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FRANK BAJOHR

GAULEITER IN

Zur Person und Tätigkeit Karl Kaufmanns

Bereits unmittelbar nach 1945 entzündeten sich an der Person und Tätigkeit Karl Kaufmanns, der von 1929-1945 als NSDAP- und ab 1933 auch als Reichs­ statthalter in Hamburg amtiert hatte, heftig geführte Kontroversen, die das Bild des nationalsozialistischen Hamburg bis heute geprägt haben1. Die kampflose Übergabe Hamburgs an die Alliierten am 3. Mai 1945, die nach al­ len Erkenntnissen der neueren Forschung von Kaufmann planmäßig vorbereitet und bewußt herbeigeführt worden war2, bildete bereits unmittelbar nach 1945 den Nährboden für zahlreiche Rechtfertigungslegenden, die zunächst vor allem im Um­ feld der ehemaligen Nationalsozialisten grassierten. So verfaßten die in britischer In­ ternierung einsitzenden politischen Leiter der Hamburger NSDAP eine gemeinsame Rechtfertigungsschrift, die in dem Satz gipfelte3: „Wir Hamburger Politischen Leiter nehmen für uns in Anspruch, daß die Persön­ lichkeit unseres uns davor bewahrt hat, Handlungen zu begehen, bzw. Kenntnis von solchen Plänen und Taten zu erlangen, die im Nürnberger Urteil dem Führerkorps als verbrecherisch zur Last gelegt werden."

1 Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 28.10. 1993 unter dem Titel „Hamburgs 'Führer'. als Gauleiter und " an der Universität Hamburg gehal­ ten habe. Er ist Teil eines umfangreicheren Forschungsprojekts des Verfassers zum Thema „Bürgertum und Nationalsozialismus. Traditionelle Führungsschichten und plebejische Massen­ bewegung in Hamburg 1933-1945". Zu den historischen Kontroversen um die Person Kauf­ manns und die NS-Herrschaft in Hamburg siehe Joist Grolle, Schwierigkeiten mit der Vergan­ genheit. Anfänge der zeitgeschichtlichen Forschung im Hamburg der Nachkriegszeit, in: Zeit­ schrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 78/1992, S. 1-65; Axel Schildt, Lokalhisto­ rische Erkundungen des Nationalsozialismus - das Beispiel Hamburg, in: Heide Gerstenberger/ Dorothea Schmidt (Hrsg.), Normalität oder Normalisierung. Geschichtswerkstätten und Fa­ schismusanalyse, Münster 1987, S. 149-159. Zu Fragen der Gauleiterherrschaft immer noch zen­ tral Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, 1969. 2 Jan Heitmann, Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Hamburg. Die kampflose Übergabe der Stadt an die britischen Truppen und ihre Vorgeschichte, Frankfurt a. M. 1990; Leif Leifland, Hamburgs Kapitulation im Mai 1945: Querverbindungen nach Schweden, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 78/1992, S. 235-252. 3 Bundesarchiv Koblenz (BAK), Z 42/IV/7172, B1.8. 268 Frank Bajohr

Aber auch Repräsentanten der Hamburger Wirtschaft erklärten nach 1945, Ham­ burg habe unter der Herrschaft Kaufmanns eine „Insel relativer Vernunft" in einer „grausam verrückten Zeit" gebildet4. Hamburgs erster Nachkriegsbürgermeister Ru­ dolf Petersen versicherte gar in einer eidesstattlichen Erklärung5, „daß in Hamburg die Verhältnisse günstiger gelegen haben als in anderen Teilen Deutschlands. (...) Es mag unentschieden bleiben, ob das relativ gemäßigte Benehmen des Statthalters sein Verdienst oder die Folge des starken Einflusses der Lebensauffassung der gesamten hamburgischen Bevölkerung gewesen ist. (...) Dieser mäßigende Einfluß der Bevölke­ rung hat sich stets gegenüber allen radikalen von außerhalb nach Hamburg eindringen­ den Elementen durchgesetzt." „Relativ gemäßigt" sollte nach Auffassung Petersens vor allem die Verfolgung der Juden in Hamburg verlaufen sein - eine euphemistische Legende, die einer empirischen Überprüfung nicht standhält. Dennoch spiegelte sich in den Worten Petersens bereits eine Wende in der Diskussion um Hamburgs jüngste Vergangenheit wider, in der die Gauleiter-Apologien der frühen Nachkriegszeit zu­ nehmend hinter der Beschwörung hanseatischen Bürgergeistes zurücktraten, der nach Auffassung seiner Protagonisten auch in der NS-Zeit positiv wirksam gewesen sei. Diese Akzentverschiebung brachte der erste Leiter der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus, Dr. Heinrich Heffter, auf einen eingängigen Be­ griff, als er 1950 in einem vielbeachteten öffentlichen Vortrag erklärte, daß nicht Kaufmann, sondern die Hamburger Tradition als „der historische Held" zu gelten habe6. Vehement wandte sich Heffter gegen eine Beschönigung der historischen Rol­ le Kaufmanns und deutete die Geschichte Hamburgs in der NS-Zeit gleichzeitig als Triumph freiheitlicher Tradition über den Ungeist der nationalsozialistischen Dikta­ tur. Den Nationalsozialismus begriff er als Hamburg-externes Phänomen und lager­ te ihn als „Fremdherrschaft" aus der Kontinuität hamburgischer Geschichte aus. Da­ mit hatte Heffter die „Kaufmann-Legende" zwar dementiert, aber gleich eine neue, weitaus langlebigere formuliert, nämlich die vom liberalen Sonderweg Hamburgs im Nationalsozialismus. Diese „Hamburg-Legende" unterschlug jedoch nicht nur problematische Traditi­ onsbestände in der politischen Kultur dieser Stadt wie etwa den Antisemitismus7, sondern grenzte mit dem Nationalsozialismus auch dessen Opfer aus der Hambur­ ger Geschichte aus. Denn kein freiheitlicher Bürgergeist hatte die Verfolgung und In­ haftierung politischer Gegner verhindert, die Einrichtung von Konzentrationslagern, die Massentötung psychisch Kranker oder die systematische Entrechtung, Deportati­ on und Ermordung tausender jüdischer Bürger.

4 Staatsarchiv Hamburg (StaHH), Familie Ahrens 26, Bd. 2, B1.373 (Aussage Sven von Müller, Deutsch-Amerikanische Petroleumgesellschaft). 5 BAK, 2 42/III 937, Bl. 104, eidesstattliche Erklärung vom 19.7. 1947. 6 Heinrich Heffter, Hamburg und der Nationalsozialismus. Vortrag am 9. 11. 1950 an der Universi­ tät Hamburg, unveröff. MS. im Archiv der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalso­ zialismus in Hamburg (Archiv Fst.). 7 Daniela Kasischke, Die antisemitische Bewegung in Hamburg während des Kaiserreiches 1873— 1918, in: Arno Herzig (Hrsg.), Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990, Hamburg 1991, S. 475-485. Gauleiter in Hamburg 269

Obwohl die Person Kaufmanns nach 1945 über lange Zeit im Zentrum öffentlicher Debatten gestanden hatte, blieb eine breite empirische Aufarbeitung der nationalso­ zialistischen Herrschaftsstruktur in Hamburg und der historischen Rolle Kauf­ manns aus. Selbst jene Kritiker der liberalen Sonderwegslegende, die in den achtzi­ ger Jahren Hamburg zum nationalsozialistischen „Mustergau"8 erklärten9, brachten für den Leiter dieses Gaues kein Forschungsinteresse auf. Aus ihrer Sicht handelte es sich nämlich bei Hamburgs führenden Nationalsoziali­ sten lediglich um „Juniorpartner" einer traditionellen bürgerlich-kapitalistischen Machtelite. Diese habe „ihre Region zum nazistischen Mustergau aufpoliert, indem sie große Teile der Bevölkerung verfolgte und vernichtete"10. Eine solche Formulierung, die großen Teilen der Bevölkerung einen undifferen­ zierten Opferstatus zuweist, erscheint nicht nur problematisch, weil sie vielfältige Konsensformen zwischen Bevölkerung und Regime vernachlässigt. Sie weist auch verblüffende Parallelitäten zur hamburgischen Sonderwegs-Legende auf. Bei genau­ erem Hinsehen nämlich entpuppt sich die These vom nationalsozialistischen Muster­ als feindlicher Zwillingsbruder der These vom freiheitlichen Residuum, als eine lediglich ins Negative gewendete Seite derselben Medaille. Denn beide Ansätze ver­ anschlagen die Wirkungsmächtigkeit des Nationalsozialismus als gering und gehen von einer Kontinuitätsthese aus, die sich im ersten Fall in der Konstanz freiheitli­ chen Bürgersinns, im zweiten in der Konstanz bürgerlich-kapitalistischer Machtver­ hältnisse beweist. Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden im Rahmen der Mustergau-These zwar nicht übergangen, jedoch in eine allgemeine, angebliche Vernichtungbereit­ schaft des Kapitalismus eingereiht, die nach Auffassung Karl Heinz Roths von der Zeit der Aufklärung bis in die Gegenwart der Bundesrepublik reichen soll. Damit werden jedoch die bedrängenden Besonderheiten des Nationalsozialismus, die ihren negativen Höhepunkt im „Zivilisationsbruch" Auschwitz fanden, in einer schwer er­ träglichen Weise eingeebnet. Im Überschwang eingängiger, politisch motivierter Kontinuitätsthesen ist die empirische Forschung zu den eigentlichen Kernbereichen

8 Ursprünglich ein politisch-polemischer Gegenbegriff gegen die These vom liberalen Sonderweg, ist er mittlerweile auch in der wissenschaftlichen Diskussion weit verbreitet. Vgl. etwa die Bemer­ kung Ian Kershaws, der Warthegau habe sich unter der Herrschaft des Gauleiters Greiser (hin­ sichtlich der Germanisierungspolitik) zum „Mustergau" entwickelt. Ian Kershaw, Arthur Grei­ ser - ein Motor der „Endlösung", in: Ronald Smelser/Enrico Syring/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Die braune Elite II, 1993, S. 116-127, Zitat S. 116. Ich plädiere für einen Verzicht auf diesen heuristisch unfruchtbaren und empirisch nicht zu füllenden Begriff - schon deshalb, weil es angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Herrschaftstypen und Herrschaftsverfassungen auf Gauebene kein „Muster" gab, das den Maßstab für einen „Mustergau" hätte abgeben können. 9 Angelika Ebbinghaus/Heidrun Kaupen-Haas/Karl Heinz Roth (Hrsg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, Hamburg 1984. 10 Karl Heinz Roth, Ein Mustergau gegen die Armen, Leistungsschwachen und „Gemeinschaftsun­ fähigen", in: Ebenda, S. 7-17, Zitat S. 7. Roths Charakterisierung der Hamburger Nationalsoziali­ sten als Juniorpartner einer ansonsten ungebrochen herrschenden „traditionellen Machtelite" ent­ behrt jedes überzeugenden empirischen Belegs. 270 Frank Bajohr nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg daher bis heute weitgehend auf der Strecke geblieben11. Dies gilt vor allem für die Person und Tätigkeit Karl Kauf­ manns, der die fünf wichtigsten politischen Ämter Hamburgs jener Zeit in seiner Hand vereinigte: NSDAP-Gauleiter, Reichsstatthalter, „Führer" der hamburgischen Landesregierung, Chef der hamburgischen Staats- und Gemeindeverwaltung und Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis X. Eine derartige regionale Macht- und Kompetenzanhäufung, die sich 1942 mit dem Amt eines für die Deutsche Seeschiffahrt noch erweiterte, war insbesondere unter den Gauleitern aus dem „Altreich" keineswegs selbstverständlich. Daher verwundert es nicht, daß der im Zuge des „Groß-Hamburg-Gesetzes"12 von 1937 neuformierte „" Hamburg insbesondere im Hinblick auf die starke Machtstellung des Gauleiters die neuen Reichsgauverfassungen der ab 1938 in das Deutsche integrierten Gebie­ te maßgeblich beeinflußte13. Freilich konzentriert sich dieser Beitrag nicht ausschließlich auf strukturelle Fra­ gen der Gauleiterherrschaft, die im NS-Staat das Modell einer ebenso primitiven wie wirkungsvollen Dezentralisation repräsentierte. Vielmehr richtet er am Beispiel Hamburgs den Blick auf drei wichtige, von der Forschung bislang nicht genügend beachtete „innere" Herrschaftsprinzipien der Gauleiter, die ihre regionale Machtstel­ lung zementierten: Korruption, Sozialpopulismus und regionaler Lobbyismus. Vor allem sie trugen zu jener fast legendären Verankerung der Gauleiter in ihrem „Ho­ heitsgebiet" bei, die ihnen neben ihrer Immediatstellung gegenüber Hitler eine star­ ke Position im nationalsozialistischen Herrschaftssystem sicherte. Diese zentralen Kennzeichen des Kaufmann'schen Herrschaftsstils sollen eingebettet werden in den persönlichen und politischen Werdegang Kaufmanns, in dem sich schon früh nicht nur Grundcharakteristika seiner Person, sondern auch seiner späteren politischen Tä­ tigkeit als Hamburger Gauleiter abbildeten.

11 Vor allem die Bereiche der NS-Herrschaftsstruktur, der Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Tätigkeit des Verfolgungsapparates sind kaum, andere thematische Aspekte hingegen ausgesprochen gründlich erforscht, wie etwa die Hamburger Universitätsgeschichte. Siehe auch Eckart Krause/Ludwig Huber/Holger Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich". Die Hamburger Universität 1933-1945, 3 Bde., /Hamburg 1991; zum Forschungsstand bis 1989 siehe Christa Hempel-Küter/Eckart Krause, Hamburg und das Erbe des „Dritten Rei­ ches". Versuch einer Bestandsaufnahme, Hamburg 1989. 12 Am 26.1. 1937 wurden im Zuge des „Groß-Hamburg-Gesetzes" die preußischen Städte Altona, Harburg-Wilhelmsburg und Wandsbek nach Hamburg eingemeindet. Vgl. Hartmut Hohlbein/ Werner Johe/Hans-Dieter Loose/Georg-Wilhelm Röpke/Hans-Peter Strenge, Vom Vier-Städte- Gebiet zur Einheitsgemeinde, Hamburg 1988; zur Hamburger Verfassungsentwicklung im Natio­ nalsozialismus vgl. Hans-Peter Ipsen, Von Groß-Hamburg zur Hansestadt Hamburg, Berlin 1938; ders., Hamburgs Verfassung und Verwaltung. Von bis Bonn, Hamburg 1956. 13 Dies gilt etwa für die Verfassung des „Reichsgaues" Wien, die in wesentlichen Teilen auf dem Hamburger Modell fußte. Zur Kooperation zwischen Hamburg und Wien siehe StaHH, Senats­ kanzlei-Personalabteilung II 457; zur Entwicklung der neuen „Reichsgaue" siehe Hüttenberger, Gauleiter, S. 138-152; Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 163-282. Gauleiter in Hamburg 271

1. Eine rechtsradikale Karriere

Karl Kaufmann wurde am 10. Oktober 1900 als Sohn eines mittelständischen Wä­ schereibesitzers in geboren14. Aufgewachsen in Elberfeld, dem heutigen Wuppertal, gehörte Kaufmann einer Generation an, für die der Erste Weltkrieg eine prägende Erfahrungszäsur bildete. Der persönliche Erfahrungshorizont bürgerlicher Jugendlicher aus dieser „Kriegsjugendgeneration" war vor allem bestimmt durch na­ tionalistischen Begeisterungstaumel, Bevölkerungsmobilisierung über traditionelle soziale Grenzen hinweg, Not und Entbehrung, schließlich durch eine tiefe Verstö- rung angesichts der Niederlage und der plötzlichen Umwälzung aller bis dahin ge­ heiligten Werte15. Von Anfang an zeichnete sich der Lebenslauf Kaufmanns durch eine große Unstetigkeit aus. So wechselte er mehrfach die Schule, verließ 1917 die Oberrealschule Elberfeld, ohne das Abitur abgelegt zu haben, arbeitete dann im landwirtschaftlichen Hilfsdienst und meldete sich schließlich freiwillig zur Front. Letzteres wohl unter dem maßgeblichen Einfluß seiner Lehrer, die sich - wie er spä­ ter als Gauleiter versicherte - „heißen Herzens bemühten, der ihnen anvertrauten Ju­ gend das große Geschehen der Zeit nahezubringen"16. Zwar wurde Kaufmann noch eingezogen, er gelangte jedoch nicht mehr an die Front und erlebte den Tag der deut­ schen Niederlage im Gefühl des Zuspätgekommenen. Beruflich reihte sich bei Kaufmann seitdem eine Tätigkeit an die andere: Entlas­ sung aus dem Heeresdienst, ein Semester landwirtschaftliche Winterschule, schließ­ lich eine Lehre im elterlichen Betrieb, den er jedoch nach Auseinandersetzungen mit seinem Vater wieder verließ. Über mehrere Jahre hinweg lebte Kaufmann von Zahlungen seiner Mutter und dem kargen Ertrag wechselnder Hilfsarbeitertätigkei­ ten. Sein erstes konstantes Gehalt bezog Kaufmann erst 1928, als er für die NSDAP in den Preußischen Landtag einzog und Abgeordnetendiäten erhielt - gezahlt von je­ nem Staat, den Kaufmann seit seiner Entstehung erbittert bekämpft hatte. Politisch tummelte sich Kaufmann schon seit 1918/19 im parteipolitisch noch un- geformten rechtsradikalen Milieu. So gehörte er u.a. dem Deutschvölkischen

14 Die folgenden Angaben zur Person entstammen vor allem dem Ermittlungsverfahren der Staats­ anwaltschaft beim Landgericht Hamburg (im folgenden: StA-LGHH) gegen Kaufmann wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, 14 Js 28/49, Bd.I, B1.12 ff. 15 Zum Begriff der Kriegsjugendgeneration siehe Ernst Günther Gründel, Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932; zu generationsspezifischen Prägungen von Nationalsozialisten vgl. Michael H.Kater, Generati­ onskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933, in: Geschichte und Gesell­ schaft 11 (1985), S. 217-243; Peter Loewenberg, The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort, in: The American Historical Review 76/1971, S. 1457-1502; am Beispiel der völkischen Studentenbewegung jetzt Ulrich Herbert, „Generation der Sachlichkeit". Die völkische Studen­ tenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Frank Bajohr/Werner Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Ham­ burg 1991, S. 115-144. 16 Hamburger Fremdenblatt, 13.4. 1944. 272 Frank Bajohr Schutz- und Trutzbund an, der größten rechtsradikalen und antisemitischen Organi­ sation der unmittelbaren Nachkriegszeit, deren Elberfelder Jugendgruppe er seit 1920/21 leitete17. Aus dieser Gruppe gingen u.a. mehrere Aktivisten des Rechtsterro­ rismus und Mitglieder der „Organisation Consul" hervor, wie Kaufmanns enger Freund Hans Hustert, der mit einem Blausäureattentat auf den sozialdemokrati­ schen Politiker Philipp Scheidemann von sich reden machte18. Auch auf Kaufmann hatte der gewalttätige Aktivismus seines rechtsradikalen Umfeldes abgefärbt. Be­ strebt, den ihm entgangenen Kriegsruhm nachzuholen, beteiligte sich Kaufmann als Freikorpsangehöriger 1920 an der Niederschlagung der sogenannten „Roten Ruhrar­ mee". 1921 kämpfte er im Oberschlesien gegen polnische Verbände. Und als die Franzosen 1923 ins Ruhrgebiet einmarschierten, trat Kaufmann in die illegale Organisation „Heinz" ein, die Sprengstoffanschläge auf Kohlenzüge und Eisenbahn­ brücken verübte und auch vor dem Mord an Besatzungssoldaten und sogenannten „französischen Spitzeln" nicht zurückschreckte19. Wenn sich im frühen politischen Leben des späteren Gauleiters eine Grundkon­ stante herauskristallisierte, dann ist sie in einer spezifischen Verquickung von Ge­ walt und Weltanschauung zu sehen, die auch die physische Vernichtung des Gegners legitimierte. Im Dienste der „richtigen" Weltanschauung und der Durchsetzung ihrer Ziele erschien Kaufmann jede Gewaltanwendung legitim. Und welche Weltanschau­ ung die vermeintlich „richtige" war, daran gab es für Kaufmann zum Zeitpunkt des „Ruhrkampfes" keinen Zweifel mehr: 1922 hatte er sich mit ehemaligen Freikorpska­ meraden der NSDAP angeschlossen und war bei einem Aufenthalt in München auch jenem Mann begegnet, dem er am 28. Oktober 1923 eine devote Ergebenheitsadresse zusandte. „Hochverehrter Herr Hitler", heißt es in diesem Schreiben: „Die völkische Jugend an Rhein und erwartet in ihrer großen Not sehnsüchtig den Tag, an dem Sie, hochverehrter Herr Hitler, zum Befreiungskampf vom inneren und äußeren Feind aufrufen werden. Unsere Hoffnung ist, daß dieser Tag nicht mehr fern sein wird. In Treue fest. Karl Kaufmann."20 Wenige Tage vor dem 9. November 1923 be­ legt dieses Schreiben neben anderen Dokumenten21, daß Kaufmann aktiv an der Pla­ nung und Vorbereitung eines von Bayern ausgehenden Rechtsputsches beteiligt war. Die Belohnung für seine „Treue" strich Kaufmann 1925 ein, als der damals 24jäh-

17 National Archives, Washington, D.C., (NA), T-253/15/1465 428f., Aussagen Kaufmanns vom 8.7. 1922. Vgl. auch Ulrich Klein, „Mekka des deutschen Sozialismus" oder „Kloake der Bewe­ gung"? Der Aufstieg der NSDAP in Wuppertal 1920 bis 1934, in: Klaus Goebel (Hrsg.), Über al­ lem die Partei, Oberhausen 1987, S. 105-149. 18 Zum Hintergrund vgl. Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölki­ schen Schutz- und Trutz-Bundes 1919-1923, Hamburg 1970, S.229ff. 19 Siehe den Bericht des Kriminalkommissars Weitzel über die Tätigkeit der Organisation Hauen­ stein im besetzten Gebiet, Elberfeld, 25.5. 1923, in: Heinz Hürten (Bearb.), Das Krisenjahr 1923. Militär und Innenpolitik 1922-1924, Düsseldorf 1980, S. 34-40. 20 Schreiben veröffentlicht in: Romerike Berge 37, Heft 2/1987, S. 36. 21 Siehe beispielsweise das Schreiben Leutnant Gelbergs an Alfred Hoffmann vom 7.9. 1923, in: BAK, NS 26/297. Für den Hinweis bin ich Gerd Krüger zu Dank verpflichtet. Gauleiter in Hamburg 273 rige zum neuen Leiter des NSDAP-Gaues Rheinland-Nord ernannt wurde. Als Gau­ geschäftsführer setzte Kaufmann den damals noch weitgehend unbekannten Dr. Jo­ seph Goebbels ein, der um 1925/26 sein bester und wohl einziger Freund war, wie Goebbels' Tagebuchaufzeichnungen jener Jahre deutlich machen22. 1926 verfaßte Goebbels für das Parteiorgan „Nationalsozialistische Briefe" ein Porträt Kaufmanns, das mit der historischen Wahrheit wenig zu tun hatte, aber ei­ nen interessanten Einblick in die propagandistische Selbststilisierung der jungen Na­ tionalsozialisten bietet. Über Kaufmann hieß es dort: „Einer von den ganz Jungen. Den Krieg machte er fast als Knabe mit. Draußen wurde er zum fanatischen Natio­ nalrebell. Nach dem Kriege als Jüngling durch die harte Schule der Politik. Kein an­ genehmer, bequemer Jasager. Wo er war, da gab's Revolution. Immer drehte es sich um eins: Sozialismus. Dafür kämpfte und opferte er. Er ging und wurde gegangen von einem Lager zum anderen, immer auf der Suche nach dem einen, das er nicht fand. Unduldsam bis zur Härte der Brutalität blieb er nicht an anderer Leute Platz stehen. (...) Manch einer von den Feinsten hat an seiner Unerbittlichkeit das Ge­ nick zerbrochen. Man hetzte ihn von Anklage zu Anklage, von Haussuchung zu Haussuchung. Er blieb hart. (...) Das waren nur klingende Hammerschläge auf die Glut seines eisernen Herzens: Landgraf, werde hart!"23 So wollten die jungen Rechtsradikalen gesehen werden: soldatischer Kämpfer und aktivistischer Revolutionär, dabei fanatisch, unerbittlich und vor allem: hart. Dem­ entsprechend bemühte sich Kaufmann, seine eigene Biographie und Person jenen Leitbildern anzupassen. Er heftete sich deshalb - um den ersehnten Frontkämpfer­ status vorzutäuschen - Orden und Auszeichnungen an seinen paramilitärischen Kampfanzug, die er nie erhalten hatte. Dieser Vorgang trug ihm später sogar ein Par­ teiverfahren wegen sogenannten „Ordensschwindels" ein24. Bei Redeauftritten au­ ßerhalb seines Gaues ließ sich Kaufmann regelmäßig als „Bergarbeiter Kaufmann aus Elberfeld"25 ankündigen, um dem angestrebten Image des arbeiterverbundenen „Sozialisten" einen glaubwürdigeren Anstrich zu geben. Solche grotesken Verbie- gungen der eigenen Biographie deuten an, wie sehr bei Kaufmann Selbstdarstellungs­ anspruch und die Realität der Person auseinanderklafften. Dieser Eindruck drängt sich noch stärker beim Studium von Goebbels' Tagebuch­ aufzeichnungen über Kaufmann auf. „Innerlich total zerrissen" heißt es da über ihn, sowie „unrastig, ungegoren und ungezügelt. Ein typisches Halbgenie ohne Halt und Ziel."26 Akribisch notierte Goebbels eine Reihe von Nervenzusammenbrüchen Kauf­ manns, ja sogar einen Selbstmordversuch27. Hinter der äußeren Fassade parteioffiziö-

22 Vgl. etwa die Eintragung vom 18.4. 1925: „Er ist alles für mich und ich alles für ihn." Zit. nach Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von . Sämtliche Fragmente, Bd. 1, Mün­ chen 1987, S. 104 f. 23 Joseph Goebbels, Neue Köpfe, in: Nationalsozialistische Briefe, Nr. 18/1925. 24 Berlin Document Center (BDC), Personalakte Kaufmann /OPG. 25 So u.a. am 20.4. 1926 in , Versammlungsaufruf, in: BAK, NS 1/340, Bl.34. 26 Zit. nach Fröhlich (Hrsg.), Tagebücher, Bd. 1, S. 153 (6. 1. 1926). 27 Ebenda, S. 152 (2.1.1926). 274 Frank Bajohr ser Stilisierungen präsentierte sich Kaufmann nicht als starke, in sich ruhende, son­ dern als eine ausgesprochen schwach entwickelte Persönlichkeit, die ihren Mangel an innerer Selbstsicherheit in heldischen Posen kompensierte und die eigene Person geradezu maskenhaft auf bestimmte Leitbilder auszurichten versuchte. Zu solchen Leitbildern gehörte neben dem Ideal des harten aktivistischen Kämpfers ein letztlich diffuser Gefühlssozialismus. Dieser Gefühlssozialismus wurzelte bei Kaufmann we­ der im gesellschaftlichen Sein noch in wertbezogenen Grundüberzeugungen, son­ dern entsprang vor allem einem generationsspezifischen Lebensgefühl. „Das ganze ist eine Frage der Generationen", schrieb Goebbels in seinem Tagebuch. „Alt oder jung! Evolution oder Revolution! Sozial oder sozialistisch! Für uns ist die Wahl nicht schwer. Karl Kaufmann ist dergleichen wie ich."28 Mit ihrem Selbstverständnis als „Sozialisten" grenzten sich die jungen Nationalso­ zialisten nicht nur von ihren bürgerlichen Elternhäusern ab, sondern auch von jenem kleinbürgerlich-wilhelminischen Honoratiorentypus, der noch Anfang der zwanzi­ ger Jahre in der völkischen Bewegung den Ton angab29. Kaufmanns Gefühlssozialis­ mus, seine antikapitalistische Attitüde, die bei zahlreichen Redeauftritten zum Aus­ druck kam30, verfestigten sich in den Diskussionen der Arbeitsgemeinschaft der nord- und westdeutschen Gauleiter der NSDAP31, vor allem aber unter dem Einfluß Gregor Strassers, dem er seit 1923 eng verbunden war. Kaufmanns Reden und Auf­ sätze jener Jahre machen jedoch auch deutlich, wie wenig sein „Sozialismus", ja sein politisches Denken überhaupt, auf der Akzeptanz unveräußerlicher Grundwerte und Menschenrechte aufbaute. So erkannte er zwar beispielsweise das Existenzrecht der Gewerkschaftsbewegung an, ordnete jedoch dieses Recht den Interessen der „Volksgemeinschaft" unter32. Nicht die verhaßten Ideen von 1789, die freiheitlichen und sozialen Grundrechte des Menschen, sondern die Utopie einer zwangsharmoni- sierten Gemeinschaft bildete den Fluchtpunkt Kaufmann'schen Denkens. Dieser fehlende Wertekern in seinen Grundauffassungen ermöglichte es Kaufmann, sich ausgesprochen flexibel und pragmatisch den jeweiligen politischen Gegebenhei­ ten anzupassen. Angesichts solcher - trotz aller sozialistischen Phraseologie - pro­ grammatischer Unschärfe äußerte sich Kaufmann nur in der Gegnerdefinition mit ein-

