58. Jahrgang I Das Argument 316 Heft 2 / 2016 Redaktion dieser Ausgabe: Peter Jehle (Herausgeber dieses Heftes), Jan Loheit (Koordination), Konstantin Baehrens, Wolfgang Fritz Haug, Johannes Lütkepohl, Frank Voigt, Thomas Weber

Verlagsmitteilungen ...... 165 zum 100. Geburtstag. Editorial ...... 167 Ruth Rehmann 1922–2016 (Peter Jehle) ...... 169 Peter Faulstich 1946 –2016 (Gerhard Zimmer)...... 171 Volker Braun Gedicht unter Billigflagge ...... 172 Ursula Schröter ... eine Leistung, die für ganz Deutschland beispielhaft ist ...... 177

Peter Weiss und die Aktualität der Ästhetik des Widerstands

Jürgen Schutte Pergamon und der Engel der Geschichte. Die Ästhetik des Widerstands lesen ...... 179

Alexander Honold Eine Kuppel, in die Erde versenkt. Vom Widerstand des Ästhetischen bei Peter Weiss ...... 191

Klaus Birnstiel Bilderschrift. Peter Weiss’ intermediale Ästhetik des Widerstands ...... 205

Fortsetzung auf S. II

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DAS ARGUMENT 316/2016 © II Inhalt Manfred Haiduk Vom schwierigen Umgang mit dem Abbild der eigenen Geschichte. Zur Entstehung der Berliner Ausgabe der Ästhetik des Widerstands ...... 215

Lisbet Schulz Contreras Widerstand – ein Film über die mutigsten Menschen Europas ...... 224

Die Ästhetik des Widerstands heute gelesen. Momentaufnahmen aus einer rostocker Lektüregruppe ...... 228

Robert Cohen Ein Traum von Dada und Lenin. Peter Weiss’ Trotzki im Exil ...... 232

Werner Schmidt Sozialismus als Arbeitshypothese. Aus dem Kontext der Arbeit an der Ästhetik des Widerstands ...... 247

Karl Heinz Götze Forever young. Zu Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 ...... 261

Peter Jehle und Jan Loheit Was heißt Unbehagen an der Kultur? ...... 267

*** Ingar Solty und Alban Werner Der indiskrete Charme des Linkspopulismus ...... 273

Personenangaben; Zeitschriftenschau; Summaries ...... 308

DAS ARGUMENT 316/2016 © Inhalt III

Besprechungen

Philosophie Bensaïd, Daniel, Walter Benjamin. Links des Möglichen (Ulrich Brieler) ..... 286 Menke, Christoph, Kritik der Rechte (Hermann Klenner) ...... 288 Turki, Mohamed, Einführung in die arabisch-islamische Philosophie (Hans Jörg Sandkühler) ...... 289

Sprache und Literatur Witzel, Frank, Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen ­manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 (Karl Heinz Götze) ...... 261 Willner, Jenny, Wortgewalt. Peter Weiss und die deutsche Sprache (Hans-Christian Stillmark) ...... 291 Krause, Anett, Die Geburt der Popliteratur aus dem Geiste ihrer Debatte. ­Elemente einer Epochenkonstruktion im Normalisierungsdiskurs nach 1989 (Jonas Engelmann) ...... 293 Bandeili, Angela, Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre. Zur Poetologie des Raumes bei , und (Werner Jung) ...... 294

Pädagogik Bauer, Ullrich, u.a. (Hg.), Expansive Bildungspolitik – Expansive Bildung? (Thomas Vogel) ...... 295 Dammer, Karl-Heinz, Thomas Vogel u. Helmut Wehr (Hg.), Zur Aktualität der Kritischen Theorie für die Pädagogik (Gerhard Zimmer) ...... 297 Seifried, Jürgen, u. Bernhard Bonz (Hg.), Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Handlungsfelder und Grundprobleme (Gerhard Zimmer) ...... 299

DAS ARGUMENT 316/2016 © IV Inhalt

Soziale Bewegungen und Politik Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, ­ Gesundheits- und Sozialbereich, Nr. 134, Arbeit am Leben – Care-Bewegung und Care-Politiken (Sabine Plonz) ...... 301 Dhaliwal, Sukhwant, u. Nira Yuval-Davis (Hg.), Women against ­ Fundamentalism – Stories of Dissent and Solidarity (Stefanie Pletz) ...... 303

