Plenarprotokoll 12/202

Deutscher

Stenographischer- Bericht

202. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abge Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . 17439A ordneten Lisa Peters 17411 A Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17441B Dr. Friedbert 17442B Wahl der Abgeordneten Joachim Tappe Pflüger CDU/CSU und Alfons Müller (Wesseling) zu Schrift Helmut Schäfer (Mainz) F.D.P. . . . 17443 C führern ...... 17411 B Dr. SPD 17445 A

Abwicklung und Erweiterung der Tages Ortwin Lowack fraktionslos 17447 A ordnung 17411B Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 17448A

Begrüßung des Marschalls des Sejms der Zusatztagesordnungspunkt 2: Republik Polen, Józes Olesky, und seiner Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- Delegation 17415D desregierung zu Vorstellungen über die Lockerung der Rüstungsexport- Tagesordnungspunkt 2: politik Abgabe einer Erklärung der Bundes- Hermann Bachmaier SPD 17449B regierung NATO-Gipfel vom 10./11. Januar in Peter Kittelmann CDU/CSU ...... 17450 B Brüssel Klaus Beckmann F.D.P. 17451 C Dr. , Bundeskanzler . . . . 17412A Dr. PDS/Linke Liste 17452 C Hans-Ulrich Klose SPD 17415D Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17453 B Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . 17419B Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 17454 B Ulrich Irmer F.D.P. 17422 B SPD 17455 D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 17423D, 17440B CDU/CSU 17456D Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 17457 D GRÜNEN ...... 17425 C Dr. Elke Leonhard-Schmid SPD 17459A Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . . 17427A Ernst Hinsken CDU/CSU 17460A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste . . . . 17427 D Norbert Gansel SPD 17461B Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 17430D Dr. CDU/CSU . 17462B Brigitte Schulte (Hameln) SPD 17433 D Ulrich Irmer F.D.P. 17463 B Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU 17436B Erich G. Fritz CDU/CSU 17464 B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): Tagesordnungspunkt 13: Fragestunde Überweisungen im vereinfachten Verfah- — Drucksachen 12/6560 vom 12. Januar ren 1994 und 12/6538 vom 7. Januar 1994 — a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Beauftragung einer besonderen Bauleitung Ausführungsgesetzes zu dem Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 und einer Projektsteuerung für die Schür über die Kontrolle der grenzüberschrei- -mann-Bauten tenden Verbringung gefährlicher Ab- DringlAnfr 1, 2 fälle und ihrer Entsorgung (Ausfüh- Otto Reschke SPD rungsgesetz zum Basler Übereinkom- Antw BMin Dr. men) (Drucksache 12/6351) BMBau 17465B 17468A b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- ZusFr Otto Reschke SPD . . . 17465 C, 17468B gebrachten Entwurfs eines ... Geset- ZusFr Peter Conradi SPD . . . 17465D, 17469B zes zur Änderung des Fünften Buches (Drucksache ZusFr Norbert Gansel SPD 17466A des Sozialgesetzbuches 12/6482) ZusFr Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 17466B, 17471A c) Erste Beratung des von der Bundesre- ZusFr Achim Großmann SPD 17466C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom ZusFr Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . 17466D, 22. Dezember 1992 zum Abkommen 17470 C vom 20. Oktober 1982 zwischen der ZusFr Horst Kubatschka SPD . 17467A, 17469 D Bundesrepublik Deutschland und der ZusFr Hans Wallow SPD . . . 17467B, 17470 B Schweizerischen Eidgenossenschaft über Arbeitslosenversicherung (Druck- ZusFr Siegfried Scheffler SPD 17467 C sache 12/6536) ZusFr Brigitte Schulte (Hameln) SPD . 17467 D d) Erste Beratung des von der Bundesre- ZusFr Dr. Ulrich Janzen SPD 17469 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Entlastung Mitteilung der Bundesbauministerin über von Grenzpendlern und anderen be- den Rücktritt der Präsidentin der Bundes- schränkt steuerpflichtigen natürlichen baudirektion Personen (Grenzpendlergesetz) (Druck- DringlAnfr 3 sache 12/6476) Peter Conradi SPD e) Erste Beratung des von der Bundesre- Antw BMin Dr. Irmgard Schwaetzer gierung eingebrachten Entwurfs eines 17471A BMBau Gesetzes zu den Protokollen vom ZusFr Peter Conradi SPD 17471 B 27. November 1992 zur Änderung des ZusFr Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . 17472 A Internationalen Übereinkommens von 1969 über die zivilrechtliche Haftung ZusFr Otto Reschke SPD 17472 B für Ölverschmutzungsschäden und zur ZusFr Hans Wallow SPD 17472D Änderung des Internationalen Über- ZusFr Horst Kubatschka SPD 17473 A einkommens von 1971 über die Errich- tung eines Internationalen Fonds zur ZusFr Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU 17473 B Entschädigung für Ölverschmutzungs- schäden (Drucksache 12/6364) Örtliche Bauleitung beim Schürmann-Bau DringlAnfr 4 f) Erste Beratung des von der Bundesre- Peter Conradi SPD gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ölschaden- Antw BMin Dr. Irmgard Schwaetzer gesetzes (Drucksache 12/6373) BMBau 17473D ZusFr Peter Conradi SPD 17474 A g) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines ZusFr Otto Reschke SPD 17474 C Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Einführung einer Rücknahmepflicht für Alt- zur Übernahme der Beamten und Arbeitnehmer der Bundesanstalt für papier und Altautos Flugsicherung (Drucksache 12/6372) MdlAnfr 25 Marion Caspers-Merk SPD h) Erste Beratung des von den Fraktionen Antw StSekr Clemens Stroetmann BMU . 17475A der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur ZusFr Marion Caspers-Merk SPD . . . 17475B Änderung des Bundeszentralregister- ZusFr Horst Kubatschka SPD 17475 B gesetzes (Drucksache 12/6380) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 III

i) Beratung des Antrags der Abgeordne- tung durch die Bundesregierung: Über- ten Gerd Wartenberg (Berlin), Gerd planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Andres, , weiterer Abge- Titel 656 04 — Zuschüsse zu den Beiträ- ordneter und der Fraktion der SPD: gen zur Rentenversicherung der in Statistik der Zu- und Abwanderung Werkstätten beschäftigten Behinder- (Drucksache 12/5361) ten — (Drucksachen 12/6137, 12/6403) j) Erste Beratung des von der Bundesre- d) Beratung der Beschlußempfehlung des gierung eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Elften Gesetzes zur Änderung dienst- tung durch die Bundesregierung: Über- rechtlicher Vorschriften (Drucksache planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 12/6479) - Titel 681 02 — Aufwendungen des Bun- des für die gesetzliche Unfallversi- k) Erste Beratung des von der Bundesre- cherung — (Drucksachen 12/6063, gierung eingebrachten Entwurfs eines 12/6404) Zwölften Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften (Druck- e) Beratung der Beschlußempfehlung des sache 12/6483) Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Über- 1) Beratung des Antrags der Abgeordne- planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 ten Horst Kubatschka, Robert Antretter, Titel 646 12 — Erstattung von Invali- Hermann Bachmaier, weiterer Abge- denrenten und Aufwendungen für ordneter und der Fraktion der SPD: Öko- Pflichtbeitragszeiten bei Erwerbsunfä- logisch verantwortlicher Ausbau der higkeit in dem in Artikel 3 des Eini- Donau zwischen Straubing und Vils- gungsverfahrens genannten Gebiet — hofen (Drucksache 12/5635) (Drucksachen 12/6138, 12/6405) m) Beratung des Antrags der Abgeordne- f) Beratung der Beschlußempfehlung des ten Dr. Margit Wetzel, Klaus Dauberts- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- häuser, Robert Antretter, weiterer Ab- tung durch die Bundesregierung: Über- geordneter und der Fraktion der SPD: planmäßige Ausgaben bei Kapitel 05 02 Konzept zur Sicherung der nautischen Titel 686 30 — Beitrag an die Vereinten Qualifikation (Drucksache 12/6102) 17476 B Nationen — (Drucksachen 12/6038, 12/6406) Zusatztagesordnungspunkt 3 a: g) Beratung der Beschlußempfehlung und Weitere Überweisung im vereinfachten des Berichts des Ausschusses für Ver- Verfahren kehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kom- Beratung des Antrags der Abgeordne- mission an den Rat über ein Aktions- ten Dirk Hansen, Klaus-Jürgen Hedrich, programm zur Straßenverkehrssicher- Günter Klein (Bremen) und weiterer heit (Drucksachen 12/5827 Nr. 2.16, Abgeordneter: Ausbau der Bahnverbin- 12/6315) 17477 C dung: Nordseehäfen-Berlin, insbeson- dere des Teilabschnitts: Uelzen-Sten- dal (Drucksache 12/6456) 17477 B Zusatztagesordnungspunkt 4 a: Weitere abschließende Beratungen ohne Tagesordnungspunkt 14: Aussprache Abschließende Beratungen ohne Aus- Beratung der Beschlußempfehlung und sprache des Berichts des Ausschusses für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit a) Beratung der Beschlußempfehlung des zu der Verordnung der Bundesregie- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- rung: Zustimmungsbedürftige Verord- tung durch die Bundesregierung: Über- nung zur Änderung der Verordnung planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 über Immissionswerte (Drucksachen Titel 681 01 — Arbeitslosenhilfe — 12/6241, 12/6555) ...... 17478B (Drucksachen 12/6175, 12/6401) b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Tagesordnungspunkt 3: tung durch die Bundesregierung: Über- a) Forschungsdebatte zum Standort planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Deutschland Titel 681 12 — Sachkosten bei Teil- nahme an Deutsch-Sprachlehrgän- b) Beratung der Unterrichtung durch die gen für Aussiedler — (Drucksachen Bundesregierung: Bundesbericht For- 12/5880, 12/6402) schung 1993 (Drucksache 12/5550) c) Beratung der Beschlußempfehlung des c) Beratung des Antrags der Abgeordne- Haushaltsausschusses zu der Unterrich ten Dr. Uwe Jens, Angelika Barbe, Hol- IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

ger Bartsch, weiterer Abgeordneter und Tagesordnungspunkt 5: der Fraktion der SPD: Einrichtung eines a) Beratung der Unterrichtung durch den Zukunfts- und Technologierates zur Bundesbeauftragten für den Daten- Begutachtung der langfristigen Wettbe- schutz: 14. Tätigkeitsbericht des Bun- werbsfähigkeit der deutschen Wirt- desbeauftragten für den Datenschutz schaft (Drucksache 12/5914) gemäß § 26 Abs. 1 des Bundesdaten- d) Beratung der Beschlußempfehlung und schutzgesetzes — Berichtszeitraum An- des Berichts des Ausschusses für For- fang 1991 bis Anfang 1993 — (Drucksa- schung, Technologie und Technikfol- che 12/4805) genabschätzung zu der Unterrichtung b) Erste Beratung des von den Abgeordne- durch die Bundesregierung: Vorschlag ten Ingrid Köppe, Dr. für einen Beschluß des Rates über den und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abschluß eines Abkommens zwischen NEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- der Europäischen Wirtschaftsgemein- setzes zur Änderung des Grundgesetzes schaft und der Russischen Föderation (Betr.: Datenschutz und Informations- über Raumfahrtdienste (Drucksachen freiheit) (Drucksache 12/5695) 12/5749 Nr. 3.60, 12/6378) c) Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Ingrid Köppe und der Gruppe in Verbindung mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesetzli- che Regelung zur Einführung der Infor- Zusatztagesordnungspunkt 5: mationsfreiheit (Allgemeines Infor- Beratung des Antrags der Fraktionen mationsfreiheits-Gesetz) (Drucksache der CDU/CSU und F.D.P.: Förderung 12/5694) der Industrieforschung in den neuen Dr. CDU/CSU 17503 C Bundesländern (Drucksache 12/6561) Dorle Marx SPD 17505 C CDU/CSU 17479 A Dr. F.D.P...... 17508A Josef Vosen SPD 17481 B Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17509B Dr. Karl-Hans Laermann F.D.P. 17482C, 17498 C PDS/Linke Liste 17510A Dr. PDS/Linke Liste . . . 17484 A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 17510 C Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 17511C GRÜNEN ...... 17485A Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 17512 C Dr.-Ing. Paul Krüger, Bundesminister BMFT 17486 C Tagesordnungspunkt 6: Wolf-Michael Catenhusen SPD 17488D Beratung der Großen Anfrage der Frak- Dr. Christoph Schnittler F.D.P. . . . . 17491 A tion der SPD: Situation der psychisch Kranken in der Bundesrepublik Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke) Deutschland (Drucksachen 12/2019, CDU/CSU 17491 D 12/4016) SPD 17493 C Regina Schmidt-Zadel SPD 17512 D Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU 17495D Dr. Walter Franz Altherr CDU/CSU . . 17514 C Josef Vosen SPD 17496 C Dr. Dieter Thomae F.D.P. 17516D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 17497 B Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD . . . . 17517 A Dr. PDS/Linke Liste . . 17518B Tagesordnungspunkt 4: Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staats- Zweite und dritte Beratung des von der sekretärin BMG 17519B Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über Statistiken Tagesordnungspunkt 7: im Handwerk (Handwerkstatistik- gesetz) (Drucksachen 12/5833, 12/6357, Erste Beratung des von der Bundesre- 12/6400) gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär Arzneimittelgesetzes (Drucksache BMWi 17499A 12/6480) 17521 C Dr. Uwe Jens SPD 17499 D Tagesordnungspunkt 8: Ernst Hinsken CDU/CSU 17501A a) Erste Beratung des von den Fraktionen Klaus Beckmann F.D.P. 17502B der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 V

Entwurfs eines Gesetzes über die Neu- Anlage 4 ordnung zentraler Einrichtungen des Gesundheitswesens (Drucksache Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- 12/6551) nungspunkt 8a und b (Gesetzentwurf Neu- ordnung zentraler Einrichtungen des Ge- b) Beratung des Antrags der Abgeordne- sundheitswesens und Antrag: Reorganisa- ten Karl-Hermann Haack (Extertal), tion des Bundesgesundheitsamtes) Klaus Kirschner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reorgani- , Bundesminister BMG . . 17539* B sation des Bundesgesundheitsamtes Dr. Paul Hoffacker CDU/CSU 17542* C (BGA) als Bundesamt für Gesundheits- Karl Hermann Haack (Extertal) SPD . . 17544* C schutz (Drucksache 12/6490) 17521 C- Dr. Dieter Thomae F.D.P. 17546* A Tagesordnungspunkt 9: Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . 17547* B Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Krebsregister (Krebsregi- Anlage 5 stergesetz) (Drucksache 12/6478) . . 17521D Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- nungspunkt 9 (Gesetzentwurf über Krebs- Tagesordnungspunkt 10: register) Erste Beratung des von der Gruppe der Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatsse PDS/Linke Liste eingebrachten Ent- kretärin BMG 17548* C wurfs eines Gesetzes gegen Rassismus und die Diskriminierung ausländischer Dr. CDU/CSU 17549* D Bürgerinnen und Bürger (Antirassis- Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . 17550* C musgesetz) (Drucksache 12/6245) Dr. Dieter Thomae F.D.P. 17551* C Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 17522 B Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . 17552* B Erika Steinbach-Hermann CDU/CSU . 17523C Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . 17524C Anlage 6 Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 17526B Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- nungspunkt 10 (Antirassismusgesetz) Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 17526 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Nächste Sitzung 17527 D GRÜNEN 17553* A

Anlage 7 Anlage 1 Einführung einer Rücknahmepflicht für Liste der entschuldigten Abgeordneten . 17529* A gebrauchte Batterien und schadstoffhaltige Verpackungen

MdlAnfr 26 — Drs 12/6538 — Anlage 2 Jutta Müller (Völklingen) SPD Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- SchrAntw StSekr Clemens Stroetmann nungspunkt 6 (Große Anfrage: Situation der BMU 17554* A psychisch Kranken in der Bundesrepublik Deutschland) Anlage 8 Dr. Dieter Thomae F.D.P. 17529* C Einführung einer Rücknahmepflicht für Elektronikschrott sowie Erlaß der Mehr- weg-Verordnung Anlage 3

MdlAnfr 27 — Drs 12/6538 — Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Horst Kubatschka SPD nungspunkt 7 (Entwurf eines Fünften SchrAntw StSekr Clemens Stroetmann Gesetzes zur Änderung des Arzneimittel- BMU 17554* B gesetzes)

Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 17530* C Anlage 9 CDU/CSU 17533* B Verabschiedung der Verordnung zum Au- Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . 17534* C toschrottrecycling Dr. Dieter Thomae F.D.P. 17535* D MdlAnfr 28 — Drs 12/6538 — SPD Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . 17536* D SchrAntw StSekr Clemens Stroetmann Karl Hermann Haack (Extertal) SPD . . 17538* A BMU 17554* C VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Anlage 10 Anlage 13 Ausgewiesener Pegelstand für den Hoch- Nichtabrüstung der russischen Streitkräfte wasserschutz der sog. Schürmannbauten des Bundestages; Entscheidung zur Flu- MdlAnfr 36 — Drs 12/6538 — tung des Bauwerkes Jürgen Augustinowitz CDU/CSU MdlAnfr 29, 30 — Drs 12/6538 — SchrAntw StMin Ursula Seiler-Albring CDU/CSU AA 17555 *D SchrAntw PStSekr Joachim Günther BMBau 17554* D Anlage 14 Soziale und wirtschaftliche Situation der Anlage 11 indigenen Völker Mexikos; Bemühungen Vorrangiger Verkauf von Wohnungen in um Verhinderung der Vollstreckung des Ostdeutschland, z. B. in der Berliner Karl- Todesurteils eines iranischen Gerichts ge- Marx-Allee, an die derzeitigen Mieter (an- gen den Deutschen Helmut Szimkus wegen stelle an die Deutsche Pfandkreditbank) angeblicher Spionage zugunsten Iraks MdlAnfr 31, 32 — Drs 12/6538 — MdlAnfr 37, 38 — Drs 12/6538 — Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste Dr. Klaus Kübler SPD SchrAntw PStSekr Joachim Günther SchrAntw StMin Ursula Seiler-Albring BMBau 17555* A AA 17556* A

Anlage 12 Anlage 15 Hinterlegung des Urteils des Bundesverfas- sungsgerichts zum Maastrichter Vertrag Weltweites Moratorium für die Herstellung mit der Ratifikationsurkunde von Landminen MdlAnfr 35 — Drs 12/6538 — MdlAnfr 39 — Drs 12/6538 — Ortwin Lowack fraktionslos Hans Wallow SPD SchrAntw StMin Ursula Seiler-Albring SchrAntw StMin Ursula Seiler-Albring AA ...... 17555* C AA 17556* D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17411

202. Sitzung

Bonn, den 13. Januar 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen 3. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergän- und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich eröffne zung zu TOP 13) die erste Beratungssitzung im Jahre 1994 und wün- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Hansen, sche Ihnen und uns allen ein gutes neues Jahr. Ich Klaus-Jürgen Hedrich, Günter Klein (Bremen) und weite- wünsche uns in diesem schwierigen und herausfor- rer Abgeordneter: Ausbau der Bahnverbindung: Nord- seehäfen-Berlin, insbesondere des Teilabschnitts: Uel- dernden Jahr eine überzeugende, gute parlamentari- zen-Stendal — Drucksache 12/6456 — sche Arbeit, gute Debatten und Entscheidungen. Ich wünsche uns Fairneß für uns alle untereinander, von 4. weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er- seiten der Medien und auch von seiten der Bürgerin- gänzung zu TOP 14) nen und Bürger. Ich hoffe, daß wir diese Wahlperiode a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des gut miteinander beenden. Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (17. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregie- Die Kollegin Lisa Peters feierte am 17. Dezember rung: Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Änderung ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihr im Namen des der Verordnung über Immissionswerte — Drucksachen 12/6241, 12/6555 — Hauses nachträglich sehr herzlich und wünsche wei- terhin alles Gute. 5. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Förderung der Industrieforschung in den neuen (Beifall) Bundesländern — Drucksache 12/6561 — Die Kollegin und der Kollege Wolf- 6. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), , Dr. Dionys Jobst, weiteren gang Schulhoff legen ihr Amt als Schriftführer nieder. Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Ich danke beiden für ihre tatkräftige Unterstützung. Abgeordneten , , Roland Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger den Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. Abgeordneten Joachim Tappe und die Fraktion der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung CDU/CSU den Abgeordneten Alfons Müller (Wesse- des Binnenschiffahrtsaufgabengesetzes — Drucksache 12/6381 — ling) vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstan- den? — Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann sind 7. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke die Kollegen Joachim Tappe und Alfons Müller (Wes- Liste: Haltung der Bundesregierung zur Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr auf Einsätze bei inneren Angele- seling) als Schriftführer gewählt. genheiten der Bundesrepublik Deutschland Ich möchte darauf hinweisen, daß nach der Aus- Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, sprache zur Regierungserklärung über den NATO- soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung Gipfel vom 10. und 11. Januar 1994 in Brüssel und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewi- zunächst die von der Fraktion der SPD verlangte chen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich Aktuelle Stunde zur Rüstungsexportpolitik und erst höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- danach — gegen 14.15 Uhr — die Fragestunde statt- sen. findet. Anschließend werden dann die Tagesord- nungspunkte ohne Aussprache aufgerufen. Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste auf- Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- geführt: rung

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: NATO - Gipfel vom 10./11. Januar in Brüssel Politische Konsequenzen aus der jüngsten Entwicklung der Asylbewerberzahlen nach Inkrafttreten der Asylgesetze (In Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind der 201. Sitzung bereits erledigt.) für die Aussprache im Anschluß an die Regie- rungserklärung drei Stunden vorgesehen. — Auch 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Vorstellungen über die dazu gibt es keinen Widerspruch. Es ist so beschlos- Lockerung der Rüstungsexportpolitik sen. 17412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, mit uns im hat der Bundeskanzler. Rahmen der Partnerschaft für den Frieden noch enger politisch und militärisch zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig geht von diesem Treffen in Brüssel das Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Dr. Helmut Kohl, Signal aus: Die NATO ist für neue Mitglieder offen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gip- Wir wollen die ehemals kommunistischen Staaten feltreffen der 16 NATO-Mitgliedstaaten am 10. und Mittel- und Osteuropas schrittweise an die NATO 11. Januar in Brüssel war ein Meilenstein auf dem heranführen, bis hin zur Mitgliedschaft — selbstver- Weg zu einer neuen Sicherheitsordnung für Europa ständlich nur dann, wenn diese Staaten dies wollen. nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Der Gipfel hat vier wesentliche Ergebnisse erbracht: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Erstens. Die NATO hat den engen Schulterschluß sowie bei Abgeordneten der SPD) zwischen Nordamerika — vor allem den USA — und Dieser neue Ansatz ist das historisch beispiellose Europa bekräftigt. Angebot, ein Militärbündnis für umfassende Zusam- Zweitens. Die Zusammenarbeit zwischen Atlanti- menarbeit und Partnerschaft mit früheren Gegnern scher Allianz und Europäischer Union wird wesent- zu öffnen. Alle Staaten, die diese Partnerschaft anneh- lich ausgebaut. men, werden sich an gemeinsamen militärischen Drittens. Die NATO bietet den Staaten Mittel-, Ost- Planungen und Übungen beteiligen können. Dazu und Südosteuropas sowie den Nachfolgestaaten der gehören auch gemeinsame Ausbildung und Teil- Sowjetunion eine Partnerschaft für den Frieden an. nahme an internationalen Friedensmissionen. Damit will die NATO zugleich zum Aufbau von Streitkräften Viertens. Die Allianz gibt ein klares Signal, daß die beitragen, die auf die Demokratie verpflichtet und NATO für neue Mitglieder offen ist. deren innere Strukturen mit denen in unseren S treit- Das Bündnis hat damit seine zentrale Bedeutung als kräften vergleichbar sind. Eckpfeiler der Sicherheit und Stabilität nicht nur für die eigenen Mitglieder, sondern darüber hinaus für Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein ganz Europa unter Beweis gestellt. ganz entscheidendes Element des Programms ist das Angebot, mit Partnern in Konsultationen einzutreten, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn sie eine direkte Bedrohung ihrer territorialen Gerade wir Deutschen haben erfahren, daß Stärke Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicher- und Geschlossenheit des Bündnisses entscheidend heit befürchten. Unser Programm einer Partnerschaft zur Beendigung des kalten Krieges, der Spaltung für den Frieden ist so angelegt, daß wir diesen Prozeß Europas und der Teilung Deutschlands beigetragen der Annäherung flexibel, individuell und in Abhän- haben. Dieser historische Erfolg des Bündnisses gigkeit von der sonstigen Entwicklung in Europa beruht vor allem auf dem festen Sicherheitsverbund gestalten können. zwischen Nordamerika und Europa. Jedes Land ist eingeladen, seinen eigenen Beitrag Präsident Clinton hat in seiner großen Rede im in diese Partnerschaft einzubringen. Unsere künftigen Rathaus von Brüssel am 9. Januar bekräftigt, daß Partner haben auf diese Weise die Möglichkeit, ent- dieses partnerschaftliche Sicherheitsbündnis mit Eu- sprechend dem eigenen Interesse Tempo und Ausmaß ropa „für die Vereinigten Staaten von Amerika vor- der Annäherung an die NATO mitzugestalten. rangig bleibt" . Er hat zugleich zugesagt, daß etwa 100 000 amerikanische Soldaten in Europa stationiert (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bleiben. Darüber hinaus hat er die Bedeutung und die Die Nordatlantische Gemeinschaft steht angesichts Rolle Deutschlands für den Aufbau einer stabilen Friedensordnung in Europa ganz ausdrücklich gewür- der Beitrittswünsche einiger unserer östlichen Nach- digt und anerkannt. barn vor schwierigen Fragen. Wir verstehen die Sicherheitsbedürfnisse und Ängste der Menschen in Meine Damen und Herren, die NATO unterstützt diesen Ländern. Ich nenne hier gerade auch in diesem unmißverständlich den Vertrag von Maastricht und Augenblick ganz bewußt unsere Nachbarn in Polen. damit die weitere politische Einigung Europas. Dies Sie beruhen auf tragischen Erfahrungen in diesem gilt auch für die Bemühungen, eine eigenständige Jahrhundert. Es kommt hinzu, daß sich die Menschen europäische Sicherheitspolitik und Verteidigung mit in Mittel- und Osteuropa während der Zeit des kalten Hilfe der Westeuropäischen Union als sicherheits- Krieges nach Freiheit und Demokratie gesehnt politischem Arm der Politischen Union entsprechend haben. dem Maastricht-Vertrag aufzubauen. Früher von manchen amerikanischen Regierungsvertretern hier- Nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs haben gegen geäußerte Vorbehalte gibt es jetzt nicht wir diese Länder ermutigt, Demokratie, Rechtsstaat mehr. und Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild einzu- führen. Deshalb ist ihr Wunsch, sich den großen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Institutionen des Westens anzuschließen, nur zu ver- Künftig wird die Westeuropäische Union für eigene ständlich. Einsätze, so dies notwendig ist, auf Streitkräfte der NATO zurückgreifen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Das zweite wesentliche Ergebnis unserer Beratun- gen ist die Einladung der NATO an die jungen Zugleich gibt es in Rußland vor allem historisch Demokratien Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie gewachsene Befürchtungen vor Isolierung und Ein- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17413

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl kreisung. Auch diese Sorge müssen wir, auch und vor deutsch - polnische Grenze auf Dauer die Ostgrenze allem wir Deutsche, ernstnehmen. der Politischen Union Europas bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD und des Deshalb strebt die NATO mit Rußland und auch der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ukraine eine umfassende und vertiefte Zusammenar- beit auf sicherheitspolitischem und militärischem Mit den anderen Reformstaaten Osteuropas wird Gebiet an. die Europäische Union partnerschaftliche Beziehun- gen auf der Grundlage entsprechender Verträge ent- Meine Damen und Herren, wenn wir das Ziel wickeln. Die Bundesregierung dringt darauf, daß erreichen wollen, eine tragfähige europäische Sicher-- insbesondere das Abkommen mit Rußland möglichst heitsordnung zu schaffen, dann müssen wir alle auf bald abgeschlossen wird. diese psychologischen Gegebenheiten und Sicher- heitsinteressen Rücksicht nehmen. Es darf auf keinen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fall nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts zu Lage für viele Menschen in den Reformstaaten, vor neuen Gräben und damit zu neuen Spaltungen in allem auch in Rußland, ist von ungeheuren sozialen Europa kommen. Sicherheit und Stabilität in Europa Problemen, wirtschaftlicher Not und Unsicherheit sind unteilbar. gekennzeichnet. Wachsende Kriminalität und noch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. unzureichende rechtsstaatliche Strukturen belasten sowie bei Abgeordneten der SPD) den Alltag der Menschen. Sie erschweren wirtschaft- liche Reformen. Dies führt verständlicherweise zu Deshalb, so denke ich, sind Enttäuschung oder innenpolitischen Spannungen und auch zu einem Entmutigung über die Beschlüsse des NATO-Gipfels Stück Instabilität. in keinem Fall angebracht. Unser Angebot, das einige bereits angenommen haben, ist vielmehr ein wichti- Die Wahlen in Rußland und das starke Abschneiden ger und ernstgemeinter Schritt auf dem Weg zu einer extremer Kräfte sind deshalb nicht nur für die russi- späteren Mitgliedschaft der Staaten Mittel-, Ost- und sche Führung, sondern für uns alle ein ernsthaftes Südosteuropas in der NATO. Warnsignal. Auch wir im Westen müssen noch stärker Deutschland hat heute gute und freundschaftliche als bisher auf die unmittelbaren Auswirkungen der Beziehungen zu allen Ländern in Mittel- und Osteu- Wirtschaftsreformen auf die russische Bevölkerung ropa, auch zu Rußland. Dies gibt uns besondere achten. Möglichkeiten, bilateral konstruktiv auf diesen Pro- zeß der Annäherung einzuwirken. Hierzu, meine Wir waren uns auf dem Gipfel in Brüssel einig, daß Damen und Herren, verpflichten uns unsere Nachbar- die Politik der Reformen in Rußland, wie sie von schaft und vor allem auch unsere besondere histori- Präsident Jelzin seit seinem Amtsantritt verkörpert sche Erfahrung und Verantwortung. werden, weiter unterstützt werden muß. Hiervon darf uns auch das Wahlergebnis in Rußland, bei allen Ein wesentliches Ergebnis der Beratungen in Brüs- berechtigten Sorgen, die wir haben, nicht abb ringen. sel ist für mich, daß Atlantische Allianz und Europäi- Fortschritte müssen vor allem für die Menschen, deren sche Union heute auf das gleiche Ziel hinarbeiten, Lebensstandard in letzter Zeit drastisch gesunken ist, nämlich die Einbeziehung der jungen Demokratien in spürbar werden. Mittel- und Osteuropa in bestehende westliche Gemeinschaften. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Europäische Union hat auf der Konferenz des Meine Damen und Herren, wir dürfen die schrillen, Europäischen Rates in Kopenhagen im Juni 1993 unseren Nachbarn im Osten konkrete Beitrittsper- extremistischen Töne, die wir jetzt gelegentlich aus spektiven eröffnet. Wir, gerade wir Deutsche, wollen Moskau vernehmen, nicht überhören; das ist die eine den Beitritt dieser Länder. Allerdings — das muß auch Seite. Andererseits sollten wir auch keinen Beitrag gesagt werden — müssen sie selbst die politischen und dazu leisten, die Dinge zu dramatisieren. Das Ausmaß wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen solchen der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftli- Beitritt erfüllen. chen Umgestaltungen in Rußland ist in der Geschichte ohne jedes Beispiel. Seit 1917 herrschte in Rußland (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine totalitäre kommunistische Diktatur, die in Jahr- zehnten ein menschenfeindliches und auch ökono- Wir wollen dabei nicht vergessen, daß auch diese misch unfähiges System hervorbrachte. Die Hypothe- Beitrittsperspektive unmittelbare sicherheitspoliti- ken eines solchen Regimes zu tilgen kostet Zeit, Mut sche Bedeutung hat. Es ist nach dem Maastricht und ungeheure Energie. Angesichts der Größe dieser Vertrag ein Kernziel der Europäischen Union, eine Aufgabe kann dieser Prozeß nur langsam vorankom- gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik zu ent- men. Das Bewußtsein der Betroffenen kann sich nur wickeln. Diese Länder werden also die Chance haben, allmählich den Änderungen anpassen. Rückschläge bereits vor dem Beitritt an dieser Entwicklung Anteil bei diesem Prozeß sind unausweichlich. zu haben. Diese Politik, meine Damen und Herren, entspricht Deswegen plädiere ich dafür, werbe ich dafür, daß vor allem auch unseren eigenen vitalen deutschen wir bei der .Betrachtung der Entwicklung in Moskau Interessen. Es ist für mich völlig unvorstellbar, daß die und in Rußland nicht die Maßstäbe unseres Alltags im 17414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Westen anlegen, sondern Verständnis haben für die nen Bereichen Europas wieder aufflammen und sich besondere Situation. in bitteren und blutigen Konflikten entladen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie Wir haben uns bei dem Treffen in Brüssel auch bei Abgeordneten der SPD und des BÜND eingehend mit der Lage im ehemaligen Jugoslawien NISSES 90/DIE GRÜNEN) beschäftigt. Es muß unverändert unser vorrangiges Ziel bleiben, die humanitäre Versorgung der Men- Dabei sollten wir nicht vergessen, daß der Reform- schen zu gewährleisten. prozeß in Rußland trotz all dieser Schwierigkeiten auch beachtliche Fortschritte gebracht hat. Eine (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Mehrheit der Wähler hat Rußland erstmals eine SPD) demokratische Verfassung gegeben. Die Herausbil- dung demokratischer Parteien hat begonnen, zugege-- Die Allianz hat ihre Bereitschaft bekräftigt — ich benermaßen mühsam genug. In einzelnen Bereichen zitiere wörtlich aus der Gipfelerklärung —, „unter der der Wirtschaftsreform, beispielsweise bei der Privati- Autorität des UN-Sicherheitsrates und in Überein- sierung, zeigen sich erste Erfolge. stimmung mit den Entscheidungen der Allianz vom 2. und 9. August 1993 Einsätze aus der Luft durchzufüh- Das heißt für mich: Wir dürfen bei den Anstrengun- ren, um die Einschnürung von Sarajewo, der Schutz- gen zur Unterstützung dieses Reformprozesses und zonen und anderer bedrohter Gebiete in Bosnien des Aufbaus einer demokratischen Ordnung nicht Herzegowina zu verhindern." nachlassen. Von entscheidender Bedeutung ist hier- bei die Öffnung unserer Märkte für Waren aus den Wir werden uns weiter um eine politische Lösung Reformländern. Wirtschaftshilfe, Beratung und Kre- für den Konflikt bemühen und daher die Anstrengun- dite allein können nicht den gewünschten Erfolg gen der Europäischen Union und der Vereinten Natio- haben, wenn die Länder nicht in die Lage versetzt nen unterstützen. Leider haben die Verhandlungen werden, ihre Devisen durch Exporte selbst zu verdie- zwischen Kroaten und Bosniern am letzten Wochen- nen. ende in Bonn noch nicht zu einem Durchbruch geführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, in vielen Ländern — und Selbstverständlich müssen wir von der russischen nicht zuletzt bei uns in Deutschland — werden die Führung auch künftig eine Politik der Partnerschaft, Bemühungen um eine Beendigung des Konfliktes von der Verantwortung und der konstruktiven Mitwir- vielen Menschen als nicht ausreichend empfunden. kung bei internationalen Problemen erwarten. Hege- Dies ist ja verständlich. moniebestrebungen, welcher Art auch immer, wären mit diesen Erwartungen nicht zu vereinbaren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Angesichts der Schreckensbilder im Kriegsgebiet stel- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) len sich viele die Frage, warum der Westen und insbesondere die NATO nicht mehr zur Beendigung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die des Konflikts tun. Ich habe sehr viel Verständnis für Allianz war sich auch einig, daß die Ukraine ein diese Frage. Aber ich möchte hier doch einmal darauf wichtiger Partner für die künftige Sicherheitsordnung hinweisen, daß oft vergessen wird, wie sehr dieser in Europa ist. Der Abbau der nuklearen Waffen in der Krieg durch Haß und Irrationalität geprägt wird, durch Ukraine muß auf der Grundlage des neuen Vertrages Entwicklungen, die nicht über Nacht entstanden, zwischen der Ukraine, den USA und Rußland so sondern in Jahrzehnten, ja in Jahrhunderten, gewach- schnell wie möglich erfolgen. Die Sicherheit der sen sind. Ukraine kann nicht durch Nuklearwaffen, sondern nur durch enge Zusammenarbeit mit den Nachbar- Ich möchte ferner darauf hinweisen, daß alle militä- staaten und der NATO gewährleistet werden. rischen Experten übereinstimmend der Ansicht sind, daß eine umfassende, den Krieg beendende Interven- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tion mit Bodentruppen viele Hunderttausende Solda- Ich denke, wir sind uns in der Erwartung und in dem ten erfordern würde. Eine solche Aktion wäre mit Wunsch einig, daß die Bemühungen von Präsident großen Opfern, auch unter der Zivilbevölkerung, Clinton in diesen Tagen in Kiew und in Moskau verbunden. Es bleibt auch dann die Frage offen, ob auf erfolgreich sein werden. diese Weise ein dauerhafter Friede geschaffen wer- den könnte. Die Wahrheit ist — man kann dies mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zorn und Verbitterung sagen; es bleibt die Wahr- sowie bei Abgeordneten der SPD) heit —, daß es kein Patentrezept zur Lösung dieses Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für Konflikts gibt. Frieden und Stabilität in Europa ist es von zentraler Gerade wir Deutsche sollten dabei mit Ratschlägen Bedeutung, daß bestehende Grenzen unangetastet an andere vorsichtig sein. Wir haben nicht das mora- bleiben und die Rechte von Minderheiten geschützt lische Recht, von den Verantwortlichen anderer Län- werden. Der Gipfel hat deshalb die Initiative der der — dies ist meine tägliche Erfahrung in Gesprä- Europäischen Union für einen Stabilitätspakt für chen — mehr zu verlangen, als wir selbst tun. Europa als wichtigen Bestandteil der Förderung von Frieden und Sicherheit begrüßt. Wir haben in letzter (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Zeit erlebt, wie alte Spannungsherde in verschiede sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17415

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Wenn ich an meine Kollegen aus Frankreich oder geht mit großen Herausforderungen und Unsicherhei- aus Spanien denke, die auf Grund ihres Einsatzbe- ten einher. Gerade in dieser schwierigen Lage müssen fehls ja auch die Verantwortung für Leben und Unver- wir vor allem die großen Chancen sehen und nutzen, sehrtheit junger Soldaten tragen, weiß ich, wovon ich die sich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes für spreche. Ich denke, das sehen wir alle ähnlich. Europa eröffnet haben. Wir wollen dennoch jede Gelegenheit, auch die Es ist deshalb ein herausragendes Ergebnis des heutige, nutzen, diesen jungen Soldaten aus vielen NATO-Gipfels in Brüssel, daß die Atlantische Allianz Nationen, die an schwieriger Stelle unter Einsatz ihres und die Europäische Union jetzt ihre Kräfte zusam- Lebens für den Frieden Dienst tun, zu danken und menfügen und bündeln, um die Reformstaaten in ihnen und ihren Angehörigen unsere Sympathie und Mittel-, Ost- und Südosteuropa an die bestehenden unseren Respekt zu bekunden. Gemeinschaften heranzuführen, sie mit aufzunehmen und zu integrieren. Dies war immer auch ein Ziel (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der deutscher Außenpolitik, und das wird so bleiben. SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, das ehemalige Jugosla- wien ist nur ein Beispiel dafür — wenn auch gegen- Dazu gehört, daß das Vertrauen unserer Freunde wärtig das erschreckendste, daß der Krieg nicht auf und Partner in West und Ost weiter gewachsen ist, daß Zeit und Ewigkeit aus Europa verbannt wurde. Des- man uns vertraut. Dieses internationale Vertrauen in halb ist die Entwicklung einer europäischen Sicher- die Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit deutscher heitsordnung, deswegen ist die politische Einigung Außenpolitik ist eine der wichtigsten Voraussetzun- Europas wichtiger denn je. gen für eine gute Zukunft, ist ein wichtiges Kapital. Wir haben den Kompaß, um zusammen mit unseren Die Europäische Union, die wir wollen, ist eben Freunden und Partnern den richtigen Kurs in dieser mehr als eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft, eine für Europa schwierigen Übergangsphase zu halten. Gemeinschaft, die sich an den wirtschaftlichen und Die Übergangsphase ist schwierig, aber sie bietet weit finanziellen Interessen ihrer Mitglieder orientiert. Die mehr Chancen als all die Jahrzehnte des Kalten Vertiefung und der gleichzeitige Ausbau der Europäi- Krieges: Chancen zur Sicherung von Frieden und schen Union sind entscheidend für die Sicherung von Freiheit für unser Land, für die hier lebenden Men- Frieden und Freiheit. schen und vor allem auch für ein freies, offenes und Meine Damen und Herren, wenn wir in diesem Jahr demokratisches Europa. auf 48 Jahre Frieden, die längste Friedenszeit der (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und modernen Geschichte, zurückblicken können, dann der F.D.P. — Beifall bei Abgeordneten der hat das auch damit zu tun, daß es gelungen ist, sich in SPD) Europa zusammenzuschließen. In diesem Sinne ist auch im Blick auf die nächste Generation und das, was im 21. Jahrhundert kommen wird, die Frage der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bevor ich das Wort europäischen Einigung immer auch eine Frage von Herrn Klose erteile, möchte ich auf der Tribüne den Krieg und Frieden in Europa. Marschall des polnischen Sejm, Herrn Oleksy, mit seiner Delegation ganz herzlich begrüßen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall) d Es gibt zu einer solchen Politik für kommende Zeiten Sie haben Ihre erste Auslandsreise nach Deutschl an gemacht und uns gestern abend gesagt, wie wichtig keine Alternative. Ihnen die enge deutsch-polnische Zusammenarbeit Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ist. Sie haben soeben, der deutschen Sprache mächtig, vom NATO-Gipfel vorgenommene nüchterne Be- der Erklärung zugehört. Wir wissen, welch zentrale standsaufnahme der Lage in Europa zeigt deutlich, Bedeutung die Erweiterung Europas, die Einigung daß wir auch künftig unseren Beitrag zur Verteidi- und die Sicherheitsfragen für Sie haben. Ich denke, es gung von Frieden und Freiheit leisten müssen. Das ist ein guter Zeitpunkt, zu dem Sie in Deutschland heißt, daß wir eine Bundeswehr brauchen, die gut sind. Ich weiß, nach den Planungen werden Sie auch ausgebildet, modern ausgerüstet und hochmotiviert wieder an dem trilateralen Treffen, das der Vorsit- ist. Ihre Bündnis- und Einsatzfähigkeit muß gewähr- zende des Auswärtigen Ausschusses organisiert, näm- leistet sein. lich am Charlemagne-Treffen zwischen Polen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Deutschland und Frankreich, teilnehmen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt und uns eine enge Zusammenarbeit und die Erreichung der Frieden und Freiheit sind eben nicht zum Nulltarif zu haben. Wir alle wissen, daß angesichts der drän- Ziele, wie Sie sie heute morgen auch wieder vernom- genden Probleme auch die Bundeswehr nicht von men haben. Sparmaßnahmen ausgenommen werden kann, aber (Beifall) wir können und dürfen nicht zulassen, daß damit die Es hat nun der Fraktionsvorsitzende und Abgeord- Funktionsfähigkeit der Streitkräfte in Frage gestellt nete Hans-Ulrich Klose das Wort. wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hans-Ulrich Klose (SPD): Frau Präsidentin! Meine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! sehr geehrten Damen und Herren! Es ist zu begrüßen, Europa steht heute in einer Übergangsphase. Diese daß der Bundeskanzler unmittelbar nach dem NATO- 17416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonne Donnerstag, den 13. Januar 1994

Hans-Ulrich Klose Gipfel in Brüssel das Parlament über die Ergebnisse Westen sie nicht wolle oder einmal mehr ihrem informiert und uns seine Bewertung wissen läßt. Das Schicksal überlasse. ist der richtige Umgang mit dem Parlament, Herr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundeskanzler. So soll es sein. der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist nicht der Fall. Denn zum einen lassen die der CDU/CSU und der F.D.P.) Entscheidungen des NATO-Gipfels die Beitrittsop- Daß Sie, Herr Bundeskanzler, den Gipfel positiv tion offen, nein öffnen sie geradezu; zum zweiten bewerten, überrascht uns nicht. Vielleicht überrascht enthalten die Beschlüsse zu „Partnership for Peace" es Sie, ein Angebot zur Zusammenarbeit, das — je nach praktischer Ausgestaltung — weitreichend ist, vor (Zuruf von der CDU/CSU: Daß Sie es auch so allem unter dem Blickwinkel eines späteren Beitritts; sehen!) und drittens sollte niemand ein Interesse daran haben, Wasser auf die Mühlen jener Kräfte in Rußland zu wenn wir, die Opposition, Ihnen dabei — wie soll ich lenken, die unter Schürung von Einkreisungsängsten sagen — nur gedämpft widersprechen oder sogar in Wahrheit eine neue imperiale Rolle vorbereiten. zustimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ der CDU/CSU) CSU und der F.D.P. — Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das spricht doch für Sie!) Daß es, meine Damen und Herren, diese Kräfte gibt, wissen wir. Sie haben die Wahlen in Rußland nicht Auch wir bewerten das Ergebnis, von einzelnen gewonnen, aber sie sind bedrohlich stark. Und alles, Fragezeichen und Kritikpunkten abgesehen, über- was wir von ihnen wissen und von ihren Repräsentan- wiegend positiv. ten hören, macht uns besorgt, uns wie andere, deren Besorgnis aus Gründen der schieren Geographie (Zuruf von der CDU/CSU: Na immerhin!) natürlich noch größer ist als unsere. Das gilt, meine Damen und Herren, auch für die im Diese Kräfte in Rußland wollen wir nicht stärken. Vordergrund des Interesses stehende Frage der Insofern nimmt der Westen in der Tat Rücksicht auf NATO-Erweiterung. Sie wissen, Herr Bundeskanzler, Rußland. Das heißt aber, um es ganz klarzustellen, daß wir Sozialdemokraten offen sind für die NATO- nicht, daß wir der russischen Führung, dem russischen Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa und daß wir Präsidenten für die Frage der NATO-Erweiterung sie im Grundsatz befürworten. „Im Grundsatz" will eine Art Vetorecht einräumen. heißen: Eine NATO-Erweiterung kann dann vernünf- tig sein, wenn sie dazu beiträgt, eine neue Sicherheits- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten architektur für Europa zu entwickeln, die —ich betone der CDU/CSU und der F.D.P.) das — den Kontinent insgesamt stabilisiert. Das kann Da wir aber, meine Damen und Herren, wollen, daß nach unserer Überzeugung nur dann gelingen, wenn die demokratischen Reformer gestärkt werden und die NATO a) ihren Charakter als kollektives Verteidi- sich durchsetzen, sollten wir alles vermeiden, was gungssystem beibehält und b) durch ihre Existenz und deren Position im eigenen Land zusätzlich erschwert. Politik dazu beiträgt, ein kollektives europäisches In diesem Punkt sind wir mit der Regierung einig. Sicherheitssystem zu schaffen oder zu stützen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Mit dieser Aussage, meine Damen und Herren, soll CDU/CSU) ein Ziel und zugleich eine Bedingung formuliert Ich füge hinzu, daß es vereinzelt auch bei der werden. Eine Sicherheitsarchitektur, die für Europa jetzigen Regierung und beim russischen Militär Stim- insgesamt nicht mehr, sondern weniger Sicherheit men gibt, die eine hegemoniale Haltung mit einer Art schafft, weil sie zum Ausgangspunkt neuer Spannun- Monroe-Doktrin — jedenfalls für die Länder der gen wird, kann von uns nicht befürwortet werden. ehemaligen Sowjetunion — erkennen lassen. Diese (Beifall bei der SPD) Stimmen registrieren wir aufmerksam, ohne sie über- zuinterpretieren. Meine Damen und Herren, wer so Aus eben diesem Grunde war eine NATO-Erweite- tut, als habe Schirinowski schon die Macht übernom- rung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. men, trägt möglicherweise dazu bei, daß dies Mir ist klar, meine Damen und Herren, daß die jetzt geschieht. beitrittswilligen Staaten, die baltischen Staaten, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Polen, die Visegrad-Staaten insgesamt, das anders der CDU/CSU und der F.D.P.) beurteilen. Sie sehen sich in einer spezifischen Bedro- hungslage, die sie durch den schnellen Beitritt zur Die Einladung zu einer Partnerschaft für den Frie- NATO entschärfen möchten. Ob das gelänge, darüber den, gerichtet an die Teilnehmerstaaten des Nordat- darf gestritten werden. Ich verstehe aber diese Sicht lantischen Kooperationsrates und an weitere KSZE- der Dinge, und ich verstehe darüber hinaus, daß es in Länder, begrüßen wir als Angebot, durch praktische den genannten Ländern ein gewisses Maß an Enttäu- Zusammenarbeit in einem — wie es heißt — evolutio- schung gibt. Polnische Politiker, aber auch andere nären Prozeß zu einer Osterweiterung der NATO zu haben sich so geäußert. Ich verstehe das. kommen. Wünschenswert wäre es, wenn sich die Zusammenarbeit mit den eingeladenen Ländern in Es wäre aber ganz falsch, wenn in Polen oder einer Weise entwickeln würde, die am Ende eine anderswo jetzt der Eindruck entstünde, daß der Osterweiterung der NATO überflüssig machen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17417

Hans-Ulrich Klose würde, weil sich ein funktionierendes kollektives Gebraucht wird — ich wiederhole es — ein integrier- Sicherheitssystem entwickelt hat. tes Konzept für Sicherheit und Entwicklung, das von allen westlichen Partnern — wenn es geht, auch von (Beifall bei der SPD) Japan — unterstützt und materiell getragen wird. Das ist Zukunftsmusik, ich weiß es, und es gehört gewiß viel Optimismus dazu, eine solche Entwicklung (Beifall bei der SPD) für wahrscheinlich zu halten, aber ohne Optimismus Sicherheit ist nicht nur — nicht einmal in erster geht es nicht. Linie — ein militärisches Problem, Herr Bundeskanz- Jedenfalls bitten auch wir, die Opposition im Deut- ler. Sie wissen das so gut wie ich. Ich kann aber nicht schen Bundestag, unsere Nachbarn im Osten, sich erkennen, daß Sie bereit wären, aus dieser Erkenntnis einzulassen auf diese Zusammenarbeit. Wir Deut- die richtigen außenpolitischen Schlüsse zu ziehen; schen wünschen uns die Zusammenarbeit, weil wir- jedenfalls habe ich davon heute in Ihrer Erklärung ein eigenes existentielles Interesse daran haben, die nichts gehört. Grenzlandsituation, in der wir uns befinden, zu über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — winden. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dann haben Sie nicht zugehört!) Aus unserer Sicht ist es wünschenswert, daß sich Sie könnten, Herr Bundeskanzler, einwenden, daß unsere Nachbarn in den gleichen Systemen der dies auch nicht das Thema des NATO-Gipfels gewe- Zusammenarbeit und Sicherheit befinden, in die auch sen ist oder sein konnte. Da bin ich aber anderer wir uns eingebracht haben. Daß diese Zusammenar- Auffassung. Haben wir nicht immer betont, Sie zumal, beit, meine Damen und Herren, sich nicht auf militä- daß die NATO mehr ist als ein militärisches Zweck- rische Fragen beschränken darf, das allerdings muß bündnis? Ist die NATO nicht auch ein Forum zu hier besonders betont werden. Sicherheit in Europa politischer Diskussion und Abstimmung und ein wird es nicht geben, wenn nicht auch die ökonomi- Instrument politischer Gestaltung? Wir sehen es schen Probleme gelöst werden, wenn es nicht gelingt, jedenfalls so, Herr Bundeskanzler, und deshalb hätten den Menschen in Osteuropa die Hoffnung zu vermit- wir uns gewünscht, daß die in Brüssel und im Bündnis teln, daß es auch wirtschaftlich bergauf geht. versammelten Staatschefs der NATO-Länder den Begriff der Partnerschaft weiter gefaßt hätten, als sie Die, wenn ich so sagen darf, NATO-Fähigkeit eines es tatsächlich getan haben. osteuropäischen Landes hängt nicht in erster Linie davon ab, ob die Ausrüstung seiner Armee NATO (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kompatibel ist. Entscheidend sind Fortschritte bei dem DIE GRÜNEN) Bemühen, die Lebenschancen für die Menschen zu Noch einmal: Sicherheit ist nicht nur ein militäri- verbessern. sches Problem. Aber leider ist es so, daß in der (Beifall bei der SPD) gegenwärtig instabilen Lage angesichts zahlreicher Konflikte und brutaler Kriege das militärische Kalkül Nur dann, wenn dies gelingt, schaffen wir die Stabili- in den Vordergrund gerückt ist — ganz entgegen den tät, ohne die es eine auf Dauer friedliche Entwicklung großen Hoffnungen, die viele nach dem Fall des in Europa insgesamt nicht geben kann. Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des Die Partnerschaft für den Frieden muß daher ein- Kommunismus gehegt haben. Von einem friedlichen, hergehen mit einer Partnerschaft für Entwicklung — freien und wirtschaftlich blühenden Europa haben wir wirtschaftspolitisch, sozial, rechtsstaatlich. Diese Part- geträumt, von einem Europa, das — endlich wieder- nerschaft praktisch zu gestalten und konkret und vereinigt — zu sich selbst zurückfindet. Ich bin immer abgestimmt zu helfen, das ist der richtige und einzig noch hoffnungsvoll, aber ich gebe zu, in die Hoffnung erfolgversprechende Weg. mischen sich Besorgnis, Angst und Zorn. (Beifall bei der SPD) Die osteuropäischen Völker sind aus der kommuni- stischen Gefangenschaft nach Europa zurückgekehrt, Deutschland allein hat viel getan, und wir kritisie- ja. Aber wie haben wir sie, die wir ihre Rolle bei der ren das nicht — im Gegenteil. Was ich aber vermisse, Befreiung Osteuropas so sehr gelobt haben, bei uns Herr Bundeskanzler, sind integrierte sicherheits- und aufgenommen? — Europa ist faktisch immer noch entwicklungspolitische Konzepte für Osteuropa. Die geteilt und wird es, wenn nicht eine große, gemein- Bundesregierung hat sich wiederholt als Anwalt der same Anstrengung unternommen wird, noch lange osteuropäischen Länder bezeichnet; besonders von bleiben. Solange diese faktische Teilung anhält, wird Ihnen, Herr Kollege Kinkel, sind mir solche Aussagen es einen sicheren Frieden in Europa nicht geben. in Erinnerung. Tatsächlich wird die Bundesregierung nicht müde, möglichst allen osteuropäischen Ländern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unentwegt zu versichern, Deutschland werde sie bei DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der allen möglichen Begehren unterstützen, vor allem bei CDU/CSU) dem Begehren auf Mitgliedschaft in der Europäischen Es ist richtig, meine Damen und Herren, mit dem Gemeinschaft bzw. in der Europäischen Union. Ich Zusammenbruch des sowjetischen Impe riums ist die will der Bundesregierung gern unterstellen, daß sie es Gefahr des großen apokalyptischen Krieges geringer ernst meint. Wir sollten aber bedenken, daß Deutsch- geworden. Daß die Ukraine, numerisch immerhin die land allein es unmöglich schaffen kann, die erwartete drittgrößte Nuklearmacht der Welt, endlich bereit zu Unterstützung auch zu liefern. sein scheint, ihre nuklearen Potentiale abzubauen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mindert die Gefahr weiter. 17418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Hans-Ulrich Klose Aber der gemeine, der brutale konventionelle Krieg von Verteidigung und über den Bündnisbereich hin- ist nach Europa zurückgekehrt. Wir finden offenbar aus zu reklamieren. Das haben wir schon bei der keine Kraft, präventiv, d. h. kriegsverhindernd, tätig NATO getan, und wir tun es — eher noch entschiede- zu werden. Noch fehlt uns ein wirksames Konzept zur ner — , wenn es um die Westeuropäische Union geht, Kriegseindämmung oder - beendigung. Jugoslawien also um eine Organisation ohne die Vereinigten ist ein schreckliches Beispiel dafür. Staaten und Kanada. Die Aussagen des NATO-Gipfels zum früheren Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, an Jugoslawien, zu Bosnien habe ich gelesen. Die Serben dieser Stelle eine Zwischenbemerkung: Ich finde es und die anderen Völker, die sich im ehemaligen schon erstaunlich, daß und mit welcher Intensität die Jugoslawien gegenseitig umbringen, glauben, so Bundesregierung darauf drängt, den Aktionsradius fürchte ich, davon kein Wort. der Bundeswehr zu erweitern — bis hin zu dem Ich bin, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, mit den Vorschlag des Kollegen Schäuble, die Bundeswehr organisatorischen Entscheidungen einverstanden, die auch im Inneren verstärkt einzusetzen, das Verhältnis zwischen NATO und WEU betreffen. (Zuruf von der SPD: Ungeheuerlich!) Wir können die Anerkennung der Europäischen Union als gleichberechtigter Partner der USA in eine, wenn ich so sagen darf, politisch abstruse außen- und sicherheitspolitischen Fragen und der Vorstellung. Westeuropäischen Union als Verteidigungs- und (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Sicherheitsinstrument der Europäischen Union, wie dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im Kommuniqué definiert, akzeptieren. Zugleich, meine Damen und Herren, führen Sie Gleichwohl bin ich nicht einverstanden, weil hier eine unendliche Debatte über die Sollstärke der einmal mehr militärisch-organisatorisch gehandelt Bundeswehr. Merken Sie gar nicht, daß die Einsatz- wird, ohne daß Fortschritte bei der Formulierung einer fähigkeit der Bundeswehr, die eben erst die gewaltig- gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erkenn- ste Umstrukturierungsaufgabe ihrer Geschichte be- bar wären. wältigen mußte, damit ernstlich gefährdet wird? (Beifall bei der SPD) (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) Die Westeuropäische Union soll zu eigenständigen Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben mit dieser militärischen Operationen befähigt werden, und zwar Debatte bei der Wehrkundetagung in München ange- ohne daß militärische Doppelstrukturen entstehen; fangen. Wohl gemerkt: Ich habe durchaus nichts einverstanden. Gibt es aber — einmal ganz abgesehen dagegen, daß auch über die Sollstärke der Bundes- von den deutschen Unklarheiten — Klarheit darüber, wehr nachgedacht wird, aber bitte nicht mit immer was mit dieser militärischen Operationsfähigkeit der neuen Zahlen alle zwei bis drei Monate; und bitte Westeuropäischen Union erreicht werden soll? Sie nicht nur unter Haushaltsgesichtspunkten! wissen von mir, meine Damen und Herren, daß ich militärische Vorsorge einschließlich einer realisti- (Zuruf von der F.D.P.: Was macht denn der schen Abschreckungskomponente, die aus meiner Herr Opel?) Sicht kriegsverhindernd wirkt, für notwendig und Irgendwo müssen doch auch die Sicherheitslage und richtig halte. Daß aber wieder einmal das Militärische der Auftrag der Bundeswehr mitbedacht werden. Nur zuerst organisiert wird, ohne zuvor Klarheit über die dann ist die Debatte rational. politischen Strategien zu gewinnen, das beunruhigt mich zunehmend mehr. Nicht zuletzt macht es mich (Beifall bei der SPD) mißtrauisch, weil Sie, Herr Bundeskanzler, über die- Jedenfalls finde ich es absolut widersprüchlich, daß sen ganzen Entscheidungskomplex des Gipfels heute die Aufgaben der Bundeswehr jetzt durch die WEU- hier nicht gesprochen haben. Pläne erweitert, die realen Möglichkeiten aber lau- fend reduziert werden sollen. So funktioniert keine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verantwortliche Verteidigungs- und Sicherheitspoli- DIE GRÜNEN) tik. Das, Herr Bundeskanzler, ist Schluckaufpolitik. Ich will die gemeinsame europäische Verteidi- (Beifall bei der SPD) gungs- und Sicherheitsidentität und die Bundeswehr als Bündnisarmee — ganz gewiß. Ich bin aber dage- Eine letzte Bemerkung: Wir waren, Herr Bundes- gen, daß auch nur der Eindruck erweckt wird, Europa kanzler, nicht sehr zufrieden mit dem Ergebnis des strebe die Rolle einer Interventionsmacht aus eigenem Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der Recht an. Europäischen Union im Dezember in Brüssel. Wir hatten uns größere Entschlossenheit bei der Bekämp- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja fung der Massenarbeitslosigkeit in der Europäischen Seifert [PDS/Linke Liste]) Union gewünscht. Die Arbeitslosenzahlen in der Daß die NATO oder die Westeuropäische Union im Europäischen Union — 18 Millionen — machen das Rahmen von UNO und KSZE Aufgaben übernehmen dringlich. Die Bundesregierung hat sich gesperrt und kann und soll, das ist hier nur insoweit umstritten, als sich in besonderer Weise als Bremser hervorgetan. Die es um den Umfang und die Art solcher Aufgaben geht. Vorschläge der Kommission zur Finanzierung arbeits- Sie kennen die unterschiedlichen Positionen. Ge- platzschaffender Infrastrukturmaßnahmen wurden ad meinsam widersprechen wir, wenn es darum geht, acta gelegt; desgleichen die Vorschläge, Lohnneben- eine eigenständige militärische Rolle für die Westeu- kosten zu senken, Arbeit zu entlasten und dies durch ropäische Union, für die Europäische Union jenseits eine Energiesteuer zu kompensieren. Wir bedauern Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17419

Hans-Ulrich Klose das, und wir nutzen die Gelegenheit, dies heute im Lieber Kollege Struck, ich glaube, er hat recht, wenn Parlament auch zu sagen. Vorher ergab sich dazu er so denkt. keine Gelegenheit. (Beifall bei der CDU/CSU) Obwohl wir also im konkreten Fall mit Ihren euro- päischen Leistungen unzufrieden sind, Herr Bundes- Die Kritik, Herr Kollege Klose, die Sie hier dann kanzler, bestätige ich Ihnen, daß wir Ihr europäisches noch zusammengesucht haben, an einer, wie Sie Engagement zum einen ernst nehmen und zum ande- zugeben mußten, Politik mit so großem Erfolg, den vor ren durchaus nicht für illusionär halten. kurzem noch niemand erwartet hat, war ein wenig gekünstelt und auch ein wenig abstrus, um einen (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Begriff aufzunehmen, mit dem Sie meinen Fraktions- SPD und der CDU/CSU) vorsitzenden zu kritisieren versuchten. Er hat die Wir Deutschen brauchen Europa, u. a. weil dieses meiner Ansicht nach vernünftige Vorstellung, daß es Europa neben der NATO ganz wesentlich dazu bei- nicht völlig absurd und abs trus ist, bei künftigen getragen hat, daß wir in Westeuropa seit 48 Jahren in Überschwemmungen des Rheins — ähnlich wie in den Frieden leben. Das ist — Sie haben es auch heute Niederlanden die dortige Armee eingesetzt wurde — gesagt — keine Selbstverständlichkeit, sondern ein auch die Bundeswehr einzusetzen, um — wie in den Ergebnis politischer Gestaltungskraft über viele, viele Niederlanden — Plünderungen und ähnliches zu Jahre hinweg. Es ist wichtig, auf diesen Tatbestand vermeiden, heute wieder und ausdrücklich hinzuweisen, weil es (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der — mehr in Ihren Reihen, Herr Bundeskanzler, als bei SPD: Das hat er doch gar nicht gemeint!) uns — modisch wird, die europäische Entwicklung nicht nur zu kritisieren, sondern sogar in Frage zu oder sie mit Aufgaben zu betrauen, mit denen in stellen. Österreich die dortige Armee be traut wurde, als in bestimmten Phasen massenhaft Grenzverletzungen ( (SPD): Sehr wahr!) auftraten, die von der normalen Polizei nicht mehr zu Auch wir haben mancherlei zu kritisieren, sind bewältigen waren. So einfach können Themen sein, durchaus nicht mit allem einverstanden, was in Brüs- an denen Sie sich hochranken und aufplustern, ein- sel durch die Kommission oder den Ministerrat getan fach weil Sie Ihren Popanz brauchen, um von der oder nicht getan wird. An unserem europäischen eigenen Schwäche abzulenken, die Sie in den ent- Engagement halten wir jedoch fest. Für Illusionisten scheidenden Bereichen der inneren Sicherheit und halten wir nicht die überzeugten Europäer — die der Verteidigungspolitik aufzuweisen haben. können gute Argumente statt Emotionen für ihr Enga- gement ins Feld führen, friedenspolitische und wirt- Lassen Sie mich zum Gipfel kommen: Ich glaube schaftspolitische —, für Illusionisten, ja sogar Hasar- — ich habe es soeben schon angedeutet —, daß dieser deure halten wir jene, die den Nationalstaat gegen NATO-Gipfel vielen Auguren zum Trotz positiv ver- Europa stellen und damit — aus welchen Gründen laufen ist. Er hat in entscheidenden Bereichen neue auch immer — Europa ins 19. Jahrhundert zurückfüh- Dynamik entwickelt, an der wir gerade als Deutsche ren möchten. in besonderer Weise Interesse haben müssen. Unser Ziel war es immer — jedenfalls das der Union —, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sicherheit, Frieden, Freiheit, Wohlstand und Demo- der FDP) kratie nicht mehr gegeneinander, sondern miteinan- Auch wir sind Patrioten. Wir lieben unser Land. der gesichert und geschaffen werden. Der Bundes- Aber wir sind und bleiben überzeugte Europäer. Wir kanzler hat noch einmal nachdrücklich darauf verwie- werden nicht aufhören, den Traum von den Vereinig- sen, wie sehr dieses Ziel Mittelpunkt unserer Politik ten Staaten von Europa zu träumen und an seiner ist. Wir hatten lange Jahre nur die Chance, dieses Ziel Verwirklichung zu arbeiten. im Westen zu verwirklichen, weil andere, die mit uns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vielleicht Gleiches gewollt hätten, gehindert waren, DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heribert dies zu tun. Scharrenbroich [CDU/CSU] und Ulrich Irmer Der NATO-Gipfel hat bemerkenswerte Erfolge [F.D.P.]) erreichen können, die so selbstverständlich, wie sie im Augenblick zu sein scheinen, gar nicht waren. Das klare Ja des NATO-Gipfels zur Entwicklung einer Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsidenti- Kollege Dr. Karl-Heinz Hornhues. tät — der Bundeskanzler hat vornehm angedeutet, da habe es so manchen in Amerika gegeben, der das alles nicht so gern gesehen hat —, daß dies einvernehmlich Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Frau Präsi- gemeinsame Politik im Bündnis wird, halte ich für dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr einen wesentlichen und wichtigen Fortschritt zur geehrter Herr Bundeskanzler, ich muß Ihnen gratulie- Dynamisierung unserer eigenen Sicherheit. ren; Die Weiterentwicklung und Verzahnung von WEU (Dr. Peter Struck [SPD]: Nicht übertreiben!) und NATO gehören genauso dazu wie — was auch denn nach der Rede des Oppositionsführers habe ich unsere große Sorge gewesen ist; Sie haben dieses den Eindruck, das Jahr fängt für Sie gut an. Die Thema, Herr Klose, überhaupt nicht angeschnitten — Opposition hat keine nennenswerten Alternativen zu unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Es war Ihnen aufzeigen können. „Was sollen wir da Verän- ja lange Zeit von Sorgen überschattet. Mancher aus derungen anstreben?" muß sich der Wähler fragen. Ihren Reihen hat ja unnötigerweise versucht, diese 17420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Karl-Heinz Hornhues Sorgen auch noch besonders nach vorn zu bringen. Es Das zeigt gerade die allerjüngste Vergangenheit. Es war von der Sorge überschattet, daß sich die Ameri- ist gerade unser Drama, daß Ihre Verweigerung — kaner innerlich aus Europa zurückziehen würden. Ich nicht Ihre persönliche, sondern die der SPD —, mit- glaube, wir sollten Präsident Clinton für die klare einander eine klarstellende Grundgesetzergänzung Aussage dankbar sein, daß Europa das Zentrum der zu schaffen, die uns handlungsfähiger machen würde amerikanischen Außenpolitik ist und bleibt, und den Außenminister nicht immer in die peinliche Situation bringt, daß er seine Vorbehalte hineinformu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lieren muß, wie sie auch jetzt wieder in der gemein- samen Erklärung auf Seite 5 oben stehen. Da wird daß die Zweifel an der weiteren Präsenz der Ameri- dann formuliert: Wir wollen das und das, aber — das ist kaner im Bündnis in Europa durch klare Aussagen des dann die klassische deutsche Notsituation — wir Präsidenten beseitigt worden sind und daß dieser wollen dies natürlich nur nach Maßgabe dessen, was Präsident — anders als andere — zur Politik einer wir verfassungsmäßig können. Weiterentwicklung der Europäischen Union klar ja gesagt hat. Wer seine eigene Regierung, sein eigenes Land, Herr Klose, in einer solchen Position beläßt, schadet Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten diesem Land und seiner Ch ance, politisch operativ deswegen dem amerikanischen Präsidenten danken, tätig zu sein. weil dies aus amerikanischer Sicht nicht so selbstver- ständlich ist, wie wir als Deutsche oder Europäer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vielleicht meinen. Denn aus der Sicht des amerikani- Das ist das, was Sie sich unverändert anhören müssen, schen Kollegen, der seinen Wahlkreis in Louisiana auch wenn uns im Augenblick nichts anderes bleibt, oder Alabama hat, gibt es vielleicht wichtigere Punkte als daß letztendlich das Verfassungsgericht dieses als diejenigen, die wir als die wichtigsten definieren. Problem auflöst, weil diese Frage mit Ihnen offensicht- Amerika weiter zu veranlassen, uns angesichts unse- lich nicht lösbar ist. rer eigenen, noch wenig entwickelten Fähigkeit, Meine sehr geehrten Damen und Herren, bezogen unsere Probleme selber zu lösen, weiterhin zur Seite auf unser klassisches Bündnis muß ich sagen: Der zu stehen, mit uns im Verbund zu bleiben, ist gerade große Erfolg des Gipfels war, daß Lähmungen und angesichts des Wegfalls der klassischen Bedrohungs- Stagnationen überwunden worden sind, die auch auf szenarien ein ganz wichtiges Ergebnis dieses Gipfels der Frage beruhten: Wozu dieses Bündnis eigentlich gewesen. noch? Hat es noch einen Sinn, wo doch der gemein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) same Feind abhanden gekommen ist? Daß hier nach innen hin das neue Zusammenstehen Herr Bundeskanzler, meine Fraktion möchte Ihnen neu definiert worden ist, daß alle begriffen haben, daß besonders herzlich dafür danken, daß Sie da so vieles es einen Sinn macht, auch dann zusammenzustehen, weggeräumt haben. Denn nach allem, was ich weiß wenn man nicht unmittelbar gegen jemanden zusam- — aus vielen Gesprächen mit Besuchern aus dem menstehen muß, und daß in dem Sinne Vertiefung Ausland und bei Besuchen im Ausland —, war es vor erreicht worden ist, ist ein großes, ein wichtiges allen Dingen auch Ihr persönliches Werk, die Span- Ergebnis, das Hoffnung auch für die Zukunft und für nungsverhältnisse, die wir hatten — „Was wollen die die politische Handlungsfähigkeit dieses Bündnisses denn mit der WEU, mit dem Euro-Korps?" —, die gibt. Skepsis, die in Amerika verbreitet war, genauso wegzunehmen wie Besorgnisse, wir hätten ein Inter- Damit bin ich bei dem zweiten wichtigen Punkt. Wir esse daran, die NATO aufzulösen und andere Wege zu haben in den letzten Jahren lange darüber diskutiert, gehen. Das dies so gelungen ist, wie es gelungen ist, ob wir denn eigentlich fähig, willens und in der Lage daran haben die deutsche Bundesregierung und Sie, sind, die Chance zu nutzen, die sich plötzlich ergab. Herr Bundeskanzler, einen maßgeblichen Anteil. Die Ich habe am Anfang gesagt: Ziel unserer Außenpoli- CDU/CSU-Fraktion dankt Ihnen nachdrücklich für tik ist es, daß wir, die Deutschen, ein besonderes diese auch ganz persönliche Leistung, die da erbracht Interesse daran haben, uns so mit unseren Nachbarn worden ist. zu vernetzen, zu verbinden, daß wir miteinander Sicherheit, Frieden, Freiheit, Demokratie schaffen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und sichern, nicht mehr gegeneinander, wie Jahrhun- derte vorher. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit sagen, Herr Dieses Ziel konnten wir lange nur nach Westen hin Kollege Klose: Wir sind sicherlich bei manchen Ent- verfolgen. Seit 1989 gibt es — Schritt um Schritt wicklungen — bei der europäischen Verteidigungs- mehr — die Chance, die Jahrhundertchance, diese identität, bei der gemeinsamen Außen - und Sicher- große Idee auch weiter europäisch zu fassen und zu heitspolitik — in Europa erst am Anfang. Aber wenn wir uns an manchen Punkten so unendlich schwertun, nutzen. dann trifft dafür ein gerüttelt Maß an Verantwortung Wir Deutschen haben natürlich wegen unserer Lage nicht vielleicht Sie persönlich, aber Ihre Partei, Ihre — da wir da liegen und da sitzen und da stehen, wo wir Fraktion. Man mag ja sagen — und da haben Sie sind, nämlich hier, in Deutschland — und da wir recht —, daß militärische Sicherheitsfragen nicht das wissen, wo die Stabilitätsunsicherheitszonen begin- Nonplusultra sind. Aber Sie sind bei der Frage, wie nen, ein besonderes Interesse daran, daß diese Fragen weit man denn kooperationsfähig und kooperations- gelöst werden. Und ist es nicht selbstverständlich, daß willig ist und wie weit man miteinander etwas verab- alle anderen europäischen und amerikanischen Part- reden und etwas tun kann, von neuer Wichtigkeit. ner die gleichen Interessen an der Lösung dieser Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17421

Dr. Karl-Heinz Hornhues Fragen haben? Deswegen ist es so bemerkenswert, mit einem Rußland, das sich erneut gegen die Freiheit daß es gelungen ist — vielleicht ein bißchen spät, aber und Integrität seiner Nachbarn wendet. immerhin gelungen ist —, nunmehr die NATO und die Und wir sollten uns durch all die gewaltigen Töne, Verbündeten alle miteinander wirklich klar erklärt die da kommen — nicht nur von Herrn Schirinowski, und deutlich in eine gesamteuropäische, Gesamteu- sondern auch manchmal aus der Umgebung des ropa umfassende Verpflichtung hineinzubringen, die Präsidenten —, nicht irremachen lassen, sondern wir sich nicht neu gegen jemanden richtet, sondern ver- sollten, solange es die Chance gibt, mit denen koope- sucht, die Interessen aller unserer unmittelbaren öst- rieren, die stützen und unterstützen, die die Chance lichen Nachbarn, aber auch die Rußlands zu erfas- geben, diese Vision einer gesamten Sicherheitsarchi- sen. tektur für Europa zu entwickeln und dies voneinander Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie- zu bekommen. mich da einen kleinen Einschub machen. Mich haben Ich muß sagen, Herr Bundeskanzler, es ist üblich, in letzter Zeit immer wieder der Halbsatz, die Schlag- daß Redner Ihrer Fraktion Sie immer loben; das weiß zeilen in französischen und anderen Zeitungen ich. Das tue auch ich immer besonders gerne, erstens gestört, die NATO reiche ihre Hand den Feinden von weil das zutrifft, zweitens weil mich sonst mein früher. Das mag vielleicht militärisch so gewesen sein, Fraktionsvorsitzender kritisiert, wenn ich das nicht aber ich lege doch Wert auf die Feststellung, daß wir, getan habe. Drittens muß man es diesmal doppelt und die NATO, die Hände ergreifen, die sich auch uns von dreifach aus tiefer Überzeugung tun. Vertretern der Völker entgegenstrecken, die über Jahrzehnte gehindert waren, einen Weg gemeinsam Ich sage dies, weil ich weiß, daß gerade diese mit uns zu gehen. Entwicklung, nämlich beide Interessen ins Visier zu nehmen, vor allem die Amerikaner, aber auch einige (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) andere unserer wichtigen Verbündeten dazu zu Ich glaube, es ist ganz wichtig, daß wir dies sehen. Wir bewegen, sich der Verantwortung gegenüber Mittel- haben es mit Menschen zu tun, die nicht als Feinde und Osteuropa wirklich zu stellen, die Verantwortung von gestern gesehen werden wollen, weil sie dies wirklich auf sich zu nehmen, und dabei gleichzeitig vielleicht zwanghaft sein mußten und nicht freiwillig das Kunststück fertigzubringen, die Dinge sich nicht waren. erneut gegen Rußland entwickeln zu lassen, im wesentlichen Ihr Verdienst ist. Dafür, Herr Bundes- Es ist, wie gesagt, unser Interesse, daß unsere kanzler, ganz herzlichen Dank von meiner Fraktion! Nachbarschaft die gleiche Sicherheit, die gleiche Stabilität hat. Deswegen unterstreiche ich alles, was (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklä- ordneten der F.D.P.) rung eben gesagt haben, für meine Fraktion mit Blick Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich auf unsere unmittelbaren Nachbarn, mit Blick auf möchte jetzt mit einem Punkt weitermachen, von dem Polen, aber auch mit Blick darauf, daß natürlich die ich gerne sagen würde, daß ich auch damit ganz Sicherheit für unsere Nachbarn und für uns selber zufrieden wäre. Man konnte kaum anderes erwarten, dann optimal erreicht werden kann, wenn es gelingt, aber trotzdem muß man mit Bitterkeit zur Kenntnis in diesem Sicherheitsverbund Rußland nicht draußen, nehmen: Daß wir unmittelbar vor unserer Tür Per- sondern drinnen zu haben, auf welche Art und Weise spektiven diskutierend gleichzeitig unsere eigene genau auch immer; dies ist eine zweite Frage. Aber es Ohnmacht und Schwäche, vielleicht auch unser Ver- ist von entscheidender Wichtigkeit, die Chance, die sagen erleben müssen, ist eine Bitternis besonderer gegeben ist — vielleicht muß ich sagen: noch gegeben Art. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Ich glaube, ist; aber sie ist gegeben —, genutzt wird, daß wir diese das weiß auch jeder, der beteiligt war. Es war viel- Sicherheit miteinander entwickeln und nicht am Ende leicht von dem Gipfel nicht mehr zu erwarten, weil gegeneinander entwickeln müssen. man von anderen nicht fordern soll, was man selber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht geben kann oder will. Deswegen halte ich diesen Beschluß der NATO für Aber ich möchte für uns doch festhalten, wie sehr es unglaublich klug. Manche sagen: Mehr war nicht uns am Anfang dieses Jahres bedrückt, daß wir mit drin. Andere meinen schon, es sei vielleicht zuviel dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, in Bos- gewesen. Bei einigen Ihrer Untertöne, Herr Klose, nien-Herzegowina, weiter leben müssen; ich kann da hatte ich den Eindruck, Ihnen sei es schon fast zuviel hat keine Perspektive auf Besserung erkennen. Es gewesen. Ich will das nicht unterstellen. Nur glaube mich bei dem durchaus sinnvollen Treffen auf dem ich, es macht deutlich an unsere Nachbarn, an unsere Petersberg zutiefst betroffen gemacht, feststellen zu unmittelbaren Nachbarn im Osten: Ihre Sicherheits- müssen, wie zwei, die vor kurzem scheinbar verbün- probleme sind unsere Sorgen. det waren, ihre Leute aufeinander schießen lassen, einschlagen lassen und sich umbringen lassen und (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Sehr dann wieder abreisen, als wäre nichts gewesen. gu t!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das reißt Und es macht deutlich an die — ja, wenn Sie so einen fast um. Manchmal fragt man sich, ob all diese wollen — Nachfolger unserer großen Gegner von Verhandlungen nicht besser damit endeten, daß, wo gestern, die gegenwärtig noch mit Truppen in immer Milošević und Karadžić und wie sie alle heißen Deutschland stehen, die Deutschland gegenwärtig auftreten, sie schlicht und einfach festgenommen verlassen, daß wir Partnerschaft mit ihnen wollen, würden. Aber wie gesagt, das sind die Ohnmachtsan- nicht gegen sie, sondern im Interesse aller, d. h. nicht fälle eines Politikers, der weiß, daß es so nicht geht. 17422 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Karl-Heinz Hornhues Ich möchte trotz der zunehmenden Tendenz, daß wir jetzt alles nicht mehr; nützen wir doch die Frie- berechtigterweise keiner mehr den Zustand der densdividende; jetzt sparen wir das Geld. Unschuld auch nur andeutungsweise erreichen kann (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: und daß Brutalität und Grausamkeit auch die Truppen Linke Töne!) derjenigen kennzeichneten, die hier auf dem Peters- berg saßen, festhalten — nur damit es nicht vergessen Ich erinnere mich an Szenen im Wahlkampf 1990, als wird —: Die Hauptverursacher dieses Dramas und der Verteidigungshaushalt in einer Woche gleich Dilemmas sind die Chauvinisten, sind die großserbi- dreimal für andere Zwecke verbraten wurde. Gott sei schen Wahnsinnigen, die meinen, ihre Ideen von Dank sind diese Töne jetzt stiller geworden. Herr Rassismus mit ethnischen Säuberungen über dieses Klose, allerdings muß ich schon sagen: Wenn Sie Land bringen zu müssen. - immer wieder behaupten — auch heute wieder —, die Ich hoffe, daß wir wenigstens eines erreichen, Bundeswehr suche künstlich nach neuen Aufgaben, nämlich daß wir, wann immer dieses Theater und und wir überlegten die Beteiligung der Bundeswehr dieses Drama zu Ende geht, die Kraft haben, nicht an Friedenseinsätzen nur unter dem Aspekt des Inter- alles zu akzeptieren, als wäre nichts gewesen, und daß ventionismus, dann geht mir das gefährlich in diese wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Richtung. Die Aufgaben der Bundeswehr sind nach wie vor unverändert in erster Linie Landesverteidi- Ein Serbien dieser Art hat in unserem Europa gung und Bündnisverteidigung. Zusätzlich kommen keinen Platz und darf keinen Platz bekommen, auch die Aufgaben, die uns die internationale Gemein- wenn die Opportunitäten vielleicht irgendwann ein- schaft abverlangt. mal etwas anderes gebieten mögen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte mit einem Dank schließen, mit einem Dank an Die Einschätzung ist heute wieder realistischer unsere Helfer, die vielen hundert Helfer aus Deutsch- geworden. Das ist angesichts der vielfältigen Gefah- land und anderen Ländern, die für die verschieden- ren, die sich in dieser Welt leider bieten, kein Wunder. sten Hilfsorganisationen in jenem Teil Europas ver- Zwar ist die apokalyptische Drohung eines Atom- suchen, Not zu lindern, so gut sie können, zum Teil kriegs im Ost-West-Konflikt entfallen, aber wir haben verzweifelt angesichts der Perspektivlosigkeit ihres die Unsicherheiten in Rußland, wir haben vagabun- Tuns. Ich möchte ihnen im Namen meiner Fraktion dierende Nuklearpotentiale, wir haben die Gefahr des — ich hoffe, auch von uns allen — herzlich für ihr nicht Islamismus, wir haben die Gefahr, daß östlich von uns enden wollendes Engagement danken. in den jungen Demokratien die Entwicklung rückläu- Ich möchte genauso jenen danken, die wir in der fig wird. Regel immer vergessen, nämlich den Soldaten, die Was ist unsere Antwort hierauf? Meine Damen und Nacht für Nacht in Bosnien-Herzegowina die Splitter- Herren, die Antwort kann wirklich nicht heißen: Nach schutzwesten anlegen müssen, weil sie mit Gefahr für der Vereinigung Deutschlands sind wir wieder wer; ihr Leib und Leben versuchen zu helfen, jenen Solda- wir ziehen uns in unseren nationalistischen Winkel ten, die, wann immer es geht — auch unter Beschuß — zurück und verlassen uns auf uns selbst, und wir Sarajevo anfliegen, um das, was wir schlicht humani- beklagen Überfremdung. Solche Töne gibt es ja täre Hilfe nennen, durchzusetzen, zu erhalten und, so leider. Meine Damen und Herren, die Antwort auf gut es geht, zu sichern. Ihnen mein und unser ganz diese Gefahren kann einzig und allein sein: Halten wir herzliches Dankeschön! an den bewährten internationalen .Organisationen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. fest, in die wir eingebunden sind, und stärken wir sowie bei Abgeordneten der SPD) diese Organisationen! (Beifall bei der F.D.P.) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Herr Klose, es ist nicht richtig, wenn Sie der Bun- der Kollege Ulrich Irmer. desregierung vorwerfen, sie täte dies einseitig nur bei Militärbündnissen. Vielmehr läßt sich die Bundesre- Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine gierung von niemandem übertreffen, wenn es darum Damen und Herren! Bei unseren Hauptverbündeten geht, die Europäische Union auszubauen. Wir haben in der NATO, den Amerikanern, ist es Sitte, daß man hier — dankenswerterweise mit Ihrer Hilfe — gemein- eine Rede mit einem kleinen Scherz einleitet. Wenn sam den Maastricht-Vertrag verabschiedet. Wir auch ich mir das als Reverenz den Amerikanern haben in dem Maastricht-Vertrag gemeinsam die gegenüber herausnehmen darf, dann möchte ich Verbindung zwischen Sicherheit im allgemeinen einen Vers zitieren, der leider nicht von mir stammt. Sinne, im wirtschaftlichen und im politischen Sinne, Ich würde den Namen des Autors nennen, wenn ich und der militärischen Sicherheit festgelegt, die nur ein ihn wüßte. Der Vers lautet: Aspekt von Sicherheit insgesamt ist. Die Einbezie- Wir brauchten sie bis dato nicht, hung der WEU als integralen Bestandteil in die doch macht uns nicht die NATO dicht! Europäische Union ist in dieser Richtung auch deshalb ein Riesenfortschritt, weil er genau zeigt: Die Priorität Ich zitiere das deshalb, weil es vor ein paar Jahren liegt bei der Politik, und militärische Sicherheit ist ein durchaus einmal Mode gewesen ist, die und NATO zwar unerläßlicher, aber eben nur ein Teilaspekt der die Bundeswehr für überflüssig zu halten. In der gesamten Sicherheit. Euphorie nach dem Wegfall des Ost-West-Konflikts gab es Töne, die in die Richtung liefen: Das brauchen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17423

Ulrich Irmer Meine Damen und Herren, daß die Amerikaner jetzt Die zweite entscheidende Weichenstellung war die ihre ursprünglichen Vorbehalte gegenüber der WEU Öffnung nach Osten, die Entspannungs- und Verstän- und gegenüber europäischen Bemühungen, eine digungspolitik, die dann letzten Endes zum Abbau eigene Sicherheitsidentität zu schaffen, fallengelas- der Blöcke geführt hat. sen und ausdrücklich gesagt haben, sie begrüßen Ich glaube, daß wir heute in einer Situation sind, wo diese Entwicklung, ist eines der wesentlichen Ergeb- eine dritte, ganz entscheidende und historisch not- nisse des Brüsseler NATO-Gipfels. Ich möchte mei- wendige Weichenstellung erfolgen muß. Das ist die nerseits dem Bundeskanzler, aber ausdrücklich auch Öffnung unserer Organisationen für die Länder, die dem Bundesaußenminister Kinkel dafür danken, daß uns im Osten benachbart sind. Ich glaube, wir tun hier sie die deutschen und die europäischen Interessen noch zuwenig. Wir müssen diese Vision mit konkre- dort mit solcher Entschiedenheit vertreten haben. tem Leben erfüllen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ten der CDU/CSU) Das heißt in wirtschaftlicher Hinsicht in erster Linie Die Ergebnisse des Gipfels waren nicht zuletzt auf — es ist verschiedentlich erwähnt worden — Markt- Grund des deutschen Einsatzes positiver, als man öffnung; denn jede Mark, jedes Geld, das durch den hätte befürchten können. Verkauf wettbewerbsfähiger Produkte verdient wer- den kann, ist natürlich wesentlich besser als jeder Was in Brüssel im einzelnen beschlossen wurde, ist finanzielle Transfer von uns in diese Länder. hier verschiedentlich gesagt worden. Ich möchte es (Beifall bei der F.D.P.) nicht wiederholen. Ich möchte nur noch einmal auf die Partnerschaft für den Frieden zurückkommen. Es gibt Das heißt zweitens auch Anstreben der Vollmit- ja inzwischen auch ein wunderschönes Kürzel dafür: gliedschaft. Die Länder haben die Möglichkeit, sich PFP, partnership for peace. Ich habe gestern abend schon heute darauf vorzubereiten, sich für Europa fit gelernt, daß es dieses Kürzel gibt. zu machen. Man kann schon heute die Rechtsordnun- gen graduell an die zukünftige Mitgliedschaft in der Ich möchte ausdrücklich dem estnischen Präsiden- Europäischen Union angleichen. ten Meri widersprechen, der eine wunderschöne For- Aber wir sollten von uns aus — wir als Deutsche mulierung gebraucht hat, nämlich, es handle sich hier können es nicht allein, und ich kritisiere deshalb auch um nichts mehr als um schöne, geheimnisvolle For- nicht die Bundesregierung, daß sie nicht bereit ist, meln. Nein, meine Kollegen, es ist wesentlich mehr als diesen Schritt zu gehen — als Parlament durchaus dies. einmal weiter gehen. Das Parlament sollte in seinen Was Partnerschaft für den Frieden auszeichnet, ist Vorstellungen, in seinem Verlangen weiter gehen, als zweierlei. Zum einen wird hier eine enge Kooperation es die Bundesregierung kann. Es ist eine ganz andere allen angeboten, die früher dem Warschauer Pakt Rolle, die wir spielen. angehört haben. Dies schließt insbesondere Rußland Die Bundesregierung sagt: Wir wollen nicht zu stark und die Ukraine ein. Aus dieser richtigen Erkenntnis drängen, denn das wird andere, unsere Freunde und ist formuliert worden, daß wir gegen Rußland, gegen Verbündeten, möglicherweise verprellen. Aber ich die Ukraine oder auch nur ohne sie, unter Ausgren- meine, daß wir als Parlament, als Deutscher Bundes- zung dieser beiden Länder, keine Sicherheit gewähr- tag ganz klar sagen sollten: Wir wollen die Heranfüh- leisten können. Deshalb ist dieses Angebot auch an rung der Länder, wir wollen die Perspektive des diese Länder so unerhört wichtig. Beitritts konkretisieren. Wir wollen, daß diese Länder — zunächst die Visegrad-Staaten — bis zum 1. Januar Aber Partnerschaft für den Frieden geht ja in einem 1999, also noch in diesem Jahrtausend, Vollmitglieder wesentlichen Punkt darüber hinaus, indem nämlich unserer Gemeinschaften und Partnerschaften sind. den uns näherliegenden Ländern die Chance, die Perspektive einer späteren Mitgliedschaft in der Herzlichen Dank. NATO eröffnet wird. Und auch dies darf man ja wieder (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht isoliert sehen. Ich verstehe die Enttäuschung der Polen und ande- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht rer darüber, daß heute die Zeit für diese Mitglied- die Abgeordnete Andrea Lederer. schaft nicht reif ist. Aber wir bleiben ja mit unseren Betrachtungen nicht bei der NATO stehen. Herr Klose, hier haben wir wieder diesen Aspekt: Wir als Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Europäer sind in meinen Augen jetzt dazu aufgerufen, tin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Klose, Sie daß wir diesen Ländern, insbesondere als ersten den haben zu Beginn gesagt, die Opposition in diesem Visegrad-Staaten, die Perspektive des Beitritts zur Hause begrüße in weiten Teilen, was der NATO- Europäischen Union viel konkreter eröffnen, als das in Gipfel an Ergebnissen gebracht habe. Dies trifft so den bisherigen Bekundungen der Fall war. nicht zu. Die SPD-Fraktion mag das für sich in Meine Damen und Herren, wir hatten in der Nach- Anspruch nehmen; ich kann für meine Gruppe erklä- kriegsgeschichte zwei ganz entscheidende histori- ren, daß wir in weiten Teilen ziemlich entsetzt sind sche Weichenstellungen. Das eine war die Schaffung über das, was beim NATO-Gipfel vereinbart worden der westeuropäischen und atlantischen Organisatio- ist. nen, die deutsche Einbindung in die damalige Euro- (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke päische Wirtschaftsgemeinschaft und in die NATO. Liste]) 17424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Andrea Lederer Man könnte, wenn es nicht um den Gipfel eines ren und auf der anderen Seite hier erklären kann, man Militärbündnisses ginge, zum Teil den Eindruck möchte nicht, daß die WEU als eigenständiges Mili- haben, die westeuropäischen Staaten hätten nun tärbündnis künftig an weltweiten Interventionen endlich erkannt, daß Europa nicht nur Westeuropa beteiligt ist. bedeutet, sondern daß eine Öffnung aller nichtmilitä- Dieser Prozeß ist nicht erst seit gestern im Gange. rischen Organisationen für die osteuropäischen Staa- Ich erinnere noch einmal an die Petersberger Erklä- ten dringend nötig ist. Leider aber diskutieren wir rung. Man kann hier nicht allen Ernstes behaupten, heute über den Gipfel eines klassischen Militärbünd- man wolle das, was durch die Vereinbarung schließ- nisses. lich geschaffen worden ist, in Wirklichkeit gar nicht Ob dieser Gipfel eine Zäsur darstellt oder nicht, sei haben. Dann muß man eben den Mut aufbringen und einmal dahingestellt. Fakt ist allerdings: Die Ergeb-- sagen, man akzeptiere diese Regelung nicht und trete nisse zeigen deutlich eine starke Tendenz zur Milita- dafür ein, daß die Europäische Union keinen eigen- risierung der westlichen Außenpolitiken. Man kann, ständigen militärischen Arm erhält, sondern sich dar- Herr Bundeskanzler, einfach nicht darüber hinwegge- auf konzentriert — was ohnehin für alle Völker besser hen, daß auch vereinbart wurde, daß die NATO wäre —, mit friedlichen Mitteln Konfliktursachen zu künftig weltweit intervenieren kann, out of area und beseitigen und das Ausbrechen von Kriegen zu ver- unabhängig von UNO und KSZE, und daß die Verein- hindern. barungen zu Aufgaben, Möglichkeiten und Rolle der WEU bedeuten, daß diese künftig ad hoc einsatzfähig Eines haben die letzten drei Jahre nämlich bewie- sein kann. sen: So unverbindlich Passagen in Dokumenten zu Fragen der Diplomatie, Konsultation und Kooperation Wir befürchten, daß die Gipfelergebnisse eine klingen, so s tringent werden Vereinbarungen zu Auf- neuerliche Polarisierung der Ost - West - Beziehungen rüstung, Umrüstung und Umstrukturierung umge- zeitigen, aus deutscher Sicht mit nach Osten verscho- setzt. bener Grenze. Sie legitimieren die Rolle der NATO als Weltgeneral mit weltweiten Interventionsbefugnis- Am Ende dieses Prozesses kann ohne weiteres eine sen, und sie bedeuten einen gravierenden Schritt in neue atomare Bedrohung stehen, mit Sicherheit ein Richtung eines neuen, weltweit eigenständig agieren- neuer Rüstungswettlauf und möglicherweise ein den Militärbündnisses der WEU mit einer Euroarmee, neuer kalter Krieg. Das genau ist das Risiko dieser von der vor einem Jahr noch nicht geredet wurde, von Politik. Offensichtlich sind die Nostalgiker des kalten der vielmehr gesagt wurde, das sei Zukunftsmusik. Krieges wieder auf dem Vormarsch, wenn Herr Zierer von der CSU bereits heute wieder fordern kann, in Diese Gipfelergebnisse wurden in einer Zeit erar- Deutschland müßten Mittelstreckenraketen der USA beitet, in der wir über zwei weitere Brisanzen zu aufgestellt werden. diskutieren haben, nämlich über die beabsichtigte Erleichterung von Rüstungsexportkontrollvorschrif- Die Formel von der Partnerschaft für den Frieden ten und — eine Diskussion, die der Fraktionsvorsit- bedeutet natürlich faktisch den ersten Schritt zu einer zende der CDU/CSU vom Stapel gebrochen hat — selektiven Ostausdehnung der NATO. über die Frage der Bundeswehreinsätze im Innern. Zwar verleihen die beitrittswilligen osteuropäi- Nur die Gesamtschau auf diese Vorgänge vermag die schen Staaten ihrer Enttäuschung nachhaltig Aus- Dimension des Prozesses deutlich zu machen. druck. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, Offiziell drängt sich die NATO einmal mehr der daß die NATO ihren Einflußbereich nach Osten hin KSZE, der EU und der UNO zur Erledigung militäri- auszudehnen beginnt. Verteidigungsminister Rühe scher Aufgaben auf. Was sich nämlich tatsächlich spricht es offen aus: klare Beitrittsperspektive für hinter dem scheinbar harmlosen Wortlaut des Schluß- einige Staaten, Arbeitsprogramme zwischen der kommuniqués verbirgt, ist offenkundig dem gehei- NATO und jenen Staaten, die sich dann in die NATO men NATO-Dokument MC 327 zu entnehmen. hineinarbeiten dürfen. Danach werden die Interventionsaufgaben der Zum anderen macht der Verteidigungsminister NATO weiter ausgedehnt. Sie erstrecken sich nicht ebenso wie der NATO-Gereralsekretär Wörner die nur auf den osteuropäischen Raum, sondern gelten deutsche Interpretation dessen deutlich, was europa- weltweit. Nun ist die Rede von der sogenannten fähig, was europäisch sein soll. So betonen beide am Friedensunterstützung, weil m an sich gar nicht mehr Beispiel Polens und Ungarns die tiefe europäische die Mühe machen will, zwischen friedenserhaltenden Identität dieser Länder, die ich ja gar nicht bestreiten und friedensschaffenden Maßnahmen zu unterschei- will. Es bleibe einmal dahingestellt, was Verteidi- den. Ohne Anbindung an UNO oder KSZE, lediglich gungsminister Rühe damit gemeint haben mag, Prag in Anlehnung an Regeln — unverbindlicher geht es sei europäischer als manches, was es in Westeuropa wohl nicht mehr — sollen solche Einsätze möglich gebe. Ich finde das eine ziemlich problematische sein. Ausdrucksweise. Die hat mit den Vereinbarungen ihr Schnäpp- WEU (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Richtig!) chen gemacht. Herr Klose, ich bitte Sie, mir einmal den Widerspruch aufzuklären — er ist jetzt nicht mehr Allerdings geht es bei dieser Definition tatsächlich im Raum; vielleicht kann dies ein Kollege von der SPD, darum, ob eine Erweiterung von Militärbündnissen der noch sprechen wird, tun —, wie man auf der einen angestrebt werden soll. Die Arbeitsprogramme Seite die Vereinbarungen zum Verhältnis zwischen sichern den westlichen Staaten, allen voran wahr- NATO und WEU, den Zugriff auf NATO-Truppen, auf scheinlich der Bundesrepublik Deutschland, satte NATO-Führungsstrukturen, begrüßen und akzeptie Rüstungsaufträge. Wenn diese Armeen kompatibel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17425

Andrea Lederer mit NATO- und WEU-Truppen gemacht werden sol- Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len, dann ist das wahrscheinlich der Hintergrund für Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- die nun begonnene Debatte um eine Lockerung von legen! Auch wenn heute in der Debatte wenig davon Rüstungsexportvorschriften. zu spüren war, seit den Wahlen in Rußland hat sich die Das Schlimme und Unver antwortliche an dieser öffentliche Meinung in unserem Land geändert. Der Entwicklung ist doch folgendes: Es macht deutlich, Wahlsieg von Schirinowski hat vielen Menschen hier daß bei aller Betonung, man wolle eine Sicherheits- klargemacht, wie verzweifelt schwierig die Situation partnerschaft mit Rußland, faktisch eine neue Grenze in Rußland ist. Schirinowskis markige Sprüche sind gezogen wird. Dies verschärft übrigens auch die vielen durch Mark und Knochen gegangen, und zu Entwicklung, die im Jugoslawienkrieg deutlich Recht. geworden ist, nämlich auch eine Unterscheidung Für ihn hat jeder vierte Wähler gestimmt, und jede zwischen katholisch-protestantischen und orthodo- dritte Stimme war die eines Militärs. Es kommt noch xen Ländern in Europa. dazu, daß jeder siebente Wähler seine Stimme Sju- Zweitens wird kein Gedanke daran verschwendet, anow und der Kommunistischen Partei gegeben hat. welche Kooperationen man mit allen Staaten des Diese Zahlen belegen das Ausmaß der Gefahr, in der Kontinents, mit allen Staaten des ehemaligen War- sich Rußland befindet. Trotzdem wäre es falsch, die schauer Vertrages machen kann, damit Kriege verhin- Angst vor Schirinowski mit der Angst vor Rußland zu dert und Konfliktursachen f riedlich beigelegt werden verbinden. können. Rußland ist bereit, seine Atomwaffen zu verschrot- Das, was die NATO an Politik nun macht, ist nicht ten, die Armee zu verkleinern und die konventionel- ein Interessenausgleich zwischen europäischen Staa- len Waffen drastisch zu verringern. Rußland hat bis ten, sondern dient einzig und allein den Interessen der jetzt ohne Ausnahme alle Inspektionen durch Militär- NATO und vor allem der sie dominierenden Staa- angehörige aus NATO-Ländern akzeptiert. Von der ten. russischen Seite sind bisher keine Verletzungen der Diese Politik hat nicht zuletzt zu verantworten, entsprechenden Abkommen zu verzeichnen, im wenn der Rechtsextremist Schirinowski und seine Gegenteil: Alle Reduzierungsverpflichtungen werden Anhänger Wasser auf die Mühlen bekommen. Die genauestens eingehalten. Im Dezember 1993 fand ein Äußerungen aus Rußland — und nicht nur die Schiri- Datenaustausch zwischen Rußland und Deutschl and nowskis, sondern auch des beileibe nicht westfeindli- statt, aus dem hervorgeht, daß Rußland bis jetzt alle chen Präsidenten Jelzin — lassen keinen Zweifel an Waffen vernichtet hat, die es entsprechend dem der Brisanz der Operation Ostausdehnung. KSE - Vertragswerk vernichten mußte. Ein Frieden ohne oder gegen Rußland ist kurz-, Niemand wird hier widersprechen, wenn gesagt mittel- und langfristig auf diesem Kontinent nicht zu wird, daß es gerade jetzt notwendig ist, die Entwick- haben, und zwar unabhängig davon, wer in Rußland lung der Demokratie und den Erfolg der Wirtschafts- regiert. Den Frieden mittels Militärpakt herzustellen, reform in Rußland zu unterstützen. Aber an der Frage, ist ein Widerspruch in sich. wie das geschehen soll, scheiden sich die Geister. Statt Zeit, Geld und intellektuelle Energie in den Deshalb möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, daß die Bemühungen, Gorbatschow zu unterstützen, Auf - und Ausbau eines kollektiven Sicherheitssy- stems wie der KSZE und der UNO zu investieren, ohne seine Gegner zu provozieren, die Putschisten nur werden diese Ressourcen für die klassischen Militär- ermuntert hat und zu seinem Sturz beitrug. pakte NATO und WEU vergeudet. Das Hauptdilemma Ebensowenig angebracht ist es, alle, auch die zwei- besteht doch darin, daß die westlichen Staaten seit felhaften Aktionen von Präsident Jelzin routinemäßig 1989 drastisch das Interesse an der zuvor bejubelten zu bejubeln. Die Zerschlagung des konservativen KSZE verloren haben. Parlaments hat anschließend zu einem faschistischen Wenn Generalsekretär Wörner im „Spiegel"-Inter- Wahlsieg und zu einer demokratischen Legitimierung view die Realität wie folgt deutlich macht — ich neostalinistischer Kräfte geführt. Für die Vollmachten, zitiere: „Man kann die Allianz auf zwei Wegen die sich Präsident Jelzin gegeben hat, wird sich ruinieren. Entweder man hindert sie, neue Aufgaben Schirinowski bedanken, wenn er an die Macht kom- zu übernehmen, neben ihrer wichtigen Aufgabe, das men sollte. eigene Bündnisgebiet militärisch zu verteidigen. Oder Deshalb freue ich mich besonders, daß in der man wandelt sie in ein kollektives Sicherheitssystem politischen Debatte der letzten Wochen in unseren nach Art der KSZE um. " —, dann macht das, glaube Medien so viele Politiker und Publizisten aus Mittel- ich, mehr als deutlich, welches Verhältnis diese Bun- osteuropa zu Wort gekommen sind wie schon lange desregierung und der Generalsekretär Wörner zur nicht mehr. In ihren Artikeln zur NATO-Frage ist ein KSZE haben, zu einem System, das allemal 1989 die politisches Konzept zu erkennen, daß ich für unter- Perspektive zu einer friedlichen, nichtmilitärischen stützenswert und ausbaufähig halte. Deshalb möchte Kooperation in Ost und West geboten hätte. ich die wichtigsten Punkte dieses Konzepts noch Danke. einmal nennen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Erstens. In keinem der osteuropäischen Länder, auch in den Visegrad-Staaten nicht, ist der Erfolg der Reformpolitik gesichert. Überall ist der Preis, den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht viele Menschen in dieser Umbruchphase zu zahlen die Kollegin Vera Wollenberger. haben, hoch, für manche unerträglich hoch. Eine 17426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Vera Wollenberger schnelle Mitgliedschaft in der EG würde die Wirt- kratische Rußland, sondern nur seine kolonialistisch schaft dieser Länder noch stärker belasten. oder autoritär denkenden Feinde. Der Ausbau der politischen Zusammenarbeit von (Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ KSZE bis NATO-Kooperationsrat ist wichtig. Er CSU]) betrifft aber nur eine sehr kleine Schicht von Politikern All das spräche für eine schnelle und unbürokrati- aus diesen Ländern. Den meisten Menschen dort ist sche Aufnahme aller Staaten, die es wünschen, in die die Teilnahme einiger ihrer Politiker an den Sitzungen NATO. Diese hat aber auf ihrem letzten Gipfeltreffen all dieser Gremien einfach egal. bewiesen, daß ihr Vermögen zum Beharren im alten Die Aufnahme in die NATO dagegen würde ein für Denken größer ist als ihre Fähigkeit, auf die veränder- alle sichtbares Zeichen der Unterstützung auf dem ten Verhältnisse zu reagieren. Weg zur Demokratie, Marktwirtschaft und multinatio-- Das Programm „Partnerschaft für den Frieden" nalen Zusammenarbeit bedeuten. Die Aufnahme sieht vor allem Konsultationen, gemeinsame Manöver würde die Gefahr nationalistischer Sonderwege und und Soldatenausbildung sowie Standardisierung von gewalttätiger Auseinandersetzungen im Innern sicht- Waffensystemen vor, was im Klartext heißt, daß sich bar begrenzen. die osteuropäischen Streitkräfte mit den in der NATO Zweitens. In allen Staaten des „realen Sozialismus" gebräuchlichen Waffensystemen ausrüsten sollen. waren die „bewaffneten Organe" eine zentrale Stütze Deshalb freut sich auch die Rüstungsindustrie über der Macht der Nomenklatura. In den Visegrad - Staa- dieses Programm mehr als die Staaten, denen es als ten ist es bisher gelungen, eine politische und rechts- Ersatzbonbon angeboten wird und die es akzeptieren, staatliche Kontrolle von Militär und Sicherheitsappa- weil es immerhin besser ist als nichts. raten zu etablieren. Die Aufnahme dieser Staaten in Die bisherige Debatte über eine NATO-Erweite- die NATO würde diese Entwicklung sowohl honorie- rung ging im Grunde genommen über altes Denken ren als auch unumkehrbar machen. nicht hinaus und mußte daher zwangsläufig zu dem Drittens. Zwischen den Staaten Mittelosteuropas Punkt führen, an dem wir heute angelangt sind: Den gibt es vielfache Konflikte, von der Frage der Behand- mittelosteuropäischen Staaten wird die Mitglied- lung der ungarischen Minderheit in der Slowakei bis schaft auf absehbare Zeit verweigert, weil ihre Auf- zur Sorge Ungarns um die ungarische Minderheit in nahme eben keine bloße Erweiterung der NATO der Vojvodina. Alle Visegrad-Staaten verfolgen eine wäre. Die Osterweiterung der NATO ist nur als Politik der Anerkennung der bestehenden Grenzen offener Prozeß denkbar, an dem alle KSE-Staaten, die und der Suche nach friedlicher Konfliktregelung. die Standards der Pariser KSE-Erklärung beachten, Trotzdem gibt es die Angst, daß die alten Konflikte schrittweise teilnehmen können, einschließlich Ruß- wieder aufbrechen. Es gibt die Angst vor dem jugo- land. Das würde aber eine Umwandlung der NATO in slawischen Beispiel. Die Aufnahme der Visegrad- ein System kollektiver Sicherheit bedeuten. Nur Staaten in die NATO könnte nach Meinung dieser durch ein solches System, nicht durch überalterte und Politiker helfen, die zwischenstaatlichen Konflikte zu — siehe Bosnien — handlungsunfähige Militärbünd- zivilisieren. nisse kann Frieden in Europa ermöglicht werden. US-amerikanische Truppen hätten auch in Zukunft Viertens. In Mittelosteuropa besteht die Angst, daß als praktische und symbolische Versicherung der zwischen der NATO und Rußland ein politisches europäischen Nachbarn gegen deutsche oder russi- Vakuum entsteht, das sowohl russisch-imperiale sche Dominanzversuche in Europa ihre Bedeutung. Kräfte zu Hegemonieansprüchen wie auch westlich russische Absprachen oder gar deutsch-russische Wenn sich Westeuropa und die USA entschließen Absprachen über die Köpfe der kleinen Länder hin- könnten, ein altes Instrument der Militärpolitik aufzu- weg provozieren könnte. Diese Gefahr wäre mit einer geben, würden sie dadurch friedens- und sicherheits- Aufnahme in die NATO gebannt. politische Vorteile gewinnen. Die Umwandlung der NATO in ein System kollektiver Sicherheit wäre ein Wer, wie ich, dieses Konzept für schlüssig hält, muß entscheidender Schritt hin zur Zivilisierung der euro- sich natürlich mit den Gegenargumenten auseinan- päischen Sicherheitspolitik. Diese Verabschiedung dersetzen. So wird behauptet, eine Mitgliedschaft der von der Dominanz militärischer Strukturen wäre ein Reformstaaten in der NATO würde die russischen endgültiger, überfälliger Abschied von der Vergan- Nationalisten provozieren. Ich denke im Gegenteil, genheit mit ihren scheinbaren Sicherheiten. daß die europäische Sicherheit um so mehr garantiert ist, je weiter nach Osten Demokratie, Stabilität und Sicherheit für Europa bedeutet heute Sicherung eine potentielle Prosperität durchgesetzt werden kön- einer dauerhaften wirtschaftlichen Entwicklung in nen. Es ist ein Gradmesser für die Demokratisierung Ost und West und Wiederherstellung des ökologi- Rußlands, ob es als selbstverständlich anerkennt, daß schen Gleichgewichts in den Ökowüsten, die der z. B. die baltischen Länder ein volles Recht haben, Kalte Krieg hinterlassen hat. Sicherheit bedeutet Ban- ohne fremde Einmischung über ihr Schicksal zu nung von Gefahren, die von industriellen Großanla- entscheiden. gen, von der Weiterverbreitung von Massenvernich- tungswaffen, von ethnischen und nationalen Konflik- (Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ ten ausgehen. CSU]) Zur Lösung keines einzigen dieser Probleme hat die Das Vordringen von Institutionen der demokrati- NATO bisher beigetragen. Sie existiert wegen ihres schen Welt zur russischen Grenze bedroht, wie Ji ř í Beharrungsvermögens fort und wird von phantasielo- Dienstbier zu Recht feststellte, keineswegs das demo sen Politikern für die Lösung von sicherheitspoliti- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17427

Vera Wollenberger schen Aufgaben für zuständig erklärt, steht aber in onsrat und erweitert das Feld konkreter Zusammen- ihrer jetzigen Form der Lösung der wirklichen Aufga- arbeit. Ohne zu diskriminieren, eröffnet sie weite ben derzeit nur im Wege. Möglichkeiten differenzierter, vernetzter Beziehun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen. Die Bundesregierung hat die Sorgen und Erwartun- gen unserer östlichen Nachbarn und Partner immer Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht sehr ernst genommen. Ihre Warnungen vor einer der Außenminister Dr. Klaus Kinkel. Grauzone und ihre Sorge vor Isolierung verstehen wir. Aber die Antwort kann und darf nicht darin liegen, Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Europa erneut zwischen schwarz und weiß aufzutei- len. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der- Brüsseler Gipfel hat bestätigt: Die NATO bleibt der Deutschland versteht sich — und ich bleibe bei Eckstein für die künftige Sicherheitsarchitektur des diesem Bild — als Anwalt der Interessen unserer ganzen, ungeteilten Europa. Die Allianz hat ihre östlichen Nachbarn. Wir sagen das nicht nur, Herr traditionelle Funktion, Sicherung der territorialen Klose, sondern wir handeln dementsprechend, Integrität aller Mitglieder, erneut bestätigt. Sinn, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Zweck und Aufgabe der NATO erweisen sich nach ten der CDU/CSU) wie vor als unentbehrlich und unersetzlich. und zwar auf allen Gebieten. Die Umbruchländer in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mittel- und Osteuropa wissen, daß sie sich in ganz Die Allianz hat zugleich klare Ziele für die Zukunft besonderer Weise auf uns verlassen können. Sie vorgegeben. Damit setzt das Bündnis seinen Wand- wenden sich auch ganz dezidiert an uns. Aber eben lungsprozeß fort und stärkt seine Funktionsfähigkeit. auch Rußland und die Ukraine und die anderen Wer hätte gedacht, daß der NATO nach ihrer Länder kommen zu uns und sagen: Ihr werdet doch ursprünglichen Aufgabenstellung als kollektives Ver- besonders dafür sorgen, daß wir nicht ausgegrenzt, teidigungssystem gegen den Osten nach dem Wegfall weggedrückt werden. Es gilt eine balancierte Lösung der bipolaren Welt nun eine solche Rolle zufallen zu finden, und das ist, finde ich, auf dem NATO-Gipfel werde? Statt Konfliktszenarien werden heute Koope- in Brüssel gelungen. rationsstrategien ausgearbeitet, und das ist gut so. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Damit vollzieht die NATO den Übergang in eine Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Kin- neue Epoche, in der Sicherheit erweitert gedacht kel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne- werden muß: geographisch erweitert, wie dies der ten Seifert? Gipfel grundsätzlich beschlossen hat, funktional erweitert durch Früherkennung und Konfliktpräven- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: tion, konzeptionell erweitert durch wirtschaftliche, Wenn mir das nicht angerechnet wird, gern. ökologische, gesellschaftspolitische und kulturelle Komponenten, weil sich eben Sicherheit immer weni- ger allein mit militärischen Mitteln gewährleisten Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein. läßt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Außenmini- Der NATO-Gipfel hat das evolutionäre Konzept ster, können Sie mir die Frage beantworten, warum Sie so sehr viel Kraft dafür investieren, Ihre Strategien einer allmählichen, organischen Erweiterung des für Zusammenarbeit über ein Militärbündnis zu reali- Bündnisses beschlossen. Ich habe dieses Konzept einer vielschichtigen, differenzierten Vernetzung mit sieren und nicht über die KSZE, die es ja bereits gibt dem Osten von Anfang an vorgeschlagen und unter- und die als ein ausgesprochen kooperatives Gremium stützt. Die früheren Länder des Warschauer Paktes angelegt war? drängen ja mit Macht in unser Bündnis. Was kann sich eigentlich mehr als Veränderung in dieser Welt zei- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: gen und erweisen, als daß diejenigen, die bis vor Wer sagt denn, Herr Kollege, daß wir das nicht auch kurzem sozusagen unsere Todfeinde waren, jetzt über die KSZE versuchen? wegen ihres Sicherheitsbedürfnisses in unser westli- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Ich habe ches Bündnis hinein wollen, in die NATO? kein Wort davon gehört!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Diese neue europäische Sicherheitsarchitektur, die es Der Gipfel hat den Weg in die Richtung der Mit- zu bauen gilt, ist natürlich in ihrer Vernetzung mit der gliedschaft für diese Länder eröffnet. Er muß jetzt mit UNO und der KSZE, dem NATO-Kooperationsrat, der Geduld, aber entschlossen und zielstrebig beschritten WEU und der Europäischen Union im politischen und werden. Das Bündnis setzt so den 1991 begonnenen wirtschaftlichen Feld verbunden. Genau das versu- Kurs konsequent fort. chen wir. Die KSZE spielt bei dieser Vernetzungsar- Auf deutsch-amerikanische Initiative hin haben wir chitektur, die wir finden wollen, finden müssen — ich damals mit der Gründung des Nordatlantischen komme nachher darauf zurück —, eine ganz entschei- Kooperationsrates die Tür zur Kooperation mit den dende Rolle. Die KSZE wird also nicht vernachläs- östlichen Nachbarn aufgestoßen. Die Partnerschaft sigt. für Frieden ergänzt den Nordatlantischen Kooperati (Beifall bei der F.D.P.) 17428 . Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Andererseits ist es so, daß kein dritter Staat je ein Erstens. Der NATO-Gipfel hat ein eindrucksvolles Vetorecht hinsichtlich der Mitgliedschaft im Bündnis Bekenntnis zur europäischen Sicherheits- und Ver- beanspruchen konnte, beanspruchen durfte. So muß teidigungsidentität abgelegt. es auch bleiben. Wir dürfen allerdings keine neuen gitte Schulte [Hameln] [SPD]: Fragen Sie Antagonismen, keine neuen Brüche und Gräben (Bri einmal die Engländer!) schaffen. Der amerikanische Präsident unterstützt das Bemü- Zugleich gilt aber: In einem stabilen demokrati- hen um mehr europäische Selbständigkeit in der schen, wirtschaftlich leistungsfähigen und kooperati- Wahrnehmung unserer europäischen Sicherheitsin- ven Rußland liegt letztlich die beste Sicherheitsgaran- teressen. Die Aktionsmöglichkeiten der WEU sind tie für das übrige Europa. Rußland hat nicht zuletzt beträchtlich erweitert worden; ihr sind Teile der dank unserer massiven politischen und wirtschaftli-- NATO-Ressourcen zur Verfügung gestellt worden. chen Unterstützung entscheidende Schritte in Rich- tung auf dieses Ziel unternommen. Es ist auf dem Der europäische Pfeiler wird so gestärkt. Er muß historisch einmaligen Weg von der Plan- in die aber gut verstrebt bleiben mit dem atlantischen Pfei- Marktwirtschaft, vom Kommunismus in die Demo- ler. Wenn die Europäische Union zunehmend Kompe- kratie. Es wäre naiv, wirklich naiv, dabei nicht mit tenzen in politischen und sicherheitsrelevanten Fra- Rück- und Fehlschlägen zu rechnen, mit Irrwegen gen erhält, müssen vertiefte transatlantische Konsul- extremistischer, nationalistischer Politik, aber eben tations- und Abstimmungsmechanismen entwickelt auch mit wirtschaftspolitischen Fehlentwicklungen. werden, und der Atlantik darf nicht breiter werden. Trotzdem: Von Herrn Schirinowski lassen wir uns (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne keine neuen Feindbilder einreden, ten der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Die Vereinigten Staaten von Amerika haben ein ten der SPD) starkes Bekenntnis zu einem dauerhaften Engage- ment in Europa abgelegt. Wir begrüßen insbesondere und zwar ganz einfach deshalb, weil wir Partnerschaft die klare Aussage des amerikanischen Präsidenten, wollen und keine Gegnerschaft. künftig 100 000 Soldaten in Europa zu belassen. Dies ist für uns und unsere europäischen Verbündeten von (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- eminenter Wichtigkeit. ten der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Ich bleibe auch sehr zuversichtlich, daß die Mehrheit ten der CDU/CSU) der Bevölkerung Rußlands genauso denkt. Solange Rußland ja zu Europa sagt, dürfen wir nicht nein zu Zweitens — nun komme ich auf das, was Herr Klose Rußland sagen. heute morgen angemahnt hat. Marktöffnung, Intensi- vierung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Zum Bei spiel Waffenexporte!) Jedenfalls war es richtig — ich bleibe bei dieser sowie des Kulturaustauschs sind ebenfalls Elemente Meinung —, Herrn Schirinowski die Einreise nach der Sicherheit. Die jetzt eröffnete Erweiterungsper- Deutschland für die geplante Politschau von 18 Ta- spektive der NATO muß im Zusammenhang mit gen, für eine Propagandatour, bei der m an sich diesen anderen Vernetzungs- und Erweiterungsper- ausrechnen konnte, in welche Richtung sie geht, zu spektiven der Europäischen Union gesehen werden. versagen. Beide Perspektiven sind miteinander und untereinan- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der der verflochten. Ein Europa, das seine Sicherheit SPD) allein der NATO überließe, bliebe unvollkommen. Ebenso ist aber eine Europäische Union ohne gleiche Meine Damen und Herren, genauso wichtig ist, daß Sicherheit für alle Mitglieder nicht vorstellbar. Länder wie die Ukraine, die baltischen Republiken, die Länder Südosteuropas nicht den Eindruck erhal- (Beifall bei der F.D.P.) ten, die Tür zu einer Erweiterung westlicher Stabili- Drittens. Zusammen mit meinem französischen Kol- tätsstrukturen öffne sich nur einmal und nur für einige, legen Juppé habe ich vorgeschlagen, die Länder mit nur um danach um so fester wieder zuzuschlagen. einer Beitrittsperspektive zur Europäischen Union Nein, unser Leitbild ist ein einheitliches Europa, in schon jetzt näher an die WEU heranzuführen und dem keine neuen Gräben gezogen werden. ihnen damit eine zusätzliche sicherheitspolitische Verankerung und Vernetzung zu bieten. Ich werde (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- mich dafür einsetzen — ich habe das bisher schon mit ten der CDU/CSU und der SPD) Nachdruck getan —, daß die WEU diesen Vorschlag Es ist ein bißchen der Eindruck entstanden, als ob jetzt konkret umsetzt. auf dem Gipfel allein die NATO-Erweiterung, die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Beziehungen nach Osten das einzige Thema gewesen ten der CDU/CSU) wären. Das war nicht so. Welche großen Aufgaben deutscher Sicherheitspolitik in Europa — sie waren Viertens. Die KSZE hat sich schon lange den Begriff auch Gegenstand des NATO-Gipfels in Brüssel — erweiterter Sicherheit zu eigen gemacht. Sie ver- liegen vor uns? knüpft militärische Aspekte der Sicherheit mit Fragen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17429

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel der Menschenrechte, demokratischer Machtkontrolle Handlungsfähigkeit der KSZE und ihre Vernetzung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit. mit den Vereinten Nationen und der NATO weiter Es ist das bleibende Verdienst der KSZE, daß sich ausbauen. der gewaltige politische und militärische Umbruch in (Vorsitz: Vizepräsident H ans Klein) Europa vollziehen konnte, ohne daß eine ernsthafte Sechstens. Die Gefahr militärischer Zusammenstöße zwischen den NATO erklärt sich bereit zur Unter- stützung friedenserhaltender Maßnahmen und ande- ehemaligen Blöcken entstanden ist. An dieser Kultur rer Missionen von KSZE und UN. Damit bekräftigt das des Gewaltverzichts, der Verständigung und der Kompromißbereitschaft wollen gerade wir Deutschen Bündnis die einzigartige Verantwortung der Verein- festhalten. ten Nationen für die internationale Friedensordnung. Das bedeutet für uns: Auch wir müssen bereit sein, uns (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-- an diesen Bündnisaufgaben zu beteiligen. Wenn wir ten der CDU/CSU) uns hier nicht selbst isolieren wollen, brauchen wir Das gilt gerade auch im Hinblick auf die Lage im dringend eine Klärung der verfassungsrechtlichen früheren Jugoslawien. Die Lage im früheren Jugosla- Fragen. wien hat auf dem Gipfel natürlich eine wesentliche (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Rolle gespielt und in mancher Beziehung die Beratun- ten der CDU/CSU) gen auch ein wenig überschattet. Unsere Kraft, zu helfen und zu vermitteln, ist nicht unerschöpflich. Die Ich wiederhole meinen Appell an Sie, meine Damen Bereitschaft, sich weiter zu engagieren, nimmt und Herren von der Opposition: Stellen Sie sich Ihrer Mitverantwortung! Geben Sie die Blockade der erkennbar auch bei den Ländern ab, die Truppen stellen — übrigens mit allen unwägbaren Konsequen- Grundgesetzänderung auf! zen auch für die Sicherstellung der humanitären (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Hilfslieferungen, die dann nicht mehr zu den Sonst nimmt unser Land Schaden. bedrängten Menschen gebracht werden könnten, wenn es tatsächlich zu einem Rückzug der Soldaten Der Bundeskanzler und ich waren während dieser vor Ort kommen sollte. Gipfelveranstaltung in Brüssel mehrfach — das füge ich an diesen Appell an — in einer sehr, sehr schwie- Das Signal des Gipfels, mit der Bereitschaft zu rigen Situation, in einer Situation, die manchmal eventuellen Luftwaffeneinsätzen bekräftigt, ist auch unwürdig war für das jetzt größte Land im Herzen Ausdruck wachsender Ungeduld und Enttäuschung. Europas mit einer zusätzlichen Verantwortung. Ich Dennoch bleibt der europäische Aktionsplan, dessen kann nur noch einmal sagen: Wir werden diese Grundlage die deutsch-französische Initiative war Situation im Interesse dieses Landes nicht mehr lange und bleibt, dringend notwendig. so durchhalten. Geben Sie Ihre Blockade auf! Das Signal des Gipfels — ich muß es noch einmal (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sagen — war auch, daß jedenfalls ein gewisser Wen- depunkt in der Situation im früheren Jugoslawien Siebtens. Mit großem Nachdruck haben die Regie- gekommen ist. Es mag schwerfallen, in dieser Frage rungschefs in Brüssel die Verbreitung von Massenver- weiter Zuversicht zu zeigen, aber der Friede ist ein zu nichtungswaffen zu einer Gefahr für die internatio- hohes Gut, als daß wir resignieren dürften. nale Sicherheit erklärt. Die Mitglieder des Sicher- heitsrates der Vereinten Nationen hatten bereits auf Allerdings — und das habe ich insbesondere den ihrem Gipfeltreffen vor zwei Jahren klargestellt, daß beiden Herren Izetbegovi und Tudjman bei den ć Kontrolle und Eindämmung von Massenvernich- Gesprächen auf dem Petersberg deutlich und klar tungswaffen und deren Trägersystemen ein legitimes gesagt — wird Frieden nur möglich sein, wenn ihn die Anliegen, ein ganz, ganz wichtiges Anliegen der Konfliktparteien wollen und auch mit darauf hinwir- ken, daß er kommt. Völkergemeinschaft ist. Deutschland hat als einziges Land freiwillig und permanent auf Massenvernich- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU tungswaffen verzichtet. Ich hatte meine Vorschläge sowie bei Abgeordneten der SPD) zur Stärkung der Politik der Nichtverbreitung bereits Mitte Dezember in einem Zehn-Punkte-Plan formu- Unser Dank gilt all denen, die bis zum Einsatz ihres Lebens dabei mithelfen, die schrecklichen Menschen- liert. Wir werden diese Initiative energisch weiterver- rechtsverletzungen zu verhindern oder mindestens folgen. Unser Ziel ist, durch rechtzeitige aktive Koope- den Versuch zu machen, sie zu mildern. ration mit den fraglichen Ländern die Entstehung neuer Kernwaffenstaaten in der Welt zu verhindern. Fünftens. Das Angebot einer Friedenspartnerschaft richtet sich über den Mitgliederkreis des Nordatlanti- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) schen Kooperationsrates auch an weitere KSZE- Achtens. Meine Damen und Herren, für morgen ist Mitglieder. Ich habe schon früh dafür plädiert, daß der Abschluß eines Abkommens angekündigt, das die sich der Nordatlantische Kooperationsrat grundsätz- Beseitigung der in der Ukraine befindlichen ehemals lich für alle KSZE-Mitglieder öffnet. Dadurch würde sowjetischen Kernwaffen regeln soll. An diesem der KSZE-Prozeß an Substanz und auch an Wirksam- Durchbruch war die Bundesregierung durch einen keit gewinnen. Der Nordatlantische Kooperationsrat intensiven Dialog mit Kiew über Sicherheits- und und damit auch die NATO erhalten neue Optionen zur Abrüstungsfragen entscheidend beteiligt. Wir hoffen, präventiven Konfliktverhütung und zum Krisenmana- daß diese Regelung hinreichend die innenpolitische gement wie auch zu Friedensmissionen. Das Gipfel- Unterstützung in der Ukraine findet, denn dann wäre treffen der KSZE in Budapest in diesem Jahr muß die der Weg frei für einen Beitritt der Ukraine zum 17430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Nichtverbreitungsvertrag als Nichtkernwaffenstaat. wehr für die und die Aufgaben, und dafür muß dann Die Chancen für eine unbegrenzte und bedingungs- das notwendige Geld zu Verfügung stehen. lose Verlängerung dieses Vertrages würden damit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU steigen. Dann könnte endlich eine intensive umfas- sowie bei Abgeordneten der SPD — Brigitte sende Zusammenarbeit mit diesem ungeheuer wich- Schulte [Hameln] [SPD]: Na, warten wir doch tigen Land — vor allem auch für die Sicherheitsarchi- einmal ab!) tektur Europas wichtigen Land — begonnen werden. Wir müssen die Bundeswehr, die ein ganz wichtiger Das Kooperationsabkommen der Europäischen Teil unserer Gesellschaft ist, aus parteipolitischen Union mit der Ukraine muß ebenfalls abgeschlossen Profilierungsversuchen heraushalten. Daran liegt mir werden. Das schwierige Verhältnis zwischen der viel. Ukraine und Rußland sollte durch einen Vertrag über Vielen Dank. gute Nachbarschaft und Gewaltverzicht entspannt- werden. Wir sind nach Kräften bereit, auch dabei zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — helfen. Gerade was die Ukraine anlangt, hat sich die Zuruf von der SPD: Das ist ein gutes Wort!) Europäische Gemeinschaft viel vorgenommen, Gott sei Dank viel vorgenommen, denn wir müssen sehen, daß in der Ukraine natürlich mit besonderer Aufmerk- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- samkeit beachtet, beobachtet wird, wie wir uns ren, ich werde jetzt dem Bundesminister der Verteidi- gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten, gung das Wort erteilen. Zuvor muß ich aber folgendes vor allem aber auch gegenüber Rußland, verhalten. sagen: Ich habe neulich eine Bemerkung dazu gemacht, daß das Haus zunächst nicht zu Wort kam, Meine Damen und Herren, das Ergebnis des NATO- weil sich der Bundesrat zweimal zu Wort gemeldet Gipfels fügt sich nahtlos ein in das Konzept erweiter- hat. Heute ist nicht die gleiche Situation, weil dies ter Sicherheit für ganz Europa. Dieses Konzept ent- bereits die zweite Runde ist. Gleichwohl kommt das springt unserem Interesse an Frieden und Stabilität in Prinzip von Rede und Gegenrede durch das Bestehen ganz Europa. Wir werden es zielstrebig weiterverfol- seitens der Bundesregierung darauf, das Wort zu gen. Transparenz, Konfliktverhütung und Vertrau- nehmen, etwas ins Wanken. Das ist keine Katastro- ensbildung stehen im Mittelpunkt. Die letzten phe, wie auch das andere letztens keine Katastrophe 45 Jahre haben durch die Europäische Gemeinschaft gewesen wäre, wenn nicht die Reaktion darauf so im westlichen Europa ein beispielloses Stabilitätsnetz falsch gewesen wäre. Ich wäre jedoch dankbar, wenn hervorgebracht. Jetzt kommt es darauf an, sozusagen wir es künftig vermeiden könnten, daß zwei Minister in der zweiten Halbzeit des europäischen Einigungs- nacheinander sprechen. prozesses das Stabilitätsnetz endgültig zu verknüp- fen. Am Ziel werden wir sein, wenn alte Gegensätze Herr Bundesminister Volker Rühe, Sie haben das im Osten unseres Kontinents durch die integrative Wort. Kraft der europäischen Einigung genauso überwun- (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Herr Rühe, Sie den sein werden, wie dies im Westen bereits der Fall können ja widersprechen, dann ist es in ist. Am Ziel werden wir sein, wenn die an dieses Ordnung!) Europa angrenzenden anderen Staaten — dazu gehört auch der Partner Rußland — das zusammen- wachsende Europa nicht als Bedrohung, sondern als Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Gewinn für die eigene Sicherheit und den eigenen Herr Präsident, ich habe das nicht vereinbart. Wohlstand betrachten. Der Weg bis dahin ist weit, Liebe Kolleginnen und Kollegen, der NATO-Gipfel aber wir wollen ja Außenpolitik über den Tag hinaus war ein Erfolg. Es ist gut, daß das vom ganzen machen. Deutschen Bundestag einschließlich der Opposition Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum anerkannt worden ist. Schluß noch etwas sagen, was mir bei diesem NATO- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Gipfel aufgefallen ist und was, wie ich glaube, für uns Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Nicht von ganz wichtig ist. Unsere Bundeswehr genießt im der ganzen Opposition!) Rahmen der NATO, bei der NATO ein ungeheures Als Verteidigungsminister darf ich sagen, daß ich Ansehen. Ich finde, darauf sollten wir stolz sein. mich über die Debatte und auch darüber sehr gefreut (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU habe, daß alle Redner, Kollegen aus der Regierung, sowie bei Abgeordneten der SPD) Kollegen aus den Regierungsfraktionen und Hans- Ulrich Klose als Fraktionsvorsitzender der SPD, die Sie ist und bleibt Garant unserer Sicherheit und ein Bedeutung der Bundeswehr gewürdigt haben. wirkungsvolles Werkzeug unserer Friedenspolitik. Erfreuliche, starke und gute Worte über die Bundes- Auf ihr beruht unsere Bündnisfähigkeit. Ich sage: Sie wehr — das macht mir Mut. Ich fordere gar nicht, daß braucht Planungssicherheit, nicht nur beim Finanz- wir auch starke Finanzen bekommen, aber wir brau- rahmen, sondern noch mehr bei einer eindeutigen chen hinreichende Finanzen für die Durchführung Aufgabendefinition. dessen, was hier allgemeine Unterstützung bekom- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU men hat. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Es kann und darf nicht richtig sein, daß wir sagen: Wir der F.D.P. — Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: haben soundso viel Geld, dafür können wir uns Haben Sie gerade zum Finanzminister soundso viel Bundeswehr leisten. Es muß umgekehrt geschaut?) sein. Wir müssen sagen: Wir brauchen die Bundes Daran müssen wir noch ein Stück arbeiten. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17431

Bundesminister Volker Rühe überhaupt keine Frage sein, daß die WEU immer auf Ich finde das wirklich gut; das tut auch der Bundes- der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen wehr gut. Es entspricht im übrigen der internationalen handeln wird. Aber Tatsache ist: Nur wenn sich sicherheitspolitischen Lage. Es ist richtig, was hier Deutschland voll an diesen Aufgaben beteiligt, wird gesagt worden ist. Wir alle müssen miteinander Europa militärisch handlungsfähig sein, und das ist die Kraft finden, das auch umzusetzen. Denn von auch eine Anfrage an die Verantwortung der So- Worten kann ich keinen einzigen Soldaten finan- zialdemokraten. Die Verantwortung dafür daß zieren und keine einzige Einheit der Bundeswehr Deutschland durch eine Fortschreibung der bis- ausbilden. herigen Haltung die WEU und damit Europa nicht Der Gipfel war deswegen ein Erfolg, weil er auf die handlungsfähig machen würde, kann niemand über- drei entscheidenden Aufgaben, die vor uns liegen, nehmen. eine Antwort gegeben hat: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erstens. Die NATO macht keine Abstriche an der Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung. Das ist auch Drittens. Die NATO hat die Stabilisierung des zwingend notwendig, denn die sicherheitspolitische östlichen Europa zu einer gemeinsamen Aufgabe Lage in Europa ist weit davon entfernt, stabil zu ersten Ranges erklärt. Dazu brauchen wir ein schlüs- sein. siges Gesamtkonzept von Integration und vertiefter Kooperation. Ich denke, wir werden damit den Neben der Bündnisverteidigung begreift die NATO berechtigten Erwartungen unserer Nachbarn ge- aber auch die Fähigkeit zur Teilnahme an der inter- recht. nationalen Krisenbewältigung als neue Kernaufgabe, die sie jetzt entschlossen weiterentwickelt. Es ist gut Zugleich müssen wir zur Ukraine, vor allem aber zu und richtig, daß das Bündnis entschieden hat, seine Rußland, eine Partnerschaft entwickeln, die beson- Streitkräfte und seine Kommandostrukturen so anzu- dere Qualität hat. Partnerschaft für den Frieden ist ein passen, daß es seine neuen Aufgaben erfüllen wichtiger und nützlicher Schritt auf dem Weg, neue kann. Partner an die westlichen Sicherheitsinstitutionen heranzuführen. Sie ist kein Ersatz für die Öffnung der Lieber Hans-Ulrich Klose, Deutschland muß sich an Das, was in Brüssel gesagt wurde, ist erst in den alten und an den neuen Aufgaben der NATO voll Allianz. monatelangem Bemühen durchgesetzt worden; denn beteiligen, wenn es nicht die Handlungsfähigkeit der von Anfang an war das nicht so geplant, sondern NATO in Frage stellen will. Das ist ganz entscheidend schon eher als ein Ersatz für die Mitgliedschaft. für die Diskussion hier in Deutschland. Ich denke, wir können froh darüber sein, daß das Zweitens. Die NATO - Reform und die Integration Europas werden miteinander in Einklang gebracht. jetzt die Politik der Allianz ist, so wie es der Bundes- Die USA haben ihren Frieden mit der gleichberech- kanzler auch in seiner Erklärung vor dem NATO-Rat tigten Partnerschaft eines geeinten Europa im Bünd- formuliert hat. Wir bieten allen diesen Ländern eine nis gemacht. Europa muß dazu s trategisch handlungs- Partnerschaft für den Frieden und gleichzeitig die fähig werden. Das entlastet Amerika und schafft die Eröffnung einer Beitrittsperspektive zur NATO an. Voraussetzung für ein beständiges amerikanisches Auf dieser Grundlage kann jetzt gehandelt wer- Commitment in und für Europa, wie es der amerika- den. nische Präsident Clinton eindrucksvoll bekräftigt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist besonders bemerkenswert, wenn man sich an die vergangene Aufregung um das Euro-Korps erin- Ich bin seit Monaten für diesen Ansatz eingetreten, nert. Da hat es ja auch in Deutschland aufgeregte und ich freue mich, daß wir zu diesem Ergebnis Debatten gegeben. gekommen sind. Die deutsche Politik insgesamt hat, glaube ich, einen sehr guten Beitrag dazu geleistet Heute besteht große Harmonie im Bündnis über die — auch das, was aus den Fraktionen, aus fast allen Bedeutung der NATO und der Westeuropäischen Fraktionen dieses Hauses, gekommen ist. Ich bin fest Union. Die WEU wird als der europäische Pfeiler der davon überzeugt, daß nur so das Bündnis lebensfähig Allianz gestärkt. In Zukunft kann sie auf Strukturen bleibt und daß wir nur so der Aufgabe gerecht werden, und Kräfte der NATO zurückgreifen. Stabilität in Europa und für Europa herzustellen. Dabei bleibt die Allianz das entscheidende Konsul- tationsforum für die Sicherheitsfragen in Europa. In (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der NATO wird letztlich entschieden, ob die Allianz der F.D.P.) oder die WEU handelt. Das ist der politische Preis Partnerschaft für den Frieden ist keine Leerformel, dafür, daß die WEU auf Kapazitäten der NATO — das anzunehmen wäre ein großer Irrtum —, sondern zurückgreifen kann, daß Europa sicherheits- und ein praktisches Sofortprogramm. Niemand wird dis- verteidigungspolitisch handlungsfähig wird und daß kriminiert. Alle können sich beteiligen. Aber natürlich wir Doppelstrukturen vermeiden. werden wir differenzieren. Wir werden noch in diesem Bei aller Freude über die Unterstützung der Sozial- Jahr mit einer ganz konkreten Zusammenarbeit, mit demokraten für die Politik der Osterweiterung muß ganz konkreten Maßnahmen beginnen. Dazu gehö- ich sagen, daß in Fragen der WEU, der Herstellung ren gemeinsame Ausbildung und Übungen, die der europäischen Sicherheits- und Verteidigungs- gemeinsame Planung für Friedensmissionen und die identität, Herr Klose, die Haltung der SPD weiter konkrete Unterstützung, dabei militärische Struktu- widersprüchlich ist. Dort gibt es Aussagen: Die WEU, ren zu schaffen, die eine Mitgliedschaft in der NATO das sei eine Militarisierung Europas. Es kann ja erst möglich machen. 17432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesminister Volker Rühe Ich denke, wir tun schon bisher eine ganze Menge. sagen: Manches in Prag ist viel europäischer als Wir haben mit allen unseren östlichen Nachbarn manches in Deutschland und in Westeuropa. militärische Kooperationsabkommen geschlossen, die wir mit Leben erfüllt haben und weiter erfüllen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. müssen mit dem Ziel, die östlichen Nachbarn an die sowie bei Abgeordneten der SPD) westlichen Sicherheitsinstitutionen heranzuführen. Das ist doch keinerlei Provokation gegenüber irgend Die Öffnung der Allianz für unsere unmittelbaren jemandem. Vielmehr hat es eine künstliche Teilung Nachbarn im Osten liegt in unserem vitalen Interesse. Europas gegeben. Wenn sich die NATO öffnet, wenn Ich habe immer die Auffassung vertreten: Man sich die Europäische Union öffnet, dann wächst das braucht wirklich kein strategisches Genie zu sein, um Europa wieder zusammen, das einmal zusammenge- hört hat, und zwar über Jahrhunderte. Das ist keinerlei das zu begreifen. Ich habe mich manchmal gewun-- dert, wie wenig wir von einer klaren Analyse der Provokation! deutschen Interessen ausgegangen sind. Eine Grenze (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. von Stabilität und Sicherheit — instabil östlich unserer sowie bei Abgeordneten der SPD) Grenzen, stabil hier; Prosperität diesseits der Grenze, Armut jenseits —, das kann auf die Dauer nicht Ich würde mir von manchem wünschen, daß er gutgehen. manche Diskussionsbeiträge etwas weniger defensiv aufgenommen hätte, mit denen versucht wurde, uns (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Sehr richtig! Und ein schlechtes Gewissen einzureden. Im übrigen wird daraus müssen Schlüsse gezogen werden!) der Stabilitätsbereich in Europa ausgeweitet. Es gibt Deshalb dürfen die deutschen Ostgrenzen nicht auf keinerlei Provokation gegenüber irgend jemandem. Dauer die Außengrenzen der NATO und der Europäi- Es ist klar, daß künftige Mitglieder der Europäi- schen Union bleiben. schen Union nicht weniger sicher sein können als die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der heutigen, die, wie wir z. B., bereits zur NATO gehö- F.D.P. und der SPD) ren. Insofern ist klar, daß sich hier vitale deutsche Interessen mit den Erwartungen und legitimen Entweder exportieren wir Stabilität, oder wir werden Sicherheitsinteressen unserer Nachbarn, der Polen, Instabilität importieren. Ich finde, keiner hat das der Ungarn, der Tschechen, der Slowaken und ande- früher und besser formuliert als der Kollege Hans- rer, treffen, die nicht weniger wollen, als wieder zur Dietrich Genscher, der gesagt hat: Uns wird es auf Familie der europäischen Demokratien zu gehören. Dauer nicht gutgehen, wenn es unseren östlichen Nachbarn auf Dauer schlechtgeht. Wenn mich in der Debatte, die hier über ein Jahr gegangen ist, etwas gestört hat, dann sind es die (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Diskussionsbeiträge gewesen, mit denen uns gele- SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/ gentlich mit der Kälte von Punktrichtern beim Eis- Linke Liste]) kunstlauf gesagt wurde: Laßt uns doch diese neuen Deswegen ist jedenfalls das deutsche Interesse Demokratien einmal ein paar Jahre beobachten, ob glasklar. Da wir das nicht alleine schaffen können, sie sich denn wirklich für die Mitgliedschaft qualifi- müssen wir so etwas wie einen europäischen Solidar- zieren, ob die Demokratie wirklich stabil ist; die einen pakt schaffen. Das heißt, die Finanzströme, die bisher oder anderen Wahlen sind ja nicht so gut gelaufen von Norden nach Süden gegangen sind, müssen jetzt — ich weiß nicht, ob sie bei uns immer gut laufen —, stärker von Westen nach Osten gehen. und wir wissen auch noch nicht, wie die wirtschaftli- che Entwicklung in Polen ist. — Ich muß Ihnen sagen, (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Wir sind uns das ist eine unglaubliche Einstellung. Wir sollten an einig!) unsere eigene deutsche Nachkriegsgeschichte den- ken. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Hier gibt es manchen Egoismus auch bei den südli- Stabilisie- die chen Demokratien, denen wir bei der Stabilisierung rung der Demokratie, Stabilisierung unserer Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland höchstens zur ihrer Demokratien sofort geholfen haben. Hälfte unsere eigene Leistung ist. Das andere beruht (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Ja, rich auf der frühen Mitgliedschaft in den westlichen -tig!) Bündnissen Europäische Union und NATO. Das soll- ten die Deutschen nie vergessen. Auch der Süden Europas ist der Westen, und im Verhältnis zum Osten geht es ihm gut. Deswegen muß (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der die deutsche Politik dies vorantreiben. SPD — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und Marshall-Plan!) (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Sehr richtig! Macht das einmal!) — Auch der Marshall-Plan. Er gehört natürlich dazu. — Deswegen muß sich Deutschland dafür einsetzen, Es gibt keinerlei Provokation. Ich darf ein Wort von und deswegen müssen aber auch andere diesen aufgreifen und verwandeln, der im Beitrag leisten. Ich nenne noch einmal das Stichwort Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung gesagt europäischer Solidarpakt. hat: Hier wächst zusammen, was zusammengehört. Ich war in Prag und habe eine Rede an der Karls Ich wiederhole: Diejenigen, die sich mit der Kälte Universität gehalten. Da bin ich auf Lateinisch von Punktrichtern hinstellen und beobachten, wie gut begrüßt worden. Ich kenne keine deutsche Universi- sich gerade die Demokratie in Polen oder Ungarn tät, wo mir das passieren würde. Deswegen würde ich entwickelt und wie konsequent man dort Marktwirt- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17433

Bundesminister Volker Rühe schaft — dann möglichst auch noch ohne Adjektiv — setzen. Wir müssen dazu beitragen, daß Europa mili- betreibt, und dann sagen, wir wollen einmal sehen, ob tärisch handlungsfähig wird. Ich glaube, daß das sie sich für das Bündnis und die Europäische Union manche unterschätzen, die die Bundeswehr vor allen qualifizieren, machen einen historischen Fehler. Den Dingen auch im Hinblick auf Deutschland sehen. M an dürfen wir nicht machen! Beitrag muß sie mindestens ebenso stark als unseren zur europäischen Verteidigung sehen. Ohne einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) angemessenen deutschen Beitrag gefährden wir die Auch in der deutschen Bevölkerung gibt es eine europäische Verteidigung insgesamt. hohe Zustimmung zu dieser Politik. Die Deutschen Es ist absehbar, daß Europa in die Lage kommen spüren und wissen, daß wir keinesfalls eine Politik kann, Krisen und Konflikte auch eigenständig mei- betreiben dürfen, die zwischen Warschau und Mos- stern zu müssen. Wir haben nicht mehr die Nach- kau zu wählen hätte. Auch hier haben mich manche kriegszeit, wo wir alles auf die Schultern der Ameri- Diskussionsbeiträge, die es gelegentlich gegeben hat, kaner lasten konnten. Das ist auch mit diesem Gipfel gestört. Wir hätten einen riesigen Fehler gemacht, deutlich geworden: eine Chance zur eigenen Identi- wenn wir uns eine solche Alternative hätten aufzwin- tät, aber auch eine viel größere Verantwortung. Dafür gen lassen. Dafür gibt es überhaupt keine Notwendig- müssen wir auch die Vorkehrungen treffen. Ohne keit; dies würde keinem gerecht, weder der Notwen- einen substantiellen deutschen Beitrag wird es keine digkeit enger freundschaftlicher Beziehungen zwi- gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidi- schen Deutschland und Rußland noch unserem Wil- gungspolitik geben. len, zu unseren Nachbarn im Osten ein genauso enges Verhältnis zu entwickeln wie zu unseren Nachbarn im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Westen. Stabilität in Europa — das wissen wir alle, und das ist auch in der Debatte deutlich geworden — geht Unsere Verantwortung in den Entscheidungen, die nur mit und nicht gegen Rußland. Aber der Raum wir in der Sicherheitspolitik treffen, geht weit über die zwischen Deutschland und Rußland darf dabei nicht 80 Millionen Deutschen hinaus. Deswegen wird auch vergessen werden. sehr sorgfältig beobachtet, was wir machen. In dieser Lage darf die Qualität und die Quantität Ich denke, die Schlüsselelemente Integration und der Sicherheitsvorsorge Deutschlands nicht allein von Kooperation sind jetzt in die richtige Balance gebracht worden. Das ist ein Prozeß, der mit dem finanziellen Zwängen abhängig gemacht werden. NATO-Gipfel urumkehrbar in Gang gesetzt worden Das ist hier ja auch deutlich geworden. Ich habe es einmal so formuliert: Kein Mensch kündigt die Feuer- ist. Die NATO hat damit für die Stabilität ganz versicherung, wenn es lange nicht gebrannt hat. Diese Europas eine führende Rolle übernommen. Klugheit von einfachen Leuten im Hinblick auf ihr Deutschland muß in der Lage sein — wie ich es eben Haus sollten auch wir alle im Hinblick auf unser Haus gesagt habe —, sich an allen, an alten und neuen Deutschland und auf das Haus Europa haben. Die Aufgaben der NATO angemessen zu beteiligen. Bundeswehr bestimmt maßgeblich unsere Bündnisfä- Unsere Partner in Ost und West haben große Erwar- higkeit. Sie ist ein wichtiger Faktor europäischer tungen an eine verantwortliche deutsche Politik, die Stabilität, und sie muß es auch bleiben. umsichtig und entschlossen zugleich agiert. Vielen Dank. Die sicherheitspolitische Lage — ich denke, das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P war hier über die Grenzen zwischen Regierung und sowie bei Abgeordneten der SPD) Opposition hinweg einvernehmlich — an der Schwelle des neuen Jahres ist unübersichtlich. Es war Frau Kollegin Brigitte notwendig und richtig, daß die NATO ihre Bereit- Vizepräsident Hans Klein: Schulte, Sie haben das Wort. schaft bekräftigt hat, die humanitäre Hilfe für Sara- jevo und die anderen bedrohten Gebiete durchsetzen zu helfen, wenn nötig mit militärischer Gewalt. Bos- Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Herr Präsident! nien zeigt: Wir haben noch lange nicht die Stabilität Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst erreicht, die das neue Europa für seinen Aufbruch einmal bedanke ich mich ganz herzlich beim Präsi- braucht. denten, daß er die Rechte des Parlaments auch gegen- über der Regierung wahrzunehmen versucht. Manche haben erst durch Herrn Schirinowski begriffen, daß die politische Revolution in Europa (Zustimmung bei der SPD) noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Sie hatte ihren Höhepunkt im Jahre 1989, aber sie ist noch nicht Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich Sie zum Abschluß gekommen. Wenn man sie mit einem unterbrechen. Die Entscheidungen des Präsidenten Vulkanausbruch vergleicht, dann gibt es überhaupt sollen auch nicht positiv kommentiert werden. keine Frage: Die Lava ist weder erkaltet noch ist sie (Heiterkeit — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: zum Stillstand gekommen. Es gibt nicht nur radikale Dann nehmen wir den Dank zurück!) Kräfte, die die Unabhängigkeit z.B. der Ukraine in Frage stellen. Deswegen ist es wichtig, daß wir mit Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Meine lieben Kol- äußerster Sorgfalt mit dieser weiterhin schwierigen leginnen und Kollegen, viele von Ihnen haben es und noch nicht zur historischen Verfestigung schon persönlich erlebt: Mit gemischten Gefühlen ist gebrachten Sicherheitslage in Europa umgehen. man zu einem Familientreffen aufgebrochen, das m an Deutschland ist als Kernland der Europäischen eigentlich gern geschwänzt hätte. Geben Sie es zu: Union gefordert. Wir müssen die richtigen Signale Wer hat nicht Verwandte, die einem von Herzen 17434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Brigitte Schulte (Hameln) unsympathisch sind oder mit denen man gerade im Begrenzung von Rüstungsausgaben, über die Um- Streit liegt? Aber während der Familienfeier erlebt strukturierung der Streitkräfte und über die ökonomi- man dann die Faszination der Gemeinschaft und schen Fragen nachzudenken — Begegnungen, die begreift, welchen Wert eine Familie besitzen kann. niemand von uns vergißt und die ich oft mit dem Und am Ende kehrt man stolz zurück und berichtet Gefühl verlassen habe, welcher Vorzug dem größeren begeistert von dem Erlebnis. Manchem bleibt dabei Teil der Deutschen widerfahren ist, daß sie seit vielen verborgen, daß Freunde ihn im stillen beneiden, weil Jahren dem Nordatlantischen Bündnis und europäi- sie solche Familienbande nicht besitzen oder diese schen Organisationen angehören durften. zerstört sind. Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, In einer ähnlichen Situation mögen sich am Montag ist es eine Verpflichtung für uns Deutsche, auch die und Dienstag dieser Woche viele europäische Länder neuen Demokratien an die Gemeinschaft heranzu- aus dem Osten befunden haben, die über die interna- führen. Wir dürfen uns auch nicht vor der schwierigen tionalen Fernsehprogramme das Familientreffen der Frage drücken, ob die Gemeinschaft „nur" bis zur NATO-Staaten verfolgen konnten. „Warum gehören Ostgrenze Polens, der Slowakei oder Ungarns reichen wir auch 1994 noch nicht dazu?", fragen zu Recht die sollte. Polen, die Tschechen, die Moldawier oder andere. Nicht nur Besuche in Prag, Warschau und Budapest, „Sind wir euch immer noch nicht gut genug? Schämt auch das Kennenlernen von kleinen Staaten — wie ihr euch eurer armen Verwandten?" Moldawien — oder von Rumänien, der Ukraine und Zum Glück sind die NATO-Staaten in Brüssel nicht Rußland können einen davon überzeugen, daß es für der Gefahr erlegen, ihre eigene Familienidylle zu alle Nachbarn Rußlands eine Sicherheit vor den feiern und die Nachbarn zu vergessen. Im Gegenteil, Russen nur mit diesen zusammen geben kann. gerade der amerikanische Präsident versucht, mit der Einladung zur Partnerschaft für den Frieden Barrie- (Beifall bei der SPD) ren zu beseitigen und die Zweiklassengesellschaft in Alle europäischen Staaten müssen sich aktiv an einer Europa zu nivellieren. Vielleicht hat ein Vertreter der neuen Sicherheitspartnerschaft unter Einschluß Ruß- ärmeren Südstaaten der Vereinigten Staaten auch lands beteiligen. mehr Verständnis für arme Europäer als mancher Schauen wir uns die Weltkarte an: Unser Problem ist Zeitgenosse aus sehr reichen Regionen des Bündnis- nicht die Größe Europas bis zum Ural; da übertreffen ses. uns flächenmäßig Kanada und die Vereinigten Staa- Ich erkenne ebenfalls an: Auch die Bundesrepublik ten. Von der Einwohnerzahl her sind China oder und die Regierung haben sich bemüht, ihrer gewach- Indien allein weit größer als Gesamteuropa. senen Verantwortung innerhalb Europas und des Bündnisses gerecht zu werden. Unheimlich ist der Flächenkoloß und der Vielvöl- kerstaat Rußland, der vor schier unlösbaren Proble- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) men steht. Wie soll dieses Land je den Anschluß an Und, Frau Kollegin Lederer, wir sind Ihnen als Sozial- den Lebensstandard des Westens erreichen? Wie demokraten ja dankbar, daß Sie hier klargestellt werden seine Bürger je das Selbstbewußtsein eines haben, welche Differenzen es zwischen der SPD und Nordamerikaners aufbringen, der sich unabhängig der PDS in dieser Frage gibt. von Rasse und Herkunftsland seiner Familie als freies Mitglied jener „nation of nations" versteht? (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Ab und zu!) Genau dies aber muß erreicht werden. Die Bewoh- ner der Russischen Föderation müssen ein stabiles Und doch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Selbstbewußtsein aufbauen können, damit sie auf können wir Angst und Unsicherheit in Europa nur Extreme wie Wladimir Schirinowski und die Altkom- beseitigen, wenn wir ernsthaft für die politische, munisten nicht hereinfallen. wirtschaftliche und militärische Stabilität der frühe- Der Niedergang der Sowjetunion als zweiter Welt- ren COMECON - Staaten kämpfen. macht hat das Bewußtsein von mehr Russen verletzt, (Beifall bei der SPD) als wir im Westen sehen wollten. Dabei müßten Wir werden das — das ist ja heute von unserer Seite gerade wir Deutschen es doch wissen: Gerade wir mehrfach gesagt worden — in der Zukunft nicht zum haben erlebt, wie in den Zeiten wirtschaftlicher Not Nulltarif leisten können. Und es reicht auch nicht, zwischen 1929 und 1933 der Anspruch auf Macht und Herr Kollege Kinkel, Geldkredite, Warenlieferungen Größe besonders gern vernommen wurde. Wenn man und gute Ratschläge anzubieten. Viel schwieriger, als es schon nicht schafft, allgemeinen Wohlstand aufzu- wir uns das alle vorgestellt hatten, ist für diese Staaten bauen, wenn man an den eigenen Fähigkeiten im der ökonomische Wandel zu vollziehen; denn zu groß Vergleich zu anderen Völkern zweifelt, dann sollten sind die physischen und die psychischen Schäden, die einen die anderen, denen es besser geht, wenigstens der Kommunismus hinterlassen hat. fürchten. So einfach war die Ideologie von Adolf Hitler, so einfach ist die Ideologie von Wladimir Als Mitglieder der Nordatlantischen Versammlung Schirinowski. haben wir ab 1991 die Parlamentarier aller Reform- staaten aufgefordert, mit uns in den Frühjahrs- und Voller gefährlicher Komplexe stecken dieser Mann Herbsttagungen und in besonderen Seminaren über und seine Mitstreiter. Aber nicht nur sie. Weder die Schwierigkeiten des demokratischen Wandels zur Schirinowski noch den Kommunisten, weder Präsi- parlamentarischen Demokratie, über die zivile Kon- dent Jelzin — ich bin dankbar, daß Frau Wollenberger trolle des Militärs und der Rüstungsindustrie, über die das gesagt hat — noch seinem Außenminister Kosy- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17435

Brigitte Schulte (Hameln) rew darf es ungestraft erlaubt sein, diese hegemonia- Es wird aufschlußreich sein, wie klar sie ihre Ver- len, ja teilweise imperialistischen Töne von sich zu teidigungsplanung und ihre Ausgabenpolitik offenle- geben. gen. Ich will hier auch einmal erwähnen, daß wenige nationale Parlamente in den Reformstaaten bis heute (Zuruf von der F.D.P.: Na, na, na!) das Recht haben, eine unabhängige Kontrolle über — Dann hören Sie sich einmal an, was Jelzin und auch das Militär und die Verteidigungsausgaben vorzu- sein Außenminister von sich gegeben haben. nehmen, wie es im amerikanischen oder im deutschen Parlament üblich ist. Die NATO-Staaten können nicht darüber hinweg- Es wird auch aufschlußreich sein, wie stark sich das in Estland oder Lett- sehen, wenn russisches Militär russische Militär an gemeinsamen Übungen, an Aus- land, in Transnistrien, Georgien, Aserbaidschan oder bildungsgängen und an Planungen beteiligen will. Kasachstan zugunsten russischer Minderheiten un- Noch erleben wir, daß persönliche Kontakte zwischen korrekt handelt. Die NATO-Staaten können auch hohen Offizieren der NATO und Rußlands nicht eben nicht darüber hinwegsehen, daß sich im nördlichen gefördert werden. Teil Ostpreußens viel zu viele Soldaten mit schwerem Gerät konzentrieren. Ich hätte sehr gewünscht, daß Die Bundesrepublik hat über viele Jahre ein vor- sowohl der Außenminister wie auch der Verteidi- bildliches Ausbildungssystem für Berufs- und Zeitsol- gungsminister dies wenigstens erwähnt hätten. daten geschaffen. Mit der Konzeption Staatsbürger in Uniform haben wir Militärgeschichte geschrieben. Ich habe großes Verständnis für die Sorgen der Mit der Verkleinerung der Bundeswehr werden, Herr Polen oder der Balten angesichts einer solchen Trup- Außenminister und Herr Verteidigungsminister, Aus- penkonzentration in ihrer Nachbarschaft. bildungskapazitäten frei, die wir jungen osteuropäi- Wo kommen wir eigentlich hin — auch darüber schen Soldaten großzügig anbieten könnten. Warum heute kein Wort —, wenn nach der Verhaftung von sollten sie nicht bei entsprechenden Sprachkenntnis- zwei hohen russischen Offizieren in Lettland das sen unsere Offiziersschulen, die beiden Bundeswehr- russische Verteidigungsministerium sofort seine Sol- universitäten oder die technischen Schulen in größe- daten in Alarmbereitschaft versetzt, statt den Vorfall rer Zahl besuchen? Warum sollten qualifizierte deut- mit der lettischen Regierung in Ruhe zu klären? sche Soldaten nicht zusammen mit Kameraden aus dem Westen in östlichen Ländern einen Teil ihrer Das Verhalten der 14. Russischen Armee in Trans- Ausbildung als angehende Offiziere erhalten? nistrien ist, Herr Kollege Schäfer, uns beiden seit dem Wenn dann die einzelnen Staaten noch ihre eigenen Sommer bekannt. Wir müssen von Boris Jelzin endlich Verbindungsbüros in den NATO-Hauptquartieren erwarten, daß er diese Verbände zurückzieht und daß einrichten würden, könnte das Konzept Partnerschaft er vor allen Dingen den General Lobow ablöst. Aber er für den Frieden schnell mit Leben erfüllt werden. Erste hat nicht die Kraft dazu; auch das müssen wir bitte Aufgaben auf dem Gebiet der Friedenswahrung, im sehen. Such- und Rettungsdienst und bei humanitären Ope- Andererseits kann der Westen nicht wegschauen, rationen könnten schon bald von Staaten aus ver- wenn die neuen unabhängigen Staaten russische schiedenen Teilen Europas gemeinsam gelöst wer- Minderheiten ihrerseits durch den abrupten Wechsel den. des Alphabets und der Amtssprache schikanieren. Doch, Herr Kinkel und auch Herr Rühe, ich wundere Das kann nicht in Frage kommen. Er kann auch nicht mich, daß Sie auch heute wieder die Verfassungsän- tolerieren, daß in anderen Reformstaaten religiösen derung anfordern müssen. und ethnischen Minderheiten die vollen Rechte vor- (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Es ist enthalten werden. Das gilt auch für Staaten, die wir leider so, daß man das so oft sagen muß!) eigentlich sehr schnell aufnehmen wollten. Vielleicht ist Ihnen entgangen, daß der amerikanische In den letzten Jahren waren wir einem ständigen Präsident am 11. Januar sehr deutlich gesagt hat, er Wechselbad von Euphorie und Ernüchterung ausge- bekomme immer mehr Zweifel über militärische Ein- setzt, was die Folgen des friedlichen Zusammen- sätze, um Konflikte zu lösen. bruchs der kommunistischen Vorherrschaft in Osteu- ropa betrifft. Die Hoffnung auf eine friedliche Welt (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sie mit weniger Waffen und Soldaten wurde im bluti- lenken von Ihrer eigenen Unfähigkeit ab, ein gen Bürgerkrieg Jugoslawiens, Georgiens, Aserbai- Problem sachgerecht anzugehen!) dschans und Armeniens schnell erstickt. Es sei die Frage, ob irgendeine Macht in der Lage sei, das Morden in Bosnien zu stoppen. Zugleich äußerte Auch aus dieser Erfahrung heraus müssen wir auf er Zweifel am Sinn ausländischer Militäreinsätze auch neue Krisen und Konflikte gefaßt sein und das gesamt- in anderen Krisengebieten der Welt. europäische Krisenmanagement verbessern. Das Konzept Partnerschaft für den Frieden könnte dabei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hilfreich sein. Ich teile deshalb nicht die Kritik jener, Denken wir nur an Somalia oder an das frühere die es als zu vorsichtig und daher als riskant bezeich- Jugoslawien. Hier haben wir gemeinsam wohl einiges nen. nachzuarbeiten. Es wird sehr aufschlußreich sein, welche Staaten die Doch vergessen wir über den militärischen Fragen Einladung der NATO schnell annehmen und sich um nicht, daß der politischen und wirtschaftlichen aktive Mitarbeit in politischen und militärischen Gre- Zusammenarbeit eine ebenso große Bedeutung mien bemühen. zukommt. Auch hier handelte der amerikanische 17436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Brigitte Schulte (Hameln) Präsident der Situation angemessen, wenn er den Gipfeltreffen in Erinnerung rufen. Das Treffen vom wirtschaftlichen Erfolg als besten Gar anten stabiler Januar 1994 in Brüssel wäre ohne den 16. Juli 1990 im politischer Verhältnisse und als Fundament der Kaukasus nicht denkbar. Demokratie bezeichnet. Wir unterstützen ihn darin. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Erfolgsbilanz der Europäischen Gemeinschaft wäre nie so groß gewesen, wenn nicht alle Mitglied- Das war damals keine flüchtige Episode der deut- staaten und Bürger davon profitiert hätten. schen Politik. Es war ein richtungweisender Meilen- Kehren wir zum Bild der Familie zurück. Am Jah- stein auf dem Weg in die Sicherheit Europas. Auch reswechsel trat für 372 Millionen Menschen der Euro- nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist nämlich päische Wirtschaftsraum in Kraft. Laut Statistik lag Frieden in Freiheit keine Selbstverständlichkeit. Auch das Pro-Kopf-Jahreseinkommen bei mehr als 20 000 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs müssen wir für Dollar — unvorstellbar für unsere arme osteuropäi- unsere Sicherheit und Landesverteidigung Sorge tra- sche Verwandtschaft. Wir müssen deshalb möglichst gen. schnell unsere Märkte gegenüber den Osteuropäern Um so wichtiger ist es, daß die NATO als Bündnis öffnen, was uns alle vor neue Herausforderungen nicht zerstört wurde. Es ist ja schon fast wieder stellen wird, da traditionelle Wirtschaftszweige im vergessen, daß Oskar Lafontaine den NATO-Austritt Westen noch stärkere Konkurrenz erhalten und der der Bundesrepublik Deutschland (West) be treiben Osten einen viel stärkeren Modernisierungsschub wollte. erleben wird. In jedem Fall werden in traditionellen (Unruhe bei der SPD) Bereichen Arbeitsplätze verlorengehen. Es sagt sich leichter, als es dann in der Realität ist, daß der Wandel Der Schritt wäre damals so verhängnisvoll gewesen — sprich: Arbeitslosigkeit — sozial abgestützt werden wie heute. muß. Am 16. Juli 1990, als Helmut Kohl, und Am erfreulichsten sind schon heute die politischen Hans-Dietrich Genscher bei Gorbatschow und Sche- Bindungen. wardnadse die volle NATO-Mitgliedschaft des gesamten wiedervereinigten Deutschlands erreicht Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, bitte nur hatten, wurde in Wahrheit auch der Weg für ein noch ein Schlußsatz. Sie sind schon über Ihre Redezeit sicheres Gesamteuropa geöffnet. Insofern hat dieses hinaus. Datum den Reformstaaten des ehemaligen War- schauer Pakts erst die Perspektive gegeben. Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Wenn auch in den Nicht diejenigen, die heute ihre zweifelnde oder Reformstaaten die Parteienstruktur noch nicht abge- zweifelhafte Rolle während der Wiedervereinigung schlossen ist — in internationalen Gremien, wie der beschönigen und schönschreiben, haben die Grund- KSZE, dem Europarat oder der Nordatlantischen Ver- lagen für eine friedliche und freiheitliche Entwicklung sammlung, begegnen sich Parlamentarier aus allen gelegt, sondern diese Bundesregierung, die mit die- Staaten Europas offen und lernen voneinander. Hier sem Schritt eine tragfähige Existenzgrundlage ge- ist das Prinzip Partnerschaft für den Frieden am schaffen hat, die offensichtlich nur deswegen nicht in weitesten entwickelt. der Öffentlichkeit mehr geschätzt und berechnet wird, Ich danke Ihnen. weil wir uns angewöhnt haben, Vor- und Nachteile in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mark und Pfennig zu berechnen. DIE GRÜNEN) Aber auch jenseits von Mark und Pfennig gibt es wichtige Punkte, und dazu gehört die Entschlossen- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem heit, das schnelle Zugreifen bei sich bietender histo- Kollegen Christian Schmidt. rischer Gelegenheit. Das war richtig. Jeder möge sich das Bild selbst ausmalen, was heute wäre, wenn wir Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- nicht 1990, sondern im Jahre 1994 mit der Sowjet- dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dem union oder nun mit Rußland über die deutsche Einheit Kollegen Irmer widerspreche ich ungern; ich muß es reden müßten. heute tun. Lennart Meri hat auch sehr positive und So sind die Perspektiven von 1990 jetzt in Brüssel zitierfähige Sätze zum NATO-Gipfel gesagt. Er hat mit einem ersten Abschlag eingelöst worden. Wir gesagt, das Konzept Partnerschaft für den Frieden wissen, daß die Gefahren, die uns Deutschen und uns verhielte sich zur Vollmitgliedschaft in der NATO wie Europäern drohen, nicht mehr dieselben wie vor fünf Margarine zu Butter. In schlechten Zeiten müsse man Jahren sind. Dennoch gibt es aber auch heute noch eben mit einem Ersatzbrotaufstrich vorlieb nehmen, Gefahren, möglicherweise solche, die wir sogar unter- aber — füge ich hinzu — der würde ja wohl auch schätzen. Dabei denke ich nicht in erster Linie an die nähren. marktschreierischen und wirren Äußerungen des Man kann es auch anders formulieren: Ist das Glas Herrn Schirinowski, der Deutschland mit dem Atom- halb voll, oder ist es halb leer? Ich glaube, das Glas ist krieg droht und dafür von dem rechtsextremen Gift- in Brüssel halb gefüllt worden, und die Bereitschaft spritzer Frey als sein Freund bezeichnet wird. Ich der NATO, sich den veränderten Aufgaben zu stellen, denke dabei auch an die Gefahren, die durch die geht aus diesem Gipfel deutlich hervor. unkontrollierte Verbreitung von Nuklearwaffen ent- (Beifall bei der CDU/CSU) stehen können. Lassen Sie mich aber, bevor ich vom Brüsseler Es ist deswegen ein ganz wichtiger Erfolg — der Gipfel von Anfang dieser Woche rede, ein anderes leider etwas im Schatten der Berichterstattung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17437

Christian Schmidt (Fürth) steht —, daß die unveränderte Fortgeltung des Nicht- — Ja, das bildet sehr und verschafft einen Eindruck. verbreitungsvertrages über das Jahr 1995 hinaus Dort steht nämlich, die SPD sehe nicht, daß der NATO angestrebt wird. Zudem ist, sozusagen am Rande des eine langfristige Rolle zufällt, sondern schreibe ihr Gipfels, der Ansatz für die Einigung zwischen Ruß- eine stabilisierende sicherheitspolitische Rolle nur in land und der Ukraine über den Verbleib der Atom- einem Prozeß des Übergangs zu. So steht es jedenfalls waffen erfolgt. Der Besuch von Präsident Clinton und in ihren Parteitagsbeschlüssen, Abteilung A 1, das Gespräch in Moskau lassen für die bisher Seite 12, zu lesen. Sollte es also doch stimmen, daß in gespannten Beziehungen dieser beiden Länder hof- dieser großen Oppositionspartei sicherheitspolitische f en. Traumtänzerei statt vernünftiger Realismus in der Vorhand ist? Ein ganz wichtiger Beitrag und ein ganz wichtiger Erfolg des Brüsseler Gipfels ist aber auch die Tatsa- (Lachen der Abg. Brigitte Schulte [Hameln] che, daß Clinton ein klares Bekenntnis der USA zur [SPD]) nordatlantischen Partnerschaft abgegeben hat, das wir in der Vergangenheit ab und zu gerne etwas Den GRÜNEN, in dieser Frage offensichtlich See- deutlicher gehört hätten. Für uns ist das von entschei- lenverwandte der SPD, ist die NATO im Entwurf ihres dender Bedeutung. Die Ansätze zu einer gemeinsa- Bundestagswahlprogramms überhaupt keine Erwäh- men Außen- und Sicherheitspolitik stecken noch viel nung mehr wert. zu sehr in den europäischen Kinderschuhen, als daß (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) sie ein Verteidigungsbündnis mit den USA entbehr- lich machen. Wir brauchen die Amerikaner in Europa, Die Bundeswehr soll nach Meinung der GRÜNEN auch mit einer nicht nur symbolischen Militärpräsenz. abgeschafft werden. Bestenfalls schwebt Joschka Um so erfreulicher ist es, daß Präsident Clinton bestä- Fischer in seinen Träumen vielleicht vor, wenn er tigt hat, daß er an einer Truppenstärke von ca. 100 000 einmal Verteidigungsminister wäre, zur Erheiterung Soldaten der US-Armee in Europa denkt, und damit alternativer Sommerfeste ein Heeresmusikkorps zu mit unseren Vorstellungen im Einklang steht. Die CSU erhalten. All das ist jedenfalls nicht das Holz, aus dem hat das immer gefordert und unterstützt, im Gegen- verläßliche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik satz zu manchen „Ami, go home"-Strategen, die die gemacht wird. wirkliche Bedrohungslage nie zur Kenntnis nehmen Richtig ist, daß Bill Clinton nach Prag gekommen ist wollten. und mit den Visegrad-Staaten gesprochen hat. Es darf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nicht der Eindruck entstehen, mit der Partnerschaft für ordneten der F.D.P.) den Frieden hätten die NATO-Staaten einer lästigen Pflicht genügt. Es muß klar sein, daß wir dieses heute Das heißt im Gegenzug natürlich für uns, daß wir eine schon mehrfach dokumentierte Interesse an der Aus- in Umfang, Ausstattung und Struktur einsatzfähige dehnung der NATO haben und daß sich dieses und verteidigungsbereite Wehrpflichtarmee bereit- Interesse — Volker Rühe hat das sehr deutlich stellen müssen. Die Bundeswehr ist und bleibt unver- gemacht — aus unserem eigenen Sicherheitsbedürf- zichtbar. nis und Sicherheitsinteresse ergibt, Vorhin war der Versuch herauszuhören, zwischen (Beifall bei der CDU/CSU) dem Finanzminister und dem Verteidigungsminister in bezug auf die Zukunft der Bundeswehr Uneinigkeit aus dem Sicherheitsbedürfnis des Bündnisses und aus entzünden zu wollen. Das Korsett für die Möglichkei- unserem deutschen insbesondere. So unverrückbar ten, die wir haben, knüpfen wir im Bundestag und im und unveränderbar sind die heutigen Verhältnisse in Bundesrat. Wer bei der Frage des notwendigen, nicht Mittel- und Osteuropa nicht, als daß wir als westlicher sehr erfreulichen, aber unvermeidbaren Eingriffes in Nachbar Polens und der Tschechischen Republik Leistungsgesetze den Weg in den Populismus geht, ruhig schlafen könnten, wenn diese Länder nicht der darf sich nicht wundern, daß dieses Korsett in den ebenfalls in eine Zone stabiler Sicherheit einbezogen Bereichen zwickt, wo wir es mindestens genauso sind. dringend, wenn nicht noch dringender notwendig hätten. Das gilt besonders für die Bundeswehr. Natür- Es liegt jetzt an den mittel- und osteuropäischen lich muß sie mit den Mitteln ausgestattet werden, die Staaten, durch eine stabile und kontinuierliche notwendig sind, damit wir in der nordatlantischen demokratische Entwicklung und eine Strukturierung Wertegemeinschaft und Verteidigungsgemeinschaft ihrer Streitkräfte zu Bündnisarmeen hin den Weg in glaubwürdig bleiben. die NATO weiterzugehen. Es liegt aber auch an uns, an den westeuropäischen Staaten, durch eine stufen- Ich wüßte auch nicht, was an die Stelle der NATO weise Öffnung ihren Teil, d. h. unseren Teil zur gesetzt werden sollte. Bill Clinton hat von der „Werte- Festigung und zur Zusammenarbeit zu leisten. gemeinschaft" gesprochen. Das ist wichtig. Wunsch- träume von einem durch die KSZE gesicherten Europa Dazu gehören: die Assoziierung zur WEU zu disku- sollten ad acta gelegt werden. tieren, Einbeziehung in die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union womög- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Was wollen lich, Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene, gemein- Sie damit sagen?) same Übungen, enge Konsultationen bis hin zum — Ich will damit sagen, daß ich die Parteitagsbe- NATO-Eingangsportal in die Vollmitgliedschaft, das schlüsse der SPD gelesen habe. diesen Ländern nach diesen Stufen — nicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag — eröffnet werden darf. Ich (Zuruf von der SPD: Das ist lobenswert!) halte die Festlegung und die Zahlen, die genannt 17438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Christian Schmidt (mirth) worden sind, das Jahr 2000, für einen guten Richt- Das haben nicht nur Volker Rühe und auch Manfred wert. Wörner sinngemäß formuliert, sondern erfreulicher- Es bleibt dabei der Faktor Rußland. Die russischen weise viele unserer Partner in den anderen NATO- Staaten zwischenzeitlich mit aufgenommen, denen Interessen, insbesondere die Sicherheitslage Ruß- möglicherweise das Empfinden für die Sorgen der lands, müssen im Europäischen Haus natürlich Berücksichtigung finden. Im Gegenteil, Rußland muß Menschen, die früher im Ostblock leben mußten, nicht unter Beachtung seiner besonderen Rolle durch seine so täglich und greifbar nahe sind wie uns Deutschen, Größe und seinen Charakter als Nuklearmacht über die wir ja mit einem Teil unseres Landes selbst aus eine vielfältige Palette der Kooperation eine Verknüp- dem Ostblock heraus entstanden sind. fung im europäischen Sicherheitsnetz gegeben wer- Dem NATO-Generalsekretär Manfred Wörner den. Hierzu gehört aber nicht eine Mitgliedschaft der möchte ich im Namen von Ihnen allen an dieser Stelle Russen in der NATO. ausdrücklich dafür danken, daß er in dieser Zeit des Umbruchs und unter schwierigen, auch persönlichen Rußland kann aber auch nicht daran interessiert sein, alte Strukturen wie den Warschauer Pakt wie- Umständen die NATO nicht nur verwaltet hat, son- deraufleben zu lassen. In einem freien Kontinent freier dern neue und wichtige Anstöße gegeben hat. Völker muß jedes Land, sofern es sich nicht gegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bestand, Frieden und Freiheit eines anderen richtet, Wer sich diesen neuen Aufgaben verschließt — sie selbst entscheiden können, welchen internationalen sind mehrfach genannt worden —, hat die Bedeutung Organisationen es sich anschließen will. Dies gilt auch des Wandels in der Welt seit 1989 noch immer nicht für den Beitritt zur NATO der Staaten, die bisher einen begriffen. Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Die SPD solchen Antrag gestellt haben. muß und soll doch endlich aufhören, die Bundeswehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und ihre Soldaten als Interventionsarmee zu diffamie- der SPD) ren. Die Bundeswehr soll und muß zukünftig bei Die russische Führung soll aber auch wissen, daß internationalen Einsätzen zur Friedenssicherung und seitens der NATO oder einzelner Mitgliedstaaten kein Friedensschaffung ihren Beitrag leisten. Interesse daran besteht, zwischen Rußland einerseits Da hilft auch nicht die Flucht zu Bill Clinton, und Westeuropa andererseits ein Zwischeneuropa verehrte Kollegin Schulte. Sie können Bill Clinton entstehen zu lassen, für das die Einflußsphären oder vieles unterstellen; aber wenn die Position der SPD Sicherheitszonen etwa nach einem neuen Prinzip von hinsichtlich der Frage der Beteiligung der Bundes- Jalta geregelt werden. Jedes Land hat das Recht auf wehr an internationalen Einsätzen stützen würde, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Dies gilt aus- käme das — der Vergleich ist zugegebenermaßen nahmslos für alle Länder, auch für die Staaten, die aus unangemessen — fast einer politischen Vergewalti- der Erbmasse der früheren Sowjetunion neben Ruß- gung gleich. land hervorgegangen sind und die wir so beiläufig als (Zuruf von der SPD: Lesen Sie es doch GUS-Staaten bezeichnen. nach!) Natürlich wird eine Ausdehnung der NATO- — Nein, Sie müssen das natürlich im Zusammenhang Sicherheitszone nach Osten nicht nur am dringenden lesen. Es ist ein ganz anderer Punkt, daß solche Wunsch der Reformstaaten gemessen. Auch politische internationalen Friedensaktionen natürlich sorgfältig Verläßlichkeit, ein hohes Maß an Stabilität und Bere- vorbereitet und geplant werden müssen. Wir haben an chenbarkeit der Politik sind Kriterien für zukünftige die internationalen Organisationen auch auf Grund Partnerstaaten in der NATO. Aus diesem Grunde sind der Erfahrungen von Somalia und Jugoslawien — da manche Staaten bereits heute auf dem Weg weiter, stimme ich Ihnen zu — Fragen über die zukünftige und für manche ist der Weg noch lange und das Planung, die wir innerhalb der Thematik erörtern Erreichen des Ziels nicht absehbar. Die Ukraine, müssen. Kasachstan, Armenien, Aserbaidschan und andere Staaten werden sich über das Ziel einer engen Anbin- Wir müssen zusätzlich natürlich auch prüfen, ob dung an die NATO mit weiten Wegen wohl abfinden eine solche Beteiligung im Einzelfall im nationalen müssen. Trotzdem werden wir uns ernsthaft bemü- Interesse oder im Bündnisinteresse liegt. hen, die diesen Staaten und ihren Bedürfnissen ange- Wir stoßen sehr schnell auf eine Schwachstelle, messene Form der Verknüpfung zu finden. wenn wir dieses Thema diskutieren, die auch dieser Doch wenden wir uns nun den neuen Aufgaben der Gipfel nicht auszumerzen imstande gewesen ist. Die NATO zu. Es wurde vorhin betont, daß wir die alte NATO läuft Gefahr, von ihrer Autorität und sicher- Aufgabe der Landesverteidigung natürlich nach wie heitspolitischen Substanz Stück für Stück abzugeben, vor haben, gerade in so einer Zeit, in der wir hören, wenn sie Erwartungen weckt, die sie nicht realisieren daß die russische Armee nicht in dem Umfang abrü- kann. stet, wie es ursprünglich vorgesehen war. Es ist gut und begrüßenswert, wenn die NATO den Aber es gibt auch neue Aufgaben. Ron Asmus Versuch unternimmt, dem leidvollen Schauspiel auf schrieb vor kurzem in „Foreign Affairs" : „NATO will dem Balkan, das Tausende von Menschen bereits das go out of area or go out of business." Wenn das Leben gekostet hat, entgegenzutreten. Sofern die Unternehmen NATO im Geschäft bleiben und seinen NATO solche Schritte aber nur ankündigt und nie Stabilitätsauftrag erfüllen will, muß es neu durchkal- durchzuführen bereit oder imstande ist, läuft sie kulieren. Die Architektur ist in manchen Teilen zu Gefahr, daß die Erklärungen und Beschlüsse von ändern, die Statik muß neue Stützen erfahren. Konferenzen und Gipfeltreffen das ähnliche Schicksal Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17439

Christian Schmidt (Fürth) erleiden wie die vielen Resolutionen des Sicherheits- lung kooperativer militärischer Beziehungen mit rats — dem Ziel gemeinsamer Planung, Ausbildung und Übungen. Friedensbewahrung, Such- und Rettungs- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schmidt, dienst, humanitäre Operationen und andere Aufga- bitte einen letzten Satz. ben werden wirklich. Solche gemeinsamen Aktivitä- ten bieten einen tiefgehenden, vertrauensvollen Ein- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): —, die vom blick in die jeweiligen Möglichkeiten des Partners. Oberbefehlshaber der UN-Truppen in Bosnien nicht Meine Damen und Herren, ich denke, dies ist ein einmal mehr gelesen werden. Dieser Schaden wäre weiterer Fortschritt bei der Überwindung von nicht nur ein Flurschaden für Bosnien, sondern auch Geheimnistuerei und Abschottung. Ich denke, auch ein Strukturschaden für die NATO. Wir müssen des- dies muß positiv gesehen werden. wegen von den Brüsseler Erkenntnissen für andere- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Bereiche der NATO-Politik ausgehen, eine — — Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]) Vizepräsident Hans Klein: Bitte hängen Sie keine Drittens. Auch eigene Verbindungsbüros, die von Kette von Relativsätzen dran. den interessierten Staaten beim NATO-Hauptquartier in Brüssel eingerichtet werden können, sind aus Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Der Präsi- unserer Sicht von Bedeutung, denn wir wissen alle, dent hat mich erkannt. — Der Wunsch, der uns alle Kontakte schaffen Sympathien und schaffen auch eint, ist der, daß die NATO auch in Zukunft ein Vertrauen. Bündnis bleiben wird, das dem Frieden in der Welt (Beifall bei der F.D.P.) und nichts anderem dient. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir hoffen, daß Soldaten und Diplomaten aus Osteu- ropa in naher Zukunft zum Stadtbild Brüssels gehören Vizepräsident Hans Klein: Es tut mir leid, daß ich werden. immer diese Mahnerrolle spielen muß. Dieses Viertens. Der angebotene Zugang zu technischen Anhängsel von apotheotischen Sätzen kostet den NATO - Daten sollte ebenso nicht geringgeschätzt nächsten Redner der eigenen Fraktion eine Minute. werden. Dahinter verbergen sich weitere vielfältige Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting das Chancen der Absprache und der Planung, auch im Wort. Bereich der Zusammenarbeit und der Kooperation. Fünftens. Das vor allem Sicherheit bietende Ele- Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die NATO ist zweifellos ment des Rahmendokuments ist aus meiner Sicht in das erfolgreichste Bündnis aller Zeiten, und dies in Ziffer 8 enthalten, in der die NATO zusagt — ich militärischer, aber auch politischer Hinsicht. zitiere —, (Beifall bei der F.D.P.) mit jedem aktiven Teilnehmer an der Partner- Sie behält ihre Funktion als Schutzgemeinschaft ohne schaft in Konsultationen einzutreten, wenn dieser Einschränkungen. Auch in Zukunft wird sie als Klam- Partner eine direkte Bedrohung seiner territoria- mer zu unseren Freunden in den USA und in Kanada len Integrität, politischen Unabhängigkeit oder für uns Europäer unverzichtbar sein. Sicherheit sieht. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion sieht in ten der CDU/CSU) diesem Punkt eine bis an die Grenzen von vertragli- Die aktuelle Entscheidung der NATO-Regierungs- cher Bindung herangehende beiderseitige Konsulta- chefs für das Modell der Partnerschaft für den Frieden tionsmöglichkeit, durch die Mißverständnisse und im setzt neben dem NATO-Kooperationsrat neue Ak- Ansatz spürbare aggressive Elemente bereinigt wer- zente für die politische und militärische Zusammenar- den können. beit unter den Staaten Europas. Ich will einige wenige (Beifall bei der F.D.P.) unter sicherheitspolitischen Aspekten näher beleuch- ten: Diese wenigen Punkte des Dialogs und der Koope- Erstens. Es wird möglich, an Einsätzen unter der ration sind entscheidende weitere vertrauensbildende Autorität der UN oder unter Verantwortung der KSZE Maßnahmen. teilzunehmen. Hier wird eine Vielzahl von gemeinsa- Abschließend weise ich für die F.D.P.-Fraktion auf men militärischen Aktivitäten in Aussicht gestellt, die die Tatsache hin, daß erhöhte Sicherheit in Europa am weit über das, was im Rahmen des Wiener Dokuments besten durch einen behutsamen, aber konsequenten 1992 über die vertrauens- und sicherheitsbildenden Entwicklungsprozeß gefördert werden kann. Der Kol- Maßnahmen der KSZE vereinbart wurde, hinausge- lege Irmer hat für uns schon darauf hingewiesen. Die hen. Gemeinsame Einsätze unter der Hoheit von F.D.P. stellt mit Befriedigung fest, daß die Tür zur KSZE oder UN erfordern eine Vielzahl von Planun- NATO-Mitgliedschaft weiter geöffnet wurde. Die gen, Absprachen und Übungen, nicht zuletzt auch die F.D.P.-Fraktion begrüßt die getroffenen Vereinbarun- Entwicklung eines gemeinsamen Korpsgeistes der gen des NATO-Gipfels in Brüssel und fordert unsere betroffenen Truppenteile. Nachbarn und Partner in Ost und West auf, die schon Zweitens. Mit der Fähigkeit zu Einsätzen unter der bestehende vertrauensvolle Zusammenarbeit weiter Autorität der UN oder der KSZE ergibt sich konse- zu intensivieren und zu engerer Kooperation zu füh- quenterweise die im Dokument formulierte Entwick ren, zum Nutzen aller Völker in Europa. 17440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Günther Friedrich Nolting Meine Damen und Herren, ich denke, diese Zusam- Wenn hier noch einmal betont worden ist, die KSZE menarbeit, diese Kooperation ist von uns allen sei besonders auf Grund der Kultur des Gewaltver- gewünscht, auch — wir haben es heute gehört — von zichts so erfolgreich gewesen, dann frage ich mich der SPD. Es war richtig, daß der Außenminister die einfach: Warum macht man nicht diese Kultur zum SPD-Fraktion hier noch einmal aufgefordert hat, ihre zentralen Ausgangspunkt für sicherheits- und frie- Blockadepolitik aufzugeben. Wir müssen auch in denspolitische Überlegungen und ein solches Gre- diesen Fragen, wenn wir diese Zusammenarbeit, mium, was offensichtlich mit dieser Kultur erfolgreich diese Kooperation mit den Staaten in Osteuropa gewesen ist, nicht auch zu der zentralen Institution? haben wollen, handlungsfähig sein. Wenn Sie Ihre Der Traum davon, Frau Kollegin Wollenberger, die Blockadepolitik nicht aufgeben, werden wir in diesen NATO in ein solches kollektives Sicherheitssystem Fragen nicht handlungsfähig sein. - umzuwandeln, ist, glaube ich, eben nur ein schöner (Beifall bei der F.D.P sowie des Abg. Dr. Traum, denn es ist ein Militärbündnis, was sich im Walter Franz Altherr [CDU/CSU]) Grunde nicht geändert hat. Ich denke, zu dieser Handlungsfähigkeit gehört (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Es ist auch eine Sicherheitsanalyse, wie sie hier gefordert auch ein politisches Bündnis!) wurde. Hierzu gehört auch ein eindeutiger Auftrag für — Ein politisches Bündnis, das betonen Sie immer die Bundeswehr, der sich aus dieser Sicherheitsana- wieder, und Sie sprechen dann von den vielfältigen lyse ergibt. Dazu gehört auch eine finanziell vernünf- militärischen Aktivitäten, die sich daraus ergeben. tige Ausstattung für diese Bundeswehr. Wenn wir dieses erreichen — und wir müssen dies tun —, dann (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie müs haben wir auch Planungssicherheit für die Zukunft für sen mal den Harmel-Bericht von 1967 die Bundeswehr. Ich denke, die Soldaten unserer lesen!) Bundeswehr haben hierauf auch einen Anspruch. Es ist eine reine Floskel, hier von einem politischen Vielen Dank. Bündnis zu reden, wenn es dann militärisch han- delt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Wenn man ein kollektives Sicherheitssystem will, warum nimmt man denn dann nicht die erfolgreiche KSZE mit der Kultur des Gewaltverzichts? Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin (Zuruf von der CDU/CSU: Äußerst erfolg Andrea Lederer. reich!) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Die war doch Der Kollege Rühe hat ja hier seinen Satz aufgeklärt, schon einmal! Habt ihr nur noch eine?) den man wohl jetzt so verstehen darf, daß europäisch ist, wer lateinisch spricht. Ich finde, es macht diesen Ausspruch nicht wesentlich besser. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kittelmann, leider Bedenklich stimmt mich allerdings noch etwas ganz war es mir nicht möglich, die 15 Minuten am Stück zu anderes in seiner Rede, und zwar die Aussage, die reden. Das hätte ich gerne gemacht, aber auf Grund Geldströme dürften jetzt nicht mehr von Nord nach der Vereinbarung war das nicht drin. Deswegen habe Süd fließen, sondern sie müßten von West nach Ost ich jetzt die Möglichkeit, hier noch einmal auf ein paar fließen, wobei mit Süd wohl eben nicht nur die Beiträge einzugehen, was ich gar nicht so schlecht südeuropäischen Staaten gemeint sind, sondern der finde. Süden generell. Das, finde ich, macht die Begrenztheit der Politik der Bundesregierung, der Politik, die sie in Herr Außenminister Kinkel, wenn Sie sagen, die den internationalen Beziehungen pflegt, abermals NATO sei nun geprägt davon, daß statt Konfliktsze- deutlich, weil es dann offenkundig verstärkt auch um narien Kooperation auf der Tagesordnung steht — er eine Konfrontation zwischen Nord und Süd gehen ist nicht mehr da —, dann muß ich sagen, daß das wieder genau eine der Beschönigungen ist, die hier wird. die ganzen Debatten immer wieder prägen, die aber Wenn hier auch mehrmals betont worden ist, leider mit der Realität nichts zu tun haben, denn Deutschland dürfe sich nicht isolieren oder in nationa- NATO-Truppen üben nun einmal nicht am Verhand- listische Töne verfallen und eigene Wege gehen, so lungstisch, sondern sie üben auf Grundlage von Sze- wird auf der anderen Seite in vielen Reden doch narien, die dann auch gelegentlich bekanntwerden deutlich, daß Deutschland im Rahmen dieser Bünd- und deutlich machen, wohin die Reise gehen soll, nisse immer wieder eine hervorstechende Rolle spie- insbesondere was Krisenreaktionskräfte anbelangt. len soll. Wenn sich Deutschland nicht voll beteiligt an Der Außenminister hat ungefähr drei Sätze auf die der WEU und den Einsätzen, dann wird Europa nicht handlungsfähig sein, heißt es; Deutschland, das Kern- KSZE verwendet, die angeblich in diesem Geflecht von Institutionen eine ganz entscheidende Rolle ein- land der WEU, Deutschland, das Kernland der NATO, nehmen soll. Mir kam es eigentlich so vor, als würde künftig wohl auch des UNO-Sicherheitsrates. Ich ein Beamter in den Ruhestand geschickt: Er hat glaube, man muß einmal genauer analysieren, inwie- gesagt, die KSZE sei verdienstvoll und erfolgreich. weit sich hier nicht ganz bestimmte Sonderinteressen Aber mehr als ein paar Floskeln waren dann eben im Rahmen solcher Bündnisse durchsetzen sollen. nicht übrig. Ich finde, genau das macht eben auch Der Vergleich mit der Feuerversicherung, Herr deutlich, welches Gewicht die Bundesregierung die- Verteidigungsminister Rühe, hinkt; er ist ein schlech- ser Institution beimißt. tes Bild und gleichzeitig bezeichnend, denn wir wis- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17441

Andrea Lederer sen, daß Versicherungen und ihre Vertreter ein Inter- Das wäre auch im Interesse des Westens; denn das esse an der Verunsicherung der Versicherten und vor von unseren östlichen Nachbarn befürchtete Sicher- allem an ihren Beiträgen haben. Feuerversicherungen heitsvakuum würde nicht nur Osteuropa, sondern verhindern weder den Ausbruch eines Feuers noch ganz Europa gefährden. tragen sie zu Löscharbeiten bei. — Das vielleicht auch Natürlich sind die Voraussetzungen nicht in allen noch zu diesem wie ich finde mehrfach fehlerhaft Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes diesel- gebrauchten Bild. ben. Aber es gibt vergleichbar entwickelte Länder, Es ist einfach kaum erträglich, wie hier immer wie z.B. die Visegrad-Staaten, und für diese sollten wieder versucht wird, glaubhaft zu machen, die deshalb auch gleiche Bedingungen gelten. NATO sei das zentrale Verdauungsorgan für alle In vielen Staaten östlich der Europäischen Union Krisen dieser Welt. Seit drei Jahren sucht dieses müssen sich die demokratischen Kräfte gegen einen Bündnis nach neuen Aufgaben, Strategien, Struktu-- wiedererstarkenden Nationalismus behaupten. Zu ren und vor allem auch nach neuen Feindbildern. An dessen Entstehen tragen Unsicherheit und das Gefühl, allen Ecken und Enden werden potentielle Krisen- allein gelassen zu werden, bei. Adam Michnik hat das herde, Krisenbögen, Risikoszenarien ausgemacht, die Phänomen zutreffend beschrieben: „Die Freiheit ver- alle mit Hilfe der NATO-Truppen und ihrer Politik zu wandelt sich in einen Zusammenbruch des Sicher- bewältigen seien, mit ihrem militärischen Handeln heitsgefühls. " vor allem. Bevölkerungswachstum, Umweltver- schmutzung, Handelskonflikte, Wanderungsbewe- Soll die Unsicherheit weichen, sind deutliche Si- gungen, Energie- und Rohstoffverknappungen, reli- gnale zu setzen, ist eine die klare Perspektive nötig. giöse und ethnische Gegensätze und vieles andere Werden die Demokraten allein gelassen, ist die mehr werden als Szenario präsentiert, ein Szenario als Stunde der Nationalisten gekommen. Nicht zuletzt Basis für eine Übung dieser Truppen. Wir alle wissen: deswegen entsteht der dringende Wunsch nach Diese Problemlagen sind nicht neu; neu und gleich- Schutz. Es ist auch der Schutz der Völker vor sich zeitig besorgniserregend ist, daß sich ausgerechnet selbst. die NATO, ein klassisches Militärbündnis, diesen Häufig wird gegen die NATO-Erweiterung vorge- Aufgaben widmen will. bracht, sie könne zu einem antirussischen Bündnis (Beifall bei der PDS/Linke Liste) führen. In der Tat liegt ein wichtiges Motiv Polens oder Litauens für den Drang in die NATO in der Angst vor einem neuen russischen Imperialismus. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gerd (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist Poppe, Sie haben das Wort. doch nicht unberechtigt!) Hinzu kommt die ebenfalls historisch erklärbare Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Angst vor einem deutsch-russischen Komplott oder Präsident! Meine Damen und Herren! Zwar überwiegt — weniger dramatisch — die Befürchtung, nur die Zustimmung der Mittel- und Osteuropäer zur Pufferzone zwischen zwei großen Mächten zu sein. Partnerschaft für den Frieden; die rechte Begeisterung Die Warnung vor einem antirussischen Bündnis kommt indes nicht auf. Der polnische Präsident spricht wäre berechtigt, wenn die NATO darauf beharrt, ihre sogar von der Gefahr, zu kurz, also in den Abgrund zu Aufgaben und Strukturen ungeachtet des Verschwin- springen. Vielleicht ist das Bild verzeichnet — vom dens des früheren Gegners, des Warschauer Pakts, Absprung kann wohl noch keine Rede sein, eher vom unverändert beizubehalten. Tatsächlich deutet wenig Beginn eines Anlaufs, der die notwendige Beschleu- auf die Umwandlung der NATO hin. Eine bloße nigung erst noch erreichen muß. Verschiebung der NATO-Grenze nach Osten könnte Es ist zutreffend — um ein Argument derjenigen in Rußland tatsächlich als Provokation empfunden aufzugreifen, die zurückhaltend gegenüber den Bei- werden. trittswünschen sind —, daß die gesellschaftliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Transformation in Mittel- und Osteuropa erst begon- nen hat und daß die Demokratie dort noch nicht stabil Aber dieses Problem ist zu lösen. Dazu muß sich die ist. In den Visegrad-Staaten mag sie bereits unum- NATO allerdings reformieren. Sie muß von einem kehrbar sein. Auf dem Balkan und in den aus der reinen Militärbündnis zu einem kollektiven Sicher- ehemaligen Sowjetunion hervorgegangenen Staaten heitssystem werden. Das muß durchaus kein Traum ist der Fortgang der Reformen noch nicht gesichert. bleiben, Frau Lederer. Um die gesellschaftliche und ökonomische Ent- (Dr. Walter Fr anz Altherr [CDU/CSU]: Rich wicklung voranzutreiben, benötigen all diese Staaten tig!) Hilfe. Sie bedürfen der politischen, wirtschaftlichen Hilfreich dafür könnte in der Tat die Weiterentwick- und der sicherheitspolitischen Integration. lung der KSZE sein. Ihr Mangel an Verbindlichkeit Je konkreter die Einbindung der mittel- und osteu- und Kompetenz haben sie nach dem Ende des Kalten ropäischen Staaten in gesamteuropäische Strukturen Krieges zunehmend unattraktiv gemacht. Das Behar- ist, desto wirksamer kann sie für die Beschleunigung ren Westeuropas auf rein westlichen Sicherheitsstruk- der dortigen Entwicklung und für ihre Stabilisierung turen und sein geringes Interesse gegenüber der werden. Das gilt für die NATO ebenso wie für die gesamteuropäischen Problematik haben die Stärkung Europäische Union. Für diese Staaten sind eine klare der KSZE bis heute verhindert. Jetzt spätestens sollte Perspektive, eindeutige Kriterien und ein an deren klar werden, welch ein Versäumnis dies war. Eine Erfüllung gebundener Zeitplan vonnöten. Möglichkeit, dies zu korrigieren, wäre die perspekti- 17442 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Gerd Poppe wische Zuordnung der NATO zur KSZE als deren Umstrukturierungen nach Ende des Kalten Krieges sicherheitspolitischer Arm. große Schwierigkeiten haben. Deshalb ist die Frage Europa braucht eine gemeinsame sicherheitspoliti- berechtigt, ob es nicht eine Überforderung der Allianz sche Perspektive. Daß diese nicht gegen Rußland gewesen wäre, wenn man von heute auf morgen gerichtet sein darf, versteht sich von selbst. Möglich ist andere Staaten aufgenommen hätte. das nur durch eine prinzipielle Öffnung der NATO in Ein zweiter guter Grund gegen sofortige Maßnah- Richtung eines kollektiven Sicherheitssystems, dem men ist die Abgrenzungsthematik: Wen nimmt man sich schrittweise die KSZE-Staaten anschließen kön- auf und wen nicht? Hätte man sich z. B. nur auf die nen, die das wünschen, vorausgesetzt, sie erfüllen die Visegrad - Staaten konzentriert, auf die vier Staaten, vereinbarten Bedingungen. Die Visegrad-Staaten die uns am nächsten liegen, dann hätten sich vielleicht wären dann nicht die einzigen, sondern allenfalls die die Balten, die Rumänen oder die Bulgaren ausge- ersten. Ihr Beitritt würde den Reformprozeß einleiten schlossen gefühlt. Ich finde es gut, daß man einen Weg und fördern. Auf lange Sicht dürften aber weder die gefunden hat, der niemanden diskriminiert. Staaten des Balk ans noch der GUS ausgeschlossen werden. (Beifall des Abg. Dr. Eberhard Brecht [SPD]) Eine letzte Bemerkung: Ich habe den Eindruck, daß die Gefahr, die durch ein Scheitern der Reformen in Dann gibt es einen weiteren Grund. Er bet rifft die Rußland entstünde, in Westeuropa noch unterschätzt Ukraine. Wir wollen, daß die Ukraine ihre Nuklear- wird. Das Beispiel Serbiens hat gezeigt, welche Fol- waffen abrüstet. Hätte m an die NATO sofort bis an die gen eine solche Unterschätzung und darüber hinaus ukrainische Westgrenze ausgedehnt, so daß die eine Appeasement-Politik gegenüber einer rot-brau- Ukraine die NATO im Westen und die Russen im nen Aggression haben. Dies darf sich nicht wiederho- Osten gehabt hätte, so glaube ich kaum, daß sie große len. Vor allem aber muß einer solchen Entwicklung Begeisterung empfunden hätte, ihre nuklearen entgegengewirkt werden, bevor die Katastrophe da Sprengköpfe zu demontieren. ist. Schließlich gibt es einen vierten Grund aus der Die Staaten des früheren sowjetischen Glacis brau- inneren Situation der NATO. NATO-Mitgliedschaft chen eine Sicherheitsgarantie, sie dürfen nicht zur heißt automatische Beistandsverpflichtung. Wenn neuen Pufferzone werden. Und nicht zuletzt bedarf man automatische Beistandsverpflichtungen will, Rußland selbst der sicherheitspolitischen Einbindung. kann man diese nicht einfach durch einen politischen Wer die russischen Reformer unterstützen will, muß Beschluß herbeiführen, sondern das bedarf langer die NATO umwandeln und erweitern. Deshalb ist die inhaltlicher Planungen für Eventualfälle, das bedarf jetzt verkündete Partnerschaft für den Frieden zwar vor allen Dingen auch militärischer Kapazitäten. Von ein richtiger Schritt, aber noch kein ausreichender. daher ist es auch aus diesem Grunde richtig, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NATO-Erweiterung in einem organischen Prozeß ein- sowie bei Abgeordneten der SPD) zubinden. Schließlich gibt es — fünftens — den Grund, daß wir Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege natürlich nicht gegenüber Rußland und der Ukraine Dr. Friedbert Pflüger. Mißverständnisse hervorrufen wollen. Wir wollen keine Ängste schüren, keine Probleme schaffen, wir wollen keine neuen Feindbilder. Deshalb ist es ganz Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident! richtig, das Ganze in einem langfristigen Prozeß zu Meine Damen und Herren! Ich teile alles, was in dieser organisieren, bei dem einige Länder Vollmitglied Debatte von den Vertretern meiner Fraktion und von werden können und bei dem Rußland und die Ukraine der Bundesregierung zum Erfolg des Gipfels gesagt in eine strategische Partnerschaft mit dem Bündnis worden ist. Das gilt insbesondere für die klare Bedeu- eingebunden werden. tung, die der Gipfel einer weiteren Präsenz Amerikas in Europa zugesprochen hat, für das Verhältnis zwi- Diese Gründe sind relativ wenig in der Debatte schen NATO und WEU und insbesondere auch für das genannt worden, finde ich. Dagegen ist der eigentlich Augenmerk, das der Gipfel auf das Problem der schlechteste Grund, der gegen eine NATO-Erweite- Massenvernichtungswaffen und ihrer Verbreitung rung spricht, immer wieder betont worden, nämlich gerichtet hat. der Grund, daß eine rasche NATO-Ausdehnung rus- sischen Nationalisten helfe, den Reformkurs Jelzins Aber zu all dem möchte ich nicht sprechen, sondern schwäche. Ich glaube, daß dies wirklich ein falscher ich möchte mich in meinem Beitrag ganz auf die Ansatz ist, der gewählt wurde, Thematik der Osterweiterung des Nordatlantischen Bündnisses konzentrieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Es gibt eine Reihe guter Gründe dafür, warum wir beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht sofort Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken und und zwar in Beiträgen aus den unterschiedlichsten andere in die NATO aufgenommen haben, und es gibt Fraktionen und auch zum Teil von der Regierung. Ich einen sehr schlechten Grund dafür. Ich will zunächst halte es für eine große Illusion zu glauben, m an helfe über die guten Gründe reden. den Reformern, wenn man z. B. Polen nicht in die Erstens ist es gut, daß man immer an die Funktions- NATO aufnimmt. Was ist das für eine Art von Politik, fähigkeit eines Bündnisses denkt. Natürlich muß ein wenn wir die NATO - Mitgliedschaft nicht von unseren militärisches Bündnis handlungsfähig bleiben. Nun eigenen Interessen und den Wünschen der Staaten in wissen wir alle, daß wir in der NATO durch die vielen Mittel- und Osteuropa abhängig machen, sondern von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17443

Dr. Friedbert Pflüger der innenpolitischen Situation in Moskau? Wir haben Helmut Schäfer (Mainz) (F.D.P.): Herr Kollege Pflü- doch den Russen während der ganzen Zeit des Kalten ger, hier wird immer von den Gefahren nationalisti- Krieges niemals erlaubt, in irgendeiner Weise Dro- scher Gruppierungen in Rußland gesprochen. Darf ich hungen in Richtung auf unsere Politik auszusprechen, Ihnen die Frage stellen, ob Ihnen entgangen ist, daß uns zu erpressen. Ich denke nur an den NATO- bei den letzten Wahlen in Polen eine Mehrheit auf Doppelbeschluß. Was ist dort für ein Drohpotential Grund der Entscheidung der polnischen Wähler, die von Seiten Moskaus aufgefahren worden. Wir haben wir zu respektieren haben, zustande gekommen ist, völlig zu Recht gesagt: Nein, wir bleiben beim NATO- die zumindest die Frage erlaubt, wie eigentlich die Doppelbeschluß. Der ist wichtig für uns. Wir haben innenpolitische Entwicklung in Polen als absolut nicht keine Angst vor einer Eiszeit. — Es hat sich als richtig besorgniserregend gesehen werden kann und mit erwiesen, den NATO-Doppelbeschluß gegen alle welcher Begründung immer wieder die Rede davon Drohungen durchzuführen. ist, daß sich alles, was sich an nationalistischem Unrat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — und an nationalistischen Bedrohungen entwickelt, Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Gegen die nur in Rußland abspielen kann, nicht aber in anderen SPD!) Staaten, die auch diesen schweren Weg zur Demokra- tie gehen? Wenn man jetzt, am Ende des Kalten Krieges, plötzlich auf all diese russischen Konstellationen und Drohun- gen Rücksicht nimmt, dann ist das, glaube ich, wirk- Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Kollege lich der falsche Weg. Schäfer, gerade weil wir verhindern wollen, daß sich Es gibt doch im Grunde nur zwei Alternativen: Nationalisten in Mittel- und Osteuropa durchsetzen, Entweder setzen sich in Rußland die Reformer durch, sollten wir sie schnell und deutlich zu uns in den dann ist die NATO-Erweiterung für die Leute in Westen holen. Wir sollten die großen Ambitionen und Moskau kein Problem, sondern eine Chance. Oder Hoffnungen in diesen Ländern nicht enttäuschen und aber die Imperialisten und großrussischen Nationali- nicht den Nationalisten, die wir gemeinsam bekämp- sten setzen sich durch, dann ist die NATO-Erweite- fen, Auftrieb geben. rung erst recht wichtig und notwendig. Mit anderen Natürlich gibt es in Polen ein Wahlergebnis, das uns Worten: Gleich wie sich die Dinge in Rußland entwik- nicht gefällt. Ich hätte mich auch gefreut, wenn unser keln, die Vollmitgliedschaft in der NATO für die Partner, die Demokratische Union, wieder gewonnen Staaten Mittel- und Osteuropas ist ein definitives und hätte. Das ist gar keine Frage. Ich bin Ende Dezember wichtiges Ziel unserer Außen- und Sicherheitspolitik. in Polen gewesen und habe dort auch mit Vertretern Ich glaube, wir Deutschen sind sehr gut beraten, wenn der neuen Regierung gesprochen. Mein Eindruck ist, wir uns an die Spitze der Bewegung stellen, wenn wir daß es in Polen über die Parteigrenzen hinweg einen die Drängenden sind, wenn wir der Anwalt unserer großen Konsens darüber gibt, in die NATO zu kom- Freunde in Mittel- und Osteuropa sind in dieser men. Darüber sollten wir uns freuen und das auch in Frage. der jetzigen politischen Situation nutzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Dr. Walter Franz Altherr Ich halte es für falsch, Moskau jetzt nur in den [CDU/CSU]) Kategorien von Herrn Schirinowski zu betrachten. Ich sprach von den verschiedenen Risiken, die doch Natürlich müssen wir Schirinowski sehr ernst neh- etwas größer sind, wenn man bedenkt — Herr Kollege men, aber es gibt völlig unabhängig davon auch aus Schäfer, lassen Sie mich das noch hinzufügen —, daß der Zeit vor dessen Wahlerfolg eine Reihe von sehr es in Rußland nach wie vor noch 30 000 nukleare besorgniserregenden Anzeichen in der russischen Sprengköpfe gibt. Angesichts dessen ist das Gefah- Politik. renpotential von nationalistischen Exzessen wohl (Zuruf von der SPD: Auch positive Entwick- doch etwas stärker. lungen!) Es gibt jedoch auch andere besorgniserregende — Es gibt auch positive Entwicklungen, aber es gibt Entscheidungen in Rußland. Zum Beispiel ist im letzten Oktober beschlossen worden, die auch sehr besorgniserregende Anzeichen, z. B. die russischen neue Militärdoktrin. Man sollte einmal genau lesen, Streitkräfte dramatisch auf eine Stärke von 1,5 Millio- was darin z. B. über das sogenannte „nahe Ausland" nen Mann zu verringern. Dieser Beschluß ist Ende des gesagt wird. Das heißt, daß Rußland nach wie vor letzten Jahres auf stille Art und Weise zurückgenom- zumindest etwa für die baltischen Staaten eine Art men worden. Das heißt, wir werden in absehbarer Zeit Hegemonialanspruch erhebt. ein Heer von über zwei Millionen Personen haben. Hat das überhaupt keine Wirkung? Gehen wir über solche doch ganz wesentlichen Entscheidungen ein- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Pflüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage? fach so hinweg, als ob sie uns nichts angingen? Sind das künstliche Feindbilder, wenn wir davor warnen, daß sich in Moskau wieder andere Kräfte durchset- Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Ja, natürlich, zen? Ich glaube, nicht. Ich glaube, wir müssen das gerne. Vom wem? ernst nehmen. Wir müssen vor allen Dingen auch ernst nehmen, Vizepräsident Hans Klein: Vom Kollegen Schäfer. daß Herr Schirinowski auch im Offizierskorps ganz große Unterstützung genießt. Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Selbstverständ- (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Auch bei lich, Herr Kollege. den einfachen Soldaten!) 17444 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Friedbert Pflüger — Auch bei den einfachen Soldaten. bißchen stärker heute hier zum Ausdruck gekommen wäre. Aber die Tatsache, daß sich das Militär mit diesem Kurs zu einem ganz großen Teil identifiziert, kann uns (Ortwin Lowack [fraktionslos]: Sehr wahr! — nicht ruhig schlafen lassen. Ich finde, wir sollten Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und natürlich alles tun, um den Versuch zu unternehmen, der SPD) Moskau auch weiterhin in unsere europäischen Insti- Im Kalten Krieg haben wir widerstanden. Es gibt tutionen einzubinden. Aber wir wären unrealistisch, keinen Grund, jetzt, in einer Situa tion, wo Moskau wenn wir andere Eventualfälle einer schlimmeren schwach ist, denjenigen nachzugeben, die Schwäche Entwicklung von vornherein ausschließen würden. in Drohungen verwandeln wollen. Bei diesem Besuch in Polen, den ich im Dezember Herr Schirinowski ist neulich von dem sonst sehr- geschätzten Herrn Leonhardt als die Karikatur eines gemacht habe und über den ich soeben kurz sprach, Faschisten bezeichnet worden. Ich finde, das ist eine habe ich auch mit Professor Geremek gesprochen, wirkliche Verharmlosung. Auch Hitler, bei allen dem großen Kämpfer für die Solidarnosc, dem jetzigen Unterschieden, die es natürlich gibt, hat einmal als die Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses. Er hat Karikatur eines Faschisten angefangen. Wir wissen gesagt: Es gibt ja sehr gute Gründe dafür, die NATO- alle, was daraus geworden ist. Erweiterung nicht übers Knie zu brechen. Aber wenn diese Gründe als Ergebnis des Drucks aus Moskau Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß dort in erscheinen, dann ist das für uns Polen unerträglich. — Moskau jemand mit einer ansehnlichen Anhänger- Das kann ich vor dem Hintergrund historischer Erfah- schaft und einem starken Gewicht im Parlament sitzt, rungen der Polen sehr gut verstehen. Ich glaube, wir der sozusagen fast allen Staaten dieser Welt inzwi- sollten solche Ängste in Polen, aber auch in den schen den Krieg erklärt hat. Mir ist nicht wohl, daß dort anderen Ländern sehr ernst nehmen. Wir sollten einer sitzt, der hier mit Rechtsradikalen anbändelt. diejenigen sein, die als Anwalt unserer osteuropäi- schen Partner auftreten. Mir ist auch nicht wohl dabei, wenn ich sehe, wie Daß wir das nun mit der Unterstützung der ameri- manche auch bei uns anfangen zu sagen, mit dem kanischen Administration machen können, freut mich müsse man sich auseinandersetzen. Und andere besonders; denn es hat ja Versuche gegeben, im sagen, so schlimm sei das alles gar nicht. Nein, wir Vorfeld des Gipfels, diese Initiative „partnership for dürfen Herrn Schirinowski nicht verharmlosen, und peace" nicht als einen Schritt in Richtung NATO zu zwar vor allen Dingen deshalb nicht, weil er natürlich einen Einfluß auf die heutige russische Regierung und verstehen, sondern als eine Alternative zur NATO- Daß es gelungen ist, die amerika- russische Politik haben wird. Vollmitgliedschaft. nischen Freunde davon zu überzeugen, daß das der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) falsche Weg wäre — daran hat die Bundesregierung, insbesondere der Verteidigungsminister, einen ganz Herr Jelzin wird alles tun, um ihm ein bißchen Wind wesentlichen Anteil. aus den Segeln zu nehmen. Also wird der russische Ich finde es richtig und gut, und es ist ja auch in Prag Kurs nationaler werden. Wir tun jedenfalls gut daran, und Warschau und Budapest verstanden worden, daß das als Möglichkeit nicht gleich auszuschließen. Wir wir diejenigen sind, die hier nicht Alleingänge dürfen Moskau nicht erlauben, die „ Schirinowski machen, aber die hier auf der drängenden Seite sind. Karte " zu spielen und bei jeder Gelegenheit zu sagen: Ich finde, es stünde uns gut an, daß das so bleibt. Wenn ihr nicht das tut, was wir wollen, dann stärkt ihr die Nationalisten und Faschisten bei uns. Wenn ich einen Satz noch zu Amerika sagen darf: Wir haben lange Zeit die Angst gehabt, Bill Clinton (Beifall der Abg. Brigitte Schulte [Hameln] würde sich nur noch um den pazifischen Raum oder [SPD]) um die Gesundheitsreform oder um die Bekämpfung der Kriminalität kümmern, und Europa würde ihn Wenn wir dieser Art der Argumenta tion auf den Leim nicht interessieren. Ich finde, mit seiner wirklich gehen — ich freue mich über die Zustimmung, Frau ausgezeichneten Rede in Brüssel, mit seinem sehr Kollegin Schulte —, dann machen wir, glaube ich, guten Auftreten jetzt in den letzten Tagen hat er einen großen Fehler. gezeigt, daß das nicht der Fall ist. Die Formel für die nächsten Jahre muß anders Das ist etwas, was nicht nur in unserem Interesse lauten. Sie sollte wie folgt lauten: Je mehr in Rußland liegt, sondern auch im Interesse der mittel- und Reformkräfte die Oberhand haben, desto ruhiger und osteuropäischen Staaten, die das wiederholt gesagt langfristiger können wir die NATO-Erweiterung haben. Nur mit Amerika haben wir die Chance, das gestalten. Je mehr aber in Rußland die Nationalisten nach wie vor vorhandene große geopolitische Ober- die Oberhand gewinnen, je mehr Drohungen aus dem gewicht Rußlands auszugleichen. Deshalb bleiben die Kreml kommen, desto schneller und entschiedener Amerikaner gerade in Zeiten dramatischen Wandels müssen wir die NATO-Mitgliedschaft vorantreiben. willkommene Bündnispartner und Freunde. Danke für die Aufmerksamkeit. Jedenfalls ist doch eines klar: Weder heute noch in Zukunft darf der Schlüssel für die NATO-Erweiterung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in Moskau liegen. Ich hätte mir in manchen Beiträgen gewünscht, daß dieses deutliche und klare Bekenntnis zu einem freien Europa, zu souveränen Staaten, die Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Eber- sich von niemandem unter Druck setzen lassen, ein hard Brecht, Sie haben das Wort, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17445

