Apuz 12-13/2020: Freie Rede
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70. Jahrgang, 12–13/2020, 16. März 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Freie Rede Kübra Gümüşay Anatol Stefanowitsch DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN. POLITISCH KORREKTE SPRACHE GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG UND REDEFREIHEIT VON „FREIER REDE“ Marie-Luisa Frick Sandra Kostner · Sabine Hark STREITKOMPETENZ GEFÄHRDETE ALS DEMOKRATISCHE MEINUNGSFREIHEIT? QUALITÄT – ZWEI PERSPEKTIVEN ODER: VOM WERT DES WIDERSPRUCHS Mathias Hong MEINUNGSFREIHEIT Patrick Gensing UND IHRE GRENZEN FAKTUM = MEINUNG? ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Freie Rede APuZ 12–13/2020 KÜBRA GÜMÜŞAY ANATOL STEFANOWITSCH DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN. POLITISCH KORREKTE SPRACHE GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG UND REDEFREIHEIT VON „FREIER REDE“ Aus sprachwissenschaftlicher Sicht lässt sich Allzu oft werden Menschen durch pauschale Political Correctness deutlich von Tabuwörtern Kategorisierungen und Zuschreibungen sprach- und Euphemismen abgrenzen. Politisch korrekte lich in Käfige gesteckt. Es ist an der Zeit, offene Sprache dient vor allem der gerechtfertigten Türen in die Käfige einzubauen und Räume für Ächtung von „Slurs“ – Wörter, durch die ganze neue Perspektiven zu schaffen, sodass alle frei Gruppen pauschal abgewertet werden. sprechen können. Seite 22–27 Seite 04–07 MARIE-LUISA FRICK SANDRA KOSTNER · SABINE HARK STREITKOMPETENZ GEFÄHRDETE MEINUNGSFREIHEIT? ALS DEMOKRATISCHE QUALITÄT – ZWEI PERSPEKTIVEN ODER: VOM WERT DES WIDERSPRUCHS Woher kommt es, dass die Wahrnehmung, „man Wir brauchen Widerspruch für qualitätsvolle kann nicht mehr offen sagen, was man denkt“, Meinungsbildung. Wie kann politischer Streit offenbar nennenswerte Zustimmung findet? aber dazu beitragen? Eine mögliche Antwort Sind freie Rede und Meinungsfreiheit tatsächlich liegt darin, dass nur im Bewusstsein von alterna- gefährdet? Während Sandra Kostner dies bejaht, tiven Standpunkten und Sichtweisen der eigene argumentiert Sabine Hark dagegen. Standpunkt bestimmt werden kann. Seite 08–15 Seite 28–33 MATHIAS HONG PATRICK GENSING MEINUNGSFREIHEIT UND IHRE GRENZEN FAKTUM = MEINUNG? Meinungsfreiheit gilt grundsätzlich auch für die Meinungen und unbelegte Behauptungen „Feinde der Freiheit“. Werden die bestehenden werden heute vielfach zu Fakten erklärt, Grenzen der Meinungsfreiheit jedoch beachtet, während gleichzeitig wissenschaftlich anerkannte ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- Erkenntnisse häufig zu Meinungen degradiert gerichts zu diesem Grundrecht auch im Zeitalter werden. Dadurch droht letztlich auch eine der digitalen Empörungsstürme zukunftsfähig. Entwertung der Meinungsfreiheit. Seite 16–21 Seite 34–38 EDITORIAL Sich frei äußern und die eigene Meinung öffentlich verbreiten zu können, ist für freiheitliche demokratische Gesellschaften unerlässlich: Der ungehinderte Austausch konkurrierender Argumente und Sichtweisen ermöglicht politischen Wettbewerb und ist eine wesentliche Voraussetzung für die demokratische Willensbildung. Entsprechend weitreichend ist der Schutz, den die Meinungs- äußerungsfreiheit in Deutschland genießt – das in Artikel 5 des Grundgesetzes verbriefte Grundrecht wird lediglich durch wenige Bestimmungen beschränkt, etwa durch die Verbote der Beleidigung und der Volksverhetzung. Was zulässig ist und was nicht, ist Gegenstand juristischer wie gesellschaft- licher Aushandlung. Angesichts der on- wie offline zu beobachtenden sprach- lichen Enthemmung und vermehrten Hassrede werden die Grenzen der freien Rede gerade vielfach ausgetestet und von Gerichten zum Teil neu definiert. Zugleich wird über den juristischen Bereich hinaus seit Jahren darüber disku- tiert, was „man“ „noch“ sagen dürfe. „Politisch korrekter“ Sprachgebrauch wird von einem nennenswerten Bevölkerungsanteil offenbar als Einschränkung der freien Rede empfunden. Was es indes bedeuten kann, nicht so bezeichnet zu werden, wie man es sich wünscht, fällt vielen erst auf, wenn sie selbst fremdbe- zeichnet werden. Meinungsfreiheit ist mühsam und kann schmerzhaft sein: Sie schützt auch diejenigen, die sich gegen sie aussprechen; und Äußerungen, die moralisch fragwürdig erscheinen, können juristisch zulässig sein. Die meisten der damit verbundenen Zumutungen sind jedoch wechselseitig: Freie Rede bedeutet in der Regel auch freie Widerrede; ein Recht auf Widerspruchsfreiheit gibt es in der Demokratie nicht. Für den Schutz von Respekt und Anstand reichen Gesetze allein aber ohnehin nicht aus – letztlich sind wir alle gefragt, im täglichen Mit- einander (besser) darauf achtzugeben, um einer weiteren Verrohung Einhalt zu gebieten. Johannes Piepenbrink 03 APuZ 12–13/2020 ESSAY DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN Gedanken zur Bedeutung von „freier Rede“ Kübra Gümüşay SCHREIB DICH NICHT pliment“ verpacken und waren damit also kein zwischen die Welten, Problem. Es musste schon eine Vergewaltigung komm auf gegen geschehen, damit ein Problembewusstsein ent- der Bedeutungen Vielfalt, stand. Im Falle von sexueller Belästigung am vertrau der Tränenspur Arbeitsplatz, so beschreibt es Fricker, war der und lerne leben. belästigende Chef sich keiner Schuld bewusst und profitierte vom fehlenden Verständnis – So heißt es in einem Gedichtfragment des jüdi- während die belästigte Angestellte das Gesche- schen Dichters Paul Celan. 01 Er schrieb es in hene weder verstehen, benennen, problema- Frankreich, auf Deutsch – der Sprache seiner tisieren, noch Maßnahmen ergreifen konnte, Mutter, der Sprache ihrer Mörder. Wenn ich die- um sich davor zu schützen. Sie blieb hilf- und ses Gedicht lese, dann höre ich darin nicht nur schutzlos, weil es bis dahin schlicht keinen Be- die Warnung und Selbstermahnung eines Dich- griff gab, der die Situation beschrieb. Damit war ters, sich selbst am Leben zu erhalten – vier Jahre, ihre Erfahrung gleichsam nicht existent. Erst mit bevor er 1970 sein Leben beendete. Ich höre da- der Verbreitung des Begriffes „sexuelle Belästi- rin auch den Ausdruck der Sehnsucht eines Men- gung“ und einem Verständnis davon, konnte der schen nach Existenz, nach dem Sein in der Spra- Missstand auch gesellschaftlich problematisiert che – und dem Sein trotz der Sprache. werden. 03 Keine Sprache deckt die gesamte Realität, den Wie dieses Beispiel eindrücklich zeigt, ist die Facettenreichtum, die Perspektivenvielfalt die- Ohnmacht, die diese linguistische Lücke hinter- ser Welt ab. Es ist, wie einst Ludwig Wittgenstein lässt, immens. Unrecht, Unterdrückungen, Unge- schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeu- rechtigkeit müssen in Worte gefasst werden kön- ten die Grenzen meiner Welt.