller Goldmann; 42,80 Mark Hamburger Edition; 32 Mark 9 (12) Leon Vendetta 9 (9) Ogger König Kunde – angeschmiert Diogenes; 39 Mark und abserviert 10 (10) Forsyth Das Schwarze Manifest Droemer; 39,80 Mark C. Bertelsmann; 46,80 Mark 10 (10) Kohl Ich wollte Deutschlands 11 (9) Marías Mein Herz so weiß Einheit Propyläen; 48 Mark Klett-Cotta; 39,80 Mark 11 (14) Kelder Die Fünf „Tibeter“ 12 (11) Gaarder Durch einen Spiegel, in Integral; 19,80 Mark einem dunklen Wort 12 (13) Huntington Kampf der Kulturen Hanser; 29,80 Mark Europa; 68 Mark

13 (13) Cross Die Päpstin 13 (11) Schwarzer Marion Dönhoff Rütten & Loening; 49,90 Mark Kiepenheuer & Witsch; 39,80 Mark

14 (–) Tamaro Geh, wohin dein Herz 14 (12) Schmidt Weggefährten dich trägt Siedler; 58,80 Mark Diogenes; 32 Mark 15 (–) Paungger/Poppe Vom richtigen 15 (–) Tamaro Anima mundi Zeitpunkt Diogenes; 39 Mark Hugendubel; 29,80 Mark

der spiegel 12/1997 229 Werbeseite

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Werbeseite Kultur Bee Gees sind die Band, von der keiner POP zugibt, daß er sie mag“, behauptete der london evening standard.Am schlimm- Schwiegersöhne sten giftete der US-Komiker Denis Leary über den Tod des jüngsten Gibb-Bruders Andy, der zwar nie zur Band gehörte, aber in Satinhosen als Solosänger erfolgreich war: „Das Beste an den Achtzigern war, daß wir einen von den Bee Gees losgeworden sind. Einer weg, Lange Zeit galten sie als drei sind noch fällig.“ schlimmste Langweiler der Barry Gibb lehnt sich in seinem wuchti- Pop-Elite – nun wird den gen Ledersessel zurück: „Wir haben ge- Bee Gees doch noch echter lernt, so was mit Humor zu nehmen. Sonst übersteht man das nicht so lange.“ Dann Respekt zuteil. starrt er eine Weile schweigend aus seinem Wohnzimmerfenster hinaus auf den impo- er Weg in Barry Gibbs Wohnzim- santen Park seines Landsitzes in Beacons- mer führt an vielen Fotos vorbei, field in der Nähe von London. Ddie in goldenen und silbernen Irgendwann mußte sich diese Lässigkeit Schmuckrahmen auf alten Sekretären, auszahlen: Die Musikindustrie läßt dem Tischchen und Anrichten drapiert sind: Trio 1997 so ziemlich alle Preise zukom- Barry mit Michael Jackson in einer Hol- men, die für Musiker zu vergeben sind; lywoodschaukel, Barry mit Diana Ross auf und im Mai steht die Aufnahme in die einer Jacht, Barry mit Quincy Jones am „Rock’n’Roll Hall Of Fame“ an. Strand, Barry mit Maurice und Robin beim Noch erstaunlicher ist die Ehrerbietung, Grillen – lauter nette Erinnerungen aus mit der der Popnachwuchs die Bee Gees einem erfüllten Musikerleben. verwöhnt. Die Jungs von Take That hatten Barry Gibb und seine drei Jahre jünge- im vergangenen Jahr mit dem Bee-Gees- ren Zwillingsbrüder Maurice und Robin Klassiker „How Deep Is Your Love“ einen haben eine Karriere voller Superlative hin- Hit. Auch Boyzone („Words“) und N- ter sich. Die Bee Gees haben über 100 Mil- Trance („Stayin’ Alive“) brachten es 1996 lionen Platten verkauft, und eigentlich ge- mit alten Bee-Gees-Hits an die Spitze. Und bührt ihnen in der Heldengalerie der Pop- diverse US-Undergroundbands nahmen geschichte ein Platz neben den Beatles, das Album „Melody Fair – A Tribute To Elvis und Michael Jackson. The Bee Gees“ auf, mit dem sie sich vor Doch das Trio genoß bislang nur wenig den Sechziger-Jahre-Kompositionen des Respekt. Die Gibb-Brüder galten als ex- Trios verneigen. trem uncool. „Tumb, aber gewaltig“ nann- Selbst Noel Gallagher, Chef und Song- te sie die gewöhnlich eher zurückhaltende writer der Britpop-Erfolgsband Oasis, zählt sunday times vor ein paar Jahren; „die die Bee Gees neuerdings zu seinen größten REDFERNS Bee Gees Ende der siebziger Jahre: Anzüge mit Maschinenpistolen in Fetzen schießen

232 der spiegel 12/1997 Helden: „Eine phänomenale Gruppe. Ich monien und aufwendigen Arrangements wünschte, ich hätte den Song ,To Love folgte bald der Weltruhm. John Lennon Somebody‘ geschrieben.“ und Ringo Starr führten sie ins Londoner Den Stolz auf ihren neuen Ruhm zele- Nachtleben ein, und Maurice heiratete eine brieren die Bee Gees auf dem Album „Still Londoner Sängerin namens Lulu. Waters“ und mit einer Tournee rund um Dann kam der Ärger. Maurice berichtet, die Welt, die sie im Frühjahr 1998 auch Frauen und Manager hätten das Familien- nach Deutschland führen wird. idyll gesprengt: „Schon meine erste Freun- „Das ist die Natur der Popkultur“, do- din summte mir immer ins Ohr: Maurice, ziert Barry Gibb, „mal bist du oben – mal Darling, ich mag deine Brüder, ehrlich, aber bist du unten. Und selbst wer lange ver- sie behindern dich. Du bist der Star.“ Die achtet wird, wird eines Tages geliebt.“ Mau- Trennung kam 1969, die Brüder warteten rice fügt hinzu: „Das ist ganz einfach: Sie- auf große Solokarrieren – und fielen sich ein ben ist unsere Glückszahl. 1967 hatten wir Jahr später reumütig wieder in die Arme. mit ,New York Mining Disaster 1941‘ unse- Leider interessierte sich in Großbritan- ren ersten großen Hit, 1977 gelang uns mit nien kaum jemand mehr für die Gibb- ,Saturday Night Fever‘ ein Klassiker – und Brüder, weshalb sie kurzentschlossen nach 1987 meldeten wir uns mit ,You win again‘ Miami umzogen. Dort bewiesen sie zum zurück. Was also sollte 1997 schiefgehen?“ erstenmal ihr Geschick, sich immer wieder Schon dieser Zahlenmagie wegen will neu zu erfinden. Nach ein paar mäßig Barry Gibb exakt im Alter von sieben Jah- erfolgreichen, soulinspirierten Alben las ren beschlossen haben, ein Popstar zu wer- Manager Stigwood eine Reportage des den. Es passierte Anfang der fünfziger Jah- Journalisten Nik Cohn, in der es um eine re, daheim in Manchester: Barry saß vor Clique in Brooklyn ging, die samstags dem Fernseher, schlürfte ein Glas Milch nachts ihr Leben in einer Disko genoß. Das Album zum „Saturday Night Fever“-Film ist bis heute der erfolgreichste Kino-Sound- track aller Zeiten, Bee-Gees- Songs wie „How Deep Is Your Love“, „Stayin’ Alive“ und „Night Fever“ wurden Welthits. In jeder Zeitschrift, jedem Plat- tenladen strahlten die Bee Gees dazu in ihren weißen Satinanzü- gen um die Wette; aber richtige Pophelden wurden sie nicht. Millionen kauften ihre Plat- ten, aber keiner trug ihr T-Shirt. Die Bee Gees waren die gut-

