Plenarprotokoll 12/117

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

117. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Inhalt:

Eintritt des Abgeordneten Dr. Karl-Heinz e) Erste Beratung des von den Abgeordne- Klejdzinski in den Deutschen für ten Dirk Fischer (Hamburg), Heinz-Gün- die durch Verzicht ausgeschiedene Abge- ter Bargfrede, Dr. , weiteren ordnete Dr. Heike Niggemeyer 9903 A Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ek- kehard Gries, , Roland Erweiterung und Ablauf der Tagesordnung 9903 B Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Verlängerung Begrüßung einer Delegation des polnischen der Regelung über die Anmietung von Parlaments 10000A Kraftfahrzeugen im Werkverkehr nach dem Einigungsvertrag (Drucksache Tagesordnungspunkt 3: 12/3577) Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren in Verbindung mit Erste Beratung des von der Bundesre- a) Zusatztagesordnungspunkt 1: gierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Erste Beratung des von der Fraktion der Unterhaltssicherungsgesetzes SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- (Drucksache 12/3566) setzes über die Unterrichtung und Mit- wirkung des Bundestages in Angelegen- b) Erste Beratung des von der Bundesre- heiten der Europäischen Union (Druck- gierung eingebrachten Entwurfs eines sache 12/3609) Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen in Verbindung mit Bund und Ländern (Drucksache 12/3582) Zusatztagesordnungspunkt 2: c) Erste Beratung des von der Bundesre- Erste Beratung des von den Abgeordne- gierung eingebrachten Entwurfs eines ten Peter Kittelmann, Dr. Karl-Heinz Gesetzes zu der Akte vom 17. Dezem- Hornhues, Dr. Franz Möller, weiteren ber 1991 zur Revision von Artikel 63 Abgeordneten und der Fraktion der des Europäischen Patentüberein- CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ul- kommens (Drucksache 12/3537) rich Irmer, Detlef Kleinert (Hannover), d) Erste Beratung des vom Bundesrat Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Geset- und der Fraktion der F.D.P. eingebrach- zes über die Finanzierung der Sanie- ten Entwurfs eines Gesetzes über die rung von Rüstungsaltlasten in der Zusammenarbeit von Bundesregierung Bundesrepublik Deutschland (Rü- und Bundestag in Angelegenheiten stungsaltlastenfinanzierungsgesetz — der Europäischen Union (Drucksache RüstAltFG) (Drucksache 12/3257) 12/3614) 9903B

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Tagesordnungspunkt 4: CDU/CSU 9905 D Abschließende Beratungen ohne Aus- Gerlinde Hämmerle SPD 9908 B sprache Wolfgang Lüder F.D.P. 9909 C a) Zweite und dritte Beratung des von 9910D der Bundesregierung eingebrachten Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste Entwurfs eines Gesetzes zur Ände Dr. BÜNDNIS 90/DIE rung veterinärrechtlicher, lebensmit- GRÜNEN 9912 A telrechtlicher und tierzuchtrecht SPD 9912 C licher Vorschriften (Drucksachen 12/3201, 12/3619) Jürgen Trittin, Minister des Landes Nieder sachsen 9912D, 9916D b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Hans-Joachim Hacker SPD 9913 D Raumordnung, Bauwesen und Städte- Ortwin Lowack fraktionslos 9915 A bau zu der Unterrichtung durch die Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekre Bundesregierung: Bericht der Bun- tär BMI 9915C, 9917 C desregierung zur Erneuerung von Dörfern und kleinen Orten (Dorf- Tagesordnungspunkt 6: erneuerungsbericht) (Drucksachen Erste Beratung des von den Fraktionen 12/6346, 12/3403) der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- c) Beratung der Beschlußempfehlung brachten Entwurfs eines Gesetzes zur und des Berichts des Auswärtigen Sicherung und Strukturverbesserung der Ausschusses zu der Unterrichtung gesetzlichen Krankenversicherung (Ge- durch die Bundesregierung: Bericht sundheitsstrukturgesetz) (Drucksache der Bundesregierung über die mittel- 12/3608) fristige Bau- und Investitionsplanung im Bereich der deutschen Schulen in Verbindung mit (Drucksachen 12/1005, im Ausland Zusatztagesordnungspunkt 3: 12/3425) Beratung des Antrags der Gruppe BÜND- d) Beratung der Beschlußempfehlung NIS 90/DIE GRÜNEN: Vorlage eines des Haushaltsausschusses zu der Un- neuen Gesundheitsstrukturgesetzes terrichtung durch die Bundesregie- (Drucksache 12/3606) rung: Überplanmäßige Ausgabe im 9918 C Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 10 02 Dr. Paul Hoffacker CDU/CSU Titel 656 54 — Zuschüsse zur Siche- Rudolf Dreßler SPD 9920 D rung der späteren Altersversorgung Dr. Dieter Thomae F.D.P. 9924D, 9932 A als Arbeitnehmer bei Abgabe land- wirtschaftlicher Unternehmen (Nach- Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ entrichtungszuschüsse) (Drucksachen NEN 9926 B 12/3207, 12/3454) Bernhard Jagoda CDU/CSU 9928B e) Beratung der Beschlußempfehlung Dr. PDS/Linke Liste 9930A des Haushaltsausschusses zu der Un- , Bundesminister BMG 9932 C terrichtung durch die Bundesregie- rung: Überplanmäßige Ausgabe bei Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 9933 D Kapitel 05 02 Titel 686 30 — Beitrag Karl Hermann Haack (Extertal) SPD 9936 D an die Vereinten Nationen — (Druck- Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg) F.D.P. 9939B sachen 12/3103, 12/3455) Wolfgang Zöller CDU/CSU 9939 C f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammel- Dr. Bruno Menzel F.D.P. 9940B - übersicht 76 zu Petitionen (Druck- Dr. Hans Geisler, Staatsminister des Landes sache 12/3575) Sachsen 9942 A g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammel- Tagesordnungspunkt 7: übersicht 77 zu Petitionen (Druck- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten sache 12/3576) 9904C Hans Büttner (Ingolstadt), , Hermann Bachmaier, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Miß- Tagesordnungspunkt 5: brauch ausländischer Werkvertrags- und Zweite und dritte Beratung des von der Saisonarbeitnehmer, Lohn- und Arbeits- Bundesregierung eingebrachten Ent- rechtsdumping und verstärkte Verfol- wurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von gung illegaler Beschäftigungsverhält- Kriegsfolgengesetzen (Kriegsfolgenbe- nisse durch die Bundesanstalt für Arbeit reinigungsgesetz) (Drucksachen 12/3212, und die Hauptzollämter (Drucksache 12/3341, 12/3597, 12/3598) 12/3299)

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b) Beratung der Unterrichtung durch die Planung von Umbauten für das Deutsche Bundesregierung: Bericht der Bundes- Historische Museum in Berlin; Vergabe des regierung über den Stand der Unfallver- Architektenauftrags ohne Ausschreibung hütung und das Unfallgeschehen in MdlAnfr 28, 29 der Bundesrepublik Deutschland (alte Peter Conradi SPD Bundesländer), Unfallverhütungsbericht 1990 (Drucksache 12/1845) Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 9957A, c) Beratung der Unterrichtung durch die 9958A Bundesregierung: Siebenter Bericht der ZusFr Peter Conradi SPD 9957A, 9958 A Bundesregierung über Erfahrungen bei ZusFr Wieland Sorge SPD 9957 C der Anwendung des Arbeitnehmerüber- lassungsgesetzes — AÜG — sowie über ZusFr Freimut Duve SPD 9957 D die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung Einverständniserklärung der Bundesregie- — BillBG — (Drucksache 12/3180) rung zum weiteren Aufenthalt ausländischer Streitkräfte auf deutschem Territorium SPD 9943 D MdlAnfr 32 Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU 9945 B Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD Paul K. Friedhoff F.D.P. 9946 D Antw StMin'in Ursula Seiler-Albring 9959 A Manfred Reimann SPD 9948 A ZusFr Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD 9959 A Heinz Schemken CDU/CSU 9949 D Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 9950 D Einladung der an der Demons tration gegen Ausländerfeindlichkeit am 8. November Tagesordnungspunkt 2: 1992 teilnehmenden Arbeiter und Angestell- Fragestunde (Fortsetzung) ten durch die Bundesregierung — Drucksachen 12/3600 vom 3. 11. 1992 MdlAnfr 36 und 12/3580 vom 30. 10. 1992— Dr. Günther Müller CDU/CSU Franz Müntefering SPD (zur GO) 9952C Antw PStSekr Eduard Lintner BMI 9959C CDU/CSU (zur GO) 9952 DZusFr Dr. Günther Müller CDU/CSU 9959C Uta Würfel F.D.P. (zur GO) 9952 D Verwendung von Reizgas durch Demon- Anmeldung deutscher Patente beim Bundes- stranten in Mecklenburg-Vorpommern patentamt und beim Europäischen Patent- MdlAnfr 37 amt in den letzten zehn Jahren im Vergleich Dr. Günther Müller CDU/CSU zu anderen Industrienationen, z. B. Japan Antw PStSekr Eduard Lintner BMI 9959D MdlAnfr 8, 9 Wieland Sorge SPD ZusFr Dr. Günther Müller CDU/CSU 9960A

Antw PStSekr BMJ 9953A, CDemographische Entwicklung in Deutsch- ZusFr Wieland Sorge SPD 9953C, Dland bis 2030

Deutsche Waffenlieferungen in die Türkei MdlAnfr 38 seit 1964; Stornierung türkischer Waffen- Jürgen Augustinowitz CDU/CSU käufe im Zusammenhang mit der vorüberge- Antw PStSekr Eduard Lintner BMI 9960 B henden Einstellung deutscher Waffenliefe- rungen ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 9960C MdlAnfr 20, 21 ZusFr SPD 9960 D SPD Tagesordnungspunkt 8: Antw PStSekr Dr. BMWi 9954C, a) Beratung der Beschlußempfehlung des 9955 B Haushaltsausschusses zu der Unterrich- ZusFr Gernot Erler SPD 9954C, 9955 B tung durch die Bundesregierung: Über- planmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Dokumentierung der EG-Bürokratie ange- Titel 686 12 — Humanitäre Hilfe im Aus- sichts des EG-Vorschlags zur Einführung land — (Drucksachen 12/3204, 12/3456) einer gemeinsamen Bananen- Marktord- b) Beratung der Beschlußempfehlung des nung Haushaltsausschusses zu der Unterrich- MdlAnfr 22 tung durch die Bundesregierung: Außer- Jürgen Augustinowitz CDU/CSU planmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Antw PStSekr BML 9956A apl. Titel 686 46 — Errichtung winterfe- ster Flüchtlingsunterkünfte in Kro- ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 9956B atien — (Drucksachen 12/3206, ZusFr Freimut Duve SPD 9956C 12/3457)

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c) Beratung der Beschlußempfehlung und Internationale Verschuldungskrise und des Berichts des Auswärtigen Ausschus- wirtschaftliche Strukturanpassung in der ses zu dem Antrag der Abgeordneten Dritten Welt und in Osteuropa (Drucksachen Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe 12/2160, 12/3300) 90/DIE GRÜNEN: BÜNDNIS Humanitäre Dr. Ingomar Hauchler SPD 9988 D Hilfe und Unterstützung von Friedens- initiativen für Somalia (Drucksachen CDU/CSU 9990 C 12/2159, 12/3599) Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Hartmut Koschyk CDU/CSU 9961 B GRÜNEN 9992 A Freimut Duve SPD 9962D, 9969 D Ingrid Walz F.D.P. 9993 A Dr. Jürgen Schmieder F.D.P. 9963 D Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste 9994 C Angela Stachowa PDS/Linke Liste 9964 C Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF 9995 C Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9965 C Hans-Günther Toetemeyer SPD 9997 A Freimut Duve SPD 9966D, 9970 C Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/ CSU 9998C, 10000B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 9966 D Dr. Willfried Penner SPD 9999 D Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 9968 A Detlev von Larcher SPD 10000 A Dr. Winfried Pinger CDU/CSU 9968 C Dr. Dietrich Sperling SPD 10000 C Rudolf Bindig SPD 9969 B Dr. Winfried Pinger CDU/CSU 10001B CDU/CSU 9970 A Rudolf Bindig SPD 9971 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Dr. Michaela Blunk F.D.P. 9973 B Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- Hans Wallow SPD 9974B setzes zur Verlängerung der Wartefristen Joachim Graf von Schönburg-Glauchau für Eigenbedarfskündigungen in dem in CDU/CSU 9975 B Artikel 3 des Einigungsvertrages ge- nannten Gebiet (Drucksachen 12/2758, Zusatztagesordnungspunkt 4: 12/3605 [neu]) Aktuelle Stunde betr. Schutz und Unter- Dr. Michael Luther CDU/CSU 10001 D stützung der Staatengemeinschaft für Peter Conradi SPD 10002 B Salman Rushdie Hans-Joachim Hacker SPD 10003 C Hans-Dirk Bierling CDU/CSU 9976 D Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE Freimut Duve SPD 9977 D GRÜNEN 10005 B Gerhart Rudolf Baum F.D.P. 9978 C Dr. Walter Hitschler F.D.P. 10005 C Angela Stachowa PDS/Linke Liste 9979 B Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 10006C Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin AA 9980 BRainer Funke, Parl. Staatssekretär BMF 10007 A Heinrich Lummer CDU/CSU 9981 A Namentliche Abstimmungen 10007 C Thea Bock SPD 9981D Dr. F.D.P. 9982 C Ergebnisse 10012D, 10014C Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ - Tagesordnungspunkt 10: NEN 9983B a) Beratung der Beschlußempfehlung Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU 9984 A des Petitionsausschusses: Sammelüber- sicht 55 zu Petitionen (Luftverunreini- SPD 9985 B gung) (Drucksache 12/2296) Dr. Günther Müller CDU/CSU 9986A b) Beratung der Beschlußempfehlung Norbert Gansel SPD 9986 D des Petitionsausschusses: Sammelüber- sicht 59 zu Petitionen (Luftverunreini- (Unna) CDU/CSU 9987 D gung) (Drucksache 12/2558)

Tagesordnungspunkt 9: Siegrun Klemmer SPD 10008A Beratung der Großen Anfrage der Abge- Steffen Kampeter CDU/CSU 10009 C ordneten Dr. Ingomar Hauchler, Dr. Nor- Birgit Homburger F.D.P. 10011 B bert Wieczorek, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Steffen Kampeter CDU/CSU 10011 D

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Tagesordnungspunkt 11: Anlage 5 Beratung der Beschlußempfehlung Begründung für die Teilnahme von Bundes- des Petitionsausschusses: Sammelüber- wehrsoldaten in Uniform am 50. Jahrestag sicht 68 zu Petitionen (Betriebsverfas der Schlacht von El Alamein; Bedrohungs- sung) (Drucksache 12/2943) analyse der NATO als Basis der neuen Richt- Horst Peter (Kassel) SPD 10016B linien für den Einsatz von Atomwaffen Franz Romer CDU/CSU 10017 D MdlAnfr 1 — Drs 12/3580 — SPD 10018 C Hans Wallow SPD Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg 10034* D GRÜNEN 10019 B Burkhard Zurheide F.D.P. 10019 D Anlage 6 Tagesordnungspunkt 12: Verlängerung der Fahrzeiten auf der Bun- Beratung der Großen Anfrage der Frak- desbahnstrecke Hamburg-Lübeck; Übertra- tion der SPD: Stand und Perspektiven der gung des ÖPNV auf Regionalverkehrsgesell- Arbeitsförderung (Drucksachen 12/1990, schaften 12/2678) MdlAnfr 3, 4 — Drs 12/3580 — Barbara Weiler SPD 10021 A Reinhold Hiller (Lübeck) SPD Karl-Josel Laumann CDU/CSU 10022 C SchrAntw PStSekr Dr. Petra Bläss PDS/Linke Liste 10023 D BMV 10035* C Dr. Eva Pohl F.D.P. 10024 D Gerd Andres SPD 10025 C Anlage 7 Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 10026B Kampagne der Welttierschutzgesellschaft Renate Rennebach SPD 10027 C zum Schutz der Bären Dr. F.D.P. 10029D MdlAnfr 5 — Drs 12/3580 — CDU/CSU 10030A Horst Kubatschka SPD Nächste Sitzung 10031 C SchrAntw PStSekr Dr. Paul Laufs BMU 10035* D

Anlage 1 Anlage 8 Liste der entschuldigten Abgeordneten 10033* A Diskriminierung Schwerbehinderter durch Anlage 2 das Urteil des Amtsgerichts Flensburg Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten MdlAnfr 12 Drs 12/3580 — Dr. Michael Luther, , Hartmut Dr. Eva Pohl F.D.P. Büttner (Schönebeck) und weiterer 38 Kolle- SchrAntw PStSekr Rainer Funke BMJ 10036* A ginnen und Kollegen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen (Tagesordnungs- Anlage 9 punkt 5) 10033* C Transferzahlungen an supranationale Ge- Anlage 3 meinschaften oder andere Länder Erklärung der Abgeordneten Dr. Dorothee MdlAnfr 13 — Drs 12/3580 — fraktionslos Wilms zur namentlichen Abstimmung über - Ortwin Lowack den Änderungsantrag der Fraktion der SPD SchrAntw PStSekr zur zweiten Beratung des Gesetzentwurfs BMF 10036 * B des Bundesrates zur Verlängerung der War- tefristen für Eigenbedarfskündigungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages Anlage 10 genannten Gebiet — Drucksache 12/3613 Nr. 1 — 10034* C Weitere Tätigkeit der vom Stellenabbau im Zolldienst betroffenen Zollbeamten; Verhin- Anlage 4 derung der Einstellung in einer Behörde durch eine vorgesetzte Dienststelle Äußerungen des Bundeskanzlers über Staatsnotst and wegen Asylsachen MdlAnfr 16, 17 — Drs 12/3580 — DringlAnfr 3 — Drs 12/3600 — Dr. Elke Leonhard-Schmid SPD SPD SchrAntw PStSekr Manfred Carstens SchrAntw BM ChefBK 10034* D BMF 10036* D

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Anlage 11 MdlAnfr 30 — Drs 12/3580 — Letzte Verhandlung im Ermittlungsverfah- Ludwig Stiegler SPD ren wegen der Lieferung von Unterlagen für SchrAntw PStSekr Dr. Heinrich Kolb den U-Boot-Bau nach Südafrika; weitere BMWi 10038* D Verfahren wegen der Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz Anlage 15 MdlAnfr 18 — Drs 12/3580 — Auflösung des Konzentrationslagers in Bos- Norbert Gansel SPD nien-Herzegowina und Durchsetzung des SchrAntw PStSekr Manfred Carstens Embargos gegen Serbien BMF 10037* C MdlAnfr 31 — Drs 12/3580 Ortwin Lowack fraktionslos Anlage 12 SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring Auswirkung der Kürzungen der Mittel zur AA 10039* B beruflichen Eingliederung von Aussiedlern MdlAnfr 25, 26 Drs 12/3580 — Anlage 16 SPD Dieter Heistermann Ausweisung des iranischen Botschafters im SchrAntw PStSekr Horst Günther BMA 10037* D Zusammenhang mit den Morddrohungen gegen Salman Rushdie Anlage 13 MdlAnfr 33 — Drs 12/3580 — Norbert Gansel SPD Einführung eines Antidiskriminierungsge- setzes für Behinderte SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 10039* D MdlAnfr 27 — Drs 12/3580 — Dr. Eva Pohl F.D.P. Anlage 17 SchrAntw PStSekr Horst Günther BMA 10038* B Zugang für Fachhochschulabsolventen zum höheren Dienst Anlage 14 MdlAnfr 40 — Drs 12/3580 — Verzicht auf Werkvertragsabkommen ange- Horst Kubatschka SPD sichts der zurückgehenden Auftragslage im Baugewerbe SchrAntw'PStSekr Eduard Lintner BMI 10040* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9903

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Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und 7. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und Herren, die Sitzung ist eröffnet. F.D.P.: Nationaler Hörfunk — Drucksache 12/3623 — 8. Aktuelle Stunde: Pläne der Bundesregierung zu Steuer- Lassen Sie mich zunächst mitteilen, daß der Abge- erhöhungen und Einschnitten im sozialen Bereich ordnete Dr. Karl-Heinz Klejdzinski am 29. Oktober 1992 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag Von der Frist für den Beginn der Beratung soll erworben hat. Er tritt an die Stelle der durch Verzicht abgewichen werden, soweit dies zu einzelnen Punk- ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Heike Nigge- ten der Tagesordnung erforderlich ist. meyer, die für den verstorbenen Kollegen Willy Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Brandt eingetreten war. Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich begrüße den aus früheren Wahlperioden bereits bekannten Kollegen Dr. Klejdzinski sehr herzlich.

(Beifall) Ich rufe Tagesordnungspunkt 3a bis 3 e sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- 1. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten rung eingebrachten Entwurfs eines Achten Entwurfs eines Gesetzes über die Unterrichtung und Mit- Gesetzes zur Änderung des Unterhalts- wirkung des Bundestages in Angelegenheiten der Europäi- sicherungsgesetzes schen Union — Drucksache 12/3609 — — Drucksache 12/3566 —

2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Kittelmann, Überweisungsvorschlag: Dr. Karl-Heinz Hornhues, Dr. Franz Möller, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Verteidigungsausschuß (federführend) ordneten Ulrich Irmer, Detlef Kleinert (Hannover), Jörg van Rechtsausschuß Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusam- Ausschuß für Familie und Senioren menarbeit von Bundesregierung und Bundestag i n Angele- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO genheiten der Europäischen Union — Drucksache b) Erste Beratung des von der Bundesregie- 12/3614 — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 3. Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zes zur Änderung des Gesetzes über den NEN: Vorlage eines neuen Gesundheitsstrukturgesetzes Finanzausgleich zwischen Bund und Län- — Drucksache 12/3606 — dern 4. Aktuelle Stunde: Schutz und Unterstützung der Staaten- — Drucksache 12/3582 — gemeinschaft für Salman Rushdie Überweisungsvorschlag: 5. Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrach- Finanzausschuß (federführend) ten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Warte- Rechtsausschuß fristen für Eigenbedarfskündigungen in dem in Artikel 3 Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO des Einigungsvertrages genannten Gebiet — Drucksachen 12/2758, 12/3605 (neu) c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des zes zu der Akte vom 17. Dezember 1991 zur Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Revision von Artikel 63 des Europäischen (19. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Martin Bury, Achim Großmann, Norbert Formanski, weite- Patentübereinkommens rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bericht der — Drucksache 12/3537 Bundesregierung über das Zusammenwirken finanzwirk- samer, wohnungspolitischer Instrumente (Instrumenten- —Überweisungsvorschlag: bericht) — Drucksachen 12/1277 (neu), 12/2795 — Rechtsausschuß 9904 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- brachten Entwurfs eines Gesetzes über die sen. Finanzierung der Sanierung von Rüstungs- altlasten in der Bundesrepublik Deutsch- land (Rüstungsaltlastenfinanzierungsge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: setz — RüstAltFG) — Drucksache 12/3257 — Abschließende Beratungen ohne Aussprache Überweisungsvorschlag: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Haushaltsausschuß (federführend) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Verteidigungsausschuß Gesetzes zu Änderung veterinärrechtlicher, Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- lebensmittelrechtlicher und tierzuchtrechtli- heit cher Vorschriften e) Erste Beratung des von den Abgeordneten — Drucksache 12/3201 — Dirk Fischer (Hamburg), Heinz-Günter Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Bargfrede, Dr. Wolf Bauer, weiteren Abge- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und ordneten und der Fraktion der CDU/CSU Forsten (10. Ausschuß) sowie den Abgeordneten , Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren — Drucksache 12/3619 — Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. Berichterstattung: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abgeordneter Matthias Weisheit Verlängerung der Regelung über die (Erste Beratung 107. Sitzung) Anmietung von Kraftfahrzeugen im Werk- verkehr nach dem Einigungsvertrag b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, — Drucksache 12/3577 — Bauwesen und Städtebau (19. Ausschuß) zu der Überweisungsvorschlag: Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuß für Verkehr (federführend) Bericht der Bundesregierung zur Erneuerung Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft von Dörfern und kleinen Orten (Dorferneue- Haushaltsausschuß rungsbericht) ZP1 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD — Drucksachen 11/6346, 12/3403 — eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Berichterstattung: die Unterrichtung und Mitwirkung des Bun- Abgeordnete Iris Gleicke destages in Angelegenheiten der Europäi- Hans-Wilhelm Pesch schen Union c) Beratung der Beschlußempfehlung und des — Drucksache 12/3609 — Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuß) zu der Unterrichtung durch die Bundes- Überweisungsvorschlag: regierung Sonderausschuß „Europäische Union" Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- Bericht der Bundesregierung über die mittel- nung fristige Bau- und Investitionsplanung im Auswärtiger Ausschuß Bereich der deutschen Schulen im Ausland Rechtsausschuß — Drucksachen 12/1005, 12/3425 — ZP2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Berichterstattung: Peter Kittelmann, Dr. Karl-Heinz Hornhues, Abgeordnete Dr. Dr. Franz Möller, weiteren Abgeordneten und Dr. Cornelia von Teichman der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- Freimut Duve neten Ulrich Irmer, Detlef Kleinert (Hannover), Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- eines Gesetzes über die Zusammenarbeit von richtung durch die Bundesregierung Bundesregierung und Bundestag in Angele- Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr genheiten der Europäischen Union 1992 bei Kapitel 10 02 Titel 656 54 — Zuschüsse zur Sicherung der spätere Altersversorgung — Drucksache 12/3614 — als Arbeitnehmer bei Abgabe landwirtschaft- Überweisungsvorschlag: licher Unternehmen (Nachentrichtungszu- Sonderausschuß „Europäische Union" schüsse) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- nung — Drucksachen 12/3207, 12/3454 — Auswärtiger Ausschuß Berichterstattung: Rechtsausschuß Abgeordnete Bartholomäus Kalb Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Dr. Sigrid Hoth ten Verfahren ohne Debatte. Ernst Kastning Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das richtung durch die Bundesregierung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9905

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Enthaltungen? — Dann sind die Beschlußempfehlun- Titel 686 30 gen bei drei Enthaltungen angenommen. — Beitrag an die Vereinten Nationen — Tagesordnungspunkt 4 f und 4 g: Beratung der — Drucksachen 12/3103, 12/3455 — Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf Berichterstattung: Drucksachen 12/3575 und 12/3576. Das sind die Abgeordnete Dr. Klaus Rose Sammelübersichten 76 und 77. Wer stimmt für diese Dr. Sigrid Hoth Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthal- Ernst Waltemathe tungen? — Auch diese Beschlußempfehlungen sind bei drei Enthaltungen angenommen. f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 76 zu Petitionen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: — Drucksache 12/3575 — Zweite und dritte Beratung des von der Bun- g) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- desregierung eingebrachten Entwurfs eines tionsausschusses (2. Ausschuß) Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgen- Sammelübersicht 77 zu Petitionen gesetzen (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz — KfbG) — Drucksache 12/3576 — — Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorla- Drucksachen 12/3212, 12/3341 — gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innen- Tagesordnungspunkt 4 a: Wir kommen zur Einzel- ausschusses (4. Ausschuß) beratung und Abstimmung über den von der Bundes- — Drucksache 12/3597 — regierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Berichterstattung: rung veterinärrechtlicher, lebensmittelrechtlicher Abgeordnete Hartmut Koschyk und tierzuchtrechtlicher Vorschriften, Drucksachen Gerlinde Hämmerle 12/3201 und 12/3619. Ich bitte diejenigen, die dem Wolfgang Lüder Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in schuß) gemäß § 96 GO zweiter Beratung einstimmig angenommen. — Drucksache 12/3598 — Berichterstattung: Wir treten in die Abgeordnete dritte Beratung Rudolf Purps ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte (Erste Beratung 107. Sitzung) diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei drei Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen Enthaltungen angenommen. sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Tagesordnungspunkt 4 b: Beratung der Beschluß- empfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bau- Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der wesen und Städtebau zum Dorferneuerungsbericht Abgeordnete Erwin Marschewski. der Bundesregierung, Drucksachen 11/6346 und 12/3403. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschluß- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! empfehlung ist bei drei Enthaltungen angenommen. Meine Damen und Herren! Kriegsfolgenbereini- Tagesordnungspunkt 4 c: Beratung der Beschluß- gungsgesetz — so hat man diesen heute zu beschlie- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem ßenden Gesetzentwurf genannt; Wortschöpfung deut- Bericht der Bundesregierung über die mittelfristige scher Ministerien. Aber auch Hartmut Koschyk, unse- Bau- und Investitionsplanung im Bereich der deut- rem Berichterstatter, und mir ist hierzu kaum etwas schen Schulen im Ausland, Drucksachen 12/1005 und Besseres eingefallen. 12/3425. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Die einen sagen, daß mit der Verwirklichung der — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschluß- deutschen Einheit, der völkerrechtlichen Festlegung empfehlung ist bei drei Enthaltungen angenommen. der deutsch-polnischen Grenze und den Verträgen Tagesordnungspunkt 4 d und 4 e: Beratung von zwei mit den Vier Mächten und Polen die Nachkriegszeit Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu als beendet anzusehen sei. Mag sein — aber auch die überplanmäßigen Ausgaben (Altersversorgung der Folgen des Krieges? Landwirte und Beitrag an die Vereinten Nationen), Ja, wir haben uns rechtlich vereinigt, die Bundesre- Drucksachen 12/3207 und 12/3454 sowie 12/3103 und publik und die DDR, aber die Folgen? — Wir ringen 12/3455. darum, sie zu beseitigen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über Ich war, meine Damen und Herren, neulich in die beiden Beschlußempfehlungen gemeinsam ab- Rußland, an der Wolga. Dort jedenfalls sind die Folgen stimmen. — Wer stimmt für diese Beschlußempfehlun- des Krieges — nach Hitlers Überfall und Stalins gen des Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Vertreibung — noch keineswegs beseitigt. Auch 9906 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Erwin Marschewski sprach ich mit Menschen aus Ostpreußen; sie stellten Gehen offenhalten. Das Tor zur Bundesrepublik viele Fragen. Deutschland darf daher nicht verschlossen werden! Zu ist der Vorhang also nicht - deswegen eben nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. „Bereinigung" sowie bei Abgeordneten der SPD) 19 Gesetze und Verordnungen sollen aufgehoben, Die Einführung von Fristen oder eine Kontigentie- geändert, angepaßt werden, mit denen wir versuch- rung würde, so befürchte ich, zwangsläufig zu panik- ten, unsägliches Leid zu mildern: von kriegsgefange- artigen Massenauswanderungen führen. Das wollen nen Heimkehrern, von aus der Heimat Vertriebenen, wir nicht, insbesondere auch im Interesse der betrof- von Aussiedlern. Deswegen, meine Damen und Her- fenen Menschen. ren, wird dieser Gesetzentwurf von vielen mit Auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge merksamkeit und Interesse begleitet: von denen, die ordneten der F.D.P.) jetzt hier zu Hause sind, besonders aber von den Deutschen, die heute noch in den Staaten Ostmittel-, Ich begrüße daher die Bereitschaft der Länder, Ost- und Südosteuropas leben. weiterhin Aussiedler aufzunehmen. Nur wenn das sichergestellt ist, kann erwartet werden, daß die Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die Aufnahme und Deutschen in Aussiedlungsgebieten vor einer Ent- Eingliederung der in Polen, in den Republiken der scheidung für oder gegen die Aussiedlung den Erfolg ehemaligen Sowjetunion und in den übrigen ost- und der vielfältigen Bemühungen abwarten, ihnen in den südosteuropäischen Staaten lebenden deutschen Aussiedlungsgebieten Perspektiven zum Bleiben zu

Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen bieten. Namentlich bei den Rußlanddeutschen — ich in der Bundesrepublik Deutschland auf eine rechtli- habe vorhin davon gesprochen — kann das durch che Grundlage zu stellen, die auch für die Zukunft Verfolgung, Verschleppung und jahrelange Diskrimi- einen sozial verträglichen Rahmen für den Zuzug und nierung gestörte Vertrauen auf eine Zukunft in den die Integration der Ausländer gewährleistet. Staaten der ehemaligen Sowjetunion nur allmählich wiederhergestellt werden. Im Zusammenhang mit der Entscheidung über den vorliegenden Gesetzentwurf will die Unionsfraktion Aus diesem Grunde wollen wir insbesondere das zugleich erneut deutlich machen, daß sie sich unein- Bundesvertriebenengesetz nicht — wie die anderen geschränkt zur Fürsorge - und zur Obhutspflicht für Gesetze — abschließen, sondern mit den vorgesehe- die Heimatvertriebenen und die in den genannten nen neuen gesetzlichen Regelungen jenen Prozeß Staaten lebenden Deutschen bekennt. fördern, der seit dem 1. Juli 1990 mit dem Aussiedler- aufnahmegesetz eingeleitet worden ist. Denn mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diesem Gesetz ist es gelungen, den Zuzug von Aus- siedlern in einem geordneten, effizienten und bundes- Meine Damen und Herren, wir tragen auch nach einheitlichen Verfahren zu regeln. Wenn unsere dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme neuen Mitbürger aus den Aussiedlungsgebieten im in Ost- und Südosteuropa und nach der Vereinigung Bundesgebiet eintreffen, können sie nunmehr gewiß Deutschlands weiterhin eine ganz besondere Verant- treut und schnell in das wortung für die rund 3,5 Millionen Deutschen, die sein, daß sie versorgt, be aufnehmende Bundesland weitergeleitet werden. Sie heute noch in diesen Gebieten leben: 2 Millionen können jetzt vor allen Dingen weitgehend sicher sein, davon in der Sowjetunion, 1 Million in Polen, 230 000 daß sie als Aussiedler anerkannt werden. in Ungarn, 150 000 in der CSFR und 80 000 bis 100 000 in Rumänien. Sicherlich ist das ein Erfolg, wie es ein Erfolg ist, was Staatssekretär Waffenschmidt, den ich in diesem Diese Menschen haben durch den Zweiten Welt- Zusammenhang besonders erwähnen will, geleistet krieg und seine Folgen besonders stark gelitten, nur hat weil sie Deutsche waren und Deutsche bleiben woll- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten. Meine Damen und Herren, 1989 und 1990 kamen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. jährlich rund 400 000 Aussiedler in die Bundesrepu- sowie bei Abgeordneten der SPD) blik Deutschland. Wir rechnen damit, daß in diesem - Jahr ungefähr 200 000 zu uns kommen. Die Zahl hat Die Folgen dieses Schicksals und der Unterdrückung sich also halbiert. Das ist sicherlich den Bemühungen bestehen bis heute fort. Die Betroffenen haben auf dieses Hohen Hauses zu danken. Ich glaube aber, daß Grund der gemeinsamen Geschichte aller Deutschen auch die Bundesregierung hier Beträchtliches gelei- einen Anspruch auf unsere solidarische Hilfe. stet hat. Die politischen Veränderungen in den Staaten, die In diesem Zusammenhang richte ich einen ganz ich gerade genannt habe, sowie die vertraglichen besonderen Dank an die jungen Bundesländer. Ich Vereinbarungen mit ihnen haben erst in jüngster Zeit meine, daß es ihnen trotz der schwierigen Situation erweiterte Möglichkeiten für kulturelle, soziale, hervorragend gelungen ist, dafür Sorge zu tragen, daß gemeinschafts- und wirtschaftsfördernde Hilfsmaß- ungefähr 10 % der Aussiedler in den neuen Bundes- nahmen gegeben. Unsere Bemühungen um eine ländern eine neue Heimat gefunden haben. Dafür wirksame Verbesserung der Lage der deutschen ganz herzlichen Dank! Minderheiten in diesen Staaten bleiben aber nur dann glaubwürdig, wenn wir den Deutschen in diesen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Gebieten die Entscheidung zwischen Bleiben und ordneten der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9907

Erwin Marschewski Die Beruhigung der Gesamtsituation, zu der das meine Damen und Herren, daß der Deutsche Bundes- Aussiedleraufnahmegesetz geführt hat, wird anhal- tag Gerechtigkeit gegenüber jedermann und gegen- ten, wenn wir die Aufnahmeregelungen vernünftig, über „jederfrau" zu üben hat. d. h. für alle akzeptabel, formulieren. Wir haben das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge im Bundesvertriebenengesetz versucht. Dieses Ge- ordneten der F.D.P.) setz wird auch weiterhin Rechtsgrundlage für die Aufnahme der Aussiedler bleiben. Die nach dem Deswegen begrüße ich, daß es dank des Einsatzes 31. Dezember dieses Jahres eintreffenden Aussiedler der Kollegen im Innenausschuß sowie der Minister sollen nach unseren Vorstellungen nicht mehr als Frau Merkel und Herrn Krause und des jetzigen „Vertriebene", sondern als „Spätaussiedler" bezeich- Innenministers und seines Vorgängers gelungen ist, net werden. Dabei bedeutet die Bezeichnung „Spät- daß die Heimatvertriebenen in den neuen Bundeslän- aussiedler" keine qualitative Statusveränderung. Ich dern eine einmalige Zuwendung in Höhe von 4 000 sage das ganz besonders für die vielen Vertriebenen. DM in einer noch festzulegenden Form im Entschädi- Die Vertriebenen können sich hier auf uns verlas- gungsgesetz erhalten werden. Bei der Ausgestaltung sen. dieser Entschädigungsregelung werden wir zu berücksichtigen haben, daß sich die Betroffenen (Beifall bei der CDU/CSU — Siegf ried Hor bereits heute in einem sehr hohen Lebensalter befin- nung [CDU/CSU]: Aber nur auf uns!) den und daß ihnen daher lange Fristen für die Aus- Künftig soll die Prüfung des Kriegsfolgenschicksals zahlung der Einmalleistung nicht mehr zugemutet durch eine striktere Prüfung der deutschen Volkszu- werden können. Dafür haben wir Sorge zu tragen. gehörigkeit in Anlehnung an die Rechtsprechung des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesverwaltungsgerichts ersetzt werden. Diese Rechtsprechung stellt darauf ab, ob dem Betroffenen Ich sage: Die Union wird das tun. im engsten Familienkreis die deutsche Sprache sowie Darüber hinaus begrüße ich die Ausdehnung der deutsche Erziehung und Kultur vermittelt worden „Heimkehrerstiftung" und der „Stiftung für ehema- sind. Dabei wird jedoch berücksichtigt, daß Deutsche lige politische Häftlinge" auf die neuen Bundeslän- in vielen Aussiedlungsregionen einem starken Assi- der. Denn das hat zur Folge, daß denjenigen flexibel milierungsdruck ausgesetzt waren und daß vor allem und entsprechend ihrer Bedürftigkeit geholfen wer- die Benutzung er deutschen Sprache vielfach verbo- den kann, die in Kriegsgefangenschaft waren, die ten oder mit erheblichen Nachteilen verbunden verschleppt waren, die in den Gefängnissen der war. ehemaligen DDR leiden mußten und die auf Grund Das bedeudet im Klartext: Deutsche, insbesondere der Rechtslage keine gesetzlichen Leistungen erhal- die nach 1945 geborenen, können künftig auch dann ten können. als Aussiedler anerkannt werden, wenn sie keine Hierfür, meine Damen und Herren, wird eine aus- deutschen Sprachkenntnisse mehr besitzen. Ich reichende finanzielle Ausstattung der beiden Stiftun- meine, daß diese Regelung gerecht ist. Sie wird die gen zu gewährleisten sein. Auch dafür wollen wir uns Zahl der Spätaussiedler keinesfalls vergrößern. einsetzen; auch dafür wollen wir kämpfen. Denn das Im übrigen bleiben die bewährten Regelungen ist gerecht, meine Freunde. erhalten: Sprachförderung, Eingliederungsgeld und Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach dem Arbeitsför- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) derungsgesetz. Rentenansprüche werden wie bisher Dies ist meine Forderung und — zu Recht — auch die nach dem Fremdrentengesetz geregelt. Denn ich Forderung der Kollegen aus den neuen Bundeslän- meine, es ist richtig, diesen Menschen einen ange- dern. messenen Lebensstandard zu gewährleisten. Verän- Meine Damen und Herren, wir haben uns mit dem derungen sind aber beim Lastenausgleichsrecht, beim Kriegsfolgenbereinigungsgesetz viel Mühe gegeben. Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz und beim Ich darf mich ganz besonders bei den Kollegen des Häftlingshilfegesetz vorgesehen. Innenausschusses, insbesondere bei Frau Gerlinde Ich glaube, meine Damen und Herren, daß die Hämmerle, Herrn Wolfgang Lüder und bei Hartmut historische Bedeutung des Lastenausgleichs keines- Koschyk, ganz herzlich bedanken. wegs geschmälert wird, wenn wir nunmehr, nach (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. vielen Jahren, dieses Gesetz abschließen. Sie- wissen: sowie bei Abgeordneten der SPD und des Der Lastenausgleich war von vornherein bef ristet BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) konzipiert. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Alle Beteiligten waren sich bewußt, daß wir dem Punkt ansprechen, der — wie ich meine, zu Recht — gewaltigen politischen Umbruch in Europa, in der ehemaligen Sowjetunion Rechnung tragen müssen, von der betroffenen Bevölkerung kritisiert worden ist. soweit dies möglich ist. Aber ich weiß auch, daß Ich meine die Nichtgewährung von Ausgleichslei- mancher mehr Leistungen einfordern wird, als wir stungen an sogenannte Altvertriebene in den jungen erfüllen können. Bundesländern. Sicherlich ist es richtig, daß viele Vertriebene schon ihres Alters wegen kaum mehr in Meine Damen und Herren, wir haben versucht, den Genuß der Leistungen kämen. Richtig ist weiter, Enormes zu leisten: SED-Unrechtsbereinigungsge- daß der Aufbau einer Ausgleichsverwaltung in den setz, Entschädigungsgesetz, Leistungen an die Claims neuen Bundesländern und die Feststellung von Schä- Conference gemäß Einigungsvertrag, Stiftung den, die mehr als 45 Jahre zurückliegen, nahezu deutsch-polnische Aussöhnung und Stiftung für NS- unmöglich wären. Genauso richtig aber ist auch, Opfer in der CSFR, Entschädigungsgesetz und Kriegs- 9908 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Erwin Marschewski folgenbereinigungsgesetz — alles war und ist nötig, Punkte eingehen und zunächst auf den Punkt zu war und ist begründet. Es soll versöhnen, vielleicht sprechen kommen, bei dem wir uns nicht einigen heilen, soweit dies überhaupt möglich ist. Aber wir konnten, der für uns aber eine entscheidende Ro lle werden bedauerlicherweise nicht in der Lage sein, spielt. Ich möchte noch einmal in aller Friedfertigkeit finanziell noch mehr zu leisten. den Versuch unternehmen, Ihnen zu erklären, was wir Was die Forderung des Bundesrats nach Festlegung mit diesem Punkt eigentlich wollen. Ich bin ein wenig einer Ausschlußfrist für Aufnahmeanträge von Aus- traurig darüber, daß die Mißverständisse immer noch siedlern und nach einer Einreisequote betrifft — die nicht ausgeräumt sind. SPD-Fraktion stellt heute ähnliche Anträge —: Auch Wir verstehen den hier wird die Union nicht in der Lage sein, dem Zuzug der Aussiedler aus den Staaten, die Sie mit Recht angesprochen haben, ins- zuzustimmen. Gerade die Rußlanddeutschen haben ein schlimmes Schicksal erleiden müssen; ich habe besondere aus den GUS-Staaten, als einen wesentli- chen davon gesprochen. Teil der gesamten Zuwanderung in die Bundes- republik Deutschland. Es ist überhaupt nicht zu ver- Wer „drüben" war, hat erfahren, daß sie an uns kennen, daß uns die Zuwanderung insgesamt in der glauben und daß sie auf ihr Vaterland Deutschland Bundesrepublik streitig beschäftigt. hoffen. Dies kann man an der Wolga, in Saratow, in Omsk und anderswo, erfahren. Deswegen dürfen wir (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nein, das ist diese Menschen nicht allein lassen. Sie glauben an falsch! — Weitere Zurufe von der CDU/ uns, sie hoffen auf ihr Vaterland Deutschland. CSU) Mir fiel, meine Damen und Herren, nichts Treffen- — Herr Kollege, nun bleiben Sie doch auch f ri deres ein, als zum Schluß den bereits in der Einbrin- edfertig. Das, was ich gesagt habe, gilt vielleicht nicht in gung genannten Genscher-Satz noch einmal zu zitie- diesem Hause, sehr wohl aber mit Blick auf die ren. Genscher hat gesagt: gesamte Bevölkerung. Ich bin doch nicht ... zu den Diktatoren gefahren und habe mit ihnen ... darüber verhandelt, die Ich hatte in dem Stadtteil, in dem ich lebe, ein Tür ... einen Spalt aufzubekommen, um jetzt, wo Erlebnis — das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, sie offen ist . . ., sie wieder zu schließen. tue es nun aber doch —, das mich sehr traurig, aber Ich selbst habe dem nichts, aber auch gar nichts auch sehr aufmerksam gemacht hat. Es gibt in diesem hinzuzufügen. Stadteil eine wunderschöne neue Straße, mit sehr schönen neuen Häusern. In diese neuen Wohnungen Ich bedanke mich. sind überwiegend Aussiedler eingezogen, womit ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht kritisieren will, daß diese Menschen in einer schönen Wohnung leben. Diese Straße wird in mei- nem Stadteil von der Bevölkerung — im Supermarkt, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt die beim Friseur und auf der Straße — „Stalinallee" Abgeordnete Gerlinde Hämmerle. genannt. Das ist natürlich ganz falsch, weil die Deut- schen gerade unter Stalin gelitten haben. Ich führe Gerlinde Hämmerle (SPD): Frau Präsidentin! Liebe dieses Beispiel an, um Ihnen klarzumachen, daß auch Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Marschewski, dieser Bereich der Zuwanderung keineswegs von ich habe dem Satz des Herrn Kollegen Genscher Aggression seitens der Bevölkerung frei ist. Ich denke, allerdings etwas hinzuzufügen, nämlich daß wir es darüber sollten wir uns hier ernsthafte Gedanken Gott sei Dank nicht mehr mit Diktaturen zu tun haben. machen. In den Staaten, aus denen die Aussiedler heute kommen, herrschen keine diktatorischen Verhält- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) nisse mehr. Darüber bin ich sehr froh. Ich denke, auch das müssen wir in unsere Überlegungen mit einbezie- Wir wollen die gesamte Zuwanderung dadurch hen. regeln, daß wir für bestimmte Gruppen von Zuwan- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derern ein Kontingent beschließen. Ich möchte noch DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der einmal ganz kurz erklären, wie diese Kontingentrege- CDU/CSU) lung aussehen soll. Wir wollen einen Stichtag; das Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vor- steht in unserem Änderungsantrag. Bis zu diesem gelegt, dem wir als SPD-Fraktion in sehr vielen Stichtag sollen die Deutschen in den Herkunftslän- Punkten zustimmen können; das ist überhaupt nicht dern, die in unserem Antrag aufgezählt sind, ihre die Frage. Aber hier ist es wie bei vielen Gesetzent- Option abgeben, ob sie in die Bundesrepublik zuzie- würfen: Es gibt ein oder zwei markante Punkte, in hen wollen oder nicht. Dann haben wir hier einen denen wir uns wesentlich voneinander unterscheiden. Überblick. Ich bin mit Herrn Staatssekretär Waffen- Gerade diese Punkte konnten im Innenausschuß nicht schmidt insofern völlig einig, als wir alle wissen, daß geklärt werden. Da ich nach der Rede des Herrn die Zahlen nur geschätzt werden können. Kollegen Marschewski nicht erwarten kann, daß wir Bei der angesprochenen Regelung hätten wir, wie hier eine Mehrheit finden, werden wir das Kriegsfol- gesagt, einen Überblick und wüßten — darauf kommt genbereinigungsgesetz, Herr Staatssekretär Waffen- es mir an —, worauf wir uns innenpolitisch einzurich- schmidt, heute ablehnen. ten haben. Denn machen Sie sich nichts vor: Auch Ihnen liegt ein Änderungsantrag unserer Fraktion dieser Teil der Zuwanderung muß von unserer Bevöl- vor. Ich möchte hier nur auf einige ganz wesentliche kerung akzeptiert und sozialverträglich gestaltet wer- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9909

Gerlinde Hämmerle den, wenn wir diesen ganzen Bereich einigermaßen von Kriegsfolgen. Dieses sollten wir im Kopf behal- anständig für alle abwickeln wollen. ten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ F.D.P.) NEN) So leid es mir um die Punkte tut, verehrter Herr Aus diesem Grunde sagen wir: Es soll keinen Kollege und Staatssekretär, in denen wir einig sind, Stichtag geben, bis zu dem die Menschen eingereist erkläre ich dennoch noch einmal, daß wir dieses sein müssen. Sie können vielmehr über lange Zeit Gesetz wegen des ganz wichtigen Punktes des Kon- einreisen. Wenn wir aber wissen, um wie viele Perso- tingents ablehnen werden. nen es sich handelt, schlagen wir Sozialdemokraten vor, ein Kontingent festzusetzen, dieses Kontingent (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS human und sozialverträglich zu gestalten und die 90/DIE GRÜNEN) Zuwanderung in die Bundesrepublik dann entspre- chend abzuwickeln. Dieses ist unser Hauptbegehren. Deswegen beschränke ich mich in den wenigen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Minuten Redezeit, die ich hier zur Verfügung habe, der Abgeordnete Wolfgang Lüder. hauptsächlich auf diesen Punkt. Es ist ganz unbestreitbar — da stimme ich Ihnen völlig zu, Herr Kollege —, daß die Menschen ein Wolfgang Lüder (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine schweres, zum Teil ganz schreckliches Schicksal des- sehr geehrten Damen und Herren! Weil wir uns hier wegen hatten, weil sie Deutsche sind. Ich bitte sie im Hause über die meisten Punkte einig sind und Herr einfach, einmal anzuerkennen, daß wir in diesem Marschewski die grundlegenden Fakten genannt hat, Punkt nicht auseinander sind. Ich mag es einfach nicht brauchen wird darüber nicht wiederholend zu mehr hören, daß man uns in diesem Punkt etwas reden. unterstellt und uns auseinanderzudividieren ver- Wir Freien Demokraten werden dem Gesetz zustim- sucht. men, weil wir trotz einiger Fragen, die bestehenblei- ben, meinen, daß es notwendig ist, dieses Gesetz Wir wollen, daß die Hilfsmaßnahmen, die ich mehr- heute und so zu verabschieden, um es auf den Weg zu fach mit Herrn Staatssekretär Waffenschmidt vor Ort bringen. Wir meinen, daß wir über manche Fragen anzuschauen die Freude hatte, im Gesetz festge- auch zu späteren Zeitpunkten noch werden reden schrieben werden, damit wir die Ursachen der Aus können, weil die Zeit noch längst nicht so weit ist, daß wanderung möglichst beseitigen. Ich glaube zwar wir heute die Tür schließen könnten. nicht daran, daß das, was wir dort, insbesondere an der Wolga, machen, alle oder den großen Teil der Deut- Ich will mich auf drei Punkte konzentrieren, die der schen veranlassen wird zu bleiben. Ich glaube, Herr Diskussion bedürfen, wie schon die ersten beiden Staatssekretär, daß das eher in Westsibirien, im Omsk Reden gezeigt haben. Gebiet der Fall sein wird. Erstens. Entschädigung an die Heimatvertriebe- nen, die in die damalige Sowjetische Besatzungszone, Sei es aber, wie es wolle, mir soll es recht sein. Mir die spätere DDR, vertrieben wurden und die jetzt mit sind auch die Gelder recht — ich stimme dafür —, uns gemeinsam in der erweiterten Bundesrepublik, im wenn sie dazu dienen, daß sich die Zuwanderung vereinten Deutschland leben, hat es nicht gegeben. nicht auf einmal, sondern langsam vollzieht und daß, Das sind eigentlich die doppelt Bedauernswerten: wenn die Deutschen doch alle auswandern sollten, Opfer des Zweiten Weltkrieges, weil sie heimatver- unsere deutschen Projekte auch der russischen, der trieben wurden, dann auch noch in das Gebiet vertrie- ukrainischen und der übrigen Bevölkerung zugute ben wurden, in dem sie 40 Jahre leiden mußten. kommen. Deswegen bitte ich noch einmal darum, daß In dem noch zu erarbeitenden Entschädigungsge- unsere Projekte mehr integrierenden Charakter setz — Herr Marschewski hat darauf hingewiesen — haben und nicht die „Minderheit Deutsche" noch mehr in das Bewußtsein der Bevölkerung bringen. sollen wenigstens in bescheidenem Umfang pauscha- - lisierte Entschädigungen vorgesehen werden. Das Ich bin am Ende meiner Redezeit angekommen, Gesetz liegt aber noch nicht vor. Deswegen haben wir weil wir unsere Gesamtredezeit noch auf zwei andere im Innenausschuß versprochen — ich will das wieder- Redner verteilt haben. Zum Schluß möchte ich nur holen, damit es ein einklagbares Versprechen ist —, eines sagen: Wir sollten über der Verabschiedung das heute zu verabschiedende Gesetz notfalls zu dieses Gesetzes heute nicht vergessen, daß wir es ergänzen, wenn im Entschädigungsgesetz keine durch die Einheit Deutschlands mit ganz anderen befriedigende Regelung für die Heimatvertriebenen Kriegsfolgen zu tun haben als mit denen, die wir heute gefunden wird. abwickeln können. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir wollen, auch wenn die Finanzsituation noch so schwierig ist, daß die Opfer der Naziherrschaft, zu Eigentlich, meine Damen und Herren, ist die Beseiti denen ebenfalls die Vertriebenen gehören, die Ent- gung und Bereinigung der Folgen von 40 Jahren DDR schädigung noch als Lebende sehen. Wir wollen keine nichts anderes als die Beseitigung und Bereinigung Grabpflege betreiben, sondern Hilfe für die noch 9910 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Wolfgang Lüder Lebenden gewähren. Inzwischen sind sie leider alt hineinschreiben und ehrlich sein. Das ist für mich der geworden. Grund, warum ich sage: Hier sind wir offen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weil aber eine Kontingentierung im Gesetz nichts Zweitens. Wir haben lange darüber diskutiert ändern würde, können wir auch heute dem Gesetz — Frau Hämmerle hat es eben angesprochen —, ob zustimmen. wir die jetzt vorgesehene Regelung für die Spätaus- Meine Damen und Herren, wenn wir über Kriegs- siedler so beschließen sollten oder ob wir eine Schluß- folgenbereinigung reden, müssen wir beachten, daß regelung einführen sollten, um auch den Aussiedlern die Gesetze, die heute geändert werden, die heute zu sagen, daß die Nachwirkungen des Zweiten Welt- zum Teil auch wieder geöffnet werden — ich denke an krieges ihr Ende haben müssen. Gerade weil aber die Heimkehrerstiftung und Heimatvertriebenenhilfe zwischen dem Genscher-Wort, das zitiert wurde, und im Entschädigungsrecht —, zwar Kriegsfolgen mil- der Gegenwart — die Korrektur, die Sie vorgenom- dern können — und auch gemildert haben —, aber men haben, war richtig: daß heute keine Diktatur nicht die politische Realität in unserem Land ändern mehr existiert; darüber freuen wir uns — die Zeit so können. Deswegen muß, wenn von Kriegsfolgen die kurz gewesen ist, haben wir noch nicht die Sicherheit, Rede ist, auch davon gesprochen werden, daß wir alle daß diejenigen deutschen Volkszugehörigen miteinander noch eine politische Aufgabe haben, — manchmal auch Staatsangehörigen —, die in den Kriegsfolgen zu beseitigen. Siedlungsgebieten leben, das Zutrauen in sich selbst Wenn heute morgen in den Nachrichten zu hören verankert haben, dort eine gesicherte und gute war, daß der jüdische Friedhof in Wuppertal geschän- Zukunft zu haben. Solange das nicht gesichert ist, det wurde, wenn wir Tag für Tag Meldungen hören dürfen wir Ihnen kein Signal geben, daß möglicher- bzw. lesen über brennende Asylbewerberheime, über weise die Gefahr bestünde, sie würden nicht mehr zerstörte und geschändete Gräber toter Mitbürger hereingelassen. jüdischen Glaubens, über Brand und Zerstörung in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gedenkstätten für die Opfer des Naziterrors, über 13 von Rechtsextremisten getötete Menschen in diesem Im übrigen meine ich, daß, selbst dann, wenn wir ein Jahr, über 7 Sprengstoffanschläge, 435 Brandan- abschließendes Gesetz machen würden, die Möglich- schläge, dann sehen wir, daß wir uns noch lange und keit des Zuzugs in das Bundesgebiet für alle deut- intensiv mit den Kriegsfolgen beschäftigen müssen. schen Staatsangehörigen und Volkszugehörigen of- Diese Verbrechen sind doch ein Signal, das uns fengehalten werden muß. Wir können doch nicht wachrütteln und das uns politisch Verantwortlichen ausgrenzen. Ich bin aber ganz sicher, daß wir noch zeigen muß, daß wir am Sonntag in Berlin zu sein darüber zu reden haben, ob, wann und mit welcher haben, um klar Flagge zu zeigen. Regelung und Auswirkung wir ein Zuzugsgesetz (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ wollen; denn der Bundesrat hat dazu noch nicht Linke Liste, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gesprochen. Ich glaube nicht, daß wir das Gesetz NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ problemlos durch alle Verfassungsorgane bekom- CSU) men. Theodor Heuss hat Anfang der 50er Jahre, als es Ich sage deutlich — das ist meine dritte Bemer darum ging, der Schändung der Gräber, die die Nazis kung —: Gerade weil viele unserer Mitbürger — auch zu ihrer Spezialität erhoben hatten, nachzugehen, manche unserer nicht fachlich interessierten Kolle- davon gesprochen, daß man den Satz „Ehrfurcht vor gen — keinen Unterschied zwischen Ausländern, dem Leben" ergänzen muß um „Ehrfurcht vor dem Aussiedlern, Asylbewerbern und Asylberechtigten Tode". Die Ehrfurcht vor dem Tode lassen Rechtsex- machen — die gestrige Debatte hat das wieder tremisten vermissen. Dazu müssen wir politische gezeigt —, wird die differenzierte Realität leider Flagge zeigen. Wir sind gefordert und dürfen uns nicht selten genug erfaßt. Damit müssen wir leider rechnen am Sonntag in unseren Amtsstuben zurückhalten. und uns politisch darauf einstellen. (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND Meine Fraktion und meine Partei hat auf ihrem NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne Bundesparteitag beschlossen — seit gestern reden wir ten der CDU/CSU) wieder viel von Parteitagen —, daß wir ein Zuzugsge- - setz für ausländische Zuziehende haben wollen. Ich glaube, wir müssen offen sein, auch zu berücksichti- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat gen, daß Aussiedler in dieses Zuzugsgesetz als Kon- Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort. tingentierung für die zeitliche Dimension einbezogen werden müssen. Dies wird nicht heute geschehen. Wir Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Frau Präsi- haben verarbredet, das Gesetz zu beschließen und dentin! Meine Damen und Herren! Die Beschlußemp- nicht zu verzögern. fehlung zu den Entwürfen hat im wesentlichen zwei Die Offenheit aber will ich signalisieren. Ein Intentionen. Zur Realisierung der ersten Intention Zuzugsgesetz wäre insofern ehrlich, als es das fest- wird in dem Regierungsentwurf der Begriff des Spät- schriebe, was wir schon heute praktizieren. Wir haben aussiedlers in das Bundesvertriebenengesetz einge- heute die unehrliche Verwaltungspraxis, daß wir führt und festgeschrieben. Ich muß Ihnen offen geste- durch die Behördenengpässe bei der Genehmigung hen, daß mir als gelerntem DDR-Bürger und Interna- faktisch eine Reglementierung und Kontingentierung tionalist vieles fremdartig anmutet. haben. Dann sollten wir dies lieber in das Gesetz (Oh-Rufe bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9911

Dr. Uwe-Jens Heuer — Hören Sie mich an, was ich Ihnen sage, denken Sie blik Deutschland in die Not, sogenannten deutschen nach, und reden Sie dann. Volkszugehörigen mehr kulturelle und wirtschaftli- Ein Spätaussiedler soll Deutscher sein, weil er der che Rechte einzuräumen als ihren anderen Staatsan- Definition gemäß ein deutscher Volkszugehöriger ist. gehörigen und Nationalitäten. Ein deutscher Volkszugehöriger ist jemand, der sich in Ich lehne diesen Gesetzentwurf noch aus anderen seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, Gründen ab. Durch die Aufhebung des Kriegsgefan- sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale genenentschädigungsgesetzes und die Änderung des wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestä- Hälftlingshilfegesetzes will die Bundesregierung bis tigt wird. Diese Definition bedeutet in meinen Augen 1996, wie mitgeteilt wird, 905 Millionen DM einspa- eine ethnische Agrenzung und Privilegierung be- ren. Dem stehen zusätzliche Kosten für die Integration stimmter Bevölkerungsgruppen mit ausländischer der Spätaussiedler und für die Heimkehrerstiftung in Staatsangehörigkeit und Wohnort in einem anderen Höhe von 862 Millionen DM gegenüber. Durch die Staat. Aufhebung dieses Gesetzes spart die Bundesrepublik Die Beschlußempfehlung geht sogar so weit, daß aber zusätzlich die Zahlung an die betroffenen Bürger unter bestimmten Umständen die bloße Abstammung der neuen Bundesländer ein, die mit den mageren für die Bestimmung eines deutschen Volkszugehöri- finanziellen Förderungen nach dem Heimkehrerstif- gen ausreichen soll, wenn dieser sich in irgendeiner tungsgesetz abgespeist werden. Im jetzigen Gesetz- Form zum Deutschtum bekennt. Er muß nicht einmal entwurf verteilt die Bundesregierung nach dem mehr Vertriebener im Sinne des Art. 116 des Grund- Gesetz über die Heimkehrerstiftung nunmehr ledig- gesetzes und des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes lich Sozialhilfeleistungen um und belastet mit ihnen sein. Es reicht aus, daß er als deutscher Volkszugehö- die sogenannte Heimkehrerstiftung. riger in einem bestimmten anderen Staat gelebt und Die Bundesregierung begründet ihre Streichungs- diesen Staat, aus welchen Gründen auch immer, in maßnahmen gegenüber den Bürgern der neuen Bun- Richtung BRD verlassen hat. desländer damit, daß bereits mehr als 45 Jahre ver- Deutsches Volkstum und deutsche Abstammung gangen und diese Bürger zudem integriert seien. erweisen sich als ethnisches und in gewisser Hinsicht Angesichts der in vielen anderen Fällen anzutreffen- als biologisches Ausgrenzungskriterium gegenüber den Bemühungen der Bundesregierung, das Rad der allen anderen, die der Armut, der wirtschaftlichen Not Geschichte mit der Behauptung zurückzudrehen, die in Richtung Bundesrepublik Deutschland entfliehen DDR sei ein Unrechtsstaat, ja überhaupt Unrecht wollen. gewesen, Herr Marschewski hat gesagt, es haben viele Men- (Zustimmung bei der CDU/CSU) schen gelitten, weil sie Deutsche waren und es bleiben zeigt sich diese Begründung doch wohl als Heuchelei, wollten. die die wahre Intention, auf Kosten dieser Bürger Geld (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) einzusparen, verdecken soll. Das ist richtig. Aber es haben auch sehr viele gelitten, Ich kann den Unmut der Bürger der neuen Bundes- weil sie keine Deutschen waren oder dies auch nicht länder verstehen, wenn sie weitaus mehr an Entschä- sein durften, weil sie Deutsche jüdischer Herkunft digung einfordern. Zu Recht weisen viele darauf hin, waren. daß die einstige DDR und damit auch ihre Bürger unter den hohen Kriegs- und Reparationskosten zu (Zuruf des Abg. Erwin Marschewski [CDU/ leiden hatten; mehr als die meisten Altbundesbürger. CSU]) Die Bundesrepublik hat sich stets geweigert, daran Die Abstammung macht auf diese Weise aus der Anteil zu nehmen, obwohl sie sich sonst allzugern als Volkszugehörigkeit ein vererbbares Recht auf Staats- Nachfolgerin des Deutschen Reiches geriert. angehörigkeit — Herr Marschewski —, obwohl dies (Zuruf von der CDU/CSU: Wegen des Inter dem Art. 116 des Grundgesetzes widerspricht. nationalismus!) Die Frage der Staatsbürgerschaft war nach dem Die Bundesrepublik hat sich stets gezielt bemüht, Zweiten Weltkrieg insbesondere auf Grund der natio- die DDR wirtschaftlich zu schwächen. Auch aus die- nalsozialistischen rassistischen Einbürgerungs- und sem Grunde gehört es nunmehr zu ihrer Verantwor- Umsiedlungspolitik unklar. Art. 116 des Grundgeset-- tung, die Leistungen gegenüber den Bürgern der zes war deshalb so zu lesen, daß Deutscher jeder ist, neuen Bundesländer nachzuholen, zu denen die ein- der als Flüchtling oder als Vertriebener deutscher stige DDR nicht nur aus Gründen der Mißwirtschaft Volkszugehörigkeit in dem Gebiet des Deutschen nicht in der Lage war. Solche finanziellen Leistungen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 wären zur Angleichung der Lebensverhältnisse und Aufnahme gefunden hat. Maunz-Dürig bemerken zur Steigerung der Kaufkraft in den neuen Bundeslän- dazu, daß damit die Gründe für den Erwerb des dern aber gerade jetzt sinnvoll. besonderen Status eines sonstigen Deutschen er- schöpfend festgelegt sind und in Gesetzen weder Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. erweitert noch eingeschränkt werden können. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Die Zahl dieser Deutschen nimmt durch biologische Vermehrung und Abstammung ständig zu. Die Län- der geraten durch eine solche Politik der Verbreitung deutschen Volkstums auf Grund der wachsenden Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Bundesrepu Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann das Wort. 9912 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für den anstehenden gesamtdeutschen Lasten- und NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Chancenausgleich nicht gefunden ist. Leider bin ich verpflichtet, mich zu wiederholen, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die grundsätzliche Ablehnung dieses Gesetzes schon und bei der SPD) bei Gelegenheit der ersten Lesung betrifft. Aber mit Vergnügen räume ich ein, daß die Verlängerung der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Debattenzeit von einer halben auf eine ganze Stunde Kurzintervention hat der Abgeordnete Freimut vielleicht als Anzeichen eines wachsenden Problem- Duve. bewußtseins gewertet werden kann. Kriegsfolgenbereinigung ist auf dem Hintergrund Freimut Duve (SPD): Als meine Kollegin ansprach, der deutschen Einigung etwas grundsätzlich anderes daß es für manche Deutschen Heimkehr, für manche als das, was unter diesem Titel des Gesetzentwurfs aber nochmalige Flucht aus den Gebieten bedeutet, vorgelegt wird. Kein Zweifel, die Aufgabe des über die wir reden, und daß dies Teil unseres inner- Abschlusses der westdeutschen Vertriebenen-, Häft- staatlichen, innergesellschaftlichen, auch innerkultu- lingshilfe- und Aussiedlergesetzgebung ist eine Auf- rellen Zuwanderungsproblems ist, gab es bei Ihnen ja gabe, die sich wegen der Gültigkeitstermine der Kritik und Distanz. Sie sagten: Nein, das ist ein ganz genannten Gesetze unausweichlich stellt. Darin gibt anderes Problem. es keinen Widerspruch zur Regierung. Aber die Ich bitte Sie sehr darum, daß wir uns in diesem Kriegsfolge der Teilung fordert einen Lastenaus- Punkt in den nächsten zehn oder 15 Jahren — solange gleich, der über alles hinausgeht, was in der bisheri- werden wir uns damit befassen — nicht auseinander gen Nachkriegszeit unter diesem Titel geleistet wor- dividieren und nicht die eine Gruppe von Zuwande- den ist, jedoch auf der Basis der Rechtskonzeption, die rern gegen die andere Gruppe in der deutschen dem Entwurf zugrunde liegt, auf keinen Fall geleistet Öffentlichkeit ausspielen lassen. Wir brauchen auch werden kann. für diese Frage Konsens — wir haben gestern sehr viel Welche Folgen das hat, will ich an einem einzigen über Konsens gesprochen —; sonst schaffen wir es Beispiel demonstrieren. Laut Art. 4 § 2 Abs. 1 Nr. 3 ist nicht. die Heimkehrerstiftung zuständig für die Entschädi- Die große Leistung — für mein Kindheitsleben fast gung solcher Deutscher, die im Zusammenhang mit die größte Leistung - -- war die Integration von Millio- Kriegführung auf ausländische Territorien ver- nen und aber Millionen von Deutschen aus dem Osten schleppt worden sind. Endlich wird hier auf die in Deutschland. Ich befürchte, daß Historiker eines Ansprüche derer eingegangen, die aus der bisherigen Tages sagen werden: Sie war zwischen 1945 und 1949 Entschädigungsgesetzgebung ausgenommen waren, nur möglich, weil es damals auch Militärregierungen weil ihre Verschleppungen jenseits des Gebiets der gegeben hat. Ich befürchte das. Selbst damals gab es ehemaligen DDR stattgefunden haben. — ich erinnere das aus meiner Kindheit — schon starke Animositäten. Viele von uns erinnern sich Aber was geschieht ihnen jetzt? Sie werden nicht als daran. Opfer stalinistischen Unrechtes, sondern nach der Analogie von Kriegsgefangenen behandelt, und Wir brauchen für die Lösung dieser Frage — des- ihnen wird per Gesetz erklärt, daß sie zwar durch die halb finde ich die Lösung, die meine Fraktion anbietet, Heimkehrerstiftung gefördert werden sollen, darauf sehr positiv und sinnvoll — mindestens jenen Kon- aber keinen Rechtsanspruch haben. Das ist eine sens, den wir alle damals, nach 1945, hatten. Ihn krasse Ungleichbehandlung gegenüber allen ande- brauchen wir in jedem Fall für das gesamte Zuwan- ren Opfern stalinistischen Unrechtes; für mich per- derungsproblem. sönlich um so herausfordernder, weil die Bundesre- Das wollte ich gern sagen. gierung die Zustimmung zur Herausnahme dieser (Beifall bei der SPD) Opfergruppe aus dem ersten Unrechtsbereinigungs- gesetz ausdrücklich mit dem Versprechen erreichte, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht diesen Personenkreis im Kriegsfolgenbereinigungs- der Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten gesetz angemessen zu berücksichtigen. Daß der des Landes Niedersachsen, Jürgen Trittin. Gesetzentwurf dies täte, wird niemand behaupten können. Minister Jürgen Trittin (Niedersachsen): Frau Präsi- - Was sollen die Benachteiligten jetzt tun? Ich nehme dentin! Meine Damen und Herren! Meßlatte für ein an, sie werden sich überlegen, ob sie sich der Verfas- solches Gesetz aus Sicht eines Landes — was könnte sungsklage des Verbandes der Opfer des Stalinismus das sein? Ich will Ihnen drei Punkte nennen. gegen das erste Unrechtsbereinigungsgesetz an- Erstens. Den einwanderungswilligen Spätaussied- schließen. Verehrter Herr Kollege Marschewski, die lern, wie sie nach dem Gesetz nunmehr genannt Öffentlichkeit betrachtet diese Gesetze eben leider werden, muß eine überschaubare zeitliche Einwande- nicht mit solcher Dankbarkeit und Zustimmung, wie rungsperspektive gegeben werden. Sie müssen sehr Sie das vorausgesetzt haben. bald wissen, wann sie, wenn sie denn möchten, nach Was sollen wir als Mitglieder der Legislative tun? Deutschland kommen dürfen. Ich denke, wir sollten uns vor allem darüber im klaren Zweitens. Es bedarf großzügiger Integrations- und sein, daß, alle weiteren Finanztransfers, unter wel- Eingliederungshilfen, um soziale Reibungen und chem Titel auch immer, den Rechtsfrieden zwischen Konflikte zu vermeiden und zu vermindern. dem östlichen und dem westlichen Teil Deutschlands Drittens. Um dies erreichen zu können, muß die nicht gewährleisten können, solange eine Konzeption Zahl derer, die dann hierher kommen, gerade aus der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9913

Minister Jürgen Trittin (Niedersachsen) Sicht der Länder, die diese Aufnahme durchzuführen ja nicht wegen der Information über Gesetze, ob sie haben, die die Streite vor den Verwaltungsgerichten auswandern wollen oder nicht. über den Bau von Unterkünften gegen die Klagen von (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Haben Sie Bürgern durchzufechten haben, sehr frühzeitig fest- eine Ahnung!) stehen. Wer mit Aussiedlern, mit Deutschen beispielsweise in (Zustimmung der Abg. Gerlinde Hämmerle Westsibirien spricht, hört von ihnen: Wir überlegen, [SPD]) da unser Kind jetzt zur Schule kommt, ob es nicht besser ist, es in Deutschland zur Schule zu schicken. Wenn ich diese drei Kriterien an das Gesetz anlege, Das sind die Motive und nicht Stichtagsregelungen. muß ich sagen: Diesen Grundanforderungen eines Eines will ich jedoch deutlich hinzufügen: Wer von Gesetzes zur Bereinigung — ehrlicherweise hätte man Stichtag redet, muß sich auch der Pflicht des Staates eigentlich von Abschluß sprechen müssen — von stellen, für eine überschaubare Zuwanderungsper- Kriegsfolgen wird dieses Gesetz nicht gerecht. spektive zu sorgen. Das ist die korrespondierende Pflicht. Und da, meine Damen und Herren von der Was machen Sie nicht? Sie machen bei der Frage, ob Bundesregierung, versagen Sie zur Zeit eklatant. es ein kriegsbedingtes Verfolgungsschicksal gibt, erstens keinen Generationenschnitt. Sie halten also an (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) der Praxis fest, daß die Vertriebeneneigenschaft ein Es gibt ja nicht nur den Seiters-Stau der 400 000 absolut dominantes Erbmerkmal bleibt. Asylbewerberinnen und Asylbewerber. Zweitens stehen Sie vor der Problematik — und das (Widerspruch bei der CDU/CSU) macht es aus der Sicht eines Landes im Grunde Es gibt 600 000 Anträge, die im Bundesverwaltungs- genommen noch unüberschaubarer als vor diesem amt auf Bearbeitung und Entscheidung warten. Gesetz —, daß Sie im Innenausschuß die Frage des (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Die Ent Bekenntnisses zum Deutschtum relativiert haben. scheider nach Zirndorf schicken! — Weiterer Heute muß nicht mehr das Bekenntnis nachgewiesen, Zuruf von der CDU/CSU: Was tut Nieder sondern die Feststellung getroffen werden, man sei an sachsen?) der Ablegung dieses Bekenntnisses gehindert gewe- sen. Damit haben Sie die Zahlen, mit denen wir bisher — Ich rede jetzt von den Aussiedlern, Herr Mar- operiert haben — Sie haben eine Zahl von 2 Millionen schewski. in der GUS genannt — alle über den Haufen geworfen. (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro Wir werden es mit sehr viel mehr Menschen zu tun nenberg) haben. Experten sprechen nach dieser Gesetzeslage Im Monat August hatten wir 19 000 Anträge. Seit von zwischen 4 und 5 Millionen im Prinzip einwande- August ist die Zahl dieser nicht entschiedenen rungsberechtigten Menschen. Anträge um 14 000 gewachsen. Anders gesagt: Sie polemisieren gegen eine Quote, tatsächlich exekutie- Schließlich haben Sie einem Umstand überhaupt ren Sie ganz eiskalt, meine Damen und Herren. nicht abgeholfen— und das hätte nur der Gesetzgeber tun können —: Das Bundesverwaltungsgericht hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, entschieden, daß selbst im Gebiet der Republik Polen bei der SPD und der PDS/Linke Liste) nach wie vor von den Behörden ein kriegsfolgebe- Eines will ich zum Schluß sagen. Es wird auf Dauer dingtes Verfolgungsschicksal zu unterstellen ist. Das nicht gutgehen, in Worten das Tor offenzuhalten, in Bundesverwaltungsgericht hat nicht gesagt, daß es der bürokratischen Praxis aber die Scharniere zu das in Polen gibt. Es hat nur gesagt: Da es im Gesetz so verklemmen und bei der Aufnahme von Einwande- drinsteht, bleibt den Verwaltungsbehörden über- rern durch Leistungskürzungen im Arbeitsförde- haupt kein Ermessensspielraum in dieser Frage. Sie rungsgesetz und anderen Gesetzen dafür zu sorgen, haben dies zu unterstellen. Man muß sich das einmal daß diese Menschen möglichst unvorbereitet in eine überlegen: Wir unterstellen in unserem Recht, in für sie fremde und kalte Ellbogengesellschaft hinein- Polen würden als Folge des Krieges nach wie vor gestoßen werden. Das aber praktizieren Sie gerade. Deutsche verfolgt. Eine absurde Vorstellung für den, Deswegen findet dieses Gesetz unsere Zustimmung der einmal in diesen Gebieten gewesen ist. - nicht. Sie wissen sehr wohl, daß dieses Gesetz die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zustimmung des Bundesrates finden muß. So kann es denn sein, daß wir diese Diskussion in aller Freund- Meine Damen und Herren, die Chance, diese Rege- schaft im Vermittlungsausschuß weiterführen. lung abzuschaffen oder dieses neu, vernünftig zu (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, regeln — vernünftig im Sinne der Rechte der Deut- der SPD und PDS/Linke Liste) schen in Polen, aber auch vernünftig im Sinne einer guten Nachbarschaft — hat dieser Gesetzgeber heute verspielt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Joachim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Hacker. bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Es ist gesagt worden: Wir wollen keine Stichtagsre- Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Präsident! gelung, weil wir das Tor nicht zumachen wollen. Das Meine Damen und Herren! Kürzlich sprach der Bun- ist nicht das Problem. Die Menschen entscheiden sich deskanzler überraschend davon, daß nun die „Stunde 9914 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Hans-Joachim Hacker der Wahrheit" gekommen sei. Ich meine, die Behand- wird in den neuen Ländern nicht den Widerhall lung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes im Deut- finden, den er — für mich unverständlicherweise — schen Bundestag gehört dazu. unter Ihren Kolleginnen und Kollegen gefunden Viele Bürgerinnen und Bürger in den neuen Län- hat. dern haben an die angekündigten Regelungen dieses (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesetzes große Erwartungen geknüpft. Sie werden Meine Damen und Herren, ich halte einen Vor- auf die wieder einmal nicht gehaltenen Versprechun- schlag, den Leuten im Jahre 2000 4 000 DM anzubie- gen der Bundesregierung mit Enttäuschung und Ver- ten, für pietätlos. Ideen über Sparbücher für die bitterung reagieren. Vertriebenen, wie sie auch entwickelt worden sind, sind glatte Augenwischerei. Ich frage insbesondere (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir haben die in der Kommission mitwirkenden Abgeordneten Wort gehalten!) aus den neuen Ländern: Wie wollen Sie, wenn diesem Die Bundesregierung wußte genau, daß hunderttau- Gesetz jetzt Zustimmung erteilt wird, vor die Augen sende Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern der Wähler in Ihrem Wahlkreis treten? auf Abschlußregelungen über ihre Forderungen war- Ein zweites Problem — ich freue mich, daß Herr ten. Die Bundesregierung hat sie bislang auf dieses Kollege Professor Ullmann das angesprochen hat —: Gesetz vertröstet. Hinzu kommt — dafür kann die Die Bundesregierung hat bei der Bearbeitung des Bundesregierung nichts —, daß inkompetente und Entwurfs des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes ent- teilweise falsche Meldungen in den Medien die Men- gegen den Zusagen an die Abgeordneten des Bundes- schen weitestgehend verunsichert haben. tages die Frage der Ausgleichsleistungen gegenüber Zu diesen Betroffenen zähle ich die Heimatvertrie- den durch die sowjetische Siegermacht Zwangsde- benen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, portierten aus den Gebieten östlich von Oder und die sich nach der Flucht oder Aussiedlung in der Neiße keiner Lösung zugeführt. damaligen SBZ bzw. der DDR niederließen. Sie hatten (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die sind in das vergleichsweise schwerere Los gegenüber denje- beiden Schriftstücken einbezogen!) nigen Mitbetroffenen zu tragen, die in Westdeutsch- Da diese betroffene Gruppe aus formellen Gründen land eine neue Heimat fanden. Statt einen materiellen nicht in das Rehabilitierungsgesetz einbezogen wer- Ausgleich für das verlorene Vermögen zu erhalten, den konnte, war es der Wille der Abgeordneten des mußten sie die hohen Reparationsleistungen, die aus federführenden Rechtsausschusses, eine Regelung im dem Gebiet der SBZ und später der DDR zu erbringen Rahmen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes zu waren, mittragen. Ihnen boten sich nicht die Chancen finden. Ich verweise ausdrücklich auf den Bericht vom des wirtschaftlichen Aufschwunges auf der Grund- 16. Juni 1992 der Berichterstatter zum Ersten SED- lage des Marshall-Planes. Sie mußten am Ende ihres Unrechtsbereinigungsgesetz, in dem die einstimmig Berufslebens bzw. an ihrem Lebensabend erkennen gefaßte Entschließung des Rechtsausschusses doku- — das dürfen wir nicht vergessen —, daß der von mentiert ist. Da haben auch die Abgeordneten der vielen hart erarbeitete Spargroschen nach der Wäh- CDU/CSU und der F.D.P. zugestimmt. Das war ein rungsunion eben nur die Hälfte wert war. Er war direkter Auftrag an die Bundesregierung. sicherlich nicht mehr wert, vielleicht sogar noch weniger. Aber das haben die Betroffenen ganz anders Diese Entschließung des Rechtsausschusses kam empfunden. nicht zuletzt nach der Anhörung des Ausschusses am 19. März 1992 in Halle zustande. Die erschütternden (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Also stimmt Schicksalsschilderungen führten auch bei den Abge- das nicht so!) ordneten des Rechtsausschusses zu der nachdrückli- - Das stimmt genau so, Herr Luther. An verbalen chen Forderung auf Entschädigung. Es ist unverständ- Zusagen gegenüber diesen Mitbürgern hat es nicht lich, daß sich die Bundesregierung aus der Verantwor- gemangelt. Nun, da Taten folgen sollten, ja mußten, tung gegenüber den Zwangsdeportierten stiehlt. hat die Bundesregierung kläglich versagt. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera Nach Ansätzen für eine vernünftige Regelung im Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Sommer 1991, die vom Bundesinnenministerium NEN]) unterbreitet wurde, kam die kalte Dusche im soge- Meine Damen und Herren, beide Regelungsberei- - nannten Gerster-Papier, in dem von einem übertrag- che verdrängt die Bundesregierung. Sie will sie völlig baren Wertpapier in Höhe von 4 000 DM die Rede ist, sachfremd in das Entschädigungsgesetz einbeziehen. welches — jetzt höre man genau zu — im Jahre 2 000 Es ist doch eine direkte Folge des Zweiten Weltkrie- fällig werden soll. Das ist nicht mehr in dieser, nicht in ges. Deswegen hätte eine Regelung zwingend im der nächsten, es ist in der übernächsten Legislaturpe- Rahmen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes erfol- riode. Herr Marschewski, Sie haben dazu keine neuen gen müssen. Ich frage mich, vor allem aber die Ideen vorgetragen. Bundesregierung, wie die selbstformulierte Zielvor- stellung, die Folgen des Entschädigungsgesetzes (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir haben haushaltsneutral zu halten, erfüllt werden soll, wenn immer Ideen!) dieses Entschädigungsgesetz immer mehr mit neuen Die Ideen, die Sie vorgetragen haben, haben die Lasten befrachtet wird. Kollegen aus Ihrer Fraktion in den Wahlkreisen alle schon verbreitet. Die Reaktion bei den Betroffenen ist erschütternd. Ihr Dank an die Abgeordneten in der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Gerster-Kommission ist insofern unangebracht. Er geordneter Hacker — — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9915

Hans-Joachim Hacker (SPD): Ich komme zum letz- die mit der Vertreibung aus der Heimat in das Gebiet ten Satz, Herr Präsident. der ehemaligen DDR vertrieben wurden und die heute — auch noch nur unter Umständen — mit 4 000 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Danke DM abgespeist werden sollen, was niemals Entgelt schön. sein kann. Dies gilt vor allem auch angesichts der Tatsache, daß die Bundesregierung erneut überhaupt Hans-Joachim Hacker (SPD): Die Zustimmung zum nichts tut, um die Eigentumsfrage zu klären. Kriegsfolgenbereinigungsgesetz kann ich nicht ge- Ich hätte erwartet, daß zumindest in den Ausschüs- ben. Ich fordere die Bundesregierung nachdrücklich sen eine Frage ernsthaft zu Ende diskutiert wird: Ist es auf, unverzüglich aktiv zu werden und die dargestell- nicht doch so, daß das Lastenausgleichsgesetz nur ten Defizite zu beseitigen. einen Ersatz für entgangene Nutzung und nicht für (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Da waren das Eigentum regelt? So war das Gesetz ursprünglich Defizite in Ihrer Rede!) beabsichtigt. Auch diese Frage wird offengelassen Ich danke Ihnen. und leider zu Lasten der Menschen, die hier nicht den notwendigen Einfluß ausüben können. (Beifall bei der SPD) Ich stimme deshalb dem Gesetzentwurf nicht zu. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ortwin Lowack. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Dr. Horst Waffenschmidt das Wo rt. Meine Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bun- destag! Meine Damen und Herren! Ich kann dem Gesetzentwurf auch nach der parlamentarischen Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim Befassung nicht zustimmen, obwohl ich Erwin Mar- Bundesministers des Innern: Herr Präsident! Meine schewski persönlich sehr herzlich dafür danken sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte, daß er sich mit großen Kräften bemüht hat, möchte ich all denen gerne herzlich danken, die gute noch Schlimmeres zu vermeiden. Worte gefunden haben für die deutschen Aussiedler, die zu uns gekommen sind, aber auch denen, die in Erstens. Der Gesetzentwurf enthält eben doch die ihrer heutigen Heimat noch verblieben sind. Ich will Beseitigung des Vertriebenenstatus, obwohl eine hier gerne zu Beginn meiner kurzen Ausführungen Reihe von entscheidenden Fragen bis heute über- sagen: Die, die zu uns gekommen sind, bereiten in haupt nicht geklärt sind. Oder wie soll ich die Stel- unserem Land nicht nur Lasten, sondern man sollte lungnahme der Bundesregierung interpretieren, einmal feststellen, daß sie in vielen Bereichen für wenn sie immer noch klarstellt, daß durch die Vertrei- unsere Gesellschaft und für unser Land auch ein bung das Eigentum der Deutschen völkerrechtswidrig Gewinn sind. enteignet oder konfisziert wurde, sie damit nicht einverstanden ist und hier absoluter Erklärungsbedarf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. besteht? Wenn diese Frage aber noch offen ist, dann sowie bei Abgeordneten der SPD) können wir nicht so tun, als ob es keine Kriegsfolgen Ich glaube, die Menschen haben auf Grund ihres mehr gäbe. Schicksals und auf Grund des Beitrags, den sie bei uns Zweitens. Für die Anerkennung der deutschen leisten, verdient, daß man das hier ausspricht. Volkszugehörigkeit bei denen, die in ihrer Heimat Ich will aber nach vielen Besuchen in den Aussied- geblieben sind, weil sie dort gebraucht wurden oder lungsgebieten auch sagen: Die Deutschen, die sich weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollten, werden in entschlossen haben, doch zu bleiben oder die noch Zukunft Barrieren eingerichtet, die es ihnen sehr überlegen, wie sie ihr Schicksal planen sollen, können schwer machen, diese Anerkennung zu erhalten, weil eine wichtige Brücke sein zwischen Deutschland und die Ausstellung von Urkunden ausgerechnet von den den Ländern, in denen sie heute leben. Wir wollen Behörden erwartet werden, die sich bisher, aus einer auch ermutigen, diese Brückenfunktion wahrzuneh- kurzsichtig-chauvinistischen Haltung heraus, gewei- men. Dies will ich hier auch aussprechen. gert haben, diese Volkszugehörigkeit anzuerkennen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie Hier wird durch das Gesetz eine Diffamierung einge- führt, die unnötig ist. bei Abgeordneten der SPD) Drittens. Dieser Gesetzentwurf enthält keinerlei Dabei gilt dann — ich sage das noch einmal aus- Perspektive für die Deutschen, die in der Heimat drücklich, Frau Kollegin Hämmerle —, daß wir, wenn geblieben sind. Meine lieben Kolleginnen und Kolle- wir Hilfe leisten, sie nie exklusiv nur für die Deutschen gen, wenn Sie durch die Vertriebenengebiete fahren, leisten dürfen. Vielmehr müssen diese Hilfen auch dann sehen Sie, welche ungeheure Aufgabe auch auf ihren nichtdeutschen Nachbarn zugute kommen, uns Deutsche noch zukommt, der wir uns einfach nicht damit sie insgesamt zu einer Besserung der Lebens- versagen können. Nur, hier etwas aufzubauen, verhältnisse in den Heimatgebieten der Menschen bedeutet, das mit den Deutschen zu tun, die dort noch führen. leben. Wir müssen sie fördern, wir müssen ihnen den (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie Eindruck vermitteln, daß es sich lohnt, ihre alte bei Abgeordneten der SPD) Heimat zusammen mit anderen aufzubauen. Ein Zweites. Meine Damen und Herren von der SPD Ich halte den Entwurf, viertens, für eine Diskrimi- — teilweise gilt das auch für Sie, Herr Kollege Trit- nierung der doppelt Bestraften, nämlich derjenigen, tin —: Ich halte die Vorschläge zu Stichtagen für einen 9916 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt falschen Weg. Man muß sich doch einmal überlegen, Irreführung der Mitbürger. Ich will einmal sagen, wie welche Wirkung das erzeugt. Wenn ich einen Stichtag es wirklich ist. Der Kernbereich des Anerkennungs- setze, dann wird sich doch jeder — auch derjenige, der verfahrens, das wissen Sie ganz genau, liegt in der noch gar nicht zu einer Ausreise entschlossen ist — Kompetenz der Bundesländer, denn die Bundesländer sagen: du mußt dich melden, sonst versäumst du den führen das Bundesvertriebenengesetz als eigene Auf- Stichtag. Ich habe die große Sorge, daß wir, wenn eine gabe durch. Da kann die Bundesregierung noch nicht solche Regelung eingeführt würde, am Ende viel mehr einmal Weisungen erteilen. Ich habe es mir eben noch Aussiedlerbewerber haben als heute. Das kann doch einmal von den Fachleuten bestätigen lassen: Die nicht Sinn der Sache sein, meine Damen und Her- durchschnittliche Bearbeitungsdauer in den 16 Bun- ren! desländern liegt heute bei neun Monaten. Also appel- (Beifall bei der CDU/CSU) lieren Sie an Ihre Kollegen in den Ländern, hier zügiger zu arbeiten, und machen Sie nicht Vorhaltun- Ich will ein Drittes sagen zu den Vorschlägen, hier gen an die Bundesregierung! Quoten einzuführen. Meine Damen und Herren, wir wollen darüber offen sprechen, wie wir alle diese (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aufgaben im Zusammenhang mit dem Gesetz erörtert haben, werden letztlich — so hört sich das auch in der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Begründung an — zu einer Vermengung all der Staatssekretär, auch an dem neuen Rednerpult ist ein Gruppen führen, die wir unter dem Stichwort „Zu- Hinweisschild, wo Sie der Präsident darauf aufmerk- wanderung" ansprechen. Ich bin aber ganz dezidiert sam machen kann, daß die vorgesehene Redezeit der Auffassung, daß auch in dem schwierigen Bereich eigentlich beendet ist, ohne daß ich Ihre grundgesetz- der Zuwanderung jede Gruppe ihr eigenes Recht hat. lich zugesicherte Redemöglichkeit einschränken Man kann nicht die deutschen Aussiedler nachher in will. der Konsequenz vermengen mit den Asylbewerbern, die zu uns kommen. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim (Beifall bei der CDU/CSU) Bundesminister des Innern: Ja, ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Ich möchte gerne noch folgen- Ich appelliere darum an die SPD, die uns in vielen des sagen: Einen herzlichen Dank an all die, die in Bereichen unterstützt hat — das will ich hier ausdrück- Städten, Gemeinden, Ländern, Kirchen und sozialen lich anerkennen, weil mir um diesen Konsens sehr zu Verbänden bei der bisherigen Integration unserer tun ist —, diese Vorschläge noch einmal zu überlegen. deutschen Landsleute geholfen haben. Ich bitte, in Ich sage den Kolleginnen und Kollegen, die in die dieser Arbeit fortzufahren. Aussiedlungsgebiete mitgefahren sind: Man muß sich doch einmal fragen, wie es wirkt, wenn so etwas (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Gesetz würde. Die Menschen dort sagen nämlich: sowie der Abg. Gerlinde Hämmerle [SPD]) Heute Quote und was morgen? Morgen dann viel- Wir werden trotz Sparmaßnahmen den Kern der leicht doch das Tor ganz zu. — Diese Wirkung müssen Integrationsmaßnahmen auch vom Bund aus sicher- wir vermeiden, denn sie führt zu Panik. Diese Panik stellen. Darum bemühen wir uns. Unsere gesamte darf nicht eintreten. Arbeit muß sowohl in den Aussiedlungsgebieten als auch hier unter der Überschrift lauten: Wir lassen die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) deutschen Landsleute, die ein schweres Schicksal In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Trittin, hatten, nicht im Stich. muß ich sagen: Was Sie hier angeführt haben — die Herzlichen Dank. Menschen wüßten nicht Bescheid über das, was hier (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) im Gesetzgebungsverfahren läuft—, ist sehr ahnungs- los. Ich war gerade in Kasachstan. Ich war in Westsi- birien. Die Leute sind über jeden Antrag, der im Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Bundestag oder im Bundesrat gestellt wird, bestens kurzen Erwiderung hat sich der Landesminister für informiert. Die Fülle der Anträge führt zu Verunsiche- Bundes- und Europaangelegenheiten Trittin gemel- rung. det. Ich will Ihnen eines ganz klar sagen: Wenn wir in Minister Jürgen Trittin (Niedersachsen): Herr Präsi- - den letzten Wochen einen höheren Zugang an Aus- dent! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, siedlern hatten, auch von denen, die früher einen ich will nur an einem Punkt versuchen, Sie zu korri- Aufnahmebescheid bekamen und zunächst geblieben gieren. Ich habe nicht gesagt, die Leute wüßten nicht, sind, dann ist ein Grund auch die Diskussion um das über was hier diskutiert wird. Das wissen sie. Das weiß Kriegsfolgenbereinigungsgesetz und die vielen Unsi- ich aus den Gesprächen — ich bin auch gelegentlich cherheiten, die produziert worden sind. da — sehr genau. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Gelegentlich!) Das muß man einmal deutlich sagen. — Ich bin nicht ganz so reisefreudig wie manche Abgeordnete. Nun, Herr Trittin, Sie haben noch eine Sache hier vorgetragen. Da muß ich sehr nachdrücklich vor der (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das wer Irreführung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger den wir mal überprüfen! — Weitere Zurufe warnen. Sie haben nämlich das Verfahren angespro- von der CDU/CSU: Unerhört! Unver chen und haben gemeint, das Bundesverwaltungsamt schämt!) trage hier eine große Schuld. Das ist eine klare Da bitte ich Sie, dann auch korrekt zu zitieren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9917

Minister Jürgen Trittin (Niedersachsen) Das entscheidende Motiv für die Auswanderung ist Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim nicht diese Kenntnis, sondern die spezielle Situation Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine vor Ort, die Sorge um die Kinder. Wenn ich sehe, daß Damen und Herren! Nur wenige Worte zur Erwide- in Orten, wo sich die Bundesregierung große Mühe rung, Herr Minister Trittin. Erstens zu der Zusammen- gibt mit Bleibehilfen, plötzlich mit dem Eintreffen gehörigkeit der Familien im Verfahren: Ich möchte solcher Dinge die Anträge sprunghaft nach oben Ihnen sagen: Wir von der Bundesregierung bemühen gehen — in wenigen Monaten auf 25 % der Deutschen uns — da haben wir ständige Gespräche mit dem beispielsweise in Perm —, dann sage ich, wir werden Bundesverwaltungsamt und auch mit manchen Lan- uns darauf einstellen müssen, daß eine große Zahl desdienststellen —, daß Familien hier nicht widerna- kommen wird. Es geht nicht um Panik. Aber das ist die türlich getrennt werden. Da müssen wir uns ganz klar Situation. Da bitte ich Sie, uns und unsere Position hier einsetz en. nicht mißzuverstehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will ein Zweites zu der Frage sagen: Wie geht Wenn Sie das auch tun, sind wir uns einig, dann man eigentlich mit Anträgen um? Wir müssen uns wollen wir uns gegenseitig helfen; denn es kann nicht doch gemeinsam fragen, ob die Praxis vernünftig ist, sein, daß ein Teil der Familie nach Deutschland die von acht Familienmitgliedern sieben einen kommen darf und der andere muß in der GUS, in Polen Aufnahmebescheid schickt und die achte Per- oder in Rumänien bleiben. Wenn wir da gemeinsam son über Monate hängenläßt und dann auf diese handeln können, bin ich einverstanden. Weise — — Es gibt allerdings Fälle — ich sage das auf einen (Zuruf von der CDU/CSU: Das gilt in Nieder Zuruf, Frau Kollegin Hämmerle, damit auch hier noch sachsen! — Weiterer Zuruf von der CDU/ einmal ganz deutlich die Öffentlichkeit informiert CSU: Es ist Zuständigkeit der Länder!) wird —, in denen ein ganz anderes Lebensschicksal — Hören Sie doch einmal zu! eines Teils der Familie auch zu einer Ablehnung führen kann. Wenn sich z. B. zwei Söhne in der Leibgarde irgendwelcher hoher kommunistischer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Funktionäre befunden haben, dann haben die nicht Damen und Herren, die Summe Ihres Protestes ver- das gleiche Schicksal wie andere, die verfolgt wurden; längert das Verfahren. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn das muß man auch aussprechen. Sie den Landesminister aussprechen ließen. Ich möchte aber noch einmal kurz etwas zu den (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Hier kann anderen Aufgaben sagen; Kollege Marschewski hat in nicht jeder Unsinn reden!) seiner Rede schon in guter Weise darauf hingewiesen. Herr Trittin: Die Frage der Ausreise ist natürlich eine Folge auch des Gesamtschicksals und der Gesamt- Minister Jürgen Trittin (Niedersachsen): Herr Rütt- situation, insbesondere in den Republiken der GUS. gers, vielleicht sollten Sie, bevor Sie von Unsinn Darum sind wir auch alle — allen voran die Bundes- reden, zuhören. Das empfiehlt sich allemal. regierung und der Bundeskanzler — bemüht, im Ich habe gesagt: Lassen Sie uns, Bund und Länder, Rahmen unserer Möglichkeiten zur Verbesserung der in dieser Verwaltung gemeinsam eine Praxis überprü- Situation in den Republiken der GUS zu helfen. Das fen, die zu solchen Dingen führt, daß Menschen muß unsere gemeinsame Aufgabe sein, meine Damen Aufnahmebescheide haben, aber nicht reisen können, und Herren, für Deutsche und für Nichtdeutsche. weil einzelne Familienmitglieder diese Bescheide (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) noch nicht haben! Denn wenn die Reformen dort scheitern würden, Es mag sein, daß es hier unpopulär ist, auch einmal wären wir alle die Leidtragenden; ein wichtiger Teil eine selbstkritische Position zur eigenen Verwal- unseres deutschen Schicksals entscheidet sich heute tungspraxis zu haben; aber ich denke, das ist eine und morgen auch in Rußland und in den anderen gemeinsame Aufgabe, die an einer solchen Stelle Republiken. Das muß uns bewußt sein. auch einmal diskutiert werden muß. Aber bei der Schwierigkeit der Situation sollten wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) alles vermeiden, was noch zu zusätzlichen Irritationen führt. Ich sage Ihnen: Ihre Statistik mit den Anträgen, - die gestellt wurden, sollten Sie noch einmal überprü- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Lan- fen. Unsere Statistik, die alle 16 Länder umfaßt, hat desminister, ich will hier keine Bewertung vornehmen gezeigt, daß wir 24 % weniger Anträge haben als im und bin weit davon entfernt, Sie zu rügen. Aber letzten Jahr — das sage ich jetzt auch einmal —, und angeblich ist der Stil im Bundesrat sehr viel besser als zwar allein aus den Republiken der GUS. Vielleicht, im Bundestag; jedenfalls: fama est. meine Damen und Herren, ist das doch auch ein Erfolg unserer Bemühungen, den Menschen dort eine Hoff- (Widerspruch bei der CDU/CSU) nung und Lebensperspektive zu geben. Das wollen Ich wäre Ihnen also dankbar, wenn Sie sich, wenn Sie wir positiv herausstellen. schon Ihr Rederecht in einem anderen Verfassungsor- Herzlichen Dank. gan wahrnehmen, mindestens des Stils des Bundesra- tes befleißigten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine sowie bei Abgeordneten der SPD) Damen und Herren, wir beenden nun endgültig die Herr Staatssekretär, bitte. Aussprache. 9918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung Interfraktionell ist vereinbart worden, daß ich dem über den von der Bundesregierung eingebrachten Haus eine Debattenzeit von zwei Stunden vorschlage. Entwurf eines Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes, Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offen- und zwar auf den Drucksachen 12/3212, 12/3341 und sichtlich der Fall. Dann ist dies als beschlossen festzu- 12/3597. stellen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Paul Hoffacker SPD auf der Drucksache 12/3618 vor. das Wort. Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Herr Präsident! Änderungsantrag bei Enthaltung der Gruppe PDS/ Verehrte Damen und Herren! Vor den Erfolg haben Linke Liste mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen die Götter den Schweiß gesetzt. Diese Weisheit und abgelehnt worden. die Überzeugung der alten Griechen hat manchen Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Verhandlungspartner der Koalition und der Opposi- Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- tion bei den zähen Beratungen über das Gesundheits- zeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — strukturgesetz buchstäblich aufrechterhalten. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Alle wußten aber, daß das Gesundheitsstrukturge- angenommen. setz entstehen mußte, weil die allgemeine Überzeu- Wir treten nun in die gung vorherrscht, es müßte nicht nur etwas gesche- dritte Beratung hen, sondern auch etwas passieren. Aber was im einzelnen geschehen mußte, war streitig. Heute, ins- ein und kommen zur Schlußabstimmung. besondere draußen, besteht ein heftiger S treit über Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf als die Frage, was denn nun im einzelnen zu geschehen Ganzem zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — hat. Wer stimmt dagegen? — Dann ist das Gesetz mit den Ich bin überzeugt: Wenn der Pulverdampf der Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Attacken mancher Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und der SPD, der PDS/Linke Liste und des Abgeordneten weiterer Kombattanten verzogen ist, wird sich zeigen, Lowack angenommen worden. daß der zwischen Koalition und Opposition erstrittene Ich muß Ihnen noch bekanntgeben, daß ich eine Kompromiß vernünftig ist, vernünftig deshalb, weil Erklärung der Abgeordneten Dr. Michael Luther, alle am Gesundheitswesen Beteiligten solidarisch Maria Michalk und Hartmut Büttner sowie weiterer belastet werden, solidarisch deshalb, weil alle zugun- 38 Kollegen nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu sten der Patienten Opfer zu bringen haben und auch Protokoll genommen habe. *) die Beitragszahler selbst belastet werden. Der Konsens der Beteiligten ist Grundlage des heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurfs. Allen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Beteiligten möchte ich danken, daß dieser Kompro- Zusatzpunkt 3 auf: miß nach langen und zähen Verhandlungen möglich 6. Erste Beratung des von den Fraktionen der war. Mein Dank gilt dabei ganz besonders den Mitar- CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Ent- beitern des Bundesministeriums für Gesundheit, wurfs eines Gesetzes zur Sicherung und Struk- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der turverbesserung der gesetzlichen Krankenver- SPD) sicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) die unter nicht leichten Bedingungen bis in die Nacht — Drucksache 12/3608 — hinein — wie das bisweilen der Fall war — die Überweisungsvorschlag: Bedingungen für dieses Gesetz erst ermöglicht Ausschuß für Gesundheit (federführend) haben. Rechtsausschuß Wir waren, meine Damen und Herren, praktisch zur Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Übereinkunft gezwungen. „Wir", das waren und sind Ausschuß für Familie und Senioren die CDU/CSU, die F.D.P., die SPD, die Verantwortli- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft chen der alten und neuen Bundesländer mit ihren Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO farbenprächtigen Parlamenten und Regierungen. ZP3 Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS Wir mußten eine Übereinkunft herbeiführen, weil 90/DIE GRÜNEN die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversi- Vorlage eines neuen Gesundheitsstrukturge- cherung in Ost und West alarmierend ist. Einnahmen setzes und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung — Drucksache 12/3606 — driften weiter auseinander. So ist für das erste Halb- jahr 1992 festzustellen, daß die Steigerung der Aus- Überweisungsvorschlag: gaben 10,6 % betrug, die Steigerung der Einnahmen Ausschuß für Gesundheit (federführend) Rechtsausschuß in den Krankenkassen demgegenüber nur bei 4,4 % Ausschuß für Wirtschaft lag. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Der durchschnittliche in der gesetzli- Ausschuß für Familie und Senioren Beitragssatz Ausschuß für Bildung und Wissenschaft chen Krankenversicherung ist in den alten Ländern Haushaltsausschuß erstmals auf den hohen Spitzenbetrag von 13,1 % hochgeklettert. Dennoch erwarten wir in diesem Jahr *) Anlage 2 ein Defizit von nahezu 10 Milliarden DM. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9919

Dr. Paul Hoffacker Auch in den neuen Ländern ist nach anfänglichen Es kann nämlich nicht angehen, daß der ungebrem- Überschüssen die defizitäre Entwicklung vorpro- ste Zugriff auf das Geld der Kassen noch weiter grammiert. Welche Entwicklungsmöglichkeiten sich beschleunigt wird. Wie sich dieser Zugriff beschleu- vor diesem Hintergrund einer rezessiven Entwicklung nigt hat, sehen wir exemplarisch an einigen Zahlen im der Wirtschaft eröffnen könnten, möchte ich hier nur Bereich der Kuren und des Zahnersatzes oder bei- andeuten. Ein Aussteigen bei diesen Verhandlungen, spielhaft an den Krankenhausausgaben des laufen- bei dieser Situation wäre verantwortungslos gewe- den Jahres. Es muß daher schnell gehandelt wer- sen. den. Fazit: Handlungsbedarf, nein, Handlungszwang Wir nehmen deshalb kurzzeitig bei diesem Prozeß besteht. Untätigkeit verschlechtert die Chancen für in Kauf, daß wir gegen ordnungspolitische Prinzipien den Wirtschaftsstandort Deutschland. Untätigkeit verstoßen, weil sich kurzfristig das Gesundheitswesen erhöht die Belastungen der Arbeitgeber und verrin- nicht durch das System der Sozialen Marktwirtschaft gert die Nettoeinnahmen der Arbeitnehmer. Untätig- sanieren läßt. Ich selber bin aber der Überzeugung, keit wirkt sich doppelt zu Lasten unserer Rentner aus. daß nur das System der Sozialen Marktwirtschaft auch Sie müßten nämlich höhere Beiträge zur gesetzlichen langfristig das Gesundheitswesen beherrschen muß Krankenversicherung zahlen und erhielten geringere und daß diese Grundsätze über kurz oder lang einge- Rentenanpassungen wegen der Nettolohnbezogen- führt werden müssen. heit der Rente. Das, meine Damen und Herren, muß Uns passen diese Eingriffsinstrumente genausowe- verhindert werden. nig wie den sogenannten Leistungsanbietern. Aber, Konsequenz dieser Diagnose ist: Der Konsens der meine Damen und Herren: Wer fragt denn die Versi- cherten, wenn ihnen durch Beitragserhöhungen Koalition mit der SPD-Bundestagsfraktion und den Ländern ist nötig. Er ist, soweit ich das überschaue, in ungefragt in die Tasche gegriffen wird? Wer schützt den grundsätzlichen politischen Aussagen auch die Versicherten vor diesem Zugriff, wenn die Politik gelungen. Eine realistische und kalkulierbare ge- nicht Grenzen setzt? sundheitspolitische Alternative ist nicht zu erken- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr nen. gut!) All diejenigen, die jetzt ordnungspolitische Grund- Deshalb setzen wir Grenzen, und zwar in der Phase sätze zitieren oder das Erreichte an ihrem sozialpoli- der nächsten zwei bis drei Jahre. Dies geschieht tischen Credo messen, bitte ich, auch diese Fakten zu beispielsweise durch Budgetierung, durch Preisstopp, berücksichtigen. durch eine Verringerung der Arztbedarfszahlen und durch andere Maßnahmen. Ergebnis dieser politischen Situation ist unser Gesundheits-Strukturgesetz. Grundlage dieses Ge- Aber wir eröffnen gleichzeitig die Chance zur setzes ist der Kompromiß, weil sich alle Beteiligten strukturellen Veränderung im Gesundheitswesen. — ausgehend von ihren unterschiedlichen Ausgangs- Diese Chancen sollten von allen durch Annahme des positionen — aufeinander zubewegt haben. Ohne hier Gesetzes genutzt werden und nicht durch eine Blok- ein Aufrechnen der gegenseitigen Erfolge beginnen kade neuer Wege. zu wollen, glaube ich sagen zu können, daß das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gesetz von einem ausgewogenen Geben und Neh- Wie dies aussieht, können wir leider täglich erleben: men getragen ist. Wir müssen erkennen — auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen —, daß wir, wie Durch große Demons trationen, durch falsche Informa- tionen und bisweilen durch eine Verhetzung der die Zahlen zeigen, über unsere Verhältnisse gelebt Patienten. Dies, meine Damen und Herren, kann nicht haben. Das Anspruchsdenken aller am Gesundheits- die Wirklichkeit der kurzfristigen oder langfristigen wesen Beteiligten — manche tun es besorgt, m anche Entwicklung sein. unbekümmert — überwuchert die realen Zahlungs- möglichkeiten und nimmt immer weniger Rücksicht Deshalb haben wir Strukturen in dieses Gesetz auf die Leistungsfähigkeit der Beitragszahler. eingebaut und dafür gesorgt, daß sich auf lange Frist das Gesundheitswesen so entwickeln kann, daß alle (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Beteiligten zu ihrem Recht kommen, so beispielsweise neten der F.D.P.) - im Krankenhaussektor mit der Aufgabe des Selbstko- stendeckungsprinzips. Bei gleichzeitiger Ablösung Der Spannungsbogen von Eigenverantwortung und Solidarität wird überdehnt. Er wird strapaziert der tagesgleichen Pflegesätze wird ein grundlegender durch medizinisch nicht notwendige Leistungen, und Strukturfehler des bisherigen Krankenhausrechts er wird überlastet, so daß dieser Spannungsbogen zu beseitigt. Durch Einführung von Fallpauschalen, Son- bersten beginnt. Dieser Entwicklung muß in dreifa- derentgelten und differenzierten Pflegesätzen wird cher Weise entgegengewirkt werden; einmal durch der Weg für mehr Transparenz und Effizienz im Sofortmaßnahmen, weiterhin durch Strukturmaßnah- Krankenhaus eröffnet. men und drittens durch eine neue Bestimmung der Durch die bessere Verzahnung von ambulanter und Selbstverantwortung von Patienten, Ärzten, Zahnärz- stationärer Versorgung, insbesondere durch die Ein- ten, Apothekern und Arzneimittelherstellern, also von führung von vor- und nachstationärer Krankenhaus- all denjenigen, die wir in der Regel etwas abschätzig behandlung, wird die Wirtschaftlichkeit im Kranken- Leistungserbringer nennen. Alle müssen zwischen haus erheblich gesteigert werden können. Stationäre Selbstverantwortung und Solidarhaftung der Versi- Krankenhausbehandlung soll künftig nur noch dann cherten ihre Verantwortung neu überdenken. erfolgen, wenn sie tatsächlich notwendig ist. Wir 9920 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Paul Hoffacker wissen heute, daß die Bezugsgrößen Bettenzahl und Über die Strukturausgleiche, die wir wollen, und Verweildauer im Krankenhaus falsch sind, ja, gera- über den Zeitpunkt der Einführung der Risikostruk- dezu dazu anreizen, daß der Patient das Krankenhaus turausgleiche muß sicherlich noch während des Ge- aufsucht und dort seine Behandlung verlangt. setzesverfahrens durch die Sachverständigen, die wir in der Anhörung bereits morgen haben, noch einiges Auch die Regelungen in der ambulaten Versorgung hinzugefügt werden. Ich kann jedoch nicht erkennen, enthalten wichtige Strukturelemente. Hier geht es daß mit dieser Entscheidung der Weg in eine soge- eben nicht nur, wie der erste Eindruck glauben nannte Einheitsversicherung vorprogrammiert wäre. machen möchte, um Budgetierung, Grundlohnanbin- Dies muß ich zum Schutze aller, die daran mitgewirkt dung, Eindeckeln und Ausdeckeln, Punktwertabsen- haben, sagen. kung oder kollektive und individuelle Maßnahmen. All jene Dinge, die von den meisten Zeitgenossen Meine Damen und Herren, das Strukturgesetz ent- sowieso nur unverständlich und nur unter dem Gebot hält neben den unbestreitbar dirigistischen Elemen- der Stunde als unvermeidliche Sofortmaßnahmen ten, die kurzfristig nicht zu vermeiden waren, haupt- akzeptiert werden können, sind eine vorübergehende sächlich strukturelle Elemente, Entscheidungen, die Maßnahme. die Weichen für die gesetzliche Krankenversicherung langfristig in die richtige Richtung stellen. Es wird Nicht zu unterschätzen sind Struktureffekte, wie aber darauf ankommen, mit allen Beteiligten konsens- beispielsweise die Neuordnung der hausärztlichen fähige Konzepte zu entwickeln, die Lösungen aufzu- Versorgung unter qualitativen, finanziellen und orga- zeigen, die nach der Notbremsung oder, um mit nisatorischen Aspekten. Die Neuregelung der Kas- Rudolf Dreßler zu sprechen, nach der Phase Günter senarztzulassung durch Neubestimmung der Krite- Mittag vereinbart werden können. rien bei der Überversorgung bis hin zur Bedarfszulas- Dazu möchte ich alle Beteiligten von dieser Stelle sung ist eine Komponente, die längst überfällig war. aus ausdrücklich auffordern. Der Grundstein zur wei- Meine Damen und Herren, trotz der Befürchtung, teren Reform auf dem Weg zur gesetzlichen Kranken- daß ich mit meiner Äußerung zu der Vorschlagsliste versicherung 2000 ist mit diesem Strukturgesetz für die verordnungsfähigen Arzneimittel vielleicht bereits gelegt. wiederum Mißverständnisse wecke, möchte ich Vielen Dank. sagen, daß diese Vorschlagsliste nicht eine Positivliste (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) im Sinne dieses Reizwortes ist.