Dr. Eberhard Brecht (SPD): Herr Präsident! Meine geschoben, würden die Fronten des Kalten Krieges Damen und Herren! Die bisherigen Redebeiträge nur verändert und die anachronistische Teilung Euro- haben gezeigt, daß die Fraktionen dieses Hauses pas in zwei Blöcke festgeschrieben. Dies wäre die — ich meine jetzt nur die Fraktionen; damit das von unvermeidliche Konsequenz einer Sofortaufnahme Frau Kollegin Lederer nicht noch einmal mißverstan- einiger oder aller MOE-Staaten in die NATO, eine den wird — sich eigentlich einig sind in der positiven Konsequenz, die weder von ihnen selbst noch von uns Bewertung des Brüsseler Gipfels und der beschlosse- gewünscht wird. nen Partnerschaft für den Frieden. Ich kann mich dem nur anschließen. Es gibt weitere gewichtige Argumente, die eine erst Bei so viel Harmonie gestatten Sie mir vielleicht später vollzogene NATO-Vollmitgliedschaft der eine kleine polemische Fußnote. Mich hat insbeson- MOE-Staaten und anderer Staaten im ehemaligen dere das Bild des Außenministers beeindruckt, er kommunistischen Machtbereich sinnvoll erscheinen wolle den Spalt zwischen Amerika und Europa nicht lassen. größer werden lassen. Ich begreife das so: Wenn Herr Kinkel schon Probleme zu haben scheint, seine eigene Erstens. Ich teile die Auffassung von NATO-Gene- Partei zusammenzuhalten, will er sich nun erfolgrei- ralsekretär Wörner, der jene Paniktöne zurückweist, cher gegen die Kontinentaldrift stemmen. die unseren östlichen Nachbarn eine Katastrophe prognostizieren, falls m an ihnen nicht sofort eine Als ob sich Herr Rühe in bewährter Zusammenar- Sicherheitsgarantie gibt. Mir ist wirklich keine Bedro- beit mit dem Außenminister darauf verständigt hätte, hungsanalyse bekannt, die eine sofortige Sicherheits- heute vorwiegend geologische Bilder zu verwenden, garantie für notwendig hält. Damit ist der immer sprach er davon, daß nach dem Erdbeben von 1989 wieder postulierte Zeitdruck zu relativieren. nun heute die Lava noch nicht erkaltet sei. Vielleicht ist es ja wirklich so, daß jedes Beben auf der Hardt- Gerade die Situation in Rußland wird häufig über- höhe einen Vulkanausbruch mit Lavafluß im Auswär- zeichnet. Es gibt dort nicht nur bedenklich stimmende tigen Amt zur Folge hat. Entwicklungen. Man muß sich doch auch einmal in Mit seiner Entscheidung hat sich das Bündnis nicht Erinnerung rufen, in welchem Maß sich Rußland in selbst übernommen. Es hat andererseits den mittel- den letzten Jahren verändert hat. Kein Land baut auf und osteuropäischen Staaten den Weg nach Brüssel Grund völkerrechtlicher Verträge mehr konventio- geebnet. Auf Grund der Äußerungen von Herrn nelle Waffen, mehr Panzer, Kampfflugzeuge und Pflüger sage ich, daß auch Amerika stärker eingebun- Hubschrauber, Artilleriesysteme und andere gepan- den wurde. Schließlich wurde vermieden, Moskau zu zerte Fahrzeuge ab als Rußland. Dies gilt auch ange- brüskieren. Wir Deutschen können zufrieden sein, sichts der Einschränkung, die eben von Herrn Kolle- denn es liegt in unserem Interesse, nicht auf die Dauer gen Pflüger gemacht worden ist, daß die 1,5-Millio- das östlichste Land des Westens zu bleiben. Unsere nen-Grenze für die Stärke der russischen Streitkräfte eigene Sicherheit ist auch von der Sicherheit unserer nun unterlaufen wird. unmittelbaren Nachbarn im Osten abhängig. Im Vorfeld des NATO-Gipfels haben eine Reihe von Der KSE-Vertrag aus dem Jahr 1991 verpflichtet ost- und südosteuropäischen Staaten die Forderung Rußland nicht nur zur Abrüstung, sondern auch zur nach einer raschen Aufnahme in die Allianz erhoben. Öffnung seiner Kasernen, seiner Truppenübungs- Der polnische Präsident verlangte sehr vehement plätze und im Rahmen von „open sky" seines Him- einen verbindlichen Zeitplan für die Aufnahme, mels. Die Staaten des Westens sind so über militäri- Litauen stellte sogar einen Aufnahmeantrag. Auch sche Bewegungen im Land besser informiert als je heute im Plenum waren einige Argumente für diese zuvor. Auf Grund dieser Verträge hat Rußland die Forderungen zu hören. Der Hintergrund dieser Bemü- Fähigkeit zu Überraschungsangriffen verloren. Daher hungen sind wachsende Sorgen der mittel- und osteu- sind die Streitkräfte des heutigen Rußlands nicht mehr ropäischen Länder über die Zunahme von Nationalis- mit dem Drohpotential der alten Sowjetunion ver- mus mit imperialen Ansprüchen im ehemaligen kom- gleichbar. Ich stimme Ihnen zu, Herr Pflüger, daß m an munistischen Machtimperium und die damit verbun- natürlich neu nachdenken muß, wenn sich die Situa- dene Gefahr weiterer Sarajevos und Tuzlas. tion dort verschärft. Aber ich glaube, man kann nicht von vornherein mit dieser Option in die Betrachtung Die MOE-Staaten fühlen sich insbesondere durch hineingehen, wie schnell die Allianz erweitert werden die Entwicklung in Rußland bedroht. Nationalistische soll. und antiwestliche Töne werden lauter. Die Regie- rungskrise des vergangenen Jahres machte eine Auch in politischer Hinsicht hat die von Moskau beunruhigende Labilität des Landes deutlich. Der ausgehende Bedrohung im Vergleich zu früheren Wahlerfolg und die Parolen eines Extremisten vom Zeiten merklich abgenommen. Wo früher der Export Schlage Schirinowskis tun ein übriges. Die damit des Kommunismus und die Weltrevolution zu den verbundenen Sorgen sind auch unsere Sorgen. Nie- Zielsetzungen der sowjetischen Herrschaft gehörte, mand bestreitet ein legitimes Sicherheitsinteresse der strebt die gegenwärtige russische Regierung Demo- MOE - Staaten angesichts eines instabilen und nuklear kratie und Marktwirtschaft an. Eine neue demokrati- hochgerüsteten Rußlands. sche Verfassung wurde beschlossen, und nach den Die Frage ist allerdings, ob eine rasche Osterweite- ersten freien und demokratischen Wahlen ist der rung der NATO die derzeit richtige Antwort ist. Ich Anteil der nichtdemokratischen Kräfte im Parlament glaube es nicht. Würde die alte NATO jetzt einfach im Vergleich zum Kongreß der Volksdeputierten weiter nach Osten, etwa an die Ostgrenze Polens, vorher deutlich gesunken — das ist einfach eine 17446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Eberhard Brecht Tatsache, die man auch einmal zur Kenntnis nehmen Die Geschäftslage hat sich insofern verändert, als muß —, die Aktuelle Stunde nunmehr kurz nach 13.00 Uhr, wenn wir mit der jetzigen Debatte zu Ende sind, (Zuruf von der CDU/CSU) beginnen soll. Da aber beispielsweise die Redner der trotz des Wahlerfolges von Herrn Schirinowski. Bundesregierung das nicht wissen, habe ich jetzt den Niemand kann ausschließen, daß die Demokratie in Redner unterbrochen, damit für die Kolleginnen und diesem Land scheitert. Diese Skepsis ist aber auch im Kollegen, die an der Aktuellen Stunde teilnehmen Falle anderer Staaten des früheren kommunistischen wollen, aber jetzt bei dieser Debatte nicht dabei sind, Einflußbereichs angebracht. Solange berechtigte wenigstens noch 20 Minuten Zeit bleibt. Chancen bestehen, daß sich der demokratische Pro- Vielen Dank, Herr Kollege Brecht. Bitte, fahren Sie zeß in Rußland weiterentwickelt, sollten wir keinen fort. neuen Feind an die Wand pinseln. Zweitens. Für die innenpolitische Wirkung einer Dr. Eberhard Brecht (SPD): Meine Damen und Osterweiterung der NATO in Rußland gibt es zwei Herren, der Brüsseler Gipfel verzichtete auf die Unter- Hypothesen. Manche glauben, daß ein lockerer Gür- scheidung, welches postkommunistische Land m an tel von NATO-Staaten um Rußland herum einen integrieren und mit welchem man nur kooperieren Abschreckungseffekt auf russische Nationalisten zei- will. Und man vermied die Benennung eines Zeitho- gen würde. Ich selbst aber befürchte im Gegensatz zu rizonts für die NATO-Erweiterung, für die sich im Herrn Pflüger, daß jedes Gefühl der Isolierung oder Prinzip alle NATO-Partner ausgesprochen haben. Ich gar Bedrohung den russischen Nationalismus verei- tue dies auch. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, nen und stärken und gleichzeitig die Position der daß viele Fragen nicht nur nicht beantwortet, sondern Demokraten schwächen würde. Damit würde sich die auch gar nicht gestellt wurden. Wie wird denn nun ursprüngliche Absicht, nämlich eine Verbesserung jener Zeitpunkt abgepaßt, an dem eine Osterweite- der Sicherheitssituation der Beitrittskandidaten, ge- rung der NATO opportun ist? Welches sind denn die rade in ihr Gegenteil verkehren. Kriterien, nach denen die Beitrittskandidaten auf ihre Die NATO-Staaten haben heute mehr Möglichkei- Bündnisfähigkeit geprüft werden? Wie soll verhindert ten als früher, den künftigen Kurs Rußlands mitzuprä- werden, daß nach Aufnahme einiger MOE-Staaten gen und dazu beizutragen, daß sicherheitspolitische die Einflußsphärenpolitik von Jalta eine Renaissance Probleme mit seinen Nachbarstaaten auf kooperative erfährt und sich die NATO zum Bollwerk gegen Weise gelöst werden. Der abschlußreife Vertrag über Rußland oder gar umgekehrt versteht? Wie wird den die Vernichtung des Kernwaffenpotentials der Sicherheitsinteressen jener postkommunistischen Ukraine zwischen diesem Land, Rußland und den Staaten Rechnung getragen, die der NATO nicht USA verdeutlicht dies sehr eindeutig. beitreten können oder wollen? Es gibt derzeit wohl niemanden, der ein überzeugendes Modell europäi- Drittens. Es scheint derzeit keine Bereitschaft der scher Sicherheit in der Tasche trägt, das diese und Bündnispartner zu geben, für die Sicherheit der ähnliche Fragen befriedigend beantwortet. Staaten des früheren kommunistischen Impe riums zu garantieren. Zur Hausaufgabe der NATO-Partner und der künf- tigen Unterzeichner von „partnership for peace" Viertens. Unabhängig vom Wollen der Bündnis- gehört nicht nur die Umsetzung der geplanten weit- partner habe ich ernste Zweifel daran, daß die NATO reichenden Zusammenarbeit, sondern auch die Ent- kurzfristig in die Lage zu versetzen ist, im Ernstfall die wicklung von Vorstellungen über die Weiterentwick- MOE- oder die baltischen Staaten zu verteidigen. Was lung dieser Kooperation. Dabei muß man realisti- ist eine Sicherheitsgarantie wert, die nicht einzukla- scherweise davon ausgehen, daß es in Europa auch gen ist? künftig — also auch nach der Aufnahme der ersten Überhaupt beunruhigen mich viele wohlgemeinte, postkommunistischen Staaten in die NATO — Regio- aber kaum einlösbare Zusagen für Osteuropa und die nen unterschiedlicher Sicherheit geben wird. Diese GUS-Staaten. Als Ostdeutscher weiß ich, welche psy- unvermeidbare Heterogenität darf jedoch nicht zur chologischen Auswirkungen die kritiklose Bestäti- Labilität führen. Ich warne daher vor einer isolierten gung eigener Wunschvorstellungen haben kann. NATO-Erweiterung. Fünftens. Der durch eine schnelle NATO-Integra- Eine NATO-Ausdehnung nach Osten wird nur dann tion entstehende Zeitdruck bei der Umrüstung der zu mehr Sicherheit führen, wenn parallel dazu eine osteuropäischen Armeen auf NATO-Standards würde gesamteuropäische Sicherheitspartnerschaft aufge- die ohnehin fragile Wirtschaft der Transformations- baut wird. Europa braucht ein gemeinsames System länder stark belasten. Ich glaube umgekehrt, wir kollektiver Sicherheit, das binnengerichtet und kom- sollten vielmehr Sicherheit in Osteuropa durch wirt- patibel zur NATO ist, also zu einem vorrangig gegen schaftliche Unterstützung gewähren, als im Prinzip äußere Aggression gerichteten Bündnis kollektiver hier noch eine zusätzliche Hypothek zu schaffen. Ich Verteidigung. finde die Begriffsbildung, die Herr Klose vorhin Ein dauerhafter Friede wird nur über einen Interes- gewählt hat, „partnership for development", sehr senausgleich und kollektive Sicherheit statt einseitig treffend. kollektive Verteidigung möglich werden. Die stief- mütterlich behandelte KSZE — und hier kann ich dem Optimismus des Außenministers nicht folgen — Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Brecht, darf bedarf einer Revitalisierungskur, mehr Kompetenz ich Sie einen Moment für eine wichtige Mitteilung und Verbindlichkeit bei der Streitschlichtung, weni- unterbrechen. ger Tagungen und wohltönender Resolutionen und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17447

Dr. Eberhard Brecht dafür mehr Konfliktprävention und Konfliktbegren- Noch etwas: Meines Erachtens hat dieser soge- zung. nannte Gipfel etwas völlig außer acht gelassen, was Und schließlich ist zu definieren, in welcher Form eigentlich im Zusammenhang mit der NATO gesagt KSZE und NATO miteinander kooperieren. werden muß. Das nordatlantische Bündnis ist doch weit mehr als eine militärische Organisation. Es ist Ich selbst plädiere dafür, „partnership for peace", eine politische Gemeinschaft; es ist eine Wertege- die NATO selbst und die KSZE als Bausteine für ein meinschaft; es hat Ansätze zu einer wirtschaftlichen gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu verwenden Gemeinschaft. In diesem Bereich hat der Brüsseler und nicht ausschließlich auf die Option NATO-Erwei- Gipfel überhaupt nichts Perspektivisches gebracht. terung zu setzen. Wir könnten viel weiter gehen, viel mehr machen, Ich bedanke mich. ohne daß man die Beschlüsse angreifen könnte. - (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Fried- Wie war es denn in der Vergangenheit dort, wo man bert Pflüger [CDU/CSU]) mit etwas Pragmatismus unendlich viel Gutes hätte bewirken können, indem man die mittel- und osteu- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ropäischen Länder in ihrer Waffentechnik unabhängi- ordnete Ortwin Lowack. ger macht und ihnen damit überhaupt erst ermöglicht, eine souveräne Landesverteidigung aufzubauen? Hier haben wir nichts gemacht. Fragen wir die Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Ungarn, fragen wir die Tschechen und andere, wie wir Meine Damen und Herren! Da hat wieder einmal ein sie im Regen haben stehen lassen! Dort hätte die Rat in Brüssel getagt. Und der Propagandaaufwand NATO etwas machen können. Dort versagt sie. der Akteure steht in einem auffälligen Mißverhältnis zu den Ergebnissen. Vor allen Dingen die Europäer Wie ist der Zustand der Bundeswehr? Wie schaut es haben restlos versagt. Wo ist eigentlich der Aufschrei denn bei uns aus? Was Generationen von Soldaten in Brüssel und die Aufforderung, endlich das Drama in und Mitarbeitern der Bundeswehrverwaltung mit Bosnien zu einer Angelegenheit der Europäer zu unglaublichem Idealismus und Engagement an machen, die es nämlich ist? Wo verlangt man die Sicherheit aufgebaut haben, wird in kürzester Zeit Rekrutierung von Freiwilligen, die bereit sind, die verspielt. Eine Armee braucht einen klaren politi- UN-Hilfskonvois zu bewachen und so zu bewachen, schen Auftrag. Sie braucht die beste Ausbildung und daß endlich klargestellt ist, daß sich Europa und seine nicht eine halbherzige Ausbildung. Sie braucht die Werte nicht in dieser Art und Weise vorführen las- beste Ausrüstung, mit der sie technologisch an der sen? Spitze steht, und nicht eine mittelmäßige Ausrüstung, Und ich frage mich: Wo ist die Perspektive für die mit der sie sich nicht verteidigen könnte, wenn es mittelosteuropäischen L ander, wenn man nur noch darauf ankäme. Sie braucht vor allen Dingen eine blumige Antworten hat, so wie es auch von den Perspektive für die Soldaten und eine Perspektive für mittelosteuropäischen Ländern empfunden wird? deren Familienangehörige, damit die große Beruhi- gung und Überzeugung da ist, die der Soldat nun Und, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wie einmal braucht, wenn er sein Land verteidigen soll. kann es kommen, daß ein in außen- und sicherheits- politischen Fragen völlig unerfahrener amerikani- Wir müssen auch begreifen, daß der Frieden nichts scher Präsident, gewissermaßen ein Greenhorn in Statisches ist, den man durch Kabinettspolitik herbei diesen Bereichen, auf einmal zum Heilsbringer hoch- beschwören könnte. Der Frieden ist etwas Dynami- stilisiert wird und daß man dankbar anerkennt, daß sches, der jeden Tag erhalten werden muß, um den die Amerikaner wieder bereit sind, endlich die Füh- wir uns jeden Tag bekümmern müssen. Es ist nicht rungsrolle zu übernehmen? Es muß ja nicht so sein wie zuletzt eine Frage der Verteidigungsbereitschaft einer in den 50er Jahren, daß ein Teil der amerikanischen Bevölkerung und der Verteidigungsfähigkeit einer Politik mit dem damaligen Bundeskanzler von Bundeswehr. Deutschland aus mit geleitet und mit bestimmt wurde, Wer das nicht sieht, wird niemals den Frieden aber ein bißchen mehr von dem Angebot der Ameri- schaffen können, den wir brauchen, um wirklich kaner, das ja schon fünf Jahre zurückliegt, der „part- Zukunft zu haben. Wir werden das nicht schaffen, nership in leadership" hätten eigentlich die Europäer wenn wir nicht erkennen, daß wir tatsächlich nur mit zeigen können. dem Frieden für die Menschheit unendlich viel mehr So erleben wir heute das Drama, daß die Vereinig- tun können als heute. ten Staaten von Amerika und Rußland das europäi- sche Kaninchen lähmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was mich an der Diktion dieser Bundesregierung sehr betroffen Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte gemacht hat: Die Wahrheit in diesem Parlament und klarstellen: Ich bin sowohl ein Freund Amerikas als in diesem Land zu sagen gilt bereits als extremistisch. auch ein Freund Rußlands. Nur, wir können in der Man hat sich an eine Wahrheit gewöhnt, die nur noch jetzigen Situation die Entscheidung darüber, wie die teilweise die Wahrheit ist, und behauptet, das sei sie. NATO in der Zukunft aussehen soll, nicht der russi- Jeder, der die Dinge, die angesprochen werden müs- schen Politik überlassen. Auch Rußland muß wissen, sen, wirklich beim Namen nennt, wird bereits in ein was Europa will. Die Entscheidung, die man heute extremes Lager abgedrängt. aufschiebt, wird nur immer schwieriger, je mehr sich bestimmte Kräfte in Rußland etablieren, von denen So sollten wir nicht diskutieren und debattieren. Ich wir eigentlich gehofft hatten, daß sie sich in dieser bitte Sie sehr herzlich: Fordern Sie klare Entscheidun- Form nicht mehr zusammenfinden würden. gen, fordern Sie auch mehr Selbstbewußtsein und 17448 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Ortwin Lowack Interessenbezogenheit unserer gemeinsamen Vertei- Parallele zu Hitler und die Gefahr im Zusammenhang digungspolitik! damit ist vielleicht doch noch etwas anders. Außer in Rußland hat dieser russische Nationalist eine größere Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Fangemeinde wohl vor allem an deutschen Stammti- Kollegen Dr. Ulrich Briefs. schen, an denen sich manch einer sagt: Endlich ist da jemand, der für Rußland das sagt, was wir für Deutsch- land denken oder denken wollen. Vergessen wir Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! nicht: In diesem Land ist mit Hitler einmal ein Schiri- Meine Damen und Herren! Die Entwicklung in der nowski hoch zehn durch Wahlen, durch den Willen NATO und um die NATO herum zeigt, wie notwendig der Bevölkerung an die Macht gekommen. Vergessen nach wie vor eine konsequente Friedenspolitik ist. Die wir nicht: Hitler mußte noch nicht einmal putschen! - Friedensbewegung hat nicht ausgedient. Sie ist gefor- Die Gefahr ist nicht die Bedrohung durch den Herrn dert wie nicht mehr seit dem sogenannten Nachrü- Schirinowski und seine Anhänger. Die Gefahr ist der stungsbeschluß vor mehr als zehn Jahren. Prozeß des weiteren Driftens nach rechts des Bewußt- Die NATO schickt sich an, die Bindung an den seins größerer Teile der Bevölkerung in diesem Verteidigungsauftrag zu verlassen. Schnelle Eingreif Lande. Auch das muß in diesem Zusammenhang klar verbände bzw. sogenannte Krisenreaktionskräfte sol- und deutlich gesehen werden. len außerhalb des NATO-Vertragsgebietes eingesetzt Die Militarisierung der Politik, vor allem der Außen- werden können. Der Unterschied zwischen friedens- politik, wird mit den Ergebnissen des NATO-Gipfels erhaltenden Blauhelmeinsätzen und friedensschaf- weiter vorangetrieben. Das habe ich bereits gesagt, fenden Militärinterventionen soll durch ein Konzept und es ist auch verschiedentlich vor mir schon ange- des sogenannten „peace support", der Friedensunter- sprochen worden. Da paßt ebenso ins Bild, daß die stützung, verwischt werden. deutschen Rüstungsexportbeschränkungen abge- Daß nicht mehr nur die UN, die Vereinten Nationen, baut werden sollen, obwohl Deutschland inzwischen und die KSZE derartige Einsätze autorisieren dürfen, Frankreich und Großbritannien als Rüstungsexpor- daß also die NATO, die im wesentlichen ein Zusam- teure überholt hat. Das besonders Infame an der menschluß reicher Industrienationen mit weltweiten Politik dieser Bundesregierung ist, daß sie mit sozialer Wirtschafts- und Handelsinteressen ist, von sich aus Demontage den Druck auf die Arbeitslosen, deren derartige Out-of-area-Aktionen starten darf, zeigt die Zahl geradezu explosionsartig steigt, erhöht und ganze Brisanz dieser Entwicklung auf. zugleich ausgerechnet im Rüstungsexport neue Das Komitee für Grundrechte und Demokratie weist Beschäftigung schaffen will. So trägt man dazu bei, in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, daß daß eine Bevölkerung weiter korrumpiert wird, die in die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung gegen die weiten Bereichen militärische Stärke eh bewundert. deutsche Verfassung verstößt, die sie zu schützen Unmoralischer und unverantwortlicher kann Politik verpflichtet ist. Diese Verfassung läßt Militäreinsätze nach meiner Auffassung kaum mehr verfahren. Es nämlich nur zur Verteidigung zu. Sie verbietet den wird allerhöchste Zeit, daß diese Bundesregierung Angriffskrieg und gestattet lediglich den Anschluß an durch eine andere, durch eine hoffentlich bessere ein System kollektiver Sicherheit, nicht jedoch den abgelöst wird, die einen konsequenten Abbau der Anschluß und die Mitwirkung in einem System kol- militärischen Präsenz Deutschlands und der NATO lektiver weltweiter Interventionsfähigkeit. betreibt. Es zeigt sich, was für ein riesiger Fehler es war, nicht sofort nach dem Ende der Systemkonfrontation mit Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Briefs, darf konsequenter Abrüstung und mit dem Abbau der ich Sie einen Moment unterbrechen. NATO zu beginnen. Die Aufrechterhaltung der mili- tärischen Stärke Deutschlands und der NATO, wie sie Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident, bitte, in der Zeit des Kalten Krieges mit ungeheurem finan- ich erteile Ihnen das Wort. ziellen und industriell-technischem Aufwand reali- siert wurde, erweist sich nunmehr als grundlegend Vizepräsident Hans Klein: Das Haus hat sich inzwi- falsche politische Entscheidung allerersten Ranges schen an Ihre Gewaltsprache gewöhnt. und leider auch mit sehr, sehr vielfältigen problema- tischen Auswirkungen. (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Es ist entsetz lich!) Der Druck der Interessen, die sich an die NATO und den militärisch-industriellen Komplex in Europa und Es hört Ihnen kaum jemand zu. Da alle amtierenden Nordamerika knüpfen, führt nunmehr zur weltweiten Präsidenten bei anderen Rednern — denen zugehört militärischen Interventionspolitik und zu einer neuen wird — sehr viel strenger mit der Ausdrucksweise Stufe der Militarisierung der internationalen Politik umgehen, wäre mein Rat, Herr Kollege Briefs, die überhaupt. KSZE und Europäische Union werden von aggressive Polemik in der Sprache ein Stückchen der NATO regelrecht aus ihren Funktionen gedrängt. abzubauen. Das würde Ihrer Argumentation mögli- Eine unabsehbare Konfrontation mit dem instabilen cherweise eher zur Seriosität verhelfen. Rußland wird aufgebaut, statt ihm und den anderen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und neuen ost- und südosteuropäischen Demokratien der SPD — Klaus Beckmann [F.D.P.]: Der Sicherheit im Rahmen der KSZE zu geben. Herr bekommt mildernde Umstände!) Was den Herrn Schirinowski betrifft: Ich weiß nicht, ob es so richtig ist, seine Bramarbasiererei, sein Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident, ich idiotisches Drohgerede so ernst zu nehmen. Nein, die will hier keine Auseinandersetzung. Die darf man in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17449

Dr. Ulrich Briefs diesem Zusammenhang sowieso nicht führen. Aber rung des europäischen Rüstungsexportkontroll- wenn die Dinge so sind und wenn sich die wahren rechts im Dual-use-Bereich dafür herhalten müssen, politischen Verhältnisse und das, was hier im Hause den so mühsam erkämpften deutschen Standard wie- langsam diskutiert wird — hier muß man ein bißchen der aufzuweichen. weiterdenken —, so entwickeln, dann ist es durchaus richtig und angemessen, das mit den entsprechenden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Begriffen zu bezeichnen und die Zusammenhänge Noch mehr deutsche Waffen und Rüstungstechno- anzusprechen. Ich glaube, es geht einfach nicht logien sollen ungehinderter als bisher exportiert wer- anders. den können. Dabei schert es diese Kräfte offensicht- Diese Politik ist unmoralisch. Sie ist nicht verant- lich wenig, daß wir schon heute nach den Feststellun- wortungsvoll; das sage ich noch einmal ganz deutlich. gen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Es geht nicht, auf der einen Seite Sozialabbau, soziale SIPRI einen Spitzenplatz unter den Waffenexporteu- Demontage zu betreiben und auf der anderen Seite ren der Welt einnehmen. Offensichtlich plagen diese dafür zu sorgen, daß z. B. gerade in Bereichen wie Interessenvertreter auch keine Skrupel, mit deut- dem Rüstungsexport — das sagt man dann so — neue schen Waffen und Technologien zur Verschärfung Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, Beschäfti- von Krisen und zum Ausbruch von Kriegen einen gung geschaffen werden soll. Ob es tatsächlich so unverzichtbaren Beitrag zu leisten. kommt, ist eine andere Frage. Darüber müßte man (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Lassen Sie mal die eine ganz andere Debatte führen. Kirche im Dorf!) Es wird allerhöchste Zeit — das sage ich nochmals gerade vor dem Hintergrund dieses heutigen The- Mittlerweile geht aber die Diskussion, zuletzt ent- mas —, daß diese Bundesregierung durch eine facht vom CDU-Kollegen Lamers, weit über die mit andere, durch eine bessere abgelöst wird, die — ich der europäischen Harmonisierung des Dual-use- sage es noch einmal — als eines ihrer hauptsächlichen Bereichs zusammenhängenden Probleme hinaus. Ziele einen konsequenten Abbau der militärischen Herr Staatsminister Bohl hält es, unterstützt von ande- Präsenz Deutschlands, die ja völlig überzogen ist, ren, schon für nötig, die rüstungsexportpolitischen Abbau auch in der NATO verfolgen muß und die Grundsätze der Bundesregierung vom April 1982 in gleichzeitig einen Ausbau der ausgleichs- und sicher- Frage zu stellen und weitere Erleichterungen für heitsfördernden Konferenz für Sicherheit und Zusam- Rüstungskooperationen zu fordern, obwohl doch menarbeit in Europa und der Hilfe der Europäischen gerade im Kooperationsbereich dringend Einschrän- Union für Ost- und Südosteuropa unterstützt. kungen statt Erweiterungen geboten sind. Damit werden zugleich Mittel — das ist in diesem Da haben wir nach den bitteren Erfahrungen mit Zusammenhang auch zu sehen — für die riesigen den aufgedeckten Nuklearexporten nach Pakistan, sozialen und wirtschaftlichen Probleme dieses Landes der illegalen Lieferung einer ganzen Giftgasfabrik freigemacht. nach Libyen und der geradezu makabren Ausstattung Verantwortungsvolle Friedenspolitik statt des Saddam Husseins mit Nuklear- und Chemiewaff en- Spiels mit dem Feuer weltweiter militärischer Inter- technologien endlich eine wenigstens leidliche Ver- ventionsfähigkeit muß weiterhin das Ziel verantwor- besserung der deutschen Rüstungsexportkontrollvor- tungsvoller deutscher Politik sein. schriften und -kontrollmechanismen erreichen kön- nen — mit dem Ergebnis, daß sie, kaum geschaffen, Herr Präsident, ich danke Ihnen. jetzt schon wieder zur Disposition gestellt werden sollen. Ich schließe die Ausspra- Vizepräsident Hans Klein: (Vorsitz: Vizepräsidentin ) che und rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde Haben denn all diejenigen, die schon wieder einer Ausweitung des Waffen - und Rüstungsexports so auf Verlangen der Fraktion der SPD lautstark das Wort reden, völlig vergessen, welche Haltung der Bundesregierung zu Vorstellun- Schuld wir auf uns laden, wenn mit deutschen Mas- gen über die Lockerung der Rüstungsexport- senvernichtungstechnologien und konventionellen politik Waffen Konflikte verschärft und Kriege entfesselt Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Her- werden? mann Bachmaier das Wort. Haben Sie, meine Damen und Herren vor allem von der CDU/CSU, auch vergessen, welches Maß an Hermann Bachmaier (SPD): Herr Präsident! Meine Argwohn und Mißtrauen uns Deutschen entgegen- Damen und Herren! Daß es im Bundestag und in der schlug, als während des Golfkriegs die tödlichen Wirtschaft schon immer starke Kräfte gab, denen eine Geschäfte, in die deutsche Firmen verwickelt waren, wirksame Rüstungsexportkontrollpolitik ein Do rn im an das Licht der Öffentlichkeit kamen? Derartige Auge war, ist uns allen hinlänglich bekannt. Daß diese Skandale können wir uns auch aus außen- und Kreise natürlich im Zeichen der Wirtschaftskrise ihre wirtschaftspolitischen Gründen nicht mehr leisten. Stunde gekommen sehen, um ihren altbekannten Durch eine Ausweitung der Rüstungsexporte wären Forderungen wieder zum Durchbruch zu verhelfen, aber Verstrickungen in gegenwärtige und zukünftige konnte auch unschwer vorhergesehen werden. Krisen und Kriege vorprogrammiert. Es war deshalb nicht verwunderlich, daß vor allem Natürlich haben wir auch die Stimmen derjenigen die derzeitig laufenden Gespräche zur Harmonisie- aus der Koalition vernommen, die davor warnen, 17450 Deutscher Bundestag — 12. 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Hermann Bachmaier unser exportpolitisches Heil in einer Ausweitung der urteile, Herr Bachmaier, zu ersetzen, macht die ganze Rüstungsexporte zu suchen. Regierungsunfähigkeit dieser Partei deutlich. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wer will denn (Freimut Duve [SPD]: Nun kommen Sie raus das?) mit der Sprache! Worum geht es?) Wir können nur hoffen, daß ihre Appelle nicht unge- Die Presseerklärungen, die Sie in den letzten Tagen hört verhallen. Wir Sozialdemokraten sind sicher, daß abgegeben haben, lassen an Peinlichkeit, an Verdre- eine Ausweitung der deutschen Rüstungsexporte dem hung, an böswilligen Unterstellungen wirklich nichts Ansehen unseres Landes in der Welt den denkbar zu wünschen übrig. Ich bin sicher, daß selbst sehr größten Schaden zufügen wird. Wir treten daher aus engagierte linksstehende Jou rnalisten davon langsam moralischen, aber auch aus außenpolitischen und die Nase voll haben. wirtschaftspolitischen Gründen dafür ein, Rüstungs-- exporte nicht auszuweiten, sondern weiter einzu- (Freimut Duve [SPD]: Also: Das hat getrof schränken. fen!) Wir fordern die Bundesregierung mit Nachdruck Ich hoffe, daß auch die deutsche Wirtschaft sehr auf, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um bei den aufmerksam zuhört, was Herr Bachmaier gesagt hat gegenwärtig laufenden europäischen Harmonisie- und was die übrigen Redner der SPD hier alles noch rungsgesprächen eine Absenkung des Kontrollnive- von sich geben werden. aus im höchst gefährlichen Dual-use-Bereich zu ver- hindern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Klaus Harries [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bei all den Emotionen und Aufgeregtheiten, die die NEN]) Beiträge der Opposition in der heutigen Debatte gekennzeichnet haben und noch kennzeichnen wer- Wir müssen endlich die Konsequenz ziehen aus der den, Tatsache, daß Frieden nicht mit immer mehr, sondern nur mit immer weniger Waffen geschaffen werden (Freimut Duve [SPD]: Möchten Sie jetzt zum kann. Thema kommen?) Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Gewerkschaf- halte ich es für notwendig, daß wir noch einmal ten und Betriebsräten, die einen wirksamen Schutz klarstellen, um was es in der heutigen Debatte in ihrer Arbeitsplätze nicht in der Kriegswaffenproduk- erster Linie geht. tion, sondern in der Herstellung von hochwertigen friedlichen Produkten sehen. Schauen Sie auch ein- (Freimut Duve [SPD]: Genau!) mal, wie es Japan macht. Dort wird, wenn eine Dabei steht nicht eine Änderung des Kriegswaffen- Wirtschaftskrise ansteht, nicht sofort wieder nach kontrollgesetzes oder der politischen Grundsätze der einer Ausweitung von Rüstungsexporten gerufen. Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen Dort hat man erkannt, daß dies kein Weg aus der Krise und sonstigen Rüstungsgütern aus dem Jahre 1982 zur ist. Debatte, wenngleich eine Vereinheitlichung auf euro- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera päischer Ebene für unsere Technologie und Wettbe- Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] werbsfähigkeit im Zuge unserer gemeinsamen und des Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktions- Sicherheits- und Außenpolitik und im Binnenmarkt an los]) sich langfristig und für bestimmte Bereiche auch kurzfristig eine pure Selbstverständlichkeit sein sollte. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat der Kollege Peter Kittelmann das Wort. Die vorrangige Aufgabe besteht aber zunächst einmal darin, gleiche Wettbewerbs- und Exportbedin- gungen in der Europäischen Union für solche Güter zu Peter Kittelmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! schaffen, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt Meine Damen und Herren! Die Art und Weise, wie die werden können, beispielsweise Fließdruckmaschi- Sozialdemokraten diese Aktuelle Stunde inszenieren nen, Pflanzenschutzmittel, bestimmte Stähle, ja sogar wollen, zeigt, daß sie die eigentlichen Probleme Lastkraftwagen. In den Diskussionen der letzten Tage verantwortlicher Exportpolitik ist zuviel durcheinandergegangen, von Ihnen bewußt gewollt. (Freimut Duve [SPD]: Im Bewußtsein ha ben!) Besonders im Bereich der Dual-use-Güter führt das entweder nicht begriffen haben oder sie unter böswil- Fehlen einer einheitlichen europäischen Regelung zu liger Diffamierung der Bundesregierung nur zu Wahl- gravierenden Wettbewerbsnachteilen. Eine Anhö- kampfzwecken mißbrauchen möchten. rung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion von Verbän- den der Wirtschaft und betroffenen Unternehmen im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dezember 1993 hat deutlich gemacht, daß das deut- Klaus Beckmann [F.D.P.]: Leider wahr! — sche Außenwirtschaftsrecht für diesen Güterbereich Freimut Duve [SPD]: Das Thema ist zu ernst! mit weitgefaßten Auffangtatbeständen und General- — Hermann Bachmaier [SPD]: Seit Jahren klauseln, die auch Dienstleistungen und Ersatzteillie- fällt Ihnen nichts Neues ein!) ferungen betreffen, der gegenwärtigen Wettbewerbs- Der Versuch, ein eigenes sachgerechtes Konzept situation der deutschen Wirtschaft nicht mehr ange- schlicht durch Empörung, Herr Duve, oder Pauschal messen ist. Viele schädliche und nicht gerechtfertigte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17451

Peter Kittelmann Auswirkungen im Dual-use-Bereich waren zum Zeit- Klaus Beckmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine punkt des Erlasses der Bestimmung nicht absehbar; sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! In den denn es mußte schnell reagiert werden. Heute hinge- letzten Tagen haben Probleme der Rüstungsexport- gen ist offenkundig, daß es höchste Zeit ist für eine kontrolle neue Aktualität erlangt; dies nicht zuletzt einheitliche Exportkontrollpolitik in der Europäischen deswegen, weil sich das Bedrohungsszenario der Union. Die nationalen Sonderregelungen müssen letzten Jahrzehnte in jüngerer Zeit ganz erheblich weitestgehend ausgeschlossen werden. gewandelt hat. Die CDU/CSU begrüßt, daß als eine der ersten Dies wiederum hat zu fühlbaren Einbrüchen in der Reaktionen auf die Anhörung bei den zuständigen Nachfrage innerhalb des Bündnisses und damit zu Bundesressorts — dem Wirtschaftsministerium und einer schwierigen wirtschaftlichen Situation bei einer dem Auswärtigen Amt — das Problembewußtsein- Reihe von Rüstungsunternehmen auch in Deutsch- weiter geschärft wurde und die Bundesregierung in land geführt. Hier stellen sich nun Fragen zur Kriegs- den Harmonisierungsverhandlungen in Brüssel Kom- waffenexportkontrolle allgemein, zur Rüstungsko- promißbereitschaft zeigt. Von Geheimverhandlun- operation innerhalb der Europäischen Union und zum gen, wie sich die leider nicht anwesende Kollegin Genehmigungsverfahren hinsichtlich der Dual-use- Wieczorek-Zeul geäußert hat, kann hier keine Rede Güter. sein, es sei denn, sie liest keine Zeitungen oder verfolgt die Politik nicht, die in den letzten Monaten Lassen Sie mich gleich zu Beginn für die F.D.P.- hier öffentlich dargelegt wurde. Fraktion feststellen, daß für uns nach wie vor die Grundsätze zur Rüstungsexportpolitik Gültigkeit Die Bundesregierung verdient viel Lob und Aner- haben, die im Jahre 1982 von der Regierung Schmidt/ kennung für ihren zähen und unermüdlichen Einsatz Genscher aufgestellt worden sind. gegenüber den elf Partnerstaaten für einheitliche Ausfuhrvorschriften und Kontrollen, die dem hohen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne deutschen Standard entsprechen. ten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, in den internationalen Übrigens ist mir bis heute kein vergleichbarer Staat Harmonisierungsverhandlungen kann aber niemand bekanntgeworden, der ähnlich restriktive Vorschrif- seine Vorstellungen per Diktat durchsetzen, wie die ten erlassen hätte. SPD und die GRÜNEN es anscheinend wollen. Es (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der würde wenig helfen, die Augen vor der Wirklichkeit unserer EU-Partner zu verschließen. Insbesondere CDU/CSU) Frankreich und Großbritannien haben da ihre eigene Meine Damen und Herren, die Erfahrungen der Politik. letzten Jahre, insbesondere die Vorkommnisse im Meine Damen und Herren, es ist erforderlich, dar- Zusammenhang mit dem Golfkrieg, haben zu einer über nachzudenken, wieweit unsere nationalen weiteren Sensibilisierung hinsichtlich des deutschen Bestimmungen im Dual-use-Bereich unverändert Verhaltens sowohl im Inland als auch im Ausland bleiben können. Die rasche Vereinheitlichung der geführt. Dem haben der Deutsche Bundestag wie Ausfuhrregelungen in Europa ist und bleibt eine auch die Bundesregierung mit zusätzlichen Restriktio- vordringliche Aufgabe für die Europäische Union. nen auf diesem Sektor Rechnung getragen, nicht zuletzt auch durch die Einrichtung des Bundesaus- Ich bitte darum, von öffentlichen Schuldzuweisun- fuhramts in Eschborn. gen, Verunglimpfungen, Verdächtigungen, aber auch einer bornierten Vereinfachung, wie sie häufig vorge- Nach wie vor trägt die Bundesregierung bei Kriegs- nommen wird, abzusehen. Sie werden der Bedeutung waffenexporten die Verantwortung. Sie entscheidet dieses Problems nicht gerecht. über solche Exporte im Bundessicherheitsrat. Nach Auffassung meiner Fraktion sollte es zukünftig bei Dort, wo die SPD für Wachstum und Arbeitsplätze solchen Einzelfallentscheidungen auch bleiben. Eine verantwortlich ist — siehe Ministerpräsident Schrö- Verlagerung der Verantwortung von der Exekutive der —, wird ganz anders geredet als hier von einzel- auf den Bundestag scheint uns in keiner Weise zweck- nen im Deutschen Bundestag. mäßig oder gar geboten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.) Es fällt uns im übrigen auf, daß bei solchen Debat- tenbeiträgen die linke Garde der SPD-Fraktion das Schwieriger für Deutschland wird es allerdings Wort ergreifen kann, während die anderen erst einmal beim Export von Rüstungsgütern, die durch Rüstungs- ruhig zuhören und innerlich bereits längst überzeugt zusammenarbeit mit Partnerländern der Europäi- sind, daß die Politik, die die Bundesregierung hier schen Union hergestellt werden. Die Erfahrungen der verfolgt, richtig und für unsere Wirtschaft zwingend Vergangenheit haben gezeigt, daß diese Partnerlän- notwendig ist. der nicht gewillt waren, die deutschen Standards für Kriegswaffenexporte nachzuvollziehen. Die der Bun- Schönen Dank. desregierung hierbei verbliebenen Einflußmöglich- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — keiten sind nach meiner Auffassung als äußerst gering Zurufe von der SPD) einzuschätzen. Andererseits kann aber auf die Zusammenarbeit deutscher Rüstungsunternehmen mit Unternehmen in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster anderen Bündnisstaaten nicht verzichtet werden, spricht der Kollege Klaus Beckmann. wenn eine Mindestversorgung der Bundeswehr und 17452 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Klaus Beckmann ein Mindestauftragsstand gewährleistet werden sol- Vielen Dank. len. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Es bedarf auch nicht der Gabe der Prophetie, um vorauszusehen, daß die Bemühungen der Bundesre- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste hat gierung, der deutschen Seite hier ein Vetorecht beim die Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort. Export zu sichern, wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft scheitern werden. Dies entpflichtet die Bundesregierung nach der Meinung der F.D.P.-Frak- Dr. Ruth Fuchs (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! tion aber nicht, sich weiterhin für eine gemeinsame Meine Damen und Herren! Erst vor drei Monaten europäische Rüstungsexportpolitik einzusetzen und debattierten wir in diesem Haus über die Rüstungsex- ihre Überzeugungsarbeit fortzusetzen. portkontrollpolitik. Anlaß war die Besorgnis darüber, daß Deutschland auf einen der vorderen Plätze im Wenn ich in diesem Zusammenhang an die mehr- Rüstungsexport aufgerückt ist, und die Feststellung, fach vertretene Auffassung des früheren Bundesau- daß es trotz vieler guter Ansätze keine ausreichenden ßenministers Hans-Dietrich Genscher erinnere, daß Garantien gegen eine Umgehung der Exportvor- die Außenpolitik niemals zu einer Funktion der schriften gibt. Rüstungspolitik degenerieren darf, so enthebt mich (Zuruf von der CDU/CSU: Sie scheinen die dies nicht der Aufgabe, auf die besonderen Schwie- Gesetze nicht zu kennen!) rigkeiten hinzuweisen, die für deutsche Unternehmen Nun vernehmen wir von Vertretern der Regierungs- und für den Arbeitsmarkt im Bereich der Ausfuhrkon- koalition und sogar aus dem Bundeskanzleramt Vor- trolle für Güter und Technologien mit doppeltem schläge zur Lockerung der Rüstungsexportvorschrif- Verwendungszweck — sogenannte Dual-use-Wa- ten. Deutsche Standards sollen den einheitlichen ren — entstanden sind. Hier hat die Bundesregierung europäischen Richtlinien angepaßt werden. Mit dem die Meßlatte für die Genehmigungen auf Grund der unverfänglichen Ausdruck „Harmonisierung" soll Erfahrungen des Golfkriegs besonders hoch gelegt. das, was im Geheimen zum Teil schon betrieben Unser Land hat hier gar einen Kontrollstandard wurde — ich meine den verdeckten Rüstungsex- erreicht, der weit über dem aller vergleichbaren port —, nun offiziell möglich gemacht werden. Industriestaaten, auch unserer Partner in der NATO und in der Europäischen Union liegt. Die Behauptung, daß die Bundesrepublik ihre wirk- same und restriktive Waffenexportkontrollpolitik ge- Meine Damen und Herren, trotz großer Bemühun- genüber ihren Partnern in der Europäischen Union gen des Bundesausfuhramts werden uns Abgeordne- nicht durchsetzen kann, ist eine Kapitulationserklä- ten immer wieder Klagen der Wirtschaft über ein rung. Ich behaupte: Es ist eine willkommene Kapitu- zögerliches Genehmigungsverfahren vorgetragen lationserklärung; denn über allen Ausflüchten und und auch unvertretbare Folgen dargestellt. Insbeson- verkündeten Halbwahrheiten steht natürlich die dere der Werkzeugmaschinenbau ist hiervon betrof- Frage nach dem großen Geschäft. fen; er hat in diesem Zusammenhang teilweise nicht Meiner Auffassung nach sind es folgende aktuelle akzeptable Erfahrungen machen müssen. Anlässe, die dazu führten, heute wieder die Frage nach einer Lockerung der Rüstungsexportvorschriften Deswegen unterstützt meine Fraktion nachdrück- zu stellen. lich die Bemühungen der Bundesregierung um die Harmonisierung der Ausfuhrkontrollen in den Mit- Erstens ist es die Errichtung und Ausgestaltung des gliedstaaten der Europäischen Union. Wir wissen, daß westeuropäischen Rüstungsmarktes im Rahmen der in Brüssel seit 1992 hierüber verhandelt wird. gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. So besteht wohl die Ansicht, daß Es ist schon jetzt abzusehen, daß die entsprechende es nur über eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik EG-Verordnung zwar einheitliche Kontrollbestim- möglich ist, den deutschen Einfluß auf Sicherheitspo- mungen für die Ausfuhr von Dual-use-Waren aus der litik und Militärstrategie der EU wirksam zu sichern. Gemeinschaft festlegt und gleichzeitig einen mög- Ich bin durchaus für einen stärkeren deutschen Ein- lichst freien Intra-EG-Warenverkehr sicherstellt, daß fluß, aber bitte schön in diame tral entgegengesetzter aber unsere weitergehenden deutschen Regelungen Richtung, d. h. in Richtung einer gesamteuropäischen auf EG-Ebene nicht verbindlich einzuführen sind. Wir restriktiven Rüstungsexportpolitik. fordern die Bundesregierung auf, sich weiterhin für Zweiter Anlaß ist der in Aussicht stehende gewinn- einen möglichst schnellen Abschluß der Verhandlun- trächtige Waffenexport in die sogenannten Schwel- gen einzusetzen. lenländer. Ich nenne als Beispiel Südkorea, Taiwan und Indonesien. Nach Auffassung des Verteidigungs- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)) ministeriums sollten sie heute schon analog den Abschließend möchte ich folgendes sagen. Es NATO-Staaten behandelt werden, obwohl es sich scheint mir, verehrte Kolleginnen und Kollegen, aller- meines Erachtens um eindeutige Spannungsgebiete dings schon jetzt voraussehbar zu sein: Ein Ergebnis, handelt. das sowohl unsere Partner der Europäischen Union Dritter Anlaß ist das weltweite Zurückbleiben der wie des NATO-Bündnisses als auch die deutsche Bundesrepublik im Export der sogenannten Dual- Wirtschaft wie ihre Arbeitnehmer und Unternehmer use-Produkte. Das waren, um in Bildern zu sprechen, sowie die deutsche und die internationale Öffentlich- die Nuklearexporte nach Pakistan, die Giftgasfabrik keit zufriedenstellt, wird es auch zukünftig nicht in Libyen und der Export der Nuklear- und Chemie- geben. waffentechnik an den Irak. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17453

Dr. Ruth Fuchs Letztlich scheint einer der wesentlichen Gründe für Änderung der Richtlinien für den Rüstungsexport von die Forderung nach Lockerung der Exportvorschriften 1982 nicht interpretieren. die künftige politische und ökonomische Entwicklung (Zuruf von der F.D.P.: Was ist das denn für ein zu sein. Wer, wie die meisten osteuropäi- Osteuropas Unsinn?) schen Staaten, in die NATO will, muß auch bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen erfüllen. Dazu — Wir sind doch schon auf den vorderen Plätzen. Von zählt vor allem auch die Standardisierung der Waf- Platz 2 oder Platz 3 auf Platz 1 ist es nur noch ein kurzer fensysteme. Wenn Osteuropa in die NATO drängt, Schritt. dann heißt das, daß es aus der bisherigen einseitigen Nachdem es der Lobby der Exporteure nach jahre- Abhängigkeit von russischen Waffensystemen heraus langem Anrennen gelungen ist, diese Forderung von muß. So entsteht ein riesiger Nachrüstungsbedarf. der CDU in das Parlament tragen zu lassen, ist es nur Man stelle sich z. B. vor, alle osteuropäischen Staaten eine Frage der Zeit, bis alle Verschärfungen der würden mit deutschen Leopard-Panzern und deut- die nach den Irak-Skandalen verab- schem fliegenden Gerät ausgerüstet werden. Hier Exportkontrolle, schiedet worden sind, wieder zur Disposition gestellt winken natürlich für die nächsten Jahrzehnte werden. Offenbar will man die Lehren aus Rabta und Geschäfte in Milliardenhöhe, um die wohl schon dem Irak vom Tisch wischen. Jetzt sollen alle Schleu- gegenwärtig ein verdecktes Ringen zwischen den sen geöffnet werden. Die Harmonisierung in der führenden Waffenexporteuren begonnen hat. Europäischen Union bietet dafür den willkommenen Als ein schwerwiegendes Argument für den Vorwand. Rüstungsexport wird immer das Argument der Siche- rung von Arbeitsplätzen ins das Feld geführt. Meine Es wird allen Ernstes vorgeschlagen, private Koope- Damen und Herren, ich erinnere Sie daran, daß die ration im Rüstungsbereich mit staatlichen Abmachun- Bundesrepublik in der Vergangenheit bei einem rela- gen gleichzustellen. Dafür hat die Bundesregierung tiv geringen Waffenexport weltweit eine führende bekanntlich bereits gegenüber Frankreich und Groß- Position im Technologieexport innehatte. Die Wirt- britanrden auf Einspruchsrechte beim Export von schaftsgroßmacht Japan hat eindrucksvoll bewiesen, Waffen aus gemeinsamen Projekten verzichtet. Also daß technologischer Fortschritt und industrielle Wett- mutet man uns letztlich zu, billigen zu sollen, daß bewerbsfähigkeit auch ohne Rüstungsindustrie mög- private Firmen darüber entscheiden, an welche Staa- lich sind. Es besteht also kein fataler Zusammenhang ten Waffen geliefert werden, die mit deutscher Betei- zwischen Rüstungsexport und Arbeitsplatzsicherung, ligung hergestellt wurden. Denn die gemeinsame höchstens ein Zusammenhang zwischen einer ver- Rüstungsexportpolitik der Europäischen Union, Herr fehlten Wirtschaftspolitik und dem als besonders ein- Kollege Lamers, von der Sie gesprochen haben, gibt es fach erscheinenden Ausweg, über Waffenexporte nicht und wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neu schaffen zu wol- Allein die Einigung über gemeinsame Exportkontrol- len. len für Dual-use-Waren, also sowohl zivil als auch militärisch verwendbare Güter, ist ein Trauerspiel, Herr Kollege Kittelmann, Sie irren sich in einem das sich seit Mai 1992 hinzieht. Bis Ende 1992, zum Punkt, den Sie angeführt haben: Journalisten haben Start des Binnenmarkts, hätte eine Einigung über den nicht die Nase voll, über diesen Sachverhalt zu Vorschlag der EG-Kommission bestehen müssen. diskutieren. Im Radio, und zwar im Bayerischen Man sagt uns j etzt, es werde in den nächsten Monaten Rundfunk, sagte am 10. Januar ein Kommentator ein Kompromiß erzielt; warten wir es ab. folgende treffende Sätze — ich zitiere —: „Wenn die Bundesrepublik tatsächlich ein Exporteur des Todes Der Europäische Rat hat 1992 sieben Kriterien sein muß, um eigene Arbeitsplätze sichern zu können, festgehalten, die angeblich von allen Mitgliedstaaten dann kommt das jedenfalls politisch wie moralisch respektiert werden, aber in der Regelung für Dual- einem Offenbarungseid gleich. Die schönen Worte use-Güter werden die Kriterien allenfalls als unver- von einer Harmonisierung sollten in diesem Zusam- bindliche Richtschnur auftauchen. Von einer gemein- menhang schon gleich gar nicht verwendet werden." samen Exportpolitik, bei der gemeinsame Kriterien Ich habe diesen Worten nichts hinzuzufügen und oder sogar ein Kodex und gemeinsame Listen der als bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. problematisch anzusehenden Empfängerstaaten ak- zeptiert würden, kann überhaupt nicht die Rede (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei sein. Abgeordneten der SPD — Freimut Duve [SPD]: Und das im Bayerischen Rundfunk! — Für Kriegswaffen, die ja wegen Art. 223 der Römi- Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist durch die schen Verträge unter nationalem Vorbehalt stehen, Zensur geflutscht!) hat die Arbeitsgruppe bei der Europäischen Politi- schen Zusammenarbeit noch viel weniger eine gemeinsame Exportpolitik vereinbaren können.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Frau Diese Regierung selbst ist nicht ernsthaft an einer Kollegin Vera Wollenberger. solchen gemeinsamen Politik interessiert; sonst hätte man die portugiesischen Bedenken gegen den Export der 39 Schiffe nach Indonesien ernster genommen und Portugal nicht in der Weise düpiert, wie das gesche- Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hen ist. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland will größter Waffenexporteur überhaupt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden. Anders jedenfalls kann man die Vorstöße zur sowie bei Abgeordneten der SPD) 17454 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Vera Wollenberger Die uns im Namen einer unabsehbaren europäi- präsidenten gestellt werden, die sich für diese Arbeit- schen Rüstungsexportpolitik abverlangte Änderung nehmer verantwortlich fühlen. der Richtlinien für den Rüstungsexport liefe darauf hinaus, die Kontrolle über Rüstungsexporte für einen (Günter Friedrich Nolting [F.D.P.]: Und die bedeutenden Teil abzugeben. Angesichts der beson- der SPD angehören!) deren deutschen Geschichte können Waffenexporte Aber ich möchte hier in aller Deutlichkeit sagen, als Mittel der Außenpolitik und der Einflußgewinnung und das ist die entscheidende Botschaft: Niemand nicht in Frage kommen. Gerade um einen solchen denkt an eine Änderung der Vorschriften des Kriegs- Weg innerhalb der Europäischen Union zu vermeiden waffenkontrollgesetzes, des Außenwirtschaftsgeset- und die zukünftige GASP auf friedliche Mittel zu zes oder an die Neufassung der rüstungspolitischen gründen wäre ein Einstieg der Bundesrepublik in eine- Grundsätze von 1982, die zu einer Aufweichung koordinierte Steigerung der Rüstungsexporte durch unserer Exportpolitik führen könnten. Mitgliedsstaaten der EU ein fatales Zeichen. Vielmehr muß sich die Bundesregierung dafür einsetzen, den (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Verkauf von Waffen zunächst immer stärker allge- ten der CDU/CSU — Hermann Bachmaier meingültigen Regeln wie etwa einem Code zu unter- [SPD]: Wirklich niemand?) werfen und soweit wie irgend möglich einzudämmen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung Dafür soll die Bundesregierung bei den Vereinten muß sich in diesem Zusammenhang mit zwei Themen Nationen, innerhalb der Europäischen Union und in befassen, nämlich erstens: Wie erhalten wir die bilateralen Beziehungen eintreten. Kooperationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft? Im zweiten Halbjahr 1994 hat sie als Regierung des — Indem wir unsere Exportkontrollpolitik für unsere Staates, der den Vorsitz in der Europäischen Union Kooperationspartner in Europa und in der NATO innehat, alle Gelegenheit, sich für eine gemeinsame berechenbar machen. Da gibt es Probleme: tatsächli- Rüstungsexportpolitik und eine Eindämmung des che Probleme bei einigen unserer Kooperationspart- Rüstungsexports einzusetzen. Dazu gehören verbind- ner, was die Zusammenarbeit mit den Deutschen liche Richtlinien für den Rüstungsexport, die sich an angeht, und auch solche, die von Dritten vorgescho- den Kriterien anlehnen können, die vom Europäi- ben werden, die an Geschäften interessiert sind und schen Rat 1992 zusammengestellt worden sind. die Deutschen immer unberechtigterweise in die Ecke stellen. Das wollen wir verhindern. Das ist der erste Insbesondere bei gravierenden Menschenrechts- Punkt. Der zweite ist: Wie handhaben wir die Harmo- verletzungen und bei Vorliegen eines internationalen nisierung der Exportkontrollen für sogenannte Dual- Staatsverbrechens, z. B. dem illegitimen Einsatz von use-Güter in Europa? bewaffneter Gewalt, bei Unterdrückung des Rechts auf Selbstbestimmung, bei Völkermord etc., darf kein Lassen Sie mich mit dem Kooperationsaspekt im Mitglied der EU Waffen liefern. Unsere Gruppe hat Rüstungsgüterbereich beginnen. Ich glaube, ich brau- deshalb einen Antrag zur Verankerung eines che nicht näher zu erläutern, daß Kooperationen für Rüstungsexportverbots in der Verfassung vorgelegt, uns unverzichtbar sind. Dafür sprechen verteidi- den wir ja demnächst hier im Plenum beraten wer- gungspolitische und bündnispolitische Gründe und den. auch wirtschaftlich-finanzielle Erwägungen. Vielen Dank. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bei den regierungsamtlichen Kooperationen gibt es und bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abge- auf der Grundlage der exportpolitischen Grundsätze ordneten der SPD) von 1982 ein bewährtes Verfahren. Schwieriger ist es bei den Kooperationen, die nicht von Anfang an durch Regierungsabkommen begleitet sind. Eine solche Kooperation ist durch die Unsicherheit belastet, ob die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Herr gemeinsam hergestellten Produkte letztlich angemes- Bundesminister Rexrodt. sen verwertet werden können. — Das ist der Einstieg für diejenigen, die uns da immer in eine Ecke stellen wollen. Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Wir sind jetzt im Gespräch mit anderen Ressorts Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer fair dabei, Lösungen zu entwickeln, die zu größerer Vor- ist, auch aus den Reihen der Opposition, muß zuge- hersehbarkeit führen. Zu denken wäre an die Mög- ben, daß sich die Exportkontrollpolitik der letzten lichkeit, die Prüfung der Zulässigkeit späterer Jahre bewährt hat. Es ist uns — gewiß auch unter Exporte, wie bei der regierungsamtlichen Zusammen- wirtschaftlichen Opfern — gelungen, internationale arbeit, für alle nachfolgenden Fälle an den Anfang Anerkennung zu finden, und die Stimmen, die uns einer Kooperation zu stellen. Es ist also nicht so — wie stark kritisiert hatten, sind verstummt. Es hat aller- hier gesagt wurde —, daß wir die Privaten allein dings auch weltweite Veränderungen gegeben, die es machen lassen wollen. Es ist umgekehrt vielmehr so, rechtfertigen zu überlegen, wie unsere Exportkon- daß wir von der Regierungsseite schon von Anfang an trollpolitik darauf reagiert. in die Verhandlungen mit eingreifen und informiert Es ist ganz natürlich — das ist auch von Ihrer Seite sein wollen. Ich bin überzeugt, daß ein solches Ver- gesagt worden —, daß in Zeiten steigender Arbeitslo- fahren ein ausreichendes Maß an Verläßlichkeit für sigkeit Fragen von Firmen gestellt werden, in denen unsere Kooperationspartner in Europa und in der Entlassungen stattfinden, daß Fragen von Minister- NATO schafft. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17455

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Ich wiederhole noch einmal — damit das endlich ein wenn er es für sich für verantwortlich und für ange- Ende hat —: Eine Änderung unserer Exportpolitik und bracht hält, zusätzliche Kontrollen vorsehen. der exportpolitischen Grundsätze von 1982 kommt Noch ist die oberste Grenze der Kompromißbereit nicht in Betracht, steht nicht zur Diskussion. schaft bei den übrigen Mitgliedstaaten nicht ausgelo- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tet. Es steht jedoch fest, daß die Bundesregierung entscheiden muß, ob sie mit ihrer Zustimmung zu den Nun der zweite Aspekt, die Kontrollen im soge- vorgesehenen EG-Verordnungen gleichzeitig auch nannten Dual-use-Bereich: Es geht hierbei nicht Abstriche von ihren weitergehenden nationalen Kon- — das wird in der öffentlichen Diskussion häufig trollregelungen im konventionellen Sektor vorneh- vermengt — um Rüstungsgüter oder um für Rüstungs- men wird. Bei der Abwägung zwischen einheitlicher güter speziell hergestellte Einzelteile. Es geht viel- europäischer Lösung und der Notwendigkeit etwaiger - mehr um Güter, die in großer Zahl produziert werden nationaler Zusatzmaßnahmen wird die Bundesregie- und die in der Regel für zivile Zwecke, zum Teil aber rung prüfen müssen, ob unsere sogenannte Auffang- auch für militärische Zwecke verwendet werden. Für norm für Zulieferungen im konventionellen Bereich diesen großen Warenkreis werden in Brüssel seit 1992 auf sensitive Kernländer eingeschränkt werden soll, Verhandlungen geführt mit dem Ziel der Harmonisie- ob die Dienstleistungen und der nichtdokumentierte rung der heute noch unterschiedlichen Exportkon- Wissenstransfer wirklich weiterhin gegenüber dem trollsysteme in den zwölf Mitgliedstaaten durch Ver- bisherigen weitgefaßten Länderkreis kontrolliert wer- abschiedung einer einheitlichen EG-Verordnung. den sollen. Wer wollte dagegen etwas haben, daß dies harmoni- siert wird? Deutschland, meine Damen und Herren, wird auch in Zukunft kein Standort für bedenkenlose Waffenex- Die Bundesregierung hat sich in diesen Verhand- porteure sein. Die hohen Strafdrohungen bei Verlet- lungen von Beginn an mit allem Nachdruck für eine zungen des deutschen Exportkontrollrechts bleiben europäische Lösung auf hohem Kontrollstandard unverändert. Auf der Grundlage unserer bewährten eingesetzt. Wir haben auf die Konsequenzen verwie- und anerkannten Politik haben wir auf Entwicklun- sen, die wir alle aus den Ereignissen z.B. in Libyen, im gen in Europa und im Bündnis zu reagieren. Wir Irak oder Iran ziehen müssen. Die Verhandlungen in können und wollen uns nicht abkoppeln. Es ist unfair, Brüssel haben jedoch gezeigt, daß keines der anderen uns bei den vernünftigen und verantwortungsbewuß- elf Mitgliedstaaten bereit ist, alle Elemente unseres ten Überlegungen, die wir anstellen, zu unterstellen, hohen Kontrollstandards zu übernehmen. Gleichwohl wir würden unsere Rüstungsexportkontrollpolitik zeichnen sich wichtige Teilerfolge ab: ändern wollen. Das ist nicht der Fall. Alle zwölf Mitgliedstaaten werden ihre Exportkon- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) trollen für Dual-use-Güter im wesentlichen auf eine Die Aufregung der letzten Tage ist nicht ange- stützen. Das schafft auch ein einheitliche Warenliste bracht. wichtiges Stück Wettbewerbsgleichheit für die Unter- nehmen in Europa. Dies kommt; dies läuft. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Außerdem wird man sich bei den Dual-use-Gütern, die nicht auf einer Warenliste stehen und die zur Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nunmehr spricht Herstellung von Massenvernichtungswaffen oder von der Kollege Gernot Erler. sie tragenden Raketen verwendet werden können — so wie die Dinge jetzt in Brüssel stehen —, auf einen guten Kontrollstandard einigen, der unserem hohen Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen Kontrollstandard entspricht. und Herren! Der Herr Bundesminister für Wirtschaft Bei den Kontrollen für Dual-use-Güter, die für hat soeben zu einem Verwirrspiel beigetragen, das Zwecke der konventionellen Rüstung, also nicht für jetzt seit Monaten hier inszeniert wird, Massenvernichtungswaffen und deren Träger, ver- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Also, wer ver wendet werden können, wird die vorgesehene EG- wirrt denn seit Monaten?) Verordnung nicht den von uns geforderten und in unserem Kontrollsystem verankerten Standard für alle und das zu einem Thema, das damit einen öffentlichen Staaten verbindlich festschreiben können. Es wird Raum einnimmt, der ihm überhaupt nicht zusteht. — anders als bei den Dual-use-Gütern für Massenver- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Die SPD ist nichtungswaffen — keine verbindliche Kontrollrege- verwirrt, sie verwirrt und wird weiter verwir lung für die Lieferung nichtgelisteter Waren im ren!) Bereich der konventionellen Rüstung geben. Auch Wir sind Zeugen eines Theaterstücks, das Sie hier werden den Kontrollregeln für Dienstleistungen und unter dem Thema „europäische Harmonisierung" sensitiven Wissenstransfer nicht für alle zwölf Mit- aufführen, indem Sie auf der einen Seite sagen, Sie gliedstaaten verbindliche Feststellungen folgen. wollten ja gar nicht an die deutsche Selbstbeschrän- Es bleibt aber dabei nach derzeitigem Verhand- kung heran, auch nicht an die Ausfuhrgesetze, an das lungsstand ein gewisser Freiraum für zusätzliche Kriegswaffenkontrollgesetz, während auf der ande- nationale Regelungen; darauf will ich kommen. Dies ren Seite Herr Kittelmann oder auch Herr Lamers von ist zwar einerseits ein Mangel, weil es insofern nicht dem wünschenswerten Erhalt von Tausenden von gelungen ist, für alle Unternehmen des europäischen Arbeitsplätzen sprechen. Da fragt man sich, wie Sie Binnenmarktes einheitliche Regelungen verbindlich das eigentlich hinkriegen wollen, etwa nach der festzulegen; andererseits kann aber ein Mitgliedstaat, Methode „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht 17456 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Gernot Erler naß! "? Da haben Sie, Herr Rexrodt, soeben auch keine daß die nationale Nachfrage nach Rüstungsgütern Klarheit hineingebracht. zurückgeht. Wir haben Sie immer aufgefordert, dem (Zuruf von der F.D.P.: Zuhören und verste- entgegenzusteuern: durch Hilfen für Diversifikation, hen!) durch Hilfen für Konversion. Unseren Vorschlägen sind Sie nie gefolgt. Jetzt wollen Sie an der Schraube Eines steht aber als Folge aus der ganzen Sache fest: Rüstungsexport drehen. Das Ziel, das Sie erreichen wollen, nämlich Erhaltung (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: und Sicherung von Tausenden von Arbeitsplätzen, Quatsch!) können Sie nur über mehr deutsche Exporte von Dual-use-Gütern und von Kriegswaffen erreichen. Ich darf Ihnen abschließend ein Zitat aus einer Das ist sowieso schon in der ganzen Tendenz ange- Zeitung bringen, die nicht verdächtig ist, daß sie sich legt, meine Damen und Herren. Das passiert ja alles industriefeindlich geriert. Peter Gillies hat am 5. Ja- schon seit einiger Zeit. Es ist schon zitiert worden, daß nuar in der „Welt" folgendes geschrieben: das angesehene SIPRI-Institut uns vorrechnet, daß Waffenexporte sind keine konjunkturellen Not- Deutschland jetzt schon drittwichtigster Waffenexpor- helfer. Die Prinzipien, nach denen geliefert oder teur der Welt ist. Wollen Sie denn über diese Methode verweigert wird, dürfen nicht von zyklischer Art erreichen, daß wir Rußland oder Amerika noch über- sein. Von der Mittelmacht Deutschland wird holen? langfristige Verläßlichkeit auf diesem heiklen Ich beziehe mich auf Zahlen aus Ihrem Hause, Herr Terrain erwartet. Rexrodt, wenn ich hier bekanntmache, daß im Jahre (Karl Lamers [CDU/CSU]: Genau! Darum 1992 Rüstungsgüter nach Teil I Abschnitt A der geht es!) Ausfuhrliste für 9 Milliarden DM exportiert wurden, — Herr Lamers, Sie werden ja gleich Gelegenheit Dual-use-Güter für 20 Milliarden DM, daß aber allein haben, sich dazu zu äußern. in den ersten drei Quartalen des letzten Jahres schon Rüstungsgüter für 10 Milliarden DM exportiert wur- (Zuruf von der F.D.P.: Gott sei Dank!) den und Dual-use-Güter für 22,42 Milliarden DM, so Ist das nicht eine berechtigte Forderung an Sie, gerade daß schon klar ist, daß vor dieser ganzen Debatte im wenn man die Weltpolitik anschaut? Ich weiß, daß Sie Jahr 1993 mindestens 25 % mehr Rüstungs- und dafür sensibel sind. Wie wollen Sie denn von diesem Dual-use-Güter exportiert wurden. Das ist die reale Platz irgendwann noch mal russische Politik, die Entwicklung und ein sehr interessantes Faktum, das Politik von Ländern, die viel ärmer sind als wir, gestern Gegenstand der Fragestunde war, daß näm- kritisieren, die sich plötzlich auf Rüstungsexport lich mit deutschen Steuergeldern über Hermes-Bürg- zurückbesinnen und sagen: „Nix mehr Konversion, schaften im letzten Jahr das Dreifache der üblichen wir behalten unsere Kapazitäten. Wenn ihr als reiches Förderung von Rüstungsexporten stattgefunden hat, Industrieland Deutschland es zum Prinzip macht, eure immerhin in der stattlichen Größe von 2,26 Milliarden Konjunktur über mehr Rüstungsexporte zu sanieren, DM. dann können wir das schon lange." Sie verlieren jede moralische Berechtigung — das hat viel mit unserer (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist doch Sicherheitspolitik zu tun —, darauf mit dem kritischen so falsch!) Finger zu zeigen. — Das ist eine Vorlage aus dem Finanzministerium, (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann für die ich nicht die Verantwortung trage. [CDU/CSU]: Ist nicht anhörbar! — Christian In Wirklichkeit ist aber der Anteil, den in Deutsch- Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Steht doch in land Arbeitsplätze an diesem ganzen Bereich der dem Papier überhaupt nicht d rin!) Rüstungsgüterproduktion und Dual-use-Güter-Pro- duktion haben, wesentlich geringer, als das in diesem Theaterstück hier immer behauptet wird. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der Kollege Lamers. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das machen Sie mal den Leuten klar, die da arbeiten!) In Wirklichkeit sind Arbeitsplätze in Deutschland zu Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ver- 1,35 %, Herr Kittelmann, von Rüstungsexport und von ehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Erler, ich bin Rüstungsproduktion abhängig, und bei Dual-use- wirklich dankbar, daß ich zumindest den Versuch Gütern sind es 3 %. machen kann, aufzuklären. Ich meine allerdings, daß dies nach dem, was Minister Rexrodt, Kollege Kittel- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wieviel Ar- mann und andere gesagt haben, und nach dem, was beitsplätze sind das umgerechnet? — Chri- wir alle schon häufig im Auswärtigen Ausschuß dis- stian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: 100 000 kutiert haben, nicht mehr notwendig sein sollte. Arbeitsplätze!)) Worum geht es? — Es geht erstens um eine gemein- Sie versuchen uns von Ihrer Verantwortung, von same europäische Verteidigung. Sie wissen, daß ich Ihrer Ratlosigkeit in der allgemeinen Konjunkturpoli- dazu auch in ganz anderen Zusammenhängen immer tik und von Ihrer Verantwortung für — mangelnde — wieder rede. Da sind wir in der Tat ein Stückchen Vorsorge für die voraussehbaren Rückgänge von auseinander. Bei dem, was Sie auf Ihrem letzten Rüstungsnachfrage abzulenken. Wir wissen seit 1990 Parteitag zur Westeuropäischen Union beschlossen von dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, in dem über die haben, wird ganz deutlich, daß Sie die europäische Verringerung der Bundeswehr international eine Ver- Verteidigung scheuen wie der Teufel das Weihwas- abredung getroffen wurde. Seit damals wissen wir, ser, weil Sie nämlich in Ihrem quietistischen Ruhebe- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17457

Karl Lamers dürfnis durch diese europäische Verteidigung gestört U-Boote nach Taiwan verkaufen. Ich wie die Mehrheit werden könnten. meiner Fraktion und der F.D.P. waren dagegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Zuruf des Abg. Gernot Erler [SPD]) sowie des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) So ist doch die Wirklichkeit! Sie versuchen, uns hier — Sie vielleicht nicht, aber andere sehr wohl. als die Rüstungslobby zu verkaufen. So einfach ist es Zweitens. Daß eine gemeinsame europäische Ver- doch nicht. Übrigens, schon der ehemalige Bundes- teidigung auch einen gemeinsamen europäischen kanzler Schmidt hat seinerzeit U-Boote nach Chile Rüstungsmarkt umfassen muß, ist sicher eine Feststel- ausdrücklich mit diesem Argument verteidigt, wäh- lung, der Sie nicht widersprechen werden. rend wir immer gesagt haben, die Außen- und Sicher- heitspolitik muß den Ausschlag geben. Dabei wird es Drittens. Daß zu einer gemeinsamen europäischen auch bleiben. Verteidigung und zu einem gemeinsamen europäi- schen Rüstungsmarkt auch eine gemeinsame Rü- Daß sich aber nun eine gemeinsame Rüstungsex- stungsexportpolitik gehört, werden wir sicherlich portpolitik Europas nicht nur an den deutschen Vor- auch noch übereinstimmend feststellen. stellungen ausrichten wird, das ist doch auch klar. Es wird einen Kompromiß geben müssen. Die anderen Und: Der Europäische Rat in Lissabon wie in Maas- sind nämlich auch darauf angewiesen, daß wir das tricht hat auch gesagt: Jawohl, wir müssen die wir- machen. So, da mag es sein, daß es ein bißchen mehr schaftlichen Aspekte der Sicherheit und damit auch — viel mehr wird es nicht sein können — deutschen das Rüstungskontrollsystem überdenken. — Viel- Rüstungsexport geben wird, aber insgesamt vielleicht leicht wird Minister Kinkel uns gleich etwas über den weniger europäischen. Und Donnerwetter noch mal: Fortgang der Überlegungen berichten, von denen ich Ist das nicht ein Ziel, für das wir uns gemeinsam glaube, daß sie weiterreichend sind, als allgemein einsetzen können? bekannt ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hinzu kommt das Problem der Kooperation; das kennen Sie doch nun ganz genau. Kooperation ist ein Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Muß für jede Rüstungsproduktion. Es geht gar nicht lege Ulrich Irmer das Wort. anders. Welche Probleme dabei entstehen, hat Mini- ster Rexrodt soeben klar und deutlich gesagt. (Zuruf: Nein, Bundesminister Kinkel!) — Gut, dann erteile ich nun Bundesminister Kinkel Es geht um Kooperation, und es geht um Erhaltung das Wort. der Kapazitäten in Deutschland, damit wir überhaupt kooperationsfähig sind. Ich zitiere, Herr Kollege Bach- maier, die Betriebsräte, von denen Sie soeben gespro- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: chen haben, so z. B. den Betriebsrat der Rheinmetall Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deut- vom 11. Januar dieses Jahres, also taufrisch. Wahr- sche Rüstungsexportpolitik muß sich in die auf Wah- scheinlich hatten die schon gehört, was ich zu diesem rung des Friedens gerichtete deutsche Außen- und Thema gesagt habe. Also: Sicherheitspolitik einfügen. Dies entspricht Wertent- scheidungen, die seit der Verkündung des Grundge- Wir treten der Auffassung des niedersächsischen setzes in unserem Land parteiübergreifend fest veran- Ministerpräsidenten Gerhard Schröder bei, kert sind. — den zitieren wir ja immer wieder gern — (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) der es für „sinnvoll hält, die Bundeswehr mit in Diesen parteiübergreifenden Konsens über unsere Deutschland produzierten Waffen auszurüsten". restriktiven exportpolitischen Grundsätze von 1982 Dies wird aber nur möglich sein, wenn die deut- — das ist hier schon mehrfach betont worden — wollen sche wehrtechnische Industrie für internationale und werden wir nicht aufgeben. Übrigens ist dies nicht Rüstungskooperationsprogramme in der EU und nur eine Frage unserer Wertorientierung, sondern im NATO-Bündnis wieder zuverlässig und part- auch unserer langfristigen eigenen — deutschen — nerschaftsfähig wird. Interessen. Kurzfristige Gewinne würden den Schaden nicht Ja, die haben zu Recht Zuverlässigkeit gefordert, und aufwiegen, der Deutschland und insbesondere auch genau das ist es, was wir wollen. Das ist aus dem, was der deutschen Wirtschaft durch Verlust von Ansehen Minister Rexrodt gesagt hat, sehr deutlich hervorge- und Glaubwürdigkeit, durch Verwicklungen in Kon- gangen. flikte anderer Staaten und durch wirtschaftliche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Abhängigkeit von der Waffennachfrage anderer Län- Zuruf des Abg. Gernot Erler [SPD]) der entstehen könnte, wenn wir uns aus diesem Grundkonsens herausbewegen würden. Und jetzt zu dem Ziel: Wie sollen die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die gemeinsame (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Rüstungsexportpolitik aussehen? Ich habe immer SPD) gesagt, Kollege Erler, die Außen- und Sicherheitspo- Ich sage eingangs auch bewußt, daß Politik und litik muß — wie im Vorsatz zu unseren bestehenden Wirtschaft die Lehren aus den Folgen verantwor- Rüstungsexportrichtlinien — das entscheidende Kri- tungsloser Exporte einzelner Firmen Ende der 80er terium bleiben, nicht der Arbeitsplatz — ganz im Jahre nicht vergessen sollten und nicht vergessen Gegensatz zu Ihrem Herrn Schröder. Der wollte die dürfen. Wir dürfen im übrigen auch nicht zulassen, 17458 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel daß unsere Sicherheit in Zukunft durch solche Exporte deutschen Wirtschaft wiederherzustellen — ange- bedroht wird. sichts der weltweiten Interessen unserer Industrie Ich sage mit Nachdruck: Ja, wir wollen wieder auch von eminenter wirtschaftlicher Bedeutung und Exportweltmeister werden, aber bei zivilen Gütern, nicht zu unterschätzen. nicht bei Waffen. Wirksame Exportkontrollen und faire Wettbewerbs- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der bedingungen erfordern aber auch eine einheitliche SPD und der PDS/Linke Liste) Regelung im internationalen Rahmen. Das gilt sowohl für die Europäische Union als auch anderswo. Deshalb warne ich in diesem Zusammenhang vor Hauruck-Entscheidungen. Dafür ist die Sache zu Herr Rexrodt hat den Verhandlungsstand, die Pro- sensibel. Ruhiges, vernünftiges Abwägen — kein bleme und die Aussichten bei den Verhandlungen „Übers-Knie-Brechen" — ist dringend notwendig. über eine einheitliche europäische Unionsregelung dargestellt. Sie ist in Reichweite. Sie entspricht zwar (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) nicht allen deutschen Vorstellungen, aber ganz wich- Aber wir müssen — ich weise nachdrücklich darauf tig ist: Unsere Erfahrungen sind eingeflossen, und sie hin — natürlich auch die Interessen unserer Wirt- werden berücksichtigt. sehen, und die sehe auch ich. schaft Wir sind kompromißbereit. Wir müssen das sein, (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!) erwarten dies aber auch von unseren Partnern und setzen uns nachdrücklich für einen zügigen Abschluß Die Bundesregierung verfolgt mit ihrer Rüstungsex- der Verhandlungen ein. Ich selber habe das wieder- portpolitik drei große Ziele: holt — gerade auch in letzter Zeit — getan. die Wahrung unserer nationalen und europäischen Sicherheitsinteressen, Im Bereich der Waffenexporte sind Harmonisie- rungsbemühungen noch schwieriger, weil die Waf- die Berücksichtigung der berechtigten Anliegen fenexportpolitik noch enger mit dem herkömmlichen der Wirtschaft und Verständnis der Partner von Souveränität und Außen- die Verhinderung der ungezügelten Verbreitung politik zusammenhängt. Da gibt es eben nicht nur von Massenvernichtungswaffen, aber auch von kon- einen deutschen Sonderweg, sondern — ich muß das ventionellen Waffensystemen. leider deutlich und klar sagen — es gibt allein in der Europäischen Union zwölf Sonderwege. Nach dem Ende des Ost - West - Konflikts braucht die Welt zur Zeit, Gott sei Dank, zur Sicherung des Trotzdem ist Beträchtliches erreicht worden. Die Friedens weniger Waffen; Grund zur Freude und Europäischen Räte von Lissabon und Maast richt zugleich große Chance, die Kräfte der Menschheit den haben dieses Thema zu einem Aktionsfeld der neuen eigentlich drängenden Friedensaufgaben zuzuwen- gemeinsamen Außenpolitik gemacht, und bereits jetzt den. gibt es konkrete Ergebnisse der Zusammenarbeit. Acht wur- Ich verkenne auf der anderen Seite nicht die wirt- gemeinsame Kriterien für Waffenexporte den ausgearbeitet. Diese acht Kriterien waren dann schaftlichen Probleme, die daraus für einen hochspe- zialisierten Industriezweig in unserem Land entste- Grundlage für die im November 1993 in der KSZE hen. Die Lösung dieser — nicht auf Deutschland angenommenen Grundsätze für den Transfer konven- tioneller Waffen. Zugegeben, das ist erst ein Anfang. beschränkten — Probleme kann nicht in einer Export- offensive für Waffen liegen. Aber: Wir brauchen eben Aber auf ihm kann aufgebaut werden. Es ist noch viel auch Industriekapazitäten, die unsere Verteidigungs- Überzeugungsarbeit bei unseren Partnern notwen- fähigkeit, unsere Bündnisfähigkeit und unsere Koope- dig. rationsfähigkeit im Bündnis gewährleisten — übri- Ein letzter wichtiger Punkt: Nach intensivem — u. a. gens auch als Basis für Mitsprache und Einfluß. deutschem — Bemühen ist es gelungen, das langwie- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Erich rige und politisch überholte COCOM - Verfahren G. Fritz [CDU/CSU]) abzuschaffen. Dies wird den Wirtschaftsaustausch mit unseren Nachbarn und Partnern im Osten erleichtern. Das heißt: Die deutsche Indus trie muß in diesen An die Stelle von COCOM soll ein neues internatio- Bereichen auch kooperationsfähig bleiben. Dazu wol- nales Arrangement treten, das nicht mehr auf dem len wir beitragen — durch ganz bestimmte Verfah- Ost-West-Gegensatz beruht. Es soll sich auf flexible rensvereinfachungen. Weise — ähnlich wie die bestehenden Nichtverbrei- Die Genehmigungspraxis überprüfen wir ständig. tungsregime — der Abstimmung der Exportkontrollen Vieles ist schon vereinfacht und beschleunigt. Aber für Waffen und Rüstungsgüter auf der einen und für wir werden die Probleme letztlich nur auf internatio- Dual-use-Güter auf der anderen Seite annehmen. naler Ebene in den Griff bekommen. Darum arbeitet Dies bedeutet einen wichtigen Beitrag zur internatio- die Bundesregierung auch für eine Harmonisierung nalen Harmonisierung, die von der deutschen Wirt- der Exportkontrollsysteme. schaft gefordert wird. Die bestehenden Nichtverbrei- tungsregime für die besonders sensitiven ABC- und Zu unterscheiden ist zwischen den Kontrollen für Raketenbereiche zeigen — ich glaube, daß das ganz Dual-use-Güter und für Waffen. Bei Dual-use-Gütern besonders wichtig ist, weil wir es anstreben, weil wir haben wir nach den Erfahrungen mit Rabta und nach es wollen —: Eine Harmonisierung auf hohem Niveau Zulieferungen deutscher Firmen in den Irak die Kon- ist durchaus möglich. trollen verschärft. Gemeinsam mit den Anstrengun- gen der Indus trie hat dies geholfen, den guten Ruf der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17459

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Frau Ich bin überzeugt, daß unsere Verhandlungsführer, Kollegin Dr. Leonhard-Schmid. die Beamten des Wirtschaftsministeriums, in Brüssel ihr Bestes gegeben haben, ehrlich bemüht waren und überzeugend argumentiert haben. (SPD): Frau Präsidentin! Dr. Elke Leonhard-Schmid Um Mißverständnissen vorzubeugen, wiederhole Meine Damen und Herren! Mit dem Zusammenbruch ich dennoch: Es geht nicht um Kriegswaffen, es geht der Sowjetunion verfielen wir der Illusion, eine Ära auf europäischer Ebene um Werkzeugmaschinen- der Abrüstung und des Friedens sei angebrochen. Die und Anlagenbau. Es waren deutsche Unternehmen, Wirklichkeit sieht anders aus. Niemals seit dem Zwei- die dem Libyen Gaddafis zur Produktion von Giftgas ten Weltkrieg gab es mehr bewaffnete Auseinander- verhelfen wollten, es waren deutsche Unternehmen, setzungen, ja, mehr Kriegstote als in unseren Tagen. die im Irak Saddam Husseins an der Atombombe Die Realität läßt, so fürchte ich, keinen Raum für- bauten. Träume von einer friedlichen Welt ohne Waffen und Gewalt. (Zuruf von der F.D.P.: Aber illegal!) . Wir sind verpflichtet, an der Beendigung dieser Hier, im Mißbrauch deutscher Unternehmen, liegt das Konflikte mitzuwirken. Frieden stiften und sichern Problem, das wir in den Griff bekommen müssen. Im kann aber nur, wer zweifelsfrei kein eigennütziges Klartext: Wir haben die schärfsten Exportbestimmun- Motiv an der Fortdauer jener Auseinandersetzungen gen und trotzdem die größten Probleme. Hier muß hat. Mit anderen Worten: Ein Staat, dessen Volkswirt- eine neue Konzeption her; sonst können wir einem schaft von Rüstungsexporten und damit von Kriegen europäischen Kompromiß nicht zustimmen. profitiert, ist als Vermittler grundsätzlich untauglich. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben die (Beifall bei der SPD) größten Probleme!) Andererseits gibt es das Recht der Sicherheit demo- Unbedingte Voraussetzung: Die Lücke, die dann in kratischer Systeme. Diese Sicherheit ist gegenwärtig, unserem Exportrecht entsteht, ist vorher zu schließen. auch wenn wir anderen Lösungen den Vorrang geben Lassen Sie mich einige Möglichkeiten aufzeigen. möchten, nur durch Wehrhaftigkeit und durch Rüstung realisierbar. Grob vereinfacht lautet die Erstens. Änderung des Strafgesetzbuchs. Die Mit- Kernfrage also: Unterstützt Rüstungstechnologie ei- wirkung Deutscher an militärischen Projekten im gene legitime Interessen, oder dient sie lediglich dazu, Ausland und die Zulieferung von Waren für militäri- militärische Ambitionen zu fördern? sche Projekte muß unter Strafe gestellt werden, und zwar über das Schattendasein bloßer nebenstrafrecht- Die Regierung Schmidt/Genscher verabschiedete licher Folgen bei Verletzung von Genehmigungs- am 28. April 1982 — mit dem zentralen Ziel eben jener pflichten hinaus. Was nötig ist, ist ein Strafrechtstat- Unterscheidung — die Grundsätze der Bundesregie- bestand mit empfindlichen Sanktionen. Wir müssen rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen im Bereich des Rüstungsexports umdenken. Sanktio- Rüstungsgütern. Die Regierung Kohl übernahm diese nen dürfen nicht länger allein an fehlende Genehmi- Grundsätze seinerzeit. Wohlweislich hat sie den gungen gebunden sein, sondern müssen ihre Begrün- begleitenden Briefwechsel mit den Fraktionsvorsit- dung im Strafgesetzbuch finden. zenden offensichtlich ad acta gelegt. Ich würde Ihnen raten, diesen einmal vorzuholen. Eben da liegt der Zweitens. Verträge mit sensitiven Empfängerlän- Unterschied zwischen Ihrer und unserer Seite. Er ist dern. Der Mißbrauch von Exportartikeln zu militäri- eindeutig dokumentiert. schen Zwecken muß empfindliche wirtschaftliche Nachteile für die entsprechenden Empfängerländer Seit 1982 hat sich der Rahmen politischen Handelns haben. Nur so kann die tatsächliche zivile Nutzung deutlich verändert. Neu ist, daß im Gegensatz zu 1982 deutscher Produkte dauerhaft gewährleistet wer- unsere Forderung nach weiterer Verschärfung der den. Rüstungsexportkontrolle nicht allein in ethisch-mora- lischer Überzeugung, sondern in den realen Vor- Und drittens. Eine neue Qualität in der Außen- und kommnissen der jüngsten Vergangenheit wurzelt, Außenwirtschaftspolitik. Dies verlangt auch eine daß wir uns in der tragischen Situation befinden, auf Änderung des politischen Klimas im Inneren. Es muß Erfahrungen des Mißbrauchs deutscher Exporte zu unser außenpolitisches und außenwirtschaftliches Kriegszwecken zurückblicken zu müssen. Es kann Ziel sein, Partner der wirtschaftlichen Entwicklung daher für die Fortentwicklung der Grundsätze für den und Förderer des Friedens in der Welt zu sein. Rüstungsexport nur eine Denkrichtung geben: die Summa summarum, meine Damen und Herren: weitere Einschränkung des Handels mit Kriegswaf- Beenden wir die Wortspiele und arbeiten wir seriös an fen. Der europäische Binnenmarkt ändert an dieser einer neuen Qualität in der Exportkontrolle! Position nichts. Er tangiert diesen Bereich nicht. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das stimmt Liste) nun absolut nicht!) Anders liegen die Verhältnisse bei sonstigen

Rüstungsgütern und Dual - use - Waren. Hier sollten wir zu einer europäischen Verständigung gelangen. Dies Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der ist nicht nur vertraglich vereinbart. Eine Verständi- Kollege Ernst Hinsken. gung ist schon deswegen unentbehrlich, um Schaden (Zuruf von der SPD: Jetzt kommt eine baye von der deutschen Wirtschaft und Industrie abzuwen- rische Philippika! — Ernst Hinsken [CDU/ den. CSU]: Richtig!) 17460 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine handelt es sich in der Regel um komplexe, kompli- sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nicht mit zierte und teure Waffensysteme, die zumeist nur in hohen moralischen, sondern mit sachbezogenen Aus- internationalen Kooperationen entwickelt und produ- führungen möchte ich meinen Redebeitrag bestrei- ziert werden können. ten. Und genau hier liegt der Hund begraben. Oftmals Die Ausgangslage ist bekannt. Seit 1990 gingen in können die gemeinsam entwickelten Produkte nicht der wehrtechnischen Industrie der Bundesrepublik auf dem Markt angeboten werden, weil das deutsche über 100 000 qualifizierte Arbeitsplätze verloren. Exportrecht dem als unüberwindbares Hindernis ent- Weitere 60 000 Arbeitsplätze werden bis Ende dieses gegensteht. Dies gilt sowohl für die regierungsamtli- Jahres abgebaut. Wir alle haben die Bilder der chen und viel stärker noch für die privaten Koopera- Demonstrationen und der dramatischen Appelle von tionen. Dadurch wird die Kooperationsfähigkeit der Arbeitgebern und Belegschaften noch vor Augen. deutschen wehrtechnischen Industrie ganz erheblich Unter den Demonstranten waren viele Sozialdemo- beeinträchtigt. kraten. Gestern im Wirtschaftsausschuß war es Ein erster wichtiger Schritt wäre daher die Gleich- ebenso. Kollegen insbesondere aus der SPD — ich stellung von privaten mit regierungsamtlichen Koope- meine zwei Kolleginnen, die bei der heutigen Debatte rationen. nicht da sind — haben sich bitter darüber beklagt, daß in ihren Wahlkreisen so viele Arbeitsplätze im wehr- (Beifall bei der CDU/CSU) technischen Bereich abgebaut werden. Ziel muß es jedoch sein, die Exportkontrollvor- (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! — schriften zumindest auf der Ebene der Europäischen Zuruf von der F.D.P.: Die durften heute nicht Union zu harmonisieren. Es kann doch nicht sein, reden!) meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß m an Meine Damen und Herren, ich meine deshalb, daß es in einem gemeinsamen Europa z. B. aus Kambodscha, für den Bürger nicht mehr ohne weiteres verständlich Mauretanien und Mozambik kommend zu unserem ist, wenn Sie von der SPD einmal so und ein andermal britischen Nachbarn gehen muß, nur weil diese Län- anders reden. Das paßt nicht zusammen. der bei uns auf der H-Liste stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Übrigens: Auf vergleichbaren Listen der USA ste- hen z. B. nur 28 Länder, während es bei uns in der Was ist Sache? Während z. B. das japanische MITI Bundesrepublik Deutschland 33 Länder sind. Flugzeugbau und Wehrtechnik als Schlüsselindustrie klassifiziert, drohen hierzulande Kapazitäten von Ich halte es allerdings für eine Illusion, zu glauben, Weltgeltung unkontrolliert wegzubrechen. Für mich daß sich unsere europäischen Partner den restriktiven ist klar, daß sich die wehrtechnische Indust rie die deutschen Regeln anpassen wollen. Existenzfrage stellen muß, wenn einerseits der Vertei- Um es abschließend noch einmal ganz deutlich zu digungshaushalt zurückgefahren wird und anderer- sagen: Es geht nicht darum, daß von deutschen seits internationale Kooperationen behindert werden. Unternehmen die ganze Welt mit Waffen versorgt Zu den Haushaltseinsparungen und damit zur Finanz- wird. Nein, das wollen wir nicht, und das brauchen wir politik von Bundesfinanzminister Dr. Waigel gibt es nicht. Es geht vielmehr um die Erhaltung des Wirt- aber keine Alternative. Dabei müssen wir bei den schafts - und Technologiestandortes Deutschland und Restriktionen ansetzen und diese locke rn. damit um unsere Zukunftsfähigkeit; denn was wir Und hier sehe ich zwei Problembereiche. Einerseits nicht liefern wollen oder dürfen, erledigen — wie die hochwertigen Erzeugnisse aus Zivilproduktionen, erwähnt — unsere Nachbarn. die auch in Waffen- und Rüstungssystemen verwend- Das hohe Maß an Selbstfesselung bei der Ausfuhr - - wie sie bar sind, die sogenanten Dual use Güter, von Rüstungsgütern ist auf das international übliche heute schon mehrfach angesprochen wurden. Hier, Maß zurückzuführen. Dies ist erforderlich, soll dieser meine ich, dürfen deutsche Unternehmen gegenüber Wirtschaftszweig nicht über kurz oder lang aus internationalen Wettbewerbern nicht benachteiligt Deutschland verschwinden. werden. Die Bundesregierung ist deshalb meiner Meinung (Beifall des Abg. Dr. Hermann Schwörer nach aufgefordert, die vielfältigen Bremsen im [CDU/CSU]) Bereich des Rüstungsexports, der Rüstungskoopera- Für den Export von Dual-use-Gütern brauchen wir tion sowie des Exports von Dual-use-Gütern zu Lok- daher einen einheitlichen europäischen Kriterienka- kern. Es geht dabei nicht etwa darum, ohne jegliche talog. Dieser muß spätestens unter der deutschen Rücksicht auf moralische Werte oder sicherheitspoliti- Präsidentschaft verabschiedet werden. sche Interessen das Rüstungsgeschäft zu forcieren; es (Beifall des Abg. Dr. Hermann Schwörer muß aber darum gehen, keine s trengeren rechtlichen [CDU/CSU]) und moralischen Maßstäbe anzulegen, als dies unsere westlichen Nachbarn tun. Ich hoffe, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß es Ihnen gelingen möge, in Form eines Beitrages, den Sie (Beifall bei der CDU/CSU) diesbezüglich leisten müssen, auch das zu erbringen, Wirtschaft, Bundeswirtschaftsministerium und Bun- was in Sie an Erwartungen gesetzt wird. desausfuhramt sollten deshalb verstärkt zusammen- Daneben geht es aber auch und nicht zuletzt um arbeiten und über eine kräftige Entschlackung der wehrtechnische Produkte, also um jene, die unmittel- entsprechenden Vorschriften reden, insbesondere um bar für militärische Zwecke gefertigt werden. Dabei die Dauer der Exportgenehmigungsverfahren weiter Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17461

Ernst Hinsken zu verkürzen und die Exportchancen der deutschen und Herren, was Sie wollen. Wir wollen weniger, und Wirtschaft zu erhöhen. wir wollen Klarheit. In einer Situation, in der wir dem Aufschwung Ost (Beifall bei der SPD) Priorität zusprechen und erhebliche Milliardenbei- träge aufwenden, die Wirtschaft in den neuen Bundes- Deshalb haben wir eine Grundgesetzergänzung ländern zu subventionieren, kann es keinen Sinn vorgeschlagen, mit der der Rüstungsexport auf die machen, der eigenen Wirtschaft unnötige außen- und Staaten beschränkt werden soll, mit denen wir in der sicherheitspolitische Fesseln anzulegen. Es hilft nie- NATO militärisch und in der Europäischen Union mandem, wenn wir die Kaufwünsche kaufkräftiger politisch verbunden sind. Länder an unsere europäischen und amerikanischen Das heißt, wir sichern die Bündnisfähigkeit, wir Partner verweisen und danach den daraus resultieren-- sichern die Verteidigungsfähigkeit, und wir sichern den Verlust von Aufträgen durch öffentliche Hilfen für die Kooperationsfähigkeit. Wir wollen aber keine die betroffenen Wirtschaftszweige kompensieren europäische oder atlantische Kooperation, die darin wollen. Nur zu oft geht es dabei um nicht unbeträcht- besteht, gemeinsam Rüstungsexporte in Spannungs- liche Millionen- und Milliardenbeträge. gebiete der Welt zu fördern, wo dann die Krisen ausgelöst werden, mit denen die UNO anschließend fertig werden muß. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Hinsken, Sie sind weit über Ihre Zeit. Sehen Sie Machen wir uns nichts vor: Sie führen diese Debatte einmal rechts hin, wie weit Sie schon darüber sind. Wir auch unter der Überschrift „Normalisierung der deut- sind in der Aktuellen Stunde. Bitte den letzten Satz, schen Außen- und Sicherheitspolitik" . Ich sage Ihnen: aber einen, nicht fünf! Es wäre nicht normal, sondern geradezu verrückt, wenn wir unser Grundgesetz änderten, damit deut- sche Soldaten mit dem Blauhelm der UNO unter Ernst Hinsken (CDU/CSU): Jawohl, Frau Präsiden- Lebensgefahr die Waffen wieder einsammeln können, tin, ich stelle fest, ich überziehe eine Minute. die die deutsche Rüstungsexportindustrie vorher in Ich meine deshalb, abschließend sagen zu müssen: Krisengebiete geliefert hat. Es ist erforderlich, die derzeit geltenden Exportbe- (Beifall bei der SPD — Günther Fried rich stimmungen sowie ihre Handhabung anzupassen, um Nolting [F.D.P.]: Das ist unerträglich, was da u. a. auch wirtschaftlichen Schaden von der Bundes- gesagt wird!) republik abzuwenden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Sie, Herr Minister Rexrodt, haben von Ihrer Bestandsgarantie den § 5 c der Außenwirtschaftsver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordnung ausdrücklich ausgenommen. Da geht es um die sogenannte Dual-use-Problematik. Der Sprecher Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der der CSU, Glos, hat dazu behauptet, es seien alle Kollege Norbert Gansel. Waren in Deutschland für den Export genehmigungs- pflichtig, die auch nur theoretisch militärisch verwen- det werden können. Das ist ein leichtfertiges, falsches Norbert Gansel (SPD): Frau Präsidentin! Meine und unverantwortliches Gerede. Herr Kittelmann hat Damen und Herren! Herr Minister Rexrodt, Sie haben das soeben wiederholt. vorhin gesagt, die Deutschen wollten beim Rüstungs- Tatsächlich ist es so: Nur diejenigen Waren sind bei export nicht in der Ecke stehen. Das geht ein bißchen der Ausfuhr genehmigungspflichtig, von denen der an der Realität vorbei. 1992 war beim Export von Exporteur weiß, daß sie — obwohl in der Regel zivile Kriegswaffen — ich sage: Kriegswaffen! — die Bun- Produkte — im konkreten Fall für die Herstellung von desrepublik Deutschland nach dem UNO-Waffenex- Kriegswaffen oder Munition im Ausland bestimmt portregister weltweit Nummer zwei. sind. Sie sind auch nur dann genehmigungspflichtig, (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Leider!) wenn sie in bestimmte Krisengebiete der Welt oder in Beim Waffenexport sind wir nicht Eckensteher, son- Staaten gehen, von denen wir wissen, daß sie Atom- dern Spitzenreiter. waffen entwickeln. Es gibt aber keinen Grund, sich von der deutschen (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt doch Rüstungsexportindustrie unter Druck setzen zu las- nicht!) sen; denn es sind gerade 0,39 % der deutschen Wer das ändern will, der kehrt zu dem Rechtszu- Gesamtexporte, die 1992 von der deutschen stand von vor dem Golfkrieg zurück. Es kann doch Rüstungsindustrie geliefert wurden. nicht im Ernst Ihre Politik sein — jetzt wende ich mich Herr Minister Kinkel hat einen respektablen Beitrag vor allen Dingen an die Union, aber ich sage es auch geleistet. Wir werden ihn auf dieser Linie unterstüt- Ihnen noch einmal, Herr Rexrodt —, nachträglich das zen, weil wir ohnehin wissen, daß das im Vergleich zu zu legalisieren, was der Herr von Hippenstiehl mit dem, was Kreise der Union und auch Teile der F.D.P. seiner Firma — — wollen, sozusagen das geringere Übel ist. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist Das, was Minister Kinkel vorgeschlagen hat, könnte eine Unverschämtheit! — Klaus Beckmann zu einem Weniger an Rüstungsexporten führen. Das, [F.D.P.]: Das grenzt an Brunnenvergiftung!) was Herr Rexrodt vorgeschlagen hat und was die Union will, wird zu einem Mehr an Waffenexporten — Entschuldigung! Der § 5 c der Außenwirtschaftsver führen. Sie müssen endlich klar sagen, meine Damen ordnung war, wie der Minister zutreffend erklärt hat, 17462 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Norbert Gansel eine Konsequenz aus dem Giftgasskandal in der Außenwirtschaftsordnung in Frage stellt, der will Libyen. deshalb nicht Deutschland zum Großexporteur von (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Das ist eine Kriegswaffen machen. Herr Bachmaier, die SIPRI-- unglaubliche Unterstellung! Das ist ja wider Zahlen — das wissen Sie genausogut wie wir — -lich!) kommen dadurch zustande, daß das ganze NVA- Material enthalten ist und daß über 70 % der Summe Wer diesen Paragraphen in Frage stellt und zu dem Großschiffe ausmachen, die keine Kriegswaffen im alten Rechtszustand zurückkehren will, der macht eigentlichen Sinne sind. genau das wieder möglich, was nach Rabta für die Zukunft verhindert werden sollte. Ich kann die SPD nur auffordern, zu einer seriösen (Beifall bei der SPD — Günther Friedrich Auseinandersetzung zurückzukommen. Dazu gehört, Nolting [F.D.P.]: Wissen Sie eigentlich noch, daß wir die Begrifflichkeiten klar bestimmen. wovon Sie reden?) (Beifall des Abg. Günther F riedrich Nolting Dabei werden wir den Außenminister unterstützen. [F.D.P.]) Jetzt zu den Arbeitsplätzen: Die Rüstungsindustrie Es gibt zum einen nichtgelistete Waren, d. h. hat in den vergangenen Jahrzehnten hohe Gewinne Waren, die nicht auf irgendeiner Genehmigungs- gemacht. Jetzt steht sie in der Verantwortung für die oder Verbotsliste auftauchen, bei denen aber nach der Umstellung der Arbeitsplätze auf zivile Produktion, Außenwirtschaftsverordnung Reparaturen geneh- soweit diese Arbeitsplätze nicht Rüstung für unsere migt werden müssen. Ein Beispiel dafür ist der Schiffs- Sicherheit im Rahmen der NATO produzieren müs- motor, der in ein Küstenschutzboot des NAFTA- sen. Landes Mexiko eingebaut wird. Dabei braucht die deutsche Rüstungsindustrie eine verläßliche, klare Bundeswehrplanung als Orientie- Zweitens gibt es Dual-use-Produkte, die sowohl rungsdatum, wozu das Bundesverteidigungsministe- zivil als auch militärisch gebraucht werden können. rium bisher nicht fähig ist. Deshalb braucht die deut- Ihre hauptsächliche Bestimmung ist der zivile Ein- sche Rüstungsindustrie in bestimmten Regionen, z. B. satz. im Norden, aber auch im Süden — ich denke vor allen (Gernot Erler [SPD]: Danke, Herr Lehrer!) Dingen an das, was Franz Josef Strauß um München herum angesiedelt hat und wo es jetzt ernste Probleme — Bitte, Sie können es brauchen. gibt —, Hilfen zur Konversion. Deshalb hat die SPD beantragt, einen Konversionsfonds zu bilden, mit dem Es geht drittens um die deutsche Zulieferung von die Umstellung der Wirtschaft auf zivile Produktion Teilen, die selbst keine Waffe sind, allerdings in einem erleichtert wird, damit neue, dauerhafte Arbeitsplätze unserer europäischen Partnerländer in eine Waffe gesichert werden können. oder ein Waffensystem eingebaut werden. Das sind beispielsweise Motoren oder Getriebe. Wir wollen eine effektive und zügige Kontrolle von militärischen Produkten, die den zivilen Export nicht Viertens gibt es die Lieferung von waffentypischen hemmt, sondern ihn sichert, weil sie den Frieden Komponenten, etwa der Distanzmessung oder der sichert und den guten Ruf der deutschen Exportwirt- Kanone. Dabei wird noch einmal unterschieden, ob schaft. die Lieferung im Rahmen einer staatlich vereinbarten (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Rüstungskooperation erfolgt oder zwischen Unter- Liste) nehmen aus NATO-Ländern vereinbart wird. Es gibt fünftens die Lieferung ganzer Waffensy- steme, die in der Bundesrepublik insbesondere durch Nun hat der Kol- Vizepräsidentin Renate Schmidt: die rüstungspolitischen Grundsätze von 1982 be- lege Dr. Andreas Schockenhoff das Wort. grenzt ist, die, wie ich nochmals betonen möchte, niemand in Frage stellt. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Frau Präsi- Schließlich gibt es den von uns allen verurteilten dentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte illegalen Export von Waffensystemen, von Anlagen scheint von der Opposition nach dem Chaosprinzip zur Produktion von A-, B- oder C-Waffen, Träger- geführt zu werden. Wer Dual-use-Produkte, die technologie oder auch die Lieferung von Vorproduk- hauptsächlich für die zivile Verwendung bestimmt ten. Diese Lieferungen sind und bleiben nach dem sind und möglicherweise für die Produktion konven- Kriegswaffenkontrollgesetz verboten. tioneller Rüstungsgüter mißbraucht werden, mit den kriminellen Machenschaften um die Giftgasfabrik in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rabta in einen Topf wirft, der ist an einer sachgerech- ten Diskussion nicht interessiert. Verstöße werden mit hohen Gefängnisstrafen geahn- det. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Gansel, wer sich dann auch noch auf den Über die Ablehnung des illegalen Rüstungsexports Namen Hippenstiehl beruft, der betreibt reine Dema- sind wir uns hoffentlich einig. Ich wäre sehr froh, wenn gogie. wir uns auch über die rüstungsexportpolitischen Grundsätze aus dem Jahre 1982 einigen könnten. Nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) empfehle ich Ihnen, diese von der sozialliberalen Wer die Pflicht zur Genehmigung von Dienstlei- Koalition beschlossenen Grundsätze auch zu lesen. stungen an nichtgelisteten Massenwaren nach § 45 b Dort steht nämlich unter Ziffer IV, die Zulieferung in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17463