INTER - TOPICS erzogenen, hochbegabten, aber Gebrüder Gibb (1997): Ein Platz in der Heldengalerie sturzlangweiligen Schwieger- söhne des Pop. und war so begeistert von einer Musik- Nach dem 20millionenmal verkauften show, daß er seine Eltern beschwatzte, ihm Album „Spirits Having Flown“ galt Disko eine Gitarre zu schenken. Und weil Ge- plötzlich als Lachnummer. „Wir haben das schwister von Natur aus neidisch sind, for- alles zehn Jahre lang ausbaden müssen“, derten seine Zwillingsbrüder Maurice und sagt Maurice. „Ich schlug damals vor, daß Robin auch Instrumente. wir die verdammten weißen Anzüge öf- Selbst für ihr Alter sangen die Knaben fentlich mit Maschinenpistolen in Fetzen auffällig hoch, und als Vater Gibb seine Fa- schießen sollten.“ milie ins australische Brisbane verfrachte- Schmollend und verletzt zogen sie sich te, quietschten seine Söhne dort uner- nach Miami zurück, schrieben Hits wie müdlich weiter, bevorzugt in Klubs für „Chain Reaction“ für Diana Ross, „Heart- heimgekehrte Soldaten und in Vereinen breaker“ für Dionne Warwick, „Woman pensionierter Polizisten. Als Bee Gees (die In Love“ für Barbra Streisand und „Islands Abkürzung für „Brothers Gibb“) erober- In The Stream“ für Dolly Parton und ten sie dann die australischen Hitparaden. Kenny Rogers. Melodien für ein Jahrzehnt, Daddy Gibb schickte ein Plattenpaket das ihnen wenig zusagte. „In den Acht- nach London an Brian Epstein, den Zieh- zigern ist die Kunst, eine Melodie zu vater und Manager der Beatles, dessen schreiben, abhanden gekommen“, klagt Partner Robert Stigwood die drei Knaben Barry. übernahm – mit dem Hintergedanken, sich 1997 aber ist Disko wieder so cool wie seine eigenen Beatles aufzubauen. „Er war Travolta, und auch die Bee Gees haben weniger von unseren Liedern beeindruckt Anschluß an die Zeit gefunden: „Gestern als von unseren Stimmen“, erinnert sich rief mein zwölfjähriger Sohn Michael an“, Barry Gibb. sagt Barry. „Er begrüßte mich mit den Wor- 1967 kehrte die Gibb-Familie nach Eng- ten: ,Tolle neue Platte, Daddy.‘ So was hat land zurück, und dank der Kastraten-Har- er noch nie vorher gesagt.“ ™

der spiegel 12/1997 233 Kultur

NACHRUF Jurek Becker 1937 bis 1997

ein bedeutendstes Buch schrieb ne Folgen gehabt“. Als Kind erlebte er aus Trotz und im Zorn. Der er die Errichtung des Ghettos in seiner Sjunge Jurek Becker war Anfang Geburtsstadt Lodz. Der Junge über- der sechziger Jahre in der DDR von lebte in zwei Konzentrationslagern der Universität geflogen, hatte bei der und traf erst nach dem Krieg wieder Defa als Drehbuchschreiber angeheu- auf seinen Vater, den neben ihm und ert und war mit einem Skript durch- einer Tante einzig Überlebenden der gefallen, das den Titel „Jakob der Lüg- einst großen Familie. ner“ trug. Becker hatte nur mit wenigen über Becker fand es schade, „das schöne seine Krebserkrankung geredet. Am Drehbuch wegzuwerfen“, und so Telefon war seine Stimme noch vor schrieb er es zu einem Roman um, der wenigen Wochen so klangvoll, dunkel 1969 erschien. Das war sein Debüt als und faszinierend wie immer. Er Erzähler und zugleich ein großer li- scherzte gern, provozierte und spielte terarischer Triumph mit dem Gesprächs- (es wurde später partner. auch noch ein Film Der Schock über daraus). seinen Tod geht weit Die Geschichte über den Verlust des jüdischen Ghet- eines bedeutenden tobewohners Jakob Schriftstellers hin- Heym, der mit Erfin- aus. Becker, darin dungen über die na- seinem Freund, dem hende Befreiung (er Schauspieler Man- gibt vor, ein verbote- fred Krug, wesens- nes Radio zu besit- verwandt, zählte zu zen) den Mitleiden- den Zeitgenossen, den Trost und Hoff- bei denen sich hinter nung spendet, zählt Schalk und Schlitz-

bis heute zu den an- A. REISER / BILDERBERG ohrigkeit jene tiefe rührendsten literari- Ernsthaftigkeit zeigt, schen Werken über den Holocaust – die mehr als bloß Sympathie beim Pu- noch im November 1996 nannte die blikum weckt. Wer ihn kannte, der new york times den endlich in einer liebte ihn. autorisierten englischen Fassung er- Jurek Becker, der am Freitag ver- schienenen Roman „ein eigenartiges, gangener Woche starb und eine Frau kraftvolles, bewegendes Werk“. und einen kleinen Sohn hinterläßt, ist Die späteren Romane – darunter nicht einmal 60 Jahre alt geworden. „Irreführung der Behörden“ (1973), Genauer läßt sich das kaum sagen. „Bronsteins Kinder“ (1986) – und Er- Zwar gibt sein Paß als Geburtsdatum zählungen konnten gegen den einsa- den 30. September 1937 an, doch mög- men Zauber dieses Erstlings nur licherweise war Becker jünger. Sein schwer bestehen. Dennoch blieb Vater erhöhte die Überlebenschance Becker ein beharrlicher und zäher des Sohnes nämlich im Ghetto durch Schreibarbeiter. „Der Schreibtisch ist falsche Angaben: Ältere Kinder ließ der einzige Ort“, sagte er, „an dem ich man arbeiten. Später, so hat Jurek ein kleines bißchen fliegen kann.“ Becker erzählt, habe sich sein Vater an Erzählen war seine Leidenschaft, das exakte Datum nicht mehr erinnert. nicht nur in Büchern. Die Lust an der Seine Stimme, ganz wörtlich ge- Mitarbeit beim Film blieb. Becker, der nommen: Sein Ton wird fehlen. Dieser 1977 mit einem DDR-Visum in den Ton war bei aller Lust an der Polemik Westen kam, schrieb die erfolgreichen – in der Gegenwartsliteratur vermißte TV-Serien „Liebling Kreuzberg“ und er „die Dimension Auflehnung“ – von „Wir sind auch nur ein Volk“. melancholischer Abgeklärtheit. Ty- Der Umstand, „in eine jüdische Fa- pisch dafür ein Romananfang: „Vor ei- milie hineingeboren“ worden zu sein, nem Jahr kam mein Vater auf die so äußerte Becker einmal lapidar, habe denkbar schwerste Weise zu Schaden, für seinen Lebenslauf „nicht eben klei- er starb.“