(Dr. [F.D.P.]: Sehr wahr!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Rudolf Dreßler. Mit dieser Liste kann für die Ärzteschaft mehr Trans- parenz geschaffen werden, und damit können die Anreize zu einem wirtschaft lichen Ordnungsverhal- Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen ten erhöht werden. und Herren! Der heute zur Beratung anstehende Entwurf eines Gesundheits - Strukturgesetzes, den die Die Reduzierung des Arzneimittelangebots auf Fraktionen von SPD, CDU/CSU und F.D.P. einge- dem Markt und die damit verbundene Einschränkung bracht haben, ist in mehrfacher Hinsicht von exempla- der Therapiefreiheit wird durch diese Liste, die als rischer Bedeutung. Verordnung des Bundesministers für Gesundheit Zum einen zeigt er, daß Koalition und Opposition erlassen wird, nicht herbeigeführt. Betonen möchte abseits des sonst notwendigen parlamentarischen ich, daß unter allen Konsenspartnern Einvernehmen Gegeneinanders zu gemeinsamem Handeln fähig darüber besteht, daß die Medikamente der besonde- sind, wenn die Wohlfahrt des Landes es erfordert. ren Therapierichtungen auch weiterhin grundsätzlich verordnungsfähig bleiben. Wer das Gegenteil be- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der hauptet, hat entweder dieses Gesetz mißverstanden, F.D.P.) oder er führt absichtlich irre. Er ist, so gesehen, ein Stück demokratischer Kultur, an deren Vorhandensein in Deutschland, wie wir Meine Damen und Herren, das Thema Organisa- wissen, eine zunehmende Zahl von Menschen zu tionsreform der gesetzlichen Krankenversicherung zweifeln beginnt. Dieser Entwurf verkleistert nicht die — ein Diskussionspunkt in politischen Fachkreisen politischen Gegensätze zwischen Regierung und seit Jahren — ist mit diesem Gesundheits-Strukturge- Opposition. Gleichwohl unterstreicht er die zu einem setz einer langfristigen Lösung zugeführt worden. Ich tragfähigen Kompromiß zusammengebundenen ge- will nicht verschweigen, daß die hier gefundenen meinsamen Interessen. Ergebnisse einiges an Überzeugungsarbeit erforder- ten und auch weiterhin noch erfordern. Dies, so meine Zum zweiten zeigt der Gesetzentwurf die Fähigkeit ich, muß in der Öffentlichkeit deutlich werden. Aber, des Parlaments, den Einwirkungsversuchen von Inter- Tatsache ist, daß die Einschränkung der Wahlrechte essengruppen zu widerstehen, wenn es geschlossen von pflichtversicherten Arbeitern in der gesetzlichen handelt. Vor dem Hintergrund des Vertrauensverlu- Krankenversicherung bereits heute nicht mehr sach- stes, den Politik in den letzten Monaten erfahren hat, lich überzeugend vertreten werden kann. Die Aus- ist dies eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme weitung der Wahlrechte stellt das Organisationsrecht gegenüber den Menschen, für die wir da sind. in der Krankenkasse auf eine nunmehr auch verfas- Spötter meinen, unser Gesundheitswesen gleiche sungsrechtlich langfristig tragfähige Grundlage. Das einem Minenfeld, zu dem der Verlegungsplan abhan- gegliederte Kassensystem wird bewahrt. Auch hier: den gekommen sei. Daran ist mehr wahr, als uns lieb Entgegenstehende Reden sind nicht richtig. sein kann. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9921

Rudolf Dreßler Die mit diesem Gesetzgebungsverfahren verbunde- Zahl der neuen Kassenzulassungen bedarfsgerecht nen Einwirkungsversuche von Interessenverbänden steuern. lagen mehr als einmal jenseits des guten politischen Dies alles sind strukturverändernde Maßnahmen Geschmacks und kamen der Grenze zur politischen mit Langzeitwirkung. Dies sind aber auch Maßnah- Nötigung oft bedrohlich nahe. Wenn diese Interessen- men, die nicht von heute auf morgen gleichsam auf gruppen nunmehr die Erfahrung gemacht haben, daß Knopfdruck wirksam werden können. Sie brauchen unser Parlament nicht vor ihren Pressionsversuchen eine Vorbereitungszeit, in der die bedrohliche Ausga- kuscht, hat dieser Gesetzeskompromiß über den sach- benentwicklung in den Krankenkassen nicht sich lichen Rahmen hinaus auch eine prinzipielle politi- selbst überlassen werden darf. sche Signalwirkung. Wir haben daher über die Strukturveränderungen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der hinaus auch Maßnahmen vereinbart, die, für sich F.D.P.) allein genommen, ordnungspolitisch bedenklich wä- Diese will ich ausdrücklich benennen. Das notwen- ren. Die im Gesetzentwurf vorhandenen Elemente dige Gespräch mit Verbänden kann so auf neuer, vor interventionistischer Kostendämpfungspolitik finden allem aber auf angemessenerer Basis geführt wer- ihre Rechtfertigung allein in der Verpflichtung des den. Gesetzgebers, bis zum Wirksamwerden der Struktur- Zum dritten zeigt der Gesetzentwurf schließlich, reform für Ruhe an der Kostenfront zu sorgen. Wir daß die politische Tradition in Deutschland, grundle- verlangen mit diesen Maßnahmen der Ausgabenpla- gende Regelungen der sozialstaatlichen Ausgestal- fondierung von den Leistungserbringern einen Stabi- tung unseres Landes gemeinsam zu treffen, nunmehr lisierungsbeitrag. Er ist unverzichtbar, meine Damen auch im Gesundheitswesen Fuß gefaßt hat; denn und Herren. bemerkenswerterweise ist eine parteiübergreifende Ich widerspreche jenen Verbandsfunktionären der Regelung in der Vergangenheit im Gegensatz zu Ärzte, der Zahnärzte und der Pharmaindustrie, die anderen gesellschaftlichen Regelkreisen im Gesund- dies für eine Zumutung halten. Niemand wird über- heitswesen bisher noch nie gelungen. Wir stehen mit fordert, vor allem die nicht, die in der Vergangenheit diesem Entwurf gleichsam vor einer Premiere. unserem Gesundheitswesen ihren — auch persönli- Wenn sich wie in diesem Fall Regierung und Oppo- chen — wirtschaftlichen Erfolg verdanken. sition zu einem gemeinsamen Lösungsversuch zusam- menfinden, so kann diese Ausnahme von der her- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kömmlichen parlamentarischen Regel des Gegenein- der CDU/CSU) ander ihre Rechtfertigung nur in zwei Gründen fin- Ihr Beitrag zur Stabilisierung ist überfällig, und er ist den: zum einen in der elementaren Bedeutung des zu dringendes Gebot der sozialen Gerechtigkeit. lösenden Problems und zum anderen in der politi- Für die SPD-Fraktion will ich mich auf die Bewer- schen Tragfähigkeit und Qualität der Lösungsvor- tung einiger grundsätzlicher Fragen des Gesetzes- schläge. kompromisses konzentrieren. Ke rn einer Reform im Zu letzterem will ich aus der Sicht meiner Fraktion Gesundheitswesen mußte aus unserer Sicht der anmerken, daß der mit der Koalition gefundene Kom- Umbau und die Modernisierung der Organisation promiß inhaltlich von weitreichender Bedeutung ist, unserer Krankenkassen sein. Es ist unübersehbar, daß der über diese zwölfte Legislaturperiode hinaus tra- dieses System den modernen Anforderungen an eine gen wird. Wir haben den Teufelskreis aus kurzfristig leistungsfähige Sicherung der Menschen gegen das wirkenden Kostendämpfungsoperationen, die ständig Risiko der Krankheit nicht mehr gewachsen ist. neue und in immer kürzeren Abständen folgende weitere Gesetzesinterventionen provozierten, endlich In ca. 1 200 Krankenkassen zersplittert, von starken durchbrochen. Zum erstenmal in der Nachkriegsge- organisatorischen Eigeninteressen durchsetzt und schichte des Gesundheitswesens gibt es eine wirkli- gegenüber schlagfertigen Vertretungen der Erbringer che Gesundheitsreform, wird unser Gesundheitswe- von Gesundheitsleistungen in einer deutlich unterle- sen wirklich umgebaut. genen Position, ist unsere Krankenversicherung in ihrer bisherigen Konstruktion nicht mehr opitmal in (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der der Lage, die Interessen der Krankenversicherten F.D.P.) - wirksam wahrzunehmen. Beitragssatzunterschiede Wir werden unsere Krankenversicherungen neu von bis zu 8 % für die gleiche Leistung im Krankheits- organisieren und an einen modernen, wettbewerbli- fall belegen zudem, daß das System gegen seine chen Grundsatz orientieren. Wir werden die Selbst- zentralen Grundsätze verstößt. verwaltung der Krankenkassen neu gestalten und zu Eigentlich auf Solidarität verpflichtet, produziert es einem effektiven Mitbestimmungsinstrument der in Wirklichkeit in hohem Maße Entsolidarisierung. Versicherten umbauen. Wir werden die Kranken- Eine Reform unseres Gesundheitswesens, die dieses hausfinanzierung auf neue Grundlagen stellen und Problem nicht löste, wäre in ihren langfristigen Aus- moderne, betriebswirtschaftlich vernünftige Entgelt wirkungen ohne Erfolgschance. verfahren einführen. Wir werden den Graben zwi- schen ambulanter und stationärer Versorgung über- Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die brücken. Wir werden den Arzneimittelmarkt neu Weichen neu gestellt. In Zukunft kann jeder Versi- ordnen und die ärztliche Verordnungspraxis stärker cherte seine Krankenkasse frei wählen, und die an therapeutisch rationalen und wirtschaftlich ver- gewählte Krankenkasse muß den Be treffenden auf- nünftigen Kriterien orientieren. Wir werden die ärzt- nehmen. Mit diesem grundlegenden Schritt haben wir liche und zahnärztliche Vergütung umstellen und die den Versicherten wieder in den Mittelpunkt des 9922 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Rudolf Dreßler Systems gestellt. Durch seine Wahlentscheidung gibt Was dann an Unterschieden zwischen den einzelnen er dem Ganzen Gestalt. Seine Wahlmöglichkeit Krankenkassen noch besteht, fällt ausschließlich in schafft für die Krankenversicherungsorganisationen ihre eigene Verantwortung; es ist auch nicht mehr den Zwang, sich um die Mitglieder zu kümmern. durch unterschiedliche gesetzliche oder rechtliche Organisationspolitisch motivierte Verhaltensweisen Startbedingungen verursacht. treten in den Hintergrund. Ein Wettbewerb um die Versicherten beginnt; denn wer wählen kann, kann Der Risikostrukturausgleich war in der Vergangen- auch wechseln. Die stärkere Wettbewerbsorientie- heit in der gesundheitspolitischen Diskussion — wie rung unserer Krankenversicherung ist gewünscht. wir alle wissen — heftig umstritten. Er unterschied Von ihr wird nach unseren Erwartungen mehr an sich dabei sicherlich nicht von den anderen Vorschlä- Einsparungswirkungen und -dynamik ausgehen als gen, die die unterschiedlichen Belastungen zwischen von jeder noch so gut gemeinten Kostendämpfungs- den Krankenkassen ausgleichen sollten. Zu jedem maßnahme. Anders ausgedrückt: Unser Krankenver- dieser Vorschläge erscholl, Tragödienchören gleich, sicherungssystem gerät in Bewegung. Dynamik statt Kritik, Kritik, die den Untergang ganzer Krankenkas- Beharrungsvermögen wird sein entscheidendes Ele- senlandschaften beschwor. Ich bin mir sicher, meine ment sein. Damen und Herren: Nur ein Ausgleichsmodell wäre ohne Kritik geblieben, und das wäre jenes gewesen, Ich habe in den letzten Monaten in vielen Gesprä- bei dem alle Krankenkassen Zahlungen erhielten, chen gelernt, daß die Vertreter der Krankenversiche- aber keine Zahlungen leisten müßten. Nur: Diesen rungen dem dadurch ausgelösten Wettbewerbspro- Ausgleich gibt es nicht. zeß mit einiger Skepsis gegenüberstehen oder ihn gar ablehnen. Ich kann diese Skepsis zwar nachvollzie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der hen, verstehen kann ich sie aber nicht. Sie ist gesell- F.D.P.) schaftspolitisch unangebracht. Denn wer ein geglie- dertes Krankenversicherungssystem will, der muß Uns kam es schließlich darauf an, zu einem Ergebnis auch der Gliederung selbst ihren Sinn verleihen. zu gelangen, das dem Grundsatz der sozialen Gerech- Gesetzliche Zuweisung der einzelnen Versicherten tigkeit entspricht. Das haben wir, denke ich, auf die verschiedenen Systemglieder ist jedenfalls erreicht. ohne Sinn. Wer zuweisen will, braucht eigentlich nur eine einzige Krankenkasse. Gliederung aber gebietet Für die SPD-Fraktion muß ich allerdings eines den Krankenversicherungen, auch die Auswahl zwi- klarstellen. Wenn wir für die Krankenversicherungen schen den verschiedenen Gliedern anzubieten. nunmehr gleiche Ausgangsvoraussetzungen geschaf- Genau dies geschieht mit der Wahlfreiheit. fen haben, kommen weitere Ausgleichsmechanismen nicht mehr in Betracht. Ich sage dies mit durchaus Der Wettbewerb, der von der freien Wahl der warnendem Unterton in alle Richtungen. Krankenkasse ausgeht, hat eine entscheidende Vor- aussetzung. Alle die an ihm teilnehmen, müssen dies (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu gleichen Ausgangsbedingungen tun können. Diese Voraussetzung ist derzeit nicht erfüllt. So wie im Mit dem kassenartenübergreifenden Risikostruk- Sport ein Hürdenlauf nicht zu einem gerechten Ergeb- turausgleich ist das Ende der Fahnenstange erreicht, nis kommen kann, wenn einige Läufer ständig mehr es sei denn, wir wollten uns mit weiteren Ausgleichs- Hindernisse zu überwinden haben als andere, kann mechanismen zukünftig in Richtung auf die Einheits- ein Wettbewerb unter Krankenkassen nicht zu einem versicherung zubewegen. Das aber wollen wir sozial gerechten Ergebnis führen, wenn einige Teil- nicht. nehmer vom Gesetzgeber gezwungen werden, unter erschwerten Bedingungen zu starten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden, führen sowie bei Abgeordneten der SPD) wir mit dem vorliegenden Kompromiß für alle Kran- kenkassen gleiches Recht ein, das heißt gleiches Es kommt jetzt darauf an, die ganze Energie auf eine Mitgliedschaftsrecht, gleiches Beitragsrecht, gleiches wettbewerbsgerechte Ausrichtung jeder einzelnen Leistungsrecht und gleiches Vertragsrecht. Krankenkasse zu konzentrieren. Es kommt nicht darauf an, Modellbastlern zusätzliche Möglichkeiten In den vergangenen Jahren haben die noch beste- zur Konstruktion neuer Ausgleichsfaktoren zu schaf- henden rechtlichen Ungleichheiten zu erheblichen fen. Verwerfungen zwischen den Krankenkassen geführt. Wir hatten demnach auch dafür zu sorgen, daß die in Es ist sicherlich richtig, daß die stärkere wettbe- der Vergangenheit angesammelten Ungerechtigkei- werbliche Ausrichtung unserer Krankenversicherung ten nicht zu Hypotheken für die zukünftige wettbe- für eine Reihe von Krankenkassen zu Problemen werbliche Betätigung werden. Erreichen werden wir führen wird. Nicht jede Krankenkasse wird den Wett- dies durch die Einführung eines kassenartenüber- bewerbsprozeß überstehen. Dies haben wir einkalku- greifenden Risikostrukturausgleichs. Dieser Aus- liert. Vor dem Hintergrund von ca. 1 200 Krankenkas- gleich wird künftig dafür sorgen, daß die einzelnen sen in der Bundesrepublik sehe ich darin auch keinen Kassen so gestellt werden, als hätten sie auf der Schaden für die Versicherten. Was soll es denn an Einnahmeseite die gleiche Verteilung gesundheitlich gravierenden sozialpolitischen Einwänden dagegen unterschiedlicher Risiken. Nach diesem Ausgleich geben, wenn eine Krankenkasse wirklich schließen gibt es keine unterschiedliche Risikoverteilung mehr, müßte und die darin bisher Versicherten bei gleichen die bei den Kasseneinnahmen finanzwirksam wäre. Leistungen und möglicherweise sogar noch günstige- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9923

Rudolf Dreßler ren Beiträgen in anderen Krankenkassen genausogut bisherige Ausgestaltung sonderlich effektiv sei. Der aufgehoben sind? Gesetzeskompromiß sieht vor, daß zukünftig an die Stelle von Vertreterversammlung und Vorstand einer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Krankenkasse ein Verwaltungsrat tritt, der weitrei- der F.D.P. — Bundesminister Seehofer: Libe chende Mitbestimmungsrechte erhält. Das ist neu; rales Gedankengut!) gleichwohl ist es unverzichtbar. Wenn es uns um die Versicherten, nicht aber um die Wer unsere Krankenversicherung wettbewerblich Organisationen geht, dann können wir darin nichts orientieren will, muß ihr auch zu einer schlagkräftigen Verwerfliches erkennen. Führungsstruktur verhelfen. Wir tun das mit dem Im Zusammenhang mit der Einführung der Wahl- Gesetzentwurf. An die Stelle der Geschäftsführung freiheit für alle haben wir die Öffnung der Ersatzkas- tritt zukünftig ein Management, also ein auf Zeit sen für jedermann vorgesehen. Dies hat zu heftigen bestellter hauptamtlicher Vorstand. Wir wollen mehr Vorwürfen der Ersatzkassen und ihrer Verbände Dynamik in der Führung unserer Krankenversiche- geführt. Ich kann diese Kritik weder nachvollziehen rungen. Die neugefundene Regelung wird diese noch ihr eine soziale Berechtigung zubilligen. Meine Dynamik herbeiführen. Damen und Herren, der Vorwurf der Ersatzkassen, mit Die Neuordnung des Arzneimittelmarkts ist wei- ihrer Öffnung nehme man den Menschen die Mög- tere wesentliche Aufgabe einer Strukturreform. Wir lichkeit, sich zu differenzieren, ist absurd. Im Gegen- haben diese Neuordnung mit dem Gesetzeskompro- teil: In Zukunft haben alle Versicherten und nicht nur miß eingeleitet. In der Bundesrepublik gibt es derzeit eine einzelne Gruppe die Möglichkeit zu differenzie- ca. 100 000 auf Kassenrezept verordnungsfähige Arz- ren. Ich füge hinzu: Wer über das indische Kastensy- neimittel. Dies ist eine gewaltige Zahl. Sie unter- stem die Nase rümpft — das tun wir ja schließlich streicht die Notwendigkeit einer Neuordnung. Wäh- alle —, sollte wissen, wie er sich in der Frage der rend die Schweiz mit etwa 8 000 Präparaten aus- Öffnung der Ersatzkassen zu verhalten hat. Er muß kommt und die riesigen Vereinigten Staaten von dem nämlich zustimmen. Amerika mit ca. 46 000, leistet sich die Bundesrepu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten blik einen solchen Arzneimittelwust. Ich kann nicht der CDU/CSU und der F.D.P.) sehen, daß Schweizer oder Amerikaner aus diesen Gründen kränker sind als Deutsche, meine Damen Meine Damen und Herren, es ist sozialpolitisch und Herren. Im Gegenteil: Der aufgeblähte Arznei- gewollt, daß der Unterschied zwischen Arbeitern und mittelmarkt führt zu Intransparenz und zu unwirt- Angestellten in der Krankenversicherung fällt. Das schaftlichem Verhalten. Hier ist eine Marktbereini- werden wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen. Ich gung überfällig. Wir wollen, daß der Arzneimittel- halte das für einen wesentlichen gesellschaftspoliti- markt von therapeutischen Unsinnigkeiten bereinigt schen Fortschritt. wird. Dazu wird es in Zukunft ein Institut „Arzneimit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tel in der Krankenversicherung" geben, das diese Bereinigung vornimmt. Es wird in einem Vorschlag Betriebs- und Innungskrankenkassen werden zu- eine Liste verordnungsfähiger Arzneimittel erstellen, künftig ihren Beitrag an die gesamte Solidargemein- die dann der Bundesgesundheitsminister in Form schaft der gesetzlich Krankenversicherten durch Teil- einer Rechtsverordnung verbindlich macht. nahme am Risikostrukturausgleich leisten. Ich muß allerdings die Organisationen von Betriebs- und (Vor s i t z : Vizepräsident Helmuth Becker) Innungskrankenkassen davor warnen, sich der Illu- Das ist solide, rechtlich sauber und gesundheitspoli- sion hinzugeben, als würde sich für sie nichts ändern. tisch vernünftig. Es entspricht zudem dem Wunsch der Es ändert sich Grundlegendes: Betriebs- und Innungs- Krankenkassen und vieler niedergelassener Ärzte. krankenkassen können zukünftig nicht in vollem Umfang am Wettbewerb um den Versicherten teil- (Beifall bei der SPD — Gerd Andres [SPD]: nehmen. Man kann sich aus ihnen nur heraus-, nicht Positivliste!) aber in sie hineinwählen. In einer völlig veränderten Wir nennen es — das ist völlig richtig, Herr Kollege — Krankenversicherungslandschaft ist dies kein Vorteil, Positivliste. Die Damen und Herren auf der anderen wie manche meinen; es ist ein Nachteil. Wir haben - Seite des Parlaments nennen es eine Liste verord- deshalb diesen beiden Kassenarten die Möglichkeit nungsfähiger Präparate. Mir ist das egal. Entschei- gegeben, sich freiwillig durch Satzung für alle Versi- dend ist, daß zum Schluß der politische Sinn und der cherten in einer Region zu öffnen. Ich kann nur hoffen, Erfolg zum Ausdruck kommen. daß Betriebs- und Innungskrankenkassen die darin liegende Chance erkennen. Nur wer in vollem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Umfang am Wettbewerb teilnimmt, nur wer sich also der CDU/CSU) für alle Versicherten öffnet, hat die Chance, in diesem Es ist kein Geheimnis, daß die SPD auch Änderun- Prozeß zu überleben. gen der Arzneimittelpreisgestaltung herbeiführen Wir haben neben einer Reform der Organisation wollte. Wir wollten Preisverhandlungen zwischen unserer Krankenkassen auch deren Selbstverwaltung Krankenkassen und pharmazeutischen Herstellern, einem Umgestaltungsprozeß unterzogen. Wir neh- also ein marktwirtschaftlich vernünftiges Instrument. men Selbstverwaltung ernst und wollen, daß sie Wir haben uns mit diesem Vorschlag gegen die zukünftig wirklich mitbestimmen kann. Niemand selbsternannten Marktwirtschaftler in der CDU/CSU kann behaupten — die in der Selbstverwaltung Täti- und der F.D.P. und gegen die pharmazeutische Indu- gen tun dies ja selbst am allerwenigsten —, daß deren strie nicht durchsetzen können. 9924 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5 November 1992

Rudolf Dreßler Dies mag jedermann bewerten, wie er will. Ich F.D.P. Fragen problematisiert worden, die etwa so jedenfalls habe folgende Erfahrung gemacht. Man lauten: Wer von den vier beteiligten Parteien ist nun kann Marktwirtschaftler solcher Art durch nichts der eigentliche Sieger dieses Kompromisses? Wer hat mehr erschrecken als durch die Ankündigung, die denn nun am stärksten seine Handschrift im vorlie- Marktwirtschaft jetzt wirklich einzuführen. genden Gesetzeskompromiß unterbringen können? (Heiterkeit bei der SPD) Ich halte eine solche Frage für unsinnig. Sie liegt neben der Sache. Ein Kompromiß, in dem sich nicht Sie empfinden diese Ankündigung nämlich als Dro- alle Beteiligten wiederfinden können, ist keiner; denn hung. Man erreicht furchtgeweitete Augen. er ist nicht tragfähig. Sichergestellt worden ist jedoch, daß künftig 80 (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der des Arzneimittelmarkts festbetragsfähig sein werden. F.D.P. — Gerd Andres [SPD]: Alle haben Das ist eine Verdoppelung des bisherigen Festbe- gewonnen!) tragsanteils. Auch von dieser Regelung geht eine Ich füge hinzu: Wer gern Strichlisten führt, Herr preisdämpfende Wirkung aus. Wir können sie daher Kollege Andres, oder Rechenkunststückchen voll- mittragen. führt, dem ist dies unbenommen. Er kann die von der Die Drohung vieler Zahnärzte, bei einer ihnen nicht Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwürfe mit genehmen Gesetzesregelung künftig die Kassenzu- dem vergleichen, was nunmehr vorliegt. Die SPD lassung niederzulegen, hat uns schließlich dazu jedenfalls kann sich in diesem Kompromiß wiederfin- bewogen, für einen solchen Fall Vorsorge zu tragen. den. Sie wird ihn mittragen und mit dafür sorgen, daß Damit stellen wir zweierlei klar: Erstens demonst riert er nicht zerbröselt oder zerbröckelt wird. der Gesetzgeber damit, daß er durch das von derlei Der vorliegende Gesetzentwurf ist von weitreichen- politischem Manöver ausstrahlende Brimborium nicht der Bedeutung. Ich bin mir sicher, daß wir eine zweite erpreßbar ist. Das halte ich für notwendig. Zweitens Chance für einen solchen Kompromiß so schnell nicht sichert der Gesetzgeber für diesen Fall die zahnärzt- wieder erhalten. Deshalb dürfen wir ihn nicht verspie- liche Versorgung der Menschen in Deutschland auf len. andere Weise als nach dem bisherigen System. Das ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ seine Pflicht. CSU und der F.D.P.) Niemand wird gezwungen, an der kassenzahnärzt- Jeder muß sich darüber im klaren sein, daß weder lichen Versorgung teilzunehmen. Wer es tut, hat sich die derzeitige noch eine andere Koalition allein dazu an die bestehenden Regeln zu halten. Zu diesen die Kraft gehabt hätte. Auch CDU/CSU oder SPD Regeln wird künftig gehören: Wer seine kassenzahn- allein hätten dies nicht schaffen können. Aus dieser ärztliche Zulassung niederlegt, wird sie für die darauf Bewertung ergibt sich für alle Beteiligten eine beson- folgenden sechs Jahre nicht wieder erhalten. Für die dere Verantwortung. Zeit danach wird er die Zulassung nur dann erhalten, wenn für ihn im Rahmen der Bedarfsplanung noch ein Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird Bedarf besteht. dieser Verantwortung gerecht werden. Wir wollen den politischen Erfolg des vereinbarten Gesetzent- Ich weiß, daß viele Zahnärzte, die ihre schwierige wurf s. Arbeit verantwortungsvoll erfüllen, über die scharf- Ich danke Ihnen. macherischen Reden und die verantwortungslosen Verhaltensweisen mancher ihrer Standesfunktionäre (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erbost sind. Dies müssen Zahnärzte in einem Gesund- der CDU/CSU und der F.D.P.) heitswesen mit Selbstverwaltungskörperschaften sel- ber regeln. Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile dem Den zahnärztlichen Funktionären ist zu raten: Keh- Herrn Abgeordneten Dieter Thomae das Wort. ren Sie zu einem sachbezogenen Diskussionsstil (Gerd Andres [SPD]: Der hat zwischendurch zurück und erfüllen Sie Ihre Pflichten! Hören Sie auf, immer so verbittert geguckt!) so zu reden, als beginne mit der Verabschiedung des Gesundheitsstrukturgesetzes für Sie der wirtschaftli- che Notstand! Keiner im Lande glaubt Ihnen diese für Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Präsident! Meine alle erkennbare Unwahrheit. Damen und Herren! Daß wir heute ein von der SPD mitgetragenes Reformkonzept beraten, ist angesichts (Beifall bei der SPD) der gegebenen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat Alle Fraktionen dieses Hauses mußten aus jenem ein Gebot der politischen Vernunft. Es dient aber auch Kreis anmaßende Diskussionsbeiträge über sich erge- der Sache. Sache ist, daß die Ausgaben in der gesetz- hen lassen. Ich möchte klarstellen, daß niemand lichen Krankenversicherung steigen. Wir haben das davon ausgehen darf, daß der Deutsche Bundestag höchste Niveau in der Geschichte erreicht. seine Gesetzesbeschlüsse der Kassenzahnärztlichen Wer Arbeit in Deutschland bezahlbar halten will, Bundesvereinigung oder dem Freien Verband Deut- darf die Sozialversicherungsbeiträge als Lohnneben- scher Zahnärzte vorher zur Genehmigung vorlegen kosten nicht davonlaufen lassen. wird. (Beifall bei der SPD) Aus der Verantwortung für Konjunktur und Wachs- tum, für Arbeitsplätze und für den Wirtschaftsstandort In den zurückliegenden Wochen sind seit Ablauf Deutschland können und dürfen wir die angestrebten der Konsensgespräche zwischen SPD, CDU/CSU und Einsparungen von 11 Milliarden DM nicht den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9925

Dr. Dieter Thomae Unwägbarkeiten eines parlamentarischen Vermitt- der Patient eine hundertprozentige Selbstbeteiligung lungsverfahrens überlassen. leisten muß. Aber ich habe die Wünsche und die Forderungen der SPD akzeptieren müssen. Deshalb haben wir Liberalen den Konsens über die Koalitionsgrenzen hinweg gesucht. Dabei waren wir Die F.D.P. fordert seit Jahren eine Selbstbeteiligung uns natürlich darüber im klaren, daß wir unsere bei allen Arzneimitteln in allen Bereichen. Ich denke, Idealvorstellungen nicht in vielen Punkten durchset- dies ist von allen akzeptiert worden. Wir gehen im- zen können. Die besondere Notsituation verlangt die mer noch davon aus, daß diese Selbstbeteiligung Zustimmung zu den ordnungspolitisch problemati- steuernde Wirkungen hat, schen Teilen des Gesetzentwurfes. Gesetzlicher Preis- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne stopp und gesetzliche Preissenkungen sind keine ten der CDU/CSU) marktwirtschaftlichen Instrumente, ebenso nicht die Budgetierung. Deshalb haben wir darauf gedrängt, aber auch ein Finanzierungsinstrument ist. Auch dies daß solche Maßnahmen zeitlich befristet sind. will ich objektiv bekennen. Die Preissenkung bei Arzneimitteln gilt nur für 1993 Das Arzneimittelinstitut wird arbeiten und 1996 und 1994. Die Senkung zahnärztlicher und zahntech- unter Ausgrenzungen eine Liste vorlegen. Hier muß nischer Preise findet einmalig im Jahr 1993 statt. Es ich offen und fair auch der Pharmaindustrie sagen, gibt keine gesetzliche Festschreibung auf dem daß sie sich nach 1996 auf die Entwicklung einzustel- gesenkten Niveau. Eine Verlängerung des Interven- len hat, daß manches Präparat von den Kassen nicht tionismus über 1995 hinaus darf es nicht geben. mehr ersetzt werden muß. Wir wählen das kleinere Übel, um eine große Sache Wir müssen der Pharmaindustrie vernünftige Mög- zu retten. Wir sanieren das Ganze, bevor es unfinan- lichkeiten einräumen, um zu forschen und zu techni- zierbar wird und am Ende die Staatsversorgung steht. schen Innovationen zu gelangen. Auch das ist eine Die Opfer und finanziellen Einbußen aller Beteiligten wichtige Aufgabe, die wir hier auf der politischen sind nur deshalb akzeptabel, weil wir damit erreichen, Ebene zu erfüllen haben. daß das freiheitliche Gesundheitswesen auch in Noch einige kurze Bemerkungen. Naturheilmittel Zukunft gesichert werden kann. — das wurde schon von meinem Vorredner gesagt — Es ist keine Frage: Der Konsens hat für alle Betei- werden nicht betroffen. Sie behalten ihren besonde- ligten seinen Preis. Wir alle mußten über hohe politi- ren Status. sche Hürden springen. Aber wir haben nicht nur Leistungen gekürzt. Wir haben Leistungen auch erweitert, wo es sinnvoll ist, Wir begrüßen es, daß die SPD bereit ist, über etwa in der Prophylaxe. Um Zähne zu erhalten, wird Zuzahlungen und Leistungsbegrenzungen nachzu- die Prophylaxe verstärkt. Hierfür haben wir 170 Mil- denken und sie zu akzeptieren. lionen DM eingesetzt. Ich denke, das ist der richtige (Beifall bei der F.D.P.) Weg. Wir müssen auf der anderen Seite noch einmal darüber nachdenken, ob die Prävention den Stellen- Wir mußten das Thema der degressiven Punktbe- wert hat, den wir ihr in diesem Bereich einräumen wertung aufnehmen und in dieses Gesetz einarbei- wollen. Ich nenne Stichworte wie Krebsvorsorge und ten. Kindervorsorge. Wir hätten beim Risikostrukturausgleich sicher Bedarfsplanung ist für die F.D.P. einer der schwie- gern auf weitere Daten gewartet, um eine fundierte rigsten Themenbereiche, die wir zu verkraften haben. Grundlage zu erhalten. Ich sage dir, : Ich bitte, sicherzustellen, daß die Zulassungschancen Wenn die Daten im Jahre 2000 nicht ordnungsgemäß beim Vorliegen gleicher Qualifikation objektiv für alle sind, werden wir uns wiedersehen. Ich verlasse mich durchschaubar sind. Dies müssen wir gegenüber allen auf deine Aussagen. Der Risikostrukturausgleich ist Bewerbern verantworten. Daher bitte ich, hier objek- auch eine Chance für Wahlfreiheit und mehr Wettbe- tive Kriterien zu entwickeln. Darauf können wir nicht werb. Dies müssen wir allseits sehen, und dies wollen verzichten. wir auch. (Beifall bei der F.D.P.) Ambulantes Operieren wurde erwähnt. Das ist ein großes Strukturelement. Hier haben wir es geschafft, - Die Krankenkassen bleiben für ihre Aufgaben in im Krankenhaus den ambulanten Bereich zu ermögli- der eigenen Verantwortung. Wer unwirtschaftlich chen. arbeitet, muß höhere Beiträge berechnen mit der Gefahr, daß er aus dem Markt ausscheidet. In der letzten Gesundheitsreform haben wir von einem Herzstück gesprochen. Das Herzstück der Ich bin sehr glücklich darüber, daß wir alle, die den F.D.P. ist das Krankenhaus. Wir sind froh, daß wir vom Mut hatten, Wettbewerb und Wahlfreiheit einzufüh- Selbstkostendeckungsprinzip definitiv weggehen. ren, es geschafft haben, die sogenannte Vertragsfrei- Wir wollen zu den leistungsgerechten Entgelten heit für die Kassen zu etablieren. Auch das gehört zum gelangen. Wettbewerb eines freiheitlichen Systems. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Einsatz privaten (Beifall bei der F.D.P.) Kapitals im Krankenhaus. Auch hier sind neue Chan- Sie alle wissen, und ich möchte es noch einmal cen geschaffen worden. betonen: Die F.D.P. plädierte für die Regelleistungen Kostenerstattung ist ein heiliges Thema für die und Wahlleistungen. Auch diese mußten wir opfern. F.D.P. Die SPD hat dies erkannt. Die Kostenerstattung Es war für mich zwar etwas unverständlich, weil jetzt werden wir für alle freiwillig Versicherten bekommen 9926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Dieter Thomae — das ist ein wichtiger Bereich —, und wir werden die hung der Beitragsbemessungsgrenze, aber auch Kostenerstattung im Bereich des Zahnersatzes im durch die Bereitstellung von Fördermitteln des Bun- Grundsatz erhalten. des. Nur wenn das geschieht, können ein dauerhafter Es wird in den nächsten Monaten für Krankenkas- Fortschritt und eine solidarische Lastenverteilung sen und für Leistungserbringer sicher keine einfache erreicht werden. Zeit kommen. Wir können politisch aber nur dann Regierung und SPD wagen diesen entscheidenden Erfolg haben, wenn alle Beteiligten und wenn die Schritt nicht. So bleiben die strukturpolitischen Fort- Selbstverwaltung hier mit uns arbeiten und die Mög- schritte des vorliegenden Reformvorschlags rudimen- lichkeiten zu mehr Wettbewerb und Wahlfreiheit tär. Wieder glaubt man, auf das Instrument der Erhö- nutzen. hung der Selbstbeteiligung nicht verzichten zu kön- (Beifall bei der F.D.P.) nen, und das, obwohl die angebliche Jahrhundertre- Aber eines sollten wir nicht verheimlichen. Nach form von 1989, deren Kernstück ja das Prinzip der 1995 wird ein weiterer Reformbedarf vorhanden sein. Zuzahlung war, nur eine kurzfristige Entlastungswir- Denn wir wollen wirklich Günther Mittag endgültig kung zur Folge gehabt hat, die jetzt bereits verbraucht ablegen und wir wollen Ludwig Erhard ab 1995 ist. Mit diesem Instrument ist in der Vergangenheit die stärker ins Geschäft bringen. Gelingen kann das nur Beitragsstabilität nicht erreicht worden. Es bleibt das mit mehr Eigenverantwortung, mit mehr Selbstbetei- Geheimnis der Urheber und Urheberinnen des vorlie- ligung oder Ausgrenzung und auf jeden Fall mit mehr genden Kompromisses, wieso das in Zukunft der Fall Freiräumen für die Leistungserbringer. sein soll. Ich bedanke mich bei allen. Ich bedanke mich Aber es kommt auch noch schlimmer. Bei den jetzt besonders bei der CDU/CSU, bei der SPD, bei meinen festgelegten Zuzahlungen inklusive Dynamisierung Kollegen und den Mitarbeitern im Ministerium. wird es nicht bleiben. Der Gesundheitsminister hat Vielen Dank. jetzt schon, also noch während der Diskussion des (Beifall bei der F.D.P. und Abgeordneten der aktuellen Entwurfs, selbstbewußt von der Notwendig- CDU/CSU — Gerd Andres [SPD]: Ein findi keit weiterer Leistungsausgrenzungen in den kom- ger Bursche! Der will den Ludwig Erhard menden Legislaturperioden gesprochen. ausgraben und wieder ins Geschäft brin Viele Bürgerinnen und Bürger reagieren mit großer gen!) Sorge, ja sogar mit Angst auf diese aktuellen Spar- pläne. Die vielen Briefe, die ich in diesem Zusammen- hang von chronisch Kranken, aber auch von älteren Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile der Frau Menschen erhalten habe, sprechen hier eine beredte Abgeordneten Christina Schenk das Wort. Sprache. Es hat für viele Bürgerinnen und Bürger den Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anschein, als habe die staatliche Gesundheitspolitik Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der jetzt über der Ökonomie den Menschen aus den Augen vorgelegte Kompromiß zur Gesundheitskostenstruk- verloren. Dies ist nicht nur für die Menschen in den turreform stellt, verglichen mit der Reform von 1989, östlichen Bundesländern schwer zu verkraften. Es einen Schritt in die richtige Richtung dar. So sind z. B. mag vielleicht zynisch klingen; ich sage es aber die geplante Abschaffung des Einzelleistungsvergü- dennoch: Vielleicht hilft es auch, Illusionen über die tungssystems oder die Krankenkassenreform als echte sogenannte Soziale Marktwirtschaft abzubauen. Fortschritte zu werten. Wir begrüßen auch die Rück- nahme bestimmter Elemente des ursprünglichen Der ausschließlich ökonomistische Blickwinkel, Regierungsentwurfs, z. B. der unbefristeten dynami- der jetzt von der Regierung gemeinsam mit der SPD in sierten Zuzahlung im Krankenhaus oder der Unter- das Gesundheitswesen eingeführt wird, wird nach scheidung zwischen Regel- und Wahlleistungen beim Auffassung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zahnersatz. gesundheitspolitisch geradezu widersinnige und auch Trotz dieser aus unserer Sicht unbes treitbaren Fort- kontraproduktive Folgen haben. schritte handelt es sich nicht um das tiefgreifende (Widerspruch des Abg. Dr. Dieter Thomae Reformwerk, von dem die in dieser Sache geprägte- [F.D.P.]) große Koalition so vollmundig gesprochen hat. Eine Reihe von grundsätzlichen Problemen wird nicht in Ich will das am Beispiel der geplanten Abschaffung Angriff genommen, und an einigen Stellen werden des Selbstkostendeckungsprinzips im Krankenhaus sogar neue geschaffen. und am Beispiel der Zuzahlungen verdeutlichen. Auch durch die längst überfällige und nun endlich Zunächst zur Krankenhausfinanzierung. Ich in Angriff genommene Kassenreform wird das grund- möchte da vorausschicken, daß die vielfältigen Son- sätzliche Einnahmenproblem, das die Krankenkassen derentgelte und Fallpauschalen, die mittelfristig an mit allen anderen beitragsbezogenen sozialen Siche- die Stelle des bisherigen tagesgleichen Pflegesatzes rungssystemen gemeinsam haben, nicht gelöst. treten sollen, noch nicht umfassend vorliegen. Es ist Die Massenarbeitslosigkeit und die daher prozen- also zu befürchten, daß viele Krankenhäuser in ein tual sinkende Lohnquote führen zwangsläufig zu Chaos gestürzt werden, da ihnen die bisherigen Einnahmenverlusten. Eine Einnahmenerhöhung ist Abrechnungsgrundlagen entzogen werden, ohne daß aus unserer Sicht daher unumgänglich, z. B. durch zeitgleich neue Berechnungsverfahren etabliert wor- Ausweitung der Versicherungspflicht, durch Erhö den sind. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9927

Christina Schenk Nun zum Grundsätzlichen: Wir halten den langfri- Hier zeichnen sich in einem besonders sensiblen stig geplanten weiteren Rückzug der öffentlichen Bereich die geradezu absurden Konsequenzen des Hand aus der Investitionsfinanzierung, also den Weg von der Bundesregierung und der SPD forcierten der monistischen Krankenhausfinanzierung, für ge- Primats der Ökonomie im Gesundheitswesen ab. Statt sundheitspolitisch äußerst riskant. Viele ostdeutsche das finanzielle Engagement des Bundes zu erhöhen Krankenhäuser werden dies nicht überstehen, wenn und alle Möglichkeiten der Einnahmensteigerung nicht entscheidend geholfen wird. Allein der investive auszuschöpfen und eine bedarfsgerechte Versorgung Nachholbedarf wird dort auf insgesamt ungefähr der Bevölkerung auch unter erschwerten äußeren 34 Milliarden DM beziffert. Bedingungen zu garantieren, setzt die Regierung allein auf die Wirkung des marktwirtschaftlichen Zwar sollen gesonderte Mittel für die ostdeutschen Wettbewerbs. Es muß an dieser Stelle deutlich gesagt Kliniken bereitgestellt werden, jedoch lassen weder werden, daß sich die Bundesregierung seit Jahren die geplante Verteilung der Mittelaufbringung noch systematisch aus der finanziellen Verantwortung für der vorgesehene Umfang des Programms auf wirk- die sozialen Sicherungssysteme herauszieht. same Abhilfe hoffen. Es ist so unendlich trivial, aber es muß offensichtlich Bis jetzt hat weder die Regierungskoalition noch die immer wieder gesagt werden: Das Gesundheitswesen SPD überzeugend nachweisen können, inwiefern ist kein Wirtschaftsbereich im herkömmlichen Sinne. durch die monistische Finanzierung der Krankenhäu- Das Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnis zwi- ser die Krankenkassenbeiträge stabilisiert werden schen den Hilfesuchenden und den Ärztinnen und können. Wir befürchten nicht nur, daß sich die erheb- Ärzten ist mit dem Wechselspiel von Angebot und lichen Instandhaltungskosten, die ab 1994 auch den Nachfrage nicht in humaner, also sinnstiftender Weise ostdeutschen Krankenkassen aufgebürdet werden, zusammenzubringen. Die Inanspruchnahme ärztli- dort einen beitragssteigernden Effekt auslösen wer- cher Hilfe ist keine beliebige und stets rationale Kon- den, sondern auch, daß es zu einer weiteren Ver- sumentscheidung. schlechterung der Arbeitsbedingungen des medizini- schen Personals in den Krankenhäusern kommt. Noch ein Wort zu den Zuzahlungen: Wir sind der Schon heute sind diese in der Regel unzumutbar. Das Auffassung, daß u. a. die Härtefall- und Überforde- liegt zum einen an den rigiden Hierarchien in den rungsgrenzen am verfügbaren Nettoeinkommen Krankenhäusern, zum anderen an der personellen orientiert werden müssen. Nur auf diese Weise kann Unterbesetzung. Überstunden werden zur Regel; 30- die erhebliche Disparität zwischen der Entwicklung oder gar 40-Stunden-Dienste sind weit verbreitet. der Lebenshaltungskosten und der Einkommensent- Werden die bisherigen auf einer betriebswirtschaft- wicklung ausgeglichen werden. Das gilt insbesondere lichen Betrachtungsweise beruhenden Zielvorgaben im Hinblick auf die erheblich steigenden Mieten, auf für die Honorierung ärztlicher Leistungen im Kran- die wachsende Zahl von Langzeitarbeitslosen und kenhaus realisiert, so befürchten wir, daß für Gesprä- schließlich auf die Rentnerinnen und Rentner. che und ärztlichen Beistand noch weniger Zeit als Der Vorschlag der SPD, die Zuzahlung bei Arznei- bisher erübrigt werden kann und daß zugleich die mitteln nach der Packungsgröße zu staffeln, ist aus Technisierung fortschreiten wird. Weitere Qualitäts- unserer Sicht ein Zeichen Ihrer offensichtlichen Ratlo- einbußen werden die zwangsläufige Folge sein. Das sigkeit. Hier werden nach wie vor die Belange der ist weder dem medizinischen Personal noch den chronisch kranken, multimorbiden oder behinderten Patienten und Patientinnen gegenüber verantwort- Menschen ignoriert. Ich fordere die Bundesregierung bar. und die SPD noch einmal nachdrücklich auf, ihre Das Ziel einer humaneren Krankenhausversorgung Vorschläge zu den Zuzahlungen zu überdenken und wird so aus unserer Sicht erheblich gefährdet, wenn es im Interesse einer besonders schwer betroffenen nicht überhaupt von dieser Regierung schon aufgege- Gruppe von Kranken zu revidieren. ben worden ist. Ich freue mich — auch das Positive muß einmal (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Na, na! Das ist genannt werden — über die geplante Einführung ein starkes Stück!) einer Vorschlagsliste für verschreibungsfähige Arz- neimittel. Auch hierbei handelt es sich um eine Auch die in den Pflegeberufen qualifiziert Tätigen wohlbekannte alte Forderung. Wir meinen allerdings, müssen künftig mit erheblichen Verschlechterungen daß bei Produkten aus den Vorschlagslisten im Sinne ihrer Arbeitsbedingungen rechnen. des eben Gesagten eine grundsätzliche Befreiung von (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das stimmt doch Zuzahlungen vorgenommen werden sollte. gar nicht! Es ist doch genau das Gegenteil der Die Ausdehnung der Zuzahlungen wegen angebli- Fall!) cher häuslicher Ersparnis auf die stationäre Vor- und Ca. 70 % der heute anfallenden Betriebskosten im Nachsorge ist aus unserer Sicht gesundheitspolitisch Krankenhaus sind Personalkosten. So wird sich unter irrational. Zum einen hat die Annahme, daß im dem Zwang zur rein ökonomisch begriffenen Renta- Normalfall eine häusliche Ersparnis eintritt, den Cha- bilität die Tendenz ausbilden, daß langfristig in rakter einer unbewiesenen Behauptung, und zum zunehmendem Maße minderqualifiziertes oder auch anderen ist zu bedenken, daß die geplanten Ein- unqualifiziertes Personal eingesetzt wird. Außerdem schränkungen dazu führen werden, daß diese Mög- wird es unserer Auffassung nach zu einer weiteren lichkeiten zur Erhaltung und Wiederherstellung der Verdichtung der Arbeitsabläufe und damit zu einer Gesundheit aus Sorge um die Kosten weniger als Erhöhung der Arbeitsbelastung kommen. bisher in Anspruch genommen werden könnten. Das 9928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Christina Schenk ist, meinen wir, gesundheitspolitisch kontraproduktiv müssen, weil sie der Versicherte selber tragen und unverantwortlich. kann, Wir lehnen die Politik der Reprivatisierung und Individualisierung der Gesundheitsvorsorge strikt ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die damit faktisch erfolgende Rücknahme des Soli- oder ob es weitere Wirtschaftlichkeitsreserven gibt, darprinzips ist grundsätzlich unannehmbar. Kurzfri- die ausgeschöpft werden müssen, oder ob man den stige Einspareffekte der öffentlichen Hand werden mit Leistungserbringern für ihre hochwertige Leistung der Gefährdung der Versorgung der Bevölkerung noch das gleiche Entgelt oder den gleichen Zuwachs bezahlt werden müssen. Das amerikanische Gesund- zugestehen kann, wie es in der Vergangenheit der Fall heitswesen, das, nebenbei gesagt, das teuerste der gewesen ist. Das sind keine populären Anmerkungen Welt ist, gibt hier ein warnendes Beispiel ab. — das gebe ich gerne zu —, aber um der Wahrheit (Dr. Walter Altherr [CDU/CSU]: Das ist ja willen notwendige Anmerkungen, weil die Belastung kein Vorbild!) der Versicherten mit Steuern und Beiträgen an der Durch diese kurzsichtige Politik ist die nächste Grenze der Belastbarkeit angekommen ist. Reform, wie wir meinen, schon programmiert. Ich Wir sind heute nicht mehr in der komfortablen Lage denke, wir werden hier an diesem Ort noch einmal unserer Vorgänger, die in den 60er und 70er Jahren darüber sprechen müssen. auf diese Herausforderungen mit der Anhebung des Notwendig sind vielmehr langfristig wirksame und Beitragssatzes antworten konnten. nicht an kurzfristigen Interessen orientierte struktur- politische Maßnahmen. Es fehlt an einer grundsätzli- Die deutsche Krankenversicherung ist auf Solidari- chen Neuorientierung zugunsten einer patientenzen- tät gegründet. Das bedeutet für mich, daß alle, also trierten sozial und ökologisch vertretbaren Gesund- auch die Leistungserbringer, in die Solidarität einbe- heitspolitik. zogen sind. Das heißt, in schwierigen Zeiten — und wir haben schwierige Zeiten — sind auch sie gefor- Ein letzter Satz: Dazu liegen viele zukunftswei- dert, notwendige Opfer mitzutragen. Sicher müssen sende Vorschläge vor. Wir haben hier heute einen die Opfer erforderlich, tragbar, rechtlich möglich und Antrag eingebracht, der die Grundlinien einer solchen auch sinnvoll sein. notwendigen Reform zeigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich glaube, das, was in diesem Gesetzesvorhaben und der Abg. Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke vorgesehen ist, trifft das, was ich soeben gesagt habe. Liste]) Wir müssen handeln, weil ohne unser Handeln die Betroffenen künftig nicht mehr all das bekommen können, was möglich und erforderlich ist. Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile unserem Mit diesem Gesetz gehen wir den zweiten und den Kollegen Bernhard Jagoda das Wort. dritten Schritt auf unserem Reformweg und passen unseren ersten Schritt, den wir im Jahre 1989 mit dem GRG getan haben, der Entwicklung an. Bernhard Jagoda (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In kaum (Rudolf Dreßler [SPD]: Na, na!) einem anderen Land dieser Welt wird den Menschen — Aber sicherlich. Ich hoffe, daß Sie das nicht leug- im Fall einer Krankheit so umfassend geholfen wie bei nen, denn wenn Sie in einen komfortablen Zug uns. Wir fragen nicht nach Einkommen, Geschlecht, einsteigen, dann müssen Sie auch die Ausstattung Alter, Staatsangehörigkeit und anderen Merkmalen. dieses Zuges und den bisherigen Fahrplan akzeptie- Im Fall der Bedrängnis durch Krankheit steht jedem ren. Versicherten alles zur Verfügung, was er zur Vorbeu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gung, Heilung, Linderung und Rehabilitation bei Krankheiten braucht. Aus Zeitgründen will ich nur an H and von drei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Punkten unser Handeln darstellen. Von den nieder- gelassenen Ärzten, die sich schon vor Verabschie- Dies haben wir in großem Maß unserem System der dung des GRG in Solidarität übten, indem sie ihre Krankenversicherung zu verdanken. Mit diesem Einkommenszuwächse freiwillig an die Entwicklung System haben wir es geschafft, den Versicherten den der Grundlohnsumme anpaßten und die zunehmende raschen medizinischen Fortschritt voll erschließen zu Zahl der niedergelassenen Kollegen mit einem sin- können. Diese Entwicklung ist keineswegs zum Still- kenden Punktwert mitgetragen haben, fordern wir im stand gekommen oder gar beendet. Wir wissen, daß kommenden Jahr, auf die Verordnungsbremse bei Wissenschaft, Technik und Medizin weitere neue Arzneimitteln in den Fällen zu treten, in denen auch Möglichkeiten bieten werden, um Krankheiten besie- durch die Verordnung von preisgünstigen Arzneimit- gen zu können. teln und von an die Krankheit angepaßten Arzneimit- Wenn wir das hohe Niveau für alle erhalten wollen telmengen eine medizinisch voll ausreichende Ver- und die neu hinzukommenden Möglichkeiten in Dia- sorgung sichergestellt werden kann. Jeder wird das gnose und Therapie allen Betroffenen zur Verfügung Arzneimittel bekommen, das er braucht. Wer den stellen wollen, dann müssen wir immer wieder prüfen, Patienten heute damit angst macht, daß sie nicht ob es Krankenversicherungsleistungen gibt, die nicht ausreichend versorgt würden oder daß im letzten mehr von der Solidargemeinschaft getragen werden Quartal 1993 keine Medikamente mehr verordnet Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9929

Bernhard Jagoda werden könnten, der treibt ein böses Spiel, meine sehr nen. Bei allem Respekt vor der Niederlassungsfreiheit verehrten Damen und Herren. der Apotheker müssen wir jedoch feststellen, daß wir zur Zeit eine Apothekendichte von 3 000 Einwohnern (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie pro Apotheke haben. bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Im We Wir wollen sparen, aber nicht geizen. Kein Kranker sten!) braucht Arzneimittel auf Vorrat, die dann eventuell im Sondermüll landen. Die KV kann keine Bestandsgarantie für alle geben, wenn sich der Schlüssel vielleicht auch noch verän- Die Krankenversicherung ist bedarfsorientiert. Der dert. Deswegen kann und darf die gesetzliche Kran- Versicherte bekommt das, was er medizinisch benö- kenversicherung nur das vergüten, was medizinisch tigt. Wenn die KV den notwendigen Bedarf sichern geboten ist. Wenn die Politik ein so enges Versor- muß, dann kann die Zahl der Leistungserbringer auch gungsnetz wünscht, dann muß sie gemeinsam mit den nicht uferlos sein, und zwar ganz besonders dann Apothekern prüfen, ob nicht ein anderes Vergütungs- nicht, wenn Leistungen veranlaßt werden, konkret system gerade die umsatzschwachen Apotheken stär- von dem niedergelassenen Arzt. Das ist nichts Neues. ken kann. Solch ein Instrument hatten wir beim GRG Die Rechtsgrundlage finden wir schon im Zweiten mit dem Fix-Zuschlag; es ist aber zerredet und uns aus Buch der Reichsversicherungsordnung; diese Bestim- der Hand geschlagen worden. mung ist in das Sozialgesetzbuch übernommen wor- Ich komme zum den. Risikostrukturausgleich. Wir hal- ten am gegliederten System fest. Einem gegliederten Als Beweis führe ich den Rechtsstreit vor dem System ist der Wettbewerb nicht fremd, ja, er braucht Bundesverfassungsgericht 1960 an . Damals hat Karls- ihn sogar als eine Triebfeder für erfolgreiches Han- ruhe die Grenzen des Bedarfs neu beschrieben. In der deln. Die Bedingungen für diesen Wettbewerb müs- aktuellen Diskussion kommt meines Erachtens zu sen ausgewogen sein. Wir glauben, mit der Einfüh- wenig zum Tragen, daß das Bundesverfassungsge- rung des Risikostrukturausgleichs ausgewogene richt in seiner damaligen Entscheidung deutlich Wettbewerbsbedingungen geschaffen zu haben. Wir gemacht hat, daß die seinerzeit nicht zugelassenen verlassen den Ausgabenausgleich und wenden uns Ärzte zuzulassen seien, weil erstens bei der Zulassung der Einnahmeseite zu. Die Parameter Grundlohn aller Ärzte als Kassenärzte die Zahl der niedergelas- summe, Geschlecht, Alter, mitversicherte Familienan- senen Ärzte nur um 12 % steigen würde, zweitens die gehörige werden in den Ausgleich einbezogen und volle Niederlassungsfreiheit keine Gefährdung der führen zu einer Gleichheit. Beitragsstabilität beinhalten würde und drittens die Ich bin sehr dankbar für die Deutlichkeit, in der Herr Niederlassungsfreiheit keine Existenzgefährdung der Kollege Dreßler dies hier noch einmal beschrieben vorhandenen Kassenärzte bewirken würde. hat. Ich möchte ihm darin zustimmen — ich darf das (Rudolf Dreßler [SPD]: Richtig!) noch einmal unterstreichen —, daß es nicht wün- schenswert ist, daß in einiger Zeit eine neue Diskus- All diese Entscheidungsgründe tragen aus heutiger sion darüber aufflammt, daß neue Parameter wie Sicht nicht mehr. Wir hatten damals einen Beitrags- Krankengeld oder EU- oder BU-Renten mit einbezo- satz von 6,4 %. In der Zwischenzeit ist die Zahl der gen werden sollten. Wir haben unseren Beitrag dazu Ärzte um 70 % gestiegen, um nur zwei Daten zu geleistet, daß das gegliederte System erhalten wird. nennen. In der Zukunft ist bei Zulassung aller ausge- Ich unterstreiche: Das ist das Ende der Fahnenstange, bildeten Ärzte die Beitragsstabilität gefährdet. Die im Herr Kollege Dreßler. Ich möchte Sie übrigens bitten, System handelnden Ärzte würden einer Existenzge- doch wieder zu alten Gepflogenheiten zurückzukeh- fährdung ausgesetzt. Die Zahl der Kassenärzte würde ren, denn auf Grund der staatsmännischen Art und wesentlich steigen, so daß es dringend geboten ist zu Weise, in der Sie sich hier heute morgen verhalten handeln. Deswegen handeln wir. haben, habe ich Sorge, daß Sie in der Bevölkerung Ich gebe zu: Das ist ein harter Einschnitt, der aber sehr gewinnen werden. Ich habe Sie lieber anders, verfassungsrechtlich tragbar ist. Wir wollen keinen denn das stärkt die Koalition. Schutzzaun für Etablierte, keinen Closed Shop, kei- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und nen Ausschluß von Berufszugängern. Wir wollen - der F.D.P. — Gerd Andres [SPD]: Deswegen vielmehr ein gewogenes Verhältnis zwischen Versi- spielen Sie jetzt den Wadenbeißer, oder cherten und Leistungserbringern. Wir glauben, nach was?) reiflicher Diskussion einen verfassungsfesten Weg — Passen Sie nur auf, daß Sie Ihre Wade nachher noch gefunden zu haben und mit der Festsetzung des haben, Herr Kollege. 68. Lebensjahres und einer Kassenarzttätigkeit von 20 Jahren gleichzeitig auch den besonderen Belangen (Gerd Andres [SPD]: Ja, eben!) der neuen Länder Rechnung getragen zu haben. Jede Kassenart bleibt für sich. Wir bleiben in diesem Zur Zeit schlägt uns von den Apothekern und ihren Bereich also beim gegliederten System. Berufsvertretern barsche Kritik entgegen. Sie sagen, Lassen Sie mich noch einen Gedanken anfügen: das geforderte Opfer sei unannehmbar und führe bei Auch dieses Gesetz wird nur dann zum Erfolg führen, jeder vierten Apotheke zum Ruin. Ich bestreite über- wenn wir es erreichen, daß die H andelnden draußen haupt nicht, daß das Arzneimittelbudget, der Preisab- im Lande — die Leistungserbringer, die Versicherten, schlag, die Zuzahlung zu Arzneimitteln nach Pak- die Krankenkassen — dieses Gesetz bejahen. Wenn kungsgrößen, die Einführung einer Liste zu verord- sie es sich nicht zu eigen machen, wenn sie es nicht nender Arzneimittel zu Umsatzeinbußen führen kön akzeptieren, dann muß der Deutsche Bundestag in 9930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Bernhard Jagoda absehbarer Zeit neue gesetzliche Maßnahmen Ganz offensichtlich soll dieser mühsam erworbene beschließen. Das wäre nicht zu begrüßen. Ich möchte Konsens der Parteien nicht im geringsten angetastet an alle den Appell richten, hier mit anzupacken. werden. Aber warum dann noch dieser Aufwand einer Wir stehen vor arbeitsreichen Wochen. Wir wollen öffentlichen Anhörung? Und das morgen! Oder sollte das Reformziel am 1. Januar 1993 erreichen. Wir die Schlußfolgerung zulässig sein, daß der neue Ent- müssen auch pünktlich im Ziel sein, weil wir nur so wurf eben doch nicht so viel Neues bringt? Möglicher- den Erfolg garantieren können, und wir brauchen den weise hätten es dann auch Änderungsanträge Erfolg, um zugunsten der Kranken ein hohes Niveau getan. optimaler Versorgung dauerhaft sichern und das KV- System stabilisieren zu können. Deswegen gibt es bei Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Fischer, diesem Reformwerk einen Sieger: die Patienten, die gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen ab- 1. Januar 1993 und in der weiteren Zukunft Dr. Thomae? — Bitte schön. umfangreiche Leistungen zu vernünftigen Bedingun- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nein, keine gen garantiert bekommen. Zwischenfrage! Ich möchte anschließend (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine Kurzintervention machen!) Daher ist Handeln gefragt. Wir handeln mutig und — Dann fahren Sie bitte fort, Frau Dr. Fischer. gemeinsam in schwieriger Zeit. Ich wünsche uns dabei viel Glück. Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ganz so ist es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. nicht. Eine wirkliche Strukturreform ist es allerdings sowie bei Abgeordneten der SPD) auch immer noch nicht, weder in die eine noch in die andere Richtung. Hier wird nach wie vor der Arzt, stellvertretend für viele andere, bekämpft und nicht, Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt der wie ein Sprichwort empfiehlt, die Pest. Abgeordneten Frau Dr. Ursula Fischer das Wort. Meine Damen und Herren, das Paragraphen- deutsch war ursprünglich wenigstens in zwei große Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Sachgebiete unterteilt, faktisch die Reform der dent! Meine Damen und Herren! Als Mitglied des Reform. Ich erinnere an die unendliche Geschichte in Deutschen Bundestages habe ich auf Umwegen und der Drucksache 12/3209 und die Zuzahlungen in der nach mehreren Nachfragen den neuen Entwurf eines Drucksache 12/3210. Jetzt müssen — der überwie- Gesundheits-Strukturgesetzes vorgestern — am gende Teil wird ja im SGB V geregelt —, da alles Dienstag — erhalten. numerisch hintereinander aufgeführt ist, nach Art eines Puzzlespiels die Zuzahlungsregelungen zusam- [SPD]: Früher als wir!) (Klaus Kirschner mengesetzt werden. Informationen über die Medien hinaus, um mich mit Die Hektik, die bei diesem wichtigen Gesetzent- Fragestellungen auseinandersetzen zu können, sind wurf entfaltet wird, ist mir völlig unverständlich. Da für mich kaum zugänglich. Das sind nicht nur Diskri- vor allem so sensible Bereiche wie Gesundheit und minierungen einer Abgeordneten; gleichzeitig sind es Krankheit, die ja immer mit Einzelschicksalen verbun- Diskriminierungen von Wählerinnen und Wählern, den sind, berührt werden, müßte es doch wenigstens die ihre Betroffenheit durch das Gesundheits-Struk- möglich sein, die ganze Sache in Ruhe parlamenta- turgesetz ab Januar spüren werden. risch umzusetzen. Eine Anhörung soll nun gar nur sieben Stunden Ich denke, es wird vielen meiner ostdeutschen umfassen, und zwar morgen. Wie selbstverständlich Kollegen genauso gehen, daß Sie nach der Überstül- sollen nur geänderte Fragestellungen besprochen pung eines gegliederten, reformbedürftigen Kassen- werden. systems schwer hinreichend die Schritte der neuen (Zuruf von der CDU/CSU: Das andere haben Gesundheitsreform bewerten können, ganz zu wir doch gefragt!) schweigen vom Kenntnisstand der Öffentlichkeit in Die PDS/Linke Liste meint: Das reicht nicht. Die den neuen Bundesländern. Gesamtheit der Regelungen muß doch erneut zur In der Öffentlichkeit wird auf einem relativ kleinen Disposition gestellt werden können, z. B. die Gesamt- Bereich pausenlos herumgehackt, während andere problematik um die Apotheken, ganz zu schweigen Bereiche wie z. B. der medizinisch-industrielle Kom- von Vorschlägen zur Abschaffung oder Halbierung plex fast völlig ausgeklammert werden. Oder eine der Mehrwertsteuer für Arzneimittel. bestimmte Arztgruppe ist ständig im Gespräch. Unser Antrag, nach Vorlage des Konsenspapiers Dadurch wird zumindest auch das Vertrauensverhält- wenigstens einen Tag ausschließlich der Problematik nis des Patienten zu seinen Ärztinnen und Ärzten der neuen Bundesländer zu widmen, wurde in der beeinträchtigt, im übrigen auch ein wichtiger Kosten- Besprechung der Obleute im Gesundheitsausschuß faktor. wie üblich abgelehnt. Statt „Gesundheits-Strukturgesetz" sollte besser Das ist übrigens kein Zeitproblem. Selbst der Vor- „Gesundheits-" oder „Krankheitsfinanzierungsge- schlag, wenigstens 40 Minuten der besonderen Situa- setz" gebraucht werden. Denn überwiegend wird ja tion freigemeinnütziger Träger konfessioneller Kran- unbestritten mit der Krankheit verdient. kenhäuser zu widmen, fiel einer Art Strangulierung Aus Zeitgründen muß ich mich auf die Zuzahlungen oder Selbstbeschränkung des Ausschusses zum konzentrieren, die ja Patienten und Versicherte Opfer. bekannterweise auch am meisten interessieren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9931

Dr. Ursula Fischer Eine Veränderung, die ins Auge fällt, wird im Sozialhilfeempfängers für eine Legende oder für ein Krankenhausbereich sichtbar. Dort werden 70 Millio- Märchen für Erwachsene und Kinder, im Ergebnis nur nen weniger durch Neuregelung eingespart. Durch nicht so schön. Änderung des VI. Sozialgesetzbuches, § 32, werden Wir schlagen deshalb auch vor, Patientinnen und nun aber auch Rehabilitanten in die Zuzahlung im Patienten mit umschriebenen Krankheitsbildern oder Krankenhaus einbezogen. Beeinträchtigungen der Gesundheit in Sonderrege- Meine Damen und Herren, das muß deutlich disku- lungen zu erfassen. Zumindest sie sollten alle Medi- tiert werden. Die Zuzahlung allgemein für Medika- kamente kostenlos erhalten. mente betrug vor Lahnstein 10 %, jetzt bis 30 DM Ich fordere den Gesundheitsausschuß auf, über 3 DM, von 30 bis 50 DM 5 DM. In der Regel wird dann einen Katalog nachzudenken, der Patienten mit mehr bezahlt als 10 %. Eine Verbesserung bedeutet bestimmten Erkrankungen, vor allem chronischen diese Praxis erst ab 70 DM. Erkrankungen, von allen Zuzahlungen freistellt. Der Forderung, die Befreiungsgrenze West auch für den Osten gelten zu lassen, also eine Vereinheitli- (Zuruf von der CDU/CSU: Härtefallregelung, chung auf 1 400 DM festzulegen, schließen wir uns an, Frau Kollegin!) denn es müssen die Westpreise gezahlt werden. Hier Das ist machbar, und Ärztinnen und Ärzte arbeiten gibt es wohl Änderungsbedarf. gern interessiert für ihre Patienten mit. Meine Damen und Herren, der Streitpunkt im Weitere Zuzahlungen, meine Damen und Herren, zahnärztlichen Bereich — Zahnersatz — um Wahl- betreffen Menschen, die zwar bisher ganz gut ver- und Regelleistungen fällt mit dem neuen Gesetz weg. dient haben, aber trotzdem die Solidaritätsgemein- Verfassungsrechtlich war das offensichtlich doch schaft der gesetzlichen Krankenversicherung stärk- bedenklich, oder es gibt andere Gründe. ten. Diese freiwillige Solidarität wird nun im Alter (Klaus Kirschner [SPD]: Politische!) aufgekündigt. Allerdings ist aus meiner Sicht zu bezweifeln, ob das Unter der Überschrift „Kleine Zugeständnisse für Vorteile für den Patienten bringt oder ob hier die Rentner" wird folgendes verkauft: Im ersten Entwurf Sozialdemokraten liberaler als die Liberalen waren. war diese Regelung überhaupt nicht vorgesehen. In Lahnstein wartete man dann mit 700 Millionen plus (Klaus Kirschner [SPD]: Das ist ja wirklich auf, und jetzt sind es nur noch 350 Millionen für diesen unglaublich! Sie müssen es schon einmal Kreis. Das ist doch wirklich ein Grund zur Freude. In nachlesen, Frau Kollegin!) diesem Fall muß ich mich doch einmal für gut verdie- Im übrigen wird hier ein Ist-Zustand — die gängige nende Versicherte einsetzen. Kassenpraxis — jetzt gesetzlich festgeschrieben. Meine Damen und Herren, die Problematik, die Nur ein Beispiel: Einer 21jährigen Mitarbeiterin Einnahmen der Kassen zu verbessern, wird auffälli- mußten ohne eigenes Verschulden 12 Zähne gezogen gerweise — in der Anhörung im September gab es werden. Der Zahnarzt empfiehlt — medizinisch dazu sehr viele Vorschläge, z. B. die Erhöhung der gerechtfertigt — Implantate. Die Kasse versagt die Beitragsbemessungsgrenze — Bezahlung. Die junge Frau wird zeitlebens ein Gebiß tragen müssen, oder sie nimmt einen Kredit auf, den (Zuruf von der CDU/CSU: Wissen Sie, was sie als Ostdeutsche wahrscheinlich gar nicht das bewirken würde?) bekommt. gar nicht angesprochen. Und das hat ja auch Gründe. (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) Hier schlägt sich die Meinung des Ministers, wir hätten nicht zu wenig Einnahmen, sondern zu viele Schwieriger machen es die neuen Regelungen aber Ausgaben, nieder. gerade in diesem Bereich, eine Zwei- und Dreiklas- senmedizin am Gebiß zu erkennen, denn neuerdings Der Staat hat also vor, sich ersatzlos aus vielen wird die Vorderfront besser berücksichtigt. Ob das Bereichen besonders der Grundversorgung und der allerdings ein Trost ist? Denn kosmetische Verbesse- Prävention zurückzuziehen. Es geht im Grunde rungen sind nicht immer gleichzusetzen mit Funk- genommen auch nicht um wirkliche Verbesserungen, tionsgerechtigkeit. Jedenfalls steht auch das zu Aus- sondern um ersatzlose Streichung in Form von Kosten- sagen des Ministers im Widerspruch, die besagen, daß verlagerung in Privathaushalte. im Bedarfsfall ein Millionär genauso wie ein Sozialhil- Ich mußte mich aus Zeitgründen auf den Bereich der feempfänger — oder besser umgekehrt — betreut Zuzahlungen beschränken. Wir lehnen diese grund- werden muß. sätzlich ab, zumal sie in ihrer steuernden Wirkung (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) sehr umstritten sind. Möglicherweise — warten Sie es ab, Herr Mi- Eine Bemerkung sei mir noch gestattet: Liebe Kol- nister, — stimmt das noch bei Untersuchungen mit CT, leginnen und Kollegen, meinen Sie wirklich, wir im Einzelfall auch für Transplantationen. Schon kurz könnten morgen in den 7 Stunden Anhörung solche nach einer Transplantation werden allerdings die wichtigen Fragen oder Befürchtungen ausräumen: Patienten zur Kasse gebeten, denn sie gehören dann Risikostrukturausgleich, halbverstanden ordnungs- zu dem Kreis von Menschen, der ein Leben lang teure politisch mißbraucht? Können wir das wirklich? Medikamente braucht. Dem Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Im übrigen, Herr Minister, halte ich die Geschichte könnten wir in seinen Grundzügen zwar zustimmen, von der Gleichbehandlung des Millionärs und des wir wissen aber um dessen Durchsetzungsfähigkeit in 9932 Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Ursula Fischer diesem Umfeld und werden uns mit sehr vielen Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt dem Änderungsanträgen in die Diskussion einschalten. Herrn Bundesminister für Gesundheit, Horst Seeho- Ich bin sehr gespannt, wie die morgige Anhörung fer, das Wort. und die weiteren Beratungen ablaufen. Sie werden Aufschluß geben müssen über die Ernsthaftigkeit der Reform. Und für mich ist eine Art „Ostpapier" — selbst nach dem, was ich gelesen habe — selbstverständlich Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: auch nicht vom Tisch. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Herren! Ein Positives der wochen- und monatelangen Diskussion über die Gesundheitsreform ist, daß es in (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Deutschland jetzt eine breite Diskussion über medizi- nische Versorgung und über Gesundheitspolitik Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt dem schlechthin gibt. Gut dabei ist, daß sich auch die Kollegen Dr. Thomae das Wort zu einer Zwischenbe- Bevölkerung sehr breit daran beteiligt. Ich bekomme merkung gemäß § 27 unserer Geschäftsordnung. täglich nicht nur viele Anrufe, sondern auch eine Flut von Briefen, nicht nur rote Karten oder Plakate — die Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Präsident! Meine geben wir weiter an Kindergärten zum Bemalen — , sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau sondern auch viele gute Vorschläge. Dr. Fischer, als Ausschußvorsitzender möchte ich Ich möchte meinen Debattenbeitrag mit einem B rief Ihnen noch einmal sehr deutlich sagen: Wir haben im einer Frau aus Bamberg beginnen, die mir neben Obleutegespräch festgelegt, daß morgen eine Anhö- einem schönen Paket mit Spritzen folgende Mittei- rung mit dieser Stundenzahl stattfindet und daß wir lung geschickt hat: fernerhin sechs Tage haben, urn im Ausschuß über dieses Projekt zu beraten. Von meinem Arzt bekam ich ein Rezept über 100 Fertigspritzen Calciparin für 528,96 Mark Es war sicher, daß wir in der neuen nur Anhörung ausgestellt. Nach vierzigmal Spritzen war klar, die Punkte ansprechen, die im Gesetz neu sind und die daß ich dieses Präparat nicht vertrage. Übrig- in der ersten Anhörung nicht angesprochen wurden. geblieben waren also 60 Fertigspritzen für — ich Das war einhellige Meinung, und danach habe ich hoffe, mein Taschenrechner macht mir keine mich gerichtet. Schande — 317,38 Mark. Klar, ein Klacks im (Widerspruch der Abg. Dr. Ursula Fischer Vergleich zu den Summen, die Sie einsparen [PDS/Linke Liste]) wollen. Aber ich dachte, hilf mal Herrn Seehofer — Doch, vorigen Freitag war das einhellige Meinung, beim Sparen, und versuchte die Dinger sinnvoll und von daher möchte ich doch Ihre Vorwürfe zurück- loszuwerden. Von wegen! Sie können sich schon weisen. denken, daß man meine Gabe überall ver- (Beifall bei der CDU und der F.D.P. sowie bei schmähte und mir statt dessen riet, die Spritzen Abgeordneten der SPD) dem Mülleimer anzuvertrauen. Das fällt mir aber furchtbar schwer, deswegen vertraue ich Sie lieber Ihnen an. Vizepräsident Helmuth Becker: Zur Antwort erteile ich der Frau Kollegin Dr. Fischer das Wort. (Heiterkeit im ganzen Hause) Vielleicht können Sie ja etwas damit anfangen. (PDS/Linke Liste): Das haben Sie Dr. Ursula Fischer (Zuruf von der SPD: Was, Sie spritzen jetzt sicher erwartet, Herr Kollege Thomae, daß ich natür- selber?) lich darauf antworte. Ich sitze als einzige Frau, als Obfrau, in diesem Falls mal wieder eine Bundeswehrmaschine mit Gremium. Das wissen Sie ganz genau. Meine Durch- Medikamenten in ein Krisengebiet fliegt, können setzungschancen sind gleich Null. Ich habe selbstver- Sie die Spritzen ja denen mitgeben. Lassen Sie ständlich vorigen Freitag diesen einen Punkt, einen sich ruhig Zeit, sie sind bis 31. 12. 1994 haltbar. Tag wenigstens zu nutzen, um Probleme der neuen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Bundesländer im Komplex anzusprechen, benannt, sowie bei Abgeordneten der SPD) aber ich war chancenlos. Das muß ich einfach sagen. Meine Damen und Herren, das umschreibt eigent- lich die ganze Grundlage, über die wir diskutieren. Ich habe Ihnen wegen dieser Einhelligkeit sofort Wir diskutieren nicht über die Reduzierung der Qua- einen Brief geschrieben und ihn an den Gesundheits- Wir disku- ausschuß gefaxt, damit eine Korrektur angebracht lität unserer medizinischen Versorgung. tieren über unerwünschte Mengenausweitungen. wird, weil ich meine, daß man solche Dinge, selbst Wenn wir heute soviel vom Sparen reden, liegt mir wenn sie nicht durchsetzbar sind, natürlich auch sehr daran, festzustellen, daß das Sparen in der aufnehmen muß. Gesundheitspolitik und eine gute medizinische Ver- Ich halte Ihre Darstellung für nicht zulässig. Das sorgung in der Bundesrepublik Deutschland keinen Ganze ist keine Angelegenheit allein zwischen uns. Gegensatz darstellen. Wir können die unerwünschten Die Öffentlichkeit ist sicherlich genausoweing infor- Mengenausweitungen, die Unwirtschaftlichkeiten in miert wie wahrscheinlich einige Abgeordnete in die- der Gesundheitspolitik, in der gesetzlichen Kranken- sem Hause. versicherung, wegnehmen, ohne daß wir die notwen- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) dige, qualitativ hochstehende medizinische Versor- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9933

Bundesminister Horst Seehofer gung für die Menschen in der Bundesrepublik Aber das, was wir jetzt im Krankenhausbereich an Deutschland beeinträchtigen. Strukturveränderungen schaffen, das ist revolutio- när, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Gerd Andres [SPD]: Radikal!) sowie bei Abgeordneten der SPD) das ist zwanzig, dreißig Jahre nicht nur in der Politik, Deswegen geht es nicht um Qualitätsminderung, sondern auch gesellschaftspolitisch hochumstritten sondern um das Abschöpfen von Unwirtschaftlichkei- gewesen. Jetzt findet es statt! ten, um das Herstellen von mehr Effizienz in der (Gerd Andres [SPD]: Ganz schön radikal!) gesetzlichen Krankenversicherung. Das sind Ge- Es findet eine bessere Verzahnung zwischen statio- setze, die in der gesamten Volkswirtschaft gelten. närer und ambulanter Versorgung statt. Nirgendwo Wenn die Ausgaben deutlich stärker steigen als die auf der Welt gibt es eine solche starre Trennung wie in Einnahmen, dann gilt auch in einer Sozialversiche- der Bundesrepublik Deutschl and. Warum soll es künf- rung der Grundsatz: Wer nicht rechtzeitig rationali- tig nicht möglich sein, daß ein Patient, der von einem siert, muß auf Dauer rationieren. Das möchte ich als niedergelassenen Arzt ins Krankenhaus eingewiesen Gesundheitsminister der Bundesrepublik Deutsch- wird, dort auch ambulant behandelt wird? Muß jeder, land nicht. der ins Krankenhaus kommt, vollstationär ins Bett (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gelegt werden? Hier geht vieles wesentlich wirtschaft- licher. Ich möchte, daß auch in Zukunft die Menschen die (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der notwendige Hilfe von der Krankenversicherung ohne SPD — Gerd Andres [SPD]: Das wußten Sie einen Ausleseprozeß, ohne Rücksicht auf Stand und schon 1988, Herr Minister!) Einkommen und ohne Rücksicht auf das Alter bekom- Ich begrüße, wenn jetzt, wo es medizinisch vertretbar men. Das ist in anderen europäischen Staaten durch- ist, ein Patient auch ambulant diagnostiziert und aus nicht selbstverständlich. In England beispiels- ambulant operiert werden und nach der Entlassung weise führt man ab einem bestimmten Alter gewisse aus dem Krankenhaus zur ambulanten Versorgung Operationen nicht mehr durch. Ich möchte, daß wir dorthin zurückkehren kann. Ich habe das selbst erlebt. keine solche Auslese, keine Rationierung bekommen, Wenn ein Arzt den Heilungsprozeß im Krankenhaus sondern den Menschen auch künftig die qualitativ nachverfolgen kann, kann das dazu führen, daß ein hochstehende Medizin zur Verfügung stellen kön- Patient eher in seine vertraute Umgebung entlassen nen. wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Die Voraussetzung ist, daß die gesetzliche Kranken- sowie hei Abgeordneten der SPD — Gerd versicherung den Schutz, den sie den Menschen Andres [SPD]: Warum wissen Sie das jetzt verspricht, die in diese Krankenversicherung gehen, erst, Herr Minister? 1988 läßt grüßen!) finanziell auch gewähren kann. Deswegen nehmen wir nichts weg, sondern wir sichern die finanziellen Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Das ist das politische Ziel, das dahintersteht. Dr. Fischer?