“ 02 Stattdessen bil- nen, damit Betroffene und Beteiligte, aber auch det Sprache lediglich das ab, was diejenigen Men- Unbeteiligte sie sehen können. Woran aber liegt schen, die in einer Sprache Herrschaft, Macht und es, dass die Erfahrungen und Perspektiven be- Autorität oder Zugang zu diesen besitzen, erfah- stimmter Gruppen in unserer Gesellschaft nicht ren. Sprache ist das, was sie erleben und zur Spra- oder erst nach langen Kämpfen ihren Weg in die che bringen. Und was ist mit Ereignissen, die sie Sprache aller finden? Wer hat die Autorität, Er- nicht erleben? Die sie nicht zur Sprache gebracht fahrungen, Situationen, Ereignisse, Personen und haben? Personengruppen zu benennen? Nehmen wir den Begriff „sexuelle Belästi- Die Lücken in unseren Sprachen sind auch gung“: Was ist, wenn die meisten Menschen die- zutiefst politische. Die Diskussionen um Sprache, sen Begriff nicht kennen? Die Philosophin Mi- Worte und Benennung sind keine Banalität, kei- randa Fricker erläutert am Beispiel der USA ne Nebenschauplätze politischer Auseinanderset- in den 1960er Jahren, welche Folgen es haben zungen. Denn Sprache ist der Stoff unseres Den- kann, Missstände nicht benennen zu können. kens und Lebens. Sie öffnet uns die Welt, aber Damals war der Begriff sexual harrassment noch sie grenzt uns auch zugleich ein. Sie öffnet Tü- nicht verbreitet, es gab kein gesamtgesellschaft- ren, aber baut auch Mauern und versperrt unsere liches Verständnis dessen, was dieser Begriff Sicht. Ja, keine Unterdrückung wird allein durch beschreibt. So ließen sich ungewollte Annähe- eine gerechte Sprache ein Ende finden – aber ohne rungen sprachlich als „Flirt“ oder gar „Kom- eine gerechte Sprache eben auch nicht. 04 Freie Rede APuZ SICHTBARKEIT vor, die Hamburger Bevölkerung würde infolge dieser „Entdeckung“ nicht nur massenhaft er- Während ich an diesem Text arbeite, werden in mordet und ihres Besitzes beraubt, sondern fort- der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 in an auch gegen ihren Widerstand als „Mexikanier“ Hanau zehn Menschen ermordet. Der aus ras- bezeichnet. Es wäre ein Beharren auf der Per- sistischen Motiven handelnde Attentäter war ein spektive der Ignoranz, der Gewalt, des Mordens, Rechtsterrorist. Dennoch ist am Morgen nach der kolonialen Herrschaft – und nichts anderes seinen Taten vielfach wieder von einem „Ein- tun wir, wenn wir die indigenen Völker Amerikas zeltäter“ und „fremdenfeindlichen Motiven“ die als „Indianer“ bezeichnen oder wenn wir die Ver- Rede. 04 Aber die Menschen, die ermordet wur- wendung des N-Worts verteidigen. Wir beharren den, waren keine „Fremden“. Das Motiv war damit auf der Perspektive der Kolonisierenden, Rassismus. Und der Mörder war insofern kein der Sklaventreiber, der Entmenschlichung. „Einzeltäter“, als eine ideologisch motivierte Tat Letztlich ist es so: „Man“ kann alles sagen. niemals eine Einzeltat ist. Die Tonangebenden, Doch Menschen so zu bezeichnen, wie sie be- die Entmenschlichenden, die Schreibenden, die zeichnet werden wollen, ist keine Frage von dieser Ideologie den Weg bereiten, sind alle an Höflichkeit,