234 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Kultur mund“ in der „bretterharten“ Welt der Provinz: ein flockiger Medienbrei, von SCHAUSPIELER schadenfroh-schlichter Machart wie der Schaum, aus dem die TV-Serien sind – jetzt muß sich das früh hochkatapultierte Häk- Vom Schloß zur Schwarte chen erst mal krümmen. Mußte es auch – bloß nicht so, wie sich Chefin, Leiche, Racheengel – Sophie von Kessel trotzt ihrem das die bunten Blätter so dachten. Im blauen Dunst über blaues Blut war über- blaublütigen TV-Image. Von Nikolaus von Festenberg sehen worden, daß die Kessel alles ande- re als beglückt übers Anfängerglück war, del verpflichtet, und natürlich Daß der Carrière-geküßte Engel auch in einer Serie untergekommen zu sein. ließen sich die Illustrierten die noch von der blaublütigen Diplomaten- Der Weg ins Theaterengagement war eine AChance zur Hofberichterstattung tochter Sophie Christina Eugénie von Kes- Flucht. nicht entgehen. Da fasziniert in der Fern- sel, 28, gespielt wurde, setzte – Adel zu Nicht nur die Rolle des ewig lieben, sehschnulze „Schloß Hohenstein“ die Adel – die mediale Phantasie in Wallung. wohlerzogenen Fräuleins von „Schloß Ho- Darstellerin einer Medizinstudentin ein Also fielen die Reporterscharen nach Aus- henstein“ machte ihr die Arbeit zur Qual. Millionenpublikum. Sie hat blaue Au- strahlung der ersten „Hohenstein“-Folgen Hinzu kam, daß die Absolventin des Wie- gen, sinnliche Lippen und in der TV- 1993 in die Dachwohnung der Schauspie- ner Max-Reinhardt-Seminars mit ein- Schmonzette ein reines Herz: Der schö- lerin ein, die damals am Aachener Stadt- jähriger Zusatzausbildung in New York ne Graf (Mathieu Carrière) erglüht in Lie- theater engagiert war. In den Storys las früh zu ahnen begann, was sie heute weiß: be. Da hatte der Seriengott etwas an- man dann von der „Romantik-Frau“, dem „Du gewöhnst dir einen Fernsehton an, gerührt. „Edelfräulein“ und vom „süßen Schmoll- ein Plätschern, das an der Oberfläche bleibt. Du merkst nicht mehr: Wie tief kann ich gehen?“ Solche Probleme – es war die erste Er- fahrung der Jungaktrice in ihrer Aachener Zeit – interessieren die TV-Branche nicht. Einmal Noblesse, immer Noblesse, das Fernsehen bombardierte Kessel mit An- geboten, die das „Schloß Hohenstein“- Image phantasielos und stur variierten. TV-Adel vernichtet Alternativen. Die Schauspielerin widersetzte sich standhaft: „Ich habe mir geschworen, so etwas nie wieder zu machen.“ Gut gebrüllt, wie es sich für eine ange- hende Theaterlöwin gehört. Sie sagte die Fernsehrollen ab, aber die Provinzbühne verweigerte Sinn und Tiefe. Fräulein So- phies Gespür für Schmäh – es hatte sich in der Bühne getäuscht. Die TV-Asketin begegnete der ganzen Leere und Sinnkrise des asthmatischen In- stituts Theater. Da gab es Regisseure, so unsicher wie eitel, die einfach die künstle- rische Verantwortung der Schauspielerin zuschoben: „Sophie, findest du gut, wie du den Satz eben gesprochen hast? Ja? Gut, dann sprich ihn so.“ Über die ersten Enttäuschungen half sich Kessel mit den typischen Tröstungen des Jungseins hinweg: „Ich hatte das Gefühl, immer ein Stüfchen über den Dingen zu stehen, einen unbewußten Schritt weiter zu sein, die Hoffnung, eines Tages wird alles anders werden.“ Begegnet man ihr heute, dann ist nichts von der Schwester Leichtfuß zu spüren. Unaffektiert, illusionslos, bar jeden An- flugs von Larmoyanz vermag sie in schnel- lem Redefluß die Selbststeuerungspro- bleme des modernen Schauspielerberufs auszubreiten. Wer ihr zuhört, kann alle Vorstellung vom süßen Mimenleben ver- gessen. Geniale Gurus, ein enthusiasmier- tes Publikum, kollegialer Furor – weniges

J. GULDENER / R. WOLFRAM FOTOAGENTUR J. von Wilhelm-Meister-Träumen wurde für Darstellerin Kessel: „Wie tief kann ich gehen?“ die junge Frau am Theater wahr. „Ich fühle

236 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite mich überfordert“, sagt sie, „ständig allein gottverlassenen Osten zu einem Edelfreß- Entscheidungen zu treffen, obwohl ich tempel auf. Im „Tatort: Der kalte Tod“ gar mich noch gar nicht soweit fühle.“ Keine serviert die Regisseurin Nina Grosse die 30 und schon ganz schön weise, zwangs- Schauspielerin als leichenstarres Mordop- läufig. fer auf dem Seziertisch eines wahnsinnigen Schauspieler zu sein bedeutet, folgt man Pathologen: Sophie kalt, das Blau des Blu- Kessel, ein gerüttelt Maß an Einsamkeit, tes ist da nun wirklich keine Frage des ein selbstkritisches Suchen nach eigenen Adels mehr. Wegen, ein permanentes Wägen von Risi- Der Adelskaste ist die Kessel im Fernse- ken, eine ständig auszutarierende Balance hen entflohen, aber auch der Klischeesucht zwischen seltener innerer Befriedigung des Mediums? „Bei immer neuen Regis- und den Erfordernissen des Berufs. Die seuren“, sagt sie, „liefere ich immer nur das opportunistisch auf Zuschauererfolg pro- ab, was ich immer abliefere.“ Wie andere grammierte Fernsehindustrie und zuneh- aus der Generation nach Fassbinder sehnt mend konzeptionslose Theater machen sich Kessel nach der Zugehörigkeit zu ei- aus tendenziell ohnehin egomanen Schau- ner Gruppe, nach ensembletreuen Filme- spielern auch noch Ego-Nomaden, Klein- machern wie Helmut Dietl oder Max Fär- unternehmer, die auf eigenes Risiko ar- berböck („Bella Block“). beiten. Im Theater hat die Wanderarbeiterin erst Nach legte Kessel eine einjähri- recht keine Heimat gefunden. Dabei er- ge Theaterpause ein, konzentrierte sich lebte sie erst jüngst ein Highlight. Sie wur- aufs Fernsehen. Danach ging sie wieder in de für Alexander Langs „Tasso“-Inszenie- ein Theaterengagement (nach Köln), be- rung ans Deutsche Theater in Berlin ver- schränkte die TV-Filmerei auf die Theater- pflichtet. Da sprang sie als Biedermeier- ferien (mit der Folge, daß sie seit zwei Jah- Schäferin mit Forke und Rechen über die ren nicht einen Tag Urlaub gemacht hat) Kunstrasenbühne, zerlegte auf Geheiß des und sucht ein neues Engagement mit Regisseurs den Goethe-Text in Wortkas-

mehr Freiräumen – die Verbindung von / SEQUENZ D. BALTZER kaden, deren Sinn im Tempo entschwand, Bühne und Fernsehen bleibt jedoch für die Kessel in „Tasso“ auf der Bühne und bekam von der Kritik bescheinigt, sie Schauspielerin ein nerviges Patchwork. Blinder Gehorsam mit Forke und Rechen und ihre Kollegin hätten sich „so entsa- Vor allem, weil sich im ständigen Wech- gungsvoll in ihren Part der geschwätzigen sel von Kamera und Guckkasten so leicht engel, der mit der Zornesfalte im schönen Schnepfen“ gefügt, „daß sie nicht nur La- der Überblick für die eigene Leistung ver- Gesicht auftrumpft. Da kommt es nicht cher provozieren, sondern der Inszenie- lieren läßt. Und das wäre für eine Sophie nur der Produzentin Jutta Lieck so vor, rung den Mehrwert eines Gehorsams ein- von Kessel, die alles, aber vor allem sich als wolle Kessel ihr „Schloß Hohenstein“- tragen, der sich selbst dementiert“. selbst kontrollieren muß, das Schlimmste. Image unter allen Umständen vergessen Sophie von Kessel steht zu ihrem be- Der TV-Film „Alte Liebe, alte Sünde“, machen. dingungslosen Gehorsam. Auch wenn sie an diesem Montag im ZDF, war so eine Auch in anderen Fernsehrollen erinner- nicht recht begreift, warum Lang einem Herausforderung an Sophies auf Durch- te nichts an das Klischee vom braven Fräu- Klassiker seine Klassizität austreiben muß. schaubarkeit angelegte Welt. Das im satt- lein. In „Amerika“ (1996) sieht man Kessel Und sei es auch der Wahnsinn des Re- grünen Münsterland spielende Melodram – – ebenfalls in der Hitze des Sommers – als gietheaters, so hat es immerhin Methode. eine junge Restauratorin (Kessel) deckt die handfeste Kämpferin und ehrgeizigen Boß. Der junge Star aus der Kölner Provinz be- sexuellen Perversionen ihres gewalttätigen Sie möbelt gegen tausend Widerstände wundert die Konsequenz und Grimmigkeit Vaters auf – bilanziert die Darstellerin nach eine heruntergekommene Dorfkneipe im der Probenarbeit und den Mut des Regis- Soll und Haben. seurs, sich vor einem rebellierenden Pu- Manches ist da ihrer Meinung nach auf- blikum unverdrossen zu verbeugen. „Mich gegangen. So die Sache mit der Fett- hat man schon mit Tomaten beworfen“, schminke.Anno Saul, der junge Regisseur, habe Lang gesagt. bestand gegen das Murren der Schauspie- Solche Mutproben kennt sie in Köln ler darauf, einige Darsteller mit einer auch. Sie weiß, was es heißt, sich in einer dicken, glänzenden Creme im Gesicht spie- von der Kritik verrissenen „Wie es euch len zu lassen. Kessel: „Wir sahen aus wie gefällt“-Inszenierung (frankfurter rund- die Speckschwarten. Ich dachte, die Idee schau: „Melancholie des Unvermögens“) geht nicht auf.Aber dem Film sieht man so vor leerem Zuschauersaal in der Rolle der Hitze, Schweiß, Erdigkeit an. Die Vergan- Rosalinde zu behaupten und zu trösten. genheit klebt an den Figuren.“ „Da spürst du dich als Schauspieler viel Nicht ausgeräumt sind dagegen andere mehr als im Fernsehen.“ Bedenken gegen „Alte Liebe, alte Sünde“. Sie lobt, was hart macht in den Zeiten, Kessel findet, daß ihre Rolle „zu zentral da die künstlerische Verantwortung oft wie konzipiert“ ist: „Berühmte Filme leben ein Schwarzer Peter im Bühnenbetrieb her- vom Zusammenkommen der Gegensätze. umwandert und am Ende die Schauspieler Der Zuschauer kann nur über mich in die die Dummen sind. Aber Kessel will nicht Geschichte einsteigen, und wenn der sich verhärten. Ihren Idealismus sieht sie ver- nicht mit mir identifiziert, kann das super- wahrt „wie in einem Glaskasten“. Es sei elend fad sein.“ schwer, ihn zu bewahren. „Aber wenn der Für die Identifikation des Zuschauers verloren ist, ist alles verloren. Es gibt schon