Ökonomie Frayssé, Oliver, u. Mathieu O’Neil (Hg.), Digital Labour and Prosumer ­Capitalism. The US Matrix (René Bohnstingl) ...... 304 Fatheuer, Thomas, Lili Fuhr u. Barbara Unmüßig, Kritik der Grünen Ökonomie (Ulrich Brand) ...... 305

DAS ARGUMENT 316/2016 © 167 Peter Weiss zum 100. Geburtstag. Editorial

Man könnte meinen, der Erzähler, der zu Beginn des dritten Bandes der Ästhetik des Widerstands von der Flucht der Eltern 1939 aus Prag erfährt, hätte diejenigen vor Augen, die heute in Europa Zuflucht suchen: Sind nicht auch sie »weggefegt von einer jeder Vernunft widersprechenden Gewalt, […] über Nacht zu den Niedrigsten der Niedrigen geworden, jeglicher Ansprüche, jeglicher Würde beraubt« (III, 14)? Ist die Vergangenheit bruchlos in die Gegenwart eingewandert? Doch den damals vor den Nazis Flüchtenden drohte die Ermordung. Für sie gab es keine Endstation Sehnsucht. Die meisten, die heute ausgebombt, traumatisiert, ausgenommen von Schleppern, den Weg nach Europa finden, kommen mit nicht viel mehr als nichts an, doch dürfen sie auf die Versorgung mit dem Nötigsten hoffen. Auf die Politik der offenen Grenzen folgten die Grenzschließungen einiger Länder auf eigene Faust. Die deutsche Bundesregierung hält an der europäischen Lösung fest und ist dabei auf eine Solidarität angewiesen, die sie im Umgang mit den in die Krise geratenen Staaten vermissen ließ. Die Angst der Habenden vor den Nichtshabenden und vieler Nichtshabender vor den Garnichtshabenden ist in der Griechenlandkrise kräftig geschürt worden. Sie wirkt, angesichts der auf staatliche Unterstützung angewiesenen Zufluchtsuchenden, wie ein Brandbeschleuniger. Die rechtsextremistische Bewegung »III. Weg« verschickt Postkarten, auf denen zu lesen ist: »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen! Gutschein für die Ausreise aller Überfremdungsbefürworter Richtung Afrika.« Zweifellos lieben sie Deutschland – wie diejenigen es liebten, die bereit waren, die einfache Fahrkarte ›nach drüben‹ zu spendieren, um die ›Anderen‹ loszuwerden. Peter Weiss konnte sich die heutige Wirklichkeit nicht vorstellen. Noch schien rettbar, was nach 1989 unterging. Noch schien klar, welches die positiven Kräfte waren. Geboren vor hundert Jahren, mitten im großen Krieg, ein Jahr vor der Oktober- revolution, die Millionen begeisterte und mit der eine Epoche begann, die das auf dem Umschlag im Ausschnitt abgebildete, vor der Karl-Marx-Universität 1974 in aufgestellte Relief als »Aufbruch« benannte. Es zeigt den Moment, in dem sich ›die Massen‹ selbst in Bewegung setzen, weil »die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann« – ein Satz von Marx (MEW 16, 14), aufgegriffen von Lenin (LW 9, 15), von Brecht ins Einheitsfrontlied aufgenommen, von Volker Braun im Anschluss an Peter Weiss1 in die allgemeinere Form gebracht: »wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen« (»Die Übergangsgesellschaft«). Inso- fern steht die Plastik konträr zur Wirklichkeit des befehls-administrativen Systems, das den lernenden und streitenden als den in die Unmündigkeit sich fügenden Genossen braucht. Weiss‘ Erzählfiguren, Heilmann und seine Freunde, hätten, vor dem Relief stehend, diesen zerreißenden Widerspruch zweifellos kritisch herausgearbeitet.

1 »Die Befreiung kann uns nicht gegeben werden, wir müssen sie selbst erobern. Erobern wir sie nicht selbst, so bleibt sie für uns ohne Folgen.« (I, 226)

DAS ARGUMENT 316/2016 © 168 Editorial

In der Ästhetik des Widerstands geht es um die Frage, wie Fremdbestimmung durch »Kulturarbeit« (I, 59) aufzusprengen sei. Befreiung – dieses Wort gewinnt hier eine neue reiche Bedeutung, denn es geht nicht allein um »die Befreiung aus politischer Unterdrückung, sondern ebenso um die Befreiung von den kulturellen Hindernissen […], die ganze Lebenshaltung ist gemeint, alles, worin man verfilzt ist, worin man lebt«2. »Kulturarbeit« heißt dann auch Überwindung der Eingeschlossenheit in die Engstirnig- keit, die Trägheit, das Besserwissen. Daher die Bedeutung von Kunst und Literatur, die, wenn sie lebendig sind, »immer im Streit gegen etwas stehen«3, keine faule Identität aufkommen lassen, produktive Unruhe verbreiten. Auch »den Werken des sozialisti- schen Realismus« (I, 60) können sie etwas abgewinnen, berichten sie doch von dem »gewaltigen Sprung«, der getan worden war »von der Zeit her, in der die Arbeitenden stumm, verschlossen, verdingt, ihren Sold entgegengenommen hatten« (64). Also auch hier Befreiung, Überwindung der Stummheit, Heraustreten aus der Dinghaftigkeit. Heilmann gibt indes zu bedenken, dass die so entstandenen Bilder zwar »Leistungen, Errungenschaften« zeigen, jedoch keine »widerspruchsvollen Prozesse« (65). Wer sich aufmacht auf den Weg der »Kulturarbeit« ist stets in Gefahr, in die »kulturelle Gegen- revolution« (66) abzustürzen. Vermeiden kann den Absturz nur, wer sich dieser Gefahr aussetzt. Die Widersprüche werden durchgearbeitet, nicht unterdrückt. »Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit«, schreibt Peter Weiss 1965, nicht ohne vorauszusetzen, dass »Selbstkritik, die dialektische Auseinandersetzung, die ständige Offenheit zur Veränderung und Weiterentwick- lung«4 Bedingungen eines glückenden Sozialismus sind. Was gilt, steht nicht fest. In alles mischt sich der Zweifel. Das Lenin-Jahr 1970 wird ihm zum Anlass, an den noch immer ins Exil verbannten Trotzki zu erinnern, die Unperson, die nicht erinnert werden darf. Und die Ästhetik des Widerstands ist eine kontroverse Debatte in Permanenz, in der jene Richtlinien als je momentane Fixierungen in unabschließbar »widerspruchs- vollen Prozessen« kenntlich werden. Es gibt eine Göttin, die die jungen Arbeiter gelten lassen: Mnemosyne, die Erinnerung, die Mutter der Künste (I, 77), die »Ausdauer entstehn ließ, wo eben noch Haltlosigkeit gewesen war« (82) – die Ausdauer, die man braucht, um eine Niederlage nicht total werden zu lassen. Die Ästhetik des Widerstands wird – hierin der Kritik der politischen Ökonomie vergleichbar – in der Gegenwart immer neu ankommen, solange der marxsche kate- gorische Imperativ auf Verhältnisse trifft, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385). Als Peter Weiss ein Jahr nach dem Erscheinen des letzten Bandes starb, schrieb Wolfgang Fritz Haug in seinem Nachruf: Es wäre »ablenkend« zu sagen, »wir wollen etwas ›für das Werk von Peter Weiss‹ tun. Was wir empfinden, ist etwas anderes. Wir sind es, die dieses Werk brauchen. Für uns müssen wir es lesen und verbreiten.« (Arg.134/1982, 482f) PJ

2 Peter Weiss im Gespräch mit Burkhardt Lindner, »Zwischen Pergamon und Plötzensee oder Die andere Darstellung der Verläufe«, in: Die ›Ästhetik des Widerstands‹ lesen. Über Peter Weiss, hgg. v. K.-H. Götze u. K.R. Scherpe, Argument-Sonderband AS 75, Berlin/W 1981, 151. 3 Ebd., 153. 4 »10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt« (1965), in: Rapporte 2, Frankfurt/M 1971, 22.

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