Weil in diesen Tagen versucht wird, viele Abgeord- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: nete in Einzelheiten zu verstricken Natürlich, mit Vergnügen. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Nicht nur tagsüber! Auch bis nachts!) Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Frau Kolle- gin. — bis spät nachts, bis spät nach Mitternacht, Herr Kollege Dr. Altherr —, um damit auch Unsicherheiten Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Minister, zu verbreiten, liegt mir sehr daran, die zwei Grund- Sie haben gesagt, daß diese Reform im Prinzip ein elemente dieser Reform wieder deutlich zu machen. revolutionärer Fortschritt ist. Sie können sich vorstel- Das sind nach wie vor die tragenden Elemente. Sie len, daß ich das ein kleines bißchen anders sehe. Ich waren es im Regierungsentwurf, und sie sind es nach bin schon der Meinung, daß das bereits zwei bis drei Lahnstein. Jahre vorher bekannt war. Meine Frage ist jetzt: Warum wurde das ganze System zunächst den neuen Meine Damen und Herren, das wichtigste für mich Bundesländern übergestülpt, wo jetzt mit Ihrem ist, daß die Politik jetzt die Kraft findet, nicht nur die Gesetz Regelungen kommen, die ich unwahrschein- Ausgaben zu bremsen, sondern auch die Strukturen lich begrüßt hätte? Ich muß aber immer im Hinterkopf zu verändern. Sie muß an die Wurzeln des Übels behalten: Was passiert, wenn ambulant operiert wird, herangehen. was passiert mit den Fachambulanzen und den Insti- tutsambulanzen? Das ist die gleiche Diskussion wie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. bei den Polikliniken. Im jetzigen Gesetzentwurf ist sowie bei Abgeordneten der SPD) von „Einrichtungen" die Rede. Warum wurde das also Ich bin kein Freund von großen und pathetischen nicht schon vor zwei bis drei Jahren angepackt? Worten. Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: (Zuruf von der SPD: Das stimmt nicht!) Frau Dr. Fischer, ich bin Ihnen dankbar. Ich komme 9934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Bundesminister Horst Seehofer noch auf die neuen Länder, sage alles, was dort an der Hochleistungsmedizin bleiben. Ich versichere Positivem geschieht, und erwarte natürlich, daß Sie Ihnen zweitens, daß die freigemeinnützigen und die wiederum aufstehen und mir für das danken, was alles kirchlichen Krankenhäuser auch künftig ihre abso- in den neuen Ländern geschieht. lute Chance haben, auf dem Gesundheitsmarkt zu (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und bestehen, und daß wir auf diese besonderen Bel ange der F.D.P.) durch eine ganze Reihe von Vorschriften Rücksicht genommen haben. Im Krankenhaus soll künftig also mehr ambulant behandelt werden. Es ist höchste Zeit, daß wir vom (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tagesgleichen Pflegesatz im Krankenhaus wegkom- Wir alle — alle vier Parteien und die 16 Länder, die men — hin zu einer leistungsorientierten Vergütung. an diesem Kompromiß beteiligt sind — wollen, daß wir Meine Damen und Herren, das ist mehr Wettbewerb. auch künftig eine pluralistische Krankenhausland- Warum haben wir so viele Fälle in den Krankenhäu- schaft haben, die aus öffentlich-rechtlichen, freige- sern, die ausgerechnet am Montag entlassen werden, meinnützigen, kirchlichen und auch p rivaten Kran- obwohl am Samstag und Sonntag nichts anderes mehr kenanstalten besteht. Alles soll bestehen bleiben. geschieht als die Verpflegung? Die könnten alle auch (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der am Freitag entlassen werden. Es liegt nicht an der SPD) Gehässigkeit der Ärzte oder an der Unfähigkeit des Pflegepersonals, sondern an den Strukturen. Das ist Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, kein Vorwurf an die Beschäftigten im Krankenhaus. gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Frau Es liegt an den Strukturen: Ein belegtes Bett am Dr. Fischer? Wochenende kann man eben auch abrechnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Es ist höchste Zeit, daß das beendet wird. Das ist eine Herr Präsident, wenn Sie mir zusätzlich fünf Minuten revolutionäre Strukturveränderung im Kranken- Redezeit geben, damit ich alles sagen kann, was ich haus. mir vorgenommen habe, dann unendlich. Zur Kassenorganisation, also zur Krankenkassen- reform: Meine Damen und Herren, ist es nicht ein Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. gewaltiger Fortschritt gegen Ende dieses Jahrhun- derts, daß die Arbeiter endlich das Recht auf freie Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Minister, Kassenwahl bekommen, daß nicht nur Angestellte, mir nützen solche allgemeinen Sätze nichts. Wenn Sie sondern auch Arbeiter ihre Kasse frei wählen kön- schon sagen „Wir haben konkrete Vorschläge nen? gemacht", dann möchte ich gern, daß die konkreten Vorschläge hier auch einmal benannt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso eine Ein- Wir machen die Pflegesätze von 1992 zur Grundlage heitskasse geschaffen werden soll, wenn man Men- und sagen den Krankenhäusern: Das ist die Aus- schen das Recht einräumt, ihre Krankenkasse frei zu gangsbasis, hinzugerechnet werden die Lohnent- wählen. wicklung 1993 und der Personalbedarf, der durch (Klaus Kirschner [SPD]: Sehr wahr!) gesetzliche Vorschriften veranlaßt ist; dazu könnt ihr Ich kann auch nicht verstehen, warum der VdAK einen Großteil der Chefarztabgaben, die eigentlich an befürchtet: Jetzt geht eine Kassenart unter. Mir hat die Krankenkassen abgeführt werden müssen, behal- bisher noch niemand erklären können, wieso eine ten. Den neuen Ländern sagen wir: Wenn es Struktur- Kassenart vor dem Untergang stehen soll, wenn ihr die veränderungen gibt, kann es ein neues Budget geben. Politik die Möglichkeit gibt, neue Mitglieder aufzu- Wir sagen ferner: Wenn ihr euch 1992 in der Höhe des nehmen. Pflegesatzes geirrt habt, könnt ihr ihn 1993 neu feststellen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Was sollen wir als Gesetzgeber mehr tun, um auf diese Besonderheiten Rücksicht zu nehmen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, gestatten Sie noch einmal eine Zwischenfrage von Ich möchte genauso wie der Kollege Dreßler meiner Frau Dr. Fischer? — Bitte, Frau Dr. Fischer. Verwunderung Ausdruck geben, daß ausgerechnet der Verband der Angestellten - Krankenkassen so massiv gegen diese Kassenreform zu Felde zieht. Ich Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Minister, sage deshalb „ausgerechnet der Verband der Ange- die Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips hat stellten-Krankenkassen", weil es sich bei diesen ihr Für und Wider. Wie sehen Sie diese ganze Proble- Krankenkassen um die einzige Kassenart in Deutsch- matik für konfessionelle Krankenhäuser und freige- land handelt, die heutzutage von Schleswig-Holstein meinnützige Träger? Ich möchte diese Frage jetzt bis Bayern einen Einheitsbeitrag aufweist. Ausge- ausnahmsweise einmal gleich beantwortet erhalten. rechnet eine solche Kassenart warnt die Politik und die Öffentlichkeit vor der Einheitskasse! Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Sie Was ist denn dagegen einzuwenden, wenn Ver- erhalten die Frage gleich beantwortet. Ich versichere träge, die heute noch bundesweit abgeschlossen wer- Ihnen, daß die Krankenhäuser auch künftig Stätten den, künftig dezentralisiert in den einzelnen Kassen- Deutscher Bundestag — 12. 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Bundesminister Horst Seehofer bezirken abgeschlossen werden? Das ist doch nicht Daran ändert sich künftig auch nichts. Deshalb kann der Weg in die Einheitskasse, sondern ich dachte ich das Argument von der Staatsmedizin überhaupt immer, das sei ein Weg zu mehr Gesundheitsfödera- nicht verstehen. lismus. Dieses Gerede von der Einheitskasse ist völlig Zum zweiten ist die gesetzliche Krankenversiche- unbegründet. Mehr mehr Wettbewerb, Wahlfreiheit, rung die einzige Sozialversicherung, die in den fünf mehr Konkurrenz unter den Kassen bedeuten mehr neuen Ländern aufgebaut wurde und heute qualitativ Pluralität. hervorragend funktioniert, ohne daß es dafür auf Diese Neuerungen bedeuten auch, daß man in der Dauer einen Staatszuschuß gibt und ohne daß es — Krankenkassenlandschaft ein Stückchen mehr nach- wie in allen anderen Sozialversicherungszweigen — denken muß. Wettbewerb war noch nie schädlich für einen Sozialtransfer von West nach Ost gab. den Menschen. Wettbewerb kann auch bedeuten, daß Es ist mir schleierhaft, wie m an auf den Gedanken manche aus diesem Wettbewerb ausscheiden. Ich kommen kann, wir planten die Staatsmedizin. Die verstehe überhaupt nicht, daß diejenigen, die von uns gesetzliche Krankenversicherung funktioniert ohne den Wettbewerb fordern, gleichzeitig etwas dagegen eine einzige Mark aus dem Staatshaushalt. Wenn wir haben, wenn man ihn einführt. Wir sehen also eine nichts täten, dann wären die Schleusen für die Staats- grundlegende Reform in der Kassenorganisation medizin geöffnet. Dann tauchte nämlich die Frage auf: vor. Müssen sich nicht Bund und Länder an den in der Krankenversicherung entstehenden Defiziten beteili- Vorgesehen ist eine dritte grundlegende Struktur- gen? reform. Wir sparen nicht nur, sondern wir bauen auch den Sozialstaat in wichtigen Punkten um. Trotz dieses Ein Wort zum Vorrang der Selbstverwaltung: gewaltigen Sparprogramms stellen wir Mittel für Extensiver, als wir es jetzt tun, kann m an die Selbst- zusätzliche Planstellen beim Pflegepersonal und bei verwaltung nicht ausgestalten. Die Selbstverwaltung den Hebammen in den Krankenhäusern zur Verfü- hat Zeit bis Ende 1994, die ganz wenigen Aufträge, die gung. Deshalb ist die Behauptung falsch, daß es dort sie noch hat, zu verwirklichen. Die Aufträge wurden zum Pflegenotstand kommt. 1989 erteilt. Es gab bzw. gibt sechs Jahre lang Vorfahrt für die Selbstverwaltung. Wenn die Politik sagt Es gibt trotz des Sparprogramms zusätzliche Stellen, „Wenn ihr nach sechs Jahren eurer Verantwortung weil wir Ernst machen wollen mit unserer politischen nicht gerecht geworden seid, dann handelt die Poli- Aussage: Der Pflegeberuf muß ideell und materiell tik", kann man doch nicht davon reden, dies bedeute aufgewertet werden. Da darf es nicht nur bei schönen die Staatsmedizin. Wir sind für den Vorrang der Versprechungen bleiben, sondern wir müssen auch Selbstverwaltung. die Tat folgen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Noch ein Wort zu den Apothekern. Durch diese Reform wird das ambulante Operieren (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Bitte im Bereich der niedergelassenen Ärzte stärker geför- nicht! — Heiterkeit) dert. Das Demonstrationsrecht ist ein Verfassungsrecht, ein Im Bereich der Zahnärzte werden fast 200 Millionen Grundrecht. Deshalb habe ich nichts gegen Demon- DM für die Prophylaxe zur Verfügung gestellt, weil strationen; das würde auch nichts helfen. Ich habe wir den Grundsatz Realität werden lassen wollen, daß auch Verständnis für den Präsidenten der ABDA, die Vorsorge immer noch die beste Medizin ist. Herrn Stürzbecher. Es geht uns allen so: Wenn man vor einigen tausend Leuten steht, wählt m an etwas Frau Kollegin Dr. Fischer, wir werden noch während kräftigere Worte. Mich stört auch der gestern verwen- des Gesetzgebungsverfahrens ein Hilfsprogramm für dete Begriff „Wortbruch" nicht. Mir tut dieser Beg riff die Krankenhäuser in den neuen Ländern, was den nicht weh; Herrn Stürzbecher hat er gestern Nachholbedarf an Investitionen betrifft, schmieden. genutzt. Der Kollege Geisler aus Sachsen wird dazu sicher noch Stellung nehmen. Man muß allerdings auch dann, wenn man sich politisch auseinandersetzt, bei der Wahrheit bleiben. Hier hat die Bundesregierung ihre Meinung korri- Das beginnt bereits bei den Zahlen, die in die Welt giert. Wir sind jetzt bereit, den Krankenhäusern in den gesetzt wurden. Im Gespräch mit mir war noch die neuen Ländern auch im investiven Bereich zeitlich Rede von Einkommenseinbußen in Höhe von 30 %. befristet zu helfen. Das setzt allerdings voraus, daß die Innerhalb von wenigen Tagen hat man das — so in der neuen Länder ihrer Verantwortung gerecht werden. Anzeige nachzulesen — auf 25 % reduziert. Es stehen noch vier Wochen Beratungszeit zur Verfügung. Meine Damen und Herren, uns wird immer das Wenn jede Woche eine Reduzierung um 5 % erfolgt, Argument entgegengehalten: Da sind ganz schlimme kommen wir etwa auf eine realistische Größenord- Politiker am Werk, jetzt wird die Staatsmedizin einge- nung. führt! Mir liegt aus diesem Grunde an zwei Bemer- kungen. Erstens. Die gesetzliche Krankenversiche- Das stört mich alles gar nicht so. Das gehört zur rung ist die einzige Sozialversicherung in der Bundes- politischen Auseinandersetzung. Wir sagen ja auch republik Deutschland, die ohne Staatszuschüsse funk- das eine oder andere etwas überpointiert. tioniert. Lieber Herr Stürzbecher, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Ist der hier?) 9936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Bundesminister Horst Seehofer — ich denke, er schaut zu —, wenn Sie jetzt nachträg- Entgegen allen Vermutungen ist es bei diesem lich versuchen, die 30 oder 25 %, mit denen Sie ja die Kompromiß nicht nur zu einer Minimallösung gekom- Unruhe in der Apothekerschaft ausgelöst haben, die men. Wir haben vielmehr meiner Meinung nach eine allerdings bar jeder Realität sind, durch Argumente zu optimale Lösung erreicht. Das gilt insbesondere für rechtfertigen, die mit der Realität nichts zu tun haben, den strukturellen Bereich. Ich hätte das in vielen dann muß ich Sie in aller Öffentlichkeit darum bitten, Bereichen so nicht erwartet. Es hat ein fairer Interes- wenn die entsprechende Meldung zutrifft — ich kann senausgleich zwischen vier Parteien stattgefunden. ja nicht alle Meldungen überprüfen —, dies schnell- Jede Partei gab und jede Partei nahm. Mir ist herzlich stens vom Tisch zu nehmen oder folgende Fragen zu egal, wer sich nach Meinung der Leitartikler durch- beantworten. gesetzt hat. Ich habe es miterlebt und habe versucht, vermittelnd zu diesem Kompromiß beizutragen, so Er soll mich hier nicht unterschätzen. Ich werde ihn daß jeder nach Abschluß des Konsenses hocherhobe- Woche für Woche, und wenn es ein Jahr dauert, um nen Hauptes gegenüber seiner Klientel antreten Beantwortung folgender Fragen bitten: kann. Er behauptet, es sei geplant, ein Drittel aller Medi- Ich bekomme immer noch vorwurfsvolle B riefe kamente nicht mehr von der Krankenkasse bezahlen darüber, daß man überhaupt Gespräche mit der zu lassen, für leichtere Erkrankungen keine Arznei- Opposition und den Ländern geführt habe. Dazu kann mittel auf Kassenarztrezept mehr zu vergeben. Ich ich nur sagen: Wer in der Politik bei einem so bitte Herrn Stürzbecher um die Beantwortung der schwierigen Thema nicht kompromißfähig ist, ist folgenden Frage: Wo steht das in diesem Gesetz? schlechthin politikunfähig. Nennen Sie mir ein einziges Arzneimittel, das 1993 bei leichteren Erkrankungen von uns ausgeschlossen (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord wird. neten der F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: Gern haben wir das nicht gemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Ich bin froh, daß die Politik auf einem sehr schwie- neten der F.D.P.) rigen und unpopulären Feld diese Handlungsfähig- Auch wenn die Auseinandersetzung noch so hart keit bewiesen hat. Deshalb ist jenseits der vielen geführt wird, muß man bei der Wahrheit bleiben. Zahlen, die uns beschäftigen, und jenseits der vielen Wenn man nicht bei der Wahrheit bleibt, wird man Strukturmaßnahmen, die ich nur andeuten konnte, für leicht unglaubwürdig. Herr Präsident Stürzbecher, mich der wichtigste Gewinn dieses Konsenses, daß die beantworten Sie mir deshalb die folgende Frage: Wo parlamentarische Demokratie ihre Handlungsfähig- steht im Gesetz, daß ein Drittel aller Medikamente keit bewiesen hat und damit in der Öffentlichkeit nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt werden soll wieder ein Stückchen an Vertrauen dazugewonnen und es für leichtere Erkrankungen keine Arzneimittel hat. Das ist für mich der größte Ertrag dieser mehr gebe? Reform. Ich sage der deutschen Öffentlichkeit: Ab 1993, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nach Inkrafttreten dieses Reformwerks, wird jeder Erkrankte, insbesondere jeder Langzeit- und chro- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und nisch Kranke, weiterhin sein medizinisch notwendi- Herren! Herr Minister, da Sie für sehr viele in diesem ges Medikament bekommen. Die Härtefallregelung, Hause und eindrucksvoll gesprochen haben, hat das die seit 1989 besteht und Menschen vor Überforde- Präsidium die Überschreitung Ihrer Redezeit um rung schützen soll, besteht nach wie vor mit dem sechseinhalb Minuten genehmigt. Inhalt, daß Personen bis zu einem bestimmten Ein- Nun hat unser Kollege Karl Hermann Haack das kommen von der Zuzahlung bei Arzneimitteln völlig Wort. Er ist Apotheker. befreit sind und bei Überschreitung einer bestimmten Einkommensgrenze ein Überforderungsschutz be- steht, nämlich nicht mehr als 2 % des Einkommens Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Herr Präsi- hinzugezahlt werden müssen. Welche Einkommens- dent! Meine Damen und Herren! Einer muß hier grenze gilt, sagt Ihnen am besten Ihre zuständige Rückschau halten, einer muß sagen, warum wir hier Krankenkasse. heute morgen stehen und über die Einbringung des Gesundheitsstrukturreformgesetzes reden. Ich darf Herr Stürzbecher, ich wäre dankbar, wenn -das Fax Sie alle daran erinnern, daß in der zweiten und dritten bereits eingetroffen wäre, wenn ich jetzt ins Ministe- Lesung des Gesundheits-Reformgesetzes 1988 der rium zurückkehre. damalige zuständige Bundesarbeitsminister Norbert Meine Damen und Herren, die Politik hat bei Blüm dieses Gesetz als ein Jahrhundertgesetz diesem Reformwerk in den letzten Wochen und bezeichnet hat und daß sich die damaligen Koalitions- Monaten eine große, einmalige Chance genutzt. Ich parteien ob dieses Erfolges gegenseitig auf die Schul- möchte allen danken, die daran mitgewirkt haben, ter klopften. insbesondere den Experten aus allen Fraktionen, aber Heute dagegen ist eingetreten, was seinerzeit die auch aus den Ländern. Ich bedanke mich auch bei SPD immer prophezeite: Das damalige Gesundheits allen Kolleginnen und Kollegen, die dem Druck-R in den eformgesetz ist auf breiter Linie gescheitert, weil es Wahlkreisen standgehalten haben. Ich kann nachvoll- die eigentlichen Probleme nicht gelöst hat. Ungelöst ziehen, wie schwer das ist, wenn man nicht in der waren damals aus Sicht der SPD die fehlende Orga- Sozialpolitik oder in der Gesundheitspolitik tätig ist, nisationsreform der gesetzlichen Krankenversiche- da ich das Problem z. B. bei Änderungen im Steuer- rung, die Reform der Krankenhäuser, die Begrenzung bereich kenne. Herzlichen Dank. der Niederlassung von Ärzten und Zahnärzten, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9937

Karl Hermann Haack (Extertal) durchgreifende Neuordnung des Arzneimittelmark- päischen Binnenmarkt verbietet es sich, die Lohnne- tes, die fehlende Verzahnung der ambulanten und der benkosten durch Beitragserhöhungen zu steigern. stationären Versorgung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich erinnere daran, daß damals parallel zu diesen der F.D.P.) Beratungen die Enquete-Kommission „Strukturre- Darüber besteht in der politischen Szene Einigkeit. form der gesetzlichen Krankenversicherung" be- Heute erfahren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin- stand. Diese Enquete-Kommission beriet die Struk- nen, daß ihre Nettolohnquote, also das verfügbare turreform im Gesundheitswesen. Für die Öffentlich- keit war das damals ein Verwirrspiel. Zum einen stand Einkommen, ständig sinkt. Fazit ist: Die Arbeitneh- die Regierung unter dem Druck, die Finanz- und merhaushalte haben bei steigenden Belastungen immer weniger in ihren Familienportemonnaies. Strukturkrise des Gesundheitswesens zu beantwor- Schon allein aus diesem Grunde verbietet es sich, über ten, und zum anderen beriet sie zur gleichen Zeit mit uns in einer Enquete-Kommission über Wege aus der Beitragserhöhungen und Selbstbeteiligungsquoten Struktur- und Finanzkrise. zu reden und sie als Instrument zur Steuerung der Krise einzuführen. Bei einem Vergleich des Endberichts mit dem Drittens wirken sich Beitragserhöhungen indirekt Gesetzentwurf fällt auf, daß Teile der damaligen auf die Nettoerhöhung der Renten aus. Das hängt mit Beratungen in das Gesetz aufgenommen wurden. der Rentenreform von 1989 zusammen. Es werden Die Ergebnisse des Enquete-Berichts „ Strukturre- also durch erhöhte Beiträge Rentnerinnen und Rent- form der gesetzlichen Krankenversicherung" sind zu ner getroffen. einer Brücke geworden, über die Regierung und Von den Leistungsanbietern wurde von uns immer Opposition aufeinander zugegangen sind. Heute liegt gefordert, eine Aufteilung in Regel- und Wahlleistun- der gemeinsame Entwurf dieses Aufeinanderzuge- gen vorzunehmen. Wir lehnten dies ab, hens vor. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Leider!) Zu all den bereits genannten Problemen der Struk- weil das für uns der Einstieg in die Zweiklassenmedi- tur- und Finanzkrise des Gesundheitswesens sind zin und damit unsozial gewesen wäre. Aussagen gemacht worden, die aus der Sicht meiner Fraktion die Grundlage für die gesetzliche Kranken- Somit haben wir uns in der Lahnstein-Runde 1 und versicherung für die nächsten Jahre sichern. Die in der Lahnstein-Runde 2 alle dafür entschieden, Wahrheit ist aber auch, daß wir vermutlich, wenn es kostentreibende Strukturen zu beseitigen mit der keine SPD-Bundesratsmehrheit gegeben hätte, heute Maßgabe, das Finanztableau der gesetzlichen Kran- über ein solches Ergebnis nicht sprechen würden. kenversicherung für die nächsten Jahrzehnte zu Herr Minister, in der letzten Debatte zum Gesund- sichern. Im Vorbericht des Gesundheitsstrukturgeset- heitswesen hatte ich ein Bild gezeigt, auf dem Sie mit zes ist dazu ausführlich Stellung genommen worden. gefalteten Händen zum Himmel schauen. Ich habe Im wesentlichen lassen sich die Probleme auf den Ihnen damals den Rat gegeben, auf die Bundesrats- Punkt bringen: Je mehr Anbieter, je mehr Leistungen, bank und auf die SPD zu schielen. Ich darf mich für je teurer wird unser Gesundheitswesen. Vornehm in meine Fraktion dafür bedanken, daß Sie diesem Rat der Wissenschaftlersprache des Gutachtens ausge- gefolgt sind und wir jetzt hier auf Erden und nicht im drückt: Es handelt sich um eine „angebotsinduzierte Himmel eine gemeinsame Wegstrecke zurücklegen. Mengenausweitung". Nun will ich ein Beispiel dafür geben, was damit (Beifall bei der SPD) gemeint ist. Rudolf Dreßler hat verschiedene Bereiche Bekannt ist, daß das Defizit der gesetzlichen Kran- abgehandelt, andere Kollegen auch. Ich möchte mich kenversicherung 1992 vermutlich 12 Milliarden DM auf das Krankenhaus konzentrieren. Jeder weiß, daß betragen wird. Damit ist der finanzielle Spielraum für wir zu viele Krankenhausbetten haben. Diese können Reformen enger geworden. Wir sind alle zum Handeln aber nur schwer abgebaut werden, weil die Kranken- aufgefordert. häuser ihre Kosten bisher ausschließlich über das belegte Bett abrechnen konnten, und zwar auf der Es ist grundsätzlich zu entscheiden, mit welchem Grundlage des tagesgleichen Pflegesatzes. Im Klar- Instrumentarium der Ausgabensteigerung begegnet- text: Nicht der Mensch steht ökonomisch im Mittel- werden kann, um Beitragsstabilität und optimale punkt des Geschehens im Krankenhaus, sondern das medizinische Versorgung zu sichern. In der politi- belegte Krankenhausbett. Nun gehen wir einen schen Diskussion gab es hierfür drei Optionen: eine neuen Weg, indem wir künftig die Leistungen nach laufende Beitragserhöhung, also Anpassung der Ein- einem Reißverschlußprinzip aufteilen, nämlich in nahmen an die Ausgaben, eine Ausweitung der medizinische und in pflegerische Leistungen. Die Selbstbeteiligung und Aufspaltung des Leistungsge- Einführung von Fallpauschalen, Sonderentgelten, schehens in Wahl- und Regelleistung oder die Besei- abteilungsbezogenen Pflegesätzen soll uns dabei hel tigung kostentreibender Strukturen. fen. Die SPD lehnt eine Beitragserhöhung und eine Hinzu kommen zwei weitere wichtige Schritte. Die Erhöhung der Selbstbeteiligung als Weg aus der Krankenhäuser können demnächst ambulant operie- Struktur- und Finanzkrise des Gesundheitswesens ab. ren. Das heißt, der Patient kommt, wird operiert und Sie hat dies immer getan. Für die Ablehnung spricht kann, wenn medizinisch verantwortbar, nach Hause dreierlei: Angesichts einer Diskussion über den Indu- gehen. Er belegt nicht mehr aus rein betriebswirt- striestandort Bundesrepublik Deutschland im euro schaftlichen Gründen ein Krankenhausbett. Zweitens 9938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Karl Hermann Haack (Extertal) soll es die vor- und nachstationäre Diagnostik auch Wenn es Verlierer gibt, oder besser: Wenn jemand ermöglichen, daß Patienten nicht aus abrechnungs- über seine Rolle selbstkritisch nachzudenken hat, technischen Gründen in die Krankenhausbetten dann sind dies einige Verbände, die als Lobbyisten im gelegt werden, sondern daß sie ihre vor- und nachsta- Gesundheitswesen tätig sind. Ich will sehr deutlich tionäre Diagnostik ambulant erfahren können. Diese werden. In einer Situation, die energisches Handeln Schritte, meine Damen und Herren, erfordern einen seitens der Politik verlangt, ist festzustellen, daß ein mittelfristigen Abbau von Krankenhausbetten. Wir Teil der Verbände es immer wieder versucht hat haben dies durch dieses Gesetzeswerk eröffnet. — zum Glück ohne Erfolg —, in die Speichen des Rades der Reform zu greifen und die Reform anzuhal- Sorgen bereitet uns die nicht geleistete Darstellung ten. Meine Antwort darauf lautet: Wir leben nicht nur des finanziellen Nachholbedarfs bei der Sanierung in einem Parteienstaat, sondern wir leben auch in der Krankenhäuser in den neuen Bundesländern. einem Verbändestaat, der einen Beitrag zur Politikfin- Hier steht ein Betrag von rund 25 Milliarden DM zur dung in dieser Republik leistet und in der Vergangen- Disposition. Wir haben von dem Vorschlag gehört heit geleistet hat. Der Beitrag aber, den ein Teil der — den wir unterstützen —, daß dies durch eine Gesundheitsverbände geleistet hat, war kontrapro- dreigeteilte Verantwortung — Bund, Länder und duktiv. Er begann mit einer Diffamierungskampagne gesetzliche Krankenversicherung — gelöst werden gegen die handelnden Politiker, setzte sich zum Teil soll. mit angedrohter Nötigung von Politikern fort. Hier meine ich insbesondere den Freien Verband der In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzu- Zahnärzte mit der angedrohten Abschaffung der weisen, daß, wenn die beiden Versicherungssysteme Sicherstellung des zahnärztlichen Versorgungsver- Ost und West oder Alt-Bundesrepublik und neue trages. Dabei wurde in der Öffentlichkeit die Linie Bundesländer verzahnt werden, die Frage des Risiko- verfolgt, Politiker als inkompetent und dumm hinzu- strukturausgleichs geregelt werden muß. Bedeutsam stellen. Lösungen sind den Politikern dabei nur nach für die SPD-Fraktion ist, weil es dazu in der Vergan- dem Sankt-Florians-Prinzip unterbreitet worden nach genheit mehrere Anträge gegeben hat, daß der Eini- dem Motto „Freiheit ist dann Freiheit, wenn die Kasse gungsvertrag dahin gehend geöffnet worden ist, daß stimmt", nach der Melodie „Greifen wir doch dem genau spezifiziert, Poliklinken und Fachambulanz en Patienten in die Tasche", über Ausweitung der Selbst- eine weitere Chance der Existenz bekommen unter beteiligung und Aufspaltung der Leistungen in Regel- der Voraussetzung, daß Patienten dies wollen. Das und Wahlleistungen, die der Patient eben neben heißt, Patienten stimmen über den weiteren Bedarf seinem monatlichen Kassenbeitrag noch zu zahlen von Polikliniken, Fachambulanzen und ähnlichen hat. Dazu haben wir Politiker uns alle, die wir uns in Leistungen ab. Lahnstein 1 und 2 versammelt haben, nicht hergege- Zum Thema Krankenhaus ein letzter Punkt, den wir ben. Wir haben gesagt: So nicht. für wichtig halten. Im ursprünglichen Gesetzentwurf Abschließend zu den Belastungen chronisch war die Aufhebung der zeitlichen Begrenzung und Kranker, weil uns da zahlreiche Briefe erreichten. Dynamisierung der Zuzahlung bei den Unterbrin- Hier sage ich: Wir haben uns um Lösungen bemüht. gungskosten des Krankenhausaufenthaltes vorgese Wir haben uns aber davon überzeugen lassen, daß die hen. Danach hätte z. B. ein Patient mit anschließender GRG-Formulierung mit Härteklausel und Überforde- Reha-Inanspruchnahme rund 700 DM bezahlen müs- rungsklausel zu einer Ausweitung des Befreiungstat- sen. Das hätte chronisch Kranke, ältere Menschen und bestandes in einem Maße geführt hat, wie ich es nicht andere finanziell schwer getroffen. Es ist ein gemein- geglaubt habe. Ich habe, wie Sie, Herr Minister, in samer Erfolg, wenn wir feststellen, daß es bei der diesem Punkt zugestanden haben, für mich und Zuzahlung bei der 14tätigen Begrenzung geblieben namens meiner Fraktionen zuzugestehen, daß wir die ist, d. h. maximal 154 DM. Ebenso bedeutsam ist für Situation damals falsch eingeschätzt haben. Deshalb uns die Rücknahme der Regel- und Wahlleistungen haben wir uns Ihnen angeschlossen, daß wir sagen: im zahnprothetischen Bereich, weil wir dies als Ein- Wir werden das Thema chronisch Kranke zu einem stieg in die Zweiklassenmedizin gesehen haben. späteren Zeitpunkt noch erörtern. Nun zu der entscheidenden politischen Frage, zu Herr Minister, abschließend zu einem anderen der ich mich äußern möchte: Gibt es Gewinner und Thema, über das überhaupt nicht diskutiert wird, aber Verlierer? Strichlisten, meine Damen und -Herren, welches uns in den nächsten Jahren sicherlich beglei- werden zu diesem Punkt seitens der SPD-Fraktion ten wird. Sie haben in dem Vorwort angekündigt, eine nicht geführt. Wie in der Presse kommentiert, soll es Neuabgrenzung der Begriffe Solidarität und Subsidi- immer Gewinner und Verlierer geben. Wir verwei- arität vorzunehmen. Sie meinen damit, so haben Sie gern dazu die Beantwortung. Diese Frage zu stellen sich in mehreren Presseauslassungen dargestellt: Was verbietet sich nämlich deshalb, weil wir etwas wesent- soll die gesetzliche Krankenversicherung zukünftig lich anderes festzustellen haben. In einer Zeit, in der zahlen und was nicht? Wir haben Ihnen sehr aufmerk- Politiker für alles verantwortlich gemacht werden, sam zugehört und möchten Sie aus Sicht der SPD- was dieser Gesellschaft nicht paßt, sie der Buhmann Fraktion dabei auf folgendes hinweisen. Dieses der Nation für alles und jedes sind, ist der Nachweis Thema ist nicht neu. Seit Anbeginn der Krankenver- der Handlungsfähigkeit von Politik auf einem Feld sicherung oder seit Anbeginn der Sozialpolitik damals von grundsätz licher Bedeutung erbracht worden. im Deutschen Reich besteht diese Diskussion um Solidarität und Subsidiarität als gestaltende Prinzi- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der pien. Sie beginnt 1884 mit einem Aufsatz von Gustav F.D.P.) Schmoller in den „Preußischen Jahrbüchern" mit der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9939

Karl Hermann Haack (Extertal) Überschrift „Die soziale Frage und der preußische Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Staat" . Da ist, bezogen auf die damalige Situation im Herren, der Kollege Karl Hermann Haack hat durch Deutschen Reich, im Verfolg anderer Aufsätze, über Zuruf bestätigt, daß er sich dem anschließt; ich finde die wir uns heute noch strukturell auseinandersetzen, das sehr gut. diese Diskussion inhaltlich schon geführt worden. Ich Nun hat unser Kollege Wolfgang Zöller das Wort. erwähne diesen Aufsatz deswegen, um zu untestrei- chen, daß dies für uns Sozialdemokraten kein neues Thema ist. Wir, die SPD, begreifen Solidarität als Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine gestaltendes Element von Gesellschaftspolitik, und da sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir im Sinne von Eduard Heimann, Sozialpolitiker der eine Vorbemerkung zu den technischen Einrichtun- Weimarer Republik. Wir meinen mit dem Begriff gen hier in diesem neuen Haus. Das Rednerpult Solidarität also mehr als eine Finanzbetrachtung von scheint nicht für große und — um Mißverständnissen Sozialpolitik. Weil das so ist, sagen wir, daß Sub- gleich vorzubeugen — lange Politiker konstruiert zu sidiarität nicht allein gestaltendes Prinzip in der So- sein. Hier geht es nur abwärts, aber nicht aufwärts. Wir zialpolitik sein kann, da sich Subsidiarität ausschließ- brauchen etwas mehr Spielraum nach oben. lich an der finanziellen Leistungskraft des einzelnen (Heiterkeit im ganzen Hause — Beifall bei orientiert und als Prinzip nur hilft, wo diese überschrit- der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) ten wird. Es hat für uns den Geschmack der Armen- Eine Alternative wäre eine neue Brille. Dies würde fürsorge, wenn Subsidiarität in diesem Sinne zum jedoch zu einer zusätzlichen Belastung der Kranken- gestaltenden Prinzip der Sozialpolitik werden sollte. versicherung führen; das kann nicht in unserem Sollten Sie sich, Herr Minister, dem Gedanken der Interesse sein. Solidarität verpflichtet fühlen, so wie es mit dem Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Drittel Prinzip des Sozialstaatsgebots in unserer Verfassung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen ent- gemeint ist, dann werden Sie in uns einen kritischen, fällt auf Krankenhäuser und Kliniken. Deshalb kann aber aufmerksamen Begleiter Ihrer Politik zu diesem und darf dieser Bereich nicht von den Einsparungsbe- Punkt finden. mühungen ausgeklammert werden. Jede andere Hal- Ich danke Ihnen. tung wäre schlicht unvertretbar. Ohne Stabilität in den (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Krankenhäusern gibt es keine Beitragsatzstabilität in Abgeordneten der CDU/CSU) den Krankenkassen. Vor diesem Hintergrund verdient der heute einge- brachte Gesetzentwurf unsere Unterstützung. Dies Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und bedeutet aber nicht, daß alle unsere Anliegen und Herren, zu einer Kurzintervention gemäß § 27 der Positionen ohne Abstriche im Gesetzentwurf ihren Geschäftsordnung hat unser Kollege Julius Cronen- Niederschlag gefunden hätten. Dies war, nachdem berg das Wort. alle maßgebenden politischen Kräfte in diesem Hohen Hause beteiligt waren, auch nicht anders zu erwar- Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg) (F.D.P.): Herr ten. Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beitrag des Mit der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprin- Kollegen Haack gibt mir Veranlassung, einige Bemer- zips zeigen wir die Bereitschaft, bisher lange vertre- kungen zur Situation der Verbände zu machen. Es ist tene Positionen zu überprüfen und im Interesse einer völlig richtig, daß sich Verbandsvertreter, die Lobby- effektiven Strukturreform neue Wegen zu gehen. isten, im Ton vergriffen und gesamtgesellschaftliche Langfristig wird die Einführung eines leistungsorien- Interessen nicht in genügendem Umfang berücksich- tierten Entgeltsystems zu mehr Wirtschaftlichkeit in tigt haben. Das trifft leider für einen Teil der Ver- der stationären Versorgung führen. Bis dahin ist es bandsvertreter zu. jedoch notwendig, für eine Übergangszeit Maßnah- Aber ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, men zur Ausgabenstabilisierung zu treffen, deren Verbände und Politik aufzufordern, den Dialog nicht Wirkungen sofort eintreten müssen. Dieser kurzfri- abzubrechen. Wir brauchen den Dialog mit den stige Effekt soll durch die Anbindung der Pflegesätze Verbänden. an die Grundlohnsumme erreicht werden. Wir sind der Ansicht, daß nach der Aufhebung des Selbstko- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und stendeckungsprinzips der Gesetzgeber den Kranken- der SPD) hausträgern einen klaren, überschaubaren gesetzli- Ich möchte deswegen die Verbände von dieser Stelle chen Rahmen vorgeben muß, in dem sie sich finanziell auffordern, zu einer sachlichen Diskussion zurückzu- bewegen können. Hierzu sind im neuen § 4 des finden, Krankenhausfinanzierungsgesetzes und in dessen (Bundesminister Horst Seehofer: Um Fragen Begründung festgehalten, daß den Krankenhäusern zu beantworten!) und Kliniken ein Anspruch auf eine leistungsgerechte u. a. um Fragen zu beantworten, Herr Minister, aber Vergütung bei wirtschaftlicher Betriebsführung zu- auch, um uns manchen guten Ratschlag zu geben. steht. Dies an dieser Stelle einmal zu betonen war mir ein Für die Jahre 1993 bis 1995 sollen die Krankenhaus- an die Bedürfnis. budgets Grundlohnentwicklung angebunden werden. Um zu vermeiden, daß vor allem auch frei- Ich danke Ihnen, Herr Präsident. gemeinnützige Krankenhausträger durch das Ge- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der sundheits-Strukturgesetz übermäßig belastet werden, SPD) haben wir Einigkeit darüber erzielt, daß es bestimmte 9940 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Wolfgang Zöller Ausnahmen von der Anbindung an die Grundloh- tion und Opposition ge tragenen Gesundheits-Struk- nentwicklung geben muß. Hierzu zählen Kostenstei- turgesetzes haben alle unmittelbar Beteiligten, gerungen, die für die Krankenhäuser unvermeidbar glaube ich, eine Reihe von Tief- und Höhepunkten und unbeeinflußbar sind. Im Gesetz sind Mehrkosten durchlebt. Einen Höhepunkt haben Sie, sehr verehrter auf Grund krankenhausspezifischer Rechtsvorschrif- Herr Minister, heute den Liberalen bereitet. Denn mit ten und im Personalbereich auf Grund der Psychiatrie- Zustimmung und Bewunderung haben wir Ihrem personalverordnung, der Pflegepersonalregelung so- begeisterten Pladoyer für die Krankenhausreform wie der Stellenmehrung für Hebammen und Geburts- gelauscht. Wir bedanken uns bei Ihnen für diesen helfer bereits berücksichtigt. Da die Ausgaben im Ihren Meinungswandel und freuen uns, daß aus einem Krankenhaus zu 70 % Personalkosten sind, sind diese konservativen Saulus ein liberaler Paulus geworden Ausnahmen unverzichtbar, gerade auch im Hinblick ist. auf die Notwendigkeit, zusätzliche Pflegekräfte ein- zustellen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Krankenhäuser sind in Sorge, ob sie die Kostenstei- gerungen, die auf Grund von Tariferhöhungen anste- Meine Damen und Herren, ich begrüße es, daß in hen, regeln können. Für den Fall, daß Tarifabschlüsse diesem so eminent wichtigen Politikbereich, der alle im Dreijahresdurchschnitt über der Grundlohnsum- Menschen in unserem Lande mittelbar oder unmittel- menentwicklung liegen, sieht das Gesetz Ausgleichs- bar als Handelnde oder Behandelte, als Beitragszahler regelungen vor. Es sollte aber vielleicht daneben noch oder Verwalter der Gelder, bet rifft, ein Konsens zwi- überlegt werden, ob nicht auch Erhöhungen auf schen Koalition und Opposition erzielt werden Grund struktureller Änderungen erfaßt werden könn- konnte. Ich begrüße dies, weil es allen deutlich ten, wobei der Zeitraum der Steigerung dann aller- sichtbar macht, daß Handlungsfähigkeit über die dings an die Laufzeit des Krankenhausbudgets anzu- Parteigrenzen hinweg besteht, wenn über dringlich binden wäre. anstehende große Reformwerke entschieden werden muß. Ich begrüße dies aber auch, weil es ein sichtbares Die liquidationsberechtigten Ärzte in den Kran- Zeichen nach draußen dafür ist, daß Parteiinteressen kenhäusern werden stärker als bisher an den Kosten beteiligt, die durch die Nutzung von Einrichtungen zurückstehen müssen, wenn es darum geht, ein fun- damentales soziales Sicherungssystem, das weltweite und Personal des Krankenhauses bei der Behandlung Anerkennung findet und unverzichtbar für die soziale von Privatpatienten entstehen. Dies dient der Entla- bzw. gesundheitliche Absicherung unserer Bevölke- stung der Krankenkassen. rung ist, zu reformieren. Möge dies beispielhaft sein Durch Übergangsregelungen wird sichergestellt, für die schnelle Lösung auch anderer anstehender daß nicht in bestehende Verträge eingegriffen werden dringlicher Entscheidungen in unserem Lande. muß und daß den Krankenhausträgern während der Budgetierungsphase rund 50 % der vertraglichen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Nutzungsentgelte verbleiben. Natürlich muß andererseits jeder, der den gefunde- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, während nen Kompromiß wertet, auch wissen, daß Konsensher- die Krankenhäuser Anstrengungen unternehmen, stellung immer ein Nehmen und Geben bedeutet. nicht mehr bedarfsgerechte Betten abzubauen, sind Keiner ist in der Lage, in einem solchen Falle alle seine im Rehabereich Einrichtungen entstanden, die Akut- Vorstellungen und Lösungsansätze verwirklichen zu medizin betreiben und damit die Krankenhauspla- können. Dies ist manchmal schmerzlich, für nicht am nungen unterlaufen. Es war deshalb sinnvoll und Entscheidungsprozeß Beteiligte sogar unverständlich notwendig, daß im Rehabereich der Begriff der und kann auch nur ge tragen werden, wenn sich jeder Bedarfsgerechtigkeit eingeführt und die Forderung Beteiligte in einem fairen Kompromiß mit seinen durchgesetzt wurde, daß mit der zuständigen Landes- Politikvorstellungen im Gesetz wiederfindet. Die behörde ein Einvernehmen über Abschluß und Kün- Menschen im Lande, unsere Wähler, müssen letztend- digung des Versorgungsvertrages anzustreben ist. lich darüber befinden, ob uns dies gelungen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn alle Betei- Alle gemeinsam sahen wir uns aber in der Pflicht, ligten bereit sind, ihren Beitrag zu leisten, wird auch die schnell und stetig steigenden Kosten wirksam zu künftig die wirtschaftliche Sicherung der Kranken- bremsen. Daß dies letztlich nur durch dirigistische häuser gewährleistet sein, um eine bedarfsgerechte - Maßnahmen erreicht werden kann, ist gerade für uns Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen, Liberale eine schwer zu tragende Entscheidung und eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäu- überhaupt nur mit einer zeitlichen Limitierung zu sern zu sichern. vertreten. Doch verantwortlich politisch H andeln Ich danke für die Aufmerksamkeit. heißt auch, daß man sich seiner Pflicht nicht entziehen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. darf, wenn denn die Handlungsnotwendigkeit offen- sowie bei Abgeordneten der SPD) sichtlich ist. Daß sich die davon Betroffenen zu Wort melden, halte ich für völlig legitim. Bei einem Einsparvolumen Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt dem Herrn Abgeordneten Dr. Bruno Menzel das Wort. in Höhe von 11 Milliarden DM — die Notwendigkeit dafür wird angesichts der gegenwärtigen finanziellen Lage wohl niemand ernsthaft bezweifeln können — Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine löst jede Einsparung eine Verteilungsdiskussion aus, sehr verehrten Damen und Herren! Auf dem langen die, wenn sachlich geführt, ich für durchaus berechtigt Weg bis zur Einbringung des gemeinsam von Koali halte. Auch wenn es für den Politiker manchmal Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9941

Dr. Bruno Menzel unbequem sein kann, müssen wir uns mit diesen überhaupt kommt, erst für 1994 vorgesehen. Wir Argumenten auseinandersetzen, und beide Seiten haben auch dafür Sorge getragen, daß das Basisjahr müssen ihre Fähigkeit zur Einsicht unter Beweis der Berechnung für die Zahnärzte 1992 sein soll, stellen. bereinigt um den Mengenanstieg von 1991 zu 1992. Auch bei ihnen kann in der Zukunft, bereits ab Meine Damen und Herren, man würde dem Gesetz 1. Januar 1993, über eine Punktwerterhöhung verhan- aber nicht gerecht werden, wenn man nur die aktuel- delt werden. len Bezüge sieht und die zukunftsorientierten struktu- rellen Elemente nicht entsprechend würdigt. Für uns Aber, meine Damen und Herren, Sie werden nicht Liberale war es entscheidend, daß mit diesem Gesetz verwundert sein, wenn ich meine Schwierigkeiten mit Wege für die Zukunft eröffnet werden, die mehr der Degression habe — und dies besonders im Hin- Wirtschaftlichkeit, mehr Wettbewerb, mehr Marktele- blick auf die neuen Bundesländer. Denn der dortige mente, mehr Transparenz und mehr Verantwortlich- Mengenanstieg ist nicht dadurch bedingt, daß die keit aller innerhalb dieses Systems zur Wirkung kom- Kollegen nach Arbeit gesucht haben, sondern men lassen, bis hin zur Übereinstimmung hinsichtlich dadurch, daß im Bereich des Zahnersatzes und der einer grunsätzlichen Neubewertung, in welchem konservierenden Zahntherapie bei den Menschen in Umfange die Solidargemeinschaft in der Verantwor- den neuen Bundesländern ein ungeheurer Nachhol- tung steht und wo die Eigenverantwortung stärker bedarf besteht. gefordert werden muß. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Kostenerstattung, Wettbewerb bei Kassen, Wirt- Wir haben diese Kollegen aufgefordert, alles zu tun, schaftlichkeit bei Krankenhäusern, Verzahnung von um den Menschen die Deckung dieses Nachholbe- stationärer und ambulanter Behandlung im fairen darfs so schnell wie möglich zu garantieren. Dieser ist Wettbewerb sind nach liberalem Verständnis die mit 1992 nicht beendet; er besteht auch 1993 weiter. richtigen Schritte in die richtige Richtung. Mehr Deshalb, so denke ich, sollten wir uns in dieser Frage Liberalität und Marktwirtschaft in Verbindung mit für neue Überlegungen durchaus offen zeigen; denn einer sinnvollen und notwendigen Begrenzung des auch hier muß von der Politik dafür Sorge getragen von der Solidargemeinschaft zu finanzierenden Auf- werden, daß jene Kollegen ihren Auftrag, den sie gabenkataloges der gesetzlichen Krankenversiche- letztendlich auch von uns bekommen haben, tatsäch- rung werden unser Gesundheitssystem auch in lich realisieren können. Zukunft auf hohem Leistungsniveau erhalten und finanzierbar machen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU und der SPD — Dr. Walter Meine Damen und Herren, ein wichtiges Anliegen Franz Altherr [CDU/CSU]: Das begrüße ich, in allen Beratungsstadien war auch stets die Ausge- Herr Kollege Menzel!) wogenheit der Maßnahmen. Dazu gehörte und gehört die Berücksichtigung der besonderen Situation in den Dafür sprechen auch die Zahlen aus den neuen neuen Bundesländern. Dies schulden wir, so glaube Bundesländern. Die Zahnärzte dort versuchen mit ich, all jenen, die mit Mut und hohem persönlichen beispiellosem Einsatz, den notwendigen Nachholbe- Einsatz ein freiheitliches Gesundheitswesen in den darf der Bevölkerung schnell zu decken. neuen Bundesländern aufgebaut haben und den Weg in die Selbständigkeit gegangen sind. All jene Berufs- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wir gruppen, die dazu beigetragen haben — ob Ärzte, werden Ihnen den Zahn noch ziehen, Herr Zahnärzte, Apotheker, Zahntechniker oder Angehö- Minister! — Heiterkeit) rige anderer Berufe —, haben ein Recht auf verläßli- Es sei für die besondere Berücksichtigung der che Zukunftsbedingungen. Bei noch nicht angegli- neuen Bundesländer auch beispielhaft erwähnt, daß chenem Punktwert, schnell steigenden Arztzahlen bei den Krankenhäusern — der Herr Minister hat es und hoher Verschuldung sind sie ein außerordentlich hier schon ausgeführt — besonders berücksichtigt hohes Risiko eingegangen, besonders auch diejeni- wird, daß weitere Punktwertanpassungen auch in der gen Kollegen, die mit 50 Jahren oder älter nicht Budgetierungsphase erfolgen, und daß die Patienten gezögert haben, diesen Schritt zu tun. Wir müssen allein dadurch entsprechend Berücksichtigung fin- ihnen Sicherheit in der neuen Existenz geben. Aber den, daß die Härtefallgrenze sowie die Einkommens- auch jenen, die heute noch in den ehemaligen- poli- begrenzung bei Alleinstehenden bereits ab dem 1. Ja- klinischen Einrichtungen und Fachambulanzen tätig nuar 1993 an das westliche Niveau angeglichen sind und die einen wesentlichen Anteil daran haben, werden, was bedeutet, daß die überwiegende Mehr- daß in den neuen Bundesländern zu keiner Zeit zahl der Rentner in den neuen Bundesländern — das Versorgungslücken aufgetreten sind, wurde jetzt die sind gerade jene, die häufig Medikamente benöti- Sicherheit gegeben, die sie benötigen, um ihre Arbeit gen — in der Regel fast keine Zuzahlung zu leisten entsprechend fortsetzen zu können. brauchen. Ich denke, auch das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich wollte das nur stellvertretend für viele Meine Damen und Herren, wir haben bei unseren andere Überlegungen sagen, die wir in dieser Rich- Beratungen stets berücksichtigt, daß diese besonde- tung noch angestellt haben. ren Bedingungen in den neuen Bundesländern gewahrt werden. Wir haben als Bezugsjahr für die Allen in unserem Gesundheitssystem sich Bewe- Ärzte 1992 vorgesehen. Ferner werden in den kom- genden werden Lasten auferlegt, die, so glaube ich, menden drei Jahren für die sich noch niederlassenden das Leistungsvermögen des einzelnen berücksichti- Ärzte Prozentpunkte hinzugerechnet. Wir haben die gen und die soziale Symmetrie zu wahren suchen. Einführung des Arzneimittelbudgets, wenn es denn Damit wird allen Beteiligten — sowohl Patienten als 9942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Bruno Menzel auch Leistungserbringern — gezeigt, daß die Ressour- ein Stück materieller Gerechtigkeit geschaffen; es cen dieses Systems nicht unbegrenzt sind und sorgfäl wird auch ein weiterer Schritt zur Förderung der tiger Umgang damit geboten ist. Dieses Gesetz zeigt inneren Einheit getan. aber auch den zukünftigen Weg, der es ermöglichen wird, auch nach der Jahrtausendwende gesundheitli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) che Fürsorge für alle auf hohem Niveau zu gewähr- Noch gibt es Unterschiede zwischen Ost und West, leisten. die keiner Seite vorzuwerfen sind, sondern die sich (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der daraus ergeben, daß bei uns ein gänzlich neues CDU/CSU) Gesundheitssystem aufgebaut und eine riesige Altlast bewältigt werden muß. Gewiß sind die organisatori- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich all j enen schen Anfangsschwierigkeiten größtenteils überwun- Dank sagen, die bei der Erstellung des Gesetzes den, doch braucht es eben länger als zwei Jahre, um mitgewirkt haben, insbesondere auch den Damen und z. B. ein marodes Krankenhauswesen in ein voll Herren aus dem Ministerium. Nicht zuletzt danke ich funktionstüchtiges zu verwandeln. Ich werbe daher an dem Herrn Minister für seine äußerst verständnisvolle dieser Stelle um Ihr Verständnis für die Sonderwün- Führung aller beteiligten Partner. sche der neuen Länder und bitte diese bei der Herzlichen Dank. Vorbereitung der zu findenden Kompromisse zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU berücksichtigen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ein wichtiger Punkt ist dabei die geringere Belast- barkeit aller Leistungserbringer. Diese Berufsgrup- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und pen haben mit großem Engagement den Weg in die Herren, als letztem Redner in dieser Debatte bei der freie Niederlassung gewagt. Für einen Westbürger ersten Beratung des Entwurfs eines Gesundheits mag dies nicht besonders aufsehenerregend sein; für Strukturgesetzes erteile ich jetzt dem Herrn Staatsmi- einen ehemaligen DDR-Bürger, der die umfassende nister für Soziales, Gesundheit und Familie des Lan- staatliche Bevormundung gerade hinter sich gelassen des Sachsen, Herrn Dr. Hans Geisler, das Wort. hat und nun seine ersten Gehversuche zur ungewohn- ten Selbständigkeit unternimmt, bedeutet die Ver- schuldung Unsicherheit und schlaflose Nächte. Die Staatsminister Dr. Hans Geisler (Sachsen): Sehr Anbindung der Deckelung an die Grundlohnsumme geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und bringt für die neuen Länder in fast allen Bereichen den Herren! Ich bin dankbar dafür, daß ich heute als Spielraum für die Bewältigung von Nachholebedarf Vertreter Sachsens die Gelegenheit habe, vor diesem und Schuldentilgung. Die Grundlohnsumme wird von Hohen Hause die Interessen der neuen Länder im 1992 zu 1993 um ca. 15 % steigen. Das heißt, nicht nur Zusammenhang mit dem Gesundheits-Strukturgesetz für die Löhne der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen darzustellen. sind die notwendigen Mittel vorhanden, sondern auch Seit einigen Jahren rollt die Kostenlawine im bei den Sachkosten stehen 15 % zur Verfügung, und Gesundheitswesen. Im Interesse aller gilt es, diese dies heißt wiederum 10 % mehr als in den alten Lawine aufzuhalten, bevor Qualität und Zuverlässig- Bundesländern. keit unseres Gesundheitssystems von einer riesigen Finanzlast erdrückt werden. Daß die neuen Länder (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. noch nicht so stark betroffen sind, liegt im wesentli- sowie bei Abgeordneten der SPD) chen daran, daß Ärzte und Patienten das Leistungssy- Darüber hinaus gibt es noch Zuschläge entsprechend stem noch nicht in gleichem Maß wie in den alten den besonderen Bedingungen, die fast alle schon Ländern ausschöpfen. Es ist jedoch nur eine Frage der genannt wurden, weshalb ich mir das erspare. Zum Zeit, wann auch hier die gleichen finanziellen Pro- Beispiel hat Herr Menzel einige davon genannt. bleme auftauchen und Beitragserhöhungen unum- gänglich werden. Sehr geehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf eine politische Aufgabe von Der vorliegende Gesetzentwurf beschreitet den besonderer gesamtstaatlicher Bedeutung zu lenken. richtigen Weg zur Konsolidierung und wird von uns Vorweg aber noch ein Wort zu den letzten zwei deshalb grundsätzlich begrüßt. Die der heutigen Jahren: Vielfältige Hilfen von Bund, alten Ländern Debatte vorausgegangenen Beratungen haben- ge- und Kommunen haben erfreuliche Fortschritte in der zeigt, daß die alten Bundesländer, gezielt mit den Modernisierung unseres Gesundheitswesens ge- Problemen der neuen Länder vertraut gemacht, bracht. Bei der Bereitstellung von Medikamenten und durchaus Verständnis für diese aufbringen und daß der Erbringung diagnostischer Leistungen haben wir Lösungen gefunden werden, die den anderen Aus- das gleiche Niveau und damit die gleichen Lebens- gangsbedingungen entsprechen. Dafür danke ich verhältnisse erreicht. allen Beteiligten. Die Angleichung der Einkommensgrenzen bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Härtefallregelung in bezug auf die Zuzahlung ist ein Es gibt beim Zugang zu Medikamenten keine Vier- Beispiel dafür. Es war den Bürgern im Osten Deutsch- klassengesellschaft wie in der DDR mehr, mit A-, B-, lands nicht verständlich warum im Westen ein Allein- C- und D-Nomenklatur. Man muß kein hoffnungsvol- stehender bis 1 400 DM pro Monat zuzahlungsfrei ler Nachwuchskader sein, um Westmedikamente ver- bleiben solle, während im Osten bereits ab 840 DM ordnet zu bekommen. Zuzahlungen zu leisten seien. Mit der beabsichtigten Angleichung der Einkommensgrenzen ist nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9943

Staatsminister Dr. Hans Geisler (Sachsen) Aber ein anderer Punkt ist bedrückend: Der bauli- turgesetzes — an die in der Tagesordnung aufgeführ- che Zustand der meisten Krankenhäuser ist weithin ten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere desolat. Die 40jährige kommunistische Mißwirtschaft Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Darm sind die hat an der Substanz gezehrt. Aus eigener Kraft sind Überweisungen so beschlossen. die neuen Länder nicht in der Lage, diese gewaltige Erblast abzutragen. Der Nachholebedarf im investi- ven Bereich des Krankenhauswesens der neuen Län- Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tages- ordnungspunkt 7 auf: der beläuft sich nach unseren Berechnungen auf 24 Milliarden DM. Wenn die neuen Länder diesen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Finanzbedarf allein abdecken müßten, wäre das Büttner (Ingolstadt), Gerd Andres, Hermann allenfalls in 18 bis 20 Jahren zu schaffen. Das wäre Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der menschlich unzumutbar und politisch nicht vertret- Fraktion der SPD bar. Mißbrauch ausländischer Werkvertrags- und Es besteht in diesem Hause wohl Einvernehmen Saisonarbeitnehmer, Lohn- und Arbeitsrechts- darüber, daß der große investive Nachholebedarf im dumping und verstärkte Verfolgung illegaler Krankenhauswesen der neuen Länder zügig zu Beschäftigungsverhältnisse durch die Bundes- befriedigen ist. Der Bund muß dazu einen Beitrag anstalt für Arbeit und die Hauptzollämter leisten. Den westdeutschen Ländern hat der Bund in — Drucksache 12/3299 — der Zeit von 1972 bis 1984 den Aufbau moderner Überweisungsvorschlag: Krankenhausstrukturen mit über 16 Milliarden DM an Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Zuschüssen ermöglicht. Es gibt keinen Grund, den Innenausschuß ostdeutschen Ländern, die sich in einer wesentlich Rechtsausschuß schwierigeren Situation befinden, diese Hilfe zu ver- Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sagen. b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der regierung F.D.P. und der SPD) Bericht der Bundesregierung über den Stand Im Namen der neuen Länder fordere ich, daß ein der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen Krankenhausinvestitionsprogramm in den Gesetzge- in der Bundesrepublik Deutschland (alte Bun- bungsprozeß des GSG eingebunden wird. Ich beziehe desländer), Unfallverhütungsbericht 1990 mich auf die Zusagen von Minister Seehofer und hoffe, daß das Realität wird. Es sollte bereits 1994 — Drucksache 12/1845 — anlaufen und könnte im Jahre 2003 enden. Hierzu Überweisungsvorschlag: haben wir konkrete Vorschläge entwickelt. Jeweils Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Gesundheit ein Drittel, also 8 Milliarden DM, sollten Bund, die Ausschuß für Verkehr neuen Länder und der private Kapitalmarkt aufbrin- gen. Die Tilgung des eingesetzten privaten Kapitals c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- übernehmen die neuen Länder; die Zinslasten tragen regierung unsere Krankenkassen als pauschalierte Kostenüber- Siebenter Bericht der Bundesregierung über nahme für Rationalisierungsinvestitionen. Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeit- Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich fasse nehmerüberlassungsgesetzes — AUG — sowie über die Auswirkungen des Gesetzes zur zusammen: Wir stehen hinter dem Gesetzentwurf, wir tragen ihn mit. Aber wir brauchen im Rahmen dieser Bekämpfung der illegalen Beschäftigung — Bemühungen um die Konsolidierung des Gesund- BillBG — heitswesens eine verbindliche Zusage zur Lösung des — Drucksache 12/3180 — Krankenhausfinanzierungsproblems. Wir brauchen Überweisungsvorschlag: die Verläßlichkeit gesetzlicher Regelungen, z. B. eine Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Bund-Länder-Vereinbarung entsprechend Art. 104 a Ausschuß für Wirtschaft des Grundgesetzes. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Ich bitte Sie, diesem Wunsch zu entsprechen und gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — den neuen Ländern ausreichend Mittel für die- Kran- Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so kenhäuser zur Verfügung zu stellen. beschlossen. Ich danke Ihnen. (Unruhe) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ich möchte gern die Aussprache eröffnen und bitte, sowie bei Abgeordneten der SPD) uns in den Stand zu versetzen, daß wir dem Redner zuhören können. — Das ist der Fall. Dann erteile ich jetzt unserem Kollegen Ottmar Schreiner das Wort. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksa- Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- chen 12/3608 — das ist der Entwurf eines Gesetzes zur leginnen und Kollegen! Wir haben es mit einer Mate- Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzli- rie zu tun, die sehr kompliziert und sehr sensibel chen Krankenversicherung — und 12/3606 — das ist zugleich ist. Die Bundesregierung hat in den vergan- der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genen Jahren Regierungsvereinbarungen mit den betreffend Vorlage eines neuen Gesundheits-Struk Staaten Mittel- und Osteuropas über die Beschäfti- 9944 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Ottmar Schreiner gung osteuropäischer Arbeitnehmer in Deutschland Deutsche Hintermänner gründen in osteuropäi- getroffen. Grundlage der Beschäftigungsverhältnisse schen Staaten Briefkastenfirmen, um mit diesen Fir- dieser Arbeitnehmer sind häufig Werkverträge. men risikolos hohe Gewinne zu erzielen. Es wird Danach kann eine begrenzte Zahl mittel- und osteu- häufig gegen die Arbeitszeitordnung und die Unfall- ropäischer Arbeitnehmer eine befristete Arbeitser- verhütungsvorschriften verstoßen. Eine wirksame laubnis erhalten, sofern sie auf der Grundlage eines Überwachung der Abwicklung der Regierungsverein- Werkvertrages zwischen einem deutschen Unterneh- barungen durch die Bundesanstalt für Arbeit ist nicht men und einem osteuropäischen Arbeitgeber für eine möglich. vorübergehende Tätigkeit in die Bundesrepublik Diese Situation wird durch die sprunghafte Deutschland entsandt werden. Erklärtes Ziel der Zunahme illegaler Beschäftigungsverhältnisse noch Regierungsvereinbarungen ist es, die Transformation, erheblich verschärft. Die Industriegewerkschaft Bau den Übergang von zentralen Verwaltungswirtschaf- — Steine — Erden schätzt, daß allein im Baubereich ten auf marktwirtschaftliche Strukturen begleitend zu mittlerweile auf jeden legal beschäftigten ausländi- unterstützen. schen Arbeitnehmer zumindest ein illegal beschäftig- Die Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitneh- ter kommt.

mer in Deutschland sollen den Migrations - , den Meine Damen und Herren, diese Zustände, die Auswanderungsdruck in den Herkunftsländern ent- inzwischen keine Einzelprobleme mehr sind, sondern lasten und einen Beitrag zur wirtschaftlichen und zu einem Massenphänomen ausgewuchert sind, las- sozialen Stabilisierung des jeweiligen Landes lei- sen sich auf eine einfache Formel bringen: Die sten. Unkenntnis und Hilflosigkeit vieler ausländischer Arbeitnehmer wird schamlos ausgenutzt; sie werden Die beteiligten ausländischen Unternehmen wie- auf der Basis von Niedrigstlöhnen ausgebeutet. Deut- derum sollen im Rahmen der Zusammenarbeit mit sche Arbeitnehmer wiederum verlieren ihre Arbeits- deutschen Unternehmen marktwirtschaftliche Stan- plätze, weil ihre Arbeitskraft mit den Dumpinglöhnen dards kennenle rnen; das erworbene Wissen sowie nicht mehr konkurrieren kann. erzielte Gewinne sollen dann später für Investitionen im Herkunftsland eingesetzt werden. Hier entsteht — und das ist das, was besonders zu bedauern ist — eine neue, eigenständige Quelle von Wir kritisieren von seiten der SPD-Fraktion keines- Ausländerfeindlichkeit, weil es z. B. einem deutschen wegs die Ziele der Regierungsvereinbarungen. Sie Bauarbeitnehmer nicht mehr beigebracht werden finden unsere volle Unterstützung. Kritikwürdig auf kann, daß er seinen Arbeitsplatz verliert, weil eine dieser Ebene ist allein, daß die Bundesregierung es ausländische Arbeitskraft diesen Arbeitsplatz für bislang versäumt hat, ihre eigenen Hilfsbemühungen 3 DM die Stunde besetzt. Das ist nicht mehr begreifbar konzeptionell zusammenzufassen und in ein national zu machen. und international abgestimmtes Gesamtprogramm (Beifall bei der SPD) zur Förderung der politischen, wirtschaftlichen und Insoweit ist dringende Abhilfe auf diesem Feld der sozialen Restrukturierung der Länder Mittel- und Politik allein schon aus diesem Grunde — es gibt viele Osteuropas einzubringen. andere Gründe — geboten. Eine durchdachte Konzeption ist weit und breit Die SPD-Fraktion schlägt vor, die entsprechenden nicht in Sicht. Die Bundesregierung betreibt reine Regierungsvereinbarungen mit den mittel- und osteu- Flickschusterei und wurschtelt sich von Tag zu Tag ropäischen Staaten dahin gehend zu ändern, daß - auch auf diesem höchst bedeutsamen politischen Fachkräfte aus diesen Ländern über die Erteilung Feld — eher schlecht als recht durch. einer individuellen Arbeitserlaubnis vorübergehend ein Beschäftigungsverhältnis bei Firmen in der Bun- (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Bringen Sie desrepublik eingehen können; das entspricht dem einmal ein paar Argumente!) sogenannten Gastarbeitnehmerstatus. Im Zentrum unserer Kritik stehen die Instrumente, Entscheidend für uns ist, meine Damen und Herren, mit denen die Regierungsvereinbarungen — im übri- daß die Ursachen der gegenwärtigen Mißbräuche so gen von der Bundesregierung schlampig verhan- schnell wie möglich beseitigt werden. Die Bundesre- delt — durchgesetzt werden sollen. Das gilt vor allem gierung weiß seit längerem von dieser Entwicklung. für die Werksvertragsregelungen, die zu massiver Bis zur Stunde ist so gut wie nichts geschehen. Sie hat mißbräuchlicher Ausnutzung der Regierungsverein- diese Entwicklung — wie viele andere auch — schlicht barungen geführt haben. und einfach verschlafen. Dazu nur einige Beispiele: Es bestehen begründete Wir werden — ich kündige Ihnen das hier in aller Zweifel, ob viele ost- und mitteleuropäische Firmen Freundlichkeit an, meine Damen und Herren von den auf Grund ihrer materiellen und personellen Ausstat- Noch-Regierungsfraktionen — tung überhaupt in der Lage sind, Werkverträge eigen- (Widerspruch bei der CDU/CSU) ständig zu erfüllen. In Wirklichkeit handelt es sich in allernächster Zeit, vor allem mit Blick auf weitere häufig um schlichte Leiharbeit. Der dem Werkver- Gestaltungsmöglichkeiten, die baldige Durchführung tragsarbeitnehmer ausgezahlte Lohn beträgt häufig einer Anhörung von Sachverständigen im Ausschuß etwa 5 DM die Stunde — in manchen Fällen weni- beantragen. ger — und ist damit weitaus niedriger als zugesichert. für Arbeit und Soziales Im Gegenzug werden deutsche Arbeitnehmer aus (Julius Louven [CDU/CSU]: Dagegen haben regulären Arbeitsverhältnissen entlassen. wir nichts!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9945

Oftmar Schreiner — Sie sagen, Sie haben nichts dagegen. Nun, Sie Dies schadet dem sozialen Frieden, dies schadet auch könnten diese Anhörung vermeiden. Wenn Sie Ihre der inneren Sicherheit, und dies schadet nicht zuletzt schlechte Politik rechtzeitig korrigieren würden, der Rechtskultur. Auch das sollte hier einmal gesagt könnten Sie uns allen sehr viel Arbeit und den werden. Menschen draußen im Lande sehr viel Ärger erspa- (Beifall bei der CDU/CSU) ren. Genauso, wie wir die Schwarzarbeit im Lande (Beifall bei der SPD) bekämpfen, müssen wir illegale Beschäftigungsver- Wir bieten den Koalitionsfraktionen auf diesem hältnisse, die von außen in unser Land kommen, mit hochsensiblen Feld ausdrücklich unsere Bereitschaft Entschiedenheit bekämpfen. Mißbrauch darf in zur Zusammenarbeit an. Es ist schon genug Porzellan Deutschland kein immer beliebter werdendes zerbrochen worden, vor allem innenpolitisch. Wir Brauchtum werden. möchten verhindern, daß außenpolitischer Schaden hinzutritt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir haben übrigens von seiten der sozialdemokra- Die radikalste Form einer Lösung wäre sicherlich tischen Fraktion in der vergangenen Woche etliche die Kündigung sämtlicher Werkvertragsabkommen. Gespräche mit der besonders betroffenen polnischen Damit würde aber die Chance vertan, osteuropäi- Seite geführt. Ich war — zuletzt noch am gestrigen schen Firmen und Arbeitnehmern beim Aufbau von Abend — Gast in der polnischen Botschaft. — Ich marktwirtschaftlich üblichem Know-how zu helfen möchte, übrigens ganz am Rande, daran erinnern, um und gewisse Deviseneinnahmen zu erwirtschaften. jedes Mißverständnis auszuschließen, daß vor einiger Niemand hier im Raum wird bezweifeln, wie dringend Zeit auf meine Anregung hin eine Vereinbarung dies nach wie vor ist. getroffen worden ist, wonach sich der deutsche und Über die Werkverträge werden Hilfen — dies ist der polnische Parlamentsausschuß für Arbeit und vielleicht auch der Erwähnung wert — ohne den Griff Soziales regelmäßig jedes Jahr zu einem Meinungs- in die Steuerkasse gegeben. Werkverträge bedeuten austausch treffen. — Unser Verhältnis zu Polen ist allerdings im praktischen Fall oft Wettbewerbsbeein- immer noch schwierig genug. Wir wollen helfen und trächtigungen, auch dann, wenn sie legal abgewickelt nicht ausbeuten. werden. Dies ist und war jedem bekannt. Wir wollen aber auch unsere eigene Bevölkerung An die Adresse der Tarifpartner möchte ich aus nicht überfordern. begründetem Anlaß sagen, daß diese Konzeption (Zuruf von der SPD: Der „Notstand" muß sowohl von Arbeitgeber- als auch von Gewerkschafts- beseitigt werden!) seite im gemeinsamen Arbeitskreis „Ausländische Arbeitnehmer" mitgetragen wurde. Wer in Deutschland für bitter notwendige Solidarität mit den Menschen in Mittel - und Osteuropa wirbt, der Während bei einer Hochkonjunktur solchen Wett- darf mit seiner Politik nicht gleichzeitig neue Ursa- bewerbsbeeinträchtigungen — zur Klarstellung: Die chen für Ausländerfeindlichkeit in Deutschland her- Zahl der eigentlichen Werkvertragsarbeitnehmer vorrufen. liegt unter 1 % — weniger Gewicht zugemessen wird, Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ist das bei schwächerer Konjunktur natürlich anders. Deswegen muß die Arbeitnehmerzahl, die vereinbart (Beifall bei der SPD) wurde, in einer solchen Situation unbedingt eingehal- ten werden; zudem muß auch der Mechanismus zur Begrenzung, der in den einzelnen Abkommen vorge- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sehen ist, in Gang gesetzt werden. Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Hans Wie schwierig das alles ist, zeigt der Bereich des Joachim Fuchtel das Wort. Wohnungsbaus. Auf der einen Seite steht die Forde- rung nach dringenden Maßnahmen gegen die Woh- nungsnot. Auf der anderen Seite sollen Kapazitäten Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Präsident! auf diesem Sektor des Arbeitsmarktes heruntergefah- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte ren werden. Das ist beim Zusammenführen dieser bei dieser Beratung ebenfalls für differenzierte- beiden Forderungen vor Ort manchmal ganz schön Betrachtungen werben. Ich bedanke mich bei dem problematisch. Kollegen Schreiner, daß er bei diesem Thema in Ich selber habe das am eigenen Leib verspürt. Ich größtmöglicher Übereinstimmung zu Verbesserun- wollte in diesem Jahr eine Garage bauen. Auf den gen kommen will. Maurer habe ich vier Monate, auf den Zimmermann Bei den Werkverträgen mit osteuropäischen Staa- zwei Monate gewartet. Der Gips soll eventuell noch ten — darüber möchte ich vor allem sprechen — ist Ende des Jahres kommen. unser Problem, daß eine eigentlich vernünftige Sache (Zuruf des Abg. Gerd Andres [SPD]) mißbraucht wird; darüber sind wir uns einig. Wir sind uns wahrscheinlich weitgehend auch darüber einig, Auch solche Situationen gibt es noch. Wir müssen daß man in Deutschland auf keinen Fall dulden kann, darauf hinweisen, daß es nach wie vor gerade auf dem daß mehr und mehr illegale Beschäftigung entsteht, Bausektor mancherorts Kapazitätsengpässe gibt. aus Gründen, die der Kollege Schreiner vorhin Deswegen wäre eine Kündigung aller Abkommen genannt hat, aber auch aus anderen Gründen. oder eine gewaltige Reduzierung wohl nicht der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) richtige Weg. Schließlich gibt man — Sie, Herr Kollege 9946 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Hans-Joachim Fuchtel Andres, nannten gerade das Stichwort „Führer- fen und auf der anderen Seite mehr sparen. Gerade an schein" — auch Führerscheine aus, obwohl man weiß, dem Punkt müssen wir, wenn Sie von Zusammenar- daß manche Autofahrer nach der Erteilung Unfälle beit sprechen, diese auch verwirklichen. verursachen. Meine Damen und Herren, auf die weiteren Punkte, Meine Damen und Herren, in den Beratungsvorla- die Sie vorschlagen, wird mein Kollege Schemken gen wird vorgeschlagen, die Begrenzung der Zahlen eingehen. sicherzustellen. Damit hat sich die Regierung bereits Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß befaßt, bevor Sie den Antrag eingebracht haben. Von die Bundesregierung schon eine Reihe von Maßnah- anderen Vorschlägen, die Sie gemacht haben, halte men eingeleitet hat, bevor die Opposition aktiv wurde. ich weniger, z. B. davon, daß Sie hier die Ausweitung Das Kabinett hat bereits vor der Sommerpause die der Gastarbeitnehmerabkommen als generelle Alter- AFG-Novelle beschlossen. Wenn Sie im Vermitt- native zur Sprache bringen. lungsausschuß diese AFG-Novelle nicht blockieren, dann kann man zum 1. Januar 1993 bereits weitere Nach meiner Meinung müssen wir in diesem Aktivitäten in die Wege leiten, und zwar auch auf Zusammenhang folgendes unterscheiden: Auf der diesem Gebiet. einen Seite gibt es Werkverträge. Die richten sich an Firmen, in denen Leute bereits in Arbeit sind. Den Es ist vorgesehen, daß man ein erleichtertes Firmen soll mehr Know-how vermittelt, die Mitarbei- Betriebsprüfungsrecht einführt; d. h. Prüfung ohne ter sollen entsprechend trainiert werden, damit sie im Anfangsverdacht. Das ist eine ganz wichtige Angele- eigenen Land an größere Projekte herangehen kön- genheit. Des weiteren soll es zu der Verpflichtung der nen. ausländischen Werkvertragsfirmen kommen, sämtli- che Unterlagen zur Einsicht und zur Prüfung bereit- Auf der anderen Seite haben wir Gastarbeit- zuhalten. Denkbar ist auch, keine Genehmigung zu nehmerabkommen, mit denen wir in allererster Linie erteilen. Es sind -bereits Genehmigungsstopps für Arbeitslose erreichen. Dabei weise ich darauf hin, daß neue Werkverträge in den Fällen ausgesprochen dies doch eine andere Zielgruppe ist. Gerade für worden, in denen die Kontingente überzogen wurden. diesen Sektor ist das Instrument der Gastarbeitneh- Man hat vor allem bei den polnischen Werkvertrags- merabkommen geschaffen worden. Hier arbeiten wir firmen eine Reduzierung der Zahl vorgenommen. mit einer Reihe von Ländern in spezifischer Weise Man hat hier sehr starke Einschränkungen vorgege- zusammen. ben; z. B. die, daß diese Firmen künftig bereits zwei Gastarbeitnehmer kommen im Rahmen des Ab- Jahre vorher in Polen in diesem Wirtschaftszweig tätig kommens als Individualarbeitnehmer mit allen Din- sein müssen. So soll die Möglichkeit, Briefkastenfir- gen, die berücksichtigt werden müssen, in Berührung. men zu gründen, endlich verbaut werden. M an wird Dabei denke ich an die administrativen Abwicklun- auch Garantien, z. B. Wechselgarantien, verlangen. gen, die ganz sicher noch umfangreicher und mit Man wird dafür sorgen, daß diese Firmen von den Sicherheit nicht einfacher werden. Wir sehen bereits, polnischen Fachbehörden bewertet werden, bevor sie daß es gar nicht so einfach ist, diese Abkommen in die bei uns eine Chance bekommen. Praxis umzusetzen. Es ist schwierig, dafür zu sorgen, Es wird daran gearbeitet, die administrativen daß keine individuellen Probleme bei den jeweiligen Abwicklungen zu verbessern. Es soll zu einer Konzen- Arbeitsverhältnissen entstehen. tration auf fünf Landesarbeitsämter kommen. Da- durch soll die Überschaubarkeit gesichert werden. Weiter werden in Ihrer Vorlage mehr Kompetenzen Die Behörden müssen wissen, was im einzelnen getan bei der gefordert. für die Arbeitsämter Ermittlung wird. Es sollen keine Genehmigungen von Werkver- Meine Antwort darauf ist ganz klar: Ich bin dafür, daß trägen in Arbeitsamtsbezirken mit überdurchschnittli- mehr ermittelt wird. Ich bin aber dagegen, daß die cher Arbeitslosigkeit sowie bei Kurzarbeit im Bet rieb Arbeitsämter eine weiterreichende Kompetenz be- des deutschen Werkvertragspartners mehr erteilt wer- kommen sollen. Für mich ist die Bundesanstalt für den. Arbeit heute schon eine riesige Mammutbehörde. Wir überlegen uns ständig, wie wir das Institutionswesen Es sind also sehr viele Dinge vorgesehen. Wenn wir begrenzen und effektiv halten können. Deswegen ist das alles verwirklichen, dann sind wir sicher auch auf unsere Meinung: Die Mitarbeiter des Arbeitsamts diesem Gebiet erfolgreich. sollen rausgehen und nach dem rechten schauen. Es Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. muß sichtbar sein, daß kontrolliert wird. Aber sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sollen nicht hinter den Schreibtischen verschwinden und endlos Bußgeldbescheide formulieren. Für diese Aufgabe haben wir andere Institutionen, z. B. die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Staatsanwaltschaft, die dann eingeschaltet werden Herren, jetzt hat unser Kollege das muß. Wort. Sie haben eine weitere Forderung aufgestellt, die nach Schaffung von mehr Stellen. Das klingt in Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Herr Präsident! Meine diesem Zusammenhang natürlich sehr gut. Aber ich Damen und Herren! Im Zentrum dieser Debatte ste- möchte darum bitten, daß Sie uns nicht ganz so sehr hen das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, der Ein- schelten, wenn wir im Bundeshaushalt bei Stellen satz von Arbeitnehmern auf der Grundlage von Werk- sparen wollen und insoweit Ihren Anliegen, die sie verträgen sowie die Bekämpfung der illegalen generell äußern, nicht nachkommen. Wir können Beschäftigung von Ausländern. Gestern wurden die nicht auf der einen Seite überall mehr Stellen schaf- neuesten Zahlen des Arbeitsmarktes veröffentlicht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9947

Paul K. Friedhoff Sie sind alarmierend — vor allem für die alten Bun- eine Einschränkung des freien Dienstleistungsver- desländer. Es muß deshalb unser Bestreben sein, mehr kehrs sicher negative Folgen haben. Flexibilität am Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD stellt (Vorsitz : Vizepräsidentin ) auf den Mißbrauch bei der Beschäftigung von Aus- Leiharbeit bringt mehr Flexibilität und sollte deshalb ländern ab. Um es von vornherein klarzustellen: von uns konstruktiv bewertet werden. Wir sollten uns Gegen illegale Beschäftigungsverhältnisse muß noch mit diesem Instrument ohne Ideologie, sondern kon- stärker als in der Vergangenheit konsequent vorge- struktiv auseinandersetzen. gangen werden. Vor dem Hintergrund der gegenwär- Aus dem Bericht der Bundesregierung über die tigen Debatte über das Verhältnis zwischen deut- Erfahrungen mit dem Arbeitnehmerüberlassungsge- schen und ausländischen Mitbürgern ist bei der setz geht hervor, daß die Leiharbeit in den alten Behandlung dieses Themas sicher ein gehöriges Maß Bundesländern 1991 einen neuen Höchststand an Sensibilität erforderlich. erreicht hat. Nahezu 134 000 Arbeitnehmer waren in fast 5 000 Verleihunternehmen beschäftigt. Die (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Gründe für die Zunahme von Leiharbeitsverträgen Um den Migrationsdruck aus den mittel- und osteu- sind offensichtlich. Leiharbeitsverhältnisse ermögli- ropäischen Ländern zu lindern und den im Umbruch chen es den Unternehmen, kurzfristig auftretenden begriffenen Staaten beim Aufbau marktwirtschaftli- Personalbedarf zu decken. Sie sind somit ein Instru- cher Strukturen zu helfen, hat die Bundesregierung ment einer flexiblen Personalwirtschaft. mit diesen Staaten Regierungsvereinbarungen über Bevor Unternehmer einen neuen Arbeitsplatz auf die Beschäftigung von Werkvertragsarbeitnehmern Dauer schaffen, greifen sie oft zunächst auf Leihar- geschlossen. Mit diesen Staaten wurde auch eine beitnehmer zurück. Diese Flexibilität des Leiharbeit- Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von unerlaub- verhältnisses liegt auch im Interesse der Arbeitneh- ter Einschleusung von Personen vereinbart. mer; denn so tritt an die Stelle von bef risteten Arbeits- verhältnissen bei verschiedenen Arbeitgebern ein Zu einer offenen, arbeitsteiligen Volkswirtschaft unbefristetes Arbeitsverhältnis bei einem Verleihun- gehört die Dienstleistungsfreiheit und damit auch die ternehmer. Einbringung von Leistungen über Werkverträge durch ausländische Unternehmen. Es gibt aus der (Gerd Andres [SPD]: Wozu reden Sie eigent Sicht der F.D.P. aber auch berechtigte Kritik, die sich lich? Zum Antrag? Unglaublich!) vor allem auf polnische Firmen bezieht. Besonders im Durch die häufig wechselnden Arbeitsplätze in den Baubereich gefährden gesetzeswidrige Praktiken verschiedenen Branchen und Unternehmen lernen Arbeitsplätze in deutschen Unternehmen. Außerdem die Arbeitnehmer immer neue Arbeitsverfahren und sind die mit Polen vereinbarten Kontingente erheblich -abläufe kennen. Dies erhöht auch die berufliche überschritten. Deshalb hat der Arbeitsminister einen Qualifikation der Leiharbeiter. Für den Leiharbeit- vorläufigen Genehmigungsstopp ausgesprochen. nehmer besteht darüber hinaus der Vorteil, daß er neue potentielle Arbeitgeber kennenle rnt. Rund 30 % Ich habe schon betont, daß wir illegale Beschäfti- der Arbeitnehmer erhalten nach Angaben des Bun- gung und kriminelle Schlepperorganisationen ver- desverbandes Zeitarbeit nach kurzer Zeit einen stärkt bekämpfen müssen. Die Bundesregierung hat Stammarbeitsplatz. dazu weitere Maßnahmen eingeleitet. Verstärkt wer- Diese Fakten sind beeindruckend und zeigen, daß den muß die Zusammenarbeit zwischen den an der Bekämpfung illegaler Beschäftigung beteiligten Be- dies ein wichtiges Element ist, das es zu nutzen gilt. hörden. Erfolgreiche Schritte stellten die Einführung Dieses Instrument sollte nach unserer Ansicht deshalb der für geringfügig Beschäftigte und die auch nicht abgebaut, sondern eher weiter ausgebaut Meldepflicht dar. Für die werden. Erweiterung des Datenaustausches Zukunft gilt es, auch in diesem Bereich die Koopera- (Gerd Andres [SPD]: Halten Sie hier eine tion mit unseren ausländischen Partnern zu intensivie- Lobbyistenrede? Unglaublich!) ren. So könnte man sich durchaus vorstellen, die Leihar- - Meine Damen und Herren, lassen Sie mich beitszeit, die möglicherweise im Zusammenhang mit abschließend zum irgendwelchen Projekten steht, von sechs auf zwölf Unfallverhütungsbericht 1990, der Monate zu verlängern. heute hier mitberaten wird, Stellung nehmen. 1990 sind in den alten Bundesländern 1,86 Millionen Wir sollten bei den weiteren Beratungen diskutie- Berufsunfälle angezeigt worden. Mit 4,8 % ist dieser ren, inwieweit das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Anstieg von 1989 bis 1990 fast doppelt so hoch wie der im Interesse der Wirtschaft, d. h. im Interesse von Anstieg der Erwerbstätigkeit mit 2,5 %. Arbeitgebern und Arbeitnehmern, noch flexibler aus- gestaltet werden kann. Falsch ist, daß Arbeitnehmer- Wir sollten die Ergebnisse des Unfallverhütungsbe- überlassung zu Lohndumping führt. Entsprechende richtes in unsere Diskussion über das vom Bundesar- Gesetzentwürfe oder Anträge, die darauf abzielen, beitsminister geplante Arbeitsschutzrahmengesetz Leiharbeitnehmer nach den Bedingungen der Ein- einfließen lassen. Mit Leitlinien und Verordnungen satzbetriebe zu behandeln, passen nicht in eine aus Bonn allein ist es jedoch nicht getan. Mein Appell arbeitsteilige Wirtschaft. Sie stellen außerdem einen geht von dieser Stelle aus an die Verantwortlichen in Eingriff in die Tarifautonomie dar. Insbesondere für den Unternehmen, auf Arbeitgeber- und Arbeitneh- die Unternehmen in den neuen Bundesländern würde merseite durch laufende Verbesserung beim Arbeits- 9948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Paul K. Friedhoff Schutz vor Ort alles daran zu setzen, daß die Zahl der denn dieser Be trag liegt erheblich über dem, was sie in Betriebsunfälle weiter zurückgehen kann. ihrem Heimatland verdienen können. Es kommt Ich danke Ihnen. hinzu, daß diese Arbeitskräfte — das hat Herr Kollege Schreiner bereits gesagt — oft miserablen Beschäfti- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gungsbedingungen ausgeliefert sind. Lange Arbeits- zeiten, gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat und unzulängliche Unterbringung sind keine Selten- das Wort der Kollege Manfred Reimann. heit —: spart das den Unternehmern doch alles Kosten. Wie heißt es so schön im GATT-Abkommen: „Men- schen dürfen nicht weniger schutzwürdig sein als Manfred Reimann (SPD): Frau Präsidentin! Meine Waren. " Kolleginnen! Meine Kollegen! Die ursprüngliche Intention der Bundesregierung, mit den Staaten Dies alles führt dazu, daß die Werkvertragsarbeit- Osteuropas Regierungsvereinbarungen zu schließen, nehmer zu Arbeitskräften zweiter Klasse degradiert war gar nicht so verkehrt. Das Werkvertragsabkom- werden. Es entsteht ein immenses Ungleichgewicht, men sollte einerseits dazu dienen, hiesigen Facharbei- und der darin enthaltene soziale Sprengstoff läßt termangel zu überbrücken, andererseits aber auch Schlimmes für die Zukunft befürchten. dazu, die vorübergehend hier beschäftigten Arbeit- Der Konkurrenzkampf zwischen deutschen Firmen nehmer für die Arbeit in ihrem Heimatland besser zu einerseits und mittel- und osteuropäischen Firmen qualifizieren. andererseits — dann auch noch jeweils untereinan- Es geht dabei ebenso um die Unterstützung des der — wird immer härter. Auf Grund des ständig Reformprozesses in Osteuropa wie darum, den Wan- zunehmenden Einsatzes von Werkvertragsarbeitneh- derungsdruck aus diesen Ländern nach Deutschland mern verzerren sich die Wettbewerbsbedingungen zu mildern; denn nur mit einer Verbesserung der enorm. Festangestellte deutsche Arbeitnehmer wer- Lebensqualität in den Herkunftsländern ist dieses Ziel den angesichts der billig eingekauften Konkurrenz in nicht als utopisch zu bezeichnen. Kurzarbeit geschickt oder ganz entlassen. Zugleich könnten die osteuropäischen Firmen mit Ich möchte an dieser Stelle ein Kündigungsschrei- der im Westen erworbenen marktwirtschaftlichen und ben zitieren, Frau Präsidentin, das für die heutigen verbesserten beruflichen Erfahrung gezielte Investi- Zustände wohl schon als symptomatisch gelten tionen in ihren Heimatländern tätigen. Ganz nebenbei kann: würden sie damit zur demokratischen und marktwirt- Sehr geehrter Herr W.! schaftlichen Entwicklung ihres Landes erheblich bei- tragen. Wie mit Ihnen bereits persönlich besprochen, So weit, so gut der politische Ansatz. Aber bei der gehen unsere laufenden Arbeiten ihrem Ende Abfassung der Verträge wurden erhebliche Fehler entgegen. Neue Aufträge können wir auf Grund gemacht und riesige Lücken gelassen, welche ohne der unverständlichen Wirtschaftspolitik unserer Verzögerung von den Unternehmen — östlich wie Regierung kaum noch verbuchen. In Scharen westlich — ausgenutzt wurden und — wenn keine kommen Arbeiter aus dem Osten und arbeiten für Abhilfe geschaffen wird — weiterhin ausgenutzt wer- 5 bis 7 DM pro Stunde. Das bedeutet, daß deren den. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, daß auf Grund Arbeitgeber in der Lage sind, unsere Arbeiten fehlender gesetzgeberischer Zuordnung weder die auszuführen für 20 bis 25 DM/Std. Wir dagegen Arbeitsämter noch die Gewerbeaufsichtsämter eine sind durch die hohen Steuern und Sozialabgaben ausreichende Kontrollmöglichkeit haben. gezwungen, für 50 bis 55 DM/Std. zu rechnen. Der Mißbrauch ist vielfältiger und kaum überschau- Falls nicht in kürzester Zeit dagegen etwas unter- barer Art. Es wird nicht nur die vereinbarte Anzahl von nommen wird, wird es in drei Jahren deutsche Werkvertragsarbeitnehmern bei weitem überschrit- Bauarbeiter kaum noch geben. Aus diesem trau- ten. Es fehlt auch an Kontrollmöglichkeiten, wieviel rigen Anlaß kündigen wir Ihnen wegen Arbeits- Arbeitnehmer, deren offizielle Genehmigung abge- mangel fristgerecht zum 30. 9. 1992. laufen ist, danach illegal weiterbeschäftigt werden Wir danken Ihnen für Ihre langjährige Mitarbeit oder wie viele täglich als Grenzgänger ihren dann und verbleiben mit freundlichen Grüßen (Unter- illegalen Arbeitsplatz aufsuchen. schrift) Viele kleine Unternehmen in Osteuropa haben oft Daß damit Unruhe erzeugt wird, die sich dann in nicht die Qualifikation, ein unterzeichnetes Werkver- undifferenzierten ausländerfeindlichen Aktionen tragsabkommen tatsächlich eigenständig durchzu- Luft verschafft, ist leider eine unausweichliche Folge führen, weder hinsichtlich ihrer materiellen noch ihrer dieser Praxis. Hier machen sich alle Verursacher personellen Basis. Also sieht die Praxis so aus, daß mitschuldig. deutschen Unternehmen lediglich das gewünschte Personal zahlenmäßig zur Verfügung gestellt wird. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Das ist schlicht und einfach mit dem Begriff der Nitsch [CDU/CSU)) Leiharbeit zu bezeichnen, anders ausgedrückt: uner- Was tut die Bundesregierung gegen all diese Aus- laubte Arbeitnehmerüberlassung. wüchse? — Nichts. Bestehende Gesetze werden nicht Dies wird dann — nach unseren Maßstäben — auch geändert. Die im Arbeitsförderungsgesetz vorgesehe- noch miserabel bezahlt. Man muß sich einmal vorstel- nen Änderungen reichen bei weitem nicht aus, die len, daß solche Arbeitnehmer schon für 5 DM Stun- Mißstände in den Griff zu bekommen. Die Zahl der denlohn arbeiten. Sicher fühlen sie sich damit reich; öffentlichen Ermittlungsverfahren wegen Verdachts Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9949

Manfred Reimann auf unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung steigt von Ansehen von Sprache und Nationalität zu unterstüt- Jahr zu Jahr und bleibt trotzdem immer nur die Spitze zen. des Eisbergs. Rückgänge sind seit Beginn der Bericht- Es ist Unsinn, wenn ein Landesarbeitsamt für alle erstattung durch die Bundesregierung bedauerlicher- Länder indirekt eine Entscheidung trifft. Denn das weise noch nie zu verzeichnen gewesen. Auch der kann in der Praxis dazu führen, daß das Landesar- hochgelobte Sozialversicherungsausweis, der vom beitsamt eines Bundeslandes Werkvertragsarbeitneh- Blüm-Ministerium als Zauberwaffe schmackhaft ge- mer zuläßt, die dann in ein anderes Bundesland macht wurde — wir hatten damals davor gewarnt — geschickt werden, nur weil gerade dort eine ungari- birgt keine Hilfe. sche Firma einen Subunternehmervertrag erhalten (Gerd Andres [SPD]: Flop des Jahrhun hat. Wie soll denn eine vernünftige Kontrolle stattfin- derts!) den, wenn nicht einsatzortbezogene Überprüfungen durch die jeweiligen Landesarbeitsämter erfolgen? Fazit: Die Regierung hat bisher in der Schaffung Ohne Kontrollen vor Ort geht es nicht. brauchbarer Instrumente gegen den Mißbrauch der (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Arbeitnehmerüberlassungsgesetze kläglich versagt. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Wenn legale Beschäftigung von Werkvertragsarbeit- Deshalb hat die SPD den vorliegenden Antrag einge- nehmern gesichert werden soll, muß die illegale bracht, um den die heutige Debatte geführt wird. Beschäftigung wirksam unterbunden werden. Lassen Sie mich einige weitere Punkte zur Sprache (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bringen. der CDU/CSU) Erstens. Die bestehenden Werkvertragsabkommen Ich schließe mit einem Satz meines Kollegen Bütt- müssen hinsichtlich der Kontingentvereinbarungen ner, der diesen Antrag im wesentlichen ausgearbeitet und Arbeitsbedingungen schnellstmöglich gründlich hat und der wegen Krankheit heute nicht zu diesem geprüft werden. Kollege Fuchtel, das haben auch Sie Thema sprechen kann. Er sagt: Der Deutsche Bundes- angeführt. tag kann nicht tatenlos zusehen, wie die Bundesregie- rung durch ihr lasches Vorgehen zur größten Schlep- Zweitens. Die neuen Vereinbarungen müssen perorganisation wird. Was nützt eine Änderung des Schwerpunkte haben. Grundgesetzes beim Asylrecht, wenn die Bundesre- Vier mögliche Schwerpunkte möchte ich in Anbe- gierung durch internationale Verträge eine ungesteu- tracht meiner kurzen Redezeit nur nennen. Erstens. erte Zuwanderung fördert und damit den sozialen Keine neuerliche Genehmigung von Werkvertrags- Frieden in unserem Lande stört? kontingenten ohne Berücksichtigung des lokalen Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Arbeitsmarktes bzw. Zurückfahren von bereits beste- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Uta henden Kontingentvereinbarungen. Würfel [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Renate Schmidt: Nun hat der Kollege Zweitens. Nachkontrolle der einmal genehmigten Heinz Schemken das Wort. Werkvertragskontingente auf örtlicher — die Beto- nung liegt auf „örtlicher" — Arbeitsamtsebene durch Abgleichung der Genehmigungspapiere mit den vor Heinz Schemken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ort vorgefundenen tatsächlichen Gegebenheiten der Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Rei- Beschäftigungs- und Entlohnungspraxis ausländi- mann, ich habe mir, nachdem Sie die Bundesregie- scher Werkvertragsarbeiter. rung sosehr ins Gebet genommen haben, noch schnell einmal eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Drittens. Die auch von Seiten der Arbeitsämter Hand genommen, aus deren Schlußfolgerung ich hier gesehene personelle Unterbesetzung der Arbeits- drei Feststellungen zur Kenntnis geben möchte. Es amtsstellen zur Bekämpfung der illegalen Beschäfti- handelt sich um die Studie „Auswanderung aus gung muß endlich behoben werden. Polen". Dort heißt es unter 1.: - (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die demographische Entwicklung Polens schafft der CDU/CSU und der F.D.P.) ein beachtliches Arbeitskräftepotential bei rück- Viertens. Der Einsatz der osteuropäischen Werkver- gängigem Arbeitskräftepotential in den Westlän- tragsfirmen darf nicht zu Wettbewerbsverzerrungen dern. führen. Darum müssen gleiche Löhne und gleiche Dies ist statistisch belegt. Arbeitsbedingungen für alle Bauarbeitnehmer, unab- In einem weiteren Absatz der Schlußfolgerung heißt hängig von ihrer Nationalität und Sprache, gelten. es: Konkret wäre eine Beteiligung der Betriebsräte Polen hat den Prozeß einer tiefgreifenden ökono beim Einsatz von Werkvertragsarbeitnehmern von mischen und sozialen Umgestaltung eingeleitet. Anfang an — was aber eine Änderung der Vertrags- Aber eben erst eingeleitet. voraussetzungen bedeuten würde — besser. Aber schon mit einer grundlegenden Änderung wäre die Entscheidend ist dann der dritte Absatz: Voraussetzung erfüllt: die Forderung nach gleichen Die Öffnung Polens gegenüber der Welt, die Löhnen und gleichen Arbeitsbedingungen ohne Liberalisierung der Ausreisebestimmungen und 9950 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Heinz Schemken das neue Paßgesetz machen es möglich, daß diese zur Eindämmung der illegalen Beschäftigung unter- Wanderung beschleunigt wird. stützen. Darauf müssen wir uns einstellen. Zum Unfallbericht ist festzustellen, daß wir aus den Zahlen erfreulicherweise herauslesen können, daß Es ist sicherlich festzustellen, daß wir im Bereich der wir in den alten Bundesländern, was die schweren illegalen Ausländerbeschäftigung einen beschleu- Berufsunfälle, insbesondere mit tödlichem Ausgang, nigten Prozeß haben, der durch die dortige Arbeits- angeht, einen deutlichen Rückgang verzeichnen kön- marktsituation, wie ich sie auf Grund dieser Studie nen. Für die jungen Bundesländer liegt eine entspre- schon schilderte, die Währungs- und vor allem die chende vergleichbare Statistik im Moment noch nicht Lohngefälle zu den Ostländern, durch die Liberalisie- vor. Bei den Berufskrankheiten ist es ähnlich. Auch rung und durch die Öffnung der Grenzen hervorgeru- hier ist ein Rückgang festzustellen. Aber der Umgang fen worden ist. Wir brauchen deshalb die Straffung mit chemischen und anderen gefährlichen Stoffen der Genehmigungsverfahren. Wir brauchen darüber bereitet immer noch große Sorge. Immerhin liegen hinaus eine Verbesserung der Kontrollmöglichkei- Todesfälle infolge von Umgang mit chemischen Stof- ten. fen, insbesondere mit Asbest, mit 60 % an der Wir brauchen die Verteuerung der Beschäftigung Spitze. — eindeutig —, um die Waffengleichheit mit den Die Frage der Wegeunfälle ist nicht zu unterschät- deutschen Anbietern insbesondere im Baubereich zen. Ich sage das deshalb, weil in der Unfallstatistik herzustellen. Das wurde auch soeben schon auf einem auch die schweren Wegeunfälle und die Unfälle auf anderen Hintergrund deutlich. Weiter brauchen wir dem Schulweg erfaßt sind. Ich bin der Meinung, bei eine Verschärfung der Sanktionsregelungen in den 970 000 Unfällen von Kindern, Schülern und Studen- Vereinbarungen, weil z. B. der vereinbarte Lohn, ten muß uns dieser Unfallbericht mehr als nachdenk- wenn er nicht gezahlt wird, möglicherweise einge- lich machen. Bei 71 tödlichen Unfällen auf dem klagt wird. Schulweg können wir von hieraus nur die örtlichen Nun hat sich die Zahl der Leiharbeiter von 1988 auf Einrichtungen auffordern, sich noch mehr der Ver- 1991 fast verdoppelt auf über 140 000. Bei den illegal kehrserziehung zuzuwenden. Denn immerhin sind in Beschäftigten erhöhte sich die Zahl von 1988 auf 1991 den 970 000 auch die schweren Unfälle enthalten, und von mehr als 23 000 auf über 36 000, während sie in ein schwerer Unfall führt oft zu einer lebenslangen den 80er Jahren zurückgegangen war. Diese Behinderung. Ich bin deshalb der Meinung, auch Zunahme geht im wesentlichen auf die Öffnung der diesem Unfallbericht gilt es in dieser Debatte Auf- Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei zurück. merksamkeit zu schenken. Die Zulassungsmöglichkeiten ausländischer Saison- Ich darf mich herzlich bedanken. arbeiter, insbesondere bei den Grenzgängern, vor (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) allem aus Polen und aus der CSFR, haben mit zu der Zunahme auch der Zahl der legal Beschäftigten geführt. Die Illegalität ist dadurch etwas zurückge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat Herr drängt worden. Staatssekretär Horst Günther das Wort. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß die Praktiken illegaler Beschäftigung nicht dazu führen dürfen, Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- legale Arbeitnehmerüberlassungen zu diskriminie- nister für Arbeit und Sozialordnung: Frau Präsidentin! ren. Das sage ich ganz deutlich. Denn wir haben uns Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! von Vertretern des Sejm und der Arbeitsverwaltung Werkverträge sind ein Instrument der Partnerschaft bei unseren Besuchen in Warschau eindrucksvoll mit unseren Nachbarländern in Mittel- und Osteu- darlegen lassen, daß hier ein grauer Markt entsteht, ropa. Sie sind auch ein Ins trument praktischer Ent- der fast an Ausbeutung heranreicht, mindestens aber wicklungspolitik. Aber — darin sind wir uns sicher Wettbewerbsverzerrungen herbeiführt. Gerade wer einig — sie verkehren sich natürlich ins Gegenteil, die Reinkultur der Marktwirtschaft will, kann auch wenn sie zu einem innenpolitischen Sprengsatz wer- diese Wettbewerbsverzerrungen nicht wollen. Das den. In Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit lösen sind zwei Argumente, die eindeutig gegen eine solche Werkverträge Konflikte aus, obwohl sie eigentlich Entwicklung sprechen. Befriedung schaffen sollten. Die legalen Verleiher unterstehen einer wiederkeh- Am 1. Oktober 1992 bestand für 77 637 Personen die renden Prüfung durch die Bundesanstalt für Arbeit. vertragliche Grundlage, als Werkvertragsarbeitneh- Hier hat sich einiges verbessert. Man kann nicht mer bei uns zu arbeiten. Davon können 59 514 Perso- sagen, daß hier Untätigkeit festzustellen ist. Sie erfül- nen im Baugewerbe beschäftigt werden. Der Rück- len im übrigen auch die sozialrechtlichen Pflichten gang der Kontingentzahlen zum 1. Oktober 1992 um genauso wie andere Arbeitgeber. Zur Deckung des 11 793 ist darauf zurückzuführen, daß wir die Neuzu- kurzfristigen Arbeitskräftebedarfs zur Erledigung gänge für tschechische und polnische Werkvertrags- befristeter Aufgaben kann sicher auch in Zukunft auf arbeitnehmer gestoppt haben, weil von beiden Län- diesen Weg der Beschäftigung nicht verzichtet wer- dern die Kontingentzahlen überzogen wurden. den. Auch dies sollten wir ausdrücklich feststellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Bekämpfung der illegalen Beschäftigung in Zudem haben wir die Kontingentzahlen um 5 000 ihren vielfältigen Erscheinungsformen muß intensi- Beschäftigte reduziert. Damit wurde im Rahmen der viert werden. Wir begrüßen deshalb die Maßnahmen Anpassungsklauseln die Arbeitsmarktentwicklung in der Bundesregierung, die wir in ihren Bemühungen Deutschland berücksichtigt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9951

Parl. Staatssekretär Horst Günther Dennoch gibt es nach wie vor Fehlentwicklungen tragsarbeitnehmer eingesetzt werden, vor einer und Mißbrauch. Das kann man überhaupt nicht Genehmigung gehört werden. Damit tragen wir dem bestreiten. Wir werden deshalb weitere gezielte Maß- Umstand Rechnung, daß vielfach zwar bestimmte nahmen ergreifen: ausländische Fachkräfte gesucht werden, ihr Einsatz Die 10. AFG-Novelle enthält eine Ermächtigungs- in einen bestimmten Bereich jedoch absolut schädlich grundlage für den Erlaß einer Anordnung durch die sein kann. Bundesanstalt für Arbeit, nach der in Zukunft für Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist jeden genehmigten Werkvertragsarbeitnehmer eine davon überzeugt, daß durch ihre Maßnahmen eine Gebühr von 2 000 DM zu zahlen ist. wichtige Sperre eingezogen wird, damit Mißbrauch wirksam bekämpft wird, die Zahl der Werkvertragsar- Das Genehmigungs - und Prüfungsverfahren der Werkverträge straffen wir durch Konzentration der beitnehmer auf ein arbeitsmarktpolitisch vertretbares Zuständigkeit auf fünf Landesarbeitsämter; Herr Kol- Maß beschränkt bleiben wird und die mit dem lege Reimann, Sie haben davon eben in ähnlicher Abkommen angestrebten wirtschaftlichen und politi- Weise gesprochen. Dadurch kann auch dem Miß- schen Ziele erreicht werden. brauch wirksamer als bisher entgegengetreten wer- Befristete Kontingente werden in Zukunft nicht den, weil so schwarze Schafe schneller bekannt wer- mehr verlängert. Dadurch wird sich bis Ende 1994 die den. Gleichzeitig wird das Personal in diesem Bereich Zahl der Werkvertragsarbeitnehmer um weitere verstärkt. 22 500 verringern. Damit trägt die Bundesregierung Die Bundesanstalt für Arbeit erhält die Möglichkeit, auch der schwierigen Arbeitsmarktentwicklung vor in Zukunft auch ohne konkreten Anfangsverdacht in allem in den neuen Bundesländern Rechnung. Betrieben Prüfungen vorzunehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Manfred Reimann [SPD]: Das ist wichtig!) Ich fasse zusammen: Werkvertragsabkommen sind — Ja, das ist wichtig. Deshalb machen wir das auch in Zukunft Bestandteil unserer sozialen Außen- auch. politik. Wir werden jedoch ihren Einsatz in Schach und Proportionen halten. Dem dienen die neuen Die Werkvertragsfirmen werden verpflichtet, sämt- Regelungen. liche Unterlagen über die im In- und Ausland gezahl- ten Löhne vorzulegen, da anderenfalls keine Geneh- Die Bundesregierung ist zusammen mit der Bundes- migung mehr erfolgt. anstalt für Arbeit und den Spitzenverbänden der Bauwirtschaft sowie der Industriegewerkschaft Bau, Wir beseitigen auch Wettbewerbsverzerrungen. Steine, Erden darum bemüht, den Mißbrauch vor Künftig müssen für jeden Werkvertragsarbeitnehmer allem im Baubereich wirksam zu bekämpfen. Wir u. a. Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie die Auslö- haben alle derzeit möglichen Maßnahmen zur sung gezahlt werden, wie dies für heimische Kollegin- Bekämpfung des Mißbrauchs eingeleitet; erste nen und Kollegen auch der Fall ist. Erfolge sind sichtbar. Wir prüfen zur Zeit, ob die Ausländischen Werkvertragsfirmen, die eines Ver- Kontrollen durch eine enge Zusammenarbeit mit den stoßes gegen die Entlohnungsbestimmungen über- Bauverwaltungen noch weiter ausgedehnt werden führt werden oder die Arbeitnehmer ausleihen oder können. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich dem illegal beschäftigen, wird in Zukunft sofort die Erlaub- Kollegen Minister Krause, der angeboten hat, daß die nis entzogen. Sie erhalten dann keine neuen Geneh- Straßenbauverwaltungen die Arbeitsverwaltung bei migungen mehr. der Kontrolltätigkeit unterstützen, soweit es sich um öffentliche Aufträge handelt. Es sollen nur noch Firmen zugelassen werden, die die Gewähr dafür bieten, daß sie die vereinbarten (Gerd Andres [SPD]: Donnerwetter!) Regeln auch einhalten. So werden z. B. Firmen aus Meine Damen und Herren, wir müssen den Mittel- Polen nur noch zugelassen, wenn sie dort bereits zwei weg finden zwischen Hilfe für unsere Nachbarländer Jahre in dem entsprechenden Wirtschaftszweig tätig auf der einen Seite und dem wohlverstandenen Inter- waren und ihre Verpflichtungen im Bereich des esse unseres eigenen Arbeitsmarktes. Werkverträge Steuer- und Sozialrechts erfüllen. dürfen aber keine neue Form von Lohndumping sein Durch gesetzliche Maßnahmen und Personalver- — darin sind wir uns sicher einig —; denn wir wollen - stärkungen sollen die Kontingente in Zukunft besser keine Konflikte auf dem Arbeitsmarkt zwischen aus- überwacht werden. So werden Überschreitungen ländischen und inländischen Arbeitnehmern. frühzeitig erkannt und vermieden, Lohndumping Herr Kollege Schreiner, die Verträge sind nicht leichter aufgedeckt und illegale Beschäftigungen schlampig ausgehandelt, wie sie eben festgestellt wirksam bekämpft. haben. Wir werden in Zukunft den Einsatz von Werkver- (Ottmar Schreiner [SPD]: Doch, sehr schlam tragsarbeitnehmern in Arbeitsamtsbezirken mit über- durchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit sowie bei pig!) Kurzarbeit im Betrieb des deutschen Werkvertrags- Wenn sie nur eingehalten würden, würde das schon partners nicht mehr genehmigen. ausreichen. Aber sie werden nicht eingehalten. Ich habe sehr gut zugehört, was Sie zum Schluß zu Polen (Julius Louven [CDU/CSU]: Richtig! Sehr gesagt haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Polen ist gut!) nicht nur ein sensibler Bereich, sondern auch ein Um Fehlsteuerungen zu vermeiden, sollen die außerordentlich schwieriger Vertragspartner. Das Arbeitsämter vor Ort, in deren Bereich die Werkver kann ich Ihnen allerdings versichern. Wir müssen sehr 9952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Parl. Staatssekretär Horst Günther gründlich darüber nachdenken, wie das, was gerade Die Kollegen Ulrich Janzen und Siegfried Schef fler auf diesem Sektor überzogen wurde, wieder zurück- sowie die Kollegin Dr. Eva Pohl sind ebenfalls nicht gedrängt wird. Die Maßnahmen, die wir ergreifen, anwesend, so daß auch hinsichtlich der Fragen 10, 11 sollen dazu dienen. und 12 entsprechend der Geschäftsordnung verfahren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — wird. Gerd Andres [SPD]: Sie haben dem Bundes Darf ich die hochlöblichen Geschäftsführer einmal kanzler gar nicht gedankt, Herr Staatssekre fragen, ob vielleicht unsere Kollegen nicht wissen, daß tär! ) wir im Moment die Fragestunde haben. Könnte man bitte veranlassen, daß man das in geeigneter Form den Kollegen mitteilt? Ich habe nämlich das Gefühl, daß Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- viele Kollegen etwas überrascht sind, nachdem wir dungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Ausspra- eine etwas andere und verschobene Tagesordnung che. haben. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen (Ottmar Schreiner [SPD]: Oder sie haben das auf den Drucksachen 12/3299, 12/1845 und 12/3180 Gefühl, daß sie von der Regierung ohnehin an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse gelinkt werden!) vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das scheint der — Herr Kollege Schreiner, das ist Ihre Meinung. Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen in dieser Herr Kollege Müntefering. Art und Weise beschlossen. Franz Müntefering (SPD): Frau Präsidentin, darf ich Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf. den Vorschlag machen, daß wir einen Augenblick unterbrechen? Wir werden sonst folgendes erleben: Fragestunde Wir werden die Fragestunde abhandeln und werden — Drucksachen 12/3600, 12/3580 — den nächsten Punkt nicht aufrufen können, weil die Die dringliche Frage 3 des Abgeordneten Ludwig Kollegen gar nicht wissen, daß der nächste Punkt Stiegler aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanz- aufgerufen wird. Mein Vorschlag ist, daß wir zehn lers und des Bundeskanzleramtes wird auf Grund der Minuten warten und dafür sorgen, daß die Kollegin- Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien schriftlich beantwortet. Die nen und Kollegen das erfahren. Es geht wohl nicht Antwort wird als Anlage abgedruckt. anders. Wir kommen zu den Fragen auf der Drucksache 12/3580. Aus dem Geschäftsbereich des Bundesmini- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wenn die übrigen sters der Verteidigung werden die Fragen 1 und 2 des Fraktionen damit einverstanden sind, würde ich Ihrem Vorschlag folgen und die Sitzung für zehn Minuten Abgeordneten Hans Wallow schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. unterbrechen. Dann würden wir mit den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Reinhold Hiller beginnen. (Lübeck) aus dem Geschäftsbereich des Bundesmini- Frau Kollegin, sind Sie damit einverstanden? sters für Verkehr werden ebenfalls schriftlich beant- wortet. Die Antworten werden als Anlage abge- Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Frau Präsidentin, druckt. ich bin damit einverstanden. Ich möchte nur bemer Aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für ken, daß wir es eigentlich mit einer Zeitverzögerung Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wird die zu tun haben. Normalerweise müßte jeder wissen, daß Frage 5 des Kollegen Horst Kubatschka schriftlich die Fragestunde nicht ganz pünktlich beginnt. Dem- beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abge- zufolge gehe ich auch davon aus, daß die Kolleginnen druckt. und Kollegen eigentlich wissen, daß sie hier zu sein Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- haben. desministers für Post und Telekommunikation. Zur Ich bin mit der Unterbrechung einverstanden. Ich Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatsse- wollte das nur noch einmal bemerkt haben. kretär Rawe zur Verfügung. Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Dr.-Ing. Rainer Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin Jork auf. — Er ist nicht anwesend. Damit- wird so Würfel, sind Sie auch einverstanden? verfahren, wie es in der Geschäftsordnung vorgese- hen ist. Uta Würfel (F.D.P.): Ja, natürlich. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Wir sind Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dann unterbre- damit nämlich schon am Ende Ihres Geschäftsbe- chen wir für zehn Minuten. Ich bitte durchzurufen, daß reichs angekommen. die Fragestunde dann mit dem Geschäftsbereich des Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- Bundesministers der Justiz beginnt. desministers der Justiz. Hier steht uns zur Beantwor- (Unterbrechung der Sitzung von 13.53 bis tung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rainer 14.00 Uhr) Funke zur Verfügung. Ich rufe Frage 8 des Kollegen Wieland Sorge auf. — Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir setzen die Er ist auch nicht anwesend. Damit wird hinsichtlich unterbrochene Sitzung fort. Ich bedanke mich für das der Fragen 8 und 9 des Kollegen Wieland Sorge allseitige Verständnis. Wir haben das getan, was zu entsprechend unserer Geschäftsordnung verfahren. tun ist. Ich bitte aber die Kollegen und Kolleginnen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9953

Vizepräsidentin Renate Schmidt immer auf den Verlauf der Plenarsitzung zu achten; Wieland Sorge (SPD): Herr Staatssekretär, ich hätte denn diese Unterbrechung war eigentlich nicht vorge- von Ihnen gerne noch eine Aussage darüber, warum sehen. das Jahr 1991 von Ihnen immer wieder als so positiv Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Funke genannt wurde. Führen Sie das darauf zurück, daß hat sich bereit erklärt, noch einmal zur Beantwortung auch aus den neuen Bundesländern eine ganze der Fragen zur Verfügung zu stehen. Wir kommen Anzahl von neuen Patenten hinzukam, oder liegt das damit zur Frage 8 des Kollegen Wieland Sorge: einfach an dem Entwicklungsprozeß, der sich aus der Einheit ergab, daß alles zunächst etwas verzögert Wie viele deutsche Patente sind in den letzten zehn Jahren beim Bundespatentamt und beim Europäischen Patentamt wurde und dann erst ab 1991 richtig zum Greifen angemeldet und erteilt worden? kam? Herr Staatssekretär. Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Nein, 1991 ist das letzte Jahr, von dem mir statistische Zahlen Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- vorlagen. Es konnte insgesamt eine konstante Ent- nister der Justiz: Frau Präsidentin! Kollege Sorge, im wicklung nach oben festgestellt werden. Für 1992 Jahre 1982 wurden beim Deutschen Patentamt 47 826 liegen mir die Zahlen nicht vor; deswegen mußte ich Patentanmeldungen eingereicht und 15 977 Patente auf 1991 zurückgreifen. erteilt. Die Anmeldezahlen sind seit 1982 kontinuier- (Wieland Sorge [SPD]: Danke!) lich zurückgegangen und erst 1991 wieder leicht gestiegen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage? — Die Anzahl der erteilten Patente ist hingegen Nein. zunächst von 15 977 im Jahre 1982 auf 23 834 im Jahre Dann kommen wir zur Frage 9 des Kollegen 1987 gestiegen und dann bis 1991 wieder auf 17 406 Sorge: zurückgegangen. Wie ist die Relation bei der Erteilung von deutschen Patenten Die Anzahl der Anmeldungen beim Europäischen im Vergleich zu der anderer führender Industrienationen, wie Patentamt durch deutsche Anmelder ist von 6 384 im z. B. auch Japan? Jahre 1982 auf 10 467 im Jahre 1991 konstant gestie- Herr Staatssekretär. gen. Die Erteilungszahlen haben sich sogar seit 1982 — damals war die Zahl 1 920 — verdreifacht; 1991 Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Frau Präsiden- waren es 6 536 Erteilungen. tin! Herr Kollege Sorge, die Relation zwischen Anmel- Ich habe hier eine Übersicht mit weiteren Zahlen dung und Erteilung von Patenten im Vergleich zu aus den Jahresberichten der beiden Ämter für 1982 bis anderen führenden Industrienationen stellt sich fol- 1991 vorliegen. Ich möchte aber mit Rücksicht auf gendermaßen dar — ich beziehe mich hier auf die deren Umfang auf den Vortrag weiterer Zahlen ver- vorliegenden Angaben der nationalen Ämter in den zichten und verweise auf die von meinem Hause USA und in Japan für 1990, weil sie nicht ganz so erstellte Übersicht zu dieser Frage, die ich Ihnen, Ihr schnell statistisch arbeiten —: Einverständnis vorausgesetzt, gerne übergeben Im Jahre 1990 wurden in Deutschland insgesamt würde. Sie liegt mir hier vor. 40 451 Anmeldungen eingereicht und 18 929 Patente erteilt. In den USA wurden 164 558 Patentanmeldun- (Wieland Sorge [SPD]: Gerne!) gen eingereicht — dazu zählen auch Anmeldungen Erlauben Sie mir aber noch folgenden Hinweis: Die für Design- und Gebrauchsmusterpatente; das ist also Schwankungen der Zahlen haben, isoliert betrachtet, nicht hundertprozentig vergleichbar —, und 88 293 nur eine begrenzte Aussagekraft. Die Entwicklungen Patente wurden erteilt. In beiden Ländern, sowohl in und Tendenzen bei den Patentanmeldungen beim der Bundesrepublik als auch in den USA, besteht also Deutschen Patentamt und beim Europäischen Patent- ein Verhältnis von ungefähr 2:1. amt durch deutsche Anmelder werden in den Jahres- Davon weichen die Zahlen des japanischen Patent- berichten der beiden Ämter aufgezeigt und analy- amtes erheblich ab. Hier standen im Jahre 1990 siert. 360 704 Anmeldungen 59 401 Erteilungen gegen- Hier finden sich z. B. Untersuchungen der Gesamt- über. Das bedeutet ein Verhältnis von 6 Anmeldungen zahlen, die belegen, daß sich das deutsche Patentwe- zu einer Erteilung. sen bei der heimischen Wirtschaft weiterhin hoher Weitere Angaben können Sie der zweiten Über- Attraktivität erfreut, was die Erfindungs- und Innova- sicht, die ich Ihnen gerne überreiche, entnehmen. Ich tionskraft unserer Wirtschaft widerspiegelt. Der deut- habe hier die Zahlen für die anderen Jahre nicht im sche Markt ist aber nicht nur für die deutschen Firmen einzelnen aufgeführt. Sie können sie aus der Statistik interessant. In 97,46 % der 56 000 Anmeldungen, die ersehen. 1991 beim Europäischen Patentamt eingereicht wur- den, wurde Deutschland als Staat genannt, für den ein Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Schutzrecht beansprucht wird. Kollege.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Wieland Sorge (SPD): Herr Staatssekretär, kann Kollege? man bei der großen Zahl der eingereichten Patente, was Japan angeht, davon ausgehen, daß Deutschland in dieser Entwicklung sehr weit zurückfällt und daß es Wieland Sorge (SPD): Ja, bitte. in der Zukunft ein immer größeres Mißverhältnis bei der Entwicklung der Patente in Deutschland und in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bitte. Japan gibt? In Deutschl and betrug die Zahl der 9954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Wieland Sorge Anmeldungen 40 000, und in Japan waren es wohl Die Frage 19 unseres Kollegen Siegf ried Scheffler über 360 000. Das ist doch ein gravierender Unter- wird entsprechend unserer Geschäftsordnung behan- schied. Können Sie dazu eine Aussage treffen? delt. Wir kommen damit zur Frage 20 des Kollegen Gernot Erler: Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Das ist sicherlich ein großer Unterschied. Man muß aber auch genau In welchem Umfang hat die türkische Regierung seit 1964 Waffen und militärisches Gerät in der Bundesrepublik Deutsch- definieren, was unter Patenten im einzelnen zu ver- land gekauft, und wie hoch ist der gegenwärtige Auftragsbe- stehen ist. Das japanische Patentrecht ist anders stand der deutschen Industrie für aus der Türkei bestellte Waffen gestaltet als das deutsche. und militärisches Gerät? Insgesamt haben Sie aber mit Ihrer Vermutung Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- recht, daß die Innovationskraft der japanischen Wirt- nister für Wirtschaft: Frau Präsidentin! Herr Abgeord- schaft insoweit stärker ist als die deutsche. neter Erler, da beim Statistischen Bundesamt die Aufbewahrungsfrist für allgemeines Datenmaterial Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- nur zehn Jahre beträgt, sind die von Ihnen gewünsch- frage, Herr Kollege? ten Angaben für den Zeitraum 1964 bis 1980 leider nicht mehr verfügbar. In den Jahren von 1981 bis 1991 wurden kommerziell und aus dem Bereich des Bun- Wieland Sorge (SPD): Ja, eine noch, Frau Präsiden- desverteidigungsministeriums Kriegswaffen im Wert tin. — Herr Staatssekretär, Sie sprachen von den zwei von insgesamt 3,3 Milliarden DM an die Türkei Ländern, wo der Unterschied sicher am größten ist. geliefert. Können Sie eine ganz kurze Aussage zum Vergleich Die Bundesregierung verfügt über keine Informa- mit Frankreich und England treffen? tionen über den gegenwärtigen Auftragsbestand der deutschen Indus trie. Das Kriegswaffenkontrollgesetz Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Diese Frage schreibt nicht vor, daß Angaben über den Wert der haben Sie nicht gestellt gehabt; deswegen bin ich geplanten Exporte bei der Antragstellung mit einge- darauf im einzelnen nicht vorbereitet. Aber ich bin reicht werden. gerne bereit, Ihnen die statistischen Zahlen aus Frank- reich und Großbritannien nachzureichen, sobald sie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr mir vorliegen. Kollege.