kämpft Kessel auf ihre Art. Sie knausert C. CHARISIUS / T + viel zu viele Beamte in unserem Beruf.“ mit ihrer Anmut und allen weichen Seiten Kessel im TV-Film „Alte Liebe, alte Sünde“ Solche Leute verachtet sie. Nicht Adel, und gibt einen entschlossenen Rache- „Die Vergangenheit klebt an den Figuren“ berechtigter Tadel verpflichtet. ™

238 der spiegel 12/1997 Werbeseite

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HERAUSGEBER Rudolf Augstein BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, CHEFREDAKTEUR Stefan Aust Tel. (0038111) 669987, Fax 660160 BRÜSSEL Dirk Koch; Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. STELLV. CHEFREDAKTEURE Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 DEUTSCHE POLITIK Dr. Martin Doerry, Dr. Gerhard Spörl; Karen JERUSALEM Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, Andresen, Bernd Kühnl, Michael Schmidt-Klingenberg, Hans-Ulrich Jerusalem 94103, Tel. (009722) 6245755, Fax 6240570 Stoldt JOHANNESBURG Birgit Schwarz, P.O. Box 2585, Parklands, DEUTSCHLAND Heiner Schimmöller, Ulrich Schwarz; Gunther SA-Johannesburg 2121, Tel. (002782) 6007132 Latsch; Bert Gamerschlag, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Ansbert Kneip, Susanne Koelbl, Georg Mascolo, Joachim Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Mohr, Dietmar Pieper, Sylvia Schreiber, Dieter G. Uentzelmann LONDON Bernd Dörler, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, WIRTSCHAFT Armin Mahler, Gabor Steingart; Dr. Hermann Bott, Tel. (0044171) 3798550, Fax 3798599 Frank Dohmen, Dietmar Hawranek, Peter Heinlein, Hans-Jürgen MOSKAU Jörg R. Mettke; Reinhard Krumm, Krutizkij Wal 3, Korp. Jakobs, Klaus-Peter Kerbusk, Detlef Pypke, Ulrich Schäfer, 2, kw. 36, 109044 Moskau, Tel. (007095) 2740009/52, Fax 2740003 Michaela Schießl, Thomas Tuma NEU-DELHI Dr. Tiziano Terzani, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi AUSLAND Dr. Erich Follath, Dr. Romain Leick, Fritjof Meyer; 110003, Tel. (009111) 4697273, Fax 4602775 Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, NEW YORK Dr. Jürgen Neffe, 516 Fifth Avenue, Penthouse, Hans Hoyng, Wulf Küster, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, New York, N Y 10036, Tel. 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(00396) meyer, Petra Kleinau, Dr. Joachim Kronsbein, Klaus Madzia, 6797522, Fax 6797768 Dr. Annette Meyhöfer, Reinhard Mohr, Bettina Musall, Anuschka STOCKHOLM Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11223 Stockholm, Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Klaus Umbach, Tel. (00468) 6508241, Fax 6529997 Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff TOKIO Dr. Wieland Wagner, Daimachi 4-44-8, Hachioji-shi, Tokio SPORT Alfred Weinzierl; Klaus Brinkbäumer, Matthias Geyer, 193, Tel. (0081426) 66-4994, Fax 66-8909 Udo Ludwig, Helmut Schümann WARSCHAU Dr. Martin Pollack, Krzywickiego 4/1, 02-078 SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Dr. Walter Knips, Warschau, Tel. (004822) 251045, Fax 258474 Mareike Spiess-Hohnholz WASHINGTON Mathias Müller von Blumencron, Clemens Höges, SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Washing- ton, D.C. 20 045, Tel. 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Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Christiane Stauder Dr. Mechthild Ripke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Andrea Oliver Peschke, Monika Zucht Schumann-Eckert, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staud- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND hammer,Anja Stehmann, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr.Wilhelm BERLIN Michael Sontheimer, Harald Schumann; Wolfgang Bayer, Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Stefan Berg, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Uwe Klußmann, Claus Christian Malzahn, Peter Wensierski, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Friedrichstr. 79, 10117 Berlin,Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles BONN Dr. Olaf Ihlau; Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Annette INFORMATION Heinz P. 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240 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Register

Gestorben Ulam und Edward Teller. Die beiden US- Wissenschaftler konnten sich, so Mark, Martin Kippenberger, 44. Er strebte, das „auf den Tod nicht ausstehen“, sie zur Zu- waren so seine Redensarten, „durch die sammenarbeit zu bewegen, „war ein har- Pubertät zum Erfolg“, und Prominenten tes Stück Diplomatie“. Geläutert, wie so legte er gern Sprüche viele seiner Zunft, warnte der feinsinnige in den Mund wie den: Hobby-Musiker später vor den „unsinni- „Der Kippi kann ja gen atomaren Overkill-Kapazitäten“ und nicht einmal ein Wurst- beobachtete „wohlwollend“ die Anti- brot schmieren!“ Was Atom-Bewegung der achtziger Jahre. Car- der Künstler in Wahr- son Mark starb am 2. März in Los Alamos heit konnte oder nicht, an den Folgen eines Nervenleidens. blieb in einer beab- sichtigten Schwebe. Stan Drake, 75. Der Altmeister des Comic Malend, zeichnend, hatte jahrzehntelang die Leser von Tages-

collagierend, installie- PRESS ACTION zeitungen auf der ganzen Welt mit seinen rend und – vor allem – Strips unterhalten. Von Leid und vor al- schwadronierend, gefiel sich Martin Kip- lem den Wirrnissen der Liebe erzählte penberger in der Rolle des provokanten „The Heart of Juliet Rüpels ohne Respekt und Geschmack. Er Jones“, eine von Drake übertrumpfte die rüde Malweise der Neu- in den fünfziger Jahren en Wilden, in deren Kreis er bekannt wur- kunstvoll gestaltete Se- de, auf parodistischen Porträtreihen („Be- rie. Sie gilt als eine der kannt durch Film, Funk, Fernsehen und ersten „Soap Operas“, Polizeirufsäulen“), er zeichnete Misereor- ihr Schöpfer wurde Plakate mit ausgemergelten Afrikanern ab dafür 1969, 1970 und und setzte zynische Sprüche dazu („Süd- 1972 mit dem Best länder sind feuriger! – Irrtum!“). Er baute Story Strip Award aus-