Dr. Andreas Schockenhoff unsere europäischen Partnerländer sei zulässig, weil erweckt, als ob das die offizielle Waffenexportpolitik damit ein neuer Warenursprung begründet werde. der Bundesrepublik Deutschland sei. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD: Die inoffizielle! — Die Es ist auch nicht einzusehen, warum Kooperationen praktizierte! — Die reale!) zwischen europäischen Unternehmen in der Geneh- Dazu muß ich Ihnen sagen: Hier ist die Bundesre- migungspraxis gegenüber den staatlich vereinbarten gierung wesentlich restriktiver als manche Minister- Projekten benachteiligt werden. Wir sollten übrigens präsidenten mancher SPD-regierten Bundesländer. auch ein wenig mehr Vertrauen in die Entscheidungs- fähigkeit unserer europäischen Partnerländer haben, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — mit denen wir eine Wirtschafts- und Währungsunion Zuruf von der SPD: Was ist denn mit Jugo- und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik slawien!) vereinbart haben. Wer hat denn die Lieferung von U-Booten nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Taiwan, das wir als Spannungsgebiet betrachtet Wir haben in der Europäischen Union in der haben, verhindert? Das war der Bundessicherheitsrat, Rüstungstechnologie, aber auch in der gesamten der die Anträge auf Lieferung abgelehnt hat. Und wer Hochtechnologie einen Stand der Arbeitsteilung ist dafür gewesen? Unter anderem der Ministerpräsi- erreicht, bei dem bereits bei Vorprodukten grenzüber- dent Schröder, meines Wissens ein eingeschriebenes schreitend zusammengearbeitet wird. Die wirtschaft- SPD-Mitglied und gar nicht einmal ein wenig promi- liche Integration der Unternehmen ist der politischen nentes. Integration inzwischen weit voraus. (Zuruf von der F.D.P.: Wer weiß, wer Wenn wir die Kooperationsfähigkeit der deutschen weiß!) Unternehmen behindern, klinken wir uns aus der Der Kollege Hinsken hat vorhin darauf hingewie- internationalen Arbeitsteilung aus. Dieser deutsche sen, daß im Wirtschaftsausschuß SPD-Kollegen bekla- Sonderweg wäre fatal. Der deutschen Industrie darf gen, in diesem Bereich würden Arbeitsplätze verlo- die Möglichkeit der internationalen Zusammenarbeit rengehen, und daß sie sich für Lockerungen einset- weder im zivilen noch im rüstungstechnischen zen. Sie stellen sich hierhin und jammern und zetern Bereich genommen werden. Wenn die SPD hier wie- — auch mit unwahren Behauptungen. Der Kollege der einmal eine Sonderrolle will, dann gefährdet sie Beckmann hat eben sehr richtig gesagt, das sei wohl nicht nur deutsche Arbeitsplätze — darum geht es gar die Dual-use-Komponente bei der SPD-Fraktion. nicht in erster Linie —: Sie schadet existentiellen deutschen Sicherheitsinteressen. (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir brauchen eine eigenständige, kooperationsfä- Meine Damen und Herren, in Spannungsgebiete hige rüstungstechnologische Indust rie, wenn wir eine liefert die Bundesrepublik Deutschland nicht. Der eigenständige und glaubwürdige Sicherheitspolitik Kollege Schockenhoff hat richtig gesagt, daß der verwirklichen wollen. Sicherheitspolitik braucht näm- illegale Export von Waffen, von Massenvernich- lich nicht nur Soldaten. Sie braucht nicht nur Verbün- tungsmitteln oder von Komponenten hierfür unter dete. Sie braucht auch die Fähigkeit, die eigenen schweren Strafen steht. Wir haben die Strafen vor Soldaten angemessen auszurüsten. Deshalb ist die wenigen Jahren erheblich verschärft. Das hat die Erleichterung europäischer Kooperationen bei Rü- Mehrheit der Koalition getan, die Sie jetzt deswegen stungsprojekten zwingend erforderlich. angreifen. Ich bedanke mich. (Zuruf von der SPD: Aber dual-use ist das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht!) Daran will überhaupt niemand etwas ändern.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Wo wir ein Problem haben, meine Damen und lege Ulrich Irmer das Wort. Herren, das sind die Rüstungskooperationen. Darauf ist hier vielfach hingewiesen worden. Wir kommen ohne Rüstungskooperation nicht aus, wenn wir das Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Ich bin dem wirtschaftlich betreiben wollen, wenn wir, wie gesagt Kollegen Schockenhoff außerordentlich dankbar. wurde, kooperationsfähig bleiben wollen und unseren eigenen Sicherheitsbedürfnissen entsprechen wollen. (Zuruf von der CDU/CSU: Der war gut!) Niemand wird abstreiten, daß wir uns verteidigen — Der war sehr gut, ja. — Ich bin ihm dankbar, daß er müssen und dafür auch Waffen brauchen. Hier ist eine das gesagt hat, was gesagt werden mußte. Die Bei- Kooperation mit unseren Partnern in der Europäi- träge der Opposition werfen nämlich ständig die schen Gemeinschaft, mit den Amerikanern und ande- Begriffe durcheinander. ren unerläßlich. (Widerspruch bei der SPD — Zurufe von der Jetzt haben wir das Problem, daß die Ergebnisse SPD: Das muß dem Minister auch gesagt solcher Kooperationen nicht unseren s trengen Bestim- werden!) mungen unterliegen, und wir können es nicht verhin- — Ja, bitte, der Herr Gansel hat behauptet, es würden dern — auch nicht durch vorherige vertragliche Ver- ständig Waffen aus Deutschland in Spannungsgebiete einbarungen, weil sich die Partner darauf nicht einlas- geliefert. Sie haben hier ungefähr den Eindruck sen —, daß dann meinethalben Briten oder Franzosen 17464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Ulrich Irmer in Gebiete liefern, in die wir als Deutsche allein nicht [SPD]: Sie lesen wenigstens meine Presseer liefern würden. klärung!) Man muß doch nun wirklich zugeben, daß es und hat mit dem, worum es wirklich geht, nichts zu vernünftig wäre, mit den anderen zu Vereinbarungen tun. zu kommen, die derartige Exporte insgesamt erschweren, also unter dem Strich zu weniger Waffen- Um noch einmal zu sagen, um was es geht: In lieferungen führen würden, auch wenn wir realisti- Europa besteht seit mehr als einem Jahr ein Binnen- scherweise einsehen müssen, daß wir unsere sehr markt; vielleicht ist Ihnen das entgangen. Wir müssen hohen Standards nicht hundertprozentig werden deshalb über die innereuropäischen Wirtschaftsbezie- durchsetzen können. hungen neu nachdenken, bei denen auch diese Frage eine Rolle spielt. Wir können nicht so tun, als wenn das (Gernot Erler [SPD]: Damit sichern Sie dann - alles völlig an den nationalen Regelungen vorbeige- die Arbeitsplätze!) hen könnte — nach dem Motto: Wo es uns paßt, Es ist doch wohl wichtig, daß unter dem Strich bleiben wir bei unseren alten Straßen, und alles möglichst wenig Waffen exportiert werden. Wenn wir andere führt schon darum herum. — Es führt nicht bei solchen Kooperationen durch eine relative Absen- darum herum. kung unserer Standards erreichen können, daß die Wir müssen dazu beitragen, eine völlig überdimen- Standards insgesamt besser werden, dann wäre das sionierte Rüstungswirtschaft — in dieser Feststellung doch ein Erfolg. Darauf müssen wir hinarbeiten. sind wir uns in Europa ja wohl einig — Herr Gansel, ich möchte Ihnen noch eine letzte (Karl Lamers [CDU/CSU]: Ja!) Unlogik vorwerfen. Sie haben gesagt, in Ihrem Antrag auf Änderung des Grundgesetzes solle festgeschrie- auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren, und wir ben werden, daß nur in Länder der NATO oder der müssen dazu beitragen, daß Rüstungsexport in ande- Europäischen Union geliefert wird. Wollen Sie wirk- ren europäischen Ländern nicht unter dem Gesichts- lich, daß in Länder wie Australien oder Neuseeland punkt der Auslastung von Kapazitäten, — Demokratien, auf die diese St andards nicht zutref- (Gernot Erler [SPD]: Aha, sehr gut!) fen — von uns nichts geliefert werden darf, wenn diese zur Befriedigung ihrer legitimen Verteidigungsbe- sondern unter den Gesichtspunkten gemeinsamer dürfnisse Waffen anschaffen wollen? Außen- und Sicherheitspolitik gesehen wird. (Hermann Bachmaier [SPD]: Es wäre gut, (Karl Lamers [CDU/CSU]: Ja!) wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten! Wie kann Deutschland dazu beitragen, diesem Ziel Dann würden Sie nicht solche Feststellungen näherzukommen? machen!) Bitte seien Sie ehrlicher! Halten Sie die Begriffe (Norbert Gansel [SPD]: Indem es mehr Waf- auseinander! Und vermeiden Sie das, was ich heute fen exportiert!) vielfach als Heuchelei empfunden habe! Doch nicht dadurch, daß wir eigene, nationale Son- Danke. derwege gehen, den anderen ein moralisches Schild vorhalten. Wir müssen vielmehr Schritte unterneh- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) men, die zwischen den Partnern der Europäischen Union gemeinsame Lösungen möglich machen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Dazu gehört zunächst einmal folgendes: Wir müs- lege Erich G. Fritz das Wort. sen im Bereich der Dual-use-Güter, wo wir zugege- benermaßen die besten und schärfsten Regelungen und das beste Überwachungsinstrumentarium in der Erich G. Fritz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Europäischen Union haben Damen und Herren! Die Debatte der letzten Tage, (Gernot Erler [SPD]: Und trotzdem noch am auch das, was wir heute hier wieder gesehen haben, meisten exportieren!) Herr Kollege Bachmaier, zeigt, daß es Ihnen in Wirk- lichkeit nicht darum geht, sich möglichst rational auf — das stimmt ja nicht; wir haben die meisten Über- neue Erfordernisse in Europa einzustellen und mög- prüfungen und die meisten Genehmigungsverfahren; lichst gute Lösungen für das, was uns gemeinsam wenn Sie das so sagen, stimmt es —, das tun, was für bewegt, zu finden. Es geht Ihnen vielmehr um das, eine gemeinsame Politik unerläßlich ist, nämlich was Herr Kollege Erler gesagt hat, gemeinsame Regelungen finden. (Gernot Erler [SPD]: Genau!) Sie wissen genau, daß bei den mehr als zweijähri- um Theater. Aber Sie machen hier Theater. Mit Ihrer gen Bemühungen der Bundesregierung, die Sie Presseerklärung vom 10. Januar erwecken Sie einen begleitet haben und die Sie noch in allen Phasen Eindruck, der mit dem, was hier jetzt sachlich disku- nachvollziehen können, der Versuch unternommen tiert worden ist, überhaupt nicht übereinstimmt. worden ist, so weit wie möglich gemeinsame restrik- tive Vereinbarungen zu finden. Es zeichnet sich jetzt (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: So ist ab, daß dies wirklich eine Restriktion sein wird, auch es!) wenn die Bestimmungen nicht unserem Standard Das ist Juso-Grundkurs I aus den 70er Jahren entsprechen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Denken Sie jetzt doch einmal langfristig und im CDU/CSU und der F.D.P. — Gernot Erler Saldo, und denken Sie nicht kurzfristig. Im Saldo wird Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17465

Erich G. Fritz es doch in Zukunft gesamteuropäisch eine Verbesse- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, rung geben, wird weniger exportiert werden. Es wird Herr Kollege. schärfere Kontrollen geben. Es wird Bereiche geben, in denen der Export eingeschränkt ist. Deshalb ist das Otto Reschke (SPD): Frau Minister, welche Baulei- eine Verbesserung, die Sie und die auch wir auf jeden stungen, die das BMBau und nachgeordnete Behör- Fall haben wollen, weil eine gemeinsame Regelung, den bisher erbracht haben, wurden auf Grund welcher selbst wenn sie nicht unserem Perfektionismus ent- Anordnung — der Bundestag hat das ja nicht ange- spricht, besser ist als nationale Sonderregelungen. ordnet, wenn er die Forderung gegenüber dem Bau- Herr Kollege Gansel hat gesagt, daß das, was in ministerium erhoben hat — privatisiert, wann hat das Deutschland an Rüstungsgütern — Sie meinen jetzt Bauministerium die Privatisierungsverträge geprüft Waffen, vermute ich einmal, Sie meinen auch den und hat für das Bauministerium diesen zugestimmt? Dual-use-Bereich — hergestellt und exportiert wird, Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr nur ein kleiner Teil des Exportvolumens ist. Ich kann Kollege, es handelt sich um Verträge zur Vergabe von k ist das so. nur sagen, Gott sei D an Leistungen, wie sie von der Bundesbaudirektion in Aber die Union und die Regierung würden selbst eigener Verantwortung abgeschlossen werden. Diese dann, wenn dieser Anteil höher wäre, nicht davon Verträge sind abgeschlossen worden auf Grund der abgehen, daß das erste Kriterium für die Frage der genehmigten Haushaltsunterlage Bau aus dem Jahre Beurteilung solcher Exporte nicht eine wirtschaftspo- 1986, mit einem Nachtrag aus dem Jahre 1989. Die litische, sondern eine außenpolitische Sicht ist. Wenn Entscheidung über den Abschluß der Verträge fällt in Sie aber die Kriterien für eine gemeinsame Außen- die Zuständigkeit der Bundesbaudirektion zu der und Sicherheitspolitik, die sich in Europa herausbil- damaligen Zeit. den muß, zugrunde legen, werden Sie feststellen, daß gemeinsame Lösungen selbst dann wertvoller sind, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine zweite wenn wir nicht das Maximum erreichen. Zusatzfrage, Herr Kollege Reschke. Herzlichen Dank. Otto Reschke (SPD): Ich frage noch einmal, Frau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ministerin: Unterliegen diese Verträge nicht der Prü- fung und Genehmigung durch die Bauministerin bzw. das Bundesbauministerium? Ich war gestern arg Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde angekommen. Weitere erstaunt, als Sie im Haushaltsausschuß gesagt haben: Wortmeldungen liegen dazu nicht mehr vor. Mir sind die Verträge nicht bekannt, ich habe sie angefordert.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, das Bundesbauministerium ist als technische Fragestunde Aufsichtsinstanz zuständig für ein Bauvolumen von — Drucksache 12/6538 — etwa 5 Milliarden DM in diesem Jahr. Das sind Wir kommen zunächst zu den Dringlichen Fragen, mehrere hundert Baumaßnahmen. Schon daraus geht Drucksache 12/6560. Hier ist der Geschäftsbereich hervor, daß es ganz selbstverständlich ist, daß die des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwe- — im übrigen nach dem Gesetz über die Bundesbau- sen und Städtebau gefragt. Zur Beantwortung steht verwaltung zuständige — Bundesbaudirektion ihre Frau Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer zur Verträge in eigener Verantwortung abschließt. Verfügung. (Peter Conradi [SPD]: Aber das Ministerium Ich rufe die Dringliche Frage 1 des Kollegen Otto in jede Sache reinredet!) Reschke auf: War das jetzt eine Wann hat die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen Vizepräsidentin Renate Schmidt: und Städtebau eine besondere Bauleitung zur Erstellung der Zusatzfrage, Herr Kollege Conradi? Schürmann-Bauten beauftragt, und welches sind die Gründe? (Heiterkeit — Peter Conradi [SPD]: Nein!) — Dann kommt jetzt eine Zusatzfrage, Herr Kol- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für lege. Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Kol- ( [F.D.P.]: Das war eine nicht lege, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Die Bundes- qualifizierte Bemerkung!) baudirektion ist allein für den Abschluß von Verträgen zuständig. Sie führt die Baumaßnahmen für die Schür- Peter Conradi (SPD): Das war ein Zwischenruf; wir mann-Bauten im gesetzlichen Auftrag auf Grund des sind hier im Parlament und nicht in der Schul- Gesetzes für die Bundesbauverwaltung durch. Die stunde. Bundesbaudirektion hat für die Bauleitung — Objekt- Frau Ministerin, ist Ihre Ankündigung einer noch überwachung nach § 15 HOAI Leistungsphase 8 — im stärkeren Privatisierung von Bauaufgaben so zu ver- November 1989 einen Vertrag mit der Arbeitsgemein- stehen, daß Sie mit der hier privatisierten Bauleitung, schaft ABE als freischaffendes Bauleitungsbüro abge- der Sie an anderer Stelle erhebliche Vorwürfe schlossen. Dies entsprach auch der vom Deutschen machen, zufrieden sind? Bundestag wiederholt an die Bundesbauverwaltung gerichteten Aufforderung, für Planungs- und Baulei- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr tungsaufgaben verstärkt freiberuflich Tätige einzu- Kollege, ich komme noch darauf in der Ausführung schalten. auf eine andere Frage, die Sie gestellt haben. In der 17466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer Tat ist die Konstruktion, die für den Schürmann-Bau Aber in der Tat habe ich darüber hinausgehende gewählt worden ist, hochkompliziert, und zwar wegen Vorstellungen. Wir haben das — ich wiederhole es — der Beauftragung mehrerer p rivater Projektsteu- im vergangenen Jahr erörtert, erungsbüros. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Aber keine (Peter Conradi [SPD]: Die waren so gut, daß Mehrheit bekommen!) Sie jetzt weiter privatisieren wollen?) und zwar im Zusammenhang mit der Änderung des Die Vorstellungen, die die Bundesbauministerin Gesetzes über die Bundesbauverwaltung, in dem jetzt von Privatisierung hat, hat sie bereits im vergangenen zwei Dinge verankert sind: zum einen die Möglichkeit Jahr bei der Diskussion über die Veränderung des für eine Gründung einer Bundesbaugesellschaft mbH Gesetzes über die Bundesbauverwaltung sowohl in speziell für die Parlamentsbauten im Spreebogen der Baukommission als auch Konzeptkommission und- — diese Gesellschaft ist bereits gegründet und im im Ältestenrat vorgetragen, nämlich größere Baulei- Aufbau begriffen —, aber zum anderen auch die stungen des Bundes auch direkt vergeben zu können, Möglichkeit, größere Bauten direkt vergeben zu kön- ohne den Weg über die Bundesbaudirektion gehen zu nen, aber leider in diesem Fall — das muß ich sagen — müssen. Dieser Weg ist jetzt für Berlin im Gesetz nur für Berlin. verankert — leider nur für Berlin. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt eine Zusatz- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere frage des Kollegen Großmann. Zusatzfrage des Kollegen Gansel. Achim Großmann (SPD): Frau Minister, trifft es zu, Norbert Gansel (SPD): Frau Minister, hätte man die daß die Bundesbaudirektion seit zwei Jahren Br and- Hochwasserschäden am Schürmann-Bau vielleicht briefe schreibt und darauf hinweist, daß es völlig dadurch verhindern können, daß man rechtzeitig unmöglich ist, ein 800-Millionen-Projekt, bei dem Herrn Christo ermöglicht hätte, das Gebäude einzu- mehrere private Firmen — Gutachter, Ingenieure, packen? Architektenbüros, Projektsteuerungsbüros — mit (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das paßt über 90 Millionen DM Honorarkosten beauftragt sind, zu Ihnen!) mit fünf oder sechs Mann zu betreuen, zu koordinie- ren? Was hat das Bundesbauministerium auf diese Briefe geantwortet? Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, mir ist nicht bekannt, daß Herr Christo seine (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das kann ich Ihnen Gebäude nach unten — bis etwa 25 m tief in den sagen!) Erdboden — verpackt, sondern er verpackt eher das aufstehende Gebäude. Insofern hätte das nicht viel Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr geholfen. Kollege, ich bin gerne bereit, Ihnen einmal zusam- (Beifall bei der F.D.P. — Günther Friedrich menzustellen, welche personellen Anforderungen Nolting [F.D.P.]: Herr Gansel sollte sich lie- das Bundesbauministerium für die Bundesbaudirek- ber einmal einpacken lassen!) tion gestellt hat, gerade auch unter Hinweis auf die sehr schwierigen Aufgaben, die im Zusammenhang mit diesen Bauten anstehen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dann eine Zusatz- frage des Kollegen Kansy. Sie alle kennen die Haushaltspläne, die letztlich verabschiedet worden sind. Hier kann man in den vergangenen Jahren deutliche Steigerungen für die Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Frau Ministe- Bundesbaudirektion feststellen, aber selbstverständ- rin, auf Ihre Antwort von eben zurückkommend, die lich bleibt das weit hinter dem zurück, was auch wir den Ball etwas in Richtung Parlament zurückgespielt selber für notwendig gehalten haben. hat, und angesichts der Tatsache, Herr Conradi, daß seit zig Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten an Hun- derte von Privatbüros seitens der Bundesbaudirektion Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die nächste Aufträge vergeben worden sind, jetzt aber in einem Zusatzfrage stellt der Kollege Hitschler. Streitfall plötzlich die Verantwortlichkeiten nicht klar zu sein scheinen, frage ich, ob das aus Ihrer Sicht eine Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Ministerin, kön- Aufforderung war zu sagen, ihr müßt das Zuständig- nen Sie uns in wenigen Worten einmal schildern, zu keitsgesetz ändern, damit man dann von Fall zu Fall welchem Behufe sich das Bauministerium der Bundes- klar an Dritte delegieren kann und damit diese baudirektion bedient? Denn hier wird durch die Fra- Streitereien über Verantwortlichkeiten aufhören kön- gestellungen suggeriert, als müsse der Bundesbaudi- nen. rektion noch einmal eine Kontrollinstanz übergeord- net sein, die das kontrolliert, was die Bundesbaudirek- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr tion an Verträgen mit privaten Firmen in eigener Kollege, die damals, also im Jahre 1989, gewählte Hoheit vertraglich abschließt. Konstruktion war sicherlich ein erster Schritt zur (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Die hat Privatisierung und ist auch eine Antwort auf die keine eigene Hoheit! Die Haushaltsentschei vielfach aus dem parlamentarischen Raum geäußerte dung liegt bei der Bundesregierung! — Peter Vorstellung einer stärkeren Privatisierung der Baulei- Conradi [SPD]: Herr Hitschler hat keine stungen des Bundes. Ahnung!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17467

Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Das Haushaltsgesetzgeber, der Deutsche Bundestag, zu- Gesetz über die Bundesbauverwaltung schreibt fest, mindest teilweise Rechnung getragen. daß alle Bauten der obersten Bundesorgane per Gesetz von der Bundesbaudirektion zu bauen sind. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage Dazu kann sich die Bundesbaudirektion auch anderer des Kollegen Scheffler. Auftragnehmer bedienen. Die Entscheidung darüber obliegt ihr selber. Siegfried Scheffler (SPD): Frau Ministerin, in der Die Konstruktion — wie auch in vielen anderen Zeitung stand zu lesen, daß aus Ihrem Haus alle obersten Bundesbehörden — ist ja gewählt worden, notwendigen Genehmigungen für Hochwasser- um sicherzustellen, daß die Bundesministerien mit schutzmaßnahmen erteilt worden sind. Ich frage Sie Verwaltungsaufgaben, die nicht ministerielle Aufga- - deshalb: Waren tatsächlich alle Genehmigungen zu ben sind, nicht belastet sind, d. h., die Konstruktion den Ausführungsplänen für Hochwasserschutzmaß- mit nachgeordneten Bundesbehörden ist gewählt nahmen erteilt? Welche Teilgenehmigungen liegen worden — nicht nur in diesem Ministerium, sondern noch nicht vor? Offensichtlich sind ja die Genehmi- auch in vielen anderen —, um Vorgaben für einen gungen zur Abarbeitung dieser Maßnahmen auf der schlanken Staat zu geben. Leider sind alle diese Grundlage Ihrer Genehmigungen erteilt worden, die Behörden in den vergangenen Jahrzehnten durchaus wesentlichen Einfluß gehabt hätten, um den eingetre- auch aufgebläht worden. Von der Konstruktion her ist tenen Schaden zu verhindern. das jedoch die Ausgliederung von Aufgaben aus dem Ministerium, die eigentlich nicht Ministeriumsaufga- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr ben sind. Kollege, die Hochwasserschutzplanung ist im Zuge der Aufstellung der Haushaltsunterlage Bau in den Ich habe jetzt Vizepräsidentin Renate Schmidt: 80er Jahren sehr intensiv erörtert worden. Sie ist auch noch vier Zusatzfragen und würde mit Ihrem Einver- im Laufe der Verwirklichung kontinuierlich erörtert ständnis dann anschließend gern zur nächsten frage worden, um sie den sich verändernden Gegebenhei- kommen. ten anzupassen. Herr Kollege Horst Kubatschka. (Siegfried Scheffler [SPD]: Wer hat sie genehmigt?) Horst Kubatschka (SPD): Frau Ministerin, Sie haben vorhin davon gesprochen, daß das nicht bautechnisch, — Die Konzeption als solche ist im Zusammenhang sondern bauorganisatorisch, hinsichtlich der Abwick- mit der Haushaltsunterlage Bau genehmigt worden, lung hochkompliziert ist. Heißt das, daß die Verant- das bedeutet aber: nicht jeder einzelne Ausführungs- wortungen nicht genau zugeordnet sind? plan. (Peter Conradi [SPD]: Wer im Ministe Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Die rium?) Verantwortungen nach § 31 HOAI — Projektsteue- — Die Haushaltsunterlage Bau ist selbstverständlich rung — sind den einzelnen Unterauftragnehmern im Ministerium unter der Leitung des damals zustän- durchaus präzise zugeordnet. Die Komplexität von digen Ministers genehmigt worden. verschiedenen Auftragnehmern bietet aber immer zumindest die Gefahr von Reibungsverlusten beim (Siegfried Scheffler [SPD]: Es geht um die Zusammenspiel. Gerade bei einem so hochkompli- Ausführungsunterlagen!) zierten und großen Bauwerk ist das Zusammenspiel aller Beteiligten natürlich von enormer Bedeutung. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Darf ich bitten, Fragen zu stellen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster der Kollege Hans Wallow. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Das habe ich klar beantwortet. Hans Wallow (SPD): Frau Ministerin, Sie sprachen vorhin davon, daß Sie zur notwendigen Personalver- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt als letzte zu mehrung bei der Bundesbaudirektion beigetragen dieser Frage die Kollegin Brigitte Schulte. haben, andererseits sprechen Sie aber in einem Atem- zug davon, daß Sie der Bundesbaudirektion Aufgaben entzogen haben. Haben die denn jetzt weniger zu tun, Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Frau Minister, Sie oder wie erklärt sich diese Diskrepanz? haben eben dankenswerterweise festgestellt, daß die Haushaltsunterlage Bau von Ihnen und dem Finanz- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr ministerium erstellt wird. Trifft es zu, daß Sie in keine Kollege, ich habe eben ausgeführt, daß die zusätzlich Einzelprüfung dieser Unterlagen durch Ihre Fach- zu leistenden Aufgaben in Berlin — Bauten für den leute gehen? Deutschen Bundestag im Bereich des Spreebogens, Kanzleramt, Bundespresseamt, aber genausogut auch Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Die Bauten für die Bundesregierung in anderen Teilen Aufstellung der Haushaltsunterlage Bau wird selbst- Berlins — natürlich zusätzliche Aufgaben sind. Die verständlich im Zuge der Zuständigkeit im Baumini- Aufgaben, die im übrigen die Bundesbaudirektion im sterium als technischer Aufsichtsinstanz geprüft. Ich Ausland und in den Bundesländern leisten muß, sind gehe davon aus, daß das zum damaligen Zeitpunkt mit durch die deutsche Einheit nicht weniger geworden, der Sorgfalt, die notwendig ist, auch durchgeführt sondern haben eine Zunahme erfahren. Dem hat der worden ist. 17468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich rufe die Dring- Diese Schauveranstaltungen gehen mir liche Frage 2 des Kollegen Otto Reschke auf: wirklich auf den Geist! — Gegenruf der Abg. Was ist der Grund für die Beauftragung einer „Projektsteue- Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das habt ihr auch rung", und welche Aufgaben und Verantwortung hat noch die schon gemacht!) Bauleitung, die nach Auffassung der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau vom 11. Januar 1994 Frau Ministerin, der Grund meiner Dringlichkeits- grob fahrlässig gehandelt hat? frage war der folgende: Sie haben eine Entscheidung getroffen, wobei Sie die Verträge zwischen der Bun- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr desbaudirektion und der Bauleitung nicht kannten. Kollege, lassen Sie mich einleitend zur Beantwortung Ich frage Sie: Haben Sie der Bundesbaudirektion Ihrer Frage einen kurzen Be richt über die möglichen Aufgaben entzogen? Da Sie die Verträge nicht kann- Ursachen des Schadens, der jetzt eingetreten ist, - ten, konnten Sie ja nicht wissen, welche Aufgaben Sie geben. Das ist im Hinblick auf die Konsequenzen wegnehmen. Ich frage weiter: Haben Sie sie einer notwendig. besonders qualifizierten Firma übergeben? Als Ursachen des Schadens kommen aus derzeiti- Hinzu kommt, daß die Mitarbeiter des Bauministe- ger Sicht in Frage: Planungsfehler, ein Leck im Hoch- riums, die das hätten vorbereiten können, die wasserschutztopf oder — als wahrscheinliche Haupt- Erkenntnisse hätten zusammentragen oder vor Ort ursache — die Nichtfertigstellung des Hochwasser- hätten sein können, zu dem Zeitpunkt in „Hochwas- schutzes. serurlaub" waren. Wenn ich die Nachrichten während Der Rhein hat am 23. Dezember 1993 im Bereich der der Ferien richtig verfolgt habe, waren ja eine ganze Baustelle der Schürmann-Bauten mit seinem zu die- Menge Mitarbeiter in Urlaub. Aus diesen Punkten sem Zeitpunkt höchsten Pegelstand das Hochwasser ergibt sich, daß Sie Aufgaben verlagert haben. Es von 1926 noch um drei Zentimeter überschritten, stellt sich für mich die Frage: Wo sind Ihre Urteils- jedoch die Höhe des geplanten endgültigen Hochwas- grundlagen, und auf Grund welcher Information serschutzes bei weitem nicht erreicht. Wie das Bun- haben Sie geurteilt? desbauministerium erst am 6. Januar 1994 erfahren hat, war der endgültige Hochwasserschutz in Berei- chen noch nicht fertiggestellt. Wie die BBD berichtet, waren die Arbeiten am Hochwasserschutz in dem Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr fraglichen Bereich im Januar 1993 ohne Hinweis auf Kollege, ich habe gesagt, daß ich beabsichtige, dieses Mängel oder Restarbeiten durch die ABE-Bauleitung zu tun. Sie wissen selber als erfahrener Fachmann, abgenommen worden, aber nicht ausgeführt. daß leider gerade im öffentlichen Bereich eine Fülle Trotz des nicht fertiggestellten Hochwasserschutzes von Fragen zu klären sind — Sie haben sie angespro- waren ausreichende andere Schutzvorrichtungen chen —, bevor eine solche Entscheidung dann auch nicht getroffen worden, so daß Oberflächenwasser umgesetzt werden kann. In der Tat — das habe ich zwischen Rohbau und Baugrubendichtwand eintreten gerade ausgeführt — kommt es mir darauf an, die und Druck aufbauen konnte, der den Rohbau hob. Bauherrenfunktion gegenüber den anderen Auftrag- Sofort nach dem Bekanntwerden unzureichender nehmern, speziell gegenüber den Auftragnehmern, Hochwasserschutzvorkehrungen hat das Bundesmi- die nach § 31 HOAI an dem Bau tätig sind, zu stärken. nisterium für Raumordnung, Bauwesen und Städte- Die Ausgestaltung ist in der Tat das, was jetzt noch vorgenommen werden muß. bau die Bundesbaudirektion angewiesen, ein Beweis sicherungsverfahren einzuleiten. Wenn ich aber zu dem in Ihrer etwas flapsigen Der Grund für die geplante Beauftragung einer Bemerkung angesprochenen Punkt noch einmal Projektsteuerungsgruppe liegt nun in der notwendi- zurückkommen darf, so möchte ich Ihnen doch sagen, gen Verbindung der bauherrentypischen Leitungs-, daß ich es bedauerlich finde, daß eine Boulevardzei- Kontroll- und Überwachungsaufgaben mit entspre- tung auf Kosten von Mitarbeitern des BM Bau — ob- chender Bauausführungserfahrung und hohem Spezi- wohl sie besser informiert war — einen solchen alwissen in fachtechnischer und wirtschaftlicher Hin- Eindruck erweckt hat. Am 23. Dezember 1993 stand sicht. Damit soll bei der Bewältigung der zusätzlich das Rheinhochwasser am Morgen auf der Höhe des anstehenden komplizierten Sanierungsaufgaben ein Deiches um das Bauministerium in der Deichmanns ausreichend qualifiziertes Gegengewicht zu den Aue, und es stieg an einer über die Straße aufgestell- anderen Auftragnehmern des Bundes geschaffen und ten Spundwand kontinuierlich höher bis zu einem eine Verstärkung der originären Bauherrenfunktio- Stand von 1,80 m. Wir mußten gewärtigen, daß die nen gegenüber den bisher am Verfahren Beteiligten Spundwand den Druck nicht mehr aushalten würde. sichergestellt werden. Um Schaden von meinen Mitarbeitern abzuwenden, habe ich angeordnet, daß jeder das Haus verlassen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine erste Zusatz- könne. frage des Kollegen Reschke. (Otto Reschke [SPD]: Am 23.?) Otto Reschke (SPD): Ich hoffe, ich habe genauso Darüber hinaus hätte Arbeit an diesem Tag über- viel Zeit wie die Bauministerin bei der Beantwortung haupt nicht mehr stattfinden können; denn alle elek- meiner Frage. Ich bin natürlich noch dabei — ich trotechnischen Geräte mußten selbstverständlich aus danke für die ausführlichen Informationen —, das zu Sicherheitsgründen abgeschaltet und gesichert wer- verdauen. den. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Herr Kollege, das Es hat dann ein Krisenstab am 24., am 25., am 26. wußten Sie doch alles schon seit gestern! Dienst getan. Selbstverständlich ist die normale Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17469

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer Dienstzeit für alle Mitarbeiter nach den Weihnachts- Aber zu Ihrer anderen Frage: Das stellt sich in der feiertagen wieder angelaufen. Tat heute so dar. Die Firma ABE hat eine Leistung Dieses hätte jeder wissen können. Ich finde es billig, abgenommen und durch Unterschrift bestätigt, deren was da gelaufen ist. Ausführung offensichtlich nicht erfolgt war. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Hört! ten der CDU/CSU) Hört!) Zu dem Unterton, den Sie in Ihrer Bemerkung Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- hatten, kann ich nur sagen: Die Art von Privatisierung, frage des Kollegen Reschke. die dort gemacht worden ist und die ich noch einmal als einen ersten Schritt bezeichnen möchte, ist, wie Sie Otto Reschke (SPD): Ich habe es so verstanden, daß selber wissen, nicht das, was ich im vergangenen Jahr Sie am 23. Dezember 1993 die Anordnung zu einem skizziert habe. „Hochwasserurlaub" getroffen haben. (Zurufe von der F.D.P.: Das ist doch billig! — Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die nächste Mein Gott! — Setzen! Fünf! — Unglaub- Zusatzfrage stellt Kollege Janzen. lich!) Dr. Ulrich Janzen (SPD): Frau Ministerin, Sie haben Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Ich soeben mitgeteilt, daß die wesentliche Ursache für habe am 23. die Anordnung getroffen, meine Mitar- den Schaden vermutlich die Nichtfertigstellung des beiter vor weiteren Gefährdungen zu schützen. Hochwasserschutzes sein dürfte. Ich stelle an Sie die Frage, ob in Ihrem Ministerium in Kenntnis der Otto Reschke (SPD): Wir können uns auf diese Tatsache, daß grundsätzlich in jeder Phase des Bau- Formulierung einigen. zustandes ein Hochwasser eintreten und Schaden Das veranlaßt mich zu der Frage, wann das Bundes- verursachen kann, eine Prüfung der Planungsunterla- bauministerium die Bauministerin informiert hat über gen dahin gehend erfolgt ist, daß ein Schaden durch die Gefahren am Schürmann-Bau, die die Hochwas- Hochwasser in jeder Bauphase verhindert werden serflut mit sich bringen kann, und über den eingetre- kann. tenen Katastrophenfall am 22. und 23. Dezember sowie über die von dem Krisenstab geplanten Szena- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr rien zur Gefahrenabwehr beim Bauzustand im Kollege, die Hochwasserschutzmaßnahmen im End- Dezember 1993. zustand sind andere als die Hochwasserschutzmaß- nahmen während des Bauzustandes an diesem Bau. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr (Dr. Ulrich Janzen [SPD]: Danke für die Kollege, wir haben im Bauministerium selbstver- Aufklärung! ) ständlich täglich die Pegelstände abgefragt und intern — Das wissen Sie als erfahrener Bauexperte. beraten, was an Hochwasserschutzmaßnahmen not- wendig ist. Über den am Schürmann-Bau eingetrete- Die Frage der ausreichenden Sicherheit ist nach nen Schaden bin ich am 23. Dezember 1993 morgens meinem Kenntnisstand während der Aufstellung der vom Abteilungsleiter Bauwesen des Bundesbaumini- Haushaltsunterlage Bau intensiv erörtert und mit der steriums informiert worden, der zu diesem Zeitpunkt Genehmigung der Haushaltsunterlage Bau dann posi- vom Bauleiter der BBD auf der Baustelle, Herrn tiv beantwortet worden. Es gibt aus heutiger Sicht Tepper, informiert worden war. einige Fragen vor allen Dingen hinsichtlich der Pla- nung der Wasserhaltung unter dem Bau, und es gibt natürlich vor allen Dingen Fragen im Zusammenhang Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage mit der Entwicklung des Hochwasserschutzkonzeptes des Herrn Abgeordneten Conradi. und dessen Ausführung. Aber speziell der zweite Punkt wird ja Gegenstand des gerichtlichen Beweis- Peter Conradi (SPD): Frau Ministerin, habe ich Sie sicherungsverfahrens sein, dessen Fragen im Moment richtig verstanden, daß die im Zuge Ihrer Privatisie- formuliert werden. Ich rechne damit, daß am Montag rungsbemühungen mit der örtlichen Bauleitung der Antrag mit den Fragen beim Landgericht einge- beauftragte private Firma ABE eine Bauleistung, die reicht sein wird. von der Baufirma noch gar nicht erbracht war, abge- nommen hat, d. h. bestätigt hat, daß diese Baulei- stung, die gar nicht erbracht war, schon erbracht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich habe jetzt worden sei? Hat die von Ihnen beauftragte private noch die Zusatzfragen der Kollegen Kubatschka, Firma das wirklich gemacht? Wallow, Kansy und Hitschler. Wären Sie damit einver- standen, daß ich dann die Zusatzfragen abschließe? — Dann hat der Kollege Kubatschka das Wort. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Conradi, ich habe die Firma ABE nicht beauftragt. Ich habe eben schon ausgeführt, daß die Firma ABE im Horst Kubatschka (SPD): Frau Ministerin, Sie haben Jahre 1989 einen Vertrag mit der Bundesbaudirektion gesagt, eine Bauleistung sei abgenommen worden, abgeschlossen hat. Zu diesem Zeitpunkt war weder die noch nicht ausgeführt gewesen sei. So etwas ist ja die derzeitige Präsidentin der Bundesbaudirektion eigentlich unglaublich, Präsidentin der Bundesbaudirektion noch war ich (Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer: Bundesbauminister. Das stimmt!) 17470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Horst Kubatschka und es ist auch technisch schlecht vorstellbar. Welche Bauwesen besprochen, daß zum einen eine direkte Bauleistung war abgenommen und nicht ausge- Begehung der Baustelle mit einer kontinuierlichen führt? Erfassung der Schäden vorgesehen ist, die auch durch das Bauministerium kontinuierlich zu begleiten ist, Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr auch in den darauffolgenden Tagen, und daß darüber Kollege, darauf eine dreiteilige Antwort. In der Tat hinaus selbstverständlich sofort alle uns zur Verfü- — ich stimme Ihnen zu —: Es ist unglaublich. Es liegen gung stehenden Möglichkeiten eingesetzt werden, im Moment noch etwas widersprüchliche Angaben um nicht nur den eingetretenen Schaden zu klären vor, an welchem Teil exakt der Hochwasserschutz und ihn, falls noch etwas zu minimieren ist, zu nicht ausgeführt worden ist. Ich konnte mich bei einer minimieren, sondern auch eine Ursachenklärung Begehung der Baustelle selber davon überzeugen, durchzuführen. Dies ist sofort in Angriff genommen daß zumindest an einer Stelle die Nichtausführung worden. des Hochwasserschutzes deutlich erkennbar ist. Es hat darüber hinaus auch kontinuierliche Bespre- Dazu muß ich kurz beschreiben, wie der Hochwas- chungen im Bauministerium mit den auch im Rahmen serschutz aufgebaut ist: Er besteht aus einer etwa dieser Überprüfung eingesetzten Mitarbeitern gege- 80 cm dicken sogenannten Schlitzwand, die nach ben. unten in die nächste wasserundurchlässige Schicht eingelagert ist. Diese Schlitzwand formt einen Topf. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun der Kollege (Peter Conradi [SPD]: Der unten offen ist!) Hitschler. Das ist das Grundprinzip. In diesen Topf ist der Baukörper eingesetzt. Die Verbindung zwischen Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Ministerin, nach- Schlitzwand und Baukörper wird durch einen kon- dem der Bundesbaudirektion ein von dieser mit der struktiven Aufbau gesichert, der aus einer senkrecht Bauleitung beauftragten privaten Firma unterschrie- in die Schlitzwand eingelassenen Gummidichtung benes Abnahmeprotokoll über die Hochwasser- besteht, die von einer Betonnase überwölbt wird und schutzmaßnahmen vorlag, ist davon auszugehen oder direkt auf der Schlitzwand aufsitzt. Darüber hinaus mußte die Bundesbaudirektion davon ausgehen, daß wird dann am eigentlichen Gebäude der Hochwasser- die Hochwasserschutzmaßnahmen tatsächlich auch schutz bis zur vorgesehenen Höhe von 53,85 m über korrekt ausgeführt worden sind, und bedeutet das NN am Gebäude selber durchgeführt. unterschriebene Protokoll seinerseits auch eine Entla- Offensichtlich hatte nun zumindest an einer Stelle stung der Bundesbaudirektion, was ihre Aufsichts- die Nase zwar schon die Armierung, aber noch nicht pflicht dieser Firma gegenüber betraf? den Betonschutz. Zu der Frage, ob tatsächlich die Gummidichtung eingelassen war, kann ich nichts Bundesministerin: Ich sagen. Mit dem bloßen Auge meinte ich zu erkennen, Dr. Irmgard Schwaetzer, denke, daß die Bundesbaudirektion, d. h. der zustän- daß sie nicht eingelassen war; dies ist aber nur auf dige Mitarbeiter der Bundesbaudirektion, davon aus- Augenschein zurückzuführen. gehen mußte, daß mit der Unterschrift der Firma ABE, Insofern kann ich nur noch einmal deutlich unter- also mit dem unterschriebenen Abnahmeprotokoll, streichen: Es ist unverständlich, daß diese Bauleistung die Leistung ausgeführt ist. abgenommen worden ist. Es kommt zwar am Bau vor, Im Rahmen der technischen und geschäftlichen eine Leistung abzunehmen und zu vereinbaren, daß Oberleitung muß die Bundesbaudirektion sicherlich sie zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt wird; auch stichprobenartig Kontrolluntersuchungen vor- (Zuruf von der SPD: Es ist unüblich!) nehmen. Die Art, die Häufigkeit und die Ausgestal- dann aber muß dies zumindest im Protokoll vermerkt tung unterliegen allerdings ihrer freien Entscheidung, werden. Hier findet sich auch kein Hinweis im Proto- so daß ich zu der Einschätzung komme, daß mit dem koll. — Ich stimme Ihnen gerne zu, wenn Sie sagen, unterschriebenen Abnahmeprotokoll die Baudirek- daß es unüblich sei. Ich hoffte, daß es unüblich sei. tion davon ausgehen konnte, daß diese Maßnahme (Zuruf von der CDU/CSU: Unmöglich!) erledigt war. Ich halte es für eine wirklich untragbare und unglaub- Dafür spricht auch, daß die Baudirektion uns gegen- liche Geschichte. über bestätigt hat, daß ihr bis zum 6. Januar — also bis zu dem Zeitpunkt, zu dem uns ebenfalls bekannt wurde, daß dort ein Stück oder mehrere Stücke nicht Nun der Kollege Vizepräsidentin Renate Schmidt: ausgeführt worden sind — nicht bekannt war, daß Hans Wallow. diese Lücke im Hochwasserschutz besteht. Das geht auch aus einem Protokoll einer Baustellenbespre- Hans Wallow (SPD): Frau Ministerin! Sie haben chung vom 22. Dezember über die Hochwasserschutz- vorhin auf die Frage meines Kollegen Reschke geäu- maßnahmen, die im Zuge der Sicherung der Baustelle Bert, daß Sie am 23. Dezember morgens über die noch zu erfolgen hatten, hervor. Da findet sich eine Gefahrensituation informiert waren. Welche Anord- Auflistung von möglichen Schwachstellen auf der nungen haben Sie zur Gefahrenabwehr in diesem Baustelle. Ein Hinweis auf diese Stelle findet sich in Augenblick getroffen? diesem Protokoll nicht, so daß wir davon ausgehen müssen, daß die ABE bzw. die ausführende Rohbau- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr firma die Bundesbaudirektion zu keinem Zeitpunkt Kollege, der Schaden war bereits eingetreten. Ich darüber informiert hat, daß diese Schwachstelle habe selbstverständlich mit dem Leiter der Abteilung besteht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17471

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die letzte Zusatz- Zweitens. Ich habe die Präsidentin gefragt, ob ich frage zu dieser Frage stellt der Kollege Kansy. nicht auch — weil es dann in der Tat sehr viel einfacher gewesen wäre, Vermutungen von Zusam- Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Frau Ministe- menhängen zurückzuweisen — mitteilen könne, rin, können Sie bereits heute darauf antworten, daß wohin sie zu gehen beabsichtigt. Sie hat mich aus- die Firma ABE nunmehr behauptet, sie hätte die drücklich gebeten, davon keinen Gebrauch zu Sache nicht vollenden können, weil noch Genehmi- machen. Also: Ich sollte nicht mitteilen, daß sie einen gungen seitens der Bundesbauverwaltung fehlten? Ruf an die Technische Universität Darmstadt annimmt, von dem sie mir im Frühherbst des Jahres Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Diese 1993 berichtet hat. Aussage ist mir völlig unverständlich, wenn man - Entgegen dem, was allerdings gestern abend dagegenhält, daß es ein bestätigtes Abnahmeproto- gesagt worden ist, hat Frau Jakubeit mir im Herbst koll gibt. 1993 nicht gesagt, daß sie diesen Ruf anzunehmen (Beifall des Abg. Dr. Walter Hitschler [F.D.P.] gedenke. Die Mitteilung, daß sie diesen Ruf anneh- — Peter Conradi [SPD]: Sehr gut!) men werde, hat sie mir zum Abschluß des Gespräches mit mir am 11. Januar gemacht. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun kommen wir zur Dringlichen Frage 3 des Abgeordneten Peter Conradi: Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun eine Zusatz- Trifft die Mitteilung der Bundesministerin für Raumordnung, frage des Kollegen Hitschler. Bauwesen und Städtebau bei einer Pressekonferenz am 11. Ja- nuar 1994 zu, die Präsidentin der Bundesbaudirektion habe (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Die erübrigt ihren Rücktritt eingereicht, und wenn ja, aus welchen Gründen sich jetzt!) ist die Präsidentin der Bundesbaudirektion zurückgetreten? — Die erübrigt sich. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr (Peter Conradi [SPD]: Ich habe noch eine Kollege, die Bundesministerin für Raumordnung, zweite Zusatzfrage!) Bauwesen und Städtebau, also ich, hat eine derartige Mitteilung, wie Sie sie formulieren, bei der Pressekon- — Ach, Entschuldigung, ich habe das übersehen. Nun ferenz am 11. Januar nicht gemacht. Ich habe kommt die zweite Zusatzfrage des Kollegen Con- bekanntgegeben, daß die Präsidentin der Bundes- radi. baudirektion auf eigenen Wunsch die Bauverwaltung verlassen wird. Peter Conradi (SPD): Sind Sie sich darüber im Vizepräsidentin Renate Schmidt: Erste Zusatzfrage klaren, daß Sie mit Ihrer voreiligen Teilschuldzuwei- des Herrn Abgeordneten Conradi. sung, die Sie vorgenommen haben, indem Sie den Wechsel der Präsidentin in unmittelbaren Zusammen- Peter Conradi (SPD): Sind Sie sich darüber im hang mit dem Hochwasserschaden gebracht haben, klaren, daß Sie mit Ihrer Mitteilung auf Ihrer Presse- die Rechtsposition des Bundes in den bevorstehenden konferenz am 11. Januar — Sie haben unter „Konse- Auseinandersetzungen über die Verantwortung und quenzen" gesagt, die Präsidentin der Bundesbaudi- die Kostenübernahme für die Schäden empfindlich rektion werde aus ihrem Amt weggehen — einen beeinträchtigt haben — im Klartext: daß Ihr fahrlässi- wahrheitswidrigen Zusammenhang zwischen dem für ges Gerede auf der Pressekonferenz den Steuerzahler Oktober 1994 angekündigten Wechsel von Frau Jaku- viel Geld kosten kann? beit zur Universität Darmstadt und dem Hochwasser- schaden hergestellt haben und daß Sie damit Ihre Fürsorgepflicht als Dienstherrin gegenüber der Beam- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Diese tin gröblich verletzt haben? Unterstellung, Herr Conradi, weise ich nachdrücklich zurück. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, daß diese Mitteilung gemacht werden würde, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ist ausdrücklich mit der Präsidentin der Baudirektion ten der CDU/CSU) besprochen worden. Das ist nicht so. (Peter Conradi [SPD]: Das bestreitet diese!) Es mußte allerdings jedem klar sein, daß die Ankün- — Sicherlich nicht in dem Zusammenhang, digung einer beruflichen Veränderung in einer derar- (Peter Conradi [SPD]: Aha!) tigen Situation zu Schlußfolgerungen Anlaß gibt, die — — der dann auf Grund des Ablaufs hergestellt worden ist. (Peter Conradi [SPD]: Genau! Das ist der (Weitere Zurufe von der SPD: Aha! — Fahr- Vorwurf!) lässig!) — Aber das ist eine Frage, die die Präsidentin der BBD Zwei Dinge möchte ich dazu noch sagen: beantworten muß. Erstens. Ich kann niemandem vorwerfen, aus zeitli- (Peter Conradi [SPD]: Nein, Sie haben es chen Zusammenhängen irgendwelche Schlußfolge- doch an die Presse mitgeteilt!) rungen zu ziehen, die ich nicht gemacht habe. — Ich habe sie gefragt, was ich mit dieser Mitteilung (Peter Conradi [SPD]: „Konsequenzen"!) machen solle. Daraufhin hat sie gesagt, das sei selbst- 17472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer verständlich auf der Pressekonferenz auch mitzutei- von der anstehenden Veränderung erfahren, ist len. falsch. (Zuruf von der F.D.P.: Das hört sich ja wohl (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: anders an!) Nicht nur diese Behauptung!) Jedem muß doch selbstverständlich klar sein, daß, Es gibt von dem Gespräch, das ich mit Frau Jakubeit wenn in einem solchen Zusammenhang eine solche geführt habe, selbstverständlich auch ein Protokoll. Entscheidung mitgeteilt wird, Schlußfolgerungen Aus diesem Protokoll geht sehr klar hervor, was gezogen werden. Ich habe auf der Pressekonferenz gesagt worden ist. Deswegen bitte ich, das, was gesagt auf Nachfragen, warum denn dieser Wechsel jetzt worden ist, wenn wir denn schon damit umgehen, im anstünde, gesagt, daß ich davon ausginge, daß dieses Interesse von Wahrheit und Klarheit zur Kenntnis zu geschehen sei in Anbetracht der von mir angekündig- nehmen. ten weitreichenden Veränderungen der Aufgabenzu- Wir hatten — wie übrigens nicht zum ersten Mal — weisung an die Bundesbauverwaltung und der anste- in der Tat eine intensive Diskussion über die Aufga- henden Strukturreform — so übrigens auch nachzu- ben und die Durchführung von Aufgaben der Bundes- lesen. baudirektion, speziell im Bereich des Managements. Denn ich gehe nach wie vor davon aus, daß eine solche Vizepräsidentin Renate Schmidt: So, nun doch noch Bauverwaltung an der Spitze natürlich ein hervorra- eine Zusatzfrage des Kollegen Hitschler. gendes Management braucht, das in der Lage ist, Schwachstellen und Risiken von Baustellen sehr sorg- fältig zu untersuchen, zu erkennen, abzuwägen und (F.D.P.): Frau Ministe rin, Dr. Walter Hitschler notwendige Maßnahmen zu treffen. Darüber hinaus bedeutet Ihrer Meinung nach die Rücktrittsforderung war — das habe ich schon gesagt — vor allem die aus den Reihen der Opposition an Sie und die Zumes- unpräzise und widersprüchliche Information durch sung persönlicher Verantwortlichkeit für den einge- die Bundesbaudirektion, die die Aufklärung der Vor- tretenen Schaden nicht in gleicher Weise eine Schwä- gänge eher behindert denn gefördert hat, ein wesent- chung der Rechtsposition des Bundes licher Punkt für die Diskussion, die wir an diesem (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Morgen geführt haben. in dieser Auseinandersetzung, die ansteht? Die Bundesbaudirektion als nachgeordnete Be- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- hörde hat selbstverständlich eine Informationspflicht ten der CDU/CSU) gegenüber dem Bauministerium. Das Bauministerium kann seine Fach- und Dienstaufsicht überhaupt nur ausüben, wenn dieser Informationspflicht nachge- Bundesministerin: Herr Dr. Irmgard Schwaetzer, kommen wird. Das ist in den Tagen seit dem 23. De- Kollege, ich habe die Hoffnung, daß auch jedes zember erkennbar nur sehr unzureichend geschehen. Gericht das, was die SPD jetzt veranstaltet, unter dem Es ist auch bis zum heutigen Tag so. Stichwort „Wahlkampf '94" abbuchen wird. (Zuruf von der SPD: Das kann doch wohl nicht sein! — Zurufe von der CDU/CSU und Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere der F.D.P.: Doch! — Sehr wahr! — So ist es! — Zusatzfrage des Kollegen Hans Wallow. Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Mal sehen, wer baden geht!) Hans Wallow (SPD): Frau Ministerin, Ihre Mitteilung auf der Pressekonferenz über den Weggang der Als nächstes eine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Präsidentin der Bundesbaudirektion im Zusammen- Zusatzfrage des Kollegen Otto Reschke. hang mit dem Hochwasserschaden bedeutet eine politische Entlastung für Sie. Sind Sie nicht der Otto Reschke (SPD): Frau Ministerin, mir war noch Meinung, daß eine öffentliche Wiedergutmachung in nicht ganz klar, was Ihr Motiv war, zu diesem Zeit- Form einer Entschuldigung gegenüber der Präsiden- punkt mitzuteilen, daß Frau Jakubeit gehen möchte. tin notwendig wäre? Von der beruflichen Veränderung, die ansteht, haben (Zustimmung bei der SPD — Widerspruch Sie ja schon Wochen vorher erfahren. Ich würde gerne bei der F.D.P. — Peter Conradi [SPD]: So wissen, was Motiv und Anlaß war, daß Sie dies etwas macht sie nicht!) tatsächlich mitgeteilt und in den Zusammenhang der Konsequenzen der Hochwasserkatastrophe gestellt haben. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr (Zuruf von der F.D.P.: Das hatten wir doch Kollege, ich bin selbstverständlich bereit, zu sagen schon!) — ich sage es auch mit voller Überzeugung —, daß mir Das hat gestern abend eine Videoaufnahme des ZDF zu keinem Zeitpunkt daran gelegen war oder auch nur ganz klar gezeigt. gelegen sein könnte, in irgendeiner Weise die beruf- liche Zukunft von Frau Jakubeit zu beeinträchtigen. (Peter Conradi [SPD]: Wir legen Ihnen die Aber es muß doch jedem klar sein, daß es, wenn die Tonaufnahme vor!) Präsidentin einer Behörde, die in der öffentlichen Diskussion steht, mir vor einer Pressekonferenz Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr erklärt, daß bei ihr berufliche Veränderungen anste- Reschke, Ihre Behauptung, ich hätte Wochen vorher hen, und ich mit ihr bespreche, wie wir damit jetzt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17473

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer umgehen, und sie mir sagt: „Sie können es verwen- und daß nicht bekannt ist, daß die dort politisch den", Zuständigen ernsthafte Versuche gemacht hätten, das (Peter Conradi [SPD]: Aber doch nicht als Vollaufen dieser Baugrube zu verhindern? Konsequenz!) (Heiterkeit) unter Umständen zu Rückschlüssen kommt. (V o r s i t z : Vizepräsident Helmuth Becker) (Peter Conradi [SPD]: Schauen Sie sich das Video an!) Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, ich möchte darauf denn doch eine ernste Antwort geben. In der Tat, denke ich, würde es die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine letzte Zu- weitere Sicherung der Arbeiten am Schürmann-Bau satzfrage zu dieser dritten Frage, Herr Kollege erheblich beschleunigen und vereinfachen, wenn die Kubatschka. gesamte Kraft der Mitarbeiter des Bauministeriums von jetzt an darauf gelenkt werden könnte. Sie als Bauingenieur wissen, was da auf alle Beteiligten Horst Kubatschka (SPD): Frau Ministerin, können zukommt, wenn 330 000 Kubikmeter aus den Kellern Sie nicht wenigstens nachvollziehen, daß durch Ihre dieses Bauwerks abgepumpt werden müssen, das Ausführungen in der Öffentlichkeit der Eindruck nach wie vor nicht in seiner ursprünglichen Lage ist. ' entstanden ist, daß zwischen den Hochwasservor- Selbstverständlich müssen auch die Vorbereitungen kommnissen auf der Baustelle und dem Ausscheiden dafür getroffen werden, daß eine seriöse Entschei- der Ministerin ein Zusammenhang besteht? dung über eine mögliche Ausbesserung der Schäden getroffen werden kann, die ich zum gegenwärtigen (Peter Conradi [SPD]: Der Präsidentin! Leider Zeitpunkt nach den Schäden, die oberirdisch zu sehen nicht der Ministerin!) sind, für möglich halte. — Der Präsidentin. Ich sage aber noch einmal: Zunächst einmal muß Und noch etwas: Ich kann Ihnen versichern: Das man die Keller betrachten, um endgültige Entschei- Hochwasser wurde nicht durch die Wahlkampfleitung dungen treffen zu können. Aber wenn diese Entschei- der SPD bestellt. dung zu treffen ist, dann muß doch schon klar sein, (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: was mit den Schürmann-Bauten passiert, wenn sie Na, na! — Heiterkeit) weitergebaut werden. Insofern werden wir unsere Bemühungen, über die zukünftige Verwendung der Schürmann-Bauten Klarheit zu schaffen, mit aller Energie fortsetzen. Denn in der Tat haben die Schür- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Aber vielleicht kam es der SPD ganz gelegen. mann-Bauten für die Ausgleichsmaßnahmen für die Region Bonn eine hohe Bedeutung. (Zurufe von der SPD: Nein!) — Damit kehre ich einfach nur ein Argument um, das Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Sie eben gebraucht haben. Und da Sie das so heftig Herren, ich rufe jetzt die Dringliche Frage 4 des zurückweisen, denke ich, daß völlig klar ist, daß ich Abgeordneten Peter Conradi auf: das, was Sie eben unterstellt haben, für meine Person Wer ist für die örtliche Bauleitung (Objektüberwachung nach ebenfalls zurückweise. § 15 HOAI Leistungsphase 8) beim Schürmann-Bau verantwort- lich, und welche Teile dieser Leistungsphase hat die Bundes- Herr Kollege, ich habe auf Nachfragen auf der baudirektion nicht vergeben, sondern sich selbst vorbehalten? Pressekonferenz — ich habe das eben schon einmal Bitte, Frau Ministerin. gesagt — ausdrücklich als Begründung ausgeführt, daß ich davon ausgehe, daß dieser Schritt in Erwar- tung der tiefgreifenden Umstrukturierung, die ich Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr angekündigt habe, getan worden ist. Kollege, die Bundesbaudirektion hat die Arbeitsge- meinschaft ABE aus freischaffenden Bauleitungsbü- (Peter Conradi [SPD]: Nächstens wird noch ros mit der örtlichen Bauleitung — Objektüberwa- der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz chung nach § 15 HOAI Leistungsphase 8 — in nahezu schuldig gesprochen, weil er rheinaufwärts vollem Umfang beauftragt, mit Ausnahme der Kosten- regiert!) feststellung, dem Auflisten der Gewährleistungsfri- sten sowie der Kostenkontrolle, für die ABE nur einen Beitrag zu liefern hat. Der Firma ABE wurde insbe- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nachdem mir ver- sondere auch die Abnahme der Bauleistungen unter sichert worden ist, daß es eine kurze Zusatzfrage ist, Mitwirkung anderer an der Planung und Objektüber- auch noch der Kollege Kansy. wachung fachlich Beteiligter unter Feststellung von Mängeln übertragen. Dazu gehören: Vorbereiten der rechtsgeschäftlichen Abnahme und Teilnahme daran, Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Frau Präsiden- Prüfen der Bauleistungen auf vertragsgemäße Erfül- tin, der Kollege Conradi hat mir das Stichwort dazu lung, Feststellen und Auflisten von Mängeln, Klären gegeben: Ist es jetzt nicht an der Zeit, mit unsinnigen der Vorbehalte wegen Leistungsmängeln und Ver- Schuldzuweisungen Schluß zu machen angesichts der tragsstrafen. Tatsache, daß das Hochwasser nachweislich aus Des weiteren hat die Bundesbaudirektion mit Rheinland-Pfalz zugeflossen ist zusätzlichen Bauherrenleistungen zum einen das frei- (Heiterkeit) berufliche Büro Diederichs & Pa rtner für die Termin- 17474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer und Kostenplanung sowie für die Aufstellung des privaten Büros bzw. die privaten Firmen beauftragt Raumbuchs, zweitens das freiberufliche Büro Ass- gewesen sind. mann & Partner für die Führung der Haushalts- (Peter Conradi [SPD]: Auch ohne Kenntnis Kosten-Rechnungsbücher, des Bautagebuchs und der der Verträge?) Kostenkontrollmuster sowie drittens den Architekten Prof. Schürmann mit einem Zusatzauftrag für die Insofern war völlig klar, wer da welche Leistung künstlerische Oberleitung beauftragt. abliefern und kontrollieren mußte. Die rasche Aufklärung war notwendig und hat viele Diese Vergabe von Bauherrenleistungen an meh- rere freischaffende Büros war ein erster Schritt zur Kräfte gebunden, weil — noch einmal — uns die Bundesbaudirektion nicht den erhofften oder auch Privatisierung von Planungs - und Bauleitungsfunk- notwendig gewesenen Beitrag geliefert hatte. Inso- tionen, wie dies der Deutsche Bundestag wiederholt - fern ist die Entscheidung, die da getroffen worden ist gefordert hat. und die jetzt umgesetzt wird, eine notwendige Ent- Zur Weiterführung der Baumaßnahme der Schür- scheidung gewesen. mann-Bauten ist jetzt erforderlich, für die kompli- zierte Sanierungsaufgabe ausführungsbezogenen Sachverstand auf die Baustelle zu bringen, um die Vizepräsident Helmuth Becker: Noch eine Zusatz beauftragten Ingenieurbüros souverän koordinieren frage des Kollegen Otto Reschke. Bitte. zu können. Das geltende Gesetz über die Bundesbau- verwaltung läßt dazu leider nur eine Beauftragung Otto Reschke (SPD): Frau Ministerin, ich habe noch durch die BBD zu. Diese Aufgabe wird an eine einmal die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Baumi- Fachingenieurfirma vergeben. nisterium die Privatisierungsverträge einschließlich der Haftung und der Sicherstellung der Haftung auf Grund der durch die Bundesbaudirektion vorgenom- Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des Kollegen Conradi, bitte. menen Privatisierung geprüft hat.

Bundesministerin: Herr (SPD): Waren die Schuldzuweisun- Dr. Irmgard Schwaetzer, Peter Conradi Kollege, es handelt sich hier nicht um — wie Sie das gen in Ihrer Pressekonferenz am 11. Januar an die bezeichnen — Privatisierungsverträge, sondern um beteiligten Firmen und die Teilschuldzuweisung an ganz normale Verträge zwischen der Bundesbaudi- die Bundesbaudirektion nicht angesichts der Tatsache rektion und Ingenieurbüros oder Baufirmen bzw. etwas voreilig, daß Sie, Frau Ministerin, gestern im Arbeitsgemeinschaften von Baufirmen. Muster für Haushaltsausschuß einräumen mußten, die Verträge solche Verträge werden im BMBau erstellt, und nach drei Wochen nach dem Vorfall noch nicht einmal zu diesen Mustern werden die Verträge von der Bundes- kennen? baudirektion gestaltet. (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Sehr gut!) Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, eine Entscheidung über den weiteren Fort- gang der Schürmann-Bauten ist völlig unabhängig Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Ministerin, von der detaillierten Kenntnis von Verträgen. vielen Dank. Selbstverständlich sind die Fortführung der Ver- (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. — Dr. Pe träge mit den beauftragten Büros und die Vertragsbe- ter Struck [SPD]: Was ist denn jetzt los? Was ziehung zur Bundesbaudirektion eine feststehende sind das denn für neue Sitten?) Tatsache. Aus Ihrem Geschäftsbereich liegen zwei weitere Fragen des Kollegen Heinrich Lummer vor, und zwar die Fragen 29 und 30. Beide Fragen sollen schriftlich Peter Conradi (SPD): Frau Ministerin, ich habe eine beantwortet werden. Die Antworten werden als zweite Zusatzfrage. Ich habe nicht nach der Weiter- Anlage abgedruckt. führung gefragt, wobei ich hier sagen möchte: ich Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. wundere mich, daß sämtliche Bauarbeiten auf der Wir haben noch knapp drei Minuten Zeit in der Baustelle eingestellt werden, obwohl da Bauteile sind, die vom Hochwasser gar nicht be troffen worden sind. Fragestunde. Ich habe vielmehr gefragt, ob Ihre Schuldzuweisung Der Geschäftsbereich des Bundesministers für voreilig war. Sie haben von grob fahrlässigem Han- Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist der deln und davon gesprochen, wer den Schaden tragen nächste. muß, und Sie haben Ihre eigene Bauverwaltung mit in (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Da sind die Verantwortung genommen. Dies alles haben Sie noch die Fragen 31 und 32!) am 11. Januar gesagt, ohne die Verträge zu kennen, — Herr Kollege Dr. Seifert, es kommen in der Reihen- die genau festlegen, wer hier welche Verantwortung folge unserer Fragen noch weitere Fragen zum Bau- hat. Meine Frage war, ob dies nicht reichlich voreilig ministerium. Die kommen aber heute nicht mehr zum war. Zuge. Ich habe dazwischen jetzt zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Um- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Aber, welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Herr Abgeordneter, es war zu jedem Zeitpunkt völlig Zur Beantwortung steht uns Herr Staatssekretär klar, auch mir völlig klar, mit welchen Leistungen die Clemens Stroetmann zur Verfügung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17475

Vizepräsident Helmuth Becker Ich rufe die Frage 25 der Frau Abgeordneten Marion Bereichen durchaus das aufnimmt, was mit dem Caspers-Merk auf: Entwurf der Altpapierverordnung beabsichtigt ist. Wann wird die Bundesregierung, wie schon öfters angekün- Das bedarf natürlich einer sorgfältigen Prüfung. digt, durch Rechtsverordnung eine Rücknahmepflicht für Altpa- Diese kann in dem vorgegebenen Zeitrahmen noch pier und Altautos einführen? nicht abgeschlossen werden. Wir haben noch eine Bitte, Herr Staatssekretär. ganze Reihe von Fragen auch an die Wirtschaftsver- bände, wie sie die eine oder andere Formulierung Clemens Stroetmann, Staatssekretär im Bundesmi- ihrer Selbstbindung umzusetzen gedenken. nisterium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Ich gehe davon aus, daß wir diese Gespräche in den cherheit: Frau Abgeordnete, zur Frage der Einfüh- nächsten zwei bis drei Monaten zum Abschluß brin- rung einer Rücknahmepflicht für Altpapier hat die gen können, um dann darüber zu entscheiden, ob wir Bundesregierung bereits anläßlich der Beantwortung auf dem Weg der Kooperation das Ziel erreichen der Frage 1 der Kleinen Anfrage zur Altpapierverord- können oder ob wir den Weg der Verordnung mit nung am 17. August 1993 — Bundestagsdrucksache marktwirtschaftlichen Optionen weitergehen wol- 12/5561 — darauf hingewiesen, daß im Hinblick auf len. entsprechende Angebote der betroffenen Wirtschafts- kreise geprüft wird, ob die mit der geplanten Verord- nung verfolgten Ziele auch durch freiwillige Zusagen Vizepräsident Helmuth Becker: Eine letzte Zusatz- der entsprechenden Wirtschaft erreicht werden kön- frage der Frau Marion Caspers-Merk. nen. Das Bundesumweltministerium führt in diesem Marion Caspers-Merk (SPD): Herr Staatssekretär, Zusammenhang zur Zeit intensive Gespräche mit den Herr Minister Töpfer hat bereits wie in so vielen Wirtschaftsbeteiligten, die noch nicht abgeschlossen Bereichen 1991 angekündigt, daß die beiden Verord- sind. Auf Grund der Ergebnisse dieser Gespräche nungen schnellstmöglich kommen werden. Die Kom- wird die Bundesregierung dann über das weitere munen haben sich darauf verlassen. Ihnen ist seither Vorgehen bei der Altpapierverordnung entschei- erheblicher Schaden dadurch entstanden, daß sie den. bislang z. B. an das DSD für das Einsammeln von Altpapier und die Entsorgung zahlen müssen. Haben Der vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz Sie denn eine Kostenschätzung dessen, was den und Reaktorsicherheit vorgelegte Entwurf einer Kommunen hier an Schaden entsteht, und wie lange Altautoverordnung befindet sich gegenwärtig in der soll denn dieser Zustand noch toleriert werden? Abstimmung mit den Bundesressorts. Am 5. Novem- ber 1993 wurde die Anhörung der Bundesländer durchgeführt. Nach abgeschlossener Ressortabstim- Clemens Stroetmann, Staatssekretär: Einerseits mung wird sich das Bundeskabinett mit dem Entwurf sind die Kommunen entsorgungspflichtige Körper- befassen. Anschließend wird, wie üblich, der Bundes- schaften und insoweit, bevor neue Regelungen in rat beteiligt werden. Kraft treten, auch dafür verantwortlich, daß die Abfall- ströme u. a. beim Papier ordnungsgemäß entsorgt und, wo immer dies möglich ist, einer Wiederverwer- Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage der tung zugeführt werden. Insoweit kann von Schaden Kollegin Caspers-Merk. Bitte. überhaupt keine Rede sein. Andererseits nimmt das Duale System im gesamten (SPD): Herr Staatssekretär, Marion Caspers-Merk Bereich von Papier und Pappe, soweit es sich um es ist doch zutreffend, daß in einer Koalitionspresse- Verpackungsmaterialien han konferenz im September 1993 angekündigt wurde, delt, über den Grünen Punkt diese Stoffe schon heute zurück und führt sie daß sowohl die Altpapierverordnung als auch die weitestgehend einer Verwertung zu, was eine deutli- Altautoverordnung sehr schnell umgesetzt werden che Entlastung der Kommunen in einem wichtigen sollen. Deswegen habe ich konkret nach dem Zeit- Segment ihrer Abfallwirtschaftspolitik entspricht. punkt gefragt. Bei dem Thema Altpapierverordnung haben Sie nur eine freiwillige Vereinbarung, die Daß wir uns wünschen würden, daß an der einen Prüfung derselben, angekündigt, sich aber zu der oder anderen Stelle Vorhaben, die zum Schutz der Frage des Zeitpunktes nicht geäußert. Deswegen Umwelt dringend notwendig sind, etwas rascher vor- hätte ich gern gewußt, bis wann Sie denn diese ankommen, bedarf keiner weiteren Unterstreichung. freiwilligen Vereinbarungen prüfen und wann denn Es bedarf aber auch keiner Unterstreichung, wie wir gegebenenfalls, wenn diese nicht greifen, mit dem aus vielen Gesprächen an anderer Stelle wissen, daß Erlaß der Altpapierverordnung zu rechnen ist. die Beteiligung der Wirtschaft, die Beteiligung der Umweltverbände, die politischen Gespräche, wo m an nicht in jeder Phase Herr des Verfahrens ist, mitunter Clemens Stroetmann, Staatssekretär: Frau Abge- ordnete, zunächst einmal will ich darauf hinweisen, mehr Zeit brauchen, als man voraussehen konnte. daß es dem Kooperationsprinzip der Bundesregierung entspricht, immer dann, wenn die beteiligten Wirt- Vizepräsident Helmuth Becker: Letzte Zusatzfrage schaftskreise eigene Vorstellungen zur Umsetzung in dieser Fragestunde, Kollege Horst Kubatschka. umweltpolitischer Ziele entwickeln, diese sehr sorg- fältig zu prüfen. Uns liegt ein gemeinsamer Entwurf Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, teilt einer freiwilligen Selbstbindung des Bundesverban- die Bundesregierung Bedenken in der Rechtslehre, des Deutscher Zeitungsverleger und des Verbandes die Erfüllung einer Rücknahmepflicht nach der Deutscher Zeitschriftenverleger vor, der in vielen geplanten Altpapierverordnung wäre faktisch un- 17476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Horst Kubatschka möglich und würde gegen die Pressefreiheit versto- Überweisungsvorschlag: ßen? Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Clemens Stroetmann, Staatssekretär: Die an ver- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- einzelten Stellen geäußerte Meinung der Rechtslehre zes zur steuerlichen Entlastung von Grenz- zur Rücknahmepflicht bei der Altpapierverordnung pendlern und anderen beschränkt steuer- als möglicher Verstoß gegen die Pressefreiheit teilt die pflichtigen natürlichen Personen Bundesregierung nicht. (Grenzpendlergesetz) — Drucksache 12/6476 — Vizepräsident Helmuth Becker:Meine Damen und Überweisungsvorschlag: Herren, aus diesem Geschäftsbereich liegen noch die Finanzausschuß (federführend) Frage 26 der Frau Kollegin Jutta Müller, die Frage 27 Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren des Kollegen Horst Kubatschka und die Frage 28 des Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Kollegen Stiegler vor. Sie werden, wie nach der Geschäftsordnung vorgesehen, schriftlich beantwor- e) Erste Beratung des von der Bundesregie- tet. rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu den Protokollen vom 27. November Vielen Dank, Herr Staatssekretär, daß Sie da 1992 zur Änderung des Internationalen waren. Übereinkommens von 1969 über die zivil- Die Fragen aus dem Geschäftsbereich der Bundes- rechtliche Haftung für Ölverschmutzungs- ministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städte- schäden und zur Änderung des Internatio- bau sowie aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen nalen Übereinkommens von 1971 über die Amtes werden, wie nach der Geschäftsordnung vor- Errichtung eines Internationalen Fonds zur gesehen, schriftlich beantwortet. Entschädigung für Ölverschmutzungsschä- Wir sind damit am Ende der Fragestunde und fahren den in der Tagesordnung fort. — Drucksache 12/6364 — Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 13 Ausschuß für Verkehr sowie den Zusatzpunkt 3 a auf: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- 13. Überweisungen im vereinfachten Verfahren heit a) Erste Beratung des von der Bundesregie- f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ausfüh- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- rungsgesetzes zu dem Basler Übereinkom- zes zur Änderung des Ölschadengesetzes men vom 22. März 1989 über die Kontrolle — Drucksache 12/6373 — der grenzüberschreitenden Verbringung Überweisungsvorschlag: gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung Rechtsausschuß (federführend) (Ausführungsgesetz zum Basler Überein- Ausschuß für Verkehr kommen) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit — Drucksache 12/6351 — g) Erste Beratung des von der Bundesregie- Überweisungsvorschlag: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (federführend) zes zur Änderung des Gesetzes zur Über- Ausschuß für Gesundheit nahme der Beamten und Arbeitnehmer der Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Bundesanstalt für Flugsicherung b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- — Drucksache 12/6372 — brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Überweisungsvorschlag: Änderung des Fünften Buches des Sozial- Ausschuß für Verkehr (federführend) gesetzbuches (SGB V-ÄndG) Innenausschuß — Drucksache 12/6482 — Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: h) Erste Beratung des von den Fraktionen Ausschuß für Gesundheit (federführend) der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Ände- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung des Bundeszentralregistergesetzes rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (3. BZRÄndG) zes zu dem Zusatzabkommen vom 22. De- — Drucksache 12/6380 — zember 1992 zum Abkommen vom 20. Ok- Überweisungsvorschlag: tober 1982 zwischen der Bundesrepublik Rechtsausschuß (federführend) Deutschland und der Schweizerischen Eid- Innenausschuß genossenschaft über Arbeitslosenversiche- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO rung i) Beratung des Antrags der Abgeordneten — Drucksache 12/6536 — Gerd Wartenberg (Berlin), , Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17477

Vizepräsident Helmuth Becker Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter Berlin, insbesondere des Teilabschnitts: Uel- und der Fraktion der SPD zen-Stendal Statistik der Zu- und Abwanderung — Drucksache 12/6456 — Überweisungsvorschlag: — — Drucksache 12/5361 Ausschuß für Verkehr (federführend) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag: Innenausschuß (federführend) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind sie damit einverstanden? — Ich j) Erste Beratung des von der Bundesregie- höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so rung eingebrachten Entwurfs eines Elften- beschlossen. Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zusatzpunkt 4 auf: — Drucksache 12/6479 — 14. Abschließende Beratungen ohne Aussprache Überweisungsvorschlag: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Ausschuß für Familie und Senioren Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuß für Frauen und Jugend Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel Ausschuß für Bildung und Wissenschaft 11 12 Titel 681 01 — Arbeitslosenhilfe — k) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drucksachen 12/6175, 12/6401 — — rung eingebrachten Entwurfs eines Zwölf- Berichterstattung: ten Gesetzes zur Änderung dienstrechtli- Abgeordnete cher Vorschriften Adolf Roth (Gießen) Ina Albowitz — Drucksache 12/6483 — b) Beratung der Beschlußempfehlung des Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Innenausschuß (federführend) Unterrichtung durch die Bundesregierung Rechtsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 12 — Sachkosten bei Teil- 1) Beratung des Antrags der Abgeordneten nahme an Deutsch-Sprachlehrgängen für Horst Kubatschka, Robert Antretter, Her- Aussiedler — mann Bachmaier, weiterer Abgeordneter Drucksachen — 12/5880, 12/6402 — und der Fraktion der SPD Berichterstattung: Ökologisch verantwortlicher Ausbau der Abgeordnete Karl Diller Donau zwischen Straubing und Vilshofen Adolf Roth (Gießen) Ina Albowitz — Drucksache 12/5635 — c) Beratung der Beschlußempfehlung des Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Ausschuß für Verkehr (federführend) Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 04 — Zuschüsse zu den m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beiträgen zur Rentenversicherung der in Dr. , Klaus Daubertshäuser, Werkstätten beschäftigten Behinderten — Robert Antretter, weiterer Abgeordneter Drucksachen 12/6137, 12/6403 — — und der Fraktion der SPD Berichterstattung: Konzept zur Sicherung der nautischen Abgeordnete Karl Diller Qualifikation Hans-Gerd Strube Ina Albowitz Drucksache 12/6102 — d) Beratung der Beschlußempfehlung des Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Ausschuß für Verkehr (federführend) Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsausschuß Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 681 02 — Aufwendungen des ZP3 weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Bundes für die gesetzliche Unfallversiche- fahren - (Ergänzung zu TOP 13) rung - Drucksachen 12/6063, 12/6404 — a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Berichterstattung: Hansen, Klaus-Jürgen Hedrich, Günter Klein Abgeordnete Karl Diller (Bremen) und weiterer Abgeordneter Hans-Gerd Strube Ausbau der Bahnverbindung: Nordseehäfen Ina Albowitz 17478 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Vizepräsident Helmuth Becker e) Beratung der Beschlußempfehlung des Wir kommen zu Punkt 14 g, der Beschlußempfeh- Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der lung des Ausschusses für Verkehr zur Mitteilung der Unterrichtung durch die Bundesregierung EG über ein Aktionsprogramm zur Straßenverkehrs- Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel sicherheit, Drucksache 12/6315. Wer stimmt für diese 11 13 Titel 646 12 — Erstattung von Invali- Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimment- denrenten und Aufwendungen für Pflicht- haltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist bei einer beitragszeiten bei Erwerbsunfähigkeit in Reihe von Gegenstimmen und Stimmenthaltungen dem in Artikel 3 des Einigungsverfahrens angenommen. genannten Gebiet — Zusatzpunkt 4 a. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Drucksachen 12/6138, — 12/6405 — Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Änderung der Berichterstattung: Verordnung über Immissionswerte ab, Drucksachen Abgeordnete Karl Diller 12/6241 und 12/6555. Der Ausschuß empfiehlt, der Hans-Gerd Strube Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Ina Albowitz Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimment- f) Beratung der Beschlußempfehlung des haltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstim- Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der mig angenommen. Unterrichtung durch die Bundesregierung Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 sowie Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 zum Zusatzpunkt 5: Titel 686 30 — Beitrag an die Vereinten 3. a) Forschungsdebatte zum Standort Deutsch- Nationen — land Drucksachen — 12/038, 12/6406 — b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Berichterstattung: desregierung Abgeordnete Dr. Klaus Rose Bundesbericht Forschung 1993 Dr. Sigrid Hoth — Drucksache 12/5550 — Ernst Waltemathe Überweisungsvorschlag: g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfol- Berichts des Ausschusses für Verkehr genabschätzung (federführend) (16. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten die Bundesregierung Ausschuß für Gesundheit Mitteilung der Kommission an den Rat über Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- ein Aktionsprogramm zur Straßenver- heit kehrssicherheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft c) Beratung des Antrags der Abgeordneten — Drucksachen 12/5827 Nr. 2.16, Dr. Uwe Jens, Angelika Barbe, Holger 12/6315 — Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Berichterstattung: Fraktion der SPD Abgeordnete Elke Ferner Einrichtung eines Zukunfts- und Technolo- ZP4 weitere abschließende Beratungen ohne Aus- gierates zur Begutachtung der langfristi- sprache gen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen (Ergänzung zu TOP 14) Wirtschaft a) Beratung der Beschlußempfehlung und des — Drucksache 12/5914 — Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- Überweisungsvorschlag: schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu Ausschuß für Wirtschaft (federführend) der Verordnung der Bundesregierung Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfol- Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Än- genabschätzung derung der Verordnung über Immissions- d) Beratung der Beschlußempfehlung und des werte Berichts des Ausschusses für Forschung, — Drucksachen 12/6241, 12/6555 — Technologie und Technikfolgenabschät- Berichterstattung: zung (20. Ausschuß) zu der Unterrichtung Abgeordnete Dr. Peter Paziorek durch die Bundesregierung Dr. Liesel Hartenstein Vorschlag für einen Beschluß des Rates Dr. Jürgen Starnick über den Abschluß eines Abkommens zwi- Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Haus- schen der Europäischen Wirtschaftsge- haltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im meinschaft und der Russischen Föderation Jahre 1993, Drucksachen 12/6401 bis 12/6406. Wenn über Raumfahrtdienste Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die sechs — Drucksachen 12/5749 Nr. 3.60, Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — 12/6378 — Ich höre und sehe dazu keinen Widerspruch. Wer Berichterstattung: stimmt für die Beschlußempfehlungen des Haushalts- Abgeordnete Dr. Martin Mayer (Siegerts- ausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — brunn) Dann sind diese Beschlußempfehlungen bei Enthal- Lothar Fischer (Homburg) tung der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen. Dr. Ing. Karl-Hans Laermann Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17479

Vizepräsident Helmuth Becker ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Der Bundesforschungsbericht wird im Gegensatz zu CSU und F.D.P. Behauptungen der Opposition — dies wurde im übri- Förderung der Industrieforschung in den gen auch in der Bundesratssitzung am 26. November neuen Bundesländern des vergangenen Jahres bekräftigt — ausdrücklich gelobt und als wichtiges Dokument bezeichnet. — Drucksache 12/6561 — Überweisungsvorschlag: (Zuruf von der SPD: Wir haben auf Fehler Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- hingewiesen!) schätzung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Dem haben wir nichts hinzuzufügen. Aber natürlich Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten meinen wir, daß die Statistik allein es nicht macht. Wir Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bemühen uns deswegen, auf der Grundlage dieser Ausschuß für Bildung und Wissenschaft statistischen Unterlagen die Empfehlungen umzuset- Ausschuß Treuhandanstalt zen und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu Zum Bundesbericht Forschung 1993 liegen je ein ziehen. Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Fraktion der SPD vor. Drittens. Auf Grund der veränderten wirtschafts- politischen Rahmenbedingungen, der Strukturkrisen Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für in wichtigen Bereichen, einer trotz einiger Frühlings- die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vor- boten immer noch lahmen Konjunktur ist die Innova- gesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. tionskraft unseres Landes geschwächt. Das Ausland Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat hat teilweise aufgeholt. Die Innovationsdynamik der zunächst unser Kollege Christian Lenzer. deutschen Wirtschaft muß deswegen auch aus unse- rem Geschäftsbereich unterstützt werden.

Christian Lenzer (CDU/CSU): Herr Präsident! Der Aufbau der außeruniversitären Forschungsein- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit einiger richtungen in den neuen Bundesländern ist ein ermu- Zeit hat dieses Land ein neues Modethema, so könnte tigendes Zeichen, wie man hier vielleicht Erfolge man meinen. Es ist die Debatte um den Standort haben kann. Aber ich möchte auch nicht verschwei- Deutschland. Es ist aber ein wichtiges Thema. Aller- gen, daß wir mit großen Sorgen auf die Rezession bei dings wollte ich mit meiner etwas provozierenden der Industrieforschung in den neuen Bundesländern Bemerkung darauf hinweisen, daß ein solches Thema schauen. Der Kollege Joachim Schmidt wird sich nicht allein in akademischen Zirkeln zu behandeln ist, damit näher auseinandersetzen. sondern daß es ganz handfest und präzise hier in diesem Hause Punkt für Punkt abgearbeitet werden Viertens. Ich stütze mich auf die Aussage eines muß. renommierten internationalen Industrieberatungsin- stituts, das sagt, daß heute nicht mehr allein die Lassen Sie mich unsere Position zwar sehr lücken- Nobelpreise, die Zitierhäufigkeit und andere Indika- haft, aber doch an einigen wenigen Eckpunkten toren als Bewertung für leistungsfähige Forschung darstellen. Wir betrachten dies heute als einen ersten und Entwicklung ausreichen, sondern daß es auch Schritt — das liegt in der Natur der Sache, weil es in einmal erlaubt sein muß, nach dem gesellschaftlichen erster Linie die Forschungspolitiker betrifft —, eine Nutzen zu fragen. Antwort auf die Frage zu finden, welchen Beitrag zur Gesamtlösung im Zusammenhang mit der Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der um den Standort Deutschland die staatliche For- SPD) schungs- und Technologiepolitik leisten kann. Damit ich nicht falsch verstanden werde, sage ich in Wir gehen davon aus, daß es wichtiger ist, die eine ganz bestimmte Richtung: Wir wollen die Grund- Innovationskraft zu stärken, als überholte Strukturen auch in Zukunft stärken — das zeigt zu subventionieren. lagenforschung sich im Haushalt eindeutig und zweifelsfrei — und (Beifall bei der CDU/CSU) ausbauen, wo notwendig. Aber wir erlauben uns, wo Wir wissen, daß es ein ganz wichtiger Beitrag sein öffentliche Mittel in Rede stehen, auch kritische Fra- kann und sein muß — ungeachtet aller Debatten in gen hinsichtlich des gesellschaftlichen Nutzens zu bezug auf Ordnungspolitik —, stellen. (Zuruf von der SPD: Aha!) (Zuruf von der SPD: Meinen Sie auch die der aus dem Bereich staatlicher Forschungs- und Raumfahrt?) Technologiepolitik kommen muß. Insofern sehen wir hoffnungsvolle Ansätze in den folgenden Signalen: Fünftens. Die finanziellen Rahmenbedingungen Beschluß zur Referenzstrecke Transrapid; Mikroelek- müssen verbessert werden. tronik- Forschungs- und -Produktionszentrum der (Zuruf von der SPD) Firma Siemens in Dresden; Entscheidung der Firma Daimler Benz, in Rastatt ein sehr innovatives, fort- Ich mache keinen Hehl daraus — und habe das für schrittliches Fahrzeug zu bauen. unsere Gruppe immer gesagt —, daß wir die Stagna- Der zweite Punkt. Ich möchte dem Bundesminister tion, die Plafondierung des Forschungshaushalts als für Forschung und Technologie, der sich in dieser ein schlechtes Zeichen betrachten. Ich fordere dazu Debatte auch noch zu Wort melden wird, ein Kompli- auf, daß wir uns gemeinsam bemühen, auch durch ment zum Bundesforschungsbericht 1993 machen. eine Erhöhung des Forschungshaushalts dem For- 17480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Christian Lenzer schungsminister größeren operativen Spielraum zu Eigentlich müßte der Mensch Vergnügungsteuer sichern. Er ist sicherlich auch damit einverstanden. bezahlen, oder er hat eine neue Sonnenbank. (Zuruf von der SPD: Das ist richtig! — Zuruf (Josef Vosen [SPD]: Selbst bezahlt!) von der CDU/CSU: Gerade im Bundesrat!) Gentechnik, Biotechnologie, neue Werkstoffe, Mi- Meine Damen und Herren, deswegen müssen wir kroelektronik, Luft- und Raumfahrt und, so füge ich neue Finanzierungsquellen suchen. Ich nenne als hinzu — auch wenn Sie im Dreieck springen —, Stichworte nur einmal: die ganze Entrümpelung und Kernenergie sind Bereiche, in denen Sie nicht nur Verbesserung des Stiftungsrechts; Risikokapital. Wir Forderungen stellen dürfen. müssen den Banken klarmachen, daß man nicht nach (Beifall bei der CDU/CSU) dem Motto verfahren kann, Regenschirme zu vertei-- len, wenn es nicht regnet, und sobald der erste Wenn es darauf ankommt, solche Projekte zum Erfolg Tropfen fällt, sie wieder einzusammeln, wenn man zu führen, dann dürfen Sie nicht durch die Länderre- wirklich echte Risiken mindern will. gierungen Knüppel zwischen die Beine werfen, son- dern müssen mithelfen, daß etwas bewegt wird. Sechster Punkt. Die organisatorischen Rahmenbe- dingungen müssen verbessert werden. Flexible (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ arbeitsrechtliche Regelungen in den Großforschungs- CSU]: Auch der Forschungsreaktor München einrichtungen zu schaffen ist Teil einer Debatte, die gehört dazu!) wir seit Jahren auch im zuständigen Fachausschuß — Natürlich gehören auch alle Infrastrukturinvestitio- des Deutschen Bundestages führen. Wir sind zwar hie nen im Forschungsbereich dazu. Kollege Mayer, hier und da weitergekommen, aber es gibt noch einen gab es bereits vor der Regierungszeit der CDU/CSU erheblichen Nachholbedarf. feste Zusagen an die Bayerische Staatsregierung. Auch dazu sollte man gelegentlich einmal stehen. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Auch nach zwölf Jahren CDU-Regierung!) (Beifall des Abg. Dr. Martin Mayer [Siegerts brunn] [CDU/CSU] —Josef Vosen [SPD]: Das In dem Zusammenhang werfe ich ein Stichwort ein, ist aber geflunkert!) das eine Problematik bet rifft, die erst vor wenigen Stunden in diesem Hause behandelt worden ist: Es Achtens. Ich möchte einfordern, daß wir uns hängt vielen Menschen zum Halse heraus, wie die gemeinsam bemühen, eine forschungspolitische Of- Dual-use-Problematik bei uns behandelt wird, daß fensive zu führen. Dazu müssen wir in der Öffentlich- Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen bei keit für mehr Verständnis für Forschung und techno- Produkten, die natürlich auch in der Verteidigung logische Entwicklung werben. Wir brauchen da auch angewandt werden können, verteufelt werden. Bitte die Hilfe der Medien. Ich finde es skandalös, daß ein helfen Sie alle mit, dagegen anzugehen. Es ist im großes Nachrichtenmagazin, das sich ja immer zum übrigen, so glaube ich, auch dem Ministerpräsidenten Richter über Gerechte und Ungerechte aufspielt, am Schröder in Niedersachsen völlig Wurscht, wie er Anfang dieser Woche in Sachen Transrapid und seine Arbeitsplätze sichert. Dabei hat er uns auf seiner anderen forschungsintensiven Investitionen von „ver- Seite stehen, wenn er diese Anstrengungen macht. plemperten Milliarden" spricht. So einfach kann m an es sich nicht machen, wenn man einen verantwor- (Dr. Peter Struck [SPD]: Dann können Sie ihn tungsbewußten, einen sachgerechten und kompeten- ja auch wählen, Herr Lenzer!) ten Beitrag in der öffentlichen Diskussion leisten will. — Ich bin kein Niedersachse, ich bin Hesse, Herr Struck. Ich würde ihn aber trotzdem nicht wählen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Peter Struck [SPD]: Das befürchte ich Bitte helfen Sie dabei mit, daß wir uns von solchen auch!) Querschüssen nicht beeindrucken lassen. So kann man Technik nämlich auch kaputtschreiben. Das hätte dann aber andere Gründe. Ich möchte zum Abschluß auf unser 22-Punkte- Siebtens. Es kommt uns darauf an, ein wissens- Papier, welches die CDU/CSU-Bundestagsfraktion intensives, ökologisch verträgliches und ressourcen- einmütig verabschiedet hat, hinweisen. Ich freue schonendes Wirtschaftswachstum zu induzieren. Des- mich, daß auch der Vorsitzende der Sozialdemokrati- wegen kann man trotzdem nicht auf beschäftigungs- schen Partei Deutschlands, Herr Ministerpräsident wirksame und beschäftigungsorientierte Initiativen Scharping, dieses Papier offensichtlich gelesen hat. verzichten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Wir können ihm noch weitere Exemplare zur Verfü- ich fordere Sie auf, sich nicht nur in Papieren zu gung stellen, wenn er das wünscht. Denn ich ent- erklären und Forderungen zu stellen. Herr Kollege nehme einer Agenturmeldung von heute morgen, daß Vosen, wenn Sie mir vielleicht einmal die Güte Ihrer er sich auf einem Empfang der Industrie- und Han- Aufmerksamkeit schenken würden — — delskammer in Koblenz etwa zu Fragen der günstigen Besteuerung von Forschungs- und Entwicklungsinve- (Josef Vosen [SPD]: Ich habe beide Lauscher stitionen sehr positiv geäußert hat. hoch!) (Edelgard Bulmahn [SPD]: Das hat er schon — Wer so aussieht wie Sie, muß sich erst einmal vor längerer Zeit vorgeschlagen!) wieder an das Arbeiten gewöhnen. Vielleicht sagt er uns dann aber auch, an welcher (Heiterkeit) Stelle die Gegenfinanzierung vorzunehmen ist. Auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17481

Christian Lenzer darauf wären wir natürlich sehr gespannt und für Der neue Minister, Herr Krüger — das muß man mal jeden hilfreichen Hinweis herzlich dankbar. sagen —, wirkt auf mich wohltuend, Vielleicht könnte er ein Beispiel aus seinem Kom- (Heiterkeit bei einigen Abgeordneten) petenzbereich nehmen, vielleicht könnte er gemein- denn er redet nicht so viel, wie in der Vergangenheit sam mit dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz geredet worden ist, sondern der scheint eventuell und Reaktorsicherheit, Herrn Töpfer, dafür sorgen, sogar handeln zu wollen, und er handelt sogar. Das ist daß das Kernkraftwerk in Mülheim-Kärlich möglichst wohltuend und das scheint auch nicht falsch zu sein, bald ans Netz geht. wobei ich natürlich glaube, daß ein Minister allein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- — wir hatten ja vorhin eine Ministerin hier — nicht ordneten der F.D.P.) reichen wird, um dann in das 12. und 13. Jahr gehen zu Dann könnte er dem alten biblischen Grundsatz können. Aber es ist wohltuend, sage ich ausdrücklich, huldigen: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", wenn wir in der Auseinandersetzung und in den nicht an schönem Reden. Diskussionen zwischen Forschungspolitikern ein gro- ßes Maß an Übereinstimmung feststellen können. (Zuruf des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) In der Forschungspolitik ist es zwischen den Par- — Sie können sich ja dabei bekreuzigen. teien bis auf einige Punkte so — Kernenergie ist von Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nicht nur Ihnen angesprochen worden, Herr Lenzer, da sind wir fordern, sondern auch handeln. Lassen Sie uns versu- uns nicht einig —, daß wir im großen und ganzen doch chen, die Zukunft zu gestalten. Dies geht nur, wenn in vielen Feldern übereinstimmen. wir nicht dauernd die Risiken der Technik, die zwei- Diese Regierung hat zu verantworten, daß konkret fellos niemand unter den Teppich kehren will, über- ab 1986 der Forschungshaushalt im Verhältnis zum bewerten. Gesamthaushalt des Bundes unterdurchschnittlich Es wird gelingen, wenn wir der Bevölkerung klar- gewachsen ist — es ist einfach wahr, man kann es über machen, daß es keinen technischen Fortschritt, keine die Zeitreihen sehen —, so daß der heutige Haushalts- Lebensqualität ohne Forschung und technologische ansatz, wenn er wie der Bundeshaushalt insgesamt Entwicklung geben kann. Dazu wollen wir unseren gewachsen wäre, 12,5 Milliarden DM betragen Beitrag leisten. müßte, also die Beträge fortgeschrieben; die Zahlen lassen sich prüfen. Er liegt aber nur knapp über Ich bedanke mich. 9 Milliarden DM. Das heißt, hier fehlen 3 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) DM in einem Einzeletat, gemessen am Bundeshaus- halt. Nun habe ich mir von dem Kollegen Zöpel gestern Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und noch erläutern lassen müssen, daß der Forschungs- Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Josef Vosen haushalt im großen und ganzen ein Investitionshaus- das Wort. halt ist und daß die Zinsausgaben — die Schulden sind ja bei Ihnen ins Unermeßliche gewachsen — abgezo- gen werden müßten. Wenn man das real vergleicht, dann würde man auch in dieser Sache noch zu dem Josef Vosen (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist so, daß ich mir Ergebnis kommen, daß unser Haushalt unterdurch- während der Rede meines Kollegen Lenzer die Frage schnittlich gewachsen ist. gestellt habe: Wer regiert eigentlich seit elf Jahren Ich fasse zusammen: Dieser Haushalt ist über viele dieses Land? Es scheint mir so zu sein, daß Sie jetzt Jahre der Spartopf der Bundesregierung gewesen. nach elf Jahren beginnen, den richtigen Weg zu Das Schlimme daran ist, daß das eine strukturelle beschreiten, oder zumindest erkannt haben, wie der Sache ist, die wir jetzt über Jahre bedauern und Weg aussehen könnte. beklagen werden und die jetzt alle Politiker als Fehler Die steuerliche Vergünstigung, die Sie ansprachen, erkannt haben; auch der Bundeskanzler hat mittler- steht z. B. in unserem Antrag, wörtlich zitiert. Wir weile gemerkt, daß man ohne Forschung, Technik fordern das seit Jahren. Es hat das ja auch schon und Wissenschaft die Zukunft nicht gestalten kann. einmal gegeben: steuerliche Förderung durch Perso- Durch diese langjährige falsche Politik haben wir, nalkosten-Zuschußprogramme. Das ist doch alles d. h. der Finanzminister, was den Wirtschaftsfort- unter dieser Regierung abgeschafft worden. Und jetzt schritt in Deutschland angeht, eine wesentliche Vor- erkennen Sie das wieder als richtigen Weg. aussetzung für Mißerfolge mitverantwortet. Ich sage Tatsache ist aber, daß es in Ihrer Regierungszeit in das nicht in Richtung Forschungspolitik der Union diesen elf Jahren mit der Forschung kontinuierlich oder der F.D.P. oder der CSU. Ich sage ausdrücklich: bergab gegangen ist. Das wissen Sie auch. Die For- Die haben das gesehen. Aber man hat nicht auf sie schungspolitiker der Regierungsparteien wissen das. gehört, auf uns alle nicht gehört. Erst in der letzten Zeit Das muß man ihnen also zugestehen. Es wäre also ist es uns gelungen, die Dinge zu verbessern. polemisch zu sagen, sie hätten nicht mit uns über viele Wir sagen heute — die Zeit läuft leider —, daß dieser Jahre hinweg überlegt und die Dinge, die da falsch Bundesforschungsbericht nicht mehr hergeben kann laufen, erkannt und auch gefordert, sie zu verändern. — die Beamten, die ihn formuliert haben, können nur Nur, das Problem war doch, daß sie sich in ihrer das schreiben, was passiert ist — als das, was die Fraktion gegenüber den jeweiligen Finanzministern Politik an Raum gelassen hat. Deswegen ist dieser nicht durchsetzen konnten. Bundesforschungsbericht einer der schlechtesten, die 17482 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 Josef Vosen ich in dieser Zeit im Deutschen Bundestag überhaupt Ich bin dafür, daß wir bei einer solchen Diskussion erlebt habe; und das sind mittlerweile 15 Jahre. Ich Polemik und Beschimpfungen gegenseitiger Art weg- glaube, daß das nicht an den Verfassern liegt, sondern lassen. Ich werde mich bemühen, daß wir diesen Stil an der Politik, die letztlich und endlich dahinter- auch beibehalten, denn sonst kommen wir nicht zu der steht. einheitlichen Dialogfähigkeit, die wir brauchen, um den forschungspolitischen Dialog so führen zu kön- (Beifall bei der SPD) nen, wie er zwingend und seit Jahren überfällig ist. Ich Ich möchte noch eines sagen: Ich denke — es ist kann nur sagen, Herr Krüger, ich wünsche Ihnen viel unmöglich, hier in der kurzen Zeit alle Versäumnisse Erfolg bei dieser Arbeit. Das sage ich im Interesse der aufzuzählen; meine Kollegen werden noch einiges Sache. Wir wollen gerne dazu beitragen. nachschieben —, daß es jetzt wichtig ist, daß wir Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. wenigstens in eine Konsensphase kommen, in eine Konsensphase nicht nur der Forschungspolitiker (Beifall bei der SPD) — das war in der Vergangenheit nicht das Problem —, sondern der Parteien und der Politik schlechthin. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Wenn es denn sinnvoll ist, einen Dialog zu führen, Dr. Karl-Hans Laermann. den wir mit einem Antrag, der heute auf der Tages- ordnung steht, fordern — es steht noch ein weiterer Antrag aus dem Wirtschaftsausschuß auf der Tages- Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (F.D.P.): Herr Präsi- ordnung —, so denke ich, daß wir den forschungspo- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich litischen Dialog, den auch Herr Krüger anstreben will, darf mit Befriedigung feststellen, daß wir in der jetzt wirklich gemeinsam führen wollen. Ich warne gewohnten Runde unserer Ausschußbesetzung sind davor, ihn parteipolitisch führen zu wollen. Es muß ein und die Diskussion, die wir dort begonnen haben und gesamtgesellschaftlicher Dialog sein, bei dem sich wiederholt geführt haben, hier nun fortsetzen. Ich bin auch die Opposition einbringt und wiederfinden sehr dankbar, daß wir die Gelegenheit haben, einmal kann; sachlich ist das ohne weiteres möglich, denn die über die Forschungssituation zu diskutieren. Kontroversen sind auf diesem Feld nicht so groß. Mit dem Bundesforschungsbericht 1993 liegt uns Ich bitte Sie also, der Einrichtung des Zukunfts- und nun eine umfassende Gesamtdarstellung der Daten Technologierates, wie wir ihn gefordert haben — in und Fakten zum Forschungssystem in der Bundesre- welcher Form auch immer, das muß noch im einzelnen publik vor. Die Schwerpunkte der Forschungsförde- ausgekleidet werden —, zuzustimmen. rung der Bundesregierung werden umfassend be- schrieben, insbesondere auch der Stand des Aufbaus Mein Kollege Siegmar Mosdorf hat zu diesem neuer Wissenschafts- und Forschungsstrukturen in Zweck — die SPD hat eine Arbeitsgruppe eingerich- den neuen Bundesländern. Statistisches Zahlenmate- tet, um diese Problematik zu erarbeiten — ein ausführ- rial wird auf 670 Seiten dargestellt. Das ist ein Rechen- liches Papier vorgelegt. Ich kann Ihnen nur raten: schaftsbericht, meine Damen und Herren, von ausge- Schauen Sie sich das an; machen Sie da mit und zeichneter Güte und gewiß eine beachtliche Fleißar- versuchen Sie diesen Dialog, damit wir endlich wieder beit. Die Frage aber muß erlaubt sein, ob eine solche begreifen, daß Forschungs- und Technologiepolitik Retrospektive in der heutigen Situation noch aus- auch Innovations- und Zukunftspolitik und Wirt- reicht. Wo ist die kritische, wo ist die selbstkritische schaftspolitik auf lange Sicht geplant ist! Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun? Ist wirk- Meine herzliche Bitte ist, daß wir uns bemühen, alle lich alles nur positiv zu bewerten? Wäre es nicht Verwaltungsvorschriften und alles das, was For- dringend notwendig, konkrete Schlußfolgerungen schung behindert, ein wenig zu entkrampfen. Da gibt aus der Bilanz zu ziehen, sich über allgemeine Formu- es eine ganze Menge Möglichkeiten. Wir haben das in lierungen hinaus mit den Handlungsnotwendigkeiten unserem Antrag im einzelnen aufgelistet. Das läßt sich und Spielräumen für die Zukunft, mit konkreten hier nicht im einzelnen darstellen. Helfen Sie mit, handfesten Perspektiven zu befassen? Von Schopen- damit unsere Wirtschaft, besonders die mittelständi- hauer stammt der Satz: „Zu verstehen, was geschehen sche Wirtschaft — dazu wird meine Kollegin noch ist, braucht Sinne, was geschehen soll, Verstand." Das etwas sagen — an diesem Prozeß neuer moderner gilt mit Bezug auf das, was ich vorhin ausgeführt habe, Technologien teilhaben kann! für die Regierung. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es gilt auch für uns. Auch wir, das Parla- Auch die neuen deutschen Länder, die in Wirklich- ment, haben unseren Verstand einzusetzen. Es keit finanzpolitisch im wahrsten Sinne des Wortes genügt nicht, wenn die Opposition nur kritisiert, ausgespart, finanzpolitisch ausgeblutet worden sind, immer alles und besser weiß, ohne konkret zu sagen, sollen ihren Anteil an dieser neuen Forschungspolitik was sie denn wirklich will, andererseits die Regie- haben. Wir begrüßen, Herr Krüger — das sage ich rungskoalition alles hervorragend findet, was die ausdrücklich —, daß das in Dresden so abläuft, wie es Regierung anrichtet. Werfen wir doch endlich einmal abläuft. Das will ich hier ausdrücklich erklären, alle unseren Verstand zusammen; obwohl ich auch sagen möchte, daß wir das gerne einige Jahre eher gesehen hätten. Man hätte diese (Horst Kubatschka [SPD]: Das gibt einen Entwicklung schon vor zwei, drei Jahren haben kön- großen Haufen!) nen. Es lag nicht an den Forschern, daß das nicht vielleicht reicht das dann, um die von niemandem geschehen ist, auch nicht an den Forschern der bestrittene schwierige Lage zu meistern, in der sich Regierung, sondern die Indus trie hat damals nicht Wissenschaft, Forschung und daraus hervorgehende gesagt: Wir machen das! — Sie sagt dieses erst heute. Innovation befinden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17483

Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Der Bundesforschungsminister hat im Sommer 1993 für die Erfinder in unserem Land bis hin zu den in einem Positionspapier die Schwerpunkte seiner pfiffigen Tüftlern. Sie sind für die Entwicklung unse- Arbeit vorgestellt, die Bundesregierung im Herbst ihr rer Volkswirtschaft von beachtlicher Bedeutung. Sie Standortpapier vorgelegt. Darin sind richtige grundle- verdienen unsere Aufmerksamkeit und Anerkennung gende Aussagen auch zur Bildungs-, Wissenschafts-, ebenso wie Nobelpreisträger. Dann dürfen wir diese Forschungs- und Technologiepolitik gemacht wor- Erfinder aber auch nicht mit unzeitgemäßen Maßnah- den. Jetzt gilt es, diese Grundsätze im einzelnen men wie z. B. die Erhöhung der Patentgebühren konkret darzustellen und sie auch umzusetzen. Die demotivieren. Koalitionsfraktionen sind sich darüber einig, daß wir, (Josef Vosen [SPD]: Sehr richtig!) ausgehend von der Feststellung, daß Forschungspoli- tik mehr sein muß als Geldverteilen und statistische Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß wir Zahlenspielereien zu be treiben, notwendige struktu-- nicht unbedingt Defizite in der Forschung haben. relle Maßnahmen ergreifen müssen, mit denen eine (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Nicht zuletzt wie Verbesserung der sogenannten Rahmenbedingungen der keine abgestimmte Politik!) erreicht werden kann. Es macht doch keinen Sinn, einfach und simpel immer nur mehr Geld zu forde rn. Wir haben Defizite in der Umsetzung von vielfältigen Lassen Sie uns doch einmal darüber nachdenken, wie hervorragenden Forschungsergebnissen in Innova- wir dieses Geld einsetzen, das zur Verfügung steht! Es tion. Es mangelt vielfach an Mut zur Umsetzung; es sind nicht nur die 9 Milliarden DM des Forschungs- mangelt daran, die ökonomische Nutzung voranzu- haushalts, sondern es sind 18 Milliarden DM, die die treiben. Da werden Bedenken hin- und hergewälzt, Bundesregierung insgesamt für Forschung und tech- Akzeptanzprobleme so lange diskutiert, bis uns nologische Entwicklungen ausgibt. Wer befaßt sich andere Länder eingeholt und überholt und die Markt- denn damit? — Wir reden immer nur vom Haushalt des positionen bereits besetzt haben. Forschungsministers. Insgesamt stehen aber 18 Milli- Viele kleine und mittlere Unternehmen im Hoch- arden DM zur Verfügung. Es wird unsere Aufgabe technologiebereich haben mit und ohne öffentliche sein, es ist unsere Aufgabe als Parlament, uns mit Förderung neue Produkte und Produktionsverfahren dieser Gesamtsumme zu beschäftigen. Wenn ich das entwickelt, und nun haben sie Probleme, die zur zusammenzähle, stehen wir insgesamt auch im Ver- Nutzung notwendigen Investitionen zu finanzieren, gleich zu den USA und zu Jap an doch so schlecht gar einen adäquaten Marktzugang zu finden. Hier muß nicht da. Politik ansetzen, und zwar mit großem Nachdruck, Kümmern wir uns nachdrücklich um vernünftige, den Übergang von Entwicklung, von Forschungser- sachgerechte Koordinierung der Ressortforschung, gebnissen zu Innovationen, zu Investitionen und um Reduzierung des bürokratischen Aufwandes, ob Arbeitsplätzen unterstützen. das nun das Antrags-, Bewilligungs- oder Abrech- Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß z. B. der nungsverfahren betrifft, mindestens um eine Harmo- Forschungs- und der Wirtschaftsminister diese Not- nisierung der Verfahren, die aus den verschiedensten wendigkeit erkannt haben und gemeinsam an ent- Töpfen finanziert werden! Ich behaupte, daß wir dann sprechenden Strategien arbeiten. Ich begrüße auch, von den 18 Milliarden DM erheblich mehr für die daß die Gewerkschaften genau diese Notwendigkeit eigentlichen Förderzwecke zur Verfügung hätten. ebenfalls erkannt haben, ihrerseits vernünftige Entrümpeln wir das Regelungsgeflecht! Lösungsansätze vorschlagen und ihre Kooperation Herr Vosen, ich stimme Ihnen zu: Viele Gesetze, anbieten. Richtlinien und Auflagen, die nicht für Wissenschaft Wir sollten darauf eingehen — nicht, indem wir und Forschung originär gedacht sind, werden unsin- Technologieräte bilden, sondern indem wir vernünf- nigerweise auf Forschung und Technikentwicklung tig in den Dialog eintreten, und zwar in einem breiten angewandt, behindern diese, besonders in der Indu- Spektrum zwischen den Beteiligten im Bereich der strieforschung, verursachen unnötige Kosten in der Forschung, im Bereich der Wissenschaft, den Beteilig- allgemeinen Verwaltung, aber auch bei den Zuwen- ten im Bereich der wirtschaftlichen Aktivitäten, zwi- dungsnehmern, bei denen, die die Forschung letzten schen Wirtschaft und Staat. Ich glaube, daß wir damit Endes ausführen sollten und ausführen müssen. mehr erreichen als mit der Institutionalisierung von Das können wir uns nicht mehr leisten. Hier sollten Technologieräten, bei denen im Grunde genommen wir ansetzen und nicht simpel immer mehr Geld nur Verantwortlichkeiten verwischt werden. fordern. Hier ist Geld; wir sollten es vernünftiger Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nutzen und vernünftiger einsetzen. leider ist die Uhr abgelaufen. Ich hätte gern noch zu (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) einigen anderen Punkten Stellung genommen. Mein Kollege Schnittler wird sich dann mit der Situation in Ich behaupte auch, daß die Forschung in Deutsch- den neuen Bundesländern auseinandersetzen. land trotz Behinderung und Schwierigkeiten gut ist, hervorragende Ergebnisse hervorgebracht hat und Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. auch hervorbringt. Das gilt besonders für die Grund- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lagenforschung. Warum sonst wären Wissenschaftler aus aller Welt so sehr daran interessiert, bei uns, an unseren Hochschulen, an unseren Forschungsinstitu- ten zu arbeiten? Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Aber das gilt nicht nur für die Spitzenforscher, das Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege gilt nicht nur für die Nobelpreisträger. Das gilt auch Dr. Dietmar Keller. 17484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- zerschlug. Ich habe schon gesagt, daß im Prinzip der dent! Meine Damen und Herren! Ich habe in der Umbau von Wissenschafts- und Forschungspersonal Debatte urn den Forschungshaushalt Ende vergange- auf der Tagesordnung stand und nicht der rigorose nen Jahres unseren Standpunkt zu Fragen der chro- und blindwütige Abbau. Nur so hätte der beigetretene nischen Unterfinanzierung und auch strukturellen Teil die Chance gehabt, aus eigener Kraft und mit Schwächen der Forschungslandschaft der Bundesre- eigener Akzentsetzung geistige, kulturelle und wirt- publik Deutschland dargelegt. Ich möchte heute auf schaftliche Erneuerung zu betreiben, ohne westdeut- einen Satz eingehen, den Sie, Herr Bundesminister, in sche Fehler und Irrwege in Wissenschaft und For- dieser Debatte formuliert haben. Sie haben davon schung zu wiederholen. Auf die Dauer wäre das auch gesprochen, daß es Ihnen gelungen ist, die staatlich viel billiger gewesen. getragene Forschungsstruktur in den neuen Ländern Charakteristisch für den verantwortungslosen Um- neu und zukunftssicher zu strukturieren. Man kann gang mit Wissenschaft und Forschung in Ostdeutsch- das Leben natürlich mit verschiedenen Brillen sehen. land ist auch, wer gegangen wurde und wer gegangen Aber auch Sie werden, wenn Sie die Forschungsland- ist. Von sich aus gegangen sind meist hochtalentierte schaft in den neuen Ländern kritisch betrachten, mit jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Traurigkeit feststellen, daß vieles mit Unverstand und Zielstrebig vertrieben wurden zum Teil die Köpfe, und Unvernunft kaputtgemacht worden ist, was der Bun- weit überproportional vom Abbau betroffen waren die desrepublik Deutschland auf lange Zeit echt fehlen Frauen. Übriggebliebene Rumpfteams haben sowohl wird. Sie stimmen mir bestimmt auch zu, daß der ihre führenden Forscherpersönlichkeiten verloren als ehemalige Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Profes- auch den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die in der sor Simon, ernst zu nehmen ist, wenn er formuliert hat: Wissenschaft lebenswichtigen Lehrer-Schüler-Bezie- „Das kommt heraus, wenn die Wissenschaft der Poli- hungen, die Schulenbildung, die über viele Jahre tik überlassen wird". mühsam aufgebaut worden ist, ist kaputtgegangen. Dieser Kahlschlag wurde geführt mit der Begrün- Wir wissen aus der deutschen Wissenschaftsge- dung einer chronischen Überbesetzung der For- schichte, wohin das führt und welche Konsequenzen schungslandschaft. Jeder, der es ehrlich gewollt hätte, das hat. hätte nachprüfen können, daß sich nicht nur die Die von der herrschenden Politik gewählte Haupt- Industrieforschung der DDR, sondern die gesamte stoßrichtung Personalabbau ist auch die entschei- Forschungs- und Entwicklungskapazität, bezogen auf dende Ursache für die in der ostdeutschen Forschung die jeweilige Wohnbevölkerung, etwa in einem Ver- vielfach festzustellende Leistungsblockade. hältnis von 1:1 zu der westdeutschen befunden Existenz- angst, Existenzunsicherheit, befristete Zeitverträge haben. In absoluten Zahlen und ermittelt nach den und ABM sind nun einmal die denkbar schlechteste gleichen Methoden der OECD-Statistik waren das ca. Hilfe für Innovation und Kreativität. 140 000 in der DDR gegenüber 425 000 in der alten Bundesrepublik Deutschland. Berücksichtigt man Die Übertragung ordnungspolitischer Schemata der noch die erheblich schlechtere finanzielle und mate- Alt-BRD auf die ostdeutsche Forschung und Wissen- rielle Ausstattung der DDR-Forschung, die, so gut es schaft — laut Einigungsvertrag sollten ja die öffentlich ging, durch das Personal wettzumachen war, kommt getragenen Einrichtungen begutachtet werden — ist unter dem Strich eher eine Unterbesetzung der DDR- in einem Maße, in einem Tempo und in einer Qualität Forschung heraus. Die ungeprüfte Unterstellung einer geschehen, wo mehr der Konkurrenzkampf als eine maßlosen Überbesetzung hatte massenhaftem und ordentliche und saubere Bewertung eine Rolle vielfach willkürlichem Personalabbau Tür und Tor gespielt hat. geöffnet. Das Ergebnis besteht heute darin, daß 75 % Die eigentliche Katastrophe bestand aus meiner des Forschungs- und Wissenschaftspersonals der DDR Sicht vor allem darin, daß nach dem ordnungspoliti- nicht mehr existieren und ein Forschungsgefälle von schen Verständnis der Alt-BRD die Einrichtungen der 6:1 zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland Industrieforschung als nicht öffentlich galten und erreicht ist. deshalb auch vom Wissenschaftsrat nicht begutachtet Die fatalen Folgen sind zu besichtigen, und sie wurden. Und nicht nur das! Die Existenz von 86 000 werden für einen längeren Zeitraum zu besichtigen Beschäftigten in der Industrieforschung wurde sein. Jeder, der sich auch nur ein wenig mit der schlichtweg ignoriert, und so wurden sie zu den ersten Wissenschaftsentwicklung beschäftigt, weiß, daß Wis- Opfern der Privatisierungspolitik der Treuhandan- senschaft und Forschung eines L andes ein hochsen- stalt. Ende 1993 sollen von den 86 000 noch etwa sibles und über Jahrzehnte gewachsenes Netzwerk 12 000 bis 13 000 übriggeblieben sein. Nach anderen sind, dem weder mit schnellen politischen Pauschalur- Berechnungen, etwa denen des Instituts für Wirt- teilen noch mit der Axt beizukommen ist, es sei denn, schaftsforschung Halle, sind es weniger; die SPD man will es bewußt zerstören. spricht in ihrem Entschließungsantrag von 10 000. Das treibende Moment der Wissenschaft und der Von diesen 10 000 oder 12 000 hängen rund 80 % am Forschung sind und bleiben, egal in welchem Land, Tropf von Finanzhilfen des Bundes. Diese finanzielle die Wissenschaftler selbst, bleiben die Forscher und Hilfe muß langfristig nicht nur gesichert, sondern ihre Beziehungen zum Forschungsgegenstand und zu ausgebaut werden; anderenfalls wird es einen Wirt- anderen Wissenschaftlern. Unter Beherzigung dieser schaftsstandort im Osten Deutschlands nicht geben. Binsenweisheit wurden sowohl in der BRD als auch in Wußte denn wirklich kein verantwortlicher Politi- der DDR gute, aber auch schlechte institutionelle und ker, daß die in den Staatsbetrieben der DDR angesie- strukturelle Lösungen gefunden. Das Problem löste delte Forschung auch staatliche, also öffentliche For- sich nicht, indem man alle Strukturen in der DDR schung war? Wußte niemand, daß die Forschung in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17485

Dr. Dietmar Keller der DDR ein wechselseitiges Geflecht von außeruni- Aber um ihn positiv oder kritisch würdigen zu versitärer Forschung, Hochschulforschung und Indu- können, muß man diesen Be richt auf den Kontext strieforschung war? Wußte niemand, daß mit dem jener Debatte beziehen, auf die er selbst immer wieder Einsturz der Säule Industrieforschung auch die ande- Bezug nimmt, nämlich die Frage nach dem Zustand ren Bereiche der Forschung schwer beschädigt wür- und der Entwicklungs- und Wachstumsfähigkeit des den? Sind wir so reich, daß wir das geistige Potential Industriestandorts Deutschland. von fast 80 000 Wissenschaftlern in der Industriefor- schung auf der Straße liegenlassen können? Nein, so (Josef Vosen [SPD]: Richtig!) reich sind wir leider nicht. Merkwürdig an dieser ganzen Debatte ist freilich, Ich wünsche dem Bundesminister Krüger und sei- daß schon der Gebrauch des Wortes „Standort" eine nen Mannen, daß bei den Versuchen der Bewässe- gewisse Statik und Status-quo-Fixiertheit signalisiert. rung der entstandenen Wüste Erfolg eintritt. Wir Aber es sei wiederholt: Bei Forschung geht es immer werden das Angebot, überall dort mitzuhelfen, wo es um Zukunft, durch Selbstorganisation von neu Wahr- im Interesse der Wissenschaft liegt und den betroffe- genommenem und offenbar Gewordenem. Eine der nen Wissenschaftlern dient, aufrechterhalten. Stärken des Berichtes ist zweifellos die Dichte seiner Problemwahrnehmung und -erfahrung. Aber entspre- Ich danke Ihnen. chend den Status-quo-Orientierungen der Standort- debatte wird dieses Problembewußtsein höchstens Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und zum Organisator seiner eigenen Zukunft, eben zur Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Verlängerung seines eigenen Status quo, statt zur Dr. Wolfgang Ullmann. Eröffnung einer Zukunft neuer Lebens-, Forschungs- und Arbeitsbedingungen.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hier ein paar Beispiele für diesen Widerspruch: NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wo Erfreulicherweise geht der Bericht ausführlich auf die eigentlich bewegen wir uns, wenn wir über Forschung Herausforderung der deutschen Forschungsland- und den Forschungsbericht der Bundesregierung schaft durch den Vereinigungsprozeß ein, zu dem debattieren? Mitten in einem der elementaren Herr Kollege Keller gerade gesprochen hat. Aber was Lebensvorgänge der Gesellschaft, mitten in der erfahren wir? Nur, wie die Forschungskapazitäten der Aneignung immer neuer Dimensionen der Wahrneh- alten DDR dem schon Bestehenden an- und eingeglie- mung des atomaren und stellaren, des physikalischen dert werden. Kein Wort darüber — und darin, Herr und biologischen Raumes! Forschung findet statt in Keller, sehe ich das tiefe Problem der Industriefor- Laboratorien, Observatorien, vor Computern oder schung in der DDR —, daß das Scheitern der VEB- manchmal bloß vor einer Wandtafel, auf die Formeln Industrie, der Tschernobyl-Effekt uns mit einer ganz geschrieben werden. neuen Tatsächlichkeit konfrontiert haben: der Unum- kehrbarkeit einer Industrieentwicklung, Aber das alles ist nur ihre Außenseite. Das Innere die wegen ihrer ökologischen Rückständigkeit ein ganzes L and dieser Bewegung ist in jedem Fall unsere Wahrneh- in den Abgrund gezogen hat. mung, unsere gemeinsame Wahrnehmung, und der gesamte wissenschaftliche Apparat existiert nur zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem Zweck, die einzelnen Wahrnehmungen eines Es war eine Industrie, in der die Produktivkraft Wis- einzelnen zu vergemeinschaften in der Wahrneh- senschaft ständig beschworen und auch entsprechend mung und in der Erfahrung dessen, was alle noch nie instrumentalisiert wurde. Meine Damen und Herren gesehen, gehört und eingeatmet haben. Weil solches in diesem Hohen Hause, das sollten wir uns zur Wahrnehmen so nötig ist wie die Luft zum Atmen, ist Warnung dienen lassen. Forschung zuallererst eine Lebensnotwendigkeit und erst in zweiter Linie ein Technologieinstrument. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr rich (Josef Vosen [SPD]: Ja, sehr richtig!) -tig!) Weil Forschung sich an den Grenzen einer jeweili- Aber ich finde außer einigen zaghaften Ansätzen gen Durschnittswahrnehmung bewegt, wird an ihrer nichts in diesem Bericht, was die fällige Neuorientie- Situation mehr über eine Gesellschaft offenbar als in rung der Forschung an Ambivalenz von Wissenschaft, ganzen Büchereien philosophischer Selbst- und Welt- Wissenschaftsfolgeabschätzung und -beseitigung deutungen. oder dem Prinzip Reversibilität signalisiert. Der gewichtige Forschungsbericht, der uns von der Die mit Recht sehr hoch bewertete Friedensfor- Bundesregierung vorgelegt worden ist, wird seinem schung steht in einem völlig ungeklärten Verhältnis gewaltigen Gegenstand gerecht, und es freut mich, zu einer ungebremst verlängerten Kriegs- bzw. Wehr- Herr Minister, das in Ihrer Gegenwart sagen zu forschung. Oder die Frage der Energieforschung all- können. Er zeugt von respekterheischender Kompe- gemein und der Kernenergieforschung speziell: Die tenz, ist detailliert, übersichtlich, informativ, bietet Passagen auf Seite 159 ff. sind ein geradezu klassi- sinnvolle und handhabbare neue Definitionen und sches Beispiel dafür, wie eine hochgradig verfeinerte eine Fülle von Handlungsanregungen und Denkan- Sicherheits- und Strahlenschutzforschung dazu dient, stößen. Alles, was ich an kritischen Bemerkungen die Ungelöstheit, aber auch die Unlösbarkeit des vorzubringen habe, könnte ich ohne diese Vorzüge Entsorgungsproblems mit Schweigen zu bedecken. des Berichts gar nicht formulieren. Wie viele Seiten werden der Frage einer Verbesse- (Christian Lenzer [CDU/CSU]: Bisher haben rung des Wissenstransfers gewidmet! Aber warum Sie recht!) wird die naheliegende Frage danach, Herr Krüger, ob 17486 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Wolfgang Ullmann das seit 1972 bestehende Nebeneinander vom Bun- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und desministerium für Forschung und Technologie und Herren, nächster Redner ist der Bundesminister für Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft Forschung und Technologie, unser Kollege Dr. Paul nicht eine der Hauptursachen solcher Transferpro- Krüger. bleme ist, nicht gestellt? Wäre nicht wenigstens über ein sinnvolles Evaluationsverfahren zu dieser Sach- lage nachzudenken? Und verdient in diesem Zusam- Dr.-Ing. Paul Krüger, Bundesminister für Forschung menhang der SPD-Vorschlag eines Technologierates und Technologie: Herr Präsident! Meine sehr verehr- als Kombination jetzt getrennter Organisations- und ten Damen und Herren! Ich freue mich, daß in den Transferstruktur nicht eine bessere Würdigung als letzten Monaten Forschung und Technologie wieder Ihre spöttischen Bemerkungen über Technologieräte? einen höheren Stellenwert in der Diskussion um die Es handelt sich ja um ein Gremium, und das ist gerade Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland ge- der wichtige Punkt an dem Vorschlag. wonnen hat. Das zeigt auch die Tatsache, daß heute diese Debatte stattfindet, denn seit Jahren ist eine (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) forschungspolitische Grundsatzdebatte in diesem Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich Hause nicht mehr gehalten worden. Um so mehr freue unterstütze natürlich alles, was Sie für die Forschungs- ich mich darüber. landschaft der beigetretenen DDR tun wollen, aber ich Gerade die konjunkturelle Schwäche weltweit hat muß sagen: Ihr Antrag, so gutgemeint er ist — ich kann vielen bewußtgemacht, daß eine starke Forschung ohne weiteres für ihn stimmen —, ist an Präzision weit heute die Grundlage für das Wirtschaftswachstum von hinter dem zurück, was auf Seite 22 ff. des Forschungs- morgen ist. berichts der Regierung steht. (Josef Vosen [SPD]: Aber zu spät!) (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das schaue ich sofort Leider konzentriert sich die öffentliche Diskussion nach!) im Forschungsbereich weniger auf die Ergebnisse als Das muß man auf jeden Fall ausbessern. Ich denke auf die Frage nach der Höhe der Aufwendungen. auch, der Vorschlag macht erst Sinn nach einem Wenngleich ich wie jeder Minister mehr Geld auch für gemeinsamen Nachdenken über den Vorschlag des die Forschungsförderung benötige, bleibt festzustel- Technologierates der SPD. len, daß die nachlassende Innovationsdynamik der Wirtschaft sich weniger in fehlenden Fördermitteln als Wer im übrigen fragt, wie man so etwas wie einen vielmehr in einer Reihe anderer Ursachen begründet. Technologierat finanziert, dem empfehle ich, einmal Hierzu liefert der vorliegende Bundesbericht For- darüber nachzudenken, ob nicht zur Verfügung schung 1993 klare Aussagen. gestellte Förderungsmittel — wenn die Förderung In jedem Fall ist die staatliche Forschungsförde- erfolgreich war — an die öffentliche Hand oder an rung der Bundesrepublik weltweit die relativ höchste Institutionen, die gefördert haben, zurückfließen Förderung. Der Rückgang der Gesamtausgaben für könnten. Forschung und Entwicklung in Deutschland von 2,9 (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ein guter Vor- auf 2,6 % des Bruttoinlandsproduktes ist neben der schlag!) derzeitigen problematischen Konjunktursituation der Wirtschaft wohl vor allem mit den besonderen Da die Zeit um ist, möchte ich zum Schluß nur noch Umständen der Wiedervereinigung zu begründen eines sagen. Herr Kollege, wir wollen die Risiken nicht und dabei insbesondere mit dem Wegbrechen der zu schlimm darstellen. Wir wollen sie aber auch nicht ganz übersehen. Der Mittelweg, um den es dabei geht ostdeutschen Industrie infolge von 40 Jahren Mißwirt- und auf den Sie hinauswollen, ist gerade das Pro- schaft blem. (Josef Vosen [SPD]: Ersatzlos!) Forschungsberichte werden deswegen so dick, weil und damit verbundenen erheblichen Reduzierungen das Problem im Zeitalter der Nuklearforschung und der Industrieforschung in den neuen Ländern. Gentechnologie so groß ist. Es ist ein Problem, wenn Anteilig würde eine vollentwickelte Industrie im Forschungsbericht die Ethik der Forschung nur als analog der bundesdeutschen in den neuen Ländern Hemmnis aufgeführt wird. Ich bin der Meinung, wir jährlich 10 Millarden DM im Bereich der Industrief or- kämen viel weiter, wenn man dem Vorschlag des schung ausgeben. Zur Zeit liegt dieser Anteil bei unter Verfassungskuratoriums an dieser Stelle folgte und einer Milliarde DM. Das macht in etwa, Herr Vosen, eine Verfassungsbestimmung einfügte. den Anteil aus, der zwischen 2,6 und 2,9 % fehlt. Das heißt, im Bereich der staatlichen Forschungsförde- Ich möchte mit der Behauptung schließen: Wir sollten Unsachverständigen im Lande nicht einreden, rung haben wir keine Rückgänge verursacht. es sei alles nicht so schlimm. Als verantwortliche Wir wollen an dieser Stelle aber auch deutlich Politiker sollten wir vielmehr dafür sorgen, daß For- machen, daß der Rückgang durch 40 Jahre Sozialis- schung für die Gesellschaft im ganzen transparent mus und seine Hinterlassenschaften begründet ist. Es wird. Ich denke, das müßte hier konsensfähig sein, verwundert mich schon, wenn Herr Keller in diesem damit Forschung das zuallererst tut, wozu sie da ist, Kontext deutlich macht, daß wir im Rahmen der nämlich zur Aufklärung im vollen Sinne des Wor- ostdeutschen Industrieforschung zuwenig tun, und tes. uns auf der anderen Seite vorwirft, daß wir staatlicher- seits nach meiner Information mittlerweile weit mehr Danke. als die Hälfte finanzieren. Sie sagten, sogar 80 %. Das (Beifall bei der SPD) ist für mich ein Widerspruch. Ich will damit nämlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17487

Bundesminister Dr.-Ing. Paul Krüger deutlich machen, daß wir überproportional viel tun im tionsklima herrscht. Das ist, glaube ich, der Grundte- staatlichen Sektor, um die Industrieforschung in Ost- nor, den dieser Kreis immer wieder zum Ausdruck deutschland zu erhalten. Wir müssen uns fragen: Wie bringt. Dieses hängt entscheidend davon ab, wie wir weit können wir es hier treiben? Wir brauchen einfach die Rahmenbedingungen für Forschung in Deutsch- Industrie. Die können wir nicht künstlich am Leben land gestalten. Zur Durchsetzung von Lösungen über erhalten. das BMFT, also mein Ressort, hinaus werden wir den Das Engagement der Wirtschaft ist jedoch auch in Kabinettsausschuß „Zukunftstechnologien", den es ja den alten Bundesländern sehr differenziert. Beispiels- gibt, wieder stärker nutzen und beleben als in der weise hat die Automobilindustrie ihre Forschungs- Vergangenheit. und Entwicklungsaufwendungen in den letzten Jah- Wissenschaft und Wirtschaft in unserem Land benö- ren stetig erhöht. Die Wachstumsraten von 1991 bis- tigen eine Verbesserung der rechtlichen Rahmenbe- 1993 sind mit 10 % überdurchschnittlich hoch. Ähnli- dingungen der Forschung. Die aktuellen Stichworte ches gilt auch für die Elektroindustrie. hierzu, meine Damen und Herren, sind Ihnen alle Zu Recht gibt es Befürchtungen, daß die technolo- bekannt. Ich sage das auch mit Nachdruck an die Seite gische Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- der SPD, die sich immer wieder lautstark in die schaft nachläßt. Wir sind zwar nach wie vor der Debatte einbringt. weltgrößte Exporteur von Industriewaren mit einem (Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist ja unsere Weltmarktanteil von 17,1 % vor den USA und Japan, Aufgabe!) allerdings ist bei FuE-intensiven Gütern ein Rückgang Gentechnik- und Tierschutzgesetz, Datenschutz, zu verzeichnen. Auch das gegenüber den USA und Inflexibilitäten im öffentlichen Dienstrecht, im Ar- Japan nachlassende Patentwachstum ist ein deutli- beitsrecht, und geradezu unendliche Verwaltungs- cher Indikator für eine rückläufige Innovationsdyna- verfahren hemmen auch in hohem Maße die deutsche mik. Forschung. Wir brauchen deshalb in Deutschland eine Innova- tionsoffensive. Der Staat steht dabei in einer besonde- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — ren Verantwortung. Zuruf von der CDU/CSU: Das muß anders werden!) (Edelgard Bulmahn [SPD]: Die muß er auch — Jawohl. endlich einmal wahrnehmen!) Aber auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Die Diskussion der vergangenen Monate hat dabei wie Nachwuchs- und Talentförderung, meine Damen eines ganz deutlich gemacht: Forschungs- und Tech- und Herren, — — nologiepolitik — und das ist heute zu Recht hier auch mehrfach von meinen Vorrednern betont worden — (Zurufe von der SPD — Gegenrufe von der ist mehr als finanzielle Forschungsförderung. CDU/CSU — [CDU/CSU]: Kommt, laßt den Minister reden!) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber auch den gesellschaftlichen Rahmenbedingun- Wichtige Probleme des Standorts Deutschland sind gen, meine Damen und Herren, nicht nur den rechtli- nicht allein am Geld festzumachen. Die vielfältigen chen, wie Nachwuchs- und Talentförderung, Aufge- Probleme sind nicht allein durch die Politik zu lösen. schlossenheit der Menschen für Forschung und Tech- Bei der Problembewältigung ist das breit in unserem nologie und nicht zuletzt der fehlenden Risikobereit- Lande verteilte Wissen zu beteiligen. Das heißt: Es schaft der Menschen in einer saturierten Gesellschaft sind die Menschen zu beteiligen, die in unserem Land kommen hier eine große Bedeutung zu. Meine Damen forschen, entwickeln und Produkte schaffen. und Herren, fehlende Risikobereitschaft wird zuneh- Ich bin deshalb mit aller Kraft dabei, einen systema- mend selbst zum Risiko für unsere Gesellschaft. tischen, über verschiedene Gremien verteilten strate- Neben der Verbesserung der Rahmenbedingungen gischen Dialogprozeß zu Forschung und Innovation der Forschung ist die schnelle Umsetzung von For- in Deutschland in Gang zu bringen. Dabei geht es schungsergebnissen in Produkte und Anwendungen darum, vor allem die Akteure und nicht die Analytiker die zentrale Aufgabe der kommenden Jahre. Wir am Tisch zu haben. Es geht darum, zu konkreten haben dafür Sorge zu tragen, daß Ergebnisse der Maßnahmen und nicht lediglich zu Empfehlungen zu Forschung schnell in neue Produkte und Verfahren kommen. Schließlich unterstütze ich eine öffentliche einfließen. Diskussion auch über technologische Entwicklungen und Ziele, die uns Orientierungshilfen für den Weg ins Der Anteil der Grundlagenforschung in Deutsch- 21. Jahrhundert liefert. land ist laut OECD-Be richt im internationalen Ver- gleich herausragend. Die Bundesregierung wird die Der vor etwa einem halben Jahr ins Leben gerufene Förderung auf diesem hohen Niveau auch weiterhin Strategiekreis, der mit hochkarätigen Vertretern aus fortführen. Gleichwohl gelingt es zuwenig, diese Wissenschaft und Wirtschaft besetzt ist, tagte gestern Grundlagen zu nutzen, d. h. sie in innovative Produkte zum zweiten Mal und befaßte sich insbesondere mit und innovative Anwendungen umzusetzen. Wir den strukturellen Fragen der Forschung in Deutsch- haben deshalb eine Reihe von Maßnahmen initiiert, land und vor allem mit den Prozessen, die die For- die diese Umsetzung unterstützen. Ich nenne hier nur schung beeinflussen. Das ist das Hauptanliegen die- beispielhaft das Förderkonzept Forschungskoopera- ses Kreises. tion, welches im letzten September gestartet wurde, Forschung und Technologie können nur dann die Einführung von Innovationskollegs, die zuneh- Früchte tragen, wenn im Land ein günstiges Innova mende Schaffung von Verbundprojekten zwischen 17488 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Bundesminister Dr.-Ing. Paul Krüger Wissenschaft und Wirtschaft, aber auch zwischen machen. Dazu zähle ich die Diskussion zur Schaffung Wirtschaftsunternehmen unterschiedlicher Größen- von Bewußtsein für vordringliche forschungspoliti- ordnungen und Wissenschaftseinrichtungen unter- sche Aufgaben; auch die heutige Debatte ist ein schiedlicher Couleur; die sogenannten Initiativen auf Ausdruck dafür. Dazu zähle ich den offenen, ehrlichen Zeit, bei denen Wissenschaftseinrichtungen und Wirt- und breit angelegten Dialog über Chancen und Risi- schaftseinrichtungen zeitweilig zusammenarbeiten ken von Forschung; ich glaube er ist notwendig, auch und jeder seinen Teil selbst finanziert. Durch diese um Ängste und Hysterie, die möglicherweise, zum Zusammenarbeit kommt automatisch eine Umset- Teil sogar berechtigt, in der Bevölkerung vorhanden zung zustande. Auch arbeiten wir derzeit am Aufbau sind, zu dämpfen und auf ein vernünftiges und gesun- einer Innovationsbörse in Deutschland. des Maß zu reduzieren. Dazu zähle ich den strategi- schen Dialog zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und (Josef Vosen [SPD]: Risikokapitalbeschaf- Staat. Dazu zähle ich eine Reihe von konkreten fung!) Maßnahmen zur Verbesserung von Rahmenbedin- Neben diesen Maßnahmen ist für die Umsetzung gungen der Forschung in Deutschland. In diesem von Forschungsergebnissen ganz besonders eine Zusammenhang haben wir neben der Technikfolgen- klare Zielorientierung der Forschung, bezogen auf abschätzung jetzt auch — so sehr ich es eigentlich Zukunftstechnologien und Zukunftsanwendungen, bedaure — eine Rechtsfolgenabschätzung installiert notwendig. Die notwendige Umsetzung macht es und damit eine Einrichtung geschaffen, die auch die geradezu erforderlich, nicht nur über die Entwicklung Auswirkungen von Gesetzen untersuchen wird. Dazu von Technologien, wie wir das in der Vergangenheit zähle ich natürlich auch die Forschungsförderung, fast ausschließlich gemacht haben, zu sprechen, son- insbesondere auch die indirekte Forschungsförde- dern auch über Produkte und über Anwendungen der rung, auch durch steuerliche Anreize, für die ich mich Zukunft nachzudenken. nachhaltig einsetze. Ich werde in der ersten Hälfte dieses Jahres neue (Edelgard Bulmahn [SPD]: Das predigen wir Förderkonzepte und Programme, u. a. in den Berei- seit sechs Jahren!) chen der Lasertechnologie, der Mikrosystemtechnik, Der Dialog auf Spitzenebene wird hierzu durch des produktionsintegrierten Umweltschutzes, der Dialoggremien auf Fachebene ergänzt. Dieser Ziel- Materialforschung und neuer Fertigungstechnologien dialog wird also auch nach Anwendung und Produk- der Öffentlichkeit vorstellen. Damit werden wir auch ten fragen, die letztendlich aus der Forschung resul- in diesen Bereichen neue Akzente für die Forschung tieren sollen. Er wird deshalb seine Fühler möglichst und ihre Umsetzung in die Anwendung setzen. breit ausstrecken und Informationen der wissen- Meine sehr verehrten Damen und Herren, aktuelle schaftlichen Communities, der Projektträger und vie- Investitonsentscheidungen der vergangenen Wochen ler anderen kompetenten Stellen zusammentragen. — das wurde heute hier schon angedeutet — bestäti- Grundlagen können dabei Studien wie die Delphi- gen die Zukunftsfähigkeit des Technologiestandorts Studie — sie ist vorwiegend anwendungsbezogen, Deutschland. Beispiele wie die Investitionsentschei- also auf Produkte und Anwendungen der Zukunft dungen der Adam Opel AG für ein Motorenwerk in orientiert — oder auch die Studie Technologien des Kaiserslautern, der Daimler Benz AG in Rastatt, der 21. Jahrhunderts, die in erster Linie technologiebezo- BMW in Dahlewitz, der Siemens AG in Dresden, für gen ist und etwas über die technologische Entwick- die auch wir direkt oder indirekt mit Voraussetzungen lung aussagt, sein. Die Ergebnisse sind als Orientie- geschaffen haben und die alle mit Forschung und rung für die Forschung, vor allem aber auch für die Innovation verbunden sind, sowie die bevorstehende Wirtschaft und insbesondere zur Nutzung in strategi- Entscheidung zur Magnetschnellbahn Transrapid schen Verbundprojekten zwischen Wirtschaft und bestätigen das nachhaltig. Wissenschaft von großer Bedeutung. Es kommt nun darauf an, den gerade begonnenen Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß wir konjunkturellen Aufschwung mit einem technologi- diesen Dialog, der in der Regel von wenigen Leuten schen Aufbruch der deutschen Wirtschaft zu verbin- nicht einmal für ein einziges Fachgebiet bestritten den. Gerade für diesen Aufbruch der Wirtschaft haben werden kann, im Rahmen eines sogenannten Rates wir wesentliche Weichenstellungen vorgenommen, der Weisen oder eines Technologierates kompetent und wir bereiten weitere Entscheidungen vor. führen können. Ich glaube im Gegenteil, wir sind Den eingeschlagenen Weg werde ich konsequent darauf verwiesen, eine sehr breit angelegte Dialog- weiter beschreiten. Ich lade Sie ein, mich auf diesem struktur, ähnlich, wie es etwa die Japaner machen, Weg zu begleiten. auch hier bei uns zu schaffen. An einer solchen Struktur arbeiten wir. Als Grundsatz gilt dabei immer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Vorsitzenden Meine Damen und Herren, bei allen notwendigen des Ausschusses für Forschung, Technologie und Diskussionen, die wir führen, sollten wir aufpassen, Technikfolgenabschätzung, unserem Kollegen Wolf- daß wir den Standort Deutschland nicht schlechtre- Michael Catenhusen. den. Deutschland besitzt hervorragende wissen- schaftlich-technische Grundlagen und eine ausge- zeichnete Forschungsinfrastruktur. Wir haben bereits Wolf-Michael Catenhusen (SPD): Meine Damen eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, um eine und Herren, wir sind uns alle hier in dieser Runde Innovationsoffensive in Deutschland möglich zu einig, daß wir in Deutschland eine leistungsfähige Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17489

Wolf-Michael Catenhusen Forschungslandschaft haben. Ich hoffe, wir sind uns Und wir müssen hier auch, meine Damen und auch alle mit Herrn Ullmann darin einig, daß eine Herren, Konsequenzen für die Strukturen unserer leistungsfähige Wissenschaft und Forschung auch Forschung ziehen. Zukunftstechnologien sind hoch- Ausdruck unseres Standes von Kultur in unserer gradig vernetzt. Sie entstehen gerade an den Naht- Gesellschaft ist und daß wir auch ein legitimes Inter- stellen zwischen etablierten Fächern. Wir brauchen esse daran haben, daß Wissenschaft und Forschung also neue Formen der flexiblen Verknüpfung von zur Aufklärung, zum besseren Verständnis der Welt Grundlagenforschung, angewandter Forschung und und auch zu unserer Orientierung in dieser sich Entwicklung. verändernden Welt beitragen. Wir brauchen auch Strukturen in der Forschung und Daß die Forschungspolitik dieser Bundesregierung Forschungsförderung, die das schnelle Aufgreifen eine der starken Seiten der Politik in Deutschland neuer Entwicklungen quer zu den etablierten Wissen- darstellt, davon können wir allerdings nicht reden. schaftsdisziplinen und Technologien ermöglichen. Mir kommen die Reden von Herrn Lenzer und vor Die neuen Forschungsprojekte landen bei den Förder- allen Dingen vom Herrn Forschungsminister, von referenten des BMFT, und die Referate A und B wissen Herrn Krüger, so vor, als ob Sie jetzt in Vorzeiten eines nicht, wo denn diese neuen Fragen unterzubringen Wahlkampfes im Geschwindgalopp versuchen, elf sind. Das ist doch ein merkwürdiges Hinterherlaufen Jahre fehlender Strategien in der Forschungspolitik der Strukturen Ihrer Forschungsförderung hinter den durch symbolische Ankündigungen zu ersetzen. neuen Strukturen der Wissenschaft selbst. (Beifall bei der SPD) Und, meine Damen und Herren, wir brauchen neue Modelle einer strategischen Arbeitsteilung zwischen Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und öffentlicher Forschung und Forschung in der Wirt- die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft nehmen schaft auf diesen Zukunftsfeldern. Warum kann über Schaden an den seit Jahren fehlenden Geldern für so etwas nicht in Deutschland nachgedacht werden, Forschung und Technologie. Denn diese Gelder sind was in Japan üblich ist, daß z. B. bei Schlüsseltechno- doch im besten Sinne Investitionen in unsere Zukunft. logien der Zukunft auf Zeit Forschungseinrichtungen Es ist auch keine Frage, daß wir nicht erst seit der gebildet werden, in denen Leute aus den Universitä- deutschen Einigung, Herr Krüger, sondern minde- ten und aus öffentlichen Forschungseinrichtungen stens seit 1987 mit einer realen Stagnation der For- und Forscher aus der Wirtschaft auf Zeit zusammen- schungsausgaben zu tun haben. arbeiten und sich die Indus trie und der Staat die Gelder und die Kosten teilen? Meine Damen und Herren, es geht uns aber vor allem um Fragen der s trategischen Defizite Ihrer Meine Damen und Herren, ich denke, wir brauchen Politik. Wir brauchen eine Forschungspolitik, die sich verstärkte Anstrengungen — da sind wir uns im als Innovationspolitik versteht, die technologische, Forschungsausschuß immer einig gewesen — für die wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche neuen Bundesländer. Nach einem schmerzhaften Pro- Innovationen verknüpft. Es geht uns um technologi- zeß der Umstrukturierung und des Kapazitätsausbaus sche Innovation, um die Technologien und Produkte, hat die außeruniversitäre Forschung in den neuen die morgen unser Leben bestimmen, heute zu entwik- Bundesländern festen Boden unter den Füßen und keln. Es geht uns um soziale Innovation, um die gute Perspektiven, wenn die notwendigen Investitio- Gestaltung von Technik für die Gesellschaft und um nen in Bauten und Geräten erfolgen. ihren sozialverträglichen Einsatz in den Fabriken von Katastrophal, meine Damen und Herren, ist der morgen. Es geht uns auch um ökologische Innovatio- Zustand der Industrieforschung. Darauf ist die Politik nen. Denn wir wissen doch alle, daß nur die Industrie- in dieser Regierung erst mit zweijähriger Verspätung nationen im internationalen Wettbewerb bestehen, aufmerksam geworden. Die Forschungskapazitäten die in Zukunft umweltverträglicher, energie- und in der ostdeutschen Industrie sind weitgehend zer- rohstoffeffizienter werden. Nicht zuletzt geht es uns stört, und den hier jetzt arbeitenden Firmen fehlt die um Innovationen in den Zielen und Strukturen der Eigenkapitalbasis, um Forschungs- und Entwick- Forschungs- und Technologiepolitik in unserem lungskapazitäten aufzubauen oder zu erhalten oder Lande. ihren Eigenanteil für öffentlich finanzierte For- Meine Damen und Herren, diese Neuorientierung schungsvorhaben zu leisten. muß in Bereichen Platz greifen, für die Sie Worthülsen Meine Damen und Herren, wir plädieren entschie- haben, für die Ihnen aber die Konzepte fehlen. Sie den für ein Bündel von Maßnahmen der Technologie- reden über die Technologien des 21. Jahrhunderts. politik und der Wirtschaftspolitik, um dem weiteren Das ist auch notwendig. Denn wir wissen, daß eine Abbau der Industrieforschung in Ostdeutschland ent- Vielzahl technologischer Entwicklungslinien über gegenzuwirken. unsere zukünftige ökonomische Wettbewerbsfähig- keit entscheiden wird. Wir brauchen hier verstärkte (Beifall bei der SPD) strategisch ausgerichtete Forschungsanstrengungen Wir müssen die wirtschaftsnahen Forschungsein- der Wirtschaft und des Staates. richtungen in den neuen Bundesländern stärken. Wir (Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie doch müssen aber vor allem die Möglichkeiten eigenkapi- mal was Konkretes!) talschwacher Unternehmen, Forschung und Entwick- lung zu betreiben, drastisch verbessern. Wir brauchen Sie reden von den Zukunftstechnologien und kürzen neue Anstrengungen von seiten des Bundes, damit gleichzeitig die Fördermittel für diese Technolo- Unternehmen in Ostdeutschland verstärkt innovative gien. Produkte unter Nutzung von Zukunftstechnologien 17490 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Wolf-Michael Catenhusen entwickeln können. Denn nur so können wir auch Dem ist nichts hinzuzufügen. unseren Beitrag leisten, daß mehr technologieorien- Alle einschlägigen Untersuchungen zeigen: Es gibt tierte kleine und mittlere Unternehmen in den neuen keine Skepsis gegenüber Technik an sich. Es gibt aber Bundesländern entstehen. Und nur so können wir Technologien, die einen erhöhten Legitimationsbe- auch dazu beitragen, daß der dortigen Indust rie auf darf haben, die aber durchaus im konkreten nachvoll- Dauer das Schicksal erspart bleibt, nur verlängerte ziehbaren Anwendungsfall auch in Deutschl and Werkbank für westdeutsche Unternehmen zu sein. große Akzeptanz finden, wie etwa die Gentechnik in Herr Minister Krüger, Sie haben ja da schöne der Medizin. Ankündigungen gemacht. Der Bundeskanzler hat Meine Damen und Herren, wir brauchen ein nüch- Ihnen dazu einen ungedeckten Scheck von 150 Mil- ternes Herangehen vor allem an die Schlüsseltechno- lionen DM aus dem PDS - Vermögen ausgestellt,- bei logien der Zukunft. Darin sind wir uns im Grundsatz dem nachher bekannt geworden ist, daß die Bundes- einig. Was wir aus diesen Schlüsseltechnologien regierung über dieses Geld gar nicht allein verfügen machen, hängt auch von uns selbst ab. Sie sind kann. Das sind auch interessante Methoden, wie man gestaltbar. eigene Blößen verdeckt. In der Politik fehlt allerdings die Verknüpfung der (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das war nicht im Forschungsförderung mit anderen Politikfeldern. Ich nachhinein!) will Ihnen dazu drei Beispiele nennen. Die Entscheidung von Siemens für Dresden ist ein Sie plädieren für eine innovationsorientierte Steu- Zeichen, daß gerade fortgeschrittene Technologien erpolitik. Sie haben die Instrumente in diesem eine Perspektive für die neuen Bundesländer bieten. Bereich für kleinere und mittlere Unternehmen 1989 Wir begrüßen ausdrücklich diese wichtige Entschei- abgeschafft. Das ist Ihr konsistenter Politikbezug. dung von Siemens für Dresden. Zweites Beispiel: Sie haben zehn Jahre lang den Wir haben auch in Deutschland einen entscheiden- Transrapid entwickelt und es nie hinbekommen, eine den Mangel an sozialen Innovationen; denn die Klärung herbeizuführen, welche Bedeutung der Fähigkeit zur intelligenten und sozial vernünftigen Transrapid für das deutsche und europäische Hoch- Nutzung der menschlichen Ressourcen, der Arbeits- geschwindigkeitspersonentransportsystem besitzt. kraft, wird ein immer wichtigerer Standort- und Wett- Daran leidet die Transrapiddiskussion in Deutsch- bewerbsfaktor. Wir müssen doch mal überlegen, land, nicht an den Technikfeinden, sondern an ihrer warum wir nicht in Deutschland neue Modelle ent- Unfähigkeit, Technikförderung und Verkehrspolitik wickeln, sondern sie aus Japan importieren. Wo ist sinnvoll miteinander zu verknüpfen. unsere Anstrengung, dazu beizutragen, daß neue (Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann [F.D.P.]: Dar Managementformen, neue Produktionskonzepte, daß auf hatte auch der Herr Hauff seinerzeit eine Modernisierung der Arbeitsorganisation und keine Antwort!) eine ständige Weiterentwicklung von Qualifizie- rungsstrategien auch unter Beteiligung von Wissen- — Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt, aber Sie müssen schaft und Forschung in Deutschl and entstehen? sich das einmal deutlich sagen lassen. Ein aktuelles Beispiel: Es ist doch nett, daß der (Christian Lenzer [CDU/CSU]: Wieviel Leute forschungspolitische Vertreter der F.D.P. gegen die werden da beschäftigt?) Patentgebührenerhöhung plädiert, für die die Justiz- Die Forschungs- und Technologiepolitik muß sich ministerin aus seiner eigenen Partei dem Parlament im Programm „Arbeit und Technik" viel stärker den gerade einen Entwurf vorgelegt hat. Das finde ich eine strategischen Bedeutungen dieser sozialen Innova- phantastische Zusammenarbeit und Abstimmung in tion gerade im Produktionsprozeß zuwenden. der Koalition. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wir müssen in dieser Diskussion nüchtern zur Kenntnis nehmen, Herr Minister Krüger, Sie haben nach dem daß in der Gesellschaft eine Vielzahl von Akteuren auf Workshop Ihres Hauses zum Thema Technikakzep- den Prozeß der Entwicklung und Anwendung von tanz offenkundig — das haben Sie auch heute Technik Einfluß nimmt. Wir sind nicht die wichtigsten gezeigt — Abschied von Ihrem vorschnellen monate- Akteure im Prozeß der Technikentwicklung. Aber wir langen Gerede über die Technikfeindlichkeit in müssen unsere beschränkte Verantwortung wahrneh- Deutschland genommen. Das ist begrüßenswert. men. Deshalb brauchen wir verstärkte Anstrengun- Denn der Deutsche Industrie- und Handelstag hat vor gen, um eine breite gesellschaftliche Verständigung kurzem festgestellt: Die deutsche Gesellschaft ist über die für unsere wirtschaftliche und gesellschaftli- hinsichtlich neuer Techniken risikobewußter und kri- che Zukunft notwendigen Technologien und Tech- tischer geworden. Sie ist aber nicht generell technik- nikanwendungen zu erreichen. feindlich. Meine Damen und Herren, wir sind davon über- Der Vertreter eines anderen Forschungsinstituts hat zeugt, daß ein Technologierat hier durchaus seinen auf diesem Workshop drastischer gesagt: Wer die wichtigen Beitrag leisten kann. Wir sehen unseren definitiv falsche These von der angeblichen Technik- Antrag dazu als ein Angebot zur Diskussion. Man feindlichkeit der Deutschen verbreitet, der gefährdet sollte schnell prüfen, ob es hier zu einer interfraktio- den Standort Deutschland; er redet ihn in der Tendenz nellen Verständigung kommen kann. geradezu kaputt. Das Politikfeld Forschung und Technologie ist (Beifall bei der SPD) eigentlich zu schade, um es in Vorwahlzeiten vorder- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17491

Wolf-Michael Catenhusen gründig aufzurühren. Wir alle müssen uns darüber im erreicht worden. Das wollen wir durchaus dankbar klaren sein: Es gibt kein Politikfeld, das so auf lang- anerkennen. fristige Orientierung und auf gesellschaftlichen Kon- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sens angewiesen ist wie die Forschungs- und Techno- logiepolitik. Auf der anderen Seite sind große Anstrengungen und Mittel notwendig, um insgesamt die Forschungsein- Schönen Dank. richtungen auf das Niveau der alten Bundesländer zu (Beifall bei der SPD) heben. Die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Gesellschaft und Großforschungszentren haben sich Herren, das Wort erhält jetzt unser Kollege Dr. Chri- in anerkennenswerter Weise in den neuen Ländern stoph Schnittler. - engagiert. Am reichlichsten sind die neuen Länder mit Instituten der Blauen Liste ausgestattet: mit 34 von Dr. Christoph Schnittler (F.D.P.): Herr Präsident! insgesamt 82. Es bleibt zu diskutieren, ob das schon Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine Dis- eine endgültige Lösung sein kann. kussion des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist ohne Die eigenen Anstrengungen der neuen Länder, z. B. eine Diskussion des Forschungsstandorts Deutsch- auch meines Heimatlandes Thüringen, möchte ich land nicht denkbar. Die Freien Demokraten begrüßen besonders hervorheben. Bemerkenswert ist auch, daß deswegen die heutige forschungspolitische Debatte, die finanzschwachen neuen Länder relativ mehr Mit- wenn auch die dafür verfügbare Zeit in Anbetracht tel für institutionelle Forschung aufwenden als die der Wichtigkeit dieses Themas eher gering er- alten. Ein Problem ist die Verteilung der Forschungs- scheint. mittel. Hier gibt es ein großes Gefälle von Ost-Berlin Forschung und Bildung sind elementare Vorausset- mit dem höchsten Anteil bis hinunter nach Thüringen. zungen unserer Zukunftsgestaltung. Es muß deshalb Hier gilt es ebenfalls Strukturpolitik zu betreiben. eine parteiübergreifende Aufgabe der Politik bleiben Besonders schwierig freilich ist die Situation der — Sie sehen, ich suche nach Gemeinsamkeiten —, industrienahen Forschung in den neuen Ländern. Es auch in Zeiten knapper Haushalte die Mittel hierfür zu gab einen Rückgang von 74 000 auf nunmehr 13 000 erhalten und womöglich zu erhöhen. Trotzdem sollten Personen, die dort tätig sind, Tendenz: Abnahme. Die wir darin nicht das vordringliche Problem sehen. sozialen Probleme und der Verlust an Kapazitäten für Die gegenwärtige Strukturkrise hat uns allen den eine innovative Erneuerung der Produktion springen Blick auch dafür geschärft, daß unser Forschungs- jedem ins Auge. und Bildungssystem effektiver gestaltet werden muß. Es muß deshalb vordringliche Aufgabe deutscher In der Forschung heißt das schlicht und einfach, daß Forschungspolitik sein, die leistungsfähigen Reste ihre Ergebnisse mehr wirtschaftlichen Nutzen, vor dieser Industrieforschung über die wirtschaftliche allem mehr innovative Produkte abwerfen müssen. Talsohle hinwegzuretten. Dazu liegt Ihnen heute ein Andere, insbesondere außereuropäische Länder ver- Antrag der Koalitionsfraktionen mit einem abge- stehen sich darauf besser. stimmten Katalog von Maßnahmen vor, für den ich Wer hierin eine Geringschätzung der Grundlagen- ausdrücklich um Ihre Zustimmung bitte. Ich möchte forschung sieht, versteht mich falsch. Die Trennung lediglich einen Punkt hervorheben. Das ist die Forde- zwischen Grundlagenforschung und angewandter rung, EG - Strukturfonds - Mittel stärker als bisher für Forschung ist ohnehin nicht zeitgemäß. Vielmehr Forschung und Entwicklung zu nutzen. Das entspricht müssen wir die zukunftsträchtigen Felder der For- den Vorstellungen des Europäischen Parlaments. Es schung rechtzeitig erkennen und sie in der erforderli- wird im übrigen in Sachsen und in Brandenburg chen Tiefe und Breite von der Grundlagenforschung bereits praktiziert. bis hin zur wirtschaftlichen Verwertung betreiben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Freilich schließen neue Erkenntnisse immer Chancen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und Risiken ein. Ein Land, das vor allem die Risiken sieht und die Chancen nicht wahrnimmt, wird zwangsläufig irgendwann auf das Niveau eines Ent- Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort bekommt wicklungslandes zurückfallen. Es wird nicht nur sei- jetzt unser Kollege Dr. Joachim Schmidt. nen Wohlstand verspielen, sondern es wird auch seiner sozialen und ökologischen Probleme nicht mehr Herr werden. Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke) (CDU/ Meine Damen und Herren, der Bundesforschungs- CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen bericht 1993 stellt sowohl eine sehr beachtliche Lei- und Herren! Die Erkenntnis, daß die Zukunft des stungsbilanz dar, als er auch Fragen aufwirft. Das soll Standorts Deutschl and vor allem von Effektivität und er ja auch. Hervorzuheben ist für mich das Engage- Qualität der deutschen Forschung abhängt, hat im ment der Forschunspolitik des Bundes für die neuen Bewußtsein der Entscheidungsträger in Politik und Bundesländer. Ich bin dafür, daß man diese Situation Gesellschaft, aber auch der Bevölkerung wieder einen nicht pessimistisch sieht, wie das heute geschehen ist, hohen Stellenwert gewonnen. Fast jeder weiß: Neue und daß man auch nicht, um mit Kästner zu sprechen, marktfähige Produkte und moderne Technologien den „Optimistfink" herauskehrt, sondern daß man sie bilden die entscheidenden Voraussetzungen für die realistisch sieht. Das bedeutet: In den neuen Ländern Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. ist beim Aufbau einer leistungsstarken Forschungs- ( V o r sitz: Vizepräsident Dieter-Julius landschaft mit Hilfe der alten Bundesländer sehr viel Cronenberg) 17492 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr.-Ing. Joachim Schmidt Dies gilt für ganz Deutschland, in besonderem Maße Wenn Sie dies leugnen, zeigen Sie nur, daß Sie von aber für die neuen Bundesländer, die sich dem west- dieser Branche nichts verstehen. deutschen wirtschaftlichen Niveau nur langsam annä- (Abg. Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste] hern und auf internationalen Märkten erst Fuß fassen verläßt den Plenarsaal — Eduard Oswald müssen. [CDU/CSU]: Das war sehr gut! Jetzt reicht es Es bleibt deshalb dabei: Die Erhaltung und Ent- ihm! Jetzt geht er!) wicklung der Forschungslandschaft in den neuen Diese Inkompetenz überrascht allerdings nicht. Bundesländern stellt weiterhin eine zentrale Aufgabe deutscher Politik dar. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich, jetzt geht er! Jetzt hat sich die PDS aufgelöst! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Jetzt ist gar niemand mehr da!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, bei der Umstrukturie- Nachdem die außeruniversitäre Forschung in den rung der Industrie in den neuen Bundesländern sind neuen Bundesländern im wesentlichen als konsoli- in vielen Fällen kleinere Unternehmen entstanden, diert angesehen werden kann, muß die Industriefor- die sich eine eigene Forschung und Entwicklung schung, die die Forschungslandschaft der DDR quali- selbst nicht mehr leisten können. Die industriell orien- tativ und quantitativ prägte, endlich in den Mittel- tierten Forschungsinstitute und wissenschaftlichen punkt des Interesses rücken. Zentren wurden 1990 häufig in Gesellschaften mit beschränkter Haftung überführt und in vielen Fällen Es ist richtig, daß in der Industrieforschung der neuen Bundesländer ein drastischer Rückgang einge- von ihren Mutterbetrieben abgekoppelt. treten ist. Zur Zeit befassen sich weniger als 1 % der in Diese Forschungs-GmbHs, die die derzeitige der Industrie Beschäftigten mit Forschung und Ent- Hauptsäule der industrienahen Forschung in den wicklung. In den alten Bundesländern beträgt dieser neuen Bundesländern bilden, wurden von der Treu- Anteil mehr als das Siebenfache. handanstalt — u. a. auch auf unser Drängen hin — evaluiert. Sie sind gegenwärtig die wichtigsten Part- Es ist auch richtig, daß beim Personalabbau in den ner für die sich herausbildende mittelständische Indu- Betrieben die Abteilungen Forschung und Entwick- strielandschaft. Ihr Ziel ist es, sich am Markt aus lung leider im Vordergrund standen, weil mit F und E eigener Kraft mit innovativen Produkten, Technolo- in der aktuellen dramatischen Überlebenssituation gien und wissenschaftlich-technischen Dienstleistun- häufig kein Geld verdient werden konnte. gen zu behaupten. Herr Keller hat den Raum verlassen; deshalb kann Diese Unternehmen können auf verschiedenen wis- ich mich mit ihm leider nicht auseinandersetzen. senschaftlichen Gebieten wie der Werkstoffentwick- (Zurufe von der CDU/CSU — Abg. Dr. Diet- lung, dem Maschinenbau, der Elektrotechnik, der mar Keller [PDS/Linke Liste] bet ritt den Ple- Information- und Umwelttechnik schon heute auf narsaal wieder) anerkannte Leistungen verweisen. Sie wurden, im wesentlichen seit 1991, durch Förderprogramme des Herr Keller, Sie sollten in dieser Hinsicht Zurückhal- BMFT und des BMWi unterstützt. Diese Fördermaß- tung üben. nahmen waren sehr hilfreich und wurden dankbar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) angenommen. in den neuen Die Ihnen nahestehenden und zum Teil Ihrer Partei Für die wirtschaftsnahe Forschung Bundesländern wurden 1992 und 1993 durch die auch noch angehörenden Forschungsdirektoren und Bundesregierung jeweils etwa 700 Millionen DM Forschungsfunktionäre, die auch nach der Wende die bereitgestellt. Dies entspricht etwa einem Viertel des Kommandohöhen bedauerlicherweise noch besetzt Forschungsbudgets der ostdeutschen Wirtschaft. So halten oder hielten, haben sich nach der Wende als die anerkennenswert diese Unterstützung ist, sie reicht schlimmsten Manchesterkapitalisten erwiesen, nach- auf jeden Fall noch nicht aus. Deshalb benötigen die dem sie uns vorher den Sozialismus als die für die meisten innovativen Unternehmen derzeit noch inten- Ewigkeit konzipierte Gesellschaftsordnung einzu- sive Unterstützung, vor allem Chancengleichheit, um bläuen versucht haben. zukünftig im nationalen und internationalen Wettbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. werb bestehen zu können. sowie bei Abgeordneten der SPD) Im einzelnen halte ich — in Anlehnung an den Sie haben kein Recht, so zu reden, wie Sie es hier Antrag der Koalitionsfraktionen — folgende Maßnah- getan haben. men für notwendig. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr Erstens. Verstärkte Fortsetzung der bewährten Pro- gut!) jektförderung durch BMFT und BMWi: Die von der ostdeutschen Industrieforschung einhellig begrüßte Die unbestritten schwierige Situation in der Indu- Gemeinschaftsinitiative Produkterneuerung sollte strieforschung der neuen Bundesländer rührt partiell möglichst kurzfristig wirksam werden. auch von den Defiziten her, die aus dem Forschungs- Zweitens. Die Förderinstrumente müssen stärker system der ehemaligen DDR stammen und für die Sie den in den neuen Bundesländern real vorhandenen und nur Sie die Verantwortung tragen. Bedingungen angepaßt werden. Das heißt, sie müssen (Beifall bei der CDU/CSU — Eduard Oswald in ihrer Vielfalt überschaubarer, im Beantragungsver- [CDU/CSU]: Jawohl! Klar und deutlich!) fahren einfacher und damit für mittlere und kleinere Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17493

Dr.-Ing. Joachim Schmidt innovative Unternehmen handhabbarer gemacht dient sie aber auch dem Zusammenwachsen in unse- werden. rem Land. Drittens halte ich es für dringend geboten, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Förderung projektgebundener Markterschließungs- ordneten der F.D.P.) und Vertriebsinstrumente für innovative Produkte, Vor allem letzteres sollten wir nicht geringschätzen. moderne Technologien und wissenschaftlich-techni-- Herzlichen Dank. sche Dienstleistungen finanziell zu verstärken, um die Chancen für den Markteintritt zu verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ein besonders ins Gewicht fallender Mangel der industrienahen Forschungseinrichtungen in den Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort neuen Bundesländern ist ihre äußerst bescheidene erteile ich nunmehr der Abgeordneten Frau Bul- mahn. Eigenkapitalbasis. Dieser Umstand und der derzeitig akute Ertragsmangel sind dafür verantwortlich, daß in vielen Fällen die Eigenanteile im Rahmen der For- Edelgard Bulmahn (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- schungsförderung nicht bereitgestellt werden kön- dent! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wissen- nen. Deshalb ist eine Reduzierung der Eigenanteile, schaft und Forschung, die so lange gründlich vernach- gegebenenfalls in Einzelfallprüfung, absolut notwen- lässigten Kellerkinder der Bundesregierung, erfreuen dig. sich, seit sich die Debatte um den Industriestandort mehr und mehr auf die Bereiche Wissen- Aber ebenso erforderlich ist es, daß die Banken Deutschland beim Umgang mit innovativen Unternehmen mehr schaft, Forschung und Technologie konzentriert, so großer Aufmerksamkeit wie schon seit langem nicht Risikobereitschaft bei der Vergabe von mittel- und langfristigen Krediten zeigen. mehr. Das ist gut so; denn Forschungspolitik ist Zukunftsvorsorge, Zukunftssicherung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Wenn die Bundesrepublik ihre Zukunft nicht ver- sowie der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD]) spielen will, muß sie diese Herausforderungen, die Ferner halte ich es für richtig, innovativen Unter- sich aus der Entwicklung und der Nutzung der moder- nehmen gezielt steuerliche Anreize und Entlastun- nen Technologien ergeben, aktiv annehmen. Wer die gen zu gewähren. Märkte von morgen gewinnen will, d. h. die Arbeits- plätze und Einkommen von morgen sichern will, Zum Schluß schafft dies nicht mit Rezepten von vorgestern, mit Sozialabbau, Lohnkürzungen oder einer falsch ver- (Josef Vosen [SPD]: Schluß ist gut!) standenen Deregulierungspolitik. Diese Form der möchte ich nachhaltig werben für eine intensivere Standortsicherungspolitik ist kontraproduktiv, Forschungskooperation zwischen ost- und westdeut- (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Na, na!) schen Forschungseinrichtungen, auch auf dem Gebiet der Industrieforschung. sie zerstört letztlich die anerkannten Standortqualitä- ten dieses Landes. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD) Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen ein Modell mit Wir wollen ein Hochlohnland bleiben und müssen Vorbildcharakter vorzustellen: Das Forschungszen- daher den wissenschaftlich-technologischen Wandel trum eines bedeutsamen westdeutschen Konzerns für den industriellen Strukturwandel erschließen. Wir entwickelt gegenwärtig gemeinsam mit der Bergaka- müssen deshalb Wissenschaft und Forschung in die- demie Freiberg und mit industrienahen Forschungs- sem Lande endlich wieder Priorität geben. einrichtungen aus dem Forschungsstandort Freiberg In keiner Regierungsperiode, meine Damen und in Sachsen moderne Membrantechnologien zur Ent- Herren, ist der Forschungshaushalt so herunterge- sorgung industrieller Abwässer. Die konzipierten wirtschaftet worden wie unter diesem Bundeskanzler. Technologien werden in einschlägigen sächsischen Da nutzen auch die schönsten Broschüren und Sonn- Betrieben, an denen der westdeutsche Konzern betei- tagsreden nichts. Die Fakten sind bedrückend: 1982, ligt ist, erprobt und bis zur Markteinführung weiter- bei Übernahme der Regierungsverantwortung durch entwickelt. Die zur technischen Umsetzung notwendi- diese Regierungskoalition, finanzierte der Bund gen Apparate, die zum Teil auch Ergebnis der Ent- 62,2 % der öffentlichen Forschungsausgaben, 1993 wicklungsarbeiten sind, werden von einem mittel- nur noch 57,8 %. 1982 lag der Anteil der zivilen ständischen sächsischen Bet rieb gefertigt. Für die Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bundes- Einführung auf dem nationalen und internationalen haushalt bei 4 %, 1993 aber nur noch bei 3,2 %. Der Markt stellt der westdeutsche Konzern sein Vertriebs- Anteil der militärischen Forschung am Bundeshaus- system und seine Marketingerfahrungen zur Verfü- halt kletterte dagegen erheblich, und zwar von 0,7 % gung. Vom Bund, vertreten durch das BMFT, und dem auf 1,1 % im Jahre 1989. Er liegt jetzt, trotz völlig Freistaat Sachsen werden die beginnenden For- veränderter sicherheitspolitischer Rahmenbedingun- schungsarbeiten angemessen finanziell unterstützt. gen, immer noch bei 0,7 %. Diese Kooperation fußt auf gemeinsamen wirt- Mit dieser Prioritätenverschiebung hat die Bundes- schaftlichen und wissenschaftlichen Interessen der regierung der zivilen Forschung dort dringend benö- beteiligten Partner. Sie fördert nicht nur den wirt- tigte Mittel entzogen. Herr Lenzer, die Vermischung schaftlichen Aufschwung in meiner Heimat, sie nützt von ziviler und militärischer Forschung ist genau der auch dem westdeutschen Unternehmen. Nicht zuletzt falsche Weg. Die militärische Forschung bedeutet 17494 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Edelgard Bulmahn eine teure Umwegforschung. Die USA haben es nen und Forscher inzwischen 10 bis 20 % ihrer Zeit inzwischen erkannt und nehmen von dieser Politik heimlich an Erfindungen und Entwicklungen arbei- Abstand. ten, um Behinderungen und Gängeleien durch ihre Vorgesetzten aus dem Weg zu gehen. Besonders deutlich wird aber der Bedeutungsver- lust der Forschungspolitik am BMFT-Haushalt. Dies Liebe Kollegen und Kolleginnen, welche Folgerun- ist nicht ein Ergebnis der deutschen Einigung und- gen ergeben sich aus den skizzierten Schwächen des nicht eine Entwicklung der letzten Jahre. In keinem Innovationsstandorts Deutschland für die Forschungs- einzigen Jahr seit 1982 sind die Forschungsmittel des und Technologiepolitik? BMFT real gestiegen. Bei Deflationierung mit dem Erstens. Eine Forschungs- und Technologiepolitik, Preisindex des Sozialprodukts liegt der Haushaltsan- die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- satz für 1994 gar um 16 % unter dem Niveau von 1982. schaft verbessern und zugleich die Chancen des Die Pro-Kopf-Ausgaben in konstanten Preisen sind im wissenschaftlich-technologischen Wandels für die gleichen Zeitraum von 122 DM auf 78 DM gesun- Verbesserung der Lebens-, Arbeits- und Umweltbe- ken. dingungen gezielt nutzen will, läßt sich nicht als Meine Damen und Herren, die wenigen Zahlen isolierte Ressortpolitik be treiben. Mein Kollege machen deutlich, welch katastrophales Erbe diese Catenhusen hat einige der Beispiele genannt; wir alle Bundesregierung in der Forschungs- und Technolo- kennen viele solcher Beispiele. Forschungspolitik in giepolitik hinterläßt. einem so verstandenen Sinne muß integraler Bestand- teil einer aktiven Innovationspolitik werden. Doch ich möchte hier nicht länger Vergangenheits- bewältigung be treiben. Es kommt darauf an, daß (Beifall bei Abgeordneten der SPD) endlich etwas geschieht, daß gehandelt wird. Ohne Dies erfordert eine enge konzeptionelle Abstimmung zusätzliche Mittel geht es einfach nicht mehr. Die nicht nur der verschiedenen Forschungsförderungs- nachhaltige Erhöhung der Forschungsausgaben, das programme der einzelnen Bundesressorts, der Länder Schließen der aufgetretenen strategischen Lücke im und der Europäischen Union, sondern auch und Forschungshaushalt wird deshalb zu den ersten und gerade mit der Bildungs-, der Wirtschafts-, der vordringlichsten Aufgaben der neuen Bundesregie- Umwelt- und der Sozial- und Rechtspolitik. rung gehören. Zweitens. Wir brauchen einen gesellschaftlichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Konsens über die Zielsetzungen, die inhaltlichen Hohe Forschungs- und Entwicklungsaufwendun- Schwerpunktsetzungen sowie die einzuschlagenden gen sind ein wichtiger, ein unentbehrlicher Beitrag Strategien. Die Einleitung eines entsprechenden zur Zukunftssicherung, reichen aber allein nicht aus. Zukunftsdialogs zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Sowenig Geld automatisch zu Spitzenleistungen Gewerkschaften und Politik ist mehr als überfällig. Ich führt, sowenig ergibt sich aus wissenschaftlich-techni- hoffe, daß wir in diesem Jahr nicht nur darüber reden, schen Vorsprüngen quasi von selbst eine wettbe- sondern ihn endlich auch installieren. werbsstarke Wirtschaft. Entscheidend ist vielmehr die Ein solcher Dialog dient der Erarbeitung eines Fähigkeit, wissenschaftlich-technische Erkenntniszu- gesellschaftlich akzeptierten Orientierungsrahmens, wächse in neue marktgängige Produkte, Verfahren der die Langfristigkeit innovationspolitischer Wei- und Dienstleistungen umzusetzen und erfolgreich zu chenstellungen und Schwerpunktsetzungen für alle vermarkten. Ich freue mich, daß dies offensichtlich Beteiligten gewährleistet. Er zielt letztlich auf bessere inzwischen auch Einsicht des Bundesforschungsmini- Entscheidungen. Der von meiner Fraktion geforder- sters geworden ist. ten Einrichtung eines Zukunfts - und Technologiera- Erfolgreiches Innovationsmanagement ist damit zu tes und der konsequenten Nutzung des Instruments einer entscheidenden Schlüsselgröße geworden. der Technikfolgenabschätzung, die auch Politikfol- Aber ausgerechnet hier weist das deutsche Innova- genabschätzung beinhaltet, kommt in diesem Zusam- tionssystem eklatante Schwächen auf. Forschung, menhang eine besondere Bedeutung zu. Entwicklung, Design, Produktionsplanung, Fertigung Drittens. Die Forschungs- und Technologiepolitik und Vermarktungsstrategien werden in Deutschland muß künftig langfristig und verläßlich angelegt wer- nicht als ineinandergreifende, sich gegenseitig bedin- den. Sie muß klare, strategische Schwerpunkte set- gende und parallele Innovationsphasen begriffen. Die zen, zeitliche und finanzielle Vorgaben machen und Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in den einer ständigen Ziel- und Erfolgskontrolle unterwor- Unternehmen führen vielfach ein Eigenleben, sind zu fen sein. Die Förderung der Technologien des wenig auf strategische Unternehmensziele ausgerich- 21. Jahrhunderts und der Vorsorgeforschung muß tet und haben zu wenig Informationen über das dabei endlich jene Priorität erhalten, die ihr von ihrer Marktgeschehen und über die Bedürfnisse und Wün- wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung sche der Kunden. her zukommt. Die Folgen faßt eine Kienbaum-Studie wie folgt Viertens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch zusammen: „Innovationen dauern in Deutschland zu wenn ich mich in diesem Zusammenhang auf for- lang, sind realitätsfern und schlecht geplant." schungspolitische Konsequenzen zur Sicherung Neue Ideen haben oft nur unzureichende Chancen, des Industriestandortes Deutschland beschränken akzeptiert und umgesetzt zu werden. Geradezu möchte, so kann und darf dies nicht heißen, daß wir die erschreckend finde ich das Ergebnis einer jüngst Forschungspolitik auf das Ziel der Steigerung der angefertigten Studie, derzufolge deutsche Forscherin internationalen Wettbewerbsfähigkeit beschränken Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17495

Edelgard Bulmahn können und dürfen. Diese Politik muß vielmehr auch Präsident des Patentamtes in München eine ganze und gerade zu einer Verbesserung der Lebens-, Reihe von Vorschlägen gemacht; ich verweise auf Arbeits- und Umweltbedingungen insgesamt beitra- meine Presseerklärung. gen. Siebtens. Die Förderung der Klein- und Mittelbe- Wenn es uns nicht gelingt, unsere wirtschaftliche triebe in der Bundesrepublik hat eine ganz besondere Entwicklung in eine Bahn zu lenken, die in Einklang Bedeutung für Wachstum und Arbeitsplätze. Deshalb mit den sozialen und ökologischen Erfordernissen ist die Stärkung der Innovationskraft dieser Betriebe steht, dann hat der Wirtschaftsstandort Deutschland eine ganz wesentliche und zentrale Aufgabe staatli- keine Zukunft. cher Innovationspolitik. Daher brauchen wir ein (Beifall bei der SPD) neues, zukunftsgerichtetes Konzept der KMU-Förde- rung mit einer breiten Forschungs- und Dienstlei- Zentrales Ziel der Forschungspolitik muß deshalb stungsinfrastruktur, um die KMU-spezifische Förder- die Entwicklung einer ökologischen Kreislaufwirt- programme stärker mit den allgemeinen Förderpro- schaft sein. Die Forschungs- und Technologiepolitik grammen zu vernetzen. Eine ganz besondere Bedeu- muß die Vision einer sozialen und ökologischen Indu- tung kommt dabei der Förderung von Forschungsko- striegesellschaft entwickeln helfen. Diese Politik hat operationen zu. die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedin- gungen für diesen Wandel in Wirtschaft, Staat und Schließlich dürfen sich die Fördermaßnahmen nicht Kultur zu erforschen. Sie hat die technischen Möglich- nur auf den FuE-Bereich beschränken, sondern müs- keiten einer neuen ressourcenschonenden Produkti- sen den gesamten Innovationsprozeß umfassen, von onsweise zu erkunden und zu erproben. der Marktanalyse bis zur Risikokapitalbeschaffung. Fünftens. Stärker als bisher sollten wir nachfrage- Die Entwicklung einer innovativen Unternehmens- orientierte Steuerungsmechanismen in der For- besteuerung ist zwingend notwendig. Ich freue mich, schungs- und Technologiepolitik nutzen. Zusammen daß Sie diese Anregung endlich aufgenommen und mit einer innovativen staatlichen Beschaffungspolitik übernommen haben. — auch hier ist die Kooperation und Koordination Achtens. Wie sich am Beispiel Japan zeigen läßt, zwingend notwendig — können nachfrageorientierte sind soziale Innovationen für die Verbesserung der Förderprogramme, wenn sie strategisch richtig pla- Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Wirt- ziert sind, zur Erschließung neuer Technologien und schaft von besonderer Bedeutung. Mein Kollege Märkte etwa im Infrastruktur- und Umweltbereich Catenhusen hat dieses näher ausgeführt. beitragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wenn Hierzu gilt es, anspruchsvolle und visionäre Leitpro- uns all das gelingt, was ich hier angeführt habe und jekte zu formulieren. Sie sollten überzeugende Per- was auch Sie teilweise vorgeschlagen haben, dann spektiven aufzeigen und auf Grund ihrer motivieren- brauchen wir uns um die Zukunft des Forschungs- den Kraft Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft und standortes Bundesrepublik keine Sorgen zu machen. Politik frühzeitig und kontinuierlich zu gerichtetem Ich hoffe, wir schaffen das. kooperativen Handeln zusammenführen. Bei solchen (Beifall bei der SPD) Leitprojekten wie z. B. dem „New Sunshine Program" des MITI mit dem Ziel einer umweltverträglichen Energieversorgung unter Einbeziehung wirklich aller Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Komponenten einschließlich eines Entwicklungs- erteile ich dem Kollegen Erich Maaß das Wort. programms kommt es nicht nur darauf an, entspre- chende Visionen zu entwerfen; sondern es kommt darauf an, gangbare Wege und Schritte zur Errei- Erich Maaß (Wilhelmshaven) (CDU/CSU): Herr Prä- chung der Ziele aufzuzeigen und in Angriff zu neh- sident! Meine sehr veehrten Damen und Herren! men, ohne dabei den Gesamtzusammenhang, sprich: Wenn ich die Debatte und die Debattenbeiträge der das Ziel, aus den Augen zu verlieren. Kollegen der SPD betrachte, dann verstehe ich teil- (Beifall bei der SPD) weise die Welt nicht mehr. Der Kollege Vosen sagt, der Bundesforschungsbe- ist das Schlechteste, was er in den letzten Frau Kol- richt Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: 15 Jahren gehört hat. Der Bundesrat bestätigt das legin Bulmahn, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unter- Gegenteil: Er begrüßt diesen Bericht als aufschlußrei- breche. Ich bin an sich nicht kleinlich, ich bemühe che und informative Dokumentation. Also: Klären Sie mich immer, sehr großzügig zu sein. Aber das Plenum doch einmal intern, wer denn nun recht hat. läuft nach der jetzigen Planung bis 0.30 oder 0.45 Uhr morgen früh. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auf Dann habe ich mir den Kollegen Catenhusen ange- die Kolleginnen und Kollegen, die zu nachfolgenden hört. Nur der Schrei nach mehr Geld, ohne konstruk- Tagesordnungspunkten sprechen, ein bißchen Rück- tive Konzeption dahinter, hilft uns auch nicht wei- sicht nähmen. ter. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall bei der CDU/CSU) Zumal sie sich so unfreundlich äußert!) Die Kollegin Bulmahn sagt, Deregulierung ist kon- traproduktiv. Dabei steht das in dem Entschließungs- antrag der SPD. Meine Damen und Herren, was (SPD): Sechstens. Die Innovation Edelgard Bulmahn wollen Sie denn eigentlich? beginnt in den Köpfen, um Kreativität und ein inno- vationsfreundliches Umfeld zu schaffen. Dazu hat der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 17496 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Erich Maaß (Wilhelmshaven)

Helfen Sie uns doch bitte weiter, daß wir aus dieser gie — , dann soll sich der Bundeskanzler — das ist Orientierungslosigkeit herauskommen! Dann sehe unser Wunsch und unsere Forderung — an die Spitze ich mir die Presseerklärung „Zukunftsgestaltung hat der Bewegung stellen. Es soll kein staatlicher Dirigis- Grenzen" meines verehrten und geschätzten Freun- mus verordnet werden, es sollen nicht die Grenzen des Jupp Vosen an, die er vor Weihnachten herausge- zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ver- geben hat. Dort ist die Rede von Humanverträglich- wischt werden, es sollen keine ordnungspolitischen keit, Umweltverträglichkeit, Sozialverträglichkeit- Kapriolen geschlagen werden, sondern es muß deut- und Völkerverträglichkeit. Meine Damen und Herren, lich gemacht werden, daß es ein nationales Anliegen wer nicht mehr den Mut zum Risiko hat, wird selbst ist, daß wir uns auf Zukunftsmärkte zubewegen müs- zum Risiko. Das möchte ich hier einmal loswerden. sen, die uns Produkte garantieren, die eine hohe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wertschöpfung für die Zukunft bedeuten. Nur so können wir unseren Wohlstand stabilisieren. Sehr verehrter Herr Präsident, hier stimmt irgend Die Forderung, einen übergeordneten Strategie- etwas mit der Zeit nicht, oder meine B rille funktioniert kreis durch den Bundeskanzler ins Leben rufen zu nicht. lassen, wurde auch deshalb erhoben, um Ressortego- (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Beim Präsiden- ismen von vornherein zu unterbinden. ten stimmt immer alles! Das ist Ihre Orientie- rungslosigkeit!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- — Ach, liebe Kollegin Nachbarin. geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vosen zu beantworten? Ich möchte mich auf zwei Punkte beschränken. Ich freue mich sehr, daß die SPD auf das 22-Punkte- Erich Maaß (Wilhelmshaven) (CDU/CSU): Bitte. Programm der CDU/CSU-Fraktion in vielen Punkten eingeschwenkt ist. Josef Vosen (SPD): Herr Kollege Maaß, gestatten (Josef Vosen [SPD]: 22 Punkte?) Sie mir die Frage: Was hat eigentlich jahrelang das Das ist schon ein erheblicher Fortschritt. Trotzdem Technologiekabinett, bestehend aus Staatssekretä- wollen wir hier keine reine Bejubelung und auch ren, damals geführt von Herrn Riedl, gemacht? Sie keinen Schmusekurs machen. Aber eines muß ganz fordern jetzt ein solches Gremium bei der Bundesre- deutlich gesagt werden: Woran krankt es im Augen- gierung. Das hat es doch jahrelang gegeben! Was haben die eigentlich gemacht? blick? Da sind wir durchaus selbstkritisch. Der Dialog zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik — ich glaube, das ist in diesem Hohen Hause einhellige Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Meinung — ist verbesserungsfähig. geordneter Vosen, habe ich mich verhört, daß Sie gesagt haben: eine kurze Frage? (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Ich will nicht in Abrede stellen, daß vom Bundesfor- Josef Vosen (SPD): Das war eine kurze Frage: Was schungsminister schon Strukturen und bestimmte haben die gemacht? Konzepte entwickelt worden sind. Aber ich bin selbst- kritisch genug, um zu sagen, daß wir hier noch einiges Erich Maaß (Wilhelmshaven) (CDU/CSU): Der mehr machen müssen. werte Kollege hält sich nie an die Vorgaben. Ich halte nichts davon, wenn gesagt wird, wir sind Aber, mein lieber Jupp Vosen, eines müssen wir schlechter geworden. Das stimmt nicht. Die anderen doch bitte sehen: Es ist doch ein himmelweiter Unter- beginnen eine Aufholjagd. Wir dürfen unseren Stand- schied, wenn wir auf Staatssekretärsebene etwas ort Bundesrepublik nicht schlechter machen, als er ist. organisieren wollen. Es geht doch im Augenblick Wir haben eine hervorragende Forschungslandschaft, darum: Es ist ein nationales Anliegen, und deshalb soll wir haben ein exzellentes Bildungswesen, und wir sich der Kanzler an die Spitze der Bewegung stellen haben eine hervorragende Wirtschaftsstruktur. Wir und ein Zeichen setzen. Das hat er ja mittlerweile müssen Konzepte entwickeln, um die Wettbewerbsfä- erklärt. Dazu wollen wir ihn ermutigen und ermun- higkeit der deutschen Wirtschaft auf den Zukunfts- tern. Wie es dann innerhalb des Kabinetts organisiert märkten sichern zu können. Das ist das Ziel. Dazu wird, damit es zu keinen Ressortegoismen kommt, ist brauchen wir — da sind wir fast identischer Auffas- doch eine andere Frage. Dieses Gremium kann mei- sung — eine Forschungs- und Technologieoffensive. netwegen weitertagen, aber wir brauchen diese Wir müssen ein schnelleres, besseres Umsetzen von Signalwirkung nach außen. theoretischem Forschungswissen in marktreife Pro- (Beifall bei der CDU/CSU) dukte und Verfahren erreichen. Es kann nicht ange- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hen, daß wir forschen und andere das Geschäft wollen hier keinen neuen Rat installieren; machen. (Zuruf von der SPD: Das macht der neue Meine Damen und Herren, deshalb muß ein Kon- Bundeskanzler!) sens gefunden werden. Das soll nicht jedes Ressort im wir wollen kein Sachverständigengremium einrich- Kabinett für sich machen, sondern in diesem Augen- ten, das alle zwei Jahre ein dickes Gutachten über- blick fordern wir eigentlich das ein, was auch der Herr reicht. Wir wollen hier keinen staatlichen Dirigismus, Bundeskanzler an dieser Stelle erklärt hat. keine zentrale Lenkung haben. Das darf nicht sein. Wenn man denn nun einen Strategiekreis braucht Wir wollen diese Offensive, und hier bitten wir den — und hierzu gehört eine ganze Menge Psycholo Bundeskanzler um Unterstützung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17497

Erich Maaß (Wilhelmshaven) Meine Damen und Herren, Japan macht es uns vor, und des BMWi ist im Zuge der Sparpolitik dieser obwohl wir eine Institution wie das MITI nicht trans- Bundesregierung in wenig verantwortungsvoller formieren können. Die USA haben es auch praktiziert, Weise verfahren worden — und das, obgleich zugleich mit der nationalen Zielsetzung: Wir wollen den ersten eine Standortdebatte mit dem Ziel der Orientierung Menschen auf dem Mond haben. Das hat für das auf verstärkte Modernisierung der Wirtschaftsstruktur gesamte Land einen Technologieschub bedeutet. So in Gang gesetzt wurde. Schon das paßt nicht zusam- etwas wollen und brauchen wir. Ich lade Sie ein, hier men. Daß es für eine Standortkrise dieses Landes nur mitzuhelfen. wenig objektive Anhaltspunkte gibt, kann hier nur am (Josef Vosen [SPD]: Der Kanzler auf den Rande angemerkt werden. Das ist heute nicht Mond! — Weitere Zurufe von der SPD) Thema. — Ich habe nicht mehr soviel Zeit; nun haltet euch Die FuE-Politik dieser Bundesregierung ist aber doch einmal bitte zurück. darüber hinaus auch inhaltlich negativ im Umbruch. Lassen Sie mich noch einen kniffligen Punkt anspre- Der Bund Demokratischer Wissenschaftler und Wis- chen: Technikverständnis, Technikakzeptanz, Rolle senschaftlerinnen etwa bemängelt an der Konzeption der Medien und öffentliche Meinung. Meine Damen der FuE-Politik dieser Bundesregierung: und Herren, ich habe den Eindruck, daß hier eine Erstens. Mit dem Übergang von Bundesminister Grundstimmung in diesem Lande falsch läuft. Ich Riesenhuber zu den Bundesministern Wissmann und kann mich an ein altes deutsches Sprichwort erinnern: Krüger ist die Debatte über mögliche Chancen und Wenn die Mäuse satt sind, schmeckt das Mehl bit- Risiken neuer Technologien völlig abgelöst worden ter. durch eine Augen-zu-Standortmodernisierungspoli- Wenn ich mir die Forschungs- und Technologiepo- tik. litik und die Diskussion darüber ansehe, muß ich Zweitens. Seit den 80er Jahren wird der tripartisti- fragen: Wo sind wir eigentlich hingekommen? sche Konsenserzeugungsmechanismus in der For- (Zuruf von der SPD: Wer sind die Mäuse?) schungs- und Entwicklungspolitik, also die Zusam- Wir waren einmal stolz, daß wir „Made in Ger- menarbeit von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften, many" draußen vermarkten konnten. Das war ein zu Lasten der Beteiligung der Gewerkschaften und Markenbegriff. Heute feiern in dieser Republik die der betrieblichen Interessenvertretungen verlassen. Reichsbedenkenträger lustige Urständ. Lieber Herr Drittens. Es wird eine Verschiebung von FuE- Catenhusen, das geht auch an Ihre Adresse: Die Leute Unterstützung und -Mitteln von der Grundlagenfor- in Ihrer Partei, die noch vor wenigen Jahren von den schung hin zur angewandten Forschung praktiziert. Jobkillern gesprochen haben, merken heute, daß die Jobs woanders entstanden sind. Daran müssen Sie Keine Frage: Diese drei Punkte laufen den Interes- sich messen lassen. Auch da tragen Sie Verantwor- sen dieses Landes in wesentlichen Aspekten zuwider. tung. Neue Technologien bringen eben Chancen und Risi- Es kann nicht angehen, daß die veröffentlichte ken mit sich. Dem muß in der FuE-Politik Rechnung Meinung heute teilweise nur noch von Horrorszena- getragen werden, z. B. durch Ausbau der Technolo- rien, nur noch von Killerargumenten lebt. giefolgenabschätzung. Diese Bundesregierung und diese Koalition haben ihr jedoch bereits in der vorigen Wenn ich mir die Schlagworte dieser Woche Legislaturperiode eine Beerdigung erster Klasse angucke — „Forschungsmilliarden verpulvert bereitet, und sie sorgen weiter dafür, daß sich auf — Transrapid" —, diese Spitzentechnologie, betref- diesem Gebiet nichts Richtiges regen kann. Die Fol- fend um die uns andere Länder beneiden, wenn ich gen neuer Technologien an den Arbeitsplätzen, feststellen muß, daß dieser Transrapid dann auch noch gerade die häufig relativ unsozialen und auch unöko- öffentlich niedergeredet wird, kann ich mich nicht logischen Folgen von hochkapitalintensiv produzier- wundern, daß eine Stimmung entsteht, bei der keine ten, weltweit vermarkteten Spitzentechnologiepro- Begeisterungsfähigkeit mehr vorhanden ist. Ich dukten machen nicht weniger, sondern mehr Informa- appelliere an die Medien, hier ihren Kurs zu überden- tion, mehr Beteiligung und mehr Mitbestimmung am ken. Das gehört mit dazu, und da bitte ich um Arbeitsplatz und im Betrieb und vor allem auch in der Unterstützung. FuE-Politik, z. B. in den vielen Beiräten und Gremien Herr Präsident, ich bin am Ende; herzlichen im Umfeld des BMFT, erforderlich. Dank. Der Technologierat, den die SPD vorschlägt, kann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ein erster und wichtiger Schritt in diese Richtung sein, um diesen Riesenbereich transparent und öffentlich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich nehme diskussionsfähig zu machen. Die Vereinigung Frauen an, daß sich Ihre letzte Bemerkung auf Ihre Rede in Naturwissenschaft und Technik weist zudem darauf bezog. hin, daß in „Akademia", also in der Hochschullehre Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete und -forschung, und auch sonst in der Forschung Dr. Briefs. Frauen nach wie vor grotesk unterrepräsentiert sind. Hier insbesondere muß mit systematischen Förder- maßnahmen in der Zukunft angesetzt werden. Das Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Prinzip Mitbestimmung — Mitbestimmung der Meine Damen und Herren! Die FuE-Politik verliert Betroffenen, Mitbestimmung der Beschäftigten, Mit- weiter an Bedeutung unter dieser Bundesregierung. bestimmung ihrer betrieblichen Interessenvertretun- Gerade bei den zukunftswichtigen Etats des BMFT gen, Mitbestimmung der Gewerkschaften, der Um- 17498 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Ulrich Briefs weltverbände und der Verbraucherverbände — digungsausschuß sowie an den Ausschuß für Arbeit gehört als zentrales Element, nicht als schmückendes und Sozialordnung. Ornament am Rande, in die FuE-Politik. Ich hoffe, das Haus ist damit einverstanden. — Das Weiterhin: Die Stärke der deutschen Forschung ist der Fall. Dann kann ich das als beschlossen — ich sage das als jemand, der im Hochschulbereich feststellen. tätig ist — beruht auf ihrer Orientierung auf die Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Grundlagenforschung und auf der besonderen Wert- empfehlung des Ausschusses für Forschung, Techno- schätzung von theoretischer Forschung. Das prägt ja logie und Technikfolgenabschätzung zum Vorschlag den deutschen akademischen Bereich sehr stark. Sie der EG zu einem Abkommen mit der Russischen beruht ebenfalls — auch das ist wichtig — auf der Föderation über die Raumfahrtdienste, Drucksache Existenz und Förderung von Orchideenfächern. Die 12/6378. Exporterfolge der deutschen Wirtschaft haben bisher Vorher möchte der Abgeordnete Professor Hans gezeigt, daß eigentlich auch die Wirtschaft mit dieser Laermann zu der Drucksache 12/5749, wenn ich das starken Grundlagenforschung, dieser starken Theo- richtig sehe, eine Richtigstellung und Ergänzung rieorientierung und mit gelegentlich durchaus etwas vornehmen. Ich erteile Ihnen das Wort, Herr Profes- praxisfernen Orchideenfächern gut fährt. sor. Wer diese bewährte Grundlage beeinträchtigt, erschüttert also womöglich einen der Grundpfeiler Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (F.D.P.): Herr Präsi- des deutschen Wirtschaftserfolges in der Zukunft. dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Nein, Forschung und Entwicklung sind reformbe- Einvernehmen mit allen Kolleginnen und Kollegen dürftig — das zu verleugnen wäre schlichtweg des Ausschusses für Forschung, Technologie und falsch —, allerdings nicht in die Richtung, in die diese Technikfolgenabschätzung und zugleich für die übri- Bundesregierung sie verändert und noch weiter ver- gen Berichterstatter, Herrn Dr. Martin Mayer und ändern wird. Im Vordergrund müssen ökologische Herrn Lothar Fischer, beantrage ich, daß wir den Text und soziale Reformzielsetzungen stehen — dazu ist der Beschlußempfehlung wie folgt ergänzen: soeben schon einiges gesagt worden —, nicht dage- Der Bundestag begrüßt das Abkommen zwischen gen die kriterienlose Förderung des Wirtschafts- der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, den wachstums und der Marktexpansion der Wirtschaft Mitgliedstaaten und der Russischen Föderation um jeden Preis. über Trägerdienste. Drei Viertel des bundesweiten FuE-Budgets wer- Bei Trägerdiensten handelt es sich um Dienstlei- den in der Wirtschaft ausgegeben, „verbraten". Diese stungen, bei denen eine alleinige Zuständigkeit der hat genügend Substanz und Mittel — das schlägt sich EG oder der EU nach Art. 113 nicht vorliegt, und auf schon in diesen Relationen nieder —, um die Umset- Grund der gemischten Zuständigkeit kann das zung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen Abkommen nur von der Europäischen Wirtschaftsge- in marktfähige Produkte und Verfahren durchführen meinschaft in Verbindung mit den einzelnen Mit- zu können. Der Staat braucht sich da nun wirklich gliedstaaten unterzeichnet werden. nicht zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft zu Ich bitte um Zustimmung zu dieser Ergänzung. machen. Danke schön, Herr Präsident. Herr Präsident, ich danke Ihnen. (Josef Vosen [SPD]: Das ist einmütig!)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: So, meine Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das ist Damen und Herren, damit sind wir am Ende der offensichtlich der Fall. Dann können wir das ins Aussprache. Protokoll aufnehmen, und ich kann über die Beschluß- empfehlung abstimmen lassen. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5550, 12/5914 und 12/6561 Wer für diese Beschlußempfehlung ist, den bitte ich an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthal- vor. tungen? — Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste ist das einstimmig angenommen. Der Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der F.D.P. — er liegt Ihnen auf der Drucksa- che 12/6562 vor — soll an dieselben Ausschüsse Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: überwiesen werden wie der Bundesbericht For- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- schung. desregierung eingebrachten Entwurfs eines Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag Gesetzes über Statistiken im Handwerk (Hand- der Fraktion der SPD — er liegt Ihnen auf der werkstatistikgesetz — HwStatG) Drucksache 12/6564 vor — wie folgt zu überweisen: — Drucksache 12/5833 — zur federführenden Beratung an den Ausschuß für (erste Beratung 182. Sitzung) Forschung, Technologie und Technikfolgenabschät- a) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- zung und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß, schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ver- kehr, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und — Drucksache 12/6357 — Reaktorsicherheit, den Ausschuß für Bildung und Berichterstattung: Wissenschaft, den Auswärtigen Ausschuß, den Vertei- Abgeordneter Ernst Hinsken Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17499

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Diese Zählungen sind nicht nur nötig für zuverläs- schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung sige bundesweite Gesamtzahlen zum Handwerk. Sie — Drucksache 12/6400 — liefern vor allem zugleich die Auswahlgrundlage und den Hochrechnungsrahmen für die Stichprobe von Berichterstattung: höchstens 55 000 Unternehmen, die als Berichtskreise Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) in die laufenden vierteljährlichen Erhebungen einbe- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) zogen werden. Diese neue Stichprobe ersetzt den Helmut Wieczorek (Duisburg) Berichtskreis der zur Zeit befragten Handwerksunter- Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von nehmen, der im wesentlichen noch auf der Zählung einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einver- von 1977 basiert und nicht mehr repräsentativ ist. standen? — Offensichtlich ist das der Fall. Die neue Stichprobe wird zudem viele Unterneh- Dann kann ich die Debatte eröffnen und erteile men aus der Berichtspflicht entlassen und andere zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär aufnehmen, so daß eine Verteilung der damit zwangs- Dr. Göhner das Wort. Herr Staatssekretär, Sie haben läufig verbundenen — allerdings, wie wir hoffen, das Wort. wegen der geringen Zahl von Merkmalen geringen — Belastungen erfolgt. Ich möchte abschließend noch einen besonderen Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär beim Hinweis auf die Verordnungsermächtigung in § 9 Bundesminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Liebe Nr. 2 des Gesetzentwurfes geben. Mit Zustimmung Kolleginnen und Kollegen! Das Handwerk stellt mit des Bundesrates kann das Bundesministerium für seinen rund 489 000 Unternehmen und 4 Millionen Wirtschaft nach dieser Regelung zur Darstellung der Beschäftigten sowie mit einem Umsatz von 620 Milli- wirtschaftlichen Struktur bei Betrieben und Unterneh- arden DM im Jahre 1992 für das frühere Bundesgebiet men des handwerksähnlichen Gewerbes ebenfalls und rund 117 000 Handwerksunternehmen in den eine Zählung anordnen, aber getrennt von der allge- neuen Bundesländern zweifellos einen besonders meinen Handwerkszählung. bedeutenden wirtschaftlichen Faktor dar. Seine Die Zählung des handwerksähnlichen Gewerbes Bedeutung geht über diese Zahlen sicher weit hinaus. war in der letzten Legislaturperiode, wie Sie wissen, Mit seiner klein- und mittelbetrieblichen Struktur ist äußerst umstritten. Daran ist der damalige Gesetzent- das Handwerk einer der typischen großen Bereiche wurf gescheitert. Mit der jetzigen Regelung haben wir des gewerblichen Mittelstandes. Um dieser Bedeu- einen für alle Beteiligten auf Bundes- und Länder- tung bei wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnah- ebene, wie ich denke, tragfähigen Kompromiß gefun- men — z. B. durch uns, den Gesetzgeber — gerecht zu den. werden, aber auch um Aussagen über die konjunktur- elle Entwicklung und langfristige Tendenzen zu Ich möchte mich ausdrücklich beim federführenden erhalten, ist es notwendig, auch laufend statistische Ausschuß für die zügige Beratung bedanken. Erhebungen im Handwerk durchzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die vorliegende Novelle des Handwerkstatistikge- setzes ist dringlich und notwendig. Mit ihr wird keine Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile neue Statistik angeordnet — gerade die mittelständi- nunmehr dem Abgeordneten Professor Dr. Uwe Jens schen Handwerksbetriebe haben genügend bürokra- das Wort. tischen Ballast zu bewältigen, und wir sollten hier nicht neue Lasten einführen —, aber das bewährte (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Informationssystem wird neu geordnet, auch um z. B. Dr. Uwe Jens und Herren! Mein Kollege Albert Pfuhl, unser hand- den höheren Anforderungen an die Normenklarheit werkspolitischer Sprecher, ist verhindert. Deshalb als Folge des Volkszählungsurteils gerecht zu wer- habe ich es übernommen, hierzu etwas zu sagen. den. (Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Von dieser amtlichen Statistik, auch von der viertel- Verhindert?) jährlichen Handwerksberichterstattung, erwarten die Nutzer in Wirtschaft, in Wissenschaft und Politik Es ist richtig und notwendig, daß mit dem vorliegen- den Gesetzentwurf die Handwerkstatistiken auf eine sichere und verläßliche Planungs - und Entschei- dungsgrundlagen. Damit diese Grundlagen wirklich neue gesetzliche Grundlage gestellt werden, um aktu- verläßlich sind, müssen inzwischen eingetretene alisierte, zuverlässige Angaben über die Situation im Unsicherheiten beseitigt werden. Handwerk zu ermöglichen. Der Gesetzentwurf sieht regelmäßige Handwerks- Mit zirka 490 000 Unternehmen, 4 Millionen zählungen im Abstand von acht bis zehn Jahren vor, Beschäftigten und einem Umsatz von 580 Milliarden beginnend 1995, nachdem die letzte Zählung 1977 DM im Jahr 1991 allein in den alten Bundesländern stattgefunden hat, also vor einem Zeitraum, in dem und etwa 109 000 Handwerksunternehmen in den zwischenzeitlich viele Änderungen eingetreten sind, fünf neuen Bundesländern und Berlin (Ost) gehört das die eine neue Erhebung erforderlich machen. Erho- Handwerk zu den bedeutenden wirtschaftlichen Sek- ben werden hierbei Angaben zu den Beschäftigten, zu toren in der Bundesrepublik. Bruttolöhnen und Gehältern, zum Umsatz; ferner Genaue Kenntnisse über die wirtschaftliche Ent- Daten, die insbesondere Einblick in das Alter, die wicklung, über Betriebs-, Umsatz- und vor allem Rechtsform, den gewerblichen und tätigkeitsbezoge- Beschäftigtenzahlen sind eine unerläßliche Voraus- nen Schwerpunkt sowie die betriebliche Struktur der setzung für die Beurteilung der wirtschaftlichen Ent- Handwerksunternehmen geben. wicklung in diesem wichtigen Wirtschaftsbereich und 17500 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Uwe Jens die notwendige Grundlage für eine problemorien- Arbeitsplätze einen positiven finanziellen Beitrag zu tierte Wirtschafts- und Mittelstandspolitik. Diese den öffentlichen Finanzen leistet, abzuschaffen ist vor Auffassung ist unstrittig. Der Wirtschaftsausschuß hat allem in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation deshalb einstimmig die Annahme dieses Gesetzent- wirtschaftspolitisch völlig verfehlt. Ich darf hinzufü- wurfes empfohlen. gen: Wir haben wiederholt beschlossen, daß wir dieses Programm, wenn wir an die Regierung kom- (Zuruf des Abg. E rnst Hinsken [CDU/ men, sofort wieder einführen würden. CSU]) — Sonst hätten wir natürlich auch nicht zugestimmt, (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wir tun was Herr Kollege. und reden nicht!) So lobenswert dieses Handwerkstatistikgesetz ist, Ich darf weiter daran erinnern, daß Sie die Förde- wichtiger und wesentlich ergiebiger wäre es gewe- rung von Forschung und Entwicklung, z. B. die Lohn- sen, die Bundesregierung wäre endlich in der Lage, kostenzuschüsse für kleine und mittlere Unternehmen die notwendigen Statistiken und Basiszahlen vorzule- in Forschung und Entwicklung, abgeschafft haben. gen, die wir in unserer Großen Anfrage zur „Feststel- Auch das war ein eklatanter Fehler, der dringend lung der tatsächlichen Lage der Wettbewerbsfähig- korrigiert werden müßte. keit der deutschen Wirtschaft" angemahnt haben. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die Bundesre- (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Nicht vom Thema gierung unternimmt nichts, um den bedrohlichen abweichen!) Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft, insbeson- dere im Einzelhandel, zu stoppen. Erst vor kurzem gab Darüber hätten wir sinnvollerweise debattieren müs- es wieder eine weitere Elefantenhochzeit zwischen sen. Diese statistischen Angaben und Basiszahlen hat zwei Großkonzernen, Metro/Asko. Die Bundesregie- die Regierung allerdings bis heute nicht vorlegen rung sieht tatenlos zu, wie die marktwirtschaftliche können. Notwendig wäre auch eine Debatte über die Ordnung in den Grundfesten erschüttert wird. Unsere vom Statistischen Bundesamt für das Jahr 1993 veröf- Vorschläge reichen schon bis in die 11. Legislaturpe- fentlichten alarmierenden Wirtschaftsdaten, die bele- riode zurück. Es wäre dringend an der Zeit, daß wir sie gen, daß der Bundeswirtschaftsminister mit seinen wirklich schnell verwirklichen. Analysen und Prognosen mal wieder völlig daneben- liegt. Kernprobleme wie Arbeitslosigkeit, Rezession, (Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Innovationsdefizite und Entindustrialisierung in den Diese Rede läuft unter dem Motto: Thema neuen Ländern — das sind die Themen, mit denen sich völlig verfehlt!) der Deutsche Bundestag eigentlich befassen müßte. Kahlschlagpolitik und Tatenlosigkeit — das kenn- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Er zeichnet die Mittelstandspolitik dieser Bundesregie- befaßt sich auch immer wieder damit! Waren rung. Lippenbekenntnisse und Sonntagsreden, die Sie nicht bei der Haushaltsdebatte da?) wir demnächst im Hause wieder hören werden, — Aber zuwenig. ändern daran leider überhaupt nichts. Zur Bewältigung dieser wichtigen Probleme haben (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie keine geeigneten Lösungen und Instrumente Hat der Kollege Pfuhl auch die richtige Rede anzubieten. Dies gilt im übrigen auch im Hinblick auf mitgenommen?) den Mittelstand. Das Handwerkstatistikgesetz ist für diesen Wirtschaftszweig sicher wichtig. Die Vorlage Zum Abschluß möchte ich noch eine kurze Bemer- dieses Gesetzes kann jedoch nicht darüber hinweg- kung zum vorliegenden Gesetzentwurf machen: täuschen, daß Sie auch für kleine und mittlere Unter- Bekanntlich hat es bereits in der 11. Legislaturperiode nehmen in der Sache wenig anzubieten haben. Im einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zu den Handwerkstatistiken gegeben. Dieser Entwurf be- Gegenteil: Nahezu alle Mittelstandsprogramme, die unter sozialdemokratisch geführten Bundesregierun- rücksichtigte ausschließlich die sogenannten Voll- gen eingeführt und weiterentwickelt wurden, um handwerke. — Vielleicht passen Sie einmal auf, Herr einen Nachteilsausgleich für diese Unternehmen zu Weng, dann verstehen Sie ein bißchen mehr davon. schaffen, sind unter Ihrer Regierungsverantwortung (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: in den alten Bundesländern sang- und klanglos ein- Jetzt kommt wieder etwas, was zum Thema gestellt worden. gehört!) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der — Daß Sie keine Ahnung haben, ist mir natürlich F.D.P.) völlig geläufig. Aber dumme Zwischenbemerkungen, Dazu gehört z. B. das Eigenkapitalhilfeprogramm die können Sie machen; das ist richtig. — Bundesre- zur Förderung von Existenzgründungen, das ganz gierung und Regierungskoalition weigerten sich hart- entscheidend dazu beigetragen hat, neue Betriebe zu näckig, das handwerksähnliche Gewerbe in die Zäh- gründen und Arbeitsplätze zu schaffen. Ich darf daran lungen einzubeziehen. Die SPD-Bundestagsfraktion, erinnern, daß in den alten Bundesländern etwa der Bundesrat und die Handwerksorganisationen hat- 100 000 Existenzgründungen mit diesem Programm ten dagegen damals nachdrücklich gefordert, auch ermöglicht wurden, mit denen etwa 500 000 Arbeits- das handswerksähnliche Gewerbe zu berücksichti- plätze geschaffen oder erhalten wurden. gen. Dieses Programm, das im übrigen per saldo nichts (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das zeigt kostet, sondern auf Grund der zusätzlich geschaffenen eben, wer etwas vom Handwerk versteht!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17501

Dr. Uwe Jens An der starren Haltung der Regierungskoalition und entwurf einstimmig zugestimmt und dem Deutschen der Bundesregierung ist das damalige Gesetz leider Bundestag die Annahme des Gesetzes empfohlen. gescheitert. Jetzt wird das handwerksähnliche Ge- Zweck des Gesetzes ist es, bestehende Statistiken werbe endlich in die Handwerkstatistik einbezogen. im Handwerk auf eine neue gesetzliche Grundlage zu Offensichtlich hat es eines längeren Lernprozesses der stellen. Durch Zusammenfassung der Regelungen für Regierungskoalition bedurft, diese Notwendigkeit vierteljährliche Erhebungen, die Grundlage für die endlich — wenn auch spät — zu erkennen. Diese Ermittlung wichtiger Konjunkturindikatoren sind, Regierung hat auch auf anderen Feldern wirklich und für mehrjährliche Zählungen wird deren sachli- noch viel und möglichst schnell hinzuzulernen. cher Zusammenhang hervorgehoben. Schönen Dank. Mit dem Gesetz soll die Voraussetzung dafür (Beifall bei der SPD — Klaus Beckmann geschaffen werden, daß die tiefgreifenden Wandlun- [F.D.P.]: Abendfüllend!) gen im Handwerk des früheren Bundesgebiets und die seit Jahren zu beobachtende Verlagerung wirt- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile schaftlicher Tätigkeiten vom sekundären zum tertiä- nunmehr dem Abgeordneten E rnst Hinsken das ren Sektor erfaßt werden können. In den neuen Wort. Ländern soll eine statistische Grundlage geschaffen werden. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Ver- Zur Zeit werden kurzfristige Erhebungen wichtiger ehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den großen Eckgrößen auf der Grundlage des Gesetzes über die handwerkspolitischen Ausführungen des Kollegen Durchführung laufender Statistiken im Handwerk Professor Jens als Ergänzung zur großen Debatte zur durchgeführt. Sie dienen der Beobachtung der kon- Handwerksordnung vor wenigen Wochen, möchte ich junkturellen Entwicklungen im Handwerk. Darüber eine Rede halten, die sich speziell mit dem Handwerk- hinaus erfolgten bisher in unregelmäßigen Abständen statistikgesetz befaßt, das wir heute zum Abschluß seit 1949 Gesamterhebungen im Handwerk, soge- bringen können, damit es dann in Kürze in Kraft treten nannte Handwerkszählungen. kann. Ich tue das insbesondere deshalb gerne, weil wir ja bereits vor wenigen Wochen, wie soeben Das Gesetz enthält darüber hinaus erstmals eine erwähnt, eine Möglichkeit hatten, ausführlich über Ermächtigung zu einer Zählung in den handwerks- alle Fragen des Handwerks zu diskutieren. Damit aber ähnlichen Gewerben. Das Bundesministerium für das Handwerk so erfolgreich wie bisher weiterhin von Wirtschaft soll durch Rechtsverordnung mit Zustim- Bestand ist, ist es dringend erforderlich, auch auf mung des Bundesrates in den handwerksähnlichen Statistiken zurückgreifen zu können. Gewerben ermächtigt werden, mit einem einge- schränkten Frageprogramm eine Zählung anzuord- Ich meine, Herr Staatssekretär Dr. Göhner, es ist nen. Dies hervorzuheben halte ich nicht zuletzt des- sehr, sehr lobenswert, wenn Sie gerade die Bedeutung halb für wesentlich, da gerade an der Frage der des zweitgrößten Wirtschaftszweiges in der Bundesre- Einbeziehung handwerksähnlicher Gewerbe der Ent- publik Deutschland, nämlich des Handwerks, so wurf eines Gesetzes über Statistiken im Handwerk in besonders herausstellen. Mit 750 000 Unternehmen, der letzten Legislaturperiode scheiterte. über 5 Millionen Beschäftigten, annähernd 10 % des erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts und einem Herr Professor Jens, wenn Sie mir jetzt einmal Umsatz von 620 Milliarden DM in den alten Bundes- genausogut zuhörten, wie ich das vorhin bei Ihnen ländern sowie 110 000 Unternehmen in den neuen gemacht habe. Ich möchte Sie nämlich einmal loben; Bundesländern ist das Handwerk in der Bundesrepu- denn es ist nicht immer so, daß Sie im Wirtschaftsaus- blik Deutschland ein Wirtschaftsbereich von heraus- schuß so konstruktive Beiträge leisten wie in diesem ragender Bedeutung. Fall. Wir konnten diesen Gesetzentwurf einstimmig über die Bühne bringen, weil auch das Wohlwollen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der wichtigen Fraktion der SPD hier vorhanden war Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten wie zur Zeit und Sie einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. wird uns bewußt, was wir am Handwerk und unseren Handwerkern haben. Während im Bereich der Indu- Nur, meine Damen und Herren, ich meine, daß strie im großen Stil Arbeitsplätze abgebaut werden, gerade das Ausfüllen von Formularen und das Befra- wurden im Handwerk auch im letzten Jahr wieder gen die Betriebe sehr belastet und das Gegenteil von zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Bürokratieabbau ist. Deshalb noch ein Wort dazu, warum wir dieses Gesetz unbedingt brauchen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Und die Ausbildungsleistungen!) Ich hoffe, daß das Verständnis der Betroffenen Bedauerlicherweise kann nicht einmal jeder angebo- vorhanden ist; denn in einer von grundlegenden tene Arbeitsplatz besetzt werden. strukturellen Veränderungen geprägten Zeit wäre der Verzicht auf aktualisierte Daten über einen wesentli- Das Handwerk mit seinen Klein- und mittelständi- chen Bereich des Mittelstands nicht nur unbegründet, schen Betrieben ist und bleibt ein Motor der wirt- sondern auch im Interesse eines rationellen Mittelein- schaftlichen Entwicklung in Deutschland. Damit dies satzes und damit einer erfolgreichen Wirtschaftspoli- auch in Zukunft so bleibt, sind zur Erfassung konjunk- tik nicht vertretbar. tureller Entwicklungen und langfristiger Tendenzen statistische Erhebungen im H andwerk unumgänglich. Die Ergebnisse der letzten Handwerkszählung aus Daher hat der federführende Ausschuß für Wirtschaft dem Jahre 1977 — Herr Staatssekretär Dr. Göhner, Sie in seiner Sitzung am 1. Dezember 1993 dem Gesetz- haben vorhin darauf verwiesen —, also vor 17 Jahren, 17502 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Ernst Hinsken sind inzwischen völlig veraltet, so daß auch die Handwerks und seine Fähigkeit, sich neuen Anforde- vierteljährliche repräsentative Handwerksberichter- rungen zu stellen, ausgezahlt. keine zuverlässigen, der heutigen Wirklich- stattung (Beifall bei der F.D.P.) keit entsprechenden Ergebnisse mehr liefern kann. Infolgedessen muß damit gerechnet werden, daß Während der Zentralverband des Deutschen H and- bereits in Kürze überhaupt keine amtlichen Daten für werks Mitte 1993 noch von 560 000 Beschäftigten im diesen Wirtschaftsbereich mehr verfügbar sein wer- ostdeutschen Handwerk ausging, waren es nach einer den. Damit würde ernsthaft die Gefahr drohen, daß verbandsinternen Befragung im letzten Jahr tatsäch- die Bundesrepublik Deutschland handwerkstatistisch lich 850 000 Betriebsinhaber, Meister, Gesellen und — und damit bezüglich wirtschaftspolitisch wichtiger Lehrlinge, die bereits Ende 1992 im Handwerk arbei- Erkenntnisquellen — auf das Niveau eines Entwick- teten. Von etwa 80 000 Handwerksbetrieben zur Zeit lungslands zurückfallen würde. der Wende hat sich deren Zahl danach auf mehr als Lassen Sie mich abschließend erwähnen, daß aus 130 000 erhöht. den neuen Bundesländern bislang überhaupt noch (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: keine amtlichen Daten über den Bereich des Hand- Sehr erfreulich!) werks vorliegen. Eine verbesserte Informations- — Herr Kollege Weng, ich unterstreiche Ihre Berner- grundlage hat für die Politik aber insbesondere den kung. Natürlich ist das sehr erfreulich, aber auch Vorteil, daß sie ihre Maßnahmen wachstumspolitisch Ausdruck der erfolgreichen Mittelstandspolitik dieser effizienter, beschäftigungspolitisch wirkungsvoller Bundesregierung. — und strukturpolitisch sinnvoller einsetzen kann. Dies vor allem waren die Beweggründe, dieses (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Handwerkstatistikgesetz zu beraten, jetzt vorzulegen Verläßlichere Zahlen und Aufschluß über dortige und darüber abzustimmen. Strukturen und Entwicklungen sind deswegen drin- Herzlichen D ank für die Aufmerksamkeit. — Herr gend erforderlich. Präsident, ich lege Wert darauf, ich bin eine Minute Auch die Strukturen des westdeutschen Hand- unter meiner Redezeit geblieben. werks haben sich seit 1977 tatsächlich grundlegend (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) verändert. Das Dienstleistungshandwerk hat gegen- über dem produzierenden Handwerk deutlich an Bedeutung gewonnen. Zu den traditionellen H and- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich werkssparten sind in großer Zahl handwerksähnliche möchte mich im Namen des Hauses bei Ihnen bedan- Betriebe hinzugetreten. Damit ist es nun erforderlich ken und dem Abgeordneten Klaus Beckmann das geworden, diese nun in die Zählung mit einzubezie- Wort erteilen. hen, nachdem die Fachverbände des Handwerks ihre Zustimmung gegeben haben. Meine Damen und Herren, der Wirtschaftsstandort Klaus Beckmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Deutschland ist durch das Handwerk in besonderem sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der vorlie- Maße positiv geprägt. Die steigende Arbeitsprodukti- gende Gesetzentwurf stellt die Grundlage für eine vität der Handwerksbetriebe ist auf den zunehmen- überfällige Zählung der Handwerksbetriebe und der den Einsatz computergesteuerter Maschinen und dort Beschäftigten dar und ist deswegen uneinge- modernster Produktionsverfahren zurückzuführen. schränkt zu begrüßen. Das anheimelnde Bild von der kleinen Werkstatt mit Die wirtschaftliche Bedeutung des Handwerks für der alten Drehbank und dem Schraubstock stimmt für die deutsche Wirtschaft liegt auf der H and, sie ist uns die Mehrzahl der Be triebe nicht mehr. Damit stellt das allen bewußt. Nach Schätzungen des Zentralverbands Handwerk auch ein bedeutendes Investionspotential des Deutschen Handwerks gab es Ende 1992 in dar, das auch auf die industrielle Maschinenproduk- 750 000 kleinen und mittelständischen Handwerks- tion ausstrahlt. Das Handwerk ist also eine Stütze des betrieben 5,1 Millionen Beschäftigte. Wirtschafts- und Technologiestandortes Deutschland. gesellschaftspolitische Entscheidungen haben einen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) so bedeutsamen Wirtschaftsfaktor zu berücksichtigen. Dafür ist es unerläßlich, diesen Entscheidungen ein Trotzdem spielt der Faktor Arbeit bei der Produk- zuverlässiges Datenwerk zugrunde zu legen, das tion von Waren und Dienstleistungen durch die Hand- Aufschluß über aktuelle Entwicklungen sowie mittel- werksbetriebe die wichtigste Rolle. Diese Tatsache und langfristige Tendenzen gibt. Stichprobenerhe- erfordert unsere besondere Aufmerksamkeit, wenn bungen, wie wir sie in den vergangenen Jahren wir effektive Arbeitsmarktpolitik betreiben wollen. hatten, können nur dann ein Mindestmaß an Sicher- Die Existenzgefährdung von Handwerksbetrieben heit geben, wenn die Grundgesamtheit ihrer Zahl und durch Nachfolgeprobleme selbständiger Handwerks- Struktur nach bestimmt ist. Die zuletzt im Jahre 1977 meister hat somit auch einen wichtigen beschäfti- durchgeführte Zählung der westdeutschen Hand- gungspolitischen Aspekt. werksbetriebe kann kaum noch als verläßliche Wenn politische Rahmenbedingungen dafür ge- Grundlage herangezogen werden. schaffen werden sollen, das Berufsbild des Handwer- In den neuen Bundesländern fehlt eine Erhebung kers wieder attraktiver zu gestalten sowie Umschu- gänzlich. Die dortige Entwicklung im Handwerksbe- lungs- und Ausbildungskapazitäten am Bedarf aus- reich war jedoch nach 1990 von enormer Dynamik richten zu können, ist zuverlässiges Datenmaterial gekennzeichnet. Hier hat sich die Flexibilität des eine notwendige Voraussetzung. Nicht zuletzt kön- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17503

Klaus Beckmann nen politische Entscheidungen nur dann verantwort- rung des Grundgesetzes lich gefällt werden, wenn ihre Kosten zu beziffern (Betr.: Datenschutz und Informationsfreiheit) sind. Auch dafür ist die Handwerksstatistik unver- zichtbar. — Drucksache 12/5695 — Meine Damen und Herren, war es aus kurzfristigen Überweisungsvorschlag: Sparzwängen und vor Abschluß der fachlichen Bera- Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß tungen im Rahmen des Föderalen Konsolidierungs- programms noch vertretbar, die Zählung auf 1995 zu c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ing rid verschieben, so ist die Verabschiedung des Hand- Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werksstatistikgesetzes jetzt überfällig. Sie liegt zudem NEN im erklärten Interesse der beteiligten Handwerksor- Gesetzliche Regelung zur Einführung der ganisationen. Für die Fraktion der F.D.P. erkläre ich Informationsfreiheit (Allgemeines Informa- die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. tionsfreiheits-Gesetz) Vielen Dank. — Drucksache 12/5694 — (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, damit kann ich die Aussprache Vom Ältestenrat wird eine Debattenzeit von einer schließen. Stunde vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstan- den? — Das ist offensichtlich der Fall. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Dann können wir mit der Debatte beginnen. Herr Entwurf eines Handwerksstatistikgesetzes, der Ihnen Dr. Blens, Sie haben das Wort. auf Drucksache 12/5833 vorliegt. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/6357, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen Dr. Heribert Blens (CDU/CSU): Herr Präsident! wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dage- Meine Damen und Herren! Wir haben drei Punkte zur gen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Vertreter Beratung: den 14. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauf- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke tragten für den Datenschutz und zwei Vorschläge des Liste ist der Gesetzentwurf in zweiter Lesung ange- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: einen zur Änderung nommen worden. des Grundgesetzes, zur Aufnahme des sogenannten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in das Wir kommen zur Grundgesetz, und einen weiteren Vorschlag über dritten Beratung gesetzliche Regelungen — wie es wörtlich heißt — und Schlußabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz „zur Einführung der Informationsfreiheit". zuzustimmen wünschen, bitte ich, sich zu erheben. — Lassen Sie mich zunächst zu den Vorschlägen des Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Darm ist BÜNDNISSES 90 etwas sagen, als erstes zu dem das Gesetz mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen Vorschlag, das Grundgesetz zu ändern. Begründet in dritter Lesung angenommen. wird er in der Vorlage des BÜNDNISSES 90 mit dem Satz: Bislang fehlen Bestimmungen in der Verfassung, Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr die den Datenschutz (Recht auf informationelle zu dem Tagesordnungspunkt 5 a bis c: Selbstbestimmung) und das Recht auf Informations- a) Beratung der Unterrichtung durch den Bundes- freiheit als Grundrechte verankern. beauftragten für den Datenschutz Ich muß sagen, diese Begründung halte ich für 14. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten etwas verwunderlich; denn wenn man das Grundge- für den Datenschutz gemäß § 26 Abs. 1 des setz und die Rechtsprechung dazu kennt, weiß man, Bundesdatenschutzgesetzes — Berichtszeit- daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung raum Anfang 1991 bis Anfang 1993 — Bestandteil des Grundgesetzes ist. Das ist ausdrück- lich festgestellt im Urteil des Bundesverfassungsge- — Drucksache 12/4805 — richtes zur Volkszählung vom 15. Dezember 1983. An Überweisungsvorschlag: sich wollte ich Ihnen, Frau Köppe, das jetzt vorlesen, Innenausschuß (federführend) aber ich gebe Ihnen nachher gerne die Fundstelle, Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- nung damit Sie es nachlesen. Rechtsausschuß Finanzausschuß (Ingrid Köppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Das kenne ich!) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Dasselbe gilt auch für das Recht auf Informations- Ausschuß für Post und Telekommunikation freiheit; denn Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz sagt, daß Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- jeder das Recht hat, „sich aus allgemein zugänglichen schätzung Quellen ungehindert zu unterrichten". Das heißt, das b) Erste Beratung des von den Abgeordneten allgemeine Recht auf Informationsfreiheit gibt es Ingrid Köppe, Dr. Wolfgang Ullmann und der ebenfalls im Grundgesetz. Da beides vorhanden ist, ist Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- es nicht erforderlich, das Grundgesetz zu verän- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ande- dern. 17504 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Heribert Blens Zu dem Vorschlag des BÜNDNISSES 90, ein Allge- der Bürger vor überzogener Datensammlung und vor meines Informationsfreiheits-Gesetz vorzulegen und allem vor Datenfehlgebrauch zu gewährleisten. zu verabschieden: Das Ziel, das damit vom BOND- Ich nehme als Beispiel aus dem Bericht den Hinweis NIS 90 verfolgt wird, ist es, ein allgemeines Recht der auf das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Bürger auf Einsicht in alle Unterlagen der Behörden Kriminalität, das Gesetz zur Änderung des Außenwirt- zu erreichen. schaftsgesetzes, das Asylverfahrensgesetz und das Dazu ist zunächst festzustellen, daß es eine große Gesetz zur Umsetzung des föderalen Konsolidie- Anzahl von Auskunfts- und Einsichtsrechten der rungsprogramms. Bürger in den verschiedenen Gesetzen gibt. Ich denke Es hat keine Beratung des Innenausschusses über etwa an das Auskunftsrecht über Daten im Daten- diese und andere Gesetze mit datenschutzrechtlichem schutzgesetz, das Akteneinsichtsrecht nach dem Ver- Inhalt gegeben, an der der Datenschutzbeauftragte waltungsverfahrensgesetz, weitgehende Einsichts- nicht teilgenommen hätte. Nach meiner Erinnerung rechte der Bürger in allen Planungsverfahren und in haben wir in allen Fällen Regelungen gefunden, die emissionsschutzrechtlichen und atomrechtlichen Ge- auch die Zustimmung des Bundesdatenschutzbeauf- nehmigungsverfahren oder Akteneinsichtsrechte tragten gefunden haben. Ich glaube, das zeigt zum etwa im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, dort einen, wie nützlich der Datenschutzbeauftragte ist, übrigens auch in bezug auf Verwaltungsakten. und zum anderen, daß ein gutes Vertrauensverhältnis Ich denke, alle diese Auskunfts- und Einsichts- zu ihm besteht und daß auch wir als Parlamentarier rechte geben den Bürgern umfangreiche Möglichkei- auf seinen Sachverstand jederzeit setzen können und ten, sich zu informieren. Allerdings stehen sie nach setzen. den gesetzlichen Vorschriften nur dem zu, der ein Neben der Beratung bei der Gesetzgebung hat die rechtliches oder berechtigtes Interesse an der Aus- Mitwirkung des Datenschutzbeauftragten bei der Ein- kunft oder an der Einsicht hat. richtung von Dateisystemen bei Bundesbehörden in Und das ist der Unterschied zu dem, was das der Berichtszeit eine erhebliche Rolle gespielt. Ich BÜNDNIS 90 will. Es will es abkoppeln vom eigenen nenne hier die erste Ausbaustufe des automatisierten rechtlichen oder berechtigten Interesse des jeweiligen Fingerabdruckidentifizierungssystems beim Bundes- Bürgers und will ein Jedermannrecht zur Einsicht aller kriminalamt, den Datenabgleich zwischen Versicher- Unterlagen der Verwaltungen einführen, auch wenn tendaten und der Datei der Leistungsbezieher bei der kein eigenes rechtliches Interesse vorhanden ist. Bundesanstalt für Arbeit und den Ausbau des ISDN- Netzes der Telekom. Dazu kam die Beteiligung am Ein solches Jedermannrecht öffnet u. a. die Gefahr, Aufbau internationaler Datenaustauschsysteme, z. B. daß selbsternannte, von keinem legitimierte Anwälte am Schengener Informationssystem, an Europol und angeblicher Bürgerinteressen für sich einen Beruf am gemeinsamen Zollinformationssystem. daraus machen, unter dem Vorwand der Kontrolle Verwaltungshandeln zu verzögern oder, wie die Wenn man die Hauptbereiche der Tätigkeit des Erfahrung zeigt, sogar zu verhindern. Datenschutzbeauftragten sieht, wird gleichzeitig deutlich, daß es vor allem drei Gründe sind, die zu Damit das nicht übersehen wird, und damit das ganz einem Ausbau der Datensysteme führen. klar ist: Kontrolle der Verwaltungen aller staatlichen Ebenen ist notwendig und unerläßlich, aber legiti- Der erste Grund ist die wachsende inte rnationale miert zu dieser allgemein notwendigen Kontrolle sind Verflechtung und Integration insbesondere der Euro- die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Par- päischen Union und die damit verbundene Öffnung lamente von Bund, Ländern und Gemeinden, denen der Grenzen der einzelnen Länder. die zur Wahrnehmung ihrer Kontrollaufgaben not- Der zweite Grund sind die mit viel Geld versehenen wendigen Auskunfts-, Einsichts- und sonstigen und infolgedessen technisch gut ausgestatteten inter- Rechte zur Verfügung stehen. Die legitimierten Ver- national operierenden und organisierten Kriminel- treter der allgemeinen Interessen der Bürger sind die len. von den Bürgern gewählten Parlamentarier, und dabei soll es nach unserem Willen bleiben. Der dritte Grund für den Ausbau der Datennetze ist der Sozialstaat, der mit seiner zunehmenden Ausdeh- (Beifall des Abg. Dr. Wolfg ang Weng [Gerlin- nung der Zahl von Leistungsberechtigten und der gen] [F.D.P.]) zunehmenden Differenzierung von Leistungen not- Damit komme ich zum 14. Tätigkeitsbericht des wendigerweise immer mehr Mißbrauchsmöglichkei- Datenschutzbeauftragten. Das ergibt sich deshalb, ten schafft, denen dann mit den Mitteln der Datenver- weil der Datenschutzbeauftragte eines der Instru- arbeitung begegnet werden muß. mente ist, mit deren Hilfe der Bundestag seine Kon- Da diese Entwicklungen kaum zurückgedreht wer- trollfunktion gegenüber den Bundesbehörden aus- den können, wird auch in Zukunft Datenschutz eine übt. wichtige Aufgabe und der Datenschutzbeauftragte eine wichtige Institution bleiben. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat Bundesregierung und Bundestag bei wichtigen Lassen Sie mich zum Schluß eine Anmerkung zum Gesetzen sachverständig beraten mit dem Ziel, einer- Verhältnis des Datenschutzbeauftragten zur Politik seits das zum Erreichen des jeweiligen Gesetzes- machen, und zwar deshalb an dieser Stelle, weil der zwecks notwendige Maß an Datenerhebungen, Datenschutzbeauftragte bei seiner Pressekonferenz, Datenspeicherung, Datenabgleich und Datenüber- bei der er seinen Bericht vorgelegt hat, dazu einiges mittlung zu ermöglichen, gleichzeitig aber den Schutz gesagt hat. Er hat dort erklärt, es sei kaum verständ- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17505

Dr. Heribert Blens lich, daß gerade in jüngster Zeit im politischen Raum Das Verhältnis Datenschutzbeauftragter zu denen heftige Angriffe gegen den Datenschutz und gegen in der Politik, die sich im Innenausschuß mit Daten- Datenschutzbeauftragte gerichtet worden seien. Er schutz beschäftigen, ist gut. Das wird auch so bleiben. nennt dafür zwei Beispiele, als erstes die Reaktion auf Das wird sich auch bei der gründlichen Beratung des seine Äußerungen zum sogenannten großen Lausch- 14. Berichts zeigen, den ich insgesamt für erfreulich angriff. Ich will dazu zwei Dinge feststellen: halte, weil er, obwohl er eine Vielzahl von Beanstan- Das erste: Der Datenschutzbeauftragte hat nach dungen in Einzelfällen enthält, zeigt, daß der Daten- meiner Überzeugung selbstverständlich das Recht, schutz als solcher, als Institution, in den Bundesbehör- sich zu politisch kontroversen Themen seines Zustän- den akzeptiert ist und praktiziert wird. Daß es Mei- digkeitsbereichs auch öffentlich zu äußern. Aber nungsunterschiede im Einzelfall gibt, daß es Pannen — das ist das zweite — wer in die heiße Küche geht, gibt, wird bei Verwaltungen nie vermeidbar sein. muß damit rechnen und in Kauf nehmen, daß er sich Aber der Datenschutz ist bei den Verwaltungen aner- die Finger verbrennt. In der Politik geht es, Herr kannt. Wir werden alles dafür tun, daß es so bleibt. Jacob, etwas rauher zu, wie Sie selbst wissen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vor allem muß ein Datenschutzbeauftragter darauf achten, daß bei öffentlichen Äußerungen zu Themen, die unter den Parteien heftig umstritten sind — und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile das ist der Lauschangriff —, nicht sein Ansehen als nunmehr der Abgeordneten Frau Dorle Marx das unparteiischer und unparteilicher Anwalt der Bürger- Wort. interessen bei den Parlamentariern leidet. Ich fände das bedauerlich. Ich glaube aber, das ist bisher nicht eingetreten. Dorle Marx (SPD): Herr Präsident! Meine verehrten Der Datenschutzbeauftragte nennt als zweites Bei- Kolleginnen und Kollegen! Der heraufgezogene spiel für Angri ffe auf Datenschutz und den Daten- Abend paßt vielleicht nicht so schlecht zu unserem schutzbeauftragten, daß aus der Leitung einer oberen Thema. Wer heute vom Datenschutz redet, erscheint Bundesbehörde der Datenschutz immer wieder als vielen schon wieder etwas unmodern. So verwundert Überrecht, das die Arbeit der Polizei erheblich es auch nicht, daß nach der Vorlage des 14. Tätigkeits- erschwere, diffamiert werde. Lassen Sie mich auch berichts des Bundesbeauftragten für den Datenschutz dazu zwei Anmerkungen machen. im April letzten Jahres ein gutes halbes Jahr vergan- Die erste: Ich billige der Leitung einer oberen gen ist, bevor wir hier heute offiziell zu diesem Be richt Bundesbehörde genauso wie den Datenschutzbeauf- die Beratung aufnehmen. tragten das Recht zu, sich zu Themen ihres Zuständig- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wie keitsbereichs kritisch zu äußern—was nicht heißt, daß wahr!) die entsprechenden Gesetze, die kritisiert werden, nicht anzuwenden sind, und zwar s trikt anzuwenden Wer heute Datenschutz einfordert, stellt meistens sind, solange sie bestehen. erst einmal Entschuldigungen voran: Selbstverständ- lich sei er kein Maschinenstürmer; er wolle den Ich sage zweitens — da stimme ich mit dem Daten- Fortschritt in Wissenschaft und Technik nicht behin- schutzbeauftragten völlig überein —, daß man über dern und auf keinen Fall Straftäter schützen. Einem behauptete datenschutzrechtliche Behinderungen überzogenen Datenschutz will man auf keinen Fall der Strafverfolgungsbehörden und der Polizei nur das Wort reden. sprechen kann und nur sprechen sollte, wenn konkret dargelegt und belegt wird, welche Datenschutzvor- Nach diesen Vorbemerkungen sollte man meinen, schriften welche Strafverfolgungsmaßnahmen kon- der Datenschutz sei inzwischen selbstverständlicher kret behindern. Bestandteil aller Lebensbereiche, in denen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Ich stimme mit dem Datenschutzbeauftragten auch greift. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist leider darin überein, daß bisher die diesbezüglichen ein Irrtum. Es sind — wir wissen es alle — in diesem Behauptungen immer so abstrakt und allgemein Bereich noch viele Hausaufgaben unerledigt. gehalten waren, daß man als Gesetzgeber damit konkret nichts anfangen kann. Seit Jahren fehlen im Bereich der Datenverarbei- tung einwandfreie und tragfähige Rechtsgrundlagen (Beifall der Abg. Dr. Cornelie Sonntag-Wol- für die Arbeit des Bundeskriminalamts, des Bundes- gast [SPD]) grenzschutzes und für die im Bereich der Strafverfol- Sollte tatsächlich nachgewiesen werden, daß es kon- gung zuständigen Zollbehörden. Im immer bedeutsa- krete Mängel gibt, gehöre ich zu den ersten, die nicht mer werdenden privaten Bereich fehlt als sattsam nur darüber reden, sondern sich auch dafür einsetzen, bekanntes Beispiel immer noch der Arbeitnehmerda- daß die notwendigen Änderungen ergriffen werden. tenschutz. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es!) Sehr gut!) Im März 1993 — so lesen wir es im Tätigkeitsbericht — Aber das Konkrete muß dargelegt und muß belegt wurde vom BMA angekündet, man werde versuchen, werden. Sonst hat das alles keinen Zweck. bis Ende des Jahres 1993 einen Referentenentwurf zu erarbeiten. Nach meiner telefonischen Rückfrage von Soviel zum Verhältnis Datenschutzbeauftragter/ heute morgen ist ein Zeitpunkt für die Fertigstellung Politik. eines solchen Entwurfs weiterhin nicht abzusehen. Ich 17506 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dorle Marx frage mich, wie lange dieser Zustand von uns noch beim Thema „Mißbrauchsbekämpfung". Boshaft, hingenommen werden soll. aber zutreffend muß das Ergebnis der Summe solcher Regelungen als soziale Rasterfahndung bezeichnet (Beifall bei der SPD — Hans Büttner [Ingol- werden. stadt] [SPD]: Ungeheuerlich!) Wem dies zu hart ist, der mag einen Blick in das Im privaten Sektor fehlen ebenfalls wichtige Rege- Volkszählungsurteil werfen, das im Dezember seinen lungen: im Bereich des Kreditwesens, der Versiche- zehnten Geburtstag feierte. Im Volkszählungsurteil rungswirtschaft, der Auskunfteien, des privaten ging es auch um die Grenzen für Datenabgleiche. Dort Sicherungsgewerbes und der Telekommunikations- heißt es: anbieter. Ein Zwang zur Angabe personenbezogener Neben wenigen Lichtblicken in der Weiterentwick- Daten setzt voraus, daß der Gesetzgeber den lung stellt der 14. Tätigkeitsbericht eine Reihe von Verwendungszweck bereichsspezifisch und prä- eher rückschrittlichen Regelungen und Regelungs- zise bestimmt und daß die Angaben für diesen vorhaben fest. Die kritische Begleitung der Tätigkeit Zweck geeignet und erforderlich sind. des Gesetzgebers ist vor der Bearbeitung von Bürger- beschwerden und Einzelfällen, in denen bestehendes Und weiter: Datenschutzrecht nicht beachtet wurde, in den Vor- Die Verwendung der Daten ist auf den gesetzlich dergrund ge treten. bestimmten Zweck begrenzt. Schon angesichts In den letzten beiden Jahren sind eine Reihe von der Gefahren der automatischen Datenverarbei- zusätzlichen Befugnissen zum Eingriff in das Persön- tung ist ein — amtshilfefester — Schutz gegen lichkeitsrecht und die Privatsphäre der Bürger zum Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Ver- Zweck der Kriminalitätsbekämpfung geschaffen wor- wertungsverbote erforderlich. den. So sieht das Außenwirtschaftsgesetz vom Und zu den Gefährdungen der Vernetzung perso-

Februar 1992 erstmals eine Überwachung des Brief - , nenbezogener Daten führte das Gericht aus:

Post - und Fernmeldeverkehrs zu Kontrollzwecken Sie (die Daten) können darüber hinaus — vor vor. Das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen allem beim Aufbau integrierter Informationssy- Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen steme — mit anderen Datensammlungen zu der organisierten Kriminalität vom Juli 1992 erleich- einem teilweise oder weitgehend vollständigen tert die Rasterfahndung, den Einsatz verdeckter Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, Ermittler und die Anwendung technischer Observa- ohne daß der Betroffene dessen Richtigkeit und tionsmittel. Verwendung zureichend kontrollieren kann. Zu den beliebten Vorurteilen gegenüber dem Mit der vom Bundesverfassungsgericht bereits vor Datenschutz gehört: Der Datenschutz erschwert die zehn Jahren als unerträglich erkannten Vernetzung unangemessen. Der Bun- Kriminalitätsbekämpfung verschiedener Datenbestände geht der Überblick des desbeauftragte — Herr Blens hat das bereits zitiert — Bürgers fiber die zu ihm vorhandenen Informationen weist in seinem Be richt darauf hin, daß er das Bundes- verloren. Hierzu das letzte Zitat aus dem Volkszäh- kriminalamt gebeten hatte, ihm Fälle einer bestehen- lungsurteil: den Behinderung von Ermittlungen durch Daten- schutzregelungen mitzuteilen, damit gegebenenfalls Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestim- Abhilfe geschaffen werden könnte. Der Bundesbeauf- mung wären eine Gesellschaftsordnung und eine tragte teilt uns mit, daß ihm in dem zweijährigen diese ermöglichende Rechtsordnung nicht ver- Berichtszeitraum vom Bundeskriminalamt nicht ein einbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, einziger solcher Fall benannt worden ist. Vor diesem wer was wann und bei welcher Gelegenheit über Hintergrund ist eigentlich selbstverständlich, daß der sie weiß. Datenschutzbeauftragte uns alle auffordert, vor der (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Verabschiedung weiterer Gesetze in diesem Bereich Das ist der Kernsatz!) erst einmal die mit den bisherigen erweiterten Mög- lichkeiten gewonnenen Erfahrungen abzuwarten und Der Datenschutz legt auch nicht nur dem großen auszuwerten. Bruder Staat Beschränkungen auf. Der große Bruder hat im Bereich der nichtöffentlichen Datenverarbei- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke tung inzwischen eine Menge Geschwister. Ich habe Liste) sie bereits erwähnt. Die Erfassungs- und Abrech- In diesem Zusammenhang schließe ich mich jeden- nungsdaten von Kreditkartenunternehmen, „electro- falls auch der Meinung des Datenschutzbeauftragten nic cash", privaten Mobilfunknetzen oder geplanter an, daß es sinnvoll wäre, vor einer Regelung des elektronischer Mauterfassung auf den Autobahnen sogenannten großen Lauschangriffs die Entscheidung bergen zahlreiche Mißbrauchsmöglichkeiten. des Bundesverfassungsgerichts über die dort vorlie- Der 14. Tätigkeitsbericht und unsere gesetzgeberi- genden Beschwerden gegen entsprechende landes- sche Tätigkeit der letzten Jahre zeichnen also kein gesetzliche Regelungen in Baden-Württemberg und optimistisches Bild aus der Sicht des Datenschutzes. Hamburg abzuwarten. Ganz anders, liebe Kolleginnen und Kollegen, hörte Im Berichtszeitraum hat der Gesetzgeber ein neues sich dies in der Gemeinsamen Verfassungskommis- Betätigungsfeld ausgeschöpft. Der Datenabgleich sion von Bund und Ländern an. Die Vertreter der zwischen verschiedenen Behörden und insbesondere Regierungskoalition — mit Ausnahme unseres Kolle- der Sozialversicherung ist das neue Lieblingskind gen Hirsch — haben eine Aufnahme des Grundrechts Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17507

Dorie Marx auf informationelle Selbstbestimmung in die Verfas- Datenschutzbeauftragte etwa hinter dem Wehrbeauf- sung abgelehnt. Zur Begründung wurde dort wort- tragten zurückstehen soll. reich dargelegt, der Datenschutz sei längst selbstver- ständlicher, von niemandem mehr ernsthaft in Frage (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gestellter Bestandteil des allgemeinen Persönlich- Mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbe- keitsrechts. Dieses Grundrecht bedürfe daher keiner stimmung korrespondiert aus unserer Sicht auch das besonderen Erwähnung. Die Wirklichkeit spricht, Recht auf Informationsfreiheit der Bürgerinnen und meine ich, eine etwas andere Sprache, wenn wir den Bürger. Längst geht es nicht nur darum, wer wie über Bericht des Bundesbeauftragten ernst nehmen. Informationen zur eigenen Person verfügt, sondern auch um die Teilhabe an Informationen, die die Oder lassen Sie uns zur Abwechslung einmal den politische, soziale, kulturelle und ökologische Umwelt bayerischen Datenschutzbeauftragten zu Wort kom- bedingen. Das Recht auf Selbstbestimmung und freie men. Laut „Frankfurter Rundschau" vom 18. Dezem- Entfaltung setzt die Möglichkeit voraus, sich über alle ber 1993 heißt es im Tätigkeitsbericht von Herrn Entscheidungsdeterminanten frei zu informieren und Oberhauser, angesichts erheblich gestiegener Bedro- daraus selbstverantwortlich Schlüsse ziehen zu kön- hung von Staat und Gesellschaft sei eine neue Bewer- nen oder sich erst eine Meinung zu bilden. Dies, Herr tung des Allgemeinwohls mit zwangsläufigen Auswir- Blens, unterscheidet uns von Ihnen, die Sie eher einen kungen auch für das Grundrecht der informationellen reflektierenden, abwehrenden Zugang auf Informa- Selbstbestimmung erforderlich. tion für den Fall bejahen, in dem es zu einer Ausein- andersetzung oder einem Konflikt in einem speziellen Hier nähern wir uns dem Kern der Sache. Wenn Sachverhalt mit irgendeiner Behörde gekommen ist. bereits unverblümt eine Änderung der Rechtspre- chung des Bundesverfassungsgerichts angepeilt wird, Der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen Zweifel an der angeblichen Selbstverständ- zur Einführung eines Allgemeinen Informationsfrei- lichkeit des Verfassungsranges des Datenschutzes heits - Gesetzes entspricht grundsätzlichen Forderun- erlaubt sein. gen, die meine Fraktion seit Jahren vertritt. Wir haben bereits in der 11. Legislaturperiode ein Allgemeines (Beifall bei der SPD) Informationsfreiheits-Gesetz formuliert, sind aller- dings an Umsetzungsschwierigkeiten in der Praxis Es war und ist deshalb auch das Anliegen der SPD, gescheitert. Bei grundsätzlicher Zustimmung zu Ihrer in der gesamtdeutschen Verfassung das Recht auf Forderung erscheint es uns daher zweckmäßig, informationelle Selbstbestimmung neben dem allge- zunächst im Bereich des freien Zugangs zu Umwelt- meinen Persönlichkeitsrecht ausdrücklich zu veran- daten Erfahrungen in der Verwaltung zu sammeln. kern. Wir brauchen eine bestandsfeste Verankerung Die Umsetzung der EG-Richtlinie 90/313 vom Juni des Datenschutzes im Grundgesetz und auch die 1990 über den freien Zugang zu Informationen über verbindliche Weisung an den Gesetzgeber, einen die Umwelt steht ohnehin an. Bevor ein umfassendes gleichwertigen Schutz der informationellen Selbst- Allgemeines Informationsfreiheits-Gesetz verab- bestimmung im öffentlichen und im nichtöffentlichen schiedet wird, sollte dieses Gesetzgebungsverfahren Bereich sicherzustellen. Die europäische Daten- exemplarisch abgewartet und ausgewertet werden. schutzrichtlinie sieht übrigens im Grundsatz diese Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden in gebotene weitreichende Gleichbehandlung der öf- den nächsten Jahren reichlich zu tun haben, um die fentlich und nichtöffentlich erhobenen Daten vor. Freiheit der Information und die Sicherheit von per- sönlichen Daten in Zeiten immer stärkerer, auch Die von der SPD und dem Land Hessen bereits in der internationaler Vernetzung garantieren zu können. Gemeinsamen Verfassungskommission geforderte Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, wenn wir Verfassungsergänzung greift also nicht nur das beson- Informationszugangsrechte im staatlichen Bereich dere, auf historischen Erfahrungen beruhende Inter- weiter vorenthalten und Datensicherungsrechte esse der neuen Länder auf. Sie trägt vielmehr der leichtfertig weiter einschränken. Wir würden damit Entwicklung der modernen Informations- und Kom- nicht nur die Mündigkeit und die Privatsphäre des munikationstechnik Rechnung, die bei Verabschie- Bürgers geringschätzen, sondern auch die wichtige dung des Grundgesetzes in keiner Weise absehbar Vorreiterrolle des öffentlichen Bereichs gegenüber gewesen ist. den dringend überfälligen Regelungen im nichtöf- Dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestim- fentlichen Bereich aufs Spiel setzen. Aktuell auf unser mung kommt aus unserer Sicht das gleiche Gewicht zu Haus bezogen heißt dies aus meiner Sicht, daß wir in wie den anderen Themen des gesellschaftlichen Wan- der sogenannten Mißbrauchsdebatte nachdenklicher dels seit 1949, nämlich der Verankerung der europäi- werden müssen. schen Integration und dem erforderlichen Schutz der (Beifall bei der SPD) natürlichen Lebensgrundlagen im Grundgesetz. Der Datenschutz ist und bleibt Grundrecht, also In den letzten 40 Jahren hat eine Basisrevolution der Kern für eigene Regelungswerke. Er ist in der Gefahr, Kommunikationsformen und -techniken stattgefun- zu einer Art pflichtgemäßer Berlin-Klausel als Bei- den. Der Gewichtigkeit der Garantie der informatio- werk anderer Gesetzeswerke zu degenerieren. nellen Selbstbestimmung entspricht auch die von der Dem bayerischen Datenschutzbeauftragten und all SPD geforderte Verankerung eines vom Parlament denjenigen, die das eigentlich klassisch-bürgerliche gewählten, unabhängigen Datenschutzbeauftragten Freiheitsrecht auf informationelle Selbstbestimmung im Grundgesetz. Es ist nicht einsehbar, weshalb der nach dem Abgleich mit Recht und Ordnung für 17508 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dorle Marx nachrangig halten, möchte ich zum Abschluß ein Wort zeugnisse anfordert, kann ich nur sagen: Der Mann ist unseres Kanzlers mitgeben. Ausgeführt hat der Bun- nicht auf der Höhe seiner Zeit, er weiß nicht, was er deskanzler ausweislich des 14. Tätigkeitsberichtes vor damit angerichtet hat. dem Juristentag 1992 folgendes — ich zitiere —: (Beifall bei der F.D.P.) Wir müssen immer wieder Verständnis dafür In einer Demokratie muß Macht öffentlich kontrol- wecken, daß dem Rechtsstaat Grenzen gesetzt- sind, die dem spontanen Rechtsempfinden vieler lierbar sein. Darum liegt der Gedanke des „Freedom nicht immer entsprechen. Wir müssen akzeptie- of Information" , also des Rechtes auf Akteneinsicht, ren, daß der Rechtsstaat mit dieser Selbstbindung eigentlich nahe. Natürlich ist die Vorstellung, m an auch diejenigen schützt, die es moralisch viel- müsse zu jedem denkbaren Zeitpunkt alle denkbaren leicht gar nicht verdienen. Diese Beschränkung Akten einsehen können, eine schlichte Illusion. Sie schützt uns alle, und sie schützt den Rechtsstaat geht an der Wirklichkeit vorbei. Aber ich wundere selbst. Ohne sie ist Rechtssicherheit und damit mich, warum es so schwer ist, z. B. die Umsetzung der Rechtsstaatlichkeit nicht denkbar. EG-Richtlinie über das Informationsrecht . bei be- stimmten Umweltdaten zu verwirklichen, und warum (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und die Veröffentlichung bestimmter Strukturdaten z. B. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — des Verfassungsschutzes auf so erhebliche Wider Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: stände gestoßen ist. Sie würde die Sicherheit der Gutes Zitat!) Bundesrepublik nicht beeinträchtigen, sondern es würde die Arbeit der Dienste erleichtern, wenn sie Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile durch Offenheit mehr Verständnis und Zustimmung in dem Abgeordneten Burkhard Hirsch das Wort. der Öffentlichkeit finden würden. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Genau das Der zitiert den Kanzler nicht!) ist es!) Der 14. Datenschutzbericht bezieht sich auf die Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Jahre 1991 und 1992. Wir haben schon bei der Vorlage Damen und Herren! Herr Weng, wenn Sie das des Berichtes die hervorragende Arbeit des damali- wünschten, würde ich das tun. gen Datenschutzbeauftragten Dr. Einwag und seiner Herr Blens, es wäre gar nicht schlecht, wenn der Mitarbeiter gewürdigt und im einzelnen darauf hin- Schutz der Privatheit in der Verfassung verankert gewiesen, daß der Be richt für die gesamte Breite der wäre, und zwar wegen seiner großen Bedeutung für Bundesverwaltung eindrucksvoll belegt, welche Ein- eine freie Gesellschaft und deswegen, weil wir als griffsmöglichkeiten und Eingriffsbefugnisse durch Gesetzgeber gezwungen wären, das jedesmal zu Verbund- und Textdateien, durch lange Speicherfri- zitieren, wenn wir ihn einschränken, d. h. uns selber sten, durch On-line-Anschlüsse und Abrufungsmög- bewußt zu machen, ob wir mit einem Gesetz in die lichkeiten geschaffen worden sind. Aber — Herr Privatsphäre von Menschen eingreifen oder nicht. Kollege Blens, da stimme ich Ihnen zu — wir können daraus auch erkennen, daß in der Verwaltung ein Daß die Freiheit jedenfalls im eigenen Staat selbst- Bewußtsein für die Notwendigkeit des Schutzes der verständlich nicht bedroht ist und daß der Bürger den Privatsphäre gewachsen ist. Machtmißbrauch durch den eigenen Staat selbstver- ständlich nicht fürchtet, gehört zum Standardreper- In der Tat hinterläßt der Datenschutzbericht einen toire all derjenigen, die politische und adminis trative zwiespältigen Eindruck. Er zeigt auf der einen Seite, Macht in einem Staat ausüben. Wer die Macht hat, ist daß der Stand der Gesetzgebung in der Bundesrepu- immer fest davon überzeugt, daß er sie ausschließlich blik Deutschland im Vergleich zu anderen europäi- zu guten und vernünftigen Zwecken verwendet. schen Staaten weit fortgeschritten ist. Auf der anderen Das Verfassungsgericht hält dem in ständiger Seite zeigt er aber auch, daß die Datenverarbeitung in Rechtsprechung entgegen — nicht erst seit dem einem außerordentlichen Umfang staatliche Kontroll- Volkszählungsurteil —, daß nicht nur die Freiheit, instrumente geschaffen hat, die bequem sind, die sondern die Menschenwürde bedroht ist, wenn der lautlos wirken, zu denen die Verwaltung immer häu- Bürger zu einem bloßen Objekt staatlichen Handelns figer greift, weil sie für den Bürger unmerkbar blei- wird und wenn er sich einem Mechanismus von ben. Regelungen und Verwaltungen gegenübersieht, den Ohne die Datenverarbeitung ist moderne Lei- er nicht mehr durchschauen und nicht mehr kontrol- stungsverwaltung nicht mehr durchführbar. Aber der lieren kann. Gesetzgeber bedenkt nicht, daß jede Regelung, jede Der Bürger — das ist hier schon zitiert worden — Leistungsbegrenzung, die er im Interesse der Lei- muß wissen können, wer was wann bei welcher stungsfähigkeit und der Gerechtigkeit einführt, kon- Gelegenheit über ihn weiß. Wenn er das nicht kann, trolliert und gegen Mißbrauch oder Leistungserschlei- dann wird er, weil er fürchtet aufzufallen, sich anpas- chung geschützt werden soll. Der Gesetzgeber sen und seine eigenen Entwicklungs- und Handlungs- bedenkt nicht, daß er damit ein immer umfangreiche- möglichkeiten weit geringer einschätzen und sie nicht res Kontrollsystem und eine immer umfangreichere nutzen. Datensammlung herbeiführt oder jedenfalls die Die Verwaltung geht darüber hinweg. Wenn ich Behauptung, daß sie notwendig sei. daran denke, daß der Brandenburgische Innenmini- Da spielen die Datensammlungen der Bundesan- ster Ziel sozusagen den Vogel abschießt, indem er von stalt für Arbeit und der Rentenversicherungsträger mit Millionen, von allen Wählern polizeiliche Führungs über 80 Millionen Datensätzen eine wachsende Rolle. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17509

Dr. Burkhard Hirsch Ähnliches gilt im polizeilichen Bereich. Es gehört für in den letzten Jahren kräftig ausgebaut und mich zu den eindrucksvollen Darstellungen des perfektioniert worden. Datenschutzberichtes, daß die ständigen Angriffe aus der Leitungsebene des Bundeskriminalamtes — Über- Wir lehnen den Weg in einen Kontroll- und Über- last an Freiheitsrechten usw. — als übertrieben wachungsstaat ab und wollen das genaue Gegenteil, bezeichnet werden und gesagt wird, daß das in nämlich den Ausbau und den Schutz von individuel- keinem einzigen Fall als berechtigt belegt worden len Freiheitsrechten. Wir wollen, daß sowohl das ist. Recht auf informationelle Selbstbestimmung wie auch das Recht auf Informationsfreiheit in das Grundgesetz Es ist billig, von übertriebenem Datenschutz zu als Grundrechte aufgenommen werden. Dazu haben sprechen, ohne zu sagen, wo die Übertreibung wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt. anfängt. Datenschutz ist nicht Täterschutz, sondern Schutz der Privatsphäre des Bürgers. Und dieser Mit dem zweiten Antrag soll die Bundesregierung unantastbare Persönlichkeitsbereich ist ein Teil unse- aufgefordert werden, einen Gesetzentwurf zur Ein- rer Rechtsordnung, die die Polizei nicht zu bekämp- führung der allgemeinen Informationsfreiheit vorzu- fen, sondern zu schützen hat. legen. Sie wissen, daß es in mehreren Staaten, z. B. in (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der den USA, in Schweden, Kanada, in den Niederlanden, SPD) in Frankreich, Norwegen und Griechenland, seit Jah- ren solche Regelungen gibt. Es ist eben nicht der Fall Es gibt viele Dateien mit einem guten Grund. Der — wie Herr Blens vorhin meinte —, daß die Einfüh- Datenschutzbeauftragte mahnt zutreffend, Augen- rung der Informationsfreiheit dazu führen würde, daß maß zu wahren. Er schreibt: die Verwaltungen zusammenbrechen. Ich denke, daß Wird dieser Weg ungebremst fortgesetzt, könnte die Erfahrungen in diesen Ländern genau das Gegen- sich aus einer Unsumme von automatisierten teil bewiesen haben. Dateien, aus einem Netz von Datenabgleichen, die schließlich fast alle Bürger und alle Lebens- In Deutschland wurden hingegen bisher keine bereiche erfassen, der gläserne Bürger erge- Schritte unternommen, ein generelles Recht auf Infor- ben. mationsfreiheit als Bürgerrecht zu verankern. Wir denken, daß der Zweck eines solchen Gesetzes darin Das ist richtig. Es hat niemals zuvor die praktische bestehen sollte, durch ein solch umfassendes Informa- Möglichkeit gegeben, so viele Informationen über tionsrecht das in den Akten und auch in allen anderen jeden einzelnen zu sammeln, aufzubewahren, zur Informationsunterlagen festgehaltene Wissen und Verfügung zu halten, jederzeit abzurufen und zusam- Handeln für die Allgemeinheit transparent zu menführen zu können, nichts zu vergessen, auch die machen, um so natürlich auch eine öffentliche Kon- Irrtümer nicht — und das alles unmerkbar, kostenspa- trolle des staatlichen Handelns zu fördern. rend, effektiv. Der Staat wandelt sich unmerklich in einen Apparat Wir wollen, daß jede Person gegenüber Behörden mit dem Charme einer blankgeputzten, perfekt funk- und öffentlichen Stellen des Bundes und der Länder tionierenden Maschine. Natürlich, der Staat muß in ein Recht auf Einsicht in oder Auskunft über den Inhalt der Lage sein, praktische Aufgaben praktisch zu dort geführter Informationen haben soll. Denn letzt- lösen. Aber es entwickelt sich keine Rechtskultur auf endlich betreffen die bei den öffentlichen Verwaltun- dem schwankenden Boden von Zweckmäßigkeitser- gen geführten Vorgänge die Bürgerinnen und Bürger wägungen, wenn nicht gleichzeitig ein eiserner selbst. Bestand an Grundsätzen erhalten bleibt, die wir auch Dieses Recht auf Informationsfreiheit steht auch in Notzeiten für abwägungsfest und für unverfügbar nicht im grundsätzlichen Widerspruch zum Daten- halten. schutz. Dies wird vor allem auch dadurch belegt, daß (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) gerade von seiten der Datenschutzbeauftragten seit Dazu gehört auch die Privatheit. Jahren dafür gestritten wird, ein solches Recht auf Informationsfreiheit gesetzlich zu verankern. Das ist unsere eigene Aufgabe, bei der uns der Datenschutzbeauftragte und seine Mitarbeiter helfen. Wir denken, daß sich die Bürgerinnen und Bürger Wir danken ihnen dafür. nicht dafür zu rechtfertigen haben, warum sie Einsicht (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der in Verwaltungshandlungen nehmen wollen. Viel- SPD) mehr ist es der Staat, der beweispflichtig dafür ist, warum er diesen Grundsatz noch nicht überall recht- lich verankert hat und wo natürlich auch in begrenz- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile ten Bereichen dieser Grundsatz notwendigerweise nunmehr der Abgeordneten Frau Ingrid Köppe das eingeschränkt werden muß. Wort. Uns ist klar, daß diese allgemeine Informationsfrei- heit in einigen Fällen begrenzt werden muß, z. B. Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr wenn es um überwiegend schützenswürdige Interes- Präsident! Meine Damen und Herren! In dem vorlie- sen des individuellen Datenschutzes oder aber auch genden Bericht stellt der Datenschutzbeauftragte um Strafverfolgung geht. fest: Wir haben zu all diesen Problemen in unserem Die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten Antrag eine Vielzahl von Vorschlägen gemacht. Ich zur Kontrolle und Überwachung der Bürger sind will auch jetzt schon ankündigen, daß wir im Aus- 17510 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Ingrid Köppe Schuß zu diesen unseren parlamentarischen Initiati- des sogenannten Gemeinwohls und des Staates über ven, die wir hiermit vorlegen, eine öffentliche Anhö- die individuellen Freiheitsrechte und Bürgerrechte rung beantragen werden. Wir hoffen dabei auf die gestellt. Unterstützung der anderen Fraktionen. Die Aufregung über die Überprüfung sämtlicher Ich danke Ihnen. Wählerinnen und Wähler in Brandenburg durch das Bundeszentralregister teile ich zwar, ist aber kaum angebracht, wenn in der Bundesregierung gleichzei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ulla Jelpke das tig ein Gesetzentwurf zum Bundeszentralregister vor- gelegt wird, in dem dieses Vorgehen zum bundeswei- Wort. ten Standard gemacht werden soll. Hier genau ist der Datenschutz als Akzeptanztrottel so gefragt 'wie bei Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! routinemäßigen Überprüfungen von Aussiedlerinnen Meine Damen und Herren! Zum zehnjährigen Jubi- und Aussiedlern durch BND und Verfassungsschutz läum des Bundesverfassungsgerichtsurteils, in dem oder beim sogenannten großen Lauschangriff. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung fest- Danke. geschrieben wurde, stellt die Deutsche Vereinigung für Datenschutz fest — ich zitiere —, daß der „Daten- schutz nicht nur einmal in den vergangenen Jahren Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort zum Akzeptanztrottel einer datenhungrigen Verwal- hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs. tung zu werden" drohte. Das ist, wohlgemerkt, nicht auf den Datenschützer gemünzt, sondern bezeichnet die Aufgaben, die durch gesellschaftliche Entwick- Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! lungen und politische Vorgaben dem Datenschutz Meine Damen und Herren! Informationen sind ein hierzulande zugeschrieben worden sind. untrennbares Element jeden Lebensprozesses. Jedes Der vorliegende Bericht liefert eindrucksvolle Bei- Leben in der Gesellschaft, insbesondere jede wirt- spiele für die deprimierende Bilanz der Datenschüt- schaftlich relevante Tätigkeit hinterläßt irgendwie zervereinigung. Einerseits wird festgestellt, daß die informationelle Spuren. Bis zum Aufkommen der I- rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten zur Kon- und K-Techniken, der Informations- und Kommunika- trolle und Überwachung des Verhaltens der Bürger tionstechniken — bei uns etwa Massenanwendungen und Bürgerinnen in den letzten Jahren kräftig ausge- Mitte der 60er Jahre —, war das nur selten ein baut und perfektioniert worden ist, andererseits wird Problem. Ein Problem war es allerdings z. B. in der betont, daß der Bundesbeauftragte an der Vorberei- Zeit des Faschismus, später auch im Stasi-System der tung der meisten Maßnahmen beteiligt war. DDR, die mit konventionellen technischen Mitteln In der Liste, die in dem Bericht zum Beleg angeführt — das hatte überhaupt noch nichts mit den neuen wird, finden sich die erkennungsdienstlichen Behand- Techniken zu tun — die informationellen Spuren von lungen aller Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Menschen und Gruppen für repressive, zum Teil Sämtliche Gesetze der letzten zwei Jahre — vom existenz- und lebensbedrohende Prozesse erfaßten. Gesetz gegen die organisierte Kriminalität über das An den Stasi-Unterlagen sehen wir heute, was das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidie- bedeuten konnte. Aus den leider nie so aufgearbeite- rungsprogramms und die Änderungen des Sozialhil- ten Gestapo- und NS-Justizakten mit ihren hundert- fegesetzes bis zur Änderung des Außenwirtschaftsge- mal brutaleren Folgen ahnen wir zumindest, welche setzes — brachten umfassende Erweiterungen der Bedeutung die Erfassung, Sammlung, Verarbeitung, Datenweitergabe und Datenverarbeitung von Sozial- Speicherung von Informationen über Menschen über- daten, Überprüfung von Lohn- und Rentenleistungen haupt haben kann.

bis zu polizeilich und geheimdienstlich genutzten Die I - und K - Techniken — das wissen wir doch alle Daten. Die EG bzw. die Europäische Union und die auf Grund unseres Gebrauchs des PC — geben für die Schengen-Systeme werden eine weitere Stufe der Erfassung, Speicherung, Verarbeitung und Weiterlei- Kontrolle und Überwachung bringen. tung von personenbezogenen und personenbeziehba- Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ren Daten eine andere, viel mächtigere Basis als je müssen die öffentlichen Attacken auf den Daten- zuvor. Rechner führen inzwischen in der Sekunde schutz gesehen werden. Sie sind nichts anderes als mehrere Hunderte Millionen Operationen durch. maßlose Forderungen nach Aufhebung aller Grenzen. Speichermedien stehen inzwischen auch praktisch BKA-Chef Zachert diskreditiert meines Erachtens unbeschränkt zur Verfügung. Die Übertragungsmög- unverfroren Grundrechte, wenn er dem Datenschutz lichkeiten werden mit dem ISDN - System auf längere vorwirft, er sei in seiner jetzigen Form ein zu behe- Sicht gewaltig erweitert. Schranken bestehen noch bendes „staatlich gewolltes Informationsdefizit der bei der Erfassung und der Organisation der Daten- Sicherheitsbehörden". Das genau sollte er eigentlich massen. sein und das ist er immer weniger. Ebendeshalb ist aber das Recht auf informationelle Schon wird aus Bayern gefordert — meine Kollegin Selbstbestimmung, ist der Anspruch auf Schutz der Frau Dorle Marx hat es schon angesprochen —, eine Daten und der Persönlichkeitsaspekte, die in diesen Neubewertung des Allgemeinwohls mit Auswirkung Daten ganz oder teilweise abgebildet werden, ein auf das Grundrecht der informationellen Selbstbe- Bürgerrecht, ein Menschenrecht, ein Grundrecht — stimmung vorzunehmen, um den Werteverlust und ein wichtiges, ein entscheidendes Menschenrecht in der abbröckelnden Verbindlichkeit ethischer Norm der hochentwickelten, immer stärker technologisch entgegenzuwirken. Hier wird ganz offen der Schutz geprägten Gesellschaft von heute, ein Menschenrecht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17511

Dr. Ulrich Briefs insbesondere in der Informationsgesellschaft von Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- morgen. minister des Innern: Sehr geehrter Herr Präsident! Dieses Grundrecht, dieses Menschenrecht ist zu Meine Damen und Herren! Mit dem 14. Tätigkeitsbe- schützen, ist zu wahren. Deshalb muß der Datenschutz richt gibt der Bundesbeauftragte für den Datenschutz ausgebaut, nicht abgebaut werden. Und die Tendenz erstmals einen Überblick über die Entwicklung des Datenschutzes und seine Kontrolltätigkeit in den zum Abbau herrscht ja bei uns seit einer Reihe von- Jahren vor. Das gilt auch, wenn es wirtschaftlichen letzten zwei Jahren. Interessen scheinbar oder tatsächlich zuwiderläuft. Dabei wird deutlich — und das ist bemerkenswert —, Auf der anderen Seite: Gerade in der komplexen in wie vielen unterschiedlichen Bereichen der Bun- High-Tech-Gesellschaft von morgen haben die Bür- desbeauftragte Kontrollen durchgeführt hat oder ger und Bürgerinnen ein Interesse am Zugang zu beratend tätig geworden ist. Erfreulich ist, daß die Informationen aus den Apparaten, aus den Bürokra- Zahl der Beanstandungen im Verhältnis zu der Zahl tien, aus den Betrieben, aus den Verwaltungen, also der durchgeführten Kontrollen und angesichts der aus der ganzen Palette anonymer Apparate, die über zum Teil sehr hohen Arbeitsbelastung der kontrollier- die Betroffenen bzw. deren Lebensumstände irgend- ten Stellen sehr gering ist. Dies zeigt, daß das Bewußt- wie entscheiden, irgendwie verfügen. sein der Bediensteten der Bundesbehörden für die Den schmalen Grat zwischen Schutz der persönli- Notwendigkeit der Einhaltung datenschutzrechtli- chen Daten und Zugang zu Daten aus anonymen cher Erfordernisse stark ausgeprägt ist. Apparaten gilt es sorgfältig zu erkunden und zu Der Bericht hebt als besonders positiv hervor, daß begehen. Ich denke, der Entwurf von BÜNDNIS 90/ der Bundesbeauftragte in einer Vielzahl von Fällen DIE GRÜNEN ist ein richtiger Schritt in diese Rich- frühzeitig im Rahmen von Gesetzesvorhaben von den tung. Datenschutz darf kein Vorwand für Transpa- verantwortlichen Ressorts beteiligt worden ist. Ich renzvereitelung und Beteiligungsblockaden gegen- stimme dem Bundesbeauftragten darin zu, daß es über den Bürgern und Bürgerinnen sein. Datenschutz sinnvoll und der Sache dienlich ist, bereits im Vorfeld und der freie Zugang zu Informationen aus den der parlamentarischen Behandlung von Gesetzesvor- Apparaten sind Zug um Zug zu regeln. haben einen Konsens herzustellen. Die eben schon genannte DVD — Deutsche Verei- Nicht folgen kann ich dem Bundesbeauftragten nigung für Datenschutz — fordert daher zu Recht eine jedoch in seiner Einschätzung, daß eine Tendenz zur „Informationsverkehrsordnung" . Diese darf aller- stärkeren Kontrolle und Überwachung der Bürger dings nicht zu einer der typischen deutschen perfek- durch gesetzliche Normen zu verzeichnen ist, die die tionistischen Regelungen führen, analog etwa zur Gefahr des — jedenfalls in wirtschaftlicher und finan- Straßenverkehrs-Ordnung. Der Umgang mit Daten zieller Hinsicht — „gläsernen Bürgers" real erschei- und Informationen ist vielmehr auch ein Problem und nen läßt. gerade eine Aufgabe gesellschaftlicher Praxis und gesellschaftlichen Bewußtseins. Er ist viel mehr ein (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Recht hat solches Problem als ein Feld für das juristische Durch er!) deklinieren entsprechender Regelungen. Die von dem Bundesbeauftragten angeführten Ge- setzesinitiativen, wie etwa die Änderung des Sozial- hilfegesetzes oder das Gewinnaufspürungsgesetz, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- stellen aus meiner Sicht berechtigte und notwendige geordneter, würden Sie so nett sein und dem roten Reaktionen auf neue Erscheinungsformen der Krimi- Licht die gebührende Beachtung schenken? nalität und auch den zunehmenden Sozialleistungs- mißbrauch dar. Derartige Maßnahmen sind deshalb Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Ich starre gebannt im Interesse des Gemeinwohls unverzichtbar. darauf. Das Licht ist rot, und mir geht es so, daß Rot (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist eine mich immer ein bißchen anzieht. Ich glaube, ich habe Behauptung!) das schon einmal gesagt. (Heiterkeit) Selbstverständlich — insoweit stimme ich der Auf- fassung des Bundesbeauftragten wieder zu — hat der Gerade der Datenschutz — ich bin damit beim Gesetzgeber bei der Schaffung neuer Eingriffsgrund- letzten Satz, Herr Präsident — und der Schutz des lagen in das Persönlichkeitsrecht, wie beispielsweise Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bei der Zulassung weiterer Datenabgleiche, eine dürfen nicht allein staatlicher Regulierung überant- Gesamtschau vorzunehmen, die der Gefahr der Her- wortet werden. Wirksame Lösungen sind vielmehr mit stellung einer völligen Transparenz der wirtschaftli- möglichst geringer staatlicher Regulierung anzustre- chen Verhältnisse des Bürgers für staatliche Stellen ben. Ich denke, das ist irgendwie eine dritte Aufgabe entgegenwirkt. neben dem Persönlichkeits- und Datenschutz und neben der Sicherung des Zugangs zu Informationen Auch die in dem Bericht angeführte Gefahr, die mit aus den Apparaten, die wir dabei auch im Auge der Notwendigkeit der zunehmenden grenzüber- behalten müssen. schreitenden Übermittlung personenbezogener Da- ten an andere Mitgliedstaaten der Europäischen Herr Präsident, ich danke Ihnen. Union für das informationelle Selbstbestimmungs- recht des Bürgers verbunden ist, sehe ich so nicht. Die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine aufgeführten Datenverarbeitungssysteme, wie das Damen und Herren, nunmehr hat Herr Staatssekretär Schengener Informationssystem und die geplanten Lintner das Wort. Systeme Europol und das Zollinformationssystem, 17512 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner enthalten jeweils einen umfangreichen Katalog von Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- datenschutzrechtlichen Mindesterfordernissen, der minister des Innern: Jetzt wird es eine Nachfrage. Bitte sich stark an den Vorgaben der deutschen Gesetzge- schön. bung orientiert. Damit ist nicht nur dem berechtigten (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Anliegen des Schutzes des Persönlichkeitsrechts der Zuerst das Lob für den Datenschutzbeauf Gemeinschaftsbürger Rechnung getragen, sondern - tragten!) auch eine deutliche Verbesserung des Schutzes ver- bunden. Hans Büttner (Ingoldstadt) (SPD): Ich würde Sie nur Sehr intensiv hat sich der Bundesbeauftragte mit um die Berichtigung Ihrer Behauptung bitten, daß die der Entwicklung des Datenschutzes in den neuen Gemeinsame Verfassungskommission die Aufnahme Ländern befaßt. Um so mehr Gewicht hat daher seine des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in Feststellung, daß die Einführung des Datenschutzes das Grundgesetz abgelehnt hat. Ich frage Sie: Trifft es als Schutz des Persönlichkeitsrechts und der Privat- nicht zu, daß eine Mehrheit der Verfassungskommis- sphäre in den neuen Ländern erfreulich verlaufen sion sehr wohl einer Aufnahme zugestimmt hat und ist. die nötige Zweidrittelmehrheit nur deswegen verfehlt worden ist, weil Ihre Fraktionsführung ihren Mitglie- Meine Damen und Herren, zu den Vorschlägen der dern die informationelle Selbstbestimmung in dieser Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte ich aus Frage verweigert hat? der Sicht der Bundesregierung noch folgendes bemer ken. Die Gemeinsame Verfassungskommission von Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Bundestag und Bundesrat hat eine Verankerung des minister des Innern: Herr Kollege, ich stelle fest, daß Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung, also der Vorschlag nicht die erforderliche Mehrheit von eines allgemeinen Rechtes des Zugangs zu Daten der zwei Dritteln der Mitglieder erreicht hat. Damit ist er vollziehenden Gewalt, sowie die Institutionalisierung abgelehnt worden. Mehr habe ich nicht gesagt. eines Bundesbeauftragten für Datenschutz und Infor- mationsfreiheit im Grundgesetz abgelehnt. Der Ver- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Danke zicht auf eine Festschreibung des informationellen schön. Damit sind wir am Ende der Aussprache. Selbstbestimmungsrechts wurde zu Recht unter ande- Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen rem damit begründet, daß nach dem sogenannten auf den Drucksachen 12/4805, 12/5695 und 12/5694 Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorn 15. Dezember 1983 der verfassungsrechtliche vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Weitere Rang des Datenschutzes anerkannt sei und es auch Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist das so keiner Klarstellung des gesetzgeberischen Willens im beschlossen. Wege einer Verfassungsänderung bedürfe. Zutreffend geht der Bericht der Verfassungskom- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: mission auch davon aus, daß die Einführung eines Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der allgemeinen Zugangsrechts zu den Datenbeständen SPD der Exekutive die Funktionsfähigkeit der Verwaltung Situation der psychisch Kranken in der Bun- und den Schutz entgegenstehender Rechte beteiligter desrepublik Deutschland Dritter beeinträchtigen könnte. — Drucksachen 12/2019, 12/4016 — Zur Institutionalisierung des Bundesbeauftragten Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von für den Datenschutz im Grundgesetz selbst ist schließ- einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — lich folgendes zu sagen: Diese Einrichtung ist durch Das ist offensichtlich der Fall. das Bundesdatenschutzgesetz hinreichend abgesi- Dann können wir die Aussprache eröffnen. chert. Die einfachgesetzliche Regelung bietet insbe- Zunächst erteile ich der Abgeordneten Frau Regina sondere den Vorteil, den jeweiligen sachlichen und Schmidt-Zadel das Wort. politischen Anforderungen flexibel angepaßt werden zu können. Regina Schmidt-Zadel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren, wenn es ihn nicht gäbe, Meine Damen und Herren! Vor fast genau zwei müßte man den Bundesbeauftragten für den Daten- Jahren, im Februar 1992, stand die damalige Gesund- schutz geradezu erfinden, zumal er fleißig, verläßlich, heitsministerin, die Kollegin Hasselfeldt, an dieser aber in aller Regel auch mit Sinn für das praktisch Stelle. In der Debatte um die Empfehlungen der Machbare seine Aufgaben bewältigt. Dafür heute Expertenkommission der Bundesregierung zur Psy- auch ausdrücklich von seiten der Bundesregierung chiatriereform, bei der es wie auch heute um die Dank und Anerkennung. Situation der psychisch Kranken in diesem Land ging, schloß Frau Hasselfeldt ihre Rede mit einem bemer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kenswerten Satz: Jeder muß seine Verantwortung an seiner Stelle wahrnehmen. Ich hätte hier gern den Herrn Minister Seehofer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Mir wird angesprochen; er ist nicht da. Frau Staatssekretärin, der Wunsch des Abgeordneten Büttner signalisiert, wenn ich mir die Antwort auf unsere Große Anfrage Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen. Sind Sie bereit, ansehe, wenn ich die Lage der Psychiatrie und der dieselbe noch zu beantworten? psychisch Kranken insgesamt und vor allem in den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17513

Regina Schmidt-Zadel neuen Bundesländern be trachte, so muß ich feststel- gend mit ABM-Mitteln finanziert werden, die von der len: Der Bund jedenfalls hat seine Verantwortung in Bundesregierung fast auf Null reduziert wurden. seinem Bereich keineswegs wahrgenommen. Ganz im Gegenteil, Ihre ständigen Verweise auf die Zustän- Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung digkeiten der Länder, Kommunen und Leistungsan- ist ganz offensichtlich nicht in der Lage, die Reform bieter machen deutlich, daß Sie offensichtlich auch der Psychiatrie entscheidend zu verbessern. Ihr fehlt gar nicht daran interessiert sind, selber Verantwor-- jeder Gestaltungswille, die Psychiatriereform auf der tung zu übernehmen. Angesichts fehlender Konzepte Grundlage der vorhandenen Modellprogramme flä- und leerer Kassen aus Ihrer Sicht verständlich, aus der chendeckend umzusetzen und voranzutreiben. Sicht der Betroffenen und ihrer Angehörigen aller- (Zuruf von der CDU/CSU: Und das von dings eine Katastrophe. Ihnen! Hätte ich nie gedacht!) So ist es dann auch nicht verwunderlich, daß Ihre Die Fraktion der SPD — hören Sie gut zu, Herr Antwort auf unsere Anfrage von der Fachwelt gera- Kollege — bringt daher heute einen Entschließungs- dezu in der Luft zerrissen wird. „Desinteresse und antrag ein, der die Bundesregierung unmißverständ- erschreckende Perspektivlosigkeit", „grobe Verzer- lich auffordert, ihre Mitverantwortung für die Reform rung der Versorgungssituation", „Schönfärberei" und der Psychiatrie endlich wahrzunehmen. „Zynismus" — so lauten nur einige Zitate aus den Stellungnahmen der Sachverständigen und Verbände (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zur Antwort der Bundesregierung. Ein Aufsatz in der Sind das die dreieinhalb Mitglieder?) „Psychosozialen Umschau" bringt es auf den Punkt. Der Autor schrieb, daß für ihn die Lektüre der Antwort Nach Art. 72 des Grundgesetzes kann sie tätig wer- ein Buch über positives Denken ersetzt. Immerhin ja den, wenn Angelegenheiten durch die Gesetzgebung schon etwas. der Länder nicht wirksam geregelt werden können und die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensver- Die harsche Kritik ist berechtigt. In der Tat hat das, hältnisse über das Gebiet des Landes hinaus es was die Bundesregierung da auf 48 Seiten zusammen- erfordert, und vor allem, weil sie für die wesentlichen geschrieben hat, herzlich wenig mit der Realität zu Leistungsgesetze zuständig ist. Wir sind der Auffas- tun. Die Antwort erweckt den Eindruck, als sei die sung, daß die Bundesregierung hier nicht nur tätig psychiatrische Versorgung überall flächendeckend werden kann, sondern tätig werden muß. und gleichmäßig gewährleistet und als sei die Versor- gung auf dem Gebiet der neuen Bundesländer im Die Situation der psychisch Kranken in den neuen Handumdrehen auf das schöngeredete Niveau der Bundesländern und die unvollständige Umsetzung alten Bundesländer zu heben. der Psychiatriereform in den alten Ländern macht es Liebe Kolleginnen und Kollegen, nichts davon ist erforderlich, unverzüglich zu handeln. Dazu gehört vorrangig die Einrichtung eines Modellprogramms wahr. Wahr ist vielmehr, daß die psychiatrische Ver- Psychiatrie in den neuen Bundesländern, von uns sorgung in den alten Ländern immer noch erhebliche immer wieder gefordert. Daß in den alten Bundeslän- regionale Unterschiede und Defizite aufweist. Und wahr ist auch, daß in den neuen Bundesländern die dern zumindest in einigen Modellregionen die Emp- fehlungen der Expertenkommission in die Praxis Lage der psychisch Kranken nach wie vor katastro- umgesetzt werden konnten, ist im wesentlichen auf phal und zum Teil menschenunwürdig ist. Ich will nur an den Film „Die Hölle von Ueckermünde" vom die Schubwirkung des Modellprogramms zurückzu- letzten Sommer erinnern. Ich denke, einige von Ihnen führen. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler zu glau- haben ihn gesehen. Er hat erhebliches Aufsehen ben, beim Aufbau der psychiatrischen Versorgung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ohne solch ein erregt. Von einer Einheitlichkeit der Lebensverhält- wichtiges Ins trument wie Modellprogramme auskom- nisse kann demnach überhaupt keine Rede sein. men zu können. Die Bundesregierung tut nichts, um diese Einheit- lichkeit zu verwirklichen. Im Gegenteil: Sie ist durch Ich möchte aus dem, was der Entschließungsantrag ihre Kahlschlagpolitik im Sozialbereich dafür verant- in insgesamt zwölf Punkten fordert, zwei weitere aus wortlich, daß sich die Situation sogar noch weiter meiner Sicht wichtige Aspekte herausgreifen. Es geht verschlimmert. Das Prinzip, dem sie dabei folgt, hat zunächst um den Wohnraum für psychisch Kranke. sich in anderen Bereichen bestens bewährt und ist Hauptziel der Psychiatriereform war und ist es, die beinahe zum grundlegenden Gestaltungsprinzip der überwiegend stationäre Behandlung psychisch Kohl-Regierung geworden: kranker Menschen in Krankenhäusern und psychia- trischen Einrichtungen zugunsten teilstationärer und (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) ambulanter Hilfeformen aufzugeben, die flächendek- Wenn irgend möglich, wird die Zuständigkeit des kend und möglichst gemeindenah angeboten wer- Bundes verneint und nach unten an die Länder und den. Kommunen weitergereicht, bis am Ende fast alles die Wer psychisch Kranke aus den Heimen und Klini- Sozialhilfeträger mit entsprechenden Folgen für die ken holen will, wer ihnen ambulant helfen will, der Patienten und ihre Angehörigen finanzieren müs- muß auch dafür sorgen, daß ihnen geeigneter und sen. behindertengerechter Wohnraum zur Verfügung Zusätzlich streicht der Bund, wo er noch Zuständig- steht. Ohne eine hinreichende Versorgung mit adä- keiten hat, schamlos die Mittel. So stehen viele quatem Wohnraum laufen wir bei einem der Kern- Projekte zur psychiatrischen Versorgung vor dem Aus punkte der Psychiatriereform ins Leere. Obdachlosig- oder werden gar nicht erst realisiert, weil sie überwie keit, meine Damen und Herren, kann und darf nicht 17514 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Regina Schmidt-Zadel die Alternative zum Landeskrankenhaus sein. Die Dr. Walter Franz Altherr (CDU/CSU): Herr Präsi- Realität ist aber, daß psychisch Kranke oft in der dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! — Obdachlosigkeit landen. Herr Präsident, ich kann Ihre Ausführungen voll Der andere Aspekt, den ich noch ansprechen unterstützen. Auch ich finde es bedauerlich, daß möchte, ist der eklatante Mangel an verfügbaren dieses wichtige Thema so wenig Akzeptanz findet und daß das Hohe Haus diesem Thema nicht gerecht wird. Daten. Die weitere Umsetzung der Psychiatriereform- kann ohne eine umfassende Gesundheitsberichter- Ich bedaure es aber auch, daß die Antragsteller Fraktionen auch nur mit den Fachleuten vertreten ist. stattung nicht gelingen. Auch hier könnte der Bund seine Verantwortung wahrnehmen, indem er das Das ist auch bedauerlich, Frau Zadel. Wir müssen Zustandekommen eines bundesweiten Dokumenta- sehen, wie wir dieses Problem in der Zukunft lösen tionssystems fördert, das die auf vielen Ebenen ver- können. fügbaren Daten zusammenführt und sie Forschung (Zuruf von der SPD: Sie haben recht, Herr und Politik zur Verfügung stellt. Kollege!) Meine Damen und Herren, die Sozialpolitik hat es Psychisch Kranke und geistig Behinderte, die zur Zeit nicht eben leicht. Das gilt insbesondere für früher als hoffnungslose Fälle in geschlossenen Detailbereiche und Sparten der Sozialpolitik, erst Anstalten mehr oder weniger dahinvegetierten recht, wenn sie — wie der notwendige Ausbau der und aggressiv oder apathisch auf ihre Umwelt psychiatrischen Versorgung — mit Kosten verbunden reagierten, blühen allmählich auf, entwickeln sind. Ein Sozialstaat definiert sich aber auch darüber, ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten und können wie er in wirtschaftlich schlechten Zeiten mit seinen erstmals in ihrem Leben halbwegs selbständig kranken und schwachen Bürgern umgeht, mit denen, ihren Alltag bewältigen. die über keine große Lobby verfügen. Dazu zählt auch die Gruppe der psychisch Kranken, die ja auch in Soweit die „Deutsche Ärztezeitung" vom 19. Juni besseren Zeiten nicht zu denen gehören, deren 1991. Schicksal auf breites Interesse stößt. Die Lage der Meine Damen und Herren, stationäre Psychiatrie psychisch Kranken vor allem in den neuen Ländern erfolgte auch in der Bundesrepublik noch bis vor bedarf allerdings einer schnellen Verbesserung. 20 Jahren in Abschiebe- und Verwahranstalten, frei Ich appelliere daher an die Bundesregierung: nach der aus dem Sozialdarwinismus stammenden Akzeptieren Sie, daß auch der Bund Verantwortung Forderung des bekannten deutschen Psychiaters für die Reform der Psychiatrie hat. Nehmen Sie Ihre Kraepelin, die minderwertigen Persönlichkeiten zu Verantwortung ernst und handeln Sie. Wir Sozialde- kasernieren. Diese Forderung stammt vom Ende des mokraten haben Ihnen, meine Damen und Herren, 19. Jahrhunderts. In den neuen Ländern fanden wir dazu heute mit dem Entschließungsantrag etwas an dieses Konzept der stationären psychiatrischen die Hand gegeben, was Ihnen bislang fehlte: ein Behandlung noch bei der Wiedervereinigung vor. Konzept. Statt Zwangsjacken, Gummizellen, Elektroschock- (Beifall bei der SPD) behandlungen und der Verabreichung von Psycho- pharmaka in hohen Dosen setzt die moderne Psychia- trie heute auf gemeindeintegrierte Versorgung, Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken, Vizepräsident Hans Klein: Meine verehrten Kolle- ginnen und Kollegen, wir manövrieren uns selber in bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller eine eigenartige Situation hinein. Wir behandeln psychisch Kranken und Koordination aller Versor- Themen in einer Stunde, anderthalb Stunden oder gungsdienste. zwei Stunden. Dann beteiligen sich — ich sage es Hierzu wurden die gemeindenahen psychiatri- einmal höflich — eine winzige Zahl von Kollegen. schen Versorgungsangebote wie z. B. sozialpsycholo- (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Eine qualifi- gische Dienste, psychosoziale Dienste, Tageskliniken, zierte Minderheit!) beschützte Wohnmöglichkeiten, Wohn- und Über- gangsheime, beschützende Werkstätten bzw. Arbeits- Die Feststellung, wie dramatisch eine Situation sei plätze für Behinderte und nervenärztliche ambulante und wie an die Veranwortung anderer appelliert wird, Versorgung als Teil der Struktur der ambulanten schrumpelt natürlich zusammen, wenn wir unsere Versorgung aufgebaut. eigene Präsenz nicht bringen. Wir werden diese Tagesordnung so abwickeln, aber ich appelliere von Wie kam es nun zum Strukturwandel bzw. zu dem dieser Stelle aus an die Fraktionen, doch wirklich Wertewandel in der psychiatrischen Versorgung? strenger bei der Auswahl der Themen vorzugehen, Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre verschärfte sich die sie auf die Tagesordnung setzen wollen. zunehmend die Diskussion um die psychia trische Versorgung in Form des Verwahrens statt Behan- Wir dürfen uns über das Echo nicht wundern, wenn delns. Dies führte zu der Forderung nach einer umfas- es so zu einer Ritualisierung erstarrt. Ich bitte daher senden Reform der Psychiatrie. sehr herzlich, daß wir in unser aller Interesse und im Interesse derer, die wir hier vertreten, noch in dieser Ausgelöst wurden die Auseinandersetzungen zum Legislaturperiode eine neue Form finden. einen durch die Situation in den psychiatrischen Großkrankenhäusern, zum anderen durch die unzu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) reichende nervenärztliche ambulante Versorgung, Ich erteile dem Kollegen Dr. Walter Altherr das besonders in den ländlichen Bereichen, sowie durch Wort. das Fehlen von differenzierten Therapieangeboten in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17515

Dr. Walter Franz Altherr Form von ambulanten, teilstationären und stationären gebung nach Art. 72 des Grundgesetzes fordern. Wir Einrichtungen in zumutbarer Wohnortnähe. sind der Ansicht, daß nunmehr die Länder an der Reihe und gefordert sind, die notwendigen Einrich- Die Bundesregierung setzte im Juni 1971 hieraufhin tungen zu schaffen. eine Enquete - Kommission ein, die 1975 sodann ihren Bericht vorlegte. Dieser Bericht stellt einen Wende- Einige Bundesländer sind bislang ihrer Verpflich- punkt in der Versorgung der psychiatrisch Kranken- in tung beispielhaft nachgekommen. Genannt sei hier

Deutschland dar. Erstmals wurden von Experten ein- das Land Baden - Württemberg, das mit großem finan- heitliche Versorgungskonzepte niedergelegt. ziellen Aufwand das Angebot flächendeckend erwei- Die vier Hauptempfehlungen waren damals: tert hat. Es erfolgte so u. a. die Einrichtung von 60 gemeindenahe Versorgung, bedarfsgerechte und sozialpsychiatrischen Diensten zur gemeindenahen umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und ambulanten Versorgung, von 31 psychosozialen Dien- Behinderten, Koordination aller Versorgungsdienste, sten, von 1 250 Plätzen im betreuten Wohnbereich Gleichstellung von psychisch und somatisch Kran- und von 2 250 Werkstattplätzen. ken. Allein von 1987 bis 1991 wurden so 75 Millionen DM Das grundlegende Ziel der Reform bestand darin, anteilmäßig von den Kassen und der öffentlichen von der bisher lediglich bewahrenden zu einer thera- Hand in diese Vorhaben investiert. Die Dichte der peutischen und rehabilitativen Psychiatrie zu kom- nervenärztlichen ambulanten Versorgung konnte in men. Dabei war vielen klar, daß sich ein solcher Baden-Württemberg in diesem Zeitraum auf einen Wandlungsprozeß nicht zäsurartig, sondern vielmehr Nervenarzt pro 14 000 Einwohner gesteigert wer- schrittweise und stetig — sich an den rechtlichen, den. sozialen und politischen Bedingungen orientierend — Meine Damen und Herren, nach gut 16 Jahren vollziehen würde. Psychiatriereform kann heute festgestellt werden, daß Grundanliegen war die Forderung nach einer sich ein deutlicher Strukturwandel in vielen Berei- bedarfsgerechten, dezentral organisierten, wohnort- chen bereits vollzogen hat und damit der Grundsatz nahen Versorgung. Dies erforderte u. a. die Verklei- „ambulant vor stationär" und die Forderung „Be- nerung der Bettenzahlen in den Großkliniken, die handlung statt Bewahrung" weitgehend verwirklicht verstärkte Differenzierung und Sektoralisierung der werden konnten. Kliniken, die Einrichtung psychiatrischer Abteilungen Ich will dies an Zahlen belegen: Die an Allgemeinkrankenhäusern und den Ausbau der Zahl der niedergelassenen Nervenärzte hat sich von 1970 bis ambulanten Versorgung mit allen dazugehörigen 1990 vervierfacht. Derzeit sind in den alten Bundes- komplementären Einrichtungen. ländern rund 4 000 Nervenärzte ambulant tätig. Bun- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bun- desweit waren es 1991 rund 5 500 Nervenärzte. desregierung hat durch vielfältige Modellprogramme dazu beigetragen, den notwendigen Strukturwandel Die stationäre Verweildauer in der Psychiatrie in der Versorgung der psychisch Kranken zu vollzie- wurde von ehedem 152 Tagen auf 70 Tage verkürzt. hen. So wurden von 1980 bis 1985 in sechs Ländern Die Bettenzahl wurde von 150 000 im Jahr 1975 auf Modellprojekte mit einer Summe von 186,5 Millionen 73 000 im Jahr 1991 abgebaut. Mit diesem Bettenab- DM unterstützt, wobei mit 93 Millionen DM in 14 bau einher geht ein deutlicher Fortschritt bei der städtischen und ländlichen Regionen die Vernetzung Enthospitalisierung chronisch psychisch Kranker. zwischen der stationären und der ambulanten Versor- Bundesweit gab es 1991 mehr als 130 Institutsam- gung entwickelt und erprobt wurde. bulanzen, die als wichtige Bindeglieder zwischen der 44,1 Millionen DM wurden für ergänzende Maß- stationären und ambulanten Behandlung fungieren. nahmen im stationären Bereich ausgegeben, 15,4 Mil- Leider ist eine flächendeckende Versorgung bislang lionen DM für investive Maßnahmen im Rahmen der nicht in allen Bundesländern erreicht worden. Die beruflichen Rehabilitation, 34 Millionen DM für die Bettenzahlen der psychiatrischen Großkliniken wur- wissenschaftliche Evaluierung aller Programme und den drastisch verringert, das therapeutische Angebot Maßnahmen. differenziert, die Krankenhäuser sektoralisiert. An vielen Allgemeinkrankenhäusern wurden mittler- Aus diesen Ergebnissen der wissenschaftlichen weile psychiatrische Abteilungen eingerichtet. Wir Begleitung entwickelte die Expertenkommission 1988 verfügen über mehr als 100 solcher Abteilungen mit ihre Empfehlungen zur Reform der Versorgung im ca. 11 000 Betten. Auch dies dient der wohnortnahen psychiatrischen und psychotherapeutischen/psycho- psychiatrischen Versorgung. somatischen Bereich auf der Grundlage des Modell- programms Psychiatrie der Bundesregierung. Dieses Das stationäre Behandlungsangebot wurde diffe- Modellprogramm schuf die Voraussetzung dafür, daß renziert und spezialisiert, es wurden vermehrt Ein- die Länder nunmehr ihrerseits die Ergebnisse umset- richtungen wie Kinder- und Jugendpsychiatrie, zen und den konsequenten Ausbau der erforderlichen Gerontopsychiatrie, Akutpsychiatrie und Therapie Strukturen fortsetzen können. Suchtkranker geschaffen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Das im Februar 1986 verabschiedete Gesetz zur SPD, Sie machen es sich in Ihrem Entschließungsan- Verbesserung der ambulanten und teilstationären trag auf Drucksache 12/6554 zu Ihrer Großen Anfrage Versorgung psychisch Kranker und Behinderter ent- relativ einfach, wenn Sie die Mitverantwortung des hielt vor allem Neuregelungen für die tagesklinische Bundes mit Verweis auf die konkurrierende Gesetz Behandlung und für Institutsambulanzen. 17516 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Walter Franz Altherr Durch die Personalverordnung in der stationären wobei die Versorgung jedoch nicht flächendeckend Psychiatrie wurden 5 000 Pflegeplätze in den Altlän- war und qualitative Unterschiede aufwies. dern und 1 500 Stellen im pflegerischen Bereich in den Der Einigungsvertrag — Art. 33 Abs. 1 — verpflich- neuen Ländern geschaffen. tet die Gesetzgeber von Bund und Ländern, „die Das am 1. Januar 1992 in Kraft ge tretene Betreu- Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das Niveau ungsgesetz hat die Rechte psychisch Kranker und der stationären Versorgung der Bevölkerung ... geistig oder seelisch Behinderter gestärkt; die rehabi- zügig und nachhaltig verbessert und der Situa tion im litationsfeindliche Entmündigung wurde abgeschafft. übrigen Bundesgebiet angepaßt wird". Um dieser Die Forschungsarbeiten zu psychischen Krankheiten Verpflichtung gerecht zu werden, wurden den Krei- wurden intensiviert, um den Wissensstand bezüglich sen und Kommunen umfangreiche Mittel im Rahmen Epidemiologie, Ätiologie, Diagnostik und Therapie des Gemeinschaftswerkes Aufschwung Ost — 5,3 Mil- entscheidend zu verbessern. liarden DM im Jahr 1991 — und des. kommunalen (Unruhe) Kreditprogramms — 15 Milliarden DM — zur Verfü- gung gestellt. Weiterhin fördert der Bund von 1995 bis 2004 jährlich mit 700 Millionen DM. Es besteht hier Vizepräsident Hans Klein: Sie können der Rede unzweifelhaft eine gemeinsame Verantwortung von auch im Sitzen zuhören, meine Damen und Herren; es Bund, Ländern und Kommunen, um den Aufbau einer sind noch Plätze frei. bedarfsgerechten, wohnortnahen und zeitgerechten psychiatrischen Versorgung in den neuen Ländern Dr. Walter Franz Altherr (CDU/CSU): Danke schön, schnellstens herbeizuführen. Herr Präsident. Ich glaube, dieses Thema sollte auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn in den bei den lieben Kolleginnen und Kollegen, die nicht letzten 20 Jahren in den alten Ländern und auch in unbedingt der Arbeitsgruppe Gesundheit angehören, den drei Jahren seit der Wiedervereinigung in den etwas mehr Beachtung finden. neuen Ländern beachtliche Verbesserungen der Meine Damen und Herren, in vielen Regionen der Situation psychisch Kranker erreicht wurden, so sind alten Bundesländer sind inzwischen bedarfsgerechte wir dennoch von einer flächendeckenden, bedarfsge- wohnortnahe Versorgungsnetze zur Versorgung der rechten und wohnortnahen psychiatrischen Versor- psychisch Kranken aufgebaut worden, die zu einer gung in Einzelbereichen noch weit entfernt. Dies darf nachhaltigen Verbesserung der psychiatrischen Ver- aber nicht die Leistung schmälern, die der Bund, sorgung geführt haben. Dennoch ist die gemeinde- einzelne Länder und Kommunen — wenn auch in nahe Psychiatrie noch nicht in allen Regionen umge- unterschiedlicher Höhe — bisher zur Verbesserung setzt. Auch bestehen von Bundesland zu Bundesland der Lage psychisch Kranker erbracht haben. in der BRD noch zum Teil deutliche Unterschiede im Unser oberstes Ziel muß es bleiben, die Lebensbe- Versorgungsangebot. Es gilt nun, die Reform zielstre- dingungen und die Lebensqualität der psychisch big fortzuführen. Kranken weiter zu verbessern. Dies bedingt, daß die Weitaus schlimmer, um nicht zu sagen: geradezu psychiatrische Therapie am günstigsten im unmittel- katastrophal, stellte sich die Situa tion der stationären baren Lebensumfeld der Betroffenen erfolgt. Die Psychiatrie in den neuen Ländern bei der Wiederver- Gemeinschaft ist hier zur Solidarität aufgefordert; einigung dar. Sie entsprach dem Standard, der in der denn psychische Krankheiten sind ebenso Ausdruck Bundesrepublik Deutschland und in vergleichbaren menschlichen Krankseins wie körperliche Krankhei- europäischen Ländern in den 60er Jahren üblich war. ten. Wir alle sind daher aufgerufen, psychisch Kran- Der Bericht der Bundesregierung „Zur Lage der ken dazu zu verhelfen, ihr Leben so normal wie Psychiatrie in der ehemaligen Deutschen Demokrati- möglich in der Gemeinschaft zu gestalten. schen Republik — Bestandsaufnahme und Empfeh- Ich bedanke mich. lungen" vom 30. Mai 1991 gibt einen ernüchternden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Überblick über die Lage. Für die schnelle Erstellung sowie bei Abgeordneten der SPD) sei dem BMG an dieser Stelle auch einmal gedankt. Die psychiatrischen Großkrankenhäuser boten zum Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Dieter Teil untragbare Zustände, nicht nur was die baulichen Thomae, Sie haben das Wort. Gegebenheiten anlangt; vielmehr war auch die medi- zinisch-technische Ausstattung nicht zeitgemäß, es Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Präsident! Meine fehlte die Differenzierung des Angebots, es fehlte die Damen und Herren! Sechs Punkte habe ich für die Sektoralisierung. Bei einer Größe von 300 bis 1 800 F.D.P. formuliert. In diesen sechs Punkten sind die Betten mit Schlafsälen von 10 bis 30 Betten war eine Überlegungen für die Zukunft in diesem Bereich zeitgemäße Therapie natürlich nur schwer zu realisie- fixiert worden. Ich bitte Sie, dies im Protokoll exakt ren. nachzulesen.') Ich denke, Sie werden daraus einige Psychiatrie wurde dort noch immer als Anstalts- Erkenntnisse gewinnen. psychiatrie begriffen. Dies führte neben anderen Vielen Dank. systembedingten Gegebenheiten zu einer Chronifi- zierung psychisch Kranker. Viele Langzeitpatienten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) waren in Ermangelung adäquater komplementärer Einrichtungen fehlplaziert. Die ambulante Versor- Vizepräsident Hans Klein: Stimmt das Haus zu? gung hingegen erfolgte recht gut in den Polikliniken (Zurufe: Ja! — Sehr gern!) bzw. Dispensaires in Form von multiprofessionellen Zentren, *) Anlage 2 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17517

Vizepräsident Hans Klein — Danke. überhaupt die Voraussetzung für eine sinnvolle und Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen zielgerichtete Planung zu schaffen, dann muß m an Dr. Hans-Hinrich Knaape das Wort. sich fragen: Warum berühren die gravierenden Ver- sorgungsschieflagen und gruppentypischen krank- heitsbedingten Notlagen den Bundesminister für Gesundheit überhaupt nicht? - Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Präsident! Das gegenwärtige Gerede über die dritte Stufe der Meine Damen und Herren! Die Tagung „Aktion Gesundheitsreform — wenn auch zur Zeit nicht Psychisch Kranke" in jener Klinik in den neuen gerade ein werbeträchtiger Rummel unseres Mini- Bundesländern, die in einem geschmacklosen Fe rn sters — stellt die Solidargemeinschaft in Frage und -sehbeitrag eines namhaften Autors als „Hölle" lenkt auf das nächste Jahrhundert. Statt erneuter bezeichnet wurde, brachte drei Erkenntnisse: erstens Panikauslösung sollte der Minister besser an die letzte den enormen Kenntniszuwachs in der Psychiat rie Gesundheitsreform und ihre Umsetzung denken. Tätiger über sozialrechtliche Fragen, zweitens die nach wie vor manchmal erdrückend wirkende Viel- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zahl von Problemen und drittens das Ausmaß, in dem große Heime für psychisch kranke Menschen entste- Es fehlt z. B. eine Sozial-Psychiatrie-Vereinbarung hen, die eher an speziellen Interessen der Träger denn zwischen den Krankenkassen und der Kassenärztli- an den Bedürfnissen der zukünftigen Bewohnerinnen chen Vereinigung zur Umsetzung der §§. 43 a und 85 und Bewohner orientiert sind. Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch V. Wenn ein Rezensent des Fernsehbeitrages — selbst (Zuruf von der CDU/CSU: Subsidiaritätsprin Arzt in einer Nervenklinik — in kritischer Weise dem zip!) erwähnten, durchaus sachkundigen Publizisten zwar „die gute Absicht, durch die dramatischen Zustands- In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist die schilderungen Veränderungen für diese Kranken Zusammenarbeit mit nichtärztlichen Berufsgruppen erreichen zu wollen", unterstellt, dann aber weiter seit jeher selbstverständlich und im stationären ausführt: „undifferenzierte, globale Einschätzungen Bereich auch durchgesetzt. Aber nach wie vor steht haben einen unangenehmen Nebeneffekt: sie führen eine einvernehmliche Regelung zur Übernahme die- zu Solidarisierung", so möchte ich weiter mit eigenen ser entstehenden Kosten in der interdisziplinären Worten in bezug auf die Große Anfrage unserer Zusammenarbeit im ambulanten Bereich aus. Die Fraktion sagen: zur Solidarisierung nicht nur der Versorgung der Bevölkerung in den neuen wie in den Professionellen, sondern vieler Bundesbürger mit den alten Bundesländern durch niedergelassene Kinder- Betroffenen und gegen die Bundesregierung, die und Jugendpsychiater ist unzureichend, trotz anderer — wie vor der Psychiatrie-Enquete — Mitverantwor- Angaben im Bericht. Es ist belegt, daß die patienten- tung für die Reform der Psychiat rie im gesamten und familiengerechte wohnortnahe ambulante sozi- Bundesgebiet in beschämender Weise von sich alpsychiatrische Versorgung effektiv und wirtschaft- schiebt. lich ist; dies besonders, wenn die notwendigen nicht- ärztlichen Mitarbeiter — das sind Heilpädagogen und Im vereinten Deutschland sind die Mängel bei der Sozialpädagogen — in ausreichender Anzahl den Arzt nichtstationären psychiatrischen Langzeitversor- unterstützen. Nicht die stationäre Kinderpsychiatrie gung, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie in mit ihrer langen Verweildauer ist das Ziel, sondern die der Gerontopsychiatrie zu überwinden. Der Nachhol- ambulante Behandlung, sei es durch niedergelassene bedarf in den neuen Bundesländern ist erheblich. Ärzte, sei es durch Institutsambulanzen gebietsärzt- Zwar kann man die Psychiatrie in der DDR nicht mit lich geleiteter kinder- und jugendpsychiatrischer jener des Dritten Reiches vergleichen; aber die Ver- Abteilungen an Kinderkliniken und an Allgemein- wahrung in der DDR aus einer nicht von den Psychia- krankenhäusern. Letzere Einrichtungen sollten auch tern verschuldeten Notlage heraus und die bewußte in die Möglichkeit der teilstationären Behandlung auf- der Nazizeit führte bei den Patienten zur gleichen weisen. psychischen Deprivation und ihrer Depravation in der gesellschaftlichen Stellung. Psychisch kranke Jugendliche im Übergangsalter Die objektiven Zwänge der Gesellschaft, d. h. die zum Erwachsenen ebenso wie drogengefährdete und prägenden Diktaturen, sind gefallen. Nun wäre der drogenkranke Jugendliche bedürfen geeigneter so- Sozialstaat BRD, dies im Verein mit den Ländern, als zialer Betreuung und Unterstützung in den Bereichen Vorstreiter und nicht, wie die Haltung der Bundesre- Wohnen, Arbeit und Freizeit. gierung es zeigt, als passiver, teilweise äußerst man- Hier ist die Bundesregierung gefordert, da die gelhaft informierter Beobachter gefragt. Der Staat notwendigen psychosozialen Leistungen integrierte Bundesrepublik kann nicht lediglich durch die Auf- Bestandteile der medizinischen und beruflichen lage zeitlich begrenzter regionaler Modellvorhaben Rehabilitationsgesetzgebung werden müssen. Will sich zu rechtfertigen versuchen. Denn für die Sozial- sich denn der dynamische Gesundheitsminister unter- und Leistungsgesetze ist die Bundesregierung zustän- stellen lassen, daß er in dieser Hinsicht keinen politi- dig. schen Gestaltungswillen gezeigt habe? Oder wird Aber wenn man, wie der Bundesminister für auch hier, wo es um die Befriedigung der Bedürfnisse Gesundheit, sich hinter Vorbehalten verschanzt, und Erfordernisse der psychisch kranken Bürger keine harten Daten zur Verfügung hat, auch nichts unseres Landes geht, mehr die Eigenverantwortung unternimmt, um diesen Mißstand zu beseitigen, um der Patienten unterstellt? 17518 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Hans-Hinrich Knaape Ebenso wie die psychisch Kranken ihre Interessen Recht auf Information hat, möchte ich mich angesichts meist nicht selbst durchsetzungsfähig vertreten kön- der zeitlichen Zwänge im wesentlichen auf dieses nen, sollte der Minister hier ebenso wie bei der Gebiet konzentrieren, auch wenn natürlich aus mei- Regelung der Finanzierung der angesprochenen ner Sicht sehr viel Kritisches zur Situation in den alten nichtärztlichen sozialpsychiatrischen Leistungen ak- Bundesländern anzumerken wäre. Ich denke aber, tiv werden und handeln. daß die Kollegen der SPD hierzu umfassend Stellung Die prekäre Rechtslage bei der Rehabilitation psy- genommen haben. chisch Kranker sollte einen sonst wortgewaltigen Der im Auftrag der Bundesregierung von über Gesundheitsminister vorübergehend mal verstum- 30 Fachleuten aus West und Ost erstellte und Mitte men lassen und zum Überdenken der Situation anre- 1991 vorgelegte Bericht zur Lage der Psychiatrie in gen. der ehemaligen DDR hat sicher gute Voraussetzun- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke gen geschaffen. Es ist in der Tat so, daß auch hier eine Liste) sehr differenzierte Betrachtung notwendig ist. Nur Statt Panikmache ist gezielt angeregte Aktivität not- Schwarzmalen kommt der Wahrheit sicher ebensowe- wendig, und in der Psychiatrie verwendet man bei nig nahe wie die früher in der DDR gehandhabte beiden psychischen Störungen das gleiche Medika- Schönfärberei. Einige Anmerkungen seien mir in ment. diesem Zusammenhang dennoch gestattet. Wenn ich mich in meinen Ausführungen besonders Richtig ist, daß es an vielen Stellen schrecklich auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie beziehe, so zurückgebliebene, tatsächlich menschenunwürdige dies auch deshalb, weil der Gesundheitsminister, Zustände gab und noch immer gibt. Dies bezieht sich wenn ihm die Gestaltung einer Gesundheitsreform für in erster Linie auf die zum Teil über 100 Jahre alten, das nächste Jahrhundert am Herzen liegt, auch baulich völlig verschlissenen, technisch schlecht aus- bedenken sollte, daß er diejenigen, die heute Kinder gestatteten und personell unterbesetzten großen sind, dann als Erwachsene oder gerontopsychiatrische psychiatrischen Fachkrankenhäuser. Auch war und Patienten hat und deshalb dafür Sorge tragen muß, ist der Anteil von chronisch psychisch Kranken und daß durch mißliche soziale Umstände induzierte Fehl- Behinderten, die dort nur deshalb zu Langzeitpatien- entwicklungen und Fehlhaltungen bei den psychisch ten wurden, weil sie nirgend anders betreut werden Kranken heute vermieden bzw. korrigiert werden konnten, noch immer deutlich höher als in den L an müssen. -deskliniken der alten Bundesländer. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Neben der wirtschaftlichen und finanziellen Schwä- Wenn Sie dann dem Entschließungsantrag der SPD che der DDR als wohl dem grundlegendsten Entwick- zur Situation der psychisch Kranken in der Bundesre- lungshemmnis hat sich ganz offensichtlich gerade publik Deutschland als Regierungskoalition — falls auch für die Psychiatrie das Fehlen eines kritischen Sie denn wissen, wann abgestimmt wird — nicht Korrektivs in Form einer demokratischen Öffentlich- zustimmen werden, so sollten Sie ihn doch wenigstens keit als äußerst verhängnisvoll ausgewirkt. Defizite lesen, überdenken und danach handeln. Dann wäre es und Mißstände wurden systematisch verschwiegen schließlich egal, ob Sie Ihre Hand beim Ja oder Nein in und damit auch keine Kräfte für ihre Besserung der Abstimmung heben werden. geweckt. Ich danke Ihnen für Ihr Desinteresse. In diesen Zusammenhang gehört zweifellos auch (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke die Erfahrung, daß ein bevormundendes und über- Liste) zentralisiertes Leitungssystem so etwas wie Initiative, Vielfalt und Spontaneität zu großen Teilen bereits im Keim erstickt. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin Dr. Ursula Fischer. Gerade deshalb ist es ganz offensichtlich vor allem der immer wieder anerkennend hervorgehobenen Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- humanistischen Motivation und Qualifikation sowie dent! Meine Damen und Herren! Es ist nur zu begrü- einem besonderen Engagement und Durchsetzungs- ßen, daß diese Debatte zur Situation der psychisch vermögen der Vertreter des Fachgebietes zu danken, Kranken in der Bundesrepublik Deutschland hier im wenn an nicht wenigen Stellen nicht nur konzeptio- Bundestag stattfindet. Nach wie vor verlangt die Lage nelle, sondern auch handfeste materiell-technische dieser Menschen, insbesondere der chronisch psy- Verbesserungen für die Patienten erreicht werden chisch Kranken und Behinderten, trotz der zweifellos konnten. Nur so können auch in den neuen Bundes- erreichten Fortschritte ein dauerhaftes Bemühen um ländern vorhandene und gerade für den westdeut- weitere Verbesserungen. Das gilt zunächst einmal schen Betrachter oft verblüffend große regionale vom Grundsatz her sowohl für die alten als auch für die Unterschiede im Versorgungsniveau ihre Erklärung neuen Bundesländer, auch wenn Ausgangslage und finden. besondere Problemsituationen unübersehbare Unter- Im übrigen gab es auch in der DDR offizielle schiede aufweisen. Dokumente im Sinne einer Psychiatriereform, wie die Da die Psychiatrie der DDR ein bevorzugter Gegen- von Fachexperten erarbeiteten sogenannten Rodewi- stand der Presse war und ist — allerdings einer Presse, scher Thesen aus dem Jahre 1963 oder ein im Jahre der es nicht um seriöse Berichterstattung, sondern 1981 vom Gesundheitsministerium verabschiedetes vorwiegend um den Sensationscharakter ihrer Mel- staatliches Entwicklungsprogramm, die in ihren dungen geht —, andererseits die Öffentlichkeit ein Grundintentionen wesentliche Übereinstimmungen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17519

Dr. Ursula Fischer mit den Empfehlungen der bundesdeutschen Psychia- Die Regierung hat nach der Enquete-Kommission trie-Enquete von 1975 aufweisen. sehr viel gemacht. Das ist auch schon in der Rede von Der entscheidende Unterschied zur Psychiatrie Herrn Altherr deutlich geworden, der klargemacht Enquete von 1975 bestand allerdings da rin, daß es hat, wie sich die Lage der psychisch Kranken in der keine verbindliche materielle und finanzielle Absi- Bundesrepublik Deutschland verbessert hat. Verwah- ren statt behandeln — das war noch vor zwei Jahr- cherung der angestrebten Maßnahmen gab und daß- man so über Absichtserklärungen oder bestensfalls zehnten eine übliche Antwort auf psychische Krank- regional getragene Fortschritte nicht hinauskam. heiten. Mit solchen Antworten haben wir uns selbst — das muß man so deutlich sagen — ein Armutszeug- Durchaus anders war es auf Gebieten, die weniger nis ausgestellt. Aber wir haben daraus gelernt. Seit- von Bau und Geld abhingen. Das dürfte z. B. für die dem ist sehr viel geschehen. außerordentlich guten Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation gelten. Aber bei allen Fortschritten, die es gibt, steht auch Durchaus gute Erfahrungen verkörperten sich auch fest: Vieles muß besser funktionieren, und vieles kann vor allem auch besser funktionieren. Denn die Vor- in den Hauptträgern dezentralisierter psychiatri- scher Versorgung, in den Fachabteilungen der Poli- aussetzungen dafür sind da. Seit Beginn der Psychia- kliniken. Dieses Netz war noch keineswegs überall triereform sind sich alle Beteiligten über das Ziel und gleich dicht geknüpft, aber für jeden Kreis flächen- die Strukturen einer modernen Psychiatrie einig. Das deckend konzipiert. Ziel heißt nach wie vor: Entwicklung und Ausbau einer therapeutischen und rehabilitativen Psychia- Multiprofessionell besetzt mit Ärzten, Psychologen, trie. Arbeitstherapeuten, Sozialfürsorgern und Gemeinde- schwestern waren sie auf der Grundlage einer einheit- Die Wege zu diesem Ziel heißen nach wie vor: lichen Finanzierung in der Lage, die individuelle Verkleinerung der großen Einrichtungen zugunsten ärztliche Diagnostik und Therapie mit verschiedenen einer gemeindenahen und bedarfsgerechten Versor- Formen psychosozialer Hilfen und ambulanter Reha- gung aller psychisch Kranken, vor allem über den bilitation nach einheitlichen Betreuungskonzepten Ausbau der komplementären ambulanten Dienste, abgestimmt zu verbinden. die Einrichtung von psychiatrischen Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern, und — das, glaube ich, Die fast vollständige Beseitigung dieser Versor- kann man nicht oft genug betonen — wir müssen das gungsformen hat jedenfalls gegenwärtig und, wie zu Prinzip der Gleichstellung von psychisch Kranken mit befürchten ist, für eine mehr oder weniger lange somatisch Kranken weiter in die Wirklichkeit umset- Übergangszeit zu neuen Defiziten und Verschlechte- zen. rungen in der Betreuungssituation in den neuen Ländern geführt. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Dafür muß man etwas tun!) Die Nutzung dieser Einrichtung wäre durchaus möglich gewesen. Nachdem diese Chance verpaßt ist, — Ich gehe gleich darauf ein. Vielleicht sollten Sie das bemüht sich die Bundesregierung dankenswerter- auch einmal Ihren Parteikollegen in den Ländern weise, Modellvorhaben in den neuen Ländern zu sagen. fördern. Aus diesem Grund wiederhole ich hier mei- Gerade die chronisch Kranken und Behinderten nen Appell aus der letzten Haushaltsdebatte: Diese sind auf vielfältige, abgestimmte Hilfen vor Ort, d. h. Modellförderung, die seit 1992 läuft und für die auch in ihrer Gemeinde, angewiesen. Deshalb muß der 1994 Mittel bereitgestellt sind, muß nun über längere Schwerpunkt aller Bemühungen zur weiteren Verbes- Zeit durchgehalten werden und sollte außerdem auch serung der Situation der Betroffenen im Aufbau kom- erweitert werden. munaler, gemeindeintegrierter Psychiatriestrukturen Danke für Ihre Aufmerksamkeit. liegen. Die Kommunen wissen, daß sie hier in der (Beifall bei der SPD) Verantwortung stehen. Die Erfahrungen in den vergangenen Jahren haben aber auch gezeigt, daß gemeinsame Strukturziele Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort der noch lange kein Garant für gemeinsame Strategien zu Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesmi- ihrer Umsetzung sind. nister für Gesundheit, unserer Kollegin Dr. Sabine Bergmann-Pohl. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist es!) Fest steht: Es gibt noch keine flächendeckend gleich Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin gute Versorgung aller Patienten. Sie ist an vielen beim Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Stellen sogar unzulänglich. Warum? Immer wieder Meine Damen und Herren! Herr Knaape, ich war wird gesagt: Schafft bessere rechtliche Rahmenbe- ziemlich enttäuscht, daß ausgerechnet Sie den Ruf dingungen, dann können wir mehr für die Betroffenen nach einem Zentralstaat und einer zentralistischen erreichen. Form der Gesellschaft hier wieder haben laut werden lassen. Bei Frau Schmidt-Zadel, die vierzig Jahre in (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Die einem föderalistischen Staat gewohnt hat, wundert Rahmenbedingungen reichen aus, aber die mich das nicht; da möchte man vielleicht einmal etwas Umsetzung!) anderes ausprobieren. Aber ich denke, Sie haben das Macht ein Psychiatriegesetz; das wäre das Beste. sicherlich lange genug genossen. Der Ruf nach dem Gesetzgeber ist, glaube ich, hier (Beifall bei der CDU/CSU) nichts Neues. Aber er kommt eigenartigerweise 17520 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl immer dann, wenn von gemeinsamer Verantwortung Aber ich sage noch einmal: Die politische Verant- die Rede ist. Gemeinsame Verantwortung, meine wortung für eine flächendeckende Umsetzung liegt Damen und Herren von der SPD, in einem föderali- bei den kommunalen Gebietskörperschaften, meine stischen Staat heißt für mich aber auch: Die Länder Damen und Herren. Darum denke ich, daß auch viele müssen im Rahmen ihrer Zuständigkeit alles dafür Bundesländer durch Psychiatriepläne und -gesetze, tun, um zu weiteren Verbesserungen in der psychiatri- Ausführungsgesetze zum Bundessozialhilfegesetz, schen Versorgung zu kommen. Landesprogramme und -projekte umsetzen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich sage noch einmal: Dem Bund fehlt dafür nach ordneten der SPD) Art. 74 des Grundgesetzes die Gesetzgebungskompe- tenz. Deshalb stellt sich auch gar nicht die Frage, unter Denn die Rechtslage ist hier ganz eindeutig. Die welchen Voraussetzungen nach Art. 72 des Grundge- Bundesregierung kann aus verfassungsrechtlichen setzes die Gesetzgebungskompetenz ausgeschöpft Gründen gar nicht ein einheitliches Gesetz für eine werden kann. bundesweite psychiat rische Versorgung erlassen. Niemand kann allerdings ernsthaft behaupten, daß (Dr. Walter Fr anz Altherr [CDU/CSU]: So ist wir die von der Verfassung vorgeschriebene gemein- es!) same Verantwortung mit allen Beteiligten nicht ernst- genommen haben. Im Gegenteil, der Bund entzieht Meine Damen und Herren, wir brauchen, wie ich sich nicht seiner Pflicht. bereits gesagt habe, in den Ländern eine Gesund- heits - und Sozialplanung, in der die Psychiatriepla- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist nung kein Stiefkind ist. Wir haben dazu ausreichend es!) Modellprogramme initiiert, die in den Ländern sehr positiv angekommen sind. Jetzt heißt es, die positiven Ein Beispiel von vielen, wie schwer es ist, gerade Ergebnisse in den Ländern auch umzusetzen. aus dem ambulant-komplementären Bereich Daten zu erhalten, haben die Vorbereitungen zur Beantwor- (Beifall bei der CDU/CSU) tung der Großen Anfrage gezeigt. Angaben, die zentral und statistisch erfaßt werden, wie z. B. Daten Ein Dreh- und Angelpunkt in der Diskussion um den des Statistischen Bundesamtes oder der Kassenärztli- Aufbau eines gemeindepsychiatrischen Verbundes in chen Bundesvereinigung, liegen in standardisierter jeder Versorgungsregion ist die Frage der Finanzie- Form vor und sind auch so in der Antwort der rung. Auch hier — Frau Schmidt-Zadel, könnten Sie Bundesregierung wiedergegeben. Entsprechende vielleicht einmal zuhören? — stehen die Länder in der statistische oder standardisierte Datenerhebungen Pflicht. Sie haben die Aufgabe, für eine funkionie- aus dem ambulant-komplementären Versorgungsbe- rende Finanzierungsregelung zu sorgen. reich, der in der Verantwortung der Länder liegt, gibt Das Bundessozialhilfegesetz regelt ohne Wenn und es aber leider noch nicht. Das zeigt: Der Bund wird Aber, daß die Länder für Regelungen zwischen dem seiner Verantwortung in diesem Bereich gerecht. örtlichen und dem überörtlichen Sozialhilfeträger Das Bundesministerium für Gesundheit hat die zuständig sind. Sie können die Finanzierungszustän- spezifische Situation und die speziellen Probleme der digkeiten und -abgrenzungen in Ausführungsgeset- Datenerfassung und -bewertung im psychiatrischen zen zum BSHG festlegen. Bereich gesehen. Aus diesem Grund fördern wir Meine Damen und Herren, ein paar Worte zur parallel zu den Vorarbeiten zur nationalen Gesund- Personalverordnung. Nicht zuletzt wurden im perso- heitsberichterstattung ein Forschungsvorhaben, in nellen Bereich auch durch die neue Personalverord- dem auch die Berichterstattung zur psychiatrischen nung im stationären Bereich erhebliche Verbesserun- Versorgung, besonders im Bereich chronisch-psychi- gen geschaffen. Selbstverständlich gibt es trotz dieser scher Störungen, untersucht wird. Die Ergebnisse positiven Beispiele auch hier eine Reihe von Defiziten. werden dazu beitragen, daß die notwendigen Infor- Es bedarf weiterer Anstrengungen in der Zukunft. mationen für eine künftige psychiatrische Gesund- heitsberichterstattung und Gesundheitsplanung zur Das gilt auch für die Finanzierungsregelung far Verfügung stehen. ambulant-rehabilitative Maßnahmen; denn es gibt nach wie vor offene Fragen an der Schnittstelle Meine Damen und Herren, Daten sind zwar wichtig, zwischen Maßnahmen der medizinischen Rehabilita- aber sie sind nicht alles. Angeblich oder tatsächlich tion und der sozialen Rehabilitation. Unser Ziel heißt: fehlende statistische Angaben taugen jedenfalls nicht Wir müssen alles dafür tun, um die soziale Desintegra- als Argument, um nach wie vor die vorhandenen tion der Betroffenen zu vermeiden. Dafür brauchen Defizite zu begründen; denn es steht fest, daß alle notwendigen konzeptionellen Erkenntnisse vorlie- wir rehabilitative Maßnahmen. gen, um eine bedarfsgerechte gemeindeintegrierte Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen psychiatrische Versorgung aufzubauen. hat in hervorragender Weise seinen Teil dazu beige- Das zeigen auch positive kommunale Entwick- tragen, diesem Ziel ein Stück näherzukommen. Er hat so aus- lungsprozesse in vielen Versorgungsregionen. Herr die Heilmittelrichtlinien für die Ergotherapie Altherr hat sehr beispielgebend auf den Raum gearbeitet, daß die ergotherapeutischen Maßnahmen Baden-Württemberg hingewiesen. den sogenannten Therapeutischen Dienstleistungen entsprechen, die die Expertenkommission in ihren (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist Empfehlungen zur Psychiatriereform definiert hat. es! Vorbildhaft!) Aber es kommt auch darauf an, diese Therapiemög- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17521

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl lichkeiten auszuschöpfen, d. h. wir müssen alle Mög- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: lichkeiten der Verordnung von Arbeits- und Beschäf- Erste Beratung des von der Bundesregierung tigungstherapien voll in die Tat umsetzen. eingebrachten Entwurfs eines Fünften Geset- Es ist auch zu der Frage der ambulanten Hilfen von zes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes meinen Vorrednern bereits sehr viel gesagt worden. — Drucksache 12/6480 — Auch hier stehen die Länder und Kommunen voll in der Pflicht, sich mehr anzustrengen. Frau Schmidt- Überweisungsvorschlag: Zadel, ich kann verstehen, daß Sie damit unzufrieden Ausschuß für Gesundheit (federführend) sind, daß gerade in Ihren sozialdemokratisch geführ- Rechtsausschuß EG-Ausschuß ten Ländern das nicht so in die Tat umgesetzt wird, wie wir uns das immer wieder wünschen. Die Kolleginnen und Kollegen, die für die Fraktio- nen zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen sollen, müssen wir natürlich die Auch in der Ausbildung wollen ihre Reden zu Protokoll geben. ' ) Ist das Haus Kenntnisse in der Versorgung der psychia trisch Kran- damit einverstanden? — Das ist der Fall. ken wesentlich verbessern. Die Länder sind also gefordert, den Stellenwert psychiat rischer Kenntnisse Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetz- in der Ausbildung und Weiterbildung der sozialpfle- entwurfs auf Drucksache 12/6480 an die in der Tages- gerischen Berufe zu verbessern. ordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Dies ist offensichtlich Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- etwas zu den Modellprogrammen in den neuen sen. Ländern sagen. Frau Fischer hat darauf dankenswer- terweise schon hingewiesen. Frau Schmidt-Zadel, ich glaube, Sie können im Ernst nicht verlangen, daß eine vierzigjährige Vernachlässigung psychisch Kranker, Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: die in unzumutbaren, unwürdigen Verhältnissen auf- bewahrt wurden, innerhalb von drei Jahren verändert a) Erste Beratung des von den Fraktionen der werden kann. CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung zentraler (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einrichtungen des Gesundheitswesens Wir müssen alle gemeinsam unsere Anstrengungen — Drucksache 12/6551 — dahin lenken, daß diese unwürdigen Verhältnisse schnell geändert werden. Wir haben im Rahmen Überweisungsvorschlag: unserer Modellprojekte eine große Hilfe geleistet. Wir Ausschuß für Gesundheit (federführend) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit haben 1992/93 14 Millionen DM zusätzlich zur Verfü- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten gung gestellt, für 1994 zusätzlich 7 Millionen DM und für 1995 zusätzlich 4 Millionen DM. Damit haben wir b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl- gezeigt, daß wir unserer Verantwortung gerecht wer- Hermann Haack (Extertal), Klaus Kirschner, den. Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD Nun noch ganz kurz zu Ihrem Antrag, meine Damen Reorganisation des Bundesgesundheitsamtes und Herren von der Opposition. Er enthält keine (BGA) als Bundesamt für Gesundheitsschutz grundsätzlich neuen Aspekte; die meisten Punkte sind in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große — Drucksache 12/6490 — Anfrage enthalten. Er geht auch in die falsche Rich- Überweisungsvorschlag: tung, wenn sie den Bund für die Lösung aller Probleme Ausschuß für Gesundheit (federführend) verantwortlich machen wollen. Das habe ich oft aus- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit führlich dargestellt. Wir werden uns aber mit Ihrem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Entschließungsantrag im Gesundheitsausschuß be- Auch zu diesem Punkt wollen die Damen und fassen, damit endlich Bewegung in die Haltung der- Herren des Hauses, die als Rednerinnen und Redner jenigen Länder und Kommunen kommt, vorgesehen waren, ihre Manuskripte zu Protokoll (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wo sind die geben. * *) Besteht Einverständnis des Hauses? — Das Länderminister?) ist offensichtlich der Fall. die ihrer Verantwortung heute nicht in vollem Umfang Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen gerecht werden. auf den Drucksachen 12/6551 und 12/6490 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Vielen Dank. schlagen. Stimmt das Haus dem zu? — Dies ist der Fall. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dann sind die Überweisungen beschlossen.

Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: che. — Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Erste Beratung des von der Bundesregierung Drucksache 12/6554. Wer stimmt für diesen Entschlie- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über ßungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? Der Entschließungsantrag ist abge- *) Anlage 3 lehnt. **) Anlage 4 17522 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Vizepräsident Hans Klein Krebsregister Rechten ... nicht immer wirksam vorgegangen (Krebsregistergesetz — KRG) wird. Ein solches Gesetz wäre eine klare Bestäti- gung der deutschen Behörden, daß Rassendiskri- — Drucksache 12/6478 — minierung absolut unakzeptabel ist und Men- Überweisungsvorschlag: schenrechte und Menschenwürde zerstört. Ausschuß für Gesundheit (federführend) Innenausschuß Solche Forderungen wurden bisher immer st rikt Rechtsausschuß zurückgewiesen mit dem Hinweis auf den Grund- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO rechtskatalog der Verfassung und der feinsinnigen Auch dazu sollen die Reden zu Protokoll gegeben Unterscheidung zwischen Rassismus und Ausländer- werden, wenn das Haus zustimmt.•) — Dies ist der feindlichkeit. Fall. Dabei ist der Alltag ausländischer Bürgerinnen und Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Bürger zu einem Gutteil bestimmt durch rassismusför- Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/6478 an die in der dernde und diskriminierende Strukturen. Die Ent- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Schlägt wicklung der letzten Jahre hat den Zusammenhang jemand weitere Ausschüsse vor? — Das ist nicht der zwischen tiefsitzender Alltagsdiskriminierung und Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. dem Hochputschen latenten Rassismus nur deutlich Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf: hervortreten lassen. Erste Beratung des von der Gruppe der PDS/ Deshalb, meine Damen und Herren, haben sich in Linke Liste eigebrachten Entwurfs eines Geset- dieser Zeit auch verschiedene Initiativen und Fach- zes gegen Rassismus und die Diskriminierung gremien, Akademien und Wissenschaftlerinnen und ausländischer Bürgerinnen und Bürger Wissenschaftler intensiver daran gemacht, eine anti- (Antirassismusgesetz) rassistische oder antidiskriminierende Gesetzgebung zu begründen und zu fordern. — Drucksache 12/6245 — Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Überweisungsvorschlag: Deutschland leben bald etwa 6 Millionen Menschen, Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß die über keinen deutschen Paß verfügen. Etwa 70 % Ausschuß für Wirtschaft von ihnen leben seit über 10 Jahren hier, annähernd Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung 50 % über 15 Jahre im Bundesgebiet. Vier Fünftel aller Ausschuß für Frauen und Jugend nichtdeutschen Kinder sind hier geboren und aufge- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft wachsen. Eine Million Nichtdeutsche besitzen eine Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. Diese sogenannten Ausländerinnen und Ausländer Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann sind vielfältigsten Sondergesetzen und Sonderrege- lungen unterworfen. Eine Reihe von Grundrechten ist das so beschlossen. gilt ausdrücklich nur für Deutsche, und es folgen Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin weitere gesetzliche Diskriminierungen auf allen Ebe- Ulla Jelpke das Wort. nen des gesellschaftlichen Lebens. Eindrücklich hat die Berliner Ausländerbeauf- tragte, Frau John, beschrieben, wie Menschen durch Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! diese Bestimmungen erst zu Ausländern gemacht Meine Damen und Herren! Rassismus ist hierzulande werden und wie das Leben durch diese Sonderrege- nach herrschender Meinung immer noch ein nicht so lungen bestimmt ist. Dieses gesetzliche und institutio- richtig existierendes Phänomen. Am liebsten wird es nelle Normensystem, das Nichtdeutsche in einer verschwiegen oder zu einer völligen minoritären Reihe bürgerlicher Rechte ausschließt, pflanzt sich im Randerscheinung gemacht, wie die heftigen Reaktio- gesellschaftlichen Bewußtsein in der Weise fort, daß nen der Bundesregierung auf Kritik aus dem Ausland Deutsche immer zuerst kommen. zeigten und zeigen. Brigitte Erler, Vorsitzende des Forums „Buntes Zuletzt fühlte sich die Bundesregierung besonders Deutschland, SOS Rassismus", nennt u. a. folgende getroffen von der Kritik des UNO-Vertreters van Beispiele für institutionalisierte Diskriminierung: Boven, der die Frage stellte, ob sich hinter der politischen und juristischen Reaktion in der Bundes- Ein indischer Gast wird in einem Lokal nicht republik auf die rassistischen Übergriffe auf der bedient. Das Gericht bestätigt die Ausländer-Freund- Straße und durch die Polizei nicht strukturelle Pro- lichkeit des Wirtes, weil er Pakistaner in der Küche bleme verbergen würden. beschäftigt. Im August 1993 stellte der UN-Ausschuß gegen Der Bundesarbeitsminister verstärkte die Diskrimi- rassistische Diskriminierung u. a. fest: nierung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer ohne bevorrechtigte Arbeitserlaubnis Die zuständigen deutschen Institutionen sollten noch stärker als bisher. Zugunsten deutscher Arbeit- sich ernsthaft mit der Notwendigkeit eines umfas- nehmer müssen selbst bestehende Arbeitsverhält- senden Diskriminierungsgesetzes befassen, da nisse gekündigt werden. gegen Rassendiskriminierung auf solchen Gebie- ten wie Zugang zu Arbeit, Wohnung und anderen An fast allen Universitäten werden auf Wunsch des Anbieters Zimmer- und Jobangebote mit dem Ver- *) Anlage 5 merk „kein Ausländer" versehen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17523

Ulla Jelpke Selbstverständlich gehört hierher auch die Sparte Danke. „Ausländerkriminalität" in der „Kriminalstatistik", (Beifall bei der PDS/Linke Liste) die Innenminister Kanther ganz besonders heftig verteidigt. Dan Leskien vom Institut für Migrations- und Ras- sismusforschung in Hamburg belegt, daß im Bereich Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Erika der Kfz-Versicherungen der sogenannte Ausländer- Steinbach, Sie haben das Wort. zuschlag von 50 bis zu 150 % reicht. Diese Beispiele sind wahllos herausgegriffen und ließen sich unendlich fortsetzen. Erika Steinbach-Hermann (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einen Zu diesen juristisch und gesellschaftlich normierten Gesetzentwurf, der ungeeignet ist, irgendwelche kon- Diskriminierungen gehören auch die sich häufenden kreten Probleme zu lösen, erkennt man u. a. auch polizeilichen Einsätze wie z. B. in Erlangen. Dort daran, daß er von völlig falschen Voraussetzungen veranstaltet die Polizei regelmäßig ohne Gerichts- ausgeht. beschluß Razzien im Asylbewerberinnenheim. Die Begründung lautet ganz offiziell: „Das ist ein verrufe- (Beifall bei der CDU/CSU) ner Ort." Genau das ist bei dem hier vorliegenden Antrag der Meine Damen und Herren, die Entwicklung der PDS/Linke Liste der Fall. Schon im ersten Satz heißt letzten Jahre hat gezeigt, wie lebens- und demokra- es, so als ob dies eine unumstößliche Tatsache sei: tiebedrohend sich diese rassismusfördernden Struktu- „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwande- ren erweisen können. Gebetsmühlenartige Bekennt- rungsland. " Das stimmt nicht. nisse zur Ausländerfreundlichkeit helfen dagegen (Zuruf von der PDS/Linke Liste: So ist es!) sowenig wie wortgewaltige Hinweise auf Strafrecht, Deutschland ist kein Einwanderungsland und wird es Polizei und ein paar Tröpfchen Pädagogik. auch nicht sein können. Heute leben auf dem Gebiet Zu verwirklichen sind Gleichstellung und Gleich- der Bundesrepublik Deutschland rund doppelt so behandlung Nichtdeutscher mit den Deutschen in viele Menschen wie 1930 auf dem Gebiet des Deut- allen gesellschaftlichen Bereichen. Oder anders for- schen Reiches, das bekanntlich wesentlich größer muliert: Aufzuheben sind Schritt für Schritt institutio- war. nalisierte diskriminierende Vorschriften. Gestärkt Einwanderungsland zu sein bedeutet u. a. für werden muß — nicht nur in Sonntagsreden — die gezielte Zuwanderung gewollt offen zu sein. Doch das rechtliche und politische Stellung der Ausländerinnen kann die Bundesrepublik, das können wir ganz ein- und Ausländer. fach nicht leisten. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erster Schritt (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist dazu. Er zielt darauf, diskriminierende staatliche und es!) gesellschaftliche Behandlung von Ausländerinnen und Ausländern zu ächten und erste Schritte zur Erklärten wir uns dann trotzdem, weil dies in den Aufhebung der institutionellen Diskriminierung an- Ohren einiger Leute so besonders gut klingt, zum zugeben. Rassistisch motivierte Diskriminierung in Einwanderungsland, so würde das Hoffnungen in allen Lebensbereichen soll geahndet und die Wieder- vielen Teilen der Welt wecken, die wir dann niemals gutmachung von Schäden auf Grund derartiger Dis- erfüllen könnten. Uns fehlen die Möglichkeiten, denn kriminierung geregelt werden. die 600 000 bis 800 000 Menschen, die heute auf Grund von Ausnahmeregelungen hierher in unser Bestandteil des Entwurfs ist auch eine erste Berei- Land einreisen, sind bereits mehr als genug. Wir nigung vorhandener Gesetze von rassistischen Dis- haben Probleme, diese Massen zu bewältigen. Einen kriminierungen u. a. im Bundesbeamtengesetz, Ar- weiteren Spielraum dafür gibt es — jeder Mensch mit beitsförderungsgesetz, Hochschulrahmengesetz, Ge- Vernunft wird das einsehen — nicht. setz über den Versicherungsvertrag, Bundeswahlge- setz, Vereinsförderungsgesetz, in der Zivilprozeßord- (Beifall bei der CDU/CSU) nung und im Sozialgesetzbuch. Dazu soll die Stellung Eine weitere Annahme der PDS muß entschieden des oder der Ausländerinnen- und Ausländerbeauf- zurückgewiesen werden — sie ist einfach bösartige tragten zu einer Petitionsinstanz entwickelt werden, Polemik —, die Behauptung nämlich, daß jede unglei- die mit weitergehenden Kontroll- und Klagebefugnis- che Behandlung von Deutschen und von Ausländern sen ausgestattet ist. zwangsläufig rassistisch sei. Das zu behaupten heißt, Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß so ziemlich jeden Staat dieser Erde des Rassismus zu betonen, daß wir unsere Vorlage ausdrücklich als Teil bezichtigen, denn ich kenne keinen — Sie mögen mir der von verschiedenen Strömungen, Initiativen und einen nennen — Staat, der nicht in irgendeiner Form Parteiflügeln, besonders der F.D.P. und der SPD, und meistens noch viel weitgehender als Deutschland angestellten Überlegungen verstehen. Ich hoffe, im Unterschiede in der Behandlung von Staatsbürgern Laufe der weiteren Arbeit an diesem Gesetz werden und von Ausländern macht. Anregungen und Verbesserungen vorgebracht und (Beifall bei der CDU/CSU) umgesetzt werden. Aus diesem Grunde ist eine unterschiedliche Wir werden im Innenausschuß eine Anhörung dazu Behandlung normal. Sie ist zulässig und auf gar beantragen. keinen Fall rassistisch. Da muß man schon sehr 17524 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Erika Steinbach-Hermann verquer denken, wenn man zu einer anderen Schluß- Interesse der Menschen liegt es mit Sicherheit nicht, folgerung gelangt. auch nicht in dem der Asylbewerber; diese brauchen auch Rechtssicherheit. Das kann also in keines Men- (Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]: In vielen schen Interesse im Lande liegen. Fällen führt sie zu Rassismus!) Meine Damen und Herren, es kann überhaupt kein So ist z. B. die Beschränkung des freien Zugangs -zu Zweifel darüber bestehen, daß es Ziel einer guten Beruf, zu Arbeitsplatz und zu Ausbildung unerläßlich, Politik sein muß, daß sich alle Menschen, die in um den Arbeitsmarktzugang von Ausländern sinnvoll Deutschland leben — seien es Deutsche oder seien es zu steuern, um so mehr, wenn man selbst hohe Zahlen Ausländer —, keinen vermeidbaren Benachteiligun- von Arbeitslosen hat, wie wir in Deutschland. Außer- gen aussetzen müssen. dem ist es auch noch aus einem anderen Grund gar nicht sinnvoll, daß Ausländer in allen Bereichen Der enorme Zustrom von Menschen aus aller Her- Deutschen völlig gleichgestellt sind. Unser Ziel als ren Länder hierher nach Deutschland ist der beste CDU/CSU-Fraktion ist es nämlich, daß möglichst viele Beleg dafür, daß unser Staat hum an auch mit Auslän- der hier in Deutschland legal auf Dauer lebenden dern umgeht, denn sonst kämen diese Menschen nicht Ausländer eines Tages deutsche Staatsbürger wer- hierher in unser Land. den, daß sie sich zu diesem Land bekennen, indem sie (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) die Staatsbürgerschaft annehmen. Deshalb heißt das Die Vorschläge der PDS sind kontraproduktiv, was Ziel Integration. Ausländerpolitik anbelangt, und unausgereift. Im Die Zahl der Einbürgerungen ist heute noch viel zu übrigen aber richten sich die Intentionen Ihres Antra- gering. Würden wir in einer solchen Situation nun ges gegen die deutschen Staatsinteressen. Wir wer- auch noch den hier lebenden Ausländern die gleichen den diesem Antrag nicht positiv gegenüberstehen. Rechte wie den Deutschen einräumen, so würde (Beifall bei der CDU/CSU — Andrea Lederer jeglicher Anreiz genommen, sich um diese Staatsbür- [PDS/Linke Liste]: Das letzte war wahr gerschaft zu bemühen. Das wäre unserer Absicht scheinlich das einzig Wahre, was Sie gesagt diametral entgegengesetzt, die Einbürgerung und die haben!) Integration zu fördern. Integration dient dem Ziel, daß die Menschen friedlich miteinander leben, und damit dem Frieden dieses Landes. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Cornelie (Beifall bei der CDU/CSU) Sonntag-Wolgast, Sie haben das Wort. Im übrigen ist es hochinteressant, daß sich ausge- rechnet die PDS Sorgen um die Chancengleichheit Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Liebe Kolle- beim Zugang zum Arbeitsmarkt macht — das muß gen und Kolleginnen! Eine mit einem Afrikaner ver- man schon einmal feststellen —, denn Sie waren es heiratete Frau schildert folgendes Erlebnis bei der doch, als Sie noch unter dem Namen „SED" die DDR Wohnungssuche. Ich zitiere: beherrschten, die nicht das geringste Interesse an Die Hausmeisterin einer angebotenen Wohnung Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zeigten. zeigte mir sehr entgegenkommend die Wohnung Nur diejenigen, die absolut politisch konform waren, und das Haus. Dann sagte ich, daß wir uns sehr hatten eine Chance, sich hochzuarbeiten und hochzu- freuen würden, wenn wir diese Wohnung bekom- dienen oder hochzudienen, je nachdem, wie Sie es men könnten, denn bisher hätten wir noch kein sehen mögen. Glück gehabt — und ... mein Mann sei Auslän- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Ausländer der. — Pause. — Dann die Hausmeisterin: „Also, habt ihr doch als Kulis behandelt!) wir haben nichts gegen Ausländer." — Pause. — Da hätte einmal jemand versuchen sollen, einen „Sieht man's ihm denn an?" — Ich antwortete, Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung einfordern zu daß man es ihm natürlich ansehe, weil er aus dem Sudan komme. Der Rest des Gespräches war ein wollen. Er wäre wahrscheinlich in irgendeinem Stasi- Keller gelandet und traktiert worden. reiner Austausch von Höflichkeiten. Wir beka- men die Wohnung nicht. Was den Vorschlag eines Ausländerbeauftragten So erzählte diese Frau. Ich habe diese Schilderung des Bundestages betrifft, so habe ich Bedenken in bewußt gewählt, weil sie alltäglich ist und typisch. Sie bezug auf die Durchführbarkeit. Wir alle wissen, daß steht auch nicht für einen krassen Fall von Diffamie- die Gerichte schon heute mit den Asylverfahren, die rung und Herabsetzung, sondern für leise Abwehr sie zu bewältigen haben, mehr als ausgelastet sind. und unterschwelliges Mißtrauen. Wir können zwar Eines der Ziele des neuen Asylrechts war ja gerade, annehmen, daß die dunkle Hautfarbe des Ehemannes diesen Zustand zu verbessern. Grund für die Absage war; beweisen läßt es sich Wenn wir nun einen Ausländerbeauftragten des vermutlich nicht. Bundestages mit dem Recht schaffen, einem gericht- Natürlich stellt sich für uns die Frage, ob die Sache lichen Verfahren nach dem Asylverfahrensgesetz positiv hätte enden können, wenn wir ein Antidiskri- beizutreten, so wie Sie es ja in Ihrem Vorschlag minierungsgesetz hätten. wollen, so würde das Verfahren wiederum erheblich verkompliziert und die Bewältigung der mit den Art. 3 des Grundgesetzes sagt: Asylverfahren verbundenen Klagen durch die Ge- Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner richtsbarkeit wiederum unvertretbar verzögert. Das Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, sei kann doch auch nicht in Ihrem Interesse liegen. Im ner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, sei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17525

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast ner religiösen oder politischen Anschauungen Ohrenzeugen aktiv werden, daß sie Anzeige erstatten benachteiligt oder bevorzugt werden. und daß die Justiz den zur Verfügung stehenden Eigentlich reicht dieser Grundgesetzartikel völlig Strafrahmen voll ausschöpft. aus, verbietet im Grunde jede Art von Diskriminie- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ rung schlechthin. Und dennoch denken viele darüber DIE GRÜNEN — Dr. Walter Franz Altherr nach, ob und wie Menschen vor Verunglimpfung und- [CDU/CSU]: Die Zivilcourage!) Mißachtung gesetzlich geschützt werden müssen. Was machen wir aber mit dem anderen, mit Schil- Auch bei uns in der SPD gibt es solche Überlegungen dern an Lokalen mit der Aufschrift „Türken uner- schon seit langem. wünscht"? Wie reagieren wir auf einen Diskotheken- Von den Wohlfahrtsverbänden, den Menschen- besitzer, der einen Besucher wegen seines „fremdlän- rechtsorganisationen, den Kirchen kommt in jüngster disch" wirkenden Aussehens oder seines Akzentes Zeit die Forderung nach einem solchen Gesetz mit abweist? Was machen wir gegen den Busfahrer, der größerem Nachdruck. Das ist sicherlich auch ver- einen Ausländer harsch angeht, wenn er nicht rasch ständlich vor dem Hintergrund der Schmähungen und genug das abgezählte Kleingeld bereithält, was Gewalttaten gegen Minderheiten in diesem Land, gegen einen unverschämten Versicherungsagenten, und dazu zählen freilich nicht nur Ausländer, sondern der ausländische Kunden entweder abweist oder aber auch, wie wir leider wissen, Behinderte, Homosexu- zu schröpfen versucht? Darum geht es, um die ver- elle und Obdachlose. steckte, die schwer faßbare Benachteiligung, die m an Die Beispiele sind erschütternd. Was der jungen mit Gesetzesmaßnahmen eindämmen sollte. Insofern Rollstuhlfahrerin in Halle widerfuhr, der ein paar sind wir durchaus für entsprechende Überlegungen junge Leute unter Verwendung von Parolen wie „Heil und werden sie intensiv beraten. Hitler" und „Krüppel ins Gas" ein Hakenkreuz ins Ich warne allerdings zugleich davor, Antidiskrimi- Gesicht schnitten, ist nur das jüngste beschämende nierungsgesetze als Rezept mit wirklich durchschla- Beispiel. gendem Erfolg aufzufassen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat mit den (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Rich Ausländern nichts zu tun!) tig erkannt!) Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Behinderte Das lehrt auch der Blick über unsere Grenzen. Umfas- teilte dazu mit, daß in den vergangenen zwei Jahren sende Gesetze gibt es beispielsweise in den Vereinig- mehr als 80 Menschen in Deutschland wegen ihrer ten Staaten und in Großbritannien, interessante Behinderung überfallen wurden. Das ist also nur das Lösungsansätze in Schweden und in den Niederlan- Aktenkundige. den. Die Berichte über Mißhandlungen oder gar Ermor- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist dungen von Obdachlosen kennen wir. Auch Homose- ein gesamtgesellschaftliches Problem!) xuelle klagen immer öfter über Belästigungen bis hin zu massiven Bedrohungen. Gefruchtet haben sie dort etwa beim Zugang zu öffentlich angebotenen Dienstleistungen. Aber, liebe Alles das liefert nur den traurigen Beweis dafür, daß Kollegen und Kolleginnen, das heißt noch lange nicht, sich dumpfe Aggressionen gegen Schwache in dieser daß sich Ausländerinnen und Ausländer in diesen Gesellschaft überhaupt richten und daß rechtsradika- Staaten wirklich gleichberechtigt, angesehen und als les Gedankengut in den Köpfen nistet und sich gegen voll akzeptiert fühlen können. Denn das besagt die Minderheiten kehrt. Angesichts dieser Atmosphäre Statistik ebenfalls: Ihr Anteil an der Arbeitslosigkeit ist müssen wir uns tatsächlich fragen, ob das bisher weiter überproportional hoch; die Versorgung mit vorhandene Instrumentarium von Verfolgung, Ab- erschwinglichen Wohnungen ist schlechter als bei der wehr und Strafe ausreicht. Nach einer Untersuchung einheimischen Bevölkerung. Erfolgreicher waren und des Düsseldorfer Sozialministeriums bezeichnen fast sind konkrete Förderprogramme. 50 % der Ausländerinnen und Ausländer den Frem- denhaß als großes Problem. Fragt man allerdings, ob Auch das Folgende muß man sehen: Fremdenfeind- sie sich persönlich schlecht behandelt fühlen, dann liche Strömungen, Gewalttaten gegen Minderheiten bejahen das nur 10 %. — sei es aus rechtsradikaler Gesinnung heraus oder aus Wut und Frust über die eigene soziale Lage — (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sehen lassen sich mit Gesetzen wohl leider nicht eindäm- Sie!) men. Deswegen halte ich beim Gesetzentwurf der Mit anderen Worten: Diskriminierung ist zweifellos PDS/Linke Liste schon den Titel, nämlich „Antirassis- vorhanden, aber oft nicht dingfest und an einer musgesetz", für verfehlt. bestimmten Person festzumachen. Wo sie sich in Wir sollten uns aber auch davor hüten, den Auslän- offener und krasser Form darstellt, haben wir das derinnen und Ausländern vorzugaukeln, sie könnten Strafrecht als Waffe. Ich nenne die Stichworte — sie praktisch vom ersten Tag ihres Aufenthalts in der sind bekannt —: Volksverhetzung, Beleidigung, üble Bundesrepublik an alle Rechte deutscher Staatsbür- Nachrede, Verleumdung, Gewaltdarstellung, Ansta- ger für sich beanspruchen. Das geben unsere auslän- chelung zum Rassenhaß. Wenn diese Straftatbestände derrechtlichen Bestimmungen nicht her, und das wird konsequent angewendet werden, sollten sie als auch nicht die nötige Akzeptanz finden. Das sage ich Schutz genügen. Voraussetzung ist allerdings, daß in vollem Bewußtsein als Mitglied einer Fraktion, die sich nicht nur die Opfer selbst zu Wort melden, nun wahrhaftig mit Nachdruck dafür kämpft und sondern die Bürgerinnen und Bürger als Augen- und darauf drängt, den Ausländerinnen und Ausländern 17526 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast bessere und schnellere Integration und die volle nicht gewohnt ist, mit Ausländern zusammenzuleben. Teilhabe am politischen Geschehen zu ermöglichen. Es empört mich auch heute noch unverändert, wenn Denken Sie an unseren Entwurf für ein fortschrittli- ich an die menschenunwürdige Behandlung und die cheres Ausländergesetz; denken Sie an die Initiativen massive Diskriminierung von Vietnamesen, Mosam- zur erleichterten Einbürgerung und für das kommu- bikanern und Kubanern unter der Verantwortung der nale Wahlrecht auch für Bürger aus Staaten außerhalb SED denke. der Europäischen Gemeinschaft. Aber ganz ohne (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Fristen und Abstufungen wird das nicht abgehen, und Es geht nicht, daß Sie darüber hinweggehen, als ob Sie wer anderes verspricht, erweckt Illusionen. Dies sage die Vergangenheit nichts mehr anginge. Sie geht uns ich auch an die Adresse der Verfasser des Entwurfs. sehr wohl etwas an und wirkt bis heute nach. Es hätte Im Ansatz richtig ist dagegen der Vorschlag zur Ihnen gut angestanden, in der Begründung zu Ihrem Stärkung des Amtes der Ausländerbeauftragten. Er Gesetzentwurf die Integrationsleistung, die in der gehört seit langem ja auch bei uns zum Repertoire der Bundesrepublik gegenüber Ausländern erbracht wor- Forderungen. den ist, andächtig zu bestaunen, ehe Sie uns hier Am ehesten bieten sich Antidiskriminierungsrege- Vorwürfe machen. lungen im Privat- und Arbeitsrecht an. Sie können (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) beispielsweise dafür sorgen, daß Hindernisse bei der Es ist zutreffend, daß es ungerechtfertigte Diskrimi- Einstellung, beim Aufstieg und bei der beruflichen nierungen von Ausländern in der Bundesrepublik Entfaltung abgebaut werden, wie wir es entsprechend Deutschland gibt. Es gibt viele Witze darüber. Wir ja auch mit unseren Vorstellungen zur Gleichstellung wissen das hinsichtlich der Wohnungssuche. Das ist von Frauen und Männern wollen. Diese Gesetze dargestellt worden. Das gibt es am Arbeitsmarkt. Wer könnten die Verbandsklage ermöglichen, damit sich das vergessen hat, den erinnere ich an die Erlebnisse die Betroffenen bei ihrer Klage gegen Benachteiligun- von Günter Wallraff als angeblicher türkischer Arbeit- gen, Kränkungen und Beleidigungen nicht allein auf nehmer. Da hat sich nicht viel geändert. weiter Flur bewegen müssen. Ich weiß nur nicht, ob man das mit einem Gesetz Mein Fazit: Wir begrüßen den Anlaß, daß das verändern kann. Ein Volk, das zu viele Gesetze hat, Parlament sich mit dem Pro und Kontra befaßt, wobei wird zu viele Gesetze brechen. ein anderer Zeitpunkt als diese abendliche Stunde dem Thema wahrhaftig angemessen wäre. Wir wer- Mich stört auch der Grundgedanke des Teils Ihres den die Einzelheiten in einer jetzt gegründeten Entwurfs, wonach jede Behauptung einer Diskrimi- Arbeitsgruppe sorgfältig diskutieren. Wir werden nierung ausreichen soll, um eine tatsächliche Diskri- nicht nur im Ausschuß, sondern auch an vielen ande- minierung zu unterstellen, wenn der Beschuldigte ren Stellen darüber sorgfältig beraten. nicht seinerseits das Gegenteil beweisen kann. Wenn wir ein solches Staatsverständnis einreißen lassen, Ich finde, positive Signale sind allemal gut und daß der Staat seinem Bürger im Grundsatz nicht mehr wichtig, vor allem für diejenigen, die sich durch eine traut, sondern ihn als potentiellen Rechtsbrecher unsoziale Politik und das hemmungslose Regiment behandelt, wenn er sich nicht entlasten kann, dann des Ellenbogens zunehmend an den Rand gedrängt sind wir auf dem Weg in den Überwachungsstaat. fühlen. (Beifall der Abg. Erika Steinbach-Hermann Ich danke Ihnen. [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Dann wird aus dem Rechtssystem ein System aus Kontrollen und Strafen. Das gilt nicht nur für diesen Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Burk- Gesetzentwurf, sondern für andere auch. hard Hirsch, Sie haben das Wort. In einem anderen Teil des Gesetzentwurfs schlagen Sie vor, alle Grundrechte auch auf Ausländer auszu- dehnen und aus einer ganzen Reihe von einzelnen Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man an die Rechtsvorschriften Sonderregelungen für Ausländer wirklich haarsträubende Ausländerpolitik denkt, die herauszunehmen. die PDS unter dem Namen „SED" in der früheren DDR betrieben hat, dann muß man sich, liebe Frau Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hirsch, die Jelpke, schon ernsthaft fragen, ob sich die PDS nicht Kollegin Jelpke würde gern eine Zwischenfrage stel- selbst bei der Vorlage oder wenigstens in der Begrün- len. Sind Sie einverstanden? dung ihres Gesetzentwurfes mit dieser haarsträuben- den und wirklich bösen Vergangenheit auseinander- Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Aber natürlich. setzen müßte, wenn sie von uns verlangt, daß wir uns mit diesem Gesetzentwurf ernsthaft auseinanderset- (PDS/Linke Liste): Herr Dr. Hirsch, ich zen. Ulla Jelpke bin mit Ihnen einer Meinung, daß es auch in der DDR (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und sehr unmenschliche Verhältnisse für die Vietnamesen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und überhaupt für Ausländerinnen und Ausländer Sie haben selber nicht in der DDR gelebt. Das weiß gegeben hat. Ich möchte Sie aber dennoch fragen, wie ich. Ich mache Ihnen persönlich gar keinen Vorwurf, Sie es sehen, daß hier in den letzten zwei, drei Jahren aber es ist doch ganz unbestreitbar, daß die Politik der mehr als 40 Menschen bei rassistisch motivierten SED eine erhebliche Schuld daran hat, daß ein bedeu- Überfällen ums Leben gekommen sind. Ist Ihnen tender Teil der deutschen Bevölkerung überhaupt eigentlich bekannt, wie viele Menschen in der DDR in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17527

Ulla Jelpke dieser Zeit ums Leben gekommen sind, da Sie eben so Interessen sie auch gegen Widerstände vertreten muß, hervorgehoben haben, daß es dort sehr viel gestärkt und gesetzlich geregelt werden sollte. unmenschlicher als hier im Westen gewesen sei? (Beifall bei der F.D.P., der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Jelpke, nehmen Der Entwurf schießt über das berechtigte Ziel weit Sie nicht persönlich, was ich Ihnen antworte. Mir hinaus, aber er beschäftigt sich mit Problemen, die kommt ein Zitat von Theodor Heuss in den Kopf: nicht ausreichend gelöst sind. Das sollten wir bei der Das Unrecht, das man selbst begangen hat, mit weiteren Behandlung der Themen bedenken. dem Unrecht anderer zu entschuldigen ist das Vielen Dank. Vorrecht der moralisch Minderwertigen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der (Beifall bei der F.D.P, der CDU/CSU, der SPD SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN) In einem anderen Teil des Gesetzentwurfs wird also vorgeschlagen, Grundrechte auch auf Ausländer aus- Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Konrad Weiß zudehnen und aus einer ganzen Reihe von einzelnen möchte seine Rede zu Protokoll geben.') Ist das Haus Rechtsvorschriften Sonderregelungen für Ausländer damit einverstanden? herauszunehmen. Das ist ein Vorschlag, der nicht neu ist. Ich denke daran, daß es in den Niederlanden eine (Zuruf von der F.D.P.: Jawohl! — Martin ausführliche Untersuchung über die sachliche Be- Göttsching [CDU/CSU]: Ausnahmsweise rechtigung von Gleich- oder Ungleichbeh andlung mal!) von Ausländern im Rechtssystem gegeben hat. Wir — Dies ist der Fall. Dann schließe ich die Ausspra- sollten uns das ganz unabhängig vom weiteren parla- che. mentarischen Schicksal dieses Gesetzentwurfes zum Vorbild nehmen und auch unser eigenes Rechtssy- Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des stem daraufhin gründlich durchforsten. Man kann Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/6245 an die in der Ausländer nicht grundsätzlich wie Deutsche behan- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es deln, aber man muß sich sehr sorgfältig ansehen, ob dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der für eine Differenzierung ein sachlicher Grund gege- Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. ben ist oder ob das einfach nur so ist, weil es immer so Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- war. ordnung. Letzte Bemerkung. Zu den Vorschlägen über eine Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- gesetzliche Regelung der Rechtsstellung der Auslän- destages auf morgen, Freitag, 14. Januar 1994, 9 Uhr derbeauftragten: Wir sind der Auffasung, daß ihre ein. Rechtsstellung gesetzlich geregelt werden sollte. Wir würden das erheblich zurückhaltender tun als in dem Die Sitzung ist geschlossen. Entwurf, aber der Grundgedanke ist richtig, daß die (Schluß der Sitzung: 20.22 Uhr) Rechtsstellung der Ausländerbeauftragten angesichts der großen Zahl von Menschen, deren berechtigte *) Anlage 6

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17529*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 6 Abgeordnete(r) entschuldigt bis (Große Anfrage: Situation der psychisch Kranken einschließlich in der Bundesrepublik Deutschland) Barbe, Angelika SPD 13. 1. 94 Bock, Thea SPD 13. 1. 94 Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Seit Veröffentlichung Büchler (Hof), Hans SPD 13. 1. 94* der Psychiatrie-Enquete sowie seit dem Abschluß des Dr. Dregger, Alfred CDU/CSU 13. 1. 94 Modellprogrammes der Psychiat rie in der zweiten Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. 13. 1. 94 Hälfte der 80er Jahre hat sich in den alten Bundeslän- Fuchs (Verl), Katrin SPD 13. 1. 94 dern die Versorgung der psychisch Kranken erheblich Gattermann, Hans H. F.D.P. 13. 1. 94 verbessert, ohne daß diese bisher als zufriedenstel- Dr. Gautier, Fritz SPD 13. 1. 94 lend bezeichnet werden kann. In den neuen Ländern bedarf die psychiatrische Krankenversorgung einer Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 13. 1. 94 Weiterentwicklung, um zunächst den Stand der alten Dr. Glotz, Peter SPD 13. 1. 94 Bundesländer zu erreichen. Hier ist insbesondere Grünbeck, Josef F.D.P. 13. 1. 94 vordringlich die Neustrukturierung der großen Lan- Hanewinckel, Christel SPD 13. 1. 94 deskrankenhäuser sowie der Aufbau eines gemein- Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 13. 1. 94 depsychiatrischen Versorgungsverbundes zu erwäh- Heyenn, Günther SPD 13. 1. 94 nen. Janz, Ilse SPD 13. 1. 94 Im folgenden seien einige Gedanken angeführt, Jung (Limburg), Michael CDU/CSU 13. 1. 94 wohin sich die Psychiatrie in der Bundesrepublik in Kiechle, Ignaz CDU/CSU 13. 1. 94 den nächsten Jahren weiterentwickeln muß: Lamp, Helmut CDU/CSU 13. 1. 94 Erstens. Eine gemeindenahe Psychiatrie muß in Löwisch, Sigrun CDU/CSU 13. 1. 94 Deutschland aufgebaut werden, wobei es hier insbe- Lüder, Wolfgang F.D.P. 13. 1. 94 sondere auf eine Vernetzung der ambulanten und Lummer, Heinrich CDU/CSU 13. 1. 94* stationären Versorgung ankommt. Besonders bedarf Dr. Matterne, Dietmar SPD 13. 1. 94 es auch psychiatrischer Teilzeiteinrichtungen sowie Dr. Menzel, Bruno F.D.P. 13. 1. 94 aufsuchender Dienste, um hier den Besonderheiten Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 13. 1. 94 psychisch Kranker gerecht werden zu können. Ziel Müller (Pleisweiler), SPD 13. 1. 94 dieser vernetzten Versorgungsstruktur soll u. a. Albrecht sein: Müller (Zittau), Christian SPD 13. 1. 94 - Stationäre Behandlungen bei Ersterkrankungen Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 13. 1. 94 möglichst zu vermeiden oder möglichst zu verkür- Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 13. 1. 94 zen, Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 13. 1. 94 - Verbesserung der Behandlungschancen und der Susanne Rehabilitation vor allem für chronisch psychisch Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 13. 1. 94 Behinderte durch untereinander verbundene Hil- Hermann fen, Reuter, Bernd SPD 13. 1. 94 - Aktivierung und Stärkung des Selbsthilfepotenti- Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 13. 1. 94 als der Betroffenen, Ingrid Schell, Manfred CDU/CSU 13. 1. 94 - Vermeidung einer Ausgliederung aus gewohnten Dr. von Teichman, F.D.P. 13. 1. 94 Zusammenhängen des Alltags. Cornelia Zweitens. Eine zentrale Bedeutung wird, bedingt Voigt (Frankfurt), SPD 13. 1. 94 durch die Alterspyramide in Deutschland, die Alters- Karsten D. psychiatrie in Zukunft einnehmen. Es wird zuneh- Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 13. 1. 94 mend Menschen mit psychischen Altersbehinderun- Weisskirchen (Wiesloch), SPD 13. 1. 94 gen und Verwirrtheit geben. Hier sind alle Anstren- Gert gungen zu unternehmen, um für diese Menschen eine Dr. Wieczorek, Norbert SPD 13. 1. 94 Heimaufnahme möglichst zu vermeiden bzw. mög- Dr. Wieczorek CDU/CSU 13. 1. 94 lichst weit hinauszuzögern. Insbesondere bedarf es (Auerbach), Bertram hier der Einrichtung von aufsuchenden Diensten. Hier Wieczorek (Duisburg), SPD 13. 1. 94 sollten kurzfristig Fachkrankenschwestern/-pfleger Helmut für Psychiatrie an vorhandene Sozialstationen und Sozialdienste angebunden werden, die alterspsychia- Dr. Wisniewski, Roswitha CDU/CSU 13. 1. 94 trisch erkrankte Menschen in der Wohnung aufsu- Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 13. 1. 94 chen und hier Hilfestellung gewähren. Dies bedeutet Wolf, Hanna SPD 13. 1. 94 konkret psychiatrische Basispflege, aber auch Kon- * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- taktaufnahme mit behandelnden Ärzten, Kliniken lung des Europarates oder anderen Institutionen. 17530* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Drittens. Es sind die Konzepte der Betreuung von gefordert sind, neue Wege in der Versorgung psychia- Suchtkranken, und hier der Alkoholkranken, weiter- trisch behinderter Menschen zu gehen. zuentwickeln. Insbesondere bedarf es bei Alkohol- Dies wird die vordringliche Aufgabe der nächsten kranken einer effizienten und reibungslosen Zusam- Jahre sein. menarbeit zwischen der gesetzlichen Krankenversi- cherung und den für die Rehabilitation zumeist zuständigen Rentenversicherungsträgern, um immer noch bestehende unnötige Wartezeiten auf Thera- pieplätze vermeiden zu helfen. Förderung und Aus- bau der Prävention haben dabei Vorrang und sollten Anlage 3 flächendeckend realisiert werden. Insbesondere sind hier auch freie Berufe wie niedergelassene Ärzte, zu Protokoll gegebene Reden niedergelassene Diplompsychologen mit einzubezie- zu Tagesordnungspunkt 7 hen, wobei entsprechende Honorierungen durch die (Entwurf eines Fünften gesetzliche Krankenversicherung sichergestellt wer- Gesetzes den müssen. zur Änderung des Arzneimittelgesetzes) Viertens. Die psychotherapeutische Versorgung insbesondere auch der psychiatrisch Erkrankten soll Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: durch das vorgesehene psychologische Psychothera- Nur wenige Tage, nachdem sich der Bundesrat mit peutengesetz der Bundesregierung weiter verbessert dem Entwurf zum 5. Gesetz zur Änderung des Arznei- werden und in absehbarer Zeit auch flächendeckend mittelgesetzes beschäftigt hat, hat es Vorfälle gege- sichergestellt werden. ben, die es zwingend erforderlich machen, das Arz- neimittelgesetz sehr viel weitgehender zu ändern, als Fünftens. In weiteren Modellprojekten bedürfen zunächst geplant: insbesondere drei psychiatrische Risikogruppen be- sonderer Beachtung, was die Entwicklung psychiatri- — mangelnde Sorgfalt bis hin zum Verdacht auf scher Versorgungskombinationen aus den Elementen vorsätzliche Mißachtung von Sicherheitsstandards psychiatrischer Behandlung, Beratung, sozialer Be- beim Umgang mit Blut und Blutprodukten, treuung, psychiatrischer Pflege und Hilfen im Alltags- — menschliches und technisches Versagen in diesem bereich angeht. Hier sind insbesondere drei Gruppen hochsensiblen Bereich haben verständlicherweise zu benennen: das Vertrauen in die Sicherheitsstandards erschüt- — chronisch psychiatrisch erkrankte und von Chroni- tert. fizierung bedrohte Menschen im noch erwerbsfä- Verhaftungen Beteiligter und bundesweite Rück- higen Alter, rufaktionen von Blutprodukten sind erfolgt. Wir muß- — psychiatrisch alterskranke Menschen, ten erfahren, daß der unbest ritten hohe Sicherheits- standard, den wir in Deutschland auch durch entspre- — psychiatrisch kranke Kinder und Jugendliche. chende Regelungen des Arzneimittelgesetzes erreicht Hier sollten für die neuen Bundesländer entspre- haben, durch menschliches und technisches Versagen chende Sonderprogramme vorgehalten werden, um in Frage gestellt worden ist. erstmals überhaupt Versorgungsstrukturen zu schaf- Gefährdungen ausschließen: Angesichts dieser f en. Vorfälle war schnelles Handeln nicht nur erforderlich, Sechstens. Konsequent sollte überprüft werden, es war zwingend notwendig. inwieweit psychiatrische Leistungen der Gesund- — Deshalb haben die Länder sofort die Überwachung heitsanbieter, die gegenwärtig noch in Institutionen und Kontrolle der Herstellerbetriebe verstärkt. erbracht werden, beispielsweise an Freiberufler über- — tragen werden können, die diese individueller und Deshalb haben wir dafür gesorgt, daß zum 1. Ja- oftmals flexibler als Institutionen anzubieten vermö- nuar 1994 eine Anordnung zur Quarantänelage- rung von lagerfähigen, nicht inaktivierbaren Blut- gen. produkten in Kraft getreten ist. Danach müssen ab Fazit: Der gegenwärtige Stand der psychiatrischen spätestens 1. Januar 1995 die entsprechenden Versorgung in den alten Bundesländern hat sich Produkte quarantänegelagert sein, wenn sie in unzweifelhaft in den vergangenen 10 Jahren verbes- Verkehr gebracht werden. Durch diese Quarantä- sert, jedoch ist er noch weiter entwicklungs- und nelagerung kann die sogenannte diagnostische verbesserungsbedürftig. In den neuen Bundesländern Lücke geschlossen werden. müssen zunächst erst Versorgungsstrukturen ge- — Deshalb wird durch Verordnung die Chargenprü- schaffen werden, damit eine gemeindenahe Psychia- fung, die bisher nur für Impfstoffe und Sera galt, trie ansatzweise entstehen kann. Hier sind insbeson- ausgeweitet auf alle Blutprodukte, die inaktiviert dere die psychiatrischen Großkrankenhäuser der werden können, d. h. in denen das HI-Virus zer- neuen Bundesländer zwingend auch bezüglich der stört werden kann. baulichen Qualität verbesserungsbedürftig. Die ge- genwärtige Einschränkung der ökonomischen Res- Mit diesen Sofortmaßnahmen ziehen wir die nöti- sourcen im Gesundheitswesen sollte insbesondere die gen Konsequenzen, damit der hohe Sicherheitsstan- sehr stark betroffenen psychiatrisch erkrankten Men- dard, den wir im Umgang mit Blut und Blutprodukten schen (hier z. B. chronisch schizophrene Kranke) nur haben, künftig auch eingehalten und verbessert bedingt betreffen, wobei die Leistungserbringer wird. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17531*

Dennoch sage ich ganz deutlich: Das ist nicht Es geht des weiteren um Schritte zur Verbesserung genug. Wir müssen im Zuge dieser 5. AMG-Novelle der Risikoüberwachung und zur Erweiterung der dafür sorgen, daß das Sicherheitsnetz für Arzneimittel Anordnungsbefugnisse der Zulassungsbehörde. und insbesondere für Blut und Blutprodukte noch Ich nenne hier insbesondere: enger geknüpft wird. Wir müssen also quasi einen „doppelten Boden" in das Arzneimittelgesetz einzie- — eine Ausweitung der arzneimittelrechtlichen Mel- hen und für weitere Verbesserungen im Hinblick auf- depflichten bei Nebenwirkungen für pharmazeuti- die Sicherheit im Umgang mit sensiblen Arzneimitteln sche Unternehmer; bei bekannten Stoffen, also wie Blut und Blutprodukten sorgen. auch bei Blutprodukten, sollen auch solche einzel- nen Verdachtsfälle schwerwiegender Nebenwir- Die Sicherheit von Blut und Blutprodukten muß in kungen angegeben werden, die bereits bekannt, allen einzelnen Punkten — von der Herstellung sol- also bereits in der Packungsbeilage angegeben cher Produkte über die Intensivierung der Überwa- sind. chung bis hin zu Haftungsfragen — auf den Prüf- stand. — Weiterhin nenne ich die Verankerung einer Mel- depflicht der Ärzte im Arzneimittelgesetz. Eine Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung solche arzneimittelrechtlich verankerte Melde- zur Stellungnahme des Bundesrates aufgezeigt, wel- pflicht für Verdachtsfälle schwerwiegender Ne- che Maßnahmen auf den Prüfstand gehören. Ich weiß, benwirkungen vermittelt der Zulassungsbehörde daß es zu unseren Vorschlägen im einzelnen noch mehr relevante Informationen aus erster Hand. Diskussionsbedarf gibt. Durch solche direkten Meldungen wird der drin- Und deshalb sage ich sehr deutlich: Es darf nicht bei gend gewünschte fachliche Dialog zwischen der Diskussionen bleiben. Wir dürfen nicht warten, bis Zulassungsbehörde und den meldenden Ärzten erneut Mißstände ans Tageslicht treten. Hier geht es erheblich erleichtert. um die Gefährdung von Menschenleben — das sollten — Und ich nenne die Erweiterung der Auflagenbe- sich all diejenigen in Erinnerung rufen, die glauben, je fugnis der Zulassungsbehörde in § 28, die insbe- länger Fälle von konkretem Fehlverhalten zurücklie- sondere z. B. bei Blutprodukten die Anordnung gen, um so geringer werde der Handlungsbedarf. von Inaktivierungsverfahren bereits im Rahmen Eine aidsinfizierte Mutter hat mir im Gespräch mit der Risikovorsorge ermöglicht. Dies ist eine zusätz- Tränen in den Augen gesagt: „Sorgen Sie dafür, daß liche Sicherheitsmaßnahme im Vorfeld der eigent- unseren Kindern ein solches Schicksal erspart bleibt." lichen Gefahrenabwehr. — Das muß für uns Auftrag und Verpflichtung sein. Damit wird sichergestellt, daß vorsorglich bereits Das, was heute schon machbar ist, müssen wir auch vor einem begründeten Verdacht Hinweise auf Risi- heute bereits tun. Darüber hinaus werden wir — so- ken aus der medizinischen Wissenschaft ausreichen, bald Ergebnisse des Untersuchungsausschusses vor- um Auflagen anordnen zu können. Gefährdungen liegen — gegebenenfalls weitere gesetzgeberische müssen frühzeitig ausgeschlossen werden. Agieren, Konsequenzen ziehen. nicht reagieren muß die Devise sein. Bis dahin aber dürfen wir nicht we rtvolle Zeit Ferner geht es um Maßnahmen zur Intensivierung verstreichen lassen. Und deshalb müssen wir alles, der Überwachung. Dies bet rifft insbesondere die was bereits jetzt in der 5. AMG-Novelle umsetzbar ist, Beteiligung von Sachverständigen der Zulassungsbe- auch angehen. hörde bei der Inspektion von Herstellungsbetrieben. Die bereits derzeit mögliche und teilweise praktizierte Im Bereich der Anforderungen an die Herstellung Beteiligung von Sachverständigen aus den Zulas- von Blutprodukten können wir zusätzliche Sicherheit sungsbehörden bei der Überwachung von Be trieben, bzw. Verbesserungen durch folgende Maßnahmen die Blutprodukte verarbeiten, soll durch eine „Soll erreichen: Vorschrift" verbindlicher gemacht werden. Die Über- — das Festschreiben von speziellen Anforderungen wachung der Be triebe wird dadurch qualitativ erheb- im Hinblick auf transfusionsmedizinische Berufs- lich verbessert. erfahrungen von Herstellungsleitern, Kontrollei- Wir denken im übrigen daran, die Zuständigkeit für tern und Stufenplanbeauftragten im Unterneh- die Zulassung, Risikoüberwachung und Chargenprü- men, die Blutprodukte gewinnen oder abgeben; fung von Blutprodukten weitgehend beim Paul-Ehr- — die Klarstellung, daß für die Gewinnung von Blut lich-Institut zu konzentrieren. Damit werden die Auf- und Plasma eine Herstellungserlaubnis zwingend gaben des Bundes für immunologische Arzneimittel erforderlich ist; dies verdeutlicht zweifelsfrei, daß und Blutprodukte zusammengefaßt. Dies stärkt die auch bei der beabsichtigten weiteren industriellen Kompetenz. Verarbeitung bereits bei der Entnahme von Blut Ein weiterer wichtiger Bereich ist der Import von aus dem menschlichen Körper das Arzneimittelge- Blut und Blutprodukten. Um hier größere Sicherheit setz greift. zu erreichen, sollen Importe von Plasma und Blutpro- — Ferner soll im Arzneimittelgesetz eine amtliche dukten aus Staaten außerhalb der EU ausnahmslos Sammlung von Untersuchungsverfahren veran- nur noch dann erlaubt sein, wenn ein aussagekräfti- kert werden. Eine solche vom Arzneimittelinstitut ges Zertifikat über den Herstellungsbetrieb vorliegt zu veröffentlichende Sammlung kann z. B. für oder deutsche Behörden den Be trieb zuvor inspiziert bestimmte Untersuchungen doppelte Tests oder haben. Zudem soll durch Rechtsverordnung die Ein- Ringversuche als fachlich verbindlichen Stand fuhr von Blut oder Plasma aus bestimmten Risikore- festschreiben. gionen verboten werden können. 17532* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Und schließlich geht es um die wichtige Frage der aber klar, daß dieser Spezial-Fonds kein Modell für Haftung. Die Situation der durch HIV-verseuchte die Behandlung arzneimittelrechtlicher Haftungsfälle Blutprodukte geschädigten Patienten, das Ringen um sein kann. Vielmehr halte ich hier gesetzliche Rege- eine auch nur im Ansatz angemessene Entschädigung lungen für erforderlich, die besser als bisher die hat uns klar vor Augen geführt, daß die Haftungsbe- Gerechtigkeit im Einzelfall gewährleisten. stimmungen des Arzneimittelgesetzes nicht ausrei- Was ich für den Bereich Blut und Blutprodukte chen. gesagt habe, gilt natürlich auch für alle anderen Es darf nie mehr dazu kommen, daß durch Arznei- Arzneimittel: Wir müssen den hohen Stand der Arz- mittel geschädigte Menschen wie Bittsteller und Bett- neimittelsicherheit und den Patientenschutz ständig ler von Tür zu Tür geschickt und überall abgewiesen weiter entwickeln. Und genau dies tun wir mit der werden, wenn sie finanzielle Entschädigung verlan- 5. AMG-Novelle, die folgende Schwerpunkte hat. gen. Menschliches Leid können wir nicht lindern. Zum einen geht es darum, das Arzneimittelgesetz Aber wir müssen dafür sorgen, daß es klare rechtliche und das Heilmittelwerbegesetz an Richtlinien der Regelungen im Hinblick auf finanzielle Entschädi- Europäischen Gemeinschaft anzugleichen. Sie wis- gungen gibt. sen, es sind rund 10 neue EG-Richtlinien, die die eine Die rechtliche Situation für Geschädigte ist insbe- oder andere Gesetzesänderung erforderlich machen. sondere dann schwierig, wenn sie mehrere Arzneimit- Sie wissen auch, daß das deutsche Recht bereits tel erhalten haben und nicht festgestellt werden kann, weitgehend den neuen gemeinschaftsrechtlichen welches dieser Arzneimittel den Schaden verursacht Anforderungen entspricht, so daß es lediglich um hat. einige Ergänzungen geht, für die ich folgende Bei- spiele nennen möchte: Ich gebe zu: Auf den ersten Blick erscheint der Vorschlag des Bundesrates, der auf eine Umkehr der — Die Kennzeichnung und Packungsbeilage werden Beweislast hinausläuft, verlockend. EG-einheitlich gestaltet. Dazu gehört etwa auch, daß Durchdrückpackungen bzw. Blisterpackun- Aber, meine Damen und Herren, machen wir uns gen in Zukunft über den Hersteller, das Verfallda- nichts vor: Mittel- und sogar langfristig ist der Vor- tum und die Chargennummer informieren müs- schlag nicht umsetzbar. Er verstößt gegen die Grund- sen. prinzipien unseres Haftungsrechts. Die Arzneimittel- haftung würde sich damit vom allgemein im Zivilrecht — In der Packungsbeilage wird der Patient aufgefor- zugrunde liegenden Zurechnungskriterium — dem dert, dem Arzt oder Apotheker jede etwaige Verursacherprinzip — weit entfernen. Zudem sind die Nebenwirkung mitzuteilen, die nicht bereits in der Probleme, die sich aus der EG-Produkthaftungsricht- Packungsbeilage aufgeführt ist. linie ergeben, kaum überwindbar. — Aus Gründen des Verbraucherschutzes bei Le- Sinnvoller — gerade im Interesse der Menschen — bensmitteln tierischen Ursprungs werden weitere ist es deshalb, hier nach Wegen zu suchen, die kurz- Einschränkungen für Herstellung, Anwendung bzw. mittelfristig realisierbar sind. Ein Ansatzpunkt ist und Verschreibung von Tierarzneimitteln vorge- hier z. B., für einen für den Geschädigten in der Regel nommen. Bei Tieren, von denen Lebensmittel erfüllbaren Beweismaßstab zu sorgen. Und es ist gewonnen werden, dürfen in Zukunft nur solche erfreulich, daß die Ge richte offenbar bereit sind, den Arzneimittel eingesetzt werden, die für die ent- Kausalitätsnachweis in Produkthaftpflichtfällen er- sprechende Tierart zugelassen sind. Die Anwen- heblich zu erleichtern. dung homöopathischer Arzneimittel bleibt weiter- hin erlaubt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, für Sonder- fälle neben der Gefährdungshaftung nach § 84 des — Für die Arzneimittelinformation soll beim Herstel- Arzneimittelgesetzes einen Entschädigungsfonds ler in Zukunft ein Arzt, Apotheker oder Tierarzt nach dem Vorbild des „Entschädigungsfonds für verantwortlich sein. Schäden aus Kraftfahrzeugunfällen" nach § 12 des Soweit zur Umsetzung von EG-Recht. Pflichtversicherungsgesetzes einzurichten. Im zweiten Schwerpunkt sollen Maßnahmen zur Ein solcher Fonds könnte neben den Fällen unge- Fortentwicklung des Gesetzes und zur Verbesserung klärter Ursächlichkeiten auch solche Fallgestaltungen des Vollzugs getroffen werden. erfassen, in denen der pharmazeutische Unternehmer Insbesondere hinsichtlich des Vollzugs haben wir entgegen dem Arzneimittelgesetz Arzneimittel ohne sehr strenge Maßstäbe angelegt und uns auf wichtige Zulassung und ohne Deckungsvorsorge in den Ver- Schwerpunkte beschränkt. Die Bundesregierung hat kehr gebracht hat. ja mit dem AMG-Erfahrungsbericht 1993 dem Deut- Für verbesserungsbedürftig halte ich auch die schen Bundestag eine umfassende Auswertung und Rechtslage beim Schmerzensgeldanspruch. Ein Bewertung der Erfahrungen seit der Zweiten Novel- Schmerzensgeldanspruch im Rahmen der Arzneimit- lierung im Jahre 1986 vorgelegt und auch mögliche telgefährdungshaftung wäre am ehesten geeignet, Gesetzesänderungen dargestellt. Der Erörterung die- einen gewissen finanziellen Ausgleich für die dem ses Erfahrungsberichts wollten wir prinzipiell nicht Patienten entstandenen gesundheitlichen Schäden zu vorgreifen. Allerdings wollen wir auf der anderen schaffen. Seite aber auch mit einigen unaufschiebbaren Ände- Ich möchte an dieser Stelle noch einmal all jenen rungen nicht länger warten. danken, die den Fonds „Humanitäre Soforthilfe" Im wesentlichen geht es dabei um folgende dring- ermöglicht bzw. die sich beteiligt haben. Uns allen ist liche Änderungen: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17533*

Dem Patientenschutz dient die Erhöhung der Min- Viel Leid wurde im Fall der HIV-verseuchten Blut- destversicherungssummen für die Probandenversi- produkte durch verantwortungsloses, ja kriminelles cherung bei der klinischen Prüfung und der Höchst- Handeln verursacht. Kriminelles Handeln und beträge bei der Arzneimittelgefährdungshaftung. menschliche Unzulänglichkeit können wir leider durch kein noch so gutes Gesetz aus der Welt schaffen. Der Verbesserung der Arzneimittelsicherheit dient Wir können und wir wollen aber durch das nun zur die Ausrichtung künftiger Änderungsmöglichkeiten - Beratung vorliegende Gesetz die Sicherheitsstan- im Nachzulassungsverfahren auf Belange der Arznei- dards anheben und die Kontrollen so verstärken, daß mittelsicherheit. die Möglichkeit menschlichen Versagens weitgehend Erleichterungen im Vollzug erreichen wir durch ausgeschlossen wird. — die Verlagerung von Verfahrensteilen von der Aus Gründen der Redlichkeit lassen Sie mich an Zulassungsbehörde zum pharmazeutischen Unter- dieser Stelle für die übrigen, insbesondere die stark nehmer bei der Zweitantragsteller-Regelung und wirkenden Arzneimittel sagen: Auch bei größter Anstrengung ist eine absolute, daß heißt 100prozen- — den Verzicht auf den Rechtsverordnungscharakter tige Arzneimittelsicherheit nicht zu erreichen. Immer des Arzneibuches. Denn dies ermöglicht eine werden Nutzen-Risiko-Analysen eine Rolle spielen, raschere Umsetzung europäischer Arzneibuch immer wird es ein letztes — und mag es noch so klein Monographien und spart aufwendige Verord- sein — Restrisiko geben. Dieses Restrisiko zu minimie- nungsverfahren. ren, also alles zu tun, um es so klein wie möglich zu Die Regelungen des AMG sind nicht Selbstzweck, halten, ist unser Ziel, das wir mit den Vorschriften des sondern sie haben das Ziel, größtmögliche Arzneimit- Arzneimittelgesetzes anstreben. telsicherheit und größtmöglichen Patientenschutz zu Lassen Sie mich nun auf einige Regelungen des gewährleisten. vorliegenden Gesetzentwurfs eingehen. Dort, wo es auf Grund unserer Erfahrungen möglich Beginnen will ich mit der angestrebten Verbesse- ist, müssen wir dafür sorgen, daß unsinnige Regelun- rung der für Fertigarzneimittel vorgeschriebenen gen abgeschafft und die Bürokratie auf ein Mindest- Gebrauchsinformation. Sie muß patientenfreundli- maß beschränkt wird. cher gestaltet werden. Auf der anderen Seite aber stehen wir in der Ansätze hierzu waren bereits bei der 2. Novelle Verpflichtung, dort, wo sich Regelungen als verbesse- spürbar. Dort wurde versucht, durch die Schaffung rungsbedürftig erwiesen haben, diese zu ändern, um einer sogenannten Fachinformation die bis dahin größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten. übliche Packungsbeilage von Informationen zu Beiden Zielen wird der vorliegende Gesetzentwurf befreien, die für den Arzt zwar wichtig, die aber für gerecht. den Patienten eher verwirrend und belastend waren.

Anneliese Augustin (CDU/CSU): Ein Gesetz kann Zählt man jedoch heute die Zahl der Patienten, die noch so gut sein. Niemals wird die Notwendigkeit aus nach der Lektüre einer solchen neu gestalteten der Welt zu schaffen sein, dieses Gesetz von Zeit zu Gebrauchsinformation noch immer verängstigt sind Zeit zu novellieren, um es neuen Erkenntnissen und und die vom Arzt verordnete Medizin gar nicht oder neuen Gegebenheiten anzupassen. nur unterdosiert einnehmen und damit das Behand- lungsziel gefährden, müssen wir uns wohl eingeste- Dies trifft auch für das Arzneimittelgesetz aus dem hen, daß wir unser damaliges Ziel nicht erreicht Jahre 1976 zu, dessen 5. Novellierung wir heute in der haben. ersten Lesung beraten. Wenn wir Packungsbeilagen haben wollen, die Mit dem Arzneimittelgesetz aus dem Jahre 1976 patientenfreundlich sind, müssen wir darauf achten, und insbesondere mit seiner 2. Novelle aus dem Jahre daß in diesen Beilagen eine Sprache gefunden wird, 1986 haben wir als Gesetzgeber Meilensteine auf dem die der Patient versteht. Weg zu einem Höchstmaß an Arzneimittelsicherheit und einer besseren Überschaubarkeit des Arzneimit- Dies steht nicht im Widerspruch zur notwendigen telmarktes gesetzt und zugleich ein Klima geschaffen, Kennzeichnungspflicht, die wir ebenfalls mit dieser das Innovationen auf dem Arzneimittelmarkt begün- Novelle verbessern werden. stigt. Bei radioaktiven Arzneimitteln sind beispielsweise künftig in der Packungsbeilage die Vorsichtsmaßnah- Mit der nun heute zur Beratung anstehenden 5. AMG-Novelle, die das Arzneimittelgesetz sowie men aufzuführen, die der Verwender und der Patient während der Zubereitung und Verabreichung des das Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens an eine Vielzahl von Richtlinien der Präparates zu ergreifen hat. Ferner muß der Pak- Europäischen Union angleichen wird, mit dieser kungsbeilage eines Serums zu entnehmen sein, aus 5. AMG-Novelle werden wir den Schutz für den welchem Lebewesen das Serum gewonnen wurde. Patienten noch wei treichender verbessern und damit Auch ist bei Virusimpfstoffen das Wirtssystem anzu- die Arzneimittelsicherheit weiter erhöhen. Ebenso geben, das zur Virusvermehrung gedient hat. Anga- werden wir die Erfahrungen aufgreifen und im weite- ben, die für den behandelnden Arzt von Bedeutung ren Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen, die wir sind. im vergangenen Jahr durch HIV-verseuchte Blutpro- Ebenso werden künftig Kennzeichnung und Pak- dukte leidvoll zur Kenntnis nehmen mußten. kungsbeilage in der Europäischen Union einheitlich 17534* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 gestaltet. Dazu gehört auch, daß Durchdrückpackun- Initiative des Bundesgesundheitsministers und wird gen bzw. Blisterpackungen in Zukunft über den ihn im Gesetzgebungsverfahren unterstützen. Hersteller, das Verfallsdatum und die Chargennum- Ich gehe davon aus, daß alle vorgeschlagenen mer informieren werden. Maßnahmen im Rahmen der AMG-Novelle zügig im Auch wird der Patient in der Gebrauchsinformation Gesundheitsausschuß beraten werden. Nach dem zukünftig aufgefordert, dem Arzt oder Apotheker jede- gestrigen Beschluß des Ausschusses werden wir etwaige unerwünschte Nebenwirkung mitzuteilen, bereits am 2. Februar dieses Jahres eine Anhörung die nicht bereits in der Packungsbeilage aufgeführt von Sachverständigen durchführen. ist. Wir wollen insgesamt mit der 5. AMG-Novelle Der kranke Mensch muß auf seinen Arzt und sein erreichen, daß die Funktion des Arztes und des Arzneimittel vertrauen können. Hierzu werden wir Apothekers als Arzneimittelfachmann mehr in An- mit diesem Gesetzeswerk unseren Teil beitragen. spruch genommen wird. In diesem Kontext steht auch der Vorschlag, es Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): In unzähli künftig bei der Arzneimittelwerbung in den Printme- gen Entbindungsstationen in 46 Ländern werden dien — so wie heute bereits bei der Fernsehwerbung Placenten für die Herstellung von Albumin gesam- verwirklicht — beim Hinweis auf die Beratung durch melt. Ohne Wissen und Zustimmung der Frauen. Das Arzt und Apotheker zu belassen. Sicherlich muß man Blut der Placenten wird ausgepreßt und ohne jegli- sich mit dem Einwand auseinandersetzen, hierdurch chen Test in die Produktion gegeben. Das französi- werde der Informationsanspruch des Patienten, der im sche Unternehmen, das solch riskante Geschäftsprak- Arzneimittel- und Heilmittelwerberecht einen hohen tiken betreibt, ist kein kleiner Fisch am Pharmamarkt, Rang hat, geschmälert. sondern weltweit einer der größten Hersteller von Albuminpräparaten. Aber auch hier ist eine Nutzen-Risiko-Analyse von Vorteil. So haben Untersuchungen gezeigt, daß die Nachdem keine EG-Regelung greift, reagieren gutgemeinten Pflichtangaben in den Printmedien nur Länder wie Frankreich, Großbritannien und die von einem kleinen Teil der Leser überhaupt zur Schweiz. Die Sicherheit, die jetzt die Länder fordern, Kenntnis genommen werden. Das allein rechtfertigt es ist dem Hersteller zu teuer. Am 1. Dezember 1993 natürlich keinesfalls, auf diese Angaben zu verzich- stellt das Unternehmen die Produktion von Placenta- ten. Albumin ein. Ein Lehrstück. Ein Lehrstück für alle, die notwen- Die gezielte Beratung durch Ärzte und Apotheker, dige Regulierung für eine Überregulierung halten. auf die die Patienten hingewiesen werden, ist letzt- Ein Lehrstück für alle: Mit der Eigenverantwortung endlich immer verständlicher und einleuchtender als der „Bluthandwerker" (also der Hersteller und ein noch so sehr auf Verständlichkeit „getrimmter" Anwender) ist es nicht weit her. Ein Lehrstück für alle: Beipackzettel oder eine mit medizinischen Fachanga- Ohne ein engmaschiges Sicherheitsnetz gibt es weder ben übersättigte Anzeige. Arzneimittel-Sicherheit noch Patientenschutz. Ein weiteres Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Die Antwort des Deutschen Bundestages kann nur Erhöhung der Mindestversicherungssummen für die heißen: Ein reformiertes Arzneimittelgesetz muß das Probandenversicherung und der Höchstbeträge bei Sicherheitsnetz so dicht knüpfen, daß Arzneimittel der Arzneimittelgefährdungshaftung. Skandale — wie der Blut-AIDS-Skandal— in Zukunft Ebenso wollen wir künftig Änderungsmöglichkei- ausgeschlossen sind. ten im Nachzulassungsverfahren auf Belange der Zurück zum Ausgangspunkt: Trotz aller Sicher- Arzneimittelsicherheit ausrichten. heitsmaßnahmen bei der Zulassung, Herstellung, Prü- fung usw. waren unerwünschte Arzneimittelwirkun- Ferner sieht die Novelle Verbesserungen im Voll- gen — im Jargon UAW — in der Vergangenheit nicht zug des Gesetzes vor. Dies wollen wir durch die zu vermeiden. Verlagerung von Verfahrensaufgaben von der Zulas- sungsbehörde zum pharmazeutischen Unternehmen Ich spreche nicht von Bagatellen. Ich spreche von im Bereich der Zweitantragsteller-Regelung errei- den 120 000 schwerwiegenden Arzneimittelerkran- chen. Verzichten wollen wir künftig auf den Rechts- kungen jährlich. Ich spreche von Arzneimittelerkran- verordnungscharakter des Arzneibuches. Dies er- kungen, die zu bleibenden Gesundheitsschäden füh- möglicht eine raschere Umsetzung europäischer Arz- ren. Ich spreche von etwa 7 000 Arzneimittelerkran- neibuch-Monographien und spart aufwendige Ver- kungen, die tödlich enden. ordnungsverfahren. Und nun die Frage an Sie: Wie viele von diesen 120 000 schwerwiegenden Arzneimittelerkrankun- Nicht zuletzt werden wir im Gesetzgebungsverfah- gen erfaßt das BGA? Sie werden es nicht glauben: Im ren intensiv eine Neuregelung der Gefährdungshaf- Rahmen der Spontanerfassung lediglich 6 500. tung bei Arzneimitteln diskutieren. Die Situation der durch HIV-verseuchte Blutprodukte geschädigten Auch ein Vorgang der letzten Wochen belegt: Von Patienten hat deutlich gezeigt, daß die Haftungsbe einem funktionierenden Meldesystem kann nicht stimmungen des Arzeimittelgesetzes nicht ausrei- gesprochen werden. Die berühmt-berüchtigte 373er- chen. Ich stimme dem Minister ausdrücklich zu, wenn Liste des Gesundheitsministers von HIV-Infektionen er sagt, daß es nie mehr dazu kommen darf, daß durch durch Blutprodukte dokumentiert ebenfalls sehr ein- Arzneimittel Geschädigte sich wie Bittsteller vorkom- drucksvoll, daß wir in der Bundesrepublik über kein men müssen. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt die zuverlässiges Meldesystem verfügen. Wie anders läßt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17535*

es sich erklären, daß die Firma Behring allein 344 Fälle den noch die Beweislast mit allen finanziellen und meldet, bei der Konkurrenz, die noch mehr am Skan- gerichtlichen Risiken zu tragen haben, dal beteiligt ist, dagegen Fehlanzeige? — die Anhebung der Höchstgrenzen bei der Gefähr- Fazit: Die Meldepflicht der Unternehmen ist keinen dungshaftung, damit die Opfer nicht weiter mit Pfifferling wert. Auch mit der Meldepflicht der Ärzte Taschengeldern abgespeist werden können. ist es nicht weit her. Wo aber kommen wir hin mit einer- — Und was die Absichtserklärung des Ministers bei Meldepflicht, die jeder nach eigenem Geschmack der Angleichung des Arzneimittelgesetzes an das anwendet? Wo kommen wir hin, wenn Verstöße EG-Recht bei Blutprodukten angeht: Man wird gegen die Meldepflicht keinerlei Folgen haben? Wer- darauf achten müssen, daß der Absicht auch die den damit nicht Regierung und Behörden zu Lach- konkreten und richtigen Taten folgen. nummern? Hier müssen wir Hand an die Wurzel des Übels legen. Zentrale Probleme bleiben weiterhin ungelöst. Die überfällige Schmerzensgeldregelung z. B., damit Wenn die „Gesundheits-Feuerwehr" in Berlin funk- auch der immaterielle Schaden bei Verlust von tionieren soll, brauchen wir ein neues Meldesystem. Gesundheit oder Leben angemessen berücksichtigt Wir brauchen kein neues zu erfinden, wir können von wird, oder eine Reformierung des sogenannten Phar- unseren Nachbarn lernen — z. B. von Skandina- mapools, damit die Pharmaversicherer nicht weiter vien —, die uns vom Melde-System wie auch von der 350 Millionen DM an Prämien steuerfrei „bunkern" Melde-Dichte haushoch überlegen sind. Aber die können, während die Opfer mit einem Butterbrot Meldepflicht ist nur eine Seite der Medaille. Risikobe- abgespeist werden. wertung ist die andere Seite der Medaille. Gerade hier hat das BGA versagt. Brauchen wir nicht eine Einrichtung mit öffentlich- rechtlichem Charakter, die an die Stelle des „ Versi- Zur Risikobewertung brauchen wir ein Risiko cherungs-Gewinnmaximierungs-Modells" tritt? Noch Management. besser: Wir schaffen ein Arzneimittelgesetz, das prä- Dieses Risiko-Management muß Brände löschen, ventiv wirkt und nicht erst handelt, wenn das Kind in bevor sie sich ausbreiten können. Gerade das war in den Brunnen gefallen ist. Nach dem geltenden Arz- den vergangenen Jahren nicht der Fall. Das Struktur- neimittelgesetz hat der Kaufmann doch allemal die defizit heißt also nach wie vor: Fehlendes Risikoma- bessere Position: Er hat nur den Beutelschaden, der nagement. Für ein wirksames Risiko-Management Patient aber den Gesundheitsschaden. muß im § 28 des Arzneimittelgesetzes die Eingriffs- Wenn wir das Prinzip Schadensbegrenzung vor schwelle gesenkt werden. Schadensregulierung durchsetzen wollen, müssen wir Wenn nicht beide Strukturdefizite behoben werden, den Gesundheitsschutz unserer Bürgerinnen und Bür- fahren wir weiter „Spitzenergebnisse" ein: Fünfzig zu ger an die allererste Stelle setzen. eins, sagen uns die Fachleute: Auf 50 Risiken erfolgt vielleicht eine einzige Reaktion der Behörden! Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Die Umsetzung von Wenn Risikosignale weiterhin im Verhältnis 50:1 in insgesamt 11 EG-Richtlinien in bundesdeutsches aktive Maßnahmen zum Patientenschutz umgesetzt Recht macht eine Novellierung des Arzneimittelge- werden, dann bleibt es um den Verbraucherschutz setzes notwendig. Die Angleichung des Arzneimittel- schlecht bestellt. Wenn also Anpassung an Europa, gesetzes und des Heilmittelwerbegesetzes drängt, dann hier. Auch der Koalition dürfte ein deutliches weil hierdurch wichtige Regelungen für die Verbrau- Nord-Süd-Gefälle in Europa nicht verborgen geblie- cher in Kraft gesetzt werden. ben sein! Neben dieser EG-rechtlichen Seite sind auch die Allein die wenigen Beispiele zeigen: Mit einem Erkenntnisse, die wir aus den Erfahrungen mit dem Anpassungsgesetz ist es nicht getan! Eine Reform des Vollzug des Arzneimittelgesetzes gemacht haben, in Arzneimittelgesetzes ist überfällig. die AMG-Novelle eingeflossen. Es hat sich herausge- stellt, daß in einigen Bereichen die Arzneimittelsi- Nicht umsonst hat das Parlament einstimmig den cherheit weiter erhöht werden kann und daß andere 3. Untersuchungsausschuß beauftragt, Lehren aus bürokratische Hemmnisse beseitigt werden können, dem größten Arzneimittel-Skandal zu ziehen und ohne das Ziel des Schutzes für die Menschen zu Vorschläge zu erarbeiten, die eine Wiederholung für gefährden. die Zukunft ausschließen. Doch von den Erkenntnis- sen des Untersuchungsausschusses, die heute schon Die EG-einheitliche Kennzeichnung der Arzneimit- greifbar sind, findet man im Regierungsentwurf nur telpackung und der Packungsbeilagen ist aus Trans- wenig. parenzgründen äußerst begrüßenswert. Angaben des Herstellers, der Stärke der Arzneimittel, der Bestand- Positiv verbuchen wir die Übernahme der SPD- teile sowie Kinderwarnhinweise und Entsorgungshin- Vorstellungen in einigen Bereichen: weise führen allerdings dazu, daß die Ausstattungs- — die Zuordnung der Blutprodukte zu Sera und materialien der Arzneimittelpackungen völlig neu Impfstoffen, damit endlich für Blut nicht länger gestaltet werden müssen. Ausreichende Übergangs- „Pillendreher" zuständig sind, sondern Virologen fristen sind deshalb unumgänglich. Das gilt genauso und Mikrobiologen, die vom Biomaterial Blut für die vorgesehene Kennzeichnung von sogenannten etwas verstehen, Blisterpackungen — also Durchdrückpackungen. — die Beweislasterleichterung bei der Haftung, Auch die Aufforderung an den Patienten, dem Arzt damit die betroffenen Menschen nicht zum Scha oder Apotheker beobachtete Nebenwirkungen mitzu- 17536* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 teilen, die nicht bereits in der Packungsbeilage aufge- sind. Wir haben allerdings auch darauf zu achten, daß führt sind, ist ein wichtiger Schritt zur Erhöhung der homöopathische Tierarzneimittel nicht durch Zulas- Arzneimittelsicherheit. Nur wenn diese Informationen sungsfragen oder andere Regelungen de facto diskri- schnellstmöglich ausgewertet werden, ist es auch miniert werden. Nicht erwünscht kann eine Substitu- möglich, die notwendigen Konsequenzen hieraus zu tion von diesen Arzneimitteln durch Pharmazeutika ziehen. sein, die zu chemischen Rückständen in Lebensmit- teln führen könnten. Die Packungsbeilagen werden schon seit Jahren als zu unverständlich kritisiert. Hier Abhilfe zu schaffen Ich denke, wir alle sind uns einig, daß das Arznei- ist Anliegen der neuen Regelungen. Insbesondere die mittelgesetz die Funktion hat, die Menschen soweit nunmehr vorgesehenen Hinweise für Fälle falscher wie irgend möglich vor unerwünschten Konsequen- Dosierung und auf zu ergreifende Gegenmaßnahmen zen aus der Verabreichung von Arzneimitteln zu bei Auftreten von Nebenwirkungen kommen als sinn- schützen. Die Erkenntnisse, die wir in den letzten volle Angaben hinzu. Wochen bezüglich der HIV-Kontamination von Blut oder Blutprodukten gewonnen haben, wird sicherlich Meines Wissens nach haben Bundesfachverband nicht ohne jegliche Konsequenzen für die Arzneimit- der Arzneimittelhersteller und Bundesverband der telgesetzgebung bleiben. Pharmazeutischen Industrie bereits reagiert und eine Anleitung zur Erstellung von Packungsbeilagen erar- Wir müssen uns in Ruhe und im einzelnen beitet, die auf neuen kommunikationswissenschaftli- anschauen, durch welche Maßnahmen die Sicherheit chen Erkenntnissen beruht. Diesbezüglich darf also erhöht werden kann, ohne daß dies zu einer totalen mit einer schnellen Umsetzung nach Inkrafttreten des Überreglementierung führt. Es liegen Vorschläge auf Gesetzes gerechnet werden. dem Tisch, die unter diesen Gesichtspunkten geprüft werden müssen. Durch die Feststellung, daß Unter- Vorgesehen ist darüber hinaus, künftig eine nehmen für die Gewinnung von Blut und Plasma eine rie für die Arznei- bestimmte Fachkraft in der Indust Herstellungserlaubnis benötigen, würden die Kon- mittelinformation verantwortlich zu machen — ein troll- und Überwachungsvorschriften des Arzneimit- sogenannter Informationsbeauftragter. Damit wird telgesetzes auf Blutpräparate angewandt: vor dem der EG-Vorschrift Rechnung getragen, daß der phar- Hintergrund der Qualitätssicherung sicherlich ein mazeutische Unternehmer innerhalb seines Unter- sinnvoller Vorschlag. Dem gleichen Ziel dient z. B. nehmens eine wissenschaftliche Stelle einzurichten eine Erweiterung der Auflagenbefugnis für die Zulas- hat, die mit der Information über die von ihm in den sungsbehörde. Sie wäre dann zur Anordnung von Verkehr gebrachten Arzneimittel beauftragt wird. Inaktivierungsverfahren berechtigt. Zahlreiche wei- Zu den Aufgaben dieses Informationsbeauftragten tere Punkte wie eine Nebenwirkungs-Meldepflicht gehört z. B. die Einhaltung des Heilmittelwerbegeset- für Ärzte, ein Importverbot für Blut oder Blutplasma zes, das Verbot der Irreführung in § 8 dieses Gesetzes, aus Risikoregionen — im Extremfall sogar ein völliges aber auch die Übereinstimmung der Kennzeichnung, Importverbot —, Fragen der Arzneimittelhaftung, die Packungsbeilage, Fachinformation und Werbung mit Einrichtung eines Entschädigungsfonds, um nur der Zulassung. Dabei muß allerdings sichergestellt einige Vorschläge hier aufzuzeigen, müssen im Hin- werden, daß funktionierende Arbeitsabläufe hier- blick auf ihre Sinnhaftigkeit gründlich untersucht durch nicht beeinträchtigt werden und daß sich keine werden. Ich hoffe darauf, daß die Ergebnisse des Kompetenzprobleme zwischen den einzelnen Verant- Untersuchungsausschusses uns hier zusätzliche Klar- wortlichen ergeben. heit bringen können. Im Rahmen der Arzneigesetzgebung kommt selbst- verständlich auch haftungsrechtlichen Fragen eine Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Mit Hilfe der nicht unerhebliche Bedeutung zu. Die in diesem vorliegenden 5. Novelle des Arzneimittelgesetzes Zusammenhang vorgesehene Verdoppelung der sollen zahlreiche Richtlinien der Europäischen Union Mindestversicherungssumme für die Probandenversi- in das deutsche Arzneimittelrecht umgesetzt werden. cherung bei der klinischen Prüfung sowie die Höchst- Zugleich enthält sie auch Änderungen des nahe beträge in der Arzneimittelgefährdungshaftung ist vor verwandten Gesetzes über die Werbung auf dem dem Hintergrund der eingetretenen Preisentwicklun- Gebiete des Heilwesens. Insgesamt zielt das zur gen sicherlich gerechtfertigt. Debatte stehende Gesetz auf eine dringend notwen- dige weitere Erhöhung der Arzneimittelsicherheit und Ob die Anhebung allerdings de facto viel bewirkt, kann deshalb prinzipiell und in vielen seinen Teilen bleibt dahingestellt. Es hat meines Erachtens bisher nur begrüßt werden. keinen Fall gegeben, in dem die Deckungssumme nicht ausgereicht hätte. Die Schwierigkeiten lagen Ungeachtet dessen enthält es aber auch Fragwürdi- bisher vielmehr häufig in der Frage, ob überhaupt ein ges, Ungereimtheiten und Fehlsteuerungen. Einige versicherungsrechtlicher Schadensfall vorliegt. Durch äußerst dringliche Fragen scheint es nach wie vor eine Anhebung der Deckungssummen allein ist diese ungeregelt zu lassen. Frage nicht zu lösen. Als ein Beispiel, das stellvertretend für viele der Dem Verbraucherschutz bei Lebensmitteln tieri- vorgenommenen Verbesserungen stehen kann, sei schen Ursprungs sollen die vorgesehenen Einschrän- die Einführung eines „Informationsbeauftragten" in kungen bei der Herstellung, Anwendung und Ver- den arzneimittelherstellenden Unternehmen ge- schreibung von Tierarzneimitteln dienen. Zukünftig nannt. Damit wird gewährleistet, daß ein Fachmann dürften dann nur noch solche Arzneimittel eingesetzt mit erforderlicher Sachkenntnis und Zuverlässigkeit werden, die für eine bestimmte Tierart zugelassen speziell für die wissenschaftliche Information über die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17537*

Arzneimittel verantwortlich ist. Insbesondere trägt er mittelwerbung neuerdings auch für Jugendliche unter dafür Sorge, daß Bezeichnung oder Aufmachung 18 Jahren zu erlauben. Das ist geradezu unfaßbar, eines Medikamentes nicht irreführend sind und daß wenn man bedenkt, daß — Zitat Bundesärztekam- Kennzeichnung, Packungsbeilage oder Fachinforma- mer — „der unkritische Umgang mit Arzneimitteln in tionen für ein Arzneimittel jeweils nur in Übereinstim- der Altersklasse unter 18 Jahren zunehmend als mung mit der Zulassung und Registrierung erfolgen. Einstieg in den Suchtmittelkonsum angesehen Diese Verfahrensweise gab es in der DDR seit dem wird". Arzneimittelgesetz vom 27. November 1986, und sie hatte sich sehr schnell als eine äußerst zweckmäßige Kritisch muß auch ein weiterer Punkt angesprochen Regelung erwiesen. werden. Trotz der im bestehenden Gesetz durchaus enthaltenen, eindeutig begrenzenden Formulierun- Unbefriedigend dagegen bleiben die neugefaßten gen zur Überlassung von Arzneimittelmustern an Vorschriften zur Packungsbeilage. Auch in der jetzt Ärzte und Krankenhäuser ufert dieses Verfahren oft gefundenen Fassung gibt es keine Verpflichtung für geradezu zu einem zweiten Versorgungsweg aus. Wer den Hersteller, seine Angaben zu den Nebenwirkun- einmal einen Ärztemusterschrank besichtigt oder gar gen in einfacher, für den Patienten gut verständlicher ausgeräumt hat, weiß, wovon ich rede. Letztlich führt Sprache abzufassen und auf solche zu begrenzen, die es dazu, daß ein Großteil der weggeworfenen Arznei- wirklich häufig auftreten und deshalb im täglichen mittel aus meist noch unangebrochenen Ärztemustern Gebrauch entsprechend relevant sind. Das Streben resultiert. Für die Industrie sind das bekanntlich der Hersteller nach juristischer Absicherung be- steuerlich absetzbare Werbungskosten. Belastet mit kommt eher ein noch größeres Übergewicht und wird dieser Verschwendung wird letztlich wieder nur der weiterhin dazu führen, die Anwender zu verunsi- Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung chern, und sie veranlassen, ihre Medikamente nicht und natürlich auch der Staat, wenn er sich der oder nur mangelhaft einzunehmen. Daraus ergibt sich Beseitigung dieses nicht immer ungefährlichen Pro- bekanntlich ein hoher Arzneimittelverbrauch, der in blemmülls annimmt. keinerlei therapeutischen Nutzen umschlägt, sich Hier hätte man sich endlich eine vernünftigere aber um so nachhaltiger im Budget der gesetzlichen Lösung gewünscht. Entweder man schafft die Arznei- Krankenversicherungen auswirkt. Hier sollten und mittelmuster ganz ab — dafür hat sich übrigens auch können Regelungen getroffen werden, die die Com- Umweltminister Töpfer schon einmal ausgesprochen; pliance nicht behindern, sondern fördern und er wird sicher wissen, warum —, oder man schränkt sie zugleich allen Beteiligten — den Herstellern, Ärzten, wenigstens drastisch ein, etwa in dem Sinne, daß Apothekern und Patienten — die notwendige Sicher- Muster nur noch für neu zugelassene Arzneimittel heit geben und das Budget der Krankenversicherung überlassen werden dürfen und daß die Beseitigung durch Verunsicherungen aller beteiligten Seiten nicht nicht verbrauchter Exemplare auf Kosten der Herstel- belasten. Das gilt übrigens nicht nur für die Neben- ler zu erfolgen hat. wirkungen, sondern auch für die vorgeschriebenen Angaben zu Anwendungsgebieten, Gegenanzeigen Auch mit dieser 5. Novelle des Arzneimittelgesetzes oder Wechselwirkungen. werden immer noch nicht alle heute schon möglichen und notwendigen Schlußfolgerungen für die Arznei- Vorgesehen ist mit dieser Novelle, auch die Vor- mittelsicherheit gezogen, die sich spätestens aus dem schriften für die Arzneimittelwerbung in Printmedien Skandal um die HIV-verseuchten Blutprodukte erge- denen in Funk und Fernsehen anzugleichen. Die ben haben. So ist seit längerem klar, daß eine dieser inzwischen berühmt-berüchtige Sentenz: „Zu Risiken Konsequenzen in der Einführung einer staatlichen und Nebenwirkungen . " soll künftig auch in den Chargenprüfung analog zu Sera und Impfstoffen auch Printmedien ausreichend sein. Also wahrhaftig ein bei den Blutzubereitungen sein muß. Es gibt zwar mit zielgerichteter Schritt in eine grundfalsche Richtung. Datum vom 22. November 1993 einen ersten Referen- Die Werbung für Arzneimittel in den Printmedien oder tenentwurf einer entsprechenden Verordnung des in Radio und Fernsehen weckt bekanntlich oft Bedürf- Bundesgesundheitsministeriums. Aber für die Gerin- nisse, für die es dann keine medizinische Begründung nungsfaktorenpräparate kann sie frühestens am gibt. So führt sie über Ansprüche nach Wunschver- 1. Juli 1994, für Blutzubereitungen, die Humanalbu- schreibungen zu Spannungen zwischen Ärzten und mine als arzneilich wirksamen Bestandteil enthalten, Patienten, belastet unnötig die gesetzlichen Kranken- sogar frühestens erst am 1. Januar 1995 wirksam kassen und nützt lediglich den Herstellern. Wenn man werden. Wer übernimmt eigentlich die politische weiß, daß sich auch die Bundesärztekammer sehr klar Verantwortung für diese weiterhin zugelassenen Ver- gegen Laienwerbung in Druckerzeugnissen und zögerungen bei der Einführung von elementar wich- audiovisuellen Medien ausgesprochen hat, dann tigen Maßnahmen auf dem Gebiet der Arzneimittelsi- erhebt sich schon die Frage, wer denn der Bundesre- cherheit, die in vielen anderen Ländern schon seit gierung bei solchen Neuregelungen wohl die Feder langem selbstverständlich sind? geführt hat. Wir treten dafür ein, daß sich Werbung für Arzneimittel nur innerhalb einer gut definierbaren Weitere Schlußfolgerungen aus dem Drama um Fachöffentlichkeit abspielen sollte — sprich beim Arzt verseuchte Blutprodukte werden in der Gesetzesno- und beim Apotheker bzw. in deren Fachpresse und velle nach wie vor völlig vermißt. Von ihnen hören wir auf deren Fachkongressen. Denn nur dort kann sie in der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stel- wirklich Sinn machen. lungnahme des Bundesrates lediglich, daß sie von der Bundesregierung noch geprüft werden. Ja, wie lange Hochgradige Verwunderung, mehr wohl aber tiefes denn eigentlich noch! Dazu gehören immerhin solche Erschrecken löst für mich die Nachricht aus, Arznei- unstrittigen und längst überfälligen Maßnahmen wie 17538* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 die Erhöhung der Auflagenbefugnis der zuständigen die unterschiedlichen Auffassungen weniger zwi- obersten Bundesbehörden — z. B. zur Anordnung von schen den Fraktionen hier im Bundestag liegen als Inaktivierungsverfahren —, die Erweiterung von ärzt- insbesondere zwischen dem Bundesrat in seiner lichen Meldepflichten oder die Anerkennung eines Gesamtheit und der Bundesregierung. Schmerzensgeldanspruches im Zusammenhang mit Ich erlaube mir einige Punkte anzusprechen, die die der Arzneimittelgefährdungshaftung. - SPD im Rahmen dieser 5. Novelle geklärt wissen Wie schlecht diese Regierung und die sie tragende will. Koalition dieses Land mittlerweile regieren, wird Erstens. Mein Kollege Schmidbauer wird sich zu inzwischen sogar am Detail solcher Fachgesetzge- dem Thema Blut und Blutprodukte schwerpunktmä- bungen wie dem Arzneimittelrecht sichtbar. Ich hoffe ßig äußern, da dieses Thema im 3. Untersuchungsaus- sehr, daß im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens schuß ist. Die öffentliche Frage, die sich an diese alle Möglichkeiten noch genutzt werden, die notwen- Diskussion anschließt, ist: warum ist eigentlich nicht digen Nachbesserungen vorzunehmen. Alles andere vorher gehandelt worden? käme einem erneuten Skandal gleich. Zum zweiten möchten wir eine erneute Debatte um den Arzneimittelbegriff in die Öffentlichkeit einfüh- (Extertal) (SPD): Seit fast Karl Hermann Haack ren. Aus dem Arzneimittelgesetz-Erfahrungsbericht einem Jahr wird im zuständigen Fachausschuß für von 1993 ist zu entnehmen, daß der Zulassungsstau Gesundheit des deutschen Bundestages die 5. Novelle beim Arzneimittelinstitut auf einen zu weit gefaßten zur Reform des Arzneimittelgesetzes von 1976 ange- Arzneimittelbegriff zurückzuführen ist. Die Gesetze in kündigt. Seit ungefähr einem Jahr wird schwerpunkt- der EU wie auch in anderen Ländern, wie z. B. den mäßig über die Einordnung von Blut und Blutproduk- USA, verwenden einen wesentlich restriktiveren Arz- ten in einer Reform des Arzneimittelgesetzes gere- neimittelbegriff. Hier wollen wir im Rahmen der det. Anhörung klären, inwieweit nicht Handlungsbedarf Die Frage nach der Qualität des deutschen Arznei- besteht. Dieser Sachverhalt war schon einmal Gegen- mittelgesetzes hat sich vor dem Hintergrund des stand unserer Beratungen. Wir sehen uns hier in einer Skandals um verseuchtes Blut und Blutprodukte Linie mit dem Beratungsunternehmen Mummert und gestellt. Wir sollten alle darauf bedacht sein, die Partner, das mit einer Organisationsuntersuchung des 5. Novelle des Arzneimittelgesetzes unter dieser Fra- Arzneimittelinstitutes beaufragt war. gestellung zu sehen: Was erwartet die Öffentlichkeit Dem schließt sich als drittes eine notwendige wegen der kritischen Berichterstattung von uns Poli- Debatte zur Bioverfügbarkeit an. Auch hier beziehen tikern von diesem Gesetz? wir uns auf den Arzneimittelgesetz-Erfahrungsbe- Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Bundes- richt. Ausgelöst durch das Festbetragssytem im GRG regierung einer Beschlußempfehlung des Bundesta- ist es zu einer Ausweitung des Generica-Marktes ges anläßlich der Zweiten Änderung des Arzneimit- gekommen. Billig-Anbieter sind am Markt. Es liegen telgesetzes nicht nachgekommen ist. Die Bundesre- uns fachwissenschaftliche Publikationen vor, die es gierung war aufgefordert, einen umfangreichen angeraten erscheinen lassen, über ein System zur Erfahrungsbericht über das Arzneimittelgesetz seit Bioverfügbarkeit im Zuge der Zulassung zu entschei- 1976 zu geben. Des weiteren sollten zu dem Problem den. „Verbrauch und Werbung" eine Darstellung gegeben Ferner teilen wir — viertens — die Auffassung des werden. Zum Thema Zulassungsstau von Arzneimit- Bundesrates, daß im Rahmen der klinischen Prüfung teln am BGA wurde ebenfalls ein Be richt angefor- von Arzneimitteln die 5. Novelle des Arzneimittelge- dert. setzes nicht die entsprechenden Regelungen der Diese Berichte sind in dem Arzneimittelgesetz Europäischen Gemeinschaft übernimmt. Wir sind der Erfahrungsbericht von 1993 zusammengefaßt. Dazu Auffassung, daß die Beweislastumkehr zu Lasten der ist festzustellen, daß seit über 10 Jahren Teile dieses Unternehmen in der Frage geregelt werden muß. Es Berichtes überfällig sind. Hier ist die Frage nach dem darf nicht sein, daß das Bundesgesundheitsamt, hier Amtsverständnis der Vorgänger von Herrn Minister das Arzneimittelinstitut, mit Schularbeiten belastet Seehofer aufzuwerfen. werden, die im Grunde der anmeldende pharmazeu- Hier bewertet meine Fraktion das Handeln der tische Unternehmer zu leisten hat. Es ist klar zu regeln, Bundesregierung seit über 10 Jahren als fahrlässig daß der pharmazeutische Hersteller im Rahmen der gegenüber der Öffentlichkeit. Dieses Handeln der Prüfung die klinische, pharmakologische und toxiko- Regierung trägt nicht dazu bei, Vertrauen in die logische als auch die pharamazeutische Qualität politische Handlungsfähigkeit der Regierung zu för- nachzuweisen hat und nicht der prüfende Sachbear- dern. beiter beim Bundesgesundheitsamt. Ich möchte eine Feststellung treffen: Der hier vor- Wir schließen uns — fünftens — der Auffassung des liegende Gesetzentwurf, den wir in der ersten Lesung Bundesrates an, es bei der derzeitigen Formulierung heute beraten, hat bereits seine schlußendliche Bera- des Heilmittelwerbegesetzes im § 4 zu belassen ist. tung im Bundesrat erfahren. Seit Dezember letzten Dieser trifft eine Unterscheidung zwischen den Print- Jahres liegt die Gegenäußerung der Regierung zu der medien einerseits und den audiovisuellen Medien Stellungnahme des Bundesrates vom September 1993 andererseits. Es geht darum, daß in den audio- vor. Im wesentlichen sind die Bedenken des Bundes- visuellen Medien der bekannte Text zu Nebenwir- rates übernommen worden. In einigen Punkten, so die kungen gut lesbar eingeblendet werden muß, der da Bundesregierung, soll noch weiter diskutiert werden. lautet: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ich möchte daher für meine Fraktion feststellen, daß Ihren Arzt oder Ihren Apotheker". Dagegen muß in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17539* den Printmedien ein Weiteres an Informationen erfol- allen im September/Oktober 1993 auf erschreckende gen, die zumindest eine Beschreibung der Nebenwir- Weise überdeutlich vor Augen geführt worden. kungsrisiken beinhaltet. Wir halten diese Auffassung Hier ging und geht es nicht um Lapalien — hier ging des Bundesrates mit der Begründung des Verbrau- und geht es um Fragen auf Leben und Tod. Das sollten cherschutzes für richtig. Daß die Bundesregierung in sich all diejenigen ins Gedächtnis rufen, die statt diesem Zusammenhang die EG-Regelung über- schnellem Handeln nun „ergebnisoffene Diskussio- nimmt, nämlich einen Informationsbeauftragten im nen" fordern. Herstellerbetrieb zwingend vorzuschreiben, begrü- ßen wir außerordentlich. Dies wird in Herstellerkrei- Ich möchte kurz an die Ereignisse erinnern, die zu sen zu einem hohen Maß an Sensibilität gegenüber der Entscheidung geführt haben, die grundlegende den Interessen der Verbraucher führen. Neustrukturierung des bisherigen Bundesgesund- heitsamtes — die ja schon seit langem geplant ist — Sechstens. In der heutigen Ausgabe der „Fr ankfur- voranzutreiben: ter Rundschau" ist auf Seite 1 folgende Überschrift zu lesen: „Alete muß für Karies haften, Bundesgerichts- Bis September 1993 bin ich davon ausgegangen, hof urteilte über gesüßten Kindertee". Seit Jahren daß in dem auf Grundlage von Informationen und wird in der Bundesrepublik eine Debatte darüber Bewertungen des Bundesgesundheitsamtes und der geführt, inwieweit speziell für gesüßte Kindertees die zuständigen Abteilung meines Hauses im November Hersteller für Schäden am Gebiß der Kinder, resultie- 1992 vorgelegten Be richt zur Infektionsgefährdung rend aus einem Übermaß an Genuß, verantwortlich durch Blutprodukte nichts verwischt, nichts ver- sind. Diese Frage ist nun endgültig vom Bundesge- schwiegen und nichts übersehen worden ist. Und ich richtshof entschieden worden. Die Hersteller sind bin davon ausgegangen, daß nach den bitteren Erfah- auch bei übermäßigem Gebrauch schadenersatz- rungen Anfang der 80er Jahre nun neuen Fä llen einer pflichtig, auch wenn sie in ihrer Werbung auf eventu- HIV-Infektion durch Blutprodukte mit äußerster Sen- elle Schäden hingewiesen haben. sibilität nachgegangen wird. Dies berührt aus der Sicht der SPD einen generellen Erste Zweifel kamen mir durch eine Pressemeldung Punkt der Novelle: die Haftpflichtregelung im Bereich vom 6. September 1993, in der über zwei Verdachts- von Arzneimitteln. Wir halten es als SPD für richtig, fälle mit Blutprodukten berichtet wurde — dies hat daß entsprechend der EG-Haftungsrichtlinie eine sich Gott sei Dank nicht bestätigt. Beweislastumkehr zugunsten der Patienten auf dem Plötzlich tauchten bei weiteren Nachforschungen Arzneimittelsektor stattfindet. Dagegen hält die Bun- jedoch neue klärungsbedürftige Fälle auf. Ich erfuhr, desregierung ihren Text in der 5. Novelle des Arznei- daß bei der Testung von Blutplasmaspenden das mittelgesetzes für ausreichend, der Bundesrat in sei- Aids-Zentrum des BGA und ein Hersteller einige Male ner Gesamtheit nicht. Wir stellen dazu fest, daß der zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind Bundesrat damit die Rolle des Vorreiters für den und diese auch für das Arzneimittel-Institut höchst Verbraucherschutz übernommen hat. wichtigen Informationen weder nach dort noch an die Zu diesen sechs Punkten werden wir eine einver- zuständigen Landesbehörden weitergegeben wur- nehmliche Regelung im Ausschuß suchen und dann den. zur Abstimmung stellen. Dann erhielt ich die Nachricht, daß diese Firma über längere Zeit das Präparat verkauft hat, obwohl sie die Zulassung längst an ein anderes Unternehmen ver- kauft hatte. Am 5. Oktober 1993 schließlich präsentierten mir Anlage 4 Mitarbeiter des BGA nach einer Sitzung zu fast mitternächtlicher Stunde eine Liste von 373 HIV- Zu Protokoll gegebene Reden Serokonversionen nach Anwendung von Blutpräpa- zu Tagesordnungspunkt 8 a und b raten, die bis dahin weder dem BGA-Präsidenten noch (Gesetzentwurf Neuordnung zentraler Einrichtungen meinem Hause bekannt war. Diese Liste enthielt des Gesundheitswesens und Antrag: ausführliche Daten über Einzelfälle, die wichtige Reorganisation des Bundesgesundheitsamtes) Hinweise für weitergehende Maßnahmen zur Risiko- minimierung gaben. Doch die Bedeutung dieser Liste, die meinem Hause spätestens im Herbst 1992 hätte Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: vorgelegt werden müssen, hatte offenbar niemand Die Sicherstellung eines umfassenden Gesundheits- erkannt. schutzes für die Bevölkerung bedeutet rechtzeitige Dies, meine Damen und Herren, war Auslöser für Gefahrenabwehr, bedeutet Vorsorge, wenn der Ver- meine Entscheidung einer völligen Neustrukturie- dacht auf Gefährdungen besteht. Agieren, nicht rea- gieren, muß die Devise sein. Und genau dies — das rung des BGA. haben die Vorfälle um HIV-verseuchte Blutproben im Meine Entscheidung über die Auflösung des BGA September/Oktober letzten Jahres deutlich gezeigt, ist bestätigt worden durch einen weiteren gravieren- ist mit der Mammutbehörde Bundesgesundheitsamt den Vorgang Mitte Oktober 1993: Am 18. Oktober nicht mehr ausreichend gewährleistet: Überlange wurde das Bundesgesundheitsministerium darüber Entscheidungswege, überflüssige Bürokratie und informiert, daß dem BGA bereits 1990 Hinweise auf zum Teil auch fehlende Sensibilität in Fragen von PPSB-Produkte einer Firma vorgelegen hätten, die Gesundheitsrisiken, diese Schwachstellen sind uns aus HIV-verseuchtem Ausgangsmaterial hergestellt 17540* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 worden waren. Es ergaben sich offene Fragen hin- beiter schon vor einiger Zeit thematisiert. Und auch sichtlich der Methode zur Abtötung von HI-Viren, die das Bundesgesundheitsministerium hat die Schwie- diese Firma angewendet hatte. Kurz zuvor war eine rigkeiten schon seit längerem gesehen. Charge des Produkts als infektiös aufgefallen. Des- halb hätte über weitere Maßnahmen zur Risikomini- Vorschläge zur Organisationsreform einzelner Insti- mierung nachgedacht werden müssen. Doch was tat tute, nicht zuletzt vom BGA selbst, lagen vor. Aller- - das BGA? Es heftete diese Informationen unbearbeitet dings waren alle Vorschläge nicht des Rätsels Lösung; ab. sie hätten keinen Abbau der Bürokratie gebracht, sondern z. T. sogar ein „mehr" an Bürokratie bedeu- Dies alles, meine Damen und Herren, mußte Kon- tet. Deshalb war im Bundesgesundheitsministerium sequenzen haben. Deshalb ist der Untersuchungsaus- eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, deren Arbei- schuß eingesetzt worden, um nun lückenlose Aufklä- ten an einem Organisationsvorschlag, der zu einer rung zu betreiben. größeren Eigenverantwortung der Institute führen Und deshalb müssen nun so schnell wie möglich sollte, in vollem Gange waren. Anfang 1994 sollten organisatorische Konsequenzen gezogen werden, die ohnehin die Entscheidungen fallen. Doch die Vor- sicherstellen, daß in Sachen Gesundheitsschutz künf- gänge im Herbst des vergangenen Jahres haben tig schnell und zielsicher agiert wird, wenn Gefahren gezeigt, daß keine weitere Zeit mehr verstreichen drohen: darf, daß aus Handlungsbedarf Handlungszwang geworden ist. Wir müssen die Informationswege verkürzen, die unmittelbaren Verantwortlichkeiten der Institute stär- Die immer größer gewordene Mammutbehörde ken und Bürokratie abbauen, damit es insgesamt zu BGA gleicht heute einem schwerfälligen Tanker, der überschaubaren Arbeitseinheiten kommt. Es darf den vielfältigen Anforderungen schneller Manövrier- nicht — wie es in der Vergangenheit ja bereits öfter fähigkeit nicht mehr gerecht wird. Deshalb gilt es, das passiert ist — dazu kommen, daß die hohe Kompetenz allzu große Amt in neu zugeschnittene Institute mit der einzelnen Experten im Dickicht der Bürokratie gestärkter Eigenständigkeit und schnellerer Reak- erstickt wird. Wir brauchen kleinere, schlagkräftigere tionsfähigkeit für die Erfüllung ihrer Amts- und For- Einheiten, die rasch reagieren können, in denen die schungsaufgaben aufzuteilen. Der Supertanker soll gute Facharbeit der Mitarbeiter auch tatsächlich zum gleichsam durch wendige Forschungsschiffe ersetzt Tragen kommt. werden. Die Notwendigkeit zur Umstrukturierung besteht ja nicht erst seit September/Oktober 1993. Schon seit Das Konzept sowohl des heute zur Debatte stehen- langem wird von allen eine Reform des BGA befür- den Initiativgesetzentwurfs wie auch des Regierungs- wortet, die den wachsenden Schwierigkeiten der entwurfs haben wir in enger Kooperation mit den Behörde, schnell und treffsicher zu handeln, ein Ende Gesundheitsobleuten der Koalitionsfraktionen er- bereitet — Schwierigkeiten, die vor allem durch stellt. Dem Bundesministerium für Gesundheit wer- stetige quantitative und qualitative Erweiterungen den künftig drei Institute zugeordnet: das Robert- des BGA entstanden sind. Koch-Institut — Hauptaufgabe: infektiöse und nicht- übertragbare Krankheiten einschließlich der Gen- Im Gründungsjahr 1952 bestand das Bundesge- technik und der Epidemiologie —, ein Bundesinstitut sundheitsamt aus drei Instituten, dem Robert Koch-, für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veteri- dem Pettenkofer-Institut sowie dem Institut für Was- närmedizin, bestehend aus dem Pettenkofer- und dem ser-, Boden- und Lufthygiene, mit insgesamt ca. Ostertag-Institut des BGA — Hauptaufgabe: Lebens- 400 Bediensteten. Seitdem ist das BGA angewachsen mittel- und Veterinärangelegenheiten — und ein auf heute sechs Institute — hinzugekommen sind die Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Institute für Sozialmedizin und Epidemiologie, für — Hauptaufgabe: Sicherheit der Arzneimittel und der Veterinärmedizin und für Arzneimittel — sowie auf neuen Gruppe „Medizinprodukte". weitere Einheiten wie das Aids-Zentrum und zahlrei- che Außenstellen, die insbesondere aus ehemaligen Das bisherige Institut für Wasser-, Boden- und DDR-Instituten hervorgegangen sind. Das somit Lufthygiene mit der Hauptaufgabe „Umwelt und immer größer und verzweigter gewordene Amt Gesundheit", über das schon bisher das Bundesum- umfaßt heute ca. 2 700 Dauer- und Zeitstellen, fast weltministerium weitgehend die Fachaufsicht hatte, siebenmal soviel wie zu Beginn. wird in das Umweltbundesamt eingegliedert. Aber nicht nur quantitativ ist das BGA enorm Alle bisherigen Institutsaufgaben sollen auf die gewachsen, sondern auch qualitativ. Eine Vielzahl jeweiligen Nachfolgeeinrichtungen übergehen. Zu- immer neuer gesetzlicher Aufgaben des gesundheitli- dem soll eine Aufgabenkonzentration erfolgen. Wir chen Patienten- und Verbraucherschutzes ist hinzu- werden auch prüfen, wie wir die Arbeit innerhalb der gekommen. Ich nenne nur das Bundes-Seuchenge- Institute sowie die Zusammenarbeit und Koordination setz 1961, das Lebensmittel- und Bedarfsgegen- effizienter machen können. Es geht dabei darum, stände- sowie das Arzneimittelgesetz in den 70er Aufgaben zusammenzufassen, Entscheidungswege Jahren, das Betäubungsmittelgesetz 1981 und das zu straffen und Informationswege zu verkürzen. Es Gentechnik-Gesetz im Jahr 1990. geht nicht an, daß ein und dasselbe Thema unter Dieses quantitative und qualitative Wachstum hat verschiedenen Blickwinkeln in verschiedenen Institu- dazu geführt, daß die Behörde immer schwerer durch ten beleuchtet wird und letztlich die Ergebnisse nicht den „Überbau" regierbar geworden ist. Diese Pro- zusammenlaufen. Deshalb müssen in den Instituten bleme haben die einzelnen Institute und viele Mitar Schwerpunkte gebildet werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17541*

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Wir wollen nun Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Wir stellen mit dem die Zuständigkeit für die Zulassung, die Risikoüber- Gesetzentwurf Kosteneutralität sicher. Das heißt, es wachung und die Chargenprüfung von Blutprodukten entstehen keine Personalmehrkosten, die den Steuer- weitgehend beim Paul-Ehrlich-Institut konzentrieren. zahler belasten, wenn wir nun aus einer Zentralbe- Damit werden die Aufgaben des Bundes für immuno- hörde mit einer Zentralverwaltung mehrere verwal- logische Arzneimittel und Blutprodukte zusammen- tungsmäßig autarke Einzelinstitute machen. gefaßt. Das stärkt die Kompetenz. Wir sind uns alle einig, daß eine Umstrukturierung Insgesamt sollen die Institute aufgabenorientiert des BGA zwingend erforderlich ist. Bei dieser gegliedert werden, damit klare Verantwortlichkeiten Umstrukturierung, das möchte ich insbesondere den geschaffen werden. Damen und Herren der Opposition noch einmal deut- lich sagen, darf es keine Halbherzigkeiten geben. Es Der bisherige Präsidialbereich und die Zentralab- ist nicht damit getan, dem „Kind" einen neuen Namen teilung des BGA werden aufgelöst und einschließlich zu geben und hier und da ein bißchen die Zuständig- des Sachhaushalts entsprechend dem Aufgabenum- keiten zu verschieben; denn damit wird keines der fang und -bedarf der neuen Bundesinstitute auf die Probleme, die ich eingangs erläutert habe, gelöst. Nachfolgeeinrichtungen des BGA verteilt. Und ich denke, daß die Auflösung des BGA, die letztlich eine Mit Ihrem Antrag zur Reorganisation des Bundes- Verteilung von wenig mehr als 200 Stellen der ehe- gesundheitsamtes und der Pressemitteilung der Her- maligen Zentralabteilung auf die Bundesinstitute ren Kollegen Haack und Kirschner vom 22. Dezember bedeutet, weder den Bundesgesundheitsminister 1993 erwecken Sie den Eindruck, daß Sie die Pro- noch das Parlament überfordern wird. bleme auch gar nicht lösen, sondern lieber weiter vor sich herschieben wollen. Sie werfen unserem Entwurf Ich sage hier noch einmal ganz deutlich: Durch „Oberflächlichkeit aus der Hektik vorschneller Ent- diese Umstrukturierung wird kein Bediensteter des scheidungen" vor, nennen den Entwurf einen Bundesgesundheitsamtes — gleich, ob Beamter, „Schnellschuß". Nun: Wir haben in der Tat schnell Angestellter oder Arbeiter — seinen Arbeitsplatz gehandelt, aber keineswegs vorschnell. Die rasche, verlieren, weder ein Beschäftigter in den Instituten entschlossene Entscheidung der Koalition von Mitte und Außenstellen noch einer im Zentral- und Präsidi- Oktober beruht auf einem langen Vorlauf an Erfah- albereich. Und ebenso wichtig ist: Es wird keine rungen, Vorschlägen und Untersuchungen. Seit l an Beschneidung der einzelnen Institute in Fachfragen -ger Zeit wird über Umstrukturierungen diskutiert. Die geben. Ereignisse im Herbst letzten Jahres haben uns über- In zahlreichen besorgten Stellungnahmen und deutlich gezeigt, daß wir nicht länger nur diskutieren Resolutionen haben wissenschaftliche Fachgesell- dürfen, sondern handeln müssen. Was soll denn noch schaften und Verbände die Sorge geäußert, bei einer alles passieren, bis sich diese Einsicht auch bei Ihnen Auflösung des Bundesgesundheitsamtes und unmit- in der Opposition endlich durchsetzt? Wollen Sie telbaren Unterstellung der neuen Bundesinstitute warten, bis es erneut zur Gefährdung von Menschen- unter das BMG könne die Freiheit der Forschung in leben kommt, weil sich die Bürokratie selbst auf den den Instituten durch politische Einflußnahmen des Füßen steht? Ministeriums gefährdet werden. Ich versichere: Diese Hinzu kommt: Wir erheben mit dem heute vorlie- Sorge ist unbegründet. Durch das Gesetz wird die genden Gesetzentwurf doch nicht den Anspruch, selbständige Bundesoberbehörde BGA durch drei heute eine Lösung für alle Zeiten und jedes Einzel- ebenfalls eigenständige Bundesoberbehörden — so- problem vorzulegen. Wir legen heute ein Rahmen- wie das Umweltbundesamt, für welches dasselbe konzept vor, das genügend Spielraum für weitere gilt — ersetzt. Gestaltung bietet, so z. B. bei speziellen Abgren- Selbstverständlich werden auch die neuen Bundes- zungs- und Zuständigkeitsfragen der Institute. Die institute als nachgeordnete Behörden der Dienst- und Erfahrungen der Vergangenheit haben uns ja auch Fachaufsicht des Bundesministeriums für Gesundheit sehr deutlich gemacht, daß wir flexible Konzepte unterstehen. brauchen, die an veränderte Rahmenbedingungen angepaßt werden können. Diese notwendige Flexibi- In diesem Rahmen können und müssen manchmal lität ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gewähr- auch Weisungen ergehen, aber nicht in wissenschaft- leistet. lichen Fachfragen. Dies war bisher so, und das wird auch so bleiben. Zum Thema Forschung: Sie werfen uns ja vor, wir würden die Forschungsaufgaben der Institute als Es gibt genügend gute Beispiele dafür, daß eine „zweitrangig" einstufen. Das ist schlichtweg falsch. solche Zuordnung in der Praxis reibungslos funktio- Wir wollen lediglich eines verhindern: Nämlich daß niert. Ich nenne nur das Paul-Ehrlich-Institut in Frank- die Institute nur noch forschen und sich um die furt und auch das dem Bundesumweltministerium Umsetzung der Gesetze, die die Sicherheit der Men- unterstellte Umweltbundesamt. Beide Einrichtungen schen gewährleisten, nicht mehr kümmern. Deshalb sind direkt dem zuständigen Ministerium zugeordnet. sind wir der Ansicht — und ich denke dies ist auch ein Niemand in diesen Einrichtungen spricht von Bevor- ureigenes Interesse des Parlamentes — daß die Amts- mundung. Es gibt keinerlei Probleme im Zusammen- aufgaben, die sich aus unseren Gesetzen ergeben wirken. Und ich sage es noch einmal: Was für diese — ich nenne als Beispiel nur die Arzneimittelzulas- Einrichtungen gilt, gilt auch für die neuen Bundes- sung nach dem Arzneimittelgesetz — in der Tätigkeit oberbehörden: Es wird keine Einmischung des Mini- der Institute Vorrang haben müssen vor freier For- steriums in wissenschaftliche Fachfragen geben. schung. Die Forschung in den Instituten soll ja eben- 17542* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 falls dazu dienen, konkrete Hinweise auf Verbesse- setzen und darüber dann Vizepräsident und Präsi- rungen des Gesundheitsschutzes zu geben. Grundla- dent? genforschung der Institute ist damit keinesfalls ausge- Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie schlossen. nennen unseren Entwurf ein „Konzept der kurzen Nun zu Ihrem Antrag selbst. Nach dem Antrag der Leine". Unsere Erfahrungen haben uns deutlich Opposition soll bereits bis Ende März — 1994 wohl- gezeigt, daß die Verkürzung der Informations- und gemerkt! — eine Expertenkommission den Gesund- Entscheidungswege zwischen Instituten und Ministe- heits-Forschungsbedarf im Bereich des bisherigen rium zwingend notwendig ist. Und die Erledigung BGA prüfen und außerdem eine effiziente Organisa- mancher Amtsaufgabe muß auch am kürzeren Zügel tionsstruktur für das Amt entwerfen. Die inte rnational geführt werden, damit Gesundheitsvorsorge kein lee- zusammengesetzte Kommission soll auch aus Vertre- res Wort bleibt. Und wenn Sie mir nun ein „Konzept tern französischer, amerikanischer und japanischer der kurzen Leine" vorhalten, so möchte ich Sie ein- Forschungseinrichtungen bestehen. dringlich warnen: Huldigen Sie nicht dem „Prinzip der langen Leitung". Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin ein großer Befürworter internationaler Zusammenarbeit und grenzüberschreitenden Erfahrungsaustauschs. Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Am 13. Oktober des Deshalb haben wir bei der Erarbeitung des heute vergangenen Jahres hat der Bundesminister für vorliegenden Gesetzentwurfs auch ausländische Er- Grundheit mit Zustimmung der Koalitionsfraktionen fahrungen, z. B. aus Amerika, berücksichtigt. Ich bin die Auflösung des Bundesgesundheitsamtes sowie die aber auch der Meinung, daß das Parlament in der Neustrukturierung seines Aufgabenbereiches ange- Lage ist und auch in der Lage sein muß, nach der kündigt. Der heute als Initiative der Regierungsfrak- Auseinandersetzung mit in- und ausländischen Erfah- tionen eingebrachte Gesetzentwurf löst diese Ankün- rungen eine eigene, kompetente Entscheidung zu digung ein. treffen. Dies kann uns kein Experte aus dem Ausland Wir werden im Gesundheitsausschuß durch zügige abnehmen. Zudem gibt es in jedem Land ganz spezi- und konzentrierte Beratung dafür Sorge tragen, daß fische Gegebenheiten, die sich auf die Strukturen dieses vordringliche Gesetz unverzüglich in Kraft niederschlagen. Deshalb sind Erfahrungen aus Japan, treten kann. Vordringlich und unverzüglich auch Amerika und Frankreich nicht vorbehaltlos auf unsere deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, spezifisch deutschen Strukturen übertragbar. weil dieser quälende und langwierige Diskussions- prozeß um das Bundesgesundheitsamt niemandem Das alles zeigt: Es ist wichtig und richtig, über den mehr hilft. Aber auch die Sache, Gesundheitsschutz eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Dies ist eine und Versorgung der Bevölkerung, erfordern es drin- Entscheidungshilfe, kann uns aber nicht von der gend, daß Aufgaben wie beispielsweise die Gewähr- Pflicht, eigene, unseren Verhältnissen entsprechende leistung der Arzneimittelsicherheit von effizienten, Entscheidungen zu treffen, entbinden. Wir müssen dynamischen und damit schlagkräftigen Instituten doch in der Lage sein, eigene Konzepte zu entwickeln. wahrgenommen werden. Welches Selbstverständnis haben wir denn in Deutschland noch, wenn wir nicht mehr den Mut zu Anlaß der Entscheidung, das Bundesgesundheits- eigenen Entscheidungen aufbringen und nur noch amt aufzulösen, waren die Vorfälle des vergangenen darauf hoffen, daß ausländische Experten für uns Herbstes zum Thema HIV-Infektionsgefährdung von entscheiden? Blut und Blutprodukten. Ich darf mir die Wiedergabe der Chronik dieser Ereignisse heute abend ersparen. Und, meine Damen und Herren von der Opposition, Fazit ist jedoch, daß in puncto Arzneimittelsicherheit seien Sie doch einmal realistisch: Es würde doch von Blut und Blutprodukten an dem Geschäftsgeba- inzwischen kaum vor März möglich sein, Mitglieder ren des Bundesgesundheitsamtes, trotz unstreitig für eine internationale Experten-Kommission zu hoher Qualifikation der hier in Frage stehenden gewinnen und die Kommission einzuberufen. Ich Mitarbeiter des Amtes, erhebliche Zweifel zurückge- wage keine Prognose, bis wann dann endlich ein blieben sind. Konzept stehen würde. Nicht ausreichende, d. h. vollständige und schnelle Es würde jedenfalls wieder eine Menge Zeit ins Information über entscheidungserhebliche Fakten Land gehen, ohne daß sich irgend etwas ändert. Und sowie mangelnde gesundheitspolitische Sensibilität deshalb sage ich noch einmal: Ich denke, das Parla- bei der Bewertung vorliegender Fakten sind einige ment ist durchaus in der Lage, selbst kompetent zu der wesentlichen Stichworte, um die es hier ging. Der entscheiden, zumal es ja im Rahmen der parlamenta- auf Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. rischen Beratungen dieses Gesetzentwurfs auch eine eingesetzte parlamentarische Untersuchungsaus- Experten-Anhörung geben wird. schuß befaßt sich nun seit geraumer Zeit mit den hier anstehenden Fragen der Arzneimittelsicherheit, der Insgesamt mutet der SPD-Vorschlag zur Errichtung Haftung und Entschädigung sowie dem Gesamtkom- eines Bundesamtes für Gesundheitsschutz, in den plex dessen, was sich unter dem Stichwort Vergan- offenbar das Konzept eines von Ihnen beauftragten genheitsbewältigung an Erfreulichem und vorwie- Gutachters eingegangen ist, geradezu grotesk an: Sie gend weniger Erfreulichem verbirgt. glauben doch nicht im Ernst, daß es zu einer Straffung der Entscheidungswege kommt, wenn wir acht Fach- Beweggrund der Entscheidung, das Bundesge- bereiche einrichten, in denen die eigentliche Arbeit zu sundheitsamt aufzulösen, ist vielmehr die auf harten leisten wäre, darüber eine „Abteilung Koordination" Fakten beruhende und über Jahre wachsende Über- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17543* zeugung, daß eine Großbürokratie wie das Bundesge- aus den zurückliegenden Jahren. Daß ein derartiges sundheitsamt bereits aufgrund ihrer Struktur nicht Amt mit einem so weitgespannten und heterogenen mehr dazu geeignet ist, die ihr zugewiesenen Aufga- Aufgabenspektrum präsidial nicht effektiv geführt ben optimal zu erfüllen. Die gesundheitspolitischen und dargestellt werden kann, liegt nach meinen Aufgaben von Gegenwart und Zukunft sind mit den Erfahrungen auf der Hand. gewachsenen und tradierten zentralistischen Büro- Denn Faktum ist, daß sich zentralistische hierarchi- kratiestrukturen des Bundesgesundheitsamtes nicht sche Großbürokratien allein schon aufgrund ihrer mehr mit ausreichender Sicherheit zu bewältigen. Das Struktur im Regelfall nicht bewähren. Das bürokrati- ist im Interesse des Gesundheitsschutzes unserer sche Dickicht erstickt Eigeninitiative und Verantwor- Bevölkerung nicht hinnehmbar. tung der Mitarbeiter, Frustration und Gleichgültigkeit Dabei ist unstreitig, daß dem Bundesgesundheits- machen sich breit, alles Symptome, die jedem, der sich amt, insbesondere seinem Präsidenten, seinen Insti- mit derartigen Großorganisationen befassen muß, nur tutsdirektoren und all seinen Mitarbeitern, in der allzugut bekannt sind. Und im übrigen ist das Bundes- Vergangenheit bei der Bewältigung der nicht uner- gesundheitsamt nur eine in der Reihe der Behörden, heblichen Aufgaben des Amtes zweifelsohne Ver- die hier ohne weiteres um einige nicht unbedeutende dienste zukommen. Diese sollen hier keinesfalls Beispiele erweitert werden könnte. geschmälert werden. Für die Arbeit und das Bemühen um den gesundheitspolitischen Erfolg schulden wir Es freut mich daher, daß die Opposition mit uns in vielmehr Dank und Anerkennung. der grundsätzlichen Einschätzung übereinstimmt, daß das Bundesgesundheitsamt und seine Aufgaben Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, daß das Bundes- reformbedürftig sind. Der Gesundheitsschutz und die gesundheitsamt als Amt seit Jahren in der Kritik ist. So Gesundheitsversorgung der Bevölkerung gebieten ist beispielsweise das Arzneimittelinstitut in den diesen Schritt. Darin sind wir uns glücklicherweise zurückliegenden Jahren wegen des Zulassungs- und einig. Nur sind die von Ihnen angebotenen Rezepte Nachzulassungsstaus bei Arzneimitteln immer wieder nach meiner Auffassung nicht überzeugend. Im in die gesundheitspolitische Schußlinie geraten. Die Gegensatz zu mir halten Sie die Großbürokratie Wasserstandsmeldungen über den Antragsstau bei Bundesgesundheitsamt für reformierbar. Eine Struk- der Arzneimittelnachzulassung sind jedem der sich turreform an „Haupt und Gliedern" ist Ihrer Meinung mit Gesundheitspolitik befaßt, nur allzugut aus leid- nach entbehrlich. Ich habe dargelegt, warum ich mich voller Erfahrung heraus bekannt. Auch die teilweise diesem — frommen — Glauben nicht anzuschließen widersprüchlichen Einlassungen des Amtes zum vermag. Thema BSE im vergangenen Jahr waren immer wie- der eine Schlagzeile und Überraschung wert. Das von Ihnen zur Klärung der hier anstehenden Fragen angebotene Mittel halte ich jedoch für nahezu Externe und interne Organisationsuntersuchungen grotesk. Sie fordern — mal wieder — die Einsetzung waren das Ergebnis dieser vielfältigen Kritik. So einer Expertenkommission, um die Mammutbehörde haben der Bundesrechnungshof und auch ein p rivates Bundesgesundheitsamt zu reformieren. Mammuts Wirtschaftsberatungsinstitut ihr Glück bei der Durch- und schon gar nicht bürokratische Dinosaurier, wie forstung dieses bürokratischen Dschungels versucht. das Bundesgesundheitsamt einer ist, haben vor Der praktische Nutzen dieses Bemühens ging leider Experten auch in der geballten Form von Kommissio- weitgehend gegen null. nen keine Angst. Und Warum? Um Himmels willen, Auch die Ministerialbürokratie befaßt sich seit Jah- gerade wieder eine Kommission? Erklären Sie mir das ren mit diesem Thema. Mitte des vergangenen Jahres bitte, helfen Sie mir? Kommissionen und Experten kulminierte dieses Bemühen in der Einsetzung einer haben sich mit diesem Amt in ausreichender Zahl weiteren internen Expertenkommission und Arbeits- befaßt. Woran es fehlt, sind lediglich Entscheidun- gruppe des Ministeriums, die die Aufgabe hatten, das gen. Bundesgesundheitsamt nunmehr endlich flott zu Unser Vorschlag, das Amt als Einheit und Zentral- machen. Diese Arbeiten wurden jedoch letztendlich behörde aufzulösen und die bisherigen Institute zu von den genannten Vorfällen zur Arzneimittelsicher- konzentrieren und zu verselbständigen, ist daher nur heit von Blut und Blutprodukten im vergangenen Jahr konsequent. Ziel dieser gesetzgeberischen Maßnah- überrollt. Eine Bewertung der Bestrebungen, das men ist es, Gesundheitsvorsorge und Gesundheits- Bundesgesundheitsamt zu erhalten und als Großbü- schutz der Bevölkerung durch Erhöhung der Effizienz rokratie durch interne Reformen zu modernisieren, der Aufgabenerfüllung zu verbessern. kann ich mir daher ersparen. Die Auflösung der bisherigen zentralen Strukturen Tatsache ist, daß die Entscheidung, das Bundesge- des Amtes sowie die rechtliche Verselbständigung der sundheitsamt aufzulösen und diesen Aufgabenbe- neu zu gliedernden Aufgabenbereiche wird dieses reich neu zu ordnen, überfällig war. Bereits wenige gewährleisten. Ziel ist es, die derzeitigen Zentralein- Fakten machen das signifikant. Das Amt hat sich seit heiten des Bundesgesundheitsamtes aufzulösen so- seiner Errichtung im Jahre 1952 von 400 auf rund wie die bisher dem Amt nachgeordneten Institute in 2 700 Dauer- und Zeitstellen mit steigender Tendenz rechtlich selbständige, direkt dem jeweils federfüh- aufgebläht. Grund dieses quantitataiven Wachstums renden Ministerium nachgeordnete Einrichtungen des Personalhaushaltes war auch die ständige Zuwei- mit konzentriertem Aufgabenzuschnitt umzuwan- sung des Vollzugs weiterer Aufgabenbereiche an das deln. Amt durch die Politik. Das Arzneimittelgesetz sowie das Gentechnikgesetz mit der zentralen Kommission Ergebnis dieser aufgabenbezogenen Trennung der für die biologische Sicherheit sind nur drei Beispiele bisherigen Strukturen sollen folgende Institute sein: 17544* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro- Karl-Hermann Haack (Extertal) (SPD): Zunächst dukte, das Robert-Koch-Institut sowie das Bundesin- möchte ich eine politische Eingangsbemerkung stitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und machen: Seit einem Jahr erleben das Parlament und Veterinärmedizin. die interessierte Öffentlichkeit einen Gesundheitsmi- nister, der in Stakkato dieser Republik ständig Horror- Aufgabe der neu zu gründenden Ins titute wird meldungen verkündet. Als Beispiel will ich sagen: sowohl — selbständige — Forschung als auch Admi- AIDS und Blutskandal und als ein weiteres daraus nistration im jeweiligen Aufgabenbereich sein. Im folgend die Auflösung des Bundesgesundheitsamtes, Rahmen der Aufgabenzuweisung zu den Instituten in der Publizistik Zerschlagung des Bundesgesund- werden sowohl Forschung als auch Verwaltung heitsamtes genannt. Der Minister erntet von der eigenständige und gleichgewichtige Aufgabe dieser erstaunten Öffentlichkeit Beifall. Endlich geht jemand Einrichtungen sein. Zu betonen ist, daß das Ziel dieser gegen die Bürokratie vor. Der Minister antwortet auf Neuordnung nicht, wie teilweise insbesondere von Kritik: „Ich stelle mich der Verantwortung, laufe nicht wissenschaftlichen Fachgesellschaften befürchtet, vor der Verantwortung fort". Die Öffentlichkeit staunt eine Bevormundung von wissenschaftlicher Tätigkeit und sagt: Da handelt jemand in Bonn. Jedoch bei in diesen Instituten oder gar die straffere Anbindung genauerem Hinsehen entdeckt man einige Unge- von Forschung an die jeweils aufsichtsführenden reimtheiten, die das Bild des handelnden Ministers Ministerien ist. Die Forschung auf Grund ministeriel- Seehofer trüben. ler Weisung entspricht keinesfalls unseren gesund- heits- und forschungspolitischen Vorstellungen. For- Wir erinnern uns des Zahlenspiels zwischen dem schungsergebnisse per „Ordre de mufti" wird es nicht Minister und der zuständigen Abteilung des Bundes- geben. Dazu ist der Gesundheitsschutz ein viel zu gesundheitsamtes. Dabei wurde im Rahmen einer wichtiges Anliegen, das bürokratische Einmischung Sondersitzung eine Zahl von 371 neuen AIDS-Fällen nicht verträgt. Ich bin davon überzeugt, daß die dargestellt. Ferner wurde die Auflösung des Bundes- eigenständige wissenschaftliche Forschung der Insti- gesundheitsamtes als eine Konsequenz dieses Falles tute im Rahmen ihrer Aufgaben ihren selbständigen verkündet. In der Öffentlichkeit wurde suggeriert, daß Stellenwert haben muß. nunmehr das Faß zum Überlaufen gebracht sei. An Aufklärung erfolgte bis heute nichts. Einer von drei Strukturprinzip der Neuordnung ist daher die suspendierten Mitarbeitern mußte inzwischen rehabi- dezentrale, eigenverantwortliche Erfüllung der zuge- litiert werden. wiesenen wissenschaftlichen und administrativen Zunächst einmal hat die SPD dieses Vorgehen des Aufgaben. Es ist Ziel der CDU/CSU-Fraktion, wissen- Ministers als Befreiungsschlag begrüßt. Dies vor dem schaftlich herausragende selbständige Institutionen Hintergrund, daß ohnehin im Ausschuß zu diesem zu schaffen, die national sowie international in ihrem jeweiligen Tätigkeitsspektrum führend sein können. Zeitpunkt Eckwerte für eine Neuorganisation des Bundesgesundheitsamtes anstanden. Jedoch ist er- Ich erwarte daher, daß seitens des Bundesministeri- kennbar, daß der Minister einen anderen Weg ums für Gesundheit im Rahmen der parlamentari- beschreitet als im Ausschuß verabredet. Deutlich wird schen Beratungen im Bundestagsausschuß für Ge- dies am heute vorliegenden Entwurf: Die Einrichtun- sundheit Vorschläge unterbreitet werden, wie dieses gen des vormaligen Bundesgesundheitsamtes sollen Ziel durch die möglichst effektive und zielorientierte an die kurze politische Leine genommen und der Organisation der neu zu errichtenden Institute Politik verfügbar gemacht werden. Voraussetzung erreicht werden kann. Gerade insofern wird von dafür ist die Auflösung des Präsidialbüros und der herausragender Bedeutung sein, wie der durch Gesamtleitung des Bundesgesundheitsamtes selbst. das hier eingebrachte Gesetz formulierte Rahmen Das Presse-Echo in der Republik ist geteilt. Die der Organisationsreform dieses Aufgabenbereiches seriöse Presse, so würde ich feststellen wollen, ist auf durch verwaltungsinterne Entscheidungen und Maß- Distanz zum Minister gegangen. Vokabeln wie „Hek- nahmen mit Leben erfüllt wird, das zumindest den hier tik" und „Unbesonnenheit" beherrschen die Kom- skizzierten Vorstellungen entspricht. mentierungen in der Presse. Die Presse fragt nach Wir werden daher seitens des Gesundheitsaus- Motiven, die außerhalb dieses Sachverhaltes liegen schusses des Bundestages auch den Sachverstand und und des Rätsels Lösung offenbart der Minister selbst die Erfahrungen führender ausländischer Institute zu im „Spiegel"-Interview zum Ausgang des letzten Rate ziehen. Ich kann daher der Hoffnung Ausdruck Jahres. Dort trifft er die Feststellung, daß er sich geben, daß wir im Gesundheitsausschuß im Rahmen demnächst vom grundsätzlichen her in die Politik eines internen Expertengespräches den Präsidenten einmischen will, d. h. im Klartext die Aktionen des des Pasteur-Ins titutes in Paris sowie den Präsidenten letzten halben Jahres 1993 waren mehr der Beförde- der Food-and-Drug-Administration in Washington rung der eigenen Karriere zugedacht als tatsächlicher sowie den Präsidenten des japanischen Kitasuto- Problemlösung. Institutes werden anhören können. Auch daraus ver- Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, als mag man zu erkennen, daß es uns um die Sache, d. h. politische Eingangsbemerkung zur Hintergrundbeur- um die effiziente Org anisation der hier in Frage teilung. Nun zur Sache selbst: stehenden Bereiche im Interesse des Gesundheits- Seit eineinhalb Jahren berät der Ausschuß für schutzes und der Gesundheitsversorgung unserer Gesundheit des Deutschen Bundestages den Fahrplan Bevölkerung geht. zur Neuorganisation des Bundesgesundheitsamtes. Ich bitte Sie daher, den Antrag zur Beratung dem Für die SPD selbst war dieses ein Thema ständiger federführenden Gesundheitsausschuß zu überwei- Beratungen mit Fachgesellschaften, Wissenschaftlern sen. und den Beschäftigten im Bundesgesundheitsamt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17545*

Für die SPD hat dabei immer im Vordergrund stehen. Ein Großteil dieser Vorschläge ist charakteri- gestanden, mit den Betroffenen und der Fachöffent- siert durch verdeckte Interessenwahrnehmung, der lichkeit als auch den Medien eine Konsenslösung zu Bonn-Berlin-Beschluß spielt dabei eine Rolle. Dieser erreichen, da es vor dem Hintergrund der Tradition Sachverhalt, Herr Minister, sollte Anlaß sein, den dieses Bundesgesundheitsamtes als unfair erscheint, Weg, den wir bisher im Gesundheitsausschuß gegan- Ad-hoc-Lösungen, wie jetzt praktiziert, der Öffent- gen sind, nämlich im Konsens miteinander als auch lichkeit zu präsentieren. Zumal der angebotene mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bun- Lösungsweg kein Königsweg ist. desgesundheitsamtes und der fachinteressierten Öf- Verabredet war, im November letzten Jahres ein fentlichkeit einen gemeinsamen Weg zu suchen, das Zwischenergebnis im Ausschuß zu beraten. Dazu ist Bundesgesundheitsamt durch eine Neuorientierung es nicht gekommen. Kernpunkt sollte die Frage sein: aus dessen Strukturkrise herauszuführen. Das heißt Kann die derzeitige Struktur des Bundesgesundheits- konkret: zunächst einmal die Schwachstellenanalyse amtes erhalten bleiben, ja oder nein? Durch die zur Lage des Bundesgesundheitsamtes abschließen, Presseerklärung des Ministers vom 13. Oktober letz- danach im Rahmen eines Anhörungsverfahrens mit ten Jahres ist gewissermaßen im Schnellschuß die der fachinteressierten Öffentlichkeit und den Ver- Diskussion im Fachausschuß beendet worden. Fest- brauchern sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- steht: Seit dieser Zeit ist viel Vertrauen in die Hand- tern des Bundesgesundheitsamtes Eckdaten für eine lungsfähigkeit des Bundesgesundheitsamtes zer- Reorganisation dieses Amtes entwickeln, um dann schlagen worden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- letztendlich politisch zu entscheiden, in welch einer ter sind verunsichert worden, das internationale Anse- Form wir uns eine Neuorganisation der Arbeit des hen des Bundesgesundheitsamtes mit seinen eigenen Amtes vorstellen. Gemeint ist damit auch ein Lücken- einzelnen Fachinstituten ist beschädigt. Dies alles, schluß zu vergleichbaren Weltinstituten. Qualifizie- Herr Minister, geht auf Ihre Kosten. rung ist das Stichwort dazu. Die SPD legt in ihrem Antrag Eckdaten vor, sie resümieren gewissermaßen Sie machen in dem Gesetz aus sechs Instituten vier den Zwischenschluß einer Diskussion unserer Ar- selbständige Institute, lösen das Präsidialbüro und die beitsgruppe. Zentralabteilung auf und binden die einzelnen ver- bliebenen Institute in die jeweiligen Bundesministe- Wir möchten generell die Umwandlung des Bun- rien, für Bundesministerium Gesundheit und Bundes- desgesundheitsamtes in ein Bundesamt für Gesund- ministerium für Umwelt und Reaktorsicherheit ein. heitsschutz. Hier soll deutlich gemacht werden, daß Sie begründen die Einbindung der einzelnen Institute eine industriell verfaßte Gesellschaft mit einem Mehr in die Ministerien damit, daß dadurch ein kurzer an industriellen Produkten zu einem Mehr an Gesund- Dienstweg sichergestellt wird und schnelle Entschei- heitsgefährdung führt. Hinzu kommen individuelle dungen zum Schutz der Verbraucher ge troffen wer- Lebensweisen, die ebenfalls eines besonderen Ge- den können. sundheitsschutzes bedürfen. Die Kritik am BGA und die daraus resultierenden Erwartungen zur Neuordnung bei den Mitarbeiterin- Schwerpunktmäßig soll dieses Amt den Vollzug von nen und Mitarbeitern als auch der politischen und Hoheitsaufgaben durchführen, auf der Basis beste- fachorientierten Öffentlichkeit war dagegen auf mehr hender Gesetze und Verordnungen. Ferner soll es die Selbständigkeit, Eigenverantwortung der Institute Riskoerfassung und die Risikoabschätzung vorneh- gerichtet, auf mehr Selbständigkeit des Bundesge- men. Hier heben wir ab auf die zunehmende Risiko- sundheitsamtes in seiner Gesamtheit, als auf eine bedeutung von Produkten in unserer industriellen Mehranbindung an die Politik. Sie setzen sich dem Arbeitswelt als auch in unserer Konsumwelt, die Verdacht aus, Herr Minister, daß die politische Ein- gesundheitsgefährdend wirken. Das kommende Me- flußnahme auf Fachentscheidungen der einzelnen dizinproduktegesetz ist dafür ein Beispiel. Ferner sind Institute das tragende Motiv der Neuordnung ist. wir der Auffassung, daß ein solches Bundesamt für Gesundheitsschutz der Politikberatung dienen soll, Ich will Ihnen dazu ein Beispiel geben: Wir wissen sowohl den Parlamenten als auch der fachinteressier- alle, daß es eine Auseinandersetzung gegeben hat im ten Öffentlichkeit und den Verbrauchern. Wichtig ist Hinblick auf Salmonellose, verursacht durch infizierte für uns, daß wir in diese Arbeit hineinnehmen wollen Hühnereier. Regeln sollte das die sogenannte „Eier- die Tätigkeiten der Bundeszentrale für gesundheitli- verordnung". Der fachwissenschaftliche Streit ging che Aufklärung. Wir meinen hier, daß dieser Aspekt um die Frage, ab wann Eier gekühlt gehandelt werden mit berücksichtigt werden sollte. sollen: ab 18 oder ab 10 Tagen. Aus fachlichen Gründen hat sich das Bundesgesundheitsamt dafür Herr Minister, nun muß man bei einer solchen ausgesprochen, eine Nichtkühlung der Eier bis zu schwierigen Aufgabe auch behutsam vorgehen, 10 Tagen zu erlauben. Nach politischer Einmischung zumal bereits genug Porzellan zerschlagen ist. Des- durch das Landwirtschaftsministerium wurde diese halb schlagen wir die Einsetzung einer Expertenkom- Grenze auf 18 Tage erhöht und damit die Infektions- mission vor, die den Ausschuß in seinen Entscheidun- gefahr durch Salmonellose beim Verzehr von Hühner- gen beraten soll. Diese Expertenkommission soll klä- eiern politisch bewußt in Kauf genommen — dies, aus ren, welcher Bedarf an Eigen- und Fremdforschung der Interessenlage heraus, daß das Landwirtschafts- besteht, und versuchen, daraus unter Herbeiziehung ministerium glaubte, die Legebatteriehalter schützen der vorgenannten vier Aufgaben des neuen Bundes- zu müssen. Wo bleibt da der Verbraucherschutz? amtes für Gesundheitsschutz eine neue Organisa- Es gibt inzwischen eine Menge Vorschläge, die tionsstruktur für das Amt selbst zu entwerfen. Hierbei neben den Vorschlägen des Ministers und der SPD wird schwerpunktmäßig die Frage nach der Koordi- 17546* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 nierung der Arbeit aller einzelnen Institute zu beant- effizientem Arbeiten zu tun hat, dürfte jedem klar worten sein. sein. Wichtig für uns als Gesundheitspolitiker ist, daß wir Ganz besonders ärgerlich sind aber die Informa- davon ausgehen, daß Gesundheitspolitik eine öffent- tionsprobleme gewesen, die es immer wieder zwi- liche Angelegenheit ist und sich somit auch in der schen BGA und Ministerium, aber auch zwischen Neustruktur des Bundesamtes für Gesundheitsschutz BGA und Politik gegeben hat. Es kann nicht angehen, die Öffentlichkeit wiederfinden muß. Deswegen daß die Presse zum Teil über drohende Gefahren schlagen wir die Errichtung eines Kontroll- und Bera- besser und schneller informiert ist als wir. Eine wich- tungsgremiums in Unabhängigkeit vom neuen Amt tige Aufgabe des Bundesgesundheitsamtes liegt nun vor, um sicherzustellen, daß nicht Partikularinteressen einmal in der Vermeidung von Gefahren für die die Entscheidungen der jeweiligen Ämter beherr- Bevölkerung. Eine solche Vermeidung ist aber nur schen. möglich, wenn die für entsprechende rechtliche Änderungen Zuständigen frühestmöglich umfassend Wir sind der Auffassung, daß diese Arbeit bis zum informiert werden. 31. März dieses Jahres geleistet werden kann, da, um nochmals daran zu erinnern, die Ministerialbürokratie Es ist also keinesfalls so, wie aus Interessensgrün- schon erhebliche Vorarbeit in Form einer Schwach- den in der letzten Zeit immer wieder dargestellt, daß stellenanalyse geleistet hat. Diese könnte zur Grund- die Umstrukturierung des Bundesgesundheitsamtes lage der Arbeit der Expertenkommission werden. ein Ziel an sich sei, sondern wir verbinden damit die Erwartung, Gesundheitsschutz und Gesundheitsvor- Der von uns unterbreitete Vorschlag zur Reorgani- sorge sowie Verbraucher- und Patientenschutz besser sation des Bundesgesundheitsamtes ist ergebnisoffen, zu gewährleisten, als dies mit den zahlreichen voran- er ist getragen von einer Strategie der Gewinnung des gegangenen Pannen möglich war. Sogar der BGA- Vertrauens der fachorientierten Öffentlichkeit, als Vizepräsident Joachim Welz hat bei der Jahrespresse- auch der Verbraucher und der Politik. Wir sehen in konferenz des BGA im Oktober letzten Jahres eine einem solchen Verfahren einen wesentlichen Beitrag Häufung von Pannen zugegeben, die auf organisato- zur Verbesserung der gesamten Situation des rische Schwächen schließen lassen. Und auch die Gesundheitsschutzes in der Bundesrepublik. Kollegen von der SPD Klaus Kirschner, Horst Schmid- bauer und Karl Hermann Haak haben in einer Pres- Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Der nun eingebrachte semitteilung vom 13. Oktober ja die Absicht, das Gesetzentwurf hat ja, wie Sie alle wissen, eine lange Bundesgesundheitsamt aufzulösen und die einzelnen Vorgeschichte, auch wenn das Tüpfelchen auf dem i Institute des Amtes der Fach- und Dienstaufsicht des die bekanntgewordenen Informationsdefizite zwi- Gesundheitsministeriums direkt zu unterstellen, als schen Bundesgesundheitsamt und Bundesgesund- längst überfällig bezeichnet und dies deshalb begrüßt. heitsministerium im Zusammenhang mit der Aufar- Es freut mich, daß wir, was das Ziel anbelangt, einen beitung der HIV-Infektionen durch Blut oder Blutpro- so breiten Konsens haben. Ich bin allerdings der dukte waren. Auffassung, daß es für die Setzung von Rahmenbedin- gungen zur Neuordnung des Bundesgesundheitsam- 1985 hat der Haushaltsausschuß des Bundestages tes, wie sie in diesem Gesetzentwurf vorgesehen ist, eine Sonderprüfung durch den Bundesrechnungshof nicht der Einsetzung einer Expertenkommission bewirkt, weil die Bundesregierung besorgt über die bedarf, wie Sie, Meine Damen und Herren von der Desorganisation des Bundesgesundheitsamtes war. SPD, dies wünschen. Wie schnell Expertengruppen Dabei haben sich gravierende Mißstände im Amt und arbeiten, darin haben wir alle, denke ich, genügend Konzeptionslosigkeit in weiten Bereichen herausge- Erfahrung sammeln können. Zudem bietet eine Viel- stellt. Danach kommt es 1987 zu einer Welle von zahl von Fachleuten auch keine Gewähr dafür, daß Zulassungsanträgen von Arzneimitteln, der das BGA- dann im Endeffekt etwas Sinnvolles dabei heraus- Arzneimittelinstitut nicht gewachsen ist. 1989 sind es kommt. dann bereits 11 000 unbearbeitete Zulassungsan- träge, die in Containern eingelagert werden. Immer Trotz aller Kritik am BGA — ich darf an dieser Stelle wieder habe ich darauf hingewiesen, daß dies ein an Holzschutzmittel, Mineralfasern und Amalgam unhaltbarer Zustand ist und daß zahlreiche Mängel im erinnern — muß man natürlich auch berücksichtigen, Bereich des Arzneimittelinstitutes ein effizientes unter welch großem Druck diese Behörde steht, wenn Arbeiten nicht möglich machen. Und dies ist auch der wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. Um so Grund, warum bekanntlich auf Drängen der F.D.P. ein wichtiger ist es dann aber, daß die Strukturen nicht Gutachten bei der Unternehmensberatungsgesell- noch zusätzliche Schwierigkeiten aufwerfen. Ich will schaft Mummert & Partner in Auftrag gegeben wor- gar keine Böswilligkeit bei den vorgefallenen Pannen den ist, das zu einem harten Urteil kam. Die Verbes- unterstellen; man muß sich doch nur einmal die serungsvorschläge des Bundesrechnungshofes von Entwicklung anschauen. 1987 sind nicht verwirklicht worden. Es bestehen Das Bundesgesundheitsamt hat sich im Laufe der massive Defizite im Bereich der Organisation, der Jahre zu einer riesigen Institution ausgeweitet. Von Information, der Kommunikation und der EDV. 400 Stellen im Jahre 1952 ist die Anzahl der Beschäf- Vor dem Gesundheitsausschuß des Deutschen Bun- tigten auf mittlerweile rund 3 000 angewachsen. Eine destages muß der Leiter des BGA-Arzneimittelinsti- solche Behörde mit 6 Instituten ist durch eine zentrale tuts 1992 zugeben, daß es nicht gelungen ist, von 1985 Struktur nur äußerst schwer lenkbar. Die Ergebnisse bis zu diesem Zeitpunkt eine leistungsfähige EDV haben wir alle in den letzten Jahren gesehen. Es aufzubauen. Daß dies auch eine ganze Menge mit erscheint von daher sinnvoll und geboten, eine Neu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17547* organisation der Institute vorzunehmen. Ich begrüße ben werden konnte, die Führung des BGA habe sich es, daß insgesamt nur noch 4 Institute bestehen sollen. nicht ausreichend von politischen Einflußnahmen Aus sachlichen Erwägungen heraus war eine solche freigehalten. Es ist also nicht zu bestreiten, daß seitens Zusammenlegung einzelner Aufgaben bzw. Institute der Leitung des BGA gravierende Fehler gemacht gut möglich. Ich begrüße es auch, daß das bisherige wurden, daß es Mängel und Mißstände gibt. BGA-Institut für Wasser-, Boden und Lufthygiene in - Allerdings muß auch gesagt werden, daß von einem das Umweltbundesamt eingegliedert werden soll. Teil der Vorwürfe bei späterer genauer Überprüfung Die Neustrukturierung der Institute muß für mich kaum etwas übriggeblieben ist. Auch die von Minister verschiedene Kriterien erfüllen. Dazu gehören insbe- Seehofer in der Öffentlichkeit genannten Anlässe für sondere folgende Punkte. die Auflösung des Amtes haben sich weitgehend als Erstens. Es hat eine aktualisierte Festlegung der unhaltbar erwiesen. Wie man inzwischen erfahren künftigen Amtsaufgaben zu erfolgen. In diesem konnte, haben sich die gemaßregelten Wissenschaft- Zusammenhang ist darauf zu achten, daß die Institute ler keiner Pflichtverletzung schuldig gemacht. wissenschaftlich und administrativ unabhängig sind, Eine unverantwortlich handelnde Sensationspresse insbesondere im Hinblick auf die Veröffentlichungen hat allerdings inzwischen mit pauschalen Vorwürfen wissenschaftlicher Bewertungen im Dienste des der Korruption und fachlichen Inkomptenz Tausende Gesundheits- und Verbraucherschutzes. Mitarbeiter diskreditiert, die Bevölkerung verunsi- Zweitens. Notwendig ist darüberhinaus eine chert und das Vertrauen in die Arbeit dieser wichtigen erhöhte Reaktionsfähigkeit der Institute durch ver- Bundesbehörde erst einmal gründlich zerstört. mehrte Selbständigkeit sowie der Abbau der bisheri- In dieser künstlich geschaffenen, falschen Atmo- gen vertikalen Hierarchie der Institutszuordnung. sphäre findet die nun vorgesehene Zerschlagung des Neue Erkenntnisse und Anforderungen müssen BGA nicht wenig populistischen Anklang, ja sogar die schnellstmöglich umsetzbar sein, damit vergleichbare politische Unterstützung der Koalitionsfraktionen. Entwicklungen, wie bei der HIV-Infizierung durch Über diesen Anklang sollte sich allerdings niemand Blut oder Blutprodukte, vermieden werden können. täuschen. Ein Beifall aus Teilen der fehlinformierten Drittens. Wir brauchen eine effiziente Koordination Öffentlichkeit meint gar nicht so sehr das BGA. Viel der Instituts- bzw. fachübergreifenden Aufgaben. plausibler scheint, daß sich hier angesichts der vielen Enttäuschungen und Verdrossenheiten mit der Politik Das Gesetz deckt nur einen Teil der Kriterien ab. lediglich ein lang aufgestauter Frust gegen Behörden Überall dort, wo schnell und flexibel auf Änderungen und politische Institutionen schlechthin abreagiert. reagiert werden muß, erscheint eine Festlegung in Sehr wahrscheinlich könnte man also ganz ähnlichen Verwaltungserlassen sinnvoll. Wir werden sehr pein- Beifall auch für den Vorschlag erwarten, die Bundes- lich darauf achten, daß dies in unserem Sinne regierung oder vielleicht ganz speziell das Bundesge- geschieht, und das heißt für mich insbesondere auch, sundheitsministerium aufzulösen. daß eine Möglichkeit geschaffen wird, bei Bedarf institutsübergreifende Aufgaben gemeinsam zu be- Mit dem Vorstoß zur Beseitigung des BGA ist wältigen und — wo notwendig — externe Sachver- letztlich nichts weiter geschehen, als daß gewollt oder ständige beratend hinzuzuziehen. Ob dies in einer ungewollt ein im geradezu biblischen Sinne klassi- administrierten Form erfolgen muß oder z. B. über scher Sündenbock benannt wurde. Auf den können einen Beirat — da bin ich offen. Wichtig ist allein, daß nun alle möglichen Verfehlungen, vielleicht gar sol- für eine kompetente Koordination gesorgt wird. che des eigenen Ministeriums, abgeladen werden. Wenn wir von den Leitern der Institute erwarten, Mit sachkundiger, verantwortungsvoller und seriö- daß sie Managementfähigkeiten mitbringen — und ser Politik hat all das nichts zu tun. Man kann es gar ich denke, da sind wir uns einig, daß es ohne diese nicht klar genug sagen: Die vorgesehene Auflösung Qualifikation nicht funktioniert —, müssen sie auch des BGA und die Zuordnung einzelner Institute in die entsprechend bezahlt werden. Wer ständig Entschei- unmittelbare Fach- und Dienstaufsicht des Ministeri- dungen zu treffen hat, die steuernde Wirkungen auch ums ist ein schwerer gesundheits- und wissenschafts- auf die Industrie und Unternehmen haben, kann nicht politischer Fehler. mit dem Gehalt eines Referatsleiters nach Hause Das Grundübel des Amtes, seine in der Tat zu geschickt werden. Dies vereinbart sich nicht damit, kritisierende Politik- und Industrienähe, wird durch Verantwortlichkeit und Kompetenz in hohem Maße Auflösung nicht nur nicht beseitigt — ganz im Gegen- auf die Institute zu verlagern. teil, es werden günstigere Bedingungen für seine weitere Ausbreitung geschaffen. Zugleich muß die Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Das Bundes Zersplitterung der Kapazitäten früher oder später zu gesundheitsamt ist in der jüngsten Vergangenheit einer Minderung der wissenschaftlichen Leistungsfä- mehrfach in die Kritik geraten. Ich denke an die higkeit und Kompetenz führen. Mit der vorgesehenen Expertisen zu Asbeststaub, Formaldehyd oder Holz- Zuordnung des Institutes für Wasser-, Boden- und schutzmittel. Zuletzt st and es im Zusammenhang mit Lufthygiene zum Umweltministerium würde ein für den HIV-verseuchten Blutprodukten im Kreuzfeuer. die Gesundheit der Menschen eminent wichtiger Bereich aus der Verantwortung der Gesundheitspoli- Wirklich schlimm ist, daß das BGA dabei mehrfach tik herausgenommen. in den Verdacht geriet, die Interessen der Verbrau- cher nach Schutz ihrer Gesundheit wirtschaftlichen Mit anderen Worten, die Aufgaben zur Abwehr von Interessen von Herstellern bestimmter Produkte Gesundheitsgefahren, denen das BGA verpflichtet ist, untergeordnet zu haben, und daß der Vorwurf erho- verlangen von der Sache her ganz zwingend ein 17548* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 komplexes, gut koordiniertes interdisziplinäres und gestaltet werden. Die Einbeziehung auch internatio- kein zersplittertes Herangehen. Diese Koordinierung naler Experten kann dabei nur dienlich sein. der zwangsläufig nicht selten in ihren Ansichten und Dazu braucht es allerdings nicht kleinerer, sondern Bewertungskriterien voneinander abweichenden größerer Auflagen- und Kontrollbefugnisse. Wissenschaftler und Institute kann und sollte aber nicht im Gesundheitsministerium erfolgen. Sie gehört Der vorliegende Gesetzentwurf der Koalition ver- nun einmal in die Hand der Wissenschaftler. folgt bereits vom Ansatz her eine falsche Richtung. Er Hinzu kommt: Die Aufteilung des BGA in mehrere sollte ersatzlos zurückgezogen werden. Der Antrag kleinere, vermeintlich leichter handhabbare Institute der SPD sollte dagegen die Grundlage weiterer Über- birgt natürlich die Gefahr in sich, daß auch eine legungen sein. unmittelbare politische Einflußnahme auf Stellung- nahmen und Forschungsergebnisse größer wird. Nach Aussagen der Mitarbeiter des veterinärmedizinischen Instituts — getroffen in einem offenen B rief — hat sie teilweise jetzt schon ein unerträgliches Maß erreicht. Anlage 5 Was wir aber brauchen, ist die gesetzlich garantierte und praktisch respektierte Selbständigkeit und volle Zu Protokoll gegebene Reden Eigenverantwortung des BGA für seine wissenschaft- zu Tagesordnungspunkt 9 (Gesetzentwurf über lichen Gutachten, Empfehlungen und Ergebnisbe- Krebsregister) richte. Herr Minister, die von Ihnen mehrfach geäu- ßerte Überzeugung, daß die Unabhängigkeit der Institute nicht beeinträchtigt werden soll, mag subjek- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin tiv wirklich so gemeint sein. Realistisch ist sie leider beim Bundesminister für Gesundheit: Jedes Jahr nicht, vielmehr reines Wunschdenken. erkranken in Deutschland mehr als 300 000 Men- schen an Krebs. Und in jedem Jahr sterben bei uns Ein stärkerer Einfluß der Tagespolitik auf die fach- 200 000 Patienten an den Folgen von Krebserkran- liche Arbeit würde sich aber schon mittelfristig nega- kungen. tiv auf Niveau und Ruf des Amtes auswirken müssen. Übrigens: Wirkliche Spitzenleute lassen sich unter Diese Zahlen zeigen: Von einer Beherrschung des solchen Bedingungen kaum noch gewinnen. Krebsproblems kann keine Rede sein. Trotz vieler Fortschritte in der Therapie und der Erforschung der Noch hat die Arbeit des BGA einen anerkannt Risikofaktoren stößt die Medizin oft genug an die hohen Wert. Aber wer die Spielregeln des Wissen- Grenzen ihrer Möglichkeiten. Wir wissen heute zum schaftsbetriebs kennt, weiß: Die jetzt vorgesehene Beispiel sehr viel über einzelne Einflußfaktoren wie Auflösung ist auch der Anfang vom Ende der Institute das Rauchen. Es ist unbes tritten, daß Rauchen zu als leistungsfähige Einrichtungen. Krebserkrankungen führen kann. Aber bis heute ist Sollte dies alles nicht sogar die Politik dieser Regie- viel zuwenig über die ursächlichen Zusammenhänge, rung in ihrer unendlichen Weisheit doch einmal die zu einer Krebserkrankung führen, bekannt. anfechten? Soll wirklich die Kompetenz der Wissen- Deshalb brauchen wir ein Netz von regionalen schaft einfach zurückgewiesen und durch die Arro- Krebsregistern in ganz Deutschl and. Denn die For- ganz der Politik ersetzt werden? schung braucht die Daten aus diesen Registern, um Die PDS/Linke Liste sagt: den Ursachen von Krebserkrankungen besser auf die Spur zu kommen. Sie braucht diese Daten auch, um Erstens. Die Beobachtung komplex verursachter den Nutzen diagnostischer und therapeutischer Stra- gesundheitlicher Risiken aus der Umwelt und die tegien überprüfen zu können. Das gilt unter anderem damit zusammenhängende Politikberatung wird an auch für die einzelnen Bereiche des Krebsfrüherken- Bedeutung noch erheblich zunehmen. Eine einheitli- nungsprogramms. che, oberste Bundesbehörde ist deshalb für die Gesundheitsschutz-Funktion des Gesundheitswesens Und schließlich könnten die Register die Aufgaben in der Bundesrepublik unverzichtbar. eines Frühwarnsystems wahrnehmen, mit dem schneller und zuverlässiger als heute Trends in der Zweitens. Wirksamer Gesundheits-, Umwelt- und Entwicklung von Krebskrankheiten sichtbar gemacht Verbraucherschutz kann nur durch eine unabhängige werden könnten. Sogenannte „Krebsnester", also und selbst wissenschaftlich forschende Institution besonders oft auftretende Erkrankungen an bestimm- gewährleistet werden. ten Orten, sind leichter zu entdecken, wenn wir auf die Drittens. Die Diskussion um die Zukunft des BGA Informationen aus regionalen, aber flächendecken- muß auf eine sachliche Ebene zurückgeführt werden. den Registern zurückgreifen können. Politik, die auf dem Boden fälschlich geschürter, Alle diese Aufgaben können durch die schon beste- irrationaler Ängste der Bevölkerung gemacht wird, henden oder entstehenden Klinik- und Nachsorgere- wird zwangsläufig zu Fehlentscheidungen führen. gister nicht geleistet werden. Denn hier werden nicht Ich wiederhole deshalb unsere Forderung vom die Daten aus einem definierten Einzugsgebiet Oktober 1993 nach Einsetzung einer Expertenkom- gesammelt. In diesen Registern werden nur die Daten mission, die sich gründlich mit Arbeitsweise und von Patienten gespeichert, die in diesen Krankenhäu- Struktur des BGA befaßt und sorgfältig erarbeitete sern behandelt werden, aber durchaus an einem ganz Schlußfolgerungen für seine Reorganisation vorlegt. anderen Ort ihren Wohnsitz haben können. Über die Das Amt kann und muß neu geordnet und effizienter Häufigkeit von Krebserkrankungen oder auch beson- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17549* dere Auffälligkeiten in einem bestimmten Gebiet Zum Kostenargument: Es ist jedem von uns klar, die sagen diese Register deshalb viel zuwenig aus. Krebsregistrierung ist nicht zum Null-Ta rif zu haben. Natürlich sehen wir die Probleme, die deshalb für die Wenn die Krebsregistrierung wirklich allen zugute Länder entstehen können. Deshalb sage ich hier noch kommen soll, dann brauchen wir Informationen, die einmal: Die Bundesregierung ist jederzeit bereit, im weit über das hinausgehen, was mit diesen Registern Laufe der parlamentarischen Beratungen alle Mög- erreicht werden kann. Das zeigen auch die Erfahrun- lichkeiten der Kosteneinsparung noch einmal zu über- gen ausländischer Krebsregister wie in Dänemark, prüfen. Schon jetzt aber möchte ich hervorheben: Eine Schweden und Finnland. Dort bestehen schon seit realistische Kostenschätzung der Krebsregistrierung langem funktionierende, bevölkerungsbezogene nach dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Krebsregister, die zum Beispiel wichtige Erkenntnisse Modus liegt bei ca. einem Drittel der Hochrechnung zum gehäuften Vorkommen von Krebs in bestimmten der Länder. technischen Arbeitsbereichen wie im Straßenbau oder in holzverarbeitenden Bet rieben geliefert Zum Argument, eine flächendeckende Registrie- haben. rung sei nicht nötig: Ich glaube, die Vorteile dieser Lösung liegen auf der Hand. Wir sollten alles dafür Das alles zeigt: Wir haben Nachholbedarf. Und fest tun, damit auch bei uns die Menschen nicht länger auf steht auch, daß die alten Länder ihre Möglichkeiten eine Maßnahme warten müssen, die gezieltere Prä- zum Aufbau zuverlässiger regionaler Krebsregister ventionsansätze ermöglicht und ein Wegbereiter für leider nicht im notwendigen Umfang genutzt neue Erkenntnisse in der Krebsbekämpfung sein haben. kann. Nach wie vor beruhen alle unsere Berechnungen Zum dritten Argument: Natürlich erfordert so ein über das Krebsaufkommen in diesem Teil Deutsch- Vorhaben auch einen gewissen technischen Auf- lands auf den Daten des Krebsregisters im Saarl and. wand. Eine landesweite Registrierung, die dafür sor- Es ist das einzige Register der alten Länder, das gen muß, daß die gesammelten Daten zum Teil internationalen Ansprüchen genügt und epidemiolo- chiffriert, mit denen in anderen Ländern abgeglichen gisch nutzbar ist. Zwar haben auch andere Länder wie und zudem der Forschung zur Verfügung gestellt Nordrhein-Westfalen und Hamburg Krebsregisterge- werden können, ist etwas anderes als der Aufwand für setze erlassen, aber die Praxis sieht dort leider anders ein Klinikregister. Die heutigen Möglichkeiten der als die Theorie aus. Denn von einer zufriedenstellen- modernen Technologie erlauben es, diese Aufgaben den Registrierung kann dort zumindest bislang keine ohne überhöhte Mittel durchzuführen. Die Bundesre- Rede sein. gierung ist aber bereit, zu prüfen, ob eine Öffnungs- klausel auch für andere Lösungen eingeführt werden Eine zufriedenstellende Krebsregistrierung werden kann. wir nur dann erreichen, wenn wir uns alle an einheit- Aber ich sage noch einmal: Auch die Länder stehen lichen Maßstäben orientieren. Das haben die Erfah- in der Verantwortung, alles dafür zu tun, um eine der rungen mit dem „Nationalen Krebsregister" der ehe- größten gesundheitspolitischen Herausforderungen maligen DDR, das jetzt in veränderter Form als besser in den Griff zu bekommen. gemeinsames Register von den neuen Ländern und Berlin fortgeführt wird, sehr deutlich gezeigt. Deshalb appellieren wir nachdrücklich vor allem an die alten Länder: Stimmen Sie einem Gesetz zu, mit Und es waren auch diese Erfahrungen, die die dem wir gemeinsam die Voraussetzungen schaffen Mitglieder des Deutschen Bundestages davon über- können, die gefürchteten Krebserkrankungen be- zeugt haben, daß so schnell wie möglich eine für ganz herrschbarer zu machen. Deutschland gültige Krebsregistrierung geschaffen werden muß. Die Bundesregierung ist diesem einstim- (CDU/CSU): Zunächst einmal migen Beschluß des Bundestages vom 12. November Dr. Else Ackermann möchte ich der Kollegin Frau Dr. Bergmann-Pohl, die 1992 im Herbst 1993 nachgekommen. als Vertreterin der Bundesregierung den Entwurf zum Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der von Krebsregistergesetz vorgestellt und dessen Notwen- einem einheitlichen Basisdatensatz ausgeht, wobei digkeit motiviert hat, ganz herzlich für ihre Ausfüh- alle Personen-Daten im Register chiffriert werden, der rungen danken. ein einheitliches Meldeverfahren vorsieht, um die Es besteht kein Zweifel, daß Krebs, wie es im gesammelten Daten vergleichbar zu machen und der Amtsdeutsch des Gesetzentwurfs steht, eine gemein- vor allem eine flächendeckende Registrierung durch gefährliche Erkrankung ist, die unbehandelt zum den Verbund regionaler Register bis 1999 vorsieht. Tode führt. Krebserkrankungen sind in allen Indu- Dieser Entwurf erfüllt sowohl die Ansprüche an eine strieländern in einer ständigen Zunahme begriffen. zuverlässige und funktionsfähige Registrierung als Nahezu 90 % aller Krebsursachen sind durch exogene auch die notwendigen Anforderungen des Daten- Ursachen bedingt. Ein berühmter Krebsforscher schutzes. prägte deshalb die Formulierung: Wir leben in einer kanzerogenen Suppe, und ich setze hinzu, die ver- Ich weiß, daß die alten Bundesländer das anders raucht ist und Alkohol enthält. sehen. Die Ablehnung des Entwurfs im Bundesrat durch diese Länder hat ja eine deutliche Sprache Die Inzidenzzunahme ist für alle Gesellschaften gesprochen. Da hieß es: zu teuer, nicht nötig, zu gesundheitspolitisch bedrohlich, zumal bahnbre- aufwendig wegen der vorgeschriebenen Einheitlich- chende, kausale Therapiestrategien nicht in Sicht keit. sind. Die größten Chancen, diese Entwicklung anzu- 17550* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 halten, bestehen in Prävention und Früherkennung. Die geforderte Löschung nach der Kodierung setzt Wenn man die Krankheit verhindern will, muß man aber eine fehlerfreie Erhebung der Identitätsdaten ihre Ursachen kennen und Zusammenhänge aufdek- voraus, was allen Erfahrungen im Gesundheitswesen ken. widerspricht. Die erste Voraussetzung dafür ist die Registrierung, Es sei vermerkt, daß die beiden funktionierenden die eine Meldepflicht oder ein Melderecht voraus- Krebsregister in Hamburg und im Saarland eine setzt. Löschung nicht vorsehen. Die zweite Voraussetzung zur Bekämpfung der Wichtig für die Zuverlässigkeit des Registers ist Krebserkrankungen ist die epidemiologische Krebs- außerdem die verbale Formulierung der Diagnose forschung unter Nutzung eines bevölkerungsbezoge- und des histologischen Befundes. Der Zugang zu nen Krebsregisters. dieser verbalen Befundung muß auch nach der Kodie- Die Krebsursachenforschung ist eine wichtige Auf- rung für wissenschaftliche Arbeiten gesichert sein. gabe von Krebsregistern, die in der Bundesrepublik Unnötiger bürokratischer Aufwand, der kostenin- zuwenig gewürdigt wird. Im Vergleich zu anderen tensives Personal bindet und die Forschung behindert, Ländern hat Deutschland einen Nachholbedarf. Jetzt sollte vermieden werden. befindet sich die Bundesregierung in einem gesetzge- berischen Zugzwang, weil sie durch den Einigungs- Wir brauchen regionale Registrierstellen, die im vertrag das Nationale Krebsregister der DDR über- Wechsel einen bundesdeutschen Bericht erarbeiten. nommen hat, dessen weltweit größter Datenschatz in Dies zwingt zur Zusammenarbeit, verhindert Macht- einem Krebsregistersicherungsgesetz vom 12. No- konzentration und wirkt vielleicht wachstumshem- vember 1992 zeitlich begrenzt gesichert worden ist. mend für die Bürokratie. Wenn eine zentrale Regi- Der einmalige Datenschatz ist nun juristisch gesichert, strierstelle erforderlich ist, dann nur dort, wo die aber dem Tod in den Grabkammern der Archive größte Erfahrung ist. Lassen Sie uns bald beginnen, ausgesetzt, weil alle wissenschaftlichen Mitarbeiter, sonst läuft uns der Krebs davon. die das Register aufgebaut und betreut haben, entlas- sen worden sind. Dieses gesicherte Krebsregister Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Der Schatz hätte eine Art „Grüner Pfeil" im Gesundheitswesen des DDR-Krebsregisters ist gesichert. Die Basis für ein sein können, wenn nicht „Grüner Pfeil", dann doch Krebsregister für die gesamte Bundesrepublik bleibt wenigstens Verpflichtung, um den internationalen dagegen unsicher. Das kommt davon, wenn man Anschluß nicht zu verlieren. Ratschläge außer acht läßt. Der Ratschlag war: Ein Eine nationale Datensammlung ist trotz jahrelanger Gesetz, wie das Krebsregistergesetz, kann wegen Forderungen der Krebsforscher in der Bundesrepu- seiner weitreichenden Wirkungen nur im Konsens blik nicht vorhanden. Begründet ist der Mangel durch geschaffen werden. Konsens heißt auch: Konsens mit Hemmnisse, die im Datenschutz liegen. So hat auch in den Bundesländern. dem vorliegenden Gesetzentwurf der Datenschutz Konsens war auch wegen der verfassungsrechtli- Priorität vor dem gesundheitspolitischen und wissen- chen Frage angezeigt. Ob eine Gesetzgebungskom- schaftlichen Anliegen eines Krebsregisters. petenz des Bundes gegeben ist, muß noch eindeutig Über die sich daraus ergebenden Schwächen vor geklärt werden. Weil sich die Bundesregierung um allem für die Krebsforschung, die uns ja Informationen einen Konsens mit den Ländern nicht hinreichend über Zusammenhänge zwischen Umfeld und Erkran- bemüht hat, bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Der kung geben soll, müßte nochmals nachgedacht wer- bittere Nachgeschmack entsteht aber auch, weil den den. Dazu einige Beispiele: Ländern ein Gesetz übergestülpt werden soll: Über- gestülpt werden soll ein Meldeverfahren, das nicht Im Kebsregistergesetzentwurf ist eine Trennung erprobt und mit großen Unsicherheiten behaftet ist. von Vertrauens- und Registrierstellen vorgesehen. Es Übergestülpt werden soll ein flächendeckendes Ver- genügt doch, regionale Registrierstellen mit zwei fahren ohne Rücksicht auf Wirtschaftlichkeit und getrennten Dateien einzurichten, die datenschutz- Kosten-Nutzen-Analyse. Übergestülpt werden soll rechtlichen und internationalen Anforderungen ge- den Ländern die finanzielle Last. Bonn macht das nügen. Gesetz, die Länder sollen zahlen. Der Hinweis aus Auch die Konzeption, daß in den Registrierstellen dem Ministerium, man wird im weiteren Verfahren nur durch billige Meßknechte registriert und nicht die Möglichkeit der Kostenreduzierung prüfen, klingt wissenschaftlich gearbeitet wird, entspricht nicht wie Hohn. Da geht es doch nicht um 1 oder 2 Millio- internationalen Erfordernissen und läßt eine Billigva- nen, sondern um Größenordnungen von 60 bis riante vermuten, die sich später als teuer erweist. 100 Millionen DM im Jahr. Unerläßlich sind vollständige Geburts- und Sterbe- Dabei waren wir uns doch in dem Ziel einig: Krebs daten, um auch rückwirkend nach Jahren eine Iden- ist die Volkskrankheit, die es zu bekämpfen gilt. Das tifikation zu ermöglichen. Andernfalls ist die eindeu- hohe Risiko an Krebs zu sterben, zeigt sich daran, daß tige Zuordnung zu einem Fall nicht gewährleistet. Der die Krebssterblichkeit ca. ein Viertel der Gesamtsterb- Datenschutz fängt im Register an. lichkeit ausmacht. In der Todesursachenstatistik steht Auf keinen Fall dürfen Identitätsdaten aus daten- Krebs an zweiter Stelle. schutzrechtlichen Gründen nach drei Monaten Dem hohen Krebsrisiko steht das unzureichende gelöscht werden. Zur Verifizierung von Befunden Wissen gegenüber. Die Menschen erwarten doch von auch noch viele Jahre nach der Datenerhebung muß uns keinen Streit um Zahlen, sondern wollen wissen: der Zugang zu den Identitätsdaten gewährleistet sein. Was bringt uns ein solches Krebsregister? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17551*

Beim Ziel- und Maßnahmenteil hat die Bundesre- Modelle der Länder werden praktisch erprobt, even- gierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ein Krebs- tuell mit einer wissenschaftlichen Begleitung. register, das diesen Ziel- und Maßnahmenteil ver- Viertens. Nach Beendigung der Testphase wird das nachlässigt, ist für uns nicht akzeptabel. Nicht Meldesystem festgeschrieben, das sich am besten umsonst habe ich am 12. November 1992 im Plenum bewährt hat. darauf hingewiesen, daß wir das „Dünnbrettbohren" der Regierung nicht akzeptieren. Diese Kritik ist mehr Fünftens. Wir wollen die flächendeckende Struktur als berechtigt: des DDR-Krebsregisters erhalten. Mit dem Register des Saarlandes und den vorhandenen und geplanten Dem Zweck des Registers aber widmet die Bundes- regionalen Krebsregistern in einzelnen Bundeslän- regierung ganze zehn Zeilen. Es bleibt mehr oder dern werden mindestens 30 % der Bevölkerung weniger offen, zu welchem Zweck der Millionenauf- erfaßt. wand betrieben wird, zu welchem Zweck die Daten erfaßt werden sollen. Sechstens. Anders als die Bundesregierung sind wir der Auffassung: Nicht in allen Bundesländern muß Der Gesetzentwurf sieht allenfalls eine beschrei- eine 100prozentige Flächenerfassung in der ersten bende epidemiologische Nutzung vor. Auch die Phase erfolgen. Ob für ein aussagefähiges Krebsregi- unpräzisen Vorschriften des § 10 reichen da nicht aus. ster 30, 40 oder 100 Prozent der Bevölkerung erfaßt Gesundheitsaufklärung ist gefragt. werden müssen, wird ein Vergleich der Aussagen von Anders als vielfach vermutet, bewirken Umweltein- regionalen Krebsregistern in den alten Bundeslän- flüsse nur 2 bis 5 % aller aufgetretenen Krebserkran- dern und den Aussagen vom flächendeckenden kungen. Das Gros der Krebserkrankungen wird durch Krebsregister in den neuen Ländern ergeben. eigene Verhaltensmuster beeinflußt. Angesichts die- Lassen Sie uns die Aufgabe gemeinsam angehen! ser Tatsache sind die Krebsregister zu einem integra- len Bestandteil der Gesundheitsaufklärung zu ma- Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Die Diskussion um die chen wie in Skandinavien. Errichtung von Krebsregistern dauert nunmehr Ähnlich finster sieht es bei der Nutzung der Register bereits mehr als zehn Jahre. In dieser Zeit ist es den für die Effizienzkontrolle aus. Es ist internationale Ländern nicht gelungen, flächendeckend Krebsregi- Erkenntnis, daß bei einer langfristigen Beobachtung ster nach einem einheitlichen Schema aufzubauen. von Patienten festgestellt werden kann, ob neue Um aber Erkrankungstrends systematisch erfassen zu Therapien die Lebenserwartung steigern können. können und damit zeitlich und regional gehäufte Doch die Effizienzkontrolle kurativer Maßnahmen für Erkrankungen zu entdecken, ist eine flächendek- erkrankte Patienten wird nur in einem Adjektiv kende Auswertung spezifischer Krankheitsdaten erwähnt. Genauso könnte man mit Hilfe von Krebsre- dringend erforderlich. gistern feststellen, ob Früherkennungsverfahren zu Ich habe von daher kein Verständnis für die Haltung einer nennenswerten Verminderung von neuen der Länder, die weder eine Gesetzgebungskompe- Krebserkrankungen im fortgeschrittenen Stadium tenz des Bundes noch ein Bedürfnis für eine bundes- führen. Auch hier Fehlanzeige. einheitliche Regelung des Meldeverfahrens sehen. Also: Ein Meldegesetz allein macht noch keinen Wer Hinweise auf mögliche ursächliche Faktoren Sinn. Dabei kann der gesellschaftliche Konsens nur auch regionaler Art gewinnen will, ist unabdingbar hergestellt werden, wenn die Ziele klar sind. Für die auf diese Angaben angewiesen. Insbesondere auch Menschen muß sichtbar werden, was sie damit gewin- unter dem Aspekt, daß verstärkt Einflüsse von nen. Im Klartext: Die Struktur des künftigen Krebsre- Umweltbedingungen auf Krebserkrankungen vermu- gisters wird wesentlich davon abhängen, daß ein tet werden, muß es möglich sein, verschiedene Regio- gesellschaftlicher Konsens hergestellt wird. Unabhän- nen mit unterschiedlichen Umweltbelastungen ge- gig von der verfassungsrechtlichen Frage werden wir genüberzustellen. konstruktiv an der Realisierung arbeiten. Das sind wir Auch im Bereich der Prävention kommt einem den Menschen schuldig. Ich möchte einen Weg auf- einheitlichen Krebsregister große Bedeutung zu. Nur zeigen. Dazu nenne ich einige Punkte: wenn es hierdurch gelingt, regionale Unterschiede Erstens. Wir wollen kein Meldeverfahren zementie- sichtbar zu machen, können Ansätze für sinnvolle und ren, das nicht erprobt ist. Wir wollen ein offenes effiziente Präventivmaßnahmen getroffen werden. Verfahren. Deshalb plädieren wir für eine Erpro- Systematische epidemiologische Untersuchungen bungsphase und den Aufbau eines aufeinander abge- brauchen eine solide Datenbasis. Diese Datenbasis stimmten Netzwerks von Krebsregistern in den Bun- kann man durch eine flächendeckende, bevölke- desländern. rungsbezogene Krebsregistrierung, wie sie im Gesetz- entwurf vorgesehen ist, erhalten. Es ist eben nicht Zweitens. Unabhängig vom Verfahren ist die Mel- damit getan, daß zum Teil völlig isoliert nebeneinan- dedichte das zentrale Anforderungsprofil an ein derher unterschiedlichste Daten in einzelnen Bundes- Krebsregister. Um die erforderliche Meldedichte von ländern auf verschiedene Art und Weise erfaßt und 90 bis 95 % aller Erkrankten in einem Land oder einer verarbeitet werden. Region zu erreichen, ist für die meldenden Ärzte ein finanzieller Anreiz zu schaffen. Das Krebsregistergesetz berücksichtigt in sinnvol- ler Weise die unterschiedlichen Interessen der Betrof- Drittens. Der Bund und die Länder verständigen fenen. Es ermöglicht eine wissenschaftliche Erfor- sich über Art und Umfang der zu erhebenden Daten schung der Krebserkrankungen sowie die Ableitung und Anonymisierungsverfahren. Die verschiedenen von präventiven und therapeutischen Maßnahmen 17552* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Be- auf ausgewählte Regionen begrenzte Register könn- lange. Durch die organisatorische Trennung der ten dieses nicht leisten. Krebsregister in Vertrauensstellen und Registrierstel- Zur Kostendiskussion kann ich nur sagen: Wenn len und die Anwendung asymmetrischer Chiffrierver- sich wirtschaftlich schwächere Länder — wie Finn- fahren wird eine Speicherung unverschlüsselter Iden- land oder eben auch die ehemalige DDR — komplette, titätsdaten von Patienten verhindert. Kein Bürger nach WHO-Kriterien geführte Krebsregister leisten braucht Angst zu haben, daß seine ganz persönlichen können bzw. konnten, dann stellen sich meiner Mei- Daten in falsche Hände geraten. nung nach doch ziemlich ernste Fragen hinsichtlich Zudem sind nur solche melderechtlichen, organisa- der Prioritäten, die in diesem Land Geltung besit- torischen und datenschutzrechtlichen Vorgaben ge- zen. macht, die für die Krebsregister der Länder unabding- Selbstverständlich muß bei alledem dem Daten- bar einheitlich sein müssen. Eine Ablehnung dieses schutz und der informationellen Selbstbestimmung Gesetzes würde uns in Erforschung und Therapie von der Menschen in gebührender Weise Rechnung getra- Krebserkrankungen weit zurückwerfen. Insbeson- gen werden. dere in den neuen Bundesländern dürfte für ein solches Verhalten kein Verständnis vorhanden sein, Was ist am vorliegenden Gesetzentwurf — vor allem denn dort hat man bereits Erfahrungen mit Krebsre- unter dem Gesichtspunkt von Aufwand und Praktika- gistern gesammelt und weiß, wie wichtig diese bilität — kritisch zu vermerken und sollte im parla- sind. mentarischen Verfahren noch einmal überdacht bzw. korrigiert werden? Auch der von den Ländern ins Feld geführte Kosten- Erstens. Solche Register stehen und fallen in ihrem aspekt besticht nicht. Die vom Bundesrat errechneten Aussagewert mit einer möglichst hohen Erfassungs- 100 Millionen DM pro Jahr sind ohne weiteres dra- stisch reduzierbar, wenn die angebotene Möglichkeit quote aller Erkrankungsfälle. Aber allein schon das vorgesehene Melderecht der Ärzte verbunden mit des Gesetzes, ein gemeinsames Register zu führen, Einspruchsmöglichkeit des Patienten gefährdet die- genutzt wird — also kurzum, eine effiziente Organi- ses Ziel. Erfahrungsgemäß kommt hinzu, daß der mit sation der Krebsregistrierung nicht an kleinkarierten solchen Regelungen verbundene hohe Aufwand, der Partikularinteressen scheitert. frustrierenderweise oft genug noch nicht einmal zum Wir alle sind uns bewußt, mit welchen tückischen Ergebnis führt, sehr schnell zu einer Demotivation Erkrankungsformen wir es bei den verschiedenen auch ursprünglich durchaus aufgeschlossener Ärzte Krebsformen zu tun haben. Lassen Sie uns mit der führen kann. Schaffung eines Rahmens für eine gesicherte und Meines Erachtens sollte noch einmal überlegt wer- einheitliche Datenbasis den Grundstein legen für eine den, ob nicht doch eine Meldepflicht einfuhrbar ist; Bekämpfung dieser Krankheit. Alles andere ist den mindestens aber wäre zu bedenken, ein Melderecht Menschen, die große Furcht davor haben, an Krebs zu nicht noch zusätzlich durch komplizierte Einwilli- erkranken, die krebskranke Angehörige haben oder gungslösungen so zu befrachten, daß die Praktikabi- selbst hiervon betroffen sind, nicht verständlich zu lität verlorengeht. machen. Zweitens. Die vorgesehene räumliche und perso- nelle Trennung der Registrierung in Vertrauensstelle Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Das Ziel dieses und Registerstelle und die relativ rasche Vernichtung Gesetzes ist die Verbesserung der Voraussetzungen der Daten in den Vertrauensstellen können den für die praktische Bekämpfung, aber auch für die Datenfluß erheblich erschweren und damit zusätzlich wissenschaftliche Erforschung der Krebskrankheiten. die Qualität des Registers gefährden. Schließlich müs- Die stufenweise Einrichtung epidemiologischer sen alle Folgemeldungen an das Register, die sich auf Krebsregister durch alle Bundesländer soll nunmehr denselben Erkrankten beziehen, immer wieder ein- zu einer flächendeckenden Erfassung in ganz eindeutig zugeordnet werden können. Und auch Deutschland führen. Dem ist zunächst einmal unein- dabei muß der Aufwand vertretbar bleiben. geschränkt zuzustimmen. Auch machen, wie mit dem vorliegenden Gesetz angestrebt, bundesweite ein- Drittens. Das relativ restriktiv gefaßte Verweige- heitliche Vorgaben Sinn, denn nur so kann Vergleich- rungsrecht für die Einbeziehung der Daten einer barkeit und damit der wissenschaftliche und prakti- Person in spezielle epidemiologische Untersuchun- sche Wert dieser Datensammlungen erst richtig gesi- gen kann tendenziell forschungshemmend wirken. Die notwendige Repräsentativität von Stichproben chert werden. wird auf diese Weise kaum erreichbar sein. Zu begrüßen ist auch, daß mit diesem Gesetz das Viertens. Die in § 10 formulierten Aufgaben sollten Nationale Krebsregister der DDR in eine für das ganze erweitert werden. Eine solche „Zentrale Stelle" sollte Bundesgebiet geltende Regelung eingebettet und auf nicht nur deskriptiv arbeiten können, sondern auch in sicherer Grundlage fortgeführt werden kann. Damit der Lage sein, selbst Forschungsprojekte durchzufüh- wird es möglich sein, nicht nur generelle Entwick- ren bzw. entsprechende Vorhaben anderer Wissen- lungstrends der Krebshäufigkeit in ganz Deutschland, schaftler qualifiziert zu unterstützen. sondern sehr rasch auch neu entstehende regionale Auffälligkeiten und Unterschiede festzustellen oder Fünftens. Die Aufzählung des zu erfassenden örtlich aufgetretene Verdachtsmomente mit der gebo- Datensatzes — der übrigens schon jetzt als ziemlich tenen wissenschaftlichen Sorgfalt unverzüglich zu umfangreich erscheint — sollte nicht im Gesetz, son- prüfen und gegebenenfalls auch zu entkräften. Nur dern in Ausführungsbestimmungen verankert wer- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17553* den. Das würde mehr Flexibilität für notwendige die die Zugewanderten diskriminieren. Das bedeutet Modifizierungen schaffen. auch den ungeschmälerten Zugang zu allen Bürger- rechten. Zum Kampf gegen die alltägliche personale Diskri- minierung ist aber eine sehr viel weiter gefaßte Politik - notwendig, die insbesondere die Selbstvertretung der Anlage 6 Einwanderer und ihre selbstbestimmte kulturelle Ent- wicklung stärkt, die politische Bildungsarbeit unter- Zu Protokoll gegebene Rede stützt und Vertreterinnen und Vertreter von Minder- zu Tagesordnungspunkt 10 heiten in allen Körperschaften, auch in leitenden (Antirassismusgesetz) Positionen, berücksichtigt und Instanzen zur Überprü- fung von Diskriminierung im Alltag, insbesondere Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durch Behörden, einrichtet. Seit geraumer Zeit, besonders nach den zahlreichen Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beurteilt verbalen und physischen Attacken gegen Einwande- das hier vorliegende Konzept der PDS, vorrangig mit rer und Flüchtlinge seit etwa zwei Jahren, findet die Hilfe des Strafrechts und der Strafjustiz rassistischen Forderung nach einem Antidiskriminierungs-Gesetz Anschauungen und Äußerungen begegnen zu wollen, immer mehr Zustimmung. Bereits am 23. Mai 1988 sehr skeptisch. Es ist insbesondere auch rechtspoli- hatte der CDU-Sozialausschuß ein Antidiskriminie- tisch zweifelhaft und müßte gerade in der Bundesre- rungs-Gesetz gefordert. Auch die Gruppe BÜND- publik Deutschland nachdenklich stimmen. Wir glau- NIS 90/DIE GRÜNEN beschäftigt sich seit längerem ben, daß repressive Maßnahmen kein geeignetes mit dieser Frage. Mittel sind, um wirkungsvoll und dauerhaft Haltun- Ziel muß es sein, Äußerungen, Maßnahmen und gen und Einstellungen zu verändern. Die vergebli- Verhaltensweisen, in denen sich Ausländerfeindlich- chen Versuche der SED in der DDR belegen das keit ausdrückt, zu verhindern und das Unrechtsbe- doch. wußtsein in Hinblick auf Ausländerfeindlichkeit in der Es ist zu Recht kritikwürdig, daß in zahlreichen deutschen Bevölkerung zu schärfen. Diskriminierung Fällen die Exekutive als Trägerin des staatlichen findet auf der strukturellen wie auf der personalen Gewaltmonopols Flüchtlingsunterkünfte wenig effek- Ebene statt. Das erste meint die Benachteiligung von tiv geschützt hat. Wir sind aber der Auffassung, daß Menschen aufgrund von Auswahlkriterien beim Leib und Leben von Einwanderern und Flüchtlingen Zugang zu gesellschaftlichen Rechten und Gütern keineswegs effektiver geschützt wären, wenn die von und findet seinen Ausdruck in Gesetzen, Verord- der PDS vorgesehenen Strafnormen und Sanktionen nunge und Erlassen. Das zweite meint die benachtei- eines Antirassismusgesetzes in Kraft gesetzt würden. ligende, herabwürdigende oder aggressive Behand- Denn wir verfügen in Deutschland doch bereits über lung von Menschen im sozialen Verkehr aufgrund ein mannigfaltiges strafrechtliches Instrumentarium, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. durch das entsprechende Delikte geahndet werden Diese alltägliche Diskriminierung in den sozialen könnten. Entscheidend ist die konsequente Anwen- Beziehungen ist in einem engen Zusammenhang zu dung; darin sehen wir Handlungsbedarf. sehen mit der strukturellen: Denn offizielle Diskrimi- nierungen erwecken den Anschein der Legitimität, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt neue Sonderge- des rechtlich und moralisch Erlaubten. Deshalb ver- setze im Sinne des Strafgesetzbuches ab. Wir sind der bessert also eine offizielle Antidiskriminierungs-Poli- Meinung, daß ein ganzheitlicher Ansatz, wie er z. B. in tik nicht nur die Rechte von Menschen, sie entzieht der der „Hate and Speech Crime"-Gesetzgebung der personalen Diskriminierung auch ihre Legitimation. USA festgelegt ist, für die Situation in der Bundesre- publik Deutschland viel geeigneter ist und wirklich Es gibt zumindest zwei sehr unterschiedliche Inter- etwas bewirken würde. pretationen, was antidiskriminierende Maßnahmen betrifft: zum einen Antidiskriminierung im Sinne der Wir schlagen folgende erste Schritte für eine konse- Strafjustiz und durch ein Sanktionssystem der Geld- quente Antidiskriminierungspolitik vor: und Freiheitsstrafe für diskriminierende Handlungen Erstens. Ausstattung der Stellen der Bundes- und und Äußerungen in der Öffentlichkeit, speziell in den Landesbeauftragten in einem Umfang, der sie in die Medien usw., zum anderen das Antidiskriminierungs Lage versetzt, als Ombudsmann/frau bei Diskriminie- Gesetz im Sinne eines Bürgerrechtsgesetzes wie in rungsfällen zu fungieren und Handlungsalternativen den USA oder teilweise in den Niederlanden. Dieses für eine Antidiskriminierungspolitik entwerfen zu Gesetz soll die Gleichbehandlung aller gesellschaftli- können; zweitens Überprüfung der Gesetze, Verord- chen Gruppen gar antieren. So werden z. B. für nungen und Erlasse auf jene Bestimmungen, die Betriebe ab einer bestimmten Größe Quoten für Zuwanderinnen und Zuwanderer diskriminieren. Arbeitsplätze, u. a. für ethnische Minderheiten, fest- Dem muß die umgehende Novellierung entsprechen- geschrieben. Oder es wird bei Benachteiligung und der Gesetze usw. folgen. Insbesondere ist wichtig, daß Diskriminierung am Arbeitsplatz ein zivilrechtlicher Vertreterinnen und Vertreter von Organisationen der Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld Zuwanderinnen und Zuwanderer in öffentlich-rechtli- garantiert. chen Institutionen, z. B. in Rundfunkräten, vertreten Im Bereich der Diskriminierung von Einwanderern sind; drittens Anregung entsprechender Regelungen und Flüchlingen besteht die wichtigste Aufgabe daher im Rahmen der EG; viertens Überprüfung der Effek- in der schrittweisen Aufhebung aller Bestimmungen, tivität und der Erfahrungen, die andere Länder mit 17554* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 einem Antidiskriminierungsgesetz oder Antirassis- 2. Zur Getränke-Mehrweg-Verordnung musgesetz gemacht haben. Nach eingehender Auswertung der sogenannten Ökobilanz-Studie, die im September 1993 vorgestellt wurde, wird die Ressortabstimmung zum Verord- nungsverfahren des Entwurfs der Getränke-Mehr- Anlage 7 wegverordnung fortgesetzt werden. Antwort des Staatssekretärs Clemens Stroetmann auf die Frage der Abgeordneten Jutta Müller (Völklingen) Anlage 9 (SPD) (Drucksache 12/6538 Frage 26): Antwort Wann wird die Bundesregierung, wie schon oft angekündigt, des Staatssekretärs Clemens Stroetmann auf die durch Rechtsverordnung eine Rücknahmepflicht für gebrauchte Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) Batterien und schadstoffhaltige Verpackungen einführen? (Drucksache 12/6538 Frage 28): Wie ist der Stand der Vorbereitungen der Altautoverordnung, Die Rechtsverordnung zur Rücknahme gebrauchter und bis wann ist mit der Verabschiedung der bereits für 1993 Batterien wird voraussichtlich noch im ersten Quartal angekündigten Verordnung zum Autoschrottrecycling zu rech- dieses Jahres vom Bundeskabinett beschlossen. nen? Bezüglich der Rücknahmepflicht für Verpackungen Der vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz für schadstoffhaltige Füllgüter — gemeint sind hier keine schadstoffhaltigen Verpackungen — hat die und Reaktorsicherheit vorgelegte Entwurf einer Ver- ordnung über die Vermeidung, Verringerung und Bundesregierung bisher keinen Zeitpunkt für den Verwertung von Abfällen aus der Altautoentsorgung Erlaß einer Verordnung genannt; zur Vorbereitung befindet sich gegenwärtig in der Abstimmung mit den dieser Verordnung sind noch einige Fragen zu klären. Dies gilt aktuell besonders vor dem Hintergrund der Bundesressorts. Am 5. November 1993 wurde die Anhörung der Bundesländer durchgeführt. Nach derzeit anstehenden Novelle zur Verpackungsverord- nung, deren § 2 — Ausschluß bestimmter Verpackun- abgeschlossener Ressortabstimmung wird sich das Bundeskabinett mit der Altautoverordnung befassen. gen aus dem Anwendungsbereich der VerpackVO — unmittelbare Auswirkungen auf den Regelungsbe- Anschließend erfolgt die Beteiligung des Bundes- reich der vorgesehenen Schadstoffverpackungsver- rates. ordnung haben wird. Die Bundesregierung wird daher diese Verordnung erst dann weiterverfolgen, wenn die Novellierung der VerpackVO abgeschlos- Anlage 10 sen ist. Antwort des Parl. Staatssekretärs Joachim Günther auf die Fragen des Abgeordneten Heinrich Lummer (CDU/ Anlage 8 CSU) (Drucksache 12/6538 Fragen 29 und 30): Für welchen Pegelstand war der Hochwasserschutz der sog. Antwort „Schürmannbauten" bei Beginn des sog. „Jahrhunderthoch- wassers" vom Dezember 1993 ausgelegt, und in welchem des Staatssekretärs Clemens Stroetmann auf die Verhältnis stand dieser Wert zur Höhe eines unter Baustatikern Frage des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) branchenüblichen Hochwasserschutzes? (Drucksache 12/6528 Frage 27): Ist es zutreffend, daß angesichts der Überschreitung des Wann wird die Bundesregierung, wie schon öfters angekün- Hochwasserschutzes durch den Pegelstand des Rheins eine digt, durch Rechtsverordnung eine Rücknahmepflicht für Elek- Entscheidung zur Flutung des Bauwerks getroffen werden tronikschrott einführen, und wann ist mit dem Erlaß der soge- mußte und dies nur durch Einreißen des eigentlichen Hochwas- nannten Mehrwegverordnung zu rechnen? serschutzes möglich war?

1. Zur Elektronikschrott-Verordnung Zu Frage 29: Der endgültige Hochwasserschutz der sog. „Schür- Mit der künftigen Elektronikschrott-Verordnung mannbauten" ist auf den Pegelstand 53,85 üNN sollen erstmals langfristige Konsum- und Investitions- ausgelegt. Die Höhe dieses Schutzes ist entsprechend güter nach dem Vorbild der bisher schon nach § 14 der Vorgaben der Hochwasserschutzverordnung von Abfallgesetz erlassenen Rücknahme- und Verwer- den beteiligten Fachingenieuren festgelegt worden tungsregelungen erfaßt werden. Damit stellen sich und liegt 50 cm über dem Stand des höchsten Hoch- zahlreiche Fragen über die Auswirkungen einer sol- wassers von 1926. Damit ist auch der in der Rechtspre- chen Verordnung für Hersteller, Vertreiber und Kon- chung vorgesehene Vergleich über die letzten sumenten, die sehr eingehend geprüft werden müs- 20 Jahre berücksichtigt. sen. Die Gespräche des Bundesumweltministeriums mit den betroffenen Wirtschaftskreisen, den entsor- gungspflichtigen Körperschaften und den beteiligten Zu Frage 30: Ressorts dauern an. Ein definitiver Zeitpunkt für das Der Rhein hat am 23. Dezember 1993 im Bereich der Inkrafttreten der Verordnung kann — auch in Hin- Baustelle der „Schürmannbauten" mit seinem zu blick auf die noch ausstehende Befassung des Bundes- diesem Zeitpunkt höchsten Pegelstand das Hochwas- rates gegenwärtig nicht genannt werden. ser von 1926 noch um 3 cm überschritten, jedoch die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17555*

Höhe des geplanten endgültigen Hochwasserschut- Antrag auf Eigentumsumschreibung beim Grund- zes bei weitem nicht erreicht. buchamt gestellt worden ist. Wie das Bundesbauministerium erst am 6. Januar 1994 erfahren hat, war der endgültige Hochwasser- Zu Frage 32: schutz in Bereichen noch nicht fertiggestellt. Wie die Über Verkäufe von Wohnungen in den neuen BBD berichtet, waren die Arbeiten am Hochwasser-- Ländern an p rivate Investoren können allein die schutz in dem fraglichen Bereich im Januar 1993 ohne Wohnungsunternehmen und Kommunen als die Hinweis auf Mängel oder Restarbeiten durch die ABE jeweiligen Eigentümer entscheiden. (Bauleitung) abgenommen worden, aber nicht ausge- führt. Trotz des nicht fertiggestellten Hochwasser- schutzes waren ausreichende andere Schutzvorrich- tungen nicht getroffen worden, so daß Oberflächen- Anlage 12 wasser zwischen Rohbau und Baugruben-Dichtwand eintreten und Druck aufbauen konnte, der den Roh- Antwort bau hob. Die Entscheidung der Bundesbaudirektion der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die zur Flutung des Bauwerkes hat eine noch ungünsti- Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktions- gere Verlagerung des Rohbaues verhindert. los) (Drucksache 12/6538 Frage 35): Hierfür wurden provisorische Wände eingerissen, Hat die Bundesregierung das Urteil des Bundesverfassungs- die im Zuge des Hochwassers vorsorglich zum Ver- gerichts zum Maastricht-Vertrag vom 12. Oktober 1993 zusam- schluß der Baustellenzufahrt zum Schutz gegen Ober- men mit der Ratifikationsurkunde hinterlegt, und welche recht- flächenwasser errichtet worden waren. lichen Konsequenzen ergeben sich nach Auffassung der Bun- desregierung aus dieser gemeinsamen Hinterlegung? Sofort nach dem Bekanntwerden unzureichender Hochwasserschutzvorkehrungen hat das Bundesmi- Die Bundesregierung hat die Ratifikationsurkunde nisterium für Raumordnung, Bauwesen und Städte- zum Vertrag über die Europäische Union vom 7. Fe- bau die Bundesbaudirektion angewiesen, ein Beweis bruar 1993 am 13. Oktober 1993 bei der Regierung der sicherungsverfahren einzuleiten. italienischen Republik hinterlegt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nicht hinterlegt worden. Eine Beantwortung des zweiten Teils der Frage erübrigt sich somit. Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretärs Joachim Günther auf die Anlage 13 Fragen des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste) (Drucksache 12/6538 Fragen 31 und 32). Antwort Entsprechen die im Dezember 1993 erfolgten umfangreichen der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Wohnungsprivatisierungen an Dritte, zum Beispiel der Verkauf Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz von über 2 967 Wohnungen in der Berliner Karl-Marx-Allee an die Deutsche Pfandkreditbank, der Intention des Altschulden- (CDU/CSU) (Drucksache 12/6538 Frage 36). hilfe-Gesetzes, nach der es um den Verkauf von Wohnungen in Welche sicherheits- und verteidigungspolitischen Konse- Ostdeutschland an die derzeitigen Nutzer geht? quenzen zieht die Bundesregierung aus der Ankündigung des Was tut die Bundesregierung, um erfolgte Wohnungsverkäufe russischen Verteidigungsministers, die russischen Streitkräfte in Ostdeutschland an Dritte — ohne Mieterinnen und Mietern nicht auf 1,5 Millionen Soldaten abzurüsten? den Vorrang einzuräumen — zu stoppen bzw. rückgängig zu machen? VM Gratschow hat sich gegen bisherige Planungen ausgesprochen, die russischen Streitkräfte auf 1,5 Mil- Zu Frage 31: lionen zu reduzieren. Diese Zahl war im September Die Bildung individuellen Wohneigentums ist ein 1992 im „Gesetz der russischen Föderation über die zentrales wohnungspolitisches Ziel der Bundesregie- Verteidigung" als Höchststärke festgeschrieben wor- rung, insbesondere auch für die neuen Bundesländer. den (1 % der Bevölkerung). VM Gratschow votierte Mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz sollen deshalb die jetzt für Streitkräfte in einer Stärke von 2,1 Millionen. Voraussetzungen auch für die Privatisierung und die Die Verwirklichung dieser Forderung würde zunächst Bildung individuellen Wohneigentums für Mieter ver- entsprechende Gesetzesänderungen erfordern. bessert werden. Wohnungsunternehmen, die eine In der „Abschließenden Akte der Verhandlungen Teilentlastung beantragen, müssen sich verpflichten, über Personalstärken der Konventionellen S treit- 15 % ihres Wohnungsbestandes vorrangig an die kräfte in Europa" (KSE-Ia-Abkommen) hat sich Ruß- Mieter zu veräußern. Dies entspricht dem Auftrag des land verpflichtet, das Personal seiner Land- und Einigungsvertrages, die Privatisierung des Woh- Luftstreitkräfte in Europa auf 1,45 Millionen Mann zu nungsbestandes auch zur Förderung der Bildung begrenzen. Dieses Abkommen erfaßt nicht die russi- individuellen Wohneigentums beschleunigt durchzu- schen Seestreitkräfte und die jenseits des Urals statio- führen. Gleichwohl sind Verkäufe von Wohnungen an nierten Streitkräfte. Das Votum von VM Gratschow, private Investoren und Vermieter nicht ausgeschlos- Rußland brauche Streitkräfte von etwa 2,1 Millionen sen. Verkäufe vor dem 1. Januar 1994 werden nach Mann, bezieht sich offenkundig auf den Gesamtper- dem Altschuldenhilfe-Gesetz auf die Privatisierungs- sonalbestand auf dem gesamten Territo rium Ruß- quote angerechnet, wenn ein bearbeitungsfähiger lands, also auch einschließlich des asiatischen Lan- 17556 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 desteils. Die Bundesregierung sieht kein Anzeichen schen und ländlichen indianischen Bevölkerung sich dafür, daß RUS seine im KSE-Ia-Abkommen einge- mit Zielen und Methoden des EZLN keineswegs gangenen Verpflichtungen zur Begrenzung seines solidarisiert. Personalbestands in Europa zum vereinbarten Zeit- punkt im November 1995 nicht einhalten wird. Sie Zu Frage 38: beurteilt daher VM Gratschows Ankündigung nicht- als eine Verschlechterung der Sicherheitslage in Die Bundesregierung hat unmittelbar bei Bekannt- Europa. Sie wird allerdings die weitere Entwickung werden der Bestätigung des Todesurteils gegen Herrn der russischen Streitkräfteplanung aufmerksam mit Helmut Szimkus durch das Oberste Ge richt des Iran Blick auf die Bedingungen strategischer Stabilität in hochrangig interveniert, um eine Begnadigung des Europa verfolgen. deutschen Staatsangehörigen zu erreichen. Hierzu übergab der Parlamentarische Staatssekre- tär im Bundesministerium der Justiz, , dem die Bestätigung bei seinem Besuch in Teheran (15. bis 19. Dezember 1993) vom Chef der iranischen Anlage 14 Judikative, Ayatollah Yazdi, eröffnet wurde, eine Antwort Kopie des von den Söhnen von Herrn Szimkus einge- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die reichten Gnadengesuches. Ayatollah Yazdi sagte zu, Fragen des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) er werde versuchen, sehr bald eine für beide Seiten (Drucksache 12/6538 Fragen 37 und 38): zufriedenstellende Lösung zu finden. Wie beurteilt die Bundesregierung die soziale und wirtschaft Am 6. Januar 1994 erneuerte der Leiter der Rechts- liche Situation der indigenen Völker Mexikos (der Indianer abteilung des Auswärtigen Amtes gegenüber dem Mexikos), und worin sieht sie die Ursachen für den „Aufstand" iranischen Botschafter namens der Bundesregierung der Indianer? das Gnadengesuch. Welche Möglichkeiten wird die Bundesregierung ergreifen, um die Vollstreckung des Todesurteils eines iranischen Gerichts Das Anliegen der Bundesregierung war darüber gegen den Deutschen Helmut Szimkus wegen angeblicher hinaus Gegenstand der Gespräche des Staatssekre- Spionagetätigkeit zugunsten des Irak zu verhindern, und wird tärs im Auswärtigen Amt, Dr. Kastrup, mit dem sie auf seine Freilassung hinwirken? stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen Aus- schusses im iranischen Parlament, Larijani, am 10. Ja- Zu Frage 37: nuar 1994 in Bonn. Nach Angabe der Weltbank leben 20 Prozent der Die Bundesregierung wird weiterhin wie bisher auf Mexikaner, d. h. 16,8 Millionen Menschen, in extre- eine Begnadigung von Helmut Szimkus drängen. mer Armut. 40 Prozent von diesen Armen leben in Nächste Gelegenheit hierzu bietet das für kommen- ländlichen Gebieten — neben Chiapas in den Bundes- den Freitag, den 14. Januar 1994 vorgesehene staaten Oaxaca, Guerrero, Campeche, Yucatan, Gespräch zwischen Herrn Bundesminister Dr. Kinkel Puebla, Veracruz, Tabacso, San Luis Potosi, Hidalgo und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Aus- und Zacatecas — wo sie zum größten Teil Subsistenz- wärtigen Ausschusses im iranischen Parlament, wirtschaft betreiben. Drei Viertel der Bevölkerung in Larijani. den genannten Staaten sind Analphabeten bzw. haben die Primärschule nicht beendet. Ihr Durch- schnittseinkommen ist außerordentlich niedrig. Zu einem großen Teil, jedoch nicht ausschließlich, setzt sich diese Gruppe aus indianischer Bevölkerung Anlage 15 zusammen. In Chiapas ist die sozioökonomische Antwort Situation der marginalisierten Bevölkerung beson- ders schlecht. der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Frage des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Druck- Die geschilderte wirtschaftliche Lage und die Unzu- sache 12/6538 Frage 39): friedenheit der armen ländlichen Bevölkerung mit den aus ihrer Sicht ungenügenden Maßnahmen der In welcher Form wird die Bundesregierung die Initiativen der Vereinigten Staaten von Amerika bei den Vereinten Nationen Behörden zur gerechteren Verteilung des Bodens und und gegenüber den 44 Ländern, in denen Minen produziert zur Förderung der Landwirtschaft dürfte eine wesent- werden, unterstützen, um ein weltweites Moratorium von drei liche Rolle beim Entstehen und bei der Aktion des bis vier Jahren für den Export, Verkauf und Transfer von „Zapatistischen Nationalen Befreiungsheeres" Landminen durchzusetzen? (EZLN) gespielt haben. Besonders kontrovers ist das Verhältnis der armen Bevölkerung zu den örtlichen Die Bundesregierung hat die amerikanische Initia- Großgrundbesitzern und Viehzüchtern und dem in tive zu einem weltweiten Exportmoratorium für Anti- der Region stationierten Militär. Klare Aussagen, wie Personenminen von Anfang an unterstützt und dem es konkret zur Entstehung des EZLN kam, wer sie entsprechenden amerikanischen Resolutionsentwurf finanziert und anführt und wer die Aktion vom Neu- in der 48. VN-Generalversammlung zugestimmt. jahrstag 1994 beschlossen hat, lassen sich bisher nicht Bereits heute unterliegen Produktion und Export machen. von Landminen den strengen Bestimmungen unseres Nach bisherigen Erkenntnissen über die Vorgänge Kriegswaffenkontrollgesetzes (KWKG). Schon bisher in Chiapas kann man nicht von einem Aufstand „der sind deshalb AntiPersonenminen nur in sehr gerin- Indianer" sprechen, da der größere Teil der städti- gem Umfang aus Deutschland exportiert worden. Für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 202. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Januar 1994 17557* die Industrie wäre ein Exportmoratorium wirtschaft- teren konkreten Schritt und zugleich auch ein sicht- lich unbedeutend. bares politisches Signal gegen die Verbreitung von Landminen darstellen. Die Bundesregierung beabsichtigt jedoch noch wei- ter zu gehen und ein Exportmoratorium für Anti- Die beteiligten Bundesministerien bereiten derzeit Personenminen zu verhängen. Dies würde einen wei- einen entsprechenden Kabinettsbeschluß vor.