(Wieland Sorge [SPD]: Danke schön!) Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, bei einem kürzlichen Besuch mehrerer deutscher Delegationen — u. a. einer Delegation des Verteidigungsausschus- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? — Das ist nicht der Fall. ses — in Ankara ist uns gesagt worden, daß der Auftragsbestand der deutschen Industrie für von der Die Frage 10 wird entsprechend unserer Geschäfts- Türkei bestellte Waffen erheblich den Umfang dessen ordnung behandelt, ebenso die Frage 11. übersteigt, was wir an Waffenlieferungen im Rahmen Die Frage 12 wird schriftlich beantwortet. Die Ant- von Materialhilfe, Rüstungssonderhilfe, NATO-Hilfe wort wird als Anlage abgedruckt. usw. geleistet haben. In diesem Zusammenhang ist Damit sind wir jetzt wirklich am Ende Ihres uns gegenüber das Auftragsvolumen für die Zeit von Geschäftsbereichs, Herr Staatssekretär. Herzlichen 1964 bis heute auf über 8 Milliarden DM beziffert Dank, daß Sie noch einmal gekommen sind. worden. Halten Sie diese Zahl für realistisch? Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun- Parl. Staatssekretär: Frau Präsiden- desministers der Finanzen. Hier steht zur Beantwor- Dr. Erich Riedl, tin! Herr Abgeordneter, den Unterlagen, die mir als tung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Manfred Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft zur Carstens zur Verfügung. Verfügung stehen, entnehme ich die Feststellung, daß Die erste Frage aus diesem Geschäftsbereich, die die Türkei selbst den Wert der der deutschen Indust rie Frage 13 des Kollegen Ortwin Lowack, wird schriftlich erteilten Aufträge über Rüstungsgüter seit 1964 auf, beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abge- wie von Ihnen genannt, rund 8 Milliarden DM bezif- druckt. fert. Da wir aber, wie ich Ihnen gesagt habe, für die Bei der Frage 14 unseres Kollegen Ulrich Jansen vorangehenden Zeiträume statistische Unterlagen wird nach unserer Geschäftsordnung verfahren. Das nicht zur Verfügung haben, muß ich mich darauf gilt ebenso für die Frage 15. beschränken, dies wiederzugeben. Ich gehe einmal Die Fragen 16 und 17 der Kollegin Dr. Elke Leon- davon aus, daß die Größenordnung so, wie sie hard-Schmid werden ebenso wie die Frage 18 unseres genannt worden ist, jedenfalls nicht grundsätzlich Kollegen Norbert Gansel schriftlich beantwortet. Die falsch ist. Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- Herzlichen Dank, Herr Carstens, daß Sie hier gewe- frage, Herr Kollege. sen sind. Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun- Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, kann ich desministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht Ihren Angaben entnehmen, daß Sie bei der so wichti- hier Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Erich gen Frage, welche Rüstungsaufträge in welchem Wert Riedl zur Verfügung. der Bündnispartner Türkei der deutschen Indus trie Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9955

Gernot Erler erteilt hat, auf türkische Angaben angewiesen sind, einmal unterhalte. Ich halte dies alles nicht für ausge- weil Sie über keine eigenen Angaben verfügen? schlossen, um es gleich dazuzusagen. Ich würde Ihnen dann einen ausführlichen schriftlichen Be richt geben. Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Frau Präsiden- Da die Reise, wie ich der Presse entnommen habe, erst tin! Herr Abgeordneter, wenn Sie diese Frage vor vor wenigen Tagen zu Ende gegangen ist, bitte ich, zehn Jahren gestellt hätten, hätte ich Ihnen auf Grund mit diesem Vorschlag einverstanden zu sein. Sie der statistischen Möglichkeiten die Zahlen für die bekommen allerdings Bescheid. vorangegangenen zehn Jahre nennen können. Sie Ich weiß natürlich aus der Vergangenheit: Die kennen ja die berühmten Aufbewahrungsfristen für Bestellung von Hubschraubern z. B. auf die sich die statistische Unterlagen. deutsche Luftfahrtindustrie vier Jahre vorbereitet hat Ihre Frage ermuntert mich natürlich, anzuregen, — sie hat sich intensiv um die Lieferung bemüht —, ist daß wir die Aufbewahrungsfristen für Datenmaterial aus bestimmten politischen Gründen, die ich jetzt aus solch sensiblen Bereichen vielleicht etwas verlän- nicht bewerten möchte, an eine Firma aus Übersee gern sollten; ich darf es vielleicht einmal etwas salopp gegangen. sagen. Dann würde ich allerdings bei der Verabschie- dung des Haushalts für das nächste Jahr die Bitte um Bewilligung von mindestens drei oder vier neuen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- Stellen, möglichst dem höheren Dienst angehörig, frage, Herr Kollege. äußern. Aber Sie verstehen meine Antwort sicherlich rich- Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, ich muß tig: Wir werden Ihre mir doch sehr sinnvoll erschei- Ihnen in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob nende Anregung einmal in unserem Hause überden- es in einer so wichtigen Frage keine Kooperation ken. Sollten wir zu einer anderen Lösung oder zu zwischen Mitgliedern der Bundesregierung gibt, einem anderen Ergebnis als dem kommen, das ich denn Ihr Kollege Staatssekretär Grüner war bei dieser hier leider nur vortragen konnte, würde ich Ihnen Reise anwesend. Ich bin verwundert darüber, daß er gerne Bescheid geben. es bei einer solchen Frage, in der doch wesentliche Interessen der deutschen Indus trie in Frage stehen, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- nicht für nötig befunden hat, das in diesem Fall fragen liegen nicht vor. zuständige Haus über die Androhung eines immerhin Dann rufe ich Frage 21 des Kollegen Erler auf: maßgeblichen Mitglieds des türkischen Generalstabs Haben die türkische Regierung bzw. türkische Besteller im zu unterrichten. Zusammenhang mit der vorübergehenden Einstellung deut- Ich verbinde das mit der Bitte und der Frage, ob Sie scher Waffenlieferungen in die Türkei in diesem Jahr und der damit verbundenen Eintrübung des deutsch-türkischen Verhält- mir im Rahmen Ihrer schriftlichen Beantwortung mei- nisses damit gedroht, Aufträge in Deutschland zu stornieren, und ner Frage vielleicht auch mitteilen könnten, welche welche Projekte im einzelnen sind gegebenenfalls von solchen vertraglichen Vereinbarungen bezüglich dieser Rü- türkischen Maßnahmen be troffen? stungskooperationsprojekte bzw. Rüstungsaufträge bestehen. Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Frau Präsiden- tin! Herr Abgeordneter, angedrohte oder bevorste- hende Stornierungen sind der Bundesregierung nicht Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Auf den letzten bekannt. Teil Ihrer Frage antworte ich eindeutig mit Ja. Der von Ihnen so apostrophierte Staatssekretär Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Grüner ist seit 1987 nicht mehr Staatssekretär; ich bin Kollege. seitdem sein Nachfolger. Wenn Sie gestatten, gehe ich der Sache natürlich nach. Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß bei den von mir soeben schon angespro- Ich schließe im übrigen überhaupt nicht aus, daß chenen Besuchen des Verteidigungsausschusses der diese Dinge zur Zeit auf Beamtenebene besprochen werden. Bis das dann zur politischen Leitung gelangt, stellvertretende Stabschef der türkischen Streitkräfte den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und dem dauert es bekanntlich einige Zeit. Sie versäumen anwesenden Mitglied der Bundesregierung erklärt nichts, Herr Abgeordneter. Sie bekommen einen sehr hat, daß die türkische Regierung durchaus die Mög- detaillierten Bericht. lichkeit habe, auf die Einschränkung von Rüstungs- hilfe, die von der türkischen Seite „Embargo" genannt Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bezüglich wird, mit einer Stornierung von für die deutsche Frage 30 wird entsprechend unserer Geschäftsord- Wirtschaft wichtigen Aufträgen — z. B. betreffend die nung verfahren. MEKO-Fregatten und Hubschrauber — reagieren Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär, für könnte? die Beantwortung der Fragen. Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeord- Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- neter, da ich weder an dieser Reise teilgenommen desministers für Ernährung, Landwirtschaft und habe noch mit den Reiseteilnehmern einen Informa- Forsten. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamen- tionsaustausch pflegen konnte, mich aber selbst diese tarischer Staatssekretär Gottfried Haschke zur Verfü- Frage interessiert, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie gung. damit einverstanden wären, daß ich dieser Frage Ich rufe Frage 22 des Kollegen Jürgen Augustino- einmal nachgehe und mich mit den Reiseteilnehmern witz auf: 9956 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Vizepräsidentin Renate Schmidt Sieht die Bundesregierung in dem EG-Kommissionsvorschlag Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Ja. — Herr einer Verordnung des Rates über eine gemeinsame Marktorga- nisation für Bananen (KOM (92] 359 endg.) nicht ein klassisches Staatssekretär, wie sieht der weitere Zeitplan aus, bis Beispiel für die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, und ist sie die EG-Kommission vorhat, diese Verordnung in Kraft der Auffassung, daß durch eine solche Verordnung, in welcher zu setzen? sich die Regelungswut der EG-Bürokratie dokumentiert, die Europamüdigkeit der deutschen Bürger verstärkt wird? Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Ja, hier ist Eile geboten. Sie wissen ja, daß am 1. Januar 1993 der Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär beim Bun- Binnenmarkt beginnt. Es ist ja bekannt, daß der desminister für Ernährung, Landwirtschaft und Agrarrat am 26./27. Oktober getagt hat, dieses Pro- Forsten: Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter, die blem hier auch wieder angesprochen wurde und Bundesregierung lehnt den Kommissionsvorschlag keine Einigung erzielt werden konnte. Aber die deut- für eine künftige Bananenregelung aus GATT- und schen Verantwortlichen sind dran, hier zu einer Rege- EG-rechtlichen Gesichtspunkten ab, da er den Handel lung zu kommen, die auf alle Fälle GATT-konform mit Banenen einschränkt, zu Diskriminierungen der ist. Händler von sogenannten Dollar-Bananen und zu einer erheblichen Verteuerung der Verbraucher- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Habe ich das rich- preise führen würde. Hierzu will die Kommission tig verstanden, daß der Kollege Duve noch eine perfektionistische Verwaltungsvorschriften erlassen, Zusatzfrage hat? — Dann der Kollege Duve, bitte! die den Mitgliedstaaten kaum Handlungsspielraum geben und zentrale Entscheidungen durch die Kom- Freimut Duve (SPD): Herr Staatssekretär, wie Sie mission stärken. wissen, hat das ja ganz erhebliche Auswirkungen auf Soweit weitere Durchführungsbestimmungen er- viele unserer Partnerländer in Mittel- und Südame- forderlich werden sollten, strebt die Bundesregierung rika. an, statt des von der Kommission vorgeschlagenen Hat die Bundesregierung in ausreichendem Maße Verwaltungsausschußverfahrens das sogenannte Re- die wirtschaftlichen Folgen für die betroffenen Staa- gelungsausschußverfahren vorzusehen, bei dem die ten im Rahmen der EG deutlich gemacht? Ist die Mitgliedstaaten stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten Wirkung etwa auf die Wirtschaft Panamas — wo wir als beim Verwaltungsausschußverfahren haben. mit einer erheblichen, mit einer dramatischen Arbeits- Das Subsidiaritätsprinzip ist über die genannten losigkeit rechnen, da dies die zur Zeit dort noch größte Verfahrensregelungen nur mittelbar angesprochen. Industrie betrifft, die fast ausschließlich ihren Markt in Grundsätzlich ist es von einer künftigen Bananenre- Europa hat — den anderen Mitgliedstaaten der EG in gelung nicht betroffen, weil es Aufgabe der Gemein- dieser dramatischen Weise deutlich genug gemacht schaft ist, eine gemeinsame Außenhandelsregelung worden? Und ist ihnen deutlich gemacht worden, daß zu erlassen, um dem Binnenmarkt Rechnung zu erhebliche Hilfskosten auf die Europäische Gemein- tragen. schaft zukommen werden, um auch nur ein Mindest- Eine Verordnung, wie sie die Kommission vorsieht, maß an wirtschaftlicher Stabilität in einem L and wie wird bei den deutschen Bürgern berechtigterweise Panama zu gewährleisten? auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Auch aus diesem Grund hat sich die Bundesregierung nachhal- Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Die Bun- tig gegen den Vorschlag ausgesprochen. desregierung hat eindringlich darauf hingewiesen, daß es von höchster entwicklungs- und wirtschafts- politischer Tragweite ist, wenn hier Regelungen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Kollege. getroffen werden, die zuungunsten der sogenannten Dollar-Bananen ausgehen. Uns ist bekannt, daß es nicht wegen der 20 % Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatsse- Aufkommen an Bananen, die die europäischen Staa- kretär, zunächst vielen Dank für die Beantwortung der ten in den Randlagen, auf den Kanarischen Inseln Frage. usw., haben, so sein darf, daß man die Länder, die uns Welche Möglichkeiten sieht denn die Bundesregie- die Bananen in die Gemeinschaft günstig liefern, hier rung, sich mit ihrer Haltung durchzusetzen, denn außen vorläßt oder mit derartigen Zöllen belegt, die allein kann Deutschl and diese Regelung ja nicht diese Staaten ruinieren und auch Arbeitsplätze ver- verhindern? nichten, wie Sie das schon richtig sagen. (Freimut Duve [SPD]: Europa darf nicht zur Gottfried Haschke, Parl. Staatssekretär: Ja, die Bananenrepublik werden!) Bundesregierung unternimmt alles, um Verbündete zu finden. Aber der gegenwärtige Stand ist, daß die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Fragen 23 und Beneluxstaaten und Dänemark mit auf deutscher 24 werden entsprechend unserer Geschäftsordnung Seite stehen und Italien fast mit auf deutscher Seite behandelt. Damit sind wir am Ende dieses Geschäfts- steht. Ich kann Ihnen aber versichern, daß die Bun- bereiches. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär! desregierung diesen jetzigen Kommissionsvorschlä- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- gen dennoch zustimmen wird, auch wenn sie bei einer nisters für Arbeit und Sozialordnung. Die Fragen Abstimmung unterliegt. Nr. 25 und 26 werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage Nr. 27 der Frau Kollegin Dr. Eva Pohl. Die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine zweite Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit Zusatzfrage, Herr Kollege? sind wir auch am Ende dieses Geschäftsbereiches. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9957

Vizepräsidentin Renate Schmidt Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- in den Augen der Bundesregierung Vorrang vor den nisters für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Bauten des Parlaments und der Regierung hat? Hier steht zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Jürgen Echternach zur Verfügung. Wir Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr kommen zur Frage 28 des Kollegen Peter Conradi: Kollege, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Trifft es zu, daß die Bundesregierung An- und Umbauten für Wir setzen die Mittel in den Haushalt ein, die jeweils insgesamt 400 Millionen DM für das Deutsche Historische entsprechend dem Baustand benötigt werden. Museum in Berlin im Zeughaus Unter den Linden plant? Was das Deutsche Historische Museum angeht, so ist es die Absicht, an dieser prominenten Stelle Unter Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär bei der den Linden neben den Parlaments- und Regierungs- Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und bauten in Verbindung zur Museumsinsel, z. B. zum Städtebau: Herr Kollege Conradi, es trifft zu, daß die Pergamon-Museum, einen wichtigen kulturpoliti- Bundesregierung für das Deutsche Historische Mu- schen Akzent zu setzen. seum in Berlin-Mitte Baumaßnahmen beabsichtigt, die darin bestehen, das Zeughausgebäude grundin- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere standzusetzen und zu modernisieren, das dem Zeug- Zusatzfrage des Kollegen Sorge. haus benachbarte sogenannte Minolgebäude grund- instandzusetzen und einen Wechselausstellungsneu- Wieland Sorge (SPD): Herr Staatssekretär, Sie sag- bau zu errichten. ten, daß nicht nur eine Restauration stattfindet, son- Wie im Haushaltsausschuß mitgeteilt, werden die dern auch eine Erweiterung. Können Sie bereits Kosten für die drei Bauvorhaben auf 450 Millionen sagen, ob die Objekte, die dann in diesen größeren DM geschätzt. Bau hineinkommen sollen, von anderen Museen her- geholt werden? Und können Sie schon sagen, welche Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Museen das sind? Liegt vielleicht auch schon fest, daß Kollege? bestimmte Museen daraufhin schließen und hier nur dieser Erweiterungsbau erfolgen muß? (SPD): Herr Staatssekretär, wie ver- Peter Conradi (Beifall des Abgeordneten Peter Conradi trägt sich die Ankündigung des Bundeskanzlers, jetzt [SPD]) müsse dramatisch an allen Stellen gespart werden, mit einem Projekt von 450 Millionen Mark für das Deut- Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- sche Historische Museum, das im Zeughaus in Berlin lege, es ist vorgesehen, daß im Zeughaus selbst eine in prominenter Lage vorzüglich untergebracht ist und über drei Stockwerke hinweg statt- dort ohne weiteres fünf oder zehn Jahre arbeiten Dauerausstellung findet und daß es daneben einen wesentlich kleiner kann, bevor Baumaßnahmen notwendig sind? Halten dimensionierten Ausstellungsbau für Sie dieses Projekt nicht auch für einen krassen Wider- Wechselausstel- lungen geben soll. Und zwar ist der, glaube ich, in der spruch zu der Sparankündigung des Herrn Bundes- Dimensionierung von 5 000 Quadratmetern Haupt- kanzlers? nutzfläche geplant. Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Selbstverständlich geht es nicht darum, daß irgend- Kollege. Erstens wissen Sie, daß wir den Bau des welchen Museen etwas weggenommen wird. Das ist Deutschen Historischen Museums in diesem Hause auch schon von Anfang an immer die Grundkonzep- schon in einer wesentlich größeren Dimensionie- tion des Deutschen Historischen Museums gewesen. rung Sicher würde sich das kein Bundesland, das ja für seine Museen zuständig ist, bieten lassen. (Peter Conradi [SPD]: Vor der Einheit, ja!) und mit einem wesentlich größeren finanziellen Auf- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere wand beschlossen haben, und zweitens wissen Sie, Zusatzfrage des Kollegen Duve. daß das Zeughaus eine wesentlich geringere Fläche hat als das seinerzeit beschlossene Deutsche Histori- Freimut Duve (SPD): Herr Staatssekretär, ist Ihnen sche Museum am Spreebogen. bekannt, daß gestern der Unterausschuß für Kunst Das Zeughaus hat eine Hauptnutzfläche von viel- und Kultur des Deutschen Bundestages intensiv über leicht 14 000 Quadratmetern, jedenfalls weit weniger diese neuen Planungen diskutiert hat und seinerseits als die 36 000 Quadratmeter Hauptnutzfläche, die auch verwundert darüber war, daß diese drastische seinerzeit auf der Basis des Rossi-Entwurfes für das Veränderung ursprünglicher Planungen völlig am Deutsche Historische Museum am Spreebogen vorge- Parlament vorbeiläuft? Und teilen Sie meine Auffas- sehen waren. sung, daß es jetzt dringend erforderlich ist, erstens eine gesetzliche Grundlage für dieses Projekt zu Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine zweite schaffen, wie beim Haus der Geschichte in Bonn auch, Zusatzfrage, Herr Kollege? und daß wir zweitens die veränderte Konzeption hier im parlamentarischen Raum diskutieren müssen; Peter Conradi (SPD): Muß ich aus der Tatsache, daß denn es handelt sich um ein öffentliches Projekt der die Bundesregierung die für das nächste Jahr vorge- Bundesregierung? sehenen Mittel für den Grunderwerb für Parlament und Regierung in Berlin um 400 Millionen Mark kürzt, Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- gleichzeitig aber ein Projekt für das Deutsche Histori- lege Duve, jede Mark, die hierfür aufgewandt wird, sche Museum von 450 Millionen Mark betreibt, den bedarf der Zustimmung dieses Hauses. Selbstver- Schluß ziehen, daß das Deutsche Historische Museum ständlich werden wir deswegen in diesem Bereich nur 9958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach tätig werden können, wenn es dafür eine entspre- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die zweite Zu- chende Zustimmung des Deutschen Bundestages satzfrage, Kollege Conradi. gibt, die wir möglicherweise im Rahmen des Haus- haltsverfahrens durch die Beschlußfassung über den Peter Conradi (SPD): Nachdem mir Ihr Ministerium Bundeshaushalt in diesem Monat erwarten können. mitgeteilt hat, Herr Staatssekretär, daß die von Ihnen einberufene Expertenkommission den von Ihnen vor- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- gelegten Entwurf gutgeheißen hat, habe ich mir die fragen liegen nicht vor. Mühe gemacht, die acht Experten anzurufen. Von den Wir kommen damit zur Frage 29 des Kollegen Peter acht Experten haben mir sechs erklärt — zwei habe ich Conradi: nicht erreicht —, daß an dem Entwurf Kritik geübt Trifft es zu, daß der Architektenauftrag für dieses Projekt ohne wurde, daß er keineswegs gutgeheißen wurde. Wettbewerb direkt vergeben worden ist? „Nachdem der vorgeschlagene Entwurf in wesent- lichen Teilen abgelehnt wurde" — so hieß es wört- Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- lich —, d. h. nachdem die von Ihnen berufenen Exper- lege Conradi, es trifft nicht zu, daß der Architekten- ten tatsächlich — entgegen der Auskunft Ihres Hauses auftrag bereits direkt vergeben worden ist. Es besteht an einen Abgeordneten — den Entwurf nicht gutge- allerdings die mit Berlin abgestimmte Absicht, ihn zu heißen haben, frage ich Sie: Nehmen Sie die Anre- gegebener Zeit direkt an den Architekten Dipl.-Ing. gung der von Ihnen selbst ausgesuchten Experten Brandi, Göttingen, zu vergeben. Aus Zeitgründen und ernst, einen beschränkten Wettbewerb einzuführen, nicht zuletzt aus Gründen der Sparsamkeit hat die oder bleiben Sie bei der Direktbeauftragung eines Bundesbauverwaltung die Absicht, auf bisherige Pla- Architekten, dessen Entwurf von den von Ihnen beru- nungsarbeiten des Architekten Brandi und anderer fenen Experten abgelehnt wird? Freischaffender aufzubauen. Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. lege Conradi, nur ein Teil der Architekten hat diesen Wunsch geäußert, nicht etwa alle Experten. Peter Conradi (SPD): Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung die freihändige Vergabe von Bau- Zweitens hat die Bundesbauministerin Ihnen in projekten mit Kosten von 450 Millionen DM an einen einem Schreiben bereits direkt mitgeteilt, daß die Architekten ohne Veranstaltung von zumindest Auskunft zutreffend war, die Ihnen seinerzeit mein beschränkten Gutachterwettbewerben für normal Kollege Günther gegeben hat, und daß dieses Vorha- und üblich, und welcher Zeitdruck besteht bei der ben keineswegs insgesamt von den Experten kritisiert Herrichtung und beim Ausbau eines Museums, der worden ist. Es gab Kritik an bestimmten Punkten. einen solchen Wettbewerb unnötig machen sollte? (Peter Conradi [SPD]: Wollen Sie behaupten, daß ich hier die Unwahrheit erzähle?!) Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Jürgen Echternach, — Herr Kollege Conradi, die Ministerin hat Ihnen im lege Conradi, wir führen, wie Sie als Mitglied der einzelnen dargelegt — sie war bei dem Kolloquium entsprechenden Jury selbst wissen, zur Zeit bereits selbst dabei, Sie nicht —, daß die Auskunft, die der zwei große Wettbewerbe in Berlin durch. Es werden Kollege Günther Ihnen gegeben hat, zutreffend sicher noch eine Reihe weiterer Wettbewerbe in war. Berlin stattfinden: städtebauliche Wettbewerbe, Rea- lisierungswettbewerbe, also Architektenwettbe- Darüber hinaus darf ich darauf verweisen, daß sich werbe. Insofern wird dem verständlichen Wunsch der die Kritik auf eine bestimmte Erschließungsmaß- Architektenschaft nach möglichst vielen Wettbewer- nahme bezog — auch das hat Ihnen die Ministerin ben durch die Bundesregierung in großem Umfang dargelegt —, auf die gläserne Zuwegung zwischen Rechnung getragen. dem Zeughaus und dem Wechselausstellungsge- bäude und die Fußgängerbrücke, nicht aber etwa auf In diesem Fall allerdings haben sich dadurch, daß den zentralen Punkt des Umbaus des Zeughauses zunächst der renommierte Architekt Professor Schatt- selbst. Was die kritischen Punkte angeht, hat inzwi- ner den Auftrag bekommen hatte, als noch an eine schen insofern eine Veränderung der Planung stattge- Zwischenlösung im Zeughaus gedacht war und noch funden. Die zentrale Planung allerdings bleibt. Sie ist die ursprüngliche Planung bestand, innerhalb des auch von der Ministerin gutgeheißen worden. Im Spreebogens das Deutsche Historische Museum zu Einvernehmen mit Berlin beabsichtigen wir, auf die- errichten, bereits erhebliche Vorarbeiten ergeben. ser Basis Herrn Brandi einen direkten Auftrag zu Professor Schattner hatte Herrn Brandi hinzugezogen. erteilen. Auf dieser Basis ist ein sehr eindrucksvolles Planungs- konzept entwickelt worden. Dieses Konzept hat über- zeugt. Aus diesem Grunde beabsichtigt die Bundesre- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit liegen aus gierung, Herrn Brandi diesen Auftrag zu geben. Das diesem Geschäftsbereich keine weiteren Fragen vor. erspart Kosten, weil ein Teil der aufgewandten Hono- Ich bedanke mich für die Beantwortung. rarkosten verrechnet werden kann. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- Im übrigen ist es unser Ziel, noch in den 90er Jahren nisters des Auswärtigen. Zur Beantwortung steht Frau dieses Projekt durchzuführen. Wir haben dafür einen Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfü- sehr engen Terminfahrplan. Wir würden ihn nicht gung. einhalten können, wenn wir jetzt noch einen weiteren Die Frage 31 des Kollegen Lowack wird schriftlich Architektenwettbewerb dazwischenschalten wür- beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abge- den. druckt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9959

Vizepräsidentin Renate Schmidt Wir kommen zur Frage 32 des Kollegen Albrecht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Müller: fragen liegen nicht vor. Wie begründet die Bundesregierung die Tatsache, daß sie im Die Frage 33 des Kollegen Gansel wird entspre- Zusammenhang mit dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag" und vor Be- chend unserer Richtlinien schriftlich beantwortet. Die ginn der Verhandlungen zum Zusatzabkommen zum NATO- Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Fragen 34 Truppenstatut den Entsendestaaten ausländischer Streitkräfte mitgeteilt hat, sie erhebe keine Einwendungen gegen deren und 35 des Kollegen Dr. Klaus Kübler sind zurückge- weitere Präsenz, und damit die Verhandlungsposition unseres zogen. — Herzlichen Dank, Frau Staatsministerin. Landes geschwächt hat? Wir kommen damit zu den Fragen aus dem Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin im Auswärti- Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. gen Amt: Herr Kollege Müller, die Bundesregierung Hier steht zur Beantwortung Herr Parlamentarischer hat mit Aufnahme der Verhandlungen zum Zusatzab- Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung. kommen zum NATO-Truppenstatut zu keiner Zeit die Ich rufe Frage 36 des Kollegen Dr. Günther Mü ller Absicht verfolgt, die weitere Präsenz unserer Bünd- auf: nispartner in Deutschland grundsätzlich in Frage zu Beabsichtigt die Bundesregierung — ähnlich wie der Herr stellen. Mit dieser Mitteilung hat sie deshalb keine Bundespräsident die Schriftsteller —, die an der Manifestation deutsche Verhandlungsposition geschwächt. Die am 8. November 1992 in Berlin teilnehmenden Arbeiter und Bundesregierung ist davon überzeugt, daß die Prä- Angestellten zu einem Imbiß einzuladen? senz von Streitkräften unserer NATO-Partner nach Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- wie vor dem sicherheitspolitischen Interesse Deutsch- minister des Innern: Herr Kollege Dr. Müller, die lands entspricht und damit ein Beitrag zur Stabilität in Antwort lautet schlicht: Nein. Europa von uns und unseren Partnern geleistet wird. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, Herr Kollege. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Kollege. Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Herr Staatssekre- Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD): Frau Staatsmi- tär, geht die Antwort „nein" darauf zurück, daß die nisterin, können Sie bestätigen, daß die Bundesregie- Bundesregierung grundsätzlich der Meinung ist, daß rung mangels Verhandlungsmacht bei der selbstver- es durchaus zwei Arten von Manifestanten geben ständlichen Durchsetzung deutschen Arbeits- und kann, oder geht sie darauf zurück, daß schlicht und Sozialrechts und damit Mitbestimmungsrechts deut- einfach kein Geld mehr vorhanden ist? scher Zivilbeschäftigter und damit der selbstverständ- lichen Gleichstellung zur Zeit nicht weiterkommt, daß Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege sie bei der Durchsetzung eines hohen Anteils deut- Müller, Geld wäre möglicherweise schon vorhanden, scher Zivilbeschäftigter im Vergleich zu den auslän- aber wir haben mit dem Vorgang nichts zu tun. Es dischen Zivilbeschäftigten ebenfalls nicht weiter- handelt sich um eine Einladung des Bundespräsiden- kommt und daß sie mangels Verhandlungsmacht ten. Es steht dem Bundesinnenministerium nicht zu, auch bei der Beendigung von Sonderrechten der dies zu kommentieren. alliierten Streitkräfte im steuerlichen Bereich nicht sehr weiterkommt, auch insgesamt bei der Zielset- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine zweite zung, gleiche Rechte für alle Partner im Bündnis zu Zusatzfrage des Herrn Kollegen Müller? — Nein. erreichen? Dann rufe ich die Frage 37 des Kollegen Dr. Günther Müller auf: Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- Wie beurteilt die Bundesregierung, die ausdrücklich auf jeden lege Müller, ich kann das nicht bestätigen. Zum einen Einsatz von Chemiewaffen verzichtet hat, die Verwendung von haben die Verhandlungspartner Vertraulichkeit ver- militärisch nutzbarem Reizgas durch Demons tranten in Meck- einbart. Ich kann Ihnen aber sagen, daß nach unseren lenburg-Vorpommern? Erkenntnissen die Verhandlungen in nicht allzu fer- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nach § 37 ner Zeit unter Beachtung der von Ihnen mit Recht Abs. 1 Nr. 9 des Waffengesetzes sind insbesondere die angesprochenen Fragen zu einem Ende geführt wer- Herstellung, der Erwerb und der Besitz, die Einfuhr den könnten, wenn es sich so weiterentwickelt, wie und die Verwendung von Gegenständen mit Reizstof- wir Anlaß haben zu glauben. fen grundsätzlich verboten. Allerdings läßt das Waf- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- fengesetz nach Maßgabe der ersten Waffenverord- frage, Herr Kollege. nung den Erwerb und Besitz von Reizstoffsprühgerä- ten durch Privatpersonen zur Selbstverteidigung zu. Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD): Werden Sie die Art, Konzentration und Menge des Reizstoffes sind Gleichstellung erreichen, und werden Sie mit der in den Anforderungen dieser Rechtsverordnung so alten Regierung verhandeln, oder warten Sie ab, bis festgelegt, daß der Reizstoff bei bestimmungsgemäßer Präsident Clinton im Amt ist? Das ist ja eine span- Verwendung nur vorübergehend angriffsunfähig nende und wichtige Frage in diesem Zusammen- macht und keine bleibenden gesundheitlichen Schä- hang. digungen verursachen kann. Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- Bei der von Ihnen genannten Demonstration in lege Müller, bis zum 20. Januar ist die Regierung unter Mecklenburg-Vorpommern sind offenbar von Aus- Präsident Bush im Amt. Wir werden versuchen, unter ländern ausländische Reizstoffwaffen verwendet wor- dieser Administration zu einem Ende der Verhandlun- den, die den deutschen waffenrechtlichen Vorschrif- gen zu kommen. ten nicht entsprachen. Vor diesem Hintergrund der 9960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner offensichtlich illegalen Einfuhr und mißbräuchlichen Die Arbeiten an der Aktualisierung der Modellrech- Verwendung des Reizstoffes zum Angriff auf Polizei- nungen zur Bevölkerungsentwicklung konnten bisher beamte, den die Bundesregierung scharf verurteilt, nicht abgeschlossen werden. kann ein Zusammenhang mit dem Verzicht der Bun- desrepublik Deutschland auf den Einsatz von chemi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr schen Kampfstoffen bei militärischen Auseinander- Kollege. setzungen nicht gesehen werden. Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatsse- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr kretär, Sie hatten mir im Juli dieses Jahres auf eine Kollege. schriftliche Anfrage hin mitgeteilt, daß diese Arbeiten in Kürze abgeschlossen werden könnten. Wann wird Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Herr Staatssekre- diese Arbeit abgeschlossen? tär, welches ist die Reaktion des Bundesinnenministe- riums auf die Einfuhr von solchen Waffen in die Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen Bundesrepublik? Gibt es mehrere solcher Fälle, bei im Moment nicht mehr als das sagen, was hier denen derartige Waffen in die Bundesrepublik einge- aufgeschrieben worden ist. Ich bin aber gern bereit, führt wurden? mich nach einem genaueren Zeitpunkt zu erkundigen und Ihnen diesen dann schriftlich mitzuteilen. Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eduard Lintner, Eine zweite Müller, im Moment ist mir nur dieser Fall bekannt. Die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Kollege. Reaktion muß von den Behörden ausgehen, die zur Verfolgung von Straftaten zuständig sind. Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Wie wird sich bis zum Jahre 2030 das Verhältnis zwischen deut- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- schen und ausländischen Mitbürgern entwickeln? frage des Kollegen Müller. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Diese Frage Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Kann das Bundes- kann ich Ihnen jetzt an Hand der Unterlagen, die mir innenministerium als in der Bundesrepublik für die vorliegen, nicht beantworten. Ich muß Ihnen anbieten, Sicherheit zuständige Behörde in Zukunft dafür sor- daß wir dies schriftlich nachreichen. gen, daß derartige gefährliche Waffen in der Bundes- republik nicht in Umlauf gebracht werden? Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Werden Sie es nachreichen? Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Mül- ler, wie Sie wissen: Wir tun unser Bestes. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ja. (Rudolf Bindig [SPD]: Da haben wir Zwei fel!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dann noch eine Zusatzfrage des Kollegen Bindig. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- fragen liegen nicht mehr vor. Wir kommen damit zur Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, kann ich Frage 38 des Kollegen Jürgen Augustinowitz: aus der Tatsache, daß die Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik Deutschl and von derzeit rund 80 Mil- Wie stellt sich — nach dem Kenntnisstand der Bundesregie- rung — die demographische Entwicklung in Deutschland bis lionen bis zum Jahre 2030 auf 61 Millionen zurückge- zum Jahr 2030 dar? hen wird, schließen, daß das Boot in Deutschland in der Perspektive nicht voller, sondern immer leerer Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die im Früh- wird? jahr dieses Jahres vom Statistischen Bundesamt vor- gelegte siebte koordinierte Bevölkerungsvoraus- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Zunächst wird schätzung kommt zu dem Ergebnis, daß die Bevölke- es voller, Herr Kollege, wie ich ausgeführt habe. Bis rungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutsch- zum Jahre 2000 wird die Bevölkerungszahl auf land durch eine anhaltende niedrige Geburtenhäufig- 81,1 Millionen steigen. Erst danach ist ein Rückgang keit, zunehmende Lebenserwartung und langfristig zu erwarten. durch einen Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet- ist. Gegenüber dem heutigen Stand von knapp 80 Mil- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- lionen Einwohnern wird die Gesamtbevölkerung bis fragen liegen nicht vor. 1998 auf 81,2 Millionen ansteigen und danach lang- Die Frage 39 des Kollegen Stiegler ist zurückgezo- sam — im Jahre 2000: 81,1 Millionen —, aber ständig gen worden. Die Frage 40 des Kollegen Kubatschka zurückgehen. Bis zum Jahre 2030 wird sie dann auf wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als 69,9 Millionen Einwohner deutlich abnehmen. Anlage abgedruckt. Die Untersuchungen des Statistischen Bundesamtes Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. zeigen, daß sich der Altersaufbau der Bevölkerung Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. Deutschlands auch unter der Annahme einer andau- Damit sind wir auch am Ende der Fragestunde, weil ernden Zuwanderung von Aussiedlern und Auslän- weitere Fragen nicht vorliegen. dern bis zum Jahre 2030 gravierend ändern wird. Dabei verschiebt sich das zahlenmäßige Verhältnis Ich rufe nun Punkt 8 der Tagesordnung auf: zwischen jüngeren und älteren Menschen langfristig a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- zu Lasten der jüngeren Generation. haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9961

Vizepräsidentin Renate Schmidt richtung durch die Bundesregierung wärtigen Ausschüssen Polens, Frankreichs und der Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Bundesrepublik Deutschland — in Anwesenheit von Titel 686 12 Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des unga- — Humanitäre Hilfe im Ausland - rischen Parlaments — nutzen, um dem ehemaligen - Drucksachen 12/3204, 12/3456 — polnischen Ministerpräsidenten für seine mutige Mis- sion im ehemaligen Jugoslawien zu danken. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus Rose (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Dr. Sigrid Hoth SPD und der PDS/Linke Liste) Ernst Waltemathe Wir wissen, daß die leidgeprüften Völker und Staa- b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- ten in dieser Region, vor allem auch Kroatien und haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Slowenien, kaum mehr in der Lage sind, über das richtung durch die Bundesregierung hinaus, was sie bisher in sehr bemerkenswerter Weise Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 geleistet haben, weitere Hilfe zu erbringen. Im ehe- apl. Titel 686 46 maligen Jugoslawien sind 3 Millionen Menschen auf — Errichtung winterfester Flüchtlingsunter- der Flucht. Kroatien hat 750 000 Flüchtlinge und künfte in Kroatien — Vertriebene aufgenommen — das entspricht 20 % der Bevölkerung —, Slowenien 70 000 Flüchtlinge. — Drucksachen 12/3206, 12/3457 — Berichterstattung: Wir wissen, daß der bevorstehende Winter eine Abgeordnete Dr. Klaus Rose weitere Verstärkung der Hilfe besonders dringend Dr. Sigrid Hoth macht. Wir beraten heute über einen Kabinettsbe- Ernst Waltemathe schluß vom 21. Juli 1992, mit dem durch den Bau von drei Flüchtlingsdörfern für 8 000 Menschen in Osijek, c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Vinkovci und Karlovac sowie die Instandsetzung vor- Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- handener Infrastruktur für die Aufnahme von weite- schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Kon- ren Menschen die weitere humanitäre Hilfe aus rad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜND- Deutschland verstärkt werden soll. NIS 90/DIE GRÜNEN Humanitäre Hilfe und Unterstützung von Frie- Die Bundesrepublik Deutschland — dies sollten wir densinitiativen für Somalia deutlich machen — hat bislang neben dem Be trag von 50 Millionen DM weitere direkte Hilfen von mehr als — Drucksachen 12/2159, 12/3599 — 60 Millionen DM geleistet. Unser Anteil an der EG- Berichterstattung: Hilfe beträgt 160 Millionen DM. Der Gesamtbetrag Abgeordnete Günter Verheugen Deutschlands in Höhe von 270 Millionen DM ist höher Ulrich Irmer als die Hilfe aller Nicht-EG-Mitglieder der G 24 Gerd Poppe zusammen. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Meine Damen und Herren, ich sage dies nicht, um gemeinsame Aussprache zu diesem Punkt anderthalb uns Deutsche als Beispiel lobend herauszustellen, Stunden vorgesehen. Als erster hat unser Kollege sondern um an die anderen Staaten zu appellieren, im Hartmut Koschyk das Wort. Hinblick auf eine bevorstehende Katastrophe im Win- ter endlich ihren Beitrag zu verstärken. Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute im (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD sowie der Parlament u. a. über die Verstärkung deutscher PDS/Linke Liste) humanitärer Hilfe in dem von Krieg, Flucht und Wir sollten natürlich auch den Bundesländern dank- Vertreibung von Menschen erschütterten ehemaligen bar sein, die sich hier in bemerkenswerten Größen- Jugoslawien sprechen, sollten wir zu Beginn und ordnungen engagieren. Allein der Freistaat Bayern sicher im Namen des gesamten Hauses all jenen Dank engagiert sich mit Hilfsmaßnahmen im Wert von sagen, die als deutsche Hilfsorganisationen im ehe- 5 Millionen DM. maligen Jugoslawien Menschen helfen: dem Diakoni- schen Werk, der Caritas, dem Malteser-Hilfsdienst,- Die Hilfe, die von Deutschland geleistet wird, dem Arbeiter-Samariter-Bund, dem Technischen kommt Flüchtlingen in Kroatien und auch der Zivilbe- Hilfswerk, der Deutschen Gesellschaft für Technische völkerung in Bosnien-Herzegowina zugute. Daneben Zusammenarbeit. Ebenso danken wir vielen privaten werden auch Flüchtlinge in Ungarn, Serbien und Hilfsorganisationen von Bürgerinnen und Bürgern Slowenien versorgt. Die Hilfe erfolgt durch Lebens- unseres Landes. Wir danken gleichfalls dem Verbin- mittelversorgung und medizinische Betreuung. Dabei dungsbüro der deutschen humanitären Hilfe in Za- sollten wir auch den Beitrag des Bundesministeriums greb, das hervorragende Arbeit leistet, und auch der Verteidigung erwähnen, der die humanitäre Hilfe unseren Soldaten der Bundeswehr, die unter Gefahr in Form von Sachleistungen aus Beständen im Wert für Leib und Leben ihren wichtigen Beitrag zur von 10 Millionen DM unterstützt. Aufrechterhaltung der Luftbrücke nach Sarajevo und Der wohl wichtigste Beitrag der Bundeswehr und zur Versorgung dieser Stadt mit Hilfsgütern leistet. unserer Soldaten ist die Beteiligung an der Luftbrücke Wir sollten die Anwesenheit des Beauftragten der nach Sarajevo. Bislang fanden rund 200 deutsche Vereinten Nationen für Menschenrechtsfragen im Hilfsflüge statt, mit denen 2 000 t Hilfsgüter transpor- ehemaligen Jugoslawien, des ehemaligen polnischen tiert wurden. Wir sollten ernst nehmen, was die Ministerpräsidenten Mazowiecki, heute bei den Aus Soldaten mir und unserem Kollegen Christian 9962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Hartmut Koschyk Schmidt bei einem Besuch in Zagreb in der vergan- prüften Menschen im ehemaligen Jugoslawien auch genen Woche mitgeteilt haben, nämlich daß die jetzt einige politische Bemerkungen machen. Denn, so in den Bundeswehrmaschinen eingebauten Raketen- französische Intellektuelle neulich in einem in Frank- abwehrvorrichtungen bislang nur für kleinere Kampf- reich veröffentlichten Aufruf, „es macht keinen Sinn, flugzeuge konstruiert wurden und unseren größeren den Menschen am Mittag humanitäre Hilfe zu geben Transportmaschinen, die dort im Einsatz sind, nur und nicht zu verhindern, daß sie am Abend ermordet einen partiellen Schutz bieten. Der Bundesminister werden" . Deshalb muß von dieser Debatte auch ein der Verteidigung sollte deshalb alsbald sicherstellen, Appell ausgehen, alles Mögliche zu unternehmen, um daß die deutschen Transportmaschinen technisch so diesen menschenverachtenden Krieg, dieses Blutver- ausgerüstet werden, daß ein größtmöglicher Schutz gießen, diese Vertreibung, dieses Morden zu been- vor einem eventuellen Raketenang riff gewährleistet den. Es müssen umgehend Sicherheitszonen und wird. -korridore eingerichtet werden, um die Zivilbevölke- rung besser zu schützen. Bei der Diskussion über die Verstärkung und bes- sere Koordinierung der internationalen Hilfe sollten Ministerpräsident Mazowiecki hat uns bestätigt, wir auch erwähnen, daß sich von den 540 000 Flücht- daß man sich trotz vieler Konferenzen und Zusagen lingen, die aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien von serbischer Seite an nichts hält, die sogenannten in andere Länder geflohen sind, rund 230 000 in ethnischen Säuberungen, die Vertreibungen weiter- Deutschland befinden. Das sind 42 % der Gesamt- gehen und man von serbischer Seite vollendete Tat- flüchtlingszahl. Ich will es mir versagen, zu kritisieren, sachen schaffen will, um sich für Friedenskonferenzen wie beschämend gering die Aufnahme von Flüchtlin- eine bessere Ausgangslage zu verschaffen. Dies darf gen in anderen EG-Staaten ist. die internationale Staatengemeinschaft nicht zulas- sen. Es muß klar sein, daß in einem eventuel- Deshalb ist es sicher politisch wichtig und richtig, len Friedensprozeß durch militärische Gewalt und daß die Auswärtigen Ausschüsse des Bundestages, Aggression geschaffene Grenzen niemals anerkannt des polnischen Sejm und der französischen National- werden dürfen. Das bedeutet auch, daß der Teil des versammlung auf Grund des Mazowiecki-Berichts in Vance-Planes, der die Rückführung von Vertriebenen unsere laufende Debatte einen Antrag einbringen, in und Flüchtlingen in die sogenannten UNPROFOR- dem sie ihre Regierungen auffordern, auf der Ebene Zonen und Pink-zones vorsieht, so weit wie möglich der EG, der KSZE und der internationalen Staatenge- angegangen werden muß, um das Schaffen vollende- meinschaft sicherzustellen, daß, wie der ehemalige ter Tatsachen auf serbischer Seite zu verhindern. Ministerpräsident Mazowiecki uns berichtet hat, Wir brauchen sicher auch eine Überwachung und 15 000 Menschen, die zur Zeit in serbischen Lagern Sanktionierung des Flugverbots über Bosnien-Herze- vom Tod bedroht sind, alsbald durch Vermittlung des gowina. Wir brauchen die juristische Aufarbeitung Internationalen Roten Kreuzes diese Lager verlassen der begangenen Kriegsverbrechen. Wir brauchen für können. Dies scheitert aber, da keine Aufnahmezusa- all dies natürlich auch einen stärkeren operativen gen der internationalen Gemeinschaft für diese Men- Beitrag, beispielsweise was die Mission von EG- schen vorliegen. Der Appell der drei Auswärtigen Monitoren anbelangt. Es ist nicht gut, daß von deut- Ausschüsse ist sicher wichtig und richtig. scher Seite, wie wir beim Besuch gehört haben, dort Meine Damen und Herren, internationale Hilfe zur Zeit der deutsche Beitrag nur in einer Person muß verstärkt und besser koordiniert werden. So war besteht. Das Auswärtige Amt sollte sich überlegen, ob die Initiative des Bundeskanzlers sicher richtig, beim zur Verstärkung eines deutschen personellen Beitrags Sondergipfel der EG in Birmingham auf eine weitere für die über die Lage in den verschiedenen Gebieten Verstärkung dieser Hilfe zu dringen. Es war eine Informationen liefernden EG-Monitoren im Ruhe- notwendige und richtige Entscheidung, hierfür rasch stand befindliche Beamte des Auswärtigen Amtes und effektiv 240 Millionen DM einzusetzen. reaktiviert werden können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und der PDS/Linke Liste) Es darf allerdings nicht dazu kommen, daß man nun auf EG-Ebene zunächst langwierig prüft, Strukturen aufbaut und damit wertvolle Zeit vergeudet, weil man Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat sich z. B. davor scheut, die am besten ausgebaute- der Kollege Freimut Duve das Wort. Infrastruktur der deutschen humanitären Hilfe im ehemaligen Jugoslawien zu nutzen. Das wäre falsch, Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- das wäre kurzsichtig. Die deutsche Infrastruktur ist ginnen und Kollegen! Wir haben vor 14 Tagen schon vorhanden. Unser Büro der deutschen humanitären einmal über Hilfe für Bosnien für den bevorstehenden Hilfe ist bei einer Personalverstärkung in der Lage, pro Winter gesprochen. Wir sprechen heute über ein Woche 1 000 t Hilfsgüter zu bewältigen. Es sollte jetzt ganzes Paket von zusätzlichen Hilfsmaßnahmen und nicht lange über neue Strukturen oder eine Verbesse- beschäftigen uns mit zwei Regionen, die uns auf völlig rung der bestehenden Strukturen nachgedacht wer- ungewohnte Weise Abend für Abend mit apokalypti- den. Vielmehr sollte die EG vorurteilsfrei prüfen, ob schen Bildern versorgen, und zwar in einer Form, wie sie sich nicht bei bei Abwicklung der Hilfsmaßnah- sie vor uns möglicherweise noch niemand gesehen men, die schnell geleistet werden müssen, der deut- hat. Ich möchte daran erinnern, weil wir als Abgeord- schen Infrastruktur bedient. nete ja für die Öffentlichkeit da sind. Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich in Das hat es noch nicht gegeben, daß man vom einer Debatte über humanitäre Hilfe für die leidge Sterben von Menschen, vom Quälen von Menschen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9963

Freimut Duve Abend für Abend Fotos und Filme sehen kann. Über sten. Das heißt, in den letzten 20, 30 Jahren ist in den 30jährigen Krieg haben wir einige literarische unseren wirtschaftlichen Beziehungen zu diesen Län- Zeugnisse, und unser Bild vom 20jährigen Krieg ist dern etwas dramatisch falsch gelaufen. durch diese Literatur entstanden. Von Auschwitz (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Sehr haben wir nach Öffnung der Tore vielleicht zehn wahr!) Fotos. Mehr Bilder haben wir nicht. Und jetzt erlebt die Generation unserer Kinder Abend für Abend eine Ich bin froh, daß unsere Fraktion heute ein Konzept Bildhaftigkeit, wie sie sie in der Menschheitsge- vorgelegt hat, in dem die Frage der dauerhaften schichte noch nicht gegeben hat. Es geschehen diese Ernährung angegangen wird, daß nämlich die Hilfe Verbrechen, und wir müssen es jetzt in einer merk- für Kleinbauern und alle solche Dinge Vorsorgehilfe würdigen Distanz aushalten, an diesem Schrecken sein muß, damit überhaupt wieder etwas entstehen teilzunehmen und hilflos zu sein. Dies ist wahrschein- kann. lich auch für die öffentliche Kultur unseres Landes Ich will über einen letzten Punkt sprechen. Herr eine neue Qualität. Außenminister, wir haben im Auswärtigen Ausschuß kurz darüber gesprochen, was mit den aus Zwangsla- Darauf mache ich am Anfang aufmerksam, weil wir gern entlassenen Häftlingen jetzt passieren kann. Mir es in beiden Regionen, in Somalia und im ehemaligen hat der Staatssekretär auf Anfrage gesagt, daß die Jugoslawien, mit der Zerstörung von Staatlichkeit und Bundesrepublik ihre Bereitschaft erklärt hat, aus den mit der Zerstörung politischer Kontrollen der Gewalt serbischen Zwangslagern entlassene Menschen zu zu tun haben. übernehmen. Ich hätte heute gern gewußt, wie weit In Somalia, so heißt es, ist das Gewehr jetzt billiger das ist. Wir haben gestern gehört, daß das wieder in als das Brot. Das ist die wirkliche Aussage über die der Luft hängt. Ich hoffe sehr, daß man da rasch zu Mischung von Gewalt durch die verschiedenen Clans einer Aufnahmemöglichkeit kommt, nachdem wir die und Massensterben durch Hunger. Es gibt Formen, zu Aufnahmebereitschaft bereits vernommen haben. sterben, die einem Mord gleichkommen. Das ist das (V o r s i tz : Vizepräsident Hans Klein) Gesicht des Todes im heutigen Somalia. Ein Amoklauf Herr Kollege Koschyk, ich bin froh, daß wir in diesen des Hasses scheint ausgebrochen zu sein. So berichten Tagen in vielen Punkten einer Meinung sind. Wir Journalisten. müssen allerdings aufpassen, daß wir uns im Ich will zu Bosnien wiederholen, was ich vor 14 Ta- Gespräch mit unseren europäischen Nachbarn bei gen gesagt habe: Solange sich die sich politisch nicht aller Bitterkeit, die auch ich bei der Unterschiedlich- kontrollieren lassende Armee Serbiens an diesen keit der Hilfszahlungen empfinde — ich empfinde völkermordähnlichen Aktionen in dieser Form betei- starke Bitterkeit —, nicht in einen Wetts treit, nicht in ligt, ist es für mich und viele meiner Kollegen nicht eine Art Olympiade der Hilfsbereitschaft eintreten. möglich, eine ruhige, unparteiische, neutrale Position Wir tun das, was wir tun können. Wir hoffen, daß die einzunehmen. anderen mehr tun; aber wollen uns da nicht in eine Diskussion einlassen. Das bedeutet nicht, daß man die Untaten anderer Ich bin froh, daß uns bei unserem Besuch, den nicht sieht. Aber hier besteht ein wirklicher Gewichts- Hans-Ulrich Klose und ich bei Außenminister Dumas unterschied. Eine Armee macht das weiter, was sonst und der französischen Regierung vor kurzem gemacht nur ein krimineller Geiselnehmer tut. Ich habe bei haben, Dumas zu den Hilfslieferungen für das ehema- dem, was zur Zeit ausgehandelt wird, wo die Bosnier lige Jugoslawien im kommenden Winter gesagt hat: sozusagen gezwungen sind, sich aushandeln zu las- Wir wollen uns genauso engagieren wie die Bundes- sen, das Gefühl, daß das, was nachher dabei heraus- republik Deutschland. kommt, so etwas Ähnliches ist wie die unter vorgehal- tener Waffe erpreßten Abtretungserklärungen vieler Es ist ganz wichtig, daß jene Handlungsfähigkeit Menschen aus Bosnien und Kroatien, wo die Armee Europas, deren Mangel jetzt immer so beklagt wird, oder die Tschetniks ihnen solche Verträge vorgelegt wenigstens auf dem Gebiet der Hilfe zustande kommt; haben. denn sonst gibt es überhaupt kein Europa. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Trotzdem werden wir mit dem Ergebnis leben müssen. Wir werden aber politisch, Herr Außenmi- (Beifall im ganzen Hause) nister, nicht akzeptieren können, daß der Sieger seine Gewaltbeute behalten kann. Das werden wir nicht hinnehmen. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ordnete Dr. Jürgen Schmieder. (Beifall im ganzen Hause) Es hat nach 1945 jedenfalls im überschaubaren euro- päischen Raum diese Form von ethnischer Vertrei- Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.): Herr Präsident! bung, von Massenmord und Quälerei von Menschen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man nicht gegeben. Europa darf das nicht hinnehmen. die Fernsehbilder der letzten Tage von den Kriegs- handlungen in Bosnien, wo sich jetzt die ehemals Wir helfen aus Hilflosigkeit. Aber wir sollten auch verbündeten Kroaten und Moslems auch noch unter- wissen, wenn wir jetzt über weitere Entwicklungen einander bekriegen, und vor allem von den verschärf- nachdenken, daß etwa in Afrika die afrikanischen ten Angriffen auf Sarajevo sieht, wird sehr schnell Staaten, die überhaupt noch tätig sind — es gibt viele, deutlich, daß die humanitäre Hilfe für die be troffene wo die Staatlichkeit zerrieben wird —, 47 % ihrer Zivilbevölkerung unbedingt weitergeführt werden öffentlichen Ausgaben für den Schuldendienst lei- muß. Da nun außerplanmäßig weitere Gelder der 9964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Jürgen Schmieder Bundesregierung zur Winterhilfe für die Opfer des Dies sind nur einige wenige Beispiele, wie wir die Krieges in Bosnien zur Verfügung gestellt werden, ist unvorstellbar hohe Zahl von 400 000 befürchteten es jetzt Zeit, konkrete Projekte anzugehen. Wintertoten senken können. Wir dürfen in unseren Während meines Besuchs im Verbindungsbüro des Bemühungen, Frieden zu stiften und Hilfe zu leisten, Auswärtigen Amtes für die Deutsche Humanitäre nicht nachlassen, denn es ist ein schrecklicher Hilfe in Zagreb wurde ich auf viele Probleme hinge- Gedanke, hier Weihnachten zu feiern, während prak- wiesen, die in absehbarer Zeit unbedingt gelöst wer- tisch vor unserer Haustür Menschen sterben und den müssen. Wegen der Kürze meiner Redezeit verhungern. möchte ich hier nur über einige wenige dieser Pro- Danke. jekte sprechen, die schnell und unbürokratisch reali- (Beifall im ganzen Hause) siert werden könnten und zu einer effizienten Winter- hilfe beitragen. Vizepräsident Hans Klein: Nun hat Frau Kollegin Wichtig ist die Hilfe an Ort und Stelle. Hier nenne Angela Stachowa das Wort. ich die Aktivitäten der Bundesregierung und der Deutschen Humanitären Hilfe im Wert von 50 Millio- nen DM zur Schaffung von Unterkünften in Kroatien Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- für ca. 20 000 Flüchtlinge. Gleichzeitig ist die Winter- dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In meinem hilfe unsere vorrangige Aufgabe. Hier könnten vor Beitrag möchte ich von den vorliegenden Drucksa- allem NVA-Ausrüstungsgegenstände, z. B. Tatra chen etwas weggehen. Ich möchte auch nicht konkret Lkw und Öfen, den deutschen humanitären Hilfsorga- auf die Lage im ehemaligen Jugoslawien und nicht auf nisationen oder dem UNHCR zur Verfügung gestellt Somalia eingehen. Humanitäre Hilfe werden wir auch werden. Der Fuhrpark der ehemaligen NVA ist aus weiterhin in anderen Ländern leisten müssen. Ich meiner Sicht noch gut bestückt. Es dürfte also keiner- möchte generell dazu etwas sagen, was humanitäre lei Probleme bereiten, einige geländegängige Lkw Hilfe kann und was sie nicht kann. bereitzustellen. Erste Gespräche hierzu habe ich „Wer das Menschsein eines anderen Menschen bereits aufgenommen. Ich hoffe auf eine zügige ignoriert, verneint das eigene." So lautet ein Aus- Abwicklung. Ich zähle hier auf die Bundesregierung, spruch des afrikaansen Schriftstellers Breyten Brey- Herr Minister Kinkel. tenbach, der mit den Mitteln der Kunst für die Würde Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie, meine Kol- der Menschen eintrat. Das Menschsein hängt kausal leginnen und Kollegen, dazu ermuntern, Hilfsaktio- von den Umständen ab, unter denen der Mensch lebt. nen zu fördern oder gar zu initiieren. In den Krisenre- Die Umstände in Mitteleuropa sind sicher ganz anders gionen fehlt es immer noch an allem. Hier gibt es ein als die in Mittel- oder im Süden Afrikas. Was uns aber reiches Betätigungsfeld. Neben warmer Kleidung, alle eint, sind der Wille zum Leben, der Wille zum den erwähnten Öfen und anderen für die kalte Jah- Menschsein und natürlich auch die Bereitschaft von reszeit überlebensnotwendigen Gegenständen fehlt vielen Menschen, etwas für Menschen in einem ande- es auch an Nahrung, Medikamenten und medizini- ren Land zu tun. schem Material. Grundnahrungsmittel wie Mehl, Aber da fangen die Probleme schon an. Da sind wir Fleischkonserven, Margarine, Öl, Milchpulver und bei einem Thema, das huminitäre Hilfe heißt und doch Babynahrung werden genauso dringend benötigt wie nur zu Schönheitskorrekturen am vernarbten Antlitz Wasch-, Desinfektions- und Reinigungsmittel und unserer Welt, unserer Erde und seinen Bewohnern Grundsortimente von Medikamenten und Ausrü- führen kann. Manches wäre vermeidbar, manche stungsgegenständen für Krankenhäuser. Auswirkungen wären geringer, wenn in den vergan- Im Lauf der Zusammenarbeit mit den deutschen genen Jahrzehnten, ja Jahrhunderten anders mit der Hilfsorganisationen ist mir aufgefallen, daß fast aus- Natur umgegangen worden wäre, wenn die Men- schließlich Firmen der alten Bundesländer mit Liefer- schen gelernt hätten, das Menschsein gegenseitig aufträgen für humanitäre Hilfsgüter betraut werden. unabhängig von Rasse und Religion zu respektieren, Dies ist mir nicht einsichtig. Firmen der neuen Bun- wenn heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, an Ort desländer können genauso gute Qualität zu teilweise und Stelle entsprechende Strukturen und Organisa- niedrigeren Preisen liefern. Sie sollten durchaus als tionen für Notfälle und Katastrophen vorhanden Hilfsgüterlieferanten ins Auge gefaßt werden.- Das wären. wäre sicherlich auch ein wertvoller Beitrag zum Auf- Nur ist die Wirklichkeit leider so, daß Katastrophen schwung Ost. und Notfälle in der Regel auch noch die ärmsten der Einen Vorschlag des Leiters des Verbindungsbüros Länder, ja die Ärmsten der Armen treffen, wo schon zu des Auswärtigen Amtes, Herrn Dr. Wulffen, möchte normalen Zeiten Überlebensprobleme en masse auf- ich Ihnen hier noch zur Kenntnis bringen. Er schlug treten. Der Zusammenhang zwischen Unterentwick- vor, in Ploce ein weiteres Lager der Deutschen lung und Katastrophenanfälligkeit scheint eindeu- Humanitären Hilfe zu eröffnen. Dies ist aus meiner tig. Sicht absolut notwendig, wenn man bedenkt, daß die Wir reden hier und heute über humanitäre Hilfe und einheimischen Fahrer bisher rund 48 Stunden für die nicht über Entwicklungshilfe, die bekanntermaßen Fahrt aus den Ortschaften in Bosnien nach Zagreb und auch nur Folgen mindern kann und viel zu wenig in zurück benötigen. Durch die Einrichtung des zweiten der Lage ist, Ursachen zu bekämpfen. Was die huma- Lagers in Ploce würde man mindestens 30 Stunden nitäre Hilfe angeht, so ist sie in der Regel an ganz Fahrt vermeiden und damit eine zügigere Abwick- bestimmte Ereignisse gebunden und beruht auch zum lung der Hilfsleistungen erreichen. nicht geringen Teil auf finanziellen und anderen Auf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9965

Angela Stachowa wendungen und Spenden der Menschen, der Bevöl- manitäre Hilfe muß angemessen, darf aber kein kerung. Almosen sein. Humanitäre Hilfe wird auch in der Zukunft notwendig sein, aber nur ein Tropfen auf den Hier sehe ich ein weiteres Problem. Erst durch die heißen Stein bleiben. Medien wird eine Katastrophe zu einer solchen und wird so in das Bewußtsein der Menschen und der Wenn dieses möglicherweise etwas didaktisch Politiker getragen. Unabhängig davon, wie lange geklungen hat, was humanitäre Hilfe sein kann und diese Katastrophe vorausschaubar war, manchmal sein muß, dann ist daran meine Betroffenheit sogar schon latent vorhanden war, erst bestimmte schuld. Ereignisse und die dazugehörige Medienwirksamkeit Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. wecken das Interesse an diesem bestimmten Ereignis. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Dann wachsen Spendenaufkommen und Bereitschaft, Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der etwas zu tun. F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ Doch die Zeit ist schnellebig. Einige Tage später NEN) wird es neue Katastrophenmeldungen und neue Auf- rufe und neue Spenden geben. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege Konrad Weiß. Die Anhörung des Unterausschusses für Menschen- rechte und humanitäre Hilfe im März dieses Jahres zu Fragen der humanitären Hilfe macht betroffen. Neben Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der berechtigten Würdigung der zahlreichen staatli- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke chen Organisationen, die Herr Koschyk genannt hat Ihnen, Herr Kollege Duve, für Ihre nachdenklichen — diesem Dank schließe ich mich an —, und der Worte über unsere Fähigkeit oder Unfähigkeit, das, aufopferungsvollen Einzelkämpfer der verschiedenen was in Jugoslawien, in Somalia, an vielen Orten der nichtstaatlichen Organisationen, mußte dort darauf Welt geschieht, wirklich aufzunehmen und dement- aufmerksam gemacht werden, daß nicht selten die sprechend zu h andeln. humanitäre Hilfe nicht den Betroffenen geholfen hat, Ich denke, es werden sich uns in Zukunft immer sondern denjenigen, die ihre Güter verkaufen konn- mehr Fragen stellen, wie wir angemessen und vor ten. Das ist für mich etwas makaber. Mißbrauch allem rechtzeitig auf Krisensituationen und sich humanitärer Hilfe zur Selbstdarstellung und billiger anbahnende Konflikte reagieren und deeskalierend Publicity, das entspricht keineswegs dem E rnst der friedenstiftend wirken können und daher nicht nur als Situation. Hilfebringer in einer Situation kommen müssen, wo Bürgerkrieg, Elend und Hungersnot schon in eine Überlebenshilfe in akuten Fällen — wer wird daran unausweichliche Sackgasse geführt haben. vorbeigehen? Aber in der Regel geht es um viel mehr, um Rehabilitationshilfe und Wiederaufbau, um Unsere Unfähigkeit, auf einen aktuellen Notstand Gesundheit und trinkbares Wasser auch in der angemessen zu reagieren, wurde uns in Somalia Zukunft, gerade in Somalia, aber eben nicht nur überdeutlich vor Augen geführt. Unser Instrumenta- dort. rium wird den tatsächlichen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Es ist Zeit. Wir müssen nach neuen und Humanitäre Hilfe hat für mich etwas mit Humanis- humanen Strategien suchen. Ähnliches gilt für Jugo- mus zu tun. Humanitäre Hilfe darf nicht unter dem slawien. Auch dort haben die bewährten Muster Gebot politischer Beliebigkeit erfolgen. Wer humani- versagt. täre Hilfe behindert, dem sollte öffentliche Ächtung Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat im widerfahren. Dies bet rifft auch das von Präsident Bush Februar den Antrag „Humanitäre Hilfe und Unterstüt- unterzeichnete sogenannten Kuba - Demokratiege- zung von Friedensinitiativen für Somalia" in den setz, mit dem anderen Staaten vorgeschrieben wer- Bundestag eingebracht. Wir begrüßen es, daß diese den soll, wie Sie ihre Beziehungen zu Kuba zu Initiative von den Fraktionen aufgegriffen wurde und gestalten haben. Auch eine kritische Position zur wir heute über eine interfraktionelle Initiative spre- Politik eines Staates berechtigt niemanden, eine Blok- chen. kadepolitik zu betreiben, die die Gefahr sozialer Explosionen steigert. Unbefriedigend ist aber, daß ein Antrag, in dem es um schnelle Hilfe für Menschen geht, die vom Hun- Humanitäre Hilfe darf nicht durch geberorientiertes- gerstod akut bedroht sind, erst fast zehn Monate Handeln und aktionistisches Tun bestimmt sein, wie später abschließend beraten wird. Menschen, denen bei der bereits genannten Anhörung ebenfalls bemän- durch unsere Hilfe geholfen werden sollte, sind heute gelt wurde, sondern sie muß den Menschen tatsäch- vielleicht schon verhungert. Ich denke, derartige lich helfen. Humanismus bedeutet, auch den Kindern Hilfsaktionen müssen schnell, unkompliziert und in Kuba die noch in DDR-Zeiten zugesicherten Milch- koordiniert verlaufen. Auch der Deutsche Bundestag lieferungen zu garantieren und sich weniger darüber hat dazu flexibler und engagierter beizutragen. auszulassen, ob das nun einem kommunistischen Regime dient. Es geht hierbei um Milch für Kinder und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weiß, nicht um Waffen. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wenngleich die humanitäre Hilfe gewaltige Sum- Duve? men ausmacht, die nicht alle durch den Haushalt erfaßt werden, so stehen diese Haushaltsausgaben Freimut Duve (SPD): Ich teile die Kritik daran, daß doch in keinem Verhältnis zu anderen Ausgaben der dieser Antrag sehr lange in der Beratung war. Aber Budgets der hochentwickelten Industrieländer. Hu stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Bundesre- 9966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Freimut Duve gierung und auch wir in der Zwischenzeit sehr inten- wesentliche und wirksame Hilfe für die aktuelle siv immer wieder beraten haben? Über diese Hilfe für Notsituation in den Staaten des ehemaligen Jugosla- Somalia ist im Unterausschuß für Menschenrechte fast wiens in gleichem Maße zu leisten bereit sind. in jeder zweiten Sitzung gesprochen worden. Das In Deutschland haben viele Flüchtlinge zeitweilig heißt, es darf hier nicht der Eindruck entstehen, daß Zuflucht gefunden, mehr als in jedem anderen Land durch die Länge der Beratung Ihres Antrags etwa Europas; und das ist gut. keine Hilfe erfolgt sei. Sie ist erfolgt. Bereits 1991 und verstärkt in diesem Jahr hat die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesregierung zusätzliche Mittel in erheblicher Höhe aufgewendet, um zum einen über die Europäi- sche Gemeinschaft und die Organisation der Verein- Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten Nationen, zum anderen direkt und bilateral Hilfe Ich würdige das durchaus. Den gegenteiligen Ein- zu leisten. Dennoch ist all das nicht genug. druck wollte ich nicht erwecken. Es geht mir aber Die hier zur Beschlußfassung vorliegende Maß- darum, daß sich auch der Bundestag neue Instru- nahme soll etwa 50 Millionen DM umfassen. Ca. schaffen und in der Lage sein muß, schneller mente 20 000 Menschen, Flüchtlinge aus den Nachbarstaa- und flexibler zu reagieren, gerade in solchen Notsitu- ten Kroatiens, wird dadurch geholfen werden. Das ist ationen. Das wollte ich sagen. Ich verkenne nicht die ziemlich genau ein Prozent der binnenjugoslawischen Hilfe, die geleistet worden ist, und würdige sie voll Flüchtlinge und der displaced persons, die in der und ganz. neuesten Statistik der UNHCR für die Nachfolgestaa- Die Situation in Somalia war frühzeitig abzusehen. ten Jugoslawiens registriert sind, nämlich mehr als Seit Anfang des Jahres haben somalische Flüchtlinge 2 Millionen Menschen, ohne die Hunderttausende, in Deutschland versucht, Kontakt zu Vertreterinnen die außerhalb des ehemaligen Jugoslawiens Zuflucht und Vertretern der Parteien zu knüpfen und die gefunden haben. Öffentlichkeit auf die drohende, ja schon eingetretene Wir müssen uns das ganze Ausmaß dieser außeror- Katastrophe aufmerksam zu machen. Wirklich ins dentlichen Flüchtlingskatastrophe immer wieder neu Bewußtsein gedrungen ist die Katastrophe jedoch vor Augen führen, um endlich auch im europäischen erst, als uns die entsetzlichen Hungerbilder erreich- Zusammenwirken zu einem entschlossenen Eingrei- ten. fen, zum politisch einheitlichen Vorgehen gegen den Ich erkenne an, daß die Bundesregierung seit dem jugoslawischen Krieg zu kommen. Zusammenbruch des Siad-Barre-Regimes im Jahr Es geht einfach nicht an, daß sich einige unserer 1991 humanitäre Hilfe in Somalia leistet. Ca. 95 Mil- Partner mit politischen Demonstrationen begnügen lionen DM hat Deutschland allein 1992 zur Rettung und sich beharrlich weigern, ein dem unseren ver- von Menschenleben in den Flüchtlingslagern von gleichbares Engagement im Rahmen konkreter Somalia bereitgestellt. Aber gemessen an der Not ist humanitärer Hilfe innerhalb und außerhalb Jugosla- auch das zu wenig. Für Verteidigung haben wir im wiens aufzubringen. selben Zeitraum, also 1991 und 1992, — ich sage das, auch wenn es wie Asche in meinem Mund ist — mehr Dazu gehört auch, daß das Embargo endlich konse- als das Tausendfache ausgegeben. quent und überall durchgesetzt wird. Bei der Beschlußempfehlung des Haushaltsaus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schusses geht es zum anderen um die Linderung Dieser Krieg muß ausgetrocknet werden, radikal und akuter Not in Jugoslawien. Ich bin überzeugt, daß endgültig; sonst werden alle unsere humanitären sich niemand hier im Hause — Ihre Beiträge, meine Bemühungen vergeblich sein. Kolleginnen und Kollegen, haben das gezeigt — (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der gegen die außerplanmäßige Ausgabe für die Errich- F.D.P. und der PDS/Linke Liste) tung winterfester Unterkünfte für Flüchtlinge in Jugoslawien und Kroatien sperren wird. Angesichts des zu erwartenden Massenelends, das Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Bundes- mit großer Wahrscheinlichkeit im kommenden Winter minister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das über die zahllosen Flüchtlinge im ehemaligen Jugo- Wort. slawien hereinbrechen wird, kann auf diese Aufwen- dungen ganz und gar nicht verzichtet werden. Sie sind Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: dennoch nicht viel mehr als ein Tropfen auf den Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Not und heißen Stein. Elend der Menschen in vielen Teilen der Welt wach- 20 000 Flüchtlinge in Kroatien werden von diesen sen leider immer noch. Die Gründe sind vielfältig: zusätzlichen Maßnahmen profitieren, werden viel- Kriege, Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, leicht die Chance erhalten, den nächsten Winter Naturkatastrophen. Es ist schon gesagt worden: Tag- einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Das ist ein täglich erschüttern uns die schrecklichen Bilder, die guter und wichtiger Schritt, der sich in das überdurch- uns über das Fernsehen und auf anderen Wegen schnittliche Engagement der deutschen Öffentlich- erreichen. Entsprechend groß muß im Rahmen unse- keit und auch der Bundesregierung einreiht — ich rer Außenpolitik unsere humanitäre Soforthilfe sein. würdige das ausdrücklich—, das Flüchtlingselend auf Die Krisen sind leider schneller gewachsen als die dem Balkan lindern zu helfen. Instrumente, um mit ihnen fertig zu werden; ich habe Leider sind es nur wenige Länder in Europa — ich es von dieser Stelle aus schon mehrmals gesagt. Es ist gebe Ihnen, Herr Kollege Koschyk, da recht —, die natürlich ein Unterton dabei, der mir richtig wehtut. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9967

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Unsere besondere Sorge gilt und muß jetzt — ange- Dazu kommen zahllose p rivate Spenden und Unter- sichts des unmittelbar bevorstehenden Winters — den stützung aus der deutschen Bevölkerung. Ich möchte Flüchtlingen und Vertriebenen im ehemaligen das bei dieser Gelegenheit noch einmal deutlich und Jugoslawien gelten — das ist hier erwähnt worden —, klar sagen: Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, insbesondere in Bosnien-Herzegowina. Wenn hier gerade dem früheren Jugoslawien gegenüber, ist nicht umgehend geholfen wird, werden wir gemein- enorm. sam Schreckliches erleben, und zwar nicht nur, weil An der Spitze stehen wir auch mit unserer umfang- wir es herbeireden, sondern weil es tatsächlich eintre- reichen Soforthilfe für die Bevölkerung in den Nach- ten wird. folgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Ich will Seit Ausbruch der bewaffneten Auseinandersetzun- die Beträge hier jetzt nicht im einzelnen nennen. Ich gen Mitte 1991 leisten wir umfassende Hilfe in Form war stolz darauf, daß ich als deutscher Außenminister von Nahrungsmitteln sowie anderen lebenswichtigen bei der Lissaboner Konferenz darauf hinweisen Hilfsgütern und medizinischer Versorgung. Das im konnte, daß über 50 % dessen, was da aufgebracht Dezember 1991 in Zagreb eingerichtete Verbin- wird, aus der Bundesrepublik Deutschl and kommt. dungsbüro „Deutsche Humanitäre Hilfe" sorgt dafür, Wir können uns also auch da mit unserer Leistung daß, soweit es irgendwie geht, diese Hilfsgüter rasch sehen lassen. und effizient zu den Menschen kommen. Über ein Ich sage das nicht im Hinblick darauf, daß wir die großes Zwischenlager in Zagreb — und demnächst Größten wären. Ich teile die Meinung von Herrn Duve, auch eines an der Adria — werden die Hilfsgüter an daß wir nicht eine „Olympiade" veranstalten sollten. die Flüchtlinge und Vertriebenen verteilt. Aber wir haben ja im Augenblick ein paar andere Seit Juli 1992 beteiligen wir uns mit zwei in Zagreb Probleme — ich will gleich noch darauf zurückkom- stationierten Transportflugzeugen der Bundeswehr men —, und schon deshalb ist es, glaube ich, wichtig, an der Luftbrücke nach Sarajewo. Wir haben bisher daß wir die Möglichkeit haben, auf diese Dinge 7 Millionen DM dafür aufgewendet. Mit etwa 220 Flü- hinzuweisen. gen wurden über 2 100 Tonnen Hilfsgüter nach Sara- Man muß auch sagen, daß wir dank der Mithilfe jewo und Split gebracht. Wir liegen damit weit unserer Bürger über 250 000 Menschen aus dem vorn. ehemaligen Jugoslawien aufgenommen haben. Das Im Juli 1992 hat die Bundesregierung außerplanmä- ist — nach Kroatien — die mit Abstand höchste Zahl. ßig 50 Millionen DM zur Schaffung winterfester Unsere Bevölkerung hat auch da unter Beweis Unterkünfte in Kroatien für immerhin 20 000 Flücht- gestellt, daß unsere Türen offen sind, wenn Not und linge aus Bosnien und für kroatische Vertriebene zur Bedrängnis anklopfen, und dies in einer Zeit, wo wir Verfügung gestellt. Dieses Großprojekt wird im zusätzlich einen immer dramatischer anschwellenden Augenblick realisiert. Ich habe gestern im Kabinett Strom von Asylbewerbern, die bei uns um Aufnahme darüber berichtet. In drei Flüchtlingsdörfern sollen bitten, vor der Tür sehen. 8 000 Menschen in Fertighäusern untergebracht wer- Daß wir trotzdem praktisch als einziges EG-Land den. Es war schwierig, das jetzt vor der Winterzeit diese große Menge an Jugoslawienflüchtlingen auf- noch zu schaffen. Übrigens gab es nicht die Möglich- nehmen, gehört auch zu dem Deutschlandbild, das keit, dies über eine deutsche Firma zu erreichen. gegenwärtig durch die Bilder von rechtsradikalen Auch in Slowenien werden mit 1 Million DM Flücht- Ausschreitungen mit Schande bedeckt wird. Ich lingsunterkünfte winterfest hergerichtet. In der werde im Ausland immer häufiger auf diese Vor- Gegend von Bihac, einer überwiegend von Moslems kommnisse angesprochen, die ich nicht wegzudrük- bewohnten Region im Nordwesten Bosnien-Herzego- ken versuche und auch nicht wegdrücken kann; aber winas, soll gemeinsam mit dem Hohen Flüchtlings- ich versuche, demgegenüber immer wieder das kommissar der Vereinten Nationen ein deutsch-fran- andere Bild, das Bild praktizierter Mitmenschlichkeit, zösisches Hilfsprojekt zur Linderung des Flüchtlings- hervorzuheben und darauf hinzuweisen, daß viel von elends durchgeführt werden. dem, was im Augenblick geschieht, ja u. a. darauf zurückzuführen ist, daß wir wegen der Ereignisse des Der Europäische Rat in Birmingham hat auf unseren Dritten Reiches, der schrecklichen Ereignisse der Vorschlag kürzlich zusätzlich ein Hilfsprogramm von Nazizeit, ein superliberales Ausländerrecht in Form einer Milliarde US-Dollar für das ehemalige Jugosla- des Art. 16 und unserer Ausländergesetze geschaffen wien im humanitären Bereich beschlossen. Die EG haben. Und es ist eine gewisse Tragik, daß uns mit trägt ungefähr 600 Millionen US-Dollar; der Rest soll — ich sage: mit — aus diesem Grunde im Augenblick — übrigens auch auf unseren Vorschlag —, von allen eine Dimension zu überrollen droht, die die Akzep- Ländern einschließlich der islamischen Länder, auf- tanz in der Bevölkerung verloren hat. gebracht werden, die an der Londoner Konferenz Ich komme gerade von einer Asienreise zurück. Ich teilgenommen haben. würde einschätzen, daß ich etwa ein Drittel meiner Unsere unmittelbare humanitäre Hilfe für die Opfer Gespräche mit den ausländischen Kollegen im des Jugoslawien-Konflikts beläuft sich bisher auf gut Augenblick damit zubringe, daß ich versuche, dieses 114 Millionen DM. Bei Einbeziehung des deutschen Thema zu erklären. Ich versuche es! Anteils an der EG-Hilfe in Höhe von 578 Millionen DM ergibt sich ein Gesamtbetrag von über 275 Mil- lionen DM. Damit stehen wir — und das muß m an Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, auch einmal betonen dürfen — mit weitem Abstand an gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Augu- der Spitze der bilateralen Geber. stinowitz? — Bitte. 9968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Bundesmi- recht. Wenn Sie eine solche Frage anschneiden, die nister, könnten Sie uns erklären, was Sie damit übrigens gestern ausführlich in der Fragestunde meinten, als Sie in Peking gesagt haben, daß Sie auf behandelt worden ist, Grund der deutschen Situation Schwierigkeiten hät- (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, viel zu ten, die Machthaber in Peking auch öffentlich deutlich kurz!) auf die Menschenrechtssituation in China hinzuwei- dann muß er Gelegenheit haben zu antworten. Wenn sen? er kein Minister wäre, könnte ich ihn zur Sache rufen. Sie alle kann ich zur Sache rufen. Also bitte ich Sie Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: herzlich darum, wenn Zwischenfragen gestellt wer- Ich bin Ihnen dankbar für diese Frage. Im übrigen den, dann zu dem Thema, das jetzt abgehandelt habe ich mich dort nicht so ausgedrückt, wie Sie es wird. jetzt sagen. Herr Kollege Wallow? — Erledigt. Kollege Pin- (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: So ha ger? — Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine ben es alle Medien gemeldet!) weitere Zwischenfrage zu beantworten? Das verlän- — Ja, gut, manchmal melden Medien ja auch Dinge, gert aber Ihre Redezeit beträchtlich! — Bitte. die nicht ganz so zutreffend sind. Ich habe mich, was Menschenrechte anbelangt, in China generell auf (CDU/CSU): Herr Präsident, ich eine Art und Weise eingesetzt und dies auch nach Dr. Winfried Pinger draußen artikuliert, wie man das stärker nicht machen möchte Bezug nehmen auf die letzten Sätze des kann. Was spezielle Menschenrechtsfälle anbelangt, Ministers und folgende Frage stellen. Ich halte es für habe ich erklärt, daß ich ungern etwas nach außen selbstverständlich, aber ich möchte es geklärt wissen: trage, was nicht nach außen getragen werden sollte. Herr Minister, ist bei Ihren Äußerungen und bei Ihren Ich bin aber sehr gern bereit, Ihnen persönlich zu Antworten hinreichend klargeworden, daß zwischen sagen, was ich insoweit besprochen habe. Leise Töne dem, was an Rechtsverletzungen durch den Staat in helfen in diesem Zusammenhang bei Einzelfällen China geschehen ist, und dem, was hier Terroristen manchmal mehr, als wenn man es laut sagt. tun — — Im übrigen — ich gehe davon aus, daß mir die Zeit jetzt nicht angerechnet wird — — Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, ich hatte (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Kön eben gesagt, daß wir dieses Thema jetzt nicht auf der nen wir jetzt weiter über die humanitäre Tagesordnung haben. Hilfe diskutieren statt über China?) (Dr. Winfried Pinger [CDU/CSU]: Aber der — Erlauben Sie mir, daß ich die Antwort gebe, weil es Minister hat zu diesem Thema geredet!) ja, glaube ich, nicht ganz unwichtig ist, auf diese Frage — Den Minister kann ich nicht davon abhalten zu zumindest knapp einzugehen. antworten. Aber Sie kann ich davon abhalten zu Wer seitens der Bundesrepublik und insbesondere fragen. Das ist die Gewalt des Präsidenten hier. Es als deutscher Außenminister Menschenrechte im Aus- geht auch nicht, daß wir ein Thema auf der Tagesord- land vertritt, muß im Hinterkopf haben und wissen, nung haben und daß dann über eine Viertelstunde was bis 1945 in diesem Lande war. Dazu haben wir uns oder mehr durch ein völlig anderes Thema, das im zu bekennen. Er muß auch wissen, was im anderen Frage-und-Antwort-Spiel erledigt wird, die Tagesord- Teil Deutschlands bis zur Wiedervereinigung war, nung verändert wird. Ich bitte also herzlich um Ver- nämlich auch ein Unrechtsregime, wenn auch völlig ständnis. anderer Prägung. Und er muß letztlich auch einkalku- Herr Minister, die Frage ist ja zum Teil bereits lieren, daß ihm nicht zu Unrecht entgegengehalten gestellt. Ich nehme an, Sie werden sie zum Teil wird, was im Augenblick hier in der Bundesrepublik beantworten wollen. Aber dann bäte ich doch, daß wir abläuft, nicht veranlaßt durch die Regierung oder mit unserem Thema fortfahren dürfen. durch das Parlament, sondern von einzelnen Men- schen. Aber die Bevölkerung in den Ländern der Dritten Welt empfindet, daß das Faktum als solches Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: existiert, und hat den Eindruck, daß die Bundesregie- Herr Abgeordneter Pinger, selbstverständlich beant- worte ich die Frage, wenn auch sehr knapp: Ja, dies rung bzw. die Verantwortlichen in diesem Land- damit nicht fertigwerden. So habe ich das angesprochen, ist, glaube ich, deutlich und klar zum Ausdruck und so meine ich es auch. gekommen. Ich darf fortfahren, Herr Präsident. — Über dem Leid vor unserer Haustür haben wir die Not und das Elend Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, Sie haben eine Frage gestellt bekommen, die nicht zu von Menschen in anderen Teilen der Welt nicht aus unserem Thema gehört. Man kann natürlich jede den Augen verloren. Unsere Hilfe für Somalia, auch Frage mit jedem Thema in Verbindung bringen. Das vorher schon angesprochen, ist dafür beispielhaft. Im ist Ihrer Redezeit nicht angerechnet worden. Aber ich August 1992 wurden weitere 20 Millionen DM über- bin nicht bereit, weitere Fragen außerhalb des The- planmäßig zur Verfügung gestellt. Wir haben da mas zuzulassen. Wir sprechen jetzt über die humani- — wie Sie wissen — mit zwei Transall-Maschinen täre Hilfe, und ich bitte, auch nicht über Eselsbrücken geholfen. Einzelheiten will ich Ihnen ersparen. ein anderes Thema hier einzuführen. Ich kann den Die bilaterale Hilfe beläuft sich inzwischen auf gut Bundesminister überhaupt nicht hindern zu reden. Er 45 Millionen DM, also fast 50 Millionen DM insge- hat als Vertreter der Regierung jederzeit das Rede samt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9969

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch den Solda- Ich möchte dem Parlament für die Unterstützung ten der Bundeswehr für ihre nicht ungefährlichen danken, die mir, die dem Amt in diesen schwierigen Einsätze sehr herzlich danken. Fragenkreisen immer zuteil geworden ist. Ich möchte (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der auch dem früheren polnischen Ministerpräsidenten SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mazowiecki für seinen Einsatz in besonderer Weise danken. Ich werde ihn übrigens nachher sehen. Die Schreckensbilder von Hunger und Flüchtlings- elend tragen aber nicht nur die Namen Somalia und Herr Abgeordneter Duve, es kann überhaupt keine Bosnien-Herzegowina. Sie wissen, wo überall auf Frage sein — da brauche ich, glaube ich, gar nicht groß dieser Erde es noch brennt und Katastrophen entste- weiter zu fragen —, daß wir als Bundesrepublik, als hen. Ich habe dank Ihrer Unterstützung gerade auch Bundesregierung selbstverständlich Flüchtlinge aus nach Pakistan Gelder zur Hilfe nach der Flutkatastro- den Lagern im ehemaligen Jugoslawien aufnehmen phe bringen können. Das ist sehr, sehr dankbar werden, und zwar in einem Umfang, wie es sich als aufgenommen worden. notwendig herausstellen wird. Da brauchen keine großen Beschlüsse gefaßt zu werden; Lassen Sie mich noch ganz knapp auf zwei Dinge eingehen. Einmal hat die internationale humanitäre (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU sowie Hilfe inzwischen Dimensionen angenommen, die eine des Abg. Freimut Duve [SPD]) bessere Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten das wird hier erklärt, und das wird auch geschehen. erforderlich machen. Auf Initiative der Bundesregie- Die Bundesrepublik wird ja wohl in der Lage sein, auf rung ist die Stelle eines UN-Koordinators für huma- diese Art und Weise zu helfen. nitäre Hilfe eingerichtet worden. Wir haben auch Die beabsichtigte Entschließung, die Sie hier fassen national etwas getan. Herr Eiff, früher Botschafter in wollen, wird von mir massivst unterstützt und begrüßt. Belgrad, ist zum Beauftragten der Bundesregierung Ich bedanke mich jetzt schon dafür. — Herzlichen für humanitäre Hilfe bestellt worden. Ich glaube, daß Dank. das eine gute Entscheidung war. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Des sowie bei Abgeordneten der SPD sowie des Auswärtigen Amtes!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) — Der Bundesregierung! Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort zu Vizepräsident Hans Klein: Eine Zwischenfrage des einer Kurzintervention dem Kollegen Duve. Kollegen Bindig.

Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Rudolf Bindig (SPD): Herr Außenminister, die Frage nen und Kollegen! Der Außenminister hat eben darauf ist wichtig, weil uns im Unterausschuß gesagt worden hingewiesen: Vor etwa einer Stunde haben die drei ist, das sei nicht der Beauftragte der Bundesregierung Ausschüsse des polnischen Sejm, der französischen für humanitäre Hilfe, sondern der Beauftragte des Nationalversammlung und des Deutschen Bundesta- Auswärtigen Amtes. M habe sich innerhalb der an ges, die für die auswärtige Politik arbeiten, eine Bundesregierung nicht einigen können, einen solchen gemeinsame Entschließung gefaßt und haben uns Beauftragten zu benennen. Würden Sie deshalb bitte gebeten, daß wir diese auch hier im Hause mit einmal genau sagen, was denn nun der Fall ist? verabschieden. Ich möchte, wenn Sie erlauben, Herr Präsident, Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: diese knappe Entschließung hier verlesen: Also, da muß ich Ihnen sagen, daß das für mich neu ist. Ich war der Meinung, wir hätten uns darauf geeinigt, Die Auswärtigen Ausschüsse des Deutschen Bun- daß das ein Beauftragter der Bundesregierung ist. Im destages, der Assemblée Nationale der Französi- übrigen: Wenn es denn so wäre, daß es der Beauf- schen Republik und des Sejm der Republik Polen, tragte des Auswärtigen Amtes ist, dann ist er ja, wenn in Bonn versammelt am 5. November 1992, unter Sie so wollen, auch ein Beauftragter der Bundesregie- dem Eindruck des erschütternden Berichts des rung. Aber ich will mich gern noch einmal sachkundig Sonderberichterstatters für Menschenrechtsfra- machen. gen der Vereinten Nationen in Jugoslawien, Ministerpräsident a. D. Dr. Tadeusz Mazowiecki, (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: fordern die Regierungen ihrer Länder auf, über Hauptsache, er macht eine gute Arbeit!) die bisherigen Hilfeleistungen hinaus in einer — So ist es, ja. gemeinsamen Anstrengung den Menschen, die (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, egal, wie er in Lagern im ehemaligen Jugoslawien unter men- heißt!) schenunwürdigen Bedingungen festgehalten Meine Damen und Herren, ja, wir haben eigene werden und die an Leib und Leben bedroht sind, interne Probleme. Dennoch werde ich nicht müde, unverzüglich Aufnahme zu gewähren. hier in Deutschland immer wieder darauf hinzuweisen Sie appellieren darüber hinaus an ihre Regierun- — ich tue es zum drittenmal von diesem Platz aus —, gen, umgehend Initiativen zu ergreifen, um die daß wir aus der Sicht des Auslands und gerade aus der Aufnahmebereitschaft der internationalen Staa- Sicht der Dritten Welt eine Insel der Glückseligkeit tengemeinschaft, insbesondere der Mitgliedstaa- sind — nach wie vor! Das müssen wir in Erinnerung ten der Europäischen Gemeinschaft und der Kon- rufen, wenn es um diese Probleme geht, die weltweit ferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in bestehen. Europa, zu verstärken. 9970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Freimut Duve Da dies uns eben zugegangen ist, denke ich, daß wir den, dann müssen wir, glaube ich, um Gleichheit oder das hier als einen gemeinsamen Antrag im Deutschen Vergleichbarkeit herzustellen, in angemessener Bundestag einbringen können und vielleicht am Ende Weise darauf reagieren. auch mit beschließen können. Meine Damen und Herren, wir haben immer wieder Das war der Grund für meine Kurzintervention. das Problem der Information über die Orte in der Welt, (Beifall im ganzen Hause) wo es brennt, wo die Katastrophen sind und wo die humanitäre Hilfe erforderlich ist. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat jetzt der Kollege Heinrich Lummer. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lummer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Lummer (CDU/CSU): Herr Präsident! Duve? Meine Damen und Herren! Es ist sicherlich nicht so, daß die humanitäre Hilfe und die Katastrophenhilfe in Heinrich Lummer (CDU/CSU): Bitte. einer katastrophalen Weise schiefgelaufen sind, wie das der Kollege Duve behauptete. Aber richtig ist zu Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Lummer, Sie sagen, daß nicht alles richtig gelaufen ist, und richtig haben eben ein sehr dramatisches Problem angespro- ist zu sagen, daß wir uns immer wieder neuen Her- chen und haben wie selbstverständlich vorausgesetzt, ausforderungen anpassen müssen; denn die Entwick- daß wir Ihre Deutung teilen, nämlich: Wenn die Türkei lung hat sich in einer dramatischen Weise verän- den Aserbaidschanis in besonderer Weise hilft, dann dert. müssen wir sozusagen im Wechselspiel in besonderer Wir müssen inzwischen damit rechnen, daß es eine Weise den Armeniern helfen. — Wir müssen doch gewisse Konstanz der Katastrophen gibt. Wir können helfen, den Konflikt zu verhindern. Wir müssen doch, nicht mehr daran glauben und die Hoffnung haben glaube ich, alle gemeinsam — stimmen Sie mit mir „Irgendwann passiert etwas; dann werden wir spon- darin überein? — alles tun, um zu verhindern, daß wir tan helfen; wir werden plötzlich Mittel zur Verfügung zu globalen religiösen Auseinandersetzungen kom- stellen" , sondern können heute schon in einem gewis- men. Sie dürfen nicht vergessen: Wir haben 3 Millio- sen Sinne voraussagen: Die Katastrophen werden uns nen Menschen islamischen Glaubens in unserem erreichen, und die Hilfe ist notwendig. eigenen Land. — Also: Diese Linie kann ich jedenfalls Das muß natürlich eine Reihe von Konsequenzen nicht teilen; ich hoffe, Sie auch nicht. haben. Einmal taucht verständlicherweise das Pro- blem auf, das ein mehr oder weniger banales Problem Heinrich Lummer (CDU/CSU): Sie haben diese ist, nämlich ob man das denn in den Haushalten Linie, Herr Kollege Duve, kräftig mißverstanden. richtig berücksichtigen kann. Unter dem Gesichts- Natürlich ist das Primäre, solche Konflikte zu vermei- punkt der Haushaltsehrlichkeit müßte man eigentlich den. Nur: Die Welt ist so, wie sie ist. Wir wissen, daß von vornherein viel größere Summen einsetzen, weil von bestimmten Ländern auf Grund von religiösen man weiß: Es wird viel mehr geschehen. — Aber Positionen Entwicklungshilfe und auch humanitäre genau weiß man es auch wieder nicht. Hilfe geleistet wird. Dann, meine ich, müssen wir Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist in jedem einen Ausgleich schaffen. Aber die primäre Aufgabe Fall — damit, meine ich, sollten wir zufrieden sein —: ist natürlich, diese Konflikte schlechthin zu vermei- Wir müssen bei diesen Haushaltspositionen hochgra- den, und insofern befinden wir uns da, glaube ich, in dig flexibel sein. Die Krisen wachsen offensichtlich schöner Übereinstimmung. schneller als die Etattitel, und dieses Problem kann Ich war dabei, etwas über das Thema der Informa- man nur dann bewältigen, wenn man hier gemeinsam tionen zu sagen, die wir manchmal bekommen. Dann die notwendige Flexibilität bewahrt, um in der Lage machen wir die Erfahrung: Auf einmal wird humani- zu sein, sich an die internationale Entwicklung und an täre Hilfe geleistet, wenn nämlich durch die Massen- das, was da passiert, anzupassen. medien, durch das Fernsehen, in einem bestimmten Natürlich wird diese Hilfe nie genug sein. Sie ist Land eine Situation dramatisch geschildert wird. mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, wie wir Dann ist die Öffentlichkeit bewegt. Dann ist die sehr wohl wissen, aber es wird immer Mängel Spendenbereitschaft groß. Dann geschieht auch geben. - etwas. Aber wenn diese Neigung der Medien nicht Natürlich werden wir in einem bestimmten Sinne vorhanden ist oder wenn die Medien nichts davon Auseinandersetzungen haben. Wir haben gehört, es wissen — das kann dem Zufall unterliegen —, dann dürfe nicht in die politische Beliebigkeit gestellt passiert auch nichts. werden, was hier mit humanitärer Hilfe geschehe. Hier müssen wir, meine ich, ein Informationssystem Sehr wohl richtig! Wir haben ja gelegentlich unsere aufbauen, so daß wir davon nicht abhängig sind. Wünsche dahin gehend geäußert. Aber ich nenne Natürlich wünschen wir uns, daß die Medien in einmal ein Beispiel: Wenn die Türken in einer ganz diesem Bereich tätig sind, weil sie die Spendenbereit- vorzüglichen Weise den Aserbaidschanern helfen schaft und die Motivation fördern — das ist ganz — aus politischen Gründen, versteht sich —, dann selbstverständlich —, aber wir können uns mit unserer haben wir, glaube ich, die Verpflichtung, in besonde- Hilfe nicht allein davon abhängig machen. Der Fall rer Weise den Armeniern zu helfen. Das ist nun einmal Somalia war beinahe ein solcher Fall. Gott sei D ank ist so. Wir haben ja diese Maßstäbe der Politik im Bereich dort etwas geschehen, auch ohne daß die Medien der humanitären Hilfe nicht erfunden und nicht ent- darauf hingewiesen haben. Aber das Problem ist in wickelt. Aber wenn sie von anderen praktiziert wer diesem Bereich relevant. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9971

Heinrich Lummer Meine Damen und Herren, wir haben auch das Wir dürfen nicht die Identität wegkoordinieren. Das Problem der Hilfsmaßnahmen in einer Bürgerkriegs- kann nicht Sinn der Sache sein. situation wie jetzt im ehemaligen Jugoslawien, wo Aber wir haben Verständnis von seiten dieser Ver- bestimmte Maßnahmen gewollt sind, aber nicht bände in der Anhörung erfahren. Es geht darum, das durchgeführt werden können, weil kriegerische Aus- notwendige Maß an Koordinierung doch herbeizufüh- einandersetzungen existieren. Da müssen, so meine ren, damit wir mit diesem Problem fertigwerden. Begleitinstrumenta- ich, von den Vereinten Nationen Insgesamt müssen wir davon ausgehen, daß das rien entwickelt werden, damit humanitäre Hilfe über- Katastrophenpotential größer wird, nicht nur durch haupt an den Mann kommt, an die Menschen heran- Naturkatastrophen, sondern auch durch Bürgerkriege kommt. Dies ist ein sicherlich nicht ganz einfacher und andere Situationen. Wir müssen uns auf eine ganz Konflikt, der immer wieder die Grenzen unserer neue Lage einstellen, die eine Herausforderung für Hilfsfähigkeit und Hilfsmöglichkeiten aufzeigt. uns ist. Insofern müssen wir ein schlüssiges Gesamt- Wir haben die Problematik — wenn ich das Beispiel konzept in diesem Bereich entwickeln. jetzt einmal nehmen darf — des Nordens des Irak. Es Ich denke, das Parlament hat hier, auch bezogen auf gibt einen Boykott, zu Recht; aber von diesem Boykott die Koordinierung innerhalb der Regierung, eine gegen den Irak sind zu einem wesentlichen Teil auch vornehme Aufgabe. Wir sind im Unterausschuß dabei. die Kurden in Nordirak betroffen. Das ist doch gar Sicher muß das auch im Parlament übergreifend nicht gewollt. Aber wir werden in der Praxis mit geschehen. Ich denke jedenfalls, daß wir auf unsere diesem Thema schlecht fertig. Hier müssen wir uns Weise humanitäre Hilfe geleistet haben und leisten, überlegen, wie wir es in der Zukunft werden leisten die sich international sehen lassen kann. können, daß die Boykottmaßnahmen nicht die Fal- Nun hat der Kollege Duve den Antrag der gemein- schen treffen, sondern eben doch nur die Richtigen. sam tagenden Auswärtigen Ausschüsse erwähnt. Ich Meine Damen und Herren, wir behandeln das denke, wir werden ihn gemeinsam tragen und unter- Thema, das der Kollege Duve angeschnitten hat. Es stützen. Dennoch erlaube ich mir, darauf hinzuwei- geht um Hilfsmaßnahmen in Ländern, in denen die sen, daß dies natürlich bis zu einem gewissen Grade Staatlichkeit verschwunden ist. Dabei denke ich etwa voraussetzt, daß eine Vergleichbarkeit der Lastenauf- an Somalia. Es geht um Länder, in denen unmittelbar teilung stattfindet. Es soll nicht um einen Wettlauf vor Ort keine Organisation vorhanden ist, die uns gehen, bei dem wir das meiste tun wollen. Wir wollen Hilfsmöglichkeiten eröffnet. Damit werden wir auch nur erreichen, daß die anderen mindestens genauso in der Zukunft rechnen müssen; auch darauf werden viel tun — relativ, das versteht sich — wie wir. wir uns in der Zukunft einstellen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Es gibt eine ganze Fülle von Problemen, mit denen ordneten der SPD) wir zu tun haben. Ich meine, es war sehr gut, daß sich Ich finde, auch bei solchen Anträgen muß berücksich- der Unterausschuß für Menschenrechte und humani- tigt werden, daß die Lastenverteilung in Europa täre Hilfe mit dem Thema der Koordination beschäf- stattfindet; dies vor allem jetzt, nachdem wir erkannt tigt hat; denn immer wieder stoßen wir heute und hier haben, daß es sich um eine Gemeinschaftsaufgabe auf den Begriff der Koordinierung von Maßnahmen handelt, nicht aber um eine Aufgabe, bei der nationale und der Abstimmung in bestimmten Problemsituatio- Interessen eine besondere Rolle zu spielen hätten. Ich nen. Dabei geht es sicher um die Abstimmung im denke aber, auch das wird ermöglicht werden. Ich nationalen Bereich. Wir haben dafür soeben ein zartes glaube, daß die Debatte ihren Sinn darin hat, daß wir Beispiel bekommen. Es geht um die Frage, wer zu einer gemeinsamen Koordination kommen, die letztendlich für die Gesamtheit der humanitären Hilfe berücksichtigt, wie sich die Lage in der Welt inzwi- zuständig ist. Ist es derjenige, der im Auswärtigen Amt schen entwickelt hat. diese Aufgabe hat? Oder: Gibt es eine besondere Organisation dafür? Gibt es eventuell noch gar keine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P., der SPD und der PDS/ Institution dafür? Diese Fragen zeigen, daß wir uns Linke Liste) etwas einfallen lassen müssen. Wir haben die Möglichkeit, darüber nachzudenken. Wir könnten an ein Modell analog dem des Wehrbe- Vizepräsident Hans Klein: Als nächstem Redner - auftragten denken. Wir haben aber auch die Möglich- erteile ich dem Kollegen Rudolf Bindig das Wort. Der keit, ein ganz anderes Modell zu wählen. In jedem Fall Kollege Bindig möchte vom Platz aus sprechen. müssen wir aber einen Weg finden, um auf der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nationalen Ebene zu einer anständigen Koordination der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: im Bereich der Regierung und des Parlaments, aber Lebendiges Parlament!) auch zwischen den Organisationen zu kommen. Das wird nicht immer einfach sein. Die Organisationen Rudolf Bindig (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- leben in ihrer Eigenständigkeit. Sie wollen in ihrer ginnen und Kollegen! Der Außenminister hat darauf individuellen Weise Spendenaufkommen für sich in hingewiesen, daß die Krisen schneller gewachsen Anspruch nehmen und Spenden weitergeben und sind als die Instrumente, mit denen man mit ihnen vielleicht auch nach dem Motto handeln: Tue Gutes fertig werden kann. Dies lenkt den Blick auch auf den und rede davon. Ich finde, das kann man ihnen auch Haushalt. Die Tatsache, daß wir hier über zwei gar nicht übelnehmen. Insofern müssen wir dies bei Beschlußempfehlungen zur Genehmigung von über- allem, was wir koordinieren, beachten. und außerplanmäßigen Ausgaben beraten, zeigt, daß (Beifall bei der CDU/CSU) auch der Titel für humanitäre Hilfsleistungen im 9972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Rudolf Bindig Ausland unter großen Problemen steht. Seit Jahren notwendig, daß wir den Streitkräften in Marokko Geld wissen und erleben wir, daß die effektiven Beiträge geben und daß wir in Mali, in Ruanda und in Burundi zwischen 140 Millionen und 160 Millionen DM liegen, entsprechend tätig werden? die für humanitäre Hilfsleistungen aus diesem Etat (Freimut Duve [SPD]: Sehr gut!) ausgegeben werden müssen. Dazu kommen noch die Ausgaben für Nahrungsmittelhilfe im Entwicklungs- Ist es nicht sinnvoller, diese Mittel statt für diese etat. Zwecke für die Bekämpfung der Not und des Elends von Flüchtlingen und von Menschen, die in Schwie- Das zuständige Fachreferat meint seit Jahren, daß rigkeiten sind, einzusetzen? es dringend erforderlich wäre, diesen Etat weiter anzuheben, nicht aber mit außer- und überplanmäßi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen Ausgaben zu arbeiten. Es ist vorhersehbar, daß der CDU/CSU) der Bedarf im Jahr mindestens 110 Millionen DM Da wir alle den Willen haben, etwas im humanitären ausmacht. Auch im Sinne der Haushaltsklarheit und Bereich zu tun, möchte ich den Blick noch einmal auf der Haushaltswahrheit wäre es wohl notwendig, daß den internationalen Vergleich richten. Auch der Welt- wir den Versuch unternehmen, gemeinsam den Etat flüchtlingskommissar bittet uns regelmäßig, unseren für humanitäre Hilfsleistungen heraufzusetzen. Beitrag zu erbringen. In den letzten Jahren ist unser Es wurde vorhin mit Recht darauf hingewiesen, daß Beitrag, den wir an den Weltflüchtlingskommissar wir im Zusammenhang mit den Ereignissen in Jugo- leisten, damit er seine Grund- und Sonderprogramme slawien einen bedeutsamen Beitrag an Mitteln erbrin- abwickeln kann, immer weiter zurückgegangen. Über gen. Das ist gut so. Aber wenn wir uns die Gesamt- Jahre hin waren wir an vierter Stelle der Geberländer. zahlen ansehen, dann fällt auf, daß es hier doch Inzwischen sind wir an die 13. Stelle der Geberländer, — nicht zuletzt durch die starke Inanspruchnahme aus die Mittel für den UNHCR bereitstellen, abgefallen. Europa — zu einer Schieflage der Verteilung der Noch schlechter sieht es aus, wenn wir uns ansehen, Mittel für humanitäre Hilfe kommt. Wir werden im was wir pro Kopf der Bevölkerung leisten. Die Schwe- Jahre 1992 155 Millionen DM für humanitäre Hilfe den liefern 38mal soviel pro Kopf an humanitärer aufwenden. 87 Millionen DM davon wenden wir Hilfe an den Weltflüchtlingskommissar, die Norwe- — mit dieser Ausgabe, die wir jetzt hier genehmi- ger 31mal soviel, die Finnen 25mal soviel, die Schweiz gen — für Europa auf. Ich betone: 87 Millionen von noch 11mal soviel, die Niederlande 4mal soviel, Uni- 155 Millionen! Für Afrika geben wir nur 13 Millionen ted Kingdom 3,5mal soviel, auch Italien noch mehr als DM aus. Dazu kommen jetzt die 20 Millionen DM für wir. Wir sind an die 16. Stelle gefallen, wenn wir die Somalia. Das sind insgesamt 33 Millionen DM. Das Hilfe pro Kopf berechnen. macht schon deutlich, wie sehr wir unsere Hilfsmaß- nahmen auf Europa konzentrieren. Die große Not- Ich nenne diese Zahlen, damit wir über dieses situation, die in Afrika herrscht, beachten wir zwar, Problem nachdenken und erkennen, daß wir trotz der aber wir gewichten unsere Hilfe nicht dementspre- absoluten Zahlen, die wir hören, und dem Engage- chend. Wenn man dann sieht, was in anderen Berei- ment, welches wir leisten, nicht doch allmählich in chen, z. B. in Süd- und Zentralamerika sowie in Asien, eine Schieflage kommen. Wir müssen neue Prioritäten geschieht, so fällt auch dies entsprechend zurück. zugunsten der humanitären Hilfe setzen. Ich glaube schon, daß wir erkennen müssen, daß der Ich sage als jemand, der in der Entwicklungspolitik Bedarf auf diesem Feld sehr groß ist. Wir müssen zu engagiert ist: Wir müssen sogar fragen, ob es nicht einer angemessenen Gewichtung unserer Hilfsmaß- manches Mal sinnvoller wäre, unmittelbar zur nahmen bezüglich der anderen Kontinente kom- Bekämpfung von Not etwas zu tun, als einen Beitrag men. in der finanziellen Zusammenarbeit aus der Entwick- lungshilfe zu leisten. Das gilt insbesondere auch, wenn wir diese Mittel, die wir hier gemeinsam loben, mit dem vergleichen, Wir haben übrigens auf diesem Gebiet eine merk- was aus anderen Titeln — auch aus dem Etat des würdige Lücke, wo wir kaum Förderinstrumente Auswärtigen Amts — ausgegeben wird. Ich möchte haben. Diese Lücke besteht zwischen der humanitä- hier die Ausstattungshilfe nehmen. Diese hat für drei ren Hilfe aus dem auswärtigen Bereich und der Jahre einen Finanzrahmen von 196 Millionen DM. Die Entwicklungshilfe. Es gibt Fälle, in denen man Flücht- größte Summe von 90 Millionen DM ist für 1993 linge, die aus ihrem Land geflohen sind und sich in vorgesehen. Da wiederum wird der größte Posten an einem Nachbarland, in der Region aufhalten, mit ausländische Streitkräfte ver- Ausstattungshilfe für Programmen be treuen müßte. wendet. Unsere vorhandenen Instrumente kennen nur die Da müssen wir uns doch wirklich einmal fragen: kurzfristige Not- und Soforthilfe der humanitären Sind die Gewichtungen eigentlich richtig gesetzt? Ist Hilfe, kennen dann per Regierungsabkommen es richtig, daß wir in unserem Haushalt für das geschlossene Projekte der Entwicklungszusammen- kommende Jahr für Hilfsmaßnahmen zur Bekämp- arbeit. In dem Zwischenraum können allenfalls Nicht- fung der Not und des Elends wahrscheinlich 90 Mil- regierungsorganisationen tätig sein. Aber für länger- lionen DM ansetzen wollen, den gleichen Betrag aber fristig angelegte Programme für Flüchtlinge, die sich für die Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte in ihrer jeweiligen Heimatregion aufhalten, haben wir sowie für einige weitere, durchaus zu billigende kaum ein Instrument. Maßnahmen — Mittel zur Bekämpfung von Rausch- Wenn wir die Asylproblematik bei uns diskutieren giftkriminalität bzw. Drogenkriminalität — ansetzen und wenn jemand auf einem Parteitag oder hier im wollen? Ist es angesichts der Not auf der Welt wirklich Deutschen Bundestag sagt, wir müßten für die Flucht- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9973

Rudolf Bindig ursachenbekämpfung mehr tun, dann ist das der Für afrikanische Verhältnisse zeigen die Somalis Punkt, wo es immer bei allen großen Beifall gibt. Wir zwar eine erstaunliche Homogenität in den Bereichen müssen mehr für die Fluchtursachenbekämpfung Ethnik, Sprache, Kultur und Geschichte. Nach der tun. Befreiung von der Kolonialherrschaft der Briten und (Beifall des Abg. Heribert Scharrenbroich der Italiener 1960 bestimmte auch zunächst ein star- [CDU/CSU]) kes somalisches Zusammengehörigkeitsgefühl die politische Zukunft. Aber die gemeinsame Geschichte Aber wenn es dann konkret wird und wir fragen: war auch immer geprägt von einer nie endenden, „Stellen wir für die Flüchtlinge, die sich in ihrer meist blutig ausgetragenen Rivalität der Stämme und Heimatregion aufhalten wollen, denn genug Geld zur Sippen gegeneinander. Verfügung, und haben wir ein Instrument?", dann müssen wir sehen, daß wir dort weder genügend Heute zeigt sich wiederum die ausgeprägte Kampf- Mittel zur Verfügung stellen noch ein hinreichendes bereitschaft eines erheblichen Teiles der Somalis. Förderinstrument haben, um das alles zu betreuen. Leidtragend ist — wie auch in den ebenfalls hier behandelten Gebieten Europas — die schweigende, Ich glaube, daß wir an der Ausarbeitung und hungernde, fliehende Mehrheit. Verbesserung eines solchen Förderinstrumentes ar- beiten sollten. Das können wir sicherlich auch im Meine Damen und Herren, diese Fakten müssen wir Zusammenhang mit dem Beauftragten — ist es nun im Auge behalten, wenn es um die Sicherung der der Beauftragte des Auswärtigen Amtes oder der flächendeckenden und regelmäßigen Nahrungsmit- Bundesregierung? — für humanitäre Hilfe tun. Er telversorgung geht, aber auch bei der Gestaltung der müßte sich dieser Frage einmal annehmen, damit wir Zukunft dieses Landes. Die derzeitige Situation ist mit hier ein Instrument finden. Denn meine große Sorge Rechtlosigkeit bzw. Recht des Stärkeren fast verharm- ist es vor allen Dingen, daß wir nicht nur den Flücht- losend umschrieben. Deshalb ist die wichtigste kurz- lingen, die sich irgendwo in der Region aufhalten, fristig zu lösende Aufgabe, Nahrung und Medika- nicht hinreichend die Mittel bereitstellen, sondern daß mente zu allen Bedürftigen zu bringen. Hierbei spielt wir den ganzen Bereich Fluchtursachenbekämpfung, das sogenannte Hundert-Tage-Programm eine ent- die durch die Entwicklungspolitik präventiv behan- scheidende Rolle. delt werden kann, noch nicht hinreichend bearbei- Mehr Geld von den Geberländern hilft dabei nur ten. bedingt. Die Bundesregierung hat 1992 bislang schon Ich hoffe, daß wir einen gemeinsamen Antrag zur insgesamt 93,8 Millionen DM an Sachleistungen und Fluchtursachenbekämpfung entwickeln und verab- Logistik bi- und multilateral gezahlt. Solange Moga- schieden können. dischu nicht als Standort für einen ständigen Koordi- (Beifall im ganzen Hause) nierungsstab in Frage kommt, sollte Nairobi dafür gewählt werden. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bindig, ich Bislang sehen die Geber und die UNO die ein- habe nicht Ihren Redebeitrag zu kommentieren. Nur, zige Lösungsmöglichkeit in der Vergrößerung des die Tatsache, daß Sie ohne Leuchtzeichen fast auf die UNOSOM-Kontingents auf 3 500 bewaffnete Solda- Sekunde genau Ihre Redezeit eingehalten haben, ten. Nach UNO-Regeln müssen alle Kriegsparteien erfordert ein Kompliment. der Stationierung zustimmen. In Somalia ist das bisher nicht geschehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Verehrte Kollegen und Kolleginnen, ein bislang Ich erteile als nächster unserer Kollegin Dr. Micha- noch nicht ausgereizter Weg wäre es, wenigstens die ela Blunk zu ihrer — es tut mir leid; das heißt nun einflußreichsten Kriegsherren diplomatisch unter einmal so — Jungfernrede das Wort. Druck zu setzen und ihnen die Isolierung anzudro- hen. Dr. Michaela Blunk (F.D.P.) (mit Beifall begrüßt): (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch im Freimut Duve [SPD]: Sie sind doch vollstän Falle Somalias kommt das Elend über das Fernsehen dig isoliert!) zu uns in die Wohnungen. Aber trotz aller Intensität Kein Geber, keine UNO können und wollen auf der Bilder können wir das körperliche und seelische- Leid der direkt Betroffenen nicht vollends nachvoll- Dauer dem Gemetzel zuschauen und endlose huma- ziehen. Uns allen hier im Hause ist aber klar, daß das nitäre Hilfe leisten. Aber vielleicht kann es als Hoff- Elend dieses zerrissenen Landes und seiner Men- nungsschimmer gelten, daß immerhin schon einmal schen nur von außen gelindert werden kann. Wir drei Machthaber der Stationierung kleiner UNO- wissen aber auch, daß das Ausmaß dieser Katastrophe Kontingente in ihrem Herrschaftsgebiet zugestimmt die gebündelte und abgestimmte Hilfe vieler Geber- hatten. länder und der UNO erfordert — jeder nach seinem Mittel- und langfristig sind Aussöhnung und Wie- Vermögen. deraufbau materiell und strukturell die anzustreben- Die Ursachen für das Elend scheinen auf der Hand den Ziele. Die akute Notversorgung muß möglichst zu liegen; aber sie haben auch tiefergreifende Wur- ansatzlos und schnell in Hilfe zur Selbsthilfe überge- zeln. Bürgerkrieg und Dürre sind offensichtlich. Aber hen. Die damit verbundene gewaltige finanzielle Last es wäre fahrlässig, die geschichtlichen Traditionen muß gerecht auf möglichst viele Schultern verteilt der Somalis zu verschweigen. Dann wäre ein erneu- werden. Für den Augenblick, in dem es die Sicher- tes, böses Erwachen nach einer scheinbaren Lösung heitslage zuläßt, stehen 35 Millionen DM aus Deutsch- nur eine Frage der Zeit. land für den Wiederaufbau zur Verfügung. Vor Jahren 9974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Michaela Blunk (F.D.P.) begonnene Projekte könnten dann fortgeführt wer- kleines Land geht, nur einen Bruchteil dieser Anstren- den. gungen ausmachte. Voraussetzung ist aber, den Prozeß der Versöh- (Beifall bei der SPD) nung in Gang zu setzen. Vernunft, nicht Ermüdung sollte zur Annäherung und Versöhnung führen. Dann Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Das ist, könnte die notwendige Entwaffnung vorgenommen gemessen an den Proportionen, ein Konkurs der und ein Teil der Kämpfer in elementaren Infrastruk- Menschlichkeit. Ich sage ja zu den Anstrengungen, turprogrammen eingesetzt werden, um die Mindest- die bisher geleistet wurden, und ich sage ja zu diesem voraussetzungen für die Rückkehr der Flüchtlinge zu Antrag. Aber vergleicht m an die Überlebenshilfe, schaffen. Gemeinsam könnten dann alle Somalis mit über die wir hier diskutieren, mit den 18 Milliarden Hilfe von außen an den Wiederaufbau gehen. Bei 76 % DM, die wir für den Golfkrieg ausgegeben haben, Analphabeten werden Grund- und Berufsausbildung dann steht das eben außer jeder Verhältnismäßig- besonders wichtige Bereiche sein, außerdem Wasser- keit. versorgung, Gesundheitssektor und die Landwirt- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) schaft. Der neue Staat muß dezentral strukturiert Lassen Sie es mich mit einem Bild versuchen, liebe werden, wobei die Provinzgrenzen die Stammesge- Kolleginnen und Kollegen! Die Hilfe und die Hilfslei- biete berücksichtigen müssen. stung verhält sich im Verhältnis zu dem, was wir zur Es ist zu wünschen, daß das Hundert-Tage- Destruktion ausgeben — für Krieg — und dafür auch Programm nahtlos in ein Hundert-Monate-Programm parat halten, wie ein rumpelnder Eselskarren zu einer einmündet, an dessen Ende — so hoffe ich — ein Super-Concorde. Dieses Verhältnis ist die Frage, über vergleichsweise stabiles und friedliches Somalia steht. die wir einmal nachdenken sollten. Ich möchte Sie Um dieses Ziel zu erreichen, werden die schon bislang zum Nachdenken einladen. Ich will Ihnen keinen bewundernswert engagierten Helfer aller Organisa- Vorwurf machen. Es geht an alle von uns. Es geht tionen und Länder ihren Einsatz noch einmal steigern nämlich um die Situation, wie wir sie auch in unserem müssen. Land haben. Um unseren Teil zu dem von uns allen angestrebten Den Helfern ist zu danken. Aber wir haben dort zwei Erfolg in und für Somalia beizutragen, bitte ich Sie um Piloten, zwei Transall-Maschinen, an denen organisa- Zustimmung zu diesem interfraktionellen Antrag. torisch 16 Referate im Verteidigungsministerium beteiligt sind. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU und der SPD — Abg. Ich gebe Herrn Lummer recht, wenn er sagt: Wir Dr. Werner Hoyer [F.D.P.] überreicht der müssen uns etwas einfallen lassen, weil die Situation Rednerin einen Blumenstrauß — Freimut in Zukunft nicht besser, sondern schlechter wird. Es ist Duve [SPD]: Das Großbürgertum hat Stil!) absehbar, daß Somalia kein Einzelfall bleiben wird. Das Beispiel Madagaskar ist ebenfalls bedrohlich. Die Unterernährung in manchen Gebieten ist so hoch wie in Somalia, findet aber international keine Beachtung, Vizepräsident Hans Klein: Der sympathische Bei- weil das Fernsehen fehlt. Dort vegetieren spielcharakter dieses Verhaltens, Herr Kollege Hoyer, Südsudan: gegenüber einer Kollegin, die zum erstenmal gespro- über 200 000 Flüchtlinge mit riesigen Versorgungs- chen hat, ist leider von den anderen Fraktionen bis problemen. Und in Norduganda ist die Situation nicht viel anders. jetzt nicht aufgegriffen worden. (Zuruf von der F.D.P.: Bis jetzt noch nicht!) Ein Hinweis an den Außenminister — er ist nicht da —: Ich denke, man sollte bei der Bewertung von Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Wallow. Hilfen von den Problemen und von seinen Möglich- keiten ausgehen. Bei der Aufnahme von Flüchtlingen liegen wir laut den Zahlen der Weltflüchtlingsorgani- Hans Wallow (SPD): Herr Präsident! Meine Damen sation bei 17 Millionen Flüchtlingen in der Welt an und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In 20. Stelle. Ich denke, daß man unter diesen Prioritäten Somalia existiert die Apokalypse. Wir wissen davon auch den Begriff „Staatsnotstand" einmal etwas nicht erst seit gestern, sondern sie hat sich seit anders bewerten kann. Monaten, ja seit Jahren angebahnt. In den letzten (Beifall bei der SPD) Monaten sind in diesem Land über 300 000 Menschen als Opfer zu beklagen, ohne daß die Welt es geschafft Laut Weltbank ist die gesamte Region in Südafrika hat, wirksame Anstrengungen zu ihrer Rettung zu zwischen Angola und Tansania gefährdet; 18 Millio- unternehmen. Trotz der engagierten Hilfe werden es nen Menschen sind von Hunger bedroht. Was heute täglich mehr. Die Hilfe kommt zu spät, ist zu punktuell -fehlt, sind Frühwarnsysteme. Die Katastrophenvor und zu unorganisiert. und -nachsorge ist völlig unzulänglich. Außerdem war allen großen humanitären Hilfsaktionen, die Angesichts der Katastrophe muß sich meines Erach- bisher — auch von uns — gestartet wurden, eins tens die zivilisierte Welt fragen lassen, wie es möglich ist, daß wir beim Golfkrieg innerhalb kurzer Zeit in der gemeinsam: Sie waren zu langsam, unzureichend und zu schlecht organisiert. Lage waren, Hunderttausende von Kämpfern, Tau- sende von Flugzeugen, riesige Transportkapazitäten, Es ist ein kleiner Fortschritt, wenn die Bundesregie- Organisationstalent und viel Intelligenz der Politiker rung jetzt einen Katastrophenbeauftragten hat. Aber und auch der militärischen Führer zu mobilisieren, ich denke, wir müssen weitergehen. Wir von der während es, wenn es um die Überlebenshilfe für ein SPD-Fraktion haben einen Antrag zur Änderung des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9975

Hans Wallow Grundgesetzes eingebracht. Beachtung gefunden hat diesem Beispiel sollten wir uns tatsächlich überlegen, in der Diskussion der Vergangenheit leider nur der was wir in der Zukunft und vielleicht auch in anderen erste Teil. Der zweite Teil ist genauso wichtig. Ich darf Teilen der Welt in der Gegenwart besser machen ihn kurz zitieren: könnten. Es ist ganz klar, daß manches Elend und Der Bund kann den Vereinten Nationen Angehö- mancher Tod hätten vermieden werden können, rige der Streitkräfte nur für friedenserhaltende wenn wir vor einem Jahr diese Debatte geführt Maßnahmen ohne Kampfauftrag unterstellen. hätten. Den Vereinten Nationen (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) — und darauf kommt es mir an — Aber die Zahl der Menschen, die das damals kapiert oder den betroffenen Staaten sollen auf Anforde- haben, ist winzig klein. Wer weiß, ob wir heute die rung unbewaffnete Angehörige der Streitkräfte Debatte hier führen würden, wenn nicht zufällig ein zur Bekämpfung von Umweltschäden, für huma- paar gute Fernsehteams nach Somalia gekommen nitäre Hilfsleistungen und Maßnahmen der Kata- wären. strophenhilfe zur Verfügung gestellt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Eine Arbeitsgruppe von uns, in der ich mich enga- sowie bei Abgeordneten der SPD) giert habe — und ich lade auch Sie zur Mitarbeit und Schlimm ist die Hilflosigkeit, mit der die ganze Welt Unterstützung ein —, hat ein fertiges Konzept für ein solchen Ereignissen gegenübersteht, angefangen von Umwelt- und Katastrophenhilfskorps erarbeitet, an der UNO bis zu unseren Apparaten. Schlimm ist auch dem die Bundeswehr und die Hilfsorganisationen noch, daß diese Notlage nicht Folge von Erdbeben gemeinsam beteiligt sind. Wir gehen davon aus, daß oder Ork anen ist, sondern daß hier ganz mutwillig und die sogenannten Naturkatastrophen hauptsächlich in absichtlich gemordet wird. Dies macht es schwierig, es der Dritten Welt Ergebnisse des zerstörerischen unseren Wählern zu erklären. Dort geschehen Zusammenwirkens von ökonomischen und ökologi- absichtlich Dinge, die leider nicht mit der weißen schen Fehlentwicklungen sind. Absehbar ist, daß sich Salbe der humanitären Hilfe gutgemacht werden die Situation — das ist bei einem Hearing unserer können. Fraktion klar geworden — von Somalia wiederholen wird. Der Feind der Zukunft heißt Hunger und Unter- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der ernährung. SPD) Es gibt keine nachvollziehbaren Gründe, warum Ich habe nichts gegen die huamanitäre Hilfe, nur wir nicht dem Beispiel unseres kleinen Nachbarlan- sollten wir uns darüber im klaren sein, daß die des Österreich folgen sollen, das ein solches Korps radikale Bekämpfung der Ursachen, von der Wurzel entsprechend seiner Größe unterhält. Ich meine, daß her, noch wichtiger ist. Natürlich müssen wir dort, wo mit einer derartigen Einrichtung auch die Antwort auf Not ist, humanitäre Hilfe leisten, aber wir werden uns die Forderung nach einer angemessenen Weltrolle dabei fragen müssen, was wir anders hätten machen gegeben werden kann, nämlich lebenserhaltend, können und was wir das nächste Mal anders machen gestaltend — eine zivile Verantwortung. Wir könnten werden. sehr, sehr viele Menschenleben damit retten und auch nach außen ein sichtbares Zeichen setzen, daß wir Das erste, das fallen muß, ist bei der UNO der unser gewachsenes politisches Gewicht nicht in einen Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angele- überkommenen militärischen Stärkekult umzusetzen genheiten. gedenken, sondern daß wir ein helfendes Volk sein (Beifall bei der CDU/CSU) wollen. Wenn wir auf dem Weg zur Weltinnenpolitik sind, was (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) wir alle hoffen, darf dieser Grundsatz nicht mehr ein Grund sein, daß Menschen leiden und sterben müs- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Wallow, ich sen. muß fairerweise darauf hinweisen, daß der Herr Auch der Grundsatz, der immer noch nicht abgelegt Bundesaußenminister jetzt verabredungsgemäß an ist, daß alle Konfliktparteien zustimmen müssen, ist der Sitzung des Unionsausschusses des Deutschen schlimm und verderblich. Ich glaube, auch die guten Bundestages teilnimmt und hier im Plenum von Frau Köpfe bei uns werden sich damit beschäftigen müs- Staatsministerin Seiler-Albring vertreten wird. sen, Schemen zu entwickeln, nach denen man in Ich erteile als nächstem dem Kollegen Graf von solchen Gegenden vorgehen kann. Es wird sicher Schönburg-Glauchau das Wort. notwendig sein, daß man so etwas wie einen UNO- Kommissar international einsetzt und ihm Macht gibt, wenn man erkennt, daß irgendwo die staatliche Ord- Joachim Graf von Schönburg-Glauchau (CDU/ nung zusammengebrochen ist. Es wird wichtig sein, CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- daß solche Dinge vorgedacht werden, daß man sie gen! Anschließend an den Kollegen Wallow will ich dann in Bewegung setzen kann. auch noch ein paar nachdenkliche Worte zu Somalia sagen. Dabei will ich aber alle bitten, zu anderen Verzeihen Sie mir, der das Fernsehen abschaltet, ähnlichen Ereignissen doch selbst die Parallelen zu wenn Western oder Krimis kommen, in denen auf ziehen und zu sehen. Ich stimme mit dem Kollegen Menschen geschossen wird, daß ich sage, es wird sehr Wallow darin überein, daß Somalia leider kein Ein- wichtig und notwendig sein, daß der große Knüppel zelfall bleiben wird. Das ist schon ein doppelter eingesetzt wird. Denn heute sind ein Kind oder ein Grund, daß man sich dem ausführlich widmet. An Halbwüchsiger, die ein Care-Paket in den Armen 9976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Joachim Graf von Schönburg-Glauchau haben, schon halb zum Tode verurteilt. Das ist sehr und 12/3456. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- schlimm. Das müssen wir sehen. Es hilft nichts, ich bin lung? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthal- wirklich gegen Schießen und ähnliche solche Dinge. tungen? — Auch keine, die Beschlußempfehlung ist Es ist fürchterlich, auf Menschen zu schießen, aber es einstimmig angenommen. gibt Situationen, da kommen wir um das Schießen Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des nicht herum, da verstehen die anderen keine andere Haushaltsausschusses zu einer außerplanmäßigen Sprache. Ausgabe für Flüchtlingsunterkünfte in Kroatien, (Beifall bei der CDU/CSU) Drucksachen 12/3206 und 12/3457. Wer stimmt für In Mogadischu gibt es ein ganz praktisches Beispiel: diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Ent- Die Wasserversorgung hat bis vor ein paar Tagen haltungen? — Auch diese Beschlußempfehlung ist deshalb noch funktioniert, weil der Deutsche, der sie einstimmig angenommen. betrieb, sich eine Leibgarde organisiert hat aus Leu- Wir stimmen jetzt noch ab über die Beschlußemp- ten, die gut bewaffnet und schnell zu schießen bereit fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag sind. Die anderen wußten das, deshalb funktionierte der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Somalia, es auch. Das ist nicht sehr edel und nicht sehr schön, Drucksachen 12/2159 und 12/3599. Wer stimmt für das mag mit den Grundsätzen des einen oder anderen diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? von uns nicht übereinstimmen. Aber es ist realistisch. — Wer enthält sich der Stimme? — Niemand, dann ist Erst wenn wir die Situation überwunden haben, daß es auch diese Beschlußempfehlung einstimmig ange- gefährlich ist, ein Hilfspaket in der H and zu halten, nommen. daß es für ein Kind gefährlich ist, in ein Stück Brot zu Ich bin mir jetzt nicht ganz im klaren über den beißen, erst dann kommt die humanitäre Hilfe. Daran Antrag, der per Kurzintervention von dem Kollegen muß sich die Hilfe zum Wiederaufbau anschließen, Duve eingebracht wurde, der mir aber inzwischen und auch die kostet eine Menge Geld. Auch dazu schriftlich vorliegt, und zwar von den Fraktionen der müssen wir uns einiges einfallen lassen. CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und von Herrn Kolle- Ich suche jetzt im Einzelplan 23 die Mittel, um gen Schulz für die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Somalis zu repatriieren, die in ganz Europa und zum NEN. Ich bekomme Signale, er solle an den Ausschuß Teil in Amerika darauf warten, in ihre Heimat zurück- gehen. Dann stelle ich dem Haus die Frage: Sind Sie gehen zu können, die aber nicht alle über die Erspar- einverstanden, daß der inzwischen verteilte Antrag, nisse verfügen, um dies aus eigener Kraft zu tun. der vorhin vom Kollegen Duve mündlich verlesen Diesen Somalis sollten wir die Möglichkeit geben, als worden und mit „Internationale Initiative zur Rettung erfolgreiche Menschen in ihre Heimat zurückzukeh- bedrohter Menschenleben" betitelt ist, an die zustän- ren und das Land von unten her, aus ihren Stämmen digen Ausschüsse überwiesen wird? Darf ich um ein und Sippen wieder aufzubauen. Sie sind dazu bereit, Handzeichen bitten! — Das ist eine so übersichtliche ich habe beste Kontakte zu ihnen. Sie haben eingese- Mehrheit, daß es bereits so beschlossen ist. hen, daß am Anfang dieses Unglücks der Fehler stand, daß sie den Tribalismus bekämpften, wie man es Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: ihnen an der Sorbonne und in London seinerzeit Aktuelle Stunde vorschlug. Heute wissen sie, daß sie ihren zukünftigen Staat aus den natürlichen Einheiten, den Sippen und Schutz und Unterstützung der Staatengemein- Stämmen föderalistisch aufbauen können und müs- schaft für Salman Rushdie sen. Sie sind dazu bereit, und wir sollten ihnen dabei Die Fraktion der CDU/CSU und F.D.P. haben zu helfen. diesem Thema eine Aktuelle Stunde verlangt. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- SPD) gen Hans-Dirk Bierling das Wort. Ich hoffe, wir werden daraus die Lehren ziehen und daran zusammenarbeiten. Es ist spät, aber nicht zu Hans-Dirk Bierling (CDU/CSU): Herr Präsident! spät. Die nächste Katastrophe kann vielleicht schon Meine Damen und Herren! Seit 1 400 Jahren lebt die unterwegs sein, und wir wissen es noch nicht. Es gibt islamische Welt nach ihren eigenen Gesetzen, die auf Katastrophen wie im Südsudan, über die wir hier den philosophischen Grundlagen des Koran und sei- eigentlich genauso eine Stunde lang verhandeln kön- nem Rechtsverständnis beruhen. Diese religiöse nen. Wenn die nächste Katastrophe kommt, sollten wir Grundlage menschlichen Zusammenlebens im per- uns aber nicht den Vorwurf machen müssen, daß wir sönlichen Bereich und im Verhältnis der Völker zuein- die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. ander haben wir zu achten, denn sie ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes der Menschen. Daß dabei Danke schön. an den Nahtstellen zum christlich-abendländischen (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Kulturkreis von Zeit zu Zeit Irritationen auftreten, SPD) müssen wir hinnehmen, weil wir keinen Unfehlbar- keitsanspruch erheben. Allerdings haben sich auch die islamischen Völker Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- in den multinationalen Organisationen einer Ord- che. nung unterworfen, die auf der Grundlage eines huma- Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst nistischen Weltbildes beruht. Daher können wir über die Beschlußempfehlung des Haushaltsaus- erwarten, daß sich islamische Völker, so islamisch sie schusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe für auch ihre innere Ordnung gestalten, im Verhältnis zur humanitäre Hilfe im Ausland, Drucksachen 12/3204 übrigen Welt um eine Sensibilität bemühen, die die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9977

Hans-Dirk Bierling Rechte und Gefühle der übrigen Menschheit achtet Mit seinen Einlassungen in dem eben angesproche- und sich am humanistischen Weltbild orientiert. nen Interview hat sich der Herr Botschafter der Islamischen Republik Iran zwar vielleicht für einen (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) Vertreter eines so großen Landes ungewöhnlich geäu- Die Islamische Republik Iran befindet sich in einer ßert, er hat sich aber mit dem Gesagten nicht in die postrevolutionären Situation. Die Bundesrepublik inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren in mühsamer Deutschland eingemischt und wohl nur zum Ausdruck Kleinarbeit versucht, u. a. um der Menschen in diesem bringen wollen, daß durch den Fall Rushdie nicht die Lande willen, neue Beziehungen aufzubauen. Dies ist guten Beziehungen zwischen unseren Staaten beein- gelungen und findet seinen Ausdruck z. B. in den flußt werden sollten. Darum ging er sicher auf die florierenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen bei- guten Wirtschaftsbeziehungen ein, die auch Wirklich den Ländern. Das darf uns aber nicht daran hindern, zu Hoffnungen Anlaß geben, vor allem was die neuen auch Irritationen und Probleme beim Namen zu nen- Bundesländer Brandenburg und Sachsen anbetrifft. nen, vor allem im Menschenrechtsbereich. Ich muß aber betonen, daß diese Beziehungen nicht Genau dies hat das Auswärtige Amt getan. Es hat Anlaß zum Schweigen bei Menschenrechtsverletzun- dem Botschafter des Iran unmißverständlich zu verste- gen sein können. Wir haben die Pflicht, auch im Falle hen gegeben, daß Deutschland nicht schweigt, wenn des Dichters Salman Rushdie unsere Stimme zu erhe- Menschenrechte in unerträglicher Weise beeinträch- ben und zu fordern, daß die islamische Welt nach den tigt werden. Auch die Rechte des einzelnen müssen Grundsätzen der UNO - Charta handelt, da sie sonst gewahrt bleiben. nicht erwarten kann, daß ihre Rechte durch uns ebenfalls geschützt werden. Im Falle des Schriftstellers Salman Rushdie, der die Wir erwarten von der Islamischen Republik Iran, Bundesrepublik Deutschland um Hilfe gebeten hat, daß sie sich klar zu den Menschenrechtsgrundsätzen stehen die Mitglieder der deutsch-iranischen Parla- der Völkerfamilie bekennt und damit ein Zeichen mentariergruppe auf dem Standpunkt, daß dies ein auch für die anderen islamischen Staaten und die besonders krasser Fall der Störung im Zusammenle- geistige Führung des Islam setzt. ben der Menschen und der Völker ist. Die Unversehrt- heit der Person des Salman Rushdie muß gewährlei- stet sein, der Mordaufruf muß zurückgenommen wer- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, die Rede- den. zeit ist überschritten. (Beifall im ganzen Hause) Hans-Dirk Bierling (CDU/CSU): Ich danke für den Wir haben Verständnis für den Schmerz, der durch Hinweis. Es ist der letzte Satz. — Der Mordbefehl blasphemische Passagen im Buch „Satanische Verse" gegen Salman Rushdie muß umgehend zurückge- den gläubigen Moslems zugefügt worden ist. Aber wir nommen werden, erwarten von den islamischen Völkern, daß sie sich an — den Regeln im Zusammenleben mit anderen nicht- islamischen Nationen orientieren, die sie sich selbst Vizepräsident Hans Klein: Ich hatte es bereits mit ihrem Beitritt zu internationalen Organisationen gesagt: Ich bitte jetzt zu schließen. auferlegt haben. Hans-Dirk Bierling (CDU/CSU): — damit der Kon- (Beifall bei der CDU/CSU) sens zwischen den verantwortungsbewußten Völkern Nun hat der Herr Botschafter der Islamischen der Welt in Fragen der Menschenrechte wiederherge- Republik Iran sich in einem Interview dahin gehend stellt wird. geäußert, daß sein Land nicht in der Lage wäre, diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Mordauftrag zurückzunehmen, da er eine islamische sowie bei Abgeordneten der SPD) und nicht eine Sache des Iran wäre. Es h andelt sich also — nach Darstellung des Herrn Botschafters — Wenn der amtierende hierbei um eine Angelegenheit der Religionsführung Vizepräsident Hans Klein: Präsident sagt, die Redezeit sei bereits überschritten, der islamischen Welt, und der Herr Botschafter lehnt dann bitte wirklich nur noch einen Satz. Bei der für seinen Staat die Verantwortung dafür ab. Aber wir Fünf-Minuten-Regelung ist es einfach unfair, wenn wissen natürlich, daß dieses Land zumindest partiell man dann weiterredet. eine Führungsrolle in der islamischen Welt spielt und daß der gegenseitige Einfluß zwischen Gesetzes- und Als nächster Herr Kollege Duve, bitte. Religionslehrern und damit geistigen Führern des Islam einerseits und der Staatsführung andererseits Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Meine Damen größer als eingestanden ist. Ich erinnere daran, daß und Herren! Der britische Autor Salman Rushdie hat die 46 Mitgliedstaaten der Islamischen Konferenz vor Deutschland auf Einladung meiner Kollegin Thea drei Jahren das Urteil noch bestätigt haben und daß Bock besucht, die nach mir dazu etwas sagen wird. Er auch das neue iranische Parlament das Urteil bestätigt hat viele Mitglieder dieses Hauses gesprochen. Er hat hat. die Präsidentin dieses Hauses gesehen. Er war unser Gast. Wir erwarten daher trotz aller Äußerungen des Herrn Botschafters, daß die Regierung der Islami- Die Antwort des iranischen Botschafters auf seinen schen Republik Iran ihren Einfluß dahin geltend Besuch, so von niemandem gefragt, war für mich macht, den Straf- und Mordauftrag gegen Salman jedenfalls zynisch und verletzend. — Rushdie zurückzunehmen. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) 9978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Freimut Duve nach dem Motto: Geld kommt vor Geist, mit Wirt- Wir fordern — ich glaube, es ist nicht mehr zu schaftsbeziehungen läßt sich auch ein Mordbefehl vermeiden — die Abberufung des Botschafters, die kaufen. Aussetzung des Kulturabkommens, die Anstrengun- gen der deutschen und europäischen Politik, daß der Die Antwort iranischer Autoritäten auf den Besuch Mordauftrag für null und nichtig erklärt wird. Rushdies in der Bundesrepublik war skandalös: Das Kopfgeld für die Tötung eines europäischen Bürgers Ich danke für die Aufmerksamkeit. wurde erhöht. Es liegt ein unglaublicher Zynismus (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der darin, daß der Iran dieses Mordgeld nach Dollars F.D.P. und der PDS/Linke Liste) bemißt und mit Prinzipien seiner Religion begründet — ich habe mich in meinem Leben ein wenig mit dem Koran beschäftigt —; ich finde, allein dieses ist eine Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bierling, da Beleidigung des Koran. die CDU/CSU-Fraktion im Gegensatz zu den Freien Demokraten ihre Erstredner dem Präsidenten nicht (Beifall bei der SPD der CDU/CSU, der F.D.P. ankündigt, sie auch nicht mit Blumen ausstattet, war und der PDS/Linke Liste) mir nicht bewußt, daß dies Ihre erste Rede im Deut- Aber die Kopfgeld-Draufgabe ist eine Art geistiger schen Bundestag war. Die ganze Strenge der präsi- Kriegserklärung an die deutsche Demokratie nach dentiellen Intervention ist über Sie niedergegangen. diesem Besuch Rushdies in Deutschland. Ich wieder- Also: take it easy, beim nächsten Mal an die Zeit hole hier, was wir alle am 22. Februar 1989 zum halten! Ausdruck gebracht haben — wir waren damals das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erste europäische Parlament, das sich dazu geäußert hat —: Der Mordauftrag muß von iranischen Autoritä- Ich erteile das Wort dem Kollegen . ten für null und nichtig erklärt werden. Herr Kollege, ich will hier noch einmal sagen: Ich Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Herr Präsident! habe diesen Mordauftrag genau geprüft. Es ist kein Meine Damen und Herren! Die Debatte befaßt sich mit religiöser Auftrag, es ist ein staatsideologischer Auf- einer der gravierendsten Menschenrechtsverletzun- trag. Er hat mit der Religion des Friedens, des Islam gen, die wir kennen: Ein Mann wird wegen einer nichts zu tun, sondern er ist der Raub des Kor an literarischen Äußerung verfolgt und mit dem Tode zugunsten einer Staatsideologie. bedroht; das Kopfgeld auf ihn wird erhöht. Aber er ist nicht zurückgenommen worden. Jetzt ist Er ist nach Bonn gekommen, um Unterstützung zu das Mordgeld erhöht worden, sozusagen als Bestra- erfahren. Diese Aktuelle Stunde bietet die Möglich- fung für den deutschen Gastgeber. Der Botschafter hat keit, daß das deutsche Parlament ganz offiziell Stel- dies in einer verklausulierten Weise begrüßt. Nach lung bezieht. Schweigen zu einem Unrecht ist immer meiner Meinung — dies sage ich hier — muß er unser falsch. Land verlassen, dessen Gesetz und Kultur er nicht Als Vertreter der deutschen Regierung in der UN- respektiert hat. Menschenrechtskommission habe ich mich zusam- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) men mit Vertretern anderer Staaten der EG für eine Resolution zur Menschenrechtsverletzung im Iran Bei der Freiheit der Literatur gegenüber staatlicher eingesetzt, die im März dieses Jahres mit Mehrheit Intervention sind nämlich wir kompromißlos. angenommen worden ist. Sie befaßt sich mit Men-

Das Wort „Islam" — ich wiederhole, was ich damals schenrechtsverletzungen des Iran, in deren Zusam- gesagt hatte — heißt „Friede", und Teheran scheint menhang der Fall Rushdie gehört. immer noch Symbol für Gewalt zu sein. In der großen Wir haben unsere Besorgnis geäußert über die Kulturtradition des Islam hat es immer die Friedens- fehlenden Garantien rechtsstaatlicher Gerichtsver- botschaft gegeben; daran müssen wir erinnern. fahren, über die diskriminierende Behandlung von Wir Europäer dürfen heute allerdings über unsere Minderheiten auf Grund ihrer religiösen Überzeugun- Beziehungen zur islamischen Welt nicht sprechen, gen, über die Abwesenheit eines Klimas von Rechts- wenn wir nicht auch auf die Verbrechen hinweisen, sicherheit und Freiheitsgarantien, über das Fehlen der die in diesen Monaten an moslemischen Bosniern Meinungsfreiheit und der literarischen Freiheit. Wir verübt werden. Wir sind uns alle darüber im klaren, haben unsere große Besorgnis über die zunehmende welche Folge eine weitere Verschärfung des Konflikts Anwendung der Todesstrafe geäußert. etwa zwischen Armeniern und Aserbeidschanern auf Es war und ist uns klar, daß es im Iran unterschied- religiöser Trennungslinie haben wird. liche Strömungen gibt, auch eine prowestliche, die es Gerade deshalb fordere ich die Moslems in Deutsch- zu unterstützen gilt. Wir werden uns auch auf der land auf, sich eindeutiger als bisher von diesem nächsten Konferenz intensiv mit dem Iran befassen. staatsideologischen Mißbrauch des Islam durch die Die Kommission hat eine moralische Wirkung, die Republik Iran zu distanzieren. Ich sage das vor allem wächst und hoffentlich auch neue Instrumente ent- an die Adresse der Mullahs in den schiitischen wickelt. Moscheen in Deutschland. Wer den geplanten Mord Was können wir im Falle Rushdie angesichts dieser an einem bestimmten Menschen begrüßt und auf Verletzung von fundamentalen Grundsätzen der Völ- diese Weise unterstützt, macht sich eines schweren kergemeinschaften tun, die auch der Iran formal Vergehens schuldig, ob er dieses nun in deutscher anerkannt hat und die Vorrang vor allen religiösen oder in persischer Sprache tut, ob er dies innerhalb Überzeugungen haben, die in diesem Falle nur von oder außerhalb der Moschee tut. einem Teil des Islam geteilt werden? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9979

Gerhart Rudolf Baum Es ist im übrigen völlig abwegig, wenn der iranische heutigen Aktuellen Stunde „Schutz und Unterstüt- Botschafter darauf verweist, daß eine solche Strafe zung der Staatengemeinschaft für Salman Rushdie" mehr als 1 400 Jahre existiert. Das ist falsch; diese hat mich nicht nur stilistisch etwas irritiert. Für welche Meinung wird auch nur von einem Teil des Islams Staatengemeinschaft sollen wir hier sprechen, für die geteilt. Die UN-Menschenrechtskonvention steht Europäischen Gemeinschaften, für die zivilisierten gegen diese Meinung. Sie ist verbindliches Völker- Staaten Europas oder nur Westeuropas oder für recht und gibt uns auch das Recht zur Einmischung. wen? Es war deshalb richtig, daß die EG-Außenminister Ich gehe ganz einfach davon aus: Es handelt sich um 1989 beschlossen haben, keine hochrangigen Besu- den sogenannten Fall Rushdie, um unsere Haltung che mehr zuzulassen. Der Beschluß der EG ist aller- dazu und darum, dessen Aufenthalt in Deutschland dings zurückgenommen worden. Die EG geht offen- zum Anlaß zu nehmen, erneut die Öffentlichkeit, aber bar davon aus, daß sich die Staatsführung des Iran auch die Politiker und die Bundesregierung anzumah- vom Tötungsaufruf distanziert hat. nen, dieses schreckliche Vorkommnis eines staatlich Ich bin nicht dieser Meinung. Gerade nach den verordneten Mordaufrufs nicht in Vergessenheit gera- Äußerungen des iranischen Botschafters in Bonn muß ten zu lassen. ich feststellen, daß er diesen Mordaufruf geradezu Es gibt in der Geschichte zahlreiche Beispiele, daß bestätigt hat, indem er darauf hinweist, daß der Ir an Künstler, darunter Schriftsteller, erbarmungslose Kri- mit dieser Position die Unterstützung der islamischen tiker, Vor- und Querdenker waren, die aber zum Welt erfährt. Er weist stolz darauf hin, daß dies Nachdenken anregten. Verließen Sie den Weg der immerhin 1,5 Milliarden Menschen seien. ungeschriebenen Gesetze ihres Lebensraumes, ihres Geradezu zynisch ist seine Furcht vor einem angeb- Kulturkreises oder wie auch immer zu weit, wurden lichen Anschlag der Geheimdienste Israels oder der sie mit Mißachtung gestraft, fanden sie keine Verleger USA, der gegen Rushdie verübt werden könnte. Ich in ihrem Land, wurden ihre Werke in Diktaturen ganz halte schon eine solche Vermutung für abwegig. Der einfach verboten. Iran könnte sie aber sofort gegenstandslos machen, Sie alle haben eines gemeinsam: Ob geliebt, geach- wenn er sich vom Mordaufruf distanziert. tet, mißverstanden, gehaßt oder geschaßt, sie waren in (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der der Regel Vertreter der Idee der Meinungsfreiheit, die SPD und der PDS/Linke Liste) heute anerkanntermaßen zur politischen Kultur des Dieser ist ja nicht leichtzunehmen. Der japanische Umgangs zivilisierter Menschen gehört bzw. gehören Übersetzer Rushdies wurde ermordet, dessen italieni- sollte. scher Kollege schwer verletzt. Die Furcht vor Anschlä- Die Gedanken sind frei. Schriftsteller fühlen sich gen veranlaßte die Leitung der Frankfurter Buch- eigentlich dazu berufen, Gedanken zu Papier zu messe, den Rushdie-Solidaritätsstand beschämender bringen. Das ist ihr Recht, und die Menschheit wäre eise in eine Ecke der Messe zu verbannen, also zu sehr arm, gäbe es keine Schriftsteller. verstecken. Dann erleben wir zwei Millionen Dollar Kopfgeld Ich meine, wir müssen jetzt ernsthaft überlegen, für zu Papier gebrachte Gedanken. Ich zitiere Salman welche Konsequenzen in bezug auf die Beziehungen Rushdie: zu ziehen sind, die unser Land mit dem Iran hat, sei es im kulturellen, sei es im wirtschaftlichen, sei es im Jemand hat ein Buch geschrieben, jemand ande- politischen Bereich. Wir müssen begreifen — wie die rer will ihn dafür töten. Das ist keine intellektuelle FAZ geschrieben hat —, daß Rushdies Besuch in Debatte, das ist Gangstertum. Deutschland nicht nur ein Plädoyer in eigener Sache Allein der Aufruf zum Mord, hinzu kommt noch: ist, sondern eine Verteidigung unserer selbst und gegen Belohnung, widerspricht jeglichem Verständ- unserer zivilisatorischen Werte. nis von Menschenrechten und Grundfreiheiten, wie Ich sage das, auch wenn ich weiß, daß Menschen- sie heute üblich sein sollten. Ich spreche bewußt von rechte nicht zum alleinigen Maßstab von Beziehun- „heute"; denn auch im Namen des christlichen Glau- gen zwischen Völkern gemacht werden. Es darf bens sind Grausamkeiten in großem Umfange verübt jedoch niemals der Eindruck entstehen, daß sie hinter worden, die einem Aufruf zum Mord in nichts nach- wirtschaftlichen und anderen Interessen zurückste- stehen. hen. Wir müssen die Beziehungen, die wir haben,-w Es ist bedauerlich, daß sich derartige Probleme und gerade dazu nutzen, daß Menschenrechte nachdrück- lich zur Geltung kommen. Das muß auch in diesem Ereignisse über Jahre hinwegziehen und nur von Zeit zu Zeit in das Bewußtsein der Menschen zurückgeru- Falle noch deutlicher geschehen, als es bisher der Fall fen werden. war. Der Mordaufruf muß zurückgenommen wer- den. Deshalb begrüße ich diese Aktuelle Stunde und (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der möchte sie nutzen, um eindeutig zu erklären: Der Fall SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Salman Rushdie ist für mich ein mir natürlich nahes, aber dabei besonders auffälliges und gravierendes Kettenglied einer Reihe von Menschenrechtsverlet- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Angela zungen im Iran, in der Türkei, aber auch in anderen Stachowa, Sie haben das Wort. Regionen der Welt. Der Fall Rushdie sollte für uns Anlaß sein, noch Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- stärker als bisher Menschenrechte einzuklagen und dent! Meine Damen und Herren! Das Thema der es nicht bei verbalen Protesten zu belassen. 9980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Angela Stachowa Deutschland ist für den Iran laut Zeitungsberichten von Staatssekretär Kastrup dem iranischen Botschaf- der wichtigste Außenhandelspartner. Ich denke, es ist ter am 29. Oktober 1992. Die Bundesregierung fordert, an der Zeit, die Bundesregierung an dieser Stelle zu den Mordaufruf gegen Salman Rushdie zurückzuneh- fragen, wie sie die Beziehungen möglicherweise in men. Zukunft gestalten will. Hier wird eindeutig mit zwei- Mit seiner Fatwa vom 14. Februar 1989 erklärte erlei Maß gemessen, verglichen mit Restriktionen Ayatollah Khomeini Salman Rushdie für vogelfrei. anderen Staaten gegenüber. Denn anderen Staaten Eine religiöse Stiftung setzte eine Million US-Dollar gegenüber gibt es ganz andere, s trengere Maßstäbe. für seine Ermordung aus. Die Bundesregierung hat — Ich kann nur hoffen, daß die heutige Aktuelle Stunde, wie die Regierungen der EG-Partner — sofort und die von den regierungstragenden Fraktionen des wiederholt gegenüber der iranischen Regierung mit Bundestages beantragt worden ist, dazu beiträgt, der allem Nachdruck deutlich gemacht, daß Gewalt oder Bundesregierung ihre Verantwortung für das Schick- die Androhung von Gewalt kein legitimes Mittel der sal vieler Menschen zu verdeutlichen und im Falle von politischen oder der religiösen Auseinandersetzung Salman Rushdie auch praktische Schritte folgen zu sein können. Mord oder Aufforderung zur Tötung sind lassen. Rushdie schlägt keineswegs vor, Wirtschafts- inakzeptabel. beziehungen zu kappen. Er mahnt nur, m an sollte sie nutzen. Am 27. August 1989 erklärte der iranische Staats- Ich möchte zum Schluß Salman Rushdie selbst präsident Rafsanjani öffentlich, daß der Iran seine sprechen lassen: Ansichten und Botschaften nur innerhalb der von den anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts gesetzten Es geht nicht nur um mich. Wer mich verteidigt, Grenzen veröffentlichen und in die Welt hinaustragen verteidigt auch eine Idee, die Idee der Meinungs- dürfe. Er müsse sich dabei jeglicher Einmischung in freiheit, und daher eine ganze Kultur und die die inneren Angelegenheiten anderer Staaten enthal- Iraner, die mehr als alle unter dem iranischen ten. Bei dem Todesurteil handele es sich nicht um ein Regime leiden. Urteil im rechtlichen Sinne, sondern um die — aller- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. dings mit unumstößlicher religiöser Autorität ausge- (Beifall im ganzen Hause) stattete — Meinung eines religiösen Experten. (Norbert Gansel [SPD]: Nicht unumstöß Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Staats- lich!) ministerin im Auswärtigen Amt, Ursula Seiler — Herr Gansel, ich kann in diesem Zusammenhang Albring. nur wiedergeben, was Rafsanjani dazu gesagt hat. — Uns empört, daß sich die politische Führung der Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin im Auswärti- Islamischen Republik Iran bisher noch nicht deutli- gen Amt: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen cher vom Aufruf zum Mord distanziert hat. Wir und Herren! Der Fall Salman Rushdie bewegt die verurteilen, daß eine Institution, die den Organen des Öffentlichkeit und uns hier in diesem Hohen Haus mit iranischen Staates zumindest nahesteht, Mord mit Recht. Es geht um Meinungsfreiheit, um kulturelle einer hohen Summe belohnt und damit zum Verbre- Freiheit und um unser Selbstverständnis als souverä- chen aufruft. ner Staat. Die Bundesregierung kann und wird keine Einschränkung der Meinungsfreiheit dulden. Diese Die Bundesregierung erwartet eine klare Distanzie- ist in Art. 5 unseres Grundgesetzes verbürgt und rung der iranischen Regierung von diesem unerhörten gehört zu den zentralen Werten unserer Demokratie. Aufruf. Der iranische Botschafter hat vor wenigen Die Bundesregierung kann und wird es nicht zulassen, Tagen öffentlich die Aussage seines Präsidenten daß Menschen auf deutschem Boden wegen eines bestätigt, daß die iranische Regierung dem Völker- Werkes der Kunst angegriffen und verfolgt werden. recht verpflichtet sei. In den bilateralen Beziehungen gelte der Grundsatz der Respektierung der innerstaat- Es geht hier nicht darum, über die literarische lichen Gesetze. Terrorismus in jeder Form und an Qualität von Rushdies Buch zu urteilen. Ich habe mich jedem Ort sei ohne Wenn und Aber zu verurteilen. auch nicht damit auseinanderzusetzen, daß die „Sata- Diese Aussagen des Botschafters nehmen wir zur nischen Verse" in den Augen vieler Moslems den Kenntnis. Wir begrüßen sie nachdrücklich und wer- Stifter des Islam beleidigen und deshalb die religiösen den der weiteren Entwicklung entgegenschauen. Gefühle vieler verletzen. Wenn wir uns schützend- vor Rushdie stellen, so billigen wir damit nicht umstrittene (Norbert Gansel [SPD]: Das war es dann auch Aussagen. Die Gestalt des Propheten Mohammed schon!) genießt auch bei uns Respekt als einer der großen Inzwischen hat die Stiftung das Kopfgeld für Salman religiösen Führer der Weltgeschichte. Rushdie auf zwei Millionen Dollar erhöht. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, tritt vorbehaltlos für die Unversehrtheit Salman Rush- (Norbert Gansel [SPD]: Nach dem Inter dies ein, wo immer er sich befindet. Die Völkerge- view!) meinschaft hat sich auf den Schutz der Menschen- Die Bundesregierung hält dieses für ungeheuerlich. rechte verständigt. Dazu gehört an erster Stelle das Die Bundesregierung wird auch weiterhin darauf Recht auf Leben. drängen, daß sich die iranische Regierung klar und Diese Haltung hat das Auswärtige Amt bereits mit deutlich von dem Mordaufruf gegen Salman Rushdie seiner Erklärung vom 16. Februar 1989 sehr deutlich distanziert und ihr möglichstes tut, um die Unversehrt- gemacht. Sie ist der iranischen Regierung bei jeder heit Rushdies zu schützen. Die Aussetzung eines sich bietenden Gelegenheit vermittelt worden, zuletzt Kopfgeldes, der weltweite Aufruf zum Mord sind auf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9981

Staatsministerin Ursula Seiler-Albring das schärfste zu verurteilen. Wir werden Salman daß dieser Mordauftrag zu Recht bestehe. Und da ist Rushdie auch weiterhin schützen. Salman Rushdie doch nun wirklich die Frage: Wie hältst du's mit muß wieder als freier Mensch leben können. solchen Menschen, die das in unserem Lande tun? (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Und ich meine: Persona non grata ist die wirkliche dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Konsequenz, die man ziehen muß. Meine Damen und Herren, wir haben uns bei Menschenrechtsverletzungen immer wieder die Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Frage vorgelegt, wie wir sie verhindern können. Wir Kollegen Heinrich Lummer. haben zwar Grundsätze für die Entwicklungshilfe formuliert, haben im Irak aber zusehen müssen, wie Heinrich Lummer (CDU/CSU): Herr Präsident! Chemiewaffen eingesetzt wurden. Wir haben in Meine Damen und Herren! Seit Beginn des Jahres Jugoslawien unsere Erfahrungen. Wir sehen unsere 1989 lebt Salman Rushdie versteckt, bedroht und ganz Grenzen, wir sehen unsere Hilflosigkeit. Das ist das zweifellos in Angst. Die Prämie für das Killerkom- Schlimme angesichts mancher Ereignisse auch hier. mando ist erhöht worden. Gläubige Muslime ebenso Da möchte ich doch daran erinnern, so wenig das wie professionelle Killer sind aufgefordert, für Geld auch sein mag: Die vorzügliche Waffe der Verteidiger Leben zu vernichten, und das schon vier Jahre lang. der Menschenrechte sind offenbar immer noch das Wir haben damals verurteilt. Wir redeten über Sank- Wort und die Überzeugungsarbeit. Warum gibt es tionen. Wir sahen die ganze zivilisierte Welt heraus- immer wieder Zeiten und Zonen, wo gerade das Wort gefordert. „Kriegserklärung", Herr Duve, haben Sie verurteilt und verfolgt wird, und wieso ist das Wort gesagt, und Sie haben es heute wiederholt. Aber Rushdies ausgesprochen todeswürdig? ebendiese zivilisierte Welt lebt nun seit Jahren mit Offenbar gibt es eine Kraft der Worte, die wir nutzen dieser Herausforderung. Die erneute Forderung auch müssen. Wir müssen den universellen Menschen- aus ministeriellem Munde: Das muß aufhören mit dem rechten universale Geltung verschaffen. Wir müssen Mordbefehl! klingt schal, weil keiner die Hoffnung in den Köpfen und Herzen der Menschen dafür hat, daß es denn auch geschehen werde. sorgen, daß sich derjenige isoliert, der die Menschen- Damals wurden von uns die Rücknahme des Mord- rechte mißachtet. befehls und die Publikation des Buches gefordert. Die Das ist mühsam, und sicherlich wird der Erfolg nicht Publikation ist erfolgt, der Mordbefehl ist nach wie vor sofort kommen. Aber das bedeutet an dieser Stelle, da. Sanktionen hat es nicht gegeben, oder sie waren meine Damen und Herren: In jedem Gespräch mit fruchtlos. Ein Kulturabkommen wurde auf Eis gelegt Vertretern des Iran muß darüber geredet werden. Wir oder vielleicht auch nicht. In jedem Falle ist es klar: dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen! Es muß Wie könnte man mit jenen ein Kulturabkommen ein ständiges „Ceterum censeo ..." in dieser Frage erneuern, die ein Beispiel für Unkultur liefern? Das geben, und hier geht es um wichtigere Dinge als um scheint nicht sinnvoll zu sein. Karthago aus der Sicht vom Rom. Denn hier geht es (Beifall im ganzen Hause) schließlich um die Säulen, auf denen unsere ganze Besuche auf hoher Ebene wurden eine Zeitlang aus- Kultur und demokratische Struktur ruht, auch wenn gesetzt. Aber nach einer gewissen Zeit ging man zur das nur ein Einzelfall ist. Tagesordnung über. Wir haben uns damals allesamt in Wir können schon gar nicht mehr sagen „Wehret die Hand versprochen, über weitere Sanktionen nach- den Anfängen! " — denn die haben wir —, sondern wir zudenken, wenn der Mordbefehl nicht zurückgenom- können nur noch sagen: Befördert, daß dieser Geist men wird. Nun ist er nicht zurückgenommen worden. ein Ende findet in unserer Welt! Ich meine, wieviel mehr haben wir Veranlassung, darüber nachzudenken, was denn zu tun sei? Schließ- (Beifall im ganzen Hause) lich hat unser damaliger Außenminister seinerzeit gesagt: Wir schließen keinen Schritt aus. — Das klang Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort gut. In Wahrheit sind wir keinen wirklichen Schritt hat nunmehr die Abgeordnete Frau Thea Bock. gegangen, jedenfalls keinen weitergekommen. ( V o r s i t z: Vizepräsident Dieter-Julius Cro nenberg) - Thea Bock (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Salman Rushdie hat mit seinem Buch gewiß die nen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf den Gefühle aufrichtiger Muslime beleidigt, er hat sich einmaligen Vorgang eingehen. Wir müssen uns ver- dafür aber auch entschuldigt. Wir wollen auch nicht gegenwärtigen, daß ein Staat einen Schriftsteller einem Recht auf Beleidigung das Wort reden, sondern eines anderen Staates töten will, einen Mordaufruf an wir wollen für das Recht auf die Rede kämpfen. Wir Millionen von Menschen richtet. Nachdem Proteste wollen für das Leben eines Menschen und für das bei uns in der Bundesrepublik laut werden, wird das Recht auf ein zuständiges Gericht kämpfen. Kopfgeld erhöht. Wer sich dies vor Augen führt, muß einfach drastische Maßnahmen fordern. Der Auftrag, meine Damen und Herren, auch auf fremdem Hoheitsgebiet zu töten, ist völkerrechtswid- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rig. Insofern haben die Vereinten Nationen das Recht, Salman Rushdie ist ein mutiger Mann, wenn er nach sich mit diesem Vorgang zu befassen. Wir wünschen drei Jahren Verstecktleben seine Isolation durch- auch, daß sie das tun. Es mag sein, daß in unserem bricht, um auf das Ungeheuerliche dieser Sache Land in der einen oder anderen Moschee, vielleicht aufmerksam zu machen. Dieser Mut verpflichtet uns auch in einer Botschaft demnächst verkündet wird, Demokraten, genauso mutig zu sein. 9982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Thea Bock Deshalb bin ich froh, daß es gelungen ist, den Die britische Regierung hat die von Teheran Besuch Salman Rushdies in der Bundesrepublik zu erhöhte Prämie für die Ermordung Salman Rushdies organisieren. Ich möchte an dieser Stelle — auch im scharf verurteilt; sie stelle eine untolerierbare Verlet- Namen von Salman Rushdie und, wie ich hoffe, im zung der Menschenrechte dar. Die Öffentlichkeit der Namen aller hier Anwesenden — denjenigen ganz Bundesrepublik Deutschland erwartet auch von uns herzlich danken, die bei der Vorbereitung und Durch- klare Antworten. Ich schließe mich den Forderungen führung dieses schwierigen und auch riskanten nach Abberufung des iranischen Botschafters an und Unternehmens geholfen haben, insbesondere dem bitte die Bundesregierung und auch die Vertreter der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, der sich verschiedenen Fraktionen, mitzuhelfen, daß diese prompt und mutig zur Unterstützung durch das Land Morddrohung nicht nur von Großbritannien und von Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt und unserem Parlament verurteilt wird, sondern daß die durch die Bereitstellung einer hervorragenden Sicher- Aktion, die Salman Rushdie auch mit seinem Besuch heitsmannschaft das zunächst unmöglich Scheinende erreichen wollte, eine europaweite Kampagne wird möglich gemacht hat. und Europa sich insgesamt gegen diesen Mordaufruf stellt. Ich bitte alle, das zu unterstützen. Sehr froh bin ich, daß es zu vielen eindeutigen Ich danke herzlich. Stellungnahmen gekommen ist, auch vor dieser Aktu- ellen Stunde. Stellvertretend möchte ich nur zwei (Beifall im ganzen Hause) nennen, die der Bundestagspräsidentin Frau Professor Dr. Süssmuth und die von Björn Engholm, die gezeigt Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort haben, daß sie nicht bereit sind, diesen Fall zu hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch. vergessen, nicht bereit sind, vor diesem Mordaufruf zu kapitulieren. Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Denn es geht nicht nur um die Person Rushdies, es sehr geehrten Damen und Herren! Wahrscheinlich bin geht um einen elementaren Anschlag auf die Mei- ich der einzige literarische Banause unter Ihnen. Ich nungsfreiheit. Wer den Fall Rushdie zu den Akten kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß ich das legen will, provoziert geradezu ähnliche zukünftige Werk des Autors literarisch nicht für besonders ein- Anschläge auf die Meinungsfreiheit. drucksvoll halte, daß ich davon nicht beeindruckt bin, sondern daß ich es teilweise als ausgesprochen Ich möchte den freundlichen Empfang Rushdies in schlechte Literatur betrachte. Ich denke, der Erfolg, der Bundesrepublik Deutschland als Geste der Solida- den der Autor erzielt hat, ist möglicherweise eine rität interpretieren, aber auch als Ausdruck von Reaktion auf sein Schicksal und auf die Art, in der er Selbstrespekt; denn es geht um unsere Glaubwürdig- verfolgt wird. keit, um unsere eigenen Grundsätze, die nicht für (Freimut Duve [SPD]: Was soll das heißen? Er andere Interessen aufs Spiel gesetzt werden dürfen. hat schon vorher drei Rom ane von Weltgel Und: Es ist höchste Zeit, daß wir durch eine politische tung veröffentlicht!) Demonstration öffentlich auf eine Rücknahme der weltweit geltenden Morddrohung hinwirken. Die Verletzung religiöser Gefühle anderer kann nicht meinen Beifall finden. Ich halte sie für einen Mangel Es sind zivilisatorische und politische Selbstver- an Toleranz. Aber es ist natürlich ebenso ein M angel ständlichkeiten, die Rushdie in Bonn aussprach. „Zu an Toleranz, wenn die Reaktion darauf ist, daß zur schweigen heißt, den Leuten, die die Macht sowieso Ermordung dieses Mannes aufgerufen und ein nam- schon haben, noch mehr Macht zu geben." — Ich hafter Geldbetrag — und für einen gläubigen Moslem schließe mich diesem Zitat ausdrücklich an . die ewige Seligkeit — dafür ausgelobt wird. Und ich weise die iranische Machtanmaßung auf Dabei ist es natürlich nur ein gradueller Unter- internationalem Boden mit Nachdruck zurück! Das ist schied, ob der iranische Staat das selbst tut oder ob er allein schon auf Grund eigener staatlicher Souveräni- den Aufruf einer Organisation zuläßt, ohne sich davon tät nicht länger hinzunehmen. nachhaltig und eindeutig zu distanzieren. Selbst wenn der Iran als Staat die anderen Rechtsordnungen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der respektiert, bleibt der Sachverhalt unberührt, daß er F.D.P.) die Aufforderung an einen jeden Moslem duldet, - einen bestimmten anderen Menschen zu ermorden. Die Identifikation des iranischen Botschafters in Bonn Das ist mittelalterlich und eines zivilisierten Staates mit diesem Mordaufruf und sein zynischer Verweis unwürdig, auch wenn man berücksichtigt, daß es für darauf, daß die Bundesrepublik ihre guten Wirt- jede iranische Regierung schwer ist, Weisungen des schaftsbeziehungen nicht für Rushdie riskieren wird, früheren Revolutionsführers Khomeini in Einklang erfordern eine klare Antwort des Parlaments und der mit einer modernen Völkerrechtsordnung zu brin- Bundesregierung. gen. Die Aussage des iranischen Botschafters ist auch Wenn Staaten und Völker unterschiedlicher Reli- eine Beleidigung für die Indust rie und die Wirtschaft gionen und Rechtsordnungen in einer Welt friedlich in der Bundesrepublik Deutschl and. Auch deren Ver- zusammenleben wollen, dann müssen sie gegenseitig treter sind Demokraten, auch sie achten die Men- Rücksicht nehmen, sich respektieren und sich dabei schenrechte und werden sich mit Sicherheit nicht mit an den Grundsätzen der Vereinten Nationen und der Staatsterroristen verbrüdern. Der Iran muß politisch Menschenrechtscharta orientieren. Darum kann man und ökonomisch für das Leben Rushdies in Haftung einen Menschen nicht für vogelfrei erklären und seine genommen werden. Ermordung erkaufen wollen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9983

Dr. Burkhard Hirsch Es ist erstaunlich, daß insbesondere Großbritannien, schafter der Islamischen Republik Ir an in Bonn „un- dessen Staatsangehörigkeit Salman Rushdie besitzt, mißverständlich klargemacht hat, daß die Bundesre- auf diese eklatante Bedrohung seiner Integrität nur gierung den Mordaufruf aufs schärfste verurteilt". sehr verhalten reagiert hat. Ein solches erstaunliches Stillhalten hat in aller Regel wirtschaftliche Gründe. Im Gegenteil: Wir können uns nur den Forderungen Es bedarf sicherlich keiner längeren Ausführungen des Verbandes deutscher Schriftsteller anschließen, darüber, daß die europäische Menschenrechtspolitik der die Ausweisung des iranischen Botschafters aus nicht viel wert wäre, wenn sie nur gegenüber den der Bundesrepublik fordert, weil dieser auf unmißver- Staaten durchgesetzt würde, die wirtschaftlich keinen ständliche Weise das Weiterbestehen des Mordauf- Schaden verursachen können. rufs bekräftigt und — so die Worte des Verbandsvor- sitzenden Friesel — dadurch „dessen mögliche Voll- (Beifall im ganzen Hause) streckung auf deutschem Boden öffentlich sanktio- Ich habe nicht vor, von der Bundesregierung eine niert" habe. isolierte Aktion zu verlangen. Dazu wäre Großbritan- nien weit eher berufen als wir. Aber im Zusammen- Die Bundesregierung hat Rushdie Hilfe zugesagt. hang mit dem Kulturabkommen zwischen der Bun- Aber worin besteht sie? Jetzt, im Anschluß an Rush- desrepublik und dem Iran muß natürlich geprüft dies Besuch in der Bundesrepublik, ist es allerhöchste werden, ob Vorgänge dieser Art im deutsch-irani- Zeit, Farbe zu bekennen. Andernfalls bestätigen sich schen Verhältnis ausgeschlossen sind. Wir halten es Rushdies Befürchtungen, wonach „Menschenrechte für eine schlichte Selbstverständlichkeit, daß sich die für Sonntagsreden" da sind. Schweigen heißt Billigen Bundesrepublik in jeder Weise solidarisch verhält, des Mordaufrufs, heißt Billigen der Kopfgelderhö- wenn Großbritannien oder andere europäische Staa- hung, die von der privaten religiösen Stiftung des ten um unsere Unterstützung oder um eine gleichar- 15. Chordad ausgesprochen wurde. Schweigen heißt tige politische Reaktion bitten. Die Europäische in Kauf nehmen, daß die Kopfgelderhöhung wegen Gemeinschaft ist in ihrer Gesamtheit dazu aufgerufen, des Besuchs Salman Rushdies in der Bundesrepublik dem Iran klarzumachen, daß er mit seinem Verhalten vorgenommen wurde. Ich bin sehr froh, daß heute alle die Grundlagen europäischer Kultur verletzt und daß Fraktionen und Gruppen hier im Bundestag erklärt das nicht ohne Folgen hingenommen werden kann. haben, daß sie nicht schweigen wollen. Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung hier Gefordert ist außerdem die Solidarität nicht nur mit oder im Auswärtigen Ausschuß bestätigt, daß sie zu Rushdie, sondern auch mit den Tausenden politischen einer solchen politischen Solidarität ohne Einschrän- Häftlingen, die den Repressionen des Regimes im Iran kung bereit ist. Ich nehme Ihre Erklärungen, Frau ausgesetzt sind. Staatsminister, in diesem Sinne dankbar entgegen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der CDU/CSU) Gefordert sind deshalb Konsequenzen, die der Ver- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort wirklichung und Durchsetzung der Menschenrechte hat nunmehr die Abgeordnete Vera Wollenberger. gerecht werden. Dazu gehören seitens der deutschen (Freimut Duve [SPD]: Herr Hirsch, Herr Regierung nach unserer Auffassung nicht nur die Rushdie war davor schon ein Weltautor! — Verurteilung des Mordaufrufs, sondern auch die Auf- Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Trotzdem sind kündigung der Wirtschaftsabkommen und der Auf- die „Satanischen Verse" ziemlich schlecht! schub des geplanten Kulturabkommens mit dem Iran, — Norbert Gansel [SPD]: Wir haben kein und zwar so lange, bis die iranische Regierung den literarisches Kolloquium!) Mordaufruf zurücknimmt und die Einhaltung der Menschenrechte im Iran gesichert ist. Andernfalls setzt sich Deutschland der Gefahr aus, erpreßbar zu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vera Wollenberger sein. „Deutschland exportiert jährlich Waren im Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Werte von über 5 Milliarden Dollar nach Iran. Es wird Kollege Hirsch, egal, wie man die literarische Leistung diesen Betrag wegen Rushdie nicht gefährden", sagte von Rushdie beurteilt — ich halte ihn im Gegensatz zu der iranische Botschafter. Er darf nicht recht behal- Ihnen für einen guten Schriftsteller —, muß man doch - ten! sagen, daß er mehrfach klar erklärt hat, daß er nicht im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) entferntesten die Absicht hatte, religiöse Gefühle zu verletzen. Er hat des öfteren Diskussionen mit islami- Der Fall Rushdie und die Tausende von vollstreck- schen Führern gehabt, um das klarzustellen. Ich ten Todesurteilen im Ir an müssen ein permanentes denke, daß es weniger darum ging, daß er religiöse öffentliches Thema in Deutschland sein. Wir können Gefühle verletzt hat, sondern vielmehr das Regime im nach Beendigung des Iran-Irak-Krieges — ungeachtet Iran, das deshalb das Todesurteil gegen ihn ausge- der damit für die Bundesrepublik verbundenen lukra- sprochen hat. tiven Wirtschaftsgeschäfte beim Wiederaufbau des Günter Grass nannte es das „halb gequälte und halb zerstörten Landes — angesichts der bekannten Tatsa- genierte Weghören und Drumherumhören seitens der che schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen Politiker", das den Schriftsteller Rushdie seit der vor im Iran nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. drei Jahren ausgesprochenen Morddrohung durch Wenn die Verantwortlichen der amtierenden Regie- Ayatollah Khomeini noch immer begleitet. Das muß rung im Iran durch weltweite Proteste nicht dazu zu ein Ende haben. Deshalb genügt es nicht, daß Staats- bewegen sind, ihre Mordabsichten aufzugeben, sollte sekretär Kastrup vom Auswärtigen Amt dem Bot der Deutsche Bundestag von der deutschen Regie- 9984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Vera Wollenberger rung die soeben genannten Boykottmaßnahmen for- andersetzung mit der Tyrannei verlieren. Wenn wir dern. unsere Überzeugung nur noch in wohlklingenden Wer sich mit der diskreditierenden Stellungnahme Worten bekunden — das geht eindeutig ans Auswär- des Botschafters zufriedengibt, „der Fall Rushdie sei tige Amt —, aber nicht mehr entsprechend handeln, keine iranische Angelegenheit, sondern eine islami- dann bestätigen wir das Vorurteil der Fundamentali- sche", läßt sich ablenken. Hier wird die Religion des sten gegenüber einer kraftlos gewordenen, sich selbst Islam für politische Machenschaften instrumentali- aufgebenden westlich-europäischen Zivilisation. siert und mißbraucht. Sie soll für Mordabsichten eines Wenn wir uns so verhalten, geben wir uns selbst der Regimes herhalten, das Meinungs-, Presse- und Ver- Verachtung preis — oder nicht? sammlungsfreiheit aufs gröbste verletzt. Sie soll die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des stillschweigende Zustimmung aller Muslime dieser BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erde vortäuschen. Es geht jedoch nicht nur um Rushdie. Es geht um Für diesen staatlichen Mordauftrag trägt die Regie- Tausende von Menschen, die im Ir an weiter verfolgt rung des Iran die alleinige Verantwortung. Ihr reli- werden, die aus politischen Gründen im Gefängnis giöser Führer Khamenei ist oberster Hüter religiöser sitzen, Folter erleiden oder öffentlich hingerichtet Stiftungen. Aus diesem Grunde gilt es, sich nicht von werden. Und was tun wir? Wir schimpfen ein wenig, den Äußerungen des iranischen Botschafters täuschen treiben business as usual und normalisieren unsere und die Religion des Islam nicht in Mißkredit bringen Beziehungen. Kann es zwischen einer freiheitlichen zu lassen. Sonst würde man einem neuen Feindbild Demokratie und einer Diktatur normale Beziehungen aufsitzen. geben? Danke. (Beifall im ganzen Hause) Das gilt übrigens nicht nur für den Iran, sondern auch für China. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort SPD) hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Friedbert Pflü- Wir haben vor kurzem einen Staatssekretär einhellig ger. dafür kritisiert, daß er einem führenden Repräsentan ten in China um den Hals gefallen ist. Wenn wir aber die Beziehungen zu China für normal erklären — na, Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident! dann darf man doch Diktatoren um den Hals fallen. Meine Damen und Herren! In der letzten Woche ist Salman Rushdie, ein Staatsbürger der Europäischen In dieser Situation halte ich es für wichtig, daß wir Gemeinschaft, zu uns gekommen. Er mußte mit einer generell zur Menschenrechtspolitik vor dem Hinter- Privatmaschine hierher reisen. Denn die Lufthansa grund des Falles Rushdie einige Bemerkungen hatte sich aus Sicherheitsgründen geweigert, ihn zu machen. transportieren. Erstens. Es ist wahr: Menschenrechte eignen sich (Norbert Gansel [SPD]: Das waren auch die nicht für einen Kreuzzug. Wir wollen sie — Herr Baum ersten, die während des Golfkriegs Israel hat völlig recht —nicht zum einzigen Maßstab unserer nicht anfliegen wollten!) Politik erklären. Moralischer Rigorismus wird sehr Es bedarf also nur einer Todesdrohung, und schon schnell zur Selbstgerechtigkeit, zu der wir vor dem wird man nicht mehr mit der Lufthansa transportiert. Hintergrund z. B. von Anschlägen auf Asylbewerber- Salman Rushdie hat hier erzählt, daß sich der Hessi- heime im eigenen Land überhaupt keinen Grund sche und der Saarländische Rundfunk — ebenfalls aus haben. Sicherheitsgründen — geweigert hätten, die „Satani- Zweitens. Menschenrechte sind nicht das einzige schen Verse" auszustrahlen. Im Auswärtigen Amt ist Ziel unserer Außenpolitik. Es gibt zwingende Not- Salman Rushdie lediglich auf der Ebene eines stell- wendigkeiten, die der Entfaltung einer totalen Men- vertretenden Abteilungsleiters — der Kulturabtei- schenrechtspolitik entgegenstehen, etwa die Wah- lung — wahrgenommen worden. rung des Friedens und der Stabilität in einer Region. Wenn ein weltbekannter Schriftsteller nach Es ist auch ganz legitim, strategische und Wirtschafts- Deutschland kommt, freut sich normalerweise jeder interessen wahrzunehmen. Wir wollen Beziehungen darüber und will möglichst oft mit ihm abgelichtet- und Handel mit allen Staaten auf der Welt. Wir haben werden. Hier hat es einen „Geheimbesuch" gegeben, ja auch z. B. mit der ehemaligen Sowjetunion ein wobei das „Geheime" keineswegs nur mit Sicher- Röhrengeschäft abgeschlossen und uns trotzdem heitsvorkehrungen zu erklären ist. Viele wollten sich öffentlich für Herrn Sacharow ausgesprochen. einfach nicht klar und deutlich zu Rushdie bekennen. Der Iran und China benötigen wirtschaftliche Bezie- Das ist ein schlechtes Zeichen für die politische Kultur hungen noch viel mehr als wir. Es gibt deshalb und die Zivilcourage in unserer Gesellschaft. überhaupt keinen Grund, Handel zu betreiben, ohne (Beifall im ganzen Hause) gleichzeitig Menschenrechtsverletzungen anzupran- Wer sich von Gewaltdrohungen aus dem Ausland gern. einschüchtern läßt und zurückweicht, wird auch im Drittens. Nichts gegen sogenannte stille oder dis- Inland kein überzeugter Verfechter von Grundrech- krete Diplomatie, von der in diesen Tagen soviel die ten sein. Wenn wir nicht mehr einstehen für den Rede ist. In der Tat kann man in Einzelfällen oft besser bedrohten Bürger in Deutschland, in England oder helfen, wenn man sie im vertraulichen Gespräch anderswo, dann werden wir die andauernde Ausein vorbringt. Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9985

Dr. Friedbert Pflüger als sei stille Diplomatie nur ein Vorwand für Nichtstun 884 Hinrichtungen verzeichnet. Viele wurden in und moralische Indifferenz. manchmal nur Minuten dauernden Schnellverfahren Viertens. Menschenrechte gehören auf einen pro- abgeurteilt und hatten zum Teil nicht einmal die minenten Platz auf der internationalen Tagesord- Möglichkeit, sich überhaupt zu den Vorwürfen zu nung. Unsere in der amerikanischen und der franzö- äußern. Folter zur Erpressung von Geständnissen ist sischen Revolution begründete westlich-europäische nach wie vor weit verbreitet. politische Kultur bezieht ihre Stärke und Überlebens- Der Bericht weist auch darauf hin, daß iranische kraft letztlich nicht aus der Höhe des Bruttosozialpro- Regierungsangehörige möglicherweise in Mordan- dukts oder der Größe des Waffenarsenals, sondern aus schläge auf Regimekritiker im Ausland verwickelt dem Adel der Ideen von Menschenrecht und Freiheit sind. und der Bereitschaft der Menschen, Freiheit und Die Repressionen gegen Kurden haben seit Macht- Menschenwürde auch zu einem Maßstab des Han- antritt der Mullahs 30 000 bis 50 000 Todesopfer, vor delns zu machen. allem unter der Zivilbevölkerung, gefordert. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten könnten wir versucht sein, einige dieser Prinzipien aufzugeben. Die angesprochenen Verletzungen menschlicher Aber freiheitliche Werte sind kein Luxus für gute Grundrechte lassen sich nicht mit andersartiger kul- Tage, sondern der Kern unserer politischen Existenz, tureller Tradition oder den Geboten des Islam begrün- ein Garant für die Einigkeit nach innen und für die den. Der Iran verstößt nicht nur gegen den Internatio- Stärke nach außen. nalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte, den er übrigens selbst ratifiziert hat, sondern auch gegen Wir müssen Salman Rushdie und überhaupt den die eigene Verfassung. Verfolgten auf der Welt mehr Solidarität als bisher geben. Die Ausweisung des Botschafters wäre ein Es kann hier also nicht um eine Kritik am Islam wichtiges Signal, ebenso die Aussetzung einer gehen. Jeder, der sich ein bißchen damit beschäftigt geplanten deutsch-iranischen Kulturwoche. Es wirkt hat, weiß, daß es in der islamischen Welt sehr unter- doch wirklich lächerlich, wenn man angesichts des schiedliche Rechtsauffassungen und Rechtspraxen Todesurteils gegen einen Bürger der Europäischen gibt. In den meisten islamischen Ländern finden die Gemeinschaft anfängt, mit Iranern offizielle Volksfe- Strafen der Scharia heutzutage keine Anwendung ste zu feiern. mehr. Auch in der islamischen Rechtstradition gibt es schon verschiedene Vorschriften, die auf Strafmilde- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der rung drängen. SPD und der PDS/Linke Liste) Warum betone ich dies? Ich bin der Überzeugung, daß die drastischen Menschenrechtsverletzungen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort letztendlich politisch motiviert sind und einer politi- hat nunmehr der Abgeordnete Christoph Matschie. schen Antwort der Weltgemeinschaft bedürfen. Die Todesdrohung gegen Rushdie ist dabei nur die Spitze Christoph Matschie (SPD): Herr Präsident! Liebe eines Eisberges. Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich ein Ganz im Gegensatz zu der hier dargestellten und Wort zu Ihnen, Herr Kollege Pflüger, sagen, um das von vielen Seiten bestätigten Einschätzung steht nach richtigzustellen: Nach meinem Wissen hat sich nie- meiner Meinung allerdings das Verhalten der Bun- mand, der gefragt wurde, geweigert, hier in der desregierung in den letzten beiden Jahren. Im Lage- Bundesrepublik mit Herrn Rushdie zu sprechen. Ich bericht des Auswärtigen Amtes vom 9. September glaube nicht, daß wir hier den Eindruck erwecken 1991 heißt es — Zitat —: dürfen, als sei dies der Fall gewesen. Es ist erschütternd, daß es in unserer Welt noch Wenn Iran auch nicht als Rechtsstaat im westli- möglich ist, einem Schriftsteller offiziell mit Mord zu chen Sinne verstanden werden kann, so geht es in drohen, weil er ein bestimmtes Buch geschrieben hat. Iran doch, nachdem die Revolution inzwischen Aber ich glaube auch, daß wir die Todesdrohung mehr als 12 Jahre zurückliegt und das islamisch ausgerichtete System fest etabliert ist, nach isla- gegen Salman Rushdie nicht isoliert be trachten dür- fen. Ihre Entstehung und mehrmalige Wiederholung mischem Recht und Gesetz zu. Gerade in der letzten Zeit werden Bemühungen erkennbar, auf — das sage ich hier auch als Vorsitzender der deutsch-- iranischen Parlamentariergesellschaft — lassen sich dem Gebiet des Gerichtswesens noch bestehende nicht loslösen vom Kontext iranischer Innenpolitik. Unzulänglichkeiten ... zu beseitigen. (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Richtig!) Angesichts dieser verharmlosenden Darstellung drängt sich natürlich der Verdacht geradezu auf, daß Diese ist seit Jahren durch brutale Unterdrückung die Bundesregierung auf Grund wirtschaftlicher Inter- politischer Gegner und drastische Menschenrechts- essen beide Augen vor der menschlichen Tragödie im verletzungen geprägt. Zwar hat sich der Iran außen- Iran verschließt. und wirtschaftspolitisch geöffnet; die Repression nach innen hält jedoch unvermindert an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der dritte Bericht des Iran-Sonderbeauftragten der Das zeigen auch die wirtschaftlichen Aktivitäten, UNO-Menschenrechtskommission, Galindo Pohl, die in den letzten beiden Jahren angekurbelt wurden. vom 2. Januar 1992 stellt fest, daß es keine substan- Die deutschen Lieferungen in den Iran erreichen tiellen Fortschritte hinsichtlich der Achtung der Men- einen Umfang von 7 Milliarden DM im Jahre 1991. Bei schenrechte gibt. Allein im Zeitraum vom 1. Januar bis Irangeschäften wurde die Begrenzung für Hermes zum 7. Dezember 1991 wurden laut diesem Bericht bürgschaften aufgehoben. 1991 erhielt der Iran Her- 9986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Christoph Matschie mesbürgschaften in Höhe von 3,8 Milliarden DM. Das Propheten und Heiligen der jüdischen oder christli- ist mehr als ein Sechstel aller geförderten Auftrags- chen Religion nicht tun. Ich sage, zu Recht hat Ignatz werte für die Entwicklungsländer. Bubis damals verhindert, daß das Faßbender-Stück in Schon in der Debatte 1989 ist beispielsweise vom Frankfurt aufgeführt werden konnte. Kollegen Lummer hier gefordert worden, Wirtschafts- Man muß das differenziert sehen. Die zerstörerische sanktionen zu verhängen. Auch der Präsident des Gewalt der Tabuverletzung kann nicht außer acht Deutschen Indus trie- und Handelstages, Hans Peter gelassen werden. Blasphemische und obszöne Äuße- Stihl, fand diese Forderung damals verständlich. rungen in kritischen Fällen sind zu unterlassen, wenn Ich bin nicht sicher, ob der Abbruch von wirtschaft- wir auf dieser Welt zusammenleben wollen. lichen Beziehungen und von Gesprächen immer die (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sehr wahr!) einzig richtige Reaktion ist. Aber ohne wirtschaftliche Der Fundamentalismus ist nur ein Teil der islami- und politische Konsequenzen bleibt unser Reden hier schen Geschichte. Zur islamischen Tradition gehört das Bellen eines zahnlosen Hundes. In der Debatte auch, daß die von anderen Fundamentalisten aus 1989 ist gefordert worden, eine universelle Antwort Spanien und Portugal vertriebenen Juden zum größ- auf die Morddrohung gegen Rushdie zu geben. Der ten Teil im Osmanischen Reich aufgenommen wur- Mordbefehl besteht seit 1989 fo rt. Die universelle den, Antwort, die wir zu geben versprochen haben, steht (Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) bis heute aus. als sie in den christlichen Ländern keine Zuflucht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fanden. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Als Saloniki nach dem zweiten Balkankrieg grie- hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Günther Müller. chisch wurde, war es noch zu 50 % von sephardischen Juden bevölkert, die erst unter Eichmann von dort in Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Herr Präsident! den Tod geschickt wurden. Meine Damen und Herren! Ich bin ein grundsätzlicher Wenn heute, wie ich gehört habe, Vermittlungsver- Gegner der Todesstrafe. Folglich bin ich auch ein suche über die Madrider Universität, die Beziehungen grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe in bezug auf zum Islam hat, unternommen werden, zu einer Rück- Salman Rushdie. Religiöse und Weltanschauungs- nahme der blasphemischen und obszönen Äußerun- gruppen haben nicht das Recht, über andere und gen von Rushdie zu kommen, dann könnte es möglich anderer Leben zu urteilen. Auch sie haben die Men- sein, einen vernünftigeren Weg zu gehen. schenrechte zu beachten. Die Zeit der Autodafés und Trotzdem muß eines immer klar sein: Menschen- Hexenprozesse ist vorbei. rechte sind unteilbar, die Todesstrafe ist unmensch- Um so schlimmer ist es, daß es sich hier nicht um lich. Das gilt für Rushdie genauso wie für die Tausen- leere Drohungen handelt; denn wir wissen, daß der den, die im Iran bedroht werden, weil sie für Freiheit, japanische Übersetzer Salman Rushdies ermordet und Menschenrechte und Demokratie eintreten. Rushdie bei einem Mordanschlag auf den italienischen Über- ist insofern nur ein Symbol. Der Mordaufruf, der setzer dieser schwer verletzt wurde. Insoweit gehört gegen ihn ausgesprochen wurde, muß fallen. unsere Sympathie und unsere Solidarität Salman (Beifall im ganzen Hause) Rushdie, obwohl er einmal in einem Interview Schrift- steller und Politiker als natürliche Feinde bezeichnet hat. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Trotzdem, meine Damen und Herren, lassen Sie hat nunmehr der Abgeordnete Norbert Gansel. mich noch ein paar Gedanken einbringen. Ich bin nicht der Meinung des Kollegen Baum, daß die (SPD): Herr Präsident! Meine zivilisatorischen Werte grundsätzlich zu erhalten sind, Norbert Gansel Damen und Herren! Das Auswärtige Amt hat auf wenn er unter diesen zivilisatorischen Werten auch meine parlamentarische Anfrage, ob es bereit sei, den Obszönität und Blasphemie versteht. Unsere säkular iranischen Botschafter auszuweisen, mitgeteilt — die westliche Welt ist nicht das Maß aller Dinge; das wird Staatsministerin hat das vorhin bestätigt —, die Bun- in anderen Gesellschaften und Kulturen gelegentlich- desregierung beabsichtige nicht, den iranischen Bot- als Neokolonialismus empfunden. schafter zur persona non grata zu erklären. Er habe ( [CDU/CSU]: Das ist wahr!) — so das Auswärtige Amt; ich zitiere aus der Antwort Füruns ist es vielleicht ein diskutierwürdiges Ereignis, des Amtes auf die parlamentarische Anfrage — „aus- wenn in einem Kalender einer Staatsregierung als weislich der Niederschrift seines Inte rviews im Saar- Gedenktag der Todestag einer Lebedame aufgeführt ländischen Rundfunk vom 29. 10. 1992 einen Hinweis wird. In der islamischen Welt wäre so etwas sicher auf das islamische Recht gegeben. Kein Land und kein undenkbar. Moslem könne oder wolle eine Strafe des Islam Wenn Salman Rushdie Mohammed mit dem ändern". Das nenne ich eine faule Ausrede. Genauso schlimmsten christlichen Schimpfnamen, der aus der faul ist die Absicht des Auswärtigen Amtes. Zeit der Kreuzzüge stammt, und seine Frauen mit Khomeini ist nicht der Islam; ein Mordaufruf ist obszönen Epitheta bezeichnet, dann provoziert er keine Strafe! Das Auswärtige Amt begründet seine damit; darüber gibt es keinen Zweifel. Auch wir Entscheidung zusätzlich damit, der iranische Bot- — zumindest ich — würden dies gegenüber den schafter habe, als er ins Amt einbestellt wurde, erklärt, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9987

Norbert Gansel der Iran respektiere die innere Rechtsordnung ande- tigt werden, um womöglich vorbeugend von dem rer Staaten. Außerdem sei in einer Presseerklärung Verdacht auf das eigene Land abzulenken? der Botschaft Terrorismus ohne Einschränkung verur- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem teilt worden. Dem Auswärtigen Amt reicht das. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will aus dem Streit für Rushdie und die Mei- Ich kann nur sagen: „Die Botschaft hör' ich wohl, nungsfreiheit keinen Streit mit dem Auswärtigen Amt allein mir fehlt der Glaube." Ich bin aber gerne bereit, machen, warne aber davor, daß eine diplomatische mich überzeugen zu lassen; denn ich habe die Hoff- Reaktion als opportunistisch mißverstanden werden nung nicht aufgegeben, daß der Iran tatsächlich ein könnte. Ich sage ganz bewußt: Wir müssen darauf respektiertes Mitglied der zivilisierten Staatenge- achten, daß wir nicht unsere Würde verspielen. Wenn wird. Ich sage nicht „wieder"; denn ich meinschaft iranische Politiker keinen Respekt vor uns gewinnen, habe das Schreckensregime des Schahs nie als zivili- weil wir unsere fundamentalen Werte nicht genauso siert bezeichnet und deshalb, als Khomeini 1979 in fundamental vertreten wie sie die ihren, dann wird es den Iran zurückkehrte, in diesem Hause dafür gewor- keine vertrauensvolle Beziehung zwischen Gleichen ben, der Islamischen Republik Verständnis entgegen- geben. zubringen. An die Adresse des Irans sage ich, weil selbst auf Wenn uns jetzt aber der iranische Botschafter in diese Debatte mit Repressalien zu rechnen ist: Wir seinem Interview unterstellt, daß wir uns die Tolerie- lassen unsere Solidarität für Salman Rushdie nicht in rung eines Mordaufrufs mit Exportaufträgen abkau- Geiselhaft nehmen, indem wir darauf verzichten, ihn fen ließen, braucht er auch eine unmißverständliche nur deshalb bei seinem nächsten Besuch in Deutsch- Antwort. land nicht zu empfangen, weil im Iran erneut das (Beifall im ganzen Hause) Kopfgeld erhöht wird. Ich bin sicher, daß es notwendig ist, daß der Deut- Wir werden jetzt nicht für einen Abbruch der Handels- sche Bundestag mit der gemeinsamen Resolution beziehungen mit dem Iran plädieren, machen aber darauf reagiert, für die wir schon Vorbereitungen eine iranische Regierung, die sich so verhält wie sie getroffen haben. Ich bin auch sicher, daß wir alle darin sich verhält, für die Sicherheit Salman Rushdies ver- übereinstimmen: Es geht nicht nur darum, das Leben antwortlich. Rushdies zu verteidigen, sondern auch um die Vertei- digung des Fundaments unserer demokratischen Wenn ein Mordanschlag gegen Rushdie erfolgt, Rechtsgesellschaft, der Meinungs- und Informations- wird nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch freiheit. Wir teilen alle gemeinsam das Bedauern der in anderen westeuropäischen Parlamenten beantragt Moslems, die sich durch Äußerungen von Rushdie in werden, gegen den Iran politische und wirtschaftliche seinen Veröffentlichungen verletzt fühlen. Das Sanktionen zu verhängen. Wir wissen, daß Sanktio- schmerzt auch uns. Aber diesen Preis müssen wir für nen nicht ewig währen. Sie können aber für den Iran die Meinungsfreiheit und die Informationsfreiheit zu sehr teuer werden und könnten ihn zu einem Zeit- zahlen bereit sein. Wir verteidigen dabei eine euro- punkt treffen, da er auf gute wirtschaftliche und päische Errungenschaft, die universelle Bedeutung politische Beziehungen mit Westeuropa angewiesen hat. Denn sonst gibt es keine Toleranz zwischen den ist. Religionen und den Menschen. Ich danke Ihnen. Der Iran muß wissen, daß er eine Interessenabwä- (Beifall im ganzen Hause) gung vornehmen muß. Wenn im Iran der Mordaufruf gegen Rushdie verbreitet wird, wenn sich das irani- sche Parlament damit identifiziert, wenn sich irani- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort sche Regierungsmitglieder nicht distanzieren, wenn hat nunmehr die Abgeordnete Frau Leni Fischer. im Iran Kopfgelder in Millionenhöhe ausgesetzt wer- den, dann wird aus der Unsicherheit der persönlichen Leni Fischer (Unna) (CDU/CSU): Herr Präsident! Zukunft Rushdies eine außen- und wirtschaftspoliti- Meine Damen und Herren! Am 17. Februar 1989 hat sche Unsicherheit des Iran. Wir müssen den Ir an - Khomeini gesagt, daß ihm das Volk für den Fall der zwingen, eine Interessenabwägung vorzunehmen, für Reue Salman Rushdies über das Schreiben des Buches die im übrigen die Schia und auch die Verfassung der und seine Veröffentlichung verzeihen könnte. Daran islamischen Republik sehr wohl Raum geben. Wir allein sieht man, daß es eine Möglichkeit der Wieder- nicht ewig wissen, daß auch die Fatwa Khomeinis aufhebung der Fatwa gibt, die allerdings Anfang gelten muß. Sie ist einer Revision zugänglich, und wir dieses Jahres vom iranischen Parlament noch einmal werden sie bei jedem Gespräch mit iranischen Politi- bestätigt worden ist. kern verlangen. Seitdem hat sich Salman Rushdie ausführlich und Ich finde es auch unerträglich, daß es das Auswär- öffentlich bei vielen Gelegenheiten — ich habe ihn tige Amt urkommentiert läßt, daß der Botschafter in selbst gehört — für jegliche Beleidigung und Verlet- seinem Interview gesagt hat, er habe Angst, daß die zung der Gefühle von Muslimen entschuldigt. Aber Geheimdienste Israels oder der USA etwas gegen immer — bis heute — wurde jegliche Form der Rushdie unternehmen und die Schuld dafür dann dem Versöhnung und des Ausgleichs zurückgewiesen. Iran in die Schuhe schieben. Muß man es sich eigent- Und heute ist der 1 360. Tag der Fatwa. lich in der Bundesrepublik gefallen lassen, wenn In dem Mordaufruf des Ayatollah heißt es fast befreundete Staaten auf diese Art und Weise verdäch wörtlich: Das Buch ist gegen den Islam, den Propheten 9988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Leni Fischer (Unna) und den Koran, und deswegen wird der Autor zum teren Gesprächen in Finnland sind wir übereinge- Tode verurteilt. Das Buch ist keine religiöse S treit- kommen, es nicht bei der Initiative des Nordischen schrift, sondern ein Roman, und ist vor allem unter Rates zu belassen, sondern auch im Bundestag ein literarischen Aspekten zu beurteilen. Der Autor hat — Zeichen zu setzen. Des weiteren sind wir übereinge- genau wie jeder andere Mensch auf Erden — das kommen, die Forderung nach Aufhebung der Fatwa Recht der freien Meinungsäußerung. Jeder Demokrat weiter zu unterstützen. hat dieses Recht zu achten und zu verteidigen. Hier Ich möchte noch eine Information geben: Vor der geht es um Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Tagung des Nordischen Kulturforums in Finnland Menschenrechte. hatten bereits die Mitglieder des Kulturausschusses Ich behaupte ganz entschieden — und ich finde des Europarates unter meinem Vorsitz am 6. Oktober mich. da nicht allein —, daß dieser Mordaufruf, ver- 1992 eine schriftliche Erklärung gezeichnet mit der bunden mit mehreren Millionen Dollar für professio- Aufforderung an die Parlamentarier der Mitgliedslän- nelle Killer, nichts, nun wirklich gar nichts mit rechts- der des Europarates — das sind mittlerweile 27 —, alle staatlichen Grundsätzen und mit der Wahrung der Möglichkeiten der Verhandlung und Vermittlung Menschenrechte zu tun hat. Ich gehe noch weiter: Die auszuschöpfen, um eine f riedliche Lösung und Aufhe- Sprache des Hasses und des Hohnes, gepflegt von bung des Todesurteils zu erreichen. Das ist die Ant- militanten Muslims, vom Ayatollah Khomeini bis zum wort auf Ihre Frage nach der Staatengemeinschaft. Botschafter des Iran in Bonn, ist nicht gedeckt von den Herzlichen Dank. Vorschriften des Korans (Beifall im ganzen Hause) (Freimut Duve [SPD]: Sehr richtig!) und auch nicht vom Geiste des Islam. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Aktuellen Stunde. SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 auf: Denn die Sprache des Hasses ist eben nicht herausra- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- gendes Element des Islam. ten Dr. Ingomar Hauchler, Dr. Norbert Wieczo- rek, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und Wenn der Botschafter des Iran sagt, die Fatwa sei der Fraktion der SPD eine Sache des Islam und nicht des Ir an, so möchte ich fragen: Wie ist dann die Position der iranischen Internationale Verschuldungskrise und wirt- Regierung in diesem Falle? Braucht sie den „äußeren schaftliche Strukturanpassung in der Dritten Feind", um im Inneren des Landes die verarmten Welt und in Osteuropa Bevölkerungsmassen mit Hinweis auf den Islam und — Drucksachen 12/2160, 12/3300 — die Heilsvorschriften und -versprechungen von ihrem Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von Elend abzulenken? In der islamischen Gesellschaft einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — gilt, daß die Sprache des Hasses von der Religion und Das ist offensichtlich der Fall. der islamischen Kultur selbst als ungeheuerlich dar- Ich eröffne die Debatte und erteile Professor Hauch- gestellt wird. In einem muslimischen Land wie Ägyp- ler das Wort. ten ist die Sprache des Hasses gegenüber einer Minderheit in Rasse oder Religion ungesetzlich. Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Herr Präsident! Meine Die religiösen und politischen Führer des Islam sind sehr verehrten Damen und Herren! Die Antwort der aufgerufen, offen gegen Gewalt und Intoleranz aufzu- Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur treten; denn Gewalt und Intoleranz widersprechen internationalen Verschuldung beweist: CDU/CSU den Werten des Islam. In jeder der drei großen und F.D.P. verharmlosen nach wie vor die Verschul- monotheistischen Religionen ist die Grundlage gelegt dungskrise. Sie verkennen, daß damit die Entwick- für die Toleranz und den gegenseitigen Respekt lung für viele Länder des Ostens und Südens blockiert gegenüber dem Anders- oder Nichtgläubigen, da wird. Sie ergreifen keine ausreichenden Initiativen, jeder Mensch als Geschöpf des einen Gottes betrach- um die internationale Zusammenarbeit auf solidere tet wird und ihm daher unabhängig von seiner- welt- finanzielle Füße zu stellen und sozial und ökologisch anschaulichen Überzeugung dieselbe Würde beige- verträglichere Formen der Weltwirtschaft einzulei- messen und dieselben Rechte zugebilligt werden. ten. Ich hatte vor etwa drei Wochen, um den 14. Oktober Die Bundesregierung sagt noch immer „Weiter so", 1992 herum, ganz überraschend und auch unter wo doch in vielen Ländern des Südens nichts mehr immensen Sicherheitsvorkehrungen die Gelegenheit, geht. Sie sagt „Genauso" im Hinblick auf die Länder Salman Rushdie fast zwei Tage lang bei der Kultur- des Ostens. Sie baut damit auch dort eine Verschul- konferenz des Nordischen Rates zum Thema der dungs- und Entwicklungsfalle auf. Die Lernfähigkeit kulturellen Kooperation in Europa zu erleben. Nach dieser Regierung scheint allmählich auf Null zu sin- einer längeren Diskussion mit ihm im kleinen Kreis ken. hat er zwei Stunden mit dem gesamten Plenum des Kleine Eingeständnisse — das sei vermerkt — macht Nordischen Rates, dem alle skandinavischen Länder die Bundesregierung, wenn auch nur nebenbei. Sie angehören, diskutiert. Dort haben wir eine Resolution anerkennt nach jahrelangen Vorhaltungen, daß die zu seiner Unterstützung gefaßt, die ja gerade in Industrieländer für die Verschuldungskrise nicht nur skandinavischen Ländern beispielhaft ist. Nach wei „mitverantwortlich" sind. Sie akzeptiert nach vielen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9989

Dr. Ingomar Hauchler Abwehrgefechten, daß m an dieser Krise nicht durch sollen ärmsten Staaten erlassen werden. Jetzt wird in immer neue Umschuldungen Herr werden kann, der Anfrage aufgedeckt, daß dies nicht für den sondern daß es ohne eine Senkung des Schuldenstan- Gesamtbestand der Schulden, sondern nur für die in des und des Schuldendienstes einfach nicht mehr den ersten drei Jahren fälligen Forderungen gilt. Die geht. Aus vorsichtigen theoretischen Korrekturen Propaganda der Industrieländer übertrifft auch hier werden aber keine Folgerungen für die politische wieder einmal ihre wirkliche Leistung. Praxis gezogen. Diese Regierung redet und redet, Die Bundesregierung erweckt immer noch falsche doch sie handelt auch hier nicht. Hoffnungen auf ausreichende Erleichterungen bei Ich werde das in vier Punkten näher erläutern. den — teuren — privaten Bankkrediten. Tatsache ist:

Erstens. Die Bundesregierung spielt die Verschul- Der Brady - Plan weist ab 1989 zwar in die richtige dungskrise und die dadurch verursachten wirtschaft- Richtung. Das Mix aus Zinsschulden- und Schulden- lichen Belastungen, sozialen Härten und ökologi- dienstreduktion nutzt bisher aber nur ganz wenigen schen Schäden nach wie vor herunter. Ländern und überwiegend nur strukturell relativ Sie gibt Entwarnung, weil sich das internationale wohlhabenden Schuldnern wie Mexiko und Vene- zuela, die über Ölreserven verfügen, Bankensystem durch massive Wertberichtigungen auf Kosten des Steuerzahlers und durch eine Rekord- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Chile und spanne aus Soll- und Habenzinsen zu Lasten der Argentinien auch!) Bankkunden stabilisieren konnte. Sie gibt Entwar- und nur Ländern im Vorhof der USA. Das ist die zweite nung, weil sich einige makroökonomische Indikato- Kategorie, bei der etwas getan wird, Herr Kollege ren im Durchschnitt verbessert haben. Feilcke. Sieht man aber hinter den täuschenden Nebel Drittens. Die Bundesregierung sozialisiert die Ver- statistischer Durchschnitte, wird deutlich, daß allein luste und schont die Gewinne der privaten Banken. — Asien eine positive ökonomische, wenngleich auch Sie bewilligt auf Kosten des Steuerzahlers den Privat- nicht human und ökologisch verträgliche Entwick- banken höchste und hohe Abschreibungen und zahlt lung aufweist und dadurch eine sonst negative glo- mehr und mehr, um Strukturanpassungsprogramme bale Entwicklung statistisch auffrisiert. Lateiname- von IWF und Weltbank zu finanzieren, obwohl deren rika als Ganzes ist noch lange nicht auf einem Erfolge höchst umstritten sind. Eine Anhörung der positiven Pfad. SPD zur Politik der Weltbank hat dies vor wenigen (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Aber im einzel Tagen erneut gezeigt. Bonn zahlt und läßt Washington nen schon, Herr Professor!) die Politik machen. IWF und Weltbank müssen bei den Armen für fahrlässig vergebene private Kredite den Osteuropa und die GUS haben in wenigen Jahren Gerichtsvollzieher spielen. Ein Armutszeugnis für die riesige neue Schulden aufgebaut: in zwei Jahren Reichen. 145 Milliarden DM. Gleichzeitig aber gibt es dort einen katastrophalen Einbruch der Produktion. Afrika (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: So ist ist dem wirtschaftlichen und sozialen Abgrund noch es!) näher gerückt. Dem dürfen wir doch nicht länger Viertens. Die Bundesregierung leistet weltweit zusehen. einer Strukturanpassungspolitik Vorschub, die ohne (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Sehr Rücksicht auf humane, soziale und ökologische Werte wahr!) und mit höchst zweifelhaften wirtschaftlichen Ergeb- nissen in die Souveränität der Länder des Ostens und Zweitens. Die Industrieländer verschleiern, daß sie des Südens eingreift. Diese Politik zwingt zum Export im globalen Krisenmanagement versagt haben. Der statt zur Sicherung der eigenen Ernährung. Diese Schuldenstand ist der Leistungsfähigkeit der Schuld- Politik integriert und liberalisiert den Süden und ner nicht angepaßt worden mit verheerenden Folgen Osten, während der Norden protektioniert. Diese für die Menschen und für die Natur. Politik erhöht die Preise für Überlebensmittel und Die Bundesregierung führt die Öffentlichkeit seit senkt die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu Jahren hinters Licht, wenn sie sagt, sie habe durch helfen. Die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und bilaterale Schuldenerlasse einen wichtigen Beitrag - Umweltvorsorge mußten im Süden auf Druck des IWF zur internationalen Entschuldung geliefert. Sie muß drastisch zusammengestrichen werden. jetzt nämlich eingestehen, daß diese Erlasse sage und schreibe nur 5 % des gesamten Forderungsbestands (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist an diese Länder ausmachen. ein Skandal! — [SPD]: Das ist Wahnwitz!) (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Hört! Die Investitionen, das Pro-Kopf-Einkommen und Hört! - Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das so wichtige sogenannte Humankapital, wie Sie doch schon einmal etwas!) das immer nennen, sanken drastisch, vor allem in — Es ist ja zynisch, wenn Sie sagen, das ist schon Afrika und in Osteuropa. Das darf doch wirklich so einmal etwas! Es sind nur 5 % Entlastung in einer nicht weitergehen, auch nicht im eigenen Interesse. Situation, in der die Länder in die Knie gehen. Es ist Die vor uns stehende Krise der Weltwirtschaft ist eine genau dieser Zynismus, der ihrer Politik zugrunde deutliche Warnung. liegt, und den wir kritisieren. Niemand bestreitet, daß nach einer Zeit übertriebe- Die Bundesregierung rühmt die Schuldenerlasse ner Abschottung, staatlicher Überregulierung und oft des Pariser Clubs: 50 % der öffentlichen Schulden skandalöser Selbstbedienung herrschender Eliten 9990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Ingomar Hauchler auch die Länder des Südens die Kräfte des Marktes wicklungshilfe auf 0,34 % widerspricht diametral den stärker wecken, die Vorteile des Handelsaustausches Versprechungen des Bundeskanzlers in Rio, Deutsch- nutzen und die Disziplin ihrer Geld-, Finanz- und land werde Vorreiter spielen, wenn es darum gehe, Wirtschaftspolitik erhöhen müssen. Diese Ziele dürfen globale Verantwortung zu übernehmen, um den und können aber doch nicht durch eine Politik der Anteil in Richtung auf 0,7 % anzuheben. verbrannten oder verdorrten oder ausgelaugten Erde (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Leere erreicht werden. Worte!) Eine auf langfristige wirtschaftliche Gesundung Dieses Versprechen darf nicht gebrochen werden. und Entwicklung gerichtete Strukturanpassung kann nur Erfolg haben, wenn folgende Bedingungen her- (Beifall bei der SPD) gestellt werden — dafür werden wir uns auch einset- zen —: Erstens. Strukturanpassung muß politisch durchsetzbar sein. Das ist die Grundbedingung, damit Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort sie gelingen kann. Das setzt soziale Mindeststan- hat nunmehr der Abgeordnete Jochen Feilcke. dards, Menschenrechte, Rechtssicherheit und eine funktionierende Verwaltung voraus. Es muß endlich mit Hungerrevolten Schluß sein, die durch den Druck Jochen Feilcke (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine des IWF provoziert werden. Damen und Herren! Die Große Anfrage der SPD- Fraktion, aber vor allen Dingen die Antwort der Zweitens. Strukturanpassung, die nicht vor allem Bundesregierung ist eine hervorragende Dokumenta- auf breite gesellschaftliche Reformen als Bedingung tion. Wir sollten unabhängig von der Bewertung der auch wirtschaftlicher Entwicklung, sondern einseitig Antworten dafür sehr dankbar sein. Es ist ein Mate rial, und kurzfristig auf makroökonomische Größen fixiert das wir aufbewahren sollten und sicherlich auch ist, wird höchstens zu einem Strohfeuer führen. Nicht aufbewahren werden. zuletzt in Osteuropa stehen schwere gesellschaftliche Patentrezepte gibt es in der Frage der internationa- Umbrüche und ein ökonomisches Desaster bevor, len Schuldenproblematik nicht, und schon gar nicht, wenn die IWF-geführte Schocktherapie nicht bald korrigiert wird. Diese Politik der verbrannten Erde wenn wir uns klarmachen, welche Veränderungen innerhalb der letzten drei Jahre in der Welt stattge- muß endlich aufhören. funden haben — mit einem offenen Europa, mit einer Drittens. Strukturanpassung muß monetär solide Öffnung nach Ostmitteleuropa. Wir stoßen auf die flankiert werden. Das heißt zum einen: Das Finanzvo- gleichen Probleme, Kollege Hauchler, wie wir sie in lumen muß ausreichen, um Strukturreformen und ihre der Vergangenheit gemeinsam zu lösen versucht soziale Absicherung lange genug zu begleiten. haben; übrigens gar nicht so giftig, wie Sie es heute Andernfalls sind sie verantwortungs- und wirkungs- dargestellt haben, sondern sehr viel mehr im Konsens. los. Zum anderen dürfen Maßnahmen, die keine Die Probleme, die wir im Süden zu lösen versucht kurzfristige Rendite bringen, aber langfristige Ent- haben, haben wir nun im Osten. wicklungserfolge versprechen, in Zukunft nicht län- Die haben völlig recht: Es dürfen nur bewäh rte ger durch Kredite finanziert werden. Aus Nothilfe für Mittel eingesetzt, allerdings auch neue erprobt wer- Sterbende und Nothilfe gegen Waldvernichtung dür- den. Die Bewältigung der Schuldenprobleme der fen wir nicht länger Zinsen kassieren. osteuropäischen Länder darf auf keinen Fall zu Lasten (Beifall bei der SPD) der Entschuldung der Dritten Welt, der südlichen Länder gehen. Daß es möglich ist, diese beiden Ziele Viertens. Strukturanpassung muß je nach dem Ent- miteinander zu kombinieren, beweist das Signal von wicklungsstand eines Landes differenziert werden. 1991, als Ägypten und Polen ein 50 %iger, über drei Das braucht — das ist die historische und die aktuelle Jahre verteilter Schuldenerlaß für die öffentlichen Erfahrung der Industrieländer selbst — viel, viel Zeit, Schulden vom Pariser Club gewährt worden ist. viel mehr Zeit, als wir sie den Entwicklungsländern bisher geben. (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Warum wohl?) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung darf die Verschuldungskrise nicht weiter verharmlo- Damit wurde eine sehr weitreichende, jedoch dem sen. Sie muß eingestehen, daß die bisherigen- Maß- Problem angemessene Schuldenstreichung außer- nahmen nicht ausgereicht haben, um vor allem in halb der Gruppe der ärmsten Länder zugestanden. Lateinamerika, Afrika und Osteuropa eine Politik der Diese Zugeständnisse, die an die Durchführung ökologisch und sozial verträglichen Wirtschaftsent- mehrjähriger Strukturanpassungsprogramme und wicklung zu unterstützen. Sie muß endlich Folgerun- vergleichbare Zusagen durch die p rivaten Banken gen daraus ziehen, daß die Industrieländer die Ver- geknüpft sind, weisen deutliche Parallelen zum Lon- schuldungskrise des Südens, die wirtschaftlichen doner Schuldenabkommen von 1953 zur Regelung Ungleichgewichte in der Welt und die Zerstörung der der deutschen Nachkriegsschulden auf, dem ja Weltressourcen nicht an zweiter, sondern an erster bekanntlich die Philosophie zugrunde lag, daß Schul- Stelle mitzuverantworten haben. Wir müssen endlich denregelungen letztendlich nur dann tragfähig sind, zu einer präventiven Finanz-, Wirtschafts- und Ent- wenn die Kapitaldienstverpflichtungen des Schuld- wicklungspolitik in globaler Verantwortung überge- nerlandes in Einklang mit seiner wirtschaftlichen und hen. finanziellen Leistungsfähigkeit gebracht werden. Ein Testfall wird der Haushalt 1993 sein. Die von der (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Regierung geplante Absenkung der öffentlichen Ent SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9991

Jochen Feilcke Die vergangenen Jahre des Schuldenmanagements nehme an, Sie erinnern sich daran, lieber Herr Kollege haben gelehrt, daß es auf Schuldenregelungen im Hauchler. engeren Sinne allein allerdings nicht ankommt. Wich- Drittens. Die Geschäftsbanken müssen dem Bei- tiger noch als Schuldenerlasse, Umschuldungen oder spiel der öffentlichen Gläubiger folgen und zu ver- neue Kredite sind höhere Exporterlöse der Schuld- gleichbaren Kompromissen beim Schuldenerlaß be- nerländer selbst sowie ein möglichst niedriges inter- reit sein. Das Insistieren zahlreicher Geschäftsbanken nationales Zinsniveau. auf bloß formalen Rechtspositionen ist in dem Maße (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Wer soll denn unangemessen, in dem ausstehende Forderungen das noch kaufen?) bereits wertberichtigt worden sind.

So hebt beispielsweise die Deutsche Bundesbank zu Viertens. Die nationalen Regierungen — insbeson- Recht hervor, „daß der starke Rückgang der Dollar- dere die der führenden Industrienationen — tragen zinsen in den vergangenen beiden Jahren den Schul- ein hohes Maß an Verantwortung, daß das internatio- dendienst weit stärker entlastet hat, als dies mit den im nale Schuldenmanagement angesichts neuer Pro- Rahmen des Brady-Plans vorgesehenen Schuldener- blemlagen in Osteuropa und wachsender nationaler leichterungen möglich war". — Auf den engen Finanzprobleme nicht zum Erliegen kommt. Zusammenhang zwischen der Verschuldung der Ent- Die Gesamtverschuldung der osteuropäischen Län- wicklungsländer und der immer noch nicht abge- der liegt mit 162 Milliarden Dollar deutlich unter dem schlossenen Uruguay-Runde sei nur am Rande hinge- Niveau der Verschuldung der Entwicklungsländer. wiesen. Dennoch ist ihre aktuelle Kreditwürdigkeit prekär. Faßt man die bisherigen Bemühungen um eine Die größten Unsicherheiten bestehen in der Abschät- Lösung des Schuldenproblems zusammen, so läßt sich zung der künftigen Entwicklung. Diese ließe sich folgendes sagen: durch ein entschiedenes Engagement aller Kreditge- ber positiv beeinflussen.

Erstens. Ein globaler Finanz - Crash konnte verhin- Die Risiken für ein derartiges finanzielles Engage- dert werden; immerhin, Herr Kollege Hauchler. ment werden jedoch von vielen als zu hoch angese- Zweitens. Bei anhaltend hohem Niveau der Ver- hen. Insbesondere die Geschäftsbanken und die pri- schuldung gelang es, die Schuldenstruktur — insbe- vaten Investoren halten sich deutlich zurück. Wieder sondere die Fristigkeit — nachhaltig zu verbessern. einmal sind es öffentliche bzw. multilaterale Kredite, die den Staaten Mittel- und Osteuropas einen gewis- Drittens. In wenigen Einzelfällen konnten spürbare sen Spielraum für die Durchführung ihrer Wirtschafts- Entschuldungseffekte erreicht werden, die für die reformen verschaffen. betreffenden Länder von erheblicher Bedeutung waren. Über die Beispiele in Lateinamerika haben Sie Viele Länder in diesem Raum verfügen über um- schon gesprochen. Es sind die Länder Argentinien, fangreiche natürliche Ressourcen, die ein bedeuten- Chile, Mexiko und Venezuela. Übrigens, Entschul- des Entwicklungspotential darstellen. Dieses Poten- dungseffekte konnten in diesen Ländern nur erreicht tial kann nur durch ein marktwirtschaftliches System werden, weil sie auch eine entsprechende Reformpoli- mobilisiert werden. tik eingeleitet und realisiert haben. (Zuruf des Abg. Dr. Ingomar Hauchler Viertens. Für die meisten hochverschuldeten Ent- [SPD]) wicklungsländer, insbesondere im Subsahara - Afrika, — Herr Professor Hauchler, Sie haben im Moment bleibt die Verschuldung ein zentrales Problem, wobei nicht zugehört. Ich rede von den Ressourcen in den bedauerlicherweise überhaupt kein Anlaß zur Ent- sich entwickelnden Volkswirtschaften Ost- und Mit- warnung gegeben ist. Die von dem ehemaligen ame- teleuropas. rikanischen Finanzminister Baker erhobene Forde- rung nach einer konzertierten Aktion aller Beteiligten In der gegenwärtigen Situation sind Beratungslei- bleibt aktuell. Niemand darf und kann sich aus der stungen — gerade auch durch die Bundesrepublik Verantwortung stehlen. Die Rolle, die die wichtigsten Deutschland — genauso wichtig wie die finanzielle Akteure im internationalen Schuldenmanagement Unterstützung, wenn nicht sogar wichtiger. haben, muß klar sein: Finanzielle Hilfen an die Staaten Osteuropas müs- Erstens. Die Entwicklungsländer können nur durch sen also Hand in Hand gehen mit dem Aufbau die Überwindung unwirtschaftlicher Strukturen und marktwirtschaftlicher Strukturen. Keinesfalls kann es sich der Westen leisten, mit materieller Hilfe so lange ineffizienter Politiken die Grundlage für die Überwin- dung ihrer Schuldenprobleme legen. Dieses Ziel kön- zu warten, bis dort die grundlegenden Voraussetzun- nen sie am besten durch eine marktwirtschaftliche gen einer am Markt orientierten Wirtschaftspolitik Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik errei- bereits geschaffen worden sind. Dadurch liefen wir Gefahr, daß diese Länder ihre Probleme nicht mehr chen. unter Kontrolle bekommen. Zweitens. Zu den Stabilisierungs- und Strukturan- Andererseits lehren alle Erfahrungen, daß Kredite, passungsprogrammen von IWF und Weltbank gibt es die als unkonditionierte Zahlungsbilanzhilfe ge- keine alternativen Konzepte, so sehr Kritik über die währt werden, wenig Veränderungen in den Empfän- Durchführung der Programme im einzelnen berech- gerländern bewirken. tigt sein mag. Darüber haben wir auch im Zusammen- hang mit der Tagung der Weltbank in Berlin trefflich, Es ist daher in enger Abstimmung mit IWF und aber sehr konstruktiv miteinander gestritten. Ich Weltbank von Fall zu Fall zu entscheiden, wann und in 9992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Jochen Feilcke welchem Umfang neue Kredite zu vertreten sind. einen Ausgleich der Handelsbilanz bzw. auf höhere Patentrezepte gibt es nicht. Handelsüberschüsse, mit denen dann der Schulden- Es muß — das sei abschließend noch einmal dienst geleistet werden kann. Öffentliche Leistungen bemerkt — sichergestellt werden, daß — ebenso wie für Gesundheit, Erziehung und Bildung werden bei der Entwicklungszusammenarbeit insgesamt — gekürzt. Ein Ausgleich findet dann paradoxerweise die Entschuldung im Osten nicht auf Kosten der auch über deutsche Entwicklungszusammenarbeit Länder des Südens gehen darf. statt, z. B. durch Bildungs- und Sozialprodukte. Wir geben mit der einen Hand, was wir mit der anderen Vielen Dank. genommen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der Beitrag der Banken zur Lösung der Schulden- krise ist bis jetzt gering; Kollege Hauchler ist darauf Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das eingegangen. Wort. Ein anderes Verlustgeschäft für den Steuerzahler wie für die armen Länder im Süden und Osten sind die Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hermes - Bürgschaften. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die armen GRÜNEN setzt sich angesichts der katastrophalen Länder des Südens befinden sich in einer Krise, in die Situation in vielen Entwicklungsländern für den wei- nun auch die osteuropäischen Länder abzudriften teren Erlaß von Schulden aus der Finanziellen Zusam- drohen: Sie befinden sich in einer Verschuldungs- menarbeit ein, sofern der Schuldendienst für die krise. Die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und betroffenen Länder unzumutbar ist oder ihre weitere Polen stehen in der Liste der 25 größten Schuldner- Entwicklung behindert. länder inzwischen ganz oben. Zugleich muß sich die Bundesregierung gegenüber Die Bundesregierung hat seit 1978 38 Ländern dem deutschen Steuerzahler in der Pflicht wissen, die Forderungen aus Krediten der finanziellen Zusam- Entschuldung mit solchen Vereinbarungen zu verbin- menarbeit und aus den von der Bundesregierung den, die sichern, daß wirtschaftliche und finanzielle verbürgten Krediten in Höhe von 12,4 Milliarden DM Potenzen, die den Ländern durch die Entschuldung erlassen. Dies entspricht einem Anteil von 5,3 % an zuwachsen, nicht für militärische oder menschen- den gesamten öffentlichen Auslandsschulden, die rechtswidrige Zwecke mißbraucht werden oder einer diese 38 Länder zum Jahresende 1990 hatten, bzw. kleinen Führungsschicht zugute kommen. 3,8 % an ihren gesamten öffentlichen und privaten Schulden. Allein 1991 aber flossen 17,6 Milliarden Wir fordern die Bundesregierung auf, gegenüber DM an Zinsen und Tilgungen an den Bundesfinanz- den Banken darauf zu bestehen, daß wertberichtigte minister zurück. Forderungen auch tatsächlich gestrichen werden, Die internationale Verschuldung der Entwicklungs- und darauf zu achten, daß keine ungerechtfertigten länder für das Jahr 1992 wird auf 1,379 Billionen DM Steuervorteile in Anspruch genommen werden kön- geschätzt. Die Bundesregierung beziffert ihre Forde- nen. rungen aus Entwicklungshilfe und Hermes-Krediten bzw. Bürgschaften auf fast 167 Milliarden DM. Die Insgesamt aber müssen wir gegenüber den Ländern Forderungen deutscher Unternehmen und Kreditin- des Südens und des Ostens zu einer völlig neuen stitute betrugen 1991 insgesamt 170 Millionen DM. Entwicklungszusammenarbeit finden. Wichtiger als Ohne eine weitreichende Reduzierung der Schul- die Vergabe von Krediten an Staaten ist die großzü- denbelastung besteht keinerlei Aussicht, daß die gige Finanzhilfe für kleine Unternehmen, Handwer- Entwicklungsländer aus eigener Kraft jene Abhängig- ker oder Genossenschaften. Hier sollte Deutschland keitsverhältnisse beenden können, unter denen sie künftig den Schwerpunkt der finanziellen Zusam- heute leiden. Der Zwang zum Schuldendienst führt zu menarbeit setzen. Durch langlaufende Kredite mit einer kurzsichtigen, auf quantitatives Wirtschafts- gleitenden Zinsen, die immer deutlich unter denen wachstum gerichteten Politik und behindert eine des Kapitalmarkts liegen, könnte wirkliche Hilfe zur solide und dauerhafte Entwicklung. Selbsthilfe geleistet werden. Im übrigen würde durch eine solche Vergabepraxis auch das Verlustrisiko Seit Beginn der achtziger Jahre haben sich die gesplittet. sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in den am stärksten verschuldeten Ländern der Dritten Welt Von finanziellen Großprojekten zugunsten von — vornehmlich in Afrika und Lateinamerika — erheb- Staaten sollten wir uns nach aller Erfahrung mit deren lich verschlechtert. In den afrikanischen Ländern sank Ineffizienz und unverhältnismäßig hohem Risiko end- die Investitionsquote auf den Stand der sechziger gültig verabschieden. Jahre zurück. Die Reallöhne sind in den am meisten verschuldeten Staaten heute niedriger als 1982. Vor allem wichtig aber ist, daß wir durch eine Angesichts des schwachen wirtschaftlichen Wachs- wirkliche neue Welthandelspolitik allen Ländern den tums hat sich die Arbeitslosigkeit deutlich erhöht. gleichberechtigten Zugang zu allen Märkten ermög- Der Trend, die öffentlichen Ausgaben zu reduzie- lichen. Und wenn schon mit Subventionen, Quotie- ren, wird durch die vom IWF auferlegten Strukturan- rungen und anderen marktfremden Instrumenten passungsprogramme verstärkt. Dabei sind diese Pro- gearbeitet wird, dann hat dies ausschließlich zugun- gramme weder an soziale und politische noch an sten der Entwicklungsländer zu geschehen, nicht aber ökologische Faktoren geknüpft, sondern zielen auf zu deren Lasten, wie dies gegenwärtig die Politik und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9993

Konrad Weiß (Berlin) Praxis der Europäischen Gemeinschaft und Nordame- Vereinbarungen zwischen Schuldnern und Gläubi- rikas ist. gern voraus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir meinen, daß der entscheidende Beitrag zur Erreichung dauerhaften Wachstums von den Schuld- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nerländern selbst geleistet werden muß. Ihre Wirt- hat nunmehr die Abgeordnete Ing rid Walz. schaftspolitik muß den Leistungswillen stärken, sie muß Vertrauen für in- und ausländische Investoren schaffen und den Außenhandel liberalisieren, um Ingrid Walz (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen damit gleichzeitig die Ursachen der Kapitalflucht zu und Herren! Mit ihrer Großen Anfrage hat die SPD- beseitigen. Dies setzt natürlich einen verläßlichen Fraktion ein nach wie vor ernstes internationales Rechtsrahmen, eine funktionierende Verwaltung und Thema aufgegriffen. Sie hat allerdings auch den vor allem eine interne Ersparnisbildung voraus. Dabei untauglichen Versuch unternommen, der Bundesre- helfen wir den Entwicklungsländern, und ich glaube, gierung anzulasten, die Situation in den Schuldner- diejenigen Entwicklungsländer, die sich an diesen ländern durch ungenügende Hilfe und eigene unver- Kriterien orientieren, fahren gut dabei. Denn das antwortliche Schuldenpolitik noch verschärft zu Fehlen dieser Rahmenbedingungen hat viele Länder haben. Meine Damen und Herren, dies ist eine Ver- erst in die Verschuldensfalle geführt. Ich glaube, drehung der Fakten und zeigt ein großes Maß an darüber brauchen wir schon gar nicht mehr zu disku- Unverständnis für finanz- und wirtschaftspolitische tieren. Zusammenhänge. Sich dies in der Situation, in der wir uns jetzt im (Lachen bei der SPD) Hinblick auf MOE und GUS befinden, vor Augen zu Ich bin deshalb der Bundesregierung sehr dankbar. halten, heißt natürlich, daß wir bei den jetzt laufenden Sie versachlicht in ihrer Antwort dieses schwierige Transformationsprozessen in diesen Ländern die Feh- und komplexe Thema und läßt Realismus walten; ler der Vergangenheit vermeiden müssen. Eine neue denn schnelle Erfolge wird es bei der Überwindung internationale Verschuldenskrise wie in den 80er der Schuldenkrise nicht geben. Jahren wäre heute nur schwer zu meistern. (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Es wird schlim Meine Damen und Herren, eindeutig ist auf jeden mer!) Fall, daß die Länder, die entwicklungs- und wachs- Hauptziel muß nämlich sein — und ich glaube, dar- tumsfördernde Rahmenbedingungen gesät haben, über sind wir uns alle einig —, daß alle Anstrengungen jetzt Früchte ernten können. Eine Reihe von Entwick- auf die Beseitigung der Ursachen für die Verschul- lungsländern, insbesondere in Ost- und Südostasien, dung zu richten sind. Das von der SPD ins Auge aber auch in Lateinamerika, verbucht dies mit wirt- gefaßte Szenario — wie Schuldenkonferenz, weitge- schaftlichen Fortschritten und mit wachsendem Wohl- hender Schuldenerlaß oder eine internationale Insol- stand ihrer Bürger. Aber die Lage in Afrika — und um venzregelung — ändern nichts an den Mißständen in die handelt es sich doch im Grunde genommen, und den Schuldnerländern, d. h. an den Ursachen der das muß man immer wieder ansprechen —, vor allem Verschuldung. südlich der Sahara, gibt natürlich weiterhin Anlaß zu Eine internationale Insolvenzregelung ist schon großer Besorgnis. Für die Zuspitzung der Situation in deshalb illusorisch, meine Damen und Herren, weil diesen Ländern — und das wissen wir auch, waren die Schuldnerländer einen wesentlichen Souveräni- neben soziokulturellen Faktoren vor allem das unge tätsverzicht leisten müßten, und ich fürchte, lieber bremste Bevölkerungswachstum, ineffiziente Staats- Herr Kollege Hauchler, dazu sind die meisten nicht wirtschaften, ausufernder Bürokratismus und Korrup- bereit. tion verantwortlich. Leider bekennen sich viele Län- Schuldig geblieben ist die SPD auch die realistische der Afrikas erst heute zur Marktwirtschaft und damit Antwort, wie ein weltweit niedriges Zinsniveau zu den entscheidenden Voraussetzungen für die durchgesetzt und die Kapitalflucht verhindert werden Überwindung ihrer hausgemachten wirtschaftlichen kann. Ihre Rezepte setzen auf staatliche Reglementie- und sozialen Probleme, wobei ich unsere Verantwor- rung und auf die Beschränkung des freien Kapital- tung dafür überhaupt nicht verdrängen will. marktes. - Meine Damen und Herren, nicht nur Hilfen bei den (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Im Gegen schwierigen Strukturanpassungsprozessen der klassi- teil!) schen Entwicklungsländer sind gefragt, sondern auch Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Unterstützung der Reformanstrengungen der diese Zeiten sind vorbei! Die SPD sollte sich deshalb Staaten Mittel- und Osteuropas. Wir haben dort eine von der ihr angelasteten Formel freimachen, Soziali- ähnliche Situation wie in vielen Entwicklungsländern. sten hätten schon immer eine Vorliebe dafür gehabt, Es fehlen die Rahmenbedingungen, es fehlen die das Geld anderer Leute zu verteilen. geeigneten Modernisierungsansätze. An multilatera- ler und bilateraler Hilfe fehlt es nicht so sehr, schon (Widerspruch bei der SPD) eher an einer verläßlichen gemeinsamen S trategie der Meine Damen und Herren, worum geht es wirklich? Geber und der Nehmer. Allerdings wissen wir inzwi- Es geht darum, Strategien zur Lösung der Verschul- schen auch, daß Marktwirtschaft, daß Privatwirtschaft dungsprobleme zu entwickeln, die in den Schuldner- nicht einfach durch das Öffnen von Türen erreicht ländern dauerhaftes Wachstum bei wirtschaftlicher, werden kann, sondern eher durch Einsicht und Bera- finanzieller und sozialer Stabilität ermöglichen. Dies tung, vor allem aber durch Überwindung verkrusteter setzt einzelfallgerechte Lösungen auf der Basis von Strukturen und Privilegien. Marktwirtschaft will 9994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Ingrid Walz gewollt und gelernt sein. Dem muß unsere vorrangige Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Hilfe gelten. Im ersten Überschwang der Hilfsbereit- dent! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Internatio- schaft haben wir leider dieses eherne Gesetz verges- nale Verschuldungskrise, wirtschaftliche Strukturan- sen. Dies könnte uns nun Milliarden kosten. passung, Dritte Welt, Osteuropa. — Allein diese Auf- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Deshalb ist die zählung verrät, daß es sich hierbei um brisante, SPD ein so schlechter Ratgeber!) hochaktuelle nationale wie globale Probleme han- delt. Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den Hilfen für die Schuldnerländer — und dies ist leider Unbestritten ist, daß sich die Mehrzahl der L ander bisher unter den Tisch gefallen —: Die Entwicklungs- des Südens spätestens seit 1982 in einer schier aus- länder erhielten von den Gläubigerstaaten Zahlungs- weglosen Verschuldungsklemme, einer Krise, befin- erleichterungen für Zins- und Tilgungsverpflichtun- det. Ebenso unbestritten ist die äußerst angespannte gen in Höhe von 200 Milliarden US-Dollar und dar- wirtschaftliche und soziale Lage in Ost- und Südost- über hinaus erhebliche Nettokapitalzuflüsse, davon europa. Es ist nur logisch, daß ein Ausweg aus der allein im Rahmen des Pariser Clubs rund 100 Milliar- entstandenen Lage gesucht und gefunden werden den US-Dollar im Jahr 1991 und rund 135 Milliarden muß, wenn diese Krise nicht eskalieren soll. US-Dollar im Jahr 1992. Osteuropa wurden 140 Mil- Betrachtet man nun die Antwort der Bundesregie- liarden US-Dollar gewährt. rung, muß man konstatieren, daß eine wirklich Große Vor allem die Bundesregierung hat sich an der Anfrage eine eher kleine Antwort erfahren hat. Weiterentwicklung der internationalen Schulden strategie aktiv beteiligt und einen beachtlichen Bei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) trag zur Milderung der Finanzprobleme verschuldeter Dabei möchte ich die Mühe und den Fleiß der daran Lander geleistet. Seit 1978 hat die Bundesregierung Beteiligten in keiner Weise schmälern. Wenn man aus Krediten der FZ und aus verbürgten, garantierten jedoch die entwicklungspolitische Lyrik der Bundes- Krediten 12,4 Milliarden DM erlassen. Ein weiterer regierung ausklammert, lassen sich, wie mir scheint, Schuldenerlaß für verbürgte, garantierte Handelsfor- folgende Hauptaussagen treffen: derungen in Höhe von 2,6 Milliarden DM wurde im Rahmen der zweiten Stufe der Sonderumschuldungs- Erstens. Die Verschuldungsprobleme der Dritten vereinbarungen mit Polen und Ägypten ab 1992 Welt und Osteuropas werden nach Auffassung der zugesagt. Ein weiterer Erlaß von Entwicklungshilfe- Bundesregierung überbewertet. forderungen bis zu 1,65 Milliarden DM für weitere Zweitens. Die internationale Schuldenstrategie ärmere Länder wird gegenwärtig geprüft. Einer bzw. die sogenannte verstärkte Schuldenstrategie hat Gruppe von Ländern soll im Pariser Club zu konzes- sich bewährt. Sie ist auf Schulden- und Zahlungser- sionären Umschuldungsbedingungen weiterhin Schul- leichterung ausgerichtet. denerleichterung gewährt werden. Dies müssen wir zur Kenntnis nehmen. Es ist eine gewaltige Anstren- Drittens. Hauptziel dieser vielbeschworenen Schul- gung auch des deutschen Steuerzahlers. denstrategie ist die Wiederherstellung der Schulden- dienstfähigkeit und Zahlungsfähigkeit der Verschul- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) deten. Meine Damen und Herren, wir sind der Auffassung, (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. In daß eine Fortsetzung der einzelfallgerechten interna- gomar Hauchler [SPD]: Damit sie sich neu tionalen Schuldenstrategie in Verbindung mit Schul- verschulden!) denerleichterungen sowie strukturellen Anpassungs- und Reformanstrengungen in den Entwicklungslän- Viertens. Die Strukturanpassungsprogramme des dern zur Überwindung der Verschuldungsprobleme IWF und der Weltbank werden insgesamt als erfolg- und zur makroökonomischen Stabilisierung unver- reich eingeschätzt. zichtbar ist. Wir stützen dabei — und das wissen Sie Fünftens. Hauptursachen für Verschuldungsproble- auch — die Strukturanpassungsprogramme von IWF me der Entwicklungsländer sind die unterlassenen und Weltbank mit beachtlichen Leistungen in der strukturellen Anpassungsprogramme, eine fehlgelei- Strukturhilfe. Diese Summen haben wir noch nicht tete Wirtschaftspolitik, die Unterschätzung wachsen- einmal dazugezählt. - der Schuldendienstleistungen sowie starke weltwirt- Wir erwarten aber, daß die Bundesregierung hierzu schaftliche Verwerfungen. Die Bundesregierung ist weiterhin ihren Beitrag leistet und gleichzeitig alles der Meinung, daß die hohe Verschuldung dem Ver- unternimmt, um endlich einen erfolgreichen Abschluß antwortungsbereich der Entwicklungsländer zuzu- der Uruguay-Runde des GATT zu erreichen. Denn, rechnen ist. meine Damen und Herren — das stimmt natürlich auch —: Die beste Hilfe ist die Selbsthilfe, und eigene Sechstens. Die Industrieländer haben stets ihre Devisen müssen das Geld der anderen ersetzen. Mitverantwortung für die Lösung der Verschuldungs- probleme anerkannt und sind dieser Verantwortung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — u. a. durch die Unterstützung wirtschaftlicher Refor- Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Purer Man- men, Schuldenerleichterung gerecht geworden. chester-Liberalismus! — Zuruf von der SPD: Eine Rede aus dem vorigen Jahrhundert!) Meine Damen und Herren, wie kann die Bundesre- gierung von einer unsachgerechten Überbewertung der Verschuldungsprobleme durch die Initiatoren der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Großen Anfrage sprechen, wenn selbst aus ihren hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Fischer. eigenen Anlagenübersichten hervorgeht, daß sich die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9995

Dr. Ursula Fischer Gesamtauslandsverschuldung der Entwicklungslän- Alle diese Aussagen erinnern mich in fataler Weise der innerhalb eines Jahrzehnts fast verdoppelt hat! an die Geschichte von dem geizigen Müller, der seinem Esel beibringen wollte, ohne Futter auszu- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Sehr kommen. Er reduzierte dem Tier die Futterration wahr!) jeden Tag um die Hälfte. Doch gerade als der Esel

Der UNO - Generalsekretär spricht in seiner „Agenda anfangen sollte, von nichts zu leben, verstarb er aus für den Frieden" von erdrückenden Schuldenlasten. unerklärlichen Gründen. Für die Bundesregierung aber existiert eine Verschul- Zum wiederholten Male fordern wir die Bundesre- dungskrise dieser Länder nicht. Die Anfrage der SPD gierung auf, sich den Ursachen für Verschuldungs- ist somit gegenstandslos. krise, für Massenarmut und Not in den Ländern der (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Vogel-Strauß Dritten Welt zuzuwenden. Erst dann wird es möglich Politik!) sein, Strategien zu entwickeln, die zu grundlegend positiven Veränderungen führen. Wir fordern die Entsprechend ist auch das Verhalten der Regierung. Bundesregierung auf, spätestens auf dem nächsten Natürlich kann niemand den Entwicklungsländern Weltwirtschaftsgipfel im Juli 1993 in Tokio ein tat- die Verantwortung für ihre Entwicklung abnehmen. sächlich die Entwicklung förderndes und solidari- Aber es ist eine irrige Annahme, so zu tun, als ob sches Konzept zur Überwindung der Verschuldungs- wirtschaftliches Wachstum und Öffnung der Märkte krise vorzulegen, das im übrigen die Entschuldung der Industrieländer es diesen Ländern — wie es in der der Länder Osteuropas einschließt. Antwort heißt — ermöglicht, mit eigenen Ressourcen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. effizient zu wirtschaften und den Menschen Raum für die Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte zu geben. (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der Die Länder des Südens sind und bleiben angesichts SPD) des sich ausweitenden Entwicklungsgefälles auf den sich öffnenden Weltmärkten — falls dieses denn Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile geschieht — immer die Schwächeren, die Unterlege- nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Jo- nen. Sie büßen auf Konkurrenzmärkten ein. achim Grünewald das Wort. Damit ich nicht mißverstanden werde: Wir sind selbstverständlich für den Abbau aller Restriktionen Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär beim im Welthandel. Wir sind auch für Anpassung, und Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine zwar für die Anpassung der weltwirtschaftlichen sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregie- Bedingungen an die Erfordernisse der Entwicklungs- rung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage die länder. Die Strukturanpassungspläne dürfen nicht Hintergründe der Schuldenkrise, aber auch ihre bis- dem Diktat des IWF und der Weltbank unterliegen herige Entwicklung ausführlich dargestellt. Sie hat und nicht auf Kosten der Ärmsten der Armen erfol- damit einem Informationsbedürfnis einer breiten gen. Öffentlichkeit — wie ich aus vielen Zuschriften vor allem engagierter junger Leute weiß — Rechnung Die Antwort der Bundesregierung ist ein eindeuti- getragen. Das ist keine — wie Sie meinten, Herr ger Beweis für das eigentliche Motiv der internationa- Hauchler — verharmlosende Darstellung, sondern das len Schuldenstrategie. Das internationale Kapital will ist eine objektive Darstellung der Verhältnisse. Ich den Schuldnern auch in der Zukunft eine solche bedanke mich ganz ausdrücklich bei der Kollegin wirtschaftliche Strukturanpassung verabreichen, da- Frau Walz und dem Kollegen Herrn Feilcke, die auf mit ihre Schuldendienst- und Zahlungsfähigkeit ver- die Qualität dieser guten Dokumentation hingewie- bessert werden. Mit anderen Worten: Nicht etwa die sen haben. Überwindung der Verschuldungskrise, Hilfe zur (Beifall bei der CDU/CSU und der Abgeord Selbsthilfe und Befriedigung der Grundbedürfnisse neten Ingrid Walz [F.D.P.] — Dr. Ingomar von Menschen, sondern die weitere Sicherung der Hauchler [SPD]: Da steckt sehr viel Fleiß Schuldendienstfähigkeit steht im Mittelpunkt dieser drin; das stimmt!) von Profiterwirtschaftung bestimmten Strategie. Für treffend halte ich eine Bemerkung Henry Kissingers, Es ist nunmehr zehn Jahre her, seit sich Mexiko und die sich auf die Gefahren der politischen Destabilisie- bald darauf eine zunehmende Zahl anderer Länder - rung durch IWF-Auflagen bezieht: Die Kur ist schlim- außerstande sahen, fällige Schulden in vollem mer als die Krankheit. Umfang zu bedienen. Inzwischen sind bei einer gro- ßen Anzahl von Entwicklungsländern — das läßt sich Meine Damen und Herren, Sie werden von uns doch gar nicht leugnen, Herr Hauchler — deutliche nicht erwarten können, daß wir eine solche Strategie Fortschritte bei der Überwindung der Schuldenpro- mittragen. Wir lehnen sie rundweg ab. bleme festzustellen. Es ist schon bedauerlich, daß die Bundesregierung Die Gläubiger haben Ins trumente und Verfahren eine Schuldenstrategie als „bewährt" qualifiziert, die entwickelt, die geeignet sind, den Weg zu einer es ermöglicht hat, daß aus Entwicklungsländern in umfassenden Lösung für die Zukunft zu ebnen. Daß den zehn Jahren seit 1982 laut ihren eigenen Angaben das nicht von heute auf morgen geht, wissen wir doch mehr als 1,5 Billionen US-Dollar an effektiven Zins- alle miteinander. und Tilgungszahlungen herausgepumpt werden. Allerdings bedarf es dazu auch der Mithilfe der Diese Ausbeutung der Schuldnerländer soll durch Schuldnerländer. Sie müssen konsequent die not- sogenannte Strukturanpassungsmaßnahmen nun- wendigen wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen mehr effektiviert werden. durchführen. Gleichzeitig müssen aber auch die Indu- 9996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald strieländer — das betone ich mit großem Nachdruck — Die Schuldenerlaßmaßnahmen der Regierungen ihrer- besonderen Verantwortung für entwicklungs der westlichen Gläubigerländer werden insbeson- und wachstumsfördernde wirtschaftliche Rahmenbe- dere Ländern in Afrika, aber auch einigen besonders dingungen gerecht werden. armen Ländern im lateinamerikanischen Raum wie Bolivien und Nicaragua zugute kommen. Diese Erlaß (Zuruf von der SPD: Wie in Uruguay!) maßnahmen können nach einer Bewährungszeit von In Lateinamerika konnten Länder wie Mexiko, etwa drei Jahren jetzt auch auf den gesamten Schul- Chile und Argentinien, die ihre wirtschaftlichen denstand angewandt werden und nach dem Vorbild Strukturanpassungsmaßnahmen mit einer Reduzie- der Vereinbarungen mit Polen und Ägypten zu einer rung der Bankenschulden verbinden, erneut Zugang großzügigen abschließenden Schuldenregelung füh- zu internationalen Kapitalmärkten finden, das Ver- ren. trauen privater Investoren wiedergewinnen und so Diese Schuldenerleichterungen — mögen sie auch ihre Wachstumsaussichten verbessern. Auch andere noch so weitgehend sein — können aber weder allein hochverschuldete L ander wie Nigeria und die Philip- noch in Verbindung mit den öffentlichen Entwick- pinen konnten sich mit den Banken auf umfassende lungshilfeleistungen das bewirken, was die Entwick- Pakete zur Schuldenreduzierung einigen. Jetzt stehen lungsländer brauchen, nämlich anhaltende und pro- die Verhandlungen Brasiliens kurz vor dem Abschluß. duktive Investitionen und ein dauerhaftes wirtschaft- Damit hat der überwiegende Teil des Problems der liches Wachstum. Beides ist nur zu erreichen, wenn riedigende Regelung gefun- Bankenschulden eine bef die Entwicklungsländer selbst eine gute Wirtschafts- den. politik betreiben. Für weitere Länder wie Polen, Ecuador, Bulgarien, Aus den Erfahrungen wissen wir doch — Frau Walz, Peru stehen die Schuldenreduzierungsmöglichkeiten Sie haben schon darauf hingewiesen —, daß sich eine weiterhin offen. konsequente wirtschaftliche Anpassungspolitik aus- Für die ärmsten Länder, die vor allem bei den zahlt. Länder, die eine solche bet rieben haben, weisen öffentlichen Gläubigern verschuldet sind, hat der höhere Wachstumsraten auf. Zur Unterstützung der Pariser Club recht weitgehende Möglichkeiten zu Eigenanstrengungen stehen den Entwicklungslän- Schuldenerleichterungen und Schuldenerlassen ge- dern breitgefächerte und laufend angepaßte Hilfsin- schaffen. Diese Länder können nunmehr im Rahmen strumente der internationalen Finanzinstitutionen zur der multilateralen Umschuldungsvereinbarungen Verfügung. mit einem Erlaß von Forderungen bis zu 50 % rech- Die internationale Diskussion der letzten Jahre nen. zeigt uns: Eine rasch wachsende Zahl von Entwick- (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Für drei lungsländern versteht, daß sie zur Erweiterung ihres Jahre!) wirtschaftlichen Spielraums vor allem eine marktwirt- schaftlich orientierte Politik betreiben, den Privatsek- Acht Ländern wurden diese Konditionen bereits ein- tor stärken, verläßliche Rahmenbedingungen für aus- geräumt. Entsprechend den Empfehlungen auf dem ländische Investoren schaffen und inländische Erspar- Wirtschaftsgipfel in München wird der Pariser Club nisse für Investitionen im Inland mobilisieren müs- bei künftigen Umschuldungen nunmehr auch die besondere Lage einiger hochverschuldeter Länder sen. mit niedrigem mittleren Einkommen im Hinblick auf Die Entwicklungsländer, Herr Professor Hauchler, zusätzliche Schuldenerleichterungen prüfen. brauchen ganz einfach auch Exportmärkte — anders, Zusätzlich zu diesen multilateral koordinierten als Sie das soeben meinten —, auf denen sie ihre Schuldenerleichterungen erfahren die Entwicklungs Produkte auch verkaufen können. Das Gewicht länder spürbare finanzielle Entlastungen durch bila- zusätzlicher Exporterlöse kann weitaus größer sein, terale Maßnahmen. Hier darf ich besonders auf die als die finanziellen Hilfen der Industrieländer und der internationalen Finanzinstitutionen. Eine Öffnung der bilateralen Schuldenerlasse der öffentlichen Gläubi- ger bei den Krediten aus der Entwicklungshilfe hin- Märkte der Industrieländer u. a. für Güter des weisen, aber auch auf die Schuldenumwandlungen, gewerblichen, aber auch und insbesondere — ich die immer auch mit Erlaßelementen verbunden sind. betone dies — des agrarischen Bereichs erwartet die Bundesregierung von einem guten Abschluß der Uru- So wurde beispielsweise noch gestern mit dem- König- reich Marokko eine neue — es war die sechste — guay-Runde. Umschuldungsmaßnahme vereinbart. Es darf auch Dabei wissen wir natürlich, daß gestern der Agrar- noch einmal erwähnt werden — ergänzend zu den kommissar und der amerikanische Minister erfolglos Zahlen, die Sie schon vorgetragen haben, Frau Kolle- auseinandergegangen sind. Aber wir werden alles gin Walz —, daß wir immerhin an Entwicklungshilfe- daransetzen, daß noch in diesem Jahr die Uruguay krediten schon 9 Miliarden DM erlassen haben bzw. in Runde zu einem erfolgreichen Abschluß geführt wer- Aussicht genommen haben, sie zu erlassen. den kann. Auf Ihre Forderung, Frau Walz, verspre- Für das Haushaltsjahr 1993 hat die Bundesregie- chen wir Ihnen, daß sich die Bundesregierung mit rung zusätzlich vorgesehen, auf Zins- und Tilgungs- allen verfügbaren Mitteln dafür einsetzen wird. leistungen in einer Größenordnung von 50 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) DM — insbesondere zugunsten von Umweltschutz- projekten — zu verzichten. Herr Hauchler, da kann Die 90er Jahre sind durch den Zusammenbruch der man doch nicht sagen, wir redeten immer nur, wir zentral gelenkten Kommandowirtschaften in den mit- handelten überhaupt nicht. tel- und osteuropäischen Staaten und den neuen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 5. November 1992 9997

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, inzwischen auf 174 Milliarden US-Dollar angestiegen. also der GUS, geprägt. Zum Vergleich: Als 1982 das sogenannte westliche In vielerlei Hinsicht haben die kommunistisch Krisenmanagement — so wurde das von Ihnen darge- sozialistischen Diktaturen Verhältnisse und Probleme stellt — zur Lösung des Verschuldungsproblems ein- hinterlassen, die denen der Entwicklungsländer ähn- setzte, beliefen sich in denselben Ländern die Ver- lich bzw. vergleichbar sind. Insofern gilt auch für die bindlichkeiten auf 73 Milliarden US-Dollar. Das heißt: Hilfen an die Länder Mittel- und Osteuropas und für In zehn Jahren sogenannten Krisenmanagements ist die Hilfen an die GUS, daß sie nur Hilfen zur Selbst- eine Steigerung um 100 Millionen US-Dollar eingetre- hilfe sein können. Den entscheidenden Beitrag für ten. wirtschaftliches Wachstum müssen auch diese Länder Als Indikator für das Ausmaß der Verschuldung der selbst leisten. Länder Subsahara-Afrikas ist ein Vergleich mit ihren Die Bundesregierung wird trotz der hohen finanzi- Exporterlösen — die Sie ausdrücklich angesprochen ellen Lasten für die Beseitigung der Schäden, die uns haben — sehr aufschlußreich. Der Anteil des Schul- der Sozialismus in den neuen Ländern hinterlassen dendienstes an den Exporterlösen hat sich in den 80er hat, auch in Zukunft ihrer Verantwortung für die Jahren deutlich erhöht. 1989 lag er im Durchschnitt Entwicklungsländer nachkommen und darüber hin- bei etwa 25 %, also fast doppelt so hoch, wie die unter aus ihren Beitrag zur Unterstützung des Transforma- ökonomischen Gesichtspunkten — ich hoffe, hier tionsprozesses im Osten leisten. stimmen wir überein — zumutbare Obergrenze von Wir betreiben also nicht eine Politik des „entweder 13 %. oder", sondern eine Politik des „sowohl als auch". Wir erwarten allerdings auch, daß sich die anderen west- Dies hat zur Folge, daß die meisten Länder Subsa- lichen Länder im Rahmen eines fairen und gerechten hara-Afrikas ihren Schuldendienst nur noch sehr „burden-sharing" an diesen schweren Lasten beteili- eingeschränkt, d. h. im Schnitt etwa mit 40 % der gen. vertraglich fälligen Zins- und Tilgungsleistungen, leisten können. Das ist ein Punkt. Das ist Faktum. Das Schönen Dank. ist nicht zu bestreiten. Das ist auch auf Grund Ihres (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Materials nicht zu bestreiten. (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Das ist die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Wahrheit!) hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Günther Toete- meyer. Zweiter Punkt: Verhältnis des Schuldenstandes zum Bruttosozialprodukt. 1989 erreichten die gesam- ten Auslandsschulden Subsahara-Afrikas im Durch- Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Herr Präsident! schnitt 110 % des Bruttosozialprodukts. Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! An einer Stelle, Herr Staatssekretär Grünewald, stimme ich Ihnen zu. Ich nenne Ihnen ein Beispiel — Herr Kollege Schu- Das Mate rial, das uns die Bundesregierung zur Ver- ster wird sich freuen —: Die Auslandsschulden Tansa- fügung gestellt hat, ist umfangreich und gut und läßt nias betrugen 1980 etwa 50 % des BSP, im Jahr 1989 eine Menge Schlüsse zu. Ich bitte aber um Verständ- 186 % des BSP. Das sind erschütternde Zahlen. Das nis, daß ich zu anderen Konsequenzen komme als kann man nicht aus eigener Kraft verändern. Diese sie. Entwicklung hat sich im letzten Jahrzehnt, wie ich Das Material beweist nach meiner Auffassung ein- dargestellt habe, dramatisch verändert. deutig, in welch dramatischer Weise sich im letzten Die Bundesregierung weist in ihrem Be richt darauf Jahrzehnt trotz aller von ihnen dargestellten Maßnah- hin — ich zitiere —, daß in den Dürregebieten im men die Verschuldungskrise zugespitzt, nicht aber südlichen und östlichen Afrika für das kommende abgenommen hat. Viele Länder der Dritten Welt sind Jahr mit einem weiteren Rückgang des Bruttosozial- in eine Schuldenfalle geraten, aus der sie sich aus produkts um 0,5 %, in Einzelfällen sogar um bis zu eigener Kraft, auch wenn sie wollten, überhaupt nicht 10 % zu rechnen ist. Anders ausgedrückt: Die Schere mehr befreien können, verehrte Kollegin Walz. zwischen Verschuldung und Bruttosozialprodukt öff- (Beifall bei der SPD — Ingrid Walz [F.D.P.]: net sich immer weiter. Die wirtschaftliche Entwick- Aber wir helfen ihnen doch! Das ist doch der- lung wird dadurch noch stärker gebremst. Das heißt, Unterschied! — Johannes Gerster [Mainz] Herr Staatssekretär, die Länder südlich der Sahara [CDU/CSU]: Das ist wie im Saarland!) sind nicht nur verschuldet, sie sind hoffnungslos Ich will das an Fakten deutlich machen. In Afrika, überschuldet. speziell in den Ländern südlich der Sahara, sind die (Beifall bei der SPD) letzten zehn Jahre — ich sage das mit aller Deutlich- keit — ein verlorenes Jahrzehnt gewesen. Der Welt- Die Folgen des zu hohen Schuldendienstes sind näm- entwicklungsbericht der Weltbank beweist, daß es lich, volkswirtschaftlich gesehen, ein Ausbluten und insgesamt 41 hochverschuldete Länder mit niedrigen ein Niedergang ihrer Wirtschaften. Einkommen gibt. Herr Staatssekretär, für mich ist die Frau Kollegin Walz, ich weiß gar nicht, wie Sie da Tatsache alarmierend, daß 24 dieser Länder — Sie ansetzen wollen. Sie sagen immer sehr einfach: Hilf haben kein einziges erwähnt, auch nicht bei den dir selbst, dann hilft dir Gott. Das funktioniert nicht. positiven Beispielen — in der Subsahara-Region lie- gen. Die Gesamtverschuldung der Länder südlich der (Ingrid Walz [F.D.P.]: Ich bitte nur um Diffe Sahara ist entsprechend dem Bericht der Weltbank renzierungen!) 9998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Hans-Günther Toetemeyer Die zunehmende Verarmung und das immer größer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort werdende Heer von Unterernährten steht in einem hat nunmehr der Abgeordnete Hansgeorg Hauser aus direkten Zusammenhang mit den Schuldendienstbe- Rednitzhembach. lastungen. Wir müssen auch auf der Grundlage aller (Detlev von Larcher [SPD]: Hans, denk an Daten, die die Bundesregierung geliefert hat, erken- deine Freunde in Nicaragua!) nen, daß die bisher entwickelten Verfahren zur Schul- denreduzierung das Problem eben nicht gelöst haben. Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und (Ingrid Walz [F.D.P.]: Aber viele Länder Herren! Die Auskunft der Bundesregierung ist nicht beweisen das heute!) nur eine Fleißarbeit, sondern die zusammenfassende Von daher müssen wir zu neuen Methoden kom- Feststellung, daß sich die internationale Schulden men. Aber hier möchte ich zum Ausdruck bringen strategie bewährt hat. Dies ist beruhigend, was nichts — auch das ist in den Reden soeben angeklungen, mit Verharmlosung zu tun hat, verehrter Herr Kollege sowohl in der der Kollegin Walz als auch in der des Hauchler. Herrn Staatssekretärs —, daß der Schuldenerlaß Das internationale Schuldenmanagement hat eine immer mit den Strukturanpassungsprogrammen der Reihe von Instrumenten entwickelt, die in vielen Weltbank verbunden sein muß. Ich zitiere: Entwicklungsländern — insbesondere in Ost- und Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Südostasien, aber vor allem auch in Lateinamerika — Strukturanpassungsprogramme, die in Zusam- deutlich dazu beigetragen haben, daß sich die Situa- menarbeit mit dem Internationalen Währungs- tion verbessert oder zumindest Ansätze dafür zu fonds und der Weltbank formuliert und umgesetzt finden sind, daß die Verschuldungskrise bewältigt werden, einen unverzichtbaren Beitrag zur werden kann. Lösung der Verschuldungsprobleme leisten. Lassen Sie mich dafür als ein Beispiel das Land Mexiko herausgreifen, das sich von einem nicht mehr Wie falsch die Bundesregierung mit dieser Auffas- kreditwürdigen Land zu einem der Wachstumsländer sung liegt, wurde schon vom Kollegen Hauchler Lateinamerikas entwickelt hat. Dafür waren aller- dargestellt. Alle Experten bei unserer durchgeführten dings ganz einschneidende Maßnahmen notwendig. Anhörung haben bestätigt, daß es ein Scheitern der bisherigen Strukturanpassungsmaßnahmen gegeben (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Sie haben das hat und daß im Gegenteil diese Strukturanpassungs- Tafelsilber versilbert!) maßnahmen — ich bin nicht gegen Strukturanpas- Mexiko hat bestätigt, daß die Industrieländer hier sungsmaßnahmen — die Länder nur noch tiefer in die nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten können, indem sie die Schuldenfalle hineingetrieben haben. Das ist doch Schulden stunden oder in vertretbarem Maß erlassen. einfach so. Die eigentlichen Gesundungsmaßnahmen muß das (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Andere Exper Land selber bringen. In Mexiko wurde dies erreicht, ten wurden doch gar nicht eingeladen!) indem staatliche Betriebe privatisiert — also verkauft wurden, Geld gebracht haben —, eine strikte Haus- Das heißt, ein sinnvolles Entschuldungskonzept haltssparpolitik betrieben und eine Ausweitung der kann nur dann greifen, wenn es von grundlegenden Besteuerungsgrundlagen eingeführt wurde, so daß strukturellen Veränderungen im Bereich des Welt- ein Teil der Schattenwirtschaft in den Bereich der handels und der Weltfinanzen begleitet wird. Sonst Staatseinnahmen einbezogen werden konnte. Das funktioniert es nicht. Land ist heute wieder kreditfähig und gehört zu den (Beifall bei der SPD) hoffnungsvollsten Ländern Lateinamerikas, insbeson- dere natürlich durch die Bildung des gemeinsamen Marktes mit den USA und Kanada. Da die Anfrage auch die wirtschaftliche Struktur- Verehrter Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: anpassung in Osteuropa betrifft, möchte ich mich auf Kollege Toetemeyer, als erfahrener Schriftführer wis- diesen Punkt konzentrieren. In der Tat gibt es eine sen Sie, daß das rote Licht, das seit geraumer Zeit Sondersituation in den Nachfolgestaaten der ehema- aufleuchtet, nicht ganz ohne Sinn ist. Ich wäre Ihnen ligen Sowjetunion, den baltischen Staaten und den dankbar, wenn Sie das berücksichtigen würden. Staaten Mittelosteuropas. -

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Herr Präsident, geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu als ein so erfahrener Mann komme ich zum letzten beantworten? Satz.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Er hält das für Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): einen Sympathiebeweis des Präsidenten!) Ich möchte keine Zwischenfrage beantworten, lieber Hierzu zähle ich primär den Abbau von Handels- Herr Kollege von Larcher. schranken der Industrieländer. Verehrter Herr Staats- Die Auslandsverschuldung hat hier andere Ursa- sekretär, da ist das Beispiel GA TT von gestern wirk- chen als in den Entwicklungsländern. Allerdings lich kein Hoffnungszeichen. — das möchte ich ausdrücklich betonen — verkennt (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und die SPD die Lage völlig, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Unglaublich!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 9999

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) wenn sie davon spricht, daß sich im Übergang zu den men? Aus der Erdöl- und Erdgasindustrie als wichtig- 90er Jahren der offene Ausbruch einer umfassenden ster Exportindustrie? Die Gewinnung geschieht offen- sozialökonomischen Krise in den ehemaligen kommu- sichtlich so ineffizient, daß die Produktionskosten ein nistischen Ländern Osteuropas ereignet hat. Sie führt Mehrfaches des westlichen Niveaus erreichen. Für in ihrer Anfrage aus, daß auch hier eine hohe Aus- neue Importe fehlen deshalb die entsprechenden landsverschuldung die ökonomische Entwicklung Devisenerlöse, so daß auch hier wieder nur der behindere. Offensichtlich hat m an hier Ursache und Kreditweg möglich ist. Wirkung verwechselt. Die schlechte Versorgungslage zwingt jedoch dazu, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß nicht die dringend notwendigen Investitionsgüter beschafft werden, sondern vor allem die überlebens- Ausgangspunkt für die Notwendigkeit einer wirt- notwendigen Ernährungsgüter, Medikamente und schaftlichen Strukturanpassung in diesen Ländern ist Rohstoffe. So ist es nicht verwunderlich, daß beispiels- der Bankrott des Sozialismus und Kommunismus. weise auf der einen Seite der Rahmen der Hermes (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kreditbürgschaften für Investitionsausrüstungen um Der Zusammenbruch der zentral gelenkten Komman- ein Mehrfaches überzeichnet ist, andererseits tatsäch- dowirtschaft bringt nun für diese Länder gewaltige lich nur etwa drei Viertel des Bürgschaftsrahmens zur Probleme in der Umstrukturierung. Zeit ausgeschöpft werden. Der erwünschte Ausweg aus der Verschuldungssi- Der Transformationsprozeß, wie wir das so techno- tuation könnte die Forcierung der westlichen Direkt- kratisch nennen, ist aber nicht nur ein organisatori- investitionen sein. Hier sind wir in der höchsten sches Problem. Prioritätsstufe. Aber die Kooperation in Form von (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: In welcher Zeit Joint-ventures kranken noch in vielen Bereichen, leben Sie denn?) insbesondere auf Grund der mangelnden gesetzli- Das neue Denken, lieber Herr Kollege Hauchler, so chen Grundlagen. Der Erwerb von Grund und Boden haben wir bei einem Besuch der Delegation des ist grundsätzlich ausgeschlossen. Wirtschaftsausschusses in Moskau und Kiew offen zu Was bei unserem Besuch als größtes Hindernis hören bekommen, ist nur schwer und langsam durch- bezeichnet wurde, ist die mangelnde Flexibilität einer zusetzen. Das können Ihre Kollegen, die dabei waren, solchen Kooperation. Die staatlichen Lenkungsor- ausdrücklich bestätigen. gane behindern durch ihre zahlreichen bürokrati- schen Eingriffe die marktwirtschaftliche Handlungs- In vielen Schaltstellen von wichtigen Institutionen fähigkeit der Betriebe. Die Demokratisierung hat hier und Verwaltungen herrschen nach wie vor Funktio- nicht nur positive Elemente gebracht. näre des kommunistischen Regimes der früheren Sowjetunion, die die Sehnsucht nach vorgestern offen pflegen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Hauser, Herr Abgeordneter Penner (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Meinen Sie möchte wissen, ob Sie eine Zwischenfrage beantwor- Boris Jelzin?) ten wollen. Bei allen Diskussionen, wie die wirtschaftlichen Probleme bewältigt werden können, wird vorange- Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): stellt, daß zunächst einmal eine vernünftige Versor- Bitte. gung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Medika- menten und anderen dringend notwendigen Dingen Dr. Willfried Penner (SPD): Herr Kollege, ist Ihnen des täglichen Bedarfs sichergestellt werden muß; bei Ihrer Rede eigentlich bewußt, daß sich die CSU denn sonst könnte der bereits vorhandene soziale noch auf einen Stimmenanteil von 38 % stützen Zündstoff zur Explosion kommen. kann? Niemand wagt, eine Prognose über die Leidensfä- higkeit der Bevölkerung abzugeben. Was es gerade Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): für uns bedeutet, wenn man die sozialen Schwierig- Herr Penner, ich weiß nicht, woher Sie solche Infor- keiten nicht in den Griff bekäme und damit der mationen haben. Das ist eine vollkommen unnötige Demokratisierungsprozeß gestoppt werden würde,- Zwischenfrage gewesen. Ich bedaure, daß ich sie braucht man nicht besonders zu betonen. Wir wären in zugelassen habe. besonderem Maß die Leidtragenden eines Fehlschla- (Heiterkeit) ges dieser politischen und wirtschaftlichen Reformen Ein weiteres großes Hemmnis in der wirtschaftli- in den östlichen Nachbarländern. chen Entwicklung stellt die zunehmende Konfronta- Rußland hat rund 80 % der Auslandskredite der tion zwischen den einzelnen Staaten der ehemaligen früheren Sowjetunion übernommen. Die Außenver- Sowjetunion dar. Ich habe erfreut gelesen, daß die schuldung liegt zur Zeit bei fast 80 Milliarden Dollar. Ukraine und Rußland in der Zwischenzeit zu einem Allerdings reichen die russischen Exporterlöse kaum Übereinkommen über den Erlaß der Schulden gekom- für die fälligen Zinszahlungen aus, so daß die Bemü- men sind. hungen für eine Umschuldung dringend fortgesetzt Trotz all dieser negativen Feststellungen muß die werden müssen. Bundesregierung an ihren geplanten weiteren Wenn es im Pariser Club nicht zu einer tragbaren Finanzhilfen sowohl auf nationaler als auch auf inter- Lösung kommt, würde sich die Lage Rußlands noch nationaler Ebene festhalten. Darüber hinaus müssen wesentlich verschlechtern. Woher soll das Geld kom wir unsere Beratungshilfen verstärken, um die Struk- 10000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) turanpassung von der Kommandowirtschaft zur dadurch hat man wieder Handlungsspielraum gewon- Marktwirtschaft zu bewältigen. Die dafür für 1993 nen. vorgesehenen 600 Millionen DM sind eine Investition Was Nicaragua betrifft, so hat das natürlich zwei in unsere eigene Zukunft. Teile. Der eine Teil, den wir insbesondere besprochen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben, war der Erlaß der Schulden aus der früheren DDR. In diesen Schulden sind erhebliche Rüstungs- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine käufe enthalten. Darüber haben wir uns unterhalten. Damen und Herren, es ist mir ein besonderes Vergnü- Sie sollten dazusagen, daß das der wesentliche Teil gen, auf der Besuchertribüne eine Delegation des des Inhalts der Gespräche war. polnischen Parlaments begrüßen zu dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall) ordneten der F.D.P.) Es handelt sich um den Auswärtigen Ausschuß des Parlaments unter seinem Präsidenten Geremek. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Als letz- Meine Damen und Herren, wir wünschen Ihnen tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile erfolgreiche Gespräche. Ich kann Ihnen sagen, daß ich dem Abgeordneten Dr. Sperling das Wort. Sie sozusagen hier ein Erstgeburtsrecht wahrnehmen. Sie sind die erste ausländische Delegation, die in dem (SPD): Herr Präsident! Meine neuen Saal begrüßt wird. Dr. Dietrich Sperling Damen und Herren! Ich möchte eine Anleihe beim (Beifall) vorigen Tagesordnungspunkt und dessen Symbolik Ich erteile nunmher zu einer kurzen Intervention machen. Da ging es um die Satanischen Verse. Das, dem Abgeordneten von Larcher das Wort. was uns die Bundesregierung mit Zahlen und Doku- menten vorgelegt hat, sind in der Tat satanische Detlev von Larcher (SPD): Herr Präsident! Meine Zahlen und satanische Bilanzen. Wenn man sich lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin betroffen anschaut, was darin steht, dann stecken darin Hunger darüber, wie mein Kollege Hauser die Situation der und Darben und Not in der Dritten Welt, aber mittler- lateinamerikanischen Entwicklungsländer geschil- weile auch in der Zweiten. dert hat. Er hat Mexiko herangezogen, und ich habe Wenn es um die Staaten Osteuropas und der frühe- das so verstanden, daß er es als Beispiel genannt hat, ren Sowjetunion geht, dann verweisen wir nunmehr wie Entwicklungsländer aus ihrer schlimmen Situa- dieses etwas mehr als ein Sechstel der Erde auf tion herauskommen. Nun waren wir zusammen nicht denselben Mechanismus, auf den wir vorher die nur in Mexiko, sondern auch in Venezuela und Entwicklungsländer verwiesen haben. Wenn m an das Nicaragua, und ich denke, Herr Hauser hat wie ich sehr roh be trachtet — ich gebe zu: wirklich sehr roh feststellen können, daß die Situation in Nicaragua betrachtet —, dann stellen wir fest, daß für diesen natürlich eine grundsätzlich ganz andere ist als die des Sektor die Weltkreditmärkte inzwischen zu staatlicher Landes Mexiko. Geldwäsche dienen. Denn es wird entschuldet, um Ich möchte hier sagen: Wenn die internationale erneut Kreditfähigkeit herzustellen, und die Entschul- Staatengemeinschaft Nicaragua nicht aus seiner dung selber erfolgt mit staatlichen Geldern, die man Schuldenkrise heraushilft, dann wird dieses Land selbstverständlich dem Steuerzahler abknöpfen muß. überhaupt nicht mehr hochkommen und keine Sonst könnte man die Entschuldung gar nicht vorneh- Zukunftsperspektive haben. Ich habe sehr vermißt, men. Dies nenne ich — zwar ungewohnt, aber ich daß zu diesem Land etwas gesagt worden wäre. nenne es so — staatliche Geldwäsche auf internatio- nalen Kreditmärkten, mit der dem Steuerzahler ver- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ihr Reise- schleiert werden soll, daß das Instrument der Kredit- kollege Hauser hat sich da zu Wort gemeldet, und ich gewährung ein sehr unzulängliches ist. erteile ihm auch das Wort. Wenn man sich den Zustand der Länder, die bisher auf diese Art und Weise Hilfe bekommen haben, Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): anschaut, wird man feststellen: Dieser Zustand hat Herr Präsident, gestatten Sie mir eine Antwort auf sich eigentlich fortlaufend verschlechtert. diese Zwischenfrage des Kollegen von Larcher. Ich (Beifall bei der SPD) habe ausdrücklich gesagt, daß ich das Land- Mexiko Deswegen glaube ich — so ungewohnt auch das deshalb erwähnt habe, weil es sich von einem kredit- klingen mag —, daß in einer künftigen, nicht weitab unwürdigen Land durch eigene Maßnahmen wieder liegenden Zeit die Direktoren des Weltwährungs- zu einem kreditfähigen L and entwickelt hat. Ich fonds und großer internationaler Banken etwas Ähn- wollte das nur als Beispiel dafür verwenden, wie man liches werden tun müssen, wie es vor kurzem die durch eine solide Wirtschaftspolitik wieder Hand- Bischöfe der katholischen Kirche in den lateinameri- lungsspielraum gewinnt. Das war sicherlich auch kanischen Ländern getan haben: Heimlich ein durch einen gewissen Ressourcenreichtum bedingt; Schuldbekenntnis ablegen, daß man früher einmal das ist absolut richtig. Aber dieser war auch vorher Konquistadoren unterstützt hat. vorhanden, und man ist nicht in der Lage gewesen, diesen Reichtum auszunützen. Erst durch eine konse- (Beifall bei der SPD) quente Sparpolitik und vor allem auch die Versilbe- Und es wird etwas Ähnliches passieren, wie es der rung des Tafelsilbers — wie Sie es genannt haben und Papst gerade zur Zeit getan hat, als er mit dem was man so stehenlassen kann — hat m an es geschafft, Hinweis auf Folterinstrumente, die zu jener Zeit die Auslandsschulden drastisch zu verringern, und angewandt wurden, gemeint hat, Galilei sei Unrecht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10001

Dr. Dietrich Sperling getan worden. Auch dies wird einst mit Bezug auf die Kreditmarkt — egal, wer Kredite gibt oder wer Kredite Kreditinstrumente gesagt werden müssen, die m an nimmt — wirklich das herbeiführt, was er herbeifüh- gewährt und die nicht jede Hilfe gewesen sind, ren soll. sondern die sich als Folterinstrumente erweisen. Ich will uns die Inbrunst des guten Glaubens neh- Nur die Tatsache, daß in Zahlen ausgedrückt wird, men und dafür sorgen, daß wir uns den Einsatz dieses hinter denen ein Dollarzeichen oder ein D-Markzei- Instrumentes genauer überlegen. Was wir auch immer chen steht, verhindert, den satanischen Charakter gegenüber den GUS-Staaten und Osteuropa in dieser Instrumente zu erkennen. Denn würde man in Zukunft tun, wodurch auch immer deren Misere realen Bedingungen ausdrücken, was da geschieht, verursacht sein mag: Ob die Instrumente mit einfa- wenn man sagt, man solle das nationale Sparpotential chen Bekenntnissen zur Sozialen Marktwirtschaft stärken und seine eigene Kreditfähigkeit herbeifüh- erlangt und dann wirksam werden können, darüber ren, dann müßte man es in Zahlen nennen, die die lohnt es sich mehr nachzudenken. Die Antwort der Wahrscheinlichkeit des Hungertodes von Kindern Bundesregierung ist keine hinlängliche Hilfe, um und die Ermäßigung von ohnehin schon gezahlten Nachdenklichkeit bei der Bundesregierung zu ent- Hungerlöhnen ausdrücken. decken. Nur das Dollarzeichen oder das D-Markzeichen (Beifall bei der SPD) hinter den Zahlen verhindert, daß man sich konkret vorstellt, was denn eigentlich ein gut Teil der Rat- Vizepräsident Hans Klein: Die Wortmeldung vom schläge bedeutet, die auch die Bundesregierung in Platz aus ist eigentlich etwas völlig Normales, Herr diesen Antwortbrief auf die Große Anfrage hineinge- Kollege Sperling. Die Schwierigkeit ist nur, daß man schrieben hat. nicht sieht, wann die Redezeit abgelaufen ist. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die vom Platz aus sprechen, doch ab und zu einen Blick auf den Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Dr. Sperling, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Präsidenten zu werfen, der dazu seine Miene Abgeordneten Professor Dr. Pinger zu beantworten? macht. (Dr. Dietrich Sperling [SPD]: Ich sehe die Dr. Dietrich Sperling (SPD): Gern. ganze Zeit ein ermutigendes Rot! — Heiter keit bei der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, — Nicht immer hilft das rote Licht, Herr Kollege! Herr Professor. Ich schließe die Aussprache.

Dr. Winfried Pinger (CDU/CSU): Herr Kollege Sper- Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: ling, wenn Kreditgewährung — so habe ich Sie Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat jedenfalls verstanden — ein satanisches Instrument eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ist, würden Sie dann auch die Kreditgewährung etwa Verlängerung der Wartefristen für Eigenbe- des Internationalen Währungsfonds als ein satani- darfskündigungen in dem in Artikel 3 des sches Instrument ansehen? Würden Sie glauben, daß Einigungsvertrages genannten Gebiet die Entwicklungsländer in Zukunft überhaupt auf — Drucksache 12/2758 — Kredite auch des Internationalen Währungsfonds ver- richt des Rechts- zichten können, und glauben Sie, daß dann, wenn sie Beschlußempfehlung und Be ausschusses (6. Ausschuß) gewährt würden, auf eine Rückführung der Kredite verzichtet werden könnte? — Drucksache 12/3605 (neu) — Berichterstattung: Dr. Dietrich Sperling (SPD): Ich schlage Ihnen kei- Abgeordnete Dr. Wolfgang Freiherr von Stet- neswegs vor, auf Kredite als Instrument zu verzichten, ten solange man nichts Besseres hat. Ich glaube aber, daß Dr. Eckhart Pick man sich den gesamten Prozeß der Kreditgewährung (Erste Beratung 107. Sitzung) und seine Folgen einschließlich der Notwendigkeit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für der anschließenden Entschuldung mit Hilfe staatli- die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — cher Maßnahmen anschauen muß, um zu begreifen,- Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so wie wenig tauglich dieses Instrument war, um den beschlossen. Zustand zu verbessern, den man mit gutem Willen Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die verbessern wollte. Täuschen Sie sich nicht! Aussprache auf Verlangen der Fraktion der SPD zwei Ich spreche niemandem den guten Willen ab, auch namentliche Abstimmungen haben. nicht den Direktoren des Weltwährungsfonds, eben- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- sowenig wie den Bischöfen und dem Papst von frü- gen Dr. Michael Luther das Wort. her. (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Alle sind gutwillig. Das Dilemma ist, daß die Wirkung Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich leider nicht der guten Absicht entspricht, vorweg darauf hinweisen, daß in der ausgeteilten (Beifall bei der SPD) Vorlage eine Seite fehlte. Deshalb wurde soeben die so daß wir prüfen müssen, wie wir unsere gute Absicht Seite 5 a ausgeteilt; sie gehört zur Vorlage. so umsetzen können, daß sie so gut wirkt, wie sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, das eigene gemeint war. Da frage ich mich, ob der internationale Zuhause ist für den Menschen eine der wichtigsten 10002 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Michael Luther Voraussetzungen für sein Leben und seine Lebensge- auszugleichen. Es bildet quasi die Konsenslinie zwi- staltung. Deshalb achtet die Öffentlichkeit sehr dar- schen beiden Lagern. auf, wie der Gesetzgeber mit diesem Thema umgeht. Dieses Gesetz regelt in einem Punkt das Verhältnis Nun ist in Deutschland aber etwas geschehen, was zwischen Mieter und Vermieter, und zwar den Fall der die meisten Deutschen zwar intellektuell erfassen, Kündigung durch den Vermieter auf Grund von jedoch mental noch nicht akzeptieren: die deutsche Eigenbedarf. Einheit. Der Mieterschutz ist in den alten Bundesländern 40 Jahre Sozialismus erklärten Eigentum und schon sehr groß. Viele in den neuen Bundesländern Eigentümer zum Verderbnis des menschlichen wissen nicht, daß niemand einem Mieter bei noch so Zusammenlebens. Das führte dazu, daß Vermieter berechtigten Interessen von heute auf morgen kündi- nahezu rechtlos waren und demzufolge Vermietung gen kann. Wenn z. B. in einem Haus durch Teilung fast nur durch den Staat erfolgen konnte. Neues Wohneigentum geschaffen wird, ein Fremder — nicht Wohnungseigentum wurde nur zur Eigennutzung der Mieter — das Wohneigentum erwirbt und diese begründet, und — das war die Konsequenz — die Räume für sich oder die zu seinem Hausstand gehö- Häuser in den Städten verfielen immer mehr. renden Personen oder Familienangehörigen benötigt, Nach der Herstellung der deutschen Einheit wur- kann in den meisten Städten der neuen Bundesländer den den Vermietern die ihnen zustehenden Rechte auch nach geltendem Recht, also nach westdeutschem wiedergegeben. Enteignete bekommen ihr Eigentum Recht, erst nach fünf Jahren auf Grund Eigenbedarfs wieder zurück. Die Folge ist, daß die Sanierung der gekündigt werden. Erst danach beginnt die normale Häuser beginnt. Der sta tische Extremzustand des Kündigungsfrist, die z. B. bei zehnjähriger Mietdauer rechtlosen Vermieters pendelt seitdem wieder in Rich- ein Jahr beträgt. Dann hat der Mieter die Möglichkeit tung Konsenslinie zwischen Vermieter und Mieter. des Widerspruchs, wenn mit der Kündigung für ihn soziale Härten verbunden sind. Das schützt den Mie- Hier bedarf es jedoch des Schutzes der Mieter. ter zusätzlich und führt, wie Ihnen aus der Rechtspre- Pendeln bedeutet Einpendeln. Das Pendel kann auch chung dazu bekannt ist, dazu, daß z. B. ältere Mieter über die Linie hinausschlagen. fast uneingeschränkten Kündigungsschutz haben. Die Gründe liegen vor allem im Fehlen von Rechts- Es gibt massive und auch berechtigte Bedenken von kenntnissen, aber auch in den Ergebnissen der sozia- Mietern und Vermietern, die jeweils ihre Rechte zu listischen Erziehung, die den Eigentümer zum mephi- sehr eingeschränkt sehen. Das Mietrecht ist der Ver- stofelischen Individuum stempelten. such, diese Interessen auszugleichen. Damit das Gebiet der DDR unmittelbar nach dem Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten Wirksamwerden des Einigungsvertrags nicht von Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Conradi? einer Welle von Eigenbedarfskündigungen überrollt wird, wurde mit Art. 232 § 2 Abs. 3 und 4 EGBGB die Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Ja; bitte. Möglichkeit der Eigenbedarfskündigung weitestge- hend bis zum 31. Dezember dieses Jahres ausge- setzt. Peter Conradi (SPD): Herr Kollege, haben Sie schon einmal davon gehört, daß Mieter, vor allem ältere Die Gründe dafür, die beim Abschluß des Eini- Mieter, in solchen Wohnungen zwar ein rechtliches gungsvertrags vorlagen, bestehen jedoch größtenteils und durch die Ge richte geschütztes Wohnrecht hat- fort. Der Wohnungsmarkt in den neuen Ländern wird ten, die Hausbesitzer aber mit schrecklichen Repres- sich erst mit der Zeit fühlbar entspannen. Deshalb salien, Umbauten im Winter, Herausreißen von Fen sollen die Wartefristen für Eigenbedarfskündigungen stern und allen möglichen Schikanen versucht haben, um drei Jahre verlängert werden. Dabei ist beachtet sie aus dem Haus zu drängen und dabei meistens worden, daß die erneute Wartefrist für die Eigentümer erfolgreich waren, obwohl die Mieter diesen von hinnehmbar sein muß. Ihnen so glänzend dargestellten Mieterschutz hat- ten? Die kommenden drei Jahre sollten es den Mietern (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der neuen Bundesländer ermöglichen, sich mit dem Inhalt und besonders den Schutzvorschriften des sozialen Mietrechts des BGB so vertraut zu machen, Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Herr Conradi,- das ist eine der bedauerlichen Tatsachen, die ich in der daß das soziale Mietrecht seine Schutzwirkung in Bundesrepublik Deutschland feststellen muß. Nur gleichem Maße entfalten kann wie im restlichen kann ich nicht generell alle Vermieter in diese Ecke Bundesgebiet. stellen. Für diese speziellen Fälle, die in der Öffent- Auch hier haben wir uns bemüht, den Interessen- lichkeit bekannt werden, gibt es Möglichkeiten, dage- ausgleich zwischen beiden Parteien zu wahren. Ich gen gerichtlich vorzugehen. Deshalb kann ich Mie- hoffe nicht, daß Sie mit dem Änderungsantrag, meine tern in den neuen Bundesländern nur empfehlen, sich Damen und Herren von der SPD, diese notwendige in Mietervereinigungen zu organisieren, weil dort ihre Konsenslinie zwischen Mieter und Vermieter zerstö- Rechte wahrgenommen werden können. Ich selbst ren und sich bei den Mietern lieb Kind machen wollen. war dort in meiner Heimatstadt Zwickau tätig. Wenn Sie dies aber wollen, dann sagen Sie bitte auch Ich habe schon gesagt, daß es massive und auch die Konsequenz daraus. Sagen Sie dann auch, daß Sie berechtigte Bedenken von Mietern und Vermietern die sozialistischen Verhältnisse in den neuen Län- gibt, die jeweils ihre Rechte zu sehr eingeschränkt dern, also den Verfall der Städte, konservieren wol- sehen. Das Mietrecht ist der Versuch, diese Interessen len. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10003

Dr. Michael Luther Was bedeutet denn diese dreijährige Verlänge- sich. Werben Sie für das Mietrecht und den Mieter- rung? Bei zehnjährigen bestehenden Mietverhältnis- schutz nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch! sen könnte erst im Jahr 1997 Eigenbedarf angekün- digt werden. Der Wohnungsmarkt im Jahr 1997 wird Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist abgelau- jedoch auch hier im Sinn der Sozialklausel den Mieter fen. stützen. Ich denke, daß dann schon die Nachwirkun- gen des DDR-Staates, die Gründe waren, um die F rist im Einigungsvertrag zu setzen und heute zu verlän- Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Herzlichen Dank. gern, abgeklungen sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, auch Sie, von der SPD: Demagogen und Stimmungsmacher, meist expor- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hans- tierte, haben wir im Osten genug. Helfen Sie lieber bei Joachim Hacker, Sie haben das Wort. der Aufklärung über die Vorteile der Demokratie und des Rechtsstaats mit! Hans-Joachim Hacker (SPD): Herr Präsident! Nach dem zweiten Teil des Antrages der SPD sollen Meine Damen und Herren! Herr Dr. Luther, ich muß Kündigungsmöglichkeiten für Zweifami- auch die Ihnen sagen: Ich bin etwas enttäuscht über das, was lienhäuser bis 1998 beschränkt werden. Sie heute uns und vor allem den Mieterinnen und Betrachten wir die heutige Situation. Auch heute Mietern in den neuen Bundesländern angeboten würde der Mieter nicht sofort auf der Straße stehen. haben. Denn wenn keine Ersatzwohnungsmöglichkeit ge- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke stellt werden kann, wird in der Regel die Sozialklausel Liste) des § 556a BGB greifen. Wenn jedoch Ersatzwohn- raum zur Verfügung steht, muß dem Hausbesitzer die Nach den Regelungen des Einigungsvertrages lau- Möglichkeit gegeben werden, sein eigenes Haus zu fen die besonderen Schutzregelungen gegen Eigen- mit Wirkung vom 31. Dezember nutzen. bedarfskündigungen 1992 aus. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, eine Noch etwas: Sagen Sie auch in der Öffentlichkeit, Regelung zu treffen, die den Gegebenheiten auf dem daß diese Regelung nur auf Zweifamilienhäuser Wohnungsmarkt der neuen Länder gerecht wird. Ich zutreffen würde, wo der Vermieter selber in dem Haus meine, der Deutsche Bundestag ist insbesondere bei wohnt! Es hat also nichts mit dem Kauf des sogenann- der Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzes ten reichen Wessis zu tun oder mit dem Alteigentü- gefordert, durch entsprechende Regelungen den mer, der im Falle der Restitution sein Haus zurückbe- sozialen Frieden zu stabilisieren. Wohnen trägt dazu kommt. ganz wesentlich bei. Darüber sind wir uns wohl alle Im Gegenteil, ich glaube, Gerechtigkeit ist auch auf einig. Es liegt jetzt am Parlament, dieser Herausforde- einem anderen Gebiet zu schaffen. Wie gehen wir mit rung gerecht zu werden. begangenem Unrecht um, das durch die Willkür des Dem Deutschen Bundestag liegt der Gesetzentwurf SED-Staates entstanden ist? Waren Machtmißbrauch, des Bundesrats auf der Drucksache 12/2758 vor, der Korruption, Täuschung von Staatswegen im Spiel, im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städ- dann sehe ich die besondere Schutzwürdigkeit des tebau und im federführenden Rechtsausschuß beraten nach dieser Methode begründeten Mietverhältnisses wurde. In beiden Ausschüssen sind auf Initiative der gerade in Ein- und Zweifamilienhäusern nicht. Hier Koalitionsfraktionen Änderungen eingearbeitet wor- bietet die Empfehlung des Rechtsausschusses Hand- den, die den Inhalt des Artikels 5 des Gesetzentwurfs lungsspielraum. der Bundesregierung zu einem Vierten Mietrechtän- derungsgesetz übernehmen. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß das westdeutsche Mietrecht an noch vielen anderen Ich weiß, zumindest war ich bis zum Redebeitrag Stellen Übergangsschutz für den Mieter bietet. Ich von Herrn Dr. Luther davon überzeugt, daß viele denke z. B. an den Artikel 232 § 2 Abs. 2 EGBGB, Abgeordnete der CDU aus den neuen Ländern den wonach der Wert eines Mietshauses durch die ausge- Gesetzentwurf in dieser Form ebenfalls nicht wollen. schlossene Freizugskündigung nicht gesteigert wer- Wir Sozialdemokraten haben deshalb in den Aus- den kann. schußberatungen Kompromißvorschläge gemacht, um doch noch zu einem Konsens zu kommen. Die von Wir werden den Änderungsantrag der SPD ableh- der SPD-Fraktion in beiden Ausschüssen dazu gestell- nen. Nicht zuletzt haben wir darüber im Rechtsaus- ten Änderungsanträge sind von der Koalition leider schuß ausführlich gesprochen. abgelehnt worden. Ich wende mich deswegen heute Ich bitte alle Damen und Herren dieses Hauses, die nochmals vor allem an die Abgeordneten der CDU aus Mieter und die Vermieter in den neuen Bundeslän- den neuen Ländern mit der Bitte, den Änderungsan- dern nicht durch unvollständige und einseitige Äuße- trägen der SPD ihre Zustimmung zu geben, rungen zu verunsichern. Ich bitte, sie aufzuklären. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ Denn nur so kann der einzelne Mieter seine wahren DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste) Rechte, aber auch seine Pflichten lernen und einschät- und sich im Interesse unserer Landsleute in den neuen zen. Ländern nicht dem Koalitionszwang zu beugen. Set- Verdammen Sie nicht den Vermieter! Denn er ist zen Sie sich bitte mit uns für sozialverträgliche Eigentümer. Er ist Investor. Er beschafft und sichert Regelungen ein, wie wir sie vorgeschlagen haben, Arbeitsplätze. Er nimmt auch persönliches Risiko auf und bekennen Sie sich zu den Interessen der sozial 10004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Hans-Joachim Hacker Schwächeren, in diesem Fall der Mieterinnen und Gerichte in den neuen Ländern würden mit einer Mieter! Prozeßlawine überzogen. Schwere soziale Verwer- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke fungen, wie wir sie im Bereich des Eigentumsrechtes Liste) kennen, hätten im Bereich des Mietrechts noch schlimmere Auswirkungen. Worum geht es bei den von uns vorgeschlagenen Änderungen? Erstens. Notwendigerweise sieht der Herr Dr. Luther, Ihr Patentrezept mit den Mieterver- Entwurf des Bundesrats in Art. 1 Nr. 1 die Verlänge- bänden ist hier ebenfalls keine Lösung. rung des Kündigungsschutzes bis zum 31. Dezember 1997 vor. Zweitens soll gemäß Art. 1 Nr. 2 das Recht Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben des Vermieters bei Zweifamilienhäusern, das Miet- die Chance, dies zu verhindern, ja, wir sind aufgefor- verhältnis unter erleichterten Bedingungen zu kündi- dert, sozial verträgliche Lösungen für den Wohnungs- gen, bis Ende 1997 an besonders geregelte Vorausset- mietbereich in den neuen Ländern zu erlassen. zungen geknüpft werden. Dazu zählt auch, daß der auf Antrag der Koalitions- Für beide Forderungen sprechen schwerwiegende fraktionen aus Art. 5 des Entwurfs des Vierten Miet- sachliche Gründe, die in der bisherigen Argumenta- rechtsänderungsgesetz es übernommene Katalog zu- tion von der Bundesregierung und den Koalitionsfrak- sätzlicher Ausnahmen für den Kündigungsschutz tionen nicht widerlegt werden konnten. Diese nicht Eingang in das heute zu verabschiedende Gründe, die bei Abschluß des Einigungsvertrags maß- Gesetz findet. geblich waren, gelten nach meiner und nach unserer (Beifall bei der SPD) Auffassung heute nach wie vor. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt in den neuen Ländern hat sich durch In Anlehnung an entsprechende Regelungen im Umwandlung von Miet- in Gewerberäume sowie Vermögensgesetz soll nach dem bisherigen Willen der durch die Wirkungen der jahrzehntelangen Vernach- Koalitionsfraktionen Mieterschutz u. a. dann nicht lässigung der Wohnsubstanz nicht entspannt, sondern gelten, wenn Räume dem Vermieter durch Zwangs- weiter verschärft. Zudem: Ein geschlossenes Konzept maßnahmen, Machtmißbrauch oder unter vergleich- zur Beseitigung dieser Mißstände hat die Bundesre- baren Umständen, die im Entwurf genannt sind, gierung bis heute nicht vorgelegt. entzogen wurden oder unredliches Handeln des Mie- (Unruhe) ters bei Abschluß des Vertrags über die Mietwohnung vorlag.

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hacker, Diese Kriterien haben bereits bei der Anwendung darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. Meine des Vermögensgesetzes zu schweren Komplikationen Damen und Herren, die akustischen Verhältnisse in geführt und sind für den Wohnungsmietbereich völlig dem neuen Plenarsaal sind noch nicht ideal, verleiten ungeeignet. Dieser von der Bundesregierung vorge- aber in größerer Entfernung vom Redner zu lauten schlagene und von den Koalitionsfraktionen bisher Unterhaltungen, vor allem sozusagen im toten Winkel unterstützte Weg ist falsch. Noch ist Zeit für Korrek- zum Präsidenten. Ich bitte sie also, Ihre Aufmerksam- turen. keit dem Redner zuzuwenden. — Fahren Sie bitte fort. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) Vor allem müssen wir uns die Wirkungen einer Hans-Joachim Hacker (SPD): Vielen Dank, Herr solchen Regelung vor Augen führen: Es würden Präsident. politisch bedingte und somit völlig sachfremde Sach- verhalte als Gegenstand mietrechtlicher Auseinan- Meine Damen und Herren, jetzt geht es darum, den dersetzungen eingeführt werden. Richter kämen in von der Bundesregierung selber in der Begründung die Situation, bei Entscheidungen über Mietstreitig- des Entwurfs des Vierten Mietrechtsänderungsgeset- keiten politische Kriterien, die in der ehemaligen DDR zes so bezeichneten angestauten Eigenbedarf nicht gewirkt haben, zugrunde legen zu müssen. durch zigtausend Eigenbedarfsklagen zu regulieren, sondern für einen überschaubaren Zeitraum — nach Jeder, der aus den neuen Ländern kommt, der die unserer Auffassung fünf Jahre — soziale Sicherheit Verwaltungspraxis auf dem Gebiet der Wohnungspo- und sozialen Frieden durch kündigungsbeschrän- litik in der DDR kennt und miterlebt hat, weiß, daß bei kende Maßnahmen zu schaffen. der Zwangsbewirtschaftung des Wohnraums oft für Hierbei muß der besondere Schutz für Mieter in den Eigentümer unliebsame Entscheidungen getrof- Zweifamilienhäusern garantiert werden. fen wurden, die zum Teil nicht abwendbar waren, um die Bevölkerung mit Wohnraum zu versorgen. In den Die Übernahme bundesdeutschen Rechts in der seltensten Fällen hatten wohnungssuchende Bürger geltenden Fassung würde bedeuten, daß Mietern ein Wahlrecht beim Bezug von Mietwohnungen in ohne Angabe von Gründen gekündigt werden kann, ohne daß der Vermieter Eigenbedarf geltend macht Zweifamilienhäusern. bzw. diesen nachweisen muß. Hier würden Kündi- Hier geht es auch nicht darum, Herr Dr. Luther, gungswillkür und Kündigungsmißbrauch Tür und Tor sozialistische Verhältnisse zu konservieren. Ich geöffnet werden. möchte an dieser Stelle keine Polemik entwickeln. Die Sozialklausel des Bürgerlichen Gesetzbuchs Aber denken Sie auch einmal daran, wer in diesen kann diese Entwicklung nicht verhindern. Die Abteilungen Wohnungspolitik in den örtlichen Räten Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10005

Hans-Joachim Hacker gesessen hat und wer diese Entscheidungen getroffen langsamer, als wir gedacht haben? Darum muß man hat! heute in deutschen Landen sehen, wer hier in wessen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Interesse abstimmt. DIE GRÜNEN) Herr Luther, was Sie getan haben, war im Grunde Trotz dieser Sachlage würden bei Aufhebung des genommen schlimmer als das, was die Bundesregie- Kündigungssschutzes für Mieter in Zweifamilienhäu- rung sagt. Die konstatiert wenigstens: Es gibt keine sern Verdächtigungen und Unterstellungen in Ver- Waffengleichheit auf diesem schwerwiegenden Ge- bindung mit der Begründung von Mietverhältnissen biet sozialer Auseinandersetzungen. Wie wahr ist die konstruiert werden. Die sich daraus ergebenden Wir- Sprache der Bundesregierung! Ich füge aber hinzu: kungen habe ich skizziert. Dies kann nicht richtig Was ist das für eine Sprache, in der das Recht als Waffe sein. benutzt wird? Die SPD-Fraktion bringt daher in der heutigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Debatte Änderungsanträge ein, um deren Unterstüt- und bei der SPD) zung ich Sie bitte. Ich fasse zusammen: Es geht erstens Auf diesem Wege kommen wir nicht zum sozialen um die Verlängerung des Mieterschutzes gegen Frieden. Zum sozialen Frieden kommen wir nur, wenn Eigenbedarfskündigungen bis zum 31. Dezember uns die Einheit von Gerechtigkeit und Frieden nicht 1997, und zwar ohne politisch determinierte und nur in Fleisch und Blut, sondern auch in das Innerste wirklichkeitsfremde Einschränkungen, und zweitens unserer Sprache eingegangen sein wird. um die Sicherung des Kündigungsschutzes für Mieter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Zweifamilienhäusern auf der Grundlage der Rege- und bei der SPD) lungen des § 564b Abs. 4 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Walter Wegen der Bedeutung der Änderungsanträge und Hitschler, Sie haben das Wo rt. der Notwendigkeit der Sicherung des sozialen Frie- dens in den neuen Ländern haben wir namentliche Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Präsident, darf ich Abstimmung beantragt. Sie, bevor ich beginne, bitten, die Lautsprecher etwas Ich bitte Sie, insbesondere die Abgeordneten der lauter zu stellen, weil meine Stimme sehr zart ist? CDU aus den neuen Ländern: Unterstützen Sie die (Heiterkeit) beiden Anträge der SPD-Fraktion! Danke schön! Vizepräsident Hans Klein: Sie sprechen zu einem (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sehr zartfühlenden Haus. GRÜNEN und der PDS/Linke Liste) Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Mit diesem Gesetzent- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- wurf wird die Wartefrist für Eigenbedarfskündigun- ordnete Dr. Wolfgang Ullmann. gen in den neuen Bundesländern vom 31. Dezember 1992 bis zum 31. Dezember 1995, also um drei Jahre, verlängert. Damit wird eine im Art. 232 EGBGB Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- enthaltene Schutzklausel für Mieter, deren Auslaufen NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! zum Ende dieses Jahres vorgesehen ist, zeitlich hin- Nicht nur Ministerpräsident Biedenkopf, sondern alle, ausgeschoben, Herr Dr. Ullmann, in der Erkenntnis, die die nötige Sachkenntnis besitzen, haben mittler- daß die schrittweise Überführung des Wohnungswe- weile erkannt, daß die soziale und ökonomische sens im Beitrittsgebiet in eine marktwirtschaftliche Anpassung in den Ostländern komplizierter ist und Ordnung, wie das der Einigungsvertrag vorsieht, darum langamer voranschreitet, als alle ursprünglich mehr Zeit, als ursprünglich gedacht, benötigt. angenommen haben. Die Befürchtung, daß viele Mieter insbesondere Zu den Sachkennern rechne ich auch Sie, Herr angesichts der Fälle der Restitutionsansprüche mit Kollege Luther. Darum muß ich sagen: Das einzige, Eigenbedarfskündigungen konfrontiert würden, ver- was an Ihrer Rede klar gewesen ist, war, in wessen anlaßt uns, uns bei der Abwägung der Eigentümer- Interesse Sie gesprochen haben. - rechte einerseits und der Kündigungsängste der Mie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ter andererseits in diesem Falle für die Erhaltung des DIE GRÜNEN) sozialen Friedens zu entscheiden, da den Mietern zur Zeit noch keine ausreichenden Alternativen auf den Sie haben hier klar die Interessen und die Rechte der Wohnungsmärkten zur Verfügung stehen. Vermieter vertreten, und den Mietern empfehlen Sie, diese Rechte zu studieren. Ich frage mich, was das in Eine Welle von Kündigungen könnte die Mieter dieser Lage helfen soll. zwar nicht aus ihren Wohnungen vertreiben, aber doch zu erheblicher Unsicherheit und Beunruhigung Ich kann der deutschen Öffentlichkeit nur empf eh führen, da weithin noch Unkenntnis über den umfas- len, sehr genau aufzupassen, was jetzt in dieser senden Schutz der Sozialklausel unseres allgemeinen Abstimmung passieren wird. Mietrechts besteht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir stimmen der Verlängerung der Wartefrist zu, und bei der SPD) auch wenn wir uns darüber im klaren sind, daß sie Wie kann man eine Verkürzung der Wartefrist nicht unerhebliche nachteilige volkswirtschaftliche fordern, wenn alle Welt weiß, die Entwicklung geht Wirkungen zeitigt; denn das zeitliche Hinausschieben 10006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Walter Hitschler dieses Schutzzauns erschwert natürlich das Entstehen mit der Situation in einer zerrütteten Ehe verglichen, eines flexiblen Immobilienmarktes, der für das Funk- in der sich die Partner beim Zusammenleben auf tionieren einer modernen Volkswirtschaft erforderlich engem Raum auf subtilste Weise zu molestieren ist. verstehen. Abhilfe schafft hier in der Tat nur eine Dennoch dient diese Regelung einer sozialverträg- räumliche Trennung — und die Zustimmung zu dem lichen Überleitung der bestehenden Mietverhältnisse Gesetzentwurf der Bundesregierung. in das Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Nun sieht der Gesetzentwurf zumindest ab 1. Ja- ten der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: nuar 1993 eine Erweiterung des Ausnahmekatalogs Unglaublich!) vor, um Eigenbedarfskündigungen in jenen Fällen zuzulassen, in denen den Vermietern die Wohnungen Ich erteile dem Kollegen durch Zwangs- und Willkürmaßnahmen entzogen Vizepräsident Hans Klein: Professor Dr. Heuer das Wort. Er wird von seinem Platz wurden bzw. den Mietern Unredlichkeit im Sinne des aus sprechen. Vermögensgesetzes vorgeworfen werden kann. (Unruhe) Umstritten ist der Ausnahmekatalog insofern, als er dem Vermieter für die zweite Wohnung in einem Zweifamilienhaus, das er selbst bewohnt, eine Eigen- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Der Abge- bedarfskündigung zugesteht. Dies wird dadurch ordnete Luther hat hier erklärt, daß die Forderung der bewirkt, daß die im Art. 232 Abs. 4 enthaltene Rege- SPD, die Frist auf fünf Jahre auszudehnen, eine lung unverändert erhalten bleibt und die Wartefrist Verlängerung des Sozialismus bedeute. Nun ist mir somit Ende dieses Jahres ausläuft. Hier greift aller- nicht ganz klar, ob er meint, daß die SPD den dings ebenfalls die Sozialklausel des Mietrechts, Sozialismus um fünf Jahre verlängern will, die CDU weshalb niemand zu befürchten hat, daß er auf die dagegen nur um drei Jahre. Straße gesetzt wird. Somit stellt sich der Sachverhalt (Heiterkeit und Beifall bei der PDS/Linke wesentlich weniger dramatisch dar, als er von der Liste, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Opposition geschildert wird. GRÜNEN) Ich meine, es geht hier nicht um Sozialismus, weder Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit, Herr Kol- lege! um modernen noch um autoritären noch um realen, sondern darum, daß einer bestimmten Situation in den Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Die Ausnahmerege- Ost-Ländern Rechnung getragen wird. Was geprüft lung entspricht dem Willen des Gesetzgebers und der werden muß, ist, ob diese Situation für fünf Jahre oder Rechtsprechung in den westlichen Bundesländern, für drei Jahre zu erwarten ist. Ich teile eben die derzufolge auf Grund der zahlreichen Berührungs- Meinung der SPD, daß wir absolut nicht sicher sein punkte zwischen den Parteien in einem Zweifamilien- können, daß diese Situation in drei Jahren eine wesentlich andere ist als heute. haus und daraus resultierender Störungen ein Son- derkündigungsrecht angebracht erscheint. Die Mög- (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und lichkeit eines häufigen Zusammentreffens, zumal in dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Regel gemeinschaftliche Einrichtungen benutzt Der Mietwohnungsbau ist — das wissen wir alle — werden müssen, legt es nahe, eine erleichterte Kün- in Ostdeutschland regelrecht zusammengebrochen. digung vorzusehen, um die oftmals durchaus unfaß- Es fehlen nach wie vor eine Million Wohnungen. Es baren und nicht — — gibt damit de facto keinen Ersatzwohnraum. Bei den Einliegerwohnungen geht es um mehr als 500 000 Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hitschler, Häuser, in denen solche Einliegerwohnungen beste- Sie sind weit über die Redezeit. hen. Ich meine also, in Erkenntnis der realen Lage im (Zuruf von der SPD: Ja, es reicht!) Osten müssen wir der Fünf-Jahre-Regelung zustim- men. Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Wieso? Ich habe fünf Lassen Sie mich eine zweite Bemerkung zu einem Minuten. anderen Punkt machen. Es ist hier mit einer Ausnah- mevorschrift vorgesehen, bei den Wohnungszuwei- Vizepräsident Hans Klein: Sie haben drei Minu- - sungen die Möglichkeit zu geben, sachfremde Tatbe- ten. stände in das Mietrecht einzuführen. Natürlich hat es Unrecht gegeben; wir haben darüber diskutiert. Aber (F.D.P.): Das ist mir neu. Mir Dr. Walter Hitschler dafür kann der Mieter doch nichts. Ich meine, wir wurden fünf Minuten zugebilligt. müssen auch diese Mieter schützen. Ich bitte deshalb darum, daß Sie alle dem Antrag der SPD zustim- Vizepräsident Hans Klein: Es tut mir leid! men. Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Dann gestatten Sie mir Ich danke für die Aufmerksamkeit. einen letzten Satz. (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Hans Klein: Ja.

Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Meine sehr verehrten Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr Damen und Herren, mein Kollege Kleinert hat diese Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesmini- Situation in unserer Fraktionssitzung überzeugend ster der Justiz, unser Kollege Rainer Funke. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10007

Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- nister der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und ren, wir können erst abstimmen, wenn ich einigerma- Herren! Nach den besonderen Mieterschutzvorschrif- ßen sicher bin, daß Sie hören, worüber wir abstim- ten des Einigungsvertrages sind Eigenbedarfskündi- men. gungen in den neuen Bundesländern bis zum Ende (Anhaltende Unruhe — Glocke des Präsiden dieses Jahres nur ausnahmsweise dann zulässig, ten) wenn der Ausschluß der Kündigung für den Vermieter eine nicht zu rechtfertigende Härte bedeuten würde. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll diese über den Gesetzentwurf des Bundesrates in der Aus- Schutzvorschrift um drei Jahre verlängert, aber schußfassung, Drucksachen 12/2758 und 12/3605 zugleich dem sozialen Mietrecht des BGB angenähert (neu). Die Fraktion der SPD beantragt auf Drucksache werden. Dies entspricht auch dem Vorschlag der 12/3613 zwei Änderungen. Sie verlangt, daß über die Bundesregierung. Nr. 1 und 2 ihres Änderungsantrags getrennt und jeweils namentlich abgestimmt wird. (Unruhe — Glocke des Präsidenten) Wir stimmen also zunächst über die Nr. 1 dieses Die im Einigungsvertrag angestrebte sozialverträg- Änderungsantrages ab. Ich bitte die Schriftführer, die liche Überleitung der bestehenden Mietverhältnisse vorgesehenen Plätze einzunehmen. Die Abstim- in das Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs wird mungsurnen befinden sich hier vorne am Stenogra- länger dauern als erwartet. Wir gehen davon aus, daß phentisch, im Gang zwischen Bundesregierung und drei Jahre ausreichen dürften. Wir wollen nicht zahl- F.D.P.-Fraktion, im Gang zwischen Bundesrat und lose unerquickliche Zwangsmietverhältnisse des PDS/Linke Liste sowie an den Haupteingangstüren. SED - Regimes über einen nicht mehr überschaubaren Haben die Schriftführer ihre Plätze eingenommen? und für die Wohnungseigentümer nicht mehr hin- — Dann eröffne ich die Abstimmung. nehmbaren Zeitraum verlängern. Wer einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland will, der muß Sind alle Stimmen abgegeben? — Ich schließe die auf längere Sicht auch einheitliche Rechtsverhält- Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Aus- nisse wollen. zählung zu beginnen. Ich möchte gleich mit der namentlichen Abstim- (Zuruf von der SPD: Der muß Wohnungen mung über Nr. 2 des Änderungsantrages der Fraktion bauen!) der SPD anfangen. Sind die Abstimmungsurnen aus- — Natürlich müssen wir auch Wohnungen bauen. getauscht? Sind die Schriftführer auf ihren Plätzen? — Aber Wohnungen werden doch nicht dadurch gebaut, Ich eröffne die Abstimmung. daß wir reglementieren, Herr Kollege. Sind alle Stimmen abgegeben? Können mir die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Schriftführer ein Zeichen geben? — Ich schließe die ten der CDU/CSU) Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Aus- zählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Wir wollen diese Rechtseinheit schrittweise einfüh- Abstimmungen wird nach dem nächsten Tagesord- ren. Darum halte ich es für richtig, jetzt die Regelung nungspunkt bekanntgegeben.**) Erst dann können zu erweitern, in denen der Eigen- über die Härtefälle wir die Abstimmung über den Gesetzentwurf fortset- tümer auch während der verlängerten Wartefrist zen. Eigenbedarf geltend machen kann. (Unruhe — Glocke des Präsidenten) Auch bei den Zweifamilienhäusern muß jetzt ein Meine Damen und Herren, wir möchten gern mit Anfang gemacht werden mit der Einführung des den Beratungen fortfahren. Ich bitte Sie, die Unterhal- sozialen Mietrechts. Es geht dabei natürlich nur um tungen einzustellen oder außerhalb des Raumes wei- Wohnungen in Zweifamilienhäusern, in denen der terzuführen. Eigentümer selbst wohnt. (Anhaltende Uruhe — Glocke des Präsiden ten) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Eigenbedarfsfälle treten hier auch kaum auf. Wenn a) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) aber der Eigentümer triftige Gründe hat, ein Mietver-- hältnis aufzulösen, dann dürfen wir ihm das nicht Sammelübersicht 55 zu Petitionen länger verwehren, auch im Hinblick auf Art. 14 des (Luftverunreinigung) Wir vertrauen bei dieser Regelung Grundgesetzes. — Drucksache 12/2296 — auf das soziale Mietrecht. Die Mieter sind nicht schutzlos. Wir haben künftig nur eine andere Qualität Beschlußfassung des Mieterschutzes. Kein Mieter braucht auf der b) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Straße zu stehen, aber er soll auch nicht ohne weiteres tionsausschusses (2. Ausschuß) eine ihm angebotene Ersatzwohnung ausschlagen Sammelübersicht 59 zu Petitionen dürfen. Es wird deshalb keine Kündigungswelle (Luftverunreinigung) geben. Derartige Prophezeihungen sind — das darf ich auch einmal ganz klar sagen — unverantwortliche — Drucksache 12/2558 — Panikmache. Beschlußfassung Vielen Dank, meine Damen und Herren. *) Ergebnis Seite 10012 D (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) **) Ergebnis Seite 10014 C 10008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Vizepräsident Hans Klein Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die ten. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, da ist etwas gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgese- dran. hen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich jetzt endgültig die (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist Kolleginnen und Kollegen, die an den Beratungen sogar wahr!) nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen. Mit demselben Argument freilich könnte man auch Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin behaupten, nicht das Ozonloch in der Atmosphäre Siegrun Klemmer das Wort. gefährde das Überleben auf der Erde, sondern die böse Sonne sei es, die sich erdreistet, durch dieses Loch hindurchzuscheinen. Wenn wir uns allen Proble- Siegrun Klemmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- men mit der gleichen Entschlossenheit stellen, meine leginnen und Kollegen! Wir behandeln heute zwei Damen und Herren, dann ist unsere Anwesenheit zu Petitionen, leider, wie uns das bei der Behandlung von ihrer Lösung hier in diesem Hohen Hause in der Tat Petitionen öfter passiert, zu relativ später Stunde und völlig überflüssig. leider unter wesentlichem Ausschluß der Öffentlich- keit, Petitionen, bei denen die Vertreter von CDU/ Die Vertreter der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU und F.D.P. im Petitionsausschuß es abgelehnt NEN, lieber Herr Kollege Feige, weisen auf den haben, sie der Bundesregierung wenigstens zur Erwä- Verkehr als Hauptfaktor bei der Ozonentstehung und gung und den Fraktionen des Deutschen Bundestages darauf hin, daß ein entsprechendes Verkehrskonzept zur Berücksichtigung zu überweisen. vorhanden sein müsse, um wirksam etwas gegen das Ozon zu unternehmen. Ein solches Konzept hat die (Zuruf von der F.D.P.: Das hat seinen Grund! SPD-Fraktion wiederholt vorgetragen. In unserem Das kann man nicht!) Antrag zur Bekämpfung des Sommer-Smogs/Minde- Wir haben zunächst eine Petition, die einen Ozon- rung der Ozonbelastung haben wir bei Überschreiten Immissionsgrenzwert von 120 Mikrogramm je Kubik- des Grenzwerts auch Verkehrsvermeidung und -ver- meter Luft festgelegt haben will, der nur einmal im lagerung, Tempolimit und s trengere Emissionswerte Jahr überschritten werden darf. Die Petition stellt fest, für Pkw und Lkw gefordert. daß Ozon negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen hat und am Waldsterben ursächlich Die andere Eingabe, um die es heute geht, beschäf- beteiligt ist: Aussagen, die auch vom Bundesumwelt- tigt sich mit der Klagebefugnis bei genehmigungs- ministerium nicht bestritten werden. Die Schweiz pflichtigen Anlagen im Zusammenhang mit dem führt mit Beginn des Jahres 1994 denselben Grenz- Ausstoß von Schadstoffen in die Luft, der aus diesen wert ein. Anlagen erfolgt. Einen schönen Zusammenhang zum Thema Ozon finden wir, wenn wir einen Blick in die Von den Vertretern der CDU/CSU und der F.D.P. im Zeitschrift „Umwelt" Nr. 5/1992 werfen, jenes Organ, Petitionsausschuß aber wurde es abgelehnt, diese mit dem uns der Herr Bundesumweltminister regel- Petition auch nur zur Erwägung an die Bundesregie- mäßig darüber informiert, was er geleistet hat oder zu rung weiterzuleiten. Warum? leisten gedenkt. Da heißt es nämlich, daß „aufgrund Die Kollegen von der CDU/CSU machten darauf der grenzüberschreitenden Schadstofftransporte na- aufmerksam, daß sich Ozon unter Einwirkung der tionale Alleingänge wenig wirksam" seien. Dieses Sonne auf verschiedene Vorläuferstoffe des Ozons Argument, das hier dazu herhält, die Konsequenz des entwickelt, daß man also besser bei der Entstehung eigenen Verhaltens herunterzuspielen und die Ver- dieser Vorläuferstoffe ansetze, um das Ozon selber antwortung dafür zu minimieren, wird von Regie- erst gar nicht entstehen zu lassen. Liebe Kolleginnen rungsseite im Zusammenhang mit der Klagebefugnis und Kollegen, Sie wollen doch nicht etwa behaupten, bei genehmigungspflichtigen Anlagen unterschla- ein Ozongrenzwert habe mit den Vorläuferstoffen gen, eben weil es für eine Ausweitung der Klagebe- nichts zu tun. Gesetzt den Fall, die Kommunen werden fugnis spricht. verpflichtet oder wenigstens befugt, bei Überschrei- ten des genannten Grenzwerts die von der SPD Denn — darauf weist der Petent sehr richtig hin — geforderten Maßnahmen zu ergreifen, so hat eine die Belastung für die Bewohner der Umgebung einer Verminderung des Autoverkehrs in der Stadt natür- solchen Anlage ergibt sich längst nicht nur aus den lich eine Verringerung des Ozons zur Folge, eben weil Emissionen dieser Anlage selbst, sondern aus dem sie gerade die Vorläuferstoffe vermindert, die- haupt- Zusammenwirken zahlreicher Emissionen, die sich sächlich im Straßenverkehr emittiert werden. Ein aus den teilweise weiten Schadstofftransporten erge- strengerer Ozongrenzwert setzt also sehr wohl an den ben. Das sehen wir besonders deutlich am Beispiel des Vorgängerstoffen des Ozons an. Dieser einleuchtende Waldsterbens. Niemand bestreitet mehr ernsthaft die Sachverhalt darf auch Ihnen eigentlich nicht verbor- Beteiligung tschechoslowakischer Kraftwerke und gen geblieben sein. früher auch derer der DDR an der Schädigung süd- deutscher Waldgebiete. Die Technische Anleitung Die Vertreter der F.D.P., in ihrer verzweifelten Luft aber berücksichtigt eine sich solcherart anhäu- Suche nach Gegenargumenten, schließen sich dieser fende Belastung durch Schadstoffemissionen gar konfusen Argumentationslinie an. Da aber die Entste- nicht oder nicht genügend. hung der Vorläuferstoffe bereits von der CDU/CSU in Anspruch genommen wurde, ist sich die F.D.P. nicht Von seiten der Bundesregierung wird bei der zu schade, darauf hinzuweisen, daß es ja gerade die Ablehnung dieser Petition wieder sehr konfus argu- Sonne sei, deren Einstrahlung auf die genannten mentiert, nicht allen Menschen auf der Erde könne ein Vorläuferstoffe erst zur Entstehung des Ozons führe, Mitspracherecht bei der Errichtung von Industrieanla- und die Sonne könne man schließlich nicht abschal gen eingeräumt werden. Als ob das irgend jemand Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10009

Siegrun Klemmer wollte! Es wird weiter gesagt: Schon die innerhalb des den Petitionen nicht sang- und klanglos in der Schub- heute herangezogenen Beurteilungsgebiets lebenden lade verschwinden zu lassen, zumal sie konkret und Personen werden alle eventuellen Argumente gegen sachlich Hinweise geben, die in ihrem Gehalt auch vor eine neue Industrieanlage aufführen, so daß man Experten Bestand haben. So sollte in der TA Luft ein diejenigen nicht auch noch zu berücksichtigen Passus eingeführt werden, dem zu entnehmen ist, daß braucht, die außerhalb des Beurteilungsgebiets leben. das dort definierte Beurteilungsgebiet nichts über Der Petent dagegen fordert, daß auch dieser Perso- eine eventuelle Klagebefugnis aussagt. nenkreis Klagebefugnis erhält. Ich appelliere an Sie von der Regierungskoalition, Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Petent hat liebe Kolleginnen und Kollegen: Seien Sie sich nicht darin recht, daß die Klagebefugnis nicht auf das zu schade, diese Petitionen der Regierung zur Erwä- Beurteilungsgebiet von zwei Kilometern Umkreis gung zu überweisen, und nehmen Sie sie als Fraktion beschränkt sein darf. Das folgt schon aus der Möglich- zur Kenntnis. Denn eines Tages werden Sie sowieso keit der Konzentration von Schadstoffen, die von nicht mehr darum herumkommen, Entwicklungen anderen Anlagen herangetragen werden können und anzuerkennen, vor denen Sie heute offensichtlich von denen nicht alle im Umkreis lebenden Menschen noch die Augen verschließen. gleich be troffen sein müssen. Das Bundesverwal- Ich danke Ihnen. tungsgericht hat die Klage eines EG-Ausländers (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gegen ein Atomkraftwerk auf deutschem Boden DIE GRÜNEN) zugelassen. Das Gericht hat damit sehr deutlich doku- mentiert, daß die Festlegung einer Übereinstimmung von Klagebefugnis und Beurteilungsgebiet dem deut- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen schen Rechtssystem zumindest nichts nutzt, eher Steffen Kampeter das Wort. schadet. (Unruhe) Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Sam- melübersichten 55 und 59 liegen zwei Petitionen Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich Sie zugrunde, die sich mit der Luftreinhaltepolitik in der unterbrechen. — Meine Damen und Herren, es sind Bundesrepublik Deutschland beschäftigen. Dieses — ich habe das soeben zu zählen versucht — an die 15 Thema hat nicht erst seit dem Umweltgipfel in Rio, an bis 17 Miniaturkonferenzen in diesem Saal im Gange, dem sich in der ersten Junihälfte dieses Jahres zum Teil unter heftiger Gestikulation der Teilnehmer 178 Staaten beteiligt haben, einen besonders hohen oder unter Rückenzukehrung gegenüber der Redne- Stellenwert im Rahmen der Umweltschutzpolitik die- rin. Unruhe ist etwas Fabelhaftes, wenn sie dem ser Bundesregierung. Noch vor wenigen Tagen hat Gegenstand gilt. Aber Unruhe, die Desinteresse und der Bundesumweltminister zentrale Ergebnisse die- Rücksichtslosigkeit signalisiert, finde ich unfair. Ich ses Weltklimagipfels von Rio auf der Vollversamm- bitte Sie herzlich, wenn Sie Gespräche führen wollen, lung der Vereinten Nationen bekräftigt, insbesondere die nichts mit der Debatte zu tun haben, das draußen die Aussagen zur CO2-Reduktion in der Bundesrepu- zu tun. Wenn Sie herinnen bleiben, nehmen Sie Anteil blik. an der Debatte und schenken Sie der Rednerin die notwendige Aufmerksamkeit. Die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Petitionsausschuß begrüßen es daher nachdrück- Vielen Dank. Bitte fahren Sie fort. lich, wenn Petenten ihr grundgesetzlich garantiertes Recht auf Petitionen dazu nutzen, um auch die wich- Siegrun Klemmer (SPD): Schönen Dank, Herr Präsi- tigen Anliegen der Luftreinhaltepolitik zum Gegen- dent. Wir behandeln ein sehr schwieriges Thema, das stand zusätzlicher parlamentarischer Beratungen zu möglicherweise nicht allen Kolleginnen und Kollegen machen. beim bloßen Zuhören geläufig ist. Vielleicht liegt es Die beiden Themen der Sammelübersichten 55 und auch daran. 59 sind zum einen die Einführung eines Grenzwerts Es ist wirklich nicht einzusehen, warum die genann- für bodennahes Ozon und zum anderen eine Verän- ten Petitionen für die Regierung noch nicht einmal derung der Technischen Anleitung Luft. Mit der erwägenswert sein sollen. Von der inhaltlichen Frage-- Technischen Anleitung Luft hat der Bundesumwelt- stellung der konkret angesprochenen Regelungen minister im Jahre 1986 eine Verwaltungsvorschrift abgesehen vertun wir damit eine Chance, die sowohl novelliert, die einen wesentlichen Impuls für die in der Umweltpolitik als auch in unserem Petitionswe- Luftreinhaltepolitik in der Bundesrepublik Deutsch- sen liegt, nämlich die Chance einer größeren Bürger- land bedeutete. Sie hat u. a. dazu beigetragen, daß für beteiligung, die Chance, etwas gegen die vielzitierte die Luftreinhaltung seither Investitionen in Höhe von Politikverdrossenheit zu tun. Wir sollten die Umwelt- über 12 Milliarden DM privat finanziert worden politik auch als einen Politikbereich gestalten, in dem sind. wir, modellhaft für andere Bereiche, die Bürgerbetei- Diese Technische Anleitung Luft hat durchaus für ligung bei der Gestaltung der konkreten Lebensver- die unmittelbare Lebensumwelt in Ihren Wahlkreisen hältnisse so weit wie möglich in unsere Entschei- Bedeutung. Wenn Sie sich beispielsweise einmal bei dungsprozesse einbeziehen. Für das Petitionswesen Unternehmen umschauen, die mit Lacken und Farben brauche ich es nicht zu sagen. Sein Wesen besteht arbeiten, werden Sie feststellen, welche für die Mitar- gerade darin, die Bürgerinnen und Bürger direkt bei beiter gesundheitsentlastenden Wirkungen die stren- den gewählten Entscheidungsträgern zu Wort kom- gen Vorschriften der TA Luft haben und wieviel men zu lassen. Das ist ein Grund mehr, die vorliegen Zustimmung diese Verwaltungsvorschrift bei den 10010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Steffen Kampeter betroffenen Mitarbeitern, aber auch bei zahlreichen zuständigen Länderbehörden in die Lage, bei Über- umweltbewußten Unternehmern gefunden hat. schreiten vorgegebener Schadstoffkonzentrationen umweltgerechte Konzepte für den Verkehr in den Aber auch mit anderen Elementen unserer Luftrein- bundesdeutschen Innenstädten umzusetzen. haltepolitik, die sich neben der Technischen Anlei- tung Luft gegen die schädlichen Wirkungen des Lassen Sie mich darüber hinaus darauf hinweisen, bodennahen Ozons richten, haben wir in den vergan- daß dies eine wesentliche staatliche Rahmendatenset- genen Jahren wichtige Erfolge erzielen können. Uns zung für die weitere Einführung von emissionsarmen allen ist die schleimhautreizende Wirkung des Ozons Kraftfahrzeugen durch den Markt ist. bekannt. Die Atemwege, das Lungengewebe und die körperliche Befindlichkeit werden bei hohen Ozon- Nun zu den Anliegen der Petenten im einzelnen. In werten stark behindert. Wir wissen sehr wohl um die der Technischen Anleitung Luft werden emissions Gesundheitswirkungen des Ozons. schutzrechtliche Standards genehmigungspflichtiger Anlagen festgelegt. Das in 2.6.2.2. festgelegte Beur- Ozon ist — darauf hat die Kollegin Klemmer richti- teilungsgebiet für eine zu beurteilende Anlage setzt gerweise hingewiesen — das Endprodukt einer sich aus dem unmittelbar um die Emissionsquelle umfassenden chemischen Wirkungskette. Es ist gelegenen Kernbereich und weiteren Beurteilungs- — dies haben mir Chemiker wiederholt überzeugend flächen zusammen. Es ist so festgelegt, daß außerhalb darlegen können — schwierig, ja geradezu unmög- dieses Beurteilungsgebiets relevante Emissionsbei- lich, Ozon direkt zu bekämpfen. Daher ist es Ziel der träge aus der stationären Anlage regelmäßig nicht zu Politik unserer Bundesregierung, die Vorläufersub- erwarten sind. Wir sind der festen Überzeugung, daß stanzen, die an dieser Kettenreaktion beteiligt sind, zu es eine sachgerechte Lösung ist, wie das Beurteilungs- begrenzen. gebiet derzeit in der Technischen Anleitung Luft festgelegt ist. Lassen Sie mich einige Eckpunkte unserer Politik gegen das bodennahe Ozon erläutern. Fast jedes in Wenn nun der Petent glaubt, die Klagebefugnis der Bundesrepublik neu zugelassene Auto mit Ver- hänge von der Größe des Beurteilungsgebiets ab, so brennungs-Benzinmotor und über ein Drittel des ist dies leider nicht zutreffend. Die Befugnis der Klage Gesamtbestandes an Pkw in der Bundesrepublik gegen die Genehmigung einer entsprechenden Deutschland haben heute bereits den geregelten Anlage ist allein nach § 42 Abs. 2 Verwaltungsge- Dreiwegekatalysator. In den neuen Bundesländern richtsordnung zu bestimmen, nicht jedoch durch eine — dies ist ein zweiter wichtiger Punkt — wird zügig Änderung der Technischen Anleitung Luft. Bei der TA mit der Entstickung der Kraftwerkskapazitäten Luft handelt es sich im wesentlichen um eine Konkre- begonnen. Die Nachrüstung bei den Kraftwerken in tisierung einer Verwaltungsvorschrift im Rahmen des den alten Bundesländern ist nahezu abgeschlossen. Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Sie kann und darf nicht die Funktion haben, die Klagebefugnis betroffe- Ein dritter wichtiger Punkt ist folgender. Ich finde, ner Nachbarn im Rahmen eines verwaltungsgerichtli- es ist ganz erheblicher Erfolg der europäischen chen Verfahrens zu regeln. Eine Veränderung der TA Umweltpolitik, daß es seit 1985 eine Stickoxidrichtli- Luft in bezug auf diesen Punkt wäre rechtssystema- nie gibt, die europaweit für diesen Stoff strenge tisch verfehlt. Sie kann die Ge richte weder positiv Grenzwerte festschreibt. noch negativ beeinflussen. Diese drei wichtigen Erfolgsbereiche haben uns Würde man die Petition dahin gehend uminterpre- noch nicht zufriedengestellt. Wir wollen auch zukünf- tieren wollen, daß man eine Popularklage, d. h. eine tig einen besonderen Schwerpunkt auf die Begren- Jedermann-Klage zulassen wollte, könnte dies aus zung der Vorläufersubstanzen des Ozons legen. Im gutem Grunde ebenfalls nicht unsere Unterstützung Verkehr bedeutet dies u. a. eine drastische Verschär- finden, fung der Abgasnormen, die es europaweit durchzu- setzen gilt. Der Bundesumweltminister hat auf den Ähnlich verhält es sich mit dem Anliegen aus der Verkehrsministerkonferenzen hierzu bereits für die Sammelübersicht 59. Hier geht es um die Festlegung Bundesrepublik entsprechende Vorschläge unter- eines Eingriffswertes für bodennahes Ozon bei einem breitet. Im Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen Wert von mehr als 120 Mikrogramm pro Kubikmeter soll für das Jahr 1999 eine nochmalige Halbierung der Luft. für den Sommersmog verantwortlichen Schadstoff-- emissionen angestrebt werden. Ich weise darauf hin, daß wesentliche Elemente unserer Politik gegen bodennahes Ozon Eingang in

In diesem Zusammenhang halte ich es für ein eine EG - Richtlinie gefunden haben, in der ein Infor- besonders ehrgeiziges und sicherlich nur mit Schwie- mationswert, aber kein Alarmwert bei 175 Mikro- rigkeiten zu erreichendes Ziel, die CO2-Emissionen gramm pro Kubikmeter Luft festgesetzt wurde. Diese des Verkehrs deutlich zu verringern. Hier bedarf es Politik basiert u. a. auf einem Symposium, das der noch weiterer zusätzlicher Anstrengungen, die wir im TÜV und der Verein Deutscher Ingenieure gemein- Deutschen Bundestag politisch unterstützen sollten. sam mit dem Bundesumweltministerium durchgeführt haben. Dort wurde unsere sehr vorsichtige und sehr Schließlich — dies ist ein weiterer Punkt, an dem es weitsichtige Politik im Ozonbereich bestätigt. Insbe- in den nächsten Wochen und Monaten zu arbeiten sondere wird angeregt, großräumige Konzepte für die gilt — , muß eine Verordnung nach § 40 Abs. 2 des dauerhafte Ozonverminderung durchzusetzen. Bundes-Immissionsschutzgesetzes vorgelegt werden, die sich mit sogenannten kleinräumigen Verkehrsein- Für die Verringerung der Vorläufersubstanzen schränkungsmaßnahmen beschäftigt. Sie versetzt die haben wir im Sofia-Protokoll einen wichtigen Schritt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10011

Steffen Kampeter getan. Neben der Bundesrepublik haben sich zwölf Ozon bildet sich zum Teil erst Stunden nach der weitere Staaten verpflichtet, ihre Stickoxidemissionen Emission des Primärstoffes; ein großer Teil der Pri- bis 1998 um 30 % zu verringern. 1991 wurde im märstoffe ist dann nicht mehr im Fällgebiet vorhan- Anschluß an dieses Protokoll vereinbart, auch bei den den. Das heißt, daß die Primärstoffe, die sonnenab- flüchtigen organischen Verbindungen zu wichtigen hängig für die Bildung von Ozon verantwortlich sind, Verringerungen zu kommen. viel früher meßbar sind als das Ozon selber. Deswegen Wir sehen, daß es in der Bevölkerung in bezug auf ist es sinnvoller, die Schadstoffkonzentration, nicht die die Ozonentwicklung in der Bundesrepublik ein drin- Ozonkonzentration zu begrenzen. gendes Informationsbedürfnis gibt. Deswegen be- Das läßt sich aber nicht mit kurzfristigen Patentre- grüße ich es ausdrücklich, daß der Bundesumweltmi- zepten machen; es sind auch EG - weite Maßnahmen nister in einem jährlichen Be richt die Ozonentwick- erforderlich, denn die Ozonbildung ist nicht örtlich lung darlegen wird. Dies halte ich auch für einen begrenzt, sondern erfolgt häufig weit weg von der vernünftigen Schritt, um über die Erfolge der ozonver- Primärstoffemission. Das, was Sie, Frau Kollegin ringernden Politik zu informieren. Klemmer, vorhin als „diffuse Argumentation" be- (Beifall bei der CDU/CSU) zeichnet haben, ist nichts anderes als chemisches Basiswissen. Die Petition geht insoweit weit über das Realisier- bare hinaus, als sie fordert, den Grenzwert von 120 Mi- (Heiterkeit bei der F.D.P.) krogramm pro Kubikmeter Luft zu einem Eingriffs- Es gibt eine Vielzahl von technischen Möglichkei- grenzwert zu machen, der schon bei lediglich einma- ten, mit denen die Ansammlung von Primärstoffen, liger Überschreitung zu Verhaltensänderungen infolge davon natürlich auch die Ozonbildung, verrin- führt. gert werden kann. Gerade bei den Pkw reicht es nicht aus, daß ein Auto mit Kat gefahren wird. Die F.D.P. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, die Über- fordert vielmehr, daß bezüglich des Kraftstoffver- schreitung der Redezeit hat bereits stattgefunden. brauchs verbrauchsärmere Fahrzeuge entwickelt werden bzw. die Industrie ihre Pläne für solche Fahrzeuge mit geringem Flottenverbrauch endlich Steffen Kampeter (CDU/CSU): Auch das Beispiel aus der Schublade zieht. Schweiz zeigt nicht, daß wir hier einen falschen politischen Ansatz vertreten, denn dort wird lediglich (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ein Wert im Langfristkonzept gefordert. Wir gehen in ten der CDU/CSU) eine ähnliche Richtung. Wir denken, daß es realistisch Außerdem fordert meine Fraktion den Umweltmini- ist, weder die Klagebefugnis in der Technischen ster auf, endlich die sogenannte Sommersmogverord- Anleitung Luft neu zu fassen, noch einem entspre- nung nach § 40 Abs. 2 BImSchG einzuführen, in der chenden Grenzwert zuzustimmen. Daher wird die Konzentrationswerte für die Primärstoffe festgelegt CDU/CSU-Fraktion diese beiden Petitionen hier wie sein müssen. Damit kann der Ozonbildung erfolgreich schon im Petitionsausschuß für erledigt erklären. vorgebeugt werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kampeter? Vizepräsident Hans Klein: Auch im neuen Plenar- saal bedeutet das gelbe Licht, daß die Redezeit noch Birgit Homburger (F.D.P.): Wenn es nicht auf die eine Minute beträgt, und das rote Licht, daß sie Redezeit angerechnet wird. beendet ist. Wenn der Präsident noch zusätzlich mahnt, sollte bitte wirklich nur noch ein Satz, nicht aber mit zehn Schachtelsätzen, gesprochen werden. m Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Kollegin Ho burger, ist Ihnen bekannt, daß der Bundesumweltmi- Als nächste hat die Kollegin Birgit Homburger das nister hierfür nicht alleine zuständig ist, es vielmehr Wort. eines Beschlusses des Bundesrates bedarf, sich Ihr Appell also nicht allein an den Bundesumweltmini- Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Meine ster, sondern insbesondere an die Bundesländer rich- Damen und Herren! Der eine Petent fordert- die ten muß, die einer entsprechenden Verordnung nach Festlegung eines Grenzwertes für Ozon von 120 Mi- dem Bun des-Immissionsschutzgesetz zustimmen krogramm pro Kubikmeter. Diese Forderung wird, müssen? wie wir gehört haben, auch von der SPD erhoben. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stellt sich durchaus die Frage, ob das überhaupt sinnvoll ist. Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Kollege Kampeter, Zunächst einmal muß man sich vor Augen führen, selbstverständlich ist mir klar, daß der Bundesrat wie bodennahes Ozon überhaupt entsteht. Ozon ist zustimmen muß. Ich denke aber, daß der Bundesum- ein Sekundärstoff, dessen Bildung in komplexer und weltminister, als solcher für die Umwelt verantwort- nichtlinearer Weise von der meteorologischen Situa- lich, schlicht und ergreifend die Initiative überneh- tion abhängt. Die Primärstoffe oder besser die men sollte. Beschleuniger, aus denen Ozon gebildet wird, sind Stickstoffoxide und flüchtige organische Verbindun- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr gut!) gen. Aber, Frau Kollegin Klemmer, Ozon bildet sich Gemeinsam sollte diese Sommersmogverordnung durchaus auch ohne diese Primärstoffe. eingeführt werden. 10012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Birgit Homburger Ich denke, daß dies nicht weiter hinausgezögert Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD werden darf, vor allen Dingen weil die Städte gewisse auf Drucksache 12/3610 vor. Wer stimmt für diesen Vorlaufzeiten brauchen, um Meßstationen einzurich- Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer ten, um zu lernen, damit umzugehen, und um entspre- enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist chende Verkehrskonzepte zu entwickeln. abgelehnt. Ich will, nachdem schon wieder die letzte Minute Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- meiner Redezeit angebrochen ist, zu der zweiten tionsausschusses? Gegenprobe! — Enthaltungen? Petition bezüglich der Änderungsvorschläge zur TA — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. kommen. Zunächst einmal ist zu sagen, daß die Luft Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Begrenzung des klagebefugten Personenkreises Petitionsausschusses auf Drucksache 12/2558, Sam- nicht durch die TA Luft, sondern durch die Verwal- melübersicht 59, ab. Dazu liegt ein Änderungsantrag tungsgerichtsordnung vorgegeben ist und schon der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3611 vor. Wer allein deswegen der Forderung der Petition nicht stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! entsprochen werden kann. — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abge- Die Festlegung des Begrenzungsgebiets erfolgt aus lehnt. der Erfahrung, daß außerhalb bestimmter Grenzen keine relevanten und regelmäßigen Emissionsbeiträ- Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- ge zu erwarten sind. Das Beurteilungsgebiet ist tionsausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen? dadurch, daß es über zwei Kriterien definiert wird, — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. schon weitergefaßt, als das früher der Fall war. Damals Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zurück war die Ausdehnung des Beurteilungsgebiets ledig- zu Zusatztagesordnungspunkt 5, zum Gesetzentwurf lich von der Schornsteinhöhe abhängig. des Bundesrates zur Verlängerung der Wartefristen Wenn der Petition entsprochen würde, bedeutete für Eigenbedarfskündigungen.*) Ich gebe das von dies, daß alle ca. 5 Milliarden Menschen dieser Erde den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli- bei allen nach der TA Luft genehmigungsbedürftigen chen Abstimmung über Nr. 1 des Änderungsantrags Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland ein Kla- der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3613 gerecht hätten. Das wäre die Konsequenz, Frau Kol- bekannt: abgegebene Stimmen: 447, davon ungültig: legin Klemmer. Einer solchen Sache können wir nicht keine. Mit Ja haben gestimmt: 168. Mit Nein haben zustimmen. Das ist in keiner Weise sachgerecht. gestimmt: 274. Enthaltungen: 5. Die Unterstützung durch die SPD-Fraktion ist für mich reiner Ausfluß der Verhinderungspolitik, wenn *) Vgl. Seite 10007 C man daran denkt, daß genehmigungsbedürftige Anla- gen im vorliegenden Sinne z. B. auch Müllverbren- nungsanlagen sind. Endgültiges Ergebnis Daubertshäuser, Klaus (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Sehr richtig!) Dr. Dobberthien, Marliese Abgegebene Stimmen: 443; Dreßler, Rudolf Das hätte zur Folge, daß Genehmigungsverfahren davon Duve, Freimut nicht mehr in angemessener Zeit abgeschlossen wer- Eich, Ludwig den könnten. Das ist nicht der Sinn des Einzelklage ja: 166 Dr. Elmer, Konrad Erler, Gernot rechts. nein: 273 Ewen, Carl Wir lehnen ein Popularklagerecht ab. Anders sieht enthalten: 4 Ferner, Elke es die F.D.P. mit dem Verbandsklagerecht. Wenn Fischer (Homburg), Lothar Formanski, Norbert anerkannte Umweltverbände bei Planfeststellungs- Fuchs (Verl), Katrin verfahren beteiligt werden, sollen sie nach unserer Ja Ganseforth, Monika Auffassung auch ein Klagerecht erhalten; dafür tritt Gansel, Norbert Gilges, Konrad die F.D.P. weiterhin ein. Eine solche sinnvolle Sache CDU/CSU Gleicke, Iris ist aber nicht Gegenstand der Petition. Graf, Günter Krause (Dessau), Wolfgang Wenn Sie, Frau Kollegin Klemmer, fordern, daß die Haack (Extertal), Karl Hermann Fraktionen des Bundestages die Petition zur Kenntnis Habermann, Frank-Michael - nehmen, möchte ich darauf hinweisen: Das haben wir SPD Hacker, Hans-Joachim längst getan; sonst hätten wir uns keine Meinung Hampel, Manfred Eugen bilden können. Ich kann nur empfehlen, diese beiden Adler, Brigitte Hanewinckel, Christel Andres, Gerd Hasenfratz, Klaus Petitionen abzulehnen und abzuschließen. Barbe, Angelika Hilsberg, Stephan Danke schön. Bartsch, Holger Iwersen, Gabriele Becker (Nienberge), Helmuth Jäger, Renate (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Berger, Hans Janz, Ilse Bindig, Rudolf Dr. Janzen, Ulrich Dr. Böhme (Unna), Ulrich Jaunich, Horst Dr. Brecht, Eberhard Jung (Düsseldorf), Volker Büchner (Speyer), Peter Kastner, Susanne Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Dr. von Bülow, Andreas Kirschner, Klaus che. Bulmahn, Edelgard Klappert, Marianne Burchardt, Ursula Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst Bury, Hans Martin Dr. sc. Knaape, Hans-Hinrich über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschus- Caspers-Merk, Marion Kolbow, Walter ses auf Drucksache 12/2296, Sammelübersicht 55. Conradi, Peter Kubatschka, Horst Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10013

Vizepräsident Hans Klein Dr. Küster, Uwe Dr. Wetzel, Margrit Clemens, Joachim Dr. Laufs, Paul Lange, Brigitte Weyel, Gudrun Dehnel, Wolfgang Laumann, Karl Josef von Larcher, Detlev Dr. Wieczorek, Norbert Dempwolf, Gertrud Dr. Lehr, Ursula Leidinger, Robert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Deß, Albert Limbach, Editha Lennartz, Klaus Wiefelspütz, Dieter Diemers, Renate Link (Diepholz), Walter Dr. Leonhard-Schmid, Elke Dr. de With, Hans Doss, Hansjürgen Lintner, Eduard Dr. Lucyga, Christine Wittich, Berthold Dr. Dregger, Alfred Dr. Lippold (Offenbach), Maaß (Herne), Dieter Wohlleben, Verena Echternach, Jürgen Klaus W. Mascher, Ulrike Wolf, Hanna Ehlers, Wolfgang Dr. sc. Lischewski, Manfred Matschie, Christoph Zapf, Uta Ehrbar, Udo Löwisch, Sigrun Dr. Matterne, Dietmar Eichhorn, Maria Lohmann (Lüdenscheid), Meckel, Markus Engelmann, Wolfgang Wolfgang Mehl, Ulrike Falk, Ilse Louven, Julius Dr. Meyer (Ulm), Jürgen PDS/Linke Liste Dr. Fell, Karl Lummer, Heinrich Mosdorf, Siegmar Fischer (Unna), Leni Dr. Luther, Michael Müller (Pleisweiler), Albrecht Bläss, Petra Fockenberg, Winfried Maaß (Wilhelmshaven), Erich Müller (Schweinfurt), Rudolf Dr. Enkelmann, Dagmar Frankenhauser, Herbert Männle, Ursula Müller (Völklingen), Jutta Dr. Fischer, Ursula Dr. Friedrich, Gerhard Magin, Theo Müller (Zittau), Christian Dr. Fuchs, Ruth Fritz, Erich G. Dr. Mahlo, Dietrich Müntefering, Franz Dr. Heuer, Uwe-Jens Fuchtel, Hans-Joachim Marienfeld, Claire Neumann (Bramsche), Volker Dr. Höll, Barbara Ganz (St. Wendel), Johannes Marschewski, Erwin Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Keller, Dietmar Geiger, Michaela Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Dr. Niehuis, Edith Lederer, Andrea Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Martin Niggemeier, Horst Dr. Modrow, Hans Geis, Norbert Meckelburg, Wolfgang Odendahl, Doris Philipp, Ingeborg Dr. von Geldern, Wolfgang Meinl, Rudolf Horst Oostergetelo, Jan Dr. Schumann (Kroppenstedt), Gerster (Mainz), Johannes Dr. Merkel, Angela Opel, Manfred Fritz Gibtner, Horst Dr. Meseke, Hedda Ostertag, Adolf Stachowa, Angela Glos, Michael Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Otto, Helga Göttsching, Martin Reinhard Dr. Penner, Willfried Götz, Peter Michels, Meinolf Peter (Kassel), Horst Grochtmann, Elisabeth Dr. Mildner, Klaus Gerhard Dr. Pfaff, Martin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gröbl, Wolfgang Dr. Möller, Franz Pfuhl, Albert Grotz, Claus-Peter Müller (Kirchheim), Elmar Dr. Pick, Eckhart Dr. Feige, Klaus-Dieter Dr. Grünewald, Joachim Nelle, Engelbert Poß, Joachim Köppe, Ingrid Günther (Duisburg), Horst Neumann (Bremen), Bernd Reimann, Manfred Poppe, Gerd Frhr. von Hammerstein, Nitsch, Johannes von Renesse, Margot Schenk, Christina Carl-Detlev Nolte, Claudia Rennebach, Renate Schulz (Berlin), Werner Harries, Klaus Ost, Friedhelm Rixe, Günter Dr. Ullmann, Wolfgang Hasselfeldt, Gerda Oswald, Eduard Roth, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Haungs, Rainer Dr. Päselt, Gerhard Schaich-Walch, Gudrun Wollenberger, Vera Hauser (Esslingen), Otto Dr. Paziorek, Peter Paul Schanz, Dieter Hauser (Rednitzhembach), Pesch, Hans-Wilhelm Dr. Scheer, Hermann Hansgeorg Petzold, Ulrich Schily, Otto Heise, Manfred Pfeffermann, Gerhard O. Schloten, Dieter Fraktionslos Dr. Hellwig, Renate Dr. Pinger, Winfried Schluckebier, Günter Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Pofalla, Ronald Schmidbauer (Nürnberg), Henn, Bernd Hinsken, Ernst Dr. Pohler, Hermann Horst Hintze, Peter Priebus, Rosemarie Schmidt (Aachen), Ursula Hörsken, Heinz-Adolf Dr. Probst, Albert Schmidt-Zadel, Regina Hörster, Joachim Dr. Protzner, Bernd Schreiner, Ottmar Dr. Hoffacker, Paul Raidel, Hans Schröter, Gisela Nein Hollerith, Josef Rau, Rolf Schröter, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Rauen, Peter Harald Schulte (Hameln), Brigitte CDU/CSU Hüppe, Hubert Rawe, Wilhelm Dr. Schuster, R. Werner Jäger, Claus Regenspurger, Otto Schwanhold, Ernst Dr. Ackermann, Else Jagoda, Bernhard Reichenbach, Klaus Seidenthal, Bodo Adam, Ulrich Dr. Jahn (Münster), Dr. Reinartz, Berthold Seuster, Lisa Dr. Altherr, Walter Friedrich-Adolf Reinhardt, Erika Sielaff, Horst Augustin, Anneliese Janovsky, Georg Riegert, Klaus Simm, Erika Augustinowitz, Jürgen Jeltsch, Karin Dr. Riesenhuber, Heinz Singer, Johannes Bargfrede, Heinz-Günther Dr. Jobst, Dionys Ringkamp, Werner Sorge, Wieland Dr. Bauer, Wolf Dr. Jüttner, Egon Rode (Wietzen), Helmut Dr. Sperling, Dietrich Baumeister, Brigitte Jung (Limburg), Michael Romer, Franz Steen, Antje-Marie Bayha, Richard - Junghanns, Ulrich Rother, Heinz Dr. Struck, Peter Belle, Meinrad Kampeter, Steffen Dr. Ruck, Christian Tappe, Joachim Bierling, Hans-Dirk Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Rühe, Volker Dr. Thalheim, Gerald Dr. Blank, Joseph-Theodor Karwatzki, Irmgard Dr. Rüttgers, Jürgen Vergin, Siegfried Blank, Renate Kittelmann, Peter Sauer (Salzgitter), Helmut Verheugen, Günter Dr. Blens, Heribert Klein (Bremen), Günter Scharrenbroich, Heribert Dr. Vogel, Hans-Jochen Bleser, Peter Klein (München), Hans Schätzle, Ortrun Voigt (Frankfurt), Karsten D. Dr. Blüm, Norbert Klinkert, Ulrich Dr. Schäuble, Wolfgang Wallow, Hans Dr. Böhmer, Maria Köhler (Hainspitz), Schemken, Heinz Walter (Cochem), Ralf Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Hans-Ulrich Scheu, Gerhard Wartenberg (Berlin), Gerd Dr. Bötsch, Wolfgang Dr. Köhler (Wolfsburg), Schmalz, Ulrich Weiermann, Wolfgang Bohl, Friedrich Volkmar Schmidt (Fürth), Christian Weiler, Barbara Brähmig, Klaus Kossendey, Thomas Dr. Schmidt (Halsbrücke), Weis (Stendal), Reinhard Brudlewsky, Monika Kraus, Rudolf Joachim Weisheit, Matthias Brunnhuber, Georg Krey, Franz Heinrich Schmidt (Mühlheim), Andreas Welt, Hans-Joachim Bühler (Bruchsal), Klaus Krziskewitz, Reiner Eberhard Schmidt (Spiesen), Trudi Dr. Wernitz, Axel Büttner (Schönebeck), Lamers, Karl Dr. Schockenhoff, Andreas Westrich, Lydia Hartmut Lamp, Helmut Johannes Graf von Schönburg Wettig-Danielmeier, Inge Buwitt, Dankward Lattmann, Herbert Glauchau, Joachim 10014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Vizepräsident Hans Klein Dr. Schreiber, Harald Ganschow, Jörg Endgültiges Ergebnis Mascher, Ulrike Schulhoff, Wolfgang Gries, Ekkehard Matschie, Christoph Dr. Schulte (Schwäbisch Günther (Plauen), Joachim Abgegebene Stimmen: 459; Dr. Matterne, Dietmar Gmünd), Dieter Hansen, Dirk davon Meckel, Markus Schulz (Leipzig), Gerhard Dr. Haussmann, Helmut Mehl, Ulrike Schwalbe, Clemens Heinrich, Ulrich ja: 169 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Schwarz, Stefan Dr. Hirsch, Burkhard nein: 284 Mosdorf, Siegmar Seehofer, Horst Dr. Hitschler, Walter Müller (Pleisweiler), Albrecht Seesing, Heinrich Homburger, Birgit enthalten: 6 Müller (Schweinfurt), Rudolf Seibel, Winfried Dr. Hoyer, Werner Müller (Völklingen), Jutta Sikora, Jürgen Irmer, Ulrich Müller (Zittau), Christian Skowron, Werner H. Kleinert (Hannover), Detlef Müntefering, Franz Dr. Sopart, Hans-Joachim Kohn, Roland Neumann (Bramsche), Volker Sothmann, Bärbel Dr. Kolb, Heinrich L. Ja Neumann (Gotha), Gerhard Spilker, Karl-Heinz Koppelin, Jürgen Dr. Niehuis, Edith Spranger, Carl-Dieter Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans SPD Niggemeier, Horst Dr. Sprung, Rudolf Nolting, Günther Friedrich Odendahl, Doris Steinbach-Hermann, Erika Paintner, Johann Adler, Brigitte Oostergetelo, Jan Dr. Stercken, Hans Peters, Lisa Andres, Gerd Opel, Manfred Dr. Frhr. von Stetten, Dr. Pohl, Eva Barbe, Angelika Ostertag, Adolf Wolfgang Richter (Bremerhaven), Bartsch, Holger Dr. Otto, Helga Stockhausen, Karl Manfred Becker (Nienberge), Helmuth Dr. Penner, Willfried Dr. Süssmuth, Rita Rind, Hermann Berger, Hans Peter (Kassel), Horst Susset, Egon Dr. Röhl, Klaus Bindig, Rudolf Dr. Pfaff, Martin Uldall, Gunnar Schmalz-Jacobsen, Cornelia Dr. Böhme (Unna), Ulrich Pfuhl, Albert Verhülsdonk, Roswitha Schmidt (Dresden), Arno Dr. Brecht, Eberhard Dr. Pick, Eckhart Vogel (Ennepetal), Friedrich Dr. Schmieder, Jürgen Büchner (Speyer), Peter Poß, Joachim Vogt (Düren), Wolfgang Dr. Schnittler, Christoph Dr. von Bülow, Andreas Reimann, Manfred Dr. Voigt (Northeim), Dr. Schwaetzer, Irmgard Bulmahn, Edelgard von Renesse, Margot Hans-Peter Sehn, Marita Burchardt, Ursula Rennebach, Renate Dr. Vondran, Ruprecht Seiler-Albring, Ursula Bury, Hans Martin Rixe, Günter Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Semper, Sigrid Caspers-Merk, Marion Roth, Wolfgang Dr. Warrikoff, Alexander Dr. Solms, Hermann Otto Catenhusen, Wolf-Michael Schaich-Walch, Gudrun Werner (Ulm), Herbert Dr. Starnick, Jürgen Conradi, Peter Schanz, Dieter Wetzel, Kersten Dr. Thomae, Dieter Daubertshäuser, Klaus Dr. Scheer, Hermann Wiechatzek, Gabriele Timm, Jürgen Dr. Dobberthien, Marliese Schily, Otto Wilz, Bernd Walz, Ingrid Dreßler, Rudolf Schloten, Dieter Wimmer (Neuss), Willy Wolfgramm (Göttingen), Duve, Freimut Schluckebier, Günter Wissmann, Matthias Torsten Eich, Ludwig Schmidbauer (Nürnberg), Dr. Wittmann, Fritz Würfel, Uta Dr. Elmer, Konrad Horst Wittmann (Tännesberg), Zurheide, Burkhard Erler, Gernot Schmidt (Aachen), Ursula Simon Ewen, Carl Schmidt-Zadel, Regina Wonneberger, Michael Ferner, Elke Schreiner, Ottmar Wülfing, Elke Fischer (Homburg), Lothar Schröter, Gisela Yzer, Cornelia Formanski, Norbert Schröter, Karl-Heinz Zeitlmann, Wolfgang Fuchs (Verl), Katrin Schulte (Hameln), Brigitte Zöller, Wolfgang Ganseforth, Monika Dr. Schuster, Werner Gansel, Norbert Schwanhold, Ernst Enthalten Gilges, Konrad Seidenthal, Bodo Gleicke, Iris Seuster, Lisa F.D.P. CDU/CSU Graf, Günter Sielaff, Horst Haack (Extertal), Simm, Erika Dr. Babel, Gisela Dr. Lieberoth, Immo Karl Hermann Singer, Johannes Baum, Gerhart Rudolf Habermann, Frank-Michael Sorge, Wieland Dr. Blunk (Lübeck), Michaela Hacker, Hans-Joachim Dr. Sperling, Dietrich Cronenberg (Arnsberg), Hampel, Manfred Eugen Steen, Antje-Marie Dieter-Julius F.D.P. Hanewinckel, Christel Dr. Struck, Peter Eimer (Fürth), Norbert Hasenfratz, Klaus Tappe, Joachim Engelhard, Hans A. Dr. Menzel, Bruno Hilsberg, Stephan Dr. Thalheim, Gerald van Essen, Jörg Schuster, Hans Iwersen, Gabriele Vergin, Siegfried Dr. Feldmann, Olaf Jäger, Renate Verheugen, Günter Friedhoff, Paul Janz, Ilse Dr. Vogel, Hans-Jochen Friedrich, Horst Dr. Janzen, Ulrich Voigt (Frankfurt), Karsten D. Funke, Rainer Fraktionslos Jaunich, Horst Wallow, Hans Dr. Funke-Schmitt-Rink, Jung (Düsseldorf), Volker Walter (Cochem), Ralf Margret Lowack, Ortwin Kastner, Susanne Wartenberg (Berlin), Gerd Kirschner, Klaus Weiermann, Wolfgang Klappert, Marianne Weiler, Barbara Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Weis (Stendal), Reinhard Dr. sc. Knaape, Hans-Hinrich Weisheit, Matthias Der Antrag ist abgelehnt. Kolbow, Walter Weißgerber, Gunter Koltzsch, Rolf Welt, Hans-Joachim Kubatschka, Horst Dr. Wernitz, Axel Ich gehe jetzt das von den Schriftführern ermittelte Kuessner, Hinrich Westrich, Lydia Dr. Küster, Uwe Wettig-Danielmeier, Inge Ergebnis der namentlichen Abstimmung über Nr. 2 Lange, Brigitte Dr. Wetzel, Margrit des Änderungsantrags der Fraktion der SPD auf von Larcher, Detlev Weyel, Gudrun Drucksache 12/3613 bekannt: abgegebene Stimmen: Leidinger, Robert Dr. Wieczorek, Norbert 462, davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben Lennartz, Klaus Wieczorek-Zeul, Heidemarie Dr. Leonhard-Schmid, Elke Wiefelspütz, Dieter gestimmt: 171. Mit Nein haben gestimmt: 285. Enthal- Dr. Lucyga, Christine Dr. de With, Hans tungen: 6. Maaß (Herne), Dieter Wittich, Berthold Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10015

Vizepräsident Hans Klein Wohlleben, Verena Eichhorn, Maria Dr. Lieberoth, Immo Dr. Schreiber, Harald Wolf, Hanna Engelmann, Wolfgang Limbach, Editha Schulhoff, Wolfgang Zapf, Uta Eppelmann, Rainer Link (Diepholz), Walter Dr. Schulte (Schwäbisch Falk, Ilse Lintner, Eduard Gmünd), Dieter Dr. Fell, Karl Dr. Lippold (Offenbach), Schulz (Leipzig), Gerhard PDS/Linke Liste Fischer (Unna), Leni Klaus W. Schwalbe, Clemens Fockenberg, Winfried Dr. sc. Lischewski, Manfred Schwarz, Stefan Bläss, Petra Frankenhauser, H erbert Löwisch, Sigrun Seehofer, Horst Dr. Enkelmann, Dagmar Dr. Friedrich, Gerhard Lohmann (Lüdenscheid), Seesing, Heinrich Dr. Fischer, Ursula Fritz, Erich G. Wolfgang Seibel, Winfried Dr. Fuchs, Ruth Fuchtel, Hans-Joachim Louven, Julius Sikora, Jürgen Dr. Heuer, Uwe-Jens Ganz (St. Wendel), Johannes Lummer, Heinrich Skowron, Werner II. Dr. Höll, Barbara Geiger, Michaela Dr. Luther, Michael Dr. Sopart, Hans-Joachim Dr. Keller, Dietmar Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Maaß (Wilhelmshaven), Erich Sothmann, Bärbel Lederer, Andrea Geis, Norbert Männle, Ursula Spilker, Karl-Heinz Dr. Modrow, Hans Dr. von Geldern, Wolfgang Magin, Theo Spranger, Carl-Dieter Philipp, Ingeborg Gerster (Mainz), Johannes Dr. Mahlo, Dietrich Dr. Sprung, Rudolf Dr. Schumann (Kroppenstedt), Gibtner, Horst Marienfeld, Claire Steinbach-Hermann, Erika Fritz Glos, Michael Marschewski, Erwin Dr. Stercken, Hans Stachowa, Angela Göttsching, Martin Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Dr. Frhr. von Stetten, Götz, Peter Martin Wolfgang Grochtmann, Elisabeth Meckelburg, Wolfgang Stockhausen, Karl BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gröbl, Wolfgang Meinl, Rudolf Horst Dr. Süssmuth, Rita Grotz, Claus-Peter Dr. Merkel, Angela Susset, Egon Dr. Feige, Klaus-Dieter Günther (Duisburg), Horst Dr. Meseke, Hedda Uldall, Gunnar Köppe, Ingrid Frhr. von Hammerstein, Dr. Meyer zu Bentrup, Verhülsdonk, Roswitha Poppe, Gerd Carl-Detlev Reinhard Vogel (Ennepetal), Friedrich Schenk, Christina Harries, Klaus Michalk, Maria Vogt (Düren), Wolfgang Schulz (Ber lin), Werner Haschke (Jena-Ost), Udo Dr. Mildner, Klaus Gerhard Dr. Voigt (Northeim), Dr. Ullmann, Wolfgang Hasselfeldt, Gerda Dr. Möller, Franz Hans-Peter Weiß (Berlin), Konrad Haungs, Rainer Müller (Kirchheim), Elmar Dr. Vondran, Ruprecht Wollenberger, Vera Hauser (Esslingen), Otto Nelle, Engelbert Dr. Waffenschmidt, Horst Hauser (Rednitzhembach), Neumann (Bremen), Bernd Dr. Warrikoff, Alexander Hansgeorg Nitsch, Johannes Werner (Ulm), Herbert Fraktionslos Dr. Hellwig, Renate Nolte, Claudia Wetzel, Kersten Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Ost, Friedhelm Wiechatzek, Gabriele Henn, Bernd Hinsken, Ernst Oswald, Eduard Dr. Wilms, Dorothee Hintze, Peter Dr. Päselt, Gerhard Wilz, Bernd Hörsken, Heinz-Adolf Dr. Paziorek, Peter Paul Wimmer (Neuss), Willy Horster, Joachim Pesch, Hans-Wilhelm Dr. Wisniewski, Roswitha Nein Dr. Hoffacker, Paul Petzold, Ulrich Wissmann, Matthias Hollerith, Josef Pfeffermann, Gerhard O. Dr. Wittmann, Fritz CDU/CSU Hornung, Siegfried Pfeifer, Anton Wittmann (Tännesberg), Hüppe, hubert Dr. Pinger, Winfried Simon Dr. Ackermann, Else Jager, Claus Pofalla, Ronald Wonneberger, Michael Adam, Ulrich Jagoda, Bernhard Dr. Pohler, Hermann Wülfing, Elke Dr. Altherr, Walter Dr. Jahn (Münster), Priebus, Rosemarie Yzer, Cornelia Augustin, Anneliese Friedrich-Adolf Dr. Probst, Albert Zeitlmann, Wolfgang Augustinowitz, Jürgen Janovsky, Georg Dr. Protzner, Bernd Zöller, Wolfgang Bargfrede, Heinz-Günther Jeltsch, Karin Raidel, I lans Dr. Bauer, Wolf Dr. Jobst, Dionys Rau, Rolf Baumeister, Brigitte Dr.-Ing. Jork, Reiner Rauen, Peter Harald F.D.P. Bayha, Richard Dr. Jüttner, Egon Rawe, Wilhelm Belle, Meinrad Jung (Liraburg), Michael Regenspurger, Otto Dr. Babel, Gisela Bierling, Hans-Dirk Junghanns, Ulrich Reichenbach, Klaus Baum, Gerhart Rudolf Dr. Blank, Joseph-Theodor Dr. Kahl, Harald Dr. Reinartz, Berthold Dr. Blunk (Lübeck), Michaela Blank, Renate Kampeter, Steffen Reinhardt, Erika Cronenberg (Arnsberg), Dr. Blens, heribert Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Dr. Rieder, Norbert Dieter-Julius Bleser, Peter Karwatzki, Irmgard Riegert, Klaus Eimer (Fürth), Norbert Dr. Blüm, Norbert Kittelmann, Peter Dr. Riesenhuber, Heinz Engelhard, Hans A. Dr. Böhmer, Maria Klein (Bremen), Günter Ringkamp, Werner van Essen, Jörg Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Klein (München), Hans Rode (Wietzen), Helmut Dr. Feldmann, Olaf Klinkert, Ulrich Romer, Franz Friedhoff, Paul Dr. Bötsch, Wolfgang - Bohl, Friedrich Köhler (Hainspitz), Dr. Ruck, Christian Friedrich, Horst Brähmig, Klaus Hans-Ulrich Rühe, Volker Funke, Rainer Breuer, Paul Dr. Köhler (Wolfsburg), Dr. Rüttgers, Jürgen Dr. Funke-Schmitt-Rink, Brudlewsky, Monika Volkmar Sauer (Salzgitter), Helmut Margret Brunnhuber, Georg Kossendey, Thomas Sauer (Stuttgart), Roland Ganschow, Jörg Bühler (Bruchsal), Klaus Kraus, Rudolf Scharrenbroich, Heribert Gries, Ekkehard Büttner (Schönebeck), Dr. Krause (Bonese), Schätzle, Ortrun Günther (Plauen), Joachim Hartmut Rudolf Karl Dr. Schäuble, Wolfgang Dr. Guttmacher, Karlheinz Buwitt, Dankward Krause (Dessau), Wolfgang Schemken, Heinz Hansen, Dirk Clemens, Joachim Krey, Franz Heinrich Scheu, Gerhard Dr. Haussmann, Helmut Dehnel, Wolfgang Kronberg, Heinz-Jürgen Schmalz, Ulrich Heinrich, Ulrich Dempwolf, Gertrud Krziskewitz, Reiner Eberhard Schmidt (Fürth), Christian Dr. Hirsch, Burkhard Deß, Albert Dr. Lammert, Norbert Dr. Schmidt (Halsbrücke), Dr. Hitschler, Walter Diemers, Renate Lamp, Helmut Johannes Joachim Homburger, Birgit Doss, Hansjürgen Lattmann, Herbert Schmidt (Mühlheim), Andreas Dr. Hoyer, Werner Dr, Dregger, Alfred Dr. Laufs, Paul Schmidt (Spiesen), Trudi Irmer, Ulrich Echternach, Jürgen Laumann, Karl Josef Dr. Schockenhoff, Andreas Kleinert (Hannover), Detlef Ehlers, Wolfgang Lehne, Klaus-Heiner Graf von Schönburg Kohn, Roland Ehrbar, Udo Dr. Lehr, Ursula Glauchau, Joachim Dr. Kolb, Heinrich L. 10016 Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Vizepräsident Hans Klein Koppelin, Jürgen Wolfgramm (Göttingen), gibt, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Torsten sowohl gegenüber den Mitbestimmungsregeln in der Nolting, Günther Friedrich Würfel, Uta Paintner, Johann Zurheide, Burkhard gewerblichen Wirtschaft als auch im öffentlichen Peters, Lisa Dienst ungleich behandelt werden. Dr. Pohl, Eva Richter (Bremerhaven), So sprechen die Petenten mit ihrer Petition ein Manfred Enthalten Rind, Hermann Problem von beträchtlicher gesellschaftlicher und Dr. Röhl, Klaus F.D.P. sozialstaatlicher Reichweite an. Sie fordern erstens die Schmalz-Jacobsen, Cornelia ersatzlose Streichung des § 118 Abs. 2 des Betriebs- Dr. Schmieder, Jürgen Dr. Menzel, Bruno verfassungsgesetzes, in dem es heißt, daß das Dr. Schnittler, Christoph Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schwaetzer, Irmgard Schuster, Hans Betriebsverfassungsgesetz keine Anwendung findet Sehn, Marita Dr. Semper, Sigrid auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und Seiler-Albring, Ursula Türk, Jürgen erzieherischen Einrichtungen unbeschadet ihrer Dr. Solms, Hermann Otto Rechtsform. Dr. Starnick, Jürgen Dr. Thomae, Dieter Fraktionslos Timm, Jürgen Zweitens fordern sie: Die von den Kirchen verfaßten Walz, Ingrid Lowack, Ortwin Regeln für Mitarbeitervertretungen sollen der Ar- beitsgerichtsbarkeit unterworfen werden, indem der Nr. 2 des Änderungsantrags ist damit abgelehnt. Rechtsweg zum § 2 a des Arbeitsgerichtsgesetzes geöffnet wird. Damit ist der Änderungsantrag der Fraktion der SPD insgesamt abgelehnt. Nach Auffassung der SPD-Fraktion sind heide For- Ich rufe jetzt den Gesetzentwurf in der Ausschuß- derungen berechtigt. Dabei sind die verfassungs- fassung auf. Wer stimmt für diesen Gesetzentwurf? rechtlichen Bedenken bekannt. Wir wissen, daß die Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Keine. Der Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG, der von Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange- Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung in das nommen. Grundgesetz übernommen wurde, das Recht haben, Wir treten ein in die ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen dritte Beratung und zu verwalten. Wir wissen auch, daß in der und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte dieje- herrschenden Rechtsprechung daraus das Recht nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich abgeleitet wird, frei darüber zu entscheiden, ob und in zu erheben. Wer stimmt dagegen? Wer enthält welcher Weise die Arbeitnehmer und ihre Vertre- sich der Stimme? Bei einer Gegenstimme und der tungsorgane in betrieblichen, ihre Interessen berüh- Enthaltung der SPD-Fraktion ist der Gesetzentwurf renden Angelegenheiten mitwirken und mitbestim- angenommen. men können. Wir meinen daher in der Tat, daß eine ersatzlose Streichung von § 118 Abs. 2 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nicht mit Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- uns!) tionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 68 zu Petitionen einer Beschränkung der Bestimmungen von Art. 137 (Betriebsverfassung) der Weimarer Reichsverfassung bedurfte. Drucksache 12/2943 — Das wird in der Verfassungsdiskussion in der Tat Nach Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aus- von verschiedenen Seiten empfohlen. Dies ist nach sprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dagegen unserer Auffassung auch richtig so. Es muß die Frage erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so geprüft werden, ob Art. 137 der Weimarer Reichsver- beschlossen. fassung für die heutige Zeit mit der immer größer Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- werdenden Zahl von nicht konfessionell gebundenen gen Horst Peter das Wort. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesen Berei- chen noch zeitgemäß ist. Horst Peter (Kassel) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer weiß, wie viele Beschäftigte Bei der Forderung nach der Zuständigkeitserweite- die Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik rung der Arbeitsgerichte für Streitigkeiten aus den haben, der kann ermessen, daß es sich bei der Petition, kirchlichen Mitarbeitervertretungsordnungen oder die uns vorliegt, um ein Problem von erheblicher -gesetzen finden die Petenten unsere volle Unterstüt- Reichweite handelt. In der Bundesrepublik gibt es zung. Wenn die Arbeitnehmer ihre individualrechtli- insgesamt 1,2 Millionen Beschäftigte bei der Evange- chen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis vor cien lischen und bei der Katholischen Kirche. Allein bei staatlichen Arbeitsgerichten geltend machen können den sozialen Einrichtungen, der Caritas und der und folglich das staatliche Arbeitsrecht Anwendung Diakonie, sind es 220 000 bzw. 300 000 Beschäftigte. findet, ist es für mich vorstellbar, auch cien Rechtsweg Wenn man zum Vergleich der Dimension ergänzt, daß zum § 2 a des Arbeitsgerichtsgesetzes zu öffnen. die Volkswagenwerke in der Bundesrepublik 120 000 Deshalb wollen wir von der Bundesregierung Wege Beschäftigte haben, dann wird deutlich, daß es bei der aufgezeigt bekommen, wie eine Regelung aussehen arbeitsrechtlichen und der mitbestimmungsrechtli- könnte. Wir begrüßen, daß die Mehrheit des Aus- chen Gesetzgebung in der Bundesrepublik ein Gebiet schusses diese Argumentation zum Anlaß genommen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10017

Horst Peter (Kassel) hat, Überweisung als Mate rial an die Bundesregie- höchste Zeit ist, hier den Weg zur staatlichen Arbeits- rung zu empfehlen. gerichtsbarkeit zu öffnen, weil wir nicht hinnehmen können, daß die 1,2 Millionen Beschäftigten letztlich (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: So sind bei ihrer kollektivrechtlichen Vertretung schlechter wir!) als andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Wir meinen allerdings, daß hier keine Zeit mehr gestellt werden. zugewartet werden kann, um das Problem offen Sie werden fragen, wieso wir nicht Berücksichti- anzugehen. Deshalb unser weitergehendes Votum, gung der Petition verlangt haben. Einfach aus dem die Petition an die Bundesregierung zur Erwägung zu Grunde, weil wir der Bundesregierung verschiedene überweisen. Möglichkeiten zur Lösung dieses Problems überlas- sen möchten. Die Notwendigkeit, daß in diesem Bereich etwas geschehen muß, ergibt sich aus der Petition selbst. Das (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr generös!) Kirchengesetz der Evangelischen Kirche von Kurhes- Wir sehen durchaus die Chance, daß die Bundesregie- sen-Waldeck sieht die Mitbestimmung einer Mitar- rung bei ihren regelmäßigen Kontakten mit den beitervertretung bei der Regelung der Arbeitszeit vor. Spitzen der Kirchen in diesem Lande die Möglichkeit Bei der Ausübung dieser Mitbestimmung ist es zwi- hätte, zumindest innerkirchlich die Rechte und die schen Mitarbeitervertretungen und der anderen Seite, Beschwerdemöglichkeiten von Mitarbeitervertretun- dem Amt für Kirchliche Dienste, zu keiner Einigung gen so auszugestalten, daß sie nicht zu einer Schlech- gekommen, woraufhin die im Kirchenrecht vorgese- terstellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- hene Anrufung der Schlichtungsstelle erfolgte. Diese mer in diesen Bereichen führen. Das ist der Grund, Schlichtungsstelle hat im Sinne der Mitarbeitervertre- warum wir nicht Berücksichtigung, sondern Erwä- tung entschieden. gung beantragen. Nun beginnt das Problem: Nach diesem Entscheid Ich glaube, daß dann, wenn Sie akzeptieren, daß der Schlichtungsstelle ist nach einer höchstrichterli- etwas getan werden muß, für Sie auch der Schritt von chen Entscheidung innerhalb des Kirchenrechts die der Überweisung als Material zur Überweisung zur Funktion eines Gerichtes erfüllt, Erwägung möglich sein müßte. Dazu fordere ich Sie auf. (Zuruf des Abg. Martin Göttsching [CDU/ Schönen Dank. CSU]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und zwar nicht nur in den Landeskirchen Kurhessen DIE GRÜNEN) Waldeck, Kollege Göttsching, sondern in den ver- schiedenen Landeskirchen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Franz (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Das möchte Romer, Sie haben das Wort. ich einmal genauer wissen!)

Bei der Diskussion der Synode über ein Mitarbeiter- Franz Romer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine vertretungsrahmengesetz hat sich ergeben, daß es Damen! Meine Herren! Wieder einmal darf ich mich gerade in den neuen Ländern dringend notwendig ist, an dieser Stelle zu einer Sammelübersicht zu Petitio- die rechtlichen Voraussetzungen für Mitarbeiterver- nen äußern, deren Beschlußempfehlung von der SPD tretungen auch in diesen Landeskirchen zu schaf- nicht mitgetragen wird. Die SPD stellt statt dessen fen. einen Änderungsantrag. Vordergründig geht es dabei (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Ich kann es um die Unterstützung einer Petition. Mir scheint aber nicht glauben!) eine weitere Zielsetzung damit verbunden, ein Angriff auf die staatlich garantierte Unabhängigkeit der Kir- Das Amt für Kirchliche Dienste teilte der Mitarbeiter- chen. vertretung im Zuge der Entscheidung dieser Schlich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tungsstelle also mit, daß es vom Landeskirchenamt angewiesen worden sei, die von der Schlichtungs- Doch zunächst zum Sachverhalt. Da wendet sich die stelle entschiedene Regelung nicht auszuführen. Mitarbeitervertretung einer unter kirchlicher Träger- - schaft stehenden Einrichtung an den Petitionsaus- Dies ist ein Problem, das nicht nach unserem Rechts- schuß des Deutschen Bundestages. Sie fordert, daß die verständnis gelöst wurde; denn wir meinen, daß die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit auch für Rechtspro- Entscheidung eines Gerichtes für diejenigen, die bleme zwischen Kirchen und Arbeitnehmern zustän- beklagt worden sind, auch bindend zu sein hat. Auf dig wird. Grund dieser Überlegung hat sich auch die Mitarbei- (Zuruf von- der F.D.P.: Keine schieche tervertretung an das Arbeitsgericht gewandt und ist Idee!) dort aus Kompetenzgründen zurückgewiesen wor- den, was nach der gegenwärtigen Rechtslage zu Recht Damit will sie erreichen, daß z. B. auch kircheninterne geschehen ist. Wir haben allerdings beim staatlichen Schlichtungsvorschläge wirklich verbindlich werden, Recht die Möglichkeit, daß Entscheidungen von wie es bei Schlichtungsvorschlägen nach dem staatli- Gerichten von der obsiegenden Partei zwangsweise chen Arbeitsrecht bereits der Fall ist. durchgesetzt werden. Diese Regelung ist im Kirchen- Wir haben die Problematik im Ausschuß durchaus recht nicht gegeben, so daß es nach unserer Auffas- erkannt. Tatsächlich scheint es im Kirchenbereich sung bei Wahrung der Unabhängigkeit der Religions- Lücken im Mitarbeitervertretungsrecht zu geben. gemeinschaften auf Grund von Art. 140 Grundgesetz Durch die Überweisung der Petition als Material wird 10018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Franz Romer die Angelegenheit dem zuständigen Arbeits- und Kirchen haben selbst ein Interesse daran, solche Sozialministerium zur Kenntnis gebracht. Dort kann möglichen Lücken zu schließen. sie rechtlich geprüft werden. Dieses Vorgehen ent- Was der Staat machen kann, ist eine Bestandsauf- spricht einerseits der Fürsorgepflicht des Staates für nahme und mögliche Prüfung der rechtlichen Zusam- die Arbeitnehmer und allgemein für den Bereich der menhänge. Möglicherweise kann er auch Lösungs- Arbeitsbeziehungen. Andererseits widerspricht es vorschläge anbieten. Aber er kann nicht so tun, als ob nicht dem Prinzip des Art. 140 des Grundgesetzes, in die verfassungsmäßige Unabhängigkeit der Kirchen dem folgende Bestimmung der Weimarer Verfassung in diesen Fragen der Selbstverwaltung nicht bestätigt wird: bestünde. Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet Ich halte daher den Beschluß, die Petition als ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Material an die Bundesregierung zu überweisen, für Schranken des für alle geltenden Gesetzes. behutsamer und dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche für angemessener, als es der Ansatz der Oppo- Dieses Prinzip ist die Grundlage des Verhältnisses sition ist. Was Sie wollen, ist, entgegen der Verfassung zwischen Kirche und Staat, und wir tun gut daran, es den Kirchen eine Übernahme der staatlichen Arbeits- nicht in Frage zu stellen. Genau das aber tun Sie, rechtsprinzipien aufzuzwingen. Dies wäre ein unzu- meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie lässiger Eingriff in kirchliche Belange. fordern, die Bundesregierung solle sich mit dieser Einzelpetition als solcher befassen und rechtliche Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Romer, Konsequenzen daraus ableiten. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wei- ler? Sie begründen Ihre abweichende Beschlußempfeh- lung damit, daß eine immer größer werdende Anzahl von Mitarbeitern in kirchlichen Einrichtungen nur Franz Romer (CDU/CSU): Ja, bitte. lockere religiöse Bindungen hat. Daher wollen Sie, daß in Zukunft auch Mitarbeiter in Einrichtungen Barbara Weiler (SPD): Wenn Sie sagen, der Staat unter kirchlicher Trägerschaft der staatlichen Arbeits- solle sich in die Belange der Kirche nicht einmischen, gerichtsbarkeit unterstellt werden. Gerade das aber würden Sie dann im Umkehrschluß zu der Schlußfol- wäre ein Eingriff in die verfassungsmäßig garantierte gerung kommen, daß die Kirche ihre Belange, z. B. kirchliche Autonomie. Denn wie bei der zugrunde das Einziehen der Kirchensteuer, auch für sich wahr- liegenden Petition würde der Staat grundsätzlich zur nehmen sollte? Auseinandersetzung mit einem innerkirchlichen (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem Rechtsstreit gezwungen. Damit darf der Staat nach der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Verfassung gar nichts zu tun haben. Als Gewerkschafter und Arbeitnehmervertreter bin Franz Romer (CDU/CSU): Ich weiß, was Sie damit ich selbstverständlich auch für eine möglichst starke wollen. Es geht Ihnen um das Thema Kirchen- Position der Arbeitnehmer im Arbeitsrecht. Aber ich steuer. kann hier nur vor dem Ansatz der Opposition warnen. (Zuruf von der SPD: Prinzip urn Prinzip! — Durch eine eigenmächtige Einflußnahme des Staates Barbara Weiler [SPD]: Mir geht es urn das auf die Beziehungen zwischen der Arbeitgeberin Prinzip! Wer mischt sich wo ein, und wer Kirche und ihren Angestellten würde die Unabhän- macht was für sich selbst?) gigkeit der Kirchen vom Staat ernsthaft bedroht. Eine — Ich bin der Meinung, der Staat sollte sich in allen solche Konfrontation zwischen staatlichem und kirch- Bereichen aus den kirchlichen Dingen heraushal- lichem Recht würde niemandem nutzen, nur scha- ten. den. (Zuruf von der SPD: Und umgekehrt?) Sie wissen das, meine Damen und Herren von der Umgekehrt natürlich genauso. Das ist ganz klar. Er Opposition, und ich frage Sie, warum Sie das Verhält- kann natürlich seine Meinung dazu äußern, wie wir es nis zwischen Staat und Kirche einer unnötigen Bela- ja auch tun. Das ist richtig so. Wir sollten aber nicht in stung aussetzen wollen. Natürlich hat der Staat eine Reglementieren verfallen und Vorschriften erlassen. grundsätzliche Fürsorgepflicht für seine Bürger. Sie Das sollten auch Sie, meine Damen und Herren von gilt natürlich auch dort, wo sich das staatliche und das der Opposition, einsehen. kirchliche Spannungsfeld schneiden: in der Arbeits- Nun zum letzten Punkt meiner Gedankenkette. Was haben sich ja auch schon unter welt. Aber die Kirchen ist der eigentliche Hintergrund des Änderungsantrags Rückgriff auf ihr gesetztlich verankertes Selbstbe- der SPD? Er scheint nicht zufällig mit der Forderung stimmungsrecht eine erar- Mitbestimmungsregelung der ÖTV nach einer Stärkung der Gewerkschaftspo- beitet. Diese orientiert sich durchaus an den allgemein sition innerhalb der kirchlichen Mitarbeiterschaft pa- üblichen Bestimmungen des Arbeitsrechts. rallel zu laufen? Die ÖTV hat dies in dieser Woche Schließlich ging es ja in dem konkreten Fall, der der während der EKD-Synode in Suhl vergeblich einge- vorliegenden Petition zugrunde liegt, um die Gültig- fordert. keit einer kirchenintern vorgenommenen Schlich- Es ergibt sich also die Vermutung, daß die SPD auf tung. Wenn es hier Lücken und Unklarheiten gibt, diesem Wege den Einfluß der Gewerkschaften auf die dann ist es nach unserer Verfassung Sache der Kir- Kirchen stärken will. Wir können aber den Deutschen chen, sie zu schließen. Das kann nicht von Staats Bundestag und den Petitionsausschuß nicht als Vehi- wegen geschehen, wie es die Opposi tion will. Die kel benutzen lassen, mit dem die SPD den Gewerk- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10019

Franz Romer schaften einen Gefallen tun will. Wir lehnen es grund- ordneter dieses Hohen Hauses trete ich dafür ein, daß sätzlich ab, den Staat in die kirchlichen Belange in unserem Lande nicht zweierlei Recht gilt. eingreifen zu lassen, auch wenn dies scheinbar erstre- (Beifall des Abg. Horst Peter [Kassel] benswert wäre. Man würde eine der Grundlagen des [SPD]) Verhältnisses zwischen dem deutschen Staat und den Glaubensgemeinschaften gefährden. Das ist der Inhalt der Frage, um die es hier geht. Die Verfassungsaussage, daß das Gesetz für alle Es bleibt also festzuhalten: Wir sollten das Verhält- nis zwischen Staat und Kirche weiterhin nach bewähr- gilt, ist klarzustellen. Es muß eben für alle gelten, nicht ter Manier gestalten. Lassen wir die Petition, wie in nur für die einen und für die anderen etwas weniger der Beschlußempfehlung formuliert, der Bundesre- oder gar nicht. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß gierung als Material zukommen. Hüten wir uns aber, die Mitarbeiterschaft kirchlicher Betriebe auf Grund die Unabhängigkeit der Kirchen anzutasten. Nur so gesellschaftlicher Wandlungen keineswegs immer werden wir dem besonderen, vom Grundgesetz oder auch nur mehrheitlich dem christlichen Glauben geschützten Verhältnis zwischen Staat und Kirche mehr angehört. Darum muß ein Parlament ihre Rechte wirklich gerecht. doch schützen. Die Tatsache dieses gesellschaftlichen Wandels Der SPD möchte ich zum Schluß raten, mehr sach- aber sollte wie in anderen Fällen, die jetzt anhängig bezogene Oppositionsarbeit zu leisten, statt überflüs- sind, ein Anlaß sein, daß die Gemeinsame Verfas- sige Änderungsanträge zu formulieren. Sie sind über- sungskommission ihre Zuständigkeit erklärt und in flüssig, weil sie offensichtlich nicht verfassungsgemäß diesem Fall die Frage aufwirft, ob das 1949 vom sind. Mit anderen Worten, um mit Jesaja, Kapitel 30, Grundgesetz adoptierte Staatskirchenrecht der Wei- Vers 15, zu sprechen: „Durch Stillesein und Hoffen marer Verfassung den gesellschaftlichen Realitäten würdet ihr stark sein." im geeinten Deutschland noch entspricht. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Ich bitte den Deutschen Bundestag, die Beschluß- Meine Herren Kollegen von der CDU/CSU, ich stelle empfehlung des Petitionsausschusses in Sammelüber- diese Frage als ein Theologe, der der Meinung ist, daß sicht 68 anzunehmen und den Änderungsantrag der die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit der Kir- SPD abzulehnen. che Anlaß zu der rechtlichen Frage gibt, ob es ein Danke schön. Staatskirchenrecht überhaupt geben kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege Burkhard Zurheide das Wort. Dr. Wolfgang Ullmann.

Burkhard Zurheide (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es einigermaßen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Wolfgang Ullmann erstaunlich, daß wir in einer Debatte, in der es in NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Wirklichkeit nur darum geht, ob eine Petition der meinen Augen ist es keineswegs befriedigend, die Bundesregierung zur Erwägung oder als Material Petition zur Frage des Vertretungsrechts der Mitarbei- überwiesen wird, eine Grundsatzdiskussion über Kir- ter in kirchlichen Bet rieben der Bundesregierung che und Staat führen, lediglich als Material zu überweisen und das Peti- tionsverfahren abzuschließen. Die Gründe dafür hat (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der Herr Kollege Peter vorgetragen. Sie sind keines- übrigens vor einem Auditorium, das ähnlich gefüllt ist wegs entkräftet. wie die Kirche am Sonntagmorgen; aber das nur am Auf das arbeitsrechtliche und arbeitsvertragsrecht- Rande. liche Problem kann ich auf Grund meiner kurzen (Zurufe von der F.D.P.) Redezeit nicht eingehen. Um so wichtiger ist es- aber, — Bedauerlicherweise. Dabei möchte ich auch sagen: darauf hinzuweisen, daß es hier um die Frage der Man soll, wenn man sich über die leere Kirche Auslegung von Art. 140 des Grundgesetzes bzw. beschwert, nicht diejenigen beschimpfen, die in der Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung geht. Es geht Kirche sitzen. Das bitte ich nicht mißzuverstehen. um die Frage, ob die Selbständigkeit der Kirchen bei Das Grundgesetz sichert den Freiraum der Kirchen der Verwaltung ihrer Angelegenheiten diese an das durch Art. 140 in Verbindung mit Art. 137 Abs. 4 der staatliche Betriebsverfassungsrecht bindet oder nicht. Weimarer Reichsverfassung. Sie können mir abneh- Die Frage ist zu bejahen, weil die Selbständigkeit der men, daß es für einen Liberalen kaum etwas Reizvol- Kirchen an das für alle geltende Recht gebunden leres gibt, als sich mit dem Thema „Freiheit von Kirche ist. und Staat" und den Trennungslinien zwischen Kirche Deswegen, meine Kollegen, hat das Kuratorium für und Staat zu beschäftigen. Allerdings möchte ich einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder gerade als Liberaler vor dem Trugschluß wa rnen, in Art. 9 c seines Verfassungsentwurfs darauf hinge- unsere Verfassung, unser Grundgesetz gewähre der wiesen, daß für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin- Kirche, den Religionsgemeinschaften, wie es im nen in Kirchen und Religionsgesellschaften das all- Grundgesetz treffenderweise heißt, einen vollständi- gemeine Arbeits- und Sozialrecht gilt. Als ein Abge gen Freiraum, die Kirche habe alle Privilegien und 10020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Burkhard Zurheide einen Freibrief zur Regelung ihrer arbeitsrechtlichen Deswegen muß natürlich darüber geredet werden, Bestimmungen. Dies ist eindeutig nicht der Fall. daß die Kirche in ihr Rechtsverfahren ein entspre- chendes Vollstreckungsverfahren aufnimmt. Wenn Die Privilegierung der Kirche in Art. 140 des Grund- dies nicht geschieht, dann muß notfalls der Staat gesetzes sichert die Glaubensfreiheit und trägt aller- eingreifen, aber nachrangig, subsidiär, wie ich dings auch dazu bei, daß die Bereiche von Kirche und finde. Staat voneinander getrennt sind. Die Regelungen des (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Horst Grundgesetzes bewirken also nicht nur die Selbstän- Peter [Kassel] [SPD]) digkeit der Kirche — eine Garantie, die wichtig ist —, sondern sozusagen auch eine Sicherheit des Staates Ich denke, das kirchliche Mitarbeitervertretungs- auf Abgrenzung beider Bereiche. recht hat drei Dinge einzuhalten: Zum einen muß die Einhaltung der tragenden Prinzipien unserer Rechts- Ich sagte schon: Das Grundgesetz gibt keinen ordnung gewährleistet sein. Zum anderen muß ein arbeitsrechtlichen Freibrief für die Kirche. Die Kirche faires Verfahren vorgesehen sein. Schließlich ist not- steht auch nicht im rechtsfreien Raum, in dem Willkür wendig, daß Titel durchgesetzt werden. herrscht. Individualansprüche aus dem Arbeitsver- Im Ergebnis bin ich wohl der Auffassung, daß die hältnis können vor den Arbeitsgerichten geltend Freiheit und die Autonomie der Religionsgemein- gemacht werden, mit winzigen Ausnahmen. Diese schaften geschützt bleiben sollen. Der Staat darf sich Möglichkeit besteht. nicht überall einmischen und soll es hier auch nicht tun. Allerdings sind dieser Autonomie auch Grenzen In der Petition, um die wir uns heute abend streiten, gesetzt, die ich soeben benannt habe. geht es nur um eine winzige Frage, nämlich um die Frage, ob die Regelung des § 118 des Betriebsverfas- Ihre Redezeit ist zu sungsgesetzes, wonach die Kirchen aus dem Gel- Vizepräsident Hans Klein: Ende. tungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes her- ausgenommen werden, aufgehoben werden soll und (F.D.P.): Entschuldigung, Herr ob der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für Strei- Burkhard Zurheide tigkeiten aus dem kirchlichen Mitarbeitervertretungs- Präsident. recht eröffnet werden soll. Wenn es denn so ist, daß in diesem Bereich des kollektiven Arbeitsrechts ein Freibrief nicht gegeben Nun — der Kollege Peter hat es gesagt — ist es ist, die Kirche aber möglicherweise einen solchen ziemlich eindeutig — es ist rechtlich auch nicht Freibrief annimmt, dann muß in der Tat darüber anfechtbar , daß die Fragen der Mitarbeitervertre- geredet werden. Aber wir sind der Auffassung, daß es tung innerkirchliche Angelegenheiten sind, die dem ausreicht, wenn wir die Petition als Material überwei- Bereich des kirchlichen Ämterrechts zuzuordnen sind sen und uns in einem möglichen Gesetzgebungsver- und insoweit unter dem Schutz der Kirche steht. Das fahren Gedanken darüber machen, wie eine Rege- Ganze ist auch gar nicht schlimm und auch gar nicht lung rechtlich auszugestalten ist. problematisch für den Fall, daß die Kirche selber für Vielen Dank. Streitigkeiten dieser Art ein eigenes rechtsförmliches (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Verfahren zur Verfügung stellt. In dem konkreten Fall Zurufe von der SPD: Eine gute Rede, aber tut die Kirche es. Die Kirche hat einen Schlichtungs- eine falsche Schlußfolgerung! — Gleiche ausschuß für Streitigkeiten zwischen der Mitarbeiter- Beobachtung, falsche Schlußfolgerung! vertretung und der Kirchenleitung als Pendant zur betrieblichen Einigungsstelle eingesetzt. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Wenn das Arbeitsministerium in einer Stellung- che. nahme schreibt, daß das System des Betriebsverfas- Wir kommen zur Abstimmung. Abzustimmen ist sungsgesetzes dem Wesensgehalt der kirchlichen über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschus- Leitideen widerspreche, dann habe ich allerdings ses in Sammelübersicht 68 auf Drucksache 12/2943. doch meine Zweifel daran und würde das doch eher in Dazu liegt eine Änderungsantrag der Fraktion der Frage stellen. SPD auf Drucksache 12/3612 vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer Aber — das ist der entscheidende Punkt, auf den es enthält sich? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt. hier ankommt — zu einem ordentlichen rechtsförmli- Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- chen Verfahren gehört natürlich auch die Vollstrek- tionsausschusses? — Wer ist dagegen? — Enthaltun- kung eines Rechtstitels. Dies ist überhaupt keine gen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Frage. Genau dies ist hier aber nicht gewährleistet. Die Kirchenrechtsordnung, über die wir hier reden, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: sieht vor, daß es einen Schiedsspruch gibt, der die Rechtsform eines Titels hat, der aber nicht vollstreckt, Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der der nicht durchgesetzt werden kann. SPD Stand und Perspektiven der Arbeitsförde- Nun wissen wir, daß Recht haben und Recht bekom- rung men zweierlei Dinge sind. Wenn Recht zugesprochen — Drucksachen 12/1990, 12/2678 — wird und dieses Recht nicht durchgesetzt wird, dann ist es so, als ob Sie sich einen Rechtstitel an die Wand Es ist jetzt fast 21 Uhr. heften könnten. Er bleibt wirkungslos. Dies kann und (Zuruf von der CDU/CSU: Man kann zu darf nicht richtig sein. Protokoll geben!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10021

Vizepräsident Hans Klein Das Institut des Zu-Protokoll-Gebens ist legitim. Wir nächsten Jahr über 150 000 Maßnahmen weniger werden in den Fraktionen jetzt wirklich einmal ernst- angeboten werden. haft die Frage besprechen müssen, wie sinnvoll es ist, Wie Hohn muß es auch die Frauen in Deutschland um diese Zeit in einer ganz kleinen Gruppe, in der anmuten, wenn diese Regierung in ihren Antworten selbst die Antragsteller nur sehr spärlich vertreten sehr wohl die Notwendigkeit einer gerechteren Frau- sind — das zielt jetzt nicht auf Sie, das ist in all diesen enförderung bejaht, aber mit der 10. Novelle durch Fällen so —, eine ganze Debatte voll durchzuziehen. die Einsparungen bei der Weiterbildung Frauen Das müssen wir in den Fraktionen besprechen. besonders benachteiligt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es ist schon bezeichnend für die Konzeptionslosig- Das ist keine Sache, die hier oben entschieden wird, keit dieser Regierung, daß alle Möglichkeiten zur sondern eine Sache, die von den Fraktionen entschie- Weiterentwicklung des Arbeitsförderungsgesetzes den werden muß. und zu Perspektiven der Arbeitsmarktpolitik im Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Herbst dieses Jahres bei Ihnen mit bloßen Einsparun- Aussprache eine Stunde vorgesehen. Erhebt sich gen enden. Hier wird von Ihrer Seite auch politisches dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann Vertrauen verspielt, ist das so beschlossen. (Beifall bei der SPD) Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Barbara Weiler das Wort. Vertrauen, das nicht nur Betroffene in Ost und West, sondern auch die Wohlfahrtsverbände in Politik set- zen. Barbara Weiler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- ginnen und Kollegen! Herr Präsident, wenn Sie Sozi- Aktive Arbeitsmarktpolitik ist ein wichtiges Instru- alpolitiker wären, dann wäre, glaube ich, Ihre Bemer- ment für jeden Sozialstaat. Es muß behutsam weiter- kung in dieser Weise hier nicht gefallen. entwickelt werden, erkennbare Defizite müssen kor- rigiert und zielgerichtet ausgeglichen werden. Das (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Stop and go der Regierung jedoch ist tödlich für Liste) verläßliche Rahmenbedingungen. Besonders kleinere finanzschwache Träger werden dabei völlig aufgerie- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, meine ben. Bemerkungen stehen dem Redner nicht zur Diskus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei sion! der PDS/Linke Liste) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Nicht nur der Präsident der Bundesanstalt für der F.D.P.) Arbeit, die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, auch die evangelische Kirche haben in der Anhörung zur Barbara Weiler (SPD): Gut, einverstanden. Aber Sie 10. Novelle noch einmal eindringlich eine kontinuier- werden an meiner Rede merken — ich glaube, auch liche Arbeitsmarktpolitik gefordert. Herr Laumann weiß das —, wie wichtig nicht nur die Selbst den Vertretern der Bundesministerien ist die Arbeitsmarktpolitik insgesamt ist, sondern auch das Politik der Bundesregierung suspekt. Ich will Ihnen Thema, über das wir heute reden, nämlich die Per- nur eine kurze Episode berichten, die sich in der spektiven, d. h. nicht nur die Politik von gestern und letzten Woche zugetragen hat: Eine Besuchergruppe heute, sondern auch die von morgen. aus meinem Wahlkreis, mit der ich in der letzten Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Antwort der Woche über die AFG-Novellierung diskutiert habe, Bundesregierung auf die Große Anfrage unserer besuchte anschließend das Frauenministerium. Dort Fraktion liegt erst fünf Monate zurück und ist dennoch erläuterte der zuständige Referent ganz stolz die durch die bittere Realität längst eingeholt worden. Die Programme und Hilfen, die von seinem Ministerium Antwort zeichnet sich durch einen erstaunlichen ins Leben gerufen worden seien. Unter anderem Mangel an Perspektiven aus und wird von dem nannte er die Orientierungskurse zum Wiederein- phantasielosen Motto getragen: Ausreden, Vertagen, stieg von Frauen in den Beruf. Daraufhin wurde Prüfen, Unverbindlichkeiten und Selbstverständlich- umgehend aus der Gruppe darauf hingewiesen, daß keiten. Wie blanker Hohn muß es doch anmuten, doch gerade diese Kurse bei der Neufassung des AFG wenn im Mai dieses Jahres von der — ich zitiere — der radikalen Kürzung anheimgefallen seien. Der „erfolgreichen Finanz- und Berufsbildungspolitik der sichtlich aus dem Konzept gebrachte Referent ver- Regierung" gesprochen wird und man jetzt im suchte zu relativieren, daß es diese Kurse auch wei- November ein Haushaltsstrukturgesetz ankündigt, terhin geben müsse, daß sie aber privat finanziert das den finanzpolitischen Offenbarungseid dieser werden müßten, und im übrigen sei man im Ministe- Regierung darstellt. Wie Hohn muß es doch anmuten, rium auch nicht über alles froh, was an anderer Stelle wenn auf Seite 8 ein weiterer Anstieg der Leistungen beschlossen werde. für aktive Arbeitsmarktpolitik angekündigt wird und vor wenigen Tagen eine Novellierung beschlossen Ich frage mich, ob es nicht auch in diesem Hause wurde, die die bisherige Relation von 40 % aktiver eine deutliche Mehrheit gibt, die gleichfalls nicht froh Arbeitsmarktpolitik zu 60 % passiven Leistungen in über das ist — um es gelinde auszudrücken —, was an der Gesamtbilanz verschlechtern wird. Sie haben anderer Stelle, d. h. von der Regierung vorgeschlagen nicht einmal ein Gesetz zur Konsolidierung der bishe- wird. rigen Maßnahmen vorgelegt; nein, Sie haben mit Ich will noch einmal auf einige Entwicklungen 5,2 Milliarden DM Einsparungen akzeptiert, daß im zurückkommen, die für Frauen in Deutschland von 10022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Barbara Weiler großer Bedeutung sind. Die Arbeitslosenquote bei Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Karl - Josef Frauen in Ostdeutschland ist inzwischen auf 13 % Laumann, Sie haben das Wort. angestiegen. Sie ist doppelt so hoch wie die Quote bei Männern. Der Anteil der Frauen an den Arbeitsbe- Karl - Josef Laumann (CDU/CSU): Herr Präsident! schaffungsmaßnahmen beträgt jedoch lediglich Meine Damen und Herren! 42,9 %. In der letzten Novelle hat die Frauenministerin nur eine unverbindliche Absichtserklärung einge- (Gerd Andres [SPD]: Er erklärt jetzt, daß alles bracht. Die Formulierung, Frauen sollten entspre- in Ordnung ist! — Gegenruf des Abg. chend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Genau!) werden, ist doch, wie wir aus langjähriger Erfahrung Ich bin der SPD-Fraktion für ihre Große Anfrage zum wissen, nur ein schönes Versprechen, wenn nicht Thema „Stand und Perspektiven der Arbeitsförde- konkrete Umsetzungen folgen. rung" außerordentlich dankbar. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Ich bin Ihnen dankbar, weil die Beant- Herr Franke von der Bundesanstalt für Arbeit hat wortung Ihrer Großen Anfrage der von uns getrage- uns auch erläutert, aus welchen strukturellen Grün- nen Bundesregierung die Möglichkeit eingeräumt den der Anteil von Frauen an ABM bisher nicht erhöht hat, die erfolgreiche Arbeit, die wir in diesem Bereich werden konnte. Aber wie sieht die Realität aus? Wann der Politik geleistet haben, darzustellen. bearbeiten Sie denn endlich zusammen mit der Bun- desanstalt, den Arbeitsämtern vor Ort und möglichst (Widerspruch bei der SPD) auch mit der Frauenministerin die Voraussetzungen, Auch Sie müssen zugeben, daß wir mit 23,5 Millio- damit mehr Frauen in ABM kommen? Auch die nen Arbeitsplätzen mit Sozialversicherungspflicht, Anrechnung der Pflegetätigkeit neben der Erzie- mit 29 Millionen Erwerbstätigen in der alten Bundes- hungstätigkeit ist bei den Leistungen des AFG für republik nach zehn Jahren Regierung Frauen auf der Strecke geblieben. Darüber hinaus (Zuruf von der SPD: 4 Millionen Arbeitslose gibt es jetzt weitere Streichungen und Kürzungen, die haben!) für Frauen besonders gravierend sind. Ich nannte schon die Orientierungskurse. den höchsten Beschäftigungsstand in der Geschichte unseres L andes, in der alten Bundesrepublik, Frauen werden also dafür bestraft, daß sie gesell- haben. schaftlich wichtige Aufgaben, wie Betreuung pflege- Besonders positiv ist es — das müssen Sie sich bedürftiger Familienangehöriger, Betreuung von Kin einmal in Ruhe anhören —, daß die Zahl der Arbeits- dern, übernehmen und daß sie ihre Erwerbstätigkeit losen in den alten Bundesländern seit 1985 gesunken unterbrechen. Frau Merkel nennt das nur „schmerz- ist. lich". Getan hat sie nichts. Anfang der 80er Jahre, als wir die Regierung von Ich denke, wenn wir alle wollen, auch die Kollegin- Ihnen übernahmen, war z. B. die Jugendarbeitslosig- nen und Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P., keit ein Riesenproblem. Heute ist dies in der alten daß die Frauen in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise Bundesrepublik überhaupt kein Thema mehr. Im nicht wieder als stille Reserve an den Herd zurückge- Gegenteil: Oft haben Handwerksbetriebe das Pro- schickt werden, dann müssen wir die richtigen blem, qualifizierten Nachwuchs zu finden. Es macht Ansätze im Arbeitsförderungsgesetz ausbauen und mich schon nachdenklich, daß junge Leute in einigen die Benachteiligung für Frauen durch gezielte Maß- Regionen in größerer Zahl ein Architekturstudium als nahmen ausgleichen. Ihrem Minister traue ich dabei, eine Maurerlehre beginnen. wie Sie wissen, nicht. Aber gemeinsam könnten wir es, wenn wir etwas für die Frauen erreichen wollen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erneut versuchen. Auch darüber hinaus sollten wir einmal nachden- ken. Frau Merkels Handschrift ist bei der 10. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz so gut wie nicht zu (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Sehr richtig!) erkennen. Ich sehe daher schwarz bei den Bemühun- Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen, Frau Wei- gen um ein Gleichstellungsgesetz und um die Verfas- ler — das können Sie in der Antwort der Bundesregie- sungsreform in dieser Frage. Unwirksame Absichtser- rung sehr genau nachlesen —, ist 1991 mit rund klärungen allein reichen den Frauen heute nicht 455 000 — wir sind uns einig, daß die Zahl schrecklich mehr. - hoch ist — ein Drittel niedriger als Ende 1988. Eine letzte Bemerkung zu der Antwort auf unsere Sie müssen auch zugeben, daß wir geeignete Pro- Große Anfrage. Auf der letzten Seite ist vom anhal- -gramme haben. Wir haben das 2,14-Milliarden-DM tenden Wirtschaftswachstum die Rede. Ich weiß nicht, Programm im Bundeshaushalt, aus dem den Firmen ob das nun Verdummung der Parlamentarier sein soll Beschäftigungszuschüsse gezahlt werden, die Lang- oder Blauäugigkeit ist. Vielleicht hat der Minister für -zeitarbeitslose beschäftigen. Wir haben das 750 Arbeit und Sozialordnung Millionen-DM-Programm, aus dem Arbeitsloseniniti- ativen, die Langzeitarbeitslose sozial betreuen und sie (Zuruf von der SPD: Für soziale Unord wieder an das Arbeitsleben heranführen, die Arbeit nung!) finanziert wird. Es ist doch nicht so, daß wir in diesem die Realität in unserem Lande noch nicht erkannt. Bereich nichts getan haben! (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Ich sage Ihnen hier zum wiederholten Male: Diese Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Für so etwas Regierung war es, die ABM zu einem effektiven machen wir hier wieder eine Nachtsit Instrumentarium in der Arbeitsmarktpolitik gemacht zung!) hat. Es ist doch wahr, daß Sie 1982, bei einer höheren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10023

Karl-Josef Laumann Arbeitslosigkeit als heute, knapp 30 000 AB-Maßnah- Bereich der Arbeitsförderung noch realisieren kön- men durchgeführt haben, während wir im Jahre 1990 nen. Es werden auch in 1993 480 000 Menschen bei 94 000 AB-Maßnahmen in der alten Bundesrepu- Empfänger von Unterhaltsgeld im Bereich von beruf- blik lagen. Es ist doch wahr, daß wir trotz der AFG- licher Fortbildung sein. Etwa 300 000 Maßnahmen Novelle — auf die komme ich gleich noch zu spre- werden in diesem Bereich in den neuen Bundeslän- chen — in 1993 in den alten Bundesländern rund dern durchgeführt. Wir werden 760 000 Teilnehmer 60 000 AB-Maßnahmen und in den jungen Ländern — einschließlich der Fälle nach § 41 AFG — an 300 000 AB-Maßnahmen durchführen können und beruflichen Bildungsmaßnahmen haben. dafür 12,5 Milliarden DM aufbringen. Tun Sie doch (Gerd Andres [SPD]: Wieviel bauen Sie ab? nicht so, als wenn wir in diesem Bereich nichts Sagen Sie mal, wieviel Sie abbauen!) machten! Wir werden für fast 70 000 Personen Einarbeitungszu- (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei schüsse zahlen. — Das sind Zahlen, die deutlich der SPD) machen, daß wir Arbeitsmarktförderungspolitik auf Wir Politiker müssen in der Situation, in der wir jetzt einem hohen Niveau fortführen wollen. stecken, in der wir uns aus guten Gründen Sorgen um (Beifall bei der CDU/CSU) die konjunkturelle Entwicklung in unserem Land machen, einen Beitrag dazu leisten, daß menschliche Ich sage Ihnen: Es ist vernünftig, über die Sozial- Arbeit bezahlbar bleibt, versicherung jetzt nur noch das zu machen, was eben notwendig ist. (Zuruf von der SPD: Deswegen streichen!) Wenn Sie, Frau Weiler, von Ihren Orientierungskur- daß der Wirtschaftsstandort Deutschland gegenüber sen und davon sprechen, daß wir eine Politik gegen dem Ausland konkurrenzfähig bleibt oder — da, wo er Frauen machen, dann sage ich Ihnen: Es ist diese es nicht mehr ist — konkurrenzfähiger wird. Regierung, die als erste etwas für Frauen getan hat: Das können wir u. a. dadurch erreichen — da sind (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei wir uns in vielen Bereichen einig —, daß wir, soweit der SPD) wir die Politik im Bereich der gesetzlichen Sozialver- sicherungen beeinflussen können, darauf hinwirken, Wir haben Erziehungszeiten im Rentenrecht aner- daß die Beitragsbelastungen für Wirtschaft und kannt, was Sie nie fertiggebracht haben; wir haben Arbeitnehmer möglichst gering bleiben. Deswegen das Erziehungsgeld eingeführt; wir haben für ver- ist es richtig, daß wir z. B. die Kostenexplosion im nünftige Kinderfreibeträge im Steuerrecht gesorgt, Bereich der gesetzlichen Krankenkassen gemeinsam meine Damen und Herren! einzudämmen versuchen, weil wir eben nicht wollen, (Zustimmung bei der CDU/CSU) daß die Beiträge dazu weiter steigen. Ich sehe die Ich lasse mir von Ihnen also nicht vorwerfen, wir AFG-Novelle auch in diesem Zusammenhang als würden eine frauenfeindliche Politik machen. sinnvoll an. Ich bin der Meinung, daß die Rentenre- form 1992, die wir gemeinsam gemacht haben, auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge aus diesem Grunde richtig war. Wir können Arbeits- ordneten der F.D.P. — [CDU/ plätze am besten erhalten, wenn wir dafür sorgen, daß CSU]: Das muß einmal gesagt sein! — Wei menschliche Arbeit, wie ich sagte, bezahlbar bleibt. tere Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, meine Fraktion wird in den nächsten Wochen das sogenannte Standortsiche- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin rungsgesetz in den Deutschen Bundestag einbringen. Petra Bläss. Mit diesem Gesetz wird in Deutschland bei der Besteuerung endlich ein Unterschied gemacht zwi- schen Einkommen, das wieder in den Betrieb inve- stiert wird, um Arbeitsplätze zu sichern und zu schaf- Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! fen, und Einkommen, das für solche Investitionen Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte zur nicht zur Verfügung steht. - Arbeitsmarktpolitik trägt reichlich skurrile Züge. Ich empfinde es als Zumutung für die Betroffenen und (Zuruf von der SPD: Was die SPD schon seit auch als Verhöhnung der Betroffenen, daß wir heute Jahren fordert!) über den Schnee von gestern reden. Oder wie würden Das ist genau das, was wir in dieser Situation, in der Sie es nennen, wenn wir heute über Positionen der die Konjunktur abzuflachen beginnt, brauchen. Bundesregierung von Ende Mai 1992 reden, wohlwis- send, daß diese Positionen längst ad acta gelegt Die beste Arbeitsförderungspolitik machen wir dann, wenn wir — wie wir das auch durch unsere (Beifall der Abg. Barbara Weiler [SPD] — richtige Politik in den 80er Jahren getan haben — Gerd Andres [SPD]: Abgeräumt sind!) einen Beitrag dazu leisten, daß menschliche Arbeit und spätestens mit der Verabschiedung der 10. AFG- bezahlbar bleibt. Hierüber müssen auch die Tarifver- Novelle in den zentralen Fragen in ihr Gegenteil tragsparteien in verstärktem Maße nachdenken. verkehrt sind? Dabei dürfte es jeder und jedem hier Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen auch das klar sein, daß die 10. AFG-Novelle schon weit vor dem ganz deutlich: Sie sollten sich einmal die Zahlen Mai 1992 in den Schubladen des Blumschen Ministe- angucken, die wir auch nach dem neuen AFG im riums bereitlag, als in denselben Amtsstuben an den 10024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Petra Bläss wohlklingenden Antworten auf die SPD-Anfrage dert werden sollen. Dieser Appell wird aber in der gebastelt wurde. praktischen Konsequenz gleich wieder zurückgenom- men, weil mit der 10. AFG-Novelle eben jene Rege- (Gerd Andres [SPD]: Leider wahr!) lungen gestrichen bzw. gekürzt werden, die eine Ein aktueller Novellierungsbedarf des AFG wurde besondere Berücksichtigung von Frauen hätten beför- dort noch Ende Mai verneint, weil sich das AFG dern können. insgesamt bewährt habe. In unseren Anträgen zur 10. AFG-Novelle haben Ich will im folgenden auf einzelne Punkte aufmerk- wir nachgewiesen, daß das AFG schon deshalb einer sam machen, aus denen die ganze Widersprüchlich- gründlichen Reform bedarf, weil es zunächst darum keit von Wort und Tat der Bundesregierung deutlich gehen muß, alle frauendiskriminierenden Regelun- wird. gen im AFG abzuschaffen, bevor überhaupt an Gleichstellung zu denken ist. Bei der Verfügbarkeits- Noch Ende Mai erklärte die Bundesregierung, daß regelung wird z. B. ausschließlich bei Frauen nicht nur mit dem starken Einsatz des arbeitsmarktpolitischen die subjektive, sondern ausdrücklich auch die objek- Instrumentariums — insbesondere im Bereich der tive Verfügbarkeit ausgeforscht. Ähnliches gilt für die beruflichen Weiterbildung und im Bereich der ABM — leidige Bedürftigkeitsprüfung. die individuellen Beschäftigungsmöglichkeiten für eine möglichst große Zahl von Arbeitnehmerinnen Benachteiligt werden Frauen auch dadurch, daß sie und Arbeitnehmern verbessert werden, um wenige durch ihre Arbeit in geringfügigen Beschäftigungs-

Monate später massive Spar - und Kürzungsmaßnah- verhältnissen in zunehmendem Maße den sozialen men vor allem in diesem Bereich durchzusetzen. Der Schutz verlieren, ohne daß die Möglichkeit vorgese- durchgängige Tenor bei den Antworten: Die Förder- hen ist, wenigstens mehrere geringfügige Beschäfti- instrumentarien des AFG sind bedarfsgerecht und gungen zu einer zusammenzufassen, die dann versi- flexibel anwendbar. Höchstens einzelne Regelungen cherungspflichtig ist. Die Bundesregierung befürchtet könnten neuen Erfordernissen angepaßt werden. Daß Mißbrauch, wenn sie auch anerkennt, daß es Härte- solche Erfordernisse Konsolidierung der Finanzen auf fälle geben kann. Kosten der Arbeitsmarktpolitik sein können, hätte ich In welchem Verhältnis Mißbrauch und Härtefälle dabei am allerwenigsten vermutet. stehen, darüber schweigt sie sich leider aus. Statt die (Beifall bei der SPD) notwendige soziale Schutzfunktion des AFG auszu- -bauen, verstärkt die Bundesregierung die Schnüffel Mein Verständnis von der gegenwärtigen Situation und Kontrollmechanismen. verlangt, daß es angesichts der sich weiter zuspitzen- den Situation auf dem Arbeitsmarkt notwendig ist, die (Beifall bei der SPD — Karl-Josef Laumann Brückenfunktion der Arbeitsmarktpolitik weiter aus- [CDU/CSU]: Da haben Sie Erfahrung!) zubauen — und nicht umgekehrt. — Darüber reden wir ein andermal. — Typisch für Wußte die Bundesregierung im Mai noch nicht, daß diese Mentalität: Es wird nicht etwa eine Arbeits- über das AFG sachfremde Leistungen aus Versiche- gruppe gebildet, die sich mit dem Notstand „Arbeits- rungsbeiträgen finanziert werden, die eigentlich in losigkeit" befaßt — die neuesten Arbeitslosenzahlen den Kompetenzbereich von Ländern und Kommunen unterstreichen die Notwendigkeit —, nein, es wird gehören? Kein Wort darüber, daß hier eine Änderung eine Arbeitsgruppe gebildet, die den Leistungsmiß- beabsichtigt ist. Statt dessen wird in der Antwort auf brauch untersuchen soll. Frage 24 ausdrücklich darauf hingewiesen, welche Meine Damen und Herren, lassen Sie uns den Bedeutung die Möglichkeit, den Hauptschulabschluß gestern von der Bundesanstalt für Arbeit veröffent- nachzuholen, für den Abbau beruflich schwerwiegen- lichten Bericht zur Lage auf dem Arbeitsmarkt zur der Bildungsdefizite hat. Wenige Monate später ist Grundlage einer wirklich sachlich geführten arbeits- eben diese Maßnahme aus dem AFG gestrichen, sind marktpolitischen Debatte nehmen. Hunderte dieser engagierten Ausbilder, Lehrerinnen Danke. und Lehrer sowie Sozialpädagoginnen und -pädago- (Beifall bei der SPD) gen ihrerseits von Arbeitslosigkeit bedroht. Weiter wird betont, daß sich Maßnahmen nach § 41 a AFG bewährt hätten, daß Einarbeitungszu-- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Eva schüsse ein ebenso wichtiges Instrument der Arbeits- Pohl, Sie haben das Wort. marktpolitik sind wie solche zur Rehabilitation und beruflichen Integration Schwerbehinderter. Nichts- destoweniger: Auch hier wird bedenkenlos gestri- chen. Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Große Im Mai war die Bundesregierung auch noch der Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Am 6. No- Auffassung, daß das AFG die Anforderungen, die sich vember 1992, also morgen, steht die von uns im aus dem Gebot der Gleichstellung von Frau und Oktober verabschiedete 10. Novelle zum Arbeitsför- Mann ergeben, erfüllt. Geprüft werde allerdings, ob derungsgesetz auf der Tagesordnung des Bundesra- nicht noch Verbesserungen denkbar seien. Das tes. Ergebnis dieser Prüfungen kennen wir schon; Frau Weiler hat bereits darauf hingewiesen. Es ist der (Gerd Andres [SPD]: Das ist wohl wahr!) — leider eher unverbindliche — Appell, daß Frauen Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen geför und Sozialpolitik des Bundesrates hat die Anrufung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10025

Dr. Eva Pohl des Vermittlungsausschusses in elf Punkten der Gerd Andres (SPD): Frau Dr. Pohl, ich möchte Sie Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes verlangt. fragen, ob Sie geneigt sind, zur Kenntnis zu nehmen, (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Nicht gut! — daß just die Arbeitsmarktabgabe, die Sie soeben Gerd Andres [SPD]: Auch das ist wahr) abgelehnt haben, in einem gesonderten Antrag der Koalitionsfraktionen in den Beratungen des Aus- Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß diese schusses beschlossen worden ist und in den Be richt meines Erachtens bedenkliche Entwicklung nicht zu des Ausschusses zur 10. AFG-Novelle wortwörtlich so einem Scheitern der 10. AFG-Novelle führen wird. aufgenommen wurde. Können Sie mir vor diesem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Hintergrund erklären, wie Ihre soeben gemachte Aussage zu verstehen ist? Denn ich kann mich daran Dies ist mir als Abgeordnete aus einem jungen Bun- erinnern, daß auch Sie der Arbeitsmarktabgabe zuge- desland ein ganz besonderes Anliegen, da ich — viel- stimmt haben; denn die Koalition hat das einstimmig leicht mehr als manch Abgeordneter aus dem beschlossen. Westen — fast täglich mit der prekären Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt konfrontiert bin. Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Sie haben recht. Andererseits Ich weiß — bei aller Anteilnahme für die Notlage ist nicht gesagt worden, daß die Mittel aus dem von Arbeitslosen oder der von Arbeitslosigkeit Haushalt der Bundesanstalt und des BMA kommen bedrohten Menschen — um die Notwendigkeit einer sollen, sondern daß das möglicherweise aus dem politisch vernünftigen und haushaltsrechtlich tragba- Solidarpakt zu zahlen ist. ren Lösung. Die 10. AFG-Novelle bildet da den kleinsten gemeinsamen Nenner. (Ottmar Schreiner [SPD]: Aus der Kirchen steuer!) (Adolf Ostertag [SPD]: Nein, aber nicht für Hier geht es jetzt um Einsparungen, die im Bereich des uns!) Bundesministeriums für Arbeit vorgenommen werden Eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik hängt eben sollen. auch von der Flexibilität des arbeitsmarktpolitischen (Gerd Andres [SPD]: Ich danke Ihnen sehr Instrumentariums ab. Nur so lassen sich die arbeits- herzlich!) marktpolitischen Zielsetzungen, wie in § 2 AFG for- muliert, in der Praxis auch verwirklichen. Mit der Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner, 10. AFG-Novelle und der Antwort auf die heute zur halten Sie sich zurück. Sie haben vorhin auch die Beratung stehende Große Anfrage der SPD-Fraktion Sache mit dem Tropenholz dazwischengerufen. trägt die Bundesregierung dem in vollem Maße Rech- nung. (Ottmar Schreiner [SPD]: Nein, das mit den Mistbuben! Das haben die auch verdient!) Die Bundesregierung und auch ich halten die Bitte, Frau Kollegin, fahren Sie fort. Instrumente des AFG für geeignet, den in § 2 AFG geforderten Beitrag zu leisten. Aber man muß diese Instrumente innerhalb des gesetzlichen Rahmens fle- Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Aber Schwarzmalerei hin- xibel und weitgehend situationsgerecht einsetzen. sichtlich der Situation auf dem ost- wie westdeutschen Dafür notwendige gesetzliche Änderungen sind als Arbeitsmarkt bringt uns auch nicht weiter. Die neu- eine Intention des Gesetzgebers im AFG impliziert. esten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit für den Monat Oktober weisen für das Bundesgebiet Ost Der Einsatz der AFG-Instrumente innerhalb der sogar einen geringen Rückgang der Arbeitslosen- Sozial- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung quote auf 13,5 % aus. darf bei aller sozialpolitischer Bedeutung nicht den Positiv entwickeln sich auch der Aufbau und die Blick auf die finanzielle Gesamtsituation verstellen. Funktionsfähigkeit der Arbeitsamtsbereiche in den Finanzielle Luftschlösser lösen die Probleme der neuen Bundesländern. Die Arbeitsvermittlung läuft Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nicht. gut an, und den in der Vergangenheit beobachteten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mißbräuchen — insbesondere bei ABM-Stellen — Weil das so ist, lehnen wir die von der SPD-Fraktion in wird heute entschieden und effektiv entgegengetre- die Diskussion gebrachte Arbeitsmarktabgabe von ten. Selbständigen, Beamten und nicht beitragszahlenden Vor diesem Hintergrund ist die von verschiedener - Einkommensteuerpflichtigen ab. Seite vorgetragene Kritik an der AFG-Novelle nicht (Ottmar Schreiner [SPD]: Die fordert doch nachvollziehbar. Bei ihr geht es eben nicht, wie der selbst der Blüm! Das ist unglaublich!) Bundesrat glaubt und wie es in der Schweriner Erklä- rung zum Ausdruck kommt, um eine reine Sparvor- Meine Damen und Herren, niemand in diesem gabe zur Haushaltskonsolidierung. Nein, im Gegen- Hohen Hause wird leugnen können, daß Einsparun- teil: Diese AFG-Novelle ist die praktische Notwendig- gen im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit drin- keit, um die Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit gend notwendig sind. der Arbeitsförderung zu erhalten und damit weiterhin einen möglichst hohen Standard der Arbeits- und Bildungsförderung vor dem Hintergrund knapper Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten Finanzmittel durch deren zielgerichteten Einsatz zu Sie eine Zwischenfrage? gewährleisten. Uns kann man nicht vorwerfen, Sozialpolitik losge- löst von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen zu Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Bitte. betreiben. Als Alternative zu den notwendigen Ein- 10026 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Dr. Eva Pohl sparungen des Arbeitsförderungs-Änderungsgeset- Entscheidend für diese positive Entwicklung ist die zes bietet die F.D.P.-Fraktion die Sicherung und Politik der Bundesregierung, die ein nachhaltiges Schaffung von mehr Arbeitsplätzen durch verstärkte Wirtschaftswachstum sichergestellt hat. Investitionen der Privatwirtschaft und eine moderate (Beifall bei der CDU/CSU) Lohnpolitik an. Frau Kollegin Weiler, wenn Sie kritisieren, daß wir bei Als guten Ansatz in diesem Zusammenhang unserer Beantwortung Ihrer Großen Anfrage im Mai begrüße ich Überlegungen des Bundeswirtschaftsmi- weiterhin auf Wachstum gesetzt haben, dann ist nisters, ernsthaft über Tariföffnungsklauseln nachzu- darauf hinzuweisen, daß die rezessiven Ansätze, die denken. wir jetzt sehen, im Mai noch nicht erkennbar waren; (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Sehr richtig!) das wissen Sie genau. Sie können hier deshalb nicht kritisieren, wenn wir im Mai gesagt haben: „Wir Wir vertrauen daher darauf, daß die mit der AFG- setzen auf anhaltendes Wirtschaftswachstum", das Novelle verbundenen Änderungen in einer Gesamt- damals noch gegeben war. schau sehr wohl der Wirtschaftsstabilisierung die- nen. Unsere aktive Arbeitsmarktpolitik hat Arbeitneh- mern und vor allen Dingen Arbeitslosen geholfen. Wir (Zuruf von der SPD: Und der Armut in den haben Strukturprobleme auf dem Arbeitsmarkt nicht neuen Ländern!) nur sozial abgefedert, sondern mit unseren Maßnah- Mit der ablehnenden Haltung des Bundesrates zu men auch dazu beigetragen, den Wirtschaftsstandort diesem Gesetz droht ein Ausverkauf der Sozialleistun- Deutschland zu sichern. Auch das muß man in diesem gen. Das darf nicht sein! Der Bundesrat ist bei seiner Sachzusammenhang einmal erwähnen dürfen. morgigen Entscheidung jetzt gemahnt, weitsichtig zu (Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ handeln, anderenfalls er die politische Verantwortung CSU]) für die jetzt noch nicht abschätzbaren Folgen seiner Der beschäftigungspolitsche Erfolg der Bundesre- Verweigerungshaltung tragen muß. gierung ist nicht in vollem Umfang am Abbau von (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Arbeitslosigkeit ablesbar; denn durch Zuwanderer, Einpendler und vor allem durch Frauen, die wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt gesehen haben, werden viele neu geschaffene Stellen besetzt. Ich erteile dem Parlamen- Vizepräsident Hans Klein: Mit der kam dann eine noch tarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wiedervereinigung größere Herausforderung auf die Arbeitsmarktpolitik Arbeit und Sozialordnung, Horst Günther, das Wort. zu. Es galt, in den neuen Bundesländern eine flächen- (Gerd Andres [SPD]: Jetzt kommen „Dank deckende Arbeitsverwaltung aus dem Boden zu und Anerkennung"!) stampfen und ein umfassendes System von aktiver Arbeitsmarktpolitik und von Lohnersatzleistungen zu errichten. Dies ist uns gelungen, gemeinsam mit den Bürgern in den neuen Ländern und der Bundesanstalt Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- für Arbeit. nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Kol- Wohl haben Fachkräfte aus Westdeutschland beim lege Andres hat eigentlich schon alles gesagt: „Dank Aufbau der Arbeitsverwaltung tatkräftig geholfen. und Anerkennung". Ich bedanke mich dafür. Geschultert werden die Aufgaben aber im wesentli- chen von den Menschen in den neuen Ländern, die Die Große Anfrage der SPD-Fraktion gäbe eigent- binnen kürzester Zeit — auch dies eine tolle Lei- lich Gelegenheit zu einer breiten Präsentation all der stung — zu Fachkräften herangereift sind. Heute arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die wir „gefah- umfaßt die Arbeitsverwaltung auf dem Gebiet der ren" haben. Aber die Redezeit reicht nicht aus, um all neuen Länder 26 800 Beschäftigte. das darzustellen, was wir auf diesem Gebiet geleistet Die Arbeitsverwaltung in den neuen Ländern mag haben. Lassen Sie mich deshalb darauf verweisen, daß zwar noch verbesserungsbedürftig sein — was ist die Antworten auf Drucksache 12/2678 natürlich prä- schon perfekt? —, aber sie gilt unter den Verwaltun- zise sind, und einige Anmerkungen zu den wichtig- gen in den neuen Ländern als vorbildlich und effek- sten Eckpunkten machen. tiv. Meine Damen und Herren, die Politik der Bundes- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist regierung hat dazu beigetragen, daß die Zahl der es!) Beschäftigten im Verlaufe der 80er Jahre um mehr als 3 Millionen — von 1983 bis 1992 exakt um 3,2 Millio- Andere Verwaltungen in den neuen Ländern haben nen — angestiegen ist, daß die Erwerbsbeteiligung demgegenüber noch einen ganz erheblichen Nach- der Frauen deutlich zugenommen hat — Frau Weiler, holbedarf, wie die immer wieder beklagten bürokra- von 1983 bis 1991 hat sich die Zahl der sozialversiche- tiebedingten Investitionshemmnisse deutlich ma- rungspflichtig beschäftigten Frauen um rund 1,7 Mil- chen. lionen auf rund 9,6 Millionen erhöht —, daß die große Die Umstellung von einer ineffizienten Planwirt- Zahl von deutschstämmigen Aussiedlern aus Osteu- schaft auf die Soziale Marktwirtschaft hat das ganze ropa und von Übersiedlern beruflich integriert und Ausmaß von Inkompetenz und Verantwortungslosig- selbst die besondere Problemgruppe der Langzeitar- keit der SED-Führung offenkundig gemacht. Seit beitslosen um rund ein Drittel abgebaut werden 1990 sind rund ein Drittel der Arbeitsplätze in den konnte. neuen Bundesländern leider weggefallen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10027

Parl. Staatssekretär Horst Günther Wenn dem Verlust von weit über 3 Millionen Deutschland zwischen 400 000 und 500 000 ABM- Arbeitsplätzen heute nur eine Zahl von rund 1,1 Mil- Beschäftigte haben. lionen Arbeitslosen gegenübersteht, dann ist dies ein (Gerd Andres [SPD]: Nennen Sie zum Ver Erfolg unserer Arbeitsmarktpolitik. Sie hat im Durch- gleich einmal die Arbeitslosenzahlen!) schnitt der Jahre 1991 und 1992 Arbeitslosigkeit von rund 1,8 Millionen Arbeitnehmern verhindert. In ein- Unsere aktive Arbeitsmarktpolitik bleibt also auf zelnen Monaten waren es sogar rund 2 Millionen. hohem Niveau, in ganz Deutschland. Das ist gut so. Man darf — ungeachtet immer neuer Forderungen — Wir leisten damit einen gewaltigen Beitrag zur nicht übersehen, daß Gewaltiges geleistet worden ist wirtschaftlichen Umstrukturierung der neuen Län- und auch in Zukunft geleistet werden wird. Der der: durch berufliche Weiterbildung für rund 1,7 Mil- solidarischen Gesellschaft der Beitragszahler will ich lionen Arbeitnehmer in den Jahren 1991 und 1992, hier an dieser Stelle ein besonderes Lob und ein durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, vor allem im Dankeschön sagen. Bereich der wirtschaftsnahen und ökologischen Infra- Vielen Dank. struktur. Gut die Hälfte der Arbeitsbeschaffungsmaß- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nahmen findet in diesen Feldern statt. Deshalb ist, Frau Weiler, der Frauenanteil bei ABM, gemessen an den Arbeitslosen, hier logischerweise nicht so hoch Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Renate wie bei Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen; Rennebach, Sie haben das Wort. denn — das haben wir im Ausschuß diskutiert — bestimmte Felder können nicht mit Frauen besetzt Renate Rennebach (SPD): Herr Präsident! Werte werden; das wissen Sie ganz genau. Durch Arbeiten Kolleginnen und Kollegen! Nach den Beiträgen vor- im Bereich der Umweltsanierung, die wir mit einem her, insbesondere des Herrn Staatssekretärs, frage ich neuen Instrument anstoßen und mitfördern wollen, mich nur, in welchem Land wir eigentlich leben. wird ebenfalls das Feld für einen ökologischen und wirtschaftlichen Neuanfang bereitet. (Parl. Staatssekretär Horst Günther: In Deutschland! Das wissen wir doch!) Mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und mit die- Die SPD-Fraktion hat am 22. Januar dieses Jahres ser neuen Förderungsform zur Umweltsanierung wer- die heute zur Debatte stehende Große Anfrage zu den wir auch 1993 wieder Beschäftigungsmöglichkei- Stand und Perspektiven der Arbeitsförderung an die ten in einer Größenordnung von insgesamt rund Bundesregierung gestellt. Diese hat am 26. Mai dieses 400 000 schaffen. Jahres geantwortet. Wenn die Plenardebatte zu dieser Erfolge schaffen aber auch Ansprüche. Dies gilt Anfrage erst heute, also erst ein halbes Jahr später und heute auch für die Arbeitsmarktpolitik in den neuen vor allem erst nach der Verabschiedung einer unsäg- Ländern. Würde man manchem Ruf aus den neuen lichen AFG-Novelle stattfindet, so ist dies bereits ein Ländern folgen, müßten wir die Arbeitsmarktpolitik unerhörter Vorgang an sich. Derlei miese Spielchen zum allumfassenden Instrument staatlicher Aufga- der dafür verantwortlichen Regierungsfraktionen ver- benerledigung ausbauen. Das kann aber nicht sein. deutlichen nicht nur Ihren Stil im Umgang mit der Wir würden das wichtige Instrument Arbeitsmarktpo- Opposition, meine Damen und Herren von der Koali- litik dann zu Tode hetzen. tion. Nein, es zeigt sich darin vielmehr auch Ihr fahrlässiger und verantwortungsloser Umgang mit Wir wollen die sozialistische Planwirtschaft durch den politischen Inhalten und gegenüber den sozial eine Soziale Marktwirtschaft und nicht durch eine Benachteiligten in unserer Gesellschaft. flächendeckende ABM-Gesellschaft ersetzen. Weil die Lage auf dem Arbeitsmarkt durch Ihre (Beifall bei der CDU/CSU) Politik des wüsten Streichens notwendiger Leistungen und des Problemaussitzens inzwischen noch katastro- Wir dürfen keine staatlichen Pflichtaufgaben durch phaler geworden ist, müßten und würden wir Ihnen ABM-Kräfte erfüllen lassen. Fortbildung und Um- heute ganz andere Fragen stellen. Ihre Antworten schulung sind kein Selbstzweck, sondern müssen zu wären — wie dies bei Ihnen in der Regierung so üblich marktgerechten Arbeitsplätzen führen. ist — zwar wiederum gleich: ein Potpourri aus nichts- sagenden, ausweichenden, unverständlichen, aber - Außerdem: Auch die öffentliche Hand kann jede dafür immer schön alles rosarot färbenden Floskeln, Mark, meine Damen und Herren, nur einmal ausge- schwebend auf Wolke 7. Den Menschen würde jedoch ben. Die beste Sozialpolitik kann nur mit einer guten noch viel deutlicher vor Augen geführt, wie konzept- Finanz- und Wirtschaftspolitik geleistet werden. Das los und realitätsfern die Antworten der Bundesregie- heißt nicht, daß wir die Mittel für eine aktive Arbeits- rung sind und daß sie sich bereits auf ihrer Flucht vor marktpolitik kürzen werden; wir werden aber das den Tatsachen auf Wolke 12, wenn nicht gar auf Ausgabenwachstum begrenzen. Wolke 13 befindet. Wir werden also die aktive Arbeitsmarktpolitik in Als wir im vorigen Jahr, im Mai 1991, darüber den neuen Bundesländern 1993 auf dem Niveau von redeten, wie die Reihe der notwendigen Instru- 1992 halten. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wer- mente und Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik den wir auf einem Rekordniveau weiterführen. Ich in den neuen Ländern finanziert werden kann, war darf daran erinnern — ich glaube, der Kollege Lau- die Aussage von uns Sozialdemokraten klar: Statt mann hat das schon gemacht —: 1982, dem letzten einer sozial unausgewogenen und ungerechten Bei- Jahr der sozialliberalen Regierung, hatten wir ganze tragsfinanzierung zu Lasten der Versichertengemein- 29 000 ABM-Beschäftigte. 1993 werden wir in ganz schaft forderten wir bereits damals eine Arbeitsmarkt- 10028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Renate Rennebach abgabe bzw. Solidaritätsabgabe für Besserverdie- dabei auch einmal die Gelegenheit zur inneren Ein- nende, für Selbständige, Freiberufler, Beamte und kehr, Abgeordnete. Da haben Sie recht, Frau Pohl, und das (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Das ist eine wäre besser gewesen als das, was Sie heute veranstal- Unverschämtheit!) ten. (Beifall bei der SPD) zum Nachdenken über die tatsächlichen Ursachen dieser verheerenden und menschenverachtenden Nahezu wie selbstverständlich haben Sie, meine Ausschreitungen. Herr Waigel und Herr Möllemann Damen und Herren von der Regierungskoalition, können Sie daran nicht hindern. Im Sinne unseres nicht auf die SPD gehört. Nun liegt der Scherbenhau- Landes und des Friedens wünsche ich mir dies von fen vor uns: Der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit ganzem Herzen. ist nicht nur erschöpft, sondern das Defizit steigt und steigt. Hören Sie deshalb endlich auf, das Feuer mit der Asyldiskussion weiter anzuheizen. Sie lenken damit (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein Steinbruch wurde von den eigentlichen Problemen in unserem Land ab. daraus gemacht!) Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Sie legen Gestern im Ausschuß wurden die Fehlbeträge mit hier einen Flächenbrand, der Erinnerungen an die 10,6 Milliarden DM zum Ende Oktober 1992 und mit schlimmste Zeit der deutschen Geschichte wach wer- geschätzten 13 Milliarden DM zum Jahresende 1992 den läßt. beziffert. (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Das ist ziemlich (Gerd Andres [SPD]: Leider wahr!) abwegig, Frau Kollegin!) Wissentlich versuchen Sie, uns Sozialdemokraten Wenn es nicht so traurig wäre, so könnte man über zu dieser Zündelei einzuladen, um hinterher, wenn die Antwort der Bundesregierung zu diesem Finanz- Sie gar nicht mehr wissen, wie Sie die Geister wieder loch lachen. Diese nämlich lautete, man habe nicht die loswerden sollen, die Sie gerufen haben, uns als tatsächliche Größenordnung der Zahl der Leistungs- Mitschuldige zu haben. Dieses unsaubere Spiel wurde empfänger falsch eingeschätzt, sondern sich allenfalls nicht zuletzt gestern in der Aktuellen Stunde wieder um 6 Milliarden DM beim Altersübergangsgeld ver- überdeutlich, wo Unbeteiligte den Eindruck haben kalkuliert. Hier wird mit Milliardenbeträgen, mit den mußten: Björn Engholm ist unser Kanzler, der die Versicherungsabgaben vieler hart arbeitender Bei- Situation zu verantworten hat, die sozialdemokratisch tragszahler hantiert und jongliert, als handelte es sich regierten Länder sind seine Macher, die CDU/CSU um wert- und bedeutungsloses Spielgeld. Ich garan- dagegen ist das bedauernswerte Opfer der Misere. tiere Ihnen, daß jeder Kassenwart in jedem noch so kleinen Verein eine seriösere Abrechnung machen Die Arbeitsmarktsituation ist so, wie sie sich heute muß, um seinen Posten zu behalten. darstellt, von der Regierung provoziert und somit auch von ihr und den sie tragenden Fraktionen zu verant- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) worten. Diese Regierung schaut zu, wie die desolaten Statt nun aber in der Regierungskoalition darüber Zustände immer weiter hochgeschaukelt werden, nachzudenken, wie eine wirksame aktive Arbeits- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich, marktpolitik gestaltet und natürlich auch finanziert unverschämt!) werden kann — notfalls auch mit uns zusammen bzw. mit unserer Beratung —, kreisen die Gedanken in der sie ignoriert unsere Mahnungen und putzt die prakti- Koalition fieberhaft darum, wo und wie man denn den kabelsten und wirksamsten Vorschläge vom Tisch, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern noch weiter wie z. B. unsere Anträge „Sofortmaßnahmen zur in die Tasche greifen könnte, welche ihrer erworbe- Arbeitsmarktpolitik" und „Zukunftsorientierte Ar- nen Rechte denn noch abgebaut werden können und beitsmarktpolitik — Arbeit statt Arbeitslosigkeit" . Ja, wo sich mit dem Zauberwort Deregulierung das diese Regierung setzt sogar noch einen obendrauf, Soziale an unserer Marktwirtschaft weiter aushöhlen indem sie mit der kürzlich beschlossenen 10. Novelle läßt. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Arbeitsförderungsgesetzes auch da noch kürzt, heißt das: Ein bißchen Einschränkung hier, ein biß- wo Instrumente einer aktiven Arbeitsmarktpolitik chen Einschränkung da. Was macht das schon? Ich vorhanden waren. werde Ihnen sagen, was das macht; denn die- Folgen Die Folgen sind ebenso eindeutig wie hinlänglich erleben wir nur zu deutlich: Der soziale Druck wächst klar beschrieben: Immer mehr Menschen müssen von und wächst und entlädt sich letztendlich in der Gewalt Arbeitslosengeld und in Zukunft auch von Arbeitslo- gegen Menschen, die anders aussehen oder anders senhilfe leben, die Kaufkraft insbesondere in den sind. neuen Ländern wird weiter sinken, die Steuereinnah- Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang die men werden sinken, das Defizit der Bundesanstalt für folgende Bemerkung. Ich freue mich über jeden, der Arbeit dagegen wird weiter steigen, Kleingewerbe am kommenden Sonntag in Berlin an der Großdemon- und Einzelhandel in den neuen Ländern werden aus stration gegen Rassismus teilnimmt. zarten Ansätzen nicht herauskommen bzw. kaputtge- hen, hoffnungsvollen ABM wird der Finanzhahn (Beifall bei der SPD — Dr. Werner Hoyer zugedreht, und, und, und. [F.D.P.]: Da sind wir uns einig, Frau Kolle So provoziert und produziert diese Bundesregie-

gin!) rung immer mehr Arbeitslose und wundert sich, daß Hoffentlich finden Sie, meine Damen und Herren von aus dem zweiten Arbeitsmarkt kein erster Arbeits- der Regierungskoalition, wenn Sie denn kommen, markt wird. Sie wälzt die Probleme auf die Tarifpar- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10029

Renate Rennebach teien und vor allem auf die Bundesanstalt für Arbeit Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- ab. Und dieser werden dann noch als Dankeschön die zeit ist abgelaufen. Bundeszuschüsse gestrichen. Meine Damen und Herren, die Freude aller über die Renate Rennebach (SPD): —, man kommt immer deutsche Einheit war riesengroß. Die Menschen im wieder zum gleichen Resultat: Hier wird an einer Westen wie im Osten waren zu Opfern für das Schraube ohne Ende gedreht, die nicht nur den Zustandebringen auch einer inneren Einheit mit glei- inneren Vereinigungsprozeß behindert, sondern so- chen Lebensverhältnissen bereit. Leider hat diese gar aktiv verhindert. Wie anders lassen sich sonst die Regierung und allen voran ihr Kanzler diesen so vermehrt in Ost und West zu hörenden Worte über wichtigen Kredit der Hilfsbereitschaft mit ihrer satt- eine neue, diesmal fünf Meter höhere Mauer erklä- sam bekannten und alle Tatsachen vernebelnden ren? War es das, was Herr Kohl mit seinem Silberstrei- Schönrederei immer weiter verspielt. fen meinte? Es ist auf alle Fälle nicht das, was wir Sozialdemokratinnen wollen. Wir werden mit allen (Ottmar Schreiner [SPD]: Der Dicke muß uns zur Verfügung stehenden Mitteln diese Regie- weg!) rung zu schleunigem Handeln antreiben. Der Solidaritätszuschlag bis Juni 1992 war ja nur für Die Zeiten haben sich geändert. Nichts läßt sich den Golfkrieg, wenn wir uns richtig erinnern. Die mehr schönreden. Bitte denken Sie von der Koalition Bundesregierung hat nicht ein einziges Mal das Rück- immer daran. Es ist schön, daß unser Land vereint ist. grat gehabt — oder war es Unfähigkeit? —, den Setzen Sie den Prozeß der inneren Einheit nicht weiter Menschen im vereinigten Deutschland die Wahrheit leichtfertig aufs Spiel. Unsere Demokratie wird nicht darüber zu sagen, was an Belastungen auf sie von Flüchtlingen und Asylbewerbern bedroht, son- zukommt. dern von Ihrer Politik, bei der die Kleinen zahlen Die logische Konsequenz ist, daß in den neuen sollen und die Großen weiterhin unverdrossen ihre Ländern ein Wechselbad zwischen Aufbruchseupho- Kassen füllen dürfen. rie und tiefer Enttäuschung entstanden ist. War es am (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich!) Anfang die Hoffnung „Nun wird alles besser, endlich — Ich habe nicht für das Protokoll gesprochen, son- richtiges Geld, Konsum und volle Schaufenster!" , so dern für die paar Ohren, die hier noch zuhören. ist heute die bange Frage „Was hat es gebracht?", (Beifall bei der SPD) verbunden mit Existenzangst und dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und zunehmende Verelendung. Genau dies führt dann letztlich zu den Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Sie haben von mir bereits vorhin genannten Ausbrüchen von jetzt schon genug gesprochen. Entschuldigung. Gewalt und Ausländerfeindlichkeit. Gleiche Lebens- (Zuruf von der SPD: Aber dazu kann man nie verhältnisse, so scheint es im Moment, werden wir genug sagen!) wohl höchstens in dieser negativen Hinsicht bekom- Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege men. Dr. Werner Hoyer. Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zu dieser offensichtlich die Sozialpolitik der Bundesre- Dr. Werner Hoyer (F.D.P.): Herr Präsident! Um auf gierung völlig prägenden Wirtschaftspolitik des Herrn den AFG-relevanten Teil der soeben gehörten Rede Möllemann sagen. Dieser redet und agiert inzwischen einzugehen, würde ich Ihnen jetzt eine Kurzinterven- ohne jeglichen Rückhalt selbst seitens der Unterneh- tion zu später Stunde nicht zumuten. Zwei Punkte merinnen und Unternehmer. Herr Möllemann ver- möchte ich aber doch zumindest für das Protokoll sucht immer noch, sein sozialfeindliches Deregulie- festhalten. rungsprogramm durchzusetzen, während auch die Zum einen hatten wir in diesem Hause eine Gepflo- Unternehmer der Ansicht sind, daß wir solcherlei genheit, die wir vor kurzem noch einmal bekräftigt Maßnahmen nicht brauchen. haben: Bei aller notwendigen kontroversen Auseinan- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das stimmt nun dersetzung über zweifellos diskussionswürdige The- wirklich gar nicht!) men wollen wir nicht auf Vergleiche mit Geschehnis- sen aus Zeiten zurückgreifen, die in Deutschland seit — Fragen Sie doch einmal Herrn Himmelreich.- — mehr als 45 Jahren und auch in der früheren Deut- Notwendig ist vielmehr eine verläßliche und ehrliche schen Demokratischen Republik seit zwei Jahren Wirtschaftspolitik mit einer funktionierenden Infra- vorbei sind. struktur und einem sicheren Umfeld, die mehr Absatz Die zweite Feststellung, die ich machen will: Mir ist durch mehr Kaufkraft schafft. die Demonstration der demokratischen Kräfte, zu der Hinzu kommt noch die Tatsache, daß eine große der Bundespräsident für nächsten Sonntag nach Ber- Zahl motivierter und qualifizierter junger Menschen, lin gerufen hat, so wichtig, daß ich es nicht für die in den neuen Ländern keine Perspektive sahen, zweckmäßig halte, sie in den parteipolitischen den Weg von Ost nach West angetreten haben und Schlagabtausch in diesem Hause einzubeziehen und nun am ostdeutschen Arbeitsmarkt fehlen. Dies sehen damit möglicherweise den einen oder anderen an der die Unternehmer, die bereit sind, unter bestimmten Sinnhaftigkeit der Veranstaltung zweifeln zu lassen, Bedingungen zu investieren, natürlich auch. die ich für unbedingt erforderlich, sinnvoll und unter- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo man auch stützenswert halte. ansetzt bei der Beurteilung der Arbeitsmarktpolitik (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne der Bundesregierung — ten der CDU/CSU und der SPD) 10030 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege Die Vermutung wird immer deutlicher: Die deutsche Wolfgang Engelmann. Wirtschaftspolitik hat weitestgehend versagt. (Gerd Andres [SPD]: Engelmann, jetzt geh' (Beifall bei der SPD — Ottmar Schreiner wenigstens du voran! — Dr. Werner Hoyer [SPD]: Mümmelmann heißt der Verantwortli [F.D.P.]: Herr Präsident, ich denke, Sie che!) mischen!) Den Prozeß zur inneren Einheit Deutschlands haben die Industriemagnaten, die wirtschaftsführenden Un- ternehmen und die Wirtschaftspolitiker nicht mitbe- gleitet. Wolfgang Engelmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube wohl, daß das (Ottmar Schreiner [SPD]: Leider wahr!) deutsche Volk weiß, wer uns daran hindert, in der Allein durch die arbeitspolitischen Instrumente des Asylfrage eine Klärung herbeizuführen, die dem deut- Arbeitsförderungsgesetzes konnte bislang der Kol- schen Volk hilft, laps auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt vermieden (Ottmar Schreiner [SPD]: Paß auf, was du werden. sagst!) (Gerd Andres [SPD]: Richtig!) aufkeimenden Haß gegen andere zu vermeiden. Es ist eine unglaubliche und ungeheure Leistung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unter (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herrn Minister Blüm und der Bundesanstalt für Arbeit, Die Arbeitsmarktsituation in den neuen Bundes- innerhalb kürzester Frist eine funktionierende Ar- ländern ist weiterhin besorgniserregend. Noch bre- beitsverwaltung in den neuen Ländern aufzubauen chen mehr Arbeitsplätze weg, als neue entstehen. und sofort Hunderttausende von Bürgern sozial auf- Besonders gefährlich wird es, wenn die Werksplätze zufangen, sie umzuschulen, qualifiziert zu vermitteln, in der Industrie wegfallen. Deutsche Arbeiter mit den in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu beschäftigen Händen in den Hosentaschen sind ein trauriges und Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu ge- Bild. währleisten. Das sollte nicht vergessen werden, auch Aber dieser gegenwärtige Zustand ist nicht den nicht von der Opposition. Das ist eine unschätzbare Grundwerten der freiheitlichen Staats- und Rechts- Solidarleistung aller Deutschen, die ihren Beitrag für ordnung geschuldet, geschweige denn der Sozialen die Arbeitslosenversicherung entrichten. Marktwirtschaft oder gar der deutschen Wiederverei- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das tun nigung. Dieser Zustand hat seine Ursachen im soge- die ausländischen Arbeitnehmer auch!) nannten sozialistischen Staats - und Wirtschaftssy- stem der DDR, eingebunden in die russische Vorherr- Ich wollte Ihnen noch einmal die Zahlen nennen, die schaft in Ostdeutschland. Dieses System hat unsi- das erhärten sollen. Aber Sie wissen selbst, daß fast chere, gedemütigte Menschen hinterlassen, herunter- 2 Millionen Maßnahmen durch die Instrumentarien gewirtschaftete Be triebe, kaputte Straßen, dahinsie- des AFG in den neuen Ländern abgesichert sind. chende Städte, zerstörerische Monokulturen und eine (Barbara Weiler [SPD]: 150 000 Arbeitsplätze Umwelt, die sträflichst geschädigt wurde. Diese werden abgebaut!) Gesellschaftsordnung hat sich nicht bewährt. Wenn die Kritiker der eben verabschiedeten AFG- (Renate Rennebach [SPD]: Und was machen Novellierung dieser vorwerfen, dem Sozialabbau Sie jetzt daraus?) Vorschub zu leisten, muß ihnen entgegengehalten Das chaotische Ergebnis der 45jährigen kommuni- werden, daß das Arbeitsministerium haushälterischen stischen Zwangsherrschaft im Osten unseres Vater- Notwendigkeiten Rechnung trägt, landes zu beseitigen ist die historische Herausforde- (Gerd Andres [SPD]: Genau das sagen rung an alle Deutschen guten Willens, aber auch eine wir!) Chance für ein friedliches und geeintes Europa. indem dort gespart wird, wo durch Mitnahmeeffekte Haben wir diese Aufgabe schon erfüllt? Zwei- und Mißbrauch einem sinnvollen Einsatz des AFG felsohne können zwei Jahre deutsche Einheit und entgegengewirkt wird. Marktwirtschaft mit 45 Jahren Mißwirtschaft- nicht verglichen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Uwe Küster [SPD]: Als erstes bei den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kleinen abbauen!) Aber ich meine, wir hätten in der Umstrukturierung Wir ersetzen Quantität durch Qualität. von einer sozialistischen Plan- zu einer Sozialen Marktwirtschaft bereits weiter sein können. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) (Beifall bei der SPD) Ich sehe in dem Projekt „Umwelt Ost" eine kluge Modifizierung des Instrumentariums AFG. Durch eine Leider ist die Bereitschaft, im Osten zu investieren sinnvolle Beschäftigung von Arbeitslosengeldemp- — das ist allgemein bekannt —, ehemalige Produkti- fängern Dauerarbeitsplätze zu schaffen, ist das onsstätten zu übernehmen, neue aufzubauen und erklärte Ziel dieses Modells. wertschöpfende Arbeitsplätze zu schaffen, äußerst bescheiden. Vorgeschobene Hemmnisse, meist sub- (Zuruf von der SPD: Jetzt verlassen Sie aber jektiver Art, haben an Argumentationskraft verloren. die vernünftige Linie!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10031

Wolfgang Engelmann Ich muß aber erwarten, daß die finanzielle Absiche- Tage-Regelung für die 55jährigen in der Zeit ab rung der Projekte gewährleistet wird. 3. Oktober 1990 beseitigt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Barbara Weiler [SPD]: Wissen Sie, daß Frau Merkel das bedauert hat?) Gleiches Recht für Gleiche. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Meine Damen und Herren, wenn auch die Mittel der neten der SPD) Bundesanstalt für Arbeit ausgeschöpft sind und eine für mich dringlich gebotene Zusatzabgabe für Besser- Wir Sozialpolitiker haben die Aufgaben der deut- verdienende leider noch nicht in greifbare Nähe schen Einheit ernst genommen. Das Ministerium für gerückt ist, Arbeit und Sozialordnung, die Bundesanstalt für (Beifall bei der SPD) Arbeit und die Arbeitsämter (Zuruf von der SPD: Der Dicke muß weg!) möchte ich vor diesem Hohen Hause anmahnen, daß für die älteren Arbeitnehmer, vornehmlich für die erbringen ihren Anteil zur Einheit Deutschlands. Aber Altersgruppe ab dem 55. Lebensjahr, nach dem Aus- Sozialpolitik kann nur eine Brückenfunktion überneh- laufen des ALÜG eine Alternativlösung angeboten men. Die Stützpfeiler sind eine einheitsbezogene Wirtschaftspolitik für ein gemeinsames Deutsch- wird. (Beifall bei der SPD) land. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — — Das wollen auch die Kollegen der CDU/CSU; ich Eduard Oswald [CDU/CSU]: Helmut Kohl weiß das. — Diese Bürger sollten nicht die Verlierer bleibt! — Gerd Andres [SPD]: Er meint Möl der deutschen Einheit sein. lemann!)

(Beifall bei der SPD)

Unterstützen Sie meinen und den von der Arbeitneh- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hoyer, auf mergruppe der CDU/CSU-Fraktion gemachten Vor- Ihren Zwischenruf kann ich nur sagen: Dafür waren schlag des Teilvorruhestandes Ost als einen Beitrag Sie dazwischen. zum hoffentlich mehrheitsfähigen Solidarpakt. Da Ich schließe die Aussprache. sind auch Sie gefragt. Wir sind am Schluß der Tagesordnung. (Zurufe von der SPD: Einbringen!) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, 6. November 1992, — Ja, wir sind schon dabei. 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Bevor aber etwas Neues angegangen wird, muß die von mir schon mehrfach bemängelte unselige 78- (Schluß der Sitzung: 21.51 Uhr)

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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10033*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Voigt (Frankfurt), Karsten SPD 05. 11. 92 *** entschuldigt bis D. Abgeordnete(r) einschließlich Vosen, Josef SPD 05. 11. 92 Antretter, Robert SPD 05. 11. 92 * Dr. Warnke, Jürgen CDU/CSU 05. 11. 92 Beckmann, Klaus F.D.P. 05. 11. 92 Wimmer (Neuötting), SPD 05. 11. 92 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 05. 11. 92 Hermann Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 05. 11. 92 Zierer, Benno CDU/CSU 05. 11. 92 ** Peter Harry Dr. Ehmke (Bonn), Horst SPD 05. 11. 92 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Eymer, Anke CDU/CSU 05. 11. 92 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Francke (Hamburg), CDU/CSU 05, 11. 92 *** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Klaus lung Fuchs (Köln), Anke SPD 05. 11. 92 Gallus, Georg F.D.P. 05. 11. 92 Gattermann, Hans H. F.D.P. 05. 11. 92 Anlage 2 Dr. Gautier, Fritz SPD 05. 11. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 05. 11. 92 Erklärung nach § 31 GO Genscher, Hans-Dietrich F.D.P. 05. 11. 92 der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Maria Dr. Glotz, Peter SPD 05. 11. 92 Michalk, Hartmut Büttner (Schönebeck) und weiterer Großmann, Achim SPD 05. 11. 92 38 Kolleginnen und Kollegen zur Abstimmung über Hilsberg, Stephan SPD 05. 11. 92 den Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung von Kolbe, Regina SPD 05. 11. 92 Kriegsfolgengesetzen (Tagesordnungspunkt 5): Kors, Eva-Maria CDU/CSU 05. 11. 92 Kretkowski, Volkmar SPD 05. 11. 92 Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung Lenzer, Christian CDU/CSU 05, 11. 92 ** von Kriegsfolgengesetzen, mit dem nach Herstellung Marten, Günter CDU/CSU 05. 11. 92 ** der deutschen Einheit und mehr als 45 Jahre nach Marx, Dorle SPD 05. 11. 92 Kriegsende die in der Nachkriegszeit getroffenen Mattischek, Heide SPD 05. 11. 92 gesetzlichen Regelungen zur Bewältigung der Folgen Meißner, Herbert SPD 05. 11. 92 des Zweiten Weltkrieges den veränderten Verhältnis- Dr. Müller, Günther CDU/CSU 05. 11. 92 ** sen angepaßt werden sollen, stellen wir fest: Oesinghaus, Günther SPD 05. 11. 92 Vertriebene und Aussiedler, die nach dem Verlas- Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 05. 11. 92 sen des Vertreibungsgebietes in die alte Bundesrepu- Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 05. 11. 92 blik gekommen waren, haben hier nach den verschie- Reddemann, Gerhard CDU/CSU 05. 11. 92 * denen Kriegsfolgengesetzen vielfältige Rechte, Ent- Rempe, Walter SPD 05. 11. 92 schädigungen und Hilfen zu ihrer Eingliederung erhalten. Vergleichbare Leistungen konnten die Ver- CDU/CSU 05. 11. 92 Repnik, Hans-Peter triebenen, die ihren Aufenthalt im Gebiet der ehema- Rönsch (Wiesbaden), CDU/CSU 05. 11. 92 ligen SBZ/DDR genommen haben, nicht erhalten. Sie Hannelore mußten sich im Osten Deutschlands unter ungleich Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 05. 11. 92 schwierigeren Bedingungen eine Existenz auf- Ingrid bauen. CDU/CSU 05. 11. 92 Schartz (Trier), Günther Eine nachträgliche Einbeziehung dieses Personen- Dr. Schmude, Jürgen SPD 05. 11. 92 kreises in das System des Kriegsfolgenrechts wurde Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 05. 11. 92 im Einigungsvertrag nicht vorgesehen. Viele berech- Schüßler, Gerhard F.D.P. 05. 11. 92 tigte Erwartungen sind dadurch enttäuscht worden. Schwanitz, Rolf SPD 05. 11. 92 Dies gilt insbesondere für die große Zahl der Vertrie- Schwarz, Stefan CDU/CSU 05. 11. 92 benen in den neuen Bundesländern, die bisher kei- Dr. Seifert, Ilja PDS/LL 05. 11. 92 nerlei dem Lastenausgleich vergleichbare Leistungen Dr. Soell, Hartmut SPD 05. 11. 92 ** erhalten haben. In gleicher Weise sind aber auch die nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges aus den SPD 05. 11. 92 Dr. Sonntag-Wolgast, ehemaligen deutschen Ostgebieten und den deut- Cornelie schen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa Steiner, Heinz-Alfred SPD 05. 11. 92 ** wegen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit oder Dr. von Teichman, F.D.P. 05. 11. 92 * deutschen Volkszugehörigkeit vornehmlich in sibiri- Cornelia sche Lager oder in den Ural verschleppten ehemali- Thierse, Wolfgang SPD 05. 11. 92 gen Kriegsgefangenen und Internierten betroffen, die Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 05. 11. 92 nach ihrer Entlassung aus dem Gewahrsam ihren 10034* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Aufenthalt in der ehemaligen SBZ/DDR genommen Haschke (Jena), , Dr. Rudolf Karl haben. Krause (Bonese), Horst Gibtner, Heinz Rother, Werner Wir begrüßen es daher, daß die Bundesregierung in H. Skowron, Dr. Hermann Pohler, Dr. Harald Schrei- dem Gesetzentwurf ihre Absicht erklärt, den in den ber, Helmut Sauer (Salzgitter), Wolfg ang Krause (Des- neuen Ländern lebenden Vertriebenen, die das Ver- sau), Michael Wonneberger, Dr. Immo Lieberoth, treibungsschicksal selbst noch erlitten haben, im Rah- Ulrich Junghans, Rosemarie Priebus, Michael Stüb- men des noch zu erlassenden Entschädigungsgeset- gen, , Dr. , Rolf zes eine einmalige Zuwendung von je 4 000,— DM Rau, Dr. Sabine Bermann-Pohl, Bernhard Jagoda, zu gewähren; und den Opfern kommunistischer Dr.-Ing. Rainer Jork (alle CDU/CSU) Unrechtsmaßnahmen, denen auf Grund der Rechts- lage nach dem Einigungsvertrag keine Leistungen nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz oder nach dem Häftlingshilfegesetz gewährt werden können, künftig durch die Gewährung von Leistun- Anlage 3 gen aus der Heimkehrerstiftung, die auf die neuen Länder überführt wird, und im Rahmen der Stiftung Erklärung zur namentlichen Abstimmung für ehemalige politische Häftlinge flexibel und ent- über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD zur sprechend ihrer Bedürftigkeit geholfen werden zweiten Beratung des Gesetzentwurfs des Bundesra kann. tes zur Verlängerung der Wartefristen für Eigenbe darfskündigungen in dem in Artikel 3 des Einigungs Dabei sind wir uns bewußt, daß die Gewährung vertrages genannten Gebiet einer begrenzten Einmalleistung an die Vertriebenen (Drucksache 12/3613 Nr. 1) kaum als Ausgleich für den Verlust der Heimat und das damit verbundene Vertreibungsschicksal gewer- tet werden kann. Sie kann nur der Versuch sein, durch Den unten angeführten Mitgliedern der CDU/CSU- eine späte Anerkennung für die heute meist alten Arbeitsgruppe in der Enquete-Kommission „Aufar- Menschen wenigstens ein Stück Gerechtigkeit zu beitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur schaffen. Allerdings hätten wir uns im Interesse der in Deutschland" war es aus unverschuldeten Gründen Betroffenen gewünscht, wenn für diese Leistung nicht möglich, an der namentlichen Abstimmung bereits im Rahmen des vorliegenden Gesetzentwurfs teilzunehmen. eine gesicherte gesetzliche Grundlage geschaffen Rainer Eppelmann, Dr.-Ing. Rainer Jork, Dr. Harald worden wäre. Kahl, Hartmut Koschyk, Dr. Rudolf Karl Krause (Bo- Wir erwarten daher, daß die Bundesregierung nese), Klaus-Heiner Lehne, Dr. Dorothee Wilms, Prof. unverzüglich den Entwurf eines Entschädigungsge- Dr. Roswitha Wisniewski setzes einbringt, der den in den neuen Ländern lebenden Heimatvertriebenen die in Aussicht ge- stellte Einmalzahlung im Rahmen eines möglichst einfachen und unbürokratischen Verfahrens zuer- kennt; und daß bei der Leistungsgewährung ein Anlage 4 Auszahlungsmodus festgelegt wird, der dem hohen Antwort Lebensalter der Be troffenen Rechnung trägt, denen lange Fristen bei der Auszahlung der Einmalleistung des Bundesministers Friedrich Bohl auf die Dringliche nicht mehr zugemutet werden können — zur inhaltli- Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) chen Ausgestaltung schlagen wir anstelle einer Barer- (Drucksache 12/3600 Frage 3): füllung eine zeitlich gestreckte Ausgleichsregelung Treffen Pressemeldungen zu, daß der Bundeskanzler beab- durch Begründung von Spareinlagen vor; die Festle- sichtigt, in Asylsachen wegen eines angeblichen Staatsnotstan- gung einer bestimmten Reihenfolge der Auszahlung des die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes nicht mehr beachten zu wollen, und wie will er das ggf. mit seinem Eid auf mit Priorität für besonders betagte Antragsteller, die Verfassung vereinbaren? beginnend mit dem Jahre 1993, würde insbesondere die Möglichkeit eröffnen, die haushaltsmäßigen Bela- stungen aus dieser Regelung auf einen längeren Derartige Pressemeldungen sind falsch. Zeitraum zu erstrecken —, ferner daß Bundesregie-- rung und Bundestag eine angemessene Aufstockung der Mittel für die „Heimkehrerstiftung" und die „Stiftung für ehemalige politische Häftlinge" vorneh- men und daß die Richtlinien der beiden Stiftungen Anlage 5 überarbeitet werden und eine verstärkte Berücksich- Antwort tigung der Opfer aus den neuen Bundesländern vor- sehen. des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache Erika Steinbach-Hermann, Rudolf Meinl, Wolfgang 12/3580 Fragen 1 und 2): Dehnel, Manfred Heise, Norbert Ott (Erfurt), Erika Reinhardt, Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz), Ulrich Womit begründet die Bundesregierung die offizielle Teil- nahme von Bundeswehrsoldaten in Uniform am 50. Jahrestag Adam, , Dr. Gerhard Päselt, der Schlacht von El Alamein? Dr. Harald Kahl, Joachim Graf von Schönburg-Glau- Welche Bedrohungsanalyse der NATO stellt die Basis der chau, Susanne Jaffke, Dr.-Ing. Paul Krüger, Wolfgang neuen politischen Richtlinien für den Einsatz von Atom-Waffen Ehlers, Hartmut Koschyk, Erwin Marschewski, Udo durch die NATO dar? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10035*

Zu Frage 1: Anlage 6 Die internationale Gedenkfeier in El Alamein war Antwort 1992 turnusgemäß von der deutschen Seite auszurich- des Parl. Staatssekretärs Dr. Dieter Schulte auf die ten. Fragen des Abgeordneten Reinhold Hiller (Lübeck) Ziel der diesjährigen Veranstaltung zum 50. Jahres- (SPD) (Drucksache 12/3580 Fragen 3 und 4): tag der Schlacht war es, in Anerkennung des histori- Wie beurteilt die Bundesregierung die tatsächliche Leistungs- fähigkeit der Deutschen Bundesbahn, die sich in der Werbung schen Ausgangs der Schlacht und ihrer Bedeutung vor als Unternehmen Zukunft bezeichnet, im Hinblick auf die der Weltöffentlichkeit gemeinsam mit den Veteranen Tatsache, daß im künftigen Jahresfahrplan 1993/94 die Reisezeit unter Beweis zu stellen, daß heute, 50 Jahre danach, auf der Strecke Hamburg-Lübeck so weit verlängert werden die Versöhnung der Gegner stattgefunden hat. Nun- soll, daß nicht einmal mehr die Fahrzeiten von 1937 erreicht werden? mehr beklagen Freunde und Verbündete gemeinsam Ist die Deutsche Bundesbahn im Hinblick auf die von ihr die Opfer der Vergangenheit und demons trieren gezeigte fehlende Fähigkeit, für Lübeck und sein südholsteini- gleichzeitig, daß die heutigen Verbündeten sich als sches Umland einen konkurrenzfähigen Fahrplan mit den not- gleichberechtigte Partner verstehen. wendigen Anschlüssen an den überregionalen Verkehr (ICE, IC) zu gewährleisten, bereit, den Verkehr auf der Strecke Hamburg Es ist selbstverständlich und international üblich, Lübeck auf leistungsfähige regionale Gesellschaften zu übertra- derartige Gedenkfeiern durch Abordnungen der gen? Streitkräfte feierlich zu umrahmen. Die Präsenz deut- scher Soldaten in Uniform entsprach daher ebenso Zu Frage 3: dem feierlichen Anlaß, wie die Teilnahme militäri- Die Fahrzeiten im Regionalverkehr auf der Strecke scher Delegationen der anderen damaligen Kriegs- Hamburg-Lübeck sind erheblich kürzer als vor dem gegner. Die Zeremonie in El Alamein dokumentierte Kriege. Die Deutsche Bundesbahn ist derzeit bemüht, auch die Überwindung von Feindschaft und stellte Auswirkungen infolge der vorübergehenden Bauar- den Gedanken der Völkerverbindung in den Mittel- beiten auf der Strecke der IC-Linie 1 auf die Fahrzei- punkt. Darüber hinaus war es ein selbstverständliches ten auf der Strecke Hamburg-Lübeck zu vermei- Anliegen, sowohl der gefallenen Soldaten als auch der den. Opfer unter der Zivilbevölkerung in entsprechender Form zu gedenken. Zu Frage 4: Acht Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Die Bestrebungen, im Rahmen der Bahnreform die Deutschen Bundestages, die den Fraktionen der CDU/ Nahverkehrsleistungen zu regionalisieren, werden CSU, der F.D.P. und der SPD angehören, haben an dazu führen, daß die Deutschen Bahnen künftig im den Feierlichkeiten in El Alamein teilgenommen und Wettbewerb mit anderen Anbietern stehen. Dies soll durch ihre Anwesenheit die Bedeutung der Veranstal- zu verbesserten Leistungen, mehr Kundennähe und tung unterstrichen. höherer Marktakzeptanz führen. Die Strukturreform der deutschen Bahnen wird Abschließend ist festzustellen, daß die an der Vor- zukünftig auch ermöglichen, daß regionale Gesell- bereitung und Durchführung der Gedenkfeier betei- schaften Verkehrsleistungen auf Strecken der Bun- ligten Soldaten der Bundeswehr einen ausgezeichne- deseisenbahnen erbringen. ten Eindruck hinterließen, der bei den internationalen Beobachtern Respekt und Anerkennung hervorrief. Anlage 7 Zu Frage 2: Antwort Die „Politischen Prinzipien für nukleare Planung des Parl. Staatssekretärs Dr. Paul Laufs auf die Frage und Konsultationen" basieren auf dem im November des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Drucksa- 1991 in Rom verabschiedeten „Strategischen Kon- che 12/3580 Frage 5): zept" der Allianz und sind ein notwendiger Schritt auf Wie beurteilt die Bundesregierung die Kampagne der Welt- der Grundlage der neu formulierten S trategie. tierschutzgesellschaft (WSPA) zum Schutz der Bären, und in welcher Weise wird sie diese unterstützen? Sie spiegeln die grundlegend veränderte Situation- im nuklearen Bereich in Europa wider und unterstrei- Die Bundesregierung begrüßt die Kampagne der chen die politische Rolle der Nuklearwaffen. Welttierschutzgesellschaft zum Schutz der Bären. Sie hat sich auf der letzten Vertragsstaatenkonferenz zum Die „Politischen Prinzipien" reflektieren die ver- Washingtoner Artenschutzübereinkommen (Kyoto, minderte Abstützung der Allianz auf Nuklearwaffen März 1992) mit Erfolg dafür eingesetzt, daß alle Bären und die in immer weitere Ferne rückende Möglich- dem Schutz des Übereinkommens und damit einer keit, daß die NATO jemals auf diese ohnehin drastisch internationalen Handelskontrolle unterstellt wur- reduzierten Waffen zurückgreifen müßte. den. Sie richten sich gegen keine konkrete Bedrohung. Die Bundesregierung hält jedoch den bisherigen Vielmehr dienen sie der politischen Absicherung Schutz der Bären im Rahmen des geltenden Rechts gegen verbleibende Risiken, deren Einschätzung gleichwohl noch für unzureichend. Sie unterstützt ebenso schwierig wie unsicher ist und die zum Bei- deshalb den Vorschlag der EG-Kommission, alle spiel auch aus der Proliferation von Massenvernich- Bären in der künftigen EG-Artenschutzverordnung tungswaffen und weitreichender Trägermittel entste- einer zusätzlichen Einfuhrgenehmigungspflicht zu hen könnten. unterstellen, um die Einfuhr von Bären unter Arten- 10036* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Schutz- und Tierschutzgesichtspunkten besser kon- Wie hoch sind die unmittelbaren und mittelbaren Transferzah- trollieren zu können. lungen öffentlich bzw. öffentlich finanzierter oder teilfinanzier- ter Haushalte an übernationale Gemeinschaften oder andere Länder weltweit?

Ich gehe davon aus, Herr Kollege, daß Sie „Trans- Anlage 8 ferzahlungen" nicht im rein technischen Sinn verstan- den wissen wollen, sondern daß Sie generell an allen Antwort Leistungen ins Ausland interessiert sind. Dabei kann des Parl. Staatssekretärs Rainer Funke auf die Frage ich nur Auskünfte über Maßnahmen geben, die im der Abgeordneten Dr. Eva Pohl (F.D.P.) (Drucksache Bundeshaushalt enthalten sind. Zahlen aus anderen 12/3580 Frage 12): öffentlichen, öffentlich finanzierten oder teilfinanzier- ten Haushalten stehen mir nicht zur Verfügung. Auch Hält die Bundesregierung das Schwerbehindertenurteil des Amtsgerichts Flensburg — Aktenzeichen 63 C 265/92 —, in dem die Aufteilung nach unmittelbaren bzw. mittelbaren Urlaubern wegen Anwesenheit Schwerbehinderter im Hotel Leistungen kann ich nicht vornehmen. Derartige Dif- eine Preisreduzierung wegen Mangelhaftigkeit der Reisever- ferenzierungen sind im Bundeshaushalt nicht vorge- tragsleistung zugebilligt wurde, für mit geltendem Recht — ins- sehen. besondere der verfassungsrechtlich garantierten Menschen- würde — vereinbar, und teilt die Bundesregierung die Auffas- Die gewünschten Angaben fasse ich zu Ausgaben- sung, daß Behinderte durch derartige Urteile zu Menschen blöcken zusammen, und zwar mit den im Bundeshaus- zweiter Klasse erklärt werden? halt 1992 veranschlagten Beträgen.

Die Bundesregierung muß sich im Hinblick auf die Nun zu den Einzelheiten: verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit der Die Entwicklungshilfe umfaßt 1992 insgesamt rd. Gerichte jeder kommentierenden Wertung einer 8,2 Milliarden DM. Davon entfallen gut 2,7 Milliarden gerichtlichen Entscheidung enthalten. Dies gilt selbst DM auf die bilaterale finanzielle Zusammenarbeit. dann, wenn ein ergangenes Urteil allgemein auf Für humanitäre Hilfsmaßnahmen außerhalb der Ent- Unverständnis stößt. wicklungshilfe werden zusätzlich 85 Millionen DM Die verfassungsrechtliche Garantie der Menschen- bereitgestellt. würde gilt für Nichtbehinderte und Behinderte glei- Leistungen an die EG sind im Bundeshaushalt 1992 chermaßen. Die Bundesregierung hat daher in der in Höhe von 38,4 Milliarden DM vorgesehen, die sich Vergangenheit stets verdeutlicht, daß die Eingliede- durch Rückflüsse an den Bundeshaushalt auf 20,6 Mil- rung der Behinderten auf allen Gebieten des Lebens liarden DM netto reduzieren. — also auch in Freizeit und Urlaub — in weitest Für Leistungen an mittel- und osteuropäische Län- möglichem Umfang verwirklicht werden muß. Sie der und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten sind wird auch künftig mit allem Nachdruck für eine 1992 gut 8,7 Milliarden DM vorgesehen, davon etwa umfassende Integration der Behinderten eintreten. 7,4 Milliarden DM für die Gemeinschaft Unabhängi- Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg aller ger Staaten. Bemühungen um eine Eingliederung der Behinderten ist, daß Vor- und Fehlurteile in der Öffentlichkeit Die Zahlungen des Bundes an internationale und abgebaut werden. Dieses Ziel kann nur durch einen supranationale Organisationen belaufen sich 1992 auf ständigen werbenden Prozeß, der auf Bewußtseins- rd. 6,6 Milliarden DM. Dabei handelt es sich überwie- änderung abzielt, erreicht werden. Auf Grund der gend um Mitgliedsbeiträge an Organisationen, wie Berichterstattung über das Urteil des Amtsgerichts z. B. die Vereinten Nationen, oder an inte rnationale Flensburg sind bei der Bundesregierung zahlreiche Forschungseinrichtungen, wie etwa CERN. Zuschriften aus der Bevölkerung eingegangen, die Weitere 235,6 Millionen DM sind 1992 für die von einem engagierten Verständnis für die Belange NATO-Verteidigungshilfe, Rüstungssonderhilfe bzw. der Behinderten in weiten Teilen unserer Gesellschaft Ausstattungshilfe vorgesehen. zeugen. Um die Integration der Behinderten sollten aber alle Teile unserer Gesellschaft bemüht sein, Darüber hinaus bin ich gerne bereit, Ihnen Zusam- Bestrebungen, Behinderte am normalen Alltags- und menstellungen mit den bedeutendsten Einzelanga- Urlaubsleben teilhaben zu lassen, sowie jegliches ben zur Verfügung zu stellen. Engagement für die Belange der Behinderten sind auf das Nachdrücklichste zu unterstützen. Behinderte sind keine Menschen zweiter Klasse, sondern ebenso wertvolle Menschen wie die nichtbehinderten Mit- bürger. Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die

Frage der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard - Schmid Anlage 9 (SPD) (Drucksache 12/3580 Fragen 16 und 17): Welche Maßnahmen unternimmt bzw. plant die Bundesregie- Antwort rung, um den in den Grenzzollstationen verbliebenen Beamten des Parl. Staatssekretärs M anfred Carstens auf die des Grenzzolldienstes zur Vermeidung sozialer Härten bei weiterem Stellenabbau im Grenzzolldienst einen heimatnahen Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktions- Einsatz, ggf, in anderen Bereichen der staatlichen Verwaltung, los) (Drucksache 12/3580 Frage 13): zu ermöglichen? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10037*

Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, daß einem Anlage 11 vom Stellenabbau im Grenzzolldienst betroffenen Beamten die Aufnahme einer Tätigkeit bei einer Behörde der staatlichen Antwort Verwaltung trotz Einstellungsabsicht der betreffenden Behörde durch eine vorgesetzte Dienststelle untersagt wurde? des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die Frage des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache 12/3580 Frage 18): Wann hat in dem Ermittlungsverfahren der Oberfinanzdirek- Zu Frage 16: tion Kiel wegen der Lieferung von Unterlagen für den U- Boot-Bau nach Südafrika die letzte Ermittlungshandlung statt- Von dem Aufgabenwegfall im Zuge der Verwirkli- gefunden, und wie sollen die Verfahren wegen Verstößen gegen chung des Europäischen Binnenmarkts werden rd. das Außenwirtschaftsgesetz zu Ende gebracht werden? 3 100 der an den EG-Binnengrenzen eingesetzten Beamten des mittleren Zolldienstes betroffen sein. Die letzte Ermittlungshandlung (Zeugenverneh- mung) in dem Bußgeldverfahren der Oberfinanzdi- Nach heutigem Stand werden davon etwa 400 Be- rektion Kiel gegen Angehörige und ehemalige Ange- amte bereits 1993 von den Vorruhestandsregelungen hörige der Firmen HDW, Kiel, und IKL, Lübeck, hat Gebrauch machen. am 20. Februar 1992 stattgefunden. Die Oberfinanzdirektion Kiel beabsichtigt, das Buß- Rd. 1 700 Beamte werden innerhalb der Zollverwal- geldverfahren gem. § 46 Abs. 1 Ordnungswidrigkei- tung heimatnah eingesetzt werden können. Es han- tengesetz in Verbindung mit § 170 Abs. 2 Strafprozeß- delt sich dabei um solche Beamte, denen aus schwer- ordnung einzustellen, weil die Ermittlungen keinen wiegenden familiären oder sozialen Gründen eine hinreichenden Tatverdacht für das Vorliegen einer Versetzung in entfernter gelegene Bereiche nicht außenwirtschaftlichen Ordnungswidrigkeit ergeben zugemutet werden kann. haben. Rd. 550 Beamte mit weniger schwerwiegenden Auf die Antwort des Parlamentarischen Staatsse- „Verbleibensgründen" können mit einem Einsatz kretärs Dr. Joachim Grünewald MdB, beim Bundes- innerhalb ihres bisherigen Oberfinanzbezirks rech- minister der Finanzen vom 8. September 1992 auf Ihre nen. schriftliche Anfrage an die Bundesregierung weise ich hin. Etwa 450 Beamte werden sich auf einen Einsatz in anderen Oberfinanzbezirken einrichten müssen. Anlage 12 Sie werden zur Verstärkung insbesondere in den Antwort Ballungsräumen, und dort vornehmlich in den Berei- chen Internationale Großflughäfen, Zollfahndung, des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die Fragen Steueraufsicht und Außenprüfung, Kontrolle der So- des Abgeordneten Dieter Heistermann (SPD) (Druck- zialversicherungsausweise, eingesetzt. Wegen des in sache 12/3580 Fragen 25 und 26): diesen Bereichen erfolgten Aufgaben- und Arbeits- Was kann den Bildungseinrichtungen geraten werden, die in platzzuwachses sind dort zu beseitigende Engpässe den letzten Jahren sachlich und personell in großem Umfang investiert haben und jetzt aufgrund der Verabschiedung der entstanden, die auf diese Weise geschlossen wer- 10. Novelle AFG von den Kürzungen in der beruflichen Einglie- den. derung für Aussiedler betroffen sind? Wer sorgt in Zukunft dafür, daß Aussiedler ohne anerkannte Abgaben von Zollbeamten an andere Verwaltun- Berufsqualifikation bzw. schlechte Berufschancen auf die hiesi- gen werden bei dieser Ausgangslage nicht erforder- gen Arbeitsmarktanforderungen vorbereitet werden? lich sein. Gleichwohl werden von allen in Rede stehenden Beamten des mittleren Zolldienstes insge- Zu Frage 25 und 26: samt 155 Beamte zum Bundesamt für die Anerken- Das in 2. und 3. Lesung beschlossene Gesetz zur nung ausländischer Flüchtlinge wechseln. Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsför- derungsgesetz und in anderen Gesetzen modifiziert die Eingliederungsleistungen für Aussiedler nach Zu Frage 17: dem Arbeitsförderungsgesetz und verlagert die Finanzierung von der Bundesanstalt für Arbeit auf den Die Tatsache, daß einem vom Stellenabbau im Bund. Zukünftig erhalten neu einreisende Aussiedler Grenzzolldienst be troffenen Beamten der Verwal- für 6 Monate eine bedürftigkeitsabhängige Eingliede- tungswechsel untersagt worden ist, läßt sich ohne rungshilfe und die Erstattung der durch die Teilnahme Kenntnis näherer Einzelheiten dieses Falles nur allge- an einem ganztägigen sechsmonatigen Sprachkurs mein bewerten. entstehenden Kosten. Dies entspricht der Tendenz der Bundesanstalt für Eine Abgabe von Angehörigen des gehobenen Arbeit, den Sprachunterricht zeitlich zu straffen. Dem Zolldienstes an andere Verwaltungen lehnt die Zoll- haben die Träger von Sprachkursen mit ihrem Ange- verwaltung wegen zur Zeit gegebener erheblicher bot weitgehend Rechnung ge tragen. Das in der Zwi- Personalengpässe in dieser Laufbahn schon seit län- schenzeit vom Goethe-Institut erarbeitete Curriculum gerem in aller Regel ab. Eine Ausnahme gilt u. a. für für Deutsch-Sprachkurse weist nach, daß die Erler- 30 Beamte dieser Laufbahn, die dem Bundesamt für nung der deutschen Sprache in dem Umfang, wie er die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zur Ver- für die berufliche Eingliederung notwendig ist, inner- fügung gestellt werden sollen. halb von sechs Monaten möglich ist. Abgesehen von 10038* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Ausnahmefällen dürfte daher die Herabsetzung der lung sehr vieler behinderter Menschen in unserem Sprachenförderungsdauer von acht Monaten auf Land wesentliche Fortschritte gebracht hat. sechs Monate keine einschneidende Einschränkung Die genannte Aufgabe ist sicherlich auch nicht bedeuten. beendet, sondern stellt sich in immer wieder neuen Im übrigen war eine langfristige Planung für die — und auch in nicht „aufgearbeiteten" alten — Träger von Sprachkursen, was die sachliche und Zusammenhängen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die personelle Ausstattung angeht, wegen der schwan- von Behindertenorganisationen vorgeschlagene kenden Aussiedlerzahlen auch bisher nur in Grundgesetzänderung dabei helfen würde und ob das beschränktem Umfang möglich. von ihnen Formulierte — daß „niemand wegen einer Das Angebot von beruflichen Bildungsmaßnahmen körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchti- (Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen) ist in gung benachteiligt oder bevorzugt werden" darf — aller Regel — mit Ausnahme der sog. Kombimaßnah- wirklich gewollt ist. Beispielsweise könnte der vorge- men (Verbindung von Sprachkurs und beruflicher schlagenen Fassung entnommen werden, daß die Bildungsmaßnahme) — nicht auf die alleinige Teil- nach dem Schwerbehindertengesetz bestehenden nahme von Aussiedlern ausgerichtet. Derartige Maß- Pflichten entfallen müßten, Schwerbehinderte „be- nahmen stehen in der Regel auch anderen Teilneh- vorzugt" einzustellen. Auch Sozialleistungen zur mern offen. In diesem Bereich wird es daher nicht zu Rehabilitation, die durchweg als „besondere Hilfen" großen Umstellungen der Träger kommen. Dies gilt für Behinderte oder von Behinderung bedrohte Men- auch deswegen, weil die meisten Bildungsträger über schen geleistet werden, wären nach dem vorgeschla- ein sehr vielfältiges Bildungsangebot verfügen und so genen Text in dieser Form kaum noch möglich. Aus einen Ausgleich zwischen den einzelnen Angeboten diesen Erwägungen befürwortet die Bundesregierung vornehmen können. derzeit nicht, das Grundgesetz in der vorgeschlage- nen Weise zu ergänzen. Zu Ihrer zweiten Frage bemerke ich folgendes: Auch in Zukunft können Aussiedlern die Maßnahme- Die Bundesregierung regt deshalb an, die — un- kosten beruflicher Weiterbildungsmaßnahmen nach zweifelhaft in vielen Bereichen noch bestehenden — dem Arbeitsförderungsgesetz erstattet werden, soweit Probleme behinderter Menschen bei der vollen Teil- die Teilnahme zur beruflichen Eingliederung notwen- habe an unserer Gesellschaft, soweit dies überhaupt dig ist. Nach dem Gesetz zur Änderung von Förder- mit rechtlichen Regelungen möglich ist, im Rahmen voraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in der für diese Legislaturperiode vorgesehenen Einord- anderen Gesetzen entfällt allerdings der Anspruch auf nung des Rehabilitations- und Schwerbehinderten- Eingliederungsgeld während der Teilnahme an beruf- rechts in das Sozialgesetzbuch anzugehen. lichen Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen. Im Rahmen dieses Gesetzgebungsvorhabens Ein Teil der Aussiedler wird daher hinsichtlich der (SGB IX), gegebenenfalls verbunden mit Änderungen Kosten für den Lebensunterhalt auf die Sozialhilfe diskriminierender oder eingliederungshemmender angewiesen sein. Insgesamt dürfte damit gewährlei- Vorschriften in anderen Einzelgesetzen, kann nach stet sein, daß Aussiedler, die eine berufliche Bildungs- Einschätzung der Bundesregierung mindestens so viel maßnahme nötig haben, auch zukünftig an einer an Gleichstellung und „Antidiskriminierung" für solchen teilnehmen können, Im übrigen haben auch in behinderte Menschen erreicht werden, wie mit einem der Vergangenheit nicht alle in die Bundesrepublik gesonderten „Gleichstellungs-" oder „Antidiskrimi- Deutschland kommenden Aussiedler einen von der nierungsgesetz" möglich wäre. Bundesanstalt für Arbeit geförderten Bildungsgang durchlaufen. Teilweise ist auch eine Einarbeitung auf Kosten des Arbeitgebers erfolgt.

Anlage 14 Antwort Anlage 13 des Parl. Staatssekretärs Dr. Heinrich L. Kolb auf die Antwort Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/3580 Frage 30): des Parl. Staatssekretärs Horst Günther auf die- Frage der Abgeordneten Dr. Eva Pohl (F.D.P.) (Drucksache Wie beurteilt die Bundesregierung die Entwicklung der Bau- konjunktur angesichts der dramatisch zurückgehenden Auf- 12/3580 Frage 27): tragslage, vor allem für das Frühjahr, und wird sie die Werkver- Wie beurteilt die Bundesregierung Bestrebungen innerhalb tragsabkommen zugunsten der Arbeitsplätze hier suspendie- der Interessenvertretungen der Behinderten, ein Antidiskrimi- ren? nierungsgesetz zu schaffen, und ist sie der Auffassung, daß das Grundgesetz um einen verfassungsrechtlich verankerten Behin- dertenschutz zu erweitern ist? Antwort zum ersten Teil der Frage: Die Bauwirtschaft ist weiterhin Stütze der Gesamt- Die Bundesregierung setzt sich seit vielen Jahren konjunktur. Zwar hat die Nachfrage nach Bauleistun- dafür ein, daß behinderte Menschen in unserer gen im Westen Deutschlands seit einigen Monaten Gesellschaft als vollwertige, mit gleichen Rechten nachgelassen. Bauproduktion und Beschäftigung sind ausgestattete Bürger angesehen und behandelt wer- nicht mehr weiter gestiegen. Die Abflachung der den. Dieser Einsatz war und ist nicht erfolglos; als Konjunktur ist auch in der Bauwirtschaft nicht zu Beispiel nenne ich das am 1. Janur 1992 in Kraft übersehen. Aktivitätsniveau und Kapazitätsausla- getretene Betreuungsgesetz, das für die Rechtsstel stung sind indes unverändert hoch. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992 10039*

Bei nachlassender Dynamik des Wirtschaftsbaus (in in einem Brief an die Ko-Vorsitzenden des Lenkungs- Phasen konjunktureller Abschwächung geht die Inve- ausschusses der Konferenz über das ehemalige Jugo- stitionsneigung der Unternehmen zurück) und des slawien Vance und Lord Owen für eine umgehende öffentlichen Baus ist der Wohnungsbau weiterhin Reaktion der internationalen Gemeinschaft einge- stabil. Nicht nur die Bundesregierung, auch die wirt- setzt. Wenn sie schon nicht in der Lage ist, die schaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sowie kriegerischen Auseinandersetzungen zu beenden, so die Bauwirtschaft selbst rechnen mit einem klar posi- kann sie doch zumindest das grauenhafte Geschehen tiven Bauergebnis für das Jahr 1992. Der Bauwirt- in den Internierungslagern nicht weiter dulden. schaft wird eine Ausnahmerolle in der momentan Soweit die freigelassenen Internierten nicht in der insgesamt gedrückten Konjunkturlage attestiert. Die Region untergebracht und versorgt werden können, Bundesregierung geht davon aus, daß die Bauinvesti- müssen sie in dritten Staaten Aufnahme finden. tionen in diesem Jahr real um rd. 3 1/2 % höher sein Deutschland ist bereit, hier auch in Zukunft einen werden als 1991. Dies übertrifft sogar die bis zur angemessenen Beitrag zu leisten. Jahresmitte vorherrschenden Erwartungen. Im kom- Die Bundesregierung hat die Verhängung des menden Jahr wird auch die Entwicklung der Bauwirt- Embargos gegen Serbien und Montenegro nach- schaft stärker von der gesamtwirtschaftlichen Groß- drücklich unterstützt. Sie hat den VN-Sanktions- wetterlage abhängen. Mit einem Einbruch rechnen beschluß unverzüglich in innerstaatliches Recht weder die Bundesregierung noch die Forschungsinsti- umgesetzt und Verstöße mit erheblichen Strafen tute oder die Bauwirtschaft. belegt. Ein deutsches Schiff ist gemeinsam mit Schif- In den neuen Bundesländern geht der Aufbaupro- fen der Partner an der Überwachung des Embargos in zeß — wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten — der Adria beteiligt. weiter voran. Die statistischen Unsicherheiten erlau- Darüber hinaus hat die Bundesregierung Zollbe- ben nach wie vor keine genaue Quantifizierung. Das amte im Rahmen des Einsatzes von EG/KSZE Sank- Wachstum der Bauwirtschaft ist allerdings bei weitem tionsunterstützungsmissionen als Monitore zur Über- deutlicher als in der Gesamtwirtschaft. Die Bundesre- wachung des Embargos an die Grenzen der Anrainer- gierung rechnet für dieses, wie für das kommende staaten entsandt. Jahr mit einer realen Zunahme der Bauinvestitionen in der Größenordnung von 15-20 %. Antwort zum zweiten Teil der Frage: Die Bundesregierung sieht angesichts der Situation Anlage 16 keine Notwendigkeit, die mit den mittel- und osteuro- päischen Staaten bestehenden Werkvertragsabkom- Antwort men zu Gunsten der Arbeitsplätze in Deutschland zu der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die „suspendieren". Frage des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) Im übrigen weist die Bundesregierung darauf hin, (Drucksache 12/3580 Frage 33): daß sich die vereinbarten Kontingente für die Beschäf- Ist die Bundesregierung bereit, nachdem der iranische Bot- tigung von Baufacharbeitern auf Grund der Anpas- schafter sich mit der fatwa des verstorbenen Ayatollah Khomeini sungsmodalitäten in den Werkvertragsabkommen ab und den Morddrohungen gegen den britischen Schriftsteller Rushdie identifiziert hat, diesen zur „persona non grata" zu 1. Oktober 1992 um rd. 9 300 Arbeitnehmern verrin- erklären und aufzufordern, die Bundesrepublik Deutschland gert haben. Ab 1. Oktober 1992 können auf Grund der unverzüglich zu verlassen? Werkvertragsabkommen im Jahresdurchschnitt statt bisher 68 800 Arbeitnehmer künftig nur noch rd. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den irani- 59 500 ausländische Werkvertragsarbeitnehmer im schen Botschafter zur „persona non grata" zu erklä- Baubereich beschäftigt werden. ren. Der Botschafter hat ausweislich der Niederschrift seines Interviews vom 29. Oktober 1992 im Saarländi- schen Rundfunk einen Hinweis auf das islamische Recht gegeben: „No country and no muslim in the Anlage 15 world can and would be able to ch ange the verdict of Antwort Islam." der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Er erklärte zusätzlich gegenüber dem Auswärtigen Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktions- Amt, Iran respektiere die innere Rechtsordnung ande- los) (Drucksache 12/3580 Frage 31): rer Staaten. Sein Land beachte s trikt den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenhei- Was tut die Bundesregierung, um zu erreichen, daß endlich die Konzentrationslager in Bosnien-Herzegowina aufgelöst und ten anderer Staaten. Der Botschafter hat außerdem in damit unendliches Leid und kaum faßbare Grausamkeiten einer Presseerklärung seiner Botschaft mitgeteilt, daß beendet werden, und was tut die Bundesregierung, um das die iranische Regierung dem Völkerrecht verpflichtet gegen Serbien beschlossene Embargo endlich durchzusetzen? sei und die Anwendung von Gewalt in den internatio- nalen Beziehungen ablehne. In den bilateralen Bezie- Die Bundesregierung und ihre EG-Partner haben hungen gelte der Grundsatz der Respektierung der unmittelbar nach Bekanntwerden der Existenz von innerstaatlichen Gesetze und Bestimmungen des Internierungslagern die Verantwortlichen energisch jeweiligen Landes und der Nichteinmischung in die aufgefordert, alle Gefangenen unverzüglich freizulas- inneren Angelegenheiten anderer Länder. Terroris- sen und die Lager aufzulösen. Zuletzt hat sich Bun- mus in jeder Form und an jedem Ort sei ohne desminister Kinkel am 25. Oktober 1992 entschieden Einschränkungen zu verurteilen. 10040* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. November 1992

Anlage 17 nicht bereit, eine Änderung der laufbahnrechtlichen Regelungen im Beamtenrechtsrahmengesetz und im Antwort Bundesbeamtengesetz dem Parlament vorzuschla- des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage gen. des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Drucksa- che 12/3580 Frage 40): Die Erfüllung der Forderung würde zu einer Zusam- menlegung des gehobenen und des höheren Dienstes Wie beurteilt die Bundesregierung Forderungen, künftig auch führen; dies würde weder dem Grundsatz der funk- Fachhochschul-Absolventen den Zugang zur höheren Laufbahn im Öffentlichen Dienst zu eröffnen, und ist sie bereit, die tionsgerechten Besoldung (§ 18 BBesG) noch der Laufbahnregelungen entsprechend zu ändern? unterschiedlichen Vor- und Ausbildung gerecht. Sie würde außerdem zu erheblichen Mehrkosten führen; Die Forderungen sind der Bundesregierung seit betroffen wären alleine im bisherigen Bundesgebiet langem bekannt. Sie ist nicht der Auffassung, daß mehr als 700 000 Beamte des gehobenen Dienstes. Fachhochschulabsolventen der Zugang zum höheren Diese Mehrkosten könnten bei der derzeitigen Haus- Dienst eröffnet werden sollte. Sie ist deshalb auch haltslage nicht aufgebracht werden.