einen wackligen „Sozialkistentransporter“ gezeichnet. Seit 1984 S. DRAKE und richtete ein „Spiderman-Kabinett“ zeichnete Drake den ein, in dem Bilder zum Thema Drogen wie Zeitungs-Cartoon „Blondie“, der 1930 Halluzinationen von den Wänden starrten. von Chic Young erfunden wurde. Die In Dortmund geboren, hatte Kippenberger lustigen Episoden um den Alltag einer ein Akademiestudium in Hamburg abge- amerikanischen Familie wurden in mehr brochen und später das Berliner Punk- als 50 Sprachen in 2000 Zeitungen dieser Szenelokal „SO 36“ geleitet. Als ein ent- Welt abgedruckt. Stan Drake starb ver- fernter Dada-Nachfahr war er stets darauf gangenen Montag in Norwalk/Connecticut bedacht, die Kunstwelt zu untergraben. Sie an Herzversagen. dankte ihm mit einer verschworenen Fan- gemeinde und häufigen Gelegenheiten zu Ehrung öffentlicher Präsentation – bis hin zu einer „Respektive“, die derzeit im Genfer Ferdinand Piëch, 59,Vorstandsvorsitzen- Museum für Gegenwartskunst läuft. In der des Volkswagen-Konzerns, wird Eh- Wien erlag Martin Kippenberger, seit lan- rendoktor der israelischen Ben-Gurion- gem alkoholkrank, am 7. März seinem Le- Universität. Die Hochschule bedankt sich berleiden. damit für Piëchs Einsatz beim Zustande- kommen der bisher größten Investition ei- Carson Mark, 83. Zwei Monate nach sei- nes europäischen Unternehmens in Israel: ner Ankunft in der US-Atombombenfabrik Mitte April wird am Toten Meer das 540 Los Alamos wollte der promovierte Ma- Millionen Mark teure Magnesiumwerk, das thematiker aus Kanada Volkswagen zusammen mit dem halb- wieder abreisen: Nach staatlichen israelischen Unternehmen den Atombombenab- Dead Sea Works betreibt, seine regel- würfen über Hiroschi- mäßige Produktion aufnehmen. Volkswa- ma und Nagasaki gen will das Leichtmetall Magnesium, das „glaubten wir, Krieg aus den Mineralstoffen des Toten Meeres auf ewig vergessen zu gewonnen wird, zunehmend in der Auto- können“. Doch Mark mobilproduktion verwenden. Bestandteil erhielt in Los Alamos des Vertrages ist die Einrichtung eines Ma- den Chefposten der gnesium-Forschungszentrums an der Ben-

Abteilung Theoreti- / DER SPIEGEL R. PAUL Gurion-Universität, die unweit vom Toten sche Physik. Er beugte Meer am Rande der Negev-Wüste ange- sich fortan den „törichten Diktatoren des siedelt ist. Die Israelis sehen die Ehrung als atomaren Zeitalters“ in Washington und weiteren Schritt zur Normalisierung des trieb die Entwicklung noch gewaltigerer Verhältnisses zu Deutschland. Piëchs Nuklearwaffen voran. Entscheidend war Großvater, der Konstrukteur Ferdinand seine Vermittlerrolle zwischen den „Vä- Porsche, hatte zu den industriellen Unter- tern der Wasserstoffbombe“, Stanislaw stützern der Nazis gehört.

242 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Shobha De, 49, schöne indische Schrift- stellerin, hat die Männerwelt ihres Landes aufgeschreckt. Ihr neues Buch „Wie man Männer überlebt“ spickte das frühere Mo- del nicht nur mit vielen freizügigen Wor- ten, sondern auch mit provokanten Thesen über das andere Geschlecht: „Wenn es um Liebe und Bindung geht“, befand sie, „sind Männer niederträchtige, hinterlistige Mistkerle.“ Schlimmer noch: In Sachen Sex lebten sie „in einer Ära völliger Ignoranz und Dunkelheit“. Die mit einem Reeder verhei- ratete Autorin will mit ihrem Buch das tradi- tionelle Macho-Geha- be der indischen Män- ner stoppen. Erste Er- folge haben sich nach ihrer Ansicht bereits

AP eingestellt. De: „Indi- De sche Frauen setzen sich immer mehr durch – nicht nur im Konferenzraum, sondern auch im Schlafzimmer.“

Alain Delon, 61, französischer Filmstar („Der Panther“) und erzkonservativer Pa- triot, bekundete auf ungewöhnliche Weise sein Mißbehagen an französischen Zu- ständen. Der Schauspieler sandte dem im Gefängnis sitzenden Finanzjongleur und Ex-Fußballpräsidenten Bernard Tapie ei- nen offenen Brief („Ich reiche Dir durch die Gitterstäbe die Hand“): „Mut, Bernard, es ist hart, im Loch zu sitzen, ich weiß das.“ Ausriß aus damernes verden Dann machte der Künstler in der Epistel, die der figaro abdruckte, seinem Ärger Ulrike Meinhof, 1976 gestorbene Terrori- Guerrillera im dekolletierten blauen Top Luft. Delon mißfällt, daß derzeit mehrere stin, wurde postum zum Mode-Idol. Im dä- und in brauner Wildleder-Kombination. Großindustrielle wegen Durchstechereien nischen Frauenjournal damernes verden Zum Schlußbild der revolutionären Foto- von der Justiz behelligt werden, daß Links- führt ein der ehemaligen RAF-Chefin ent- story „Endstation: Hinter Gittern“ textete intellektuelle aus Protest gegen restriktive fernt ähnelndes Model auf sieben Seiten die Redaktion: „Die Geschichte ist aus. Einwanderungsgesetze zum zivilen Unge- pseudo-revolutionäres Outfit vor. Beim Die wirkliche Ulrike wurde von ihren re- horsam aufgerufen haben und es „die To- Plakatemalen mit Andreas und Jan trägt volutionären Genossen im Stich gelassen, desstrafe für Monstren“ nicht mehr gibt. die „Mutter der Revolution“ (im Däni- als sie damals – vor circa 20 Jahren – im Was er unter wahrer Freundschaft versteht, schen ist die Überschrift „revolutionens Gefängnis landete. Hier nahm sie sich das erläuterte der Freie dem Eingelochten mit moder“ zweideutig, sie kann auch „Mo- Leben. Ihr blankes Diesel-Hemd aus 100 einem Gleichnis: Wenn einer morgens um den der Revolution“ bedeuten) eine gelbe Prozent Polyamid ist lila und hat ein gelbes vier anruft und bekennt, „ich habe einen Tunika zu taillierten roten Hosen und Würfelmuster. Der Preis für dieses Teil, das umgebracht“, und der andere nur erwi- Krokodilleder-Stiefeln. Zur polizeilichen von den siebziger Jahren inspiriert ist, be- dert: „Wo ist die Leiche?“ Festnahme zeigt sich die modebewußte trägt 699 Kronen.“

Wolfgang Kubicki, 44, FDP-Fraktions- über das ungehörige Betragen des notori- vorsitzender im schleswig-holsteinischen schen Zwischenrufers und Störenfrieds: Landtag, brachte die Grünen in Rage – als „Immer wenn Frauen, egal welcher Farbe, Wiederholungstäter. Während der Sitzung reden“, und erinnerte an die Würde des am vergangenen Mittwoch faltete der Li- Parlaments. Doch Kubickis Tat geschah im berale scheinbar gelangweilt einen Papier- Auftrag des Parlaments. Für die Feier zum flieger und hielt ihn anschließend demon- 50. Geburtstag des Landtags am 20. April strativ in die Kamera – anders als vor drei wurde Bildmaterial über Ungehörigkeiten Jahren, da kassierte Kubicki für einen aus- von Abgeordneten benötigt. Der Liberale geführten Schwalbenwurf einen Ord- war bereit, noch einmal einen Flieger im nungsruf. Die grüne Fraktionschefin Irene Parlament zu basteln. Und Landtagspräsi-

Fröhlich empörte sich unter dem Beifall DPA dent Heinz-Werner Arens (SPD) war in der Koalitionäre von SPD und Grünen Kubicki das Kubicki-Spiel eingeweiht.

244 der spiegel 12/1997 Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis Kritikern seines Deals mit den Waffen- 1832) und Friedrich von Schiller (1759 bis händlern hält Havel entgegen, er wolle 1805), Dichterfürsten und auf einem ge- einen wesentlichen Teil des Erlöses von meinsamen Denkmal vor dem Weimarer rund zwölf Millionen Mark für wohltätige Nationaltheater verewigt, werben neuer- Zwecke verwenden. dings für Fleischwaren. Von 500 Plakat- tafeln – in ganz Thüringen verteilt – schau- Qiao Anshan, 57, früherer Kraftfahrer der en die Großmeister des deutschen Worts chinesischen Volksbefreiungsarmee, be- ernst herab – mit Wurst in den Händen. kannte sich jüngst öffentlich „schuldig am Tod“ des strebsamen Mo- dellsoldaten Lei Feng, der parteiamtlich verordneten Ikone von Mao Tse-tungs Roten Garden in der Zeit der Kulturrevolution (1966 bis 1976). Der damals 24jährige Lei Feng wurde am 15. August 1962 von ei- nem Leitungsmast er- schlagen, den Qiao beim Zurücksetzen eines Ar- meelastwagens gerammt hatte. „Er war mein bester Kamerad, aber ich war derjenige, der am Steuer

H.-P. WOLFF H.-P. saß.“ Seither pilgert Qiao Wurstwerbung in Thüringen alljährlich ans Grab des bekanntesten Verkehrs- Dazu reimt der Werbetexter: „Wir lieben toten Chinas. Der Kult um Lei Feng, der unsere Originale aus der Heimat.“ „Wir nicht zuletzt auf dessen plötzlichem Tod wollen das Erbe Goethes und Schillers le- „in Erfüllung seiner Pflicht“ beruht, geht bendig halten“, sagt der Präsident der Stif- auch in jüngster Zeit weiter. Der Besuch tung Weimarer Klassik, Jürgen Seifert, zu des Films „Der Tag, an dem ich Lei Feng dem Werbegag, „aber bitte nicht mit Wurst- verließ“ ist obligatorisch für alle Mitglieder waren. Das finde ich einfach geschmack- der Kommunistischen Jugendliga. los.“ Dem Geschäftsführer des Weimarer Schlachthofs, Albrecht von Fincken- Raquel Welch, 56, amerikanische Sexgöt- stein, dem die Welt die extravagante tin, schlüpft in ungewohnt enge Wurstreklame zu verdanken hat, ist Kleider. Der Busenstar über- sich sicher: „Goethe war kein Kost- nimmt in der Broadway- verächter. Der hätte das mit Humor Verwechslungskomödie genommen.“ „Victor/Victoria“ die Rol- le einer Frau, die vorgibt, Václav Havel, 60, Staatspräsident ein Mann zu sein, der eine von Tschechien, nach 1989 schärf- Frau spielt. Die Schau- ster Kritiker der bis dahin blühen- spielerin, die einmal den den Waffenexporte der kommunisti- weiblichen, dann wie- schen Tschechoslowakei, verkauf- der den männlichen te vor kurzem seinen 50-Pro- Part zu geben zent-Anteil am Prager Palast hat, ist fasziniert: Lucerna an den größten Pe- „Meine Figur trochemiekonzern des Lan- wird teilweise ein- des, Chemapol Group – zu gehüllt, und wir dem auch die einst anrüchi- werden Spaß ha- ge Waffenhandelsfirma Om- ben, mit dem zu nipol gehört. Der von Ha- spielen, was unter vels Großvater Anfang des der Verhüllung Jahrhunderts erbaute Block ist.“ Die Maske nahe des Prager Wenzels- und Kostümbildne- platzes ist heute Kulturdenk- rei sieht es prosa- mal. Der Palast beherbergt ischer: „Wie zum Teu- einen Konzert- und Thea- fel sollen wir sie wie ei- tersaal, Kabarett, Kino, nen Mann aussehen las- Passagen, Restaurants, sen? Raquel ist so kurvig, Bars und repräsentative das ist wirklich eine Her-

Büros. Chemapol ver- GAMMA / STUDIO X ausforderung.“ sprach, den Kulturtempel wiederzubeleben. Den Welch 245 Fernsehen

Montag, 17. März mit Thomas Heinze, Katharina Müller-El- mau und Katharina Schubert recht hat. Die 14.00 – 15.00 UHR PRO SIEBEN faz lobte: „Philipp Weinges’ Komödie ist nicht unflott; ihr Trumpf ist ihr Tempo – Arabella Kiesbauer hollywoodartige Einstellungen, ein bißchen Thema: „Vorsicht! – Blond“. Stimmt: Sagt Hochglanz, zackige Schnitte. Die Dialoge nicht Geheimagent 007: „Gestatten, mein sind besser in Szene gesetzt als geschrie- Name ist Blond, James Blond.“ Alaaf und ben.“ Kalau – man ist nicht vor Lachen geschüt- telt, nur gerührt. 21.00 – 21.40 UHR ARD

20.15 – 21.45 UHR ZDF Report Aus Baden-Baden: US-Stars für Sciento- Alte Liebe, alte Sünde logy – Die Strategie der Sekte / Die toten ... interessante Schauspielerin: Sophie von Kinder von Wien – Ehrengrab nach 50 Jah- Kessel spielt eine Restauratorin, die ein ren / Der Chip – Mit Technik gegen TV-Ge- mörderisches Familiengeheimnis aufdeckt walt. (siehe Seite 234). 22.15 – 0.25 UHR ZDF 20.15 – 21.50 UHR PRO SIEBEN Die Sieger Japaner sind die Die Faust im Nacken, schufen Dominik LINA - CINE besseren Liebhaber Graf (Regie) und Günter Schütter (Buch) „Die Sieger“-Darsteller Knaup 1994 diesen Thriller, der eine deutsche Der Jungmanager Peter soll eine japani- Landschaft, den zerrissenen, traurigen Dienst suspendiert. Zwölf Millionen sche Delegation für ein Investment im Polizei-Helden Karl Simon (Herbert kostete Grafs Film, floppte aber im Kino. deutschen Osten gewinnen, die Unterneh- Knaup) und einen Mephisto namens Heinz Zu Unrecht, die Kritik rühmte ihn. Die mensberaterin Theamarianne von der Kon- Schaefer (Hannes Jaenicke) zeigt. Der süddeutsche zeitung schrieb: „,Die Sie- kurrenz auch. Mit Geschick versuchen bei- Film erzählt davon, wie Karl ein wenig ger‘ macht aus Deutschland einen Ort, an de Auftragsjäger, sich gegenseitig auszu- schnüffelt und erfährt, daß Schaefer als dem man sich im Kino zu Hause fühlen tricksen, und kommen sich dabei näher. V-Mann arbeitet und den Geldboten für kann. Immer wieder sorgt Graf mit Schnit- Peters frustrierte Frau fährt den Sohn des käufliche Politiker spielt. Karls Vorgesetz- ten für Überraschungen, schafft in den un- japanischen Geschäftspartners an, nimmt te aber leugnen, lügen und vertuschen. erwartetsten Momenten Raum, um den ihn zu sich nach Hause und erkennt, daß Als schließlich das Leugnen nicht mehr Gefühlen Platz zu geben, sich auszu- der Titel dieses deutschen Films von 1995 hilft, wird Karl mit seiner Einheit vom breiten.“

Dienstag, 18. März stenz entzogen werden, erzählt dieser 22.05 – 0.25 UHR RTL 2 glänzende Film (Regie: Markus Bräutigam) 13.00 – 14.00 UHR SAT 1 voller Intensität und ohne jede Sensati- Vermißt onslust.Vor allem durch die schauspieleri- Kein künstlerisches Meisterwerk, aber ein Sonja sche Leistung von Behrendt und Ina Weis- subversiver, aufrüttelnder Film, den Costa- „Außerirdische – sie sind unter uns“. Man se in der Rolle einer schwankenden Kin- Gavras („Z“) 1981 in den USA drehte. Ein erkennt die Mister, wenn sie in die Hände dergärtnerin erreicht diese Mißbrauch-des- Vater (Jack Lemmon) fahndet zusammen spocken. Mißbrauchs-Geschichte ihre Durchschlags- mit seiner Hippie-Schwiegertochter (Sissy kraft. „Ein Vater unter Verdacht“ ist der Spacek) nach dem Schicksal seines Soh- 20.15 – 22.15 UHR SAT 1 Auftakt zu einer ganzen Reihe bemer- nes, der nach den Wirren des chilenischen kenswerter Melodramen, mit denen sich Militärputsches vermißt wird. Ein Vater unter Verdacht Sat 1 nach den leicht mißglückten Komö- dien in der Kategorie des anspruchsvollen Fernsehfilms zurückmeldet.

20.15 – 22.30 UHR KABEL 1 Zeit des Erwachens Die Patienten sind erstarrte, verkrümmte, sabbernde Wracks. Die hohe Dosis einer Droge erweckt sie für kurze Zeit, und die Mumien werden ein Haufen ihre Auferste- hung feiernder Erwachsener, deren seeli- sche Reifung während der Krankheit still-

KINDERMANN gestanden hat. Schon bald siegt die Krank- Behrendt, Weisse in „Ein Vater unter ...“ heit wieder. Penny Marshalls Film (USA 1990) beruht auf authentischen Vorfällen Wie der Hausmeister einer Schule (Klaus und zeigt einen tragisch agierenden Robert J. Behrendt) irrtümlich in Verdacht gerät, De Niro, der die Krankheit trotz seines

seine Tochter mißbraucht zu haben, und übermenschlichen Willens nicht besiegen CINETEXT ihm dadurch die Grundlagen seiner Exi- kann. Spacek, Lemmon in „Vermißt“

246 der spiegel 12/1997 17. bis 23. März 1997

Mittwoch, 19. März 20.30 – 22.20 UHR RTL Ein Ex-Major (Telly Savalas) holt einen Alt-Nazi aus alliiertem Gewahrsam und 12.00 – 13.00 UHR SAT 1 Fußball: Champions League entlockt ihm das Versteck eines Wehr- AJ Auxerre muß gegen Dortmund versu- machtsschatzes in Ost-Berlin. Die Kritik Vera am Mittag chen, die 1:3-Niederlage auszubügeln. entdeckte an diesem Actionfilm (USA Thema: „Weltuntergang – Es gibt keine 1975, Regie: Peter Duffel) restaurative Ten- Zukunft“. Und danach gäb’s garantiert 0.15 – 2.05 UHR SAT 1 denzen, weil hier Faschismus durch die wieder eine Talkshow: „Weltuntergang – Schaffung des neuen Feindbildes Terroris- Mein Mann hat Probleme damit“. Inside Out – Ein genialer Bluff mus renobilitiert werde.

19.25 – 21.00 UHR ZDF Verschollen in Thailand Constanze (Gerit Kling) und ihre Freundin Yvi ( Lisa Wolf) machen sich nach Thailand auf, um Constanzes vor zehn Jahren ver- schollenen Vater (Gunter Berger) zu su- chen. Onkel Karl (Michael Degen), Mitin- haber einer florierenden Holzhandlung, ist die Suchaktion nicht recht, er will seinen Bruder für tot erklären lassen. So greifen er und sein Sohn Peter (Robert Jarczyk) zu kriminellen Methoden, um Constanze das Leben schwerzumachen. Palmen, Intrigen, Abenteuer, Liebe – neunmal nach dieser Pilotsendung wird der Zuschauer mit dieser Reihe geködert. Vielleicht müssen

die Protagonisten mal zum Palmen-Doktor TELEBUNK Brinkmann-Wussow. „Verschollen in Thailand“-Darsteller Kling, Wolf

Donnerstag, 20. März ger, Mario Adorf, Gina Lollobrigida, Or- bauen lassen, um das Landleben attrakti- nella Muti. ver zu machen. Der Dorfschullehrer (Fa- 21.00 – 21.45 UHR ARD brice Luchini) erregt sich über den Plan. In 22.50 – 0.35 UHR SÜDWEST III flammenden Reden auf der Wiese wütet er Monitor wider die Verstädterung. Themen: Blüm schafft Arbeitslose / Feld- Der Baum, der Bürgermeister jäger – die Rambos von der Bundeswehr / und die Mediathek Der VfB Stuttgart und seine dubiosen Ge- schäftspartner / Pharmaindustrie – die Wie immer beim Altmeister Eric Rohmer Glückskinder der Gesundheitsreform / wird in diesem Film (Frankreich 1993) nur Bundesbahn verursacht Verkehrsstaus. geredet, aber es geht nicht um private Glücksstrategien, sondern um die Ge- 21.45 – 22.30 UHR ARD meindewiese in der Vendée. Der Bürger- meister (Pascal Gregory), Sozialist, Schloß- Alida Gundlach bewohner und streng fortschrittsgläubig,

In der vorerst letzten Folge der Prominen- hat es auf das unschuldige Stück Land ab- PROKINO PLUS ten-Parade Faltiges aus Rom: Helmut Ber- gesehen. Er möchte dort eine Mediathek Szene aus „Der Baum ...“

Freitag, 21. März nicht mehr allerbesten Mannesalter der einem neuen Leben Werbefilmer gewor- Reihe nach heiratet, subtil umbringt und den wäre – und nun seine maliziösen Ein- 14.00/16.00 UHR RTL schamlos beerbt. Und natürlich kann ihr sichten aus der verführerisch schimmern- nur eine Frau (Debra Winger), die im den Oberfläche zieht: ein Film über Wer- Bärbel Schäfer/Hans Meiser Washingtoner Justizministerium arbeitet, ben, Erben und Sterben. Bei Bärbel: „Vater werden mit 60! – Du auf die Schliche kommen, indem sie die hast sie doch nicht alle!“ Bei Meiser: „Von männermordende Erbin in dem Spinnen- O.O5 – 1.05 UHR BAYERN III nun an geht’s bergab – Der 30. Geburts- netz ihres Computers einfängt. Soweit ist tag“. Vorschlag: Beide Moderatoren tau- Bob Rafelsons in betörenden Valeurs 1986 Das Klavierwerk schen die Zahlen. Das ließe sich dann auch gedrehter Film nicht mehr als ein Krimi. Johann Sebastian Bachs vertalken. Doch dann, im Zweikampf auf Hawaii, das gefilmt ist, als gelte es sämtliche Touristik- Rede und Spiel des Pianisten Glenn Gould 20.15 – 22.15 UHR PRO SIEBEN Streifen zu schlagen, wird aus dem Krimi ergeben ein faszinierendes TV-Erlebnis. das erotische Duell zweier Frauen, bei dem Gould grimassiert die Noten mit, hat eine Die schwarze Witwe die Männer nur noch Spielmaterial sind. Hand auf den Tasten nichts zu tun, knetet Natürlich ist die schwarze Witwe keine Da wird in den Pazifik, in den Pool und in sie den Gang der Stücke mit. Heute der Spinne, sondern eine betörend raffinierte die glitzerndblaue Tiefe der weiblichen letzte einer 1980 entstandenen dreiteiligen Frau (Theresa Russell), die Millionäre im Psyche getaucht. Es ist, als ob Hitchcock in Dokumentation.

der spiegel 12/1997 247 Fernsehen

Sonnabend, 22. März 22.00 – 0.10 UHR PRO SIEBEN SPIEGEL TV 20.15 – 22.00 UHR RTL 2 Der Terminator DONNERSTAG Regisseur James Cameron hetzt ein Lie- 22.10 – 22.55 UHR VOX Half Moon Street bespaar so atemlos, daß die beiden nur ei- Weil ihre wissenschaftlichen Arbeiten nen Augenblick Muße finden, um den Hel- SPIEGEL TV EXTRA schlecht bezahlt und unter fremden Fe- den der Zukunft zu zeugen. Der „Termi- Sie nennen ihn „Vampir“ dern publiziert werden, nimmt die Polito- Insgesamt 70 Menschen soll Leszek Pen- login Lauren Slaughter (Sigourney Wea- kalski ermordet haben. Nun sitzt der ver) einen Nebenjob als Luxus-Callgirl an 30jährige im Gefängnis, und Polen war- und verzichtet ganz bewußt auf ein Pseu- tet auf den größten Mordprozeß seiner donym. Der Erfolg läßt nicht auf sich war- Geschichte. ten: Die Beziehung zu einem ihrer Kun- den, dem einflußreichen Politiker Lord FREITAG Bulbeck (Michael Caine), geht bald über 22.10 – 22.40 UHR VOX das rein Geschäftliche (das ist das Ge- schlechtliche) hinaus. Bob Swaims Verfil- SPIEGEL TV INTERVIEW mung (England/USA 1986) des Romans Veronica Ferres

„Dr. Slaughter“ von Paul Theroux ist kein IMPRESS Im Gespräch über Keuschheit, Kilos und Huren-Rührstück à la „Pretty Woman“, „Terminator“-Darsteller Schwarzenegger Unsterblichkeit. sondern ein intelligent konstruierter Thril- ler: Die selbstbewußte Wissenschaftlerin nator“ jagt sie, und Arnold Schwarzeneg- 22.45 – 23.55 UHR VOX erfährt, daß sie nur Teil einer raffiniert aus- gers rotglühende Augen sehen alles (USA geklügelten Intrige ist, bei der die Gegen- 1984). SPIEGEL TV THEMA seite selbst ihre intimsten Regungen kal- Jugendliche Triebtäter kuliert. 22.45 – 23.55 UHR RTL Die einen fordern lebenslängliches Wegsperren, die anderen rufen nach 20.15 – 22.15 UHR ZDF Boxen: Graciano „Rocky“ chemischer Kastration. Was tun mit Se- Wetten, daß ...? Rocchigiani–John Scully xualstraftätern? Bei Thomas Gottschalk auf der Wettcouch Live aus Berlin. Dreimal, davon zweimal SAMSTAG in Wien: Theo Waigel mit Ehefrau Irene umstritten, verlor der Halbschwergewicht- 22.15 – 23.55 UHR VOX Epple-Waigel. Dazu der ehemalige Kanti- ler Rocchigiani seine letzten Kämpfe gegen nenkoch Patrick Lindner, Christiane Hör- Henry Maske und Dariusz Michalczewski. SPIEGEL TV SPECIAL biger sowie die Spice Girls mit ihrem Song Heute geht es gegen den Ex-Maske-Gegner New York II „Mama“ und Supertramp. John Scully (USA). Der zweite Teil der Dokumentation handelt von Deutschen, die sich seit Jah- ren im „Big Apple“ zu Hause fühlen. Sonntag, 23. März 20.15 – 22.20 UHR PRO SIEBEN SONNTAG 20.15 – 21.45 UHR ARD Der Mann ihrer Träume 21.55 – 22.50 UHR RTL Bei Leo, dem Metzger aus Brooklyn Tatort: Brüder (George Dzunda), gibt es nicht nur Wurst SPIEGEL TV MAGAZIN und Schinken, sondern auch psychologische Aktuelles politisches Magazin Ratschläge seiner schönen blonden Frau (Demi Moore). Die hellseherisch begabte 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 Fleischersgattin kommt einem professio- nellen Seelenklempner in die Quere. In SPIEGEL TV REPORTAGE Terry Hughes’ („Golden Girls“) Komödie Hitlers Hehler – die Schweizer Banken (USA 1991) trägt, klar, die weibliche Intui- und das Nazi-Gold tion den Sieg über Freuds Analyse davon.

20.45 – 0.50 UHR ARTE Die Kraft, die Schönheit und der Tod TELEBUNK „Tatort“-Stars Schreiner, Lüttge In diesem Themenabend geht es um Vul- kane. Zum Auftakt eine Hommage an die Abschied von Martin Lüttge und Roswitha Vulkanologen Maurice und Katia Krafft. Schreiner als Kommissare in Düsseldorf. Das Forscherehepaar hinterließ einzigarti-

Bevor Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär ge Naturaufnahmen. Die Dokumentation NATIONAL ARCHIVE in Köln die Nachfolge antreten, darf sich „Verstmannaeyjar“ (22.10 Uhr) erzählt, Nazi-Raubgut (KZ Buchenwald 1945) Lüttge noch einmal raumfüllend austoben. wie eine Isländerin 1973 ihr gesamtes Hab Er spielt eine Doppelrolle: den Kommissar und Gut unter einer Lavadecke verlor. Den Die späte Vergangenheitsbewältigung und dessen Bruder, in dessen gepanzertem Abschluß bildet John Hustons Melodram der Eidgenossen: Wie die Schweiz in- Dienstwagen eine Studentin erschossen „Unter dem Vulkan“ (23.00 Uhr) – da ternational auf die Anklagebank geriet. wurde. strömt nicht Lava, sondern Alkohol.

248 der spiegel 12/1997 Werbeseite

Werbeseite Hohlspiegel Rückspiegel

Zitat

Die katholische herder korrespondenz über 50 Jahre Kirchenberichterstattung im spiegel:

Aus der heidenheimer zeitung Der spiegel war nicht von vornherein ein kirchenkritisches oder kirchenbelustigen- des Magazin. Die Themenpalette der sech- Aus der börsen-zeitung: „Die Gewerk- ziger Jahre bezeugt dies in Umfang und schaften sind aufgrund der exorbitant ho- Art der Berichterstattung. Es waren sach- hen Arbeitslosigkeit weichgeklopft worden liche Gründe, es war die Reformunfähig- und schlucken eine Kröte nach der ande- keit der Kirche, die von einer fairen zu ren, was spiegelbildlich die Gewinne spru- einer unsachgerechten Berichterstattung deln lassen wird.“ führten. Auf den Reform- und Entschei- dungsstau innerhalb der katholischen Kir- che mag der einzelne Katholik mit einem „trotz allem“ reagieren. Beim spiegel, bar jeder emotionalen Abhängigkeit, darf dies freilich nicht erwartet werden. 50 Jahre Kirchenberichterstattung im Hamburger Nachrichtenmagazin sind so auch Doku- mentation vertaner Chancen, mangelnden Mutes der katholischen Kirche und ihrer Aus dem monheimer wochenanzeiger Leitung. Sie, die Kirche, ist nicht unbetei- ligt bzw. unschuldig an der Art und Weise, wie über sie berichtet wird. Offenheit und Aus der süddeutschen zeitung: „Es ist Reformwille, auch der Mut zur Informa- schon faszinierend, Clinton zu beobach- tion der Mitglieder, werden vom spiegel ten: wie er mit der Hand in der Hosenta- sehr wohl goutiert. Trifft freilich – unter sche ein kleines Wunder vollbringt.“ dem Sammelbegriff Machtmißbrauch – das Gegenteil zu, hat das Konsequenzen für die Berichterstattung.

Der SPIEGEL berichtete …

Aus der westfälischen rundschau … in Nr. 4/1997 KRANKENHÄUSER – PATIENTEN FÜR DIE INDUSTRIE über die Psychiatrische Klinik der Aus der frankfurter allgemeinen: Universität Mainz, wo nicht zugelassene „Deutsche Schüler sind in Mathematik und Medikamente an Patienten getestet Naturwissenschaften Mittelmaß, bayeri- wurden, ohne daß deren Hausärzte sche aber Weltklasse. Der veröffentlichte darüber informiert wurden. Vergleich schweigt über Gesamtschüler und Länder.“ Eine von der Klinikleitung eingesetzte Ex- pertengruppe unter Leitung des Mainzer Rechtsmediziners Professor Christian Ritt- ner,Vorsitzender der rheinland-pfälzischen Ethikkommission, bestätigte die gegen Psychiatriechef Professor Otto Benkert erhobenen Vorwürfe. In 32 von 40 unter- suchten Fällen sei der „Verpflichtung zur Information“ der Hausärzte „nicht bzw. nicht mit der gebotenen ärztlichen Verantwortlichkeit entsprochen“ worden. Diese Negativquote von 80 Prozent wi- derlegt Darstellungen der Klinikleitung, nur in Ausnahmefällen seien die Hausärz- Aus der Esoterik-Zeitschrift connection te nicht über die Arzneimitteltests unter- richtet worden. Aufgrund der bisher be- kannt gewordenen Mängel hat der Mainzer Aus der süddeutschen zeitung: „Die Po- Wissenschaftsminister Professor Jürgen lizei von New York soll bald mit Hohlkopf- Zöllner (SPD) letzte Woche eine weitrei- Munition ausgerüstet werden, die für Um- chende Überprüfung „der organisatori- stehende weniger gefährlich, für den Ge- schen und medizinischen Durchführung troffenen aber tödlicher als die bisherigen von Arzneimittelstudien der Psychiatri- Kugeln sein soll.“ schen Klinik“ angeordnet.

250 der spiegel 12/1997