28 Zit. nach ebenda, S. 127 (11.9. 1925); an anderer Stelle definierte Goebbels Sozialismus als „ge­ fühlsmäßigen Zustand der Weltanschauung. Man lebt darin, oder man lebt darin nicht", in: Natio­ nalsozialistische Briefe, Nr.21/1926. 29 Vgl. die Charakterisierung des Herausgebers der „Völkischen Freiheit" in Elberfeld, Friedrich Wiegershaus, durch Goebbels: „Wilhelminisch, dickbäuchig, gedrehter Schnurrbart, riecht aus dem Halse", zit. nach Fröhlich (Hrsg.), Tagebücher, Bd.1, S.31 (30.6. 1924). 30 Vor allem im Preußischen Landtag, wo Kaufmann mehrfach im Namen der NSDAP-Fraktion Anträge der KPD unterstützte. Preußischer Landtag, 3.Wahlp. 1928-1932, 6. Sitzung, Bd. I, Sp.291; 15.Sitzung, Bd. I, Sp.874f.; 28.Sitzung, Bd. I, Sp.l917f. 31 Gerhard Schildt, Die Arbeitsgemeinschaft Nord-West. Untersuchungen zur Geschichte der NSDAP 1925/26, Phil. Diss., Freiburg 1964; Reinhard Kühnl, Die nationalsozialistische Linke 1925-1930, Meisenheim am Glan 1966. 32 Karl Kaufmann, Grundsätzliches zur Gewerkschaftsfrage, in: Nationalsozialistische Briefe, Heft 20, April 1928, S.313-316. Gauleiter in Hamburg 275 deutiger Klarheit: Anhänger der Linksparteien und der Weimarer Demokratie, die Kaufmann in einer Landtagsrede als „Organisation von Zuhältern"33 beschimpfte, vor allem aber jene, die dem rassistischen Paradigma gemäß als Feinde der „deut­ schen Volksgemeinschaft" ausgemacht worden waren, hatten bei einer Machtübernah­ me Kaufmanns und der Nationalsozialisten Repression und Verfolgung zu erwarten.

2. Machtsicherung durch Terror

In den Jahren 1928 und 1929 stürzte Kaufmann abrupt auf einen Tiefststand seiner politischen Karriere. Heftige Querelen und persönliche Auseinandersetzungen, vor allem mit dem späteren ostpreußischen Gauleiter , die auf einem nicht zu beschreibenden Niveau geführt wurden34, hatten Kaufmanns Ansehen schwer ge­ schadet und ihn gezwungen, sein Amt als Leiter des Großgaues Ruhr niederzulegen, das er seit 1926 innegehabt hatte. Seine Berufung zum NSDAP-Gauleiter im „roten" Hamburg am 1. Mai 1929, von Hitler als Bewährungsaufgabe verstanden, konfron­ tierte ihn jedoch mit ähnlichen Problemen. In Hamburg stand er erneut einem eben­ so heillos zerstrittenen wie verschuldeten Gau vor, dessen Versammlungseinnahmen lange Zeit vom Gerichtsvollzieher gepfändet wurden35. Wenn sich Kaufmann trotz widriger Umstände als Hamburger Gauleiter behaup­ tete und schrittweise eine parteiinterne Hausmacht in Gestalt einer „Gauclique" auf­ bauen konnte36, so zeugte dies vor allem von seinen gewachsenen Fähigkeiten, sich im innerparteilichen Intrigenspiel durchsetzen zu können. Dennoch blieb der NSDAP-Parteialltag neben den gewalttätigen Auseinandersetzungen besonders mit den Hamburger Kommunisten stets durch parteiinterne Dauerquerelen gekennzeich­ net37. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Hamburg im März 1933 inszenierte Kaufmann daher eine beispiellose Terrorwelle38 nicht nur gegen führende Funktionäre der sozialistischen Arbeiterbewegung; auch die innerparteiliche Oppo­ sition bezog er gleich mit ein. Zu den ersten Opfern der vor allem von der SA ausge­ henden Gewaltakte in der nationalsozialistischen Machtergreifungsphase gehörten in Hamburg neben Kommunisten und Sozialdemokraten vor allem Juden und Auslän­ der. Kaufmann nahm die Exzesse des SA-Terrors nicht nur passiv hin, er heizte die Spirale der Repression und Gewalt vielmehr aktiv an. So ließ er aus berüchtigten SA-Schlägern ihm persönlich unterstehende „Fahndungskommandos" zusammen-

33 So am 28.2. 1930, Preußischer Landtag, 3. Wahlp. 1928-1932, 136.Sitzung, Sp. 11690. 34 Vgl. Hüttenberger, Gauleiter, S. 46 ff.; BDC, Personalakte Kaufmann/OPG. 35 BAK, NS 22/1052, Kaufmann an Gregor Strasser vom 13.12. 1930. 36 Vgl. Thomas Krause, Hamburg wird braun. Der Aufstieg der NSDAP von 1921 bis 1933, Ham­ burg 1987. 37 BAK, NS 22/1052, Schreiben Korn an den Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß (Uschla) der Reichsleitung vom 4.2. 1931; ebenda, NS 22/435, Schreiben an die NSDAP Reichsleitung vom 6. 12. 1932; Archiv Fst., Fasc. 912, Bd. II (Material Krebs), Schreiben der NSDAP-Oppositi­ on vom 27. 9. 1931. 38 Vgl. Henning Timpke, Dokumente zur des Landes Hamburg 1933, Frankfurt a.M. 1967, S. 227-266. 276 Frank Bajohr stellen, die er für ihren Einsatz zur „endgültigen Niederringung des Marxismus in Hamburg" persönlich belobigte39. Auch die Einrichtung des berüchtigten Konzentrationslagers Fuhlsbüttel, „Kola- fu" genannt, betrieb Kaufmann Ende 1933 am Polizeisenator vorbei, da ihm die Be­ handlung der politischen Häftlinge im Hamburger KZ Wittmoor als „zu lasch" er­ schien40. Kaufmann vertuschte die unmenschliche Behandlung der Inhaftierten im Kolafu, indem er darauf drängte, die Leichen zu Tode geprügelter Häftlinge unter Umgehung der rechtlich notwendigen Obduktionen sofort einzuäschern41. Seine Haltung zu den Gefangenenmißhandlungen enthüllte sich exemplarisch in einer Sze­ ne, die sich bei einem Besuch Kaufmanns im Kolafu ereignete. Ein zuvor brutal miß­ handelter jüdischer Häftling hatte sich ihm blutüberströmt zu Füßen geworfen und flehte ihn um Gnade vor weiteren Mißhandlungen an. Kein Wort der Mäßigung an die Adresse der Wachmannschaften kam über Kaufmanns Lippen, statt dessen nur ein: „Schafft mir den Kerl aus den Augen!"42 Die Vorgänge im Kolafu und die Mißhandlung von Ausländern in Hamburg wur­ den selbst auf Reichsebene mit zunehmendem Unbehagen registriert43. Hier sah man sich mit einer Welle von Protestschreiben ausländischer Konsulate und Bot­ schaften konfrontiert, weil die SA vor allem im universitätsnahen Grindelviertel re­ gelrechte Ausländerjagden veranstaltet hatte. Als dann noch die Handelsvertretung der UdSSR in Hamburg gestürmt und verwüstet und der portugiesische Generalkon­ sul im offenen Wagen mißhandelt wurde - mit der Begründung, er sehe „jüdisch" aus —, mußte sich Reichsaußenminister von Neurath sogar persönlich für die Über­ griffe der Hamburger Nationalsozialisten entschuldigen44. Auch die Tatsache, daß Kaufmann Nationalsozialisten aus dem Gefängnis befreien ließ und persönlich empfing, die 1931 den kommunistischen Bürgerschaftsabgeord­ neten Henning ermordet hatten, und selbst Kapitalverbrechen von Nationalsoziali­ sten wie ein Kavaliersdelikt amnestierte45, fügt sich nahtlos in dieses Gesamtbild

39 Anerkennungsschreiben Kaufmanns vom 21.7. 1933, in: Ermittlungsverfahren Kaufmann, StA- LGHH, 14 Js28/49, Bd.II, B1.213. 40 Vgl. Aussage des ehemaligen Innensenators Richter vom 20.10. 1950, im Ermittlungsverfahren gegen Kaufmann, ebenda, Bd. II, B1.277 ff. 41 Vgl. die Angaben des Oberstaatsanwaltes Rudolf Reuter vom 31.7. 1945, in: BAK, Z 42 IV/7172. 42 Vgl. die Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren gegen Kaufmann, StA-LGHH, Bd. II, (Ver­ nehmung Arthur Sonntag vom 17. 1. 1949), Bl. 65 ff. 43 Vgl. Aussagen des Oberstaatsanwalts Reuter vom 31.7. 1945, in: BAK, Z 42 IV/7172; siehe auch Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988, S. 374-379; Klaus Bästlein, Vom hanseatischen Richtertum zum na­ tionalsozialistischen Justizverbrechen. Zur Person und Tätigkeit Curt Rothenbergers 1896-1959, in: Ders./Helge Grabitz/Wolfgang Scheffler (Red.), „Für Führer, Volk und Vaterland ..." Ham­ burger Justiz im Nationalsozialismus, Hamburg 1992, S. 98 ff. 44 Vorgänge in: Archiv Fst., Fasc. 912 (NSDAP, Alte Garde, ). 45 Vgl. etwa die Niederschlagung eines Verfahrens durch Kaufmann gegen einen Hamburger SA- Mann, der einen Nebenbuhler aus Eifersucht erschossen hatte; Landgericht Hamburg, VII a 2523/33. Gauleiter in Hamburg 277 ein. Hier setzte sich nicht einfach eine Verrohung der politischen Sitten fort, wie sie in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg beobachtet werden konnte. Vielmehr senk­ te Kaufmann gewachsene zivilisatorische Hemmschwellen ab, überschritt auch per­ sönlich eine Grenze, die künftig einen „normalen" Machtwechsel undenkbar erschei­ nen ließ, und beförderte eine Entwicklung, die mit der späteren nationalsozialisti­ schen Vernichtungspolitik zumindest in einem mittelbaren Zusammenhang steht. Mit gleichen Methoden entledigte sich Kaufmann auch seiner innerparteilichen Widersacher. Renitente Ortsgruppenleiter überantwortete er den Folterkommandos der Gestapo oder stellte sie kalt. Als Kaufmann von einer Spitzeltätigkeit des Sicher­ heitsdienstes der SS gegen führende Funktionäre der Hamburger NSDAP erfuhr46, ließ er den Hamburger SD-Chef Oberg demonstrativ verhaften und foltern. Daß Kaufmann damit bewußt einen harschen Konflikt mit Heydrich und Himmler pro­ vozierte, zeugte von dem Selbstbewußtsein, mit dem er mittlerweile als Hamburger Gauleiter agierte. Auch die Zentralisierung des Schriftwechsels zwischen den Ham­ burger Gauämtern und der NSDAP-Reichsleitung, der Kaufmanns Schreibtisch zu passieren hatte, stärkte die Position des Gauleiters in der Partei, der nicht zuletzt auch von der geringen Ausdehnung und Übersichtlichkeit des „Stadtgaues" Ham­ burg profitierte.

3. Korruption und Nepotismus

Als wichtigstes Instrument seiner innerparteilichen Herrschaft erwies sich jedoch eine ausgedehnte Korruption und ein System der Patronage, wie es bis dahin in der Geschichte Hamburgs ohne Beispiel war. Tausenden sogenannter „Alter Kämpfer" verschaffte Kaufmann meist über Sonderaktionen des Arbeitsamtes Stellungen in der Verwaltung und vor allem den städtischen Betrieben47. Da auch gegenüber der Hamburger Wirtschaft staatliche Finanzhilfen unverblümt von der Einstellung „Al­ ter Kämpfer" abhängig gemacht wurden, konnten bis 1934/35 über 10 000 Ham­ burger Nationalsozialisten in Arbeitsstellen eingewiesen werden, während die Zahl der sonstigen Arbeitslosen in Hamburg entgegen dem Reichstrend noch lange Zeit auf hohem Niveau verharrte. Viele Institutionen und städtische Unternehmen muß­ ten Nationalsozialisten in so großer Zahl aufnehmen, daß sie am Rande des finanziel­ len Ruins schwebten. Diesen von Kaufmann maßgeblich forcierten Arbeitsbeschaf­ fungsaktionen entsprach ein eminenter Druck jener, die sich für ihren Einsatz in der „Kampfzeit" nun materiell belohnen wollten und die Machtübernahme der NSDAP mit nachgerade eschatologischen Zukunftshoffnungen verbanden. Dabei kam dem Umstand besondere Bedeutung zu, daß das Gros der nationalsozialistischen Aktivi­ sten in Hamburg bis in die höchsten Führungsränge hinein aus sozial Gescheiterten

46 BAK, NS 22/259, Bericht Kaufmanns „über die Spitzeltätigkeit des SS-Sicherheitsdienstes" vom 21.6. 1933. 47 StaHH, Senatskommission für die Angelegenheiten der Staatsarbeiter II, 35 Mb 20; ebenda, NSDAP, B 137, Band 1-4. 278 Frank Bajohr oder beruflich wenig Erfolgreichen meist kleinbürgerlicher Herkunft bestand, die sich von der sozialen Peripherie der Gesellschaft nun ins Zentrum der Macht ver­ setzt sahen. Das Ausmaß an sozialer Deklassierung in den Reihen der Hamburger NSDAP, ihr unorganisches, erst in der Endphase der Weimarer Republik abrupt einsetzendes Wachstum sowie die Enttäuschung mancher Zukunftserwartungen nach der „Machtergreifung" begünstigten schließlich eine Korruption „von unten", die nach 1933 zu zahlreichen Gerichtsverfahren gegen Funktionäre der Hamburger NSDAP und ihrer Nebenorganisationen führte, die aber mit großer Wahrscheinlichkeit nur die Spitze eines Eisberges repräsentierten48. Das Gefühl des Zukurzgekommenen hatten viele durch einen Griff in die Parteikasse oder die Unterschlagung von Spen­ deneinnahmen kompensiert - zwei Straftatbestände, die mit weitem Abstand die Rangliste derartiger Delikte anführten. Ihre Häufung spiegelte nicht zuletzt das un­ geordnete Finanzwesen vor allem in den Nebenorganisationen der NSDAP und den Mangel an innerparteilicher Kontrolle wider. Kaufmann setzte gegen dieses System ungezügelter Bereicherung Einzelner auch deshalb polizeiliche und juristische Mit­ tel ein, weil es dem Grundsatz widersprach, daß in einer autoritären Führerpartei stets von oben nach unten gegeben, aber nicht unten einfach genommen werden sollte. Da mit der gezielten Vergabe von Ressourcen wie Arbeitsplätzen, Geld, Be­ trieben, Häusern und Grundstücken auch politische Macht verbunden war, ging Kaufmann ab 1935 auch gegen die zahllosen Schwarz- und Sonderfonds der natio­ nalsozialistischen Senatoren vor49. Diese Sonderfonds wurden außerhalb des Staats­ haushaltsplanes bewirtschaftet und speisten sich aus Sondersteuereinnahmen, die sich die Senatoren außerhalb des städtischen Finanzhaushaltes selbst erschlossen hatten. Im Jahre 1935 erreichten sie einen Gesamtumfang von über 4 Millionen RM und dienten neben der persönlichen Bereicherung der Senatoren vor allem der finanziellen Unterstützung von Nationalsozialisten. Der Präsident des Hamburgi­ schen Rechnungshofes, der Nationalsozialist Kurt Lange, hatte lange Zeit vergeb­ lich auf die grassierende Korruption in der nationalsozialistischen Landesregierung aufmerksam gemacht und wandte sich schließlich am 30.8. 1935 mit einem eindring­ lichen Appell an Kaufmann: „In diesem Zusammenhang muß ich auch daran erin­ nern, daß Herr Senator Ahrens meinem Vertreter s.Zt. bei pflichtgemäßer Prüfung der Fonds mit der Bemerkung drohte, er würde im Rechnungshof aufräumen, ,daß die Tische flögen'. Es besteht kein Zweifel, daß hier systematisch das Ansehen und die Autorität einer Einrichtung zerstört werden, die nach Fortfall der parlamentari-

48 Allein von 1935-1940 kam es zu 115 Gerichtsverfahren gegen Funktionäre der Hamburger NSDAP wegen Unterschlagung, Diebstahl etc. Vgl. den 1995 erscheinenden Band von Klaus Bästlein/Helge Grabitz/Wolfgang Scheffler/Hubert Rottleuthner (Red.), Von „Gewohnheitsver­ brechern, Volksschädlingen und Asozialen ...". 49 StaHH, Sozialbehörde I, KR 10.13; ebenda, Senatskanzlei-Präsidialabteilung, 1934 A 90, 1935 A 33; ebenda, Finanzdeputation IV, VuO I B 58, VuO II A 1 a XX B; reichhaltiges Material zur NS-Korruption in Hamburg befindet sich auch im Bestand ebenda, Bürgerschaft II, C II d 1, Band 1. Gauleiter in Hamburg 279 schen Kontrolle als einzige Prüfungsstelle im autoritären Staate berufen ist, die recht- und gesetzmäßige Finanz- und Wirtschaftsgebahrung des Staatslebens zu überwachen."50 Zwar nahm Kaufmann die Initiative des Rechnungshofpräsidenten zum Anlaß, die „undurchsichtige Fondswirtschaft" der Senatoren zu beenden. Da er sich seit 1933 jedoch gleicher Methoden bediente, fand de facto nur eine Zentralisierung der Kor­ ruptionswirtschaft in der Hand Kaufmanns statt. So zweigte Kaufmann gerne aus Spendeneinnahmen wie der „Adolf-Hitler-Spende" größere Summen zur persönli­ chen Verfügung ab, da ihm der NSDAP-Reichsschatzmeister Schwarz lediglich eine monatliche Dispositionssumme von zunächst 1000 RM eingeräumt hatte51. Im Jahre 1937 baute er sich schließlich in Gestalt der „Hamburger Stiftung von 1937" ein nur von ihm kontrolliertes Finanzsystem außerhalb des städtischen Haushalts auf - eine Methode, die sich auch bei anderen Gauleitern großer Beliebtheit erfreute52. Die „Hamburger Stiftung von 1937" speiste sich aus öffentlichen Mitteln, Spenden der Hamburger Wirtschaft, Zwangsabgaben der städtischen Betriebe und vor allem sogenannten „Arisierungsspenden" und erreichte ein Finanzvolumen von über 10 Millionen Reichsmark53. Aus diesen Mitteln finanzierte Kaufmann neben sozia­ len Betreuungsaufgaben vor allem die Parteigliederungen der NSDAP und Dotatio­ nen für führende Parteifunktionäre, die er sich auf diesem Wege persönlich ver­ pflichtete. Große Summen verwandte Kaufmann auch für die „Entschuldung ver­ dienter, alter Parteigenossen", von denen er hunderten im Stile eines wandelnden Geldboten größere Barbeträge persönlich übergab. Selbst Repräsentanten der Ham­ burger Wirtschaft ließ Kaufmann aus seinen üppigen Finanzquellen Mittel zukom­ men oder schanzte ihnen über Kontaktpersonen im Reichswirtschaftsministerium Reichskredite zu Vorzugskonditionen zu54. Umgekehrt bezog Kaufmann entspre­ chende Spenden aus der Hamburger Wirtschaft und zeigte sich gegen angemessenes Entgelt zu vielfältigen Dienstleistungen bereit55. Mit der „Hamburger Stiftung von 1937" komplettierte sich ein zentralistisches System der Protektion, das von der Zu­ teilung von Arbeitsplätzen und gutdotierten Scheinämtern über umfangreiche Geld­ zahlungen bis zur Verteilung jüdischer Grundstücke, Häuser und Betriebe an ausge­ wählte Günstlinge reichte56.

50 Schreiben in: Ebenda, Senatskommission für den höheren Verwaltungsdienst, G 2 c HV 1936 IV. 51 BDC, Personalakte Kaufmann/PK, Schreiben Schwarz an Kaufmann vom 9.2. 1935. 52 Vgl. Bundesarchiv Potsdam (BAP), Reichsministerium des Innern, Nr. 27213 (Stiftungen der Gau­ leiter). 53 StaHH, Hamburger Stiftung von 1937, besonders Nr. 1-16, 24. 54 Beispiele in ebenda, Bürgerschaft II, C II d 1, Band 1. 55 StaHH, Hamburger Stiftung von 1937, Nr. 5 (Einzahlungen); solche Dienstleistungen bestanden beispielsweise in der „Arisierung" sog. halbjüdischer Kinder, vgl. Ermittlungsverfahren Kauf­ mann, StA-LGAA, Band III, B1.320. 56 Zur Begünstigung von Nationalsozialisten bei der „Arisierung" und zur Rolle Kaufmanns siehe StaHH, Senatskanzlei-Präsidialabteilung, 1939 SII 28; ebenda, Deputation für Handel, Schiffahrt und Gewerbe II, XXXIII D 5. Zur „Arisierung" in Hamburg bereitet der Verfasser eine Doku­ mentation vor, die voraussichtlich 1995 erscheinen wird. 280 Frank Bajohr Repression gegenüber persönlichen Gegnern, aber ein ausgreifender sozialer Pater- nalismus gegenüber dem Gros der Parteigenossenschaft bildeten wesentliche Merk­ male der innerparteilichen Herrschaft Kaufmanns, der parteiintern auch als „Kur­ fürst" bezeichnet wurde und die Hamburger NSDAP zunehmend wie ein Patriarch regierte. Der umfassenden Patronage kam nicht zuletzt auch eine Kompensations­ funktion für die relative Einflußlosigkeit der Parteiorganisation zu, die an der staatli­ chen Macht kaum partizipierte. Einige Parteifunktionäre, die den oft herausgestellten Grundsatz „Die Partei befiehlt dem Staat" nach 1933 wörtlich nahmen, verwies Kaufmann energisch in ihre Schranken und kanalisierte den gesamten Schriftverkehr zwischen Partei und Verwaltung zunächst in der Hand eines ihm treu ergebenen Ver­ bindungsreferenten57. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, blieben die Gauämter der Partei weitgehend einflußlos, zumal sie häufig Nationalsozialisten in Personalunion mit einem paralle­ len Staatsamt leiteten und so jede Kontrollfunktion der Partei ad absurdum führten. Lediglich einzelne Nebenorganisationen wie die HJ oder die NSV erzielten tiefere Einbrüche in den traditionellen staatlichen Verantwortungsbereich. Eine klare Auf­ gabentrennung zwischen Partei und Verwaltung kam jedoch nie zustande. Eine dies­ bezügliche Kommission, die Kaufmann 1938 eingesetzt hatte, vertagte sich schließ­ lich ergebnislos auf die Zeit nach dem „Endsieg"58. Für Kaufmann bildete die Partei allerdings ein wichtiges Personalreservoir, aus dem er sich regelmäßig bei der Bestellung von Sonderbeauftragten und Sonderbevoll­ mächtigten bediente. Hatten diese vorher eine bestimmte Parteiorganisation geleitet, so wurde diese von Kaufmann bisweilen einfach aufgelöst - ein Vorgang, der wie kein zweiter die Nachrangigkeit des Parteiamtes gegenüber der Ausübung staatli­ cher Macht unterstreicht59.

4. Kaufmanns Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftsgefüge

Mit seiner Ernennung zum Hamburger Reichsstatthalter am 16.Mai 1933 nahm Kaufmann selbst eine institutionelle Doppelstellung als örtlicher Leiter der NSDAP und Beauftragter der Reichsregierung Hitler in Hamburg ein. Als solcher beaufsich­ tigte er die Umsetzung der Reichsregierungspolitik in Hamburg, konnte die Landes­ regierung sowie die Landesbeamten ernennen und entlassen, die Bürgerschaft auflö­ sen sowie die Landesgesetze ausfertigen und verkünden60. Formal war damit ein ver-

57 Vgl. die entsprechenden Anordnungen Kaufmanns in: StaHH, Senatskanzlei-Präsidialabteilung, 1933 A 141. 58 Ebenda, Senatskanzlei-Personalabteilung II, 454 (Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Verwal­ tung und Partei). 59 Hamburger Tageblatt, 1.11. 1937: „Durch die Zusammenlegung der Kreise werden eine große Zahl bester Kräfte frei, die nun endlich dort eingesetzt werden können, wo die brennendsten Pro­ bleme liegen." 60 BAK, R43 II/1376, 1392, 1393 i; vgl. auch Hans-Jürgen Sengotta, Der Reichsstatthalter in Lippe 1933-1939. Reichsrechtliche Bestimmungen und politische Praxis, Detmold 1976. Zur Stellung der Gauleiter und Reichsstatthalter im Kriege siehe Dieter Rebentisch, Führerstaat, S. 231-282. Gauleiter in Hamburg 281 fassungsrechtlicher Dualismus zwischen dem Reichsstatthalter und dem sogenannten „Regierenden Bürgermeister" entstanden. Faktisch jedoch degradierte Kaufmann die Landesregierung zum bloßen Befehlsempfänger61 und stutzte die Rolle des Regierenden Bürgermeisters auf die eines repräsentativen bür­ gerlichen Aushängeschildes zurecht, indem er ihm einen getreuen Paladin, den Staatssekretär Georg Ahrens, als Aufpasser verordnete. Krogmann, dem selbst enge Mitarbeiter bescheinigten, er sei „politisch in der Pubertät steckengeblieben"62, ent­ wickelte sich damit zu einer Randfigur der politischen Szenerie, die auch der Volks­ mund schon bald als „Regierter Bürgermeister" bespöttelte. Im Jahre 1936 beendete Kaufmann den verfassungsrechtlichen Dualismus auch formal, indem er sich von Hitler zum Chef der hamburgischen Landesregierung er­ nennen ließ63. 1937/38 stufte er Krogmann gar in den Rang eines Ersten Beigeordne­ ten zurück, als sich die Hamburger Verwaltung im Zuge des Groß-Hamburg-Geset- zes in eine Staats- und eine Gemeindeverwaltung trennte. Diese extreme Zentralisie­ rung der politischen Verantwortung, die Hamburg zu einer Miniaturausgabe des „Führerstaates" machte, darf jedoch nicht vorschnell als persönliche Allmacht gedeu­ tet werden. Vielmehr blieb das persönliche Regiment Kaufmanns charakteristischen Einschränkungen unterworfen. Zum einen drohte sich die Zentralinstanz durch die Anhäufung von Kompetenzen selber lahmzulegen. Kaufmanns Dauerklagen über seine völlige Überlastung und sei­ ne Neigung, Schreiben und Denkschriften mit einem Gesamtumfang von über 2 Sei­ ten ungelesen in den Papierkorb wandern zu lassen, kennzeichnen dieses Dilemma sehr deutlich64. Im Gewirr der Vorgänge, die im Zentralbüro des aufliefen, verlor Kaufmann zumindest phasenweise die Orientierung. Manches blieb gleich jahrelang liegen, und einfachste Vorgänge wie die Ausschmückung von Stra­ ßen anläßlich eines „Führerbesuches" gerieten bisweilen zum organisatorischen Desaster65. Jede konzeptionelle Gestaltungskraft verbrauchte sich zudem in Kauf­ manns Hang, auch kurioseste Details selbst entscheiden zu wollen. So beschäftigte sich Kaufmann etwa eingehend mit der Frage, ob Beamte der Schutzpolizei, die au­ ßerhalb ihres Dienstes in Uniform auftraten, dabei Zigarette, Zigarre oder Pfeife rau­ chen durften66.

61 Vgl. die Aussage Carl Vincent Krogmanns vom 17. 10. 1950, ein Wunsch Kaufmanns sei „für den Senat praktisch Befehl" gewesen, Ermittlungsverfahren Kaufmann, StA-LGHH, Bd. II, B1.208. 62 So der ehemalige Senatssyndikus Paul Lindemann, Unterredung mit Heinrich Heffter am 1.9. 1949, in: Archiv Fst., Fasc. 12 (Personalakte Lindemann). 63 Beauftragung Kaufmanns in: BAK, R43 II/1346, Bl. 11. 64 StaHH, Innere Verwaltung, A II 3, Runderlaß Kaufmanns vom 7. 11. 1936. 65 Ebenda, Finanzdeputation IV, VuO II A 1 a XVI 1 a. Kaufmann hatte die Kreisleiter der NSDAP mit der Ausschmückung der Straßen beauftragt und ihnen entsprechende Geldmittel zugewiesen, ohne davon die Verwaltung zu informieren, die ihrerseits entsprechende Mittel bereitstellte, was zu einem heillosen Organisationschaos und einer verschwenderischen Doppelfinanzierung auf Kosten des Hamburger Steuerzahlers führte. 66 Kaufmann erklärte dabei das Pfeiferauchen für „unerwünscht"; ebenda, Innere Verwaltung, A II 3, Schreiben Kaufmann an Oberst Klein vom 15.7. 1935. 282 Frank Bajohr Zum anderen mangelte es einem derart zentralistischen Entscheidungssystem an Koordination. Nachdem der Senat als kollektives Leitungsgremium faktisch abge­ dankt hatte und Senatssitzungen kaum noch stattfanden, traf Kaufmann politische Entscheidungen meist im Vier-Augen-Gespräch mit dem zuständigen Verwaltungs­ leiter. Aus diesem Mangel an Transparenz und Informationsaustausch resultierte häu­ fig nicht nur ein groteskes, unverbundenes Nebeneinander verschiedenster Institutio­ nen und Ressorts. Es wird drittens auch deutlich, warum dieses System unfähig war, nicht nur die Artikulation von Interessen überhaupt zuzulassen, sondern auch einen Interessenausgleich herbeizuführen, der sich ja nicht mehr im Parlament oder in Se­ natsberatungen vollziehen konnte, sondern allenfalls in der Person des Gauleiters und Reichsstatthalters selbst. Dieser ausgeprägten regionalen Machtstellung der Gauleiter stand allerdings ein Reichszentralismus entgegen, der vor allem im „Gesetz über den Neuaufbau des Deutschen " vom 30. Januar 1934 zum Ausdruck kam. Das Gesetz hob die Souveränität der deutschen Länder und damit auch Hamburgs auf und unterstellte die Reichsstatthalter der Dienstaufsicht des Reichsinnenministers. Diese Gleichschal­ tung der Länder mit dem Reich ging in Hamburg sogar weiter als in anderen Län­ dern, weil Hamburg keine Trennung von Landes-, Stadt- und Gemeindeverwaltung kannte und damit auch keine Sphäre einer halbwegs reichsunabhängigen kommuna­ len Selbstverwaltung definiert werden konnte67. Der völligen „Verreichlichung" Hamburgs wirkten zunächst vor allem informelle Absprachen entgegen, die Kaufmann etwa in Fragen des Beamtenernennungsrechtes mit den Reichsministerien getroffen hatte68. Erst 1938 entstand mit der Hamburger Gemeindeverwaltung ein Entscheidungsbereich, der einer rudimentären kommuna­ len Selbstverwaltung unterlag. Konfliktfälle zwischen Hamburg und den Reichsmini­ sterien entschieden sich jedoch nie nach der informellen oder formellen Zuständig­ keit, sondern ausschließlich danach, welche Seite im polykratischen Machtgefüge des Dritten Reiches die stärkeren Fürsprecher hinter sich zu bringen wußte. Auf die­ sem Wege gelang es Kaufmann bisweilen, durch seine Immediatstellung bei Hitler und seine engen Beziehungen zu Hermann Göring Entscheidungen der Reichsmini­ sterien zu unterlaufen69. Als wirksamster Ausdruck des Reichszentralismus erwiesen sich die zahlreichen, bis 1942 auf 28 angewachsenen Reichssonderbehörden70 in Hamburg, die ihre Di­ rektiven von den Reichsministerien empfingen. Ihnen gegenüber besaß Kaufmann nur ein allgemeines Aufsichts- und Informationsrecht, aber keine direkte Anwei-

67 Deshalb konnte in Hamburg auch die „Deutsche Gemeindeordnung" vom 30. 1. 1935 nicht ange­ wendet werden. Zu den daraus entstehenden Problemen siehe BAK, R 43 II/1381. 68 BAK, R43 II/1346, B1.48 f., Rundschreiben Fricks an die Obersten Reichsbehörden betr. Beamtenernennungen durch den Hamburger Reichsstatthalter vom 16.3. 1937. 69 Vgl. etwa den Konflikt um die „Verreichlichung" der Hamburger Seefahrtsschulen, in: StaHH, Senatskanzlei-Personalabteilung II, 807. 70 Zusammenstellung der Sonderbehörden in: StaHH, Staatsverwaltung-Allgemeine Abteilung, A I 12. Gauleiter in Hamburg 283 sungsbefugnis. Zu den aus Berlin zentral angeleiteten Reichssonderbehörden zählten so wichtige Institutionen wie der Oberfinanzpräsident, das Landesarbeitsamt Nord­ mark bzw. das Arbeitsamt Hamburg, der Reichstreuhänder der Arbeit und das Han­ seatische Oberlandesgericht. Zwar sollten die Reichssonderbehörden nach dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 langfristig in den Hamburger Verwaltungskörper eingegliedert werden, doch gelang dies bis 1945 lediglich im Falle des unbedeuten­ den Reichspropagandaamtes71. Aufgrund der abgestoppten und nie realisierten Reichsreform blieb die vielproklamierte „Einheit der Verwaltung in der Reichsmit­ telinstanz" Hamburg eine Chimäre, unterblieb jede klare Definition von Zuständig­ keiten und Kompetenzen. Alle diese Probleme im Verhältnis Hamburgs zum Reich traten in verschärfter Form auch innerhalb Hamburgs und seiner Verwaltung auf. Zwar standen die Jahre nach 1933 vor allem in personeller Hinsicht unter dem Signum der Kontinuität ins­ besondere in der höheren Beamtenschaft72, weil eine qualifizierte nationalsozialisti­ sche Funktionselite fast völlig fehlte, doch wirkte sich dieser Umstand in der Praxis staatlichen Handelns kaum retardierend oder gar im Sinne eines gegenüber dem Na­ tionalsozialismus „resistenten" politischen Eigengewichts aus. Zum einen war die Hamburger Verwaltung in der NS-Zeit einer nahezu perma­ nenten Umgestaltung und Umgliederung unterworfen73. Neben den drei großen Umwandlungswellen von 1933, 1937/38 und 1943, die alle Dienststellen gleicher­ maßen betrafen, strukturierte Kaufmann ganze Verwaltungszweige je nach tagespo­ litischer Opportunität um und setzte größere Teile der höheren Beamtenschaft ei­ ner permanenten Rotation aus74. Zum andern etablierte Kaufmann ohne jede Rücksicht auf bestehende Kompetenzen neben den klassischen Verwaltungszwei­ gen ein wucherndes System von Sonderbeauftragten, Sonderbevollmächtigten und Sonderdienststellen, die massiv in die Kompetenzen der traditionellen Behörden eingriffen. So leistete sich Hamburg auf dem Felde der Wirtschaftspolitik u.a. ei­ nen Sonderbeauftragten für Wirtschaftsförderung und Vierjahresplan, einen Wirt­ schaftsbeauftragten des Reichsstatthalters, einen Arisierungsbeauftragten, einen Sonderbeauftragten für die Beziehungen Hamburgs zu den Reichswerken Her­ mann Göring, einen Sonderbeauftragten für Westwallarbeiten und viele Dienststel­ len mehr. Die Sonderbevollmächtigten rekrutierte Kaufmann stets aus dem Kreis seiner per­ sönlichen Günstlinge, betrachtete er doch Verwaltungsorganisation gemäß dem na-

71 BAK, R 43 II/1346 a, Bl. 56-68. 72 Zu ähnlichen Tendenzen in anderen Regionen siehe Michael Ruck, Administrative Eliten in De­ mokratie und Diktatur. Beamtenkarrieren in Baden und Württemberg von den zwanziger Jahren bis in die Nachkriegszeit, in: Cornelia Rauh-Kühne/ders., Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie, München 1993, S. 37-69. 73 Vgl. Hans Peter Ipsen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung. Von Weimar bis Bonn, Hamburg 1956. 74 Zum Rotationswesen in der höheren Beamtenschaft siehe die Anordnungen Kaufmanns in: StaHH, Staatsverwaltung-Allgemeine Abteilung, A I 2. 284 Frank Bajohr tionalsozialistischen Primat der „Menschenführung"75 in erster Linie als angewandte Personalpolitik. Auf diesem Wege bildete sich die Herrschaft einer um Kaufmann zentrierten politischen Clique aus, die 1943 ihren Höhepunkt erreichte, als Kauf­ mann ohne jede Rechtsgrundlage für alle Verwaltungsbereiche sogenannte „Gene­ ralkommissare" mit unbeschränkten Machtbefugnissen ernannte76. Drittens übte Kaufmann einen gleichsam „populistischen" Druck auf die Hambur­ ger Verwaltung aus, mit der er nicht allzu eng assoziiert werden wollte. Er präsen­ tierte sich der Bevölkerung daher als eine unabhängige Appellationsinstanz, an die sich jedermann auch unter Umgehung von Dienstwegen wenden konnte. So hielt Kaufmann eine wöchentliche Sprechstunde für die Bevölkerung ab77 und richtete ge­ gen den Widerstand der Verwaltung eine mit persönlichen Vertrauensleuten besetzte sogenannte „Prüfungs- und Beratungsstelle" ein, bei der sich die Hamburger über Verwaltungsentscheidungen beschweren konnten78. Allein zwischen Januar 1935 und März 1937 gingen bei der Prüfungs- und Beratungsstelle über 15000 Be­ schwerden ein, derer sich Kaufmann in vielen Einzelfällen auch persönlich annahm. Dabei setzte er die Interessen der Beschwerdeführer häufig gegen bestehende Rechts­ grundlagen durch, indem er die Verwaltung zwang, gegen geltendes Recht zu versto­ ßen79. Die Kehrseite hiervon bildete eine schleichende Erosion der normativen Grundlagen staatlichen Handelns80. Alle staatlichen Handlungen und Verwaltungs­ akte standen somit unter dem relativierenden Vorbehalt eines „Führerwillens" - eine Herrschaftspraxis, die durch eine zwar nie vollständige, aber doch stetig voran­ schreitende parasitäre Zersetzung des bürokratischen Normenstaates gekennzeich­ net war. Es wäre jedoch verfehlt, diese Herrschaftsstruktur ausschließlich als dysfunktional, atavistisch und leistungsschwach zu charakterisieren81, war doch das NS-System al-

75 Zum Begriff der „Menschenführung" siehe Dieter Rebentisch/Karl Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers, Göttingen 1986. 76 StaHH, Senatskanzlei-Personalabteilung II, 470, Schreiben des Rechtsamtes vom 6. 10. 1943 betr. Rechtsstellung der Generalkommissare. Daß der neuernannte Reichsinnenminister Himmler der­ artige, nicht zuletzt auch den Einfluß der Reichsinstanzen schwächende Anordnungen Kauf­ manns ohne erkennbaren Widerspruch hinnahm, zeugt von Tendenzen eines schleichenden Machtzerfalls im Zentrum des nationalsozialistischen Staates. 77 Hamburger Fremdenblatt, 22.5. 1933: „Der Entschluß des Reichsstatthalters zeugt von seinem Bestreben, engste Fühlung mit der Bevölkerung, ihren Wünschen, Sorgen und sonstigen Anlie­ gen zu halten." 78 StaHH, Senatskanzlei-Personalabteilung II, 508; ebenda, Senatskanzlei-Präsidialabteilung, 1935 A8. 79 Beispiele in: StaHH, Innere Verwaltung, A II 3. 80 Vgl. auch Hans Mommsen, Der Nationalsozialismus und die Auflösung des normativen Staatsge- füges, in: Wolfgang Luthard/Alfons Söllner (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, Opladen 1989, S. 67-75. 81 Dies betont vor allem Hans Mommsen, z.B. in Nationalsozialismus, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd.4, Freiburg 1971, Sp.695-713; ders., als „Führer" der Nation (Nationalsozialismus im Unterricht, Studieneinheit ll), hrsg. vom Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen, Tübingen 1984. Gauleiter in Hamburg 285 lein in seiner Destruktivität zu schrecklichen Leistungen imstande. Vielmehr besaß der Hamburger „Führerstaat" auch dynamisierende Elemente, indem etwa Verwal­ tungshierarchien abgebaut oder Dienstwege und EntScheidungsprozesse verkürzt wurden. Leitende Beamte der Hamburger Verwaltung hoben nach 1945 dementspre­ chend hervor, daß Kaufmann „wohltuend schnell und schlank in seinen Entschlüs­ sen"82 gewesen sei. Die partielle Dynamik von EntScheidungsprozessen konnte aller­ dings nicht über die Kurzatmigkeit und Kampagnenhaftigkeit von Kaufmanns Poli­ tikstil hinwegtäuschen, der einem Muster verhaftet blieb, das sich in der Weimarer Republik während der hektischen Abfolge von Wahlkämpfen, Aufmärschen und Propagandakampagnen ausgebildet hatte. Eine auch nur mittelfristig planende und entwickelnde Strukturpolitik war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Im Wechselspiel von punktueller Intervention und kurzfristiger Mobilisierung aller Res­ sourcen entwickelten Kaufmann und die Nationalsozialisten die infrastrukturellen Grundlagen Hamburgs nicht schöpferisch und planvoll, sondern betrieben im Ge­ genteil deren Raubbau vor allem zur Kriegsvorbereitung. Deshalb verwundert es nicht, daß Hamburg unter der Herrschaft des Nationalsozialismus faktisch aus dem Bestand lebte: Im Wohnungsbau, einst eine sozialdemokratische Domäne, war die Hansestadt schon unmittelbar nach 1933 deutlich hinter andere deutsche Großstäd­ te zurückgefallen. Öffentliche Bauten wurden kaum ausgeführt, und selbst notwen­ digste Instandhaltungsmaßnahmen wie etwa die Pflege der Hafenanlagen mußten aus Rohstoffmangel unterbleiben. Daher flüchteten sich Kaufmann und die Natio­ nalsozialisten aus der Tristesse des Regierungsalltags zunehmend in utopische Neu­ gestaltungsplanungen Hamburgs83, die jedoch im Kern nur den monumentalisti- schen Größenwahn Hitlers bezeugten, aber keineswegs den Interessen der Stadt dienten.

5. „Sozialismus der Tat"

Die Stabilität des NS-Regimes in Hamburg hing jenseits von Fragen der Herrschafts­ organisation auch davon ab, wie die Nationalsozialisten mit zwei Traditionen umge­ hen würden, die vor 1933 die politische Kultur Hamburgs entscheidend geprägt hat­ ten, der Tradition der Arbeiterbewegung und des hanseatischen Bürgertums. Die Ar­ beiterpolitik des Regimes erschöpfte sich deshalb in Hamburg keineswegs in der Re­ pression84. Kaufmann selbst entwickelte eine Reihe sozialpolitischer Initiativen vor allem gegenüber der Hafenarbeiterschaft, deren Kernstücke die von ihm konzipierte

82 So Hans Peter Ipsen in einem Gespräch mit Heinrich Heffter, 19. 8. 1950, in: Archiv Fst., Fasc. 12 (Personalakte Ipsen). 83 Michael Bose u.a., „... ein neues Hamburg entsteht ..." Planen und Bauen von 1933-1945, Hamburg 1986. 84 Zum Sozialpopulismus des Regimes am Beispiel des Saarlandes und des saarpfälzischen Gauleiters Bürckel - mit dem Kaufmann eng befreundet war - siehe Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991, S. 134 ff.; Gerhard Paul, Jo­ sef Bürckel - Der rote Gauleiter, in: Smelser/Syring/Zitelmann (Hrsg.), Die braune Elite, S. 51-65. 286 Frank Bajohr

„Hilfsstelle Hafen", ein System von Ausgleichszahlungen für unregelmäßig und ständig beschäftigte Hafenarbeiter, der „Urlaubstrupp Hafen"85, ein Siedlungswoh­ nungsbau für Hafenarbeiter sowie günstigere Verkehrstarife bildeten86. Darüber hin­ aus verteidigte Kaufmann das hohe Lohnniveau in Hamburg gegenüber Tendenzen zur Lohnsenkung, die insbesondere bei der Ansiedlung neuer Betriebe laut wurden, entwickelte Initiativen zur Lohnfortzahlung für Arbeiter an Feiertagen87 und förder­ te einzelne Arbeitergruppen wie die städtischen Sielarbeiter88 gezielt durch Lohnver­ besserungen und Urlaubszeitverlängerungen. Aus Mitteln seiner „Hamburger Stif­ tung von 1937" finanzierte Kaufmann eine „Weihnachtsspende des Reichsstatthal­ ters" für Bedürftige und leistete im Krieg spezielle Zuwendungen an Bombenopfer, indem er u.a. Patenschaften für Kinder übernahm, die nach Luftangriffen zu Voll­ waisen geworden waren89. Dieser „Sozialpopulismus" wies partiell auch brachiale Züge auf, etwa wenn Kauf­ mann drastische Ordnungsstrafen gegen Gastwirte wegen unerlaubter Erhöhung der Bierpreise verhängte90 oder Hausbesitzer aufgrund von Wuchermieten vorüberge­ hend als „Volksschädlinge" inhaftiert wurden91. Solche Initiativen Kaufmanns, die al­ lerdings nicht als systematische Sozialpolitik bezeichnet werden können und vor al­ lem auf die propagandistische Verwertbarkeit abzielten, zollten nicht nur den nach wie vor virulenten Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung in Hamburg Tribut, sondern offenbarten auch den „Gefühlssozialismus" des Gauleiters, den er verbal immer wieder zum Ausdruck brachte, etwa wenn er seinen „heißen Willen zum Sozialismus"92 bekundete oder emphatisch ausrief: „Kein Weg ist mir lieber und keine Stunde schöner, als wenn ich unter Hamburger Arbeitern stehen kann."93 Durch seine sozialen Initiativen erwarb sich Kaufmann in der Hamburger Bevöl­ kerung eine gewisse Popularität, die auch in dem weitverbreiteten Spitznamen „Kuddel Kaufmann" zum Ausdruck kam94. Sein autoritärer Populismus sollte das

85 Siehe StaHH, Senatskanzlei-Personalabteilung II, 104. Beim „Urlaubstrupp Hafen", der unter dem Patronat Kaufmanns stand, handelte sich um einen freiwilligen Zusammenschluß von Ange­ stellten und Beamten, die in ihrem Urlaub unentgeltlich Hafenarbeiten verrichteten, um Hafenar­ beitern die Teilnahme an KdF-Erholungsreisen zu ermöglichen. 86 StaHH, Sozialbehörde I AF 82.22, AF 82.31 und AF 82.39. 87 Vgl. Karl Kaufmann, Der deutsche Arbeiter und Weihnachten, in: Hamburger Tageblatt, 28.11. 1936. 88 StaHH, Senatskommission für die Angelegenheiten der Staatsarbeiter II, 35 Mb 28. 89 Ebenda, Hamburger Stiftung von 1937, 12, Bd. 6-9, 19, 21, 22. 90 Ebenda, Senatskanzlei-Verwaltungsbeschwerden, 84/2. 91 Ebenda, Staatsamt 29, Schreiben des Innensenators an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern vom 24. 10. 1935. 92 Hamburger Anzeiger, 26.8. 1935. 93 Hamburger Tageblatt, 29. 12. 1938. 94 Vgl. das Porträt Kaufmanns in: Das Reich, 15.8. 1943; zur Verwendung des Spitznamens Kuddel, selbst im halbamtlichen Schriftverkehr, siehe StaHH, Architekt Gutschow, A 102, Hillebrecht an Gutschow: „Sie werden irgendwie aus Hamburg helfen müssen und wenn es Kuddel Kaufmann persönlich ist." Gauleiter in Hamburg 287 Image eines unabhängigen, jovial und fürsorglich auftretenden „starken Mannes" verfestigen. Freilich konnte dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich etwa in der NS-Sozialpolitik auch in Hamburg der Rechtsanspruch des Einzelnen auf soziale Hilfe zunehmend in eine Pflicht des Einzelnen zur Arbeitsleistung für die „Volks­ gemeinschaft" verwandelte und nur noch diejenigen unterstützt wurden, die dem uti­ litaristischen Kalkül der „Nützlichkeit" genügten95. Zudem grenzte das rassistische Paradigma der nationalsozialistischen Sozialpolitik ganze Bevölkerungsteile aus den sozialen Fürsorgemaßnahmen aus96. „Gleichheit und Brüderlichkeit, wie sie der Mar­ xismus gepredigt hat, gibt es nicht unter den Menschen", hatte Kaufmann schon 1933 verkündet. Dazu seien sie „rassenmäßig und intellektuell zu verschieden"97. So sehr daher die sozialpopulistische NS-Propaganda die Interpretation sozialer Realität be­ einflußte, so wenig konnte sie darüber hinwegtäuschen, daß ein Abbau traditioneller Klassen- und Schichtengegensätze in der Realität kaum gelang. Dennoch bekannte sich Kaufmann aktiv zu einer propagandistischen Beschönigung der Realität, als er im November 1937 vor Vertretern der Hamburger Wirtschaft ausführte: „Wir müs­ sen den Eindruck erwecken bei den Arbeitnehmern, daß ihnen unsere größte Sorge gehört", denn - so Kaufmann wörtlich -: „Alles ist Hoffnung, Glaube, Stim­ mung."98 Im Oktober 1940 gestand Kaufmann in einer Rede vor der Hamburger Handelskammer ein, daß sein autoritärer Sozialpopulismus von Anfang an auch mit dem strategischen Ziel der Kriegsvorbereitung verbunden war: „Wenn ich vor dem Kriege auf dieses Kapitel der Betreuung, Erziehung und Führung der deutschen Ar­ beiter so großen Wert gelegt habe, geschah dies in der Erkenntnis, daß der totale Krieg in einem Industriestaat nicht nur mit Waffen und Soldaten, sondern vor allen Dingen mit Arbeitern geführt wird."99 Ein solcher Satz offenbarte nicht nur das zynische Kalkül der nationalsozialisti­ schen Arbeiterpolitik, er zielte auch beruhigend auf jene traditionellen Hamburger Führungsschichten, die hinter mancher sozialpolitischen Initiative Kaufmanns be­ reits das Schreckgespenst des „braunen Bolschewismus" hervortreten sahen.

6. Die traditionellen Führungsschichten und der regionale Lobbyismus Kaufmanns

Das Verhältnis der Hamburger Nationalsozialisten zu den traditionellen, vor allem von den Großkaufleuten repräsentierten Eliten, die seitens der Nationalsozialisten wechselweise als „Reaktion" oder „liberalistische Kreise" bezeichnet wurden, war seit 1933 starken Schwankungen ausgesetzt. So hatte sich im Frühjahr 1933 zunächst

95 Uwe Lohalm, Der öffentliche Umgang mit der Armut. Zur nationalsozialistischen Fürsorgepoli­ tik in Hamburg, in: Frank Bajohr/Joachim Szodrzynski (Hrsg.), Hamburg in der NS-Zeit. Ergeb­ nisse neuerer Forschungen, Hamburg 1995. 96 Vgl. ders., Hamburgs öffentliche Fürsorge und die Juden 1933 bis 1939, in: Herzig (Hrsg.), Juden in Hamburg, S. 499-514. 97 Hamburger Nachrichten, 13.6. 1933. 98 Archiv Fst., Fasc. 12 (Personalakte Kaufmann), Rede Kaufmann am 2. 11. 1937. 99 Ebenda, Fasc. 32 325, Rede vom 29. 10. 1940. 288 Frank Bajohr eine illusionsbehaftete Annäherung vollzogen, die in vielen Formen bürgerlicher Kollaboration mit dem Nationalsozialismus zum Ausdruck kam. Dabei spielte auf bürgerlicher Seite ein virulenter Antikommunismus ebenso eine Rolle wie ein natio­ nales, ja nationalistisches Ressentiment gegen den Versailler Vertrag und seine Fol­ gen, vor allem die Ablieferung der Handelsflotte und den Verlust der Kolonien100. Viele, die sich von dem Arrangement mit den Nationalsozialisten eine Restauration bürgerlicher Herrschaft versprochen hatten, sahen sich jedoch nach kürzester Zeit bitter enttäuscht. In der Kaufmannschaft herrschte schon bald große Unzufrieden­ heit über die dauerhaft schlechte Wirtschaftssituation101. Viele Repräsentanten des Bürgertums, die sich einer Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten verweigert hatten, setzte Kaufmann nach 1933 kleinlichen Schikanen aus. Das rüde Benehmen der Nationalsozialisten, ihre plebejische Orientierung, ihre häufig extreme Jugend­ lichkeit und die Tatsache, daß hier vielfach Personen an die Macht gelangt waren, die sich auf ihrem bisherigen Lebensweg als Totalversager entpuppt hatten - all dies entsprach keineswegs den althergebrachten Grundsätzen hanseatischer Lebenserfah­ rung und Tüchtigkeit. „Ein Jüngling von 33 Jahren", notierte ein Hamburger Bürger fassungslos bei der Amtseinführung Kaufmanns als Reichsstatthalter102. Auch die Praxis mechanistischer Gleichschaltung des öffentlichen Lebens traf in ihren egalisierenden Wirkungen auf bürgerliche Kritik. Als Residuen des Bürger­ tums waren schon nach kürzester Zeit nur noch Teile der Wirtschaft und des traditio­ nellen gesellschaftlichen Lebens übriggeblieben. Letzteres wurde von Kaufmann weitgehend gemieden, der kein Mann des bürgerlichen Salons, sondern des Bierkel­ lers war und in einer alkohol- und kampfliedgeschwängerten Atmosphäre „wie ein übermütiger Junge" wirkte103. Auch auf Seiten der Nationalsozialisten hatte sich manches plebejische Ressentiment gegenüber den traditionellen Eliten aufgestaut, das sich auf Parteiversammlungen in heftigen Ausfällen gegen das „Gesindel aus Harvestehude und Uhlenhorst" Luft machte104. So kritisierte der nationalsozialisti­ sche Hamburger Gesandte in Berlin, Peter Ernst Eiffe, 1934 in einem Brief an das Reichswirtschaftsministerium das „Hamburgisch-Bremische Familienprinzip" der Kaufmannschaft, das kein Nationalsozialist durchdringen könne, es sei denn, man werde „Schwiegersohn"105. Er forderte daher, der politischen die „wirtschaftliche Re­ volution" folgen zu lassen und dabei die Vergabe staatlicher Mittel an die Wirtschaft

100 Vgl. Unterredung Dr. Schottelius mit Peter Ernst Eiffe, dem ehemaligen Hamburger Gesandten in Berlin, am 29. 10. 1952, in: Archiv Fst., Fasc. 12 (Personalakte Eiffe). Ab 1933 enthielten die Be­ richte der Hamburger Handelskammer umfangreiche Mitteilungen über „Kolonialfragen". 101 Archiv Fst., Fasc. 227-11, IHK Hamburg II, Schreiben der Firma Dittmer & Kordes an die Han­ delskammer vom 25.8. 1934. 102 Tagebuch Cornelius Freiherr von Berenberg-Goßler, 20.5. 1933 (Privatbesitz). 103 So die Einschätzung des Gauschulungsleiters Gundlach, in: StaHH, Bürgerschaft II, C II d 1, Band 1, Aufzeichnung vom 12.4. 1946. 104 Hamburger Tageblatt, 26.4. 1935. Beide Stadtteile gehörten und gehören zu den bevorzugten Wohngebieten des Bürgertums. 105 StaHH, Staatsamt, 129, Schreiben vom 1.3. 1934. Gauleiter in Hamburg 289 von einem entsprechenden politischen Wohlverhalten abhängig zu machen. Damit hatte Eiffe eine Ebene benannt, auf der sich eine Annäherung zwischen der Hambur­ ger Wirtschaft und der nationalsozialistischen Staatsführung vollziehen sollte. Denn aufgrund ihrer Strukturschwäche und der einseitigen Stärkung des Binnenmarktes in der NS-Zeit war die krisenanfällige Hamburger Wirtschaft in eine weitgehende Staatsabhängigkeit geraten, hing sie in einem Ausmaß am staatlichen Tropf wie nie zuvor oder danach in ihrer Geschichte. Die Kreditaktionen für die Überseehäuser, die Quasi-Verstaatlichung des Außenhandels über Zusatzausfuhrverfahren und zahl­ reiche bürokratische Regelungsmechanismen, die staatlichen Stützungsmaßnahmen für die Großschiffahrt, die Abhängigkeit der Werftindustrie von den Aufträgen der Kriegsmarine und schließlich die Ausrichtung der Hamburger Wirtschaft auf die Kriegsvorbereitung im Rahmen des Vierjahresplanes bezeichnen einzelne Elemente dieses Prozesses. In einer Zeit, in der die Hamburger Wirtschaft permanenter staatlicher Interventi­ on bedurfte, profilierte sich Kaufmann als staatlicher Sachwalter hamburgischer Wirtschaftsinteressen und bezeichnete sich vor der Handelskammer gern als „rei­ sender Kaufmann der Firma Hamburg", nach Erlaß des Groß-Hamburg-Gesetzes auch als „Groß-Kaufmann"106. Ab 1934 schaltete sich Kaufmann verstärkt in Belan­ ge der Hamburger Wirtschaft ein und setzte Ende 1934 in einer Krisensitzung zwi­ schen der Hamburger Staats- und Parteiführung und den Reichsministern, die in An­ wesenheit Hitlers stattfand, die Anerkennung Hamburgs als wirtschaftliches Not­ standsgebiet durch107. Darüber hinaus arrangierte Kaufmann über die Hamburger Gesandtschaft in Berlin zahlreiche Kontaktgespräche sowie „Herrendiners" zwi­ schen der Hamburger Wirtschaft und den Reichsministerien und betrieb so einen ausgedehnten regionalwirtschaftlichen Lobbyismus, der vor allem auf eine Stärkung des Außenhandels ausgerichtet war108. In wirtschaftspolitischen Fragen suchte und befolgte er regelmäßig den Rat eines informellen Beraterkreises aus Repräsentanten der Hamburger Wirtschaft109. Mit ein­ zelnen Hamburger Wirtschaftsführern pflegte Kaufmann daher bald ein enges Duz­ verhältnis, und so konnte er im März 1939 schließlich befriedigt feststellen: „Ich habe vor sechs Jahren nicht zu hoffen gewagt, daß nach einer solch kurzen Zeit eine so enge, verständnisvolle Zusammenarbeit mit dem überwiegenden Teil der hambur­ gischen Wirtschaft möglich sein könnte."110

106 Zit. nach Heinrich Hassbargen, Der ehemalige Gauleiter Kaufmann im Spiegel seiner eigenen Worte (unveröff. MS. vom 13.8. 1951), in: Archiv Fst., Fasc. 12 (Personalakte Kaufmann). 107 BAK, R 43 II/1344, Bl. 53 ff. 108 Archiv Fst., Fasc. 12 (Personalakte Eiffe), Mitteilungen des ehemaligen Hamburger Gesandten in Berlin, Peter Ernst Eiffe, vom 24.2. 1950. 109 Dazu gehörten vor allem der Präses der Hamburger Handelskammer, Joachim de la Camp, der Direktor der Dresdner Bank, Anton Hübbe, sowie Emil Helfferich und Louis Leisler-Kiep von der HAPAG. 110 StaHH, Ratsherrenkanzlei 17, Stenographische Berichte über die öffentlichen Ratsherrenberatun­ gen, 9.Beratung vom 30.3. 1939, Zitat Kaufmann S. 146. 290 Frank Bajohr

Ihre besondere moralische Brisanz gewann diese Kooperation in der Phase natio­ nalsozialistischer Expansion ab 1938/39. Schon anläßlich der Angliederung Öster­ reichs an das Deutsche Reich 1938 hatte Kaufmann hinter den Kulissen seinen gan­ zen Einfluß aufgeboten und eine maßgebliche Beteiligung der hamburgischen Wirt­ schaft an der Arisierung des jüdischen Zwischenhandels in Wien durchgesetzt111. Ab 1939 hievte er gezielt Gefolgsleute in entscheidende Stellen der nationalsozia­ listischen Besatzungsadministration, um Hamburger Interessen in den besetzten Ländern zu fördern. So waren etwa der Gauwirtschaftsberater der Hamburger NSDAP, Carlo Otte, als Hauptabteilungsleiter Volkswirtschaft beim Reichskommis­ sar in Norwegen, der ehemalige Präses der Wirtschaftsbehörde, Dr. Gustav Schlotte­ rer, als Leiter der Wirtschaftsabteilung des Ostministeriums und der Hamburger Se­ natsdirektor Dr. Walther Emmerich als Wirtschaftsminister im Generalgouverne­ ment tätig. Allein im Generalgouvernement nahmen über 20 Hamburger Großhandelsfirmen als sogenannte „Kreisgroßhändler" und „Einsatzfirmen" eine quasi-staatliche Funk­ tion im nationalsozialistischen Besatzungsapparat ein und konnten dabei u.a. jüdi­ sche Firmen und deren Lagerbestände für sich vereinnahmen112. Diese „Betätigung" der Hamburger Wirtschaft in den besetzten Gebieten gehört zu den am wenigsten aufgearbeiteten Kapiteln Hamburger Geschichte, und Spekula­ tionen über sogenannte „Hamburger Raubzüge" können eine umfassende empirische Aufarbeitung nicht ersetzen113. Klarheit besteht allerdings darüber, wie Kaufmann eine solche „Betätigung" verstand. So warnte er die Hamburger Wirtschaft in der schon erwähnten Rede vom Oktober 1940 vor einer falschen Humanität in der Be­ handlung besetzter Gebiete und vertrat die Auffassung, „daß hier rücksichtslos die Interessen des eigenen Landes vorzugehen haben", denn - so Kaufmann weiter: „So selbstlos sind Sie nicht und ich auch nicht."114 Dementsprechend requirierte Kauf­ mann als Vertreter eines primitiven Beutestandpunktes in ganz Europa Waren und ließ sie nach Hamburg schaffen. Auf diesem Wege gelangten 1942 mehrere tausend komplette Wohnungseinrichtungen nach Auschwitz deportierter niederländischer Juden in die Hansestadt und wurden über Versteigerer und den Möbelhandel an zahlreiche Hamburger Haushalte verkauft115.

7. Regionale Aspekte des Holocaust

Über seine Stellung zur Judenverfolgung und zum Holocaust hat Kaufmann nach 1945 eine Flut von Rechtfertigungslegenden verbreitet, die teilweise sogar in die se-

111 BAP, Reichssicherheitshauptamt, St 3/510, Bl. 11, Rede Kaufmanns vor dem Nationalklub von 1919 am 6. 5. 1938. 112 Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Hamburg 1991, S.232-237. 113 Vgl. das gleichnamige Kapitel bei Aly/Heim, Vordenker, S.232-237. 114 Archiv Fst., Fasc. 32325, B1.40ff. 115 StaHH, Senatskanzlei-Präsidialabteilung, 1942 S II 538, Schreiben Beigeordneter Martini an Kaufmann vom 16.10. 1942. Gauleiter in Hamburg 291 riöse historische Forschung Eingang gefunden haben116. Dabei berief sich Kaufmann stets auf seine öffentlichen Stellungnahmen gegen antisemitische Einzelaktionen117, die jedoch weder antijüdische Übergriffe in Hamburg verhindert hatten, noch gar eine generelle Abneigung Kaufmanns gegenüber dem Antisemitismus bedeuteten. Denn zu stark waren seine öffentlichen Reden mit antijüdischen Hetzparolen durch­ setzt118, als daß eine solche Interpretation Bestand haben könnte. Kaufmann schreck­ te nicht einmal davor zurück, gemeinsam mit dem Stürmer-Herausgeber Julius Strei­ cher eine antisemitische Massenkundgebung in Hamburg zu veranstalten, die am 30. August 1935 in der Hamburger Hanseatenhalle stattfand. Es wurde die größte Kundgebung, die je in Hamburg in geschlossenen Räumen stattgefunden hatte, als insgesamt 45 000 Hamburger antisemitischen Hetzreden zujubelten, die der Diktion des „Stürmer" in nichts nachstanden119. Was Kaufmann gegen den Pogromantisemitismus Stellung nehmen ließ, war keine Ablehnung des Antisemitismus, sondern ein stimmungspolitisches Kalkül: Der Bür­ ger sollte durch Plünderungen und mobartige Gewaltaktionen nicht in seinem Sekuri- tätsbedürfnis beeinträchtigt werden. Deshalb strebte Kaufmann statt unkoordinierter Einzelaktionen eine - wie er es im Januar 1939 öffentlich formulierte - grundsätzliche „Lösung der Judenfrage"120 an. Im September 1941 hielt er offenbar den Zeitpunkt ei­ ner solchen „Lösung" für gekommen. In einem Brief an Hermann Göring bekannte Kaufmann: „Im September 1941 war ich nach einem schweren Luftangriff an den Füh­ rer herangetreten mit der Bitte, die Juden evakuieren zu lassen, um zu ermöglichen, daß wenigstens zu einem geringen Teil den Bombengeschädigten wieder eine Woh­ nung zugewiesen werden könnte. Der Führer hat unverzüglich meiner Anregung ent­ sprochen und die entsprechenden Befehle zum Abtransport der Juden erteilt."121

116 Dies gilt etwa für die angebliche Ablehnung eines „wilden Antisemitismus" durch die Arbeitsge­ meinschaft der nord- und westdeutschen Gauleiter, bei der sich Gerhard Schildt, Arbeitsgemein­ schaft Nord-West, S. 103, lediglich auf eine mündliche Mitteilung Kaufmanns stützt. Vgl. auch die Bemerkung Hermann Grands, Kaufmann habe den Novemberpogrom 1938 in Hamburg „strikt verboten", so daß er „von Kommandos aus den Nachbargauen angezettelt werden" muß­ te; Hermann Graml, Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988, S.25. Dergleichen hat zwar Kaufmann in den Nürnberger Prozessen behauptet, entspricht jedoch keineswegs der Realität; vgl. etwa die Angaben des Hamburger NSDAP-Kreis­ leiters Drescher, in: BAK, Z 42 IV/1668, Bl. 78 a. 117 Vgl. den Aufruf Kaufmanns gegen „wilde Plakatkleberei", in: Hamburger Tageblatt, 13.8. 1935. 118 Vgl. ebenda, 16.8. 1935, 26.8. 1935, 22.2. 1936; dort u.a. Kaufmanns Ausführungen über „jüdi­ sche Moral" und „deutsche Moral". 119 Wortlaut der Reden in: Ebenda, 31.8. 1935. Nach Meldungen der Hamburger Tageszeitungen drängten sich über 30 000 Hamburger in der vollkommen überfüllten Hanseatenhalle zusammen, während 15 000 weitere Zuhörer, die keinen Einlaß mehr gefunden hatten, die Rede über Außen­ lautsprecher verfolgten. 120 Hamburger Fremdenblatt, 7.1. 1939. 121 Kaufmann an Göring vom 4.9. 1942, in: NA, Miscellaneous German Records Collection, T 84, Rolle 7. Das Schreiben Kaufmanns ist erwähnt bei Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäi­ schen Juden, durchg. und erw. Ausg., Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S.498 f., dort aber falsch datiert und zitiert (1941 statt 1942, Rolle 2 statt Rolle 7). 292 Frank Bajohr

Hier offenbarte sich nicht nur Kaufmanns zentrale Verantwortung für die Depor­ tation tausender Hamburger Juden, die er zur wohnungspolitischen Verfügungs­ masse herabwürdigte und in den Tod schickte. Mit großer Wahrscheinlichkeit gab Kaufmanns Initiative, der Versuche anderer Gauleiter vorausgegangen waren, ihren Gau „judenfrei" zu machen122, darüber hinaus den entscheidenden Anstoß zur De­ portation aller Juden aus dem sogenannten Altreich. Am 15. September 1941 hatte der alliierte Bombenangriff auf Hamburg stattgefunden123, den Kaufmann zum An­ laß seiner Intervention bei Hitler nahm. Am 18. September 1941 teilte dem Gauleiter des Warthelandes Greiser Hitlers Entscheidung mit, „daß möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit werden"124 - sicher kein zufälliges zeitliches Zusammen­ treffen125. Die Deportation der Hamburger Juden wurde von der übrigen Bevölkerung ohne erkennbare Reaktion hingenommen, lagerte sich aber offensichtlich in einem kollek­ tiven schlechten Gewissen ab, das sich zu einem Zeitpunkt erstmals meldete, als die Folgen des nationalsozialistischen Krieges im Juli/August 1943 in Gestalt der „Operation Gomorrha" mit aller Gewalt über Hamburg hereinbrachen. Am 15. August 1943 schrieb der Hamburger Ostasienkaufmann Lothar de la Camp an seine Bekannten, „daß das einfache Volk, der Mittelstand und die übrigen Kreise von sich aus wiederholt Äußerungen unter vier Augen und selbst auch im größeren Kreise machten, die die Angriffe als Vergeltung gegen die Behandlung der Juden durch uns bezeichneten"126.

8. In Erwartung des Endes

Die weitflächige Zerstörung der Stadt im Zuge der „Operation Gomorrha" im Juli/ August 1943 hatte Kaufmann einen Realitätsschock versetzt. Zuvor hatte sich Kauf­ mann vor der Wirklichkeit abzukapseln versucht, indem er sich die SD-Berichte

122 Noch im August 1941 war Goebbels mit dem Versuch einer sofortigen Deportation der Berliner Juden gescheitert und hatte lediglich die Zusage Hitlers erwirkt, „daß ich die Juden aus Berlin un­ mittelbar nach der Beendigung des Ostfeldzuges in den Osten abschieben kann." Tagebucheintra­ gung vom 20.8. 1941, zit. nach Ralf Georg Reuth (Hrsg.), Joseph Goebbels. Tagebücher, Bd. 4, München 1992, S.1660f. 123 Dabei wurden ca. 600 Hamburger obdachlos; vgl. Hans Brunswig, Feuersturm über Hamburg, Stuttgart 1978, S. 452. 124 BAK, NS 19/2655. Vgl. Raul Hilberg, Vernichtung, Bd.2, S.421. 125 Von daher sind Anordnungen Hitlers - Kaufmann spricht in seinem Brief an Göring von „Be­ fehlen" (wie Anm. 121) - zur Deportation der Juden aus dem „Altreich" mit einiger Wahrschein­ lichkeit in der Zeit vom 16. bis 18.9. 1941 ergangen. Wolfgang Scheffler datiert Hitlers Deportati­ onsentscheidung auf „Mitte September 1941". Vgl. Wolfgang Scheffler, Chelmno, Sobibor, Belzec und Majdanek, in: Eberhard Jäckel/Jürgen Rohwer (Hrsg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1985, S. 148. 126 Zit. nach Renate Hauschild-Thiessen (Bearb.), Die Hamburger Katastrophe vom Sommer 1943 in Augenzeugenberichten, Hamburg 1993, S.230. Gauleiter in Hamburg 293 nicht mehr vorlegen ließ, weil diese seiner Meinung nach „Feindpropaganda" ent­ hielten127. Das mehrtägige Großbombardement und seine Folgen - 35 000 Tote, 125 000 Verletzte, 900 000 Evakuierte, 255 000 zerstörte Wohnungen - erlaubte eine solche Flucht vor der Wirklichkeit nicht mehr. Der Schock vertiefte sich noch da­ durch, daß Kaufmann in der verzweifelten Lage der Stadt von der Staats- und Partei­ führung keine effektive Unterstützung erhielt, bisweilen sogar höhnische Kommen­ tare erntete. „Ich glaube, daß Kaufmann angesichts der zweifellos außerordentlichen Lage etwas die Nerven verloren hat," notierte Goebbels in seinem Tagebuch. „Er ist wohl für eine so große Katastrophe etwas zu lyrisch und romantisch veranlagt."128 Als Kaufmann Mitte August 1943 bei einer Besprechung im Führerhauptquartier die Zerstörung Hamburgs eindringlich schilderte und auf eine ausreichende Luftab­ wehr zum Schutze der Großstädte drängte, speiste ihn Hitler mit lapidaren Bemer­ kungen über zukünftige Vergeltungswaffen ab. In dieser Situation - so berichtete Kaufmann nach 1945 - sei ihm zum ersten Male der Gedanke gekommen, „notfalls eigene Wege zu gehen"129. Freilich blieb Kaufmanns Realitätswahrnehmung weiter­ hin durch das propagandistische Gloriolenbild des „Führers" beeinflußt, hatte er auch sein persönliches Schicksal zu bedingungslos mit dem Nationalsozialismus ver­ knüpft, als daß er zu wirklicher Unabhängigkeit im Denken und Handeln fähig ge­ wesen wäre. Wie viele andere Gauleiter machte er daher für seine wachsenden Irrita­ tionen über Anordnungen aus dem Führerhauptquartier den Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, verantwortlich, stilisierte ihn zum „bösen Geist des Führers" und bot Reichsminister Speer gar an, „den 'Mephisto des Führers' persönlich zu erledi­ gen"130. Dennoch häufen sich seit 1943/44 die Indizien, daß Kaufmann angesichts der zu erwartenden Niederlage bestrebt war, sich im Sinne persönlicher Schadensbe­ grenzung auf ein mögliches Ende nationalsozialistischer Herrschaft einzustellen. Seine Lageberichte als für die deutsche Seeschiffahrt kennzeich­ neten die aussichtslose militärische Situation mit ungewöhnlicher Deutlichkeit131. Ende Mai 1944 eröffnete ihm Generalfeldmarschall Rommel in einem vertraulichen Gespräch, daß er mit seinen schwachen Kräften eine Invasion im Westen nicht dauer­ haft würde aufhalten können. Gesprächsweise erörteten beide daraufhin die Mög­ lichkeit einer Teilkapitulation im Westen, um die schwindenden Kräfte der Wehr­ macht an die Ostfront zu werfen132. Rommels Frage, ob sich Hitler zu einem sol-

127 StaHH, Familie Ahrens 26, Bd. 1, B1.2 (Erklärung Ahrens). 128 Ralf Georg Reuth (Hrsg.), Joseph Goebbels. Tagebücher, Bd. 5, München 1992, S.1946, Eintra­ gung vom 29.7. 1943. 129 Vgl. Karl Kaufmann, Bei Hitler in Rastenburg, in: Archiv Fst., Fasc. 11/K 21. 130 Albert Speer, Erinnerungen, Frankfurt a.M./Berlin 1969, S.470. 131 BAK, R 3/1585, Bl. 65-68, Kaufmann an Speer vom 26. 5. 1944. 132 Archiv Fst, Fasc.11/K 21, Erinnerungsschrift Kaufmanns über die Begegnung mit Rommel; die Angaben Kaufmanns werden bestätigt durch einen Brief Hans Speidels an Heinrich Heffter vom 28.9. 1953, mit der Mitteilung Speidels, „daß Generalfeldmarschall Rommel mir unter dem un­ mittelbaren Eindruck der Aussprache mit Herrn Kaufmann mitgeteilt hat, daß Gauleiter Kauf­ mann von der Notwendigkeit überzeugt sei, zur Rettung des Reiches zu einer alsbaldigen Beendi- 294 Frank Bajohr chen Schritt bereit finden könnte, beantwortete Kaufmann angesichts seiner Erfah­ rungen sehr skeptisch. In Anbetracht der alliierten Forderung nach bedingungsloser Kapitulation waren solche Gedankenspiele ohnehin eine Illusion, sie zeigen aber, daß Kaufmann über Alternativen zum bedingungslosen Kriegskurs Hitlers zumin­ dest nachdachte, ohne daraus freilich entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Privat richtete sich Kaufmann allerdings seit 1944 auf eine Zeit nach dem Natio­ nalsozialismus ein. Am 1. Oktober 1944 ließ er seine Frau in den Pachtvertrag über den Duvenstedter Brook aufnehmen, den er seit 1939 auf Kosten des Steuerzahlers zu einem Privatdomizil mit privater Jagd ausgebaut hatte. Hier hortete Kaufmann in den letzten Kriegsmonaten große Mengen Lebens- und Genußmittel, die unter Verwendung von Devisen im Ausland beschafft wurden, darunter allein über 1000 Flaschen Wein und Spirituosen133. Angesichts seines politischen und persönli­ chen Verhaltens in den letzten beiden Kriegsjahren wird auch seine Entscheidung plausibel, den Alliierten das völlig zerstörte Hamburg am 3. Mai 1945 kampflos zu übergeben. Nach einer letzten Unterredung mit Hitler am 3. April 1945, die ange­ sichts unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten in betont frostiger Atmosphäre verlaufen war, hatte Kaufmann zielgerichtet auf eine kampflose Kapitulation Ham­ burgs hingearbeitet, in enger Zusammenarbeit mit Reichsminister Speer sinnlose Zer­ störungsaktionen verhindert und die englische Führung über einen Mitarbeiter der deutschen Gesandtschaft in Stockholm bereits Mitte April 1945 über seine Absicht zur kampflosen Übergabe Hamburgs informiert. Kaufmann brachte den für viele Nationalsozialisten typischen Zynismus nicht auf, durch einen besonders opferrei­ chen Untergang, durch die Totalität einer Niederlage sich die negative Größe der ei­ genen Person noch einmal bestätigen zu lassen. Dies allein bildet die schmale Basis der nach 1945 verbreiteten Rechtfertigungslegenden, die freilich die systematische Vernichtung von Teilen der Bevölkerung ebenso wie die weitgehende Zerstörung Hamburgs als Folge des nationalsozialistischen Krieges geflissentlich ignorieren - und damit die größten Brüche in der neuzeitlichen Geschichte der Hansestadt, die sich auch durch einebnende Kontinuitätsdiskussionen nicht verkleinern lassen.

9. Zwischen politischem Comeback und Rückkehr in die Bürgerlichkeit

Nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Hamburg am 3. Mai 1945 wurde Kaufmann verhaftet und verblieb bis zu seiner Entlassung aus gesundheitlichen Gründen134 im Oktober 1948 interniert. Während seiner Internierungshaft schloß

gung des Krieges zu kommen, und ihm auch sonst sein Herz ausgeschüttet habe", in: Ebenda. Als ein Ergebnis dieses Gespräches versuchte Rommel, Kaufmann als persönlichen Beauftragten für die Re­ aktivierung des zerbombten französischen Transport- und Kanalsystems zu gewinnen - ein Vorha­ ben, das jedoch am Einspruch des Reichsverkehrsministeriums und der Parteikanzlei scheiterte. 133 StaHH, Finanzbehörde/Liegenschaftsverwaltung 445-900/1 II, Erklärung des Forstwarts Eggers vom 13.8. 1947. 134 Kaufmann war im Juni 1946 als Zeuge der Verteidigung zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß geladen worden. Auf der Fahrt zum Prozeß überschlug sich das Transportfahrzeug. Dabei erlitt Gauleiter in Hamburg 295 sich Kaufmann der „Bruderschaft" an, einer ebenso losen wie im Selbstverständnis elitären rechtsradikalen Untergrundorganisation aus ehemaligen NS-Aktivisten, - und SS-Offizieren, die der Ideologie des Strasser-Sozialismus nahe­ stand135. Ein interner Organisationsplan sah vor, daß sich die „Bruderschaft" als „Deutscher Orden" mit Kaufmann als „Hochmeister" konstituieren sollte, doch scheiterte dieser erste politische Comebackversuch des ehemaligen Gauleiters, als die „Bruderschaft" 1950/51 an ihren inneren Gegensätzen zerbrach. Einen zweiten Anlauf unternahm Kaufmann als Mitglied des „Naumann-Kreises" um den ehemaligen Staatssekretär im Reichspropagandaministerium, Dr. Werner Naumann, der sich eine Unterwanderung von BHE, DP und FDP zum Ziele gesetzt hatte, um eine „nationale Sammlungsbewegung" zu schaffen136. In diesem Zusam­ menhang führte Kaufmann, der in Hamburg einen „Herrenklub" ehemaliger NS- Führer um sich versammelt hatte, darunter den Reichsstudentenführer und Gaulei­ ter Dr. Scheel und den Reichsjugendführer Axmann, politische Sondierungsgesprä­ che u. a. mit dem BHE-Bundesvorsitzenden Kraft137 und dem niedersächsischen FDP-Landesvorsitzenden Stegner. Mit der Verhaftung des „Naumann-Kreises" und damit auch Kaufmanns am 15.1. 1953 endete allerdings auch dieser Versuch, sich im Nachkriegsdeutschland politisch zu betätigen. Nachdem ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg gegen Kaufmann wegen Verbre­ chens gegen die Menschlichkeit zwar zur Formulierung einer Anklageschrift, nicht aber zur Eröffnung eines Hauptverfahrens geführt hatte, zog sich Kaufmann als Privatier in die Bürgerlichkeit zurück. Ende der fünfziger Jahre trat er als Seniorchef in ein Versicherungsunternehmen ein, das der ehemalige kommissarische Gauwirt­ schaftsberater der Hamburger NSDAP, Dr. Otto Wolff, gegründet hatte138. Außer­ dem fungierte Kaufmann als Teilhaber einer chemischen Fabrik. Bis zu seinem Tode am 4.12. 1969 lebte Kaufmann unbehelligt und wohlsituiert in Hamburg, ohne daß er sich je hätte gerichtlich verantworten müssen.

Kaufmann schwere Verletzungen, die mehrmonatige Lazarett- und Krankenhausaufenthalte zur Folge hatten. Vgl. Ermittlungsverfahren Kaufmann, StA-LGHH, Handakte Bd. I, Bl. 71; zur Aus­ sage Kaufmanns in Nürnberg siehe: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Inter­ nationalen Militärgerichtshof, Bd. XX, S. 32 ff. 135 Zur Geschichte der „Bruderschaft" siehe u.a. Kurt P.Tauber, Beyond Eagle and Swastika. Ger­ man Nationalism since 1945, Middletown/Connecticut 1967, Bd. 1, S. 122 ff. 136 Zum Naumann-Kreis siehe u. a. Manfred Jenke, Verschwörung von Rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961, S. 161 ff. 137 Eigene Angabe Krafts im Bonner Generalanzeiger vom 28.2. 1953, zit. nach der Broschüre: Um die Verhaftung des „Naumann-Kreises", zusammengestellt vom Vorstand der SPD, März 1953, S. 20/21. 138 Archiv Fst., Fasc. 12 (Personalakte Kaufmann).