AUSGABE 2 HERBST 2010 saiten Z UM MITNehMEN

HERAUSGEBER:

Hochschule für musik, zets i chrift des theater und MEdien studienganges Medien UND musik Hannover

LEBENSKLÄNGE

Fan ohne grenzen (S. 4) · STUMMFILMMUSIKER (S. 19) · MUSIK AUF DER STRASSE (S. 23) Heavy-metal-sucht (S. 30) · AUFTRITTSANGST (S. 41) · Plattenladen Ohrwurm (S. 52)

1 wir sind die show.

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Gültig 2010.

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AZ Image_A4.indd 1 03.08.2010 20:08:29 INHALT | EDITORIAL | IMPRESSUM

EDITORIAL INHALT

Die erste Ausgabe unseres Magazins hat KEIN hüpfen, kein toben ...... 4 gezeigt: Hannovers Musikszene ist facet- Ein Bielefelder Fan fährt zum 258. Mal der Gruppe Klee hinterher tenreich und hat mehr zu bieten, als man gemeinhin vermuten würde. An dieser Stel- KEIN KINDERSPIEL ...... 8 le danken wir allen Leserinnen und Lesern, Musikalisch hochbegabte Kinder brauchen spezielle Förderung die unseren Blick auf das musikalische Le- ben bestätigt und uns zur Themenauswahl Der Weg zum liebesglück ...... 11 unserer Erstausgabe beglückwünscht ha- ben. Ebenso danken wir für die vielen an- Glosse erkennenden Worte zur journalistischen KEIN Zirkus ohne clown, kein clown ohne musik ...... 12 Qualität unseres Heftes: Von einer „sehr an- sprechend und professionell gemachten Zeit- Clownsfamilie Alexis tourt mit Zirkus Krone durch Europa schrift“, die „wunderbar und richtig vergnüg- MUsik lieben, leiden, leben ...... 16 lich zu lesen“ sei, war die Rede. Ein anderer Leser nannte den Erstling gar ein „ziemliches Ausgewählte Stücke der Pop-Historie und ihre bewegenden Geschichten Meisterstück“. Eine Menge Vorschusslorbee- Ein leben für die Tonspur ...... 19 ren also, die uns für den zweiten „Saiten- sprung“ mit auf den Weg gegeben wurden. Günter Buchwald ist Stummfilmmusiker aus Leidenschaft wir sind die show. Das haben wir als Ansporn und Motivation Kaum jemand bleibt stehen ...... 23 betrachtet, um Attraktivität und Spannung Als Straßenmusiker unterwegs – ein Selbstversuch aus zwei Perspektiven auch in diesem Heft aufrechtzuerhalten. „Le- bensklänge – Musik lieben, leiden, leben“, Plattenkritik ...... 26 so das Thema unserer neuen Ausgabe. Auch Big Tune – Fibre – The High Queens – KJU – Reebsound – Frames wenn der Titel pathetisch klingt: Kaum et- was ist so allgegenwärtig im täglichen Leben Das „Saitensprung“-Foto: Neulich in der Oper...... 28 wie Musik. Mit ihr verbinden sich glückliche Erinnerungen genauso wie schwere Schick- Süchtig nach hartem Stoff ...... 30 salsschläge. Musik kann aufbauen, trösten, Roger Tullgren bezog vom schwedischen Staat eine „Heavy-Metal-Rente“ erfreuen und sogar süchtig machen. Auf den kommenden Seiten stellen wir verschiedene „Der Baum muss jetzt brennen“ ...... 33 Menschen vor, deren Leben von Musik be- Generalprobe zum Musical „Children of Eden“ in Hildesheim stimmt wird. Sei es der 40-jährige männli- che Groupie, der seiner Lieblingsband quer Kickflip in ein besseres leben ...... 36 durch Deutschland hinterherreist, die Musi- Skateboard am Hindukusch, Hiphop in der Township kerin, die panisches Lampenfieber hat, oder der Heavy-Metal-Süchtige, der seine Musik Nichts geht mehr ...... 39 sogar im Schlaf hört – sie alle lieben, sie lei- den und sie leben Musik. Wenn Musik zu gesundheitlichen Problemen führt Auch unsere Redaktion hat ihr ganzes Herz- Ich kann nicht ...... 41 blut für die Erstellung der neuen Ausgabe Auftrittsangst bei Musikern hingegeben, um ein leidenschaftliches Stück Musikjournalismus zu erschaffen. Wir wün- Klienten bitte, nicht patienten ...... 43 schen viel Freude beim Lesen und hoffen, unsere eigene Liebe zur Musik ist spürbar. Interview mit Michael Bohne, Arzt und Psychotherapeut

Dorian Gorr / Marc Möllmann BAss-Part per e-Mail ...... 44 Studenten-Tickets an der Tageskasse „The Mainstream“ – Bandmitglieder auf zwei Kontinenten IMPRESSUM Der Weg zum licht ...... 47 Herausgeber: Hochschule für Musik, Theater und Medien für nur 15,- Euro auf allen Plätzen! Wir schenken Dir einen Hannover · Studiengang Medien und Musik Das Musikprojekt „Schattenlichter“ in Hamburg hilf Obdachlosen Redaktion: mathieu Bell, Lilli Buchwald, Dorian Gorr, GOP-Cocktail Birk Grüling, Claudia Hamburger, Umfrage „Was Bedeutet musik für ihr leben?“...... 50 Joachim Haupt, Matthias Holz, Antonia Klöpf, Einfach ausschneiden, Annick Manoukian, Marc Möllmann, Julia Müller, Katharina Rupprich, Hörbuch-Rezension...... 51 mitbringen und der Maya Stockmann Servicekraft vorlegen! Kontakt: [email protected] Die Erde ist eine Scheibe ...... 52 V.i.S.d.P.: prof. Dr. Gunter Reus,

Gültig 2010. Prof. Dr. Ruth Müller-Lindenberg Ein kleiner Plattenladen kämpft ums Überleben – aus Überzeugung Herstellung: layout · Satz und Druck Michael Heiland Lister Damm 5–7, 30163 Hannover Auf der Durchreise — Max Herre ...... 54

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KPFEIN HÜ EN, KEIN TOBEN

Viele Leute haben eine Lieblingsband. Das ist ganz normal. Und normal ist es auch, dass man zu den Konzerten seiner Lieblingsband geht, wenn sie in der Nähe spielt. Ralf Synowziks Lieblingsband ist die Kölner Gruppe „Klee“. Allerdings ist er ein ganz besonderer Fan, um nicht zu sagen der größte. Ob im Club nebenan oder am Ende der Welt – Ralf verpasst keinen einzigen Auftritt. „Saitensprung“ hat ihn auf sein sage und schreibe 258. Klee-Konzert begleitet. Und dabei herausgefunden: Der größte Fan ist so ganz anders, als man ihn sich vorstellt. Zurückhaltend. Ruhig. Routiniert. Ganz normal eigentlich.

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BIELEFELD HAUPTBAHNHOF, ZWISCHEN BIELEFELD UND KÖLN, 17.27 UHR 17.27 - 19.15 UHR Die Zugfahrt verläuft überraschend „Meine Damen und Herren, auf Gleis ruhig. Müsste Ralf, dessen Leidenschaft 4 fährt ein ICE 556 nach Koblenz über für diese Band wohl nicht zu leugnen ist, Hamm/Westfalen, Hagen, Wuppertal und nicht schon voller Spannung und Vorfreu- Köln. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“ Ralf de im Zickzack laufen? Den Gang hoch hat alles beisammen: seine Digicam, sein und runter tigern? Ungeduldig auf seinem Bandshirt, das Zugticket. Die Eintrittskar- Sitz rumhüpfen und sich schon mal mit te für das Konzert? Nein, die braucht er Klee-Musik auf das Konzert einstimmen? nicht, denn schließlich steht er auf der Nein, Ralf wirkt routiniert. Er lehnt sich Ein Bielefelder Fan Gästeliste. Ralf steht immer auf der Gäs- lieber zurück und nutzt die Zeit zum Le- fährt zum 258. Mal teliste. Er ist nämlich kein gewöhnlicher sen und Schlafen, schließlich wird es eine Fan. Er fährt heute zu seinem 258. Kon- lange und anstrengende Nacht heute. der Gruppe „Klee“ zert der Band Klee. Die meisten Leute werden wohl in ihrem ganzen Leben nicht KÖLN HAUPTBAHNHOF, 19.15 UHR hinterher – so viele Konzerte besucht haben, ge- schweige denn von einer einzigen Band. Das Konzert geht zwar erst um 23 mit ruhiger Routine Doch für ein Klee-Konzert scheut Ralf Uhr los, aber durch die frühzeitige An- weder Kosten noch Entfernung. Selbst kunft bleibt noch genug Zeit, etwas zu bei der China- und Russland-Tour 2009 essen. Will Ralf denn nicht so schnell wie und 2007 in der Türkei war Ralf dabei. möglich zur Band? Überraschenderweise Dafür geht zwar regelmäßig sein Jahres- hat er die Geduld, noch in Ruhe essen zu urlaub drauf, aber Klee-Konzerte sind gehen. Aber er könnte doch auch einfach ihm eben viel lieber, als in Urlaub zu fah- etwas vom Catering der Band abgrasen, ren. oder? Die kennt ihn ja schließlich. Nein, das kommt für Ralf nicht in Frage. Wenn Wie er sich das Ganze leisten kann? sie ihm etwas anbieten, dann ist das et- Er ist gelernter Altenpfleger und arbeitet was anderes. Aber sich einfach bedienen, als Zeitungsausträger. Reich wird man das macht er nicht. Das ist nicht seine davon nicht, deshalb muss er „ab und Art. Also geht es ab zu „McDoof“. Von ei- zu dann doch mal seine Bank aufsu- nem McChicken, Pommes und Cola wird chen“. Keyboarder Sten hat Ralf auch man schließlich auch satt. schon mal mit Taxigeld ausgeholfen. Das Angebot der Band, einen Teil der Kosten OPERNTERRASSEN DRAUSSEN, der Chinareise zu übernehmen, hat er 20.30 UHR zwar bisher noch nicht angenommen, aber wahrscheinlich wird er früher oder Das WM-Spiel der deutschen Fußbal- später dann doch noch darauf zurück- ler gegen Ghana wird draußen vor den kommen müssen. Jedenfalls setzt die Opernterrassen übertragen, deshalb ist Band ihn als Zeichen ihrer Wertschät- jetzt schon die Hölle los, obwohl das Kon- zung für jedes Konzert automatisch auf zert ja erst um 23 Uhr losgeht. Die Band die Gästeliste. Manchmal sogar plus 1, ist noch nicht in Sicht, dafür trifft Ralf al- wenn Ralf noch eine Begleitung ankün- lerdings zwei alte Bekannte, Stefan und digt. Stefan. Man kennt sich von vorherigen Klee-Konzerten und trifft sich auf jedem Heute muss Ralf nicht so weit fah- weiteren Klee-Konzert wieder. Aber dass ren. Klee eröffnet nachher in den Köl- Ralf der größte Klee-Fan von allen ist, da ner Opernterrassen die diesjährige „c/o sind sie sich einig. „Nee, der Ralf hat auf Pop“. Das lässt Ralf sich natürlich nicht jeden Fall die meisten Konzerte von uns entgehen. Und so steigt er nun am Biele- gesehen. Da können wir nicht mithalten. felder Hauptbahnhof in den ICE 556 nach Bei mir ist das heute vielleicht das 15. Köln und fährt seinem nächsten Klee-Kon- Konzert oder so“, sagt einer der beiden zert entgegen. Stefans.

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Suzie Kerstgens

Deutschland gewinnt 1:0. Das be- OPERNTERRASSEN DRINNEN, KONZERTBEGINN, 23 UHR deutet, dass unser Team kommenden 22.30 UHR Sonntag wieder spielen wird, gegen Eng- Klee kommt auf die Bühne. Sängerin land. Moment mal, spielt da nicht zeit- Langsam füllt sich der Raum. Ralf hat Suzie präsentiert sich in hochhackigen gleich Klee in Essen auf dem „Tag der sich natürlich bereits den besten Platz Peep Toes, Minirock, Strapsen und ei- Begegnung“? Und was macht Ralf, wenn vorn an der Bühne in der Mitte gesichert, nem riesigen extravaganten Kragen um er sich jetzt zwischen dem Klee-Konzert neben ihm stehen Stefan und Stefan. den Hals. Zum ersten Mal ist ein Glitzern und dem Deutschlandspiel entschei- Einer der beiden ärgert sich über Leute in Ralfs Augen zu sehen. Früher habe sie den muss? Ist doch klar, er würde sich hinter ihm, die laut reden. Aber das Kon- viel mehr auf der Bühne erzählt, meint er. für Klee entscheiden. Aber Ralf hat zert hat doch noch gar nicht angefangen? Aber meistens schon zu viel. Fast zehn zum Glück die Konzerttermine im Kopf. Das störe trotzdem. Ralf dagegen bleibt Minuten manchmal, da sei sie total abge- Klee spielt am Sonntag schon um 13.40 wie bisher ganz cool und checkt nochmal schweift in ihren Erzählungen. Da habe es Uhr, und das Spiel beginnt ja erst um 16 seine Digicam. Inzwischen hat er auch sogar schon Rufe aus dem Publikum ge- Uhr, also kein Stress, alles ist in Ordnung. sein Bandshirt angezogen. Ralf hat ein geben, dass sie endlich weiterspielen sol- ganz besonderes. Die Band hat ihn näm- len. Inzwischen sei sie da professioneller Da zum Fußballspiel schon fleißig lich bei ihrem 250. Klee-Konzert 2009 in geworden. Ralf lächelt schüchtern, wäh- Bier und Kurze getrunken wurden und Bielefeld auf die Bühne geholt und ihm rend er von seiner Lieblingsband erzählt. Deutschland auch noch gewonnen hat, ein Jubiläumsshirt mit den Unterschriften ist die Stimmung bereits ausgelassen, aller Bandmitglieder geschenkt. Zu sei- Zum ersten Mal hat er Klee 2004 bevor das Konzert überhaupt anfangen nem 100. Konzert habe er damals einen gesehen. Eigentlich wollte er Cinerama hat. Normalerweise trinkt Ralf bei Kon- Pokal von der Band bekommen, und sehen, die an diesem Abend Hauptact zerten gerne mal ein Bierchen, das er zu seinem 200. habe Suzie ihm einen waren. Klee war damals lediglich Vor- auch oft genug von der Band spendiert Strauß mit 200 weißen Rosen auf der band. Allerdings hat die Band Ralf so- bekommt. Heute beschränkt er sich al- Bühne überreicht. Was die Band wohl zu fort überzeugt. Die Musik „gefiel ihm auf lerdings ausnahmsweise auf sein mitge- seinem 300. Konzert für ihn vorbereiten Anhieb“, woraufhin er erst einmal den brachtes Wasser. wird? Merchandise-Stand von Klee leerkauf-

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te. Als er dann auch noch mit Suzie, die nie langweilig? Schließlich kennt man auflöst? „Keine Angst“, winkt Ralf nüch- sich um den Merchandise-Stand damals doch irgendwann das Repertoire, wie die tern ab, „dann würde ich schon nicht in selbst kümmerte, ins Gespräch kam und Konzerte ablaufen und wie die Band auf Depressionen verfallen. Ich müsste dann merkte, dass sowohl sie als auch der Rest der Bühne so ist. Nein, Ralf wird es auf eben auf Konzerte anderer Bands gehen. der Band „sehr nette Leute“ sind, war es gar keinen Fall langweilig. „Die sind im- Obwohl meine Konzertgänge dann wahr- um ihn geschehen. So kommt es, dass er mer wieder anders, die spielen nicht so scheinlich nicht so extrem wären wie bei nun sein bereits 258. Klee-Konzert be- total routiniert ihren Stiefel runter wie Klee.“ „Wir haben aber auch gar nicht vor sucht. andere Bands.“ Und was war diesmal uns aufzulösen!“, ergänzt Sten eindring- für Ralf neu? „Na, dass sie ihren neuen lich. Aber Ralf ist kein typischer Fan. Er ras- Song „Sommertage, Sommernächte“ ge- tet nicht vor der Bühne aus, wirft Kuschel- spielt haben, der ja eigentlich noch in der KÖLN HAUPTBAHNHOF, 2.10 UHR tiere auf die Bühne oder bekommt Ohn- Mache ist. Und dass David Gedge, der machtsanfälle. Er kennt natürlich jeden Sänger von The Wedding Present, einen „Meine Damen und Herren, auf Gleis Song, inklusive Texte. Und er singt auch Gastauftritt hatte, das war auch neu.“ 5 fährt ein IC 2020 nach Bremen über jeden Song mit, allerdings mit Bedacht. Lustigerweise schließt sich hier der Kreis, Düsseldorf, Dortmund und Osnabrück. Von hysterischem Kreischen oder ausge- denn David Gedge ist nicht nur der Sän- Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“ Ralf steht lassenem Gegröle keine Spur. Eine Explo- ger der Band The Wedding Present, son- wieder am Kölner Hauptbahnhof. Das sion der Gefühle ist nicht sichtbar. Trotz- dern ebenso der Sänger von Cinerama, Konzert ist vorbei. Er hat alles beisam- dem dürfte sich einiges in ihm abspielen, der oben genannten Band, durch die Ralf men: Seine Digicam mit neuen Kleebil- niemand besucht schließlich so viele Kon- Klee erst kennengelernt hat. dern drauf, sein Bandshirt, sein Zugticket zerte, wenn da nicht auch Leidenschaft im und vor allem die schönen Erinnerungen Spiel ist. Ralf aber ist eher der stilvolle Ge- Ralf wartet noch geduldig, bis die an sein 258. Klee-Konzert. nießer. Öfters schließt er seine Augen, als Band aus dem Backstage nach vorne wäre er in Trance gefallen. Er scheint sich kommt. Stefan und Stefan sind auch Annick Manoukian voll und ganz auf die Musik zu konzentrie- noch dabei. Könnte er sich das Warten ren und sich durch nichts anderes ablen- nicht sparen und einfach in den Back- ken lassen zu wollen. Ab und zu tanzt er, stage-Bereich gehen? Schließlich kennen aber auch das sehr diskret – kein Hüpfen, sie ihn ja, er würde bestimmt problemlos kein Toben, kein Schweißausbruch, eher an den Aufsichtsleuten vorbei hinter die ein leichtes Hin-und-her-Schaukeln. Zwi- Bühne gelangen. Nein, das ist nicht seine schendurch macht er Fotos und Filme mit Art. Und außerdem kommt die Band so- seiner Digicam. wieso in der Regel immer nochmal nach vorn nach ihren Konzerten. Er hat Recht. Einen absoluten Lieblingssong hat Als erstes ist Pele, der Bassist, in Sicht. Ralf nicht, die Songs seien alle toll. Gleich danach kommen Sängerin Suzie „Wunschfrei“ gefällt ihm allerdings vom und der Rest der Band. Band und Fans Text her sehr gut, für ihn „ein Song, der begrüßen sich wie alte Kumpels. Ralf sehr berührend ist und unter die Haut ist zwar kein Autogrammjäger, aber ein geht“. Musikalisch gesehen ist „Gold“ Foto mit Suzie möchte er trotzdem. Und sein Favorit, ein Klassiker von Klee, der wie fühlt sich das so an, wenn man Fans bei keinem Konzert fehlen darf, natürlich wie Ralf hat, die bei jedem Konzert da- auch nicht heute in Köln. Als Höhepunkt bei sind? Die selbst eine Chinareise nicht der „Gold“-Performance lässt Suzie Gold scheuen, um ja kein Konzert zu verpas- regnen, indem sie aus einem langen Stab sen? „Für uns wäre das ganz schön ko- goldenes Konfetti ins Publikum schießt. misch, wenn Ralf bei einem Konzert mal Ralf versucht das Konfetti aus seinen nicht dabei wäre“, sagt Keyboarder Sten, Haaren zu entfernen, aber das ist leichter „Wir würden uns wahrscheinlich richtig gesagt als getan. Sorgen machen, wenn er nicht käme. Außerdem ist es immer toll zu sehen, wie ALLES VORBEI, 1 UHR er in der ersten Reihe steht und mitsingt und filmt, Fotos macht und die Musik ge- Noch drei Zugaben, dann verabschie- nießt. Er ist eigentlich das Maskottchen det sich Klee von seinem Publikum. Aber der Band.“ Und was ist die Band für Ralf? jetzt mal ganz ehrlich, wird Klee denn Was, wenn sich die Band eines Tages

7 WR UNDE KINDER

KKIEIN NDERSPIEL

Musikalisch „Zu ungenau. Bitte nochmal spie- Füßen umgesetzt. Das Lerntempo ist len!“ Es ist Samstagvormittag, 10.35 hoch. Ständig meldet sich mindestens hochbegabte Kinder Uhr. Sieben Schülerinnen und Schüler ein Mädchen oder ein Junge, um zu ant- der Vorklasse des Instituts zur Frühför- worten oder einen Rhythmus vorzuspie- und Jugendliche derung musikalisch Hochbegabter (VIFF) len. brauchen erhalten wie jede Woche Unterricht in den Fächern Rhythmik und Musiktheorie. Die Schüler sind die jüngsten „Stu- SPEZIELLE Förderung Die musikalisch hochbegabten Talente denten“ der Hochschule für Musik, The- im Grundschulalter üben hier – zusätz- ater und Medien Hannover. Das Institut lich zur Ausbildung an ihrem Hauptinst- zur Frühförderung musikalisch Hochbe- rument – Timing, Koordination, Zusam- gabter (IFF) um Gründungsdirektor Prof. menspiel und rhythmisches Verständnis. Bernd Goetzke hatte sich bei seinem Kritik ist dabei selbstverständlich, Fehler Start vor zehn Jahren vorgenommen, werden sofort korrigiert: „Das war nicht die „unbedingte Förderungswürdigkeit“ tutti.“ Die Kinder erhalten optimale in- musikalisch hochbegabter Kinder und dividuelle Betreuung und lernen eigene Jugendlicher anzuerkennen, ihnen Raum Rhythmen zu komponieren, um sie mit zur Entfaltung ihres besonderen Talents Begeisterung und Spaß alleine oder in zu geben und sie in ihrer musikalischen der Gruppe zu spielen. Klangästhetisch Entwicklung bestmöglich zu unterstüt- dürfen sie sich dabei austoben. Die No- zen. Damit war das Institut deutschland- ten, die sie Impulse nennen, werden ent- weit Vorreiter und schloss eine Lücke, die weder durch Schlagen, Kratzen, Klopfen bei der Förderung junger Musiker bis da- mit dem Schlegel oder Stampfen mit den hin bestanden hatte. Exzellente Dozenten bieten den derzeit 70 Jungstudenten zwi- schen neun und 18 Jahren professionelle musikalische Förderungsbedingungen. Verlangt wird als Gegenleistung ein ho- hes Maß an Fleiß trotz aller schulischen Belastungen, damit sie ihr Instrument schon in einem sehr jungen Alter wirklich zu beherrschen lernen. Von Wunderkin- dern spricht man im Institut allerdings bewusst nicht. Das Wort „Kind“ enthalte immer einen Hauch von Niedlichkeit und Vergänglichkeit, so die pädagogische Ko- ordinatorin des IFF, Christiane Bessert- Nettelbeck, und Wunder hätten eher in Märchen Platz. Und auch für Bernd Goetzke ist der Begriff ein „Klischee, das mittlerweile ein Sammelsurium von As- soziationen“ auslöse. „Und dabei geht es nur bis zu einem gewissen Punkt um das Talent. Sofort denkt man außerdem an falschen Ehrgeiz, an Erfolgszwang, an Starruhm oder -rummel.“

JI ETUL A FR I ER Meng Sun, Schülerin des IFF, wür- de von vielen höchstwahrscheinlich das

8 WR UNDE KINDER

Prädikat „Wunderkind“ verliehen bekom- lich bis zu fünf Stunden, je nachdem wie Wird von musikalischen men. Mit ihren 13 Jahren hat die gebür- viel Zeit ich habe“, so Meng Sun. Bei die- Wunderkindern gesprochen, tige Pekingerin, die seit mittlerweile vier sem Übepensum, schulischen Verpflich- assoziiert man mit dem Begriff Jahren in Deutschland lebt, schon einige tungen und zwei- bis dreimaligen Unter- Erfolge vorzuweisen. So gewann sie u.a. richt pro Woche an der Musikhochschule oftmals den kleinen Mozart, der 2007 den ersten Preis beim Steinway-Kla- hat sie kaum Zeit für andere Aktivitäten. schon mit fünf komponierte und vierspielwettbewerb in Hamburg sowie im „Manchmal bleibt ein wenig Freizeit, in ein Jahr später bereits erste Kon- vergangenen Jahr den ersten Preis beim der ich viel Sport treibe und Bücher lese“, zertreisen absolvierte. Wettbewerb um den Titel des „Young Pia- erzählt die junge Chinesin. Auch Michael Jackson gelangte nist of the North“ in Newcastle. Doch ihr musikalisches Können ist natürlich nicht Aber sind junge Musikerinnen und in früher Kindheit zu Weltruhm. wie durch ein Wunder angeboren. Sicher- Musiker bei so viel Engagement nicht Allerdings bleibt häufig lich wurde Meng Sun ein hohes Maß an doch im Begriff, ihre Kindheit zu verlie- unberücksichtigt, dass früher musikalischer Begabung zuteil. Anderer- ren? „Keineswegs“, sagt Bernd Goetzke. musikalischer Erfolg mit seits sind jahrelanges Üben, eine unge- „Es handelt sich hier um ein Standard- brochene Bereitschaft an sich zu arbeiten Vorurteil. Wer darf behaupten, dass ein enormen Anstrengungen, und sich verbessern zu wollen, Wissbe- musikalisch hochbegabtes und hoch- harter Übung am Instrument gierde, das innere Bedürfnis nach Musik motiviertes Kind, das die Musik braucht und vielen Entbehrungen in der sowie ein hohes Maß an Motivation und wie die Luft zum Atmen, durch Redukti- Kindheit verbunden ist. Leistungsbereitschaft unabdingbar, um on seiner musikalischen Aktivitäten eine Außer musikalischer Begabung schon früh auf Weltklasseniveau zu spie- unbeschwerte Kindheit haben könnte? len. Dies zeigt, dass gerade die Kombina- Tatsächlich würde es darunter leiden!“ Es ist ein hohes Maß an Motivation tion aus intensivem Üben, musikalischer gehe dabei, wohlgemerkt, nicht um die- und Lernbereitschaft Hochbegabung sowie der bestmöglichen jenigen Kinder, die von ihren Eltern zum erforderlich. Ob musikalisches Unterstützung durch das IFF der Garant Spielen eines Instruments gezwungen Können wirklich angeboren ist, für ihren musikalischen Erfolg ist – eine werden. Von „wahrer Unbeschwertheit“, wie es häufig heißt, bleibt somit Kombination, die ihr allerdings einiges so Goetzke, könne nur dann die Rede abverlangt: „Ich habe mit fünf Jahren an- sein, wenn „ein Kind eben das tun darf, mehr als fraglich. gefangen Klavier zu spielen und übe täg- wonach es drängt“.

MeS ng un

9 WR UNDE KINDER

LaVINI A DAMES

Zurück zur Vorklasse des IFF. Es ist reicht, wobei die Qualität und Effektivität Dass es bei aller Perfektion jedoch 11.45 Uhr, und die Theoriesitzung hat sowie die Motivation ausschlaggebend auch noch um musikalische Kreativität soeben begonnen. Es wirkt spielerisch, für den Erfolg sind, so Musikpsychologe und weniger um die eigene Vermarktbar- wie die Kinder mit Hilfe ihrer Dozentin Prof. Dr. Heiner Gembris, Leiter des Ins- keit geht, wird in der Kompositionsklasse Olga Tchipanina in der Gruppe oder ein- tituts für Begabungsforschung in der Mu- des IFF unter der Leitung von Benjamin zeln zweistimmige Lieder singen, be- sik an der Universität Paderborn. Solche Lang deutlich. Sie präsentiert sich an ei- stimmte Intervalle heraushören und im Forschungsergebnisse sind der breiten nem Sonntagmorgen im Richard-Jakoby- Anschluss daran das ganze Stück wie Öffentlichkeit jedoch häufig unbekannt. Saal der Musikhochschule. Eltern, Bekann- selbstverständlich in eine andere Tonart Sie hält lieber am Mythos „Wunderkind“ te und Freunde warten gespannt auf den transponieren. Gemeinsam scharen sich fest, der oft genug aber aus reinen Ver- Beginn der Veranstaltung „Neue Musik: die Kinder daraufhin um das Klavier, um kaufsgründen gepflegt wird. So ist Prof. IFF-Komponisten stellen sich vor!“ Schon die musikalischen Zusammenhänge an Hartmut Fladt von der Universität der bald erklingen die ersten Takte einer fri- der Tastatur nachvollziehen zu können. Künste Berlin überzeugt, die Hochstilisie- schen, neuen, mitunter aufgrund des Nächste Aufgabe: Hören und Nachsin- rung von Kindern zu Wunderkindern am Wechselspiels von Tonalität und Atona- gen von Dreiklängen, Paralleltonarten steilen Aufstieg des chinesischen Pianis- lität aber auch gewöhnungsbedürftigen und verschiedener Modi von Moll sowie ten Lang Lang festmachen zu können. Musik in den unterschiedlichsten Beset- Bestimmen von Kadenzen und deren Der ist für Fladt eben nur das Produkt zungen. Was hat ein Megaphon in klas- Stufen. All das gehört zum Standard- eines cleveren und aggressiven Marke- sischer Musik zu suchen? Wo findet man können der Grundschüler, die bei aller tings. An jeder deutschen Musikhoch- sonst ein Duo bestehend aus Schlagzeug Konzentration auch zu ganz alltäglichen schule gebe es mindestens fünf Studie- und Querflöte? Kreativität und experi- Neckereien aufgelegt sind: „Wo sind mei- rende, die genauso gut oder besser als mentelles Ausprobieren sind bei den jun- ne Übungsblätter?“, fragt die neunjährige Lang Lang spielten. Und auch Gembris gen Musikern der Antrieb zur Ausarbei- Charlotte in die Runde. Natürlich gibt sich ist der Ansicht, dass „die gezielte Ver- tung eigener Werke, und so werden As- der Schuldige nicht zu erkennen, und so marktung die Kinder zu musikalischen pekte der Krankheit Bluthochdruck eben- muss erst die Lehrerin eingreifen, bevor Ausnahmeerscheinungen macht und, wie so auskomponiert wie das vermeintlich der Unterricht weitergehen kann. bei Lang Lang, deren durchschnittliches zufällige Prasseln von Regentropfen mit Maß an musikalischer Begabung über- Hilfe eines speziellen Zahlensystems. Erst hartes Üben, so wird an diesem strahlt“. Nicht ganz so negativ sieht dies Samstagvormittag deutlich, macht das Bernd Goetzke: Lang Lang sei sicher zum Ganz vom Begriff des Wunderkinds perfekte Beherrschen der Theorie oder Teil ein Medienprodukt, und er spiele mit lassen will übrigens auch Bernd Goetzke eines Instruments möglich. Die Expertise- den Medien wie kaum ein zweiter. „Aber nicht: So sollte stets versucht werden, Forschung kann das erklären: Der Zehn- er ist keineswegs beliebig reproduzierbar. das echte Wunder zu sehen, „das in einer Jahres-Regel zufolge wird Meisterschaft Ein wirklich gebildetes Publikum ist auf Begabung erkennbar werden kann“. auf einem Gebiet nur nach mindestens Dauer nicht zu täuschen – von den Fach- zehnjährigem zielgerichtetem Üben er- leuten ganz zu schweigen.“ Mathieu Bell

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Musik macht intelligent! Und sozial dem schöpferischen Akt vorausgeht. Ich taktlos kompetent! Und hält das Kind von Dro- bin Zeuge, wenn Sie erlauben. Denn ich gen fern. Alles richtig. Ich möchte aber, wurde so gezeugt. meine Damen und Herren, hier ein noch Übrigens verdanken auch meine Ge- DER WEG schlagkräftigeres Argument ins Feld schwister und alle meine Cousins ihre führen, warum Musik der Schlüssel zum Existenz Chören und Orchestern. Und Glück sein kann. Vor allem in der dunk- rundheraus: Wie viele sind nicht schon, ZUM len Jahreszeit mag es so manchem Sin- um diese Chance wissend, einem Chor gle erscheinen, als ob die Liebe einen oder einem Orchester beigetreten. Ihr LIEBESGLÜCK großen Bogen um ihn macht: Alle Guten Trieb trieb sie. Im Nachhinein wird das sind vergeben oder schwul. Doch es ist dann verklärt mit Legenden von musika- nie zu spät. Versuchen Sie es doch ein- lischen Schlüsselerlebnissen und künst- mal in einem Chor oder einem Orches- lerischer Berufung. Die ganze Wahrheit auf die Wahrnehmung durch andere. ter! Der Vorteil: Regelmäßige Proben aber ist: Große Musikerkarrieren konnten Hat nicht Sir Simon Rattle eine blutjun- ermöglichen regelmäßige Wiedersehen, sich nur entwickeln, weil am Anfang mit ge, blonde Sängerin zur Frau? Sah Rin- und ab einem bestimmten Punkt zäh- dem Beitritt in ein Orchester die Aussicht go Starr nicht schon mit 25 aus wie ein len nur noch die inneren Werte – das auf eine große Auswahl an möglichen Greis und hat dennoch ein Model gehei- kann für manchen ein Gewinn sein. Partnern bzw. Partnerinnen verbunden ratet? Besonders praktisch für die Entwick- wurde. Luciano Pavarotti hätte eben sonst Mein Tipp also für den bevorstehen- lung gefühlvollen Ensemblespiels sind keine gewollt, so dick wie der war. Oder den Herbst: Wozu Facebook, wozu Par- die Proben- und Konzertwochenenden. Lang Lang – langweilig! Zunehmender ship und Blind Dates und Speed Dating, Hier entwickelt sich jene Dynamik, jenes Erfolg auf dem Instrument hat dann auch wenn es Chöre und Orchester gibt? feine Zusammenspiel der Sinne, das je- wieder äußerst positive Auswirkungen Maya Stockmann

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K EIN ZIRKUS OHNE CLOWN, KEIN CLOWN OHNE MUSIK

Es riecht nach frischem Sägemehl. hebt sich der purpurrote Vorhang. Die Warmes Licht erhellt das große Zelt. Die Vorstellung beginnt. Logenplätze sind alle gut besetzt, die Bankreihen weiter hinten bleiben aller- Artisten wirbeln durch die Luft, riesige dings leer. Leises Gemurmel ist zu ver- Elefanten tanzen in der Manege, chine- nehmen. Zwei kleine Kinder in der ersten sische Schwertkämpfer springen durch Reihe legen die Köpfe in den Nacken und brennende Reifen. Dann wird es fast be- schauen mit offenem Mund hinauf zur sinnlich. Ein Clown betritt die Manege. Zirkuskuppel. Langsam wird es dunkler, Hunderte bunter Pailletten funkeln, ihr die Musik setzt ein, und zum ersten Mal Widerschein tanzt über den Boden und

Utr a F icke 12 C LOwnS

Die Clownsfamilie Alexis tourt mit Zirkus Krone durch ganz Europa. Seit Generationen bringt sie Menschen jeden Alters zum Lachen und sorgt mit viel Humor und einer großen Portion Musikalität für gute Laune. Zusammen mit seiner Frau Jeanette und seinem Sohn Tonito meistert Toni Alexis seine Lebensaufgabe: Clown sein. Doch kaum einer weiß, dass mit Toni nicht nur ein Clown, sondern auch ein König die Manege betritt...

wandert an der Zeltplane entlang zur Dieses Jahr ist Tonito 18 Jahre alt worden, ich wurde als Clown geboren!“ Kuppel hinauf. Die glitzert, als wäre sie geworden, und nie konnte er sich etwas Schon sein Ururgroßvater trat als Clown mit bunten Sternen übersät. Das Gesicht anderes vorstellen, als in der Manege zu Abend für Abend ins Rampenlicht. Nun des Clowns ist weiß geschminkt. Feine stehen und Clown zu sein. Zusammen mit tun seine Söhne es ihm gleich. Und so schwarze Linien verlaufen über den Au- seinem Bruder und den Eltern Toni und sieht er aus, der König der Manege: Eine gen. Der Lichtkegel zieht sich langsam Jeanette Alexis tourt er mit dem größten dicke rote Nase im Gesicht, rotweiße zusammen. Jetzt ist nur noch der Clown Zirkus Europas durch Städte und Län- Schminke um die Augen und ein rot ge- da mit seinem glitzernden Kostüm und der. Das bunte paillettenreiche Kostüm, schminkter Mund. Die Hose viel zu weit, seiner Trompete, nur noch der Weißclown das so geheimnisvoll schimmert, ist ein die Schuhe viel zu groß. Seine Frau Jea- und die Musik. Wo eben noch wilde Tiere kleines Vermögen wert: Von der Planung nette kommt ganz ähnlich daher, und mit die Manege beherrschten, zieht nun ein bis zu Schnitt und Verarbeitung kostet es Schminke und Perücke ist sie kaum von einziger Mensch die Zuschauer in seinen rund 15.000 Euro. ihrem Mann zu unterscheiden. Bann. Tonito Alexis steht auf dem Rand der Manege, setzt die Trompete an und Seit über 50 Jahren steht sein Vater Nach einer waghalsigen Artistennum- spielt. Eine Nummer ohne Worte, ohne Toni Alexis nun schon als Clown in der mer stehen sie nun zusammen mit ihrem Scherze und ohne Lacher. Einfach nur ein Manege. Von sich selbst sagt der ge- Sohn in der Manege und geben als un- weißer Clown, der Musik macht. bürtige Spanier: „Ich bin nicht Clown ge- gleiches Trio ein komisches Bild ab. Im-

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Unsere Autorin Katharina Rupprich mer wieder verhindern die beiden Augus- dern auch ein dilettantischer Umgang mit unter Clowns te das vom Weißclown voller Pathos und Musik gelernt sein. Toni beherrscht das Enthusiasmus angekündigte Trompeten- selbstverständlich ebenfalls. So singt er Solokonzert. Durch eigene musikalische jetzt ein spanisches Liedchen und schep- Versuche und Späße ziehen sie die Auf- pert dazu einen Akkord auf der Gitarre. merksamkeit des Publikums auf sich. Das Wenig später nimmt er das Instrument ergreift binnen Sekunden für die schein- erneut zur Hand und hält es verkehrt he- bar tollpatschigeren Clowns, die Auguste, rum, um dann völlig hilflos die Manege Partei. Es klatscht begeistert, wenn Toni nach den „Spaghetti“ abzusuchen, an umständlich in die Klarinette pustet, und denen er doch eben noch gezupft habe. straft den ernsten Tonito mit Gleichgül- tigkeit, sobald er versucht, die Gunst des Die Ideen zu den einzelnen Nummern Publikums zu erobern. Schließlich gibt es stammen von Familienoberhaupt Toni aber doch ein Konzert zu dritt. Vater und Alexis persönlich. Er komponiert eine Sohn spielen Trompete, Mutter Jeanette Geschichte und kürzt seine etwa einstün- spielt Horn, und zusammen ergibt das ein dige Nummer schließlich auf ungefähr stimmstarkes „Glory, Glory, Hallelujah“. 15 Minuten, mehr Zeit bleibt ihnen im Zirkus nicht. Auf längere Musiknummern Jare na g ob alias „Goldkind“ Dass diese drei Clowns in der Mane- müssen die Clowns allerdings nicht ver- ge höchst musikalisch sind, steht außer zichten. In ihrer eigenen Show, die sie Frage. Aber nicht nur sie. Musikalität präsentieren, wenn sie einmal nicht mit gehört einfach zu diesem Beruf dazu. Zirkus Krone unterwegs sind, haben sie Darauf werde schon in der Ausbildung oft die Gelegenheit, ausgedehnte Num- des Clownsnachwuchses geachtet, weiß mern mit musikalischen Einlagen zu Cornelia von Kietzell, Mitbegründerin der spielen. „Wenn die Kinder über unsere Clownsschule in Hannover: „Musik be- Späße lachen, dann haben wir alles rich- gleitet und verändert Atmosphären auf tig gemacht“, erklärt Jeanette, „sie sind der Bühne und in der Manege. Außerdem unsere ehrlichsten Kritiker.“ Jeden Kriti- können Clowns herrlich dilettantisch mit ker, ob jung oder alt, überzeugen sie vor Musik umgehen und so dem Publikum allem mit ihren musikalischen Fertigkei- die Angst nehmen und es zum Lachen ten. So beherrschen alle drei gleich meh- bringen.“ Also will nicht nur der professi- rere Blasinstrumente: Trompete, Horn, onelle Umgang mit dem Instrument, son- Posaune, Tuba, Saxophon in allen Lagen

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und vieles mehr. Das Kuriose: Alle haben sich die Instrumente selbst beigebracht, und keiner der drei kann Noten lesen. „Man muss es nur wirklich wollen“, sagt Tonito, „dann braucht man keine Noten und keinen Lehrer!“ Zusätzlich zu den Blasinstrumenten nutzen sie auch gerne unkonventionelle Methoden, um Klän- ge zu erzeugen und Musik zu machen: Sägeblätter, Gläser, Flaschen, Glocken, Schläuche, Hupen...

Durch ihre Auftritte in ganz Europa treffen die Clowns immer wieder auf an- dere Sitten und auch auf andere Arten von Humor, aber Musik berühre jeden Menschen. Sie ermögliche das Spiel mit dem Publikum, und noch nie habe das nicht funktioniert. Wenn sie mit ihren musikalischen Auftritten eines Tages das Publikum nicht mehr begeistern können, „dann müssen wir den Beruf wechseln“, mer das gleiche Programm, ständige Orts- scherzt Jeanette. wechsel: Hier drängt sich doch geradezu die Frage auf, ob der Familie irgendetwas Unglaublich lange dauert der Triller, im Leben fehle. Toni Alexis schaut er- den Tonito gerade spielt. Ungläubig schau- staunt auf und blickt im Zirkuscafé in die en die Menschen im Publikum einander Runde: „Uns?“ Dann antwortet er stellver- an. Schon seit gut einer Minute stößt er tretend für seine ganze Familie: „Nein!“ die beiden Töne in rasendem Wechsel Die Antwort lässt keine Sekunde lang aus seinem Instrument. Spontan brandet Zweifel zu, es wird auch nichts mehr auf Applaus auf, aber Tonito denkt noch gar diese Antwort folgen. Es bedarf einfach nicht daran, seine Trompete abzusetzen. keinerlei weiterer Erklärung: Die Clowns- Wie ist das möglich? „Ach, das ist ganz familie ist glücklich. Vor drei Jahren hat einfach“, erklärt Tonito später lachend, Toni im Circo Price in Madrid von König „ich habe mir diese Technik von einem Juan Carlos höchstpersönlich die höchste anderen Trompeter abgeguckt. Ich spei- Auszeichnung erhalten, die ein Clown sich chere meine Luft im Mund und kann sie wünschen kann: „König des Lachens – ausströmen lassen, während ich gleich- bester Clown der Welt“. Dennoch ist Toni zeitig mit der Nase einatme.“ Dass Toni- auf dem Teppich, pardon, in der Manege to nicht immer nur der ernste Weißclown geblieben. Den Kontakt zu seinem Volk sein will, zeigt im Anschluss sein Elvis-Ge- hat er jedenfalls nicht verloren, wenn er sangsauftritt. Extra für seine Mama habe am Ende seines Auftrittes ein paar Kin- er den Song „Tutti Frutti“ ausgewählt, sie dern fröhlich die Hand schüttelt, trium- sei ein großer Elvis-Fan. Mit Hüftschwung phierend die Arme in die Luft hebt und und tiefer Stimme singt er und nimmt da- sich verbeugt. bei das gesamte Zirkuszelt für sich ein. Er tanzt durch die Reihen und flirtet mit Auf die letzte Frage, was Musik für den weiblichen Gästen. Erst ein prüfender das Leben der Clownsfamilie bedeute, Blick auf seine Lippen verrät, dass er tat- folgt ein kurzer Moment der Stille, dann sächlich live singt. Stolz sagt sein Vater: antwortet der jüngste Clown entschlossen „Ja, Clowns sind eben Alleskönner!“ als erster: „Music was my first love!“ Und dabei lächelt Tonito, der Thronfolger, sou- 360 Aufführungen allein in der Som- verän. mersaison, zwei Aufführungen täglich, im- Katharina Rupprich

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MUSIK LIEBEN, LEIDEN, LEBEN

Alles im Leben hat seinen eigenen Soundtrack. Sei es die erste große Liebe oder der häufig so unvermeidliche Trennungsschmerz am Ende. So verbindet jeder Hörer mit manchen Musikstücken bestimmte Situationen oder Personen. Ganz oft ist es aber auch so, dass die Künstler selbst ihr Innerstes nach außen kehren und Geschichten aus ihrer eigenen Biographie erzählen – Geschichten, die eng mit ih- ren eigenen Schicksalen verbunden sind. In der Rubrik „Fünf Songs“ stellen wir in dieser Ausgabe Bands und Solisten vor, die ihre Musik lieben, mit ihr leiden, aber vor allem mit ihr leben.

MANIC STREET PREACHERS – but everything must go.“ Die Botschaft: EVERYTHING MUST GO (1996) Wir tragen dich immer in unserem Her- zen, aber das Leben muss weitergehen. „Saitensprung“ stellt Das spurlose Verschwinden von Ri- chey Edwards, dem Gitarristen und Texter Im November 2008 hat man Edwards ausgewählte Stücke der walisischen Manic Street Preachers, offiziell für tot erklärt. Seine Leiche wurde am 1. Februar 1995 gilt bis heute als bis heute nicht gefunden. der Pop-Historie eines der großen Mysterien der Rockge- und ihre bewegenden schichte. Suizide, Drogentote und Mor- de – das alles hatte es schon gegeben. QUEEN – NO-ONE BUT YOU Geschichten vor Aber das plötzliche Verschwinden eines (ONLY THE GOOD DIE YOUNG) (1997) Rockstars ohne einen Hinweis auf seinen Verbleib oder den Fund seiner Leiche, Im November 1991 standen Queen das war neu. Edwards galt schon lange bereits seit fast zwei Jahrzehnten an der als psychisch labil, war diverse Male in Spitze der internationalen Rockszene, psychiatrischer Behandlung gewesen als Sänger Freddie Mercury die Welt- und machte in seinen gleichermaßen öffentlichkeit am 23. des Monats über brillanten wie selbstdestruktiven Texten seine AIDS-Erkrankung informierte und keinen Hehl aus seinen Problemen. Sei- nur einen Tag darauf verstarb. Schon in ne Band war eine der großen britischen den Jahren zuvor hatte es immer wieder Rockhoffnungen der frühen 90er Jahre, Gerüchte über Mercurys Gesundheits- die mit ihrer Mischung aus Glamrock und zustand gegeben, die er jedoch stets politischem Punk die Kritiker überzeugte. zurückwies. In Wahrheit jedoch wusste Nach Edwards Verschwinden schien die er schon seit dem Ende der 80er Jahre Band vor dem Aus zu stehen, doch zur von seiner HIV-Infektion, die ihn aber großen Überraschung aller machten die nie davon abhielt, weiterhin produktiv zu Manics als Trio weiter: Gut ein Jahr spä- sein. Im Gegenteil: Noch in den Wochen ter veröffentlichten sie „Everything must und Monaten vor seinem Tod begab sich go“, eine Hinwendung zum Breitwand- Mercury ins Studio, um Gesangsspuren Brit-Pop, gepaart mit melancholischen für das im Jahr 1995 posthum veröffent- Texten, die versuchten, das Geschehene liche „Made in Heaven“ aufzunehmen. zu verarbeiten und in Worte zu fassen. Es sollte das letzte offizielle Studioalbum Das Album wurde zu einem Riesenerfolg, von Queen in der Originalbesetzung sein. erreichte die Spitze der britischen Charts Anfang des 21. Jahrhunderts gingen die und machte die Manic Street Preachers Ur-Mitglieder Brian May und Roger Taylor zu einer der wichtigen UK-Bands der dann zwar zusammen mit Paul Rodgers Neunziger. Im Titelsong richteten sich die mehrmals auf Welttournee und produ- drei verbliebenen Bandmitglieder James zierten sogar eine weitere Platte, aber Dean Bradfield, Nicky Wire und Sean trotz des relativ großen kommerziellen Er- Moore an ihren verschollenen Freund. folgs waren Queen + Paul Rodgers eben „And I just hope that you can forgive us, nicht Queen. Gegenwärtig ruht diese Zu-

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sammenarbeit, was von May und Taylor Monster, das vor Pathos und Kitsch nur Sicherung seiner Rente. 1976 war der vor allem dazu genutzt wird, die Teilneh- so trieft. Freddie Mercury hätte es sicher Song bereits ein veritabler Top-Ten-Hit mer diverser Castingshows hin und wie- gemocht. in einigen europäischen Ländern. Doch der bei ihren fragwürdigen Darbietungen dank der bereits erwähnten Dauerrota- von Queen-Hits zu unterstützen. tion bis heute auf verschiedensten Ka- JOHN MILES – MUSIC (1976) nälen und zu verschiedensten Anlässen Das letzte musikalisch produktive und dürfte Miles inzwischen steinreich sein. ernsthafte Zusammentreffen der drei ver- „Music was my first love, and it will Nur was ist das besondere an „Music“? bliebenen Original-Mitglieder nach den be my last.“ Diese Zeilen kennt jedes Ganz einfach – das Lied bietet für jeden „Made in Heaven“-Aufnahmen liegt hin- Kind – sie stammen aus der Feder des etwas, denn streng genommen handelt gegen schon etwas länger zurück: Im britischen Sängers John Miles. Sein Song es sich bei „Music“ nicht um einen Song, Jahr 1997 spielten sie gemeinsam das „Music“ geistert seit 1976 um die Welt sondern um gleich drei vereint in einer Stück „No-One But You (Only The Good wie ein verirrtes Raumschiff. Überall und Komposition. Es geht los wie die typische Die Young)“ für die „Queen Rocks“-Com- bei jeder Gelegenheit hört man die Num- Kitschballade, zu der Miles die weltbe- pilation ein. Offiziell eine Hymne für all mer: Im Radio, bei Top 40-Coverbands, kannten ersten Zeilen intoniert. Nach bal- diejenigen, die zu früh gestorben sind, in der Ü30-Disco, in schlechtgemachten ladentypischem Crescendo und viel Getö- und zudem angeblich beeinflusst durch Fernsehshows und, vor allem, im Zirkus. se kommt auf einmal der Bruch: „Music“ den Unfalltod von Lady Diana, ist es vor Für viele Leute bedeutet „Music“, dass driftet ab in eine Uptempo-Nummer mit allem ein letzter Gruß an den charismati- sie schnell wegrennen müssen, um den krummem Taktmaß und Gniedel-Gitar- schen Frontmann der Band. Gitarrist May nächsten schallsicheren Bunker zu su- rensolo. Und dann kommt’s noch dicker. und Drummer Taylor teilen sich den Ge- chen. Für John Miles bedeutet „Music“ Es folgt ein Synthie-Instrumental-Part (ja, sang bei diesem pompösen Stadionrock- in erster Linie etwas ganz anderes: die genau der Teil, der immer im Zirkus ge-

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spielt wird, wenn alle Clowns und Artisten writer zählt zu den Begnadeten seiner zum großen Finale einlaufen) mit einer Everett Zunft. Bis in die späten Neunziger war er Hook, die so unglaublich „cheesy“ ist, Frontmann der nach ihm benannten Ben dass sie selbst dem größten Süßigkeiten- Folds Five (die aber tatsächlich nur ein Fan schwer im Magen liegen sollte. Trio waren), seit der Jahrtausendwende ist er solo unterwegs. Neben infantilem Keine Frage, „Music“ ist eine span- Humor und pointierten Texten über den nende Komposition – aber auch eine ver- Wahnsinn des Alltags zählen vor allem dammt anstrengende! John Miles selbst kitschig-gefühlsselige Liebesballaden zu dürfte das alles egal sein. „Music“ wird seiner Spezialität – hoffnungslose Ro- mit Sicherheit seine große Liebe sein bis mantik eben. Zu den schönsten seiner ans Ende seiner Tage. Lovesongs zählt „The Luckiest“ vom Al- bum „Rockin’ The Suburbs“ (2001). Ben Folds erzählt in diesem Lied rührseligst, EELS – THINGS THE GRANDCHILDREN dass er der glücklichste Mensch der Welt SHOULD KNOW (2007) sei, seit er seine Frau kenne. Vorher habe er nicht viel auf die Reihe bekommen, Fataler Herzinfarkt des Vaters, Selbst- und selbst wenn er Neunzig wäre und sie mord der Schwester, Krebstod der Mut- läge eines Tages im Sterben, dann bliebe ter: Mark Oliver Everett kann nun wirklich er bis zum Ende an ihrer Seite und würde nicht behaupten, vom Schicksal ver- wenig später selbst das Zeitliche segnen. wöhnt worden zu sein. Hinzu kommen Und überhaupt: Man stelle sich vor, der unzählige gescheiterte Beziehungen und sönlichen Texten – denn Everett schreckt gute Herr Folds wäre fünfzig Jahre eher gebrochene Herzen sowie Existenzängste auch nicht davor zurück, Schicksalsschlä- geboren worden. Dann hätte er seine aufgrund geplatzter Plattenverträge. Nun ge wie den Tod seiner gesamten Familie Frau erst im hohen Alter getroffen, wäh- liegt die Vermutung nahe, dass Everett mit einfacher, verständlicher Lyrik zu the- rend sie noch in der Blüte ihrer Jugend- selbst aus diesen ganzen Dramen erheb- matisieren. Im Prinzip lässt sich das ge- lichkeit stünde. Aber so wie es letztend- liche Schäden davongetragen hat, aber samte Werk der Eels wie eine Biographie lich kam, hat ja alles gepasst – deshalb abgesehen von seinem generell etwas ihres Frontmanns lesen, inklusive einiger war Ben Folds 2001, zumindest nach kauzigen Verhalten scheint er mit seinem Höhen und viel mehr Tiefen. Aussage seines Songs, der glücklichste Leben mittlerweile doch relativ zufrie- Glückspilz von allen. den zu sein – zumindest lassen einige Einen schriftlichen Rückblick auf sein eher positive Songs und Texte der letz- bisheriges Leben lieferte Everett übrigens Dumm nur: Das Glück hielt nicht ten Jahre darauf schließen. Nach außen im Jahr 2007 unter dem Titel „Things The mehr lange. Nur wenige Jahre später ließ hin verrät ohnehin einzig sein gelegent- Grandchildren Should Know“, benannt er sich von seiner Frau Frally scheiden. lich auf ZZ Top-Länge gezüchteter Bart, nach einem Song des zwei Jahre zuvor Die Trennung verarbeitete Folds natür- dass der End-Vierziger nicht ganz in das erschienenen Doppelalbums „Blinking lich auch in einem Song, nämlich „Colo- Raster des typisch oberflächlichen Mode- Lights And Other Revelations“. Darin be- gne“. Die armen Kölner kriegen also die Rockstars passt. richtet der Erzähler über die Sonnen- und Schuld in die Schuhe geschoben für das Schattenseiten des Lebens und erklärt Drama! Übrigens: Inzwischen ist Folds Seit Mitte der 90er Jahre hat Everett seinen Enkelkindern einige seiner Eigen- zum dritten Mal verheiratet. Ob er seiner als Kopf der Eels neun Studioalben ver- heiten. Das Stück endet mit den Zeilen „I aktuellen Herzdame auch „The Luckiest“ öffentlicht, die zumeist von den Kritikern have some regrets, but if I had to do it all vorsingt? hochgelobt wurden, kommerziell aber again / well, it’s something I’d like to do.“ nicht immer erfolgreich waren. Und ob- Everett hat bis heute weder Kinder noch wohl sich an den nackten Zahlen nicht Enkelkinder. Matthias Holz/Marc Möllmann viel verändert haben dürfte, ist „E“, so sein Pseudonym, rein künstlerisch in- zwischen unantastbar, so dass er sich BEN FOLDS – um seinen Plattenvertrag (und somit THE LUCKIEST (2001) seinen Lebensunterhalt) wohl keine Sor- gen mehr machen muss. Das Geheimnis Ben Folds ist ein hoffnungsloser Ro- seiner künstlerischen Anerkennung ver- mantiker. Der aus Chapel Hill in North birgt sich vermutlich in seinen sehr per- Carolina stammende Pianist und Song-

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EIN LEBEN FÜR DIE TONSPUR

Es ist früh am Abend. Noch ist es hell in der Hauptstadt, und die großen Neonlettern über den Eingangstüren können ihre volle Strahlkraft nicht entfalten. „Babylon“ steht dort geschrieben. Der Name erinnert an ein unter- gegangenes Reich, an eine längst vergangene Blüte. Und tatsächlich hat dieser Ort so gut wie nichts von dem, was man sich heute unter einem Kino vorstellt. Keine hausfassadengroße Leinwand, keine teure Soundanlage, ja nicht einmal eine Popcornmaschine. Außerdem riecht es seltsam hier, irgendwie muffig. Und doch ist es ist einer dieser Orte, der uns sagt: Kino ist etwas Besonderes und ist es auch immer schon gewesen.

Hier, mitten in Berlin, im Schatten der alles überragenden Volksbühne, kom- men Filmliebhaber zusammen, um sich gemeinsam zu erinnern. An eine Zeit, in der die Welt noch schwarzweiß war, als Kinos noch Filmtheater hießen und das Zelluloid noch ohne Tonspur auskommen Günter Buchwald musste. Es ist die Ära des Stummfilms,

19 zwei Männer den Raum. Unter Applaus setzt sich einer von ihnen an den Flügel, der neben der Bühne steht, der andere greift zu der Geige, die er vorher in einer der Sitzreihen abgelegt hatte.

Günter Buchwald ist einer der Musi- ker, die zu den „Stummfilmtagen“ in das Berliner Lichtspielhaus geladen wurden. Ein Stummfilmmusiker mit Leib und See- le und einer rekordverdächtigen Bilanz: In 32 Jahren hat der Freiburger über 2000 unterschiedliche Filme begleitet, als Pi- anist, auf der Violine oder als Dirigent großer Stummfilmorchester. Dieses - Le ben für den Film nahm eher zufällig sei- nen Anfang, als die Studentenbewegung in den siebziger Jahren begann, sich für die frühe Zeit des Films zu begeistern. Es entstand eine Vielzahl kommunaler Kinos – nicht-kommerzielle Filmorte, an denen Filmkunst als gesellschaftlicher Auftrag verstanden wurde. Die Stummfilm-Re- naissance war eingeläutet.

Ganz nach alter Tradition sollte ein Musiker die Filme begleiten, und als Buchwald, damals noch Musikstudent, gefragt wurde, ob er einen geeigneten Pi- anisten kenne, schlug er sich kurzerhand Günter Buchwald ist die hier wieder zum Leben erweckt wer- einfach selbst vor. Mit Stummfilmen hat- den soll. Wenn der Kinobesucher von te er bis dahin zwar nichts am Hut, doch Stummfilmmusiker heute an die Filme von damals denkt, die neue Herausforderung klang für ihn vergisst er eine Tatsache allzu gern: äußerst verlockend: „Ich habe schon als aus Leidenschaft Wirklich stumm war der Stummfilm nie. Kind immer gern improvisiert. Ohne No- Von Beginn an war der Musiker mit sei- ten spielen ist das, was ich gut kann“, ner Livebegleitung ein fester Bestandteil fasst Buchwald seine Motivation zusam- jeder Filmvorführung. Er war es, der die men, sich seinem ersten Stummfilmpro- schweigenden Bilder auf der Leinwand jekt zu widmen. Nach der erfolgreichen mit Tönen lebendig werden ließ und so Aufführung von „Der Glöckner von Notre jeden Abend, ganz in der Tradition des Dame“ – noch immer einer seiner Lieb- Theaters, zu einem einzigartigen Erlebnis lingsfilme – habe er dann einfach wei- machte. Und hier im „Babylon“ ist er es tergemacht. Wie selbstverständlich. Bis auch heute noch. heute.

Der beschauliche Kinosaal füllt sich Viele Tausend Aufführungen später zunehmend. Alles hier erinnert an ein gibt es immer noch Überraschungen. Theater. Vom Balkon blickt man auf das Heute steht „Der Golem“ auf dem Pro- Parkett, in dem immer mehr Menschen gramm. Ein expressionistischer Film, den Platz nehmen, und auf eine kleine Büh- Schauspielerlegende Paul Wegener im ne, auf der sich eine Leinwand in die Jahr 1920 drehte, und einer der Filme, Höhe reckt. Die Leute hier interessieren die Buchwald in- und auswendig kennt. sich für Kunst. Das sieht man ihnen an. Doch selbst wenn man einen Film schon Kurz bevor das Licht ausgeht, betreten Dutzende Male begleitet hat, sind zwei

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V orführungen nie gleich. Denn Improvisa- Kompositionen und eine gute Kenntnis Reisen gehöre zu den angenehmen Din- tion ist alles. An diesem Tag gibt es noch des Films. Allerdings kommt es auch vor, gen in seinem Leben, meint der Freibur- eine weitere Herausforderung: Buchwald dass man einen Streifen vor der Vorfüh- ger. Und überhaupt: Große Enttäuschun- begleitet den Film zusammen mit einem rung nur einmal zu sehen bekommt. Für gen habe er eigentlich nie erlebt. spanischen Pianisten, den er erst am Vor- Buchwald keine besondere Sache: „Ich mittag kennengelernt hat. Es scheint gut habe gelernt, Filme schnell zu lernen.“ Der Film ist aus. Draußen ist es zu funktionieren. Während der Golem auf Für Stummfilmmusiker eine unabdingba- mittlerweile dunkel und das Neonlicht der Leinwand sein Unwesen treibt, irre re Fähigkeit. schreibt nun ein völlig anderes „Babylon“ Blicke ins Publikum wirft und bildgewaltig in die Nacht. Kräftig und unübersehbar. ganze Städte verwüstet, kommunizieren „Eigentlich sollte ich Lehrer werden.“ Kino funktioniert eben nur im Dunkeln. die beiden Musiker so, wie der Film ohne Doch natürlich kam es anders. Zwar un- Er kam als Letzter und geht nun auch sie wäre: stumm, nur mit Blicken und terrichtet Buchwald auch Improvisation als Letzter. Ganz in schwarz steht Gün- leisen Gesten. „Ich schätze es sehr, mit an der Musikhochschule in Basel, doch ter Buchwald neben der Leinwand, wie Kollegen zusammenzuarbeiten“, erklärt drei Viertel seines Einkommens bezieht er es sich für einen Musiker gehört. Doch Buchwald. So könne er musikalisch viel aus der Arbeit mit den bewegten Bildern. mit dem Hemd, das ein bisschen aus der lernen und bekomme zudem neue Sicht- Für Buchwald ein Privileg, das nur weni- Hose hängt, und den Sandalen an den weisen auf die Filme. gen zuteil wird. Zu knapp ist das Geld bei Füßen macht er unmissverständlich klar: den kleinen Lichtspielhäusern, zu sehr ist Im Konzertsaal würde er sich nicht wohl- Doch wie ist das gemeinsame Mu- die Stummfilmszene eine Gruppierung fühlen, das Kino ist sein Zuhause. Musi- sizieren organisiert? Wie entstehen die weniger Liebhaber. „In Deutschland kann ker und Filmliebhaber – nur hier kann er Melodien und Harmonien für eine Be- man die Stummfilmmusiker, die von ih- beides sein. Ob er denn auch einfach so gleitung? Was wird vorher festgelegt rer Arbeit leben können, an einer Hand mal ins Kino gehe? Ganz ohne Arbeit, nur und was ist improvisiert? „Absprachen abzählen.“ Doch international sind die zum Vergnügen? „Ja, dann kann ich mich während des Films gibt es nicht, der Film Musiker gut vernetzt. Immer wieder wird entspannen. Wenn die Musik gut ist.“ selbst gibt die Struktur vor“, erläutert der Buchwald auch ins Ausland eingeladen, studierte Violinist. Was zählt ist vor al- immer wieder trifft er dort alte Bekannte Joachim Haupt lem Erfahrung, ein großes Repertoire an und musiziert gemeinsam mit ihnen. Das

Sie bestimmen Melodie und Rhythmus. ... wir machen was daraus! Blöcke / Briefpapier / Broschüren / Bücher / Displays Flyer / Geschäftsdrucksachen / Grußkarten Kalender / Mailings / Poster / Präsente Visitenkarten / Werbemittel / und und und ...

Layout • Satz & Druck Michael Heilandver Lister Damm 5 - 7 · 30163 Hanno 11 / 67 21 93 41 14 · Telefax 05 Telefon 05 11 / 63 [email protected]

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KAUM JEMAND BLEIBT STEHEN

Wie bin ich eigentlich hier hineinge- Auch wenn die Zeiten, in denen man Als StraSSen- raten? Da stehe ich jetzt in Hannovers sich seinen „Klassikern“ hemmungs- Innenstadt, meine Gitarre umgeschnallt, los hingeben durfte, der Vergangenheit musiker unterwegs – und singe voller Inbrunst gegen den Lärm angehören, freue ich mich doch immer der gegenüberliegenden Baustelle an. noch heimlich, wenn ich plötzlich eine ein Selbstversuch Ich kämpfe, aber es ist sinnlos. Meine meiner Lieblingsmelodien höre. In der aus zwei Worte verhallen, meine Stimme bricht, Redaktionssitzung sah ich dann meine meine Finger spielen nicht das, was sie Chance: Nun konnte ich auf der Straße Perspektiven sollen. Dabei hatte ich ursprünglich doch stehenbleiben, mich ganz den noch so so große Träume! Träume von einem mit triefenden Melodien hingeben – meine lauter Kleingeld gefüllten Gitarrenkoffer, eigene journalistische Mission konnte Träume von Menschenmassen, die mir beginnen. zujubeln. Stattdessen aber bleibt kaum jemand stehen, und Kleingeld höre ich Der Vorteil eines solchen Selbstver- Wie ist das, wenn man einen Tag auch nicht klimpern. suchs liegt auf der Hand: Ich kann frei als Straßenmusiker verbringt? wählen, wann ich ihn wie und wo unter- Wie wirken Straßenmusiker Es ist eine ewige Hass-Liebe: Stra- nehme. Das hat natürlich den Haken, auf unschuldige Passanten? ßenmusiker gehören zu einem Sommer- dass man genug Ausreden findet, den Zwei „Saitensprung“-Redakteure Shopping-Tag definitiv dazu, können aber unausweichlichen Tag immer weiter vor auch schnell zum Nervfaktor werden, sich her zu schieben. Gerade der Som- haben es ausprobiert: wenn wir unseren Latte Macchiato zu der mer 2010 bietet mit der Fußball-WM und vierten Version von Mozarts „Rondo alla den abwechselnd viel zu hohen bzw. viel Matthias Holz stellte sich mit Turca“ trinken müssen. Früher war es das zu niedrigen Temperaturen genügend seiner Gitarre dem Publikum an Größte, den Musikern Geld in die Becher, Möglichkeiten. Die Gitarre darf in dieser Hannovers Kröpcke, in der Alt- Koffer oder Hüte zu schmeißen – heute Zeit zwar regelmäßig einige Zupf-Einhei- stadt und auf der Lister Meile. müssen die Darbietungen schon sensati- ten genießen, ernsthaftes Proben geht onell sein, damit ich mein Kleingeld aus aber anders. Und überhaupt, bevor ich der Tasche krame. mit dem Proben anfangen kann, müsste Antonia Klöpf (kursiv) mischte ich ja erst einmal wissen, was ich spielen sich irgendwo in der Stadt Redaktionssitzung im April. In meinem will. unter die Zuhörer und ließ ihren spätjugendlichen Leichtsinn schlage ich Gedanken freien Lauf. vor, mal einen Tag als Straßenmusiker zu Je nach Tagesform bin ich empfäng- verbringen. Wie ich auf diese Idee kam, lich für ganz unterschiedliche Stücke. Ob weiß ich auch nicht mehr so genau, aber nun Vivaldis „Sommer“ als rockige Vari- Das Ergebnis ist ein Protokoll auf einmal höre ich „Gekauft!“, und mein ante auf der Gitarre, Simon and Garfun- für zwei Stimmen und Alltags- Schicksal ist besiegelt. Dabei gibt es doch kel auf der Querflöte oder der Klassiker orchester. eigentlich genug Gründe, die gegen einen „Somewhere over the rainbow“ auf Glä- Straßenauftritt in Hannover sprechen. sern – das Repertoire scheint begrenzt, Nehmen wir nur das alte Vorurteil, dass die Aufführungspraktiken jedoch sind die Einwohner der niedersächsischen grenzenlos. Landeshauptstadt eher etwas unter- kühlt sind: Gerade für einen Straßenmu- Ich war nie jemand, der am Lagerfeu- siker, der auf die Nächstenliebe der er irgendwelche „Klassiker“ zum Besten Passanten angewiesen ist, ist eine gegeben hat. Aber welcher handelsübli- solche Perspektive aufs Leben doch pu- che Innenstadt-Besucher kennt Künstler res Gift! wie Frank Turner, The Gaslight Anthem

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oder Bright Eyes? Dennoch werde ich ne- Und wo man sie nicht alle antrifft! Aus ben zwei eigenen Stücken jeweils einen Städten wie Berlin und Hamburg ist man Song von ihnen spielen – und dann mei- es gewohnt, in der Bahn dauerbeschallt ne Setlist eben mit The Killers („Human“), zu werden. In Hannover hingegen müs- Ben E. King („Stand by me“) und der in sen sie sich in der überschaubaren In- Hannover unausweichlichen Lena („Sa- nenstadt um die Plätze im Rotationsver- tellite“) anreichern. Zwar sind sind das fahren kümmern – was zu einer enormen bis auf eine Ausnahme ebenfalls keine Dichte an Musik führt. Mein heimlicher Klassiker, doch sollten diese Songs we- Favorit ist übrigens „Frankie“. Ich nenne nigstens bekannt sein. ihn so, weil er immer „My way“ von Frank Sinatra spielt – und das direkt vor mei- Erfrischend ist es dennoch, wenn nem Fenster. Anfänglich war ich hin und auch einmal etwas anderes an die Oh- weg von dem, was mir da entgegenklang, ren dringt. Viel zu selten werden wirklich wenn ich morgens das Fenster öffnete. gute Songs gespielt, die eben nicht bei Einige Wochen später war ich froh, dass X-Factor, DSDS und Popstars zu hören Hannovers Regeln so streng sind und sind. Was ist mit den Eels, Hindi Zahra Frankie nach 30 Minuten seine Klarinette oder meinetwegen auch Soku? Fakt ist, samt iPod und Boxen wieder einpacken dass Lena Meyer-Landrut out ist und mir musste. mit „Satellite“ sogar die Lust zum Shop- pen geraubt wird. Schade, wirklich. Ideal Drei Auftrittsorte habe ich mir über- wäre es, wenn man sich je nach Stim- legt: in der Nähe der Kröpcke-Uhr, in der mungslage Songs wünschen könnte, Altstadt sowie auf der Lister Meile. Je aber das Repertoire ist bei den meisten nachdem wie es anschließend um eine Musikern schnell erschöpft. Nur auf mei- Stimme bestellt ist, werde ich mir viel- ne Lieblingsgruppe aus Hannovers Innen- leicht noch weitere Bühnen suchen. Ich stadt ist in puncto Repertoire Verlass: Die kann nicht so recht abschätzen, wie gut drei ungarischen Männer mit Klarinette, das alles klappen wird, denn bisher habe Akkordeon und Gitarre spielen Folklore ich in meinem Leben ganze zwei Mal vor vom Feinsten und scheinen jedes schmis- Publikum gespielt – diverse Lagerfeu- sige Volkslied ihrer Heimat in den Fingern er-Auftritte nicht mitgezählt. Allerdings zu haben. Virtuos und erfrischend an- macht sich am Abend vor dem großen ders. Tag so etwas wie Zuversicht breit: Die Ge- neralprobe in der WG klappt problemlos, Acht Stücke habe ich also am Ende so dass ich sogar noch eine Zugabe vor- zusammen, was gleich zwei Vorteile hat: bereite. Ja, ich bin bereit! Erstens muss ich nicht so viel üben, zwei- tens erfülle ich damit auch gleich die Uns Zuschauer interessiert aber Vorgaben des Ordnungsamts Hannover. ja eigentlich viel mehr an den Straßen- Das schreibt Straßenmusikern nämlich musikern: Wo kommen sie her, wo ge- vor, dass sie nach einer halben Stunde hen sie hin? Warum wird man Straßen- Spielzeit den Standort zu wechseln ha- musiker? Als Kind war das alles noch ben. Wer sich an diese sowie acht weitere viel spannender, wenn die Panflöten- Spielregeln hält, benötigt ansonsten kei- spieler in ihrer traditionellen Tracht vor ei- ne gesonderte Genehmigung dafür, seine nem standen. Doch auch jetzt interessie- Mitmenschen zu beschallen. Ob das im- ren einen die Einzelschicksale noch sehr. mer bürgernah ist, sei mal dahingestellt. Wo üben die Musiker eigentlich? Auch Schließlich habe ich mir oft genug selbst wenn man einmal kurz mit ihnen ins gewünscht, zahlreichen vollkommen a- Gespräch kommt oder kleine Schilder tonal spielenden Möchtegern-Dylans ihre neben dem Geigenkasten über die Gitarre über das filzige Haupt zu ziehen. lettische Herkunft informieren – das Jetzt hingegen habe ich ein wenig Angst Wunderbarste an den Straßenmusi- vor eventuellen Wutausbrüchen meiner kern bleibt ja doch das Geheimnis um unfreiwilligen Zuhörer. ihre Persönlichkeit.

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Am großen Tag selbst macht sich In der Schulzeit bin ich noch mit mei- bar. Anfangs geht es zwar noch, aber dann Ernüchterung breit. Der Himmel ist ner Freundin durch die Kneipen meiner mit fortschreitender Dauer verspiele ich grau, dicke Regentropfen klopfen an mein Heimatstadt gezogen und habe Brahms’ mich, verfehle jeden dritten Ton, breche Fenster, und die Wetteraussichten lassen „Ungarische Tänze“ und Montis „Czar- sogar einfach mal inmitten eines Songs nicht auf Besserung hoffen. Verhindern das“ gespielt, was uns viel Beifall und ab. Auch „Satellite“ kann mein Publikum nun also höhere Mächte meinen Auftritt, noch mehr Geld einbrachte, aber diesen nicht begeistern. Nach einer ewig langen nachdem ich mich endlich dazu durchge- Mumm habe ich nicht mehr in den Kno- halben Stunde ist der Spuk vorbei – und rungen habe? Ich warte, spiele noch mal chen. Vielleicht habe ich ja eines Tages meine Stimme weg. Rauh und kratzig hat ein paar Songs, träume von einem viel eine Idee, wie ich die Menschen durch sie sich ganz tief in meinem Körper ver- umjubelten Auftritt. Und tatsächlich lohnt eine musikalische Aktion beeindrucken steckt, selbst Flüstern ist eine Qual. An sich die Geduld: Gegen Mittag bricht die kann. Aber eigentlich bin ich auch ein- weitere Auftritte ist nicht zu denken, ganz Wolkendecke auf! Schnell packe ich mei- fach gerne Zuschauer – so lässt es sich davon abgesehen, dass meine Motivati- nen Kram zusammen, beordere meinen doch am schönsten lästern! on nicht gerade besser geworden ist. Am Fotografen zum Treffpunkt und mache Ende liegt ein ganzer Euro in meinem Kof- mich frohen Mutes auf den Weg. Auch Schnell muss ich feststellen, dass fer, außerdem nehme ich noch ein paar wenn mir die Vorstellung etwas seltsam meine Ortswahl eine Katastrophe ist. amüsierte sowie genervte Blicke mit nach erscheint, dass die ganze Zeit jemand um Nicht nur der Baulärm zermürbt mich, Hause. So romantisch ist das gar nicht, mich herumläuft und knipst – das habe sondern auch der Durchgangsverkehr. das Straßenmusiker-Dasein. ich nun wirklich bei noch keinem Stra- Kaum jemand bleibt stehen, und selbst ßenmusiker gesehen... wenn es so wäre: Mein Auftritt ist furcht- Matthias Holz/Antonia Klöpf

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25 PLTN AT E KRITIK

können. Allesamt bieten sie starke und abwechslungsreiche Schlagzeugrhyth- men, gut arrangierte Gitarrenparts und eine eigene Note. Dynamische Melodien machen die Stücke größtenteils tanzbar (allen voran „All The Sweet“). Aufgenom- men haben Fibre das Album „Viewing Soulsatellites“ übrigens in Eigenregie im hannoverschen „Institut für Wohlklang- forschung“. Und ja: Es ist ein Wohlklang. Zumindest für die Ohren von Indiemusik- liebhabern.

Label: Eigenveröffentlichung BIG TUNE – MELODINNER Mehr davon: www.myspace.com/ PLATTEN- thisisfibre Wenn der Hiphop-Gourmet Hannover Claudia Hamburger hört, schnalzt er nicht gerade mit der KRITIK Zunge. Um das zu ändern, servieren Big Tune zum „Melodinner“ unglaubliche THE HIGH QUEENS – 18 Gänge. Abwechslungsreich werden THE URBAN SONGBOOK die Gehörgänge verwöhnt, mit einem Diese Seiten sind Hannovers Partysound in „C’est la Vie“, mit einem Warum singen deutsche Bands ei- lebendiger und vielseitiger kriminal-ironischen „Verfolgt & Verhört“ gentlich so oft auf Englisch, auch wenn Musikszene gewidmet. und natürlich auch einer Abrechnung mit sie die Sprache nur rudimentär beherr- In jeder Ausgabe stellen wir der Heimat, namentlich „Hassliebe“. Die schen? Und warum versuchen Künstler Rapper aus Hannover erzählen allerlei aktuelle und spannende aus hiesigen Gefilden allzu oft, so zu Geschichten aus ihrem Alltag, gerappt klingen, wie es der aktuelle anglo-ameri- Veröffentlichungen von Bands auf lyrisch hohem Niveau. Gerade Songs kanische Trend vorgibt? Schließlich blei- und Künstlern aus der Region wie „Reisefieber“ oder „Schlaf gut“ besit- ben sie ja doch nur eine fade Kopie der vor. Stilistische Grenzen setzen zen eine enorme Texttiefe. Zum Knaller- Originale. The High Queens bilden eine wir uns dabei nicht – ob Rock, album fehlt es am Ende aber doch etwas Ausnahme dieser Regel. Beim ersten Hö- Hiphop oder Klassik. an Leidenschaft. Darum kann man sich ren von „The Urban Songbook“ könnte an diesem „Melodinner“ nicht den Ma- man meinen, eine neue Platte von Death Unser Credo lautet: gen verderben, vielmehr könnte es etwas Cab For Cutie läge im Player. Das Album Ehrlich loben und mehr Pfeffer und Salz vertragen. klingt nach weiter Welt, nach Indie-Pop konstruktiv kritisieren. aus Montreal oder New York. Das Kunst- Label: Hannover Robust stück, das die High Queens vollbringen, Mehr davon: www.myspace.com/ liegt dabei in der Selbstverständlichkeit diefoederation ihres Sounds. „The Urban Songbook“ hört Birk Grüling man seine hannoversche Herkunft nicht an – ohne dass man das Gefühl hat, es versucht selbige bewusst zu vertuschen. FIBRE – VIEWING SOULSATELLITES Eine wahrlich reife Leistung!

Angefangen hat es mit Fibre bereits Label: High Time Recordings vor drei Jahren – in einer Gartenlaube Mehr davon: www.thehighqueens.com eines Vororts von Hannover. Später sind Marc Möllmann die vier Jungs dann zum Proben in ei- nen feuchten Bunker umgezogen (ein Fortschritt?). Dieses Jahr haben sie nun KJU: – NEON LIGHTS CARVE SHADOW endlich ihr Debütalbum veröffentlicht (ein Fortschritt!). Darauf sind zehn Indierock- Die Songs auf der Platte „Neon Lights songs zu finden, die sich hören lassen Carve Shadow“ erzählen allesamt vom

26 PLTN AT E KRITIK

Nachtleben in einer Großstadt, von verschiedenen Episoden und Gedan- DIARY ABOUT MY NIGHTMARE – ken – wobei es nicht um irgendwelche FORBIDDEN ANGER exzessive Abende gehen muss. Diese Art Konzeptalbum ist bereits die vierte Dass die Braunschweiger Diary About Platte der Band kju:, die sich 1999 in My Nightmare bei einem schwedischen Hannover gründete. Hannover scheint Label landen konnten, ist zwar zu weiten allerdings nicht die Inspirationsquelle ge- Teilen, aber nicht nur der Sängerin der wesen zu sein. Die Idee, alle Songs mit Band geschuldet. Antonie Mrusek lockt einem Thema zu verbinden, kam Sänger einen auf den Promobildern mit ihrem Lä- und Gitarrist Tobias Hartwig nämlich, als cheln und den blonden Haaren leicht auf er gerade in eine neue Stadt umgezogen eine falsche Fährte. Man muss sich an- war. Die schnellen Nummern des Albums schließend schon zweimal vergewissern, erinnern sehr an Billy Talent. Da sind die- dass es tatsächlich diese junge Frau ist, se Gitarrenriffs im Opener, diese nach die derartige Töne aus ihren Lungenflü- vorne drängenden Drums und vor allem geln presst. Zu extrem, zu tief, zu heiser die Stimme von Hartwig, oft kratzig und ordentlicher bis guter Alternative-Rock- kreischend wirkt der Gesang auf „Forbid- relativ hoch. Gerade bei „A Motorway Es- songs. Ein bisschen angestaubt zwar im den Anger“. Das Album überzeugt durch cape“, „The Art Of Gracious Living“ oder Sound, aber mit dem Herz auf dem rech- viel Härte. Das Rad des melodischen „Nights Out“ ist die Ähnlichkeit zu der ten Fleck. Death Metals erfindet die Band damit si- Rockgröße aus Kanada nicht zu leugnen. cher nicht neu. Ein Hingucker ist die Trup- Abwechslungsreich wird das Album durch Label: State Of The Art Records pe dennoch – zumindest kurzfristig. Und die etwas ruhigeren Stücke, wie zum Mehr davon: www.reebosound.de das nicht nur, weil an vorderster Front Beispiel „An Opposite Emergency“ oder Marc Möllmann eine Frau herumschreit. auch „The Only Saviour“, das die Platte gefühlvoll ausklingen lässt. Denn dort Label: Unexploded Records merkt man, dass die fünf Musiker auch FRAMES – MOSAIK Mehr davon: www.myspace.com/ anders können, ihnen die Alternative- damnmetal Rock-Schublade längst nicht ausreicht. Es ist erstaunlich: Diese instrumenta- Dorian Gorr Insgesamt ganz nett, aber alles irgendwie le Musik, die zart wie ein Schmetterling schon einmal da gewesen. in einer Brise aus verspielten, atmo- sphärischen Passagen aus den Boxen Label: Swell Creek schwebt, würde sich eigentlich prima Mehr davon: www.kju-music.de zum Abschalten und Träumen eignen. Für Claudia Hamburger das harmonische Eintauchen in eine Welt aus Klängen ist „Mosaik“, das Debüt der hannoverschen Frames, geradezu präde- REEBOSOUND – THIS IS REEBOSOUND stiniert, und doch macht mich die Musik auf Dauer nervös. Ein Gefühl, das sich Ihr wollt eure CD im Sven Missulis, der kreative Kopf zwischenzeitlich mal legt, dann wieder „Saitensprung“ rezensieren hinter Reebosound, erinnert optisch stärker wird. Das liegt an der Abstinenz an Kurt Cobain: Gleiche Frisur, gleicher eines Sängers, auf dessen Einsatz man lassen? Bart, ähnlicher Kleidungsstil. Auch in immer mal wieder intuitiv, jedoch ver- Dann schickt eure Platte seiner Musik lassen sich Parallelen zum gebens wartet und der in manch einem und dazugehöriges Anti-Helden aus Seattle heraushören. Moment das Album aufgewertet hätte. Informationsmaterial an: Dreckiger Gesang, verzerrte Knarzgitar- Dennoch ist auch ohne einen Fronter die ren – keine Frage, Missulis hat in seiner Musik nicht nur technisch überaus an- Redaktion „Saitensprung“ Jugend viel Grunge gehört. Kein Wun- spruchsvoll, sondern die meiste Zeit be- Institut für Journalistik und der also, dass sein Album ziemlich an schwerdefrei genießbar. die „Good Old 90s“ erinnert. Deshalb Kommunikationsforschung bietet „This is Reebosound“ zwar keine Label: SPV/Steamhammer Gunter Reus musikalische Feinkost, keine virtuosen Mehr davon: www.myspace.com/ Expo Plaza 12 Gitarrensoli oder gesangliche Großtaten framesband 30539 Hannover von Missulis, dafür aber einen Haufen Dorian Gorr

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Kann Musik so sehr mit dem Alltag verschmelzen, dass sie zur Sucht wird? Dass man eine Abhängigkeit verspürt, die man sonst nur von Betäubungsmitteln, Tabak oder Alkohol kennt? Laut einem schwedischen Gerichtsurteil ist das möglich. Roger Tullgren, 45-jähriger Heavy-Metal-Fan aus Südschweden, ist der vermutlich erste Mensch, dem von einem Psychologen eine Musiksucht attestiert wurde. Da ihn diese bei der Ausübung eines Berufs eingeschränkt habe, erhielt er über Jahre eine Erwerbs- minderungsrente vom Staat ausgezahlt. SÜCHTIG NACH HARTEM STOFF

Roger Tullgren Die Nägel sind schwarz lackiert. Um war er alt, als sein Bruder ihm beim Baby- das rechte Handgelenk sind unzählige sitten das erste Album von Black Sabbath bezog vom Bändchen gebunden, die in den verschie- vorspielte. „Ich erinnere mich da noch so densten Farben dokumentieren, auf wel- intensiv dran, als sei das erst gestern ge- schwedischen chen Musikfestivals ihr Besitzer schon ge- wesen. Er spielte mir ‚Black Sabbath‘ von Staat eine wesen ist. An allen zehn Fingern glitzern Black Sabbath vor, und ich saß dort wie Silber- und Goldringe. Es sind überwie- gebannt. So etwas hatte ich noch nie ge- „Heavy-Metal-Rente“ gend große, in das Metall eingearbeitete hört. Bei meiner Mutter liefen sonst nur Totenköpfe, die einen von den Händen ABBA und die Beatles. Was ich auf dieser aus anstarren. Keine Frage, Roger Tull- Vinylplatte hörte, war total anders. In dem gren fällt auf. Seine langen, schwarzen Moment wurde ich süchtig nach dieser Haare, in die rote Strähnen eingefärbt Musik“, ist er sich sicher. Was er selbst sind, wehen ihm über die breiten Schul- schon 1971 herausfand, bescheinigte tern. Seine Jeansweste ist übersät mit ihm 2007 auch ein schwedisches Gericht Aufnähern von Bandlogos. Roger Tullgren und gewährte ihm dadurch Bezug einer ist ein Heavy-Metal-Fan. Doch nicht nur Erwerbsminderungsrente. Dem Urteil irgendein Fan. Er ist der erste, der laut vorausgegangen war die Diagnose eines einem offiziellen psychologischen Urteil Psychologen, der dem damals 42-Jähri- süchtig nach Heavy Metal ist. gen attestierte, bei der Suche und Aus- übung einer Arbeit durch seinen Musikge- DIE LIEBE SEINES LEBENS schmack eingeschränkt zu sein, sodass der Staat helfend einschreiten müsse. Seit über vierzig Jahren hört Roger Schon Jahre vorher lebte Tullgren von Heavy Metal. Gerade einmal sechs Jahre der Sozialhilfe. Mehrere Jobs gab er nach

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Grinsen. So positiv wie er betrachtet das allerdings nicht jeder. Zwar berichtet Ro- „MÖTLEY CRÜE ger von unzähligen Heavy-Metal-Fans, die ihm daraufhin Fanpost schickten, doch FÄNGT GLEICH AN“ es meldeten sich auch viele kritische Wacken Open Air, im Juli. Größ- Stimmen. tes Heavy-Metal-Festival der Welt. Ich Die Argumentation der Kritiker ist brauche ein paar Sekunden, ehe mir dabei ebenso schlüssig wie rational. Der klar wird, dass gerade Roger Tullg- Konsum von Musik, so exzessiv er auch ren an mir vorbeigegangen ist. Seine sein mag, zählt für die meisten als Hobby. Jeanskutte ist übersät mit Rissen und Kritiker befürchten: Ein Urteil wie das im Löchern, mitleiderregende fransige Falle des Roger Tullgren öffne nun Tür und Fetzen hängen herunter. Ich wusste Tor für weitere Menschen, die behaupten, seit unserem Interview, dass er mit ei- abhängig von ihrer Freizeitbeschäftigung ner Reisegruppe hier sein würde. Doch zu sein. Erschwerend kommt für viele hin- ich hatte nicht damit gerechnet, ihm zu, dass Roger durch das Urteil in seinem Verhalten bestärkt werde. Eine Therapie bei rund 80.000 Fans tatsächlich über oder ein Entzug, wie man sie bei anderen den Weg zu laufen. „Roger?“, rufe ich Abhängigkeiten ärztlich anordnet, blieb dem hünenhaften Körper hinterher. Er bei ihm aus. „Es wurde damals über ei- dreht sich um. Sein Gehör funktioniert nen Entzug nachgedacht. Aber dazu kam also noch. Er erinnert sich an das Inter- es nie, weil der Fall so selten ist, dass es view, bedankt sich und drückt mir ei- dafür kein Entzugskonzept gibt“, so Ro- nen Bierbecher in die Hand. Mein Ein- ger. Doch ohnehin komme ein freiwilliger druck bestätigt sich: ein einfacher Kerl, Heavy-Metal-Entzug für ihn nicht in Frage. der sich nicht viel Gedanken macht – seiner Ausbildung als Koch auf, weil die- Er brauche diese Musik rund um die Uhr. se sich nicht mit dem von ihm gewählten „Ich bin süchtig danach. Ich kann keine es sei denn, es geht um Heavy Metal. Lebensstil vereinbaren ließen. Er weiger- andere Musik hören. Wenn ich auf Par- Aber gut gelaunt und sehr nett. Vor te sich stets, sein Erscheinungsbild wäh- tys bin und es läuft etwas anderes, dann zwei Jahren habe er keine Karte für das rend der Arbeitszeit anzupassen, hörte höre ich entweder Musik auf meinem Festival gehabt und sei trotzdem rein- bei der Arbeit Musik und ging auf bis zu MP3-Player, oder ich fahre nach Hause.“ gekommen, weil die Security-Kräfte 300 Konzerte pro Jahr, was vermehrt zu Selbst im Schlaf brauche er Heavy Me- ihn erkannt hätten, prahlt er grinsend. Arbeitsausfällen führte. Das Gutachten tal. Ein neben seinem Bett aufgebauter Sonderbehandlung eben. „Ich weiß, wo kam schließlich zu dem Schluss, dass es CD-Spieler versorge ihn die ganze Nacht wir noch ein Bier bekommen können.“ sich bei diesem Verhalten um eine sozial- hindurch mit den harten Klängen. „Ohne medizinische Behinderung handele. „Ich Musik habe ich Probleme einzuschlafen Er zieht mich zum VIP-Campingplatz, war damals selbst verblüfft von dem Ur- und schlafe unruhig“, begründet Roger wo uns gleich mehrere angetrunkene teil“, gibt Roger zu, der nun 25 Prozent sein ungewöhnliches Verhalten. Fans auf ein frisches Pils einladen. seines Einkommens vom Staat bezog, Roger trinkt zügig, während er darüber während er als Küchenhilfe in einem Res- IN DEUTSCHLAND NICHT MÖGLICH philosophiert, dass das neue Album taurant arbeitete. von Ozzy Osbourne stärker sei als alle Dass das Urteil in Schweden gefällt bisherigen. Irgendwann wird er unru- In seiner Stimme schwingt eine Men- wurde, verwundert nicht. Das Land ist hig. „Mötley Crüe fängt gleich an“, sagt ge Stolz mit, wenn er von den Untersu- bekannt für seine liberale Rechtspre- er nach einem Blick auf seine Handy- chungen und dem Urteil des Psycholo- chung, die schon einige andere Skurrili- gen erzählt. Als ihm das Attest für das täten zutage brachte. In einem anderen uhr. Gemeinsam gehen wir zurück zur Gericht ausgehändigt wurde, habe seine Land sei ein solcher Fall nicht denkbar, Bühne. Roger redet noch immer über erste Frage gelautet, ob er eine zweite ist sich auch Roger Tullgren sicher. „Mich Ozzy Osbourne. Selbst als das Konzert Kopie bekommen könne. Die hängt heu- rief eines Tages der norwegische Premi- anfängt und die Menge um uns herum te über seinem Bett. „Für mich war dieses erminister an. Er erklärte mich für ver- auf- und abhüpft. Irgendwann verliere Urteil das Paradies. Ich liebe diese Musik, rückt und sagte mir, dass so etwas in ich ihn dann aus den Augen. und das wurde mir nun auch offiziell be- Norwegen niemals möglich wäre“, erzählt DG scheinigt“, so Roger mit einem fröhlichen Roger. Und auch in Deutschland scheint

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ein solches Urteil unmöglich. Denn hier- sik liege keine medizinische Grundlage um Leistungen der Krankenversicherung zulande gilt Musik nicht als Stoff, der vor, und entsprechend sei keine Rehabi- handeln. Allerdings müsse in einem sol- eine Abhängigkeit bedingt. Deutschland litationsmaßnahme möglich. chen Fall der Betroffene auch bereit sein, hält sich an die von der Weltgesundheits- sich behandeln zu lassen, um eine Verän- organisation 1957 herausgegebene De- Zu einem ähnlichen Schluss kommt derung seines Verhaltens anzustreben. finition. Demnach sei eine Abhängigkeit auch Renate Thiemann, Pressereferentin „Offensichtlich handelt es sich bei dem immer auch von einer Intoxikation be- beim Deutsche Rentenversicherung Bund Fall von Roger Tullgren aber nicht um eine gleitet. Als ein Stoff, der eine solche Ver- (DRV). In Deutschland sei eine Erwerbs- Krankheit mit Leidensdruck, sondern giftung herbeiführt, zählt Musik jedoch unfähigkeitsrente in einem Falle wie dem eher um persönliche Vorlieben und einen nicht. „Es handelt sich dabei um eine von Roger Tullgren nicht denkbar. „Eine Lebensstil“, vermutet Thiemann. Störung der Selbstkontrolle. In Bezug auf Musiksucht ist nach dem derzeit gültigen Musik haben wir damit noch nie zu tun Klassifikationsschema keine anerkannte LEIDENSCHAFT STATT gehabt, aber es wird derzeit viel über pa- Diagnose. Musik wird von den bei uns LEIDENSDRUCK thologisches Glücksspiel diskutiert, das zuständigen Ärzten nicht als Suchtmit- vielleicht nach einem ähnlichen Muster tel anerkannt. Deswegen sind staatliche Mit ihrer Vermutung hat Renate Thie- funktioniert. Bisher gibt es jedoch unter Zuschüsse nicht möglich. Grundsätzlich mann Recht. Zumindest gewinnt man die- den Experten bei diesen Erkrankungen wäre es aber vorstellbar, dass sich hin- sen Eindruck, wenn man sich mit Roger keinen Konsens darüber, wie man damit ter einem musiksüchtigen Verhalten eine Tullgren unterhält. Der 1,90 Meter große verfahren soll“, so Christa Merfert-Diete, psychische Erkrankung verbirgt, die Leis- Schwede zelebriert sein Dasein als Hea- Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und tungen von Sozialversicherungsträgern vy-Metal-Fan mit jeder Faser seines täto- Prävention bei der Deutschen Hauptstel- nach sich ziehen könnte“, erklärt Thie- wierten Körpers. Von Leidensdruck keine le für Suchtfragen (DHS). Im Falle der Mu- mann. Dabei würde es sich vorranging Spur. Ganz im Gegenteil: Roger genießt seine Sonderbehandlung durch andere Heavy-Metal-Fans. Zwar gibt es auch un- ter den Anhängern der harten Klänge viele Kritiker, doch hat sich Tullgren durch die Suchtdiagnose zu einer Kultfigur für viele, vor allem schwedische Heavy-Metal-Fans, verwandelt. Aus diesem Status schlägt er mittlerweile sogar Kapital und erschuf sich seinen „absoluten Traumjob“: Nach- dem das Restaurant, in dem er als Kü- chenhilfe angestellt war, zugemacht hatte, fing er an, Festivalreisen zu veranstalten. „Ich organisiere große Trips mit anderen Heavy-Metal-Fans zu Konzerten und Fes- tivals. Ich plane alles, kümmere mich um die Formalitäten, lege auf der Hin- und Rückfahrt Musik auf und mache mit den Leuten vor Ort viel Party“, erklärt Roger seine neue Berufung. Viel Geld verdiene man damit zwar nicht, aber es komme so viel herum, dass er seit Anfang des Jahres nicht mehr auf das Geld des Staates ange- wiesen sei. „Ich schaue jetzt erstmal, wie das diesen Sommer läuft, und sehe mich dann nach weiteren Jobs um. Ich habe ja auch drei Kinder. Meine Freundin arbeitet als Köchin, sodass genug Geld da ist. Not- falls würde ich aber auch wieder auf die staatliche Unterstützung zurückgreifen, wenn ich dafür meinen Traum weiterleben kann.“ Dorian Gorr

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„DRB E AUM MUSS JETZT BRENNEN!“

18:30 Uhr. Die Generalprobe beginnt. In Kutten gekleidete Menschen gehen links und rechts an den Sitzbänken vor- bei und stellen sich auf. Die Scheinwerfer gehen an, der Chor beginnt zu singen. „Halt! Stopp! So geht das nicht!“ Abrupt endet die Musik, und ein Mann in der Mitte der riesigen Kirche spricht ärger- lich in ein Mikrofon. „Ihr singt so, als ob ihr beim Zirkus arbeitet oder auf einem Jahrmarkt, und die Aufstellung gefällt mir so auch nicht!“ Noch stehen die Sänge- rinnen und Sänger am Anfang der Ge- neralprobe für das Musical „Children of Eden“, und kaum einer stört sich daran, dass die wichtigste Probe schon nach un- gefähr 45 Sekunden beendet wird. Auch wenn dies bedeutet, dass die gut fünfzig Chorsängerinnen und -sänger wieder alle zurück in den Backstagebereich müs- sen. Wenn man den Raum neben der Bühne in einer Kirche überhaupt so nen- nen kann. „Bitte Ruhe! Alles auf Anfang. Wir fangen nochmal an!“

Die nach oben ansteigende Bühne befindet sich im hinteren Teil des Kirchen- schiffs, der Betrachter hat den Altar in sei- nem Rücken. Zwischen den Säulen des mächtigen Gotteshauses sind große me- tallene Stahlträger angebracht, an denen Scheinwerfer zur Beleuchtung der Bühne befestigt sind. Nicht weit vom Altar steht ein großes Mischpult, mit vielen Reglern und Bildschirmen für Licht und Ton. Auch wenn die technischen Einrichtungen zu- nächst wie Fremdkörper in den heiligen Hallen wirken, so verschmelzen sie doch nach und nach zu einer Einheit. „Ich finde das Gesamtbild sehr harmonisch. Es ist nicht so, dass man reinkommt und das Gefühl hat, dass ein Fremdkörper auf die

Was passiert, wenn man ein Musical nicht in einem Theater, sondern in einer Kirche aufführen will? Was passiert, wenn diese Kirche auch noch Weltkulturerbe ist? „Saitensprung“ hat die Generalprobe für das Musical „Children of Eden“ in St. Michaelis in Hildesheim besucht und hinter die Kulissen der Produktion geschaut.

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Kirche einwirkt“, so Steffen Lebjedzinski, geschrieben werden. Für die Musicalpro- was zu beanstanden ist. Nichts dürfe ihr Ausstattungsleiter des Theaters für Nie- duktion in Hildesheim wurden die Orches- entgehen, das sei wichtig für die Nach- dersachsen (TfN). Der Aufführungsort trierung und die deutsche Übersetzung bearbeitung. Mit dem Amerikaner Craig sei aber auf jeden Fall eine große Her- des Textes vom Direktor der MusicalCom- Simmons hat das Hildesheimer TfN einen ausforderung für alle Beteiligten ge- pany, Christian Gundlach, übernommen. namhaften Musical-Regisseur gewinnen wesen. Das Bühnenbild musste so in- Gerade das Textverständnis ist unge- können. Er selbst war jahrelang Schau- tegriert werden, dass der Raum an sich heuer wichtig, denn obwohl das Musical spieler, verständlich daher sein Perfekti- nicht gestört wird. „Eine Kirche ist „Children of Eden“ kaum jemandem ein onismus. Zwei Techniker eilen von hinten nicht dafür gedacht, dort Theater Begriff sein dürfte, so ist doch zumindest auf die Bühne und versuchen den Baum zu spielen, und die Technik und die die Geschichte jedem bekannt: Es ist die der Erkenntnis zum Leuchten zu brin- Metallgerüste sind normalerweise na- Geschichte der Schöpfung, die Geschich- gen. Es wird unruhig. Die Stahlkonstruk- türlich auch nicht für die Kirche be- te von Adam und Eva, die Geschichte von tion mit weit ausladenden, astähnlichen stimmt.“ Kain und Abel. Einen besseren Rahmen Armen wird an einer markierten Stelle als eine Kirche und noch dazu einen der noch einmal mit Brennflüssigkeit verse- Das Musical stammt aus der Feder schönsten Sakralbauten des Mittelalters, hen. Endlich brennt der Baum. Also noch von Stephan Schwartz, der in den 90er der zum Weltkulturerbe der Unesco er- einmal von vorne. Die Szene läuft. Jetzt. Jahren sowohl die englischen Texte klärt wurde, kann es dafür wohl kaum Jetzt müsste der Baum brennen. „Zu spät. schrieb, als auch die Musik komponier- geben. Schon wieder zu spät!“ Noch einmal. te. Musikalisch lässt sich sein Werk nur Warum es alle so gelassen sehen, dass schwer einordnen. So gibt es große Chor- „Schläfst du oder was?“, tönt es die Generalprobe keinesfalls reibungs- sätze wie in einer Sinfonie, dann Passa- durch das Mikrofon. „Warum brennt der los verläuft? „Generalproben müssen gen mit Gospelgesang und schließlich Baum nicht? Der Baum muss jetzt bren- ja schiefgehen, da sind wir Theaterleute sogar rockige Nummern. Ursprünglich für nen!“ Links neben dem wütenden Re- wirklich sehr abergläubisch“, sagt Ausstat- eine zwölfköpfige Band gedacht, musste gisseur Craig Simmons schreibt Regie- tungsleiter Steffen Lebjedzinski und die Partitur nun für großes Orchester um- assistentin Anja Telloke alles emsig auf, grinst.

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„Danke! Wir machen 30 Minuten Pau- und laut. Schon bald geht die zweite Sogar im se, dann geht es pünktlich weiter!“ Der Probenhälfte los, und der Chor stellt erste Akt ist geschafft, und ein großes sich bereits auf. Tontechniker Markus Weltkulturerbe Gewusel beginnt. Während sich die einen Folberth eilt vorbei und hat kaum Zeit draußen sonnen und entspannen, versu- für ein paar Worte: „Die Akustik in einer gehen chen die anderen technische Probleme Kirche ist wegen der Schallverzögerung Generalproben zu lösen. Die Probenarbeit sei insgesamt sehr schwer einzuschätzen. Wir müs- schon sehr anstrengend, sagt Charlotte sen dennoch versuchen, Textverständ- schief aus dem Chor, während sie sich mit ihren lichkeit und guten musikalischen Klang jungen Kolleginnen auf einer Bank vor der zu gewährleisten. Das ist eigentlich das Kirche sonnt, aber man arbeite schließ- Hauptproblem.“ Sprach’s und rauscht lich auf etwas hin, und jedes Mal bekom- davon. Für Maureen Wyse, die Sängerin me sie aufs Neue eine Gänsehaut. Bei der Eva, ist die Produktion etwas ganz Be- den aufwändigen Probenarbeiten sind sonderes. „Die Magie des Ortes verpasst keineswegs nur Profis am Werk. Gemein- einem direkt bei den ersten Tönen eine sam mit den Sängern und Darstellern Gänsehaut. Die Komposition geht sofort der TfN Musical Company stehen rund unter die Haut und ins Herz“, schwärmt 50 Hildesheimerinnen und Hildesheimer sie. „Das Musical erzählt eine Geschich- als Chor mit auf der Bühne und überneh- te, die jeden berührt und die jeder kennt: men die Rolle des singenden Erzählers. Eltern, Kinder, alte und junge Menschen.“

In der Michaeliskirche geht es weniger „Alle auf ihre Positionen. Es geht wei- entspannt zu. Dirigent Dominik Reinhard ter!“ Jetzt kann man nur noch flüsternd sitzt in der zweiten Reihe und ist in sei- ein paar Fragen an die Souffleuse stel- ne Partitur vertieft. Einige Stellen schaue len, die schon wieder ihren Platz in der er sich vor dem zweiten Akt gerne noch ersten Reihe eingenommen hat. Wie einmal genauer an. Seine Aufgabe ist es, oft es denn vorkomme, dass sie ein- den Chor zu dirigieren und auch in den greifen müsse? Charlotte Rimpler lacht richtigen Momenten den Knopf für das hinter vorgehaltener Hand: „Na ständig. Orchester zu drücken. Ein Live-Orchester Ich bin direkt mit den Ohrstöpseln der gibt es nämlich nicht. Die gesamte Musik Sänger verbunden, daher klappt das al- ist auf einer Festplatte gespeichert, und les reibungslos, und es fällt nicht auf.“ Dominik Reinhard dirigiert tatsächlich auch, wenn der Chor nicht singt und nur „Ruhe jetzt! Die Probe geht wei- die abgespeicherte Musik zu hören ist. ter!“ tönt es durch den Lautsprecher, Ob er es nicht komisch und unnötig finde, und es klingt nicht so, als ob man hier Musik, die von einer Festplatte kommt, diskutieren könnte. Schnell verschwin- zu dirigieren? Keinesfalls. Gerade hier de ich von der Bildfläche und verlasse sei es enorm wichtig, da die Hauptdar- die Michaeliskirche. Draußen ist die steller sein Dirigat auf Bildschirmen Sonne schon untergegangen. Wie lan- über dem Publikum verfolgten und nur ge die Probe wohl noch dauern wird? so ihre Einsätze präzise singen könnten. „Bis Mitternacht bestimmt!“, sagt ein Tontechniker und eilt in die Kirche. Neben der Bühne führt eine Tür in den Backstagebereich. Hier ist es voll Katharina Rupprich

35 Mehr als die Hälfte der Bevölkerung alle westlichen Jugendkulturen, aber vor KICKFLIP in Kabul und Umgebung ist jünger als 16 allem die Musik aus den USA und Europa, Jahre. Ihr Alltag besteht aus Zerstörung waren unter der Herrschaft der Taliban und Armut. Doch auch Hoffnung spielt jahrelang verboten. Dementsprechend eine große Rolle in ihrem Leben, die Post- groß ist heute die Sehnsucht danach. IN EIN Kriegs-Ära ist ein Aufbruch in bessere Zei- Doch Skateistan sieht sich selbst als ein ten. Diese Aufbruchstimmung spürt 2007 soziales Projekt, das nicht missionieren, auch Oliver Percovich. Er hat seinen Job in sondern sich gezielt den Ländersitten an- BESSERES einer Bäckerei aufgegeben und sucht sein passen will. Um eine eigene Jugendkultur Glück in Kabul. Immer im Gepäck hat er vor Ort zu stärken, geben heimische Leh- sein Skateboard, mit dem er ordentlich für rer zusammen mit Skateistan-Mitarbeitern LEBEN Aufsehen sorgt. Dieses Brett mit Rollen Musikworkshops, organisieren Konzerte hat man hier noch nicht so oft gesehen. mit einheimischen Bands und laden zum In einem alten Schwimmbad beginnt der Theaterspielen ein, meist in einer der Deutsch-Australier damit, Jugendlichen 49 verschiedenen Landessprachen. Die die Faszination Skateboard näher zu brin- Spannbreite der Musikworkshops reicht Skateboard am Hindukusch, gen. „Kinder brauchen Platz, um Kind zu von Unterricht in traditionellen afghani- Hiphop in der Township: sein“, weiß Percovich. Dieser Platz ist aller- schen Instrumenten bis hin zu Kursen Die deutsche Stiftung dings im von Trümmern dominierten Stra- über DJ-ing. „Skate-Aid“ widmet sich dem ßenbild sehr knapp. Damit war die Idee für VIEL UNTERSTÜTZUNG UND Kulturaustausch auf Rollen. das Hilfsprojekt „Skateistan“ geboren. WICHTIGE KOOPERATIONEN In Krisengebieten entstehen Percovich möchte das Bedürfnis nach sportlich-musikalische Spaß, Sport und einer Zeit ohne Sorgen Das Konzept hat inzwischen weltweit Hilfsprojekte, die so stillen. Neben Musik und Sport ist Skate- Unterstützer. Einer von ihnen ist die deut- wahrscheinlich einmalig sind. boarding eine seiner großen Herzensan- sche Skateboard-Legende Titus Dittmann. gelegenheiten. „Skateboarding ist eine „Ich habe von Skateistan gehört und war unbelastete Kultur und noch nicht so stark sofort Feuer und Flamme. Ein Besuch im von Männern dominiert“, erklärt Max Kabuler Waisenhaus hat mir die huma- Henninger vom Deutschen Entwicklungs- nitären Möglichkeiten aufgezeigt.“ Seit dienst, der das Projekt unterstützt. Fast 2009 unterstützt Dittmann Percovichs

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Hilfsprojekt. Schließlich hat er selbst die musikalische Kooperationen wie das En- rung für uns und hoffentlich auch für die Stiftung „Skate-Aid“ gegründet, die Spen- gagement von „Blumentopf“ sinnvoll. Die Kinder. Doch ein dauerhaftes Projekt, wie den sammelt und bei medialen und logis- bayerischen Rapper haben für Straßen- es eigentlich geplant war, haben wir nicht tischen Kontakten hilft. Ein gutes Beispiel kinder aus Kapstadt mehrere Tage lang realisieren können.“ Sein Bandkollege Ro- dafür, was Dittmann mit seiner Skate-Aid- Skate- und Hiphop-Workshops gegeben. ger Manglus pflichtet ihm bei: „Das hat uns Stiftung bewegt, ist die Arbeit mit jungen Unter anderen ließen sie sich die selbst gezeigt, dass man sehr gut über die Län- Mädchen im afghanischen Karoq. Eigent- geschriebenen Texte der Kinder zeigen der Bescheid wissen muss, um etwas zu lichen ist Mädchen fast jede sportliche und bastelten mit ihnen an den passen- verändern. Nur in Europa sitzen und gute Aktivität in dem streng islamischen Land den Beats. Wegen der Zollbestimmungen Ideen haben reicht da nicht. Aber Skate- verboten. „Es steht wohl nicht im Koran, kamen leider nicht alle Workshop-Mate- Aid wird weiter dort sein und Nachhaltiges dass Skateboarding verboten ist“, sagt rialien an. Aber Blumentopf machte die schaffen.“ Ähnliche Kooperationen findet Titus Dittmann mit einem verschmitzten Not zur Tugend: „Wir sind dann ein paar auch Oberhellmann sehr passend: „Wir Grinsen auf den Lippen. Einzige Auflage Tage lang in die Township gefahren und wollen so etwas öfter machen, am liebs- bei diesem Projekt: Die Mädchen dürfen haben dort mit den Kindern gerappt und ten in Tansania. Allerdings sind wir noch in beim Fahren nicht gesehen werden. Also sind Skateboard gefahren“, erzählt Cajus der Planungsphase.“ baute Skate-Aid einfach eine zwei Meter Heinzmann. „Es war eine schöne Erfah- hohe Mauer um die Anlage, damit sich die Mädchen unbeobachtet ihrem neuen Hob- by widmen können.

Die Outdoor-Skate-Anlage im Karoq ist nur eines der Projekte. Die Hilfsorga- nisation hat bereits viele vergleichbare Vorhaben in Vietnam, Südafrika und Tan- sania angeschoben. Dabei ist die Vernet- zung mit anderen Organisationen wie zum Beispiel „MyLife“ oder eben „Skateistan“ sehr wichtig. Mylife baute in Kapstadt un- ter anderem eines der Redbull-Tonstudios. Hier erhalten Diskjockeys aus den Town- ships die Möglichkeit, eigene CDs profes- sionell zu produzieren. Dittmann ist von der Zusammenarbeit angetan: „Indem wir unsere Ressourcen gut zusammenlegen, können wir einiges mehr bewegen.“

MUSIK SPIELT EINE GROSSE ROLLE

Der Musik kommt bei den Konzep- ten eine besondere Bedeutung zu, denn Skateboardfahren ohne musikalische Un- termalung ist für viele Jugendliche kaum denkbar. „Skatenboarding hat viel mit Rhythmus zu tun“, erklärt Torben Ober- hellmann, bei Skate-Aid für Aktionen in Af- rika zuständig. Anders als in Afghanistan, spielen in den Townships Südafrikas die westliche Musik und andere Jugendkul- turen eine große Rolle. Für viele der Kin- der ist zum Beispiel Hiphop sehr präsent und eine Möglichkeit, ihrem harten Alltag zu entfliehen. „Afrika ist musikalisch wie kaum ein anderer Kontinent“, schwärmt Oberhellmann. Darum sind auch hier

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MIT DEM MÄUSE-AUTO ZUM KULTUR- AUSTAUSCH

In Afrika will Skate-Aid sein Engage- ment ähnlich ausbauen wie in Afgha- nistan. Es geht darum, Kulturkluften zu überwinden, und nicht um Belehrung mit erhobenem Zeigefinger. Immerhin ist das „Mäuse-Auto“, wie das Skateboard in Af- ghanistan genannt wird, für Dittmann ein „sinnstiftendes Instrument, um mit Kindern und Jugendlichen auf der gan- zen Welt zu arbeiten“. So sinnstiftend, dass inzwischen sogar Väter ihre Kinder in Kabul zum Skaten anmelden. Für die Skateboard-Legende kein Wunder: „Skate- boardfahren ist immerhin die stärkste Ju- gendkultur, die je aus dem Sport heraus entstanden ist. Nur bei Musikszenen gibt es noch Vergleichbares.“ Solche Erfolge sind es, die der Skate-Aid-Stiftung Recht geben. „Was sollen wir auch Schulen bau- en oder Millionen Euro sammeln? Dafür gibt es genug tolle Organisationen“, so Dittmann. „Manchmal ist es besser, für wenig Geld eine Rampe zu bauen. Wenn ein paar Kinder dann in der Halfpipe und bei Musik ihren Alltag voller Trümmer und Sorgen hinter sich lassen können, dann wurde schon ein großer Beitrag ge- leistet.“

Birk Grüling

MUSIK UND ENTWICKLUNGSHILFE

Die Einsatzmöglichkeiten von Musik in der Entwicklungshilfe sind breit ge- fächert. Einerseits können Konzerte oder CDs helfen, auf Projekte aufmerksam zu machen. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist „Live Aid“. Erstmals fand dieses Benefizkonzert zugunsten Afrikas 1985 statt. Neben dem Organisator Bob Geldorf traten Musiklegenden wie Elton John, The Who oder Paul McCartney auf. Das Konzert wurde 1989 und 2004 mit anderen Musikern wiederholt. Ein ande- res Beispiel ist die Organisation „Viva Con Agua“, die auf Festivals und Konzerten Becher sammelt und mit den Pfanderlösen Brunnenprojekte in Afrika unterstützt. Musik spielt aber auch in der aktiven Entwicklungshilfe eine große Rolle. So will zum Beispiel die Organisation „MyLife“ Straßenkindern die Chance geben, ihr Leben neu zu gestalten und Teil der Kulturszene zu werden. In Kooperation mit Don Bosco hat MyLife in Namibia Jugendzentren aufgebaut, in die sich die Stra- ßenkinder zurückziehen können und wo sie Hilfe bei der AIDS-Prävention und der Arbeitssuche erhalten. Musikalische Bildung macht hier einen großen Teil der täglichen Arbeit aus. BG

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Nihs c t geht mehr

Für viele Studierende, die frisch an die Musikhochschule kommen, gibt es keine Alternative zum Berufswunsch „Musikerin“ oder „Musiker“. Oft arbeiten sie schon während der gesamten Kindheit an ihrer Laufbahn. Doch dass das Musikerdasein erhebliche Berufsrisiken mit sich bringt, wird oft vernachlässigt – auch während der Ausbildung. Wenn Musiker dann nicht mehr in der Lage sind zu spielen, kann das zu einer Lebenskrise führen.

Bis vor einem Jahr hat Michael Brand wann, als nichts mehr half, wandte er noch Posaune studiert. Jetzt ist er an der sich an Prof. Dr. Eckart Altenmüller vom Fachhochschule Köln für Elektrotechnik Institut für Musikermedizin an der Hoch- immatrikuliert. Kurz vor Abschluss seines schule für Musik, Theater und Medien Musikstudiums in Köln musste er sein Le- Hannover (HMTMH). Der diagnostizierte ben auf den Kopf stellen, denn er hatte bei Michael eine fokale Dystonie. Von die- gemerkt, dass sich sein Spiel nicht mehr ser Krankheit, die auch „Musikerkrampf“ verbesserte. Es verschlechterte sich so- genannt wird, ist circa ein Prozent aller gar so weit, dass er bestimmte Tonberei- Musiker betroffen. Dabei handelt es sich che nicht mehr spielen konnte: „Ich habe um eine Störung lang eingeübter, feinmo- gemerkt, dass bestimmte Töne über- torischer Bewegungsabläufe, die immer haupt nicht mehr ansprachen. Es gab da dort auftritt, wo Musiker sie gerade nicht eine Oktave, die bei der Bassposaune re- gebrauchen können: bei Pianisten und lativ wichtig ist und normalerweise ohne Streichern in den Fingern, bei Bläsern in viel Üben einfach geht, und genau die ist der Lippenmuskulatur. komplett weggebrochen.“ Michael hat einiges ausprobiert, zum Davon betroffen sind in erster Linie Beispiel mehrere Monate nur Töne aus- Männer jüngeren bis mittleren Alters, die gehalten und Tonleitern gespielt. Irgend- klassische Musik spielen, denn sie er-

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laubt die geringsten Freiheiten: In den No- wenig Ahnung von dem Thema hatten, ten ist bis ins kleinste Detail beschrieben, egal wie nett und wie gut sie sein moch- wie die Töne zu spielen sind. Eine fokale ten. Das war bei mir ein absolutes Ta- Dystonie zu therapieren, ist sehr kompli- buthema im Unterricht. Da kam niemals ziert und langwierig. Michael hat die Diag- ein Professor auf die Idee, dass ich eine nose als Zeichen aufzuhören interpretiert fokale Dystonie haben könnte.“ Dass der und die Posaune an den Nagel gehängt. Musikergesundheit an der Hochschule „Das ist natürlich ein blödes Gefühl, weil für Musik, Theater und Medien Hannover man in gewisser Weise scheitert und der eine so große Bedeutung beigemessen Traum, den man hatte, flöten geht. In der wird, sieht er als „absolute Ausnahme“. Zeit ging es mir echt schlecht.“ BIS ZU 120 DEZIBEL Seine Kommilitonen kannten seine Probleme, Michael hat daraus nie ein Genau an dieser Hochschule wurden Geheimnis gemacht. Denn dass man mal im vergangenen Sommer allerdings auch eine Krise hat, könne jeder Musiker nach- hitzige Debatten um die Gesundheits- vollziehen. Eckart Altenmüller weiß aber, vorsorge der Studenten geführt. Anlass dass viele erkrankte Musiker versuchen, gab das Orchesterprojekt mit „Le Sacre ihre Probleme geheim zu halten. Diese du Printemps“ von Igor Strawinsky, das gesundheitlichen Belastungen können ein sehr großes Orchester auf der Büh- ganz unterschiedlicher Art sein – kör- ne versammelt. Bei diesem Werk kann perliche Beschwerden durch die Haltung es zu Lärmbelastungen von bis zu 120 (oder den Transport) des Instruments, Dezibel kommen; das entspricht dem aber auch psychische Probleme wie etwa Geräuschpegel einer Baustelle mit Press- Auftrittsangst (siehe den Beitrag von Julia lufthammer. Die Musiker waren dem zwei Wenn ÜBEN zu Müller in diesem Heft). „Diese Tabuisie- Wochen lang mehrere Stunden pro Tag rung ist abhängig vom Klima in einer be- ausgesetzt. gesundheitlichen stimmten Gruppe, einem Orchester oder Lärmschwerhörigkeit ist die Krank- einer Instrumentalklasse“, sagt Altenmül- heit, die die meisten Musiker betrifft. In Problemen führt ler. „Es gibt tatsächlich Gruppierungen, vielen Orchestern gibt es interne Arbeits- wo nicht darüber geredet wird, auch weil gruppen, die sich mit der Vorbeugung die Angst besteht, dass man als weniger von Gehörschäden befassen, denn jedes leistungsstark eingeschätzt wird.“ Der Jahr registriert die Deutsche Orches- Marktwert steige mit der Belastbarkeit, tervereinigung zehn Fälle von Hörsturz. die auch zunehmend eingefordert werde: Krankenversicherungen kalkulieren Ge- „Der ständige Wettbewerb verlangt, dass hörschäden als Berufsrisiko für Musiker man nicht nur ein toller Musiker ist, der al- ein. Daher beantragte der AStA der Hoch- les kann, fröhlich wirkt und gut aussieht, schule beim Präsidium eine finanzielle sondern man muss auch bereit sein, ein- Unterstützung für jene Studenten, die zuspringen und mal kurz mit dem sich einen speziell angefertigten und indi- die Nacht durchzufliegen, um dann direkt viduell angepassten Hörschutz anschaf- zu proben. Das sind alles wahnsinnig an- fen wollen. Diese „Otoplastiken“ haben strengende Dinge, aber genau das spielt den Vorteil, dass sie alle Frequenzen heute eine große Rolle.“ gleichmäßig abdämpfen, sodass ein Mu- sizieren mit Hörschutz gut möglich ist. Für Altenmüller appelliert in seinen Vor- den AStA waren sie die einzige sinnvolle lesungen daher an die Studenten, einen Lösung: „Wir machen hier keine halben Ausgleich zum Üben zu finden. Michael Sachen“, so Christian Zimmer, Referent hatte während seines Studiums an der für Öffentlichkeitsarbeit, „außerdem ist Würzburger und der Kölner Musikhoch- das Geld dafür durch die Studiengebüh- schule keine solchen Vorlesungen und ren vorhanden.“ fand sich auch im Unterricht schlecht beraten: „Das Problem während meines Den Antrag auf eine Teilfinanzierung Studiums war, dass die Professoren sehr lehnte der Senat jedoch ab. Die Hochschu-

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le messe dem Thema Gehörschutz zwar eine „hohe Wichtigkeit“ bei, erklärt Präsi- dentin Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann, könne aber nicht mehr als eine „vernünf- tige Grundversorgung“ mit schlichteren und preiswerteren Ohrstöpseln leisten. Die Landeshaushaltsordnung verpflichte dazu, möglichst kostengünstig zu wirt- schaften. Das gelte besonders für Aus- gaben aus Studiengebühren. Hörschutz sei außerdem ein individuelles Problem, das nur einen geringen Prozentsatz der Studierenden der HMTMH betreffe. Eck- art Altenmüller findet ebenfalls, dass eine Otoplastik zwar „eine lohnenswerte“, letztlich aber „private Investition in die ei- gene berufliche Sicherheit“ sei. Immerhin soll es die preisgünstigeren Ohrstöpsel künftig an der HMTMH zu kaufen geben – auch wenn der AStA noch nicht so recht daran glauben will. Maya Stockmann

ICH Kann nicht! Auftrittsangst bei musikern

Für Profi-Musiker gehört der Umgang gentlich sicher gekonnt wird, ist plötzlich mit Lampenfieber und Stress zum Alltag. nicht mehr abrufbar.“ Das Hirn ist dann Konzert, Probespiel und Wettbewerb sind wie blockiert. Es signalisiert Gefahr, und Prüfungssituationen, in denen es gilt, auf- der von Auftrittsangst ergriffene Mensch wändig Erlerntes mit sehr großer Perfekti- denkt an Flucht und an wenig anderes. on wiederzugeben. Manch einer wird mit dem enormen Druck nicht fertig. Es dro- So wird von dem legendären Pianisten hen Blackout und Panik-Attacken – und Vladimir Horowitz berichtet, dass er bei damit der Einstieg in einen Teufelskreis: seinem Wiederanstrittskonzert in der Car- Angst vor der Angst. negie-Hall im Jahre 1965 regelrecht von seinem Manager auf die Bühne hinausge- Martha Argerich leidet daran, Horo- schoben werden musste – ihm selbst ver- witz tat es auch. Auftrittsangst und Lam- sagte der Wille zum Auftritt. Horowitz hat- penfieber sind für die berühmtesten und te zuvor zwölf Jahre lang keinen einzigen erfolgreichsten Musiker ein Thema. „Die Ton vor Publikum gespielt. Tourneemüde Routine hilft“, weiß Herwig Tachezi, So- und entnervt von dem Erwartungsdruck, locellist des Concentus Musicus Wien. der auf ihm lastete, war sein Horror vor Wenn der Ablauf einer Handlung oft ge- Konzerten ins Unerträgliche gewachsen. nug erprobt und durchgeführt wurde, ist Im berstend vollen Saal hatte sich die er im Hirn so gut eingeschliffen, dass Künstlerprominenz von Igor Strawinsky alles wie von selbst „ablaufen“ kann. bis Rudolf Nurejew, von Leopold Stokows- Aber auch das funktioniert nicht immer. ki bis Leonard Bernstein versammelt. Und „Wenn Angst ins Spiel kommt“, erklärt mit dem Publikum und der Stille vor dem Tachezi weiter, „wird der menschliche ersten Ton war in Horowitz plötzlich auch Organismus unberechenbar. Das, was ei- wieder die Angst vor dem Versagen da.

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Aus solch einem hohen Druck er- wächst nicht selten ein ernsthaftes psy- chisches Problem, das die Musiker bei der Ausübung ihres Berufs behindert oder diese gar unmöglich macht. Doch woher bekommen sie Hilfe? Viele leiden- de Musiker begeben sich in Psychothera- pie, die jedoch nicht auf sie spezialisiert ist. Es gibt nur wenige Psychologen und Mediziner, die sich explizit mit dem The- ma Auftrittsangst von Musikern beschäf- tigt haben. Einer von ihnen ist Michael Bohne aus Hannover. Sein „Coaching“ besteht in der Vermittlung von speziellen Techniken und psychologischem Wissen über Auftrittsangst, das die Betroffenen in Stresssituationen selber anwenden können. Bei der „energetischen Klopf- technik“ zum Beispiel beklopft der Klient MICHAEL BOHNE mit seinen Fingern festgelegte Punkte verschiedenster Meridiane (Energiebah- Der weltberühmten Pianistin Martha nen). Gleichzeitig spricht er dabei Sätze, Argerich mag es ähnlich gehen. Ihr sind die den Stress von ihm ablösen sollen. solistische Klavier-Rezitale zu stressig. So kann er einschränkende Emotionen Sie möchte nicht allein auf der Bühne ste- und krisenhaft überwältigende Zustände hen und tritt daher seit Jahren nurmehr loslassen und die „Bahnung“ zukünftiger mit Kammermusik und Klavierkonzerten positiver Erlebnisse in Gang setzen. auf. Spielt sie in Berlin, weiß man nicht, ob das Konzert tatsächlich stattfinden Aber ist das wirklich wahr? Ist es mög- wird. Das Publikum bangt, bis die Grande lich, Angstprobleme so einfach aufzulö- Dame des Klavierspiels die Bühne betre- sen, ganz ohne Medikamente und lang- ten hat, und applaudiert dankbar und er- wierige Psychotherapie? Michael Bohne leichtert. Sie selbst sagt in Interviews von weiß: „Für manche meiner Klienten ist es sich, dass sie vor Konzerten hochgradig schwer, sich selbst einzugestehen, dass nervös sei, und zieht dazu an ihrer Ziga- sich etwas verändern kann. Sie sagen rette, als gälte es, dies noch zu unterstrei- dann: Wenn das schnell hilft, bin ich dann chen. nicht bescheuert, dass ich so lange mit Der Druck, der auf professionellen dem Stress rumgelaufen bin?“ Manch ei- Musikern lastet, ist enorm. Beim Konzert ner mag skeptisch sein. Doch inzwischen kommt es darauf an, die Nerven zu bün- übernimmt in vielen Fällen sogar das Ar- deln und zugleich mit technischer Präzisi- beitsamt die Kosten für einen Besuch bei on und Musikalität zu spielen. Höchster Michael Bohne, und die Erfolgsquote ist künstlerischer Anspruch – und häufig hoch. „Ich würde sagen, es gibt kaum je- eine einmalige Chance. Beim Probespiel mand, bei dem es nicht ein bisschen was für Orchesterstellen ist jedem Bewerber verändert. Bei den allermeisten ändert es nur ein Zeitfenster von wenigen Minu- viel.“ ten gegeben, um sein Können zu prä- Julia Müller sentieren. Es geht um Perfektion – des Paukenwirbels, der Posaunenstelle aus dem „Sacre“, des Flötensolos. Ähnlich ist es bei Wettbewerben. Ein Patzer, ein falscher Ton, und alle Arbeit, alle Mühe war vergebens, der Einzug in die nächste Fra nk UHLE Runde verpatzt.

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Klienten bitt e, nicht patienten Psychotherapeut Michael Bohne über Auftrittsangst bei Musikern

Saitensprung: Mit welchen Problemen Wie muss man sich das Problem „Auftritts- ationen selbst Punkte klopfen, Selbstak- kommen Musiker zu Ihnen? angst“ vorstellen? zeptanz-Affirmationen aussprechen und Bohne: Die meisten kommen, weil sie Wenn jemand auf der Bühne ein Blackout dadurch seinen Stress reduzieren. Bei das, was sie eigentlich können, in Ext- erlebt, dann ist das für das Gehirn etwas der Selbstakzeptanz geht es darum, eine remsituationen nicht so gut bringen, wie ganz Schlimmes, ein kleines Trauma. Man Haltung zu sich selbst zu entwickeln, sie es bringen könnten. Eine klassische will Klavier spielen, man kann das, und in der man sich konsequent selbst an- Extremsituation ist das Probespiel oder man weiß auch: Ich will jetzt etwas aus- nimmt, so wie man ist, mit all seinen Feh- das Vorsingen. Die Leute wissen: Ich bin drücken, etwas erzählen. Aber auf einmal lern und Schwächen, aber auch Stärken gut und kann es zuhause, und dann kom- merkt man, dass man aufgeregt ist und und Potenzialen. Man sieht aber auch men sie zum Probespiel oder zum Vorsin- bei weitem schlechter auftritt, als man ganz klar seine eigenen Grenzen, steht gen und merken, dass sie weit schlechter kann. Dann geht man nach Hause und dazu und hat eine eigene Motivation, sind, als sie es eigentlich können. Sie hat das Gefühl, man sei der totale Loser, diese Grenzen allmählich zu überwinden. selbst haben aber keine Möglichkeit, das obwohl das Publikum das meist gar nicht Dies alles wirkt auf unser Gehirn und so- zu verändern. Deshalb kommen sie zu mitkriegt. Aber trotzdem, das Selbsterle- mit auf unseren Körper. Im Sportbereich mir. ben ist katastrophal. So merkt sich dann gibt es kaum jemanden, der diese moder- das Gehirn dieses Musikers Folgendes: nen Techniken nicht anwendet. Welche Symptome haben die Leute? „Du auf ’ner Bühne mit ’nem Klavier und Die Palette reicht von Zittern, Schwitzen, Mozart – vergiss es. Ist gefährlich.“ Und Das klingt ein wenig so, als würde man Gar-nicht-mehr-denken-können bis hin sowie ich wieder in die Nähe einer Bühne sich die Welt schön reden... zum totalen Blackout. Es gibt Leute, die komme, sagt mein Gehirn schon: „Ach- Natürlich, unbedingt. Es gibt „die Welt“ sagen: Ich bin nicht ganz so fokussiert im tung Gefahr!“ und der Körper wird zittrig. nicht. Sie wird immer von uns konstruiert. Konzert, und ich mache und gestalte die Diese Abspeicherung muss man wieder Die Gefahr ist, dass wir uns unter Stress Musik nicht so schön, wie ich könnte. Im neutralisieren und im Gehirn löschen. und Leistungsdruck die Welt schlecht re- Extremfall kommen Leute, die sagen: Ich Dafür braucht man ganz moderne Techni- den. Dass wir sagen: „Die anderen sind kann da gar nicht mehr rausgehen. ken, die man unter anderem auch in der viel besser als ich! Oh, ich bin nicht gut Behandlung von Leuten findet, die einen vorbereitet! Oh, das ist aber aufregend! Wie können Sie Ihren Patienten helfen? Verkehrsunfall hatten und traumatisiert Boah, ich muss das aber gewinnen!“ Wir Klienten bitte. Das ist ein ganz wichtiger sind. Wenn man die Techniken richtig an- haben dann Strategien an Bord, die uns Unterschied. Ich bin einer von wenigen wendet, kann sich sehr rasch, schon nach definitiv stressen. Und was wir hier ma- in diesem Feld, die sagen: Das ist kei- ein bis zwei Sitzungen, Erfolg einstellen. chen: Wir analysieren die „Stressungs- ne Krankheit, und was wir machen, ist Die Klienten lernen bei mir die Techniken strategien“, schmeißen sie über Bord und keine Therapie. Es geht um berufsrollen- und sind dann in der Lage, sich in Stress- suchen uns Lösungsstrategien. bezogenen Stress, und was wir machen, Situationen selbst zu helfen. ist Coaching. Das ist für mich ein Die Fragen stellte ganz zentraler Punkt, weil der Begriff Wie funktionieren diese Techniken? Julia Müller „Patient“ sofort eine ziemlich entwerten- Ich nutze da vor allem die sogenannte de Komponente hat. Wenn ich ein sehr Klopftechnik. Die Klopftechnik sieht erst- begabter, kompetenter Musiker bin, mal komisch aus, aber in der Praxis hat aber merke, in bestimmten Situationen sich gezeigt, dass sie bei weitem schnel- habe ich Stress, und dann kommt einer ler wirkt und besser ist als andere Techni- ken. Ich habe sie weiterentwickelt und in und sagt mir, ich hätte eine Angster- Dr. med. Michael Bohne ist Arzt und Psychotherapeut. krankung, dann ist das sehr schlecht bestehende Coaching- und Therapietech- Er trainiert als Auftritts-Coach die Fernseh- und Radio- und macht mich kränker, als ich bin. niken integriert, wodurch die Methode journalisten von ARD und ZDF und Musiker vieler deut- der Prozess- und Embodimentfokussier- scher Opern- und Sinfonieorchester. Veröffentlichun- Meistens haben die Leute nur ungünsti- gen (u.a.): „Feng Shui gegen das Gerümpel im Kopf ge Strategien an Bord, die dazu führen, ten Psychologie (PEP) entstanden ist. Mit – Blockaden lösen mit energetischer Psychologie“, dass sie das Potential, das sie haben, nicht der Klopftechnik hat der Klient selbst et- 2007; „Klopfen gegen Lampenfieber – Sicher vortra- leben. Das ist für mich keine Krankheit. was in der Hand und kann in Stress-Situ- gen, auftreten, präsentieren“, 2008 (beide bei rororo).

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Es ist der Traum vieler Bands: von der eigenen Musik leben zu kön- BASS-PART nen. Für „The Mainstream“ gestaltet sich dieses Ziel jedoch be- sonders schwer, denn ihre Mitglieder sind über den halben Globus verstreut. Proben werden so zum seltenen Ereignis, die Bandkoordi- PER E-MAIL nation zur Herausforderung, das Songschreiben zum langwierigen Pro- zess. Aber es handelt sich um ein besonderes Projekt, das von den unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturen der Musiker profitiert.

„The Mainstream“ Auf dem Bildschirm von Anton Stö- zieren sie miteinander, verschicken in Se- gers Computer blinkt eine Nachricht auf: kundenschnelle Musikdateien, tauschen machen zusammen Post aus Amerika, von Rapper Lexxx Lu- Ideen aus. Und inspirieren sich gegensei- Musik, obwohl die thor. Den Anhang öffnet Anton sofort, ge- tig. spannt, was er da zu hören bekommt. Es Bandmitglieder auf ist das Demo von einem neuen Song. Von Der Grundstein für The Mainstream einem neuen Song der Band The Main- wurde 2004 gelegt, als Sänger Joscha zwei Kontinente stream, zu der Anton und Lexxx gehören. Blachnitzky aus Lüneburg im Urlaub in The Mainstream, das sind fünf junge Italien Federico Malandrino aus Turin ken- verteilt sind Menschen aus drei unterschiedlichen nenlernte. Sie entdeckten ähnliche musi- Ländern und zwei Kontinenten. Tausende kalische Vorlieben und tauschten wenige von Kilometern trennen sie voneinander, Monate später erste Songideen über das aber sie schaffen es trotzdem, gemein- Internet aus – zunächst noch ohne den sam Musik zu machen. Dank sei dem Gedanken, daraus einmal ein Bandprojekt Internet. Denn über das Netz kommuni- entstehen zu lassen. Erst nach etwa zwei

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J ahren entschieden die beiden, die heute „Mary, stop looking at me / These sich nun bald in Lüneburg treffen, um für Gesang und Bass zuständig sind, noch things that I say that I do / I don’t want dort gemeinsam ihre Parts aufzunehmen weitere Musiker in das Projekt zu integ- you to see.“ Joschas raue Stimme ertönt und das Endprodukt zu mixen und zu rieren. In der Fußgängerzone Lüneburgs aus Antons Computerboxen. Den Refrain mastern. „Ich glaube, wir funktionieren wurde Joscha fündig: Dort versuchte der hatte der 27-Jährige zuvor an Lexxx ge- auch so gut zusammen, weil jeder seine gelernte Zimmerer Pablo Ryan sich mit mailt, der in seinem Studio in Kalifornien Aufgabe hat und kennt“, bemerkt Lexxx. seiner Violine als Straßenmusiker ein we- seine Raplyrics aufgenommen und dann Die Musiker machen alles selbst, vom nig Geld dazuzuverdienen. In Hannover alles an die anderen geschickt hat. Die Songwriting über die Produktion bis hin hörte Joscha Anton Schlagzeug spielen – Rapzeilen zum Song „Mary“ hört Anton zum Marketing. „Deshalb bezeichnen wir und schon war die Band zu viert. nun zum ersten Mal: „When push comes uns auch lieber als Kollektiv anstatt als to shove, see I gotta stay strong / Can’t Band“, sagt Italiener Federico. Um das fehlende Stück für die Gruppe be consumed by the clichés of hip hop zu finden, musste Joscha dann den Konti- songs.“ Beim Schreiben seiner Raps, In das Projekt stecken die fünf Künst- nent verlassen. In San Francisco traf er zu- sagt Lexxx, lasse er sich häufig von den ler jede Menge Energie. Aber leben sammen mit Federico auf den 32-jährigen Zeilen Joschas inspirieren. „Aber generell können sie bisher noch nicht von The Rapper Lexxx, dem das Projekt auf Anhieb rappe ich über das, was ich kenne: über Mainstream. Federico verdient seinen gefiel: „Die anderen machten einen ziem- den Alltag. Inspirieren kann mich da im Lebensunterhalt zum Beispiel als Musik- lich coolen Eindruck auf mich. Außerdem Grunde alles – zum Beispiel auch ein gu- produzent und Tourmanager, und Anton, mochte ich schon immer die europäische tes Essen.“ der gerade seinen Hochschulabschluss Musik und vor allem die europäischen in Musikerziehung gemacht hat, gibt seit Fans. Die sind nämlich viel mehr an an- Auch Federico in Italien hat seine über zehn Jahren Schlagzeugunterricht. spruchsvoller Musik interessiert als die Bass-Parts in der Heimat aufgenommen Lexxx arbeitet noch für einige andere Leute hier in den USA.“ Seither schicken und über das Internet verschickt. Die Musikprojekte, verdient einen Teil seines die Fünf Songfiles hin und her. drei deutschen Bandmitglieder werden Lebensunterhalts aber auch durch kleine

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the Mundane“, das im vergangenen Jahr len schon der Mehrheit gefallen, denn veröffentlicht wurde, haben die Musiker natürlich ist es langfristig unser Ziel, kom- drei Jahre lang gearbeitet. „Und die Zeit- merzielle Musik zu machen, um davon verschiebung macht die gemeinsame Ar- leben zu können.“ Der Bandname könne beit natürlich auch nicht einfacher“, fügt dennoch auch ein wenig ironisch verstan- Anton hinzu. Rapper Lexxx sieht noch ein den werden, schließlich sei doch der Ent- ganz anderes Problem: „Wenn wir lange stehungsweg der Songs außergewöhnlich Zeit nicht zusammen spielen, frustriert und entspreche nicht dem Mainstream. das schon manchmal ein wenig. Und „Als wir angefangen haben, gab es keine man ist dann auch jedes Mal aufs Neue andere Band, die etwas gemacht hat, das aufgeregt, wenn man sich nach langer mit unserem Projekt vergleichbar ist. Und Zeit wieder trifft, einfach weil man sich so ich kenne auch heute noch keine Musi- lange nicht gesehen hat und nicht weiß, ker, die so viel über das Internet arbeiten ob man sich noch immer genauso gut wie wir“, so Lexxx, „Wir waren Pioniere auf versteht wie beim letzten Treffen. Aber diesem Gebiet.“ Bassist Federico sieht in dann spielt man zusammen, und jegliche der Bandgeschichte außerdem ein zwei- Zweifel sind verflogen, das ist immer ein tes Triebwerk, denn sie errege zusätzliche gutes Gefühl.“ Aufmerksamkeit bei den Menschen. „Vor ein paar Jahren sagten mir noch viele, Der Bass von Federico umspielt den dass es eine verrückte Idee sei, der ich Rap von Lexxx – mal wieder ein wenig mich da angeschlossen habe. Aber denen zu kitschig für Antons Geschmack. „Das haben wir gezeigt: Das funktioniert, und ist typisch italienisch“, meint er schmun- uns gibt es immer noch. Und: Wir werden zelnd und dreht die Boxen ein wenig mehr sogar immer besser und besser“, begeis- auf. Gibt es also auch Probleme innerhalb tert sich Lexxx. Allesamt erzählen sie mit der Band auf Grund der verschiedenen Faszination von dem Projekt und sind Kulturen? „Wir haben häufig verschiede- sich sicher, irgendwann einmal nur von ne Ansichten. Aber verschiedene Meinun- der Musik leben zu können. Lexxx würde gen bedeuten nicht gleich Probleme. Ich für die Band seinen Lebensmittelpunkt glaube, im Endeffekt profitieren wir sehr sogar nach Europa verlegen: „Wenn eine viel von unseren verschiedenen Kultu- Plattenfirma das verlangen würde, könn- ren“, meint Federico. Außerdem behelfen te ich mir das durchaus vorstellen.“ sich die Fünf damit, dass sie häufig Spä- ße übereinander machen. „Ich sage dann Neben Joscha, Pablo, Federico, An- ein paar Vorurteile über die Deutschen ton und Lexxx, der Stammbesetzung von und die Italiener, und die anderen ziehen The Mainstream, arbeitet die Band noch Nebenjobs wie beispielsweise Renovie- mich mit Vorurteilen gegen Amerikaner mit vielen internationalen Gastmusikern rungsarbeiten. auf“, sagt Lexxx schmunzelnd, „wir haben zusammen. Auf ihrer aktuellen Platte immer jede Menge Spaß zusammen.“ beispielsweise leiht Holly Dish, Rapperin Natürlich erleichtert es die Sache und Wortpoetin aus Montreal, dem einen auch nicht, dass die Musiker allesamt in Dem Bandprojekt förderlich sind nicht oder anderen Song ihre Stimme. Noch unterschiedlichen Städten und Ländern nur die unterschiedlichen Kulturen der eine Person mehr aus einem anderen wohnen. „Das Proben ist mit das Schwie- Fünf, sondern auch ihr verschiedener Land, mit einer anderen Kultur. Aber mit rigste“, findet Anton. Bevor The Main- Musikgeschmack. Dementsprechend der gleichen Leidenschaft: der Leiden- stream im Frühjahr vergangenen Jahres ist ihre Musik sehr abwechslungsreich: schaft für die Musik. durch Chile tourten, hatten sie gerade Akustikstücke im Singer-/Songwriter-Stil einmal eine Woche lang zur Vorbereitung wechseln sich mit Rock- und Hiphop- Claudia Hamburger gemeinsam proben können. „Aber bei Songs ab, harte Drumparts werden durch der Tour sind wir auch als Live-Band zu- klassisches Violinenspiel ergänzt. „Wir sammengewachsen“, erinnert er sich an wollen nicht in eine Schublade gesteckt das mehrwöchige Abenteuer. Ein Nach- werden und machen Musik, auf die wir teil an der großen räumlichen Distanz sei, Bock haben“, meint Anton. Also dem dassjes ung sich vok allesa lsehrens langeembl hinauszögere.e hannover Bandnamen zum Trotz alles andere als An ihrem zweiten Album, „The Beauty in Mainstream-Musik? „Unsere Songs sol-

46 S TNChaT E LICHTER

DerE W g zum licht Mit ungewöhnlichen Musikprojekten versucht die Hamburger Initiative „Schattenlichter“, Menschen in kritischen Lebenssituationen wieder fit für denA lltag zu machen. Der Förderverein hilft Obdachlosen, aber auch Kindern und Jugendlichen, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind. Unter anderem können sie in einer Band neues Selbstvertrauen entwickeln. „Saitensprung“ sprach mit Christian Ritter, der „Schattenlichter“ 2002 ins Leben gerufen hat.

Saitensprung: Welches Ziel haben Sie dass die Teilnehmer anonym bleiben kön- sich mit Ihren Projekten gesetzt? nen. Wir gehen auf die Menschen zu und holen sie aktiv ab. Darauf, Bedürftige ab- Hier ist SpaSS, Ritter: Wir versuchen mit unserem ge- zuholen, ist das Hilfesystem in Hamburg hier ist Spannung, meinnützigen „Förderverein Schat- leider nicht eingerichtet. Betroffene Men- tenlichter e.V.“ Menschen, die sich in schen müssen sich hier normalerweise und es ist schwierigen Situationen befinden, über selbst Hilfe holen, woran viele scheitern. Musik aus ihrer Isolation in eine soziale klasse hier. Gemeinschaft zu holen und zur Bewälti- Wie läuft Ihre Arbeit konkret ab? gung ihrer Probleme zu motivieren. Das waren anfangs vornehmlich Obdachlose Ich gehe, möglichst wöchentlich, in Tages- oder Wohnungslose, jetzt sind auch Kin- stätten, in denen es Essen gibt, und ma- ” der und Jugendliche dabei. Wichtig ist, che vor Ort mit den Menschen, die Lust ”47 S TNChaT E LICHTER

dazu haben, Musik. Durch das gemein- trieb. Man könnte sagen: Applaus macht same Musizieren lernt man sich schnell süchtig. Bei der Band darf jeder mitma- kennen. Von den Teilnehmern möchte ich chen, der möchte. Auch diejenigen, die lediglich wissen, wie sie mit Vornamen vielleicht gar nicht so musikalisch sind. heißen oder angesprochen werden wol- Es geht nur darum, dabei zu sein. Das ist len. Wichtig ist mir, dass wir uns duzen, das Wichtigste. Der harte Kern der Band um jede förmliche Barriere zu vermeiden. besteht aus zwei Betroffenen, mit denen Diejenigen, die sich weiterentwickeln ich selbst auftrete. Der Rest ist tagesab- möchten, versuche ich in eine zentra- hängig. Die Band variiert zwischen 14 le Gruppe zu führen. Der erste Schritt und drei Teilnehmern. Im Durchschnitt ist also, dass sie zu mir kommen und sind es etwa vier bis sechs Bandmit- auf Fremde treffen. Aber Fremde, die glieder. Vielleicht werden es jetzt wieder sich in einer ähnlichen Situation befin- mehr, da aus einzelnen Singkreisen aktu- den. An dieser Stelle setzt der Selbsthilfe- ell einige Interesse haben. prozess ein, die Sozialarbeit. Die Betrof- fenen erzählen sich ihre Geschichten Welche Art von Musik wird denn da ge- und geben sich gegenseitig Tipps. Sie macht? müssen selbst eine Erkenntnis über sich gewinnen, einen eigenen Antrieb Das entscheiden die Mitglieder der Band. entwickeln. Ich bin dabei nur ein Mo- Wir singen vorwiegend auf Deutsch, da derator. Wer noch einen Schritt wei- unsere Teilnehmer in der Regel kaum Eng- tergehen möchte, kann bei der Band lisch können. Mit der Zeit hat sich in der „Schattenlichter“ mitmachen und raus Band eine Mischung aus verschiedenen aus der Anonymität auf die Bühne tre- Stilen ergeben. Wir machen unter ande- ten. Die Bandmitglieder stehen zu rem Rock, Blues, Pop und Country von In- ihrem Leben, outen sich und möchten terpreten wie Gunter Gabriel, Johnny Cash zeigen, dass sie aktiv etwas zur Verbes- und Udo Jürgens. serung ihrer Lebenslage tun. Das sind die Musikprojekte „Schattenlichter“. Und hatte die Band auch schon herausra- gende Auftritte? Warum gerade Musik? Ein besonderer Auftritt war die Obdachlo- Die positive Wirkung von Musik auf den senweihnachtsfeier 2004 im Hamburger Ich liebe Musik, Menschen ist heute bekannt. Deswegen Michel mit dem Musiker Gunter Gabriel, ich könnte jeden Tag arbeitet man unter anderem auch mit der inzwischen Schirmherr des „Förder- Musiktherapie. Musik löst positive Gefüh- vereins Schattenlichter e.V.“ ist. Der Mi- Musik machen. le im Gehirn aus, und das gemeinsame chel ist ein besonderer Veranstaltungsort, Musizieren verbessert das Sozialverhal- da er über Hamburg hinaus bekannt ist. Musik ist mein Hobby, ten. Man muss aufeinander hören. Sonst Mittlerweile haben wir schon um die 80 ist es nicht möglich, miteinander zu mu- Konzerte gegeben. Unseren ersten Auftritt und die Schatten- sizieren. Musik lenkt die Betroffenen von hatten wir im Juni 2003. Wir werden vor al- lichter sind jetzt ihren Problemen ab und versetzt sie für lem bei Festlichkeiten mit sozialem Hinter- ” den Moment des Musizierens in eine an- grund gebucht. 2009 geschah das leider meine Familie dere Welt, in der es ihnen gut geht. nur selten, aber jetzt stehen wieder einige an, unter anderem anlässlich des „UNO- hier in Hamburg. Wer darf in der Band „Schattenlichter“ Welttages zur Bekämpfung der Armut“. mitspielen? Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Zur Band „Schattenlichter“ gehören die- Musikprojekte „Schattenlichter“ zu grün- jenigen, die sich weiterentwickelt haben den? und auf der Bühne stehen wollen, wo sie Applaus bekommen. Applaus ist Bestäti- Als der ehemalige Innensenator von Ham- gung. Dadurch wird ihr Selbstwertgefühl burg, Ronald Schill, Bettler und Penner ” gestärkt, und sie entwickeln neuen An- aus der Stadt verjagen wollte, hat mich 48 S TNChaT E LICHTER

das sehr nachdenklich gemacht. Das Ver- Wie wird es weitergehen? Schmieden Sie jagen Bedürftiger aus der Innenstadt löst neue Pläne? nicht deren Probleme und das Problem Wenn ich singe Armut in unserer Stadt auch nicht. Außer- Der „Förderverein Schattenlichter e.V.“ hat oder überhaupt dem war ich selbst für ein paar Monate „in das Projekt „Taten gegen Armut“ mit dem den Schatten geraten“. Ich weiß, wie es Internetportal „17-oktober.de“ ins Leben Musik mache, ist, sich nicht mehr selbst helfen zu kön- gerufen. Das soll mal ein richtiges Spen- nen. Das habe ich vor 15 Jahren erfahren, denportal werden, um unsere Bevölkerung dann geht es als sich meine Frau von mir getrennt hat. auf die Armut im eigenen Land aufmerk- mir halt gut, Ich war hilflos, war unfähig irgendetwas sam zu machen. Der Armuts- und Reich- zu machen. Ich bin damals bei Freunden tumsbericht der Bundesregierung besagt, dann vergeht mir untergekommen, die mir dabei geholfen dass rund 11 Prozent der Menschen in der ” haben, wieder auf die Beine zu kommen. Bundesrepublik unter der Armutsgrenze alles Negative. In dieser Zeit habe ich nachvollziehen kön- leben. Das sind statistisch gesehen alleine Musik ist wie nen, wie es ist, obdachlos zu sein. Als In- in Hamburg etwa 170.000 Menschen. Sie formatiker und Manager in der Computer- haben weniger als 50 Prozent des Durch- eine Therapie, Industrie habe ich durch meine Tätigkeit schnittseinkommens der Bundesbürger. in der „Computerisierung“ außerdem Das heißt weniger als 900 Euro im Mo- wie Medizin. selbst zur Vernichtung von Arbeitsplät- nat. Eine Teilnahme am kulturellen Leben zen beigetragen. Dann habe ich von dem ist damit fast unmöglich. Deshalb „Taten Obdachlosenchor „Chorale de l’Accueil gegen die Armut“! Aber wir wollen noch Bonneau“ aus Montreal gehört, dessen mehr Initiativen gewinnen, die sich dort Mitglieder mit ihrer Musik Anerkennung präsentieren und für sich Spenden ein- bekommen haben und durch Nordameri- werben. Mit Mahn-Konzerten gegen Armut ka getourt sind. Das Projekt fand ich so wollen wir auf die Situation und das Spen- faszinierend, dass ich selbst in Hamburg denportal aufmerksam machen. Was die die Musikprojekte „Schattenlichter“ ge- „Schattenlichter“ angeht, so beleben wir startet habe. unser früheres Frauenprojekt wieder, ein ” musiktherapeutisches Projekt für Frauen, Das kostet Geld. Welche finanzielle Unter- die misshandelt worden sind. Das ist eine stützung bekommt denn Ihre Initiative? sehr schwierige Zielgruppe. Ich hatte mich schon einmal an diesem Projekt versucht, Wir finanzieren uns ausschließlich über musste es aber abbrechen, da der Anteil Spendeneinnahmen. Allerdings ist die psychologischer Arbeit zu groß war und Etwa 3.000 Menschen Spendenbereitschaft dramatisch zurück- mir dazu die Ausbildung fehlt. Außerdem wohnen in Wohn- gegangen. Je näher ein soziales Problem haben wir noch die Projekte „Kinder und an potentielle Spender herantritt, desto Mutter“ – Väter sollen davon aber nicht einrichtungen für eher verschließen sie davor die Augen. ausgeschlossen werden – und „Jugendli- Wohnungslose in Hamburg, Armut kann heute jeden in unserer Gesell- che“ zusammen mit einer Musiklehrerin schätzungsweise schaft betreffen. Das geht schnell. Man in einer Einrichtung für wohnungslose Fa- muss nur arbeitslos werden. milien gestartet. Vielleicht kann man über 1.500 leben auf der Straße. die Kinder den Weg zu den Erwachsenen Von verdeckter Haben Sie eigentlich eine persönliche Ver- finden, die Hilfe annehmen möchten. Das bindung zur Musik? ist das Ziel. Obdachlosigkeit sind in Hamburg nach Angaben Musik begleitet mich schon mein ganzes Die Fragen stellte Leben. Ich bin quasi schon mit der Mut- Lilli Buchwald der Caritas zwischen termilch an Musik herangeführt worden. 5.000 bis 15.000 Personen Meine Mutter ist eine klassische Berufs- musikerin: Sängerin und Pianistin. Ich bin betroffen. Das sind selbst Gitarrist, Bassist und Sänger. Ich Menschen, die bei singe unter anderem in der Michel Kan- torei und in diversen Bands. Man könnte Freunden unterkommen. sagen: Ich bin eine Rampensau!

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Martin Tenge Propst und Regionaldechant der katholischen Kirche in der Region Hannover Auf die Frage, was Musik in meinem Leider spiele ich selber kein Leben bedeutet, kann ich nur sagen: richtig viel! AUCH Instrument, aber ich höre sehr gerne fach mit großer Freude, v or allem mit anderen, aber durchaus auch Mmalusik Solo. und singe ein- Musik begegnet mir in vielen Bereichen meines Priester. Kirchliche Lieder, sei es von der Lebens, so in meinem Beruf als MAL staltet, bereiten mir viel Orgel begleitet oder mit moderner Freude und tun in der Regel der Seele einfach gut. Wenn z.B. in meiner Kirche, die zudem eine tolle Akustik hat, unsere Musik ge- siker ertönt oder ein guter Orgel durch unseren SOLO getragen und ahnt, wie schönChor himmlisches erklingt, dann Schweben fühlt sich sein die muss. Seele schon malK soirchenmu- richtig Auch in meinem privaten „Saitensprung“ fragte Klassik, sondern eher die Rock-Leben höre ich sehr gerne Musik, dann aber nicht so sehr Pop- Persönlichkeiten aus Politik, Chill-out-Musik angetan, die ich zum EntspannenAbteilung. N odereuerdings auf Autofahrten hat es mir höre. durchaus Ansonsten auch Sport, Medien, Religion kommt es einfach drauf an, was in dem jeweiligen mal ein Jazz-Konzert total schön sein. Moment so dran ist, da kann auch und Wirtschaft: Genesis. Jetzt beim Schreiben dieses Textes läuft übrigens Eine sehr interessante Erfahrung war vor ein paar „Was bedeutet Internet eine unwahrscheinliche Quelle der Jahren die Entdeckung, dass das funktionen meine „alte Musik ist. Spannend war es dann, über Such- Musik Jugendmusik“ (z.B. Videos sehen zu können (natürlich nur auf legalemPink F loyd)Wege!). wieder zu entdecken und dazu Titel oder I nterpreten gar nicht mehr, da war dann nur so eine M für Ihr Leben?“ ging das Suchen los – und ich wurde immer wieder fündig, manchmalanchmal sogar wusste bei Stücken, ich die M die ich gar nicht gesucht hatte. Ein tolles Erleben, wo der elodie im Ohr. Und dann Lautstärke zu erhöhen, sehr deutlich da war. Drang, dann mal richtig die sprecher eine alte D Verstärkeranlage reaktiviert undeshalb kann habe es mir ich jetzt dann richtig statt derlaut machen. In der Regel muss ich damit zurückhaltend sein, weil ich nicht alleine im Hause bin.PC- LAberaut- wenn die Gelegenheit günstig und keiner da ist, kann es aus meiner Wohnung schon mal Wolfgang Holzhäuser einen hohen Schalldruck geben. Und dann fällt es auch nicht so auf, wenn ich hier und da selber laut mitsinge. Geschäftsführer everkusen Fußball GmbH der Bayer 04 L Mu- Mit Musik verbinde ich vor allem Emotionen. Wie Sie sich vorstellen können, sind und Arrangements an, manchmal aber einfach auchMal rockige sprechen und mich fetzige sanftere Leben eng mitein- sprechende Melodien sik und Sport in meinem Profession Instrumente. Aus dem Alter des die Töne und ent- ander verknüpft. Sport als meine Füße und Hände schaffen es doch, sich imT anzensRhythmus bin der ich zwar irgendwie raus, aber Musik, mein ständiger Be- den Erfahrungen von Entspannung bringt mich ist, genau wie die M in Schwung. usik zu bewegen. gleiter – aber auch mein beruflicher und oft Musik halt auch manchmal ganz schönNeben von Hektik und Stress begleiteter Alltag. Hier Musik Rückzug, Ablenkung und bietet mir die In jedem Fall bin ich dankbar für die Erfindung der Musik und ihrer vielfältigen Aus drucksweisen. Und ich bin dankbar für die Entspannung. Gemeinsam sind dem Sport Musik – aktiv ausgeübt – die Aus- denn ohne sie wäre ich ganz schön aufgeschmissen.Menschen, die und der Musik „können“ und machen,- schüttung von Adrenalin und Endorphinen.Maße emo- Die Musik kann also in gleichem Ich tional beruhigend wie erregendMenschen, wirken: die die zähle mich da eher zu den Ruhe in der Musik suchen und finden.

Dirk Roßmann Gründer und Geschäftsführer der Rossmann GmbH

Ich habe keine besonders intensive Beziehung zur aktuellen Pop-Musik und höre auch nur wenig Radio. Lenas Sieg in Oslo ist da eine Ausnahme: Die Abiturientin aus Hannover und Ihren Song „Satellite“ finde ich klasse. In den 1970er-Jahren haben allerdings eher rockige Interpreten wie Led Zeppelin („Black Dog“, „Whole Lotta Love“), Jefferson Airplane („Volunteers“) und Bob Dylan („Knockin On Heavens Door“) den Soundtrack meines Alltags geliefert – und alles, was in der hannöverschen Szene-Kneipe „maulwurf“ so gespielt wurde. Ganz nette Epi- sode am Rande: Obwohl ich kein Schlagerstar bin, habe ich inzwischen 23 goldene Schallplatten verliehen bekommen – für die Rossmann- Eigenmarken-CD, „babydream Einschlaflieder“ beispielsweise. Die hängen alle bei uns in der Rossmann-Zenrale in den Fluren an der Wand.

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Marc Bator Sprecher der Tagesschau

Weil Musik hat keinen Stellenwert in meinem Stephan Musik begleitet mein Leben, Leben seit frühester Musik ist mein Oberbürgermeister von Hannover Emotionen. Leben, Musik entspannt, Kindheit. Musik ist Spiegel der Leben gehören für michInstrument zusammen. lernen AuchM zuu- te meines musikalischen GeschmacksMusik heilt. so groß. Auch darum ist die Bandbrei- Musik und DC, klassische V Musik, Jazz, Weltmusik: alles, was on Claudia Jung bis A wenn ich nicht das Glück hatte, ein bringen, interessiert mich. Ebenso die Wahl des C/ Menschen zum können, so lasseM ichusikern mich begeistern. immer wieder Erst gerne recht von wenn die zweitausend Klingen CDs, mittlerweile die Mediums. Schallplatten, sikerinnen und formance originell und kreativ sind. meinem Mediathek im Per Leben. Also, so eine emotionale menschlicheNetz. SeiteDas gehörthinter allesder tro- zu Musik und ckenen Fassade des Nachrichtensprechers – hätten Sie das gedacht?

„MUSIK IST EIN LEBENSMITtEL“

„Ganz im Ernst. Eigentlich habe ich D ie Politiker, Publizisten und Künstler, „Lear“ in Düsseldorf. Die Hörer durch- gar nichts gegen musikalische Men- darunter Heiner Geisler, Tomi Ungerer leben mit Weiler jene schrecklichen schen. Ja, ich finde sogar, dass sie- ir oder Volker Schlöndorff, lesen ihre Texte Minuten des damals Zehnjährigen, die gendwie dazugehören.“ So beginnen selbst. Schauspielerin und Sängerin Ma- zu den „eindrucksvollsten Schocker- Christian Udes Ausführungen über ren Kroymann gesteht ihre Teenagerliebe lebnissen“ seines Lebens gehörten. seine persönlichen Erfahrungen mit zu Elvis Presley, Reinhard Mey verkündet Sie führten zum Bruch mit der Musik Musik, und gleich wird deutlich, dass Interessantes über die Bezahlung: „Ich seines Vaters, von dem er sich nun der Oberbürgermeister der Stadt Mün- lebe für die Musik, aber ich lebe auch anhören musste, er solle das, was er chen, seine Erfahrungen mit Musik und davon, und jeder, der kann, soll seinen „bedauerlicherweise für Musik“ hal- sich selbst nicht ganz ernst nimmt. Mit Obolus dafür entrichten. Wer es aber te, doch bitte leiser stellen. Ähnlich ironischem Unterton beklagt er, dass nicht kann, dem soll die Musik geschenkt berichtet Campino, Sänger der „Toten musikalische Menschen ihre Liebe zur werden, für den soll Milde walten und Hosen“, wie die kulturbeflissene „Ret- Musik nie für sich behalten könnten, sein Musikherunterladen als Mundraub tungs- und Rückholaktion“ seiner Mut- sondern sie immer wieder aufs Neue gelten – Musik ist ein Lebensmittel!“ ter letztlich nur dazu führte, dass er in nächtelangen Konversationen oder sich ganz von der klassischen Musik mehrspaltigen Zeitungsartikeln be- Einige wenige Geschichten handeln abwandte. schwören müssten. Herrlich amüsant von traurigen Erfahrungen mit Musik, so schildert Ude seine Leidenszeit als zum Beispiel die von dem kleinen jüdi- Insgesamt ein kurzweiliges Hörer- Jungredakteur der Süddeutschen Zei- schen Kind Sarah, das von der Gestapo lebnis mit Musikgeschichten, die al- tung, Tür an Tür mit dem Kritikerpapst abtransportiert wurde und eine Melodie lesamt wunderbar geschrieben sind. Joachim Kaiser. Und seinen kurzen Aus- auf seiner Flöte spielte, die sich in das Nicht jede erreicht allerdings eine gute flug in die Welt des Musikkritikers, als er Gedächtnis von Bernd Schroeders Groß- Schlusspointe. Welche Musik denn eine Rezension über einen Liederabend vater einbrannte und auch den Regisseur nun für den jeweiligen Autor die größ- schrieb, ohne das Konzert wirklich be- bis heute nicht loslässt. Meistens erzäh- te Rolle im Leben spielt, erfährt man sucht zu haben. Dumm nur, dass sein len die Prominenten aber von eigenen Er- nicht unbedingt – dafür aber oft ge- Fehlen bemerkt wurde und die Veran- innerungen: vom ersten Radio, der ersten nug, welche Musik gerade keine Rolle stalter in der Redaktion anriefen... LP, dem ersten Konzertbesuch, den eige- spielt und warum. nen musikalischen Versuchen – und von Katharina Rupprich Für die Hörbuchedition „Ein Traum musikalischen Traumata. So blieben die von Musik“, herausgegeben von Elke Bemühungen der Eltern des Schriftsstel- Elke Heidenreich (Hg.): Ein Traum von Musik. Heidenreich, wurden einige der insge- lers Jan Weiler, ihn in die Welt der klas- Liebeserklärungen. Gelesen von den Autoren. 3 CD. Random House Audio, 19,99 Euro samt 46 Prominentenstatements über sischen Musik einzuführen, vergebens. Musik aus dem gleichzeitig erschiene- Zu beängstigend und verstörend war für Elke Heidenreich (Hg.): Ein Traum von Musik. nen gleichnamigen Buch ausgewählt. ihn ein Abend mit Aribert Reimanns Oper 46 Liebeserklärungen. 384 Seiten. C. Bertelsmann, 19,95 Euro

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DIE ERDE IST EINE SCHEIBE

Seit gut zehn Jahren singt Über 22 Jahre gibt es den Ohrwurm tenläden haben gegenüber den großen die Musikbranche das Lied schon. Bis in die späten Neunziger als Händlern einen klaren Vorteil: Sie haben von existenzbedrohenden reiner CD-Verleih betrieben, werden seit die Liebhaber auf ihrer Seite. Und die der Jahrtausendwende die runden Silber- sind treue Käufer, die auch in Zeiten le- Umsatzeinbrüchen, linge angekauft und verkauft. Ein heikler galer und illegaler Downloads noch gerne verbrecherischen Internet- Wechsel, denn die damalige Stamm- zum physischen Tonträger greifen. Gera- piraten und dem Fehlen kundschaft aus dem Verleihgeschäft fiel de diese Zielgruppe bevorzugt vor allem adäquater Copyright-Regeln für komplett weg. „Der kommerzielle Verleih die kleinen Einzelhändler und nicht die Musik im Netz. Doch nicht nur von CDs wurde von der Plattenindustrie großen Ketten. „Deswegen haben in der in den Chefetagen der großen bekämpft, die damals durch das Aufkom- Innenstadt WOM, Karstadt und andere men von CD-Brennern eine Gefährdung Großhändler dicht gemacht“, weiß Olaf Musiklabels, sondern auch im ihrer Umsätze sah. Die Erfindung von Töpelmann. Eine selbstbewusste Aussa- Einzelhandel, in den kleinen Internet-Tauschbörsen wie Napster trug ge, schließlich haben große Ketten ihrer- Plattenläden, wird jeden Tag ein Übriges dazu bei, dass es schwieriger seits gegenüber kleinen Händlern auch ums Überleben gekämpft, und wurde, CDs zu verleihen. Die Umstellung einige Wettbewerbsvorteile, insbesonde- das zumeist aus Überzeugung. war also unumgänglich“, berichtet Töpel- re in puncto Preispolitik. Olaf Töpelmann ist einer dieser mann. „Es war eine schwierige Phase, Kämpfer. Seit nahezu 20 Jahren aus der wir jedoch gestärkt hervorgegan- Dennoch: Ähnlich wie der CD-Händler gen sind. Wir haben in den letzten zehn selbst, sehen es auch seine Kunden im arbeitet er als CD-Verkäufer im Jahren so manche Tonträgerabteilung in Ohrwurm. Einer von ihnen ist Manuel „Ohrwurm“ in Hannover-Linden Hannover begraben oder dahinsiechen Schmidt, der schon seit Jahren hier seine und hat so manchen Konkurren- sehen, aber den Ohrwurm gibt es immer CDs kauft. Für ihn haben kleine Platten- ten kommen und gehen sehen. noch.“ läden ein ganz besonderes Flair: „Reine Plattenläden sind eine Art Treffpunkt, Laut Bundesverband der Musikindus- an dem man auf Gleichgesinnte stößt. trie ist der Umsatz an CD-Alben seit 1999 Es ist einfach schöner, seine Musik in von jährlich 209 Millionen verkauften Ein- einem Laden zu kaufen, in dem man die heiten auf 145 Millionen gesunken; da- Gesichter kennt und auch schon mal ins von ist der Ohrwurm bisher weniger stark Gespräch kommt. Solch eine persönliche betroffen gewesen als andere Händler. Atmosphäre gibt es in der Anonymität Das liegt nach Töpelmanns Meinung vor eines großen Elektrohändlers nicht“, so allem daran, dass die Szene in Hanno- Schmidts Meinung. ver sehr gut austariert ist: „Es gibt vier bis fünf Läden, die alle ein leicht unter- Dass Olaf Töpelmann heute über- schiedliches Angebot und so ihren fes- haupt Platten verkauft, war nicht immer ten Kundenkreis haben.“ Zum Beispiel abzusehen. 1991 hat er im Ohrwurm das „Rocker’s“, das sich ebenfalls im angefangen, zunächst als Nebenjobber Stadtteil Linden befindet. Dort hat man während des Studiums, denn eigentlich sich ausschließlich auf gebrauchte Vinyl- wollte er Lehrer werden. Inzwischen ist Schalplatten spezialisiert. Ein weiterer er Mitinhaber des CD-Ladens. Eine Ver- Laden mit festem Kundenkreis ist „Hot kettung glücklicher Umstände sei es ge- Shot Records“ in der Nordmannpassage wesen, dass er nach der Uni im Platten- am Steintor. Hier gibt es hauptsächlich laden hängenblieb. Bis heute bereut er Neuware aller Musikrichtungen – aller- es nicht, noch immer CDs zu verkaufen, dings mit einem Schwerpunkt auf Rock statt den einst angestrebten Lehrerberuf und Metal. auszuüben. Seine pädagogische Vorer- fahrung kommt ihm sogar oft zugute im Egal ob Secondhand oder Neuware, Ohrwurm: „Beim Umgang mit unserer ob Metal oder Pop – die kleinen Plat- sehr gemischten Kundenschicht ist mir

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einiges tatsächlich hilfreich. Manchmal Einkaufspreis achten, um unsere Kos- Umso schlimmer, wenn eine Phase ohne fühlt es sich hier an wie eine Mischung tenpolitik einzuhalten.“ Diese lautet kon- spektakuläre Neuerscheinungen ansteht. aus Sprechstunde und betreutem Woh- kret: Keine CD kostet mehr als 13 Euro. Besonders im Januar und Februar, nach nen.“ Und tatsächlich, wenn man sich „Das ist für Neuerscheinungen ein guter dem fetten Weihnachtsschmaus, müs- einige Zeit in seinem Laden aufhält und Preis. Zudem achten wir darauf, dass se der Ohrwurm Jahr für Jahr kämpfen: die Kunden beobachtet, bekommt man die Secondhand-Ware in einwandfreiem Die Leute gäben weniger Geld aus, und ein Gefühl dafür, was Töpelmann mit Zustand ist. Der Kunde kann im Prinzip die Labels veröffentlichten nur sehr we- dieser Aussage meint. Es gibt die Immig- neue und gebrauchte Platten bei uns im nige gute Platten. Eine ganz eigene Form rantenkinder, die mit leuchtenden Augen Laden kaum unterscheiden“, weiß Olaf der Winterdepression sozusagen. Auf die für einen Euro alte, trashige Hiphop-CDs Töpelmann. Aus diesem Prinzip ergibt Frage, wo er seinen Laden in zehn Jah- kaufen, den junggebliebenen Rocker, der sich das Alleinstellungsmerkmal seines ren sieht, kommt Töpelmann ins Grübeln: Raritäten aus dem Backkatalog seiner Ladens: eine breite Auswahl relevanter „Ich hoffe, an der gleichen Stelle wie heu- Lieblingssänger sucht, oder den (zumeist Pop-und Rockveröffentlichungen, insbe- te. Als Laden, der mit der Zeit gegangen studentisch aussehenden) Musiknerd, sondere auch an Neuerscheinungen, zu ist und sich aktuellen Entwicklungen an- der sich stundenlang im Laden aufhält Preisen, die mit den großen Händlern gepasst hat. Und natürlich als Treffpunkt und eine Reihe trendiger neuer Bands konkurrieren können. für Musikliebhaber. Meine Hoffnung ist, zuerst intensiv anhört, bevor er sich ent- dass es in zehn Jahren immer noch CDs schließt, eine der CDs zu kaufen. Im Ankauf profitiert der Laden noch gibt. Meine größte Angst, dass wir in zehn von seiner Verleih-Vergangenheit, zu- Jahren als Antiquitätenhändler gelten.“ Im Vergleich zu vielen anderen An- mindest in den Augen seines Besitzers: Um dem vorzubeugen, könnte er sich und Verkauf-Läden betreibt der Ohrwurm „Viele Leute kennen uns noch von früher, vorstellen, sein Angebot um eine gut sor- ein eigenes Konzept, was ihn zu einem sodass sie auf uns zukommen mit ihren tierte Vinyl-Abteilung zu ergänzen. Dies besonderen Musikladen macht: Neben alten Sammlungen. Vor allem aber bieten sei allerdings ein Schritt, der sorgsam Secondhand-CDs wird das Angebot durch wir Verkäufern attraktive Preise von bis zu geplant werden müsse. Aber auch ein Neuware ergänzt. „Vor allem aktuelle Er- 10 Euro für aktuelle CDs. Bei einem Wie- reizvoller, denn die gute alte Schallplatte, scheinungen und Backkataloge, die man derverkaufspreis von 13 Euro ist unsere einst selbst als Antiquität vielerorts aus- nicht überall erhält, kaufen wir neu ein. Gewinnspanne dann zwar klein, aber sortiert, ist wieder im Kommen bei Musik- Natürlich können wir nicht alles Rele- letztendlich lockt das Angebot aktueller liebhabern. vante kaufen, wir müssen schon auf den Platten die Kunden in unseren Laden.“ Marc Möllmann

53 A RDUUF DE RCHREISE

MAx Herre

Welchen Eindruck haben auswärtige Musiker eigentlich von der „Provinzmetropole“ Hannover? Wir begeben uns in jeder Ausgabe auf die Suche nach Antworten ...

Max Herre ist seit 2004 auf Solopfa- auch nach einer interessanten Ausstel- den. Vorher machte er sich als Kreativkopf lung zur Ablenkung.“ und Rapper der Stuttgarter Hiphop-Crew „Freundeskreis“ einen Namen. Damals Eine bestimmte Erinnerung an die wie heute ist er besonders beim weibli- Perle Niedersachsens hat der Songwriter chen Publikum für seine gefühlsbetonten nicht: „Ich kann nicht sagen, dass ich et- Texte und seine Locken beliebt. Auf seiner was sehr mit Hannover verbinde oder es Tour machte er auch in der hannover- irgendein besonderes Erlebnis hier gibt.“ schen „Faust“ Station. Wir trafen einen Allerdings war er von der Location des entspannten Max Herre kurz vor seinem Abends, der Sechziger-Jahre-Halle auf Konzert am Hintereingang der Konzerthal- dem Faust-Gelände, durchaus angetan. le. Auch wenn Hannover nicht mit Wien, „Es ist das erste Mal, dass wir hier spie- Paris oder Berlin mithalten kann, fiel sein len. Sonst haben wir immer im Capitol ge- Fazit gar nicht so negativ aus: spielt, ich find’s aber gut hier. Ein richtiger Rock ’n’ Roll-Schuppen halt.“ „Wir waren nur vorhin etwas essen. Ich habe mir den Kiez um unser Hotel mal Am Ende outet sich Max Herre dann angeschaut. Richtig was Tolles gesehen als Fußballkenner und heimlicher Sym- habe ich nicht. Aber das ist vielleicht auch pathisant von Hannover 96: „Die Stadt ist normal, ich vergleiche Tourneen immer natürlich durch den tragischen Tod von Bildnachweis mit Klassenfahrten. Wir sind zu zwölft, Robert Enke in das kollektive Gedächt- Titel, S. 8, 9, 10, 39, 52, 53: mathieu Bell fahren lange im Bus, frühstücken jeden nis der Nation gerückt. Jeder, der sich für S. 4, 6: Annick Manoukian Tag in einer anderen Stadt. Wenn man Fußball interessiert und die Mannschaft S. 12, 13, 14, 15: katharina Rupprich S. 19, 20: joachim Haupt mal einen Tag frei hat, guckt man sich die hat leiden sehen, musste irgendwie den S. 22, 28/29: dorian Gorr S. 30: privat Stadt an. Ich war in Salzburg in Mozarts Spielern die Daumen drücken. Wenn ich S. 33, 34, 35, 41, Geburtshaus. Für ähnliche Besichtigun- an Hannover denke, dann immer auch an 42, 54: Birk Grüling S. 35: pressefotos TfN gen hatten wir diesmal leider keine Zeit in dieses großartige Team, das so tapfer ver- ©Andreas Hartmann Hannover. Die letzten sechs Nächte habe sucht hat, den Spirit oben zu halten.“ S. 36, 37, 38: pressefotos Skate-Aid S. 44, 45, 46: pressefotos Mainstream ich im Bus verbracht. Ich sehne mich aber S. 47, 48: pressefotos Schattenlichter nicht nur nach einem Hotelbett, sondern Protokolliert von Birk Grüling

54 Mittwoch : 6. oktober 2010 Samstag : 16. oktober 2010 Kuppelsaal im HCC Großer NDr-Sendesaal JAzz miT THOmAS GiDOn kremer QuASTHOff VioLiNE tell it Like it is – kremerATA BAlTicA Lieblingsstücke von thomas Quasthoff Werke von Bartók, Schumann, Pärt, aus Jazz, Soul, Blues und Pop Schostakowitsch, Piazzolla u.a.

Samstag : 23. oktober 2010 Dienstag : 26.oktober 2010 Großer NDr-Sendesaal Kuppelsaal im HCC GABrielA mOnTerO HelSinki PHilHArmOnic KLaViEr LEitUNG : JOHn STOrGÅrDS Latin Live mit Werken von Lecuone, SOl GABeTTA : CELLo Ginastera, Nazareth u.a. Werke von Schumann, Elgar und sowie improvisationen Sibelius

Mittwoch : 3. November 2010 Samstag : 13. November 2010 Kuppelsaal im HCC Großer NDr-Sendesaal Bryn Terfel : BaritoN Hélène GrimAuD BAD BOyS – KLaViEr SCHUrKEN DEr MUSiKGESCHiCHtE Werke von Mozart, Berg, arien von Verdi, Donizetti, von Weber, Liszt und Bartók Puccini, offenbach und anderen

Mittwoch : 24. November 2010 Montag : 13. Dezember 2010 Kuppelsaal im HCC Großer NDr-Sendesaal rOlAnDO VillAzón AlBrecHT mAyer BoLiVar SoLoiStS oBoE : ENGLiSCHHorN México Berliner BArOck SOliSTen Werke von Bach, Goldberg, Dittersdorf und Pisendel

Mittwoch : 9. März 2011 Mittwoch : 23. März 2011 Kuppelsaal im HCC Großer NDr-Sendesaal muTTer’S VirTuOSi GriGOry SOkOlOV LEitUNG UND VioLiNE KLaViEr Anne-SOPHie muTTer Werke von Mendelssohn Bartholdy, Vival- di und anderen

Freitag : 8. april 2011 Samstag : 21. Mai 2011 Kuppelsaal im HCC Kuppelsaal im HCC lAnG lAnG GuSTAV mAHler KLaViEr „SymPHOnie Der TAuSenD“ Werke von Beethoven, albéniz und nDr SinfOnieOrcHeSTer Prokofjew TScHecHiScHe PHilHArmOnie ScHleSWiG-HOlSTein feSTiVAl cHOr nDr cHOr unD AnDere LEitUNG : cHriSTOPH eScHenBAcH Bitte fordern Sie den ausführlichen Konzertkalender an. Karten bei Pro MUSiCa 55 Georgstraße 36 : 30159 Hannover www.promusica-hannover.de telefon 0511 : 36 38 17 : Fax 0511 : 36 38 87 und allen bekannten Vorverkaufsstellen

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