50. Jahrgang • März/April 1999 • ISSN 0032-3462

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen POLITISCHE STUDIEN 364

Politische Studien-Zeitgespräch mit dem Politikwissenschaftler Werner Link zur Neuordnung der Weltpolitik

Johannes Michael Schnarrer Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs: Wenn alte Präferenzen in neue Systeme einzubauen sind!

Wilfried Weber Menschenwürde und Arbeitswelt

Friedrich-Wilhelm Schlomann Nordkorea vor dem Scheideweg

Schwerpunktthema: Sozialdemokra- tisierung Europas? mit Beiträgen von

Gerd Langguth, Gustav Matschl, Peter M. Schmidhuber, Roland Sturm und Joachim Wuermeling

Hanns Seidel Stiftung eV Atwerb-Verlag KG 50. Jahrgang • März/April 1999 • ISSN 0032-3462

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen POLITISCHE STUDIEN 364

Politische Studien-Zeitgespräch mit dem Politikwissenschaftler Werner Link zur Neuordnung der Weltpolitik

Johannes Michael Schnarrer Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs: Wenn alte Präferenzen in neue Systeme einzubauen sind!

Wilfried Weber Menschenwürde und Arbeitswelt

Friedrich-Wilhelm Schlomann Nordkorea vor dem Scheideweg

Schwerpunktthema: Sozialdemokra- tisierung Europas? mit Beiträgen von

Gerd Langguth, Gustav Matschl, Peter M. Schmidhuber, Roland Sturm und Joachim Wuermeling

Hanns Seidel Stiftung eV Atwerb-Verlag KG Hanns Seidel Stiftung eV

Herausgeber: Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Re- Hanns-Seidel-Stiftung e.V. daktion reproduziert oder unter Verwendung elek- Vorsitzender: Alfred Bayer, Staatssekretär a.D. tronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder Hauptgeschäftsführer: Manfred Baumgärtel verbreitet werden. Redaktionelle Zuschriften wer- Verantwortlich für Publikationen, Presse- und den ausschließlich an die Redaktion erbeten. Öffentlichkeitsarbeit: Burkhard Haneke Die Beiträge in diesem Heft geben nicht unbedingt Redaktion: die Meinung der Redaktion wieder; die Autoren Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur) tragen für ihre Texte die volle Verantwortung. Paula Bodensteiner (Redakteurin) Unverlangt eingesandte Manuskripte werden nur Verena Hausner (Redakteurin) zurückgesandt, wenn ihnen ein Rückporto beiliegt. Irene Krampfl (Redaktionssekretärin) Bezugspreis: Einzelhefte DM 8,80. Anschrift: Jahresabonnement DM 53,40. Für Studierende Redaktion POLITISCHE STUDIEN 50% Abonnementnachlaß gegen Vorlage eines Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Hörerscheins ihres Instituts. Lazarettstraße 33 Die Zeitschrift POLITISCHE STUDIEN erscheint 80636 München im Periodikum, Sonderheft und Sonderdruck. Telefon 089/1258-260/261 Bestellungen nehmen entgegen: Die Redaktion Telefax 089/1258-469 und alle Buchhandlungen. Internet: http://www.hss.de e-mail: [email protected] Kündigungen müssen der Redaktion schriftlich, spätestens zwei Monate vor Ablauf des Kalender- Alle Rechte, insbesondere das Recht der Verviel- jahres vorliegen, wenn der Bezug über das fältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, laufende Jahr hinaus nicht mehr gewünscht wird. vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes ATWERB-VERLAG KG Publikation © Inhalt

Reinhard C. Editorial: Bundesstaat Europa? – Meier-Walser Staaten fusionieren nicht wie Unternehmen ...... 5

Werner Link POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit dem Politikwissenschaftler zur Neuordnung der Weltpolitik...... 8

Johannes Michael Werteverschiebungen angesichts Schnarrer des europäischen Umbruchs: Wenn alte Präferenzen in neue Systeme einzubauen sind! ...... 14

Wilfried Weber Menschenwürde und Arbeitswelt ..... 37

Schwerpunktthema: Sozialdemokratisierung Europas?

Bernd Rill Einführung ...... 49

Gerd Langguth Ein sozialistisches Europa? Ist die These „vom Ende des sozialdemokra- tischen Jahrhunderts“ widerlegt?..... 52

Joachim Wuermeling Linkswende in der EU: Für ein Ende des parteipolitischen Konsenses in der Europapolitik ...... 67

Peter M. Schmidhuber Sozialdemokratisierung – Rahmenbedingungen eines europäischen Trends ...... 77 Roland Sturm England, Frankreich, Deutschland – Unterschiedliche Profile von Sozial- demokratie...... 83

Gustav Matschl Das Trugbild der unbegrenzten Integration...... 88

Friedrich-Wilhelm Nord-Korea vor dem Scheideweg.. 101 Schlomann

Otto Wenzel „Verstärkung des Angriffs auf die feind- lichen Hauptobjekte“ – Der Arbeitsplan der Abteilung XV (Aufklärung) der Bezirksverwaltung Berlin des Ministe- riums für Staatssicherheit für das Jahr 1989...... 113

Im Dialog Zur Diskussion über den Kultur- relativismus von Werten – Eine Anregung von Werner Strombach .. 123

Gerhard Hirscher Der Standort der Union – Neue Literatur zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft von CSU und CDU .... 127

Das aktuelle Buch ...... 139

Buchbesprechungen ...... 144

Autorenverzeichnis ...... 148 Editorial Bundesstaat Europa? – Staaten fusionieren nicht wie Unternehmen

Reinhard C. Meier-Walser

In der insbesondere seit der Einfüh- zeitiger Erhöhung der Abhängigkeit rung des Euro am 1. Januar 1999 er- von anderen Mitgliedern des neuen neut aufgeflammten Diskussion um Bundesstaates.2 die „Finalität“ der Europäischen Inte- gration fällt auf, daß die Befürworter Zweifellos hat die zunehmende intra- eines europäischen Bundesstaates mit- regionale Kooperation zwischen den unter die ökonomische Idee der Fusion Staaten der Europäischen Union ein als Modell heranziehen. hohes Maß an Interdependenz geschaf- fen. Die meisten der auf der europäi- Fusion sei das Schlüsselwort im Zeit- schen Agenda stehenden aktuellen alter der Globalisierung und wenn Aufgaben von der Krisenbewältigung Unternehmen weltweit fusionierten, auf dem Balkan bis zur Bekämpfung warum dann nicht auch Staaten, so der Organisierten Kriminalität und die Überlegung.1 zum Schutz der Umwelt können auf gemeinschaftlicher, grenzübergreifen- Diese Argumentation übersieht, daß der Basis effektiver bewältigt werden Unternehmen und Staaten unter- als im nationalen Alleingang. schiedliche Resultate mit Fusionen ver- Dennoch spielen im Binnenverhältnis binden. Während Unternehmen von zumindest der großen Staaten der Zusammenschlüssen Rationalisierung, Europäischen Union auch heute noch Kostensenkung und Innovationsim- Strategien der Macht- und Gegen- pulse erwarten und dadurch ihre Wett- machtbildung eine wesentliche Rolle. bewerbsfähigkeit und Marktposition Es handelt sich bei diesen Formen von verbessern wollen, assoziieren staatli- Gleichgewichtspolitik um eine Sonder- che Akteure mit Zusammenschlüssen form kompetitiven Verhaltens, das mit nicht in erster Linie den wirtschaftli- den Worten des Kölner Politologen chen Nutzen arbeitsteiliger Ordnungs- Werner Link als „integrative Gleich- gestaltung, sondern vor allem die poli- gewichtspolitik“3 bezeichnet werden tischen Kosten einer Staatenfusion wie kann und insbesondere im trilateralen die Preisgabe von Souveränität und Beziehungsgefüge – Paris – Lon- eigener Identitätsmerkmale bei gleich- don zum Tragen kommt.

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 6 Editorial

Dieses Verhältnis zwischen den drei siv von einer deutsch-französischen wirkungsmächtigsten EU-Mitgliedern Lokomotive gezogen wird. ist im Hinblick auf die Kernfragen So anachronistisch das Denken und der Europäischen Integration weder Handeln in Kategorien des Mächte- durch eine allen drei Staaten gemein- gleichgewichts an der Schwelle zum same Linie noch durch eine konstante 21. Jahrhundert auch wirken mag, es Frontbildung (zwei gegen einen) ge- läßt sich nicht leugnen, daß es noch kennzeichnet. Stattdessen manifestie- immer eine verhaltenssteuernde Rolle ren sich aufgrund der seit dem En- in der internationalen Politik und de der Ost-West-Konfrontation neuen auch im europäischen Binnenverhält- europäischen Kräfteverteilung sowie un- nis spielt.5 Dies belegen in jüngster terschiedlicher Interessenlagen wech- Zeit nicht zuletzt die Verteilungs- selnde Koalitionen innerhalb des trila- streitigkeiten bei der Neufassung des teralen Beziehungsgefüges jeweils im Finanzrahmens und die Auseinan- Rahmen einzelner Problembereiche.4 dersetzungen um die Reform der Grundsätzlich gilt, daß die Annähe- Entscheidungsmechanismen der Eu- rung von zweien dieser drei vom je- ropäischen Union, wobei die Frage der weils Dritten als Schwächung seiner Stimmgewichtung bei Majoritätsent- eigenen (relativen) Position perzipiert scheidungen den Haupt-Zankapfel dar- wird. So wurde etwa die betont herz- stellt. liche Atmosphäre zwischen dem briti- schen Premier Tony Blair und dem Die Aktualität und Relevanz von sich als „deutscher Blair“ inszenieren- nationaler Interessenvertretung und den deutschen Bundeskanzler Gerhard Gleichgewichtspolitik im Rahmen der Schröder in Paris mit unverkennbarem Binnenkooperation der Europäischen Mißtrauen zur Kenntnis genommen. Union kollidiert mit dem Ruf nach In Bonn wiederum schrillten die Schaffung eines europäischen Bundes- Alarmglocken, als vor kurzem eine staates. Diese Verhaltensmuster zeigen britisch-französische Botschafterkon- nämlich, daß ungeachtet der Fort- ferenz im Beisein der beiden Außen- schritte des Integrationsprozesses, der minister Robin Cook und Hubert mit der Einführung des Euro eine neue Védrine in Abidjan, der Hauptstadt Qualität erfahren hat, die Vorausset- der Elfenbeinküste, stattfand, zu der zungen zur Schaffung eines Bundes- Vertreter der Bundesregierung trotz staates Europa nicht gegeben sind. der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Der Weg zur Konstitutionalisierung des nicht eingeladen worden waren. europäischen Integrationsprozesses als „Staat Europa“ kann aufgrund der gel- Und schließlich argwöhnen die Briten, tenden Rechtslage lediglich über einen daß ungeachtet der französisch-bri- von den Mitgliedsstaaten der Europäi- tischen Annäherung in Saint-Malo schen Union zu schließenden völker- einerseits und der Abkehr von der tra- rechtlichen Verfassungsvertrag laufen. ditionellen britischen Bremserrolle Zu einem derart weitreichenden Sou- zugunsten eines vorsichtigen pro- veränitätsverzicht sind, darauf hat be- europäischen Kurses der New-Labour- reits zu Recht hingewie- Regierung andererseits der europäische sen, die meisten der Mitgliedsstaaten Integrationszug auch weiterhin exklu- jedoch nicht bereit.6 Editorial 7

Anmerkungen 1 Vgl. etwa Mathias Döpfner: Im Weltwett- chen 1998, S.148ff.. bewerb – Warum wir einen europäischen 4 Vgl. Reinhard C. Meier-Walser: Deutsch- Bundesstaat brauchen. In: DIE WELT, 25. land, Frankreich und Großbritannien an Januar 1999. der Schwelle zu einem neuen Europa. In: 2 Dazu grundlegend: Kenneth N. Waltz: Außenpolitik, H.4, 1992, S. 334 – 342. Theorie of International Politics. New York 5 Vgl. zum Spannungsfeld von Europäi- 1979, S. 104ff. Siehe auch: Andreas Jacobs: scher Integration und nationaler Inte- Interregionale Kooperation. In: Carlo Ma- ressenpolitik: Reinhard Meier-Walser: sala/Ralf Roloff (Hg.): Herausforderungen Pan-European Challenge, European Inte- der Realpolitik. Beiträge zur Theoriedebat- gration and National Interests. In: Re- te in der Internationalen Politik. Köln nate Strassner (Ed.): Political Challenges 1998, S. 95 – 122. in a Changing World. München 1995, 3 Werner Link: Die Neuordnung der Welt- S. 21 – 29. politik. Grundprobleme globaler Politik an 6 Rupert Scholz: Zu früh für eine Verfassung. der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Mün- In: DIE WELT, 19. Februar 1999. POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit Prof. Dr. Werner Link zur Neuordnung der Weltpolitik

Werner Link, Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln, hat sich mit der internationalen Ordnung in der ver- gangenen Ära (siehe u.a. „Der Ost-West-Konflikt“,19882) und mit der „Neuordnung der Weltpolitik“ (1998) eingehend befaßt. Er ist ferner Vorsitzender des Wissenschaftlichen Direktoriums des Bun- desinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien und Mitherausgeber der Akten zur Auswärtigen Politik der Bun- desrepublik Deutschland.

daß die Weltpolitik sich in einer noch nicht abgeschlossenen Übergangspha- se befände. Stimmen Sie dieser Ein- schätzung zu?

Werner Link: Ja, es ist in der Tat rich- tig, daß wir uns in einer Übergangs- zeit befinden; und im Unterschied zu dem recht starren bipolaren System des Ost-West-Konflikts entsteht eine flexible Ordnung – eine „bewegliche Ordnung“ (um Goethes schönen Be- griff zu verwenden). Die relativ lange Übergangszeit erklärt sich daraus, daß anders als bei der Entstehung der Ost- West-Strukturen nach dem Zweiten Weltkrieg bisher kein weltpolitischer Konflikt die Gruppierung der Haupt- Prof. Dr. Werner Link mächte bestimmt. Die neuen Struktu- ren entwickeln sich also evolutionär, POLITISCHE STUDIEN: Zahlreiche und zwar in Anknüpfung an diejeni- Aufsätze, die sich in den vergangenen gen Organisationen und Substruktu- Jahren mit der Frage der Neuordnung ren, die den Zusammenbruch der bi- der Weltpolitik befaßten, begannen polaren Ost-West-Strukturen überlebt mit Formulierungen wie „Nach dem haben (im europäisch-atlantischen Ende des Ost-West-Konfliktes …“. Die- Raum die NATO, in Westeuropa die EG ses Maßnehmen am Vergangenen re- und gesamteuropäisch die KSZE). Die flektiert die verbreitete Überzeugung, Staaten versuchen, mit Hilfe dieser Or-

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 9 ganisationen die neuen Möglichkeiten gleich zu den Potentialen der anderen zu nutzen und den neuartigen Heraus- Großmächte deutlich erhöht. Die Ex- forderungen zu begegnen. In diesem perten sind sich einig, daß die bei- Anpassungsprozeß erfolgt einerseits spiellose militärische Überlegenheit die Ausdehnung der westeuropäisch- der USA bei konventionellen Waffen atlantischen Ordnung nach Osten, um durch die amerikanischen waffentech- den mittel/osteuropäischen Raum zu nologischen Entwicklungsprogramme, stabilisieren (NATO- und EU-Osterwei- für die gerade jetzt erneut erhebliche terung, Neuregelung der Beziehungen Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt zu Rußland). Und es geht anderer- wurden, künftig noch gesteigert wird. seits um interne Reformen (EU-Ver- Man kann mithin von einer quasi-uni- tiefung, neue NATO-Kommandostruk- polaren Machtverteilung im gegen- turen, OSZE-Institutionalisierung). Ähn- wärtigen Weltsystem sprechen, wenn liche Anpassungsprozesse sind in an- man die Quantität und Qualität der deren Erdteilen im Gange, etwa in konventionellen militärischen Po- Asien (Weiterentwicklung von ASEAN, tentiale betrachtet und zudem in Neuregelung des japanisch-amerikani- Rechnung stellt, daß die USA durch schen Verhältnisses und Einordung ihre Truppenstationierung auch eine der aufsteigenden Großmacht China). europäische und asiatische Macht sind Schließlich hat weltweit die „Globa- und durch das Netz von Stützpunkten, lisierung“ und die Steigerung des geo- Flottenpräsenz auf allen Weltmeeren, ökonomischen Wettbewerbs einen An- Transportkapazitäten und Satelliten- passungsprozeß ausgelöst, der vor al- aufklärung alleine die Fähigkeit be- lem im „neuen Regionalismus“ seinen sitzen, weltweit Machtprojektionen Ausdruck findet. vorzunehmen. Im geoökonomischen Bereich besteht hingegen eine Multi- POLITISCHE STUDIEN: Kann man polarität, im Kern eine Tripolarität. – obwohl diese Prozesse noch nicht ab- Gefördert durch Globalisierung und geschlossen sind – mittlerweile die Regionalisierung konzentrieren sich Konturen einer neuen, post-bipolaren die ökonomischen Potentiale auf die internationalen Ordnung erkennen? drei Regionen Amerika, Europa und Wird die neue internationale Ordnung Südostasien. Mit dem Aufstieg Chinas uni-, bi- oder multipolar sein? wird sich dies ändern. Daß sich – wie Samuel Huntington meint – im kultu- Werner Link: Mit dieser Frage ist die rell-zivilisatorischen Bereich – sieben Machtverteilung zwischen den Haupt- oder acht Zivilisationen bzw. Kultur- mächten angesprochen, und dabei ist kreise mit jeweiligen Kernstaaten zwischen den militärischen und den herausbilden, ist plausibel; daß sie ökonomischen Potentialen zu unter- schließlich eine neue Bipolarität scheiden und dann die gesamtpoliti- erzeugen, bestehend aus dem „Westen“ sche Struktur einzuschätzen. Aus der und dem „Rest der Welt“, bezweifle weltpolitischen Konkurrenz zwischen ich. Für die gesamtpolitischen Struk- den beiden Hauptantagonisten des turen ist vor allem der Sachverhalt Ost-West-Konflikts sind die USA sieg- relevant, daß neben den USA zwei reich hervorgegangen und ihr mili- unabhängige, nuklearbewaffnete Groß- tärisches Potential hat sich im Ver- mächte, Rußland und China sowie 10 POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch

Japan und die EU mit den Führungs- völkerrechtliche Verträge abgeschlossen mächten Deutschland, Frankreich und werden, aber sie müssen – um gültig zu Großbritannien (die beiden letztge- werden – von den Staaten ratifiziert nannten vermittelt über ihre Nuklearpo- werden. Resolutionen der Generalver- tentiale und ihren Status als Ständige sammlung sind bloße Empfehlungen. Mitglieder des UN-Sicherheitsrates) eine Nur der UN-Sicherheitsrat kann im Fal- Spitzengruppe bilden. So ist mithin heu- le der Bedrohung oder des Bruchs des te eine multipolare Struktur erkennbar, Friedens als letztes Mittel Zwangsmaß- in der die USA (da sie in allen Teilberei- nahmen anordnen – aber nur dann, chen zur Spitzengruppe gehören) eine wenn kein Ständiges Mitglied dagegen herausragende Position einnehmen. Sie stimmt (Art. 27,3). Und als vorgeord- werden bestrebt sein, sie zu erhalten. netes, naturgegebenes Recht besitzen alle Staaten das Recht zur individuel- POLITISCHE STUDIEN: Manche Be- len und kollektiven Selbstverteidigung obachter sprachen unter dem Eindruck (Art. 51), so daß schon alleine deshalb der allgemeinen Euphorie nach dem von einem Gewaltmonopol nicht die Ende der Ost-West-Konfrontation von Rede sein kann. Kein Staat wird auf der Überwindung des „an-archischen“ dieses Recht und keine Großmacht auf Charakters des internationalen Systems. ihr Veto-Recht verzichten wollen. Man hoffte, es würde sich ein stabilisie- Denn sonst könnte eine Großmacht rend wirkendes Modell internationaler die UN gegen eine andere instrumen- Gewaltenteilung entwickeln: Die UN- talisieren, also mit Hilfe der UN einen Generalversammlung als „Welt-Legis- Weltkrieg führen, der ja gerade verhin- lative“ und der UN-Sicherheitsrat als dert werden soll. Nur dann, wenn alle „Welt-Exekutive“, ausgestattet mit Großmächte (Ständigen Mitglieder) in einem Gewaltmonopol. Sehen Sie Rea- ihren Interessen übereinstimmen, ist lisierungsmöglichkeiten derartiger Vi- so etwas wie eine kollektive Hege- sionen? monie der Ständigen Sicherheitsrats- Mitglieder (mit Zustimmung von vier Werner Link: Meine Antwort auf die- weiteren Sicherheitsrats-Mitgliedern) se Frage, die auf das Ordnungsprinzip möglich. Nach diesem Prinzip hat das der internationalen Politik abhebt, ist UN-System auch nach dem Ende des ein eindeutiges Nein! Das UN-System Ost-West-Konflikts funktioniert. Die ist mit diesem Modell unvereinbar und Möglichkeit der Blockade des Sicher- enthält auch keine entsprechenden heitsrates ist gewollt und sinnvoll, um Entwicklungsmöglichkeiten; und keine die Weltherrschaft einer Großmacht zu Großmacht hat diese Vision oder wä- verhindern. Die schöne neue Welt re willens, sie Wirklichkeit werden zu eines Weltstaates UN mit Gewalt- lassen. Die UNO ist eben kein Welt- monopol wäre – in Anbetracht der Un- staat in nuce mit Legislative und Exe- terschiede und Gegensätze zwischen kutive. Sie ist eine intergouvernemen- den Staaten – eine Weltdiktatur mit tale Staatenorganisation und beruht permanenten Bürgerkriegen. ausdrücklich „auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Mitglie- POLITISCHE STUDIEN: Staaten gel- der“ (Art.2,1 der UN-Charta). In der ten seit Jahrhunderten als wichtige, Generalversammlung können zwar wenn nicht als die wichtigsten Akteure POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 11 der internationalen Politik. Allerdings POLITISCHE STUDIEN: Den Kernaus- heißt es seit einiger Zeit, durch die sagen Ihrer Publikation „Die Neuord- wachsende Rolle multinationaler Kon- nung der Weltpolitik“ zufolge spricht zerne und anderer Nichtregierungsor- vieles dafür, daß der Regionalismus ei- ganisationen sowie durch Phänomene ne strukturbildende Rolle der Welt wie „Globalisierung“ und „Regionali- spielen wird. Wie verhält sich das re- sierung“ würde die Bedeutung von gionalistische Ordnungsprinzip zum Staaten zurückgehen. Mitunter hieß es national- bzw. territorialstaatlichen in jüngerer Zeit gar, Nationalstaaten Ordnungsprinzip? westeuropäischer Größenordnung sei- en „funktional überholt“. Wie sehen Werner Link: Ich kann an das an- Sie den Stellenwert von Staaten an der knüpfen, was ich eben angedeutet ha- Schwelle zum 21. Jahrhundert? be. Der Regionalismus ersetzt nicht, sondern bestätigt den Territorialstaat. Werner Link: Unbestritten ist, daß Ordnungspolitisch bleibt auch beim nicht-staatliche Akteure in der interna- Regionalismus das Prinzip der Koor- tionalen Politik eine Rolle spielen. Ins- dination fundamental (das Bundes- besondere transnationale Konzerne sind verfassungsgericht hat dies übrigens als Hauptträger der Globalisierung für bezüglich der europäischen Integra- die Machtverteilung zwischen den Staa- tion ausdrücklich bestätigt) – es sei ten und für den Wohlstand in den Staa- denn, supranationale Elemente wer- ten bedeutsam. Aber ihre Wirtschafts- den dominant und ein regionaler Ver- kraft ist erheblich geringer als die der band vollendet seine Integration Volkswirtschaften der großen Staaten. durch die Schaffung eines Bundes- Und ihre Manager sind keineswegs staates (was bei der Transformation „vaterlandslose Gesellen“, und die der EU in die „Vereinigten Staaten transnationalen Unternehmen haben von Europa“ der – unwahrscheinliche eine „Heimatbasis“. Beide, Staat und – Fall wäre). Der Regionalismus wird Unternehmen, benötigen sich „mehr also im neuen internationalen System denn je“ (Jeffrey Garten) gegenseitig, zu einem Strukturprinzip zweiter Ord- aber die verbindlichen Entscheidungen nung, abgeleitet und abhängig vom über die Rahmenbedingungen und die nationalstaatlichen Strukturprinzip. allgemeinverbindlichen Normen setz- Und weil der aktuelle „neue Regiona- ten die Staaten, die zu Wahrung oder lismus“, der in allen Erdteilen fest- Rückgewinnung ihrer Steuerungs- und stellbar ist, vor allem die konstruktive Entscheidungsfunktion international, Antwort der Staaten auf die ökono- vor allem regional, zusammenarbeiten. mische Globalisierung ist, ist der po- Die europäischen Staaten haben in litische Regionalismus und Interre- dieser Beziehung geradezu beispielge- gionalismus vornehmlich für den bend gewirkt. Der Staat wird auch im geo-ökonomischen Wettbewerb der 21. Jahrhundert die Vermittlungs- und Staaten prägend. Das regionalistische Entscheidungsinstanz bleiben (in enger Strukturprinzip dient, wohlgemerkt, Zusammenarbeit mit transnationalen auch und nicht zuletzt dem Zweck, Akteuren). Und von ihm hängt es ab, ob zwischen den Regionen und ihren die internationalen oder regionalen Ver- Hauptmächten eine Balance herzu- einbarungen intern umgesetzt werden. stellen bzw. zu erhalten. 12 POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch

POLITISCHE STUDIEN: Die Geschich- Balancepolitik abgeschwächt und ko- te der internationalen Beziehungen operativ. zeigt, daß Staaten sich häufig enger zu- sammenschlossen, wenn sie sich von Dort, wo „Europa“ eine eigenständige der Hegemonialstellung eines anderen Großmacht ist, also im ökonomischen größeren Staates (gemeinsam) bedroht Bereich, verhält sich auch die EU der fühlten. Im Lichte der aus diesen Er- theoretischen Annahme entsprechend fahrungen entwickelten Theorie des – wie jüngst die Einführung des EUROS „Gleichgewichts der Mächte“ würde als Gegengewicht zum Dollar erneut die herausgehobene Machtposition der zeigt. Im sicherheitspolitischen Bereich USA nach dem Ende des Ost-West- ist Europa kein handlungsfähiger ein- Konfliktes ein „balancierendes“ Ver- heitlicher Akteur, und dementspre- halten anderer, auch befreundeter chend widersprüchlich ist dort die Staaten evozieren und damit auch et- Haltung der europäischen Staaten ge- wa die transatlantische Partnerschaft genüber den USA. Nur Frankreich plä- tangieren. Stimmen Sie diesem „Auto- diert offen für eine europäische Ge- matismus“ zu? Welche Rolle spielt in genmachtbildung gegenüber den USA diesem Zusammenhang das deutsch- im verteidigungspolitischen Sektor. Die amerikanische Beziehungsgefüge? Europäisierungstendenz in der Sicher- heits- und Verteidigungspolitik ist zwar Werner Link: Ein balancierendes Ver- auch von anderen Staaten partiell un- halten ist m.E. kein Automatismus, terstützt worden, aber sie wird konter- sondern eine wahrscheinliche Ten- kariert durch den Wunsch, die zwei- denz, die sich unter den Bedingungen fache Balancefunktion der USA in des internationalen Systems als einem Europa (gegenüber Rußland und ge- dezentralisierten Selbsthilfesystem er- genüber Deutschland) zu erhalten. gibt. Die Alternativtendenz ist eine Politik der Anlehnung an die bedroh- Die von Frankreich konsequent befür- lich starke Macht. Daß die heraus- wortete Transformation der NATO in ragende Machtposition der USA und eine gleichgewichtige europäisch-ame- amerikanisches Bestreben, sie zu er- rikanische Allianz läge m.E. sowohl im halten, beide Antworten hervorgerufen Interesse aller europäischer Staaten als haben und zunehmend hervorrufen, auch der USA, weil ein ausgewogenes (insbesondere dann, wenn die USA Verhältnis kooperationsfördernd ist Alleingänge unternehmen), ist jedem und den Fortbestand der atlantischen aufmerksamen Zeitgenossen bekannt. Allianz wahrscheinlich machen würde. Die Großmächte bevorzugen logischer- Sie läge auch im deutschen Interesse weise eine Balancepolitik, da sie sonst (ich habe dies in meinem jüngsten ja eine Welthegemonie der USA akzep- Buch und in einigen Aufsätzen zu be- tieren und ihre eigene Position auf- gründen versucht und werde dem- geben würden. Und solange die USA nächst in der „Zeitschrift für Politik“ die Sicherheit der anderen Großmäch- auf die verschiedenen Optionen aus- te nicht aktuell gefährden und darüber führlicher eingehen). Hier sei nur hinaus (aus innenpolitischen Grün- angemerkt: Wenn sich Deutschland den) eine abgeschwächte Hegemo- stattdessen als Juniorpartner der ame- nialpolitik betreiben, ist auch die rikanischen Führungsmacht verstehen POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 13 sollte, wäre die europäische Integration mationsprozeß wird sehr viel Zeit in gefährdet und im übrigen Deutschland Anspruch nehmen. Inzwischen werden überfordert. Die Transformation der die Bilateralismen, auch die deutsch- NATO hat inzwischen vorsichtig be- amerikanischen Beziehungen, bedeut- gonnen (u.a. mit dem Kompromiß- sam bleiben. Informelle ad-hoc-Koa- konzept der Combined Joint Task litionen werden selektiv in Krisen- Forces, das die Nutzung der NATO- situationen gebildet werden, die die Potentiale unter der Ägide der WEU NATO-Potentiale flexibel nutzen. ohne amerikanische Beteiligung, aber mit amerikanischer Zustimmung – also POLITISCHE STUDIEN: Herr Prof. Dr. einem Veto-Recht der USA – ermög- Link wir danken Ihnen für dieses Ge- lichen soll). Der strukturelle Transfor- spräch.

Die Fragen für die POLITISCHEN STUDIEN stellte Dr. Reinhard C. Meier- Walser, Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen sowie Chef- redakteur der POLITISCHEN STUDIEN der Hanns-Seidel-Stiftung, München. Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs: Wenn alte Präferenzen in neue Systeme einzubauen sind!

Johannes Michael Schnarrer

1. Hinführung und Wertewandel ● die Werte und ihr Wandel, ● die Arbeit als konkretes Beispiel 1.1 Hinführung dafür und letztlich ● die anthropologische Dimension – Die Zeit der kulturellen Hegemonie die Freiheit und ihre Realisierung Europas, die Zeit des Nationalstaates, im Spannungsverhältnis von Ver- ja die Zeit der Isolation gehört nicht antwortung und Selbstverwirkli- nur auf unserem Kontinent der Ver- chung. gangenheit an. Es bildet sich eine Art „Weltgesellschaft“, wenn auch zu- Die aktuelle Grundwertedebatte macht nächst vor allem auf den Gebieten der die Brisanz des Themas deutlich, denn Technik, des Verkehrs, der Medien und die Grundwerte sind es, die für die der Finanztransfers. Man ringt um die Kultur der gesellschaftlichen Lebens- Paradigmata des Aufbaus dieser globa- formen des Menschen die jeweils not- len Gesellschaft durch Austausch, Auf- wendigen Voraussetzungen darstellen, einanderhören, Dialog, Rezeption und da sie den Ordnungsgrund und -be- Imitation, durch Erfahrbarmachung stand einer konkreten Kultur beinhal- anderer (vielleicht früher eher ge- ten. Außerdem bilden die Grundwerte schlossener) Kulturen und mehr oder die Basis für jede Kultur. Die Grund- weniger friedliche Eroberungen ver- werte spiegeln auch die Verfaßtheit schiedenster Art.1 Diese Tendenzen be- einer Gemeinschaft und einer Gesell- treffen die Werte, den Arbeitsmarkt, schaft wider und sind ebenso stets den Lebensstandard, das Grundgefühl Gabe und Aufgabe der weiter zu der Menschen in fast allen Teilen der entwickelnden Lebensformen, denn Erde, so auch besonders Europa. Da- während im ehemals kommunisti- hinter stehen die Fragen nach dem schen Machtblock Demokratie erst Umgang mit den Veränderungen der wieder neu gelernt werden muß, sieht Wertprioritäten, womit die drei Haupt- man sich im Westen einer ganz ande- termini dieses Grundsatzreferates an- ren Herausforderung gegenüber: der gesprochen sind: Sicherung des Fortbestandes einer über

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 15

Jahrzehnte funktionierenden Gesell- (Grund-)Werten in einer je spezifi- schaftsordnung, die vielen Menschen schen Gesellschaft sind die dort ver- ein sehr hohes Lebensniveau er- breiteten Maßstäbe und Basisnormen möglichte. So verdeutlicht sich die zu verstehen, die für die seinsollenden universale Geltung von kulturellen Zustände, Sach- und Prioritätenrea- Grundwerten in der individuellen Be- lisierungen von Handlungen ihre Gül- wußtseinsbildung, und zeigt sich in tigkeit besitzen und die vor allem in den daraus folgenden sozialen Lei- Entscheidungssituationen als Präfe- stungen, die ganz eingebunden sind renzmodi für die Wahl einer zu ver- in das historisch Gewachsene dieses wirklichenden potentiellen Möglich- soziokulturellen Kontextes. Aus der keit hervortreten. sittlichen Einsicht um das Wissen von Recht und Gesetz entsteht dann die Eine besonders relevante Grundfrage konkrete Gesellschaftsordnung, die steht im Raum der Postmoderne: Ob ideologisch sehr unterschiedliche Aus- wir alle zu Egoisten werden?4 Denn prägungen haben kann. Das Wissen ‘die Solidarität ist ein seltenes Metall wiederum basiert auf dem Grundbe- geworden’, wie der Jesuit P. Johannes stand von Prinzipien, die gemäß der Schasching zu berichten weiß. Trotz Grundeinsichten in die Menschenwür- allem wurde lange Zeit in Deutschland de zu Urteilskriterien führen und da- der gesellschaftliche Wertewandel mit mit richtiges Handeln zur Anwendung Hoffnungen auf positive Veränderun- als Sollensansprüche beinhalten; dies gen verbunden, doch nun äußern sich sind die Sozialprinzipien mit univer- immer mehr Stimmen, die Bedenken seller Gültigkeit, wie sie besonders anmelden. Helmut Klages weiß von aus dem christlichen Menschen- und einem ungewöhnlichen Konsens hin- Gesellschaftsbild bzw. dem Sozial- sichtlich des Wertewandels zwischen humanismus und der christlichen Ansichten des Deutschen Nachrich- Soziallehre hervorgehen (z.B. in den tenmagazins „DER SPIEGEL“, der Menschenrechten).2 „ZEIT“ und dem Papst. Interessant sind die Einzelaussagen, die konver- gieren:5 1.2 Der allgemeine Wandel der Werte und der Grundeinstellun- ● Eine allgemeine Werteverwirrung gen in der postmodernen Zeit wurde gemeinsam diagnostiziert, die einerseits die moderne Gesell- Was ist ein Wert?3 Zunächst scheint es schaft sublim prägt und anderer- wichtig, den Begriff zu definieren, da seits das Ausmaß des Wandels mehr- auch dieser pluriform anwendbar und deutig erscheinen läßt. deutbar ist. Die Wertphilosophie wur- ● Es wurde festgestellt, daß eindeu- de besonders von Max Scheler vor- tige Maßstäbe und Orientierungs- angetrieben, worauf aber an dieser geber, die den Menschen die Unter- Stelle nicht weiter eingegangen wer- scheidung von Gutem und Bösem, den kann. Der Wertbegriff, der auch Recht und Unrecht ermöglichen, an für den hier wichtigen Zusammen- Bedeutung verlieren und somit, hang gilt, ist folgendermaßen einzu- besonders bei der Jugend, die Fä- grenzen, indem ich definiere: Unter higkeit des Differenzierens im Ab- 16 Johannes Michael Schnarrer

nehmen begriffen ist. Eine mögliche Spengler bereits ahnten. Eine Grund- Ursache werde darin gesehen, daß frage wird es sein, ob es gelingen kann, die Selbstverwirklichung innerhalb den vemeintlichen Prozeß des Verfalls des Wandlungsprozesses eine Über- zu stoppen. betonung erfuhr, während Stil, An- stand und tugendhaftes Leben weit- Zunächst sind eine Reihe von Tenden- hin verachtet würden. zen zu sehen in der deutschen Gesell- ● Vor allem die Vielfalt, die wurzellos schaft, die durchaus Aufmerksamkeit macht und mit dem Begriff der verdienen:6 „postmodernen Beliebigkeit“ um- schrieben wird, führe zur Normen- ● Es setzt sich eine wachsende Ver- und Orientierungslosigkeit. drossenheit in den Bereichen Politik und Parteien durch, die sich an Besonders die Politiker und Vertreter Wahlbeteiligungen oder Mitglieder- der Kirche vertreten die Meinung, daß schwund der Parteien indikatorisch der Wertewandel in Deutschland auf festmachen läßt. eine falsche Bahn geraten sei. Denn, ● Im individuell-privaten Raum stei- wenn Gemeinsinn, Mitmenschlichkeit gen die Haushalte der Einzelper- und Solidarität als Grundhaltungen sonen, die Raten der Ehescheidungen vom Aussterben bedroht seien, dann nehmen zu, denn es wird seltener kann nicht mehr von einer „gesunden und später geheiratet (das Studieren Gesellschaft“ gesprochen werden. wird immer länger), andererseits sinken die Zahlen der Neugebore- Die Herrschaft hätten Egoismus, kru- nen so stark, daß nicht einmal die der Materialismus, narzistischer Ich-Be- sogenannte ”Nettoreproduktion” zug, das Verlangen nach Sex, Geld u.a. der Einheimischen abgesichert ist. mehr äußerliche Freuden der Existenz ● Die Willigkeit zur unvergüteten übernommen. Die Verfolgung des Hilfsbereitschaft im System der öffentlichen Interesses dagegen wird Wohlfahrtspflege ist im Sinken be- uninteressanter, Autoritäten werden griffen. Kirchenaustritte häufen sich immer mehr abgelehnt. ebenso wie die Wehrdienstverwei- gerung. Einige Kulturtheoretiker und Forscher ● Ebenso ist eine Lustlosigkeit vieler des Wertewandels legen die jetzige Arbeitnehmer festzustellen, wenn Situtation so aus, daß die viele Jahr- von der ‘inneren Kündigung’ oder tausende geschaffene ‘Kulturschale’ der ‘freizeitorientierten Schonhal- des Menschen, die ihn vom Primaten tung’ im Betrieb die Rede ist. Die wesenhaft unterscheidet, durch die Identifikation mit den Belangen des vielfältigen Veränderungen im System Unternehmens, in dem man be- der Werte langsam aufgelöst werde. schäftigt ist, läßt nach. Ältere Tugenden würden zerstreut und ● Außerdem sagen alle Statistiken aus, den neuen ‘Anti-Werten’ geopfert, die daß es zu einem beängstigenden sich in einer Ellbogen-, Anspruchs- Anstieg der Gewalt und damit und Erlebnisgesellschaft offenbaren. So Kriminalität in Deutschland kom- stünden wir vor einem Kulturverfall, me, ein Problem auch der hohen wie ihn Ludwig Klages oder Oswald Arbeitslosigkeit. Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 17

Doch hilft trotz aller realistischer senden Umweltbewußtsein geht der Begutachtung und Observation der steigende Verantwortungsgrad im prak- Situation eine extreme Kontrastierung, tischen Umgang mit dem Recycling- die besonders die Negativa herausstellt, system und dem Verbraucherverhalten nicht weiter. Wesentlich besser ist ein einher8 (Skepsis gegenüber der Wer- konstruktiver Zugang zum rechten bung). Die herausfordernde Führung Tun in der Zukunft, um ein positives in Abteilungen und Unternehmen ist Verhältnis zu den hier genannten Voraussetzung für Leistungsbereit- Schwierigkeiten des Wandels der Werte schaft der Arbeitnehmer, für das gute zu kreieren. Klages stellt auch die Klima am Arbeitsplatz und das Ein- Gegenpositionen zu den eher düsteren bringen des einzelnen in die Belange Schilderungen dar und rundet so das der Unternehmung. Etwa 80% der Bild des Wertewandels im Deutschland Pflegefälle werden noch immer zu der 90er Jahre ab.7 Hause besorgt und geschehen ohne spezielle Entlohnung durch den Staat. Zur näheren Klärung sind nun fünf 1.3 Der Wandel als Sozialphänomen weitere Gesichtspunkte wichtig.

Obwohl sich die sogenannte Politik- ● Der Alltag in der Gesellschaft hat verdrossenheit ausbreitet, sind trotzdem einen Wertewandel auf sozialem politisches Engagement und Interesse Gebiet hervorgerufen, d.h. daß sich nicht total zurückgegangen, was sich Einstellungen und Erwartungen z.B. an erhöhten Einschaltquoten bei geändert haben, denn es wird heute politischen Diskussionen oder dem anders gedacht, gefühlt oder man Verkauf von politischen Magazinen reagiert auf bestimmte Außenfakto- zeigt. Auch ist festzustellen, daß in ren anders als früher. Die Stärkung Zeiten der Rezession die Bevölkerung der persönlichen Entscheidung und fähig ist, vorübergehende Mehrbe- das Hervortreten individueller Nei- lastungen durch Lohnverzicht oder gungen, mit Selbstbewußtsein dar- Mehrarbeit zu billigen, sollten da- gestellt, läßt auf Zunahme der Ich- durch Arbeitsplätze entstehen oder alte Position schließen, wobei der Raum erhalten bleiben. Gegen den anzu- vergrößert wird, der das Ego betrifft. nehmenden Trend ist das inter- Daraus ergibt sich, daß die Autorität dependente Beziehungsgefüge der fast zwangsläufig abgelehnt oder Menschen untereinander und das Be- wenigstens öfter hinterfragt wird. wußtsein, daß in der Notlage jemand Eingriffe in das Privatleben und For- hilft, besonders seit den 60er Jahren, derungen an sich selbst erfahren dennoch gestiegen. Trotz mancher Ablehnung, weil die bürokratische Probleme oder gar Übergriffe auf Aus- Vorschrift als unbegründete Bela- länder sei die Toleranz in der breiten stung empfunden wird. Man möch- Öffentlichkeit gegenüber den Rand- te etwas vom Leben haben, erwartet gruppen (Homosexuelle, Sozialaus- den informellen Umgang, der Spon- steiger, Ausländer) ständig gestiegen. tanität hervorruft und doch zuläßt, Noch immer nehmen Eltern sehr be- daß man sich zurückziehen kann, wußt pädagogischen Einfluß auf die wenn es notwendig erscheint. Einer- Erziehung der Kinder. Mit dem wach- seits will man etwas vom Leben ha- 18 Johannes Michael Schnarrer

ben, sich verwirklichen können, die kompatibel geworden. Dieser Zu- eigenen Wünsche und Hoffnungen stand ist ein Hauptgrund für den realisieren, zum Subjekt des Wir- sogenannten ‘Krisentrend’ in der kens werden, andererseits muß die- Gesellschaft und wird als Wertever- ses auch Freude bereiten; beide sind fall falsch gedeutet. Ein Beispiel hohe Ansprüche, die nicht immer dafür ist die sinkende Geburten- in Einklang zueinander zu bringen freudigkeit, die häufig als Indikator sind. der wachsenden Ellbogenmentali- ● Alle, die sich selbst verwirklichen tät angeführt wird. Dabei ist die wollen, werden als „schwierig“ Bejahung der Kinder in der Gesell- empfunden. Denn oftmals möchten schaft außerordentlich hoch, aber sie zur Verfolgung ihrer Ziele andere der Wunsch nach einem Kind tritt mit den ihrigen eliminieren, da es bei jungen berufstätigen Frauen zum Wertekonflikt kommen muß, in Konflikt mit dem Wunsch nach in welchem einander ausschließende Verwirklichung in der Profession. Werte und Normen, die unverein- Hier kollidieren zwei Ansprüche bar sind, aufeinander treffen. Oft- miteinander: Beruf und/oder Kind. mals ist die Realisierung des Sub- Besonders von politischer Seite aus jektanspruchs nicht gegeben, was wird zu wenig unternommen, um wiederum einem Wertversagen ent- dieses Spannungspotential zu besei- spricht und was nicht selten Selbst- tigen. Denn die Politik scheint nicht frustration auslöst. in der Lage, ökonomische Nachtei- ● Gesellschaftlich haben sich aber die le der Eltern zu eliminieren, genü- Strukturen nicht so schnell ändern gend Plätze in den Kindergärten zur können wie im individuellen Be- Verfügung zu stellen und mit viel reich. Dieses Faktum schafft eine flexiblerer Arbeitszeit Voraussetzun- Spannung, denn viele Strukturen, gen für normales und partner- Gewohnheiten oder Stile der Füh- schaftlich abgestimmtes Eheleben rung, die heute noch aktuell sind in der Familie zu fördern sowie die bzw. in denen wir leben, basieren Aufgaben und Rahmenbedingun- auf Vorstellungen aus der Zeit vor gen für die Kindererziehung bes- dem jetzigen Wertewandel. So ist es ser zu erstellen oder zu verteilen. nicht verwunderlich, daß Führungs- Selbstentfaltungswerte und ihr An- eliten oft der Meinung sind, daß wachsen schaffen eine neue, eher die ‘einfacheren Menschen’ eine auf Selbstbestimmung hinorientier- ‘harte Hand’ benötigen und dies te Bedürfnislage unter den heutigen sogar wollen, weil sie sich unter Menschen, die politische Konse- diesen strengen Führungskräften quenzen erforderlich macht.9 Durch- am wohlsten fühlten. Auch sind greifende Veränderungen institu- viele Strukturen und Organisationen tioneller und politischer Natur kom- nach wie vor unnötig hierarchisiert, men nur sehr langsam voran. die eine interpersonale Zusammen- ● Das löst bei nicht wenigen Mitbür- arbeit und gutes Betriebsklima ver- gern Angst, Frustration und priva- hindern. ten Rückzug aus. Besonders die Po- ● Die Bedürfnisse der Menschen und litik delegiert die Verantwortung für der Aufbau der Strukturen sind in- diese schlechte Situation auf eben Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 19

die von ihr selbst versursachten wandel erstrecken. Erstens ist es Opfer der unfähigen Politik, näm- die Selbstentfaltung, die mittels Pro- lich diejenigen Menschen, die fru- test und idealistischem Engagement striert sind und sich zurückziehen (Idealist – stagnierend) geschieht. in die Privatsphäre. So trifft es die Zweitens handelt es sich um Selbst- Opfer doppelt. entfaltung durch Genuß, Konsum ● Es entsteht ein Spannungsverhält- und Verwirklichung des Lustprinzips nis zwischen sorglosem Hedonismus (Hedomat – zunehmender Trend). und dem aktiven Realismus. Auf Drittens scheint die Selbstentfaltung globaler Ebene findet ein Wertwan- aufgrund der selbstbestimmten In- del statt, der graduell und temporal tegration (Realist – zunehmende recht divergiert. Dennoch haben Tendenz) möglich. Besonders an sich einige Idealtypen herauskri- der Innovationsfähigkeit und der stallisiert. Im Anschluß an die Stu- Bereitschaft zur Reform der Ge- dentenunruhen der 68er Genera- sellschaft, oft repräsentiert durch tion tat sich der ‘Idealist’ hervor, der die Eliten, wird es liegen, ob die oft auch ‘Postmaterialist’ genannt Jugendlichen als Realisten, die aktiv wird. Doch dieser intellektuelle werden, oder aber passive ‘Hedo- Dauerprotestierer ging später in maten’ in das Sozialsystem der Bun- der ökologischen Friedensbewegung desrepublik Deutschland eingeglie- auf.10 Mit Beginn der 80er Jahre ent- dert werden. Sollten sich die ‘He- stand eine neue Leitfigur des Werte- domaten’ durchsetzen, dürfte das wandels, der hedonistische Materia- Konfliktpotential der Gesellschaft list (Hedomat), der in Konkurrenz durch diffuse Protesthaltung an- zum Idealisten steht. Daneben ent- wachsen. Denn Menschentypen stand ein eher unspektakulärer in diesem Sinne wechseln wie Menschentyp, den man als ‘akti- Modeerscheinungen. ven Realisten’ bezeichnet; er ist in der Lage, alte Tugenden, soziolo- Helmut Klages fordert deshalb, daß gisch gesprochen Pflicht- und Ak- eine gute Gesellschaftspolitik die Ener- zeptanzwerte, zur Synthese indi- gie nebulösen Wertewandels in die vidueller Selbstverwirklichung zu konstruktiven Bahnen des Gemein- stellen. Deshalb heißt sein Motto: wohls lenken solle. Ehemals geltende erfolgsorientierte und von der Kategorisierungen, die Auskunft über Selbstbestimmung geprägte Inte- Herkunft und typisches Verhalten von gration sozialer Natur durch Ent- jungen Menschen gaben, verlieren faltung des Ichs. Diese Realisten heute an Bedeutung, da die Weichen- sind zwar unauffälliger, aber viel öf- stellungen auf anderen Ebenen statt- ter in der Gesellschaft anzutreffen finden. Konnte man den Idealisten als die Typen des ‘Hedomaten’ und früher durch sein hohes Bildungs- des ‘Idealisten’, weil sie der starken niveau und durch seine soziale Her- Neigung des Denkens nachgehen kunft relativ eindeutig kategorisieren, und weniger exotisch sind. Für die ist dies heute immer weniger möglich Jugendlichen tun sich wenigstens und verliert seinen indikatorischen drei unterschiedliche Wege auf, die Anspruch bei der Typisierung des sich konkurrierend um den Werte- ‘Hedomaten’ oder des ‘Realisten’ 20 Johannes Michael Schnarrer völlig. Übernehmen nämlich junge Leben erwarten.12 Die Grundthese Menschen Verantwortungsrollen, dann Ingleharts lautet, daß sich die Gesell- sind für sie Tugenden und Selbstver- schaften in den Industrieländern von wirklichung plötzlich nicht kontradik- materialistischen hin zu postmate- torisch, sondern komplementierend rialistischen Wertgefügen bewegen. – ohne Rücksicht auf soziale Herkunft Ganz vereinfacht könnte man nach des einzelnen. Schaut man auf die in- Inglehart sagen, daß sich die Wert- dividuellen Ansprüche der Menschen, vorstellungen in eine konkrete Rich- dann wird hinsichtlich des Werte- tung verschoben haben: vom Ziel wandels eines ganz deutlich: Werte- der physischen Sicherheit und dem wandel in Gesellschaft und im per- materiellen Wohlergehen auf die He- sönlichen Bereich bedingen einander, bung der Lebensqualität hin.13 Wäh- können aber ebenso zu Konkurrenten rend früher also die individuelle werden. Die Hoffnung auf Umkehr zu Autonomie zur Erlangung der ökono- den früher gegebenen Zuständen wird mischen und körperlichen Bestimmt- nicht der richtige Weg sein, um die heit bzw. Sicherheit hergegeben wer- Gesellschaft positiv zu gestalten. den mußte, ist es heute die Selbst- Wesentlich günstiger ist es, die im verwirklichung in Beruf, privatem und Wertewandel selbst liegenden Mög- öffentlichem Leben, die weithin als lichkeiten der Verbesserung des sozio- Priorität anerkannt wird. Daraus kulturellen Gefüges zu nutzen und schlußfolgert Inglehart das Prinzip, eine bestimmte Richtung der Gestal- daß je höher der Wohlstand ist, umso tung einzuschlagen. Kernaussage für mehr Vertrauen in Politik und Ver- Klages, die für die Sozialgestalt der teidigung des Status Quo.14 Und des- Gesellschaft sehr wesentlich erscheint, halb wird denjenigen Gesellschaften ist das Aufzeigen des Wandels von bis- die Zukunft gehören, denen es glückt, herigen Pflichtwerten, die immer öfter die zentrale Autorität mit der indi- zu Selbstentfaltungswerten tendieren.11 viduellen Autonomie zu einem sinn- vollen und effektiven System des Gleichgewichts zu verbinden. 1.4 Die permanente Veränderung als Erwartungshaltung der Kultureller Wandel hängt eng mit der postmodernen Menschen Frage nach dem Einzelfaktor zusam- men, der tatsächlich erklärt, was und Neben Helmut Klages, der spezifische warum dieses geschieht. Durch die Betrachtungen über den Wertewandel Interdependenz des jeweiligen Umstan- in Deutschland darstellt, ist hier auch des ist aber genau diese Anfrage kaum die Argumentation vom US-Amerikaner lösbar.15 So vollziehen sich sehr ent- Ronald Inglehart ins Feld zu führen. scheidende, aber dennoch weitgehend Seiner Ansicht nach hat sich der unbemerkte Fluktuationen mit nur Wandel in vielen Bereichen der Kultur schwer abschätzbaren Auswirkungen. vollzogen, der deutlich wird in der Ein- Als stärkste Indikatoren für die Voraus- stellung zu Arbeit, Familie und Sexua- sagen von Glück und Lebenszufrie- lität. Und es sei sogar soweit zu gehen, denheit erscheinen Elemente wie die daß die Individuen der Industriegesell- finanzielle und wirtschaftliche Situa- schaft den permanenten Wandel vom tion, die Staatsangehörigkeit und die Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 21 politische Stabilität eines Landes am einem bestimmten Zeitaum zur Welt aussagekräftigsten. Kulturen a se un- kamen) stark von denen der älteren terscheiden sich in einem Punkt ganz abweichen, ist von einem Wandel der konkret, nämlich in welchem Grade Wertprioritäten zu sprechen, wobei das Einzelglied in Offenheit über Zu- formative Erfahrungen und Erlebnis- friedenheit oder Glück reden kann, se zugrunde liegen, die vielleicht 50 denn wer mit sich selbst unzufrieden oder 60 Jahre alt sind. Obwohl nicht ist, der wird es meistens auch mit den wenige Menschen in der Postmoderne gesellschaftlichen Umständen sein.16 die eigene Vergangenheit negieren, zeigt sich an den Fakten, daß die Wenden wir den Blick auf die Person Historie unbewußt stärker in die Ge- und die sie betreffenden Wertewand- genwart hineinwirkt, als allgemein lungen. Wenn die Bedürfnisse über anerkannt. einen längeren Zeitraum stets befriedigt werden, dann setzt der Gewöhnungs- Es hat zwar noch immer den An- faktor ein, und es wachsen Menschen schein, daß die Wirtschaft in der Ge- heran, die diesem Verlangen immer sellschaft die Schlüsselrolle einnimmt, weniger Achtung zukommen lassen aber die Realität zeigt, daß sie an Pre- (Problem der Wirtschaftswunderkinder stige verliert. Hervorzuheben sind hier in der Bundesrepublik Deutschland) zwei Merkmale, die für den Imagever- und anderen Werten mehr Bedeutung lust des Ökonomischen in den Indu- zumessen. Von diesem Standpunkt aus striegesellschaften mitverantwortlich ist es richtig zu konstatieren, daß der sind. Einerseits ist es das im Sinken Wertewandel im personalen Bereich oder Stagnieren begriffene Wachstum, längerfristig in Verbindung damit zu das einen Punkt der fallenden Profit- sehen ist, auf welche Weise die Einzel- raten (in bestimmten Industriezwei- glieder der Gesellschaft nach subjek- gen) erreicht hat. Andererseits steigt tivem Wohlbefinden streben und die die Zahl der Bevölkerung nicht dem gesteckten Ziele auch erlangen.17 Vor Nahrungsmittelangebot entsprechend. allem auf längere Sicht hin gleichen Die Güternachfrage geht zurück, das sich Ansprüche an objektive Gegeben- Überangebot wächst. Als wirtschaftli- heiten an die stabilen Eigenschaften ches Grundproblem stellt sich immer (z.B. das Geschlecht eines Menschen). mehr die Organisation der modernen Wichtig scheint ebenso die Erkennt- Industriegesellschaft dar, denn je kom- nis, daß die sogenannten ‘formativen plexer das System, desto schwieriger Jahre’ eines Menschen, wo er vom ist das Durchsetzen von hierarchisch- Jugendlichen zum Erwachsenen her- autoritären Entscheidungen. Weil aber anwächst, für die Verwirklichung spä- dann die Arbeitnehmer ausgeblendet terer Wertvorstellungen ganz ent- werden, fühlen sie Entfremdung, scheidend sind.18 Der Anteil der Reduktion der Selbstverwirklichung Materialisten an der Gesamtbevölke- und ziehen innerlich aus dem Betrieb rung in den Industriestaaten ist in den aus. Innovation ist die Triebfeder der letzten 25 Jahren gesunken, im Gegen- heutigen Wirtschaft, setzt aber bei Frei- zug stieg die Zahl der ‘Postmateriali- raum, Kreativität und menschlichem sten’. Da die Auffassungen jüngerer Urteilsvermögen des Einzelgliedes im Geburtskohorten (= Menschen, die in Produktions- und Arbeitsprozeß an 22 Johannes Michael Schnarrer und ist nicht zu verordnen wie eine chen, nationalen und kulturellen Be- Dienstanweisung. Denn eine autoritä- wußtseins entsteht und andererseits re, nach Lobbies aufgebaute Atmo- durch die Globalisierung in Gang ge- sphäre bremst die Kreativität.19 Wenn setzt wird. also Prestige und Selbstverwirklichung als Werte auch in der Wirtschaft in Natürlich ist dieser Verlauf erst mög- den Mittelpunkt anzustrebender Ziele lich geworden durch die technischen rücken, stellt sich die Frage, wohin sich Errungenschaften, die es nun gilt der Wandel der Werte hinbewegt? Of- anthropologisch, d.h. dem Menschen fenbar findet ein Abwenden von der und seinen Grundbedürfnissen ent- Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft zu sprechend, nutzbar zu machen. Eben- einem neuen Typus, der Kulturgesell- so essentiell ist dieser Vorgang mit der schaft, statt, denn kulturelle Faktoren radikalen Liberalisierung und Flexi- sind es, die hohen Einfluß auf das bilisierung der Wirtschaft auf allen humane Verhalten haben und damit Erdteilen verknüpft. zu stärkeren Determinationsfaktoren werden. Mit der hier aufgeworfenen Zehn Punkte der Globalisierung21 sind Frage ist der Überstieg zum Wertewan- hier zu nennen nötig, damit später del als Teil der Globalisierung sowie noch besser der Bezug zum veränder- der Arbeitswelt (und damit auch zum ten Arbeitsmarkt hergestellt werden nächsten Punkt) bereits angedeutet. kann:

● Globalisierung der Wirtschaft ist ein 2. Arbeit im Zeitalter der Prozeß, der politische Aktionsspiel- Globalisierung räume verringert, jedoch nicht ganz eliminiert. Größere ökonomische 2.1 Die größere Vernetzung Räume erhöhen die Beeinflußbar- als Gefahr und Chance keit wirtschaftlichen Handelns. ● Im Umweltbereich22 ist es notwen- Heute ist das Wort Globalisierung, das dig, Entscheidungen über den Fort- von der französischen Zeitschrift bestand von (Regen-) Wäldern, Er- Le Monde 1996 zum Wort des Jahres zeugung von Energie, über Emis- (l’annee de la mondialisation) erklärt sionen der Industrie oder des Ver- wurde, in aller Munde. Es handelt sich kehrs nicht nur auf lokaler Ebene zu hier um eine Tendenz der Vernetzung entscheiden, sondern auch die Län- und Interdependenz, also gegenseitiger dergrenzen überschreitenden Aus- Beeinflussung und Abhängigkeit, die wirkungen mitzubedenken. wiederum gegenläufige Trends wie ● Globalisierung der Ökonomie und größere Besinnung auf kulturelle oder Ökologie muß begleitet sein von nationale Eigenständigkeit bis hin den Menschenrechten. zum Fundamentalismus in Religionen ● Durch Verhandlungen sollte die hervorbringt. Es kommt zum Kampf Kooperation, nicht nur unter wirt- der Kulturen untereinander.20 Aber ge- schaftlichen Gesichtspunkten, son- nauso groß ist die Spannung, ja das dern unter Einbeziehung aller Ebe- Konfliktpotential, das einerseits durch nen zu höherem Lebensstandard das Erstarken des individuellen staatli- überall auf der Welt führen. Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 23

● Fairer Handel muß das Ziel sein, tierende Lethargie hinter sich las- wobei der WTO (World Trade Or- sen und zu den Gewinnern des 21. ganization) eine Schlüsselfunktion Jahrhunderts zählen. Für den Ethiker zukommt, da sie weltumspannend steht bei aller Diskussion um die agiert und partikulare wie plurifor- Globalisierung die primäre Frage nach me Interessen zu vereinen hat. dem Menschen im Vordergrund. Dient ● Die EU als Einheit im wirtschaft- sie dem Menschen, ohne ihn zu über- lichen Sinne muß Übereinkünfte fordern, dann kann sie ihm nützlich und Harmonisierungen der Einzel- sein, doch gegenwärtig bleiben viele ökonomien vornehmen, um als Menschen auf der Strecke beim Begrei- Einheit interkontinental auftreten fen und Nachvollziehen der immer zu können. „schnelleren“ und schnelllebigeren ● In Europa hängt alles von der er- Gesellschaft. Der Mensch ist bei der folgreichen Reformierung des Wohl- Aufnahme der vielen Daten oder fahrtsstaates ab (Europa als Solidar- Möglichkeiten überfordert, denn die gesellschaft). Maschinen, die Computer schreiben ● Die außen- und sicherheitspoliti- im digitalisierten Medienzeitalter Ge- sche Integration Europas hat Vor- schwindigkeiten vor, die der/die ein- rang, weil dies als conditio sine qua zelne nicht mehr begreifen kann, und non für den Bestand der EU über- was nicht begreifbar ist, löst Unwohl- haupt nötig ist. seinsgefühl aus! ● Die Stärke der EU hängt ab von der Stabilisierung und Abstimmung der Wirtschafts-, Sozial-, Außen- 2.2 Die Arbeit im kommenden und Innenpolitik der Gemeinschaft, Jahrtausend wobei eine Osterweiterung nur un- ter den genannten Kriterien zu voll- Die Arbeitswelt wird zunehmend ziehen ist. schwieriger, komplexer und undurch- ● Kleinere Volkswirtschaften (wie schaubarer. Die früher gängige Rede- Österreich, Portugal etc.) könnten weise, daß eine gute Ausbildung im Rahmen der Globalisierung nur verbunden mit Fleiß und dem Erwerb mit erschwerten Bedingungen be- von Kompetenz (sprich Titel) schon stehen. Aus diesem Grund geht es die Garantieurkunde für den erfolg- besonders den kleineren Ländern reichen „Job“ sind, dies gehört heute um starke Strukturen im Europa – in den späten 90er Jahren des zwei- von morgen. ten Jahrtausends – der Vergangen- heit an.23 In der Globalisierung liegt beides: Chance und Unwohlseinsgefühl. Die Auf Dauer ist die „3-Drittel-Gesell- neuen Möglichkeiten sind positiv und schaft“ nicht finanzierbar: ein Drittel daher auch zu nutzen. Wenn man sich in Ausbildung, ein Drittel in Arbeit, auf neue Wege begibt, ins Ausland ein Drittel in Pension. Ein großes geht oder Wagnisse unternimmt, dann Problem ist bzw. war, daß die aktive ist es normal, daß das Unbekannte Lebensarbeitszeit über die letzten Unsicherheit bis Angst auslöst, aber Dekaden hinweg stark abnahm, viele wer sie bewältigt, der wird die lamen- Beamte bereits mit 50 in Pension 24 Johannes Michael Schnarrer gehen konnten; dies wird künftig (im Realsozialismus sprach man immer durch die Alterspyramide wesentlich vom Vitamin B) zu demjenigen, der anders. Die meisten Arbeitnehmer über die Einstellung eines Bewerbers sind in das Berufsleben eingestiegen, entscheidet. Aber selbst diejenigen, die wo sie am Morgen das Haus bzw. eine Stelle abbekommen haben, fragen ihre Wohnung verließen, zu einem sich angstvoll: Kann meine Firma den fest lokalisierten Arbeitsplatz mit beinharten Markt bestehen? Werden den KollegInnen fuhren, um dort die die Ausbildungsstandards auch in den Arbeit zu verrichten und dann – nach nächsten Jahren noch gelten, die man Feierabend – wieder zurückzukehren. an der Schule oder an der Universität Heute ist es vielerorts noch so, dürfte kennengelernt hat? Angst greift um sich aber künftig ebenfalls ändern. sich!

Gegenwärtig bekommen nicht nur Die Meinungen über die Zukunft die Faulen oder Unbequemen keine der Arbeit und der damit verbunde- Stelle mehr, sondern auch die Fleißi- nen Flexibilisierung sind sehr unter- gen. Jede(r) von uns kennt die Arbeits- schiedlich: losigkeit, wenn nicht am eigenen Leib erfahren, dann doch aus dem Bekann- ● Die einen meinen, es gibt genug ten- oder Verwandtenkreis. Plötzlich Arbeit, sie sei z. Z. nur falsch und greifen viele auf der Karriereleiter ins einseitig verteilt. Leere, und wer erst einmal draußen ist, ● Andere sind der Überzeugung, daß der weiß wie schwer es ist, wieder her- es genügend Stellen für Vollbeschäf- einzukommen. Karrieren sind heute de tigung nicht mehr geben wird. facto unplanbar geworden, weil es kei- ● Eine dritte Gruppe kommt zur Auf- ne sicheren Posten mehr gibt, es sei fassung, daß es zu einer Umwertung denn man wird Staatsbeamter, obwohl des Arbeitsbegriffs kommen müsse, auch dort heutzutage das Unterkom- der die Arbeitslosigkeit entdramati- men viel schwieriger ist als in den ver- siert und unbezahlte Tätigkeiten gangenen Jahren, und viel weniger (wie z.B. Arbeit der Frau im Haus- verbeamtet wird. halt) anerkennt und der Lohnarbeit gleichstellt. Die Jugend ist besonders betroffen. Sie ● Viertens gibt es eine Reihe von Ex- sieht sich einer kaum durchschaubaren perten, die die Lösung der Arbeits- Arbeitswelt gegenüber, nur wenige losigkeit im Erschließen neuer Bran- offene Lehrstellen für Handwerker chen und Gebiete suchen (z.B. mit (Ausnahme bilden da noch eher un- dem größeren Ökologiebewußtsein beliebtere Branchen); Absagen bei Be- wächst der Sektor der Umwelttech- werbungen ist zum Normalfall gewor- nologie). den. Ein ähnliches Bild zeigt sich an den Universitäten: Viele Studenten Nicht selten treten Zukunftsforscher sind inskribiert und bleiben stecken im auf, die uns ein „himmlisches In- Ausbildungskanal, sehen sich einem formations- und Medienzeitalter“ pro- weithin gedeckten Arbeitsmarkt ge- phezeien, wobei wir uns im Zeitalter genüber, wo oft nicht mehr Leistung der friedlichen Technologie- und Digi- zählt, sondern nur noch Beziehungen talrevolution befinden, an deren Aus- Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 25 gang (des Tunnels) noch besserer Le- zum Durchschnittsleben gehören und bensstandard und mehr Arbeit, wahr- als schöpferische Pause verstanden wer- scheinlich in einem anderen als dem den, zum Luftholen in einem Prozeß, herkömmlichen Gesicht, zu erwarten bei dem der einzelne gefordert ist, stets sind. Künftig dürfte es eine immer ort- voll da zu sein und 100 % zu leisten. In loser werdende Welt geben, in der Fle- dieser Zeit werden Chancen der Wei- xibilität zum Durchschnitt wird. Unser terbildung zu nutzen sein, ebenso wie System des Wirtschaftens wird in we- das Überdenken von Karriere und die nigen Jahren kaum noch zu erkennen Planung bzw. Nutzung neuer Möglich- sein. Lokalität im Sinne von Verortung keiten. Ebenso wird der Lohn viel stär- verliert völlig an Bedeutung, da glo- ker als bisher variieren. bale Vernetzung und technologischer Fortschritt, Entfernungen, Distanzen Arbeit wird es künftig geben, aber nur und damit den Abstand von zwei für diejenigen, die gut ausgebildet, Punkten innerhalb der Welt in Bruch- engagiert und die unschematisch zum teilen von Sekunden überwindet, da- Denken bereit sind, die Talent haben her kann in Zukunft überall alles und die Fähigkeit zur dem Markt geschehen, zwar zeitzonenbedingt entsprechenden Wandlung besitzen. versetzt, aber doch gleichzeitig. Neu Die Wahl wird größer sein in der Form ist, daß jede(r) zu jedem(/r) in Konkur- der Arbeit, wo, wann, wie und mit wem renz steht, wie sich jede(r) mit je- man zusammenarbeiten will. Branchen, dem(/r) zu einer Koalition verbinden die künftig boomen werden, sind: kann. Nur die Firmen, Unternehmen Mikroelektronik, Biotechnologie, neue und Konzerne, die in diesem ortlosen Materialindustrie, zivile Luftfahrt, und doch auch gleichzeitig verorteten Telekommunikation, Computer- und Konkurrenzkampf (da überall in der Werkzeugmaschinenindustrie in Ver- Welt andere Ausgangsbedingungen bindung mit Robotertechnik.25 Der/die vorhanden sind) am schnellsten, ko- Computerspezialist(in), der/die Frucht- stengünstigsten und qualitativ hoch- barkeitsexperte(in) (viele Frauen wol- wertigsten auf Angebot und Nachfrage len immer später Kinder gebären), reagieren, werden den Kampf bestehen der/die Vernetzungsmanager(in), der/die und überstehen. Was ist also nun ge- Planungsforscher(in) und der/die Wirt- fragt? Die sinnvolle und logistische schafts- bzw. Finanzstratege/in, der in- Verknüpfung von Know-how, Kreati- ternationale Ökologietechnologe/in so- vität, Flexibilität und dem Willen, stets wie der/die Personalberater(in) werden das Wissen zu erweitern und auf den auch in der nächsten Generation ge- neusten Stand zu bringen. fragt sein. Wer nicht flexibel sein will oder kann, wird zu den Verlierern ge- Daß Flexible sich einstellen können hören. Mit der permanenten Unsicher- auf die neue Marktsituation, zuerst heit werden wir leben lernen müssen. Kommen und Investieren und die Viele nutzen die Trends und machen Marktlücke entdecken, sind Voraus- ihr Glück, viele aber auch nicht, weil setzungen für den Erfolg, sowohl für sie es physisch, psychisch, materiell den Unternehmer als auch für den Ar- oder kulturell nicht schaffen kön- beitnehmer. Ebenso dürfte Arbeitslo- nen, mit dieser rasanten digitalisier- sigkeit,24 wenn auch nur kurzzeitig, ten TechnoComputerwelt mitzuhalten. 26 Johannes Michael Schnarrer

Einige Fragen bleiben offen: Ist es sinn- Eine digitale Revolution muß humanen voll, sich gegen diese Tendenzen auf- Charakter haben. Sie ist bereits im zubäumen? Was kann die Politik tun? Gange und beschleunigt gesellschaft- Werden wir unter dem Überhandneh- liche, kulturelle, politische und tech- men wirtschaftlicher Kriterien alle zu nologische Entwicklungen. Diese neu- Egoisten? Was können die Sozialpart- en Bewegungen sind aber für den ner, die Interessenverbände, die Ge- Menschen nicht mehr oder kaum werkschaften tun, damit der Mensch noch nachzuvollziehen.27 Kurz sind nicht auf der Strecke bleibt? Gegen- folgende wirtschaftliche Trends noch- wärtig sehe ich eine paralysierte Ge- mals konstatierbar: Vernetzung und sellschaft, die nicht so recht weiß, wo Interdependenz der Ökonomien, Li- man hin möchte. Eines bleibt je- beralisierung und Deregulierung bei denfalls als Forderung bestehen, aus gleichzeitiger Überprüfung der Hierar- der Sicht der Ethik, nur das, was dem chien (denn es entstehen neue) sowie Menschen dient, ist akzeptierbar und Trennung der Finanz- von den Pro- gehört weiterentwickelt. Aber weil duktmärkten. Der Unternehmer der vieles ambivalent geworden ist, gerät Zukunft liefert bisher vorenthaltene auch die Ethik selbst unter Erwartungs- Auskünfte, er wird ermöglichen, nicht druck, denn oft sind technische oder aber vereinnahmen! Er schafft Werte sozialpolitische Errungenschaften dem außerhalb des Marktes, denn dessen Menschen dienlich als auch gegen Kriterien sind nicht exklusiv (z.B. ihn gerichtet (z.B. Kernspaltung: als Stadtsanierungen erhöhen den Kultur- Energieträger nützlich, als Atomwaffe und Lebenswert einer spezifischen menschenvernichtend). territorialen Umgebung).28

Daraus ergeben sich die Auswirkungen 2.3 Flexibilisierung der Arbeit in der mit den Informationstechnologien der Mediengesellschaft26 verbundenen Zusammenhänge: Stei- gerung der Lebenserwartung und des Es geht zunächst um die Verdeut- -standards, verstärkte Möglichkeiten lichung des Wertes Arbeit, denn diese zur individuellen Lebensgestaltung, leistet einen Beitrag zur wirtschaft- Reduzierung der zwischenmenschlichen lichen Existenzsicherung, zur Heraus- (direkt-persönlichen) Kommunikation, bildung von Wohlbefinden und Wandel in Arbeit und Privatleben so- Selbstbewußtsein, zur Gemeinschafts- wie höhere Partizipationschancen am bildung. Arbeit ist Konstitutivum Informations- und Konsumangebot. menschlichen Seins (normalerweise). Die bereits genannten Veränderungen Bei diesen Tendenzen gibt es aber auch der Arbeitswelt greifen ein in die Ge- Gefahren, die in der Aufspaltung der staltung des Lebens, deshalb verschiebt Informationsgesellschaft in Gewinner sich die Arbeitswelt und mit ihr die und Verlierer, in Partizipierende und Konsumsphäre, das Bildungs- und Ge- Nicht-Partizipierende, in Informierte sundheitssystem, das Leben und die und Nicht-Informierte, in bezahlte Organisierung in der Familie und Arbeit Verrichtende und denen, die ebenso wird das politische System ver- keiner bezahlten Arbeit nachgehen ändert bzw. wandelt es sich selbst. können, liegen. Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 27

Die veränderten Konditionen der Der Kerngehalt der Lohn- und Ge- Mobilität und Flexibilität, der neuen haltsentgeltbedingungen darf nicht Formen der Arbeit und der Gesell- für eine kleine Gruppe, die zur schaft, die nun digitalisiert genannt elitären wird, gelten, sondern muß werden, führt zu neuen Belastungen nach wie vor jedem Arbeitnehmer zu- in der Arbeitswelt, zu Veränderun- kommen. gen in der Lebensperspektive der Person, zur größeren Forderung der Ebenso ist über die Gruppe der Be- Verfügbarkeit über die Arbeitskraft amten nachzudenken, die künftig des Menschen und zu neuer Selbst- mehr danach bezahlt werden sollten, ändigkeit (z.B. durch Telearbeit). was sie tatsächlich und abrechenbar geleistet haben. Die Flexibilisierung Diese Veränderungen in der Arbeits- der Arbeit sollte allen dienen und eine welt haben auch Auswirkungen auf stabile Basis besitzen, denn nur so die Werthaltungen der Menschen können die gesellschaftlichen Ziele, und der gesamten Gesellschaft: Eine die Durchsetzung von Solidarität und stärkere Individualisierung führt zur Subsidiarität, der Partnerschaft und Differenzierung nach Lebensstilen Chancengleichheit, der Massenkauf- und zum allgemeinen Wertewandel kraft und damit verbunden der wirt- (z.B. in der Sicht von Ehe und Fami- schaftlichen und sozialen Stabilität, lie). Der Wandel in der Arbeitswelt verwirklicht werden. bedingt unterschiedliche, ungleich- zeitige, regionale und graduelle Be- Was es auch weiterhin braucht, das troffenheiten von Arbeitnehmern. sind: Kollektive Interessenvertretun- Hieraus erwächst die Aufgabe vor gen! Denn wenn man die vielen Ele- allem für die Politik, sich mit den mente des Wandels aufzeigt, müßte neuen sozialen Notwendigkeiten und man auch fragen, was denn noch humanen Betroffenheiten so zu be- stabil bleibt bei aller Verände- fassen, daß möglichst niemand aus- rung. Dieser Wandel bedeutet aber gegrenzt wird. z.B. noch keine Veränderung in der Verhandlungsmacht des/der einzel- Abzulehnen ist die Flexibilisierung nen. der Arbeitsbedingungen als Schrumpf- ideologie des Abbaus von Mindest- So sehen sich die Interessensvertre- standards, welche in jahrzehntelan- tungen (z.B. der Arbeitnehmer) einer gem Ringen sowie Durchsetzen von großen Aufgabe gegenüber, nämlich Arbeitnehmerinteressen erkämpft wur- der Mitgestaltung und Mitsteuerung den. Dagegen ist durchaus die Diskus- der Gesellschaft der Zukunft, der sion zu führen über einzelne Teile Evaluierung von Chancen und Ri- des Mindeststandards, die über dem siken, der Bewertung von Positionen, Durchschnitt liegen. Konkrete Anreiz- der aktiven Partizipation im Wand- und Belohnungselemente in der Wirt- lungsprozeß, nicht zuletzt aber – und schaft bzw. Produktion für den Erfolg das bleibt eine Hauptaufgabe – in der Arbeit müssen erhalten bleiben, Sicherheit für die Betroffenen in- weil die Maßnahmen nicht gegen das soweit zu vermitteln, wie es notwen- Leistungsprinzip zu gestalten sind. dig ist. 28 Johannes Michael Schnarrer

3. Mögliche Auswege aus der ist. Aber die Würde des Menschen be- Vergeblichkeit? – Ansätze zum deutet ihm, nicht alles zu tun, ja vor Gebrauch der Freiheit in der allem das Böse zu meiden, dagegen pluralistisch/offenen Gesell- aber in freier und bewußt verantwort- schaft der Postmoderne licher Aktionswahl zu handeln, nicht jedoch durch blinden Drang und 3.1 Freiheit und Risiko als knechtliche Leidenschaften motiviert.29 Verantwortungsgrößen Papst Paul VI. sagt dazu, daß der Zunächst will ich am Beginn des dritten Mensch weder dem atheistischen Ma- Teiles einige Schlüsselbegriffe nennen, terialismus und seiner Dialektik der die mir hinsichtlich der Skepsis, der Gewaltsamkeit – wie er die persönliche Freiheit, wichtig sind, da wir nun zum Freiheit des Menschen in der Gemein- Schlußteil kommen und praktische schaft aufgehen läßt und ihm den Verhaltensfragen ansprechen, die mit transzendenten Bezug abspricht – fol- dem Umgang der Freiheit zu tun gen kann, aber „ebenso wenig kann haben. Einer davon ist das „Risiko“, der Christ der liberalistischen Ideologie denn wir leben nach dem Münchner beipflichten, die einseitig die Freiheit Soziologen Ulrich Beck in der „Risiko- der Person überbetont, sie von jeder gesellschaft“. Landläufig wird das Ri- Bindung an Normen lösen möchte, siko mit Wagnis, Unwohlseinsgefühl nur aufstachelt zum Erwerb von Besitz bei einer Entscheidung, Gefahr oder und Macht, die sozialen Beziehungen unabschätzbaren Folgen eines Sach- der Menschen fast nur als sich von verhalts, eines Prozesses oder einer selbst einstellende Ergebnisse der pri- Handlung umschrieben. Aber die vaten Initiativen ansieht, nicht aber als Übernahme eines Risikos ist mit der Ziel und als das Merkmal, wonach die Verantwortung des einzelnen verbun- Würde einer wohlgeordneten Gesell- den, weil die Abschätzung dieses Risi- schaft beimißt.“30 kos ein bewußtes Abwägen mit sich bringt, das in der Entscheidung oder Freiheit, Pluralismus, Selbstentfaltung Urteilsfällung gipfelt. Skepsis in diesem und Marktwirtschaft sind Konstitutiva, Sinne entsteht, wenn die Risken kaum ja hochgeschätzte Werte des heutigen evaluierbar erscheinen. demokratischen Systems. Was aber innerhalb des Freiheitsverständnisses Andererseits gilt: nur in Freiheit kann häufig übersehen wird, das ist auf der sich der Mensch nämlich zum Guten einen Seite die Endlichkeit mensch- entscheiden, nach dem er die Aristo- licher Freiheit, und auf der anderen telische Folge von Sehen-Urteilen- Seite ist es die Kurzfristigkeit, nichts Handeln geleistet hat. Freiheit wird verpassen zu wollen. Deshalb entsteht von den gegenwärtigen Generationen das schwebende Gefühl, sich nicht hoch geschätzt und mit Leidenschaft festzulegen, da dies Eliminierung, d.h. eingefordert. Jedoch wird die Freiheit Verabschiedung von anderen Möglich- zur Willkür, wenn sie zur Berechtigung keiten bedeuten würde. Die Heimat- mißbraucht wird, alles nach Beliebig- losigkeit, die Relativierung aller Werte, keit zu tun, wenn es nur eine Steige- das Ungesichertsein und die Hinter- rung des Lustgewinns (Hedonismus) fragung jeder Pflicht führen zu einem Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 29 permanenten „Schwankzustand” des In der Leistungsgesellschaft stellt sich Hin-und-Hergerissen-Seins. das Problem der Freiheit und ihrer Nutzung auf pluriforme Art und Weise. Aber, wenn es bedeutet, daß unsere 3.2 Freiheit und Vernunft- Freiheit endlich und begrenzt ist, dann gebrauch heißt es auch, daß die Einzelperson nicht alles können und tun muß. Der Aber die Freiheit ist nicht nur die Ein- Mensch muß und soll nicht sein wie sicht in die Notwendigkeit nach Hegel, Gott, sondern sollte sich eher darauf sondern auch die Fähigkeit zur Di- beschränken, seine Endlichkeit und stanznahme, die, wenn sie mitein- Geschöpflichkeit anzunehmen, die ander verbunden werden, die Vernunft- Probleme der Freiheit durch sie und in und die Einsichtsfähigkeit in Inter- ihr zu lösen und Energien darauf zu dependenz erkennen lassen, denn so verwenden, diese Freiheit zur verant- ist zu folgern: freies Handeln ist Wir- wortungsvollen Mitgestaltung der Welt ken in Zuhilfenahme der Vernunft. zu nutzen, was wiederum ein hohes Diese Vernunft aber ist es wiederum, Maß an Einsatzbereitschaft und Selbst- die die Einzelperson in Freiheit ver- kontrolle fordert. Wirkliche Freiheit im setzt. Die Fähigkeit zur Freiheit, zur Di- christlichen Sinne entspringt in der stanz, zur Übernahme von Verantwor- Nachfolge Christi, in der frei gewähl- tung, zum Verständnis der Dinge, diese ten Bindung an die Botschaft Jesu des Fähigkeit entsteht nicht durch das Gottmenschen. Dagegen de-solidarisiert Begegnen mit den Objekten allein, die Hinorientierung zur Diesseitigkeit sondern durch den befruchtenden Aus- nachweislich.33 tausch mit dem Du, in der Begegnung mit dem Subjekt, mit dem Du-haften, nämlich dem, was da an interpersona- 3.3 Die Entscheidung auf Dauer ler Gemeinschaft entsteht – durch un- als Problem in der heutigen ser Personsein, denn dem Raum der Zeit Freiheit, der menschliche Entscheidun- gen zuläßt, kommt die Dimension der Als eines der größten Probleme unserer Zwischenmenschlichkeit zu31. postmodernen Epoche kristallisiert sich die Frage heraus, die die Freiheit, So kann sich Freiheit erst dann entfal- die Verantwortung und das Risiko ganz ten, wenn das individuell personale wesentlich betrifft: die Entscheidung Subjekt gelassen wird, wenn ihm das auf Dauer. Sie scheint in allen interper- Dasein gegönnt und gewünscht wird, sonalen Beziehungsgefügen mensch- wenn die Freude am Sein des anderen licher Zusammengehörigkeit die Haupt- offenkundig wird, denn es ist conditio schwierigkeit zu sein. Dauerhafte Bin- sine qua non, daß sich nur überall dungen werden eher suspekt be- dort, wo menschliches Sein gelassen trachtet, da die Gesellschaft ein Mehr wird, wo es aus Fesseln befreit wird an Individualisierung und Privati- und wenn grundsätzliches Vertrauen sierung heraufbeschwört (und in der entstanden ist, entfaltete Freiheit her- Wirtschaft oftmals geradezu fordert). vorsprießt und zum Segen für sich und Außerdem wird die Dauerhaftigkeit, andere wird.32 die die Kompromißfähigkeit und eine 30 Johannes Michael Schnarrer erhöhte Toleranzbereitschaft voraus- Abwägen, seinem Zögern, seinem Tun setzt, im öffentlichen Leben mehr oder Lassen, vollzieht oder eben geduldet als wirklich unterstützt. Aber auch unterläßt. Für die Entscheidung die Sehnsucht nach Geborgenheit und braucht es aber auch Reife, klaren Ver- Zugehörigkeit bleibt bestehen, wohl stand und die Erkenntnis ermög- aber nicht die Bereitschaft, Konse- lichende Ruhe, die Meditation und quenzen für eine lebenslange Bindung nicht zuletzt das Gebet, das die Unter- übernehmen zu wollen.34 scheidung der Geister in einer „immer lauter werdenden Welt“ zuläßt und Damit verbunden ist das Erschweren den einzelnen hierfür befähigt. (kirchlicher und) prinzipiell auf Dauer angelegter Lebensformen wie Ehe, Priestertum und Ordensleben. Denn 3.4 Auswege aus der Skepsis – die Probleme der Angst vor Bindun- einige Postulate36 gen, die sich in Bindungslosigkeit äußern, der Krisen in Ehe und Priester- ● Wir müssen wieder mehr ganzheit- tum, haben die gleichen Ursachen. lich denken und dürfen nicht dem Einerseits mag die Frage erlaubt sein, Trend weiterer Zergliederung folgen. welche der Formen unwiderruflich Zergliederung ist legitim, wenn es lebenslang und auf Dauer angelegt um Analysen unseres Daseins geht, sein müssen; und die andere Frage ist um Fehlersuche und Korrektur. Aber die, wieviel Wandel dem Menschen Skepsis entsteht dann, wenn zu anthropologisch zuzumuten ist. Denn vereinzelt und überzogen gedacht Lebensformen werden nicht außerhalb wird, ohne den Kontext zu sehen der Welt und der Gesellschaft gewählt und das, was alles möglich ist, und gelebt, was in jedem Nachdenken welche Auswege bestehen. Es ist ein über Veränderung seine Berücksich- Problem unserer Zeit, daß Vereinze- tigung finden sollte. Es muß darum lung, die in der Wissenschaft und gehen, die Freiheit bewußt zu bejahen, der Analyse Berechtigung findet, anzunehmen und in die Bindung an das Privatleben dann erschwert, den Freiheitswillen Gottes zu stellen, wenn das Gemeinsame aus dem in die Nachfolge des freien und zu- Blick verloren geht. gleich befreienden Jesus von Nazareth. ● Was wir benötigen, ist nicht nur Christen sollten sich darüber im kla- die Reform der Gesinnung und ren sein, daß sie freier sind „als jene, des Bewußtseins, sondern auch der die eine Freiheit ohne Bindung oder Zustände, der Institutionen und eine Bindung ohne Freiheit anstreben.”35 Systeme. Skepsis, die der Freiheit abträglich ist, entsteht nämlich Die Freiheit, die Entscheidung auf auch, wenn sich der Einzelbürger Dauer und die Risikoabschätzung, einer Maschinerie und Bürokratie brauchen die Verantwortung als kor- ausgesetzt sieht, die im Sinne eines respondierendes Element in der Ent- Apparates wirkt: Der einzelne wird scheidungssituation, denn der Mensch zum Rädchen im System. Das kann nur so die ihm gemäße Wahrheit plastische Negativbeispiel dafür ist erlangen, die ihm das Glück zu ver- der Kollektivismus, den die Mittel- mitteln ermöglicht, was er mit seinem und Ostdeutschen selbst erlebt Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 31

haben, wo das Einzelinteresse per- möglichst breite Basis erhalten. Die manent unterdrückt wird, um in Durchsetzung der positiven Inter- einem „schwammigen Gesellschafts- essen kann nämlich nur gelingen, interesse einiger, weniger Eliten” wenn eine breite Schicht davon aufzugehen. Dahinter steht gewöhn- überzeugt ist, daß es gut sein wird lich ein sehr bestimmtes Menschen- und zur Humanisierung beiträgt. bild, denn der Realsozialismus ist Dies ist ein wenig mit „Selbsthilfe- gerade daran gescheitert. gruppen“ zu vergleichen, die das ● Globalisierung und Vernetzung sind Ziel der gegenseitigen Stärkung nur dann verantwortbar, wenn sie haben und somit in schweren Zei- dem Menschen dienen und er sie ten die ausgestreckte Hand des nachvollziehen kann, was geschieht. anderen als Hilfe erfahren. Skepsis in diesem Sinne ist der Um- ● Skepsis kann überwunden werden schlag von Wissenschafts- und Fort- durch Vertrauen, durch Verantwor- schrittsgläubigkeit in die Frustra- tung derer, die in Gesellschaft, Staat, tion, weil nicht mehr alles über- Wirtschaft und Kirche etwas zu schaut werden kann.37 entscheiden haben und wo der ● Es braucht Mut, sich festzulegen. Normalverbraucher das Gefühl hat, Dieser Mut, der zur Skepsisbewäl- daß es hier nicht um egoistische tigung notwendig ist, kann aber Interessen einzelner Würdenträger, durch den Aufbau eines gesunden Abgeordneter und Topmanager und nicht überzogenen Selbst- geht, sondern um das Gemeinwohl bewußtseins erreicht werden. Zu aller, auch des „kleinen Mannes“ diesem Aspekt kommt die Gelassen- auf der Straße. Und aktive Christen heit als wesentliches Element hinzu, müssen sich einmischen in der denn vieles wird heute unter Zeit- Gesellschaft, wenn echte Werte in oder Finanzdruck getan, was aber der Gesellschaft verlustig zu gehen oft an der „Reifung” vorbeigeht. drohen. Denn Gerechtigkeit und Dies ist wie mit Wein, der zu früh deren Vollzug beginnt bei jedem geerntet wird und so sauer bleibt. einzelnen.38 ● In Zeiten der wirtschaftlichen Re- ● Besonders auf die Sinnfindung und zession ist es nicht leicht, Dinge Wertvermittlung kommt es an, in positiv zu sehen. Aber nur, wenn es dieser so freien und orientierungslos gelingt, nicht nur vom halbleeren gewordenen Gesellschaft, wo viele Glas Wasser, sondern vielmehr und aufgegeben haben, sich ein Ziel zu besser, vom halbvollen Glas Wasser setzen. Aber nur durch die Verfol- zu sprechen, wird die Stimmung in gung von Zielen können Sinn und der Gesellschaft wieder besser. Und Wert wieder neu entdeckt werden dieses Bild der Gesellschaft bestimmt und helfen, die Probleme des Alltags, jeder selbst mit. Wenn also von die mit Skepsis verbunden sind, zu „Miesmacherei“ die Rede ist, dann bewältigen, ja die negativ aufgestau- müssen wir uns selbst immer fra- ten Aggressionspotentiale in positi- gen, ob wir nicht daran auch schul- ve Energien umzumünzen. Bei psy- dig sind. chisch Labilen ist die Stärkung des ● Positive Interessen sind zu bündeln Ichbewußtseins vordringlich, damit und so zu unterbreiten, daß sie eine Skepsis überwunden werden kann. 32 Johannes Michael Schnarrer

● Krise der Werte heißt, daß wir aus ● Die Krise der Werte besteht vor der linearen Welt hinausschreiten allem auch darin, daß konventio- in die techno-imaginäre Welt der nelle Texte vieler über Jahrhunderte Modelle, den sicheren Raum ver- entwickelter Generationen plötzlich wurzelter Heimat verlassen, um das durch Überschreitung dieser zu Cyber-Space-Zeitalter in der Ort- Modellen und zu Bildern werden, losigkeit des Beliebigen zu bewäl- aber nicht mehr gedeutet werden tigen. Das Revolutionäre ist dabei können, weil die Basis-Codes feh- nicht die Dynamik schlechthin, len. So wird der Mensch zum Un- sondern vielmehr, daß es sich nur wissenden seiner eigenen Umwelt. noch um Modelle, um Hilfskon- Er kennt sie nicht mehr wieder; und struktionen handelt, die uns das was der Mensch nicht kennt, ist für Da-Sein im Leben erklären wollen, ihn ein Angstfaktor: Angst im eige- womit aber permanent die Rollen nen Zuhause! Der Ausweg aus dieser von Wirklichkeit und Schein- Form der Skepsis wäre mit Wissen Wirklichkeit so vertauscht werden, und Informationsvermittlung, mit daß man am Ende das eine nicht dem Wiederentdecken von verloren mehr vom anderen trennen kann. gegangenen Werten zu beschreiben, Als Beispiel könnten hier die damit der Mensch nicht entfremdet Computerspiele aufgeführt werden, werde, sondern wieder die innere wo schon die Kinder Realität mit und äußere Heimat bekommt, die Schein verwechseln (lernen!) und ihn zum wahren Humanum führt. geradezu in diese Richtung erzogen Und nur so wird Europa eine „neue werden. Seele” erhalten können!

Anmerkungen 1 Vgl. Johannes Michael Schnarrer; Art. fluß auf die konkrete Ausgestaltung der „Globalisierung contra Regionalisierung geltenden Vorschriften für das Handeln – Auf dem Weg zu einer neuen Weltwirt- (= Normen) das Handeln der Mitglieder schaftsordnung“; In: Wiener Blätter zur einer sozialen Einheit mitbestimmen und Friedensforschung Nr. 83. Wien 2/1995; 47 das Handeln der einzelnen im gemein- – 59. schaftlichen oder gesellschaftlichen Ver- 2 Leider wird es mir nicht möglich sein, in- band aufeinander abstimmen, so soziales nerhalb dieses Beitrags auch auf die Prin- Handeln ermöglichen und zur Verwirk- zipien der Soziallehre einzugehen – das wä- lichung sozialer Einheit beitragen.“ Vor re ein Thema eines weiteren Vortrags. allem in der Selektionsphase ist dies 3 Vgl. auch: Leopold Neuhold; Wertwandel mit der konkreten Entscheidung verbun- und Arbeit. Schriften des Dr.-Karl-Kummer- den, wobei die Richtlinien als Orientie- Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform rungsindikator auftreten und so zur ver- in Steiermark; Graz, 3/1989; 2; Vgl. Ders.; antwortlichen Entscheidung hinführen Wertwandel und Christentum. Linz 1988; können. 16f; Werte sind zu verstehen als: „... allge- 4 Vgl. Helmut Klages; Art. „Werden wir alle meine, relativ dauerhafte, gesellschaftlich zu Egoisten? Über die Zukunft des Werte- überformte, in einer sozialen Einheit zu- wandels“ In: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. mindest teilweise geltend …, von Mitglie- (Hg.); Politische Studien. Nr. 336; Mün- dern der sozialen Einheit ganz oder we- chen, Juli/August 1994; 35 – 43. nigstens teilweise internalisierte, d.h. ins 5 Vgl. ebd. 35f.. Persönlichkeitssystem eingefügte oder zu- 6 Vgl. ebd. 36f.. Der hier angeführte Katalog mindest internalisierbare Maßstäbe für kann jedoch nicht Anspruch auf Vollstän- seinsollende Gegenstände, Zustände oder digkeit der vielfältigen Wandlungs- und Handlungen, die zumindest über den Ein- Problemaspekte erheben. Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 33

7 Vgl. ebd. 38f.. Kreisky-Preises für das politische Buch am 8 Vgl. Dietmar Mieth; Artikel „Leiden am 22.1.1997 in Wien gehalten. Konsumismus – eine Predigt für Mitbe- 22 Vgl. Johannes Michael Schnarrer; Art. troffene.“ In:. München 1991; 80 – 88. „Die ökologische Debatte als Prüfstein der 9 Vgl. Werner Maihofer; Vortrag „Grund- Verantwortung – Der Umgang mit Wer- werte heute in Staat und Gesellschaft.“ ten und Gütern.“ In: Agemus. Mensch In: Günter Gorschenek (Hg.); Grundwer- und Umwelt; Nr. 43/April 1996; 9 – 12. te in Staat und Gesellschaft. 3. Auflage 23 Vgl. Elfi Thiemer; Art. „Kreative machen München 1978; 88 – 102. ihr Glück.” (Arbeiten im 21. Jahrhun- 10 Vgl. Franz Alt; Frieden ist möglich – Die dert); In: Die Furche. Nr. 47/21. Novem- Politik der Bergpredigt. München o. J.; ber 1996, 1. besonders: 81 – 125. 24 Vgl. Art. „Entspannung am Arbeitsmarkt 11 Vgl. Helmut Klages; Wertorientierungen ab dem Jahr 1999.“ In: Die Presse. Wien, im Wandel – Rückblick, Gegenwartsana- am 25. Jänner 1997; 21. lysen, Prognosen. Frankfurt/M. 1984. 25 Vgl. Johannes Michael Schnarrer; Arbeit 12 Vgl. Ronald Inglehart; Kultureller Um- und Wertewandel im postmodernen bruch – Wertwandel in der westlichen Deutschland – Eine historische, ethisch- Welt. Frankfurt/M.,New York 1989; 56. systematische Studie zum Berufs- und Ar- Hier gibt Inglehart Ergebnisse einer beitsethos. Hamburg 1996; 240 (Anm. Studie wieder, die die Bundesrepublik 686; zit. nach: Lester Thurow; Head to Deutschland betrifft (1981/1982): 3% head. New York 1993; 45). der Bevölkerung traten demnach für 26 Vgl. Eleonora Hostasch; Plenum-Leben, einen radikalen (=revolutionären) Wan- Arbeiten und Lernen in einer digitalisier- del ein; 59% für allmähliche Reformen ten Gesellschaft. Alpacher Technologie- und 38% für die Beibehaltung des Status gespräche 1996 „Netzwerke“. Quo in der bestehenden Gesellschafts- 27 Vgl. Art. „Tempus-The Club to Retard ordnung. Time.“ In: Die Universität – Zeitung der 13 Vgl. ebd. 12. Universität Wien. 3/96; Wien, Oktober 14 Vgl. ebd. 56. 1996; 2f (zit. nach: Johannes Michael 15 Vgl. ebd. 23. Als Beispiel wird erwähnt, Schnarrer (Hg.); Gemeinwohl und Ge- was z.B. der Grund für den Olympiasieg sellschaftsordnung. Wien 1997; 180). Mit von Carl Lewis 1984 im 100-Meter-Lauf Hilfe von Professor Heintel ist ein Verein war: der Körperbau, die Vorbereitung, die entstanden, der sich mit der Verlang- Motivation, die Lunge, die Taktik im Fi- samung der Zeit beschäftigt – als Ge- nale? Erst alles zusammen und die Fähig- genbewegung zur Verschnellerung der keit, aus den Einzelfaktoren eine gute Zeit. Synthese zu erstellen, entschied über den 28 Vgl. Matthias Mander; Art. „Humanität – Sieg. Ähnlich dürfte es im gesellschaftli- substanzloser Titeltrick.“ In: Die Furche. chen Bereich sein. Nr. 49/4. Dezember 1997, 12. 16 Vgl. ebd. 303ff.. So ist es interessant, daß 29 Vgl. II. Vaticanum (Hg.); Gaudium et Kulturen mit strengen Normansprüchen spes. Nr. 17; Rom 1965. überproportional hohe Selbstmordraten 30 Papst Paul VI. (Hg.); Octogesima adveni- zu verzeichnen haben. ens. Nr. 26; Rom 1971. 17 Vgl. ebd. 269ff.. 31 Vgl. Martin Buber; Ich und Du. Heidel- 18 Vgl. ebd. 213ff.. Inglehart geht davon aus, berg 1958; 29. Buber beschreibt hier, daß die Betätigung des Vaters, was dieser wie ein Ichbewußtsein erst durch andere für einem Wirken nachging, als die Kin- entsteht, wobei der verantwortungsvol- der zwischen 10 und 18 Jahren alt waren len Korrektur große Aufmerksamkeit zu sowie der höchste Schulabschluß des schenken ist. Denn der Mensch wird am Vaters ganz eminent für die eigenen Ent- Du zum Ich. „Gegenüber kommt und scheidungen und den in der Zukunft ver- entschwindet, Beziehungsereignisse ver- tretenen Wertvorstellungen indikatorisch dichten sich und zerstieben, und im sind. Wandel klärt sich, von Mal zu Mal wach- 19 Vgl. ebd. 494ff.. send, das Bewußtsein des gleichbleiben- 20 Vgl. dazu: Hans Maier; Vortrag: „Viele den Partners, das Ichbewußtsein. Zwar Kulturen – eine Welt“; gehalten am 28.11. immer noch erscheint es nur im Gewebe 1996 in Wien (Akademie der Wissen- der Beziehung, in der Relation zum Du, schaften). als Erkennbarwerden dessen, das nach 21 Vgl. dazu: Hannes Swoboda; Vortrag: dem Du langt und es nicht ist, aber im- „Europa als globale Kraft.“ Der Vortrag mer kräftiger hervorbrechend, bis ein- wurde im Rahmen der Verleihung des mal die Bindung gesprengt ist und das 34 Johannes Michael Schnarrer

Ich sich selbst, dem abgelösten, einen Gegenbewegungen zu konstatieren sind. Augenblick lang wie einem Du gegen- 35 Thomas Gertler; Art: „Freiheit aus Ent- übersteht, um alsbald von sich Besitz zu schiedenheit.“ In: Geist und Leben. Heft ergreifen und fortan in seiner Bewußtheit 3-94; Würzburg 1994; 161 – 172; hier: in die Beziehungen zu treten.“ Es geht 172. also um einen Prozeß, der von sich be- 36 Johannes Michael Schnarrer; Art. „Aus- gegnenden Personen bestimmt wird. weg aus der Skepsis: Welche Freiheit in 32 Vgl. Hermann Lübbe; Fortschrittsreaktio- der pluralistischen Gesellschaft?“ Stu- nen. Graz, Wien, Köln 1987; besonders: dentenkonferenz der Katholischen Hoch- 206 – 217 (Preis der Freiheit). schulgemeinde Wien zum Thema „Frei- 33 Vgl. Paul M. Zulehner; Vom Untertan heitsillusionen“, am 11. Oktober 1997. zum Freiheitskünstler. Wien 1991; 236ff. 37 Vgl. dazu die höchstinteressanten Aus- 34 Vgl. Paul M. Zulehner/Hermann Denz; führungen von Pater Johannes Scha- Wie Europa lebt und glaubt. Düsseldorf sching, SJ; Art. „P. Schasching zur Globa- 1993; 245f. Zwar sehen Zulehner und lisierung – Soziale Zügel für den Denz nicht den Single-Haushalt als die Weltmarkt.“ In: Die Furche. Nr. 39/25. Zukunft, aber von der wachsenden Mo- September 1997; 7. bilität der modernen Gesellschaften 38 Vgl. Johannes Michael Schnarrer; Art. werden auch die zwischenmenschlichen „Theologische Grundlegung der Gerech- Beziehungen erfaßt. Denn bei allem tigkeit“; Vortrag zum Symposium der Wunsch nach einem stabilen Verhältnis Johannes-Messner-Gesellschaft, vom 16. gibt es innerhalb einer Biographie immer – 20. September 1997 in Brixen; er- mehr Beziehungsumzüge! Fraglos neh- scheint in: Rudolf Weiler (Hg.); Die Ge- men Trennungen, Scheidungen und Orts- rechtigkeit in der sozialen Ordnung. wechsel relativ zu, obwohl auch einige Duncker&Humblot, Berlin 1998.

Zitierte Literatur – Alt, Franz; Frieden ist möglich – Die Politik beit. Schriften des Dr. Karl-Kummer-In- der Bergpredigt. München o. J.. stituts für Sozialpolitik und Sozialreform – Buber, Martin; Ich und Du. Heidelberg in Steiermark; Graz, 3/1989. 1958. – Neuhold, Leopold; Wertwandel und Chri- – Art. „Entspannung am Arbeitsmarkt ab stentum. Linz 1988. dem Jahr 1999.“ In: Die Presse. Wien, am – Maier, Hans; Vortrag (Manuskript): „Viele 25. Jänner 1997; 21. Kulturen – eine Welt“; gehalten am 28.11. – Gertler, Thomas; Art: „Freiheit aus 1996 in Wien (Akademie der Wissenschaf- Entschiedenheit.“ In: Geist und Leben. ten). Heft 3-94; Würzburg 1994; 161 – 172. – Maihofer, Werner; Vortrag „Grundwerte – Hostasch, Eleonora; Plenum-Leben, Ar- heute in Staat und Gesellschaft.“In: Günter beiten und Lernen in einer digitalisier- Gorschenek (Hg.); Grundwerte in Staat ten Gesellschaft. Alpacher Technologie- und Gesellschaft. 3. Auflage München 1978; gespräche 1996 „Netzwerke“. 88 – 102. – Inglehart, Ronald; Kultureller Umbruch- – Mander, Matthias; Art. „Humanität – sub- Wertwandel in der westlichen Welt. stanzloser Titeltrick.“ In: Die Furche. Nr. Frankfurt/M., New York 1989. 49/4. Dezember 1997, 12. – Klages, Helmut; Art. „Werden wir alle zu – Papst Paul VI. (Hg.); Octogesima adveni- Egoisten? Über die Zukunft des Werte- ens. Rom 1971. wandels.“ In: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. – Schasching, Johannes; Art. „P. Schasching (Hg.); Politische Studien. Nr. 336; Mün- zur Globalisierung – Soziale Zügel für den chen, Juli/August 1994; 35 – 43. Weltmarkt.“ In: Die Furche. Nr. 39/25. Sep- – Klages, Helmut; Wertorientierungen im tember 1997; 7. Wandel- Rückblick, Gegenwartsanalysen, – Swoboda, Hannes; Vortrag (Manuskript): Prognosen. Frankfurt/M. 1984. „Europa als globale Kraft.“ Der Vortrag – Lübbe, Hermann; Fortschrittsreaktionen. wurde im Rahmen der Verleihung des Graz, Wien, Köln 1987. Kreisky-Preises für das politische Buch am – Mieth, Dietmar; Artikel „Leiden am Kon- 22.1.1997 in Wien gehalten. sumismus – eine Predigt für Mitbetrof- – „Tempus – The Club to Retard Time.“ In: fene.“ In: Zeit & Geist 4: Immer mehr? Die Universität – Zeitung der Universität München 1991; 80 – 88. Wien. 3/96; Wien, Oktober 1996; 2f.. – Neuhold, Leopold; Wertwandel und Ar- – Thiemer, Elfi; Art. „Kreative machen ihr Werteverschiebungen angesichts des europäischen Umbruchs 35

– Glück.“ (Arbeiten im 21. Jahrhundert); – Rom 1965. In: Die Furche. Nr. 47/21. November – Zulehner, Paul M.; Vom Untertan zum 1996, 1. Freiheitskünstler. Wien 1991. – Thurow, Lester; Head to head. New York – Zulehner, Paul M. / Denz, Hermann; 1993. Wie Europa lebt und glaubt. Düsseldorf – Vaticanum II. (Hg.); Gaudium et spes. 1993.

Weiterführende Literatur – Anzenbacher, Arno; Einführung in die – Höffe, Otfried (Hg.); Einführung in die uti- Ethik. Düsseldorf 1992. litaristische Ethik. 2. Auflage, Tübingen – Beck,Ulrich; Risikogesellschaft. Frankfurt 1992. a. Main 1986. – Jonas, Hans; Das Prinzip Verantwortung. – Bell, Daniel; Die nachindustrielle Gesell- Frankfurt a.Main 1984. schaft. Frankfurt a.Main/ New York 1985. – Klose, Alfred; Christliche Soziallehre. Graz – Bentham, Jeremy; An Introduction to the 1993. Principles of Morals and Legislation. Lon- – Lyotard, Jean-Francois; Das postmoderne don 1780. Wissen. (Engelmann, Peter Hg.); 3. Aufla- – Biser, Eugen (Hg.); Die Medien – das letz- ge, Wien 1994. te Tabu der offenen Gesellschaft. Mainz – Maier, Hans (Hg.); Ethik der Kommunika- 1986. tion. Freiburg (CH) 1985. – Bloch, Ernst; Prinzip Hoffnung. Frankfurt – Mead, George-Herbert; Geist, Identität und a. Main 1977. Gesellschaft. Frankfurt a. Main 1973. – Böckle, Franz; Fundamentalmoral. Leipzig – Messner, Johannes; Kulturethik. Innsbruck, 1978. Wien, München 1954. – Brandt, Richard B.; A Theory of the Good – Messner, Johannes; Das Naturrecht. 7. Auf- and the Right. Oxford 1979. lage, Berlin 1984. – Capra, Fritjof; Wendezeit-Bausteine für – Mill, John Stuart; On liberty. London 1859. ein neues Weltbild. 7. Auflage, Bern 1983. – Nell-Breuning, Oswald von; Einzelmensch – Eco, Umberto; Über Gott und die Welt. und Gesellschaft. Heidelberg 1950. München 1985. – Neumann, Erich; Tiefenpsychologie und – Ernst, Wilhelm (Hg.); Grundlagen und neue Ethik. 7. Auflage, Frankfurt a. Main Probleme der heutigen Moraltheologie. 1987. Würzburg 1989. – Nozick, Robert; Anarchy, State and Uto- – Etzioni, Amitai; Die aktive Gesellschaft. pia. New York 1974. Opladen 1975. – Patzig, Günther; Ethik ohne Metaphysik. – Feyerabend, Paul; Erkenntnis für freie Göttingen 1971. Menschen. Frankfurt am Main 1979. – Pieper, Annemarie; Einführung in die – Feyerabend, Paul; Irrwege der Vernunft. Ethik. 2. Auflage, Tübingen 1991. Frankfurt am Main 1989. – Postman, Neil; Das Verschwinden der – Furger, Franz; Nur die Wahrheit. Freiburg Kindheit. Frankfurt a. Main 1983. 1980. – Postman, Neil; Wir amüsieren uns zu Tode. – Furger, Franz; Art. Wahrhaftigkeit. In: Rot- Frankfurt a. Main 1985. ter, Hans/ Virt, Günter (Hg.); Neues Lexi- – Potter, Ralph B.; War and Moral Discourse. kon der christlichen Moral. Innsbruck, Richmond/VA 1969. Wien 1990. – Pross, Harry; Medienforschung. Darmstadt – Gehlen, Arnold; Moral und Hypermoral. – 1970. Frankfurt a. Main, Bonn 1969. – Rawls, John; A Theory of Justice. Cam- – Giesecke, Hermann; Das Ende der Erzie- bridge/MA 1971. hung. Stuttgart 1985. – Schasching, Johannes; Röntgenbild der – Habermas, Jürgen; Der philosophische industriellen Gesellschaft. Wien 1962. Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 1985. – Schiwy, Günter; Der Geist des neuen Zeit- – Habermas, Jürgen; The Theory of Com- alters. München 1987. municative Action. Boston 1984. – Schmitz, Phillip (Hg.); Macht euch die – Hillmann, Karl-Heinz; Wertwandel. Darm- Erde untertan? Würzburg 1981. stadt 1986. – Schockenhoff, Eberhard; Ethik des Lebens. – Homann, Karl; Gewinnmaximierung und Mainz 1993. Kooperation – Eine ordnungsethische Re- – Sidgwick, Henry; The Methods of Ethics. flexion. Kiel 1995. London 1874. 36 Johannes Michael Schnarrer

– Siebert, Horst (Hg.); Trends in Business ligionssoziologie. in 3 Bänden, Tübingen Organization: Do Participation and Co- 1920. operation Increase Competitiveness? Tü- – Weigelt, Klaus (Hg.); Werte, Leitbilder, bingen 1995. Tugenden. Mainz 1985. – Singer, Peter; Praktische Ethik. Stuttgart – Urmson, James O.; The Emotive Theory of 1984. Ethics. London 1968. – Smart, John J. C.; Between Science and – Weber, Adolf; Abschied von der bisherigen Philosophy. New York 1968. Geschichte. Hamburg 1946. – Splett, Jörg; Lernziel Menschlichkeit. – Weiler, Rudolf; Herausforderung Natur- 2. Auflage, Frankfurt a. Main 1981. recht. Graz 1996. – Steigleder, Klaus/Mieth, Dietmar (Hg.); – Welsch, Wolfgang; Unsere postmoderne Ethik in den Wissenschaften. 2. Auflage, Moderne. Weinheim 1987. Tübingen 1991. – Welsch, Wolfgang (Hg.); Wege aus der – Steinvorth, Ulrich; Klassische und moderne Moderne. Weinheim 1988. Ethik. Reinbek bei Hamburg 1990. – Wunden, Wolfgang (Hg.); Medien zwi- – Tugendhat, Ernst; Probleme der Ethik. schen Markt und Moral. 1989. – Stuttgart 1984. – Yamada, Hideshi; Das dem Recht und dem – Tugendhat, Ernst; Selbstbewußtsein und Staat Zugrundeliegende. Tokyo 1989. Selbstbestimmung. Frankfurt am Main – Zentralstelle Medien der Deutschen Bi- 1979. schofskonferenz und Katholischen Akade- – Türk, Hans–Joachim; Postmoderne. Mainz, mie Stuttgart (Hg.); Telekommunikation – Stuttgart 1990. ein Fortschritt für den Menschen? Stutt- – Weber, Max; Gesammelte Aufsätze zur Re- gart 1980. Menschenwürde und Arbeitswelt

Wilfried Weber

1. Das Janusgesicht der Frage nach Sinn und Ziel aller Entwick- aktuellen Entwicklung lung sind wir unsicher und oft ratlos geworden. „Nichts ist ausgeschlossen, Wohl keine Zeit erlebte die positiven weder das Ja noch das Nein“ schreibt und negativen Auswirkungen von Ent- ein französischer Zukunftsforscher. deckungen und Veränderungen in sol- (Louis Pauwels/Jacques Bergier, Auf- cher Schnelligkeit und Massenwirkung bruch ins dritte Jahrtausend, Berlin- wie die unsrige. Massenmedien, mo- Darmstadt-Wien 1965, S. 31.) Trotz die- derne Kommunikations- und Verkehrs- ser Unsicherheiten gibt es so etwas wie mittel haben dies möglich gemacht. Konstanten einer positiven Entwick- Tremendum und Fascinosum alles Neu- lung, selbst wenn das Ziel noch unklar en werden hautnah und unmittelbar ist. Zu diesen wegweisenden Elementen erlebt, und Fluchtwege in die Frei- zählen die Faktoren Menschenwürde zeitgesellschaft oder in eine Workaho- und Arbeit als schöpferisches Tun des lic-Mentalität ohne Zeit zum Nach- Menschen, wobei das eine das andere denken und sachgemäßem Reagieren bedingt. Chancen und Gefährdungen erweisen sich sehr schnell als Sackgas- dieser beiden zukunftsweisenden Prin- sen, die uns im Augenblick des Erwa- zipien im modernen Wirtschaftsleben chens nur um so deutlicher unser Un- sollen im folgenden aufgezeigt werden, vermögen erleben lassen, Gestalter statt um abschließend Denkanstöße für eine bloße Verwalter und Treibende statt Wegfindung in einer scheinbar orien- Getriebene unserer Geschichte zu sein. tierungslosen Zeit zu geben. Immer schneller dreht sich das Rad der Entwicklung, und wir müssen uns fra- gen, ob wir nur wie die Hamster im Kä- 2. Auswirkungen auf die fig sinnlos einen Kreislauf in Bewegung handelnden Personen setzen, der zu nichts führt, obwohl wir unsere ganze Kraft verschwendet ha- 2.1 Was macht Menschenwürde ben, oder ob wir auf dem Weg zu völlig aus? neuen Dimensionen menschlicher Ent- wicklung und Freiheit sind. Angesichts Freiheit, Selbstverwirklichung und Ver- der Brüchigkeit überkommener Wert- antwortung sind innerhalb der Arbeits- und Gesellschaftssysteme und der Viel- welt wohl die wichtigsten Elemente zahl der möglichen Antworten auf die dessen, was wir umfassend mit dem

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 38 Wilfried Weber

Begriff „Menschenwürde“ bezeichnen. der Führung ist nicht Begabtenför- Darüber dürfte weltweit eine mehr- derung, sondern der Gruppenzu- heitliche Akzeptanz zu finden sein. sammenhalt und der Gruppener- Schwieriger wird es schon, wenn man folg. In einem solchen Kontext sind ins Detail geht: Wie ist das Verhältnis Überbegabung und völliges Unver- von Freiheit und Verantwortung? oder: mögen gleichermaßen unerwünscht Setzt Selbstverwirklichung mehr In- und systemgefährdend. dividualität oder mehr soziale Ver- Zweifellos sind Teamgeist, Identifika- antwortung voraus? Wir könnten mit tion mit dem Unternehmen und dieser Art von Fragen noch lange wei- der eigenen Arbeitsgruppe und der termachen. gegenseitige Antrieb zu Bestleistun- gen wertvolle Komponenten beruf- Für den Bereich der Arbeitswelt lassen lichen Zusammenlebens und -arbei- sich heute vor allem drei Modelle tens, aber der Preis für ein solches finden, die mit unterschiedlicher Ge- Arbeitskonzept scheint doch zu wichtung versuchen, zusammen mit hoch zu sein. Ängste, Verunsiche- einer Funktionsbestimmung des ar- rungen, mangelnde Eigeninitiative beitenden Menschen auch dessen Wert und Unterwürfigkeit sind die un- und Würde im Arbeitsprozeß zu be- erwünschten Nebenprodukte. Die stimmen, ohne ihn zu einem willen- Folgen sind Befangenheit und ein- losen Werkzeug im Räderwerk des Un- dimensionales Denken, Starrheit ternehmens zu degradieren. und Routine. Wo jeder sich dem Gruppendurchschnitt anpassen muß, ● Das erste Modell kommt aus Ost- kann auch nur Durchschnittliches asien und fand unter dem Begriff zustandekommen. Anstelle von Über- „Lean-Management“ auch bei uns zeugung tritt die Forderung nach zahlreiche Anhänger und Imitato- Anpassung, ja sogar Unterwerfung. ren, zumeist ohne daß der unter- (Vgl. Werner Then, Der zukünftige schiedliche kulturelle Kontext mit- Betrieb – seine Organisation und bedacht wurde. Grundlage dieses Führung, in: GAK 3/1995, Jg. 48, Modells ist die konfuzianische Ethik S. 172). mit ihren Idealen Fleiß, Ordnung, Zuverlässigkeit und Gehorsam. Die ● Das zweite Modell, das nach Mei- Gruppe und ihr Erfolg bedeuten nung vieler Fachleute derzeit welt- alles, demgegenüber spielen Perso- weit auf dem Vormarsch ist, hat nalität und Individualität nur eine seinen Ursprung in den USA. Ge- nachgeordnete oder gar keine Rolle, genüber dem korporativen asiati- ja werden im Extremfall sogar schen Modell setzt es auf die klassi- als sozialschädlich angesehen und schen Ideale des Amerikanismus sanktioniert. „Hervorstehende Nä- – Freiheit des Individuums, Gleich- gel werden eingeschlagen“, wie ein heit der Chancen, Eigenverantwor- japanisches Sprichwort besagt. Nur tung und soziale Mobilität. Aufgabe als Gruppenmitglied hat der einzel- der Regierung ist es, Chancengleich- ne Wert und Würde und steht unter heit herzustellen und zu wahren, dem Gleichheitszwang im Sinne etwa durch ein allgemein zugäng- kollektivistischer Denkart. Aufgabe liches Bildungssystem oder durch Menschenwürde und Arbeitswelt 39

den Kampf gegen Kartelle und Mo- Gewinnmaximierung hinaus wird nopole. Weitere Eingriffe in das hier der Mensch als Zweck und Ziel Wirtschaftsleben, von der Industrie- alles Wirtschaftens in den Mittel- politik bis zur Umverteilung von punkt gestellt. „Wenn die Arbeit Einkommen und Vermögen, wer- nicht mehr auf menschliche Würde den jedoch mit großem Mißtrauen hin ausgerichtet ist, verabsolutieren, betrachtet. William Summer, ein be- ja totalisieren wir den sozio-öko- kannter Professor an der Yale-Uni- nomischen Bereich.“(Then, a.a.O., versität schrieb schon um die Jahr- S. 168). Die Folge wären demotivier- hundertwende, daß Laisser-faire te, überforderte und bis zur „inne- und unbeschränkter Individualis- ren Kündigung“ distanzierte Mitar- mus die beste Antwort auf eine beiter, zu denen nach Schätzungen „völlig natürliche Ungleichheit“ schon heute 40 bis 50% der Be- seien. (Zitiert bei: Thomas Fischer- schäftigten einschließlich vieler Füh- mann Modell mit vielen Gesich- rungskräfte in Deutschland gehören. tern, in: DIE ZEIT, Nr. 48; 19. Sep- (Then, S. 167. Vgl. Judith Reicherzer tember 1998, S. 30). Unbestreitbar Angst essen Seele auf.. in: DIE ZEIT, bietet das amerikanische System für Nr. 48; 19. November 1998, S. 45). Hochqualifizierte und für Karriere- Statt nach ausländischen und un- bewußte, die sich gut zu „verkau- serer Kultur fremden Modellen zu fen“ wissen, beste Entwicklungs- schielen, wäre es sicher sinnvoller chancen, aber geistig und sozial und vielversprechender, sich auf die Minderbemittelte oder Benachtei- Ziele und Ideale der Sozialen Markt- ligte bleiben häufig auf der Strecke. wirtschaft und der Katholischen So- Das Gesetz der natürlichen Auslese ziallehre zu besinnen und daraus wird hier auf die Arbeitswelt ange- neue Ideen zu entwickeln. Selbst- wandt. „Obdachlosigkeit; Slums, ho- besinnung und Selbstverantwor- he Kriminalität und volle Gefäng- tung, Mitsprache und Mitgestaltung nisse gehören zu den wohlbekannten könnten so zu einer demokratischen Nebenerscheinungen des amerika- Kultur in den Betrieben führen nischen Systems.“(Fischermann, ebd.). und statt kurzatmiger Gewinne unter Druck und Personalreduzie- ● Bleibt ein drittes Modell, das in Eu- rung wieder erfolgsorientierte Lang- ropa und vor allem in Deutschland fristplanung ermöglichen. Die be- entwickelt wurde und sich aus Ge- reits 1951/52 durch die Mitbestim- danken der Katholischen Sozialleh- mungsgesetze eingeleitete Subjekt- re und der Sozialen Marktwirtschaft stellung des Menschen im Betrieb gespeist hat: Personalität, Verant- wäre dann nicht nur Schutz vor wortung, Subsidiarität, Solidarität Mißbrauch und Ausbeutung, son- und Gemeinwohl sind die Funda- dern vor allem Recht auf Wertschät- mente dieses Modells, das die Ba- zung und Anerkennung, auf Mit- lance zwischen individueller Entfal- sprache und Eigenentfaltung. (Vgl. tung und sozialer Verpflichtung zu Then, S. 168). wahren sucht. Über das als legitim anerkannte unmittelbare Unterneh- Die Problematik dieser Ideen liegt al- mensziel der Erfolgserzielung und lerdings darin, daß sie bislang nie zu 40 Wilfried Weber

Ende gedacht oder gar umfassend rea- Pflicht, Unterordnung usw. waren als lisiert worden sind. Die Soziale Markt- traditionelle Strukturziele bisher Be- wirtschaft ist bis heute ein Torso ge- dingung, um einen reibungslosen be- blieben und die von ihren geistigen trieblichen Ablauf zu ermöglichen. Vätern angestrebte neue Wertordnung Jetzt treten Selbstentfaltung und pro- wurde nie ernsthaft in Angriff genom- zeßorientierte Werte wie Emanzipa- men. Nicht viel besser ist es mit der tion, Partizipation, Autonomie, Krea- Katholischen Soziallehre bestellt, die tivität, Selbständigkeit im Denken und bis heute auch in der Kirche selbst Handeln in den Vordergrund. Gerade mehr Lehre als Leben geblieben ist. Selbständigkeit im Handeln und Krea- Vielleicht werden uns gerade die viel- tivität sind in Zukunft unabdingbar, beklagten Sachzwänge und das Schei- um durch ständige Anpassung die tern anderer Modelle hier zu einer Kontinuität des Unternehmens zu Rückbesinnung und Neubelebung die- sichern“ (Then, S. 168). Die noch im- ser im Entwurf schon vorliegenden mer verbreitete Verantwortungsscheu Ideen zwingen. auf Mitarbeiterseite und der wieder zu- nehmend diktatorische Führungsstil in vielen Unternehmen ist kein Wider- 2.2 Was ist Arbeit aus ethischer spruch zu diesen Feststellungen, son- Sicht? dern zeigt eher noch deutlicher, wie notwendig hier ein Umdenken ist, Untrennbar mit der Gestalt und Funk- wenn wir eine tragfähige Antwort auf tion des arbeitenden Menschen und die vielfältigen Herausforderungen seiner Würde ist auch die Vorstellung einer Globalisierung der Märkte, auf von dem verbunden, was menschliche das den Arbeitsrhythmus bestimmen- Arbeit ist. Sehe ich Arbeit nur als Pro- de Diktat der Maschine und auf das duktion materieller und geistiger Wer- Problem der Arbeitslosigkeit finden te, die verkäuflich sein müssen, dann wollen. werde ich auch den Wert der jeweiligen Arbeit nur unter dem Aspekt der Ge- winnmaximierung sehen. Straffe Orga- 2.3 Veränderungen im Arbeits- nisation, Vorgabe der Unternehmens- klima und in der Rolle des ziele „von oben“, einsame Führungs- arbeitenden Menschen entscheidungen und wachsender Lei- stungsdruck sind die Kennzeichen ei- Wie unterschiedlich die derzeitige Ent- ner solch reduzierten Sicht von Arbeit. wicklung beurteilt werden kann, sei hier an zwei völlig entgegengesetzten Arbeit als Möglichkeit zur Selbstentfal- Betrachtungsweisen deutlich gemacht. tung und zu schöpferischem Mittun So schreibt Wilfried Herz in der ZEIT braucht nicht im Gegensatz zu legiti- vom 12. November 1998 unter dem mem Gewinnstreben zu stehen, ja sie Titel „Der häßliche Sieger“: „Krisen be- wird es langfristig sogar positiv beein- gleiten die Herrschaft des Marktes: flussen, aber sie wird einen anderen Massenarbeitslosigkeit und neue Ar- Führungsstil und ein anderes Betriebs- mut in den Industrienationen, Finanz- klima fördern. „Die alten Tugenden und Wirtschaftschaos in den Schwel- wie Disziplin, Gehorsam, Leistung, lenländern. Neoliberale Lehren und Menschenwürde und Arbeitswelt 41 die Angebotspolitik wirken entzaubert, einer weitgehenden Amerikanisierung Keynes Theorien und die Nachfra- der Unternehmenspolitik gekennzeich- gesteuerung erleben ein Comeback“ net. Im Gegensatz zu traditionellen (A.a.O., S. 39). Betriebsformen mit starker Mitarbeiter- und Ortsbindung und klarer hierarchi- Während diese Thesen eher Unter- scher Gliederung liegt hier die Be- gangsstimmung beschwören, zeichnet triebsführung nicht in Händen einer der Vorsitzende des Bundes Katho- Unternehmerpersönlichkeit, sondern lischer Unternehmer ein weit optimi- von leitenden Angestellten, auch stischeres Bild für die Zukunft: „Der wenn diese häufig die Politik der Un- wachsende weltweite Wettbewerb, ternehmerverbände bestimmen. Na- Emanzipationsbestrebungen der Ar- tionale Bindungen der Unternehmen beitnehmer, deren wachsendes Selbst- weichen einer Internationalisierung wertgefühl und Selbstgestaltungswille, mit den Standorten dort, wo es der machen es notwendig, traditionelle Markt erfordert, und selbst traditio- Führungskonzepte, Entscheidungspro- nelle Markennamen verlieren an Be- zesse und die Gestaltung der Betriebs- deutung und überkommene Unter- organisation neu zu überdenken ... . nehmenskulturen verschwinden über Der zur Selbstachtung findende Nacht. Mensch emanzipiert sich zunehmend gegenüber seinem Unternehmen und Gefahren dieser Entwicklung sind gegenüber seiner Führung. Er erwartet, leicht abzusehen: durch die Internatio- daß er in seinem Beruf Mensch sein nalisierung ist eine politische Kontrol- und ohne Ängste arbeiten kann. Er ak- le praktisch unmöglich, Finanz- und zeptiert nicht länger, als „Faktor Ar- Steuertransaktionen sind kaum nach- beit“ zu gelten und will auch in seiner vollziehbar, für den einzelnen un- Berufswelt mit Leib und Seele, mit durchschaubare Unternehmensent- Geist und Gefühl anwesend sein und scheidungen können zu mehrstelligen sich entfalten dürfen“ (Then, S. 167). Arbeitsplatzverlusten in kürzester Zeit Auch hier gilt, was wir eingangs fest- führen und das soziale und wirtschaft- stellten: die derzeitige Entwicklung ist liche Gleichgewicht ganzer Regionen nicht eindeutig zu beurteilen. Umso erschüttern, die Identifikation zwi- mehr ist es notwendig, daß alle im schen Unternehmen und Beschäftig- Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu bei- ten geht weitgehend verloren und da- tragen, dem Ganzen eine positive mit auch ein wichtiges Element be- Richtung zu geben. Betrachten wir ein- ruflicher Motivation. mal kurz die Situation in verschiede- nen Betriebsgrößen der Wirtschaft, um Andererseits gibt es auch positive danach positive Ansätze in den ver- Effekte. Die weltweite Verflechtung schiedenen Bereichen aufzuzeigen. der Wirtschaft ist ein nicht zu unter- schätzender Faktor der Friedenser- haltung, die Unternehmen können Großkonzerne flexibler auf Krisen reagieren und da- mit Wirtschaftlichkeit und Arbeits- Die Situation der Großkonzerne ist platzerhalt besser garantieren und für derzeit vom Fusionsfieber und von veränderungsbereite Mitarbeiter bieten 42 Wilfried Weber sich fast unbegrenzte Entwicklungs- dest zeitweise für eine spezielle Auf- chancen. gabe von jedem kreativen Mitarbeiter übernommen werden kann, ergeben sich hier z.B. über das betriebliche Mittelständische Unternehmen Vorschlagswesen zahlreiche Entfal- tungsmöglichkeiten, die für das Unter- Auch hier läßt sich eine zweigleisige nehmen höhere Effizienz, für den Mit- Entwicklung feststellen. Während auf arbeiter höhere Anerkennung, evtl. der einen Seite Preisverfall und der auch höheren Lohn und für beide Tei- Druck der Großindustrie und des in- le engere Bindung aneinander be- ternationalen Wettbewerbs vielen mit- wirken. telständischen Unternehmen die Luft zum Atmen nehmen, wie nicht zuletzt die hohen Insolvenzzahlen belegen, Der einzelne Arbeitnehmer eröffnet die zunehmende Konzentra- zwischen Selbständigkeit und tion der Großbetriebe auf ihre Kernbe- Abhängigkeit reiche und der wachsende Bedarf an speziellen Kleinserien oder Einzel- Drohende Arbeitslosigkeit, eine unge- lösungen mittelständischer Betriebe wisse Zukunft, rascher Wechsel des zusätzliche und zum Teil völlig neue Arbeitsplatzes ohne tragende Teambin- Aktionsbereiche. dung, erzwungene Mobilität, um nur einige Faktoren zu nennen, führen bei Gerade im mittelständischen Betrieb vielen Arbeitnehmern zu einer am- heißt das Erfolgsrezept Arbeitsteilung bivalenten Haltung, die sich je nach und kreative Mitarbeiterbeteiligung. Es persönlicher Einstellung und Fähigkeit läßt sich empirisch belegen, daß Inno- vor allem in drei Haltungen äußert. vationsprozesse nicht eigendynamisch ablaufen, sondern engagierte, impro- Mehrheitlich ist ein opportunistisches visations- und durchsetzungsfähige und konformistisches Verhalten zu be- Mitarbeiter voraussetzen, die den In- obachten, das bis zur völligen Verleug- novationsprozeß starten und aktiv nung eigener Ziele und Wertvorstel- vorantreiben. So wird der Unterneh- lungen führen kann. Überspitzt gesagt, mer zum Macht-Promotor, der die we- hier gibt jemand seine Seele für einen sentlichen strategischen Entscheidun- sicheren Arbeitsplatz, die intrinsische gen trifft und die materiellen und Motivation der eigenständigen Persön- finanziellen Ressourcen bereitstellt, lichkeit weicht einer extrinsischen während der fachlich zuständige Mit- Motivation, sei es Sicherheit, Lob des arbeiter als Fach-Promotor über das Vorgesetzten oder sogar Karriere auf technische Wissen zum Gegenstand Kosten anderer. Wo eine solche Hal- der Innovation verfügt und den Un- tung im Unternehmen vorherrscht, ternehmer davon entlastet, allzustän- sagt dies mehr über mangelnde Qua- dig sein zu müssen. (Vgl. Liesa Folkerts lität der Führung als über den schwa- Mittelstand als Erneuerungsquelle im chen Charakter der Mitarbeiter aus, Strukturwandel, in: H.M.Schleyer-Stif- nach dem Motto: Nur ein schwacher tung, Der Aufbruch ist möglich (Köln Chef umgibt sich mit schwachen Mit- 1998, S. 66f.). Da letztere Rolle zumin- arbeitern. Insofern stellt sich die Frage, Menschenwürde und Arbeitswelt 43 ob die Krise der Wirtschaft nicht vor Existenzgründungen ist eine nach allem die Krise einer orientierungslo- einem Jahr schon wieder verschwun- sen Führung ist, die heute mit dersel- den“, so tönt es von Statistikern und ben kritiklosen Begeisterung amerika- Arbeitsmarktstrategen zurück. Da steh nische Vorbilder zu kopieren versucht, ich nun, ich armer Tor ...?! wie sie es vor wenigen Jahren mit japanischen getan hat. Wer blind den Absprung wagt, ist tatsächlich fast mit Sicherheit zum Statt Konformismus kann sich aber Scheitern verurteilt. Wer aber Unter- auch eine andere Haltung entwickeln. nehmerqualitäten besitzt, sich fachlich Wo die extrinsische Verhaltensmotiva- gut beraten läßt, Gespür für Markt- tion vorherrscht, sind der individuel- lücken hat und auch noch finanziell len Eigenständigkeit enge Grenzen ge- nicht völlig mittellos ist, der hat gute setzt. Hier besteht die Gefahr, daß eine Aussichten, im Wettbewerb zu über- innere Leere entsteht, die sich nicht leben. Aber schon die kurze Zusam- nur in Form von Desinteresse und An- menfassung der vielfältigen Anfor- triebsschwäche, sondern auch in einer derungen zeigt, daß dies nie der Weg antisozialen Haltung äußern und hohe für die Mehrheit sein kann. Oft han- soziale Kosten verursachen kann. Ag- delt es sich bei den statistisch erfaßten gressivität in der Familie und im Existenzgründungen tatsächlich auch Straßenverkehr, politische Radikalisie- nur um eine Scheinselbständigkeit mit rung und Flucht in Alkohol und Dro- engster Bindung an ein einziges Auf- gen, aber auch gesundheitliche Störun- tragsunternehmen, wo zwar alle unter- gen vom Magengeschwür bis zum nehmerischen Risiken und sozialen Herzinfarkt und psychische Erkran- Lasten beim nominell Selbständigen kungen wie Depression und sogar liegen, aber keinerlei unternehme- Suizidgefährdung können Symptome rische Freiheit gegeben ist. nicht gelungener Selbstverwirkli- chung sein. (Vgl. Kurt Annen, Indivi- duelle Eigenständigkeit: Keine voraus- 2.4 Zusammenfassung der setzungslose Selbstverständlichkeit?. in: Problematik H.M.Schleyer-Stiftung a.a.O., S. 21 und Reicherzer a.a.O.). Was hat die bisherige Situations- schilderung ergeben? Zunächst einmal Bleibt eine dritte, vor allem von unse- dies: Die alten Rezepte reichen nicht ren Politikern als Stein der Weisen an- mehr aus. Höhere Qualifizierung, gepriesene Möglichkeit: der Absprung mehr Selbständigkeit und Flexibilität in die Selbständigkeit als Chance der und neue Fähigkeiten wie Kreativität, Selbstverwirklichung und eine Mög- Mut zu verantwortetem Risiko, kurz lichkeit zum Abbau der Arbeitslosig- gesagt, Personen mit Persönlichkeit, keit. „Jede Existenzgründung schafft nicht Roboter oder Nummern sind ge- durchschnittlich vier neue Arbeits- fragt. Zugleich wird immer deutlicher, plätze“, so klingt der Sirenengesang daß Arbeits- und Führungsmodelle ge- derer, die wahrscheinlich nie selbst schaffen werden müssen, die Arbeit diesen Schritt in eine höchst ungewis- und Lohn gerecht und sozialverträg- se Zukunft wagen würden. „Von zwei lich verteilen. Es darf keine neue Zwei- 44 Wilfried Weber klassengesellschaft aus denen, die Ar- dem Unternehmen Milliarden und beit haben und dem Heer der Arbeits- gibt im Gegenzug den Beschäftigten losen entstehen. Dies erfordert ein einen sicheren Arbeitsplatz, einen Umdenken bei Unternehmern, Ge- garantierten Mindestlohn und mehr werkschaften und Arbeitnehmern. Daß freie Zeit. (Vgl. Stefan Willeke und es hierfür schon Ansätze gibt, sollen Thomas Kleine-Brockhoff, tut Moder- beispielhaft die folgenden Modelle zei- nisierung weh?, in: DIE ZEIT, Nr. 48; gen, bei denen die Belange des Unter- 19. November 1998, S. 17ff.). nehmens und der Mitarbeiter gleicher- maßen berücksichtigt wurden. Nach der bisher umfassendsten Unter- suchung hat die Belegschaft bei VW die neue Arbeitswelt „weitgehend 3. Lösungsversuche akzeptiert“. Nur 16 Prozent der Befrag- ten äußerten sich „unzufrieden“ oder 3.1 Das VW-Modell „sehr unzufrieden“. Dabei sind Frauen – besonders mit Kindern – deutlich zu- Als 1993 bei VW die Kosten explodier- friedener als Männer, jüngere akzep- ten, während zugleich der Absatz an tieren die neue Arbeitswelt mehr als Neuwagen dramatisch zurückging, gab ältere Arbeitnehmer. (Markus Prom- es nur zwei Alternativen. Entweder VW berger u.a., Weniger Geld, kürzere Ar- brach mit seinem bisherigen Prinzip: beitszeit, sichere Jobs; edition sigma, „VW entläßt nicht“, oder die Arbeit Berlin 1997, 240 S.). mußte billiger werden. VW entschloß sich für den zweiten Weg und kreierte Besonders positiv bewertet wird die die „atmende Fabrik“, die sich den Be- Möglichkeit, durch die 4-Tage-Arbeits- wegungen des Marktes völlig anpaßte. woche Schichtarbeit und Familienle- Es gab keine Entlassungen, die VW- ben besser in Einklang zu bringen. Das Werker arbeiteten seitdem 20 Prozent gilt gleichermaßen für männliche und und verdienten 15 Prozent weniger. Bei weibliche VW-Beschäftigte, die von einem Ansteigen der Bestellungen wird Wissenschaftlern der Universität Han- mehr gearbeitet, Neueinstellungen sind nover befragt wurden. (Kerstin Jürgens/ zumeist zeitlich befristet. Karsten Reinecke, Zwischen Volks- und Kinderwagen; edition sigma, Berlin Über 100 Arbeitsmodelle sind seitdem 1998, 232 S.). entstanden. Es gibt die 4-Tage-Woche mit langen Arbeitszeiten, die 5-Tage- Daß der neue Arbeitsrhythmus auch Woche mit verkürzten Zeiten und die persönliche Verhaltensweisen beein- 5-Tage-Woche mit anschließenden flußt, belegt eine noch unveröffent- Freizeitblöcken. Wenn die Auftragslage lichte Studie des Wissenschaftszen- sich ändert, werden neue Zeiten fest- trums Berlin. Demnach ist zu be- gesetzt. Erst wird die tägliche Arbeits- obachten, daß mehr und mehr VW- zeit ausgeweitet, dann wird die Zahl Mitarbeiter im Job und in der Freizeit der Schichten erhöht und auf 5-Tage- bereits wie Unternehmer handeln, in- Arbeit umgestellt. Sollte das nicht dem sie Sicherheit gegen Risiko tau- mehr ausreichen, steht auch Samstags- schen. (Vgl. Willeke/Kleine-Brockhoff arbeit auf dem Programm. All das spart a.a.O., S. 18). Menschenwürde und Arbeitswelt 45

Viele Industriefirmen, vor allem in der die Freiräume bei Hewlett-Packard. Autobranche, sind dem Beispiel von „Bei Investitionen, die sich in einem VW gefolgt und haben eigene Modelle Geschäftsjahr amortisieren, liegt die der „atmenden Fabrik“ entwickelt. Entscheidung beim jeweiligen Team Noch weiter geht das folgende Modell. und bedarf keiner Zustimmung von höheren Ebenen,“ sagt Manager Heri- bert Schmitz, „die Leute im Projekt 3.2 Vertrauensarbeitszeit wissen am besten Bescheid, also sol- bei IBM Deutschland len sie entscheiden.“ (Timm Kräge- now, Kreative Spinner am Werk, in: Bei IBM heißt die jüngste Errungen- DIE ZEIT, Nr. 47; 12. November 1998, schaft Vertrauensarbeitszeit. Es gibt S. 42.) keine Zeitkonten und keine Korridore mehr. Jeder kontrolliert seine Arbeits- Ähnlich lauteten die Gründe, die mit- zeit selbst. Den Mitarbeitern wird für telständische Unternehmen aus dem einen bestimmten Zeitraum eine Ge- Frankfurter Raum 1996 bei einer IHK- samt-Arbeitszeit zugeteilt – wie jeder Veranstaltung in Bad Homburg anga- einzelne Mitarbeiter sich die Zeit ein- ben, um zu den erfolgreichsten Unter- teilt, ob er tagsüber arbeitet oder nehmen des Jahres zu arrivieren. Von nachts, daheim oder in der Firma, ist ganzen Tagen, an denen die verrückte- seine Sache. (Vgl. Wolfgang Uchatius, sten Ideen geäußert werden konnten, Frischer Atem, in: DIE ZEIT, Nr. 48; 19. um danach die machbaren und zu- November 1998, S. 21) gleich erfolgversprechenden herauszu- kristallisieren, bis zu regelmäßigem Ge- dankenaustausch der Firmenleitung 3.3 „Kreative Spinner“ mit den einzelnen Abteilungen in de- ren Räumen (Management by wan- Unternehmen, die innovativ sein wol- dering around) zeigte sich eine breite len, brauchen eine Kultur für das Palette von Möglichkeiten, um Unter- Neue. Oft schlummern die Ideen nehmensziele und Persönlichkeitsent- schon irgendwo, in den Köpfen der faltung der Mitarbeiter miteinander zu Mitarbeiter, in unaufgeräumten Schub- verbinden. Ja, es zeigte sich sogar, daß laden, in der Phantasie der Kunden. letztere unabdingbare Voraussetzung Die Kunst ist es, ein Unternehmen so für anhaltenden unternehmerischen zu organisieren, daß das Neue wirklich Erfolg war. (Eigenveranstaltung des das Licht der Welt erblickt und sich ge- Verfassers in Bad Homburg). gen das Alte durchsetzen kann. So tritt der amerikanische 3M-Konzern mit dem Ziel an, die innovativste Firma der 4. Entwicklung ohne Freiheit Welt zu werden. Dazu dient unter führt ins Chaos anderem die sogenannte 15-Prozent- Regel. Mitarbeiter in Forschung und Sicher haben wir die Liste der Mög- Entwicklung dürfen 15 Prozent ihrer lichkeiten noch lange nicht erschöpft, Arbeitszeit auf selbstgewählte Vorha- aber eines hat sich klar als Ergeb- ben verwenden, ohne diese mit dem nis herausgeschält: Erfolgskontrolle ja, Chef abzusprechen. Ähnlich groß sind Streß und Druck nein. Ermöglichung 46 Wilfried Weber von Risikobereitschaft, Freiheit und spräch, das sind die Garanten der Kreativität ohne Sanktionen bei Fehl- Menschenwürde auch in einer immer versuchen, dafür Ideenfilter durch Ge- differenzierteren Arbeitswelt. Schwerpunktthema

Sozialdemokratisierung Europas? Einführung

Bernd Rill

Zwischen dem geographischen und kenntnis verhelfen, es sei in der euro- dem politischen Begriff „Europa“ hat päischen Integration eben doch nicht stets eine Diskrepanz bestanden. Die alles ohne weiteres planbar, machbar, Formel des Generals de Gaulle eines beliebig rationalisier- und bürokrati- „Europa vom Atlantik bis zum Ural“ sierbar. Andererseits aber wüßte man bezeichnet den rhetorischen Versuch, doch ganz gerne, wohin die Reise geht. geographische Dimension und politi- Die Formel, der Weg selbst sei das Ziel, sche Organisation im Interesse einer hilft in diesem Falle nicht weiter. angemessenen Rolle Europas in der Weltpolitik zur Deckung zu bringen – Die aktuellen Reform-Schwerpunkte der dahinter steckende Wunsch des der EU bilden eine stattliche Liste: Es großen Visionärs ist bis heute nicht geht um die Neuregelung der Finan- realisiert worden. Und es hat sich im- zierung der Union, um die Zukunft der mer wieder erwiesen, daß die kulturel- Agrar- und Regionalpolitik, nach Maß- le Einheit, die man für Europa durch- gabe des Amsterdamer Vertrages um aus konstatieren kann, wenn man nur die Einleitung einer gemeinsamen ernsthaft genug auf die antiken und europäischen Beschäftigungspolitik, christlichen Wurzeln des Kontinents um die Wahrung eines stabilen Euro, hinweist, der politischen Homogenität dessen Integrationspotential seinerseits kaum Vorschub leistet. Offensichtlich beträchtlich sein dürfte, aber erst im ist dieser Hinweis zu abstrakter Art, er Laufe der folgenden Jahre zum Tragen entfaltet, jedenfalls für die Tagespoli- kommen wird, schließlich um eine tik der Integration, zu wenig Verbind- tiefgreifende institutionelle Reform. Je- lichkeit. de dieser Thematiken, für sich genom- men, bietet ein Problemfeld größter Nichtsdestoweniger besteht auch eine Wichtigkeit und dient den beiden Be- beständig zu beobachtende Tendenz reichen der Erweiterung und der Ver- zur fortschreitenden Vereinheitlichung tiefung der Gemeinschaft. Dazu tritt europäischer Strukturen, die sogar eine nämlich noch der Imperativ der Oster- gewisse Eigendynamik entfaltet hat, weiterung, teilweise mit dem Gelingen ohne daß man deswegen auch schon der erwähnten Reformvorhaben ver- anzugeben wüßte, was als der Ziel- und bunden, darüber hinaus eine Chance Endpunkt einer solchen Dynamik zu und eine Belastung, die uns der Zu- gelten hätte. Einerseits kann das Feh- sammenbruch des Sowjet-Kommunis- len eines logisch an sich vorauszu- mus gewährt und gleichzeitig auferlegt setzenden Ziels zu der tröstlichen Er- hat. Fast sieht es aus, als ob der ent-

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 50 Bernd Rill schiedene Beitrittswillen der ehemals Europa besteht aber nicht nur aus kommunistischen Staaten ein Eigen- einer Vielfalt gewachsener nationaler gewicht gegenüber der EU entfaltete, Kulturen nebeneinander, sondern auch und zwar in dem Sinne, daß die EU aus verschiedenen, den Kontinent durch diese aus dem Osten an sie her- übergreifenden Organisationsformen antretende Dynamik genötigt wird, die politischer Kultur, die an den jewei- Osterweiterung, die sie selbstverständ- ligen nationalen Grenzen nicht halt- lich auch anstrebt, mit besonderem machen. Hauptsächlich ist an dieser Nachdruck zu betreiben, zeitgleich mit Stelle an Parteien-Zusammenschlüsse den Reformprojekten, die sie intern be- zu denken, an „Internationalen” im schäftigen. nicht-kommunistischen Sinne, die im Europäischen Parlament als geschlos- Soll am Ende dieser gemeinsamen Pro- sene Fraktionen auftreten, am um- jekte des „Staatenverbundes” (so das fangreichsten die Europäische Volks- Bundesverfassungsgericht) der EU ein partei (konservativ) und die Fraktion veritabler „Bundesstaat” stehen, etwa der Sozialisten. In den folgenden Bei- demjenigen des deutschen Grundge- trägen geht es um die Frage, wieviel an setzes vergleichbar, mit Mitgliedsstaa- Vereinheitlichungspotential solchen ten, die im Föderalismus zwar ihre festen Verbindungen zuzuschreiben Qualität ursprünglicher Staatlichkeit ist, ob also eine gewisse weltanschau- wahren, aber in ständiger Auseinan- liche Gemeinsamkeit unter den Sozia- dersetzung mit der Durchsetzungskraft listen des Europäischen Parlaments der Bundesregierung und ihrer Res- ausreicht, sie zu Vorkämpfern einer sourcen stehen? Angesichts unterschied- „Sozialdemokratisierung” Europas zu licher Willensäußerungen zu dieser machen, oder ob nicht eher die unter- entscheidenden Frage im maßgebli- schiedlichen nationalen Ausgangs- chen politischen Raum kann man hier situationen maßgeblich sind, d.h. die Wünschbarkeiten ausdrücken, muß von den jeweiligen sozialistischen Re- sich aber im übrigen darauf beschrän- gierungen in der „Heimat” sicherlich ken, die unterschiedlichen Meinungen auch aus inkommensurablen, da in- zur Kenntnis zu nehmen und sich nenpolitischen Gründen formulierten möglichst seine eigene zu bilden. Am Interessen. Wenn etwa die deutschen erstrebenswertesten ist natürlich eine Sozialdemokraten durchsetzen wollen, Harmonisierung zwischen dem Ideal daß der deutsche Beitrag zur Brüsseler der europäischen Einheit und dem Kasse endlich gerechter, d.h. zurück- Fortbestehen seiner unterschiedlichen haltender ausfällt, dann muß dies we- nationalen und politischen Kulturen, der mit den europapolitischen Interes- entsprechend den Worten des fran- sen von Tony Blair, noch mit denen zösischen Staatspräsidenten Chirac: von Lionel Jospin und Massimo D’Ale- „Europa ist bei weitem nicht unverein- ma zusammenfallen. Eine „Sozialde- bar mit der Idee der Nation, sondern mokratisierung” Europas kann nicht vielmehr der politische und geistige nur das Ergebnis der Addition von Raum, in dem diese Idee sich am stärk- Regierungschefs sein, die in den wich- sten entfalten und bereichern kann” tigsten europäischen Hauptstädten (Rede Chiracs vor der Nationalver- Verantwortung tragen! Das wäre zu sammlung am 2.3.99). vordergründig-arithmetisch gedacht. Einführung 51

Allerdings ist mit diesem Vorbehalt den quantifizierte Ziele und Fristen an- noch nicht gesagt, daß unter den ge- gegeben. nannten „Sozialdemokraten” nicht auch partielle Übereinstimmungen in Einerseits kann man sich, rein tech- wichtigen Fragen bestehen, wobei die nisch und administrativ betrachtet Durchschlagskraft auf europäischer und ohne damit eine Wünschbarkeit Ebene durch gemeinsame ideologische auszudrücken, sehr wohl eine viel Grundwerte nicht unwesentlich geför- weitergehende gemeinsame Beschäfti- dert wird. gungspolitik vorstellen, als sie auf dem Wiener Gipfel angesprochen worden So haben sich die EU-Staats- und Regie- ist. Andererseits ist aber der Verdacht rungschefs im Dezember 1998 in Wien nicht von der Hand zu weisen, daß – besonders gedrängt von Premiermi- hier die bekannten Muster staatlich-so- nister Jospin und mit der Zustimmung zialistischer Reglementierung des Wirt- von Bundeskanzler Schröder – dafür schaftslebens erneut hervorgeholt wer- ausgesprochen, in Weiterentwicklung den sollen, die ideologisch verwurzelt des „Beschäftigungskapitels” des Am- sind. Gelänge es Blair, Schröder, Jospin sterdamer Vertrages einen „europäi- und D’Alema, einen „Beschäftigungs- schen Beschäftigungspakt” zu verein- pakt” durchzusetzen, der der Markt- baren, und zwar in dem Halbjahr der wirtschaft europaweit Fesseln aufer- deutschen Rats-Präsidentschaft. Damit legen möchte, dann könnte man in soll der Kampf gegen die Arbeitslosig- der Tat von einem greifbaren Stück keit besser koordiniert werden, für Be- „Sozialdemokratisierung” in Europa schäftigung und Arbeitslosigkeit wer- sprechen. Ein sozialistisches Europa? Ist die These „vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts widerlegt?

Gerd Langguth

1. Einführung März 1999 zeigte die politische Linke in Europa ein neues Selbstbewußtsein.2 Die berühmte These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts”, In der Tat hat sich innerhalb weniger die der Ex-FDP-Politiker und Soziologe Jahre die politische Landschaft im EU- Ralf Dahrendorf vor fast zwanzig Jah- Europa verändert. Noch 1983 stimm- ren aufstellte, scheint widerlegt: Elf der te hingegen Ralf Dahrendorf den fünfzehn Regierungschefs im EU-Euro- „Grabgesang” des „sozialdemokrati- pa werden von Sozialdemokraten und schen Jahrhunderts” an.3 Eine der Sozialisten gestellt, an zwei weiteren entscheidenden Thesen lautete: „In Regierungen sind Sozialdemokraten als seinen besten Möglichkeiten war das Juniorpartner vertreten. Nur in Bel- Jahrhundert sozial und demokratisch. gien, Luxemburg, Irland und Spanien An seinem Ende sind wir (fast) alle gibt es noch christlich-demokratische Sozialdemokraten geworden.”4 Den bzw. konservative Regierungschefs. Sozialdemokraten schienen aber viele Binnen weniger Jahre – sieht man von Jahre die Wähler wegzulaufen. Es war Spanien ab – wurde eine christdemo- ihnen nicht gelungen, in einer Zeit des kratisch bzw. konservativ geführte Re- zahlenmäßigen Rückganges der klassi- gierung nach der anderen abgelöst. schen Arbeiterschaft – ein allgemeines Und schon jetzt gehören neun der Phänomen moderner Industriegesell- zwanzig EU-Kommissare einer sozial- schaften, in denen sich der Dienst- demokratischen oder sozialistischen leistungsanteil enorm verstärkte – Partei an. Insbesondere auf dem Gip- Wähler gerade bei den aufstrebenden feltreffen der Sozialdemokratischen Mittelschichten zu erreichen. Viele so- Partei Europas (SPE)1 – deren Ziel nach zialdemokratisch-sozialistische Partei- den Statuten u.a. darin besteht, „die en in Europa schienen nicht mehr in sozialistische und sozialdemokratische der Lage, rechtzeitig den großen Tan- Bewegung in der Europäischen Union ker Sozialdemokratie umzusteuern. Die sowie in allen anderen Ländern Euro- Sozialdemokratie hat lange Zeit wie pas zu stärken” – in Mailand am 1./2. gelähmt auf die soziologischen Ver-

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 Ein sozialistisches Europa? 53

änderungen in der Wählerschaft rea- chologische Wirkung dieses Labour- giert, da sie sich von ihrer klassischen Durchbruches auf die deutsche Sozial- Arbeiterbasis nicht entfernen wollte demokratie nicht unterschätzt werden. und insgesamt zunehmend ihre Wäh- Und schließlich brachten die über- lerbasis verkleinerte. raschend vom neogaullistischen Präsi- denten Chirac ausgeschriebenen Neu- Noch vor wenigen Jahren wäre die wahlen in Frankreich die Sozialistische Prognose, die Sozialdemokraten wür- Partei unter Lionel Jospin an die den gegen Ende dieses Jahrhunderts Macht. wieder in Deutschland und in vielen anderen europäischen Staaten regie- Der politische Erdrutsch dann am 27. ren, mit Verwunderung aufgenommen September 1998 in Deutschland doku- worden: „Zu übermächtig schienen mentierte den allgemeinen Machtver- die Indizien dafür, daß sich das so- lust der Christdemokratie weltweit, zialdemokratische Politikkonzept der auch in Lateinamerika, auf besonders zweiten Jahrhunderthälfte erschöpft deutliche Weise: bundesweiter Verlust haben könnte.” (Eckhard Fuhr)5 Als allein der Unionsparteien von 6,4% Dahrendorf im Jahre 1983 seine So- auf 35,1%; sie erhielten damit, sieht zialdemokratie-These verkündete6, re- man von den exzeptionellen ersten gierte indes Margaret Thatcher seit Bundestagswahlen des Jahres 1949 1979 Großbritannien, Ronald Reagan (31%) ab, das mit Abstand schlech- seit 1981 in den Vereinigten Staaten teste Ergebnis, währenddessen die we- von Amerika – und war nig erfolgsverwöhnte SPD mit 40,9% 1982 gerade Bundeskanzler geworden. die Vierzig-Prozent-Marke erkletterte. Es schien also damals, als würden den Durch die Dominanz Helmut Kohls Sozialdemokraten und Sozialisten in war der christdemokratische Macht- Europa die Wähler in Scharen davon- verfall in Deutschland viele Jahre über- laufen. deckt, obwohl der Machtverlust durch eine Reihe von politischen Niederla- Der spektakuläre Niedergang der jahr- gen bei Landtagswahlen vorprogram- zehntelang regierenden italienischen miert war und der SPD eine grandiose Christdemokraten und schließlich der Bundesratsmehrheit bescherte. Es war Regierungswechsel an den Linkskatho- der Wahlsieg von Roland Koch am liken Romano Prodi im Jahre 1996 war 7. Februar 1999 in Hessen, der diese so- das – damals von vielen nur als Italien- zialdemokratische Übermacht im Bun- spezifisch gesehene – Signal für weite- desrat relativiert hat: Nach der Amts- re Niederlagen der Christdemokraten übergabe von Eichel an Koch sind und Konservativen. 1997 erlebte indes zehn der 16 Ministerpräsidenten So- die von Tony Blair modernisierte La- zialdemokraten. Fast alle hohen Staats- bour Party einen grandiosen Wahler- ämter in der Republik sind jetzt von folg – den größten seit dem legendären Sozialdemokraten besetzt. Die Schnel- Wahlsieg Attlees im Jahre 1945. Auch ligkeit, mit der innerhalb weniger wenn „New Labour” lediglich 43% der Jahre die Christdemokraten und Kon- Stimmen erhielt – das Mehrheitswahl- servativen in Europa auf die Opposi- recht machte die enorme Mehrheit im tionsbänke verwiesen wurden, über- Unterhaus möglich -, so sollte die psy- raschte selbst Sozialdemokraten. Noch 54 Gerd Langguth im August 1996 konstatierte so Peter Koalition dürften keineswegs alle euro- Glotz: „Kein Zweifel, in einer Reihe papolitischen Karten neu gemischt westeuropäischer Gesellschaften domi- werden. Der Rücktritt des wichtigsten niert ein antisozialdemokratischer Dis- Ministers – zu dessen Zuständigkeits- kurs ....”7 bereich auch weite Teile der früheren Europakompetenz des Bundeswirt- Der Regierungswechsel in Deutschland schaftsministeriums gehörten – weni- bestätigte also nicht nur eine enorme ge Tage vor einem wichtigen EU-Gipfel sozialdemokratische Übermacht im am 24./25. März 1999 erleichterte kei- EU-Europa, sondern fand auch kurz neswegs die Vorbereitung und deut- vor dem (symbolträchtigen) Umzug sche Verhandlungsführung. Die bishe- von Parlament und Regierung von rige Bilanz deutscher Europapolitik der Bonn nach Berlin statt. Deshalb fragen Schröder-Regierung ist denn auch alles viele jetzt besorgt, ob nun der Auf- andere als rühmlich: bruch in eine „linke Berliner Republik” stattfände. 2.1 „Visionslose“ Europapolitik – vermengt mit populistischen 2. Eine erste Analyse der Thesen Schröder’schen Europapolitik Die Neue Zürcher Zeitung bewertete In der „Neuen Zürcher Zeitung” hieß den Antrittsbesuch Gerhard Schröders es kurz nach dem deutschen Regie- bei der Europäischen Kommission in rungswechsel, nichts deute bisher da- Brüssel als „visionslos”10 – ohne Über- rauf hin, „daß die Kontinuität deut- zeugung, ohne Vision kann es aber scher Außenpolitik verloren geht. auch keine überzeugende deutsche Westbindung und europäische Eini- Europastrategie geben. Die Rede des gung sind Elemente, die in den Volks- Bundeskanzlers in der ersten Bundes- parteien nicht in Frage gestellt werden. tagsdebatte zur Europapolitik am 10. Die Beharrungskraft des deutschen Sy- Dezember 1998, einen Tag vor dem stems hat seine Vorteile. Ein Deutsch- Gipfel der Staats- und Regierungschefs land, das sich anders als in kleinen in Wien, zeigte diese Visionslosigkeit Schritten wandelt, kann in niemandes der neuen deutschen Bundesregierung Interesse liegen.”8 Andererseits konsta- in der Europapolitik drastisch. Wolf- tiert der Politikwissenschaftler Karl- gang Schäuble kritisierte im Deutschen Rudolf Korte einen „außenpolitischen – wie auch die Vertreter der Themenwechsel” und meint: „Doch FDP – heftig den Mangel an grundsatz- die Kontinuitätsbekundungen der er- orientierter Europapolitik und erachte- sten Tage sind trügerisch und nur te es als „beklagenswert”, daß Bundes- Oberflächenphänomene.”9 Mit der kanzler Schröder am Anfang seiner überraschenden Selbstpensionierung Regierungserklärung den Beginn der Oskar Lafontaines vom Amt des Bun- Europäischen Währungsunion nur als desfinanzministers am 11. März 1999 einen „Veränderungsprozeß” beschrie- in der Halbzeit der deutschen EU-Rats- ben habe: „Ich finde, sie ist ein großer, präsidentschaft und 168 Tage nach ein historischer Erfolg für die Men- dem Regierungsantritt der rot-grünen schen in Europa. Die europäische Eini- Ein sozialistisches Europa? 55 gung – darüber sind wir uns einig – ist rierte so („Nationale deutsche Interes- das wichtigste Projekt in der zweiten sen richtig verstanden zu vertreten, das Hälfte dieses Jahrhunderts. Sie hat zu- ist kein Gegensatz zu Europa, ganz im sammen mit der atlantischen Partner- Gegenteil. So wie die anderen das auch schaft – übrigens auch im Hinblick auf machen, steht uns das auch zu.”12), das, was wir soeben zum 50. Jahrestag frühere Regierungen hätten nationale der Allgemeinen Erklärung der Men- Interessen Deutschlands vernachläs- schenrechte diskutiert haben – Frie- sigt; doch vor allem war es die Wort- den, Freiheit, Menschenrechte, Ge- wahl, die im Ausland aufhorchen ließ: rechtigkeit, Stabilität, Wohlstand und Auf der insgesamt sehr bemerkenswer- soziale Sicherheit für diesen Teil Euro- ten Europadelegiertenkonferenz der pas und für unser deutsches Vaterland SPD in Saarbrücken am 8. Dezember in einem Maße ermöglicht, wie es vor 1998 wenige Wochen nach der Bun- 50 Jahren von niemandem für mög- destagswahl argumentierte Schröder lich gehalten worden wäre.”11 im Zusammenhang mit dem EU- Finanzbeitrag Deutschlands wie folgt: Gerade in den ersten Wochen nach „Und für diese Position gibt es, und dem Regierungswechsel waren die tat- ich sage das in aller Freundschaft, eine sächlichen Prioritäten deutscher Euro- ganz einfache Erklärung und die heißt, papolitik höchst diffus, dafür die po- mehr als die Hälfte der Beiträge, die pulistischen Argumente umso präziser. in Europa verbraten werden, zahlen So wurde immer wieder der Versuch die Deutschen.”13 Suggeriert wird, unternommen nachzuweisen, die Vor- Kohl und Waigel hätten sich gar in gängerregierung habe in der Vergan- finanzwirksamen Entscheidungen von genheit deutsche Interessen nicht hart dem französischen Sozialisten Jacques genug vertreten. In der Bundestagsde- Delors als langjährigem Kommissions- batte zur Europapolitik am 10. Dezem- präsidenten (ohne diesen allerdings ber 1998 nahm sie dabei insbesondere beim Namen zu nennen) „über den auf den europäischen Gipfel von Edin- Tisch ziehen lassen.”14 burgh vom 11./12. Dezember 1992 Be- zug, als zugleich mit den Fördermaß- nahmen für die neuen deutschen 2.2 Die EU-Osterweiterung wird Bundesländer insgesamt über ein Fi- verlangsamt nanztableau für die gesamte Europäi- sche Gemeinschaft bis zum Jahre 1999 „Der Prozeß der Verhandlungen mit entschieden („Delors-II-Paket”) wurde, den fünf Beitrittskandidaten ist so das seinerzeit auch in einem breiten kompliziert, im Ökonomischen wie im Konsens von der damaligen Opposi- Rechtlichen, daß es fahrlässig wäre, tion im Deutschen Bundestag wie heute zu sagen, wann er beendet ist”, auch von den sozialdemokratisch ge- meinte Schröder noch im Dezember führten Ländern im Bundesrat gutge- 199815, dadurch würden Erwartungen heißen wurde. In den anderen Mit- geweckt, „die man nie wird erfüllen gliedsstaaten wurden manche Reden können.” Seine Hinweise haben gera- der neuen deutschen Regierungsvertre- de in Zentral- und Osteuropa die Be- ter mit gehöriger Verwunderung zur fürchtungen genährt, Deutschland Kenntnis genommen. Schröder sugge- würde nicht mehr als Motor einer Er- 56 Gerd Langguth weiterung und damit als Anwalt dieser nomie war eine Reihe von Mitglieds- Staaten auftreten. Trotz mancher Re- staaten unter großen Schmerzen ge- den einflußreicher deutscher Politiker zwungen, den eigenen Notenbanken – auch des Außenministers Joseph Autonomie einzuräumen, sogar im tra- Fischer -, die das Interesse Deutsch- ditionell besonders staatsinterventio- lands an einer schnellen EU-Erweite- nistischem Frankreich. rung bekunden, besteht die Gefahr, daß retardierende Aussagen gerade Aber auch generell wurden durch den deutscher Politiker zur Erweiterung in ehemaligen Bundesfinanzminister La- den betreffenden Staaten den Reform- fontaine einige (alte) ökonomische druck zur Übernahme des EU-Regel- Fragen neu gestellt, der eine „Global- werkes (acquis communautaire) ver- steuerung” forderte, was man auch langsamen. Bisher war es eine erfolg- „die Rückkehr der politischen Ökono- reiche Methode europäischer Politik, mie” nennen könne. Es sei notwendig, durch das Benennen von Zeitzielen „auf europäischer Ebene einen Anlauf” einen entsprechenden Druck auf die zu versuchen, „um Geldpolitik, um Verhandlungen auszuüben, was sich Lohnpolitik und Fiskalpolitik zueinan- im Zusammenhang mit der Vollen- der so zu korrelieren und zu koordi- dung des europäischen Binnenmarktes nieren, daß daraus eine Steigerung der („1992”) als besonders erfolgreich Gesamtnachfrage resultiert und es wie- zeigte. der zu mehr Beschäftigung kommt.”17 Er nannte in einem Atemzug Geld- politik, Lohnpolitik und Fiskalpolitik, 2.3 Druck auf die Europäische wobei jedoch die Geldpolitik in der Zentralbank Verantwortung der autonomen Euro- päischen Zentralbank liegt, die laut Ar- Ausgerechnet die neue deutsche Bun- tikel 105 des Maastricht-Vertrages vor- desregierung hatte – zunächst noch rangig dem Ziel der Preisstabilität durch ihre Angriffe auf die Autonomie verpflichtet ist. Forderungen, die EZB der Deutschen Bundesbank – letztlich müsse ihren Beitrag zu Wachstum und an der mühsam erstrittenen Autono- Beschäftigung leisten, machen generell mie der EZB gerüttelt. Es ist ein blei- klar, daß der Kampf um ihre Unab- bendes Verdienst der früheren deut- hängigkeit zur entscheidenden Her- schen Bundesregierung – und gerade ausforderung der EZB wird. des damaligen Bundesfinanzministers –, die Autonomie der EZB Das Unterdrucksetzen der Deutschen institutionell sogar noch stärker zu si- Bundesbank und damit auch der EZB chern, als dies bei der Deutschen Bun- entspringt der Zielsetzung, daß der Be- desbank der Fall war.16 Denn es han- schäftigungsförderung zumindest der delt sich bei dem Maastricht-Vertrag gleiche Rang beigemessen wird wie der um einen völkerrechtlich wirksamen Stabilität des Geldes. Jedenfalls dürfte Vertrag, um europäisches Primärrecht, es der Zielvorstellung von Lafontaine das nur mit Zustimmung aller Mit- und seines früheren französischen Kol- gliedsstaaten wieder geändert werden legen Strauss-Kahn entsprochen haben, kann. Aufgrund des Beharrens gerade sowohl die wirtschafts- und finanzpo- der deutschen Seite auf die EZB-Auto- litische Koordinierung der Euro-11- Ein sozialistisches Europa? 57

Gruppe als auch das Beschäftigungska- dieser neuen Zielsetzung, auf die die pitel des Amsterdamer Vertrages – sie- damals frisch gewählte französische he im folgenden – als einen entschei- Regierung Jospin bestand, womit ihr denden Hebel für eine koordinierte eine Brücke zur Zustimmung zur Euro- ökonomische Strategie für ganz EU- päischen Währungsunion und den im Europa zu nutzen. Lafontaines Inter- Vertrag festgelegten Stabilitätskriterien vention gleich nach Amtsantritt zum gebaut wurde. Diese Vertragsergänzung Umbau des Weltwährungssystems hin- ist jedoch eine Einfallschneise für die sichtlich einer Fixierung der Wechsel- Forderung nach allgemeiner Beschäfti- kurse des Dollars, des Yens und des gungspolitik der Gemeinschaft, womit Euros durch Zielzonen fanden zudem dem im Vertrag ebenfalls festgelegtem harsche Ablehnung beim Präsidenten Subsidiaritätsprinzip kaum entspro- der Europäischen Zentralbank, Wim chen werden dürfte. Nach der bisheri- Duisenberg, und seinem amerikani- gen Praxis und auch dem Wortlaut des schen Kollegen Alan Greenspan – und EG-Vertrages war prinzipiell zumindest fast der gesamten Fachwelt. In der Tat eine liberale Wirtschaftsordnung das gibt es keine zuverlässigen Anhalts- wirtschaftspolitische Credo der EU; punkte für die Bestimmung der „rich- eine Gängelung der einzelnen Natio- tigen” Kurse – es stellt sich die Grund- nalstaaten durch Beschäftigungs- und frage, warum diese ein wie auch immer Sozialprogramme unterblieb. zusammengesetztes Gremium besser definieren könne als der Markt. In den Gegen ein „Monitoring” durch die letzten Tagen vor dem Lafontaine- Kommission hinsichtlich der Arbeits- Rücktritt sah sich die Bundesregierung marktpolitik in den einzelnen Mit- denn auch gezwungen, offiziell Ab- gliedsstaaten ist sicherlich nichts ein- schied von diesen Zielzonen-Vorstel- zuwenden – umso mehr, als daß durch lungen des bisherigen Finanzministers den „Euro” ganz zwangsläufig die Mit- zu nehmen. gliedsstaaten zu vernünftigem ökono- mischen Handel gezwungen werden, sonst müßte ein „stabiler” Euro an der 2.4 Lafontaine und Frage zerbrechen, wie die gemeinsame der Keynesianismus Währung in einem äußerst heteroge- nen Wirtschaftsraum wirksam gesteu- Zu den alt-neuen ökonomischen ert werden kann. Grundfragen gehört die Beschäfti- gungspolitik, für die es mit dem im Sehr viel sinnträchtiger als eine EU- Vertrag von Amsterdam in Artikel 3i weite Beschäftigungspolitik sind in- durch die neu eingeführte „Förderung des weitere Rechtsangleichungen und der Koordinierung der Beschäftigungs- auch der Abbau von Steuerhürden, die politik der Mitgliedsstaaten im Hin- den Gemeinsamen Binnenmarkt er- blick auf die Verstärkung ihrer Wirk- schweren – entsprechende Überlegun- samkeit durch die Entwicklung einer gen Lafontaines fanden jedoch insbe- koordinierten Beschäftigungsstrategie” sondere in Großbritannien eine zum – nunmehr eine Rechtsgrundlage gibt. Teil höchst emotionale Gegnerschaft.18 Die Formulierung der Vertragsergän- Hinzu kommen noch inhaltliche Be- zung zeigt den Kompromißcharakter denken zu einer europäischen Beschäf- 58 Gerd Langguth tigungspolitik: Frankreich scheiterte lich wird Hans Eichel als Finanzmini- 1981/1982 unter Mitterand mit ster nicht in gleicher Weise als Welt- dem keynesianischem Versuch einer ökonom in die Geschichte eingehen klassisch nachfrageorientierten Wirt- wollen wie sein gescheiterter Vorgän- schaftspolitik. Zurück blieb ein enor- ger Lafontaine und eher vorsichtig mer Schuldenberg. finanzpolitische Entscheidungen vor- bereiten, die stärker mit dem Kanzler- Eine über den bisherigen Verbalismus amt abgestimmt sein dürften – weil er hinausgehende gemeinsame euro- eben vom Bundeskanzler abhängt. päische Beschäftigungspolitik würde die industriell besonders entwickelten EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch 2.5 Europäische Verteidigungs- Deutschland, in besonderer Weise zur identität und NATO Kasse bitten. Mit Interesse wird des- halb zu sehen sein, wie der von der Mit der Forderung auf Verzicht des ato- deutschen EU-Präsidentschaft vorge- maren Erstschlages der Nordatlanti- schlagene „Beschäftigungspakt auf eu- schen Verteidigungsorganisation NA- ropäischer Ebene” – darüber soll auf TO im Koalitionsvertrag isolierte sich dem Treffen der Staats- und Regierungs- die neue deutsche Regierung nicht nur chefs am 3./4. Juni 1999 in Köln be- gegenüber den USA, sondern auch ge- funden werden –, in der konkreten genüber den anderen NATO-Mitglie- Ausgestaltung ausschaut. Das Aus- dern, die zugleich in der EU sind. Der scheiden Lafontaines aus der Bundes- Hinweis des AA-Staatsministers Vol- regierung bedeutet nämlich keines- mer, daß Deutschland kein „stehendes wegs, daß die Bundesregierung auf Heer” mehr benötige19, vermittelte Entscheidungen für eine europaweite weitere Unsicherheiten hinsichtlich Beschäftigungspolitik verzichtet, da der deutschen Bündnistreue. Zwar fin- Schröder jetzt auch als SPD-Parteivor- det in der Fachwelt eine Diskussion sitzender – will er seine Partei integrie- über das Für und Wider des Rechts auf ren – letztlich sehr viel stärker auf den einen atomaren Erstschlag statt,20 doch Kurs des „linken Flügels” seiner Partei steht außer Frage, daß die ohne wirk- Rücksicht nehmen muß. Die bisherige lich aktuelle Notwendigkeit geborene Arbeitsteilung erlaubte es dem Regie- Überlegung Fischers dem deutschen rungschef, sich auf (medienwirksames) Interesse im Bündnis nicht weiterhilft. Regierungshandeln zu konzentrieren, währenddessen Lafontaine die „Seele der Partei” abdeckte. Der Rücktritt La- 3. Ein „sozialistisches Europa” fontaines und die damit verbundene wird nicht kommen Auflösung der Quasi-„Doppelspitze” mag zwar die regierungsinterne Koor- Mitterand als damaliger Generalse- dination erleichtern, dennoch werden kretär der französischen Sozialisten for- Schröder und Lafontaine-Nachfolger derte 1977, Europa müsse sozialistisch Eichel auf die „sozialdemokratische sein oder es könne gar nicht zustande Identität” achten müssen, wenn nicht kommen.21 Ähnlich formulierte es Verwerfungen in der größten Regie- auch . Wird diese Vision – rungspartei stattfinden sollten. Sicher- die bedeutet, daß „Sozialismus” und Ein sozialistisches Europa? 59

„Europa” als identisch angesehen wer- kommunikationspolitisch meisterhaft den – jetzt Wirklichkeit? Trotz aller verstand, den Begriff der politischen Veränderung der Parteienlandschaft in Mitte („neue Mitte”) zu besetzen, letzt- Deutschland und in Europa wird ein lich wenig politische Änderungen „sozialistisches” Europa – etwa im klas- („Wir machen nicht alles anders, aber sischen Sinne der Verstaatlichung von vieles besser”), dafür aber neue Gesich- Produktionsmitteln – nicht kommen; ter versprach. Er suggerierte die Mög- die Gründe hierzu sind vielschichtig: lichkeit der Harmonie einer „Großen Koalition” und blieb in seinen politi- schen Äußerungen dabei so vage, daß 3.1 Das Wahlverhalten in er großen und markanten inhaltlichen Deutschland und Europa ist Fragen ausweichen konnte. Noch nie immer weniger kalkulierbar war deshalb ein Wahlkampf in der Bundesrepublik Deutschland so „un- Entscheidend für den Machtwechsel in politisch”, weil die politische Program- Deutschland – und zuvor auch in an- matik in den Hintergrund gedrängt deren europäischen Staaten – dürfte wurde und die mediale Vermittlung nach allen wahlsoziologischen Er- der Spitzenkandidaten dabei im Vor- kenntnissen nicht die Tatsache sein, dergrund stand. Wirksam – und nicht daß die Wähler etwa einen Sozialismus nur bei Jüngeren – war sein Hinweis, (in neuem Gewande) wollten, sondern daß eine sechzehnjährige politische die Gründe waren häufig sehr viel Verantwortung eines einzelnen Kanz- nüchterner: viele wollten neue Gesich- lers allein schon genügend Grund für ter, neuen Wind in der Politik, ein Auf- einen Wechsel sei („Danke Helmut, 16 brechen verkrusteter Strukturen. „Die Jahre sind genug”)23. Durch den Ruf Zeit” analysierte 1997: „Nicht die So- nach einer Notwendigkeit des Wech- zialdemokratie siegt derzeit in Europa, sels, der prinzipiell jeder Demokratie sondern die Opposition. Nicht eine gut täte, trat letztlich die inhaltliche Vision bricht sich Bahn, sondern Pro- Auseinandersetzung in den Hinter- test: Mal richtet er sich – wie soeben in grund, obwohl es den Unionsparteien Frankreich, wie bei der nächsten Wahl im Laufe der letzten Wahlkampfmona- vielleicht in Schweden – gegen Spar- te sogar gelang, eine Entzauberung des programme, die weniger der Euro als Kohl-Herausforders gerade hinsichtlich vielmehr die Globalisierung erzwingt; seiner inhaltlichen Kompetenz herbei- mal fegt der Unmut abgewirtschaftete, zuführen. Der alten Regierung gelang affairengeschüttelte Dauerregierungen es nicht mehr, der Bevölkerung plausi- aus dem Amt, wie in Spanien oder bel zu machen, wofür sie noch poli- England. Das Europa, das gestern noch tisch steht, welche zukunftsgewandten rechts schien und heute links scheint, Ziele sie hat.24 kann sich morgen schon wieder nach rechts drehen.”22 Wäre nicht die deutsche Einheit 1989/1990 gekommen, wäre mögli- Gerhard Schröder ist in Deutschland cherweise das Ende der früheren Koali- nicht deshalb Kanzler geworden, weil tion schon sehr viel früher eingetreten. er eine „linke” deutsche Republik ver- In dramatischen Umbruchsituationen sprochen hätte, sondern weil er es – und nicht nur Deutsche sind auf der 60 Gerd Langguth

„Suche nach Sicherheiten”25 – hat eine eher mit einem negativen Vorzeichen, handlungsfähige und zupackende Exe- auch mit dem Feindbild „Neoliberalis- kutive immer Vorteile gegenüber der mus” verband und so auf die („konser- Opposition. Im übrigen scheint es in vativen”) Veränderungsängste eines jeder demokratischen Gesellschaft die Teiles der Gesellschaft reagierte. Tendenz zu geben, nach gewisser Zeit zumindest auf der nationalen Ebene Bei der Bewertung des Wahlergebnisses einfach das „Establishment” abzuwäh- muß allerdings bedacht werden, daß len.26 Diese Erfahrung mußte schon sich insgesamt die Parteienlandschaft der legendäre Churchill machen, der im wiedervereinigten Deutschland ra- keinen „Dank” von seinen Wählern er- dikal verändert hat. Der rot-rote Hän- hielt, gleiches galt beispielsweise für dedruck im Mecklenburg-Vorpom- den Sozialisten Goncales in Spanien. mern soll – wie schon zuvor die Duldung einer SPD-Minderheitsregie- Daß die Deutschen übrigens kein rung in Sachsen-Anhalt durch die PDS schlechthin „sozialdemokratisches” oder – die SED-Nachfolgepartei zum inte- „sozialistisches” Deutschland/Europa gralen Bestandteil einer angestrebten haben wollen, zeigten unmißverständ- strategischen linken Mehrheit unter lich die bayerischen Landtagswahlen SPD-Führung werden lassen.27 Dem zwei Wochen vor der Bundestagswahl dient jetzt nach der Hessen-Wahl auf auf, als die Wähler bewußt Kontinuität Bundesebene auch die Überlegung gewählt haben. Im Freistaat ist es der Schröders, zwar „auf der Ebene des CSU gelungen, Kontinuität und Mo- Deutschen Bundestages” keine Zusam- derne – wofür das Begriffspaar „Laptop menarbeit mit der PDS vorzunehmen, und Lederhose” erfunden wurde – mit- mit der Begründung jedoch, „daß im einander in Einklang zu bringen. In Bundesrat man nicht mit Parteien zu- einer veränderten Wählerlandschaft, sammenarbeitet, sondern mit Län- in der die Stammwähler proportional dern”28 eine solche Zusammenarbeit in abnehmen, ist das Wählerverhalten diesem Verfassungsorgan keinesfalls flexibler, unberechenbarer. auszuschließen. Es geht dem Bundes- kanzler u.a. darum, im Bundesrat eine Der Wahlerfolg der Sozialdemokratie Mehrheit für zustimmungsbedürftige in Deutschland war interessanterweise Gesetze zu erreichen, die dann ge- nicht auf eine programmatische Erneu- fährdet sein könnte, wenn sich die erung dieser Partei zurückzuführen, SPD/PDS-geführte Landesregierung in sondern gerade auf den Versuch, die Mecklenburg-Vorpommern im Bun- bislang die praktische Regierungsarbeit desrat der Stimme enthält. Während lähmenden Gegensätze zwischen „Tra- die PDS bislang eine ostdeutsche ditionalisten” und „Erneuerern” durch Milieupartei geblieben ist, sind die integrative Formulierungen zumindest Grünen eine deutlich „westdeutsch” für den Zeitraum des Wahlkampfes dominierte Partei, die zunächst aus aufzulösen. Dabei kam den Sozialde- einer Bewegung entstanden29 und gut mokraten in Teilen der Wählerschaft 19 Jahre nach ihrer Gründung auf zugute, daß sie die Veränderungsdyna- Bundesebene am Ziel der Regierungs- mik einer modernen Gesellschaft unter verantwortung angelangt sind. Damit dem Vorzeichen der „Globalisierung” gehören zur politischen Linken drei Ein sozialistisches Europa? 61

Parteien in Deutschland: die SPD, die ren Seite gibt es das etatistische Den- PDS und (trotz ihrer ökologischen ken eines Jospin, den nur die Fessel des Tradition) die Grünen. Während in Maastrichter Vertrages davon abgehal- Westdeutschland viele Jahrzehnte drei ten haben dürfte, im Sinne des Keyne- Fraktionen im Deutschen Bundestag sianismus die Massenkaufkraft durch vertreten waren, liegt jetzt mit fünf expansive Fiskalpolitik zu stärken.31 Fraktionen eine sehr viel unübersicht- Die deutsche Sozialdemokratie dürfte lichere Situation vor. etwa in der Mitte zwischen beiden Po- len zu verorten sein, wenngleich Hom- bach (und mit ihm der Bundeskanzler) 3.2 Die Sozialdemokratie in eher zum „Blairismus” neigen, wäh- Europa ist kein renddessen Ex-Minister Lafontaine – monolithischer Block mit Interesse wird zu sehen sein, wer künftig die derzeit stark geschwächte Zunächst muß darauf hingewiesen SPD-Linke repräsentieren wird – ten- werden, daß inzwischen die Grund- denziell eher bei Jospin und Strauss- linien der Sozialen Marktwirtschaft in Kahn angesiedelt gewesen sein dürfte. vielen sich immer noch „sozialistisch” Und Wim Kok von der niederländi- nennenden Parteien verankert sind – schen Partei der Arbeit hat auf prag- wobei für Deutschland während des matische Weise eine gemeinsame Wahlkampfes auffällig war, wie häufig Arbeitsmarktstrategie mit Gewerk- Schröder und Hombach (und der ein- schaften und Unternehmern fortge- stige Wirtschaftsministerkandidat Stoll- führt, ohne dabei sozialdemokratische mann) sich auf Ludwig Erhard und Identität aufzugeben. Auch in Skandi- die „Soziale Marktwirtschaft” beriefen. navien führten Sozialdemokraten Spar- Zwar ist nicht zu bestreiten, daß sich und Sanierungsprogramme durch. Die in großen Teilen der sozialistischen Sozialdemokratie ist, wie man an die- und sozialdemokratischen Parteien sen Beispielen sehen kann, beim Ver- eine Abkehr von einstigen Verstaat- gleich ihrer innenpolitischen und öko- lichungsmodellen ergeben hat. Gleich- nomischen Zielsetzungen keinesfalls wohl wird in den meisten Parteien der ein monolithischer Block. Die sozial- Linken in Europa der Regulierungsnot- demokratischen Parteien im EU-Euro- wendigkeit der Ökonomie durch den pa eint zudem die Befürchtung einer Staat in sehr viel größerem Maße Vor- allzu starken deutschen Dominanz, schub geleistet. Innerhalb der europäi- damit auch der deutschen Sozialdemo- schen Sozialdemokratie gibt es aller- kratie. Das Regierungshandeln der ein- dings zwei Pole: Da ist zunächst „New zelnen sozialdemokratisch-soziali- Labour” von Tony Blair, für den die stischen Parteien ist stark von den „Globalisierung” eher ein Anlaß ist, eigenen „nationalen Interessen” ab- die Modernisierung der Gesellschaft als hängig, was auch im Zusammenhang Herausforderung anzusehen und der mit den Beratungen der „Agenda einen „dritten Weg” zwischen Laissez- 2000” oder bei so kontroversen The- faire und Staatsdirigismus verspricht.30 men wie der Steuerpolitik sichtbar Manche sehen in dem „Blairismus” wurde. „Die Zeit” konstatierte denn auch einen Thatcherismus mit lä- auch schon 1997: „Die europäische So- chelndem Antlitz. Und auf der ande- zialdemokratie ist eine Schimäre.”32 62 Gerd Langguth

3.3 Die „Globalisierung” 4. Ist die These vom „Ende des verhindert einen dauer- sozialdemokratischen haften Rückfall in alte Jahrhunderts” doch richtig? sozialistische Rezepte In Deutschland besteht gegenwärtig Eine Marktabschottung der EU oder die Gefahr, daß der frühere weitgehen- ein Eingriff in das Regelwerk des freien de parteipolitische Konsens in der Kapitalverkehrs würde ganz zwangs- Europapolitik einer Konfrontation läufig zu einem „Auswandern” des Ka- weicht – und zwar nicht nur wegen der pitals führen und damit die Verur- Europawahlen im Juni 1999. Die fatale sacher staatlicher Eingriffe sofort Vereinbarung im Koalitionsvertrag – in „bestrafen”. Die Möglichkeiten eines dieser Form einmalig in der deutschen einzelnen EU-Mitgliedsstaates wie Politik –, bei den beiden, dem Vor- auch der EU insgesamt, eine makro- schlagsrecht Deutschlands zustehen- ökonomische Globalsteuerung zu be- den EU-Kommissaren faktisch die treiben, sind vor allem wegen der Unionsparteien auszuklammern, pla- erhöhten Kapitalmobilität der interna- ziert CDU/CSU außerhalb der insti- tionalen Finanzmärkte begrenzt. Das tutionellen europapolitischen Verant- wissen auch die sozialdemokratischen wortung. Es ist jedoch in den großen und sozialistischen Parteiführer in Eu- Mitgliedsstaaten Brauch, daß die je- ropa, auch wenn nie auszuschließen weils größte Oppositionspartei in ist, daß immer wieder ein (zumindest Gestalt eines EU-Kommissars in die teilweiser) Rückgriff auf alte sozialisti- europapolitische Verantwortung ein- sche Rezepte gefordert wird. Insgesamt gebunden wird. Diesem Brauch schloß führt der Prozeß der Globalisierung sich Helmut Kohl mit der Berufung der ganz zwangsläufig zu Modernisie- SPD-Politikerin und Gewerkschafterin rungsprozessen und zu der Notwen- Monika Wulf-Mathies an. Eine bewuß- digkeit, den internationalen ökonomi- te Ausklammerung der Unionsparteien schen Wettbewerb – insbesondere mit birgt die Gefahr in sich, den bisherigen den Vereinigten Staaten von Amerika, europapolitischen Konsens zwischen aber auch Japan – bestehen zu können. den großen politischen Kräften in Alte sozialistische Instrumente taugen Deutschland aufzukündigen. Die bei- in einem Zeitalter der Globalisierung den Unionsparteien als „klassische” erst recht nichts. deutsche Europaparteien stehen hier Gleichwohl stellt sich die Frage, wie in jedoch in der Tradition der bedeu- einer Zeit, in der alle wesentlichen Zu- tenden christdemokratischen europäi- kunftsaufgaben – und dies in Aner- schen „Gründungsväter”, zu denen kenntnis der zunehmenden Komple- vor allem Konrad Adenauer, Alcide de xität von Problemen und Konflikten – Gasperi und Robert Schuman zu nicht mehr alleine im nationalstaatli- zählen sind. Auch Franz-Josef Strauß34 chen Rahmen lösbar sind, eine Trans- und Helmut Kohl haben sich immer parenz und demokratische Kontrolle wieder als glühende Europäer bekannt. der Entscheidungsprozesse stattfinden Der Konsens in der Europapolitik ist kann.33 Hierüber wird auch in den deshalb notwendig, weil immer mehr kommenden Jahren politisch gestrit- auf allen Ebenen eine Generation in ten werden müssen. Deutschland und in Europa an die Ein sozialistisches Europa? 63

Schalthebel der politischen Macht und weise der Blair-Berater Professor An- der Medienmacht kommt, die selber thony Giddens.37 Wahr ist daran, daß nicht mehr die trennende Wirkung es in der Perzeption der Bevölkerung von Grenzen erfahren hat und die die – sieht man von der Einschätzung der positiven Errungenschaften der Euro- extremen Linken und Rechten ab – päischen Integration vielfach als eine den politischen Bewegungen und Par- Selbstverständlichkeit ansieht.35 teien häufig an einem eigenständigen Profil, den Wählern sichtbar machen- Mag zudem – insbesondere aus dem den Unterschieden fehlt. Dies trifft ins- Bereich der Sozialdemokratie selbst – besondere für die beiden großen Par- die Dahrendorf’sche These vom „Ende teien zu, die mit ihrem Anspruch von des sozialdemokratischen Jahrhun- „Volksparteien” unterschiedlichen po- derts” von manchen als Beleg für man- litischen Traditionen entstammen, wo- gelnde Prognosefähigkeit der Sozial- bei letztere heute immer weniger in wissenschafter interpretiert werden; sie der Öffentlichkeit wahrgenommen ist im Kern dennoch nicht völlig un- werden. So wie manche Analytiker den berechtigt, zumal Dahrendorf heute Christdemokraten (und Christsozialen) sagt: „Wenn sozialdemokratische Par- eine „Sozialdemokratisierung” der po- teien Wahlen gewinnen, werden sie litischen Inhalte vorhalten – und Dah- eine andere Politik machen als die, un- rendorf sprach vor fast zwanzig Jahren ter der sie einmal angetreten waren”.36 davon, am Ende dieses Jahrhunderts Wahrscheinlich dachte Dahrendorf bei seien „wir (fast) alle Sozialdemokraten seiner heutigen Rechtfertigung in er- geworden”38 –, so wird umgekehrt ster Linie an Tony Blair – es ist aber auch die These vertreten, daß das so- insgesamt nicht zu bestreiten, daß der zialdemokratische Europa „von der Kampf um die politische „Mitte” über Übernahme des Ideengutes der heu- die Mehrheitsfähigkeit in modernen tigen Opposition” (Nikolaus Blome)39 demokratischen Gesellschaften ent- lebe: „Mal eher heimlich, mal mit scheidet. Eine Rückkehr zu den alten Aplomb wurde der Instrumentenka- Rezepten der Planwirtschaft und des sten der Konservativen ausgeräumt. Staatsinterventionismus und damit ein Haushaltsdisziplin, Kampf gegen In- „Linksruck” wird den Sozialdemokra- flation, Entstaatlichung der Wirtschaft, ten in Deutschland und Europa nicht freier Wettbewerb, Globalisierung – gut bekommen. So reklamierte die kaum eines der alten Tabus der Linken deutsche Sozialdemokratie im zurück- blieb intakt. Am Ende stand pragmati- liegenden Bundestagswahlkampf – sche Realpolitik mit dem Blick für die und dies war Teil ihrer Strategie um die Zwänge der Volkswirtschaft und Mo- „Neue Mitte” – den einstens so heftig dernisierung.” Übrigens kann bei die- bekämpften Wirtschaftsprofessor und ser Gelegenheit auch darauf hingewie- CDU-Politiker Ludwig Erhard verbal sen werden, daß zur Übernahme für sich – und machte damit die CDU/ christdemokratischen Gedankengutes CSU sprachlos. durch die SPD letztlich auch die Euro- päische Integration gehört. Diese wur- Die Gestaltungskraft der Politik er- de in den Anfangsjahren der (westdeut- schöpfe sich und die Ideologien hät- schen) Bundesrepublik Deutschland ten sich entleert, konstatiert beispiels- gegen den heftigen Widerstand Kurt 64 Gerd Langguth

Schumachers und der SPD durch Kon- sches Lied davon singen. Insgesamt rad Adenauer durchgesetzt. steht die Nagelprobe bezüglich der „Entideologisierung” der „neuen” So- Wir leben in einer Zeitenwendephase zialdemokraten also noch aus. dramatischen Ausmaßes, die traditio- nelle Denkmuster in Frage stellt, wo- Die mehr pragmatische Grundeinstel- von auch politische Parteien erfaßt lung in der Bevölkerung macht indes sind. In den modernen Gesellschaften die Wähler „volatiler” – mit diesem Be- hat in der Tat eine „Entideologisie- griff wird in der Wahlforschung der rung” stattgefunden, die suggeriert, die Sachverhalt beschrieben, daß die Zahl großen politischen Kräfte seien ohne der Stammwähler zurückgeht, und weiteres austauschbar. Inwieweit diese sich Wahlverhalten immer weniger an „Entideologisierung” wirklich, in wel- langfristigen, traditionellen Einstellun- cher Tiefendimension und vor allem gen des einzelnen Bürgers festmacht, mit welcher Nachhaltigkeit die sozial- sondern an seiner subjektiven, gele- demokratischen Parteien in der Mit- gentlich wechselnden Einschätzung gliederbasis erreicht hat, ist jedoch der eigenen Interessenlage. Es wäre eine offene Frage, zumal hier manche heute nicht seriös, Vorhersagen zu ma- Flügelbildung, auch in der deutschen chen, wie lange die Sozialdemokratie Sozialdemokratie, vorliegt. Und für in Deutschland und in den anderen Deutschland gilt: Kanzlerschaft und EU-Mitgliedsstaaten im Sattel sitzt, Parteivorsitz unter einem Hut lösen doch eines läßt sich sicher sagen, daß nicht die aus einer Flügelbildung sich Wähler heute prinzipiell schneller erwachsenden Probleme. So sehr Re- dem politischen Wechsel öffnen, als gierungsparteien per se zu „pragmati- dies noch in früheren Jahrzehnten der schem” Handeln gezwungen sind, so Fall war. Alle politische und Lebenser- kann doch Politik, die zu losgelöst von fahrung zeigt, daß Quasi-Monopole den Rückbindungskräften aus der eige- den Inhaber der Macht nicht nur im- nen Partei heraus geschieht, mangels mer träger werden lassen, sondern auf Basisunterstützung scheitern – ein Pro- Dauer vom Wähler auch mit Argwohn zeß, der sich gegenwärtig bei den Bun- gesehen werden. Und dies dürfte nicht des-Grünen abzuzeichnen beginnt. nur in Deutschland so sein. Hessen Und Helmut Schmidt kann ein politi- machte einen frühen Anfang.

Anmerkungen 1 Die SPE ist das sozialdemokratisch-so- Die Organisation von Parteien auf eu- zialistische Gegenstück beispielsweise ropäischer Ebene steckt aber generell zur christdemokratischen Europäischen noch in Kinderschuhen. Dies trifft auch Volkspartei(EVP), der aus Deutschland für die SPE zu. So heißt es in einem „Ak- CDU und CSU angehören. Zwar gehen tivitäten-Programm 1999 – 2001” der SPE, die Ursprünge der SPE bis auf die fünfzi- vorgelegt auf dem SPE-Kongreß am 1./2. ger Jahre zurück; erst nach dem Vertrag März 1999: „Das Profil der Partei der von Maastricht, in dessen Artikel 138 a Europäischen Sozialisten innerhalb ihrer die Bedeutung von Parteien auf europäi- Mitgliedsparteien und der Medien ist un- scher Ebene hervorgehoben wurde, fand zureichend, obwohl das Interesse seit dem im November 1992 in Den Haag die Um- Malmö-Kongreß (Dieser fand im Juni wandlung eines früher relativ lockereren 1997 statt. D. Verf.) und nach der kürz- Zusammenschlusses in eine „Partei“ statt. lichen Serie von nationalen Wahlerfolgen Ein sozialistisches Europa? 65

gestiegen ist. Die SPE braucht eine Stra- 11 Stenographischer Bericht, Deutscher Bun- tegie, die auf eine Verbesserung ihrer Dar- destag, 14. Sitzung, 10. Dezember 1998, stellung zielt und mehr Parteimitglieder Plenarprotokoll 14/14, S. 824. in ihre Arbeit integriert.” (http://www.eu- 12 SPD-Europadelegiertenkonferenz, 8. De- rosocialists.org/congress/german/3c_2.ht zember 1998, Saarbrücken (http://www. m). Der SPE-Vorstand werde Wege disku- spd.de/kampa/konferenz/reden/schroe- tieren, „wie der SPE eine größere Basis in- der.htm). nerhalb ihrer Mitgliedsparteien gegeben 13 Ebda.. werden kann.“ 14 Ebda.. 2 Siehe dpa-Berichterstattung vom 2. März 15 Ebda.. Warum er sich in dieser Rede nur 1999: „Beim abendlichen Galakonzert in auf die Beitrittsverhandlungen mit fünf der Scala feierte die Creme unter sich die Staaten bezieht, wird sein Geheimnis blei- Renaissance der Linken in Europa. Mit ben, da ja neben den fünf mittel- und ost- dem Wahlsieg Gerhard Schröders in europäischen Staaten auch noch Zypern Deutschland sei das Schlagwort vom „En- zur ersten Erweiterungsrunde gehört; die de des sozialdemokratischen Zeitalters“, in diesem Zusammenhang zu benennen- das der Politologe Ralf Dahrendorf vor den Probleme sind keinesfalls geringer fast 20 Jahren prophezeit hatte, endgül- einzuschätzen. tig zu den Akten gelegt, hieß es auf den 16 Siehe zu den institutionellen Sicherungen Fluren des Tagungsorts in der Mailänder u.a.: Wulfdiether Zippel, Der Euro als Messe.“ An diesem Kongreß nahm auch Leitwährung – Ein Vergleich zu Dollar Bundeskanzler Schröder teil. Hierzu heißt und Yen, in: Politische Studien Nr. 363, es in der dpa-Berichterstattung: „Mit einer Januar/Februar 1999, S. 63 ff.. überraschend kurzen und eher staats- 17 , Rede auf der SPD-Eu- männischen Rede, in dem er auch auf ropadelegiertenkonferenz, 8. Dezember deutsches Selbstbewußtsein und natio- 1992, Saarbrücken. (http://www.spd.de/ nales Interesse abhob, wandte sich Schrö- kampa/konferenz/reden/lafontaine.htm). der an die Teilnehmer, die eher Pflichtap- 18 Zur generellen Bewertung Lafontain’scher plaus spendeten. Er machte gar nicht erst Politik aus britischer Sicht siehe: Finan- den Versuch, sich als neuer Hoffnungs- cial Times, 9. März 1999 (Artikel „Stee- träger in Europa zu präsentieren.” ring an uncertain cours“ von Ralph At- 3 Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise. kins). Über die Zukunft des Liberalismus, Stutt- 19 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. No- gart 1983, S. 17. vember 1998. 4 Ebda., S. 16. 20 Siehe hierzu u.a.: Czempiel, in: Die Welt, 5 Eckhard Fuhr, Der Faden ist gerissen, in: 27. November 1998, ähnlich: Karl Kaiser, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. De- in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. zember 1998. Dezember 1998; dazu in Gegensatz: Ge- 6 Dahrendorf erklärt heute, seine These neral Klaus Naumann, in: Frankfurter All- vom „Ende des sozialdemokratischen gemeine Zeitung, 10. Dezember 1998. Zeitalters“ sei häufig dahingehend miß- 21 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Mai verstanden worden, daß die sozialdemo- 1977. kratischen Parteien keine Wahlen gewin- 22 Jochen Buchsteiner, Tony und sein drit- nen können: „Das war gar nicht gemeint. ter Weg, in: Die Zeit, 13. Juni 1997 (Für Vielmehr griff die These tiefer: Sozial- Schweden traf die Vermutung nicht zu.). demokratische Politik hat sich erschöpft. 23 Die Neue Zürcher Zeitung vom 3. Okto- Wenn sozialdemokratische Parteien Wah- ber 1998 meinte hierzu sogar: „Einiges len gewinnen, werden sie eine andere Po- spricht für die These, daß es in Deutsch- litik machen als die, unter der sie einmal land nicht zum jetzigen Machtwechsel angetreten waren.” (Ralf Dahrendorf, Die gekommen wäre, wenn Kohl sein vor vier neue Parteienlandschaft, in: Die Zeit, 25. Jahren abgegebenes Versprechen gehal- Juni 1998). ten und das Kanzleramt rechtzeitig sei- 7 , Mit uns zieht die alte Zeit, in: nem designierten Nachfolger Wolfgang Die Woche, 30. August 1996. Schäuble übergeben hätte.” 8 Neue Zürcher Zeitung, 27. Oktober 1998. 24 Siehe auch: Matthias Jung/Dieter Roth, 9 Karl-Rudolf Korte, Unbefangen und ge- Wer zu spät geht, den bestraft der Wäh- lassen. Über die außenpolitische Norma- ler, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B lität der Berliner Republik, in: Internatio- 52/98, 18. Dezember 1998, S. 3 ff.; ferner: nale Politik, Dezember 1998, Nr. 12, S. 5. Oscar W. Gabriel/Frank Brettschneider, 10 Neue Zürcher Zeitung, 27. November Die Bundestagswahl 1998: Ein Plebiszit 1998. gegen Kanzler Kohl? Ebda., S. 20 ff.. 66 Gerd Langguth

25 Siehe ausführlicher hierzu: Gerd Lang- 30 Tony Blair, Der dritte Weg – für eine neue guth, Suche nach Sicherheiten – Ein Psy- Sozialdemokratie, in: Die Welt, 22. Sep- chogramm der Deutschen, Stuttgart 1975. tember 1998. 26 Das bestätigt auch das CAPITAL-Elite-Pa- 31 Siehe insbesondere zur wirtschaftspoliti- nel des Instituts für Demoskopie Allens- schen Analyse beider Parteien: Wolfgang bach. Von rund sechshundert befrag- Merkel, Die Endzeit-Propheten haben ten Führungskräften erklärten 62% als sich getäuscht, in: Frankfurter Allgemei- Hauptgrund: „Es war eine Wegwahl ne Zeitung, 9. Dezember 1998. Kohls, Kohlmüdigkeit“ (61% der CDU- 32 Buchsteiner, a.a.O.. Anhänger), weitere 30% meinten: „CDU 33 Siehe hierzu ausführlicher: Gerd Lang- war verbraucht, verkrustet“ (26% der guth, Rückschau auf die Zukunft. Deutsch- CDU-Anhänger meinten dies), zwanzig land im Zeichen der „Globalisierung”, in: Prozent gaben „schlechte Selbstdarstel- Europäische Rundschau, Nr. 1/98, S. 49 ff.. lung, schlechter Wahlkampf“ an (25% 34 Siehe zu den europapolitischen Grund- der CDU-Anhänger meinten dies) und einstellungen von Franz-Josef Strauß: nur sieben Prozent nannten als Haupt- Gerd Langguth, Abkehr von Franz-Josef grund „Reformstillstand in der Politik, Strauß? CSU-Chef setzte Einigung Euro- durch die Blockade der SPD“ (im Bun- pas gegen nationalstaatliche Restaurati- desrat – 7% der CDU-Anhänger meinten on, in: Die Welt, 1. Dezember 1993. dies ebenfalls (IfD-Umfrage, 4201, No- 35 Bundeskanzler Schröder erklärte hierzu, of- vember 1998). fensichtlich in Absetzung zu seinem Vor- 27 Zu den antidemokratischen Tendenzen gänger: „Es ist eine Tatsache: Das europa- der SED-Nachfolgepartei siehe: Gerd politische Pathos der Gründerjahre wird Langguth, „Ob friedlich oder militant – heute vielfach nicht mehr verstanden.“ wichtig bleibt der Widerstand“ – Die PDS (http://www.bundeskanzler.de/01/0101/03) sucht enge Verbindung zu den verschie- 36 Siehe Fußnote 6. denen Spielarten des Linksextremismus, 37 Anthony Giddens, Jenseits von Links und in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rechts. Die Zukunft radikaler Demokra- 14. September 1995. tie, Frankfurt am Main 1997, S. 9. 28 Schröder laut Frankfurter Allgemeine Zei- 38 Siehe Fußnote 3. tung, 8. März 1998. 39 Nikolaus Blome, Die Wahlverlierer re- 29 Siehe ausführlicher hierzu: Gerd Lang- gieren weiter. Das „sozialdemokratische guth, Der grüne Faktor. Von der Be- Europa“ lebt von der Übernahme des wegung zur Partei? Osnabrück-Zürich Ideengutes der heutigen Opposition, in: 1984. Die Welt, 13. Januar 1999. Linkswende in der EU: Für ein Ende des parteipolitischen Konsenses in der Europapolitik

Joachim Wuermeling

Den Abschied einer „Ära konservativer Globalisierung, so der frühere SPD-Vor- Politik in der Europäischen Union“ sitzende und Bundesfinanzminister sieht die Süddeutsche Zeitung in dem Lafontaine, zwinge dazu, „ein neues Regierungswechsel zu Rot/Grün in sozialdemokratisches Zeitalter zu be- Bonn. In der Tat: Heute sind 13 von 15 ginnen”. Der SPÖ-Finanzminister Ru- Regierungen der EU-Mitgliedstaaten dolf Edlinger fordert einen Schulter- links oder mitte/links regiert. Die So- schluß der Sozialdemokratie in der EU, zialdemokraten stellen nicht weniger um „andere Akzente“ als die Christ- als 11 der Regierungschefs. Im Euro- demokraten zu setzen. päischen Parlament formierten sich die Sozialisten mit 214 Abgeordneten Über eine „neue progressive Mehrheit” zur stärksten Fraktion. Gerade einmal im Ministerrat freut sich die Vorsitzen- ein Viertel der Mitglieder der Europäi- de der Sozialistischen Fraktion im Eu- schen Kommission kommen aus den ropäischen Parlament, Pauline Green. Reihen der Christdemokraten. Zugegeben: Die Sozialdemokratie in Jedoch: Die neuen Kräfteverhältnisse der EU zeigt sich in vielerlei Farben. allein sind gar nicht einmal so spekta- Von den Modernisierern wie in Groß- kulär. Denn zwischen der einen oder britannien und in den Niederlanden der anderen Couleur wechselte die bis zu den Traditionalisten in Frank- europäische Stafette auch früher schon reich, Italien und Deutschland schillert hin und her. Nur in Europa änderte das bunte Bild. Vieles ist in der Posi- sich dadurch die Politik nicht. Das ent- tionierung noch in Bewegung. Den- scheidende Novum ist der erklärte Wil- noch führt an der Erkenntnis kein Weg le der neuen Linken, die Europäische vorbei: Im politischen Koordinaten- Union erstmals unter parteipolitischen system der EU hat sich der Schwer- Vorzeichen zu gestalten. „Die Euro- punkt der Macht in den letzten Jahren päische Union ist ein zutiefst sozial- nach links verlagert. Ist damit auch das demokratisches Projekt“, bemerkte der Ende des parteipolitischen Konsenses frühere EP-Präsident Klaus Hänsch. Die in der Europapolitik eingeläutet?

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 68 Joachim Wuermeling

Der folgende Beitrag gibt zunächst ei- wollen die europäischen Sachpolitiken nen Überblick über sozialdemokrati- rot einfärben. Inhalte, Begriffe und sche Positionen in der EU-Politik (1.) Richtung der EU-Politik werden zu- und beobachtet neu entstehende In- nehmend typisch sozialdemokratisch. strumente der parteipolitischen Koor- Wichtige aktuelle Initiativen der EU dinierung (2.). Sodann werden kritisch tragen schon in der Formulierung lin- die politischen, ökonomischen und ge- ke Züge: „Europäisches Gesellschafts- sellschaftlichen Wirkungen der neuen modell“, „Europäische Beschäftigungs- EU-Politik gewürdigt (3.). Auf dieser politik“ oder „Europäische Daseins- Grundlage wird das christlich-demo- vorsorge“. kratische Konzept markiert (4.). Noch ist kein geschlossenes System erkennbar, doch zeigen sich erste Kon- 1. Inhalte: Wie die Linke turen. Einige Beispiele aus dem wirt- Europa umbauen will schaftlichen Bereich mögen das illu- strieren: Bis heute dominierte der Widerstreit nationaler Interessen die Inhalte der Europapolitik. Parteipolitische Orien- 1.1 Europäische tierungen wurden davon weitgehend Beschäftigungspolitik überlagert. Die relevanten Themen ga- ben wenig Anlaß zu einer ideolo- Mit einer europäischen Beschäftigungs- gischen Auseinandersetzung: Friedens- politik soll die nationale Arbeitslosig- sicherung, Völkerverständigung, Zoll- keit durch EU-Maßnahmen bekämpft abbau, Binnenmarkt. In Deutschland werden. Das erschöpft sich zunächst – wie in anderen Mitgliedstaaten auch – noch in „beschäftigungspolitischen entzog ein staatspolitischer Konsens Leitlinien“. Mindestens genauso wich- die Europapolitik dem Parteienstreit. tig wie die Inhalte der 22 Leitlinien In der Europäischen Kommission wa- (1998) ist das Verfahren zu ihrer Über- ren integrations- und nicht parteipoli- wachung: Sie wurde vom ehemali- tische Überzeugungen der Maßstab des gen EU-Kommissionspräsident Jacques Handelns. Im Europäischen Parlament Santer als „sanfte Revolution“ bezeich- kämpften die Fraktionen gemeinsam net. Die „Luxemburger Strategie“ gibt um ihre institutionelle Stellung. zahlenmäßig festgelegte Ziele der Be- schäftigungspolitik vor. Zum Beispiel Diese politische Kultur der europäi- sollen arbeitslose Jugendliche inner- schen Institutionen kehrt sich natür- halb von sechs Monaten eine staatli- lich nicht von heute auf morgen um. che Beschäftigungsförderung erhalten. Die nationalen Interessen sind und Die Schulabbrecherquote soll halbiert bleiben ein maßgeblicher Faktor der werden. Die Kommission soll die Ein- europäischen Entscheidungsfindung: haltung der Ziele überwachen und hat Nord gegen Süd, Klein gegen Groß, schon in ihrem ersten Bericht dazu mit Reich gegen Arm. Die gegenwärti- deutlicher Kritik an einigen Mitglied- ge Debatte zur Agenda 2000 weist staaten nicht gespart. Die neue Bun- das eindrucksvoll nach. Dennoch ist desregierung will unter ihrer EU-Prä- unverkennbar: Die Sozialdemokraten sidentschaft in einem „europäischen Linkswende in der EU: Für ein Ende des parteipolitischen Konsenses 69

Beschäftigungspakt” den Grad der Ver- ziale Mindeststandards, sondern „Kor- pflichtung der beschäftigungspoliti- ridore“. Die Ideen reichen hin bis schen Leitlinien weiter erhöhen. Der zu verbindlichen „Sozialleistungsquo- Schwerpunkt der Leitlinien liegt in der ten“ in den Mitgliedstaaten (frühere Arbeitsmarktpolitik, d.h. in direkten europapolitische Sprecherin der SPD- staatlichen Maßnahmen zur Förderung Bundestagsfraktion und jetzige Ent- der Beschäftigung. Strukturverbesse- wicklungshilfeministerin Heidemarie rungen zur Erhöhung der Wettbe- Wieczorek-Zeul). werbsfähigkeit werden nur am Rande erwähnt. Europäische Beschäftigungs- programme werden derzeit auch von 1.4 Währungspolitik den Sozialdemokraten noch abgelehnt. Jedoch hat das Europäische Parlament Die vorbehaltlose Stabilitätsverpflich- bereits ein Programm für beschäfti- tung für den Euro in dem Vertrag von gungspolitische Maßnahmen gebilligt. Maastricht und der Stabilitätspakt sind Mit 450 Mio. Euro über drei Jahre ist den Sozialisten ein Dorn im Auge. Die es zwar noch bescheiden ausgestattet. Versuche nehmen zu, die Europäische Weitergehende Vorschläge liegen aber Zentralbank politisch unter Druck zu schon in der Schublade. Der italieni- setzen, etwa um Zinssenkungen zu er- sche Ministerpräsident d’Alema fordert reichen. Das Stabilitätsziel soll relati- eine „Europäische Anleihe für Wachs- viert werden, indem ihm gleichrangig tum“, der französische Premierminister ein „Beschäftigungsziel“ an die Seite Lionel Jospin ein Programm für die gestellt wird. Die Stabilitätskriterien transeuropäischen Netze, um die Be- werden in Frage gestellt oder sollen schäftigung zu fördern. uminterpretiert werden. So hat Italien vorgeschlagen, investive Staatsausga- ben aus der Verschuldung herauszu- 1.2 Steuerharmonisierung rechnen. Im Weltwährungssystem sol- len die Wechselkurse politisch in Form Die Angleichung der Steuersysteme, von Zielzonen zwischen den großen wie sie sich etwa deutsche Sozialde- Währungen festgelegt werden. Schrö- mokraten vorstellen, beschränkt sich der in seiner Regierungserklärung: nicht auf indirekte Steuern und auch „Wir wollen nicht, daß der Euro nicht auf unfaires Steuerdumping. Der deutsch spricht.” ehemalige Bundesfinanzminister La- fontaine wollte etwa das Einstimmig- keitsprinzip im Steuerrecht aufheben. 1.5 EU-Strukturpolitik Gegenstand der Harmonisierung sol- len die direkten Steuersätze und die Be- Das in der Agenda 2000 vorgelegte steuerungsgrundlagen sein. Konzept zur Neuordnung der europäi- schen Strukturpolitik atmet bereits sozialdemokratischen Geist. Das Be- 1.3 Sozialstandards schäftigungsziel überlagert alle übrigen fachlichen und regionalen Ziele. Dem Auch die Sozialstandards sollen ange- liegt der Glaube an eine weitgehende glichen werden. Ziel sind nicht nur so- staatliche Steuerungsmöglichkeit des 70 Joachim Wuermeling

Arbeitsmarktes zugrunde. Nicht Struk- ten die klassischen Akzente setzen: In turprobleme als solche sind Maßstab der Verbraucherpolitik gängeln sie für den Einsatz der EU-Mittel, sondern den Bürger etwa durch Werbeverbote. die Krisensymptome wie die Höhe der Das verbraucherpolitische Aktionspro- Arbeitslosigkeit. Die vorübergehende gramm der Kommission geht nicht Linderung dieser Symptome geht den von der Privatautonomie des mündi- strukturellen Verbesserungen vor. gen Verbrauchers, sondern von der Notwendigkeit allumfassender Fürsor- Klientelorientiert ist die deutliche Ver- ge aus. In der Verkehrspolitik soll der schiebung der Fördergebiete vom länd- Bürger zur Nutzung umweltschonen- lichen Raum in die Industriegebiete der Verkehrsmittel gezwungen wer- und Städte. Der Anteil des ländlichen den. Das Grünbuch der Europäischen Raums an den Fördergebieten sinkt Kommission „Faire Preise im Verkehr“ nach Vorschlägen von EU-Kommissa- schlägt eine Umlegung aller möglichen rin Wulf-Mathies um 44%, während externen Kosten bis hin zu Kosten die allgemeine Kürzungsquote nur durch Verkehrsstaus auf die Preise vor. 20% beträgt. Dafür sollen „problembe- In einer Politik für die „öffentliche Da- haftete Stadtviertel“ gefördert und seinsvorsorge“ soll der Bürger staat- die „soziale Ausgrenzung“ bekämpft licherseits auf der Basis von EU-Min- werden. destnormen umfassend versorgt werden.

1.6 Agrarpolitik 2. Verfahren: Sozialistische Koordinierung allerorten In der Agrarpolitik verfolgen die So- zialdemokraten pikanterweise einen Der Wille, gemeinsam sozialdemokra- liberalen Ansatz. Die Vorschläge in der tische Politik in der EU umzusetzen, Agenda 2000, die Preise zu senken und beweist sich an der sprunghaften Zu- mittelfristig dem Weltmarktniveau an- nahme von Koordinierungen der so- zunähern, werden in der Tendenz von zialdemokratischen Funktionsträger. den sozialistischen Agrarministern un- Bis vor kurzem noch waren Vorbe- terstützt. Eine Regionalisierung der Zu- sprechungen der Parteifamilien zu ständigkeiten, wie sie insbesondere die Sitzungen des Ministerrates oder der Bayerische Staatsregierung fordert, leh- Europäischen Kommission völlig nen sie ab. Unverkennbar ist: Für die unüblich. Eine Ausnahme bildete seit Landwirte, die dem anderen Lager zu- einigen Jahren nur der Europäische geneigt sind, will man sich nicht aus Rat. Mittlerweile haben die Sozial- dem Fenster lehnen. demokraten Koordinierungstreffen so- wohl vor dem Ministerrat als auch vor Sitzungen der Europäischen Kom- 1.7 Verbraucherschutz und mission eingeführt. Besondere Auf- Verkehr merksamkeit hat die Annahme einer währungspolitischen Position der so- In der Regulierung der Wirtschafts- zialdemokratischen EU-Finanzminister tätigkeit im Rahmen des Binnen- am Tag vor der Sitzung des ECOFIN- marktrechts wollen die Sozialdemokra- Rates Ende November 1998 erregt. Linkswende in der EU: Für ein Ende des parteipolitischen Konsenses 71

Beschränkte sich die europaweite Zu- 3. Kritische Würdigung sammenarbeit der Parteien bisher auf die Fraktionen im Europäischen Parla- 3.1 Ideologisches ment, so geht sie nun auf die Regie- Integrationsziel rungsebene über. Dabei sind multilate- rale Koordinierungssitzungen nur ein Zunächst eine integrationspolitische Bestandteil. Bilaterale Kontakte zwi- Bemerkung: Gegenüber den sozialde- schen einzelnen Regierungen ergänzen mokratischen Anliegen treten andere die operativen Vorstöße. Bemerkens- europäische Ambitionen zunehmend wert ist die Einrichtung einer deutsch/ in den Hintergrund. Bei der Oster- britischen Arbeitsgruppe unter Füh- weiterung etwa, früher eine absolute rung des Vordenkers der Labour-Party Priorität, weigert sich die neue Bun- Peter Mandelson und Kanzleramts- desregierung, ein konkretes Zieldatum minister Bodo Hombach zum „dritten für den Beitritt zu nennen und spricht Weg“. Der Parteitag der europäischen von neuem „Realismus“. In der ge- Sozialisten in Mailand im März 1999 meinsamen Außen- und Sicherheits- formulierte konkrete Anforderungen politik werden kaum noch Akzente an den europäischen Beschäftigungs- gesetzt. Die institutionellen Fragen pakt. werden mit wenig Engagement behan- delt. Das Thema Subsidiarität und Auch in der Personalpolitik in den eu- Bürgernähe ist völlig zurückgedrängt ropäischen Institutionen, die früher worden. Beim Europäischen Rat in vornehmlich vom nationalen Proporz Pörtschach am 24./25.10.1998, der beherrscht war, spielen neuerdings sich eigentlich gänzlich dieser Frage parteipolitische Gesichtspunkte eine widmen wollte, mußte das Thema der größere Rolle. Die Entscheidung von neuen Beschäftigungspolitik weichen. Rot/Grün in Deutschland, die beiden deutschen Kommissare ausschließlich Mit dem Programm für ein sozialisti- von Regierungsseite zu besetzen, gibt sches Europa verändert sich das Ziel davon beredtes Zeichen. Früher war es der Europäischen Union grundlegend. gute deutsche und europäische Übung, Der entscheidende Punkt ist: Nicht je einen Regierungs- und einen Oppo- mehr der Ausgleich der nationalen In- sitionsvertreter zu entsenden. teressen, nicht mehr der integrations- politische Fortschritt bildet die Richt- Eine neue parteipolitische Solidarität schnur des Handelns. Erstes Ziel ist der der besonderen Art offenbarte die Ver- parteipolitisch-ideologisch motivierte eitelung des Mißtrauensvotums gegen Umbau des europäischen Wirtschafts- die Europäische Kommission durch und Gesellschaftssystems. die Sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament im Januar Dabei bildet das Verhältnis von Wirt- 1999: Hatten die großen Parteifamilien schaft, Staat und Gesellschaft den Kern in der Konfrontation mit der Kom- der Vorstöße. Denn der Schwerpunkt mission bisher zusammengehalten, der EU-Zuständigkeiten liegt im Be- deckten die Sozialisten nun „ihre“ reich der Wirtschaftsordnung. Der mit Kommissare und verhinderten ihre den linken Vorstellungen zwangsläufig Entfernung. verbundene zunehmende Staatsinter- 72 Joachim Wuermeling ventionismus bewirkt dabei einen der Standorte und hoheitlichen Sy- enormen Zentralisierungsschub. Vieles steme sollen durch EU-Regelungen läuft in letzter Konsequenz – ob beab- die Kosten in den Regionen des Bin- sichtigt oder nicht – auf die Bildung ei- nenmarktes einander angenähert nes europäischen Staates hinaus. werden. Damit wird der Standort- wettbewerb letztlich unterbunden. In sozialdemokratischer Harmonie- 3.2 Überholte Ordnungspolitik sucht erfolgt eine weitgehende Egalisierung. Ergänzt wird sie durch Der wirtschaftspolitische Ansatz der Bestrebungen etwa europäischer Ge- EU-Verträge, insbesondere das Konzept werkschaften, die Tarifpolitik – ge- für den Binnenmarkt der Einheitlichen meint ist die Lohnentwicklung – in Europäischen Akte 1986 und für die der EU anzugleichen. Damit wird europäische Wirtschafts- und Wäh- die Deregulierung des nationalen rungsunion des Vertrags von Maas- Rechts durch die Schaffung des Bin- tricht 1992 waren liberal ausgerichtet. nenmarktes im Grunde genommen Die Öffnung der Märkte sollte zu mehr rückgängig gemacht, indem die Re- Konkurrenz und zur Erhöhung der glementierung auf europäischer Wettbewerbsfähigkeit führen. Die Li- Ebene wieder entsteht. beralisierung von Sektoren wie Ener- ● Die unterschiedliche Leistungsfä- gie, Telekommunikation und Verkehr higkeit der Volkswirtschaften und brach staatliche Monopole auf und die verschiedene Produktivität wer- setzte sie grenzüberschreitender Kon- den dabei ignoriert. Damit entsteht kurrenz aus. Die Währungspolitik wur- zwangsläufig eine Schieflage: Da de auf das Ziel der Stabilität verpflich- sich die weniger entwickelten Mit- tet. Die Kriterien für den Eintritt in die gliedstaaten weder kostentreibende Wirtschafts- und Währungsunion und Sozial- und Umweltstandards noch vor allem das Verschuldenskriterium eine hohe Steuerbelastung leisten erteilten dem klassischen „deficit spen- können, werden Staat und Wirt- ding“ eine klare Absage. Die rigide schaft dort überfordert. Die Renta- Kontrolle staatlicher Beihilfen suchte bilität der Arbeitsplätze sinkt, weil die staatliche Subventionierung von die europäisch verordneten Arbeits- Altindustrien einzuschränken. Einzig kosten durch die Produktivität nicht der Bereich der Agrarpolitik war – aus erwirtschaftet werden können. In- guten Gründen – dem wettbewerb- vestitionen in diesen Ländern lichen Ansatz entzogen. Demgegen- lohnen sich nicht mehr und Ar- über blieben die sozialpolitischen Ak- beitsplätze werden abgebaut. Die tivitäten verhalten. Abwertung der nationalen Wäh- rung steht nach Einführung des Dies soll sich nun grundlegend ändern: Euro als Ventil nicht mehr zur Verfügung. Riesige europäische ● Eine weitgehende Harmonisierung Transfers wären erforderlich, um die der Wirtschafts- und Finanzpolitik entsprechenden Niveaus zu finan- sowie des Steuer- und Sozialrechts zieren. Die Alternative: Sozialisti- gibt den liberalen Ansatz des Wett- sche Umverteilung – oder es kommt bewerbs auf. Statt der Konkurrenz zum Crash. Linkswende in der EU: Für ein Ende des parteipolitischen Konsenses 73

● Die fruchtbare Triebkraft des Wett- 3.3 Egalisierung und bewerbs wird ausgeschaltet. Durch Umverteilung die harmonisierten Bedingungen werden die spezifischen Standort- Bestanden die europäischen Ziele der vorteile der Wirtschaftsregionen ab- Gründungsverträge der 50er Jahre geschmolzen. Mittel- und langfristig in der Aufhebung von Grenzen, Be- soll es keinen Unterschied mehr schränkungen und Behinderungen, so machen, ob in Portugal, den Nie- tritt nun die aktive Steuerung von derlanden oder Finnland produziert Wirtschaft und Gesellschaft in den wird. Die Konkurrenz erlahmt, die Vordergrund. Zum Beispiel: Das euro- Innovationsanreize sinken, und die päische Raumentwicklungskonzept Wettbewerbsfähigkeit fällt. will auf planerischem Wege zu einer weiteren Angleichung der Lebensver- Mit dem Effizienzverlust ist aber hältnisse beitragen. In den beschäfti- auch gesellschaftspolitisch eine Ni- gungspolitischen Leitlinien werden die vellierung verbunden. Denn zu- Mitgliedstaaten zu arbeitsmarktpoliti- nehmend bestimmen europäisch schen Aktivitäten veranlaßt. In der vereinheitlichte Standards den Rah- Verbraucher- und Verkehrspolitik wer- men. Das Recht der Wirtschaft ist den die Menschen zu EU-definiertem stark geprägt von der Unterschied- verantwortlichen Handeln herange- lichkeit der Kulturen und Lebens- zogen. In der Umweltpolitik werden weisen: Das Verhältnis von Arbeit- selbst administrative Verfahrensfra- gebern und Gewerkschaften, von gen zum Gegenstand der Verein- Staat und Wirtschaft, von Arbeitge- heitlichung gemacht. Das besondere bern und Gewerkschaften, von Her- Augenmerk von Kommission und Par- stellern und Verbrauchern und von lament genießen neue Verpflichtun- Wirtschaft und Umwelt ist von gen der Mitgliedstaaten zur Förderung Land zu Land unterschiedlich. Der von benachteiligten Gruppen. Im Rah- Weg vom gemeinsamen zum ein- men der Reform der Strukturpolitik heitlichen Binnenmarkt ist auch ein sollen „Leitlinien“ der Kommission die Schritt von der gemeinsamen zur Maßnahmen der geförderten Regionen einheitlichen Gesellschaft. auf eine einheitlichere Linie bringen.

● Im Zeichen der Globalisierung ist Mit der Egalisierung geht eine ver- das das falsche Konzept: Im un- stärkte Umverteilung in immer mehr endlichen Meer des weltweiten Lebensbereichen einher. Die EU-Struk- Wettbewerbs muß Europa aus turfonds, die in der nächsten Pla- vielen kleinen Fregatten bestehen. nungsperiode ein Volumen von 400 Es darf nicht zum großen Tanker Mrd. DM erreichen werden, beschrän- umgerüstet werden. Auch die Wirt- ken sich nicht mehr auf die Verbesse- schaft verfolgt diese Strategie nicht. rung der unmittelbaren Wettbewerbs- Zwar werden weltumspannende bedingungen. Die Bekämpfung der Fusionen geschmiedet, doch die sozialen Ausgrenzung, Aus- und Fort- Selbständigkeit der am Markt ope- bildung, Maßnahmen in „problem- rierenden Akteure wird nicht ge- behafteten Stadtgebieten“ kommen schmälert. hinzu. Der „Kohäsionsfonds“ zur För- 74 Joachim Wuermeling derung von Verkehrs- und Umweltpro- etwa an der deutschen Bundesregie- jekten wird weitergeführt. Hinzu kom- rung eine Infragestellung Deutsch- men zahlreiche Einzelprogramme der lands ist, bedeutet ein Hinterfragen EU, deren wichtigster Effekt die Um- von europapolitischen Entscheidun- verteilung ist. Das beginnt bei der För- gen einen Zweifel an der EU als derung des Tourismus und endet bei solcher. transeuropäischen Netzen.

4.2 Auf die Grundlagen 4. Demgegenüber: Das freiheit- besinnen liche und bürgerliche Europa Das bürgerliche Europa-Konzept ergibt 4.1 Programmatische Defizite sich fast von selbst, wenn man sich auf die Grundlagen besinnt. Ausgehend Die bürgerlichen Kräfte in Europa ha- vom christlichen Menschenbild muß ben dem Projekt eines „linken Europa“ der Gedanke der Freiheit für die euro- programmatisch derzeit wenig entge- päische Debatte neu belebt werden. Es genzusetzen. Es mangelt zwar nicht an ist das „liberale Argument“, das den der Überzeugung, daß die Sozialisten linken Vorstellungen entgegengesetzt den falschen Weg einschlagen. Jedoch werden muß. Hieraus folgen dann wie erschöpft sich dies in einem fort- selbstverständlich weitere Schlüssel- laufenden „Nein“. Noch liegen die begriffe der Auseinandersetzung: Ei- Gegenargumente verstreut herum genverantwortung, Wettbewerb, Sub- und sind nicht zu einem visionären sidiarität. Ganzen zusammengefügt. Wie in den 70er Jahren um die Rolle Erschwert wird die Gegenwehr durch des Staates in der Gesellschaft gerun- die Fortsetzung des pragmatischen gen wurde, muß heute über die Rolle Werkelns an der Baustelle Europa, das der EU in Europa diskutiert werden: keinem festen Bauplan folgt. Diese „Methode-Monnet“ war zwar bis heu- ● Soll die EU für einheitliche Lebens- te Grundlage des Erfolgs der Inte- verhältnisse in Europa sorgen? gration. In Konkurrenz zu einem ideo- ● Hat die EU eine Verantwortung im logischen Konzept, hinter dem ent- Sinne einer Fürsorge für den einzel- sprechende Mehrheiten stehen, ver- nen? sagt es jedoch. ● Sollen die Gesellschaften der EU immer weiter integriert werden? Oft fehlt es auch an der Bereitschaft, ● Hat die EU die Aufgabe, Verteilungs- die parteipolitische Auseinanderset- gerechtigkeit in Europa herzu- zung auf europäischer Ebene anzuneh- stellen? men. In einer falsch verstandenen Schutzhaltung gegenüber Europa wer- In der Debatte werden sich zuneh- den Fehlentwicklungen nicht offen be- mend föderale und ideologische Ele- nannt. Die „Europaparteien“ im bür- mente mischen. Denn letztlich wird gerlichen Lager lassen so der Linken alles auf die Frage der Finalität der EU freien Lauf. Doch so wenig die Kritik zurückgeführt. Es zeigt sich, daß die Linkswende in der EU: Für ein Ende des parteipolitischen Konsenses 75

Antwort nicht nur eine integrations- Union im Innern zu gestalten. Dem politische, sondern auch eine welt- folgt auch der sozialdemokratische anschauliche oder zumindest par- Ansatz. Die entscheidenden Zu- teipolitische Dimension hat. Ein par- kunftsaufgaben der EU stellen sich teiübergreifender Konsens ist hier aber künftig im globalen Zusam- kaum in Sicht. Nur in der formalen menhang. Dabei geht es bei weitem „Gehäuse-Diskussion“ um Bundesstaat nicht nur um Gemeinsame Außen- oder Verfassung ist er denkbar. Dann und Sicherheitspolitik. Derzeit ent- werden aber die entscheidenden Fra- steht ein globaler Ordnungsrahmen gen ausgespart. Von den Christdemo- etwa für den Welthandel, den Kli- kraten ist auch in der Europapolitik ein maschutz, die Migration, die Men- neuer Mut zu Freiheit, Wettbewerb schenrechte. Hier müssen die euro- und Selbstverantwortung gefordert. päischen Interessen zur Geltung Damit sind wir noch keine Neolibera- gebracht werden. Das kann und len. Damit amerikanisieren wir Europa sollte die wichtigste Aufgabe der EU noch nicht. Aber wir machen die Wer- im 21. Jahrhundert sein. te wieder fruchtbar, auf die sich unsere ● Die Globalisierung und die Infor- Politik gründet. mationsgesellschaft – das müssen wir in den Mittelpunkt rücken – müssen nach dem „Maß des Men- 4.3 Neue Herausforderungen schen“ gestaltet werden. Die Welt annehmen ist für den Menschen keine Heimat. Das „globale Dorf“ – es existiert Es ist bemerkenswert, welche geringe nicht. Weltumspannende Wirklich- Rolle die neuen Herausforderungen in keit und vertraute Heimat müssen der sozialdemokratischen Gedanken- miteinander in Einklang gebracht welt spielen. Zu Globalisierung, Infor- werden. Dazu sind programmatisch mationsgesellschaft, demographischer die Christdemokraten prädestiniert. Wandel, Nachhaltigkeit, neue Bürger- gesellschaft – um nur einige Stichwor- te zu nennen – findet sich nur wenig 5. Schluß: Die parteipolitische Greifbares. Auseinandersetzung um Europa suchen Aber auch in unseren programma- tischen Überlegungen kommen diese Europa darf der Parteipolitik nicht län- elementaren Faktoren unserer Zukunft ger entzogen bleiben. Heute geht es noch zu wenig vor. Gerade in der Euro- mehr denn je um die Frage: Welches papolitik sind sie aber von herausra- Europa wollen wir? Nach dem Aufga- gender Bedeutung. Im Rahmen dieses lopp in diesem Jahrzehnt – Vertrag von Beitrags kann dem leider nicht im ein- Maastricht 1991, Europäischer Binnen- zelnen nachgegangen werden. Nur markt 1993, Norderweiterung 1995, zwei Gedanken seien angedeutet: Vertrag von Amsterdam 1997, Euro 1999 – müssen die Grundentschei- ● Die EU war bisher nahezu aus- dungen der europäischen Integration schließlich nach innen bezogen. hinterfragt und neu beantwortet Alle Ziele suchten die Europäische werden. 76 Joachim Wuermeling

Niemand wird dabei die Integration als politischen Normalität. Sie rückt damit solche in Frage stellen. Denn um das auch an demokratische Strukturen „Ob“ der EU geht es schon lange nicht näher heran. mehr. „Pathetische Europabekenntnis- se gehören der Vergangenheit an“, Die bürgerliche Mitte in Europa kann schrieb zu Recht der Focus. Um so in dieser Auseinandersetzung ihr euro- wichtiger ist das „Wie“. Die Parteien papolitisches Konzept auf festen Fun- haben hier höchst unterschiedliche damenten errichten: Der Mensch steht Vorstellungen, und das ist gut so. Nur: im Mittelpunkt. Vielfalt geht vor Uni- Insoweit kann es dann auch den tradi- formisierung, Eigenverantwortung vor tionellen parteipolitischen Konsens in Reglementierung, Wettbewerb vor In- der Europapolitik nicht mehr geben. terventionismus. Wir müssen diese Die enorme Verdichtung der europäi- Herausforderung annehmen, sie sogar schen Aktivitäten führt zwangsläufig suchen. Sie eröffnet die Chance, das in die ideologischen Konfliktzonen „neue sozialdemokratische Zeitalter“ hinein. Daran ist nichts Negatives. Im (SZ) zu beenden, bevor es begonnen Gegenteil: Die EU nimmt teil an der hat. Sozialdemokratisierung – Rahmenbedingungen eines europäischen Trends

Peter M. Schmidhuber

Seit Anfang der neunziger Jahre haben Ich möchte mich in der gebotenen sich die politischen Machtverhältnisse Kürze zu zwei Punkten äußern, näm- in den Mitgliedstaaten der EU signi- lich fikant verändert. In 14 von 15 Mit- ● zur unterschiedlichen Rolle der Par- gliedstaaten sind sozialistische bzw. teien auf der Gemeinschaftsebene, sozialdemokratische Parteien an der d.h. im Europäischen Parlament Regierung beteiligt. Was bedeutet dies und in den Mitgliedstaaten und für die Zukunft der EU? ● zur sich wandelnden Bedeutung des Verhältnisses von Wirtschaft, Staat Dieses Thema hat viele Facetten. Die und Gesellschaft in den reifen derzeit dominierende Stellung sozia- Volkswirtschaften Europas und sei- listischer Parteien in der EU, hat ver- ne Auswirkungen auf Wahlen. schiedene Ursachen, die aus höchst unterschiedlichen nationalen und übernationalen Einflußfaktoren re- 1. Die Rolle der politischen sultieren. Es ist gleichermaßen ein Parteien Produkt des Zeitgeistes als auch die Summation nationaler Entwicklungen 1.1 Sozialistisches und sowie persönlicher Versäumnisse und christlich-demokratisches Fehler der früher Regierenden. Parteienbündnis

Ich habe Zweifel, ob die Entwicklung Die beiden großen Parteifamilien – die der letzten Jahre mehr ist als eine Re- sozialistische und die christlich-demo- aktion auf vorangegangenes Tun oder kratische – sind zwar in Parteienbünd- Unterlassen. Ich halte diesen Trend nissen zusammengeschlossen, die im nach links für umkehrbar. Spätestens Europäischen Parlament gemeinsame der Zusammenbruch des Sowjetsy- Fraktionen bilden. Damit erschöpft stems hat uns gelehrt, in der Annahme sich aber auch schon der organisato- zwangsläufiger historischer Entwick- rische Zusammenhang. Wie sich aus lungen vorsichtig zu sein. ihren Aktionen im Europäischen Par-

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 78 Peter M. Schmidhuber lament ergibt, sind die programmati- derartige Erfolge von Schwesterpartei- schen Gemeinsamkeiten eher begrenzt. en propagandistisch verwertet werden. Die europäischen Parteienbündnis- Die Mitgliedsparteien werden nicht se (Sozialdemokratische Partei Euro- oder nur unwesentlich von der ge- pas, Sozialistische Internationale, EVP, meinsamen Spitze beeinflußt. Es ist EDU) können weder in ihrer Struktur eher umgekehrt. Die Führungen der noch in ihrer Wirkungsweise mit dem Mitgliedsparteien nehmen gelegent- Machtapparat der früheren kommu- lich starken Einfluß auf ihre Abge- nistischen Parteienbündnisse unter ordneten im Europäischen Parlament. Führung der KPDSU (Komintern, Ko- Erklärungen der beiden großen Frak- minform) verglichen werden. Dies ist tionen weisen einen hohen Abstrak- ein erster Einwand gegen die Annah- tionsgrad auf oder bedienen sich einer me eines tiefgreifenden Wandels im betont vagen Sprache. Sie beruhen Parteiensystem der EU durch die sozia- auf schwierigen Kompromissen der ver- listischen Wahlsiege der letzten Jahre. schiedenen nationalen Gruppierungen.

Die demokratische Rückkopplung er- 1.2 Feststellungen zur Wahl- folgt auf der nationalen Ebene durch entscheidung letzten Jahres Wahlen zu den nationalen Parlamen- ten. Fragen der Integrationspolitik In einem kurzen Diskussionsbeitrag ist spielen dabei nur eine geringe oder eine Analyse der komplexen Wahlent- überhaupt keine Rolle. Davon machen scheidungen der letzten Jahre selbstver- auch die Wahlen zum Europäischen ständlich nicht möglich. Aber 3 Fest- Parlament keine Ausnahme. Sie sind in stellungen können getroffen werden: erster Linie Tests der nationalen poli- tischen Kräfteverhältnisse. ● Die meisten Entscheidungen fielen – gemessen an der Zahl der Wähler- Die programmatischen Unterschiede stimmen – relativ knapp aus. Es der Mitgliedsparteien der jeweiligen Par- genügten Verschiebungen um weni- teifamilien sind erheblich. Dasselbe gilt ge Prozent, um einen Führungs- für die politische Kultur, die historische wechsel bzw. eine andere Koalition Tradition und die ökonomische Struk- herbeizuführen. tur der jeweiligen Mitgliedsstaaten. ● Die Themen der Wahlkämpfe er- gaben sich aus dem Kontext der na- Damit soll nicht gesagt werden, daß tionalen Politik. Sie waren in der die Gemeinsamkeiten zwischen den Komplexität ihrer Wirkungen nicht Parteien derselben Familie keine Be- mit Wahlen in anderen Staaten ver- deutung hätten. Aber sie dürfen nicht gleichbar. überschätzt werden. Das nationale ● Der Einfluß der Spitzenkandidaten Hemd ist wichtiger als der Rock der der Parteien auf die Wahlergebnisse Parteifamilie. Daran wird sich auch in war nicht unerheblich. Die Perso- absehbarer Zeit nichts ändern. nalisierung der Wahlkämpfe hat zu- genommen: Beispiel Tony Blair aber Wie das Beispiel Tony Blair und der auch das Duell Gerhard Schröder/ Sieg von New Labour zeigt, können Helmut Kohl. Sozialdemokratisierung – Rahmenbedingungen eines europäischen Trends 79

Daneben aber gibt es zweifellos auch dergewinnung der politischen Macht europäische oder westliche Trends, die durch die C-Parteien schwierig. diese Wahlen mittelbar und in unter- schiedlichem Ausmaß beeinflußt ha- ben könnten: 2. Die sich wandelnde Bedeu- tung des Verhältnisses von ● Der rasche ökonomische und sozia- Wirtschaft, Staat und Gesell- le Wandel und die unterschiedli- schaft in den reifen Volks- chen politischen Antworten darauf, wirtschaften Europas und sei- ne Auswirkungen auf Wahlen ● die Globalisierung und der damit verbundene Rückgang der staatli- In fortgeschrittenen kapitalistischen chen Regelungsmacht, Gesellschaften steht das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Mittelpunkt ● die Konsequenzen des Zusammen- der politischen Auseinandersetzung. In bruchs des Sowjetsystems und vielen Demokratien des Westens sind seit Beginn der achtziger Jahre beacht- ● der Wertewandel oder die Verände- liche Veränderungen im Verhältnis von rung des Zeitgeistes. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ein- getreten, die durch politische Entschei- Auf diese Einflußfaktoren geben die dungen herbeigeführt worden sind. beiden großen Parteifamilien oder bes- ser gesagt die beiden großen politi- Diese Veränderungen sind mit den schen Lager und ihre intellektuellen Namen Ronald Reagan und Margaret und publizistischen Hilfstruppen un- Thatcher verbunden. Sie sind vorbe- terschiedliche Antworten. reitet worden durch das Wirken be- deutender liberaler Intellektueller wie Das Aufkommen und die dauerhafte Karl R.Popper („The open society and Etablierung der Umweltparteien, der its enemies”), F A. von Hayek, Milton sogenannten Grünen, hat die Partei- Friedmann, John Rawls und Robert enlandschaft auf dem Kontinent ver- Nozik. ändert. Sie sind für die sozialistischen Parteien ein zusätzlicher, wenn auch Zu den wesentlichen Elementen die- schwieriger Koalitionspartner. ser Reformpolitik gehörten Entstaatli- chung (Privatisierung), Deregulierung Dadurch hat sich die koalitionspo- und eine Anpassung der sozialen litische Situation der C-Parteien ver- Sicherungssysteme an die veränderten schlechtert, da gleichzeitig die Be- finanziellen und demographischen Ge- deutung der liberalen Parteien zu- gebenheiten. Die Politik war darauf rückgegangen ist. ausgerichtet, den Staatsanteil am BSP zu senken und die Rolle des Staates Die nationalistischen Parteien am (lean government) zu reduzieren und rechten Rand des politischen Spek- gleichzeitig effektiver zu gestalten. trums (Front National, FPÖ, Republi- kaner) gelten als nicht koalitionsfähig. Parallel dazu verliefen die Rationalisie- Unter diesen Bedingungen ist die Wie- rungsanstrengungen der Wirtschaft im 80 Peter M. Schmidhuber

Zeichen einer neuen Unternehmens- Auch die beiden christlichen Kirchen philosophie (lean management, lean mahnten mehr Solidarität und soziale production, shareholder value), die zu Verantwortung an. Freisetzungen einer großen Zahl von Arbeitskräften führten, die von ande- Die Regierung Kohl befand sich seit ren Unternehmen bzw. Sektoren der der Bundestagswahl 1994 in einer sehr Wirtschaft (Dienstleistungsbereich) schwierigen Lage, die Heiner Geißler nicht bzw. nur teilweise und mit er- in einem 1995 erschienenen Buch heblichen Verzögerungen absorbiert „Gefährlicher Sieg” durchaus zutref- werden konnten. In Europa entstand fend analysiert hat. Die CDU/CSU- strukturelle Arbeitslosigkeit von etwa FDP-Fraktion unter Helmut Kohl ver- 10% der Erwerbsbevölkerung. fügte nur über eine sehr knappe Mehrheit im Bundestag. Im Bundes- Es kann nicht bestritten werden, rat hatten die von der SPD geführten daß diese Reformen die Leistungs- Länder eine deutliche Mehrheit. Der fähigkeit der betroffenen Volkswirt- Koalitionspartner FDP suchte sich schaften wesentlich erhöht haben. Sie mit einer strammen Interessenspolitik ist jedoch mit einem Zuwachs an so- (freie Berufe, Unternehmer) zu pro- zialem Spannungspotential erkauft filieren. Die finanziellen Lasten der worden. Diesem Zuwachs haben die Wiedervereinigung wurden zuneh- C-Parteien zu wenig Aufmerksamkeit mend als drückend empfunden, die geschenkt. Erreichung der sogenannten Kon- vergenzkriterien für den Eintritt in die Seit Beginn dieses Jahrzehnts wuchs in 3. Stufe der WWU zwang zu einer Deutschland – aber auch in anderen restriktiven Haushaltspolitik. Viele EU-Staaten – die Kritik an dieser Poli- Reformen, insbesondere die Steuer- tik. Die steigende Rentabilität der Un- reform, scheiterten im Bundesrat. Die ternehmen, die Erfolgsmeldungen hin- SPD verstand es geschickt, diesen „Re- sichtlich von Rekordgewinnen standen formstau”, den sie selbst mitverursacht im Gegensatz zur wachsenden Zahl der hat, anzuprangern und der Regierung Arbeitslosen und der schärfer hervor- zu Lasten zu legen. tretenden Probleme sozialer Randgrup- pen der Bevölkerung (Obdachlose, Das Ergebnis dieser Politik, die Nieder- Langzeitarbeitslose). lage Kohls bei der Bundestagswahl vom 27.09.1998, ist bekannt. Immer dringlicher wurde die Frage nach der sozialen Komponente der so- Die Auseinandersetzung geht also über zialen Marktwirtschaft gestellt. Einen das Verhältnis von Staat und Wirt- gewissen Höhepunkt erreichte die De- schaft. Sie ist nicht neu, sondern ein batte aus Anlaß des 100. Geburtstags Thema, das seit den Anfängen der Poli- von Ludwig Erhard, des legendären tischen Ökonomie diskutiert wird. Ich Schöpfers einer freiheitlichen Wirt- erinnere nur an die Schrift von Ed- schaftsordnung nach 1945, für die die mund Burke: „Thoughts and Details on Franzosen in den letzten Jahren die Be- Scarcity” (1794) oder an die Veröffent- zeichnung „Rheinischer Kapitalismus” lichungen von Thomas Robert Malthus erfunden haben. (1798), die sich mit den bedauernswer- Sozialdemokratisierung – Rahmenbedingungen eines europäischen Trends 81 ten sozialen Folgen der damaligen in- die Positionen der Kritiker des „Kapita- dustriellen take-off-Periode befaßten. lismus pur” und des „Marktversagens”, sondern durch eine moderne Defini- Aktuell ist sie in Großbritannien durch tion des Verhältnisses von Staat und Antony Giddens: „The Third Way – Wirtschaft unter den neuen Bedingun- The Renewal of Social Democracy” be- gen der Globalisierung. lebt worden. Neu ist die Suche nach dem 3. Weg nicht. Ota Sik, ein inzwi- Hier geht es um die umstrittene Frage, schen vergessener Mitinitiator des Pra- ob und gegebenenfalls inwieweit man ger Frühlings von 1968, hat sich An- die weltwirtschaftlichen Trends be- fang der siebziger Jahre in seinem einflussen bzw. sich von ihnen ab- Schweizer Exil daran versucht. schotten kann.

Und auch er hat zahlreiche Vorläufer Auch hier gibt es leidenschaftliche Kri- gehabt. Ich nenne nur noch das tiker, die diese ökonomischen Zwänge berühmte Buch von Joseph A. Schum- leugnen wie z.B. Viviane Forrester, peter: „Kapitalismus, Sozialismus und deren Buch „L’horreur économique” Demokratie”. auch in Deutschland ein großer Publikumserfolg geworden ist. Der 3. Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist keine eigene Wirt- Der zunehmenden Verflechtung der schaftsordnung, kein Patentrezept zur Weltwirtschaft wird ein Verteilungs- Überwindung der Arbeitslosigkeit und kampf mit weltweitem Ausmaß folgen. zur Herstellung von sozialer Gerech- Die großen Migrationsströme der Ge- tigkeit, sondern eine mehr oder we- genwart sind erst der Anfang dieser niger zugkräftige Formel im politi- Entwicklung. schen Meinungskampf, vergleichbar mit dem Slogan von der „Neuen Mit- Die reifen kapitalistischen Gesellschaf- te” des Kanzlergehilfen Hombach. ten Europas mit einer alternden Bevöl- kerung stehen vor einer doppelten Mir erscheint eine Rückbesinnung auf Aufgabe: die wesentlichen Elemente der So- zialen Marktwirtschaft notwendig: ● der Sanierung des Sozialstaats und eine Frieden stiftende Rechtsordnung, der Verhinderung der Desintegra- Marktwirtschaft ohne administrati- tion der Gesellschaft durch Über- ve Gängelung, soziale Korrektur der windung der Massenarbeitslosigkeit Marktergebnisse, Anpassungsbereit- einerseits und schaft an wirtschaftliche und soziale Veränderungen – keine „winner takes ● der Leistung eines Beitrags zur Ent- all-society”. schärfung des weltweiten Vertei- lungskonflikts andererseits. Die bürgerlichen Parteien und die ihnen nahestehenden Intellektuellen Dafür ein schlüssiges Konzept zu fin- müssen sich auf diese Diskussion ein- den und den politischen Führer, der lassen. Allerdings nicht durch ein nur dafür die Zustimmungsbereitschaft der zeitlich verzögertes Einschwenken auf Bürger gewinnen kann, ist die wichtig- 82 Peter M. Schmidhuber ste Aufgabe der Zukunft. Wer sie lösen als auf nüchternen Realismus an. Letz- kann, wird die Zukunft gewinnen. teres war bisher nicht die Stärke der So- Hierbei kommt es weniger auf Utopien zialisten. England, Frankreich, Deutschland – Unterschiedliche Profile von Sozialdemokratie

Roland Sturm

Ralf Dahrendorf geißelte Anfang der eine andere Politik machen als die, un- achtziger Jahre die Verirrungen des ter der sie einmal angetreten waren.“ „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Dahrendorf 1998: 8) Dies überzeugt (Dahrendorf 1983: 53f.) und sah des- nicht. Zwar ist der Ausgangspunkt der sen Ende in Sichtweite. „Das sozialde- Dahrendorfschen Überlegungen unbe- mokratische Syndrom von Werten“, so stritten. Konservative und sozialdemo- Dahrendorf (1979: 150f.), „hat nicht kratische Regierungen waren sich in nur aufgehört, Wandlungen und neue der Zeit nach dem I. Weltkrieg einig in Entwicklungen zu befördern, sondern der Unterstützung des Wohlfahrtsstaa- es hat bereits begonnen, seine eigenen tes und seinen zentralen Elementen Widersprüche hervorzurufen, mit de- wie der umverteilenden Sozialpolitik, nen es nur mühsam oder gar nicht der Politik der Staatsverschuldung, der fertig wird.“ 1997/98 münden diese Politik der Intervention in wirtschaft- „Widersprüche“, wie von Dahrendorf liche Abläufe sowie des Korporatismus selbst konstatiert, in eine Neuformie- mit all seinen Begleiterscheinungen. rung der Parteienlandschaft. „Mit Pre- Das Ende der Sozialdemokratie wurde mierminister Blairs New Labour“, so aber allzu voreilig ausgerufen. Dahrendorf (1998: 7), „ist eine zu- kunftsträchtige, attraktive Position auf- Eine strukturelle Ausgrenzung der getaucht.“ Widerspricht dies nicht der Möglichkeit sozialdemokratischer Po- These vom unaufhaltbaren Niedergang litik konnte nur durch eine eindimen- der Sozialdemokratie? sionale Verengung der politischen Analyse ohne Wenn und Aber behaup- Dahrendorf löst potentielle Unstim- tet werden. Bei Dahrendorf war die migkeiten seiner Ausführungen mit zentrale Ursache für das Scheitern der dem Hinweis, er habe nicht gemeint, Sozialdemokratie das Versagen des Sozialdemokraten könnten keine Wah- Keynesianismus, bei einigen Wahlfor- len mehr gewinnen. Vielmehr behaup- schern war dies der sozio-demographi- te er: „Wenn sozialdemokratische Par- sche „Niedergang“ der Arbeiterschaft teien Wahlen gewinnen, werden sie und Marxisten erkannten im Verrat

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 84 Roland Sturm der sozialdemokratischen Führung den besser als ihre konservativen Vorgän- Hauptgrund für die zukünftige Macht- ger in der Regierungsverantwortung ferne der Sozialdemokratie. den politischen und sozialen Wandel moderieren und managen können. Ich plädiere für eine differenziertere Dazu haben sie nur in den seltensten Argumentation. Meine These lautet, Fällen revolutionär Neues erdacht. daß es heute und vielleicht auch nie- Vielmehr betonen sie die größere Effi- mals in der Vergangenheit eine ein- zienz und die bessere Paßform ihrer heitliche sozialdemokratische Kraft in Lösungen und wecken so Hoffnungen Europa gibt und gab. Damit soll nicht und Erwartungen in ihren jeweili- bestritten werden, daß auf einigen gen Gesellschaften. Sozialdemokraten Politikfeldern Sozialdemokraten un- möchten als „moderne“ Alternative terschiedlicher Länder ähnliche Lö- gelten, also nicht als ideologischer Ge- sungen suchen. Ein Beispiel hierfür genstrom und schon gar nicht als an- könnte das Beschäftigungskapitel des tikapitalistische Linke. Um als Alterna- Amsterdamer Vertrages sein. Aber der tive im jeweils nationalen Kontext Zwang der Globalisierung macht es anerkannt zu werden, ist es für die So- meines Erachtens wahrscheinlicher zialdemokraten geradezu zwingend, und nicht unwahrscheinlicher, daß ihr Profil dem jeweiligen nationalen Sozialdemokraten politische Program- politischen Kontext an- und einzupas- me entwickeln, die sich hart an den sen. Da aber diese Kontexte mit der Realitäten der nationalen Probleme, politisch-kulturellen Pluralität der eu- die sich im Zusammenhang der Glo- ropäischen Nationalstaaten stark va- balisierung stellen, bewegen. Was So- riieren, müssen erfolgreiche sozial- zialisten einmal zusammenführte, die demokratische Strategien von Land zu gemeinsame Gegnerschaft zum Kapi- Land verschieden sein. talismus, ist eine irrelevante Größe ge- worden. Heute sind sich alle Soziali- So ist es in Großbritannien mit seiner sten einig, daß es zur Marktwirtschaft Tradition der Premierministerregierung keine Alternative gibt, aber das unter- naheliegend, die Handlungsfähigkeit scheidet sie dann nicht mehr von und Entschlossenheit des Premiermi- Konservativen Parteien. Ebensowenig nisters als eigenständigen politischen spezifisch sozialdemokratisch ist die Vorzug hervorzuheben. Ebenso wie der Wiederentdeckung von Recht und wirtschaftspolitische Paradigmenwan- Ordnung, Bildung, Familie und eu- del der achtziger Jahre es geboten er- ropäischer Integration durch die Ver- scheinen läßt zu betonen, daß der fechter eines sozialdemokratischen Staat vor allem die richtigen Rahmen- „Dritten Weges“. bedingungen wirtschaftlichen Han- delns ermöglichen muß. Im Kampf Europas Sozialdemokraten (ich be- gegen Arbeitslosigkeit und soziale Un- schränke meine Bemerkungen auf die gleichheit kann die Rolle individueller britischen, französischen und deut- Verantwortung betont werden. Der schen) haben vor allem ihre heutige Staat ermöglicht in dieser Sichtweise „strategische Rolle“ gemeinsam. Sie Eintrittschancen für den Arbeitsmarkt. haben erfolgreich den Gedanken im Aber Entscheidungen in der Wirtschaft öffentlichen Diskurs verankert, daß sie treffen die Unternehmen, nicht der England, Frankreich, Deutschland 85

Staat. Der Staat muß funktionierende gen vornehmen oder zumindest auf Arbeits- und Kapitalmärkte garantieren Entlassungen verzichten. In Frankreich, und einen Steuersatz, der Investoren und ähnliche Initiativen gibt es auch nicht abschreckt. Großbritanniens So- in Großbritannien und Deutschland, zialdemokraten betonen den Wert der unternahmen die Sozialdemokraten Eigenverantwortung. Es gibt keine So- zusätzliche Anstrengungen, um die zialgeschenke, nur Hilfe zur Selbsthilfe. Jugendarbeitslosigkeit zu verringern. New Labour hört sich den Rat der In- Wichtiger für Frankreich ist aber, daß dustrie (manchmal auch der Gewerk- die Sozialisten die Grundidee des Ro- schaften an), aber niemand denkt in bien Gesetzes weiterentwickelten. l998 Großbritannien an die Rückkehr zu wurde entschieden, die 39-Stunden- einer Form des Korporatismus. Woche vom 1. Januar 2000 an (für kleine und mittlere Unternehmen ab In Frankreich wurde der Ruf nach 2002) durch die 35-Stunden-Woche bei einem Ende der sozialen Spaltung vollem Lohnausgleich zu ersetzen. Die der Gesellschaft schon im Präsi- Verkürzung der Arbeitszeit soll durch dentschaftswahlkampf 1995 laut, als Kombination von einer Reduktion der Jacques Chirac sich diesen zu eigen Sozialversicherungsbeiträge der Firmen, machte. Er hatte aber das Problem, daß größerer Produktivität und moderaten der Sparkurs seines Premierministers Lohnabschlüssen finanziert werden. Alain Juppé zum Erreichen der Maas- tricht-Kriterien den französischen Kon- Ein wichtiger Aspekt dieser Initiative, servativen nicht erlaubte, sich in aus- sowohl in ihrer Vorbereitung als auch reichendem Maße der Bekämpfung der in ihrer Durchführung und gesetz- Arbeitslosigkeit zu widmen. Es sollte lichen Umsetzung, ist der Versuch der aber nicht vergessen werden, daß das Regierung, korporatistische Strukturen Robien-Gesetz von 1996, benannt zu nutzen und zu etablieren, oder nach seinem konservativen „Erfinder“ wie sie es selbst ausdrückt, ein „sozia- Gilles de Robien, bereits einen Re- les Bündnis für Arbeit“ schaffen. Der formprozeß anstieß, der zur großen Grundgedanke dieses Bündnisses ist es, Reformidee des 1997 gewählten so- die Gewerkschaften und die Unter- zialistischen Premierministers Lionel nehmen in jeden einzelnen Reform- Jospin wurde, nämlich die Verkürzung schritt einzubinden. Das ist im franzö- der Arbeitszeit. Wie in Großbritannien, sischen Fall viel komplizierter als im wo wir unzweifelhaft eine wirtschafts- deutschen, wegen der Schwäche der politische Kontinuität nach dem Sieg Spitzenorganisationen der Unterneh- New Labours beobachten konnten, mer und Gewerkschaften. Weniger als gibt es eine solche Kontinuität auch in 10% der französischen Arbeiterschaft Frankreich. ist gewerkschaftlich organisiert. Arbeit- nehmer gehören keiner Industriege- Das Robien Gesetz erlaubt Firmen, ih- werkschaft an, sondern einer Vielzahl re Sozialversicherungsbeiträge im er- im ideologischen Wettbewerb stehen- sten Jahr um 40% und vom zweiten der Gewerkschaften. Die Unterneh- bis siebten Jahr um 30% zu reduzieren, men vertrauen eher auf ihre eigene wenn sie ihre Arbeitszeit um minde- Verhandlungsfähigkeit als auf die na- stens 10% kürzen und Neueinstellun- tionaler Unternehmerverbände. 86 Roland Sturm

Was die französischen Sozialdemokra- wird als „Allzweckwaffe“ betrachtet, ten vorhaben, ist nicht nur etwas, was die helfen soll, die Reformprobleme den britischen fern läge, sondern auch der Sozialversicherung, des Steuer- was die deutschen leichter können, systems und der Beschäftigungssiche- nämlich den Korporatismus zu schaf- rung zu beheben. Im Unterschied fen bzw. neu zu schaffen. Und Kor- zu den französischen Sozialisten sind poratismus ist nicht das einzige keyne- die deutschen Sozialdemokraten weit sianische Element der Wirtschafts- schneller zu Steuererhöhungen zur strategie der französischen Sozialisten. Finanzierung ihrer Vorhaben bereit Sie wollen auch die Nachfrage anre- (z.B. Kindergeld, Renten). Die deut- gen, allerdings nicht, wie dies deutsche schen Gewerkschaften fordern höhere Sozialdemokraten fordern, primär Löhne zur Verbesserung der Nachfrage. durch Lohnerhöhungen. Sie fordern Öffentliche Beschäftigungsprogramme, vielmehr eine Reduktion der Sozialver- die es in Frankreich vor allem für Ju- sicherungsbeiträge, hoffen auf mehr gendliche gibt, haben in Deutschland, Einkommen durch mehr Beschäfti- und insbesondere in Ostdeutschland, gung und haben den Mindestlohn um weiterhin große Bedeutung. 4% erhöht (was allerdings nicht zu einer allgemeinen Runde von Lohner- Das mag als krude vergleichende tour höhungen führte). d’horizon genügen. Betrachtet man nur die drei Länder Großbritannien, Als Oppositionspolitiker bezeichnete Frankreich und Deutschland und nur Gerhard Schröder nach Presseberich- die Bereiche Sozial- und Wirtschafts- ten die Einführung der 35-Stunden- politik, ist dies für Verallgemeine- Woche in Frankreich als sehr hilfreich rungen zur Frage der Sozialdemokra- für deutsche (!) Arbeitsplätze. Deutsche tisierung Europas sicherlich keine aus- Sozialdemokraten sind heute weit reichende Basis. Holzschnittartig weniger überzeugt von den wirtschaft- könnte man eine Trennlinie zwischen lichen Vorzügen einer Verkürzung zwei Spielarten der Sozialdemokratie in der Wochenarbeitszeit als französi- Europa ziehen: zwischen dem konti- sche. Sie zögern auch, das zu tun, nentalen Neo-Keynesianismus und was die französischen Sozialisten nun dem britischen Neo-Liberalismus. Aber vorhaben, nämlich die Frühverren- diese Unterscheidung bleibt unge- tung als arbeitsmarktpolitisches In- nügend. strument einzusetzen. Das Programm der französischen Sozialisten sieht Ich möchte als Anregung für die wei- ein Rentenalter von 56 Jahren nach 40 tere Diskussion nur zwei bereits getrof- Beitragsjahren vor. Wenn eine Firma fene Feststellungen noch einmal her- einen Frührentner durch eine Neu- vorheben: einstellung ersetzt, erhält sie 40.000 Francs vom Staat. ● In jedem der betrachteten Länder gibt es ein großes Maß an Kon- Wie die französischen Sozialisten be- tinuität zwischen den sozialdemo- fürworten die deutschen Sozialdemo- kratischen Regierungen und ihren kraten einen neuen „Anlauf“ des Kor- konservativen Vorgängerregierun- poratismus. Das „Bündnis für Arbeit“ gen. Und England, Frankreich, Deutschland 87

● die Unterschiede der Politik der heu- Mir fällt es daher schwer, mit dem Ge- tigen sozialdemokratischen Regie- danken der „Sozialdemokratisierung“ rungen untereinander sind größer Europas in der Sozial- und Wirtschafts- als die im nationalen Kontext zu be- politik mehr zu verbinden als die sym- obachtenden Unterschiede zwischen bolische Betonung der Bedeutung der den früheren konservativen und Probleme der Arbeitslosigkeit und der heutigen sozialdemokratischen Re- Notwendigkeit, die soziale Spaltung mo- gierungen. derner Gesellschaften zu überwinden.

Literatur Dahrendorf, Ralf 1979: Lebenschancen. Dahrendorf, Ralf l998: Die neue Parteien- Anläufe zur sozialen und politischen Theo- landschaft. Die Christdemokratie wankt, das rie, Frankfurt am Main. sozialdemokratische Jahrhundert endet – Dahrendorf, Ralf 1983: Die Chancen der und mit ihm die alte Demokratie?, in: Die Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Zeit, 25.6., S. 7 – 8. Stuttgart. Das Trugbild der unbegrenzten Integration

Gustav Matschl

1. Das ist der Befund offen, also transparent, sind Entschei- dungen, wenn sie im eigenen Land, in Wir bekennen uns zu einem Europa, der eigenen Gemeinde fallen. Bürger- das einig zu sein hat und stark und das nah ist eine Politik, die dafür sorgt, seine Rolle in der Welt zu spielen hat. daß Entscheidungen in nationaler Einen europäischen Staat wollen wir Zuständigkeit bleiben, wo immer das nicht, nein, das nicht, aber trotzdem möglich ist. Jede Kompetenz, die auf fordern und beschließen wir alles, was dem Wege der Integration nach Brüssel zu diesem Staat führt. Darin liegt das abwandert, ist ein Verlust an Bür- ganze Dilemma der europäischen Inte- gernähe. Und: Die Entscheidungen in gration beschlossen. Brüssel sind nicht gerade transparent, sie sind eher apokryph zu nennen.

2. Integration gegen Offenheit Ein weiteres Mißverständnis, zu dem und Bürgernähe der Text verführt, besteht darin, die immer engere Union der Völker mit Die europäische Integration leidet am einer immer weitergehenden Integra- unausgesprochenen Widerspruch ihrer tion gleichzusetzen. Integration ten- Ziele. Das zeigt schon die simple Ana- diert zu supranationalen Institutio- lyse der Vertragstexte. Eingangs heißt nen, das Zusammenrücken der Völker es im Vertrag von Maastricht und neu- nicht. Letzteres ist ein Prozeß der Ver- erdings von Amsterdam (Art. 1 Abs. 2), ständigung auf der Ebene der Gleich- daß eine immer engere Union der Völ- heit. Die Völker können auch ohne In- ker verwirklicht werden soll, in der tegration zusammenwachsen. die Entscheidungen „möglichst offen und bürgernah” getroffen werden. Das nährt die Vorstellung, daß mehr Inte- 3. Das Menetekel einer euro- gration auch mehr Bürgernähe bringt. päischen Staatlichkeit Das Gegenteil ist aber der Fall. Mit der zunehmenden Integration entsteht So lautet der Beschluß: Europa braucht nicht mehr Nähe zum Bürger, sondern eine Verfassung! Nur so wird der größere Entfernung. Bürgernah und alte Kontinent „souverän” (Paneuropa-

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 Das Trugbild der unbegrenzten Integration 89

Union). Ein Europa nach dem Vorbild gischer Idylle, Europa für die Welt und der Bundesrepublik Deutschland soll die Nation für den Heimatfilm? Ist das es werden! Über lange Strecken hinweg ein Wunschbild von Europa? Nein! Ein war das der Lieblingsgedanke der Euro- solches Europa ist ein Vexierbild! Es ist päischen Volkspartei im Europäischen nur ein Europa annehmbar, das bei al- Parlament. Hans-Gert Pöttering, im- ler wünschenswerter Gemeinsamkeit merhin ihr Stellvertretender Vorsitzen- die Grundstruktur souverän bleibender der, wurde nicht müde, die Idee, als Mitgliedstaaten aufrecht erhält. Nicht deren maßgeblicher Urheber er gelten ein „souveränes” Europa, sondern ein kann, von allen Tribünen Europas zu Europa der prinzipiellen Staatensou- verkünden. Die Kommission in Brüssel veränität entspricht heute und noch als Regierung, das Parlament in Straß- für lange Zeit dem Selbstverständnis burg als Gesetzgeber und der Minister- der Völker und Nationen in Europa. rat, notgedrungen, die Kammer für die Mitgliedstaaten – vergleichbar dem Das ist nun mehr eine Behauptung als Bundesrat des Grundgesetzes. Das ist ein Beweis. Aber ist eine Frage wie die die Vorstellung von Europa, der viele nach der Befindlichkeit von Menschen anhängen. Ich spreche nicht von den und Völkern überhaupt dem Beweis europäischen Sozialisten! Für sie ist zugänglich? Sie ist es nicht. Aber nicht längst klar: „Europa ist eine linke Ver- ein „Beweis”, sondern die Evidenz gibt anstaltung” (Klaus Hänsch). Für sie ist Auskunft darüber, was Menschen und schon der Gedanke einer föderalen Völker denken und empfinden. Der Struktur nur mühsam faßbar. Ihre Vor- Gang der Geschichte ist zwar nicht stellung von Europa ist die eines zen- eindeutig, aber auch nicht beliebig. tralistisch verwalteten europäischen Das gilt allgemein und besonders für Einheitsstaates, administriert, effizient, Europa. Es gibt glücklicherweise Dinge uniform. Das ist das Wunschbild, das in Europa, die zum Allgemeinbesitz der schlichten Übertragung des natio- seiner Völker geworden sind und die nalen Einheitsstaates auf die europäi- so unbestritten sind, daß ihr Vorhan- sche Ebene entspringt. densein „evident” ist. Dazu gehört die Überzeugung, zusammenzugehören Kann das auch das Wunschbild der und aufeinander angewiesen zu sein. Christlich-Sozialen Union sein? Soll es Nach Jahrhunderten gegenseitiger Be- dahin kommen, daß die Menschen drohung hat zuletzt die gemeinsame und Völker in Europa fortan einem Abwehr einer Jahrzehnte lang anhal- einheitlichen, allenfalls durch Sub- tenden Bedrohung aus dem Osten den sidiarität gemilderten Plan der Integra- Zusammenhalt gefördert und gefestigt. tion unterworfen sind, wonach schon Heute gilt, daß jegliche kriegerische in naher Zukunft alle wesentlichen Auseinandersetzung unter den Mit- Entscheidungen in der europäischen gliedstaaten der Europäischen Union Hauptstadt fallen und die Mitglied- ausgeschlossen ist. Das allein erhebt staaten nur noch für Fragen minderen die europäische Einigung zu einem Er- Ranges zuständig sein sollen? Ein zen- eignis von epochaler Bedeutung. Über tralistisch durchgegliedertes Europa als die gemeinsame Verteidigung der Frei- Weltmacht und die Nationen und Re- heit hinaus haben Handel und Verkehr gionen zunehmend als Stätten nostal- zu größerer Gemeinsamkeit geführt. 90 Gustav Matschl

Der freie Austausch von Gütern und Sonderheit Deutschland angeht, so der ungehinderte Umgang der Men- war der Ruf „Wir sind das Volk” auch schen haben Kräfte freigesetzt, die sich ein Ruf nach der nationalen Identität. in den engeren nationalen Grenzen bis Angesichts der von manchen betriebe- dahin nicht ausreichend entfalten nen Öffnung gegenüber der ganzen konnten. Wohlstand und Wissenschaft Welt ist der Ruf in Gefahr, umzuschla- erfahren Belebung und Auftrieb. Der gen in die Frage: „Sind wir noch ein einst zutiefst gespaltene und durch Volk?” Dahin darf es nicht kommen. kriegerische Zerstörung zurückgewor- fene Kontinent erlebte dank seiner Die auf europäische Integration ge- Einigung eine unerwartete Renaissance richtete Politik der Christlich-Sozialen seiner geistigen und materiellen Res- Union muß dieser Gegebenheit Rech- sourcen, die ihn zu einer neuen Teil- nung tragen. Die Bereitschaft zur habe am Weltgeschehen befähigten. Integration ist nicht unbegrenzt. Die Das sind Errungenschaften, zu denen Europapolitik der Christlich-Sozialen die Völker in Europa durch den Prozeß Union muß in jeder Lage die Frage der Einigung befähigt wurden. stellen: Wo liegen die Grenzen der In- tegration? Die lineare Fortführung der Das ist fraglos eine großartige Bilanz. bisherigen Integrationsdynamik wäre Verlangt sie nicht, so wird mancher der sicherste Weg, Europa an die Wand fragen, nach weiterer Vertiefung, nach zu fahren. völliger europäischer Einheit? Ich glau- be nicht. Die Vertiefung stößt erkenn- Überlegungen der vorstehenden Art bar an ihre Grenzen. Das wird deutlich beschreiben die Zurückhaltung, die an der Zurückhaltung, die die Bevölke- viele Menschen gegenüber jeglicher rung in einer Anzahl von Mitglied- Form europäischer Staatlichkeit emp- staaten, nicht nur in Dänemark und in finden. Diese Zurückhaltung muß eine Schweden, an den Tag legt. Ganz all- Politik beachten, die sich darauf beruft, gemein läßt sich sagen: Die Völker demokratisch legitimiert zu sein. wollen in Europa ihre vitalen Interes- sen gewahrt sehen. Sie wollen Frieden und Wohlfahrt, Sicherheit nach innen 4. Subsidiarität und und außen. Dafür stehen sie zusam- Staatensouveränität men und dafür sind sie bereit, Opfer zu bringen. Sie betrachten die Europäi- Der Vertrag von Amsterdam ist, ge- sche Union als hohes Gut, weil und messen an seinen Vorgaben, ziemlich soweit sie das Gemeinwohl aller, also mißraten, aber eines ist geglückt: Das auch das eigene, fördert. Sie sind aber Prinzip der Subsidiarität hat eine Präzi- nicht bereit, sich dabei selbst aufzuge- sierung erfahren, wie sie von deutscher ben. Sie wollen ihre nationale Identität Seite seit langer Zeit gefordert wurde. nicht einem Prozeß des „immer enge- Insbesondere die Christlich-Soziale ren Zusammenschlusses” opfern, der, Union darf sich zugute halten, Subsi- zu Ende gedacht, zur Aufhebung eben diarität als allgemein gesellschaftspoli- dieser Identität führen würde. Weder tisches, der katholischen Soziallehre Franzosen noch Italiener noch gar entnommenes, Prinzip für die europäi- Engländer sind dazu bereit. Was in sche Einigung eingefordert zu haben. Das Trugbild der unbegrenzten Integration 91

Dennoch will so recht keine Zufrie- ropäisch ist, ist wichtig, was natio- denheit aufkommen. Es hat nämlich nal oder regional ist, ist nur noch nicht den Anschein, daß sich durch hilfsweise von Bedeutung, ist „sub- die verbesserte Definition an der Ent- sidiar”. scheidungspraxis der Europäischen ● Dieser Bedeutungswandel stellt zwei- Union etwas ändern würde. tens das Verhältnis von Mitglied- staaten und Regionen (Ländern) zur Zwei Gründe scheinen mir dafür maß- Europäischen Union auf den Kopf. geblich. Während Subsidiarität ganz unbe- streitbar eine Organisationsform ● Erstens wurde die erfreuliche Zu- von unten nach oben erfordert, or- stimmung, die das Prinzip der Sub- ganisiert sich die Union mehr und sidiarität gegen anfängliche Wider- mehr von oben nach unten. Das ist stände allmählich erfahren hat, aber nicht Subsidiarität sondern De- unverkennbar aber weniger erfreu- zentralisation. Verräterischerweise lich mit einem Bedeutungswandel sprechen wir selbst gelegentlich da- erkauft. Subsidiarität kommt vom von, die Europäische Gemeinschaft lateinischen subsidium und heißt müsse den Mitgliedstaaten und Hilfe. Wenn eine Gemeinschaft Regionen „den nötigen Freiraum nicht mehr weiter weiß, hat sie An- lassen”, als ob es nicht gerade um- spruch auf Hilfe und die größere gekehrt darum ginge, daß die Mit- Gemeinschaft ist verpflichtet, diese gliedstaaten den Organen der Ge- Hilfe zu leisten. Das ist der Kern der meinschaft den Freiraum schaffen, Subsidiarität. Die Verantwortung für den diese zur Erfüllung der Aufga- die eigenen Angelegenheiten liegt ben brauchen. Die Souveränität der aber immer bei der originären Ge- Mitgliedstaaten ist die originäre meinschaft selbst. Bei ihr liegt auch Macht. Die Macht der europäischen das Urteil, ob sie selbst zurecht Institutionen ist abgeleitete Macht. kommt oder die Hilfe der größeren Gemeinschaft braucht. Immer sind Im Falle der Dezentralisation entschei- die für eine Gemeinschaft wesent- det die höhere Ebene aus Erwägungen lichen Dinge und die Entscheidung der Zweckmäßigkeit, was sie an die un- darüber bei der originären sozialen tere Ebene abgibt. Bei der Subsidiarität Einheit angesiedelt und erst hilfs- liegt es umgekehrt. weise, subsidiär, bei der über diese Einheit hinausgehenden größeren Es gibt kein europäisches Recht, das Gemeinschaft. Dieses Verhältnis hat sich nicht von den Mitgliedstaaten sich im öffentlichen Bewußtsein herleitete. Der Geltungsgrund europäi- neuerdings umgekehrt. Nicht die schen Rechts ist der Wille der Mit- ursprüngliche, historisch gewach- gliedstaaten. Einen anderen Geltungs- sene Gemeinschaft wird für das grund gibt es nicht. Primäre gehalten, sondern die größere europäische Gemeinschaft Der Bedeutungswandel des Begriffs der hat im Bewußtsein der Öffentlich- Subsidiarität und im Gefolge davon die keit Priorität. Eine Umfrage würde faktische Umkehrung des Verhältnisses voraussichtlich ergeben: Was eu- von abgeleitetem Recht zu originärem 92 Gustav Matschl

Recht, widerspricht dem Gesetz, nach nach welchen Auslegungsregeln ent- dem die europäische Gemeinschaft an- scheiden die Gerichte, wenn eine Fra- getreten ist: Einigkeit und Freiheit, ge zweifelhaft ist. In einem solchen Wohlstand und Fortschritt, Sicherheit Fall ist davon auszugehen, daß die Ver- vor innerer und äußerer Bedrohung – tragsstaaten nur soviel von ihrer Recht- das alles soll durch gemeinschaftliches setzungskompetenz zurücknehmen, Handeln gesichert sein. Dazu tun sich als die Gemeinschaftsorgane zur Erfül- sicher die Völker zusammen und dazu lung ihrer Aufgaben benötigen. Im ist es gut, daß sie den Einsatz eigener Zweifelsfall spricht also die Vermutung Macht (Souveränität) zugunsten ge- für die Souveränität der Mitgliedstaa- meinschaftlicher Macht zurückneh- ten. Diese ist und bleibt, solange die men. Das ist die Philosophie der Euro- Welt aus Staaten besteht, das grund- päischen Union und sie entsprach legende Ordnungsprinzip für die Völ- damals – und sie entspricht heute – kerrechtsgemeinschaft. Auch für die dem Willen der Mitgliedstaaten. Europäische Union, solange sie ein Verbund von Staaten, ein „Staatenver- Letztere haben bei allen Änderungen bund” (Bundesverfassungsgericht) ist. und Ergänzungen der Verträge an dem Um es klar zu sagen: Das Prinzip der Prinzip der begrenzten Ermächtigung Subsidiarität bedarf zu seiner prakti- der Organe der Union festgehalten. schen Anwendung der Ergänzung Die Organe handeln „nach Maßgabe durch das Prinzip der Staatensouverä- der Verträge” (Art. 5 EUVertrag) und nität. Das ist kein überflüssiger Prinzi- die Generalermächtigung des Art. 308 pienfetischismus, der mit „Pragmatis- (früher 235) des EG-Vertrages hat nach mus” () lösbar wäre. Die allgemeiner Auffassung das Prinzip der Abgrenzung von Gemeinschaftsrecht begrenzten Ermächtigung nicht aufge- zum nationalen Rechtskreis ist von so hoben sondern bestätigt. Das verweist entscheidender integrativer Bedeu- ein weiteres Mal darauf, daß nicht nur tung, daß begriffliche Klarheit uner- das primäre Vertragsrecht, sondern läßlich ist. auch die sekundären Rechtsschöpfun- gen eine Emanation des gemeinschaft- lichen Willens der Mitgliedstaaten 5. Die Finalität der europäischen sind. Einigung oder die Frage nach den Grenzen der europäischen Daraus folgt, daß das Prinzip der Sub- Integration sidiarität der Ergänzung bedarf. Auch die im Vertrag von Amsterdam verbes- Jede selbstkritische Befassung mit der serte Beschreibung seines Inhalts wird eigenen Position sieht sich dem Ein- wegen der unvermeidlichen Unbe- wand ausgesetzt, in Frage zu stellen, stimmtheit der verwendeten Begriffe was bis dahin für einen selbst und für zu Auslegungs- und Anwendungs- andere außer Frage stand. Politische schwierigkeiten führen. In solchen Parteien zumal neigen zur Perpetu- Konfliktfällen entsteht regelmäßig die ierung einmal eingenommener Posi- Frage, wer letztlich die Entscheidung tionen. Das kann zur Gefahr werden, trifft. Natürlich kann man sagen, die wenn sich die Welt verändert und die Gerichte haben das letzte Wort. Aber Veränderung nicht wahrgenommen Das Trugbild der unbegrenzten Integration 93 wird. Dann verliert, was bisher richtig derter Staatsqualität seiner Mitglieder? war, seine Gültigkeit. Die Formel von der Einheit in der Viel- falt hinterläßt unfreiwillig den Ein- Die Christlich-Soziale Union hat sich druck sprachlichen Notstandes. Viel- zu allen Zeiten und bei vielen Gele- falt ist der Buntheit benachbart. Aber genheiten für die Einigung Europas bloße Farbigkeit kann einem rechtli- ausgesprochen oder, im Deutsch der chen und politischen Verständnis von Parteitage, „zu Europa bekannt”. Diese Europa nicht genügen. In diesem Ver- Haltung ist nach wie vor richtig. Aber ständnis ist ein Europa gemeint, das wie soll, wie wird das Europa der Zu- sich aus den Grundentscheidungen er- kunft aussehen und welchen Platz gibt, die seine Völker aus freiem Ent- wird Bayern darin haben? schluß gefaßt haben und die deshalb unterschiedlich sind. Diese Grundent- Lange Zeit hat die Diskussion über die scheidungen sind gewissermaßen einheitliche Währung den Blick darauf die „Lebensentwürfe” der einzelnen verstellt, daß das Ziel der europäischen Gemeinwesen, deren europäische Ge- Integration nach wie vor eine offene meinsamkeit darin besteht, daß sie alle Frage ist. Was heißt und zu welchem demokratisch und rechtsstaatlich ver- Ende, ist man mit Schiller versucht zu faßt sind und zu sein haben. Alles fragen, betreiben wir Integrationspoli- andere, ob Königshaus oder Unterhaus tik? Integration um ihrer selbst willen? oder beides, ob sozialistisch oder libe- Ist der Weg der Integration auch schon ralistisch, entscheidet das Gemein- das Ziel? wesen, ob Kommune, Land oder Repu- blik, für sich selbst und niemand kann Die Antwort darauf lautet häufig: diese Entscheidung an seiner Stelle Europa als Einheit in der Vielfalt! Aber treffen. Deshalb sollte ein Wort gefun- welche Einheit und welche Vielfalt? den werden, daß dem Moment von Der Hinweis auf die Vielfalt zerstreut freier Selbstbestimmung, das in der zunächst die ungemütliche Vorstel- Vorstellung von europäischer Vielfalt lung eines einheitlichen, uniformen mitschwingt, besser gerecht wird. So- und monotonen Gebildes, das an sei- lange das nicht gefunden ist, wäre mir ner Langeweile leidet. Aber geht es die Kurzformel „Europa in vielfältiger beim Europa der Vielfalt nur um ge- Freiheit“ lieber als „Europa in Vielfalt“. schichtlichen und kulturellen Reich- tum, um die Unterschiedlichkeit von Natürlich kann jetzt einer die Frage Sprachen und Gebräuchen? Diese Art stellen, ob denn die Freiheit in Europa von Diversität wäre auch möglich, durch seine Einheit bedroht sei? Das wenn Europa sich zu einem Einheits- wäre, um mit Fontane zu sprechen, staat fortentwickeln würde. Die Frage „ein gar weites Feld”. Ich will den Ge- nach der Finalität der europäischen danken nicht überdehnen, sondern Einigung heißt also bei genauerem nur darauf hinweisen, daß es auch eine Hinsehen: Ist das Ziel der europäischen Einheit ohne Freiheit gibt. Freiheit Einigung die staatliche Einheit Europas kann auch dadurch verloren gehen, bei kultureller Verschiedenheit seiner daß das Eigene aufgegeben wird. Wer Völker oder ist das Ziel die politische sich, wofür Europa Beispiele bietet, Einheit des Kontinents bei unverän- fremden Entscheidungen, weil sie Vor- 94 Gustav Matschl teile versprechen (Förderprogramme!), grenzten Integrationsbereitschaft geht willfährig unterwirft, hat seine Freiheit erkennbar ihrem Ende entgegen. schon verspielt. Freiheit ist ein zur An- strengung mahnender Imperativ. 6. Die integrative Rolle des Die Formel von der Einheit in der Viel- Europäischen Parlaments falt ist so eingängig und verführerisch, daß sie ein Nachdenken darüber, was Das Europäische Parlament versteht jeweils mit Einheit und Vielfalt ge- sich als Motor der europäischen Eini- meint ist, anscheinend nicht aufkom- gung. Es sieht seine Tätigkeit unter men lassen will. Der verantwortliche dem ausschließlichen Gesichtspunkt Politiker darf der Frage freilich nicht des „immer engeren Zusammenschlus- ausweichen: Ist mit der Einheit die ses der Völker in Europa”. Es ist der staatliche Einheit gemeint bei kulturel- einzige Ort, an dem die Finalität der ler Vielfalt oder läßt die Einheit Euro- europäischen Einigung keinem Zweifel pas die staatliche Vielfalt seiner Glie- unterworfen ist. Sie besteht im Unter- derungen zu? Staatliche Einheit meint gang der Nationalstaaten, deren ge- natürlich nicht nur Staat in engerem meinschaftsfeindliche Egoismen in Sinn, sondern jeden Zusammenschluß einem durch Mehrheitswillen geeinten von staatsrechtlicher Qualität. und dadurch supranational organisier- ten Europa ihre Auflösung finden wer- Es ist ganz unverkennbar, daß sich in den. Diese Vorstellung gründet teils in großen Teilen des Europäischen Parla- der christlich verstandenen Universa- ments die Auffassung breit macht, die lität, aus der Europa hervorgegangen europäische Integration werde und ist, teils in einem marxistischen Ver- müsse zur Staatsqualität von Europa ständnis vom Gang der Geschichte, führen. Keine Überraschung ist die Tat- dem das Bild vom Absterben des Staa- sache, daß die Sozialisten im Europäi- tes nicht fremd ist. Ganz unterschied- schen Parlament von einem einheitli- liche geistesgeschichtliche Wurzeln chen Europa träumen. Das entspricht sind es also, die sich sonderbarerweise ihrer unitaristischen und konformisti- in dem Ziel vereinigen, die Mitglied- schen Tradition. staaten in der Europäischen Union zurückzudrängen und sie schließlich Das darf aber nicht die Denkart einer überflüssig zu machen. Europäischen Volkspartei sein. Auf sie vertrauen Bevölkerungsschichten, die Das Europäische Parlament ist seinem mit einer sozialistischen Vorstellung Wesen nach eine parlamentarische von Europa wenig anfangen können. Versammlung. So stand es in den Rö- Ich sehe die Gefahr, daß die Europa- mischen Verträgen des Jahres 1957 gläubigkeit der Europäischen Volkspar- und daran hat sich auch durch die seit tei ihren Rückhalt in der Bevölkerung 1979 eingeführte Direktwahl seiner verliert. Was einst allgemeine Grund- Abgeordneten nichts geändert. Die haltung war, schwächt sich angesichts Mitglieder des Europäischen Parla- gravierender Fehlentwicklungen ab ments sind die aus einer Volkswahl und beginnt sich in sein Gegenteil zu hervorgegangenen Abgeordneten ihres verkehren: Die Attitüde der unbe- Landes für Europa. Sie vertreten nicht Das Trugbild der unbegrenzten Integration 95 ein europäisches Volk, das es nicht einem Parlament keine Rechte geben, gibt, sondern die Bevölkerung des Staa- das Parlament gibt Rechte” (Ralf Dah- tes, aus dem sie kommen. Sie vertreten rendorf). Das Europäische Parlament Griechen, Italiener, Portugiesen, Deut- ist ein Organ der Europäischen Union, sche in der Europäischen Union. Sie wie die Kommission, wie der Minister- vertreten nicht eine (europäische) Na- rat, wie der Europäische Gerichtshof. tion. Alle diese Organe gründen im Ver- tragswillen der Mitgliedstaaten. Alle Dieser Sachverhalt ist so klar, daß man zusammen stellen ein ausgewogenes nur verwundert sein kann, wenn der System von Zuständigkeiten und ge- Hinweis darauf Unwillen erregt, so als genseitiger Kontrolle dar. Das Parla- wäre die Vertretung Bayerns und seiner ment hat alle Zuständigkeiten, die Bürger im Europäischen Parlament ei- nach dem Vertragswerk der Union ins- ne Minderung von Wert und Würde gesamt zustehen, aber nicht darüber des Mandats. Das ist aber nicht der hinaus. Es übt seine Kontrolle gegen- Fall. Der Anspruch einer konkreten In- über Kommission und Ministerrat aus teressenwahrnehmung in einem sich und wirkt an deren Entscheidungen einigenden Europa ist verbindlicher nach Maßgabe der Verträge mit. und überdies deutlicher demokratisch legitimiert als die allgemeine Berufung Daraus ergibt sich, daß das Europäi- auf das „Prinzip Europa”. Das Statut sche Parlament nicht über den Parla- verpflichtet den Abgeordneten, seine menten der Mitgliedstaaten stehen nationalen Interessen zurückzustellen. kann. Es ist kein Superparlament, das, Das Statut verpflichtet aber nieman- wie manche meinen, an die Stelle na- den, ein Europa der Einheitlichkeit zu tionaler Parlamente tritt, wenn diese vertreten, und es hindert niemanden ihre Kompetenzen einbüßen. daran, jenes Europa für das beste zu halten, in dem seine Völker ihren Daran wurde das Europäische Parla- Rang behalten. ment schmerzlich erinnert, als es im Jahre 1995 Frankreich wegen seiner Es gibt gute Gründe, die belegen, daß Atomversuche im Pazifik heftig kriti- das Europäische Parlament kein Parla- sierte. Das Parlament wollte es den ment ist, wenn unter Parlament der Vereinten Nationen gleichtun, das Ort verstanden werden soll, von dem Frankreich scharf verurteilt hatte. Das alle Staatsgewalt ausgeht. Nichts aber schlug gründlich fehl. Zwar ver- macht diesen Sachverhalt deutlicher, abschiedete das Parlament mit der als der immer wieder erhobene Ruf Mehrheit der Sozialisten und der Grü- nach einer Stärkung der Rechte des Eu- nen einen gemeinsamen Protest, aber ropäischen Parlaments. Einem Parla- der französische Staatspräsident Chirac ment werden keine Rechte verliehen, und sein Außenminister Hervé de Cha- es hat seine Befugnisse aus eigenem rette zwangen die Kritiker in die Knie. Recht. Es wäre schon ein sonderbares Kleinlaut räumte der Kommissionsprä- Parlament, dem die Mitgliedstaaten sident Santer ein, die Kommission ha- erst Rechte einräumen müssen, damit be in dieser Sache keine Kompetenz. es dann in der Lage ist, diese Mitglied- Daß auch das Europäische Parlament staaten zu kontrollieren. „Man kann keine habe, bekam später der neu ge- 96 Gustav Matschl wählte spanische Präsident Gil-Robles nicht darum, die Einheit Europas aus- in Paris zu hören. Das Europäische Par- zuhebeln. Es geht darum, sie dauerhaft lament lenkte ein. Der Protest einer und „nach dem Maß des Menschen” mächtigen Nation hatte Wirkung ge- (Hermann Jahrreiß) zu gestalten. Die zeigt. Die jüngste Auseinandersetzung Wiederherstellung der Balance zwi- um Haushaltsentlastung und Mißtrau- schen Nationalstaat und Union, zwi- ensantrag hat das politische Gewicht schen nationalstaatlicher Kompetenz des Parlaments gegenüber der Kom- und europäischem Zusammenhalt ist mission allerdings deutlich gestärkt. die Aufgabe, der eine Christlich-Soziale Union verpflichtet ist. Mit „fortschrei- tender Integration” allein ist sie nicht 7. Das Trugbild einer Integra- zu leisten. tion ohne Grenzen und das Leitbild einer engen Staaten- Die Formel von der fortschreitenden gemeinschaft Integration oder dem immer engeren Zusammenschluß der Völker in Europa Um es klar auszusprechen: Eine Staa- erweist sich mehr und mehr als Flucht tengemeinschaft ist eine Gemeinschaft vor der eigentlichen Aufgabe. Einer von Staaten. Im Zusammenhang mit dieser Fluchtversuche ist die beliebte Europa von einer Staatengemeinschaft Forderung des ausnahmslosen Über- zu sprechen, galt lange Zeit als ganz gangs vom Einstimmigkeitsprinzip und gar uneuropäisch, wenn nicht zum Mehrheitsprinzip. Es gehört ein europafeindlich. Hier hat erkennbar hohes Maß an politischer Naivität da- eine Rückbesinnung eingesetzt. Neuer- zu, das Hin und Her um die Besetzung dings ist sogar ein Jürgen Habermas für des Präsidenten der Europäischen Zen- eine „Rhapsodie auf den National- tralbank auf das Erfordernis der Ein- staat” (Die Zeit Nr. 25/98) zu haben. stimmigkeit zurückzuführen (). Einstimmigkeit fördert den Frie- Diese Rückbesinnung kommt nicht den. Es dient nicht dem inneren Frie- von ungefähr. Wie soll das weltweite den, Unterschiede in der Sache mit Ausgreifen von Wirtschaft und Tech- Verfahrenstechniken einebnen zu wol- nik, gemeinhin Globalisierung ge- len. Wer auf solche Weise unterliegt, nannt, anders beherrscht werden als vergißt seine Zurücksetzung nicht. Er durch den auf dem Volkswillen beru- wird bei anderer Gelegenheit nach henden Nationalstaat, der schützt, ord- Kompensation trachten oder dem Spiel net, verwaltet, vorsorgt und letztlich den Rücken kehren. Es mag sein, daß die einzig verantwortliche Instanz Frankreich im Fall der Europäischen bleibt, an die sich die Bürger halten Zentralbank wegen seines überragen- können. Dies „Renationalisierung” zu den Interesses an der Entmachtung der nennen und so mit einem Kampf- Deutschen Bundesbank eine Mehr- begriff der political correctness zu heitsentscheidung hingenommen hät- erschlagen, was die Menschen als te, so wie es sich letztlich einem von dringend notwendige Orientierung der Mehrheit der Mitgliedstaaten er- brauchen, sollte eine Christlich-Sozia- zwungenen Kompromiß bei notdürf- le Union den Sprachverderbern von tiger Wahrung des eigenen Prestiges der anderen Seite überlassen. Es geht gebeugt hat. Ein zweites Mal aber, so Das Trugbild der unbegrenzten Integration 97 wäre zu befürchten, würde Frankreich das Nachgeben niemand mehr hono- die Währungsunion boykottieren, sei rieren. es durch eine Politik des leeren Stuhls oder auf andere Weise. Es gibt für ein Was das Feld der Außen- und Sicher- Land von der Bedeutung Frankreichs heitspolitik betrifft, wäre es gewiß ab- immer Möglichkeiten, eine Politik, die surd, für die Mitgliedstaaten volle wegen des Mehrheitsprinzips den vita- außenpolitische Handlungsfreiheit zu len Interessen der eigenen Nation zu- reklamieren. Aber ist es über das Nord- widerliefe, ins Leere stoßen zu lassen. atlantische Bündnis hinaus richtig, für Weder Frankreich noch gar England ist die Europäische Union zusätzlich die bereit, Mehrheitsentscheidungen ge- Vergemeinschaftung dieses Bereichs gen ihr eigenes Interesse, sofern dieses einzufordern? Es war bereits bei der von einigem Gewicht ist, zu akzep- Asyl- und Einwanderungspolitik zu se- tieren. hen, wie die Dinge gegen deutsche und bayerische Interessen laufen kön- Was schließlich Deutschland angeht, nen. Wir haben die Vergemeinschaf- brächten Mehrheitsentscheidungen tung gefordert und uns dabei vorge- überwiegend nur Nachteile. Nicht stellt, daß sich die Union solidarisch etwa, weil es dann die eigenen Inte- zeigt bei der Aufnahme von Bürger- ressen nicht mehr durchsetzen könnte. kriegsflüchtlingen und Asylbewerbern Das kann es ohnehin nicht. „Denn aus fremden Ländern. Daraus wurde den Nachkriegsdeutschen ist es (Gott bekanntlich nichts. Im Vertrag von sei Dank) nicht gegeben, à la fran Amsterdam wurde die Asyl-, Einwan- Vaise aufzutreten: unter brutaler Vor- derungs- und Visapolitik im Sinne anstellung des nationalen Ichs, das alle einer Liberalisierung „vergemeinschaf- anderen alsbald zugunsten des kollek- tet” mit der Folge, daß sich die Union tiven Friedens resignieren läßt” (Josef noch weiter gegenüber Drittstaaten- Joffe). Deutschland hat es politisch angehörigen öffnet, aber der Zustrom „nicht im Kreuz”, in einer wichtigen sich innerhalb der Union auf Deutsch- Frage sein Veto auszuspielen, die „fran- land konzentriert. Von einer Quotie- zösische Ausnahme”, im Wortschatz rung oder Kontingentierung war nach der Franzosen ein geläufiger Begriff, der „Vergemeinschaftung” weit und diese „Ausnahme” kann Deutschland breit keine Rede mehr. Der erste Teil nicht für sich reklamieren. Also beugt wurde verwirklicht, der zweite blieb es sich, wenn es eine Mehrheit gegen aus. Die mit der Vergemeinschaftung sich hat. Deutschland könnte rechtlich angestrebte gleichmäßige Lastenvertei- mehr, als es politisch vermag. Nachge- lung verlor rasch an Dringlichkeit. ben, obwohl man dazu nicht gezwun- gen werden könnte, bringt andererseits Ähnlich könnte es Deutschland mit Gewinn. „Sie hätten nein sagen kön- der Außen- und Sicherheitspolitik er- nen, die Deutschen, und sie haben gehen. Deutschland hat in der Welt es nicht getan. Das rechnen wir keine Sonderinteressen, die mit der Eu- ihnen hoch an”, vermeldet dann ropäischen Union in Widerspruch ge- immerhin die eine oder andere Stim- raten könnten. Deutsche Interessen me. Hat Deutschland erst gar nicht sind Frieden und Sicherheit und die Möglichkeit zum Nein, wird auch decken sich mit den Interessen der 98 Gustav Matschl

Nordatlantischen Allianz. Weder in scheiden, aber dort nicht aufgehen Bosnien oder im Kosovo verfolgen wir wollen, „wie ein Stück Zucker im Kaf- nationale Interessen. Aber schon gibt fee” (Vaclav Klaus). es bei der Osterweiterung der Union Stimmen, die den Verdacht streuen, Es wird nicht ausbleiben, daß der Ge- daß sich in diesem Teil Europas deut- danke einer im Kern fortbestehenden sche Hegemonie ausbreiten könnte. Souveränität der Mitgliedstaaten eine Nicht nur, daß es allenthalben als bil- Renaissance erfährt. Das ist nicht zu lig und gerecht empfunden wird, daß beklagen, sondern zu begrüßen. Sou- Deutschland für die Osterweiterung veränität ist ein notwendiges Ord- zahlt, sondern die Union, so wird ge- nungsprinzip innerhalb einer Gemein- dacht, müsse auch eine deutsche Do- schaft von Staaten. Nur wenn es keine minanz verhindern. Die alte Formel Staaten mehr gibt, ist das Souverä- für die raison d’être der Nato (to keep nitätsprinzip entbehrlich. So wird es the Americans in, the Sowjets out and aber nicht kommen. Ein einiges Euro- the Germans down) ist nicht ganz tot. pa fordert den Interessenausgleich zwi- Eine vergemeinschaftete Außen- und schen den Mitgliedstaaten, aber dieser Sicherheitspolitik könnte auf den Ge- Ausgleich wird nicht von oben dekre- danken kommen, es sei die Pflicht der tiert, sondern von den Mitgliedstaaten Union, den deutschen Einfluß in die- erkämpft. Jeder Staat wird dabei nach sen Ländern, ein natürliches Ergebnis Bundesgenossen Ausschau halten. Der von Geographie und Geschichte, mit wird erfolgreich sein, dem es gelingt, den Mitteln der Politik und Diploma- sein eigenes Interesse mit dem Interes- tie zu inhibieren. Finstere Gedanken? se anderer zu verbinden und eben Wohl kaum. Schon jetzt zeichnet sich darum werden Geographie, Geschich- ab, daß in einer erweiterten Europäi- te und Tradition zu ganz natürlichen schen Union verschiedene Einfluß- Konstellationen führen, die schon sphären entstehen werden. Wer bei heute zu erkennen sind. dieser Vorstellung verzweifelt die Hän- de über dem Kopf zusammenschlägt, In diesem Zusammenhang lohnt sich dem sei entgegengehalten, daß die ein Blick auf England, das seit den dann notwendige Bemühung um ein Tagen von Margret Thatcher einen be- europäisches Gleichgewicht unter dem deutsamen Wandel durchgemacht hat. Dach einer nicht total integrierten Europäischen Union und unter dem In seiner Ansprache vom 2. Juni Schutz des atlantischen Bündnisses bei 1997 in London erklärte Tony Blair: weitem einem Europa vorzuziehen ist, „The British government believes in das meint, um der Erweiterung willen a Europe of interdependent member seine Vertiefung zu einem „hand- states joining forces to achieve in part- lungsfähigen” Europa, also notwendi- nership what they cannot achieve in gerweise zu einer zentralistisch durch- isolation. We do not want a European gegliederten, über den Einzelstaaten super-state, but then nor do most of stehenden, also supranationalen Ein- our European partners”. Und dies ver- heit vorantreiben zu sollen. Das letzte- deutlichend fügt er wenig später hin- re wird schon an den Beitrittsländern zu: „But there is a widespread concern scheitern, die sich zwar für Europa ent- in Britain about the political integra- Das Trugbild der unbegrenzten Integration 99 tion of the . However nen, vorwiegend kleineren Mitglied- you discribe this, political integration staaten nicht zu verstören, was ohne- appears to people in Britain as giving hin vergeblich war. more political power to centralised and distant institutions in and Mit dem Brief ist die Frage nach der Strasbourg and taking it away from na- Finalität der europäischen Einigung tional institutions. This makes Europe erstmalig und unausweichlich gestellt. more distant from the people. There Sie wird auf der Tagesordnung bleiben, are some areas which British people auch wenn sie dort unter den Stich- strongly believe are best left for action worten „Bürgernähe” und „finanzielle at the national level“. Man kann es Leistungsfähigkeit” mehr versteckt als kaum klarer sagen. Der Glaube der Bri- offen angesprochen werden wird. Wie- ten an ein Europa von aufeinander viel Integration braucht Europa, wie- angewiesenen Staaten, die ihre Kräfte viel verträgt es? Von der Beantwortung zusammenfassen, um gemeinsam zu dieser Fragen wird seine Zukunft ab- erreichen, was sie allein nicht errei- hängen. chen können, dieser Glaube ist auch unser Glaube. Auch wir wollen keinen Anfang und Ende der europäischen europäischen Superstaat. Und auch wir Einigung ist die Erhaltung des Frie- glauben, daß es Bereiche gibt, die am dens. Der Friede unter den Völkern ist besten in nationaler Verantwortung nicht naturgegeben, er ist das Ergebnis bleiben sollten. Ich frage also: Was ist gerechten Ausgleichs (opus iustitiae an der englischen Position so unver- pax). Der Ausgleich fällt nicht vom einbar mit der eigenen, daß es ge- Himmel, er muß erkämpft werden. rechtfertigt wäre, die Engländer von Aber manche haben nicht den Willen vornherein als „nicht konsensfähig“ zu oder nicht die Kraft, sich anzustren- betrachten und sie an den Verhand- gen, sich zu behaupten. Sie wollen lungen eher nur der Form halber zu nicht Frieden, sondern Ruhe. Um der beteiligen. bequemen Ruhe willen nehmen man- che, so scheint es, in Kauf, daß ein fer- Langsam beginnt die Einsicht zu wach- nes Europa entscheidet. Das erklärt die sen, daß Integration, wenn Europa zuweilen unerklärliche Passivität ge- gelingen soll, der Begrenzung und genüber europäischer Bevormundung. Konsolidierung bedarf. Das Maximum an Integration ist keineswegs ihr Opti- Integration verlangt nach Institutio- mum. nen, Selbstbehauptung nach eigener Staatlichkeit. Die Institutionen heben Es sind der französische Staatspräsi- in letzter Konsequenz die Staaten auf. dent und der deutsche Bundeskanzler, Eine Kommission als europäische Re- die aus dieser Einsicht den gemeinsa- gierung und die Generaldirektionen als men Brief an den englischen Ratsvor- Ministerien degradieren die Mitglied- sitzenden Tony Blair gerichtet haben, staaten zu europäischen Regierungs- in welchem die Notwendigkeit einer bezirken. Wenn es dahin kommt, ist Korrektur vorsichtig angedeutet wird. Europa souverän und die Mitgliedstaa- Vorsichtig und nur angedeutet, um die ten sind mediatisiert. Sie leben dann auf totale Integration eingeschwore- vermittelst des „Freiraums”, den ihnen 100 Gustav Matschl

Europa läßt. Wem diese Vorstellung und um die Rettung eines Kernbestan- gefällt, der muß fortfahren, einer des nationaler Souveränität der Bun- europäischen Integration ohne Gren- desrepublik Deutschlands. Natürlich zen das Wort zu reden. wird es Bayern, wird es Deutschland immer geben. Entscheidend ist aber, Die Haltung der Christlich-Sozialen ob Bayern künftig noch Staatsqualität Union in Bayern kann das nicht sein. haben wird oder ob kommende Gene- Es geht bei der europäischen Integra- rationen über Bayern so sprechen wie tion um nichts Geringeres, als um die wir heutigen über Burgund oder Pie- Bewahrung der Staatlichkeit Bayerns mont. Nord-Korea vor dem Scheideweg

Friedrich-Wilhelm Schlomann

1. Einführung noch im Januar 1998 300 gr., wurde diese bereits im Februar auf 200 gr. ge- Während der zurückliegenden drei senkt. Vier Wochen später reduzierte Jahre sind im Nordteil der korea- Pjöngjang sie auf 100 gr. und die amt- nischen Halbinsel wahrscheinlich an- liche nord-koreanische Presseagentur nähernd zwei Millionen Menschen mußte eingestehen, „die Vorräte (des verhungert, das wären knapp ein Landes) sind Mitte des Monats ver- Zehntel der dortigen Bevölkerung. Ver- braucht“! Nur dank ausländischer Hil- schiedenen Angaben ausländischer fe belief sich die tägliche Ration im Hilfsorganisationen zufolge ernähren Herbst 1998 dann wieder auf 358 gr.. sich die notleidenden Menschen von Beobachtungen von Mitarbeitern der Unkraut und Gräsern sowie von Ge- Deutschen Welthungerhilfe haben er- treidehalmen, die mit Sägemehl ver- geben, daß die Nahrungsmittelvorräte mischt zu Nudeln oder Kuchen verar- bei einer Versorgung mit 1.600 Kcal beitet werden1. Besonders betroffen pro Tag und Person noch maximal sind die Kinder: 60% von ihnen schei- bis März 1999 reichen werden. Ein er- nen unter den Folgen von Unter- wachsener Mensch aber benötigt bei ernährung zu leiden, ein Drittel der bis der derzeit herrschenden Versorgungs- zu Dreijährigen soll sogar lebens- lage zum Überleben mindestens 2.700 bedrohlich unterernährt sein. Ob diese Kcal3. jemals wieder völlig gesunden, scheint mehr als fraglich. Es besteht die große Hinzu kommt ein offenbar vollstän- Gefahr, „in Nord-Korea eine ganze Ge- diger Zusammenbruch der medizini- neration zu verlieren“2. Allein 1997 schen Versorgung: Die Krankenhäuser dürften mehr als 60.000 Kinder unter und Kliniken haben „den Patienten fünf Jahren angesichts der Hungerka- nichts zu bieten“, wie der General- tastrophe gestorben sein. Die schwei- direktor der Vereinigung „Ärzte ohne zerische Caritas-Mitarbeiterin Kathi Grenzen“ erklärte. Eine Pressespreche- Zellweger berichtete unlängst, sie habe rin fügte hinzu: „Schon jetzt wird oh- Kinder gesehen, die vor Schwäche ne Handschuhe, ohne Desinfektions- nicht hätten stehen können. und Betäubungsmittel operiert. Es gibt keine Antibiotika mehr. Für Abtrei- Betrug für die allgemeine Bevölkerung bungen, die 50% aller Eingriffe aus- die Tagesration an Reis bzw. Getreide machen, benutzen die Ärzte normale

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 102 Friedrich-Wilhelm Schlomann

Scheren...“4. Nicht zuletzt ist Heizma- gime, speziell aber in den Fehlern ihrer terial für diesen Winter mit seinen Planwirtschaft. Gewiß hat Pjöngjang Temperaturen bis zu 20° Kälte kaum 1996/97 den Import von Kunstdünger noch verfügbar. vervierfacht, doch sind seinem Außen- handel engere Grenzen gesetzt. Kredite Als Ursache hierfür verweist das Re- gibt es praktisch nicht mehr für das gime einmal auf die großen Über- Land. Die fälligen Auslandsschulden schwemmungen bis zum 20. August beliefen sich bereits im Frühjahr 1998 1995. Doch einen Tag danach ver- auf über 11,8 Milliarden US-Dollar . kündete die nord-koreanische Nach- richtenagentur damals noch, es gebe Die Wirtschaft Nord-Koreas ging von „durch die Flut keine Opfer oder Man- 1991 bis 1997 um 33,9% zurück. Heu- gel“. Einen Monat später wurde der te funktioniert lediglich noch ein Drit- Schaden gegenüber der UNO mit 15 tel, wobei der überwiegende Teil für Milliarden US-Dollar angegeben, dann militärisch-industrielle Zwecke genützt sogar mit 50 Milliarden. wird. Die Exporte verringerten sich in derselben Zeitspanne um mehr als die Die in diesem Zusammenhang immer Hälfte, für 1998 wird ein Rückgang um wieder erfolgende Behauptung, die Ge- rund 30 v.H. im Vergleich zum voran- treideernte Nord-Koreas hätte sich zu- gegangenen Jahr angenommen7. vor auf sieben Millionen Tonnen be- laufen, entspricht allerdings nicht den Tatsachen: Bereits nach 1991 war sie 2. Risikovolle Fluchtversuche von bisher fünf auf 3,4 Millionen Ton- nen zurückgegangen, schon vor 1995 Die weitere Folge ist ein Anstieg der mußte das Land jährlich über eine Mil- Fluchtbewegung: Angesichts der mas- lion Tonnen importieren. Für die Ern- siven Absperrungen am 38. Breiten- te von 1996, die sich wahrscheinlich grad war die Zahl der Geflohenen aus auf sogar nur etwa drei Millionen Ton- dem Land früher sehr gering. Bedingt nen belief, macht Pjöngjang große durch die allgemeine Entwicklung hat Regenstürme verantwortlich – deren sie in den letzten sieben Jahren deut- Existenz allerdings von der meteorolo- lich zugenommen – wenn auch die gischen Weltorganisation bestritten Anzahl derjenigen, die tatsächlich wird5. Vor nunmehr zwei Jahren blieb Süd-Korea erreichen, bisher pro Jahr die Ernte ebenfalls unter vier Millio- knapp unter 100 blieb. Prominentester nen Tonnen, während sie für 1998 – Flüchtling war ausgerechnet der bis- nach allerdings ebenfalls umstrittenen herige „Chefideologe“ der nordkorea- Zahlenangaben – auf 3,89 bis 4,3 Mil- nischen (kommunistischen) Partei der lionen Tonnen geschätzt wird. Die Mi- Arbeit, der 72-jährige Hwang Jang-yop, nimum-Grenze, eine weitere Hungers- der in der Machtstruktur seines Re- not zu vermeiden, liegt heutzutage gimes immerhin den 13. Platz ein- indes bei fünf Millionen Tonnen6. Der nahm und im Februar 1996 bei der eindeutigen Ansicht von Beobachtern Botschaft Seouls in Peking um politi- zufolge liegt die primäre Schuld an sches Asyl nachsuchte; sein Motiv dem Desaster der Regierung Nord- dürfte ideologische Verzweiflung über Koreas und ihrem stalinistischen Re- die politisch-wirtschaftliche Situation Nord-Korea vor dem Scheideweg 103 in seinem Land gewesen sein. Desillu- sie dann ausgeflogen nach Süd-Korea. sioniert erklärte er: „Was bedeutet So- Andere Geflohene kamen über die zialismus, wenn er die Menschen vor Mandschurei und ebenfalls über Viet- Hunger sterben läßt? Das Volk hat nam; in einem Fall war ein jun- seit langem alle Hoffnung verloren“. ger nord-koreanischer Wissenschaftler Ohnehin mehren sich die Fälle, daß über ein Jahr auf der Flucht – alle Ver- auch Systemträger die Fronten wech- suche scheiterten –, bis er endlich die seln – der nord-koreanische Spitzendi- Botschaft Seouls in Moskau betreten plomat Jang Sung Gil in Kairo floh mit konnte8. seinem Bruder Jang Sung Ho, ein Han- delsattaché an der Botschaft in Paris, im Sommer 1997; angeblich standen 3. Internationale Hilfe beide längere Zeit in engerem Kontakt zur CIA … Mitte Januar 1999 benutzte Ganz im Gegensatz zu der Staatsideo- der 54jährige Kim Kyong-pil, der im logie „Juche“, alles nur aus eigener Rang eines zweiten Sekretärs bei dem Kraft zu bewältigen, bat die Regierung Vertretungs-Büro Nord-Koreas in Berlin in Pjöngjang während des vergange- arbeitete, eine Dienstreise nach Frank- nen Jahres wiederholt um auslän- furt/M., um mit seiner Frau um politi- dische Hilfe, die „dringend bleibt“; sches Asyl in den USA nachzusuchen. noch kurz vor Weihnachten 1998 wur- de die EU um weitere Hilfe ersucht Die meisten Fliehenden versuchen und zum ersten Mal hieß es bei der neuerdings, über die Grenzflüsse Tu- amtlichen nord-koreanischen Nach- men und Amnok den Weg zunächst in richtenagentur, man sei „dankbar“ ge- die Volksrepublik China zu nehmen; genüber der UN und den verschiede- alle 50 Meter steht allerdings ein nord- nen internationalen Organisationen. koreanischer Armee-Posten und auch auf der anderen Seite sollen die Wa- Die Frage, ob man dem Norden Koreas chen bereits vor einiger Zeit verstärkt helfen sollte, war im Westen nicht un- worden sein. Die meisten Flüchtlinge umstritten: Stärkt doch jede Reisspen- werden indes in China entdeckt und de letztlich das Regime und gewiß dann ausnahmslos – da sie nicht als auch sein Militär – und damit viel- politische Flüchtlinge angesehen wer- leicht sogar dessen Aggressions-Ab- den, sondern als „Fremde, die Eßbares sichten gegen Süd-Korea. Doch auch suchen“ – nach Nord-Korea abge- nach einer in Seoul sehr verbreiteten schoben, wo sie zumeist in ein „Erzie- Ansicht ist das Ernährungsproblem hungslager“ kommen. Eine Flucht im Norden der Halbinsel „zuallererst durch das Riesenreich dauert nicht sel- ein moralisches und humanitäres. ten bis zu vier-fünf Monate. Nur einem Menschliche Leben müssen Vorrang kleinen Bruchteil gelingt es, in Hong- vor Politik und Ideologie haben.“ Auch kong das süd-koreanische Generalkon- das Internationale Rote Kreuz sah kei- sulat zu erreichen. Da nach der Ver- ne Alternative: „Wenn wir nicht hel- fassung Seouls auch die Menschen fen, sterben die Menschen“9. im Nordteil dieses „Landes der Mor- genstille“ dieselbe (süd-koreanische) Von 1995 bis Ende September 1998 er- Staatsangehörigkeit besitzen, werden hielt Nord-Korea eine Hilfe des Aus- 104 Friedrich-Wilhelm Schlomann landes von insgesamt 950,98 Millio- sen Wehretat um nur zehn Prozent nen US-Dollar; davon kam etwa ein gekürzt werden würde. Doch auf einen Drittel aus dem Süden der Halbinsel. solchen Schritt zu hoffen, wäre an- Im neuen Jahr will das Ernährungspro- gesichts dortiger Verhältnisse wohl gramm der Vereinten Nationen seine überaus weltfremd! Lebensmittel-Lieferungen erneut auf- stocken. 4. Kim Jong-il Diese Hilfs-Aktionen werden allerdings von vielen Schwierigkeiten begleitet: Uneingeschränkter Herrscher der „De- Nur widerwillig hat das kommunisti- mokratischen Volksrepublik Korea“ ist sche System Helfer ins Land gebeten, nach dem Tode Kim Il-sungs (Anfang nur widerwillig nimmt es deren Unter- Juli 1994) sein Sohn Kim Jong-il, den stützung an. Vergangenen Oktober zog er schon zu seinen Lebzeiten systema- sich die Hilfs-Organisation „Ärzte oh- tisch zu seinem Nachfolger aufgebaut ne Grenzen“ nach zwei Jahren Tätig- hatte. Die partei-offizielle Version be- keit aus Nord-Korea zurück mit dem hauptet, dieser sei am 16. Februar 1942 Hinweis auf Schikanen gegen ihre Ar- am heiligen Berg Paektu geboren, dort beit: Ihre Lebensmittel seien primär an wo vor über 2000 Jahren das Reich dortige Partei-Mitglieder, die Armee so- Chosun (Korea) gegründet wurde und wie an Fabriken verteilt worden, wel- wo sein Vater am Ende des II. Welt- che Waffen produzieren oder für den krieges die koreanischen Partisanen ge- Export arbeiten. Sie könne nicht ga- gen die japanischen Armeen geführt rantieren, daß die Hilfs-Sendungen die hätte – in Wahrheit lebten die Eltern Bedürftigen wirklich erreichen. Mitte damals in dem kleinen sibirischen Dezember letzten Jahres machte dann Dorf Watsukoye bei Chawarowsk (am auch die EU ihre weitere Hilfe von Amur-Fluß). Auch sonst ist der Perso- mehr Transparenz bei der Lebensmit- nenkult um ihn von nahezu den glei- tel-Verteilung abhängig. Kurz danach chen Formulierungen geprägt wie der- entschied das Internationale Rote jenige schon unter Kim Il-sung. Kreuz, welches seit Juli 1997 Nord- Korea mit Hilfsgütern im Werte von Symptomatisch für die alltägliche Pro- über 33 Millionen US-Dollar zur Seite paganda in den nord-koreanischen gestanden hatte, seine Lebensmittel- Medien sind Sätze wie etwa „Alle Men- Hilfen zu beenden; Pjöngjang habe schen bewundern uneingeschränkt diese nicht an die darbende Bevölke- den Genossen Kim Jong-il, der als an- rung verteilt, sondern für die Armee erkannter Führer der koreanischen abgezweigt. Seine medizinische Hilfe, und der Weltrevolution gut bekannt die direkt an die Krankenhäuser er- ist“. Noch Anfang Dezember 1998 folgt, werde es hingegen in diesem hieß es in einer Rundfunksendung Jahr mehr als verdoppeln10. Pjöngjangs über die dortigen Streit- kräfte: „Der respektierte und geliebte Sorgfältigen Berechnungen verschiede- Oberste Kommandierende, Genosse ner Experten zufolge könnte das Er- Kim Jong-il, stellt den größten General nährungsproblem Nord-Koreas leicht der Welt dar. Er ist ein stets siegreicher und schnell gelöst werden – wenn des- Führer mit einmaliger militärischer Nord-Korea vor dem Scheideweg 105

Weitsicht, Strategie und einer unbe- Nord-Korea Süd-Korea siegbaren Kunst der Befehlsgebung, der Soldaten: 1,16 Mill. 690.000 niemand folgen kann. Mit Genossen Panzer: 3.800 2.200 Kim Jong-il sind wir nicht ängstlich, Geschütze: 12.000 4.850 falls Tausende Feinde zu uns kommen, Kampf- und wir werden stets gewinnen“11. flugzeuge: 850 550 Kampfschiffe: 990 227 Sieht man von Einzelfällen innerhalb davon U-Boote: 40 7 der Regierungspartei im Frühjahr 1996 ab, so gibt es heute keinerlei Anzei- Dabei sollte nicht vergessen werden, chen von einer Opposition oder gar daß allein in den letzten zwei Jahren einer Revolution im Norden der Halb- Nord-Korea seine Streitkräfte um über insel; zumindest von jetziger Sicht wer- 100.000 Soldaten verstärkte und auch den selbst Hunger-Aufstände als kaum die Anzahl seiner Geschütze sowie sei- denkbar angesehen. Man darf dabei ner Kampfschiffe nicht unwesentlich nicht übersehen, daß die Bevölkerung erhöhte. Jeder 20. Bewohner des Lan- nördlich des 38. Breitengrades niemals des ist damit Soldat; rechnet man die Freiheit und Demokratie erlebte, weder Reserve sowie die semi-militärischen unter dem koreanischen Kaisertum, Einheiten hinzu, sind es vier Millionen erst recht nicht in der Zeitspanne nach militärisch Ausgebildeter, d.h. jeder der japanischen Okkupation 1910, fünfte Nord-Koreaner! welche 1945 unmittelbar von der kommunistischen Diktatur abgelöst Bekanntlich verfügt Pjöngjang auch wurde12. über die „Rondong“-Rakete mit einer Reichweite von 1.300 km und schoß Im Gegensatz zu seinem Vater, der sich Ende August 1998 die neue „Taepo- auf „seine“ kommunistische Partei dong I“ (eine Kombination von einer stützte, setzt sein Sohn weitaus mehr „Rodong“ und einer „Scud“) mit einer auf das Militär. Es ist kein Zufall, wenn Reichweite von 2.000 km ab, die öst- Kim Jong-il ständig bei Armee-Einhei- lich von Japan niederging; die Sorge ten gesehen wird, sich hingegen um Tokios vor einem etwaigen nord- die PdA kaum kümmert. „Die höchste koreanischen Raketenüberfall ist ange- Position der Nation“ stellt heutzutage sichts des dortigen Ausbaus von zehn auch nicht der Generalsekretär der Raketenstartplätzen sehr groß und Partei dar, sondern der Vorsitzende führte Anfang 1999 zu einer engeren der Nationalen Verteidigungskommis- militärischen Zusammenarbeit mit sion13. Der Einfluß des Militärs ist Seoul und Washington. In nunmehr während der letzten Jahre dann auch drei Jahren dürften die Nord-Koreaner sehr gewachsen. mit ihrer „Taepodong II“ (Reichweite 4.000 km) auch einzelne Gebiete der USA heimsuchen können14. 5. Militärisches Eine weitere Bedrohung stellen die Gegenwärtig zeigt sich im „Land der Bund C-Waffen dar. Nord-Korea ist Morgenstille“ in militärischer Hinsicht eines der wenigen Länder, das den Ver- folgendes Bild: trag über das Verbot von chemischen 106 Friedrich-Wilhelm Schlomann

Kampfmittel bisher immer noch nicht der geteilten Halbinsel, „so wäre das unterzeichnete. Man glaubt, es besitzt sozialpsychologische Resultat ver- heutzutage 1.000 Tonnen15. mutlich ein tiefgreifender Schock auf seiten der nord-koreanischen Bevölkerung“17, dessen Folgen für 6. Drei Möglichkeiten das Regime zumindest eine politi- sche Instabilität hervorrufen könnte. Angesichts dieser Situation steht das ● Die dritte Möglichkeit wäre – wie Regime vor drei unterschiedlichen bereits im Sommer 1950 – ein Möglichkeiten. Welchen Weg es ein- Kriegsüberfall auf Süd-Korea in dem schlagen will, müßte es eigentlich bald verzweifelten Versuch, von der eige- entscheiden. nen innenpolitischen Situation ab- zulenken. Es kommt hinzu, daß ● Einmal könnte Pjöngjang seine bis- Kim Jong-il nach den Aussagen des herige Politik einfach fortsetzen. geflüchteten Chefideologen gerade- Doch alle Hilfen des Auslandes ver- zu besessen von der Idee einer mögen nicht die eigentlichen Ursa- solchen „Lösung der koreanischen chen der Hungerkatastrophe zu be- Frage“ sein soll. Die Möglichkeit ei- seitigen und werden auch nicht nes bewaffneten Konfliktes wurde ewig andauern können. Hohe Infor- von Seoul stets wachgehalten; gera- mationsbehörden der USA vertreten de heutzutage wird ein solcher kei- die Ansicht, daß es lediglich eine neswegs als unmöglich erachtet, zu- Frage der Zeit sei, bis dieses System mal mehrere Umstände zumindest zwangsläufig zusammenbreche. In für einen anfänglichen Erfolg eines Seoul hingegen wird eine solche solchen Krieges sprechen und Dik- Annahme deutlich verneint16. Oh- tatoren bekanntlich ohnehin oft- nehin drängt sich die sehr folgen- mals einen nur getrübten Blick für schwere Frage auf, wie und unter Realitäten besitzen. welchen Umständen ein derartiger Kollaps erfolgen würde. Ein zweifellos entscheidender Punkt ist ● Dringend notwendig und nach An- die atomare Aufrüstung des Nordens: sicht eigentlich aller Korea-Beob- Im September 1989 bewiesen Aufnah- achter der wohl einzige Weg wäre men von US-Himmelssatelliten ein- eine wirtschaftliche Öffnung des deutig die Existenz von Reaktoren in Landes. Die bisher rigorose Isolation Yongbyon (90 km nördlich von Pjöng- des größten Teils der nord-koreani- jang) und weitere Nuklear-Installatio- schen Bevölkerung von wahrheits- nen bei Pyongsan und in Pyongyan so- getreuen Informationen über die wie ähnliche Bauanlagen unterirdisch Außenwelt und gerade über den Sü- in den Bergen vier Kilometer östlich den Koreas – man glaubt, lediglich von Pakchon. Gewiß trat Nord-Korea ein Fünftel besitze ein ungefähres Ende 1985 dem Atomsperrvertrag bei, Bild – indes macht Pjöngjang einen doch ratifizierte es das Sicherungs- solchen Schritt unendlich schwer. abkommen erst 1992 – womit es Käme es zu plötzlichen und gar in sämtliche Nukleareinrichtungen der größerem Maße erfolgenden zwi- Kontrolle der Internationalen Atom- schenmenschlichen Kontakten auf energiebehörde (IAEA) unterstellte und Nord-Korea vor dem Scheideweg 107 deren Recht anerkannte, Sonderin- senmedien, die von einem „nuklearen spektionen durchzuführen – die ihr al- Holocaust“ sprechen und drohen, die lerdings stets verweigert wurden. Wohl USA würden „zu Asche gemacht“ wer- um den globalen Atomsperrvertrag zu den. Andererseits ist auch die Politik retten, schlossen Washington und Washingtons gegenüber der „Demo- Pjöngjang Mitte Oktober 1994 einen kratischen Volksrepublik Korea“ zu- Vertrag, in dem Nord-Korea versprach, sehendst härter geworden. Offiziös ver- sein Nuklearprogramm „einzufrieren“; lautete dort, man hätte vor fünf Jahren als Gegenleistung ersetzten die USA die vor einem Luftangriff auf die Nuklear- bisherigen Graphit- durch Leichtwas- anlagen Pjöngjangs gestanden. Ob dies ser-Reaktoren (bei denen nur wenig heute letztlich ein bloßes Pokerspiel Plutonium für den Bau von Atom- darstellt, muß sich bald erweisen. waffen entsteht) und erhielten ande- Beobachter erachten eine mögliche rerseits das Recht, jede verdächtige militärische Eskalation durch einen Anlage im Norden aufzusuchen. Doch US-Präventivschlag gegen jene ver- auch dieses Entgegenkommen der dächtigen Nuklearanlagen immerhin Amerikaner brachte kein Licht in die für nicht unmöglich!21 bisherige Atom-Aufrüstung Pjöng- jangs. Bis heute weiß niemand genau, Verlockend für die Nord-Koreaner in wieviel Plutonium nördlich des 38. einem Kriege wäre einmal die Nähe Breitengrades produziert wurde und Seouls – nur 38 km von der Demarka- über wieviel Atombomben das Regime tionslinie entfernt, – zumal der Fall der heute verfügt18. Hauptstadt mit ihren über elf Millio- nen Einwohnern zugleich eine starke Erstmals im August vergangenen Jah- symbolische Bedeutung hätte. Ohne- res, dann besonders aber ab November hin liegt die Stadt ständig im Bereich verdichtete sich der Verdacht, daß nord-koreanischer Artillerie und Rake- Nord-Korea bei Kumchang-ri (40 km ten und könnte von der Luftwaffe nordwestlich von Yongbyon) sowie in Pjöngjangs innerhalb nur weniger Taean-ri Plutonium herstellt; ab 2002 Minuten angegriffen werden. Die oder 2003 könne es, so befürchtet Vorwarnzeit für die Süd-Koreaner in Washington, jährlich acht bis zehn einem Kriegsfalle wird allgemein mit Nuklearwaffen herstellen. Pjöngjang knapp 24 Stunden angegeben! Einig behauptet hingegen, es handele sich sind sich alle Beobachter, daß es auf nur um zivile Strukturen und lehnte beiden Seiten ein äußerst verbissener jede Kontrolle der IAEA scharf ab; spä- und sehr blutiger Krieg gerade in die- ter bot es den USA eine einmalige sem Abschnitt werden würde. Den Inspektion gegen 300 Millionen US- süd-koreanischen Soldaten hat man Dollar an, was diese ablehnten19. Der bereits vor Jahren unüberhörbar ge- wachsende Argwohn der USA wurde in sagt, sie müßten in ihren Schütz- Seoul mit dem Hinweis, es gebe kei- löchern nördlich von Seoul notfalls ne Evidenz für diese unterirdischen sterben, und es wird kaum Zufall sein, Nuklearwaffen-Programme der Nord- wenn in diesem 38-km-Streifen seit Koreaner, stark abgeschwächt20. Auf- einiger Zeit nicht wenige Denkmäler fällig ist die neuerdings sehr scharfe stehen, die an die Verteidigung damals Diktion der nord-koreanischen Mas- anno 1950 erinnern, wo Gruppen süd- 108 Friedrich-Wilhelm Schlomann koreanischer Soldaten bis zur letzten Koreas erschossen; gleiches soll für den Kugel gegen die nord-koreanische Parteisekretär für Landwirtschafts- Aggression kämpften. fragen, Kwan-hui, gelten – Seoul be- streitet beide Fälle.

7. Der „Dunkle Krieg“ Eine große Gefahr im Ernstfall wä- ren die Tunnel, welche vom Norden Eigentlich hat das geteilte Land auch Koreas aus tief unter der Erdoberfläche nach dem Waffenstillstand (1953) – oft mehr als 150 m – weit in den Sü- niemals einen echten Frieden gekannt. den gegraben wurden. Auf diese Wei- Zu denken wäre einmal an die vielen se könnten durch jeden Tunnel pro Flugblätter – ihre Anzahl schätzen Stunde rund 15.000 nord-koreanische Seouler Abwehrstellen auf 100 Millio- Soldaten hinter die erste süd-koreani- nen pro Jahr, auch wenn sie in jüng- sche Verteidigungslinie eingeschleust ster Zeit zurückgegangen sein mag –, werden – nach Aussagen von Über- welche der Norden mit Hilfe riesen- läufern würden diese Spezial-Einheiten großer Luftballons nachts über Süd- zur Tarnung dann sogar süd-koreani- Korea abwirft, die ganz offen zum sche Armee-Uniformen tragen! Bisher Sturz der „Verräter“ der dortigen Re- konnten mit Hilfe von US-Satelliten gierung aufrufen. Diese Subversions- vier solcher Infiltrationstunnel ent- Propaganda wird ergänzt durch den deckt werden, insgesamt aber sollen es Geheimsender „Stimme der nationalen rund 20 sein ... .22 Rettung“, der im Süden des Landes zu stehen vortäuscht; tatsächlich hat er In den drei letzten Jahren setzte der seinen Standort im nord-koreanischen Norden primär kleine Boote ein, deren Haeju. Besatzungen im Südteil Koreas Spiona- ge und Sabotage durchführen und Naturgemäß blüht ebenso die gegen- dann ebenso wieder in ihr Land ver- seitige Spionage: Ende vergangenen schwinden. Es handelt sich um die September nahmen Seouler Behörden „22. Kampfeinheit der Volksarmee“, drei Süd-Koreaner fest, die 1993 die von drei nord-koreanischen Hafen- während einer Reise nach Wien von städten aus operiert, sowie um das nord-koreanischen Agenten angewor- „313. Verbindungsbüro zur PdA“ mit ben worden waren. Letzten Dezember vier Basen. Auffällig erscheint, daß ih- wurden vier süd-koreanische Soldaten re Aktionen in jüngster Zeit vergleichs- verhaftet, die im innerkoreanischen weise häufiger geworden sind: Mitte Grenzort Panmunjom für Nord-Kore- September 1996 lief ein derartiges 320- aner spioniert hatten. Umgekehrt muß Tonnen-Unterseeboot, das 43 m lang es äußerst schwer sein, in dem abge- und mit einer Anti-Radar-Plastikhülle schlossenen und sehr überwachten überzogen war, vor der süd-koreani- Norden nachrichtendienstlich zu ar- schen Küste auf Grund; elf Soldaten beiten. Allerdings wurde in den letzten begingen nach üblicher japanischer zwei Jahren der Vier-Sterne-General „Kamikaze“-Art Selbstmord, neun wei- Li Bongson, der zum Politischen Büro tere wurden in Gefechten mit süd- der „Volksarmee“ gehörte, wegen lang- koreanischen Armee-Streifen getötet, jähriger Spionage zugunsten Süd- ein Soldat konnte gefangen genom- Nord-Korea vor dem Scheideweg 109 men werden – während fünf Besat- 8. Internationale Folgen zungsmitglieder entkamen. Für einige war es immerhin ihr dritter Einsatz ge- Ein erneuter Krieg im „Land der Mor- gen Seoul gewesen! Ende Juli 1998 genstille“ bliebe allerdings nicht auf konnte ein weiteres U-Boot entdeckt Korea beschränkt, sondern hätte sofort werden, weil es sich in süd-koreani- weitere Auswirkungen: Juli 1961 un- schen Fischernetzen verfangen hat- terzeichneten sowohl Moskau als te; die neunköpfige Besatzung beging Peking einen Beistandspakt mit Pjöng- Selbstmord. Kurz danach wurde die jang, um im Falle eines Krieges „sofort Leiche eines Agenten an die Küste ge- mit allen Maßnahmen“ einzugreifen. spült, den ganz offensichtlich eine Anfang Juni 1997 erklärte der stellver- Herzattacke getötet hatte. Indizien tretende russische Außenminister Gre- deuteten auf zwei Begleiter, doch wur- gori Karassin, der Vertrag „hat seine den sie nie entdeckt. Hat sie ein nord- Gültigkeit verloren“, und ähnlich be- koreanisches Unterseeboot wieder auf- tonte Jelzin, ihn nicht in dieser Form genommen und zurückgebracht? Oder zu verlängern. Da Moskau aber Nord- fanden sie irgendwo im Süden Koreas Korea zwar den Entwurf eines neuen heimlichen Unterschlupf? Überhaupt: Abkommens zuleitete, das alte jedoch Wieviele solcher Landungen mögen nicht förmlich kündigte, hat sich die- bis heute erfolgt und den entsprechen- ses automatisch um fünf Jahre ver- den Behörden Seouls unbekannt ge- längert und zwar in der alten Form – blieben sein? Hatte der Norden im also mit der militärischen Beistands- September 1996 versprochen, solche klausel. Andererseits sollen beide Län- Unternehmen würden sich nicht wie- der bei ihren Besprechungen Anfang derholen, so leugnet er seitdem jeg- Dezember letzten Jahres in Moskau je- liche Verantwortung. nen Punkt fallen gelassen und statt- dessen ein Einschalten der Vereinten Ein weiterer Versuch wurde Ende No- Nationen befürwortet haben. Noch in vember letzten Jahres rechtzeitig ent- diesem Jahr soll jedenfalls der neue deckt, doch konnte das Schiff entkom- Vertrag in Kraft treten. men. Pjöngjang sprach von „einem Produkt einer gegen den Norden ge- Rätselhaft erscheint die Haltung der richteten Verleumdungskampagne“. Volksrepublik China, die dem Inhalt Drei Wochen später stellten süd-korea- nach das damalige Abkommen „als nische Militär-Einheiten vor der Süd- null und nichtig“ erachtet – es hätte Küste ihres Landes ein nord-korea- nur dem Wortlaut nach weiterhin Be- nisches Schnellboot mit vier Mann stand. In Seoul geht man indes davon Besatzung und versenkten es nach aus, daß dieses nach wie vor Existenz- einer Verfolgungsjagd von über 100 kraft besitzt und Peking jedenfalls km; vermutlich sollte es im Süden ope- Pjöngjang nicht fallen lassen will24. Ob rierende Agenten Pjöngjangs aufneh- die Chinesen dabei die dortige atoma- men. Der Norden wiederum beschul- re Aufrüstung wirklich befürworten, ist digte Seoul, den Vorfall inszeniert zu eine ganz andere Frage. haben, „um einen Vorwand zu finden, einen Krieg gegen den Norden zu pro- Die Vereinigten Staaten von Amerika vozieren“23. mit ihren im Süden Koreas stationier- 110 Friedrich-Wilhelm Schlomann ten 37.000 Soldaten wären aufgrund ständigung möglichst lange hinauszö- des Sicherheitspaktes zwischen Wa- gern. Auf jene menschlichen Erleichte- shington und Seoul sofort und direkt rungen im geteilten Lande aber drängt in einen Krieg verwickelt – also auch gerade Seoul. Moskau wiederum brach- ohne eine Entscheidung des US-Parla- te den Vorschlag ein, die US-Truppen ments. Die Worte auf ihren Unter- durch Militär-Einheiten neutraler Staa- künften in Panmunjom „Fit to fight!“ ten zu ersetzen, um sich so selber ins sollten nicht als inhaltslose Übertrei- Spiel zu setzen und dabei möglichst bung gewertet werden. Ende Septem- seine gleichberechtigte Rolle mit den ber vorigen Jahres hat Washington of- USA stark hervorzuheben – was indes fiziell erklärt, im Falle eines Krieges in Peking kein positives Echo findet26. würden sofort etwa 640.000 Soldaten der USA besonders von Hawaii und Japan den Süd-Koreanern zur Hilfe 9. Seouls „Sonnenschein“-Politik eilen. Die auf der Insel Guam statio- nierten B-52-Stratosphären-Festungen, Im Gegensatz zu der bisherigen nord- so äußerte einmal der dortige Presse- korea-feindlichen Haltung Seouls will sprecher der US-Einheiten, würden in die neue süd-koreanische Regierung knapp drei Stunden nord-koreanisches unter Präsident Kim Dae-jung im Rah- Gebiet erreichen, und jedes Flug- men ihrer „Sonnenschein“-Politik als zeug könnte Atombomben von über ersten Schritt das Mißtrauen zwischen 10.000 kg Gewicht mit sich führen25. Nord und Süd durch gegenseitigen Austausch und Kooperationen abbau- Seit längerer Zeit laufen zwischen den en. Das heutige Süd-Korea habe nicht beiden Koreas, den USA und der VR die Intention, Nord-Korea zu unter- China Verhandlungen in Genf mit minieren oder aufzusaugen. Das Nah- dem Ziel, den Waffenstillstand von ziel ist eine friedliche Koexistenz, 1953 endlich in einen Friedensvertrag „während das Erreichen einer demo- umzuwandeln. Wohl erkannte die kratischen Wiedervereinigung der „Demokratische Volksrepublik Korea“ nächsten Administration oder politi- das damalige Abkommen an, und ge- schen Generation überlassen wird“27. wiß konnte man sich auf Verhandlun- Angestrebt wird eine lose Konfödera- gen in jener schweizerischen Stadt tion zwischen beiden Staaten, bei der einigen – jedoch schon nicht auf die diese zunächst unabhängig sein sollen, Tagesordnung. Baldige Ergebnisse dürf- aber über einige konföderale Organe ten ohnehin nicht zu erwarten sein, verfügen, welche Entscheidungen nur sind doch die Ziele der Teilnehmer zu einstimmig fällen können. Ob aber an- unterschiedlich: Für Washington ist gesichts der bisherigen ablehnenden besonders die Beendigung der nord- Haltung Pjöngjangs diese neue Politik koreanischen Raketen-Lieferungen an Seouls von Erfolg sein wird, erscheint Syrien, Pakistan und an den Iran wich- zumindest aus heutiger Sicht noch tig. Pjöngjang sieht als „Hauptauf- zweifelhaft28. gabe“ den Abzug der US-Truppen von der Halbinsel und möchte zugleich Immerhin konnte der bisherige Leiter den Süden Koreas in eine Isolation der Hyundai (eine der größten Indu- treiben und die innerkoreanische Ver- striegruppierungen Süd-Koreas), der 84 Nord-Korea vor dem Scheideweg 111

Jahre alte Chung Ju-yung, während Einwohner weder anzusprechen noch des vergangenen Jahres zweimal mit zu fotografieren; die Gehwege waren einem Geschenk von jeweils 501 Rin- zudem mit neuem Stacheldraht ver- dern Nord-Korea besuchen – was sehen. War das Motiv die Not des Re- früher zweifellos nicht möglich wäre. gimes an Devisen? Oder vielleicht Bei seinem letzten Kommen wurde er doch auch ein erster Schritt zu einer auch von Kim Jong-il empfangen, der schmalen Öffnung, wie Seoul erhofft? erste Süd-Koreaner nach seinem Amts- antritt. Die Gespräche beinhalteten Es wird sich bald zeigen angesichts der verschiedene wirtschaftliche Koope- Forderung der süd-koreanischen Re- rations-Projekte. Zweifellos hat der Pa- gierung, den vom Norden bereits im triot aus dem Süden, dessen Lebensziel Jahre 1948 über den 38. Breitengrad die Wiedervereinigung seiner Heimat eingestellten Postverkehr wieder auf- ist, aber ebenfalls politische Fragen zunehmen. Insbesondere drängt Seoul erörtert und so – da Nord-Korea offi- auf eine Zusammenführung der seit je- ziell nicht mit Süd-Korea verhandelt – nem Krieg in beiden Landesteilen ge- als „heimlicher Botschafter Seouls“ ge- trennt lebenden Familienangehörigen, wirkt. deren Zahl damals insgesamt etwa zehn Millionen Menschen betraf. Mit- Auch wurde Mitte November letzten te Januar 1999 schien man bereit zu Jahres 268 Süd-Koreanern die Mög- sein, dafür bis zu 50.000 Tonnen lichkeit eingeräumt, gegen überhöhte Kunstdünger an den Norden zu liefern, Preise das Gebiet um den nord-korea- während Pjöngjang für ein solches nischen Berg Kumgang zu besuchen. Treffen pro Person einen Preis von Allerdings verlangte Pjöngjang, dortige 20.000 US-Dollar fordert .... 28

Anmerkungen 1 AP, aus Peking, 19.8.1998 nach Ein- ernde Wirtschaftsblockade des Feindes“ drücken einer Delegation des US-Kon- (so KCNA, ebenda, 22.8.1998) und „die gresses bei ihrem Besuch in Nord-Korea. Bewegungen der Imperialisten, die De- „Die Welt“, Berlin, 12.5.1997 und 20.8. mokratische Volksrepublik Korea zu iso- 1998. „Frankfurter Rundschau“, Frank- lieren und zu ersticken“ (so KCNA, eben- furt/M., 12.11.1998. „Korea Focus“, Seoul, da, 23.11.1998) verantwortlich. 1998, Nr. 6, S. 63. 6 „The Korea Herald“, Seoul, 7.10. und 2 Hubertus Rüffer, Büroleiter der Deutschen 28.12.1998. Yonhap, ebenda, 26.11.1992. Welthungerhilfe in Pjöngjang, auf der Indes hatte das System schon immer Pressekonferenz in Bonn am 14.12.1998 Schwierigkeiten mit einer zufriedenstel- (vorliegender Text, S. 1). lenden Ernährung; charakteristisch hier- 3 Wie 2). KCNA, Pjöngjang, 3.3.1998. für war die Neujahrsansprache Kim Il- Yonhap, Seoul, 14.10.1998. Die tägliche sungs vom 1.1.1988 (s. bes. Jürgen Mindestmenge, welche die UNO für Kleiner, „Korea – auf steinigem Pfad“, Ber- Flüchtlinge veranschlagt, beträgt 1000 gr.. lin, 1992, S. 312). 4 AP, aus Hongkong, 8.12.1997. – „Die 7 „The Korea Herald“, ebenda, 31.7.1998. Welt“, ebenda, 1.10.1998. Wie 2). 8„Sisa Journal“, Seoul, 18.3.1998, S. 58 – 5 Zentrale Rundfunkstation, Pjöngjang, 62. „Newsweek“, New York, 8.9.1997, 26.9.1998. „Seoul Sinmun“, web-site, S.42. „The Korea Times“, Seoul, 13.2.1997 Seoul, 25.8.1998. Naewoe Press, „Vantage und 6.4.1998. „Korea Focus“, ebenda, Point“, Seoul September-Heft 1998, S. 25. 1997, Nr. 1, S. 102 ff und 133 sowie Nr. Vereinzelt macht Pjöngjang für die man- 3, S. 31 ff. Friedrich-Wilhelm Schlomann, gelnde Ernährungslage auch „die andau- „Pjöngjang vor verstärkter Fluchtwelle?“, 112 Friedrich-Wilhelm Schlomann

Deutsche Welle, Feature-Redaktion, Köln, Times“, ebenda, 22. und 27.11., sowie 15.4.1998. 11.12.1998. 9 KCNA, ebenda, 2.9. und 21.12.1998. 19 “The New York Times“, New York, „Korea Focus“, ebenda, 1997, Nr. 2, S. 17.8.1998. zentrale Rundfunkstation, 137. – Margarete Wahlstrom vom inter- 11.11.1998. KCNA, ebenda, 24. und nationalen Roten Kreuz in „Frankfurter 27.11.1998. – „Press release“ der IAEA, Rundschau“, ebenda, 12.11.1998. Wien, 25.9.1998 sowie „IAEA News 10 “Süddeutsche Zeitung“, München, 14.1. Briefs“, Wien, Oktober/November 1998, 1998. „The Korea Herald“, ebenda, 14. S. 2 – „Rodong Sinmun“, ebenda, 5.10. und 26.12.1998. 1998. 11 Aus neuester Zeit s. „Newsreview“, Seoul, 20 „Neue Zürcher Zeitung“, Zürich, 21./ 12.9.1998, S. 7 und Zentrale Rundfunk- 22.11.1998. – „The Korea Herald“, eben- station, ebenda, 4. und 31.12.1998. da, 22. und 23.11. sowie 2.12.1998. 12 Einen Hinweis auf „Verschwörer“ gab 21 Zentrale Rundfunkstation, ebenda, 8.1. erstmals das nord-koreanische parteior- 1999. „Die Welt“, ebenda, 14.1.1999. – gan „Rodong Sinmun“, Pjöngjang, 10.5. „Korea Focus“, ebenda, 1998, Nr. 6, S. 73 1996 zu; im gleichen Zusammenhang und 105. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Frank- 22 Erklärung des Sprechers des Verteidi- furt/M, 19.2.1997. „Die Welt, ebenda, gungsministeriums (so Yonhap, 25.7.1998. 5.10.1998. – Anderer Ansicht ist Yonhap, 23 „The Korea Times“, ebenda, 20. und ebenda, 12.1.1999. 22.9.1996 sowie 13. und 17.7.1998. – 13 Radio Rjöngjang, 5.9.1998. „Vantage KCNA, ebenda, 23.11.1998. „Korea Fo- Point“, Dezember-Heft 1998, S. 18. cus“, ebenda, 1998, Nr. 4, S. 64 ff. (66) 14 Westliche Militärexperten glauben, das und 103 ff.. Land könne jährlich rund 100 „Rodong“- 24 „Itar-Tass“, Moskau, 5.6.1997. „The Korea Raketen herstellen. – Daß Japan vom Herald“, ebenda, 23.12.1998 – Gespräche Abschluß der „Taepodong I“ erschreckt des Autors mit mehreren süd-koreani- wurde, erscheint unverständlich, zumal schen Diplomaten in Westeuropa im No- die Entwicklung etliche Monate zuvor im vember und Dezember 1998. Westen bekannt war. Vergl. Kyodo, Tokio, 25 „Newsweek“, ebenda, 14.9.1998, S. 45. 20.10.1998. 26 KCNA, ebenda, 26.10.1998. – Gottfried- 15 „The Korea Herald“, ebenda, 30.11. und Karl Kindermann, ebenda, S. 209. 4.12.1998. 27 „Korea Focus“, ebenda, 1998, Nr. 6, S. 48. 16 „Korea Focus“, ebenda, 1998, Nr. 6, S. 60. 28 „The Korea Herald“, ebenda, 15.8.1998. 17 So besonders Gottfried-Karl Kindermann – „Newsweek“, ebenda, 27.4.1998, S. 17. „Der Aufstieg Koreas in die Weltpolitik“, – Radio Pjöngjang, 20.8.1998, das die München, 1996, S. 152. – „The Korea neue Politik Seouls als „dümmliches Ma- Herald“, ebenda, 8.12.1998. növer“ und „läppisch“ abtat. 18 Friedrich-Wilhelm Schlomann, „die Ge- 29 „The Korea Herald“, abenda, 15.12.1998, heimnisse von Yongbyon“, Deutsche „Die Welt“, ebenda, 16.12.1998. „News- Welle, Monitor-Dienst, Dokumenta- review“, ebenda, 2.1.1999, S. 5. Yonhap, tionen, Köln 25.5.1994. – „The Korea ebenda, 14. und 16.1.1999. „Verstärkung des Angriffs auf die feindlichen Hauptobjekte“ Der Arbeitsplan der Abteilung XV (Aufklärung der Bezirksverwaltung Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit für das Jahr 1989)

Otto Wenzel

1. Einführung Da die publizistische und wissen- schaftliche Auswertung dieses Mate- Die Spionagetätigkeit der Hauptver- rials lange auf sich warten lassen dürf- waltung Aufklärung (HV A) des Mini- te – westliche Geheimdienste und der steriums für Staatssicherheit (MfS) der Generalbundesanwalt haben Priorität, DDR war in den neun Jahren nach der in zweiter Linie die hauptamtlichen Wiedervereinigung nur unzureichend Mitarbeiter der Abteilung Bildung darstellbar, weil die HV A im ersten und Forschung der Gauck-Behörde, die Halbjahr 1990 mit Zustimmung der eigene Publikationsreihen herausgibt – Arbeitsgruppe Sicherheit des Zentralen sind Publizistik und Wissenschaft Runden Tisches sich selbst auflösen nach wie vor darauf angewiesen, sich und ihre Akten – wie sie glaubte – fast anhand von erhalten gebliebenen vollständig vernichten konnte.1 Am Aktenbeständen anderer zentraler 23. Dezember 1998 gelang es einem Diensteinheiten des MfS und der Techniker des Bundesbeauftragten für Abteilungen XV (Aufklärung) von MfS- die Unterlagen des Staatssicherheits- Bezirksverwaltungen (BV) einen Über- dienstes der ehemaligen Deutschen blick über die DDR-Spionage zu ver- Demokratischen Republik (Gauck- schaffen. Dabei sind die Akten über die Behörde), auf von der HV A hinterlas- Arbeit der Abteilungen XV, die von der senen Magnetbändern, die man jahre- HV A angeleitet wurden und in den lang für gelöscht oder zerstört hielt, die ihnen zugewiesenen Bundesländern in geheime Datenbank der DDR-Spionage einigen Fällen Spitzenagenten führten für die Zeit von 1969 bis 1987, Kurzbe- (so die Abteilung XV der BV Karl- schreibungen der brisantesten Berich- Marx-Stadt – jetzt wieder Chemnitz – te von 4.500 HV A-Agenten, insgesamt die beim Bundesnachrichtendienst 180.564 Datensätze, zu decodieren.2 beschäftigte Regierungsdirektorin Dr.

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 114 Otto Wenzel

Gabriele Gast) von besonderer Bedeu- Insgesamt 68 West-Berlinern bzw. West- tung.3 deutschen wurden in diesem Arbeits- plan detaillierte Aufgaben zugewiesen. Die Abteilung XV der Bezirksverwal- 20 waren Inoffizielle Mitarbeiter (davon tung Berlin führte in den achtziger 14 Quellen*), 3 Perspektiv-IM*, 4 Vor- Jahren im „Operationsgebiet” (in West- lauf-IM*, 16 Kontaktpersonen, 8 Ab- Berlin, in Ausnahmefällen in einem schöpfungsvorgänge* und 13 Hinweis- Land der Bundesrepublik) 65 Inoffizi- personen* (HP). Bei 2 Personen war elle Mitarbeiter* (IM)4 und 32 abge- lediglich „Vorgang” angegeben, einer schöpfte5 Kontaktpersonen* (KP). Die- war Werber*, einer Werbungs-Kontakt- se Listen enthielten den Decknamen person. Alle führten einen Decknamen, des IM bzw. der KP, ihren Beruf, ihre für alle war ein Führungsoffizier zu- Arbeitsstelle und den Klarnamen ihres ständig, dessen Klarname angegeben MfS-Führungsoffiziers.6 In den letzten war. Diese Aufstellung enthielt auch Jahren wurden einige Decknamen ent- 3 DDR-Bürger: einen Historiker an der schlüsselt.7 Der Arbeitsplan der Ab- Ost-Berliner Humboldt-Universität, der teilung XV für das Jahr 1989 wurde am als DDR-Werber „Günter” geführt wur- 16. Dezember 1988 vom Leiter der de und seinen sechsmonatigen Stu- Bezirksverwaltung, Generalmajor Häh- dienaufenthalt an einem USA-Ost- nel, und seinem Stellvertreter Auf- forschungszentrum zur Aufklärung klärung, Oberst Lange, unterzeichnet erkannter und vermuteter CIA-Positio- und vom Stellvertreter des Ministers nen nutzen sollte, einen Studenten der und Leiter der HV A, Generalleutnant Humboldt-Universität, der als IM-Vor- Großmann, ”bestätigt”.8 Als ”opera- lauf „Johannes Vater” einen eigenen tive9 Grundorientierung” nannte die- Gesprächskreis mit dem Ziel aufbauen ser Arbeitsplan: sollte, gegen Kreise der Evangelischen Akademie und der Sektion Theologie ● Die „Verstärkung des Angriffs auf der Humboldt-Universität zu arbeiten. die feindlichen Hauptobjekte” (Se- Schließlich war da noch der IM-Vor- natsverwaltung für Inneres und lauf „Hans Ludwig”, ein der SED an- Landesamt für Verfassungsschutz, gehörender Rechtsanwalt, der unter Senatskanzlei, Parteien in West-Ber- Nutzung seiner Verbindungen „opera- lin, Ostforschungs-Einrichtungen, tiv relevante Personen des Operations- Zentren der PID10 und ihre Einwir- gebiets”, also West-Berlins und der kung auf die Steuerung der PUT11). Bundesrepublik, aufklären sollte.13 Damit sollten durch den koordi- nierten Einsatz von Inoffiziellen Mit- arbeitern, neue Anwerbungen und 2. Treff mit der Quelle Einschleusungen12 geschehen. „Jutta“ in Wien ● Die Erweiterung der Informations- beschaffung aus dem West-Berliner Offenbar ein größerer Fisch war die Wissenschaftsbereich, dem tech- Quelle „Jutta”, die in der Senatsver- nisch-technologischen Potential der waltung für Finanzen beschäftigt war. Institute und Konzerne. Damit soll- Sie sollte auch weiterhin qualifizierte te die Wirtschaftspolitik der SED un- Informationen über das Bundesmini- terstützt werden. sterium der Finanzen, EG-Probleme „Verstärkung des Angriffs auf die feindlichen Hauptobjekte“ 115 und die Wirtschaftspolitik sowie Fra- Keiner der Agenten der Abteilung XV gen der Berlin-Politik (Finanzfragen, saß damals in der SPD-Fraktion des Widersprüche zur Bundespolitik, Hin- Berliner Abgeordnetenhauses.17 Sie tergründe von Skandalen usw.) liefern. plante jedoch, die SPD-Funktionärin Die Zahl der Treffs mit dem Instruk- IM „Purzel” in das Abgeordnetenhaus teur* „Nikolaus“ sollte erhöht, ein Treff einzuschleusen. Der Erfolg hing wegen in Wien vorbereitet werden. Dort soll- ihres relativ ungünstigen Listenplatzes te sie weiter „qualifiziert” und „er- bei der Abgeordnetenhauswahl am zogen” werden, insbesondere sollte 29. Januar 1989 von der Höhe des verhindert werden, daß sie in die DDR Wahlergebnisses für ihre Partei ab. Der übersiedelte. Führungsoffizier der SPD-Funktionär Quelle „Friedemann” Quelle „Jutta” war Oberst Lange, der sollte in das Notaufnahmelager Ma- Stellvertreter Aufklärung des Leiters der rienfelde eingeschleust werden. Da er Bezirksverwaltung Berlin, persönlich.14 enge Beziehungen zur SPD-Führung unterhielt, sollte seine Informations- Der Arbeitsplan erwähnt einen FDP- tätigkeit zielstrebig ausgebaut wer- Bundestagsabgeordneten, die KP „Mei- den.18 ster”, mit dem der IM „Fritz” kontinu- ierlich Treffs in Ost-Berlin abhalten Seine Kontakte zur Evangelischen Kir- sollte. Außerdem sollte geprüft wer- che (Evangelische Akademie und Vor- den, ob die Treffs zum Ausbau der bereitungsgremium für den Kirchentag politischen Abschöpfung auf das 1989 in West-Berlin) nutzen sollte die Operationsgebiet ausgedehnt werden Quelle „Zeitz”, Professor an der Freien könnten. Der CDU-Fraktion des Ber- Universität und Funktionär der AL. liner Abgeordnetenhauses gehörten die Kontaktpersonen „Nickel” (die Ab- Außerdem sollte seine Teilnahme schöpfung sollte durch Vertiefung der an der Bundesdelegiertenkonferenz persönlichen Beziehungen zum IM der GRÜNEN sichergestellt und sein „Robert” verbessert werden) und „Tai- Kontakt zum deutschlandpolitischen fun” an, ein Unternehmer, der bis jetzt Sprecher der Abgeordnetenhausfrak- vom IM „Gnida” abgeschöpft worden tion ausgebaut werden.19 war. Wegen dessen Verrentung sollte ein neuer IM eingeschleust werden, Die Quelle „Louis”, ein „CDU/CSU- eventuell „Kästner” oder „Thein”. Funktionär”, sollte seine Beziehungen Außerdem sollte geprüft werden, ob zu Mitarbeitern westlicher Geheim- die Geschäftsbeziehungn der KP „Tai- dienste und Abwehrorgane ausbauen, fun” zu einem Betrieb in der DDR um deren Stoßrichtung aufzuklären nutzbar gemacht werden konnten. und Dossiers zu erarbeiten. Ferner soll- Abgeordneter der AL15 war die Quel- te er aufklären: le „Ludwig”, der verstärkt Informatio- nen über die Gremien seiner Par- ● CSU-Aktivitäten zur Organisierung tei (Schwerpunkt Abgeordnetenhaus- des rechten, konservativen Poten- fraktion und Geschäftsführender Aus- tials in West-Berlin (CSU-Mitglieder, schuß) und über Pläne der AL, Kontak- Hanns-Seidel-Stiftung, Vertriebenen- te zum politischen Untergrund in der verbände, Gemeinschaft „Junges DDR herzustellen, liefern sollte.16 Ostpreußen”), 116 Otto Wenzel

● Ostforschungs-Kreise an der FU, ins- schen Universität, sollte in Betreu- besondere aus den Reihen der Jun- ungsobjekte des Senats für DDR-Bürger gen Union. eindringen und grenzüberschreitende ● Außerdem sollte er Kontakte zu Me- Kirchenkontakte aufklären. Außerdem dienvertretern herstellen, um ihre sollte er die angebliche „Außensteue- Rolle bei der Organisierung der po- rung“ des politischen Untergrunds in litischen Untergrundtätigkeit in der der DDR durch West-Berliner Senats- DDR aufzudecken (namentlich zur und Kirchenkreise nachweisen. West-Berliner Spiegel-Redaktion).20 Die KP „Ilja“ (seine Berufsbezeichnung Die Quelle „Delphin”, ein Bauunter- ist von Mitarbeitern des BStU ge- nehmer und CDU-Funktionär, sollte schwärzt worden) sollte Informationen seine Beziehungen zur West-Berliner über den Senator für Soziales, Ulf Fink, Spitze der CDA (Christlich-Demokra- erlangen, der in seiner Eigenschaft als tische Arbeitnehmerschaft) nutzen. Be- CDA-Vorsitzender als „Zentralfigur der sonders benötigt wurden seine Infor- Außensteuerung des politischen Un- mationen über die Vorbereitung und tergrunds“ bezeichnet wurde. Auswertung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, zur Deutschland- Zum Abschöpfungsvorgang „Heinz“, politik und zur Bundespolitik der einem Professor am Osteuropa-Institut, CDU. Die Quelle „Franz Josef”, Ver- sollte nach dessen einjährigem Stu- sicherungsvertreter und gleichfalls dienaufenthalt in den USA der Kontakt CDU-Funktionär, sollte in den wiederhergestellt werden. Wichtig wa- deutschlandpolitischen Arbeitskreis ren Informationen über seine Bezie- der CDU eingeschleust werden. Dazu hungen zu Experten in den USA, seine sollten seine persönlichen Bezie- über Finnland laufenden Kontakte in hungen zu Führungspersönlichkeiten die Sowjetunion und sein Interesse an ausgebaut und seine Aktivitäten im der DDR. Der DDR-Werber „Inka“ soll- Landesverband und in der Bezirks- te einen Kontakt zur HP „Wirbel“, verordnetenversammlung (der Bezirk einem Professor am Osteuropa-Institut, war leider nicht angegeben) verstärkt aufnehmen, über den Informationen werden. Die Quelle „Laubach”, ein der aus dem Bereich der rechtskonserva- CDU angehörender Journalist, sollte tiven DDR-Forschung und deren Kon- als verantwortlicher Redakteur für zeption der politisch-ideologischen Wirtschaft und Kirchenpolitik in die Diversion gegen die DDR beschafft Berliner Pressekonferenz eingeschleust werden sollte. Als Termin der Kontakt- werden und gezielt „Abschöpfungs- aufnahme war der 30. Juni 1989 ange- und Förderkontakte in Führungsberei- geben.22 che des Senats“ aufbauen.21 Die Kontakte des DDR-Werbers „Ale- xey” zur KP „Tornado”, einem Rechts- 3. Aufklärung „grenzüberschrei- professor an der Freien Universität und tender Kirchenkontakte“ SPD-Mitglied, sollten zur Abschöp- fung von Informationen über die Der Werber I „Feller”, ein wissen- SPD-nahe Ostforschung und die Ana- schaftlicher Assistent an der Techni- lyse der Arbeitskonzeption dieser Krei- „Verstärkung des Angriffs auf die feindlichen Hauptobjekte“ 117 se in die sozialistischen Länder und die einer Objektbearbeitungskonzeption, gesteuerte Einflußnahme auf oppo- die aktualisiert werden sollte. Dazu sitionelle Kräfte in diesen Ländern sollten der Kontaktvorgang „Turmalin” genutzt werden. Der Abschöpfungs- weitergeführt und die Hinweise „Mes- vorgang „Jacob”, ein Professor am Ost- se”, „Margit” und „Türkis” konzen- europa-Institut, sollte durch Vertiefung triert bearbeitet werden. Mit den Ge- seines Kontaktes zum DDR-Werber nannten waren eine Kontaktperson „Carlo“ zur Informationsgewinnung und drei Hinweispersonen gemeint. aus den Leitungsgremien der Ge- sellschaft für Deutschlandforschung führen. Der Abschöpfungskontakt des 4. Informationen über gesetz- DDR-Werbers „Julius” zur KP „Ball”, geberische Aktivitäten auf einem Professor (die Hochschule oder dem Gebiet der Genforschung Universität war nicht angegeben) soll- te stabilisiert werden. Über ihn wollte Die Quelle „Bank”, ein Elektriker in der man Informationen aus dem internen Bundesdruckerei, erhielt den Auftrag, Bereich der Evangelischen Kirche und die Produktionsvorgänge beim Druck über ihre Kontakte zu Ost-Berlin er- des neuen Personalausweises und des halten.23 neuen Reisepasses der Bundesrepublik Deutschland aufzuklären.25 Die KP „Dorn” war Abteilungsleiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsfor- Über die Quelle „Pedro”, einen Opera- schung. Durch den DDR-Werber „Ger- teur bei der Firma MTU in München, hard” wollte man an Informationen sollte ein langfristig abgestimmter In- über die Vorstellungen der politischen formationsbeschaffungsplan über die und wirtschaftlichen Spitzenvertreter Rüstungsproduktion, insbesondere den in Ministerien, Parteien, Senat und Jäger 90, erarbeitet werden. Die Quel- Wirtschaftskreisen zu den Ost-West- le „Union”, ein selbständiger Unter- Wirtschaftsbeziehungen gelangen.24 nehmer, der die Quelle „Pedro” be- treute und anleitete, hatte nicht näher Vom Abschöpfungsvorgang „Nora”, beschriebene Software zu beschaffen. einer RIAS-Redakteurin, sollten Infor- Die Quelle ”Fichte”, ein Geschäftsfüh- mationen über in West-Berlin lebende rer, hatte zusätzlich zu seinen Infor- ehemalige DDR-Künstler und ihre „ge- mationen über den Bereich Elektro- zielte feindliche Kontakttätigkeit in technik/Elektronik Muster aus dem den Bereich der Kulturschaffenden der Bereich Chemie zu beschaffen. Die DDR” gewonnen werden. Die Quelle Quelle ”Fallada”, gleichfalls Geschäfts- „Stola”, ein RIAS-Mitarbeiter, sollte führer, hatte auf Anweisung des Sek- auch weiterhin Informationen über tors Wissenschaft und Technik der das Personal dieses Senders liefern und Hauptverwaltung Aufklärung Muster- im DDR-Arbeitskreis der Evangelischen baugruppen von Soft- und Hardware, Akademie mitarbeiten, um dessen an- die unter die Embargobestimmungen gebliche geheimdienstliche Aktivitäten fielen, zu beschaffen. Die Quelle auszukundschaften. Der private Sender „Harry” schließlich, ein Beschäftigter „Radio 100” war auf der Grundlage der Firma Schering, sollte interessante einer Ministeranweisung Gegenstand Dokumente zu deren Konzernstrategie, 118 Otto Wenzel zu gesetzgeberischen Aktivitäten auf 5. Einschleusung in das Landes- dem Gebiet der Genforschung und amt für Verfassungsschutz -technologie und zur Außenhandels- konzeption dieser Firma beschaffen.26 Große Mühe machte sich die Abtei- lung XV um die KP „Turin”, einen Se- Die Quelle „Katharina”, wissenschaft- natsangestellten. Die IM „Rolf” und liche Mitarbeiterin an einem Max- „Controletti” sowie die KP „Frankfurt” Planck-Institut27, sollte Informationen und „Sofia” sollten Ansatzpunkte für über die internationale Aids-Forschung seine Werbung ausarbeiten, da „Turin” besorgen.28 Voraussetzungen für die Einschleusung in das Landesamt für Verfassungs- Aufschlußreich sind die Angaben über schutz habe. Zur HP „Hai”, einem Juri- die Perspektiv-IM (PIM). Der PIM sten, sollte der DDR-Werber „Hans” „Rolf”, ein Senatsbeamter, sollte sich mit dem Ziel Kontakt aufnehmen, In- auf der Grundlage seiner gesicherten formationen über das Bundeskriminal- beruflichen Position in einer für das amt und das Landesamt für Verfas- MfS offenbar uninteressanten Verwal- sungsschutz zu erhalten.29 tung unter Nutzung von Stellenaus- schreibungen gezielt um eine Stelle im Auch um die KP „Fürstenberg”, von „operativ relevanten” Bereich, also der Beruf Sekretärin, gab man sich große Senatskanzlei, der Senatsverwaltung Mühe. Der FIM (Führungs-IM*) „Hei- für Inneres oder dem Landesamt für nemann”, ein Hauptamtlicher Inoffizi- Verfassungsschutz, bewerben. eller Mitarbeiter*, und der Werber I „Lichtenstein” erhielten den Auftrag, Die PIM „Tanja”, eine Doktorandin der sie nach erfolgreicher Einarbeitung im Publizistik, sollte weiter versuchen, Ausland als Inoffizielle Mitarbeiterin durch abgestimmte Bewerbungen in zu werben (Termin: 30. Juni 1989) und operativ relevanten Senatsbereichen in die Senatsverwaltung für Inneres Arbeit zu erhalten. einzuschleusen.30

Für den Fall, daß diese Einschleu- Zur Unterstützung der illegalen Arbeit sung nicht zu verwirklichen war, sollte „im und nach dem Operationsgebiet” eine Konzeption für ihren weiteren wurden die DDR-Stützpunkte „Tinten- Einsatz erarbeitet werden. Der PIM fisch” und „Reinhold” unterhalten. „Pelz”, ein SPD- und Juso-Funktio- „Tintenfisch” nutzte legal abgedeckte när und Politologie-Student, sollte Positionen in der Sektion Rechtswis- eine hauptamtliche Parteikarriere an- senschaft an der Humboldt-Univer- streben. sität. Hier arbeiteten die IM „Alexey”, „Friedrich” und „Hans” sowie die KP Die KP „Grün”, Angestellter und SPD- „Inka” und „Gerhard Frank”. Sie hat- Mitglied, sollte als PIM geworben wer- ten die Aufgabe, die „geheimdienstlich den. Anschließend sollte er in einen gesteuerte Ostforschung” über die KP Arbeitskreis der SPD eingeschleust wer- „Tornado”, „Chanpin” und „Orion” den. Auch für ihn sollten geeignete abzuschöpfen und über die HP „Hai” Förderverbindungen für eine Parteikar- westliche Geheimdienste aufzuklären riere gesucht werden. sowie legale Wissenschaftskontakte zur „Verstärkung des Angriffs auf die feindlichen Hauptobjekte“ 119

Erarbeitung aussagefähiger Dossiers sonderen Einsatz (OiBE) oder Inoffi- aus dem Fachbereich Jura der Freien ziellen Mitarbeiters in das Operations- Universität zu nutzen. Nach Vorgaben gebiet. Sechs „vorläufige Materialien” des Stabs der HV A sollten in West-Ber- (hier ist von Menschen die Rede!), die lin die illegalen Residenturen „Heine- IM „Meister”, „Karl Sieg”, „Peter Se- mann”, „Controletti” und „Friede- felt”, „Karl”, „Felix” und „Arno” stan- mann” ausgebaut werden.31 den zur Auswahl. Zur Erziehung und Befähigung des Kandidaten waren fol- Da der Bestand an Werbern für die In- gende Maßnahmen durchzuführen: tensivierung der Agententätigkeit in West-Berlin offenbar nicht ausreichte, ● „Ablegen eines psychodiagnosti- wurden die Referatsleiter der Abteilung schen Tests, XV verpflichtet, 10 DDR-Werber I zu ● Nachweis einer abwehrorientierten werben. Auch der Bestand an Werbern Eignungsprüfung, II war zu erweitern. Sie sollten aus ● Durchführen einer Überprüfungs- dem mittleren Leitungsbereich der kombination”. Ost-Berliner Wissenschaftseinrichtun- gen rekrutiert werden. In Aussicht ge- Der ausgewählte Kandidat war der Ab- nommen wurden ein Dr. phil., ein pro- teilung VI der Hauptverwaltung Auf- movierter Orthopäde, ein der Ost-CDU klärung zu übergeben.34 angehörender Diplom-Kunstwissen- schaftler und ein Dokumentarfilm- Schließlich enthielt der Arbeitsplan regisseur32. eine Fülle von Maßnahmen zur „Qua- lifizierung der Führungs- und Leitungs- Eine „qualifizierte Werbung” von neun tätigkeit”. Dazu gehörten: Hinweispersonen war vorgesehen: fünf Studenten, die Funktionen bei den ● die Einarbeitung und Qualifizierung Jungsozialisten bekleideten („Kormo- der 11 neuen stellvertretenden Refe- ran”, „Heike”, „Prag”, „Claudia” und ratsleiter durch Einbeziehung in die „Karl”), einem Politologie-Studenten Leitungsprozesse, die Übertragung („Architekt”), einem Gerichtsrefe- eigenverantwortlicher Führungsauf- rendar („März”), einem der SPD an- gaben und die Einarbeitung junger gehörenden Diplom-Ingenieur („Kör- Genossen, ner”) und einem oder einer Be- ● die Anleitung des Beauftragten des schäftigten (die Berufsbezeichnung ist Leiters, Major Wolff, um seine Qua- von Mitarbeitern des BStU geschwärzt lifizierung zum Leiter zu fördern, worden) der CDU-Landesgeschäfts- u.a. durch Vorbereitung, Durch- stelle („Kassandra”). Geradezu eine führung und Kontrolle von Lei- Sprungbeförderung war für die beim tungsentscheidungen, Diakonischen Werk beschäftigte Kon- ● die Zusammenarbeit mit den Ab- taktperson „Axel” vorgesehen, die als teilungen der Hauptverwaltung Auf- Werber I geworben werden sollte.33 klärung, ● die Orientierung der Informations- Gegenstand des Arbeitsplans der Ab- arbeit auf den 40. Jahrestag der DDR teilung XV für das Jahr 1989 war auch und des MfS, das Pfingsttreffen der die Übersiedlung eines Offiziers im be- FDJ und die Kommunalwahlen, 120 Otto Wenzel

● die Überarbeitung des Plans der ermöglichte, leiteten IM an und „erzo- Überführung der Diensteinheit vom gen” sie zur „operativen Disziplin”. Sie Frieden in den Kriegszustand, der in repräsentierten die „Zentrale” und der DDR-Tarnsprache als „Verteidi- strahlten Zuversicht und Vertrauen aus gungszustand” bezeichnet wurde.35 (S. 61 f., 90). Hauptamtliche Inoffizielle Mitarbeiter Akten der Abteilung XV einer Bezirks- (HIM) waren als Hauptamtliche in den verwaltung geben einen wertvollen Planstellen des MfS ausgewiesen, un- Einblick in die Arbeitsweise, das Den- terhielten jedoch nicht wie die OibE ken und Handeln der MfS-„Aufklärer”. ein „Dienstrechtsverhältnis im Sinne Es fällt übrigens auf, daß in dem hier des Wehrgesetzes und kein Arbeits- abgehandelten Arbeitsplan der Abtei- rechtsverhältnis im Sinne des Arbeits- lung XV Berlin für das Jahr 1989 an gesetzes” (S. 107). keiner Stelle Hinweise auf die Krise Hinweispersonen (HP) waren operativ enthalten sind, in der sich das SED-Re- interessante Personen aus dem Opera- gime Ende 1988 befand – wenn man tionsgebiet, zu denen durch einen IM von der Furcht vor der „politischen oder einen Werber eine stabile Bezie- Untergrundtätigkeit” absieht, die je- hung aufgebaut wurde (S. 595). doch aus ideologischen Gründen Inoffizielle Mitarbeiter (IM) waren der schon seit langem bestand. Normaltyp des MfS-Agenten. Sie hat- ten in der Regel eine Verpflichtungser- klärung unterschrieben, führten einen Anhang Decknamen, mußten konspirativ arbeiten und hatten die Aufgabe, In- Funktionstypen des MfS-Agentennet- formationen gezielt zu beschaffen. Für zes (aus Müller-Enbergs – Anm. 3 – ihre Rekrutierung, Betreuung und nach IM-Richtlinien des MfS) Anleitung arbeitete das MfS mit Führungsoffizieren, deren Tätigkeit Von Abschöpfungsvorgängen sprach sich an umfänglichen Richtlinien zu das MfS, wenn eine operativ interes- orientieren hatte (S. 9). sante Person, die für die inoffizielle IM-Vorlauf waren Personen, die als IM- Mitarbeit im MfS geworben werden Kandidaten ausgewählt waren und mit sollte, durch Abschöpfung allmählich dem Ziel der Werbung bearbeitet wur- in die operative Arbeit einbezogen den (S. 831). wurde (S. 610). Kontaktpersonen (KP) waren Bürger Führungs-IM (FIM) waren Offiziere im aus dem Operationsgebiet, die „über besonderen Einsatz (OibE, Berufsoffi- Zugang zu operativ bedeutsamen In- ziere des MfS, die wie IM fungierten, formationen bzw. über Möglichkeiten wenn sie im Operationsgebiet oder in zur aktiven politischen Einflußnahme” der DDR konspirativ arbeiteten) oder verfügten und relativ beständig abge- IM, die den Anforderungen an einen schöpft wurden, ohne den nachrich- Offizier entsprechen mußten. Sie nah- tendienstlichen Charakter dieser Tätig- men im Operationsgebiet eine berufli- keit zu kennen. Ihre Werbung als IM che oder gesellschaftliche Stellung ein, war aus politischen, operativen oder die ihnen eine ausreichende Bewe- anderen Gründen nicht möglich, gungsfreiheit für ihre operative Arbeit zweckmäßig oder notwendig (S. 481). „Verstärkung des Angriffs auf die feindlichen Hauptobjekte“ 121

Wie der hier beschriebene Arbeitsplan vitäten, über das feindliche Potential der Abteilung XV Berlin zeigt, waren sowie über interne Lagebedingungen” die Kontaktpersonen jedoch gelegent- informierten. Sie mußten eine ge- lich in ihrem Einsatz von Inoffiziellen sellschaftliche oder berufliche Position Mitarbeitern kaum zu unterscheiden. besitzen, die ihnen den Zugang zu ge- Instrukteure unterhielten im Auftrag heimen Informationen bzw. den ver- des Führungsoffiziers die persönliche traulichen Kontakt zu Geheimnisträ- Verbindung zu im Operationsgebiet ein- gern ermöglichten (S. 481). gesetzten IM, instruierten sie und nah- Werber waren IM, die „planmäßig ope- men ihrer Berichte entgegen. In der Re- rativ interessante Personen” mit dem gel waren sie Hauptamtliche IM (S. 63). Ziel bearbeiteten, ihre Einsatzmöglich- Perspektiv-IM (PIM) waren Inoffizielle keiten festzustellen und sie für eine be- Mitarbeiter, die die Voraussetzungen wußte Zusammenarbeit zu gewinnen. für eine künftige Tätigkeit als Quelle, Seit 1988 unterschied das MfS zwi- IM für besondere Aufgaben, Werber, schen den Werbern I, die aufgrund Führungs-IM u.a. erfüllten und durch ihrer nachgewiesenen Eignung für „zielgerichtete Maßnahmen ..., insbe- die Kontaktierung, Vorbereitung und sondere zur Schaffung der erforder- Durchführung von Werbungen einge- lichen gesellschaftlichen und beruf- setzt werden konnten, und den lichen Positionen”, auf ihren Einsatz Werbern II, die in der Hinweis- und vorbereitet wurden (S. 484). Dossierarbeit zur Aufklärung von Per- Quellen waren IM, die über „geheime sonen, Sachverhalten und Objekten feindliche Absichten, Pläne und Akti- eingesetzt wurden (483, 950).

Anmerkungen 1 Hubertus Knabe, Die „West-Arbeit” des 5 Unter Abschöpfung verstand das MfS eine MfS und ihre Wirkungen. Bericht des Bun- „systematische Gesprächsführung zur desbeauftragten für die Unterlagen des gezielten Ausnutzung des Wissens, der Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Kenntnisse und Möglichkeiten anderer Deutschen Demokratischen Republik an Personen zur Informationsgewinnung“. die Enquete-Kommission des Deutschen (Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen Bundestages „Überwindung der Folgen der des Staatssicherheitsdienstes der ehemali- SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Ein- gen Deutschen Demokratischen Republik heit”, Berlin 1998 (MS), S. 132. – Hrsg. –, Das Wörterbuch der Staats- 2 Der Spiegel Nr. 3/1999, S. 32 ff.. sicherheit – künftig zitiert: Wörterbuch –, 3 Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.), Die Inof- Berlin 1993, S. 7). fiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für 6 Kopien dieser Listen befinden sich im Be- Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die sitz des Verfassers. Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und 7 Vgl. „IM Purzel” stolperte über den KGB, Spionen in der Bundesrepublik Deutsch- in: Die Welt vom 25.2.94, S. B 1; Opera- land (künftig zitiert: Müller-Enbergs), Ber- tion Sumpf, in: Der Spiegel Nr. 51/1996, lin 1998, S. 17 f., 249 ff.; Rita Sélitrenny/ S. 38. Thilo Weichert, Das unheimliche Erbe. Die 8 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen Spionageabteilung der Stasi, Leipzig 1991. des Staatssicherheitsdienstes der ehemali- 4 Das Agentennetz des Ministeriums für gen Deutschen Demokratischen Republik, Staatssicherheit bestand aus einer Vielzahl Außenstelle Berlin, XV 24 (künftig zitiert: von Funktionstypen. Die in diesem Auf- BStU), Bl. 142 ff.. satz genannten sind bei ihrer ersten Er- 9 Das Attribut operativ gehörte zu den meist- wähnung durch * gekennzeichnet und im gebrauchten und schwammigsten Voka- Anhang „Funktionstypen des MfS-Agen- beln des MfS. Es bedeutete immer irgend- tennetzes” in alphabetischer Reihenfolge eine „Handlung” der MfS-Mitarbeiter zur definiert. „Sicherung” von Einrichtungen der DDR 122 Otto Wenzel

und Bekämpfung wirklicher oder ver- hatte. Sie wurde Mitglied des Ausschus- meintlicher innerer und äußerer „Feinde” ses für Bundesangelegenheiten und Ge- (Wörterbuch – Anm. 5 –, S. 277 bis 296). samtberliner Fragen, der vertrauliche In- 10 Unter PID (politisch-ideologischer Diver- formationen über die Verhandlungen des sion) verstand das MfS das vom „Feind” Senats von Berlin mit der Regierung der verfolgte Ziel, „eine Atmosphäre des kal- DDR erhielt. Zu den HV A-Agenten im ten Krieges zu schaffen, zwischen den so- Deutschen Bundestag zählte der FDP-Po- zialistischen Staaten zu differenzieren und litiker William Borm, der 1960 Berliner einen Keil zwischen die Sowjetunion und Landesvorsitzender und 1969 Altersprä- ihre Verbündeten zu treiben, Wider- sident des Bundestages wurde (Friedrich sprüche zwischen den sozialistischen W. Schlomann, Die Maulwürfe. Die Sta- Staaten zu erzeugen und sie gegeneinan- si-Helfer im Westen sind immer noch un- der auszuspielen, Gegensätze zwischen ter uns, Frankfurt/M 1994, S. 132, 113). den Parteiführungen und der Bevölke- Großmanns Vorgänger als Leiter der HV rung herauszubilden sowie feindlich-ne- A, Generaloberst Markus Wolf, veröf- gative Kräfte in den sozialistischen Staa- fentlichte in seinen Erinnerungen (Spio- ten zu staatsfeindlichen und anderen nagechef im geheimen Krieg, Düssel- kriminellen Handlungen zu aktivieren” dorf/München 1997) auf Seite 466 ein im (Müller-Enbergs – Anm. 3 –, S. 521). Jahre 1983 aufgenommenes Foto, das 11 Unter PUT (politischer Untergrundtätig- ihn an der Seite von William Borm keit) verstand das MfS jede Tätigkeit, „mit zeigt. deren Hilfe der Gegner eine breite inne- 18 BStU (Anm. 8), Bl. 144. re Opposition und einen politischen Un- 19 Ebd., Bl. 145. tergrund in den sozialistischen Ländern 20 Ebd., Bl. 146 f.. organisieren will” (Ebd., S. 521). 21 Ebd., Bl. 143, 146. 12 Unter Einschleusung verstand das MfS im 22 Ebd., Bl. 149 f., 153. Operationsgebiet das Eindringen eines IM 23 Ebd., Bl. 150, 149. in ein „feindliches Objekt”, was die not- 24 Ebd., Bl. 150. wendige berufliche Qualifikation, das Er- 25 Ebd., Bl. 151, 147. füllen der „Sicherheitsanforderungen”, 26 Ebd., Bl. 151 f.. die erwartete soziale und gesellschaftliche 27 Vermutlich am Max-Planck-Institut für Stellung sowie politische Einstellung er- Infektionsbiologie. In dem dem Verfasser forderte (Ebd., S. 43). vorliegenden Verzeichnis der von der 13 BStU (Anm. 8), Bl. 150, 158 f.. Abteilung XV geführten IM (Anm. 6), 14 Ebd., Bl. 146. die aus der Mitte der achtziger Jahre 15 AL (Alternative Liste für Demokratie und stammen dürfte, ist als Arbeitsstelle das Umweltschutz) nannte sich in den acht- Bundesgesundheitsamt angegeben. ziger Jahren der Berliner Landesverband 28 BStU (Anm. 8), Bl. 162. der GRÜNEN. 29 Ebd., Bl. 154, 156. 16 BStU (Anm. 8), Bl. 144 ff.. 30 Ebd., Bl. 153. 17 Diese Aussage galt nicht für die Haupt- 31 Ebd., Bl. 160 ff.. verwaltung Aufklärung, die seit 1963 der 32 Ebd., Bl. 156. SPD-Funktionär Bodo Thomas führte, der 33 Ebd., Bl. 155 ff.. von 1971 bis 1989 Mitglied des Abgeord- 34 Ebd., Bl. 161. netenhauses war. Ihm folgte als Abge- 35 Ebd., Bl. 162 ff.; vgl. Otto Wenzel, Kriegs- ordnete seine Ehefrau Helga, die ihn spä- bereit. Der Nationale Verteidigungsrat testens seit 1983 zu den „Treffs” begleitet der DDR 1960 bis 1989, Köln 1995, S. 12. Im Dialog

Zur Diskussion über den Kulturrelativismus von Werten – Eine Anregung von Werner Strombach

In einer interessanten Diskussion zwi- auch aus aktuellem Anlaß (man vgl. schen Karl Graf Ballestrem, Alois Glück den Beitrag von Reinhard C. Meier- und Wilhelm Vossenkuhl über „Eine Walser, Doppelte Staatsbürgerschaft – neue Bürgerkultur? Zustand und Zu- Ein Irrweg, a.a.O. S. 3 – 5) erscheint kunft des Gemeinsinns“ (Politische mir ein Gedankengang von Gerhard Studien Nr. 356, S. 26 – 41) wurde von Pfreundschuh beachtenswert: Die kul- Graf Ballestrem darauf hingewiesen, turelle Umweltzerstörung in Politik daß in den USA in die Debatte um den und Wirtschaft – Analyse und Gegen- Kommunitarismus vor allem von Alas- strategie; v. Hase & Koehler Verlag dair McIntyre die Frage nach dem Kul- Mainz, 2. Aufl. 1993, aus dem hier als turrelativismus aller Werte eingebracht kurzer Hinweis einige Passagen der worden sei: „Ist das Projekt der Auf- Einleitung referiert werden sollen: klärung, eine rationale Begründung einer allgemeingültigen Moral zu lei- Pfreundschuh, Jurist und Dr. rer. publ., sten, gescheitert? Er findet ja, und das Landrat in Baden, bestimmt als Kultur führe zu den großen Krisen pluralisti- die vom Menschen und seinem Geist scher Gesellschaften, die sich nicht geschaffene Umwelt, so z.B. auch die mehr einig sind über ihre Grundwer- geordnete Beziehung der Menschen te.“ Darüber hinaus spricht Ballestrem untereinander, dies im Gegensatz zur das Thema einer internationalen Ge- Ökologie, der Beziehung zur physi- rechtigkeit an, zu der u.a. die Fragen schen Umwelt (was vielleicht etwas zu nach Asylrecht, Migrationsfreiheit usw. eng gesehen ist. WS). Wenn Bäume gehören, und er zitiert Michael Walzer, sterben, ist die Ökologie in Gefahr, der meint, „daß das erste und größte kulturelle Umweltzerstörung bringt Gut, über das eine Gemeinschaft ver- zerfallene Städte und Slums, organi- fügt, die eigene Mitgliedschaft ist, also siertes Verbrechen und Mob, Alkohol das Recht einer Gemeinschaft, darüber und Drogen, Bindungslosigkeit und zu entscheiden, wer bei ihr Bürger wird Proletarisierung, Vereinzelung und Ver- und wer nicht, alles andere folgt dar- einsamung, neue Armut, Asylanten- aus.“ und Flüchtlingsströme. Ein Grundan- liegen des Buches: Die Gemeinschaft Als Ergänzung zu den in der Diskus- der Menschen, ihr Zusammenhalt, ih- sion vorgetragenen Argumenten und re gemeinsame Zielfindung sind nicht

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 124 Im Dialog nur bedroht, sondern weithin ausge- von einer politischen Relativitätstheo- hebelt. Die beiden herrschenden Ideo- rie sprechen, die nicht ausschließt, daß logien der letzten zweihundert Jahre, überholte und widerlegte Theorien, der Sozialismus und der Liberalismus Modelle und Hypothesen als falsch er- einschließlich ihrer Radikalformen kannt werden (Das ist die Falsifika- Kommunismus und Kapitalismus, ha- tionstheorie Karl Poppers! WS). ben die heute feststellbare kulturelle Umweltzerstörung ganz wesentlich zu Möglichst richtig, relativ wahr ist eine vertreten. Nur die Überwindung beider politische und kulturelle Ordnung Irrwege kann uns ans rettende Ufer dann, wenn sie die Aufgaben und Pro- bringen. Politik ist die geordnete bleme, die Nöte und Bedürfnisse ihrer Durchführung des zeitgemäßen, not- Zeit wenigstens aussichtsreich anpackt wendigen Wandels. Dabei gilt: Refor- und Schritt für Schritt Lösungen mation statt Revolution. Konserva- näherbringt (Bekanntes Motto: Einmal tivismus im Sinne von Festhalten an einen Fehler machen ist besser als gar überlebten Ideologien gibt es heute in nichts tun! WS). Zunehmende Um- allen politischen Parteien und Lagern. weltzerstörung – im kulturellen wie im Spätestens seit der Französischen Re- natürlichen Bereich – offenbart einen volution bestimmen die rechten und falschen Weg, ein fehlerhaftes Denken, linken Ideologien die Politik. Es läßt ein nicht naturgemäßes, ein nicht zeit- sich zeigen, daß wesentliche Voraus- und nicht kulturgerechtes System. setzungen ihrer Gedankengebäude, z.B. das Wissenschaftsverständnis des Dem politischen Zentralismus und der 19. Jahrhunderts, inzwischen weg- wirtschaftlichen Gigantomanie soll ein gefallen sind und daß damit ihre Mo- anderes Modell entgegengesetzt wer- delle von Recht und Gerechtigkeit, den, ein Modell der Selbstverwaltung von Ethik und Gewissen nicht mehr und der politischen Eigenverantwort- überzeugen. Ein Wertewandel ohne- lichkeit, der Organisation von unten gleichen hat ihre Glaubwürdigkeit er- nach oben, der Wahrung und Förde- schüttert. Das rüttelt auch an der dar- rung der historisch gewachsenen Na- auf aufgebauten Verfassung. tionen und Gemeinschaften, die die je- weilige Kultur tragen. Denn zu einer ‘Recht’ und ‘Gerechtigkeit’ an sich, Gemeinsamkeit findet die Gesellschaft ‘Freiheit’ und ‘Gleichheit’ an sich gibt nur dort, wo auch eine geistige Ge- es nicht. Diese wichtigen Fundamente meinschaft vorhanden ist. Und das einer menschlichen Gemeinschaft sind kann nur eine gemeinsame Kultur zeit- und raumabhängig. Sie sind die sein. Jede Kultur aber hat eine eigene Erzeugnisse der jeweiligen Kultur. Mit Rechts- und Sittenordnung mit Werten dem Wandel der Kultur wandeln auch und Ethik, mit Grundüberzeugungen sie sich, mit der Zerstörung der Kultur und historischen Erfahrungen. Daraus werden auch sie zerstört. Die Ge- werden die Grundentscheidungen ent- schichte geht weiter. Werte, Überzeu- wickelt und getroffen. Und es ist ein gungen, Ideologien, Glaubensbekennt- Grundirrtum der alten Ideologien, daß nisse, sind nicht absolut richtig und sie meinen, ihre Prinzipien seien die wahr, sie sind relativ, kulturbedingt einzig richtigen, die ewig gültigen, sei- richtig und wahr. Wir können auch en raum- und zeitunabhängig, seien Im Dialog 125 an keine Kultur und Geschichte ge- bestehe, so müsse in einem vereinigten bunden. Das war eine Kernaussage von Europa, das mehr sein will, und auch Rousseau und der europäischen Auf- aus seinen nationalen Interessen mehr klärung. Sie führt zu Missionsdenken sein muß als nur ein Handels- und und geistigem Imperialismus. Ihr lag Bündnissystem, jeder Bürger sich so- der Glaube zugrunde, daß es eine Welt- wohl mit seiner Nation als auch mit einheitsethik gäbe, die unabhängig Europa identifizieren können. Ein sol- von allen konfessionellen, traditionel- ches Europa aber könne nie ein ‘multi- len und nationalen Bindungen sei. kulturelles’ sein, jedenfalls nicht in Dieses Dogma ist falsch. dem Sinne, wie es von jenen gemeint sei, die mit diesem Schlagwort Politik Auch auf die Fragen der Gerechtigkeit, zu machen versuchen. WS) der gesellschaftlichen, staatlichen und der wirtschaftlichen Ordnung gibt es Hierzu nun ein abschließendes Zitat nicht nur eine, sondern mehrere Ant- Pfreundschuhs: „Derzeit spitzt sich die worten. Wer hier auf andere Kulturen Frage zu, ob Deutschland durch eine und Nationen wahllos und selbstherr- bisher nicht gekannte Einwanderung lich von außen einwirkt, der schafft oft aus anderen Kulturkreisen zu einer nur Chaos. Die deutsche Nation war multikulturellen Gesellschaft werden zweimal in der Geschichte der Neuzeit soll. Sollte dies geschehen, dann wür- Schlachtfeld großer geistiger Auseinan- den wiederum die geistigen Fronten dersetzungen. Der erste Konflikt war mitten durch unser Land verlaufen. der von Reformation und Gegenrefor- Dann würde wiederum eine große Aus- mation als Auslöser des 30-jährigen einandersetzung unsere Entwicklung Krieges, der zweite der Ost-West-Ge- bestimmen und den inneren Frieden gensatz, der Deutschland 40 Jahre ge- auf lange Zeit unmöglich machen. teilt hat. (Die Überwindung beider Konflikte hat viel Zeit und viele Opfer Denn so sehr eine äußere Friedensord- gefordert und wäre wohl nicht gelun- nung den verschiedenen Kulturen und gen, wenn es nicht noch ein Verbin- ihren Wertordnungen in gesicherten dendes gegeben hätte, das nationale Grenzen eine Lebens- und Entfaltungs- Bewußtsein. Vgl. dazu Kurt Hübner: chance gewähren soll, so unmöglich Das Nationale – Verdrängtes Unver- ist dies innerhalb eines Landes, also meidliches Erstrebenswertes, Verlag innerhalb der Grenzen einer Gemein- Styria Graz Wien Köln 1991: Auch das schaft. Die Gründe sind klar und ein- vereinte Europa könne eine Nation sichtig. Wertsysteme, die sich gegen- sein, meint Hübner, wenn es durch seitig ausschließen, können eben keine eine gemeinsame Kulturidee die es Grundlage einer Gemeinschaft sein. konstituierenden Einzelnationen in Ich kann nicht gleichzeitig Reformator der Art von Subsystemen überlagere, und Jesuit, nicht gleichzeitig Kapitalist ohne diese „Elemente“ auszulöschen. und Kommunist sein, nicht gleichzei- Wie in einem Vielvölkerstaat die Kom- tig die europäische Werteordnung und ponente des Allgemeinen in der Dop- jene des Islam vertreten. Selbst eine so pelnatur jedes einzelnen seiner Bürger, alltägliche Frage wie die, ob die Frau einmal in dessen engerer Nationalzu- gegenüber dem Mann gleichberechtigt gehörigkeit, einmal in seiner weiteren ist oder sich diesem unterzuordnen 126 Im Dialog hat, führt zu vielfältigen, weitreichen- Wo sie herrscht, kommt es zu gegen- den Auswirkungen im Rechtsleben, der seitiger Lähmung, zu Zielkonflikten Wirtschaft, dem gesellschaftlichen und über den gemeinsamen Weg in die Zu- familiären Zusammenleben. Das ist kunft.“(8) – Ein bemerkenswertes Buch nur ein Beispiel. Eine Mehrfach-Kultur zum Nachdenken. innerhalb einer Gesellschaft und staat- lichen Gemeinschaft ist unmöglich. Prof. Dr. Werner Strombach Der Standort der Union – Neue Literatur zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft von CSU und CDU

Gerhard Hirscher

Thomas Schlemmer, Aufbruch, Krise stalten können. Der fulminante Sieg und Erneuerung. Die Christlich- der CSU bei den Landtagswahlen und Soziale Union 1945 – 1955. Olden- der Verlust der Regierungsmacht als bourg-Verlag: München, 1998, 554 Folge der Bundestagswahlen haben Seiten, DM 128,–. auch das Verhältnis von CDU und CSU in einen anderen Kontext ge- Alf Mintzel, Die CSU-Hegemonie in rückt. Haben sich die Gewichte inner- Bayern. Strategie und Erfolg, Ge- halb der Union für’s erste zugunsten winner und Verlierer. Wissenschafts- der CSU verschoben? Muß die CSU verlag Richard Rothe: Passau 1998, nun die Speerspitze der Opposition 314 Seiten, DM 59,80. stellen? Bedeutet das Ende der Ära Kohl für die CDU nur eine kurze Über- Horst Poller, Rechts oder Links? gangsperiode der Neuorientierung Niedergang und Erneuerung der oder den Anfang eines langen Weges CDU. Olzog-Verlag: München, 150 der Rückkehr zur Macht über Länder Seiten, 1998, DM 16,80. und Kommunen? Diese und andere Fragen, die zur Zeit in der Öffentlich- Tobias Dürr/Rüdiger Soldt (Hrsg.), keit diskutiert werden, finden ihren Die CDU nach Kohl. Fischer-Ta- Niederschlag bereits zum Teil in einer schenbuch-Verlag: Frankfurt/Main, Reihe von Publikationen aus der Feder 1998, 224 Seiten, DM 18,90. von Wissenschaftlern und politischen Publizisten. Einige dieser Texte sollen im folgenden kurz vorgestellt werden, Nach der bayerischen Landtagswahl um zu verdeutlichen, in welche Rich- vom 13. September 1998 und der Bun- tung die Debatte läuft. destagswahl vom 27. September 1998 hat ein Prozeß des Nachdenkens dar- Daß sich die Entwicklung von CSU über eingesetzt, wie und in welcher und CDU unterscheidet, ist kein neues Konstellation die Unionsparteien künf- Phänomen. Ein neues Buch eines jun- tig die Politik in Deutschland mitge- gen Historikers beleuchtet die ersten

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 128 Gerhard Hirscher

Jahre der CSU und macht darin deut- nun der zweite Mitarbeiter an diesem lich, welch mühsamer Weg der CSU Projekt, Thomas Schlemmer, seine ge- bis zum Aufstieg als unangefochtene druckte Dissertation vor, die sich eben- Regierungspartei in Bayern beschieden falls mit den ersten Jahren der CSU be- war. Dies kann gerade in der heutigen faßt, aber zeitlich deutlich über die Zeit, in der Volksparteien als Selbstver- Edition und das Buch von Barbara Fait ständlichkeit oder sogar als mehr oder hinausgeht. Der Schwerpunkt der Stu- minder notwendiges Übel gesehen die liegt dabei auf der „innere(n) Ent- werden, nicht oft genug nachgezeich- wicklung der CSU unter dem Landes- net und betont werden. Wann immer vorsitz von Josef Müller und Hans als Zukunftsszenario ein Zerfall der Ehard“ (S. 4). Neben der Untersuchung Volksparteien prognostiziert wird, soll- der Programmatik, der Geschichte, der te nicht vergessen werden, daß ein sol- Parteiorganisation und des Apparates cher Zerfall (wenn er denn eintrete) stehen die Analysen der Wahlergebnis- sehr langsam vonstatten geht – der se sowie des Führungspersonals der Neuaufbau einer Volkspartei aber min- CSU in diesen Jahren im Vordergrund. destens ebenso langsam. Wie wird nun Insofern kann man die Studie als einen in diesem Werk die Frühgeschichte der Versuch einer immanenten Darstel- CSU beschrieben und welche Lehren lung der Entwicklung der CSU in ihren können daraus gezogen werden? ersten Jahren sehen, die für sie sowohl Jahre des Erfolgs als auch „Krisenjahre“ Seit einigen Jahren liefert das Münch- waren. ner Institut für Zeitgeschichte immer wieder Beiträge zur wissenschaftlichen Nach der Einleitung behandelt das Aufarbeitung der Geschichte der CSU. zweite Kapitel auf über 100 Seiten die Eines der wichtigsten Vorhaben in Gründungs- und Entwicklungsphase diesem Bereich war sicherlich die Edi- der CSU 1945 und 1946. Darin werden tion der Vorstandsprotokolle und an- zwar keine grundlegend neuen Er- derer Quellen zur Frühgeschichte der kenntnisse über die Gründung der CSU (Die CSU 1945 – 1948. Protokol- CSU vermittelt, der Autor versteht es le und Materialien zur Frühgeschichte aber, in diesem Kapitel wie in der ge- der Christlich-Sozialen Union, hrsg. samten Darstellung wichtige Detailas- von Barbara Fait und Alf Mintzel unter pekte ausführlich und verständlich Mitarbeit von Thomas Schlemmer, darzustellen. Dies geschieht haupt- München 1993). Alf Mintzel, Professor sächlich dadurch, daß hier wie an an- für Soziologie in Passau und Autor deren Stellen des Buches in voller Aus- zahlreicher Publikationen über die führlichkeit Archivmaterialien (nicht CSU, hat diese Edition mitangestoßen nur aus dem Institut für Zeitgeschich- und war auch an dieser beteiligt. Nach- te, sondern vor allem aus dem Archiv dem eine der Mitarbeiterinnen, Barba- für Christlich-Soziale Politik der Hanns- ra Fait, schon vor längerer Zeit ein Seidel-Stiftung), die bisher nicht oder Buch über die CSU quasi als direktes unter diesen Gesichtspunkten nur Folgeprodukt dieser Edition vorgelegt am Rande von der historiographi- hatte (Barbara Fait, Die Anfänge der schen und politikwissenschaftlichen CSU 1945 – 1948. Der holprige Weg Forschung beachtet worden waren, zur Erfolgspartei, München 1995), legt ausgewertet und in die Analyse mit Der Standort der Union 129 einbezogen werden. Schlemmer ver- der Ablösung Müllers durch Hans deutlicht erneut die Bedeutung regio- Ehard im Amt des Parteivorsitzenden naler Zentren für die Gründung der verschwand dieser Gegensatz nie ganz. CSU sowie neben der bayerischen Fra- Schon die CSU-Fraktion in der ver- ge und dem christlichen Sammlungs- fassunggebenden Landesversammlung gedanken die prägende Kraft der tota- konnte der Parteivorsitzende Müller litären Erfahrung großer Teile der nicht hinter sich bringen. Die bekann- neuen CSU-Eliten sowie (nicht zuletzt ten inhaltlichen Spannungen inner- daraus resultierend) der Furcht vor halb der CSU-Fraktion (wie z.B. in der neuem Sozialismus und Kommunis- Frage eines eigenen bayerischen Staats- mus als gemeinsamen Nenner der präsidenten) verschärften diese Diver- Führungsschicht der entstehenden genzen noch weiter. Interessant ist das CSU. Als wichtiger Beitrag zur For- Ergebnis, das Schlemmer bei der Ana- schung kann mit Sicherheit (in diesem lyse der Berufsgruppenschichtung von Kapitel wie in anderen Teilen des Bu- Landtagsfraktion und Landesvorstand ches) der Versuch der soziologischen im Dezember 1946 präsentierte. Bei al- Beschreibung des Führungspersonals len Unterschieden zwischen dem von der CSU in diesen Jahren gelten. So Josef Müller dominierten Landesvor- wird die Schicht der führenden Funk- stand und der Landtagsfraktion ist in tionäre der CSU unter verschiedenen beiden Gremien die Dominanz der im Kriterien wie Parteizugehörigkeit vor Öffentlichen Dienst Beschäftigten so- 1933, Konfessionszugehörigkeit, Al- wie der Berufspolitiker auffällig – of- tersstruktur, Berufsgruppenschichtung fensichtlich also kein neues Phänomen und parteipolitische Aktivitäten aufge- (S. 162). Desweiteren zeichnet der Au- schlüsselt (S. 41ff.). Dieses Vorgehen tor überzeugend nach, wie Josef Mül- bietet die Möglichkeit, einige der in- ler, der im Landesvorstand noch einen nerparteilichen Konfliktsituationen, nicht unerheblichen Einfluß hatte be- die ja aus der Forschung hinlänglich halten können, samt der ihm nahe- bekannt sind, neu und besser bewerten stehenden Personen bei der Regie- zu können. Aber auch die beteiligten rungsbildung in Bayern ausgeschaltet Personen wie z.B. Josef Müller, Fritz wurde. Ministerpräsident wurde be- Schäffer, Alois Hundhammer und kanntlich im Dezember 1946 Hans Michael Horlacher werden in der Dar- Ehard, der schließlich Josef Müller stellung der innerparteilichen Debat- auch als Parteivorsitzenden beerben ten um die politische und strategische sollte. Orientierung der CSU ausführlich ge- würdigt. Auf der Basis solider Auswertung brei- ter Archivmaterialien zeichnet Schlem- Das dritte Kapitel behandelt den Dua- mer eindrucksvoll nach, wie nahe die lismus zwischen Partei und Fraktion CSU im Sommer 1947 sogar an einer 1946 – 1948. In diesen Jahren eskalier- Spaltung war. Auch nach dem Aus- te der Konflikt zwischen der mächti- scheiden der SPD aus dieser Koali- gen Fraktion im bayerischen Landtag tionsregierung am 14. September 1947 und dem immer weiter in die inner- änderte sich an der innerparteilichen parteiliche Isolation geratenden Partei- Spannungssituation nicht viel. Inso- vorsitzenden Josef Müller. Auch nach fern war es nur eine Frage der Zeit, bis 130 Gerhard Hirscher

Josef Müller als Parteivorsitzender ge- Bayernpartei und die ungelöste Frage stürzt werden würde. Der Sturz selbst nach der Führungskraft im bürgerlich- und die Ereignisse, die dazu führten, konservativen Lager). Es verschärften werden im vierten Kapitel ebenfalls sich darüber hinaus auch die Konflikte sehr ausführlich behandelt. Die Inten- zwischen der CSU-Landesgruppe im sität dieser innerparteilichen Führungs- Deutschen Bundestag und der baye- kämpfe vor dem Hintergrund der rischen CSU. Schlemmer kommt zu Wahlniederlagen durch den Erfolg der dem zusammenfassenden Ergebnis, neu aufgetretenen Bayernpartei macht daß es bis 1954 „nicht zu einer effek- deutlich, wie dramatisch die Lage in tiven Koordinierung von Bundes- und dieser Zeit wirklich war. Hinzu kam der Landespolitik“ gekommen sei (S. 396). Zusammenbruch des Parteiapparats Auch mit der Neuorganisation der Par- nach der Währungsreform: Der Autor tei ging es offenbar in der Ära Ehard, zeichnet im Detail nach, wie desolat es der sich stets mehr als Ministerpräsi- nicht nur um die Organisation der Par- dent denn als Parteivorsitzender sah, tei in der Fläche, sondern auch um die nicht recht voran. Der Autor konsta- Landesleitung in München stand. An- tiert sogar einen weiteren „schleichen- gesichts des organisatorischen und den Verfall der Parteiorganisation“ finanziellen Chaos ist es mehr als er- (S. 431). Im Detail wird dargelegt, wie staunlich, daß sich doch noch so viele nach wie vor die desolaten Parteifi- engagierte Politiker und Mitarbeiter nanzen sowie die rückläufigen Mitglie- fanden, die diese Schwächen mit viel derzahlen den Aufstieg der CSU behin- Einsatz und Idealismus wettmachen derten, auch wenn die Arbeit gerade konnten. Auch der junge Franz Josef von Franz Josef Strauß und Fritz Zim- Strauß brauchte einige Monate, um mermann im organisatorischen Be- das Amt des Generalsekretärs wirklich reich erste Früchte zeigte. Schon kurz antreten zu können (S. 263). vor dem Amtsantritt Hanns Seidels als Parteivorsitzender im Januar 1955 Ausführlich und ebenfalls auf der Ba- hatte ein „beschleunigter innerpartei- sis intensiver Quellenauswertung be- licher Elitenwechsel“ (S. 483) einge- schreibt Schlemmer schließlich den setzt, der dann spätestens nach dem Sturz Müllers als Parteivorsitzender Ende der „Viererkoalition“ 1957 den und seine Ablösung durch Hans Ehard. Aufstieg der CSU zur dominierenden Dessen Amtszeit behandelt das fünfte politischen Kraft in Bayern einläutete. Kapitel mit dem Titel „Befriedung und Stagnation“. Bald wurde jedoch deut- Der Band wird beschlossen mit einem lich, daß allein durch das Auswechseln Anhang, in dem sich zunächst eine des Parteivorsitzenden noch keines- ausführliche Zusammenstellung der wegs die strukturellen Probleme gelöst Führungselite der CSU dieser Jahre fin- waren, die die Partei plagten. So war es det. Es folgt ein Kapitel zum For- denn auch kaum überraschend, daß schungsstand und der Quellenlage zur auch das Ergebnis der Bundestagswahl Geschichte und Struktur der CSU so- am 14. August 1949 zu einem „De- wie ein ausführliches Quellen- und saster“ (S. 355) wurde. Die alten Kon- Literaturverzeichnis, ein Abbildungs- fliktlinien in Bayern blieben bestehen verzeichnis sowie ein Personen- und (vor allem die Konkurrenz durch die Ortsregister. Der Standort der Union 131

Schlemmers Buch hinterläßt insgesamt der CSU in das politische Geschehen durchaus einen positiven Eindruck. dieser ereignisreichen Nachkriegsjahre Waren die wichtigen Entwicklungs- sowohl in Bayern wie auch in den Län- linien der frühen Geschichte der CSU dern anderer Besatzungszonen sowie schon bekannt (vor allem auch durch der überzonalen politischen Entwick- in den letzten Jahren erschienene poli- lungen vernachlässigt. So überzeugend tische Biographien führender Politiker diese Vorgehensweise die innere Ent- dieser Zeit), so gelingt es Schlemmer wicklung der Partei nachzeichnet, so doch, die politische Geschichte der sehr bleiben insbesondere beim Nicht- CSU quasi aus der Binnenperspektive Fachhistoriker als Leser Fragen, wie heraus auf der Basis der Auswertung sich diese Befunde denn in das Ge- breitester Quellenbestände nachzu- samtbild der politischen Nachkriegs- zeichnen. Dies hat zur Folge, daß eini- geschichte Deutschlands einbauen las- ge der wesentlichen Entwicklungen sen. Eigentlich wird nicht so recht klar, durch die sehr detailgetreue Beschrei- wieso eine solche Partei mit all den be- bung umfassend gewürdigt werden. So schriebenen Binnenproblemen und kommen in der Tat einige interessan- strukturellen Schwächen in diesen Jah- te neue Perspektiven zustande. Dies ren dennoch so ein Erfolgsmodell wer- gilt allerdings mit der Einschränkung, den konnte. Das Buch Schlemmers ist daß die ersten Jahre um einiges aus- daher eher ein Beitrag struktureller führlicher behandelt werden als der Analyse der ersten Jahre des deutschen Zeitraum ab 1949 und vor allem nach Parteiensystems als eine politische Ge- 1951. Manche Binnenentwicklung, die schichte der CSU dieser Jahre. Eine für die ersten Jahre äußerst detailliert Darstellung, die auf der Basis detail- behandelt wurde, gerät gerade im fünf- lierter Quellen- und Literaturauswer- ten Kapitel über die Ära Ehard gele- tung für den heutigen Leser überzeu- gentlich etwas summarisch. Dies soll gend beschreibt, wann und warum aber keineswegs die Leistung des Au- eine Partei wie die CSU mit welchem tors schmälern, der mit diesem Buch Angebot auf den politischen Markt gewiß einen bedeutenden Beitrag zur kam und darin reüssierte, bleibt ein Erforschung der frühen Geschichte der Desiderat. Nichts anderes also, als eine CSU geleistet hat. moderne politikwissenschaftliche und zeithistorische Analyse auch für die Dennoch bleibt die Frage der Perspek- Parteien unserer Tage liefern müßte. tive: Eine derartige mikroperspek- tivisch-deskriptive Analyse der CSU- Die CSU der Gegenwart zu analysieren Geschichte aus den vorhandenen verspricht ein neues Buch von Alf Quellen heraus, die sich derart auf die Mintzel, dem „Ahnen” der politikwis- Binnenentwicklung der Partei kon- senschaftlichen Erforschung der CSU. zentriert, muß natürlich zwangsläufig Unmittelbar nach der Bundestagswahl andere Bezugsrahmen etwas vernach- erschien er mit einem neuen Werk auf lässigen. So kommen etwa die Interak- dem Markt, das verspricht, die Ursa- tionen der CSU mit anderen Parteien chen der CSU-Hegemonie in Bayern (mit Ausnahme gelegentlich der Bay- aufzudecken sowie über deren künfti- ernpartei) fast nicht vor. Generell wird gen Bestand nachzudenken. Mintzel durch diese Perspektive die Einbettung stellt klar, daß er unter CSU-Hegemo- 132 Gerhard Hirscher nie versteht „eine durch demokrati- stimmter Politikfelder der letzten 30 sche Wahlen legitimierte Dominanz, Jahre zu verdeutlichen, was natur- die sich während der letzten 33 Jahre gemäß etwas knapp und mit Sicherheit der Alleinregierung zu einer politisch- nicht vollständig ausfallen muß. An- kulturellen Hegemonie verfestigt hat.“ gesichts des Titels des Buches ist doch (S. 12) Er betont, daß die Wahlen vom etwas überraschend, daß sich die fol- September 1998 zu einer Zäsur auch in genden Teile sehr ausführlich mit den der Geschichte der CSU geführt haben. Konkurrenzparteien der CSU in Bayern Angesichts des Endes der Ära Kohl bei beschäftigen. So befaßt sich Teil B auf den Bundestagswahlen und des trium- fast 100 Seiten mit den Schwächen phalen Ergebnisses der CSU bei den und der Stagnation der SPD in Bayern, Landtagswahlen vom 13. September was Mintzel ebenfalls in anderen Pu- kommt Mintzel zu dem Schluß, daß blikationen bereits im wesentlichen die bayerisch-konservative „Korrektur- genauso herausgearbeitet hatte. Teil C funktion“ in Bonn und später in Berlin widmet sich auf immerhin noch 40 vor allem an den bayerischen Mini- Seiten der FDP in Bayern und ihrem sterpräsidenten und neuen CSU-Vor- „Abstieg in die Bedeutungslosigkeit“. sitzenden Edmund Stoiber falle. „Dies Der letzte Teil D behandelt dann auf bedeutet nach der Bonner Wende ei- allerdings wiederum nur 30 Seiten die nen doppelten Machtzuwachs bei der Frage, ob ein Ende der CSU-Hegemo- Person des bayerischen Ministerpräsi- nie in Sicht sei. Mintzel kommt dabei denten, durch den Landesvorsitz und zu dem Schluß, daß auch nach der durch seine Rolle als indirekter ‘Steuer- rot-grünen Regierungsübernahme auf mann’ der CSU-Landesgruppe.“ (S. 15) Bundesebene ein Ende der CSU-Hege- Im folgenden bietet der Band aller- monie in Bayern in absehbarer Zeit dings weitgehend bekannte Ergebnisse nicht zu erwarten sei. Die Hegemonial- der Forschungen des CSU-Kenners Alf Partei CSU, so Mintzel, könne sich nur Mintzel. Der Teil A mit dem Titel „Bay- selbst gefährden. „Der CSU droht die ern und die CSU – Aufstieg zur Hege- Hauptgefahr paradoxerweise von ihren monialpartei“ faßt im wesentlichen eigenen Erfolgen, die sie empfänglich frühere Arbeiten Mintzels zusammen. für Gefälligkeiten und unempfänglich Dort werden zunächst die regionalen für Veränderungen im öffentlichen Be- politischen Traditionen und ihre Zu- wußtsein gemacht haben.“ (S. 259) Die sammenhänge mit der CSU-Hegemo- Stärke der CSU in Bayern sei auch die nie in Bayern untersucht. Es folgt ein Schwäche der anderen Parteien in die- kurzer Abschnitt über Symbolwelten sem Lande, was zur Aufrechterhaltung und Sinnwelten der politisch kulturel- der Asymmetrie der politischen Stärke- len Hegemonie, wobei am Ende des verhältnisse in Bayern noch beiträgt. 20. Jahrhunderts die Frage gestattet Nach 1990 habe die CSU ihre institu- sein muß, ob der Autor nicht Phä- tionelle Doppelrolle erfolgreich auf- nomenen wie der Marienverehrung rechterhalten können, was ihr auch und dem Marienkult in diesem Zu- nach der Bundestagswahl vom Sep- sammenhang etwas zu viel Bedeutung tember 1998 gelingen werde. Die CSU beimißt. Schließlich wird in diesem er- müsse die Speerspitze der Opposi- sten Kapitel versucht, die institutionel- tion sein, von einer Neuauflage einer le Doppelrolle der CSU anhand be- „Sonthofener Konfrontationsstrategie“ Der Standort der Union 133

(S. 267) rät Mintzel jedoch ab. Der schichte der CSU nach dem Tod von „High-Tech-Modernisierungsschub un- Franz Josef Strauß bei weitem nicht ter Edmund Stoiber“ (S. 267) habe er- mit derselben historischen und poli- heblich zum Triumph der bayerischen tikwissenschaftlichen Intensität unter- Landtagswahl 1998 beigetragen und sucht wurde wie die Jahre zuvor. Auch werde auch künftig ein wesentlicher dieses neue Buch von Alf Mintzel kann Faktor für die Erfolge der CSU in Bay- diese Lücke nicht wirklich füllen. ern sein. Insbesondere unter den Vor- Nicht nur für die Parteipolitiker selbst, zeichen eines von linken Regierungen sondern auch für die Wissenschaftler geführten Europas werde das „Projekt wird es höchst interessant sein zu se- Bayern“ ein interessantes Beispiel für hen, wie es einer „Hegemonialpartei“ ein technologisches Modernisierungs- wie der CSU in Zukunft gelingen wird, konzept unter konservativen Vorzei- angesichts immer rasanterer Verän- chen bleiben (S. 283). Den Band be- derungen in der Gesellschaft, im Me- schließt ein Literaturverzeichnis sowie dienbereich, in den ökonomischen verschiedene Register, u.a. auch ein sowie den kulturellen Rahmenbedin- knappes Personenregister. gungen bayerischer und deutscher Po- litik ihre einzigartige Politik aufrecht Angesichts der Tatsache, daß sich zu erhalten. Auch die Konflikte, die die Mintzel bei diesem Buch weitgehend institutionelle Doppelrolle der CSU auf bereits bekannte und publizierte mit sich bringt, werden in Zukunft an- Forschungsergebnisse stützt, ist es we- gesichts der intensivierten europäi- niger für Politikwissenschaftler denn schen Einigung möglicherweise sich für ein breiteres Publikum oder Vertre- noch einmal anders gestalten als bis ter anderer wissenschaftlicher Rich- Mitte oder Ende der 80er Jahre. Dies tungen interessant. Einerseits hat der hat sich zum Teil schon in den letzten Autor recht, wenn er unter dem Signet Legislaturperioden angedeutet, ist aber der „CSU-Hegemonie“ auch ausführ- gerade von der politikwissenschaftli- lich auf die strukturellen Schwächen chen Forschung noch nicht im Detail der Oppositionsparteien in Bayern ein- aufgearbeitet worden. Schließlich ist geht. Andererseits ist insofern der Titel auch der Begriff der Hegemonie ambi- des Buches natürlich etwas irre- valent: Dies ist dem Autor bewußt und führend, wenn sich nur etwa die Hälf- deswegen definiert er ihn auch in einer te des Buches mit der CSU selber be- sinnvollen Art und Weise. Allerdings schäftigt und insbesondere die jüngere besteht schon die Gefahr, daß durch und jüngste Phase ihrer Parteige- unkritische Übernahme dieses Begriffs, schichte sowie die prognostischen Ele- z.B. von Journalisten, ein Bild der Sta- mente sehr knapp ausfallen. Dennoch tik und Immobilität suggeriert wird, ist es ein interessantes Buch für alle, das der Realität nicht gerecht wird. Die die sich über den Tag hinaus mit den CSU selbst wäre schlecht beraten, langfristigen strukturellen Rahmenbe- wenn sie sich darauf verließe, zu glau- dingungen bayerischer Politik und der ben, daß sie hegemonial herrsche und speziellen Sonderrolle der CSU im bestenfalls durch extreme Fehler ihrer- deutschen Parteiensystem beschäftigen seits diese Herrschaft gefährden könne. wollen. Allerdings ist auch offensicht- Die enormen politischen, sozialen und lich, daß insbesondere die jüngere Ge- ökonomischen Veränderungen in Bay- 134 Gerhard Hirscher ern wie in Deutschland machen es ten- liche Zusammenfassung zahlreicher denziell schwieriger, aber – und da hat Entwicklungstendenzen der CDU in Mintzel absolut recht – mit Sicherheit den letzten Jahren und Jahrzehnten. nicht unmöglich, stets auf’s Neue die- Man merkt dem Autor durchaus seine se „Hegemonialstellung“ zu untermau- Verärgerung über einige der von ihm ern. Dies ist aber von Wahl zu Wahl in beschriebenen Entwickungen an, was diesen Zeiten wohl eher das Ergebnis einer rein wissenschaftlichen objekti- rationaler Sachpolitik denn der Aus- ven Analyse gelegentlich im Wege ste- fluß quasi gottgegebener struktureller hen mag. Andererseits liefert er so eine Mehrheitsverhältnisse. Insofern sind sachkundige und vor allem durchaus die Rahmenbedingungen für die CSU verständliche Reaktion eines durch heute und in den nächsten Jahren in verschiedene interne Entwicklungen in der Tat nicht mehr dieselben, wie sie der Partei seit längerer Zeit der CDU Mintzel für die 70er und teilweise auch immer mehr entfremdeten Mitglieds noch die 80er Jahre so treffend analy- bürgerlich-mittelständisch-unterneh- siert hat. Dies wird in Mintzels Buch merischer Provenienz. Insofern wäre auch deutlich, sollte aber durch künf- es zu tief gegriffen, Pollers Buch als tige Forschungen noch klarer umrissen Einzelmeinung eines verärgerten Mit- und vertiefter analysiert werden. Alles glieds abzutun, das noch dazu über in allem ist Mintzels Buch ein interes- kein Mandat in seiner Partei verfüge. santes Werk, das eine gelungene Sy- In diesem Buch bricht sich der Unmut nopse seiner Forschungen über die über diverse Entwicklungen Bahn, der CSU in den letzten Jahrzehnten bietet. sich in weiten Kreisen der Union seit Wenn sich der Verlag noch ein paar längerem aufgestaut hatte. So rät Poller Wochen mehr Zeit gelassen hätte, der CDU, als Reaktion auf das Wahler- dann hätten vielleicht auch einige gebnis, durch das die CDU, gemessen Schaubilder besser reproduziert und an Wählerstimmen, um 50 Jahre manche Druckfehler ausgemerzt wer- zurückgeworfen worden sei (S. 20), die den können. Mitte neu zu gewinnen. Das gehe aber nur mit einem überzeugenden Zu- Mit dem Partner der CSU im Unions- kunftsprojekt, das auf dem konservati- lager befassen sich zwei weitere Bü- ven Grundwert der Freiheit aufbaue. cher, die hier ebenfalls einbezogen „Aber es ging der CDU in den letzten werden sollen. Horst Poller, Verleger Jahren wohl nicht mehr sehr um und Publizist, sieht sich nicht zuletzt konservative Überzeugungen, sondern durch seine 40jährige CDU-Mitglied- mehr um den bloßen Machterhalt mit schaft quasi als teilnehmender Beob- taktischen Mitteln“ (S. 34). Die CDU achter angesichts der Entwicklung der müsse zu einem überzeugenden, frei- CDU vor allem im Wahljahr 1998 auf- heitlichen Gesellschaftsentwurf zu- gerufen, eine zusammenfassende Be- rückfinden und sich vor allem auf die wertung der Entwicklung seiner Partei Soziale Marktwirtschaft neu besinnen. zu geben. Dabei stützt er sich auf vor- Die CDU, so Poller, müsse sich ent- handene wissenschaftliche Literatur, scheiden, ob sie konsequenter als wertet Berichte, vor allem der Printme- bisher wieder dem Leitbild Ludwig dien, aus und liefert so im Ergebnis Erhards zu Freiheit und Selbstverant- eine gut lesbare populärwissenschaft- wortung folgen wolle. Während ihrer Der Standort der Union 135

Regierungszeit habe sie die Chance, hen, inwieweit diese Forderung nach große Reformen zu konzipieren und Ausweitung innerparteilicher Mitbe- durchzusetzen, im Grunde ungenutzt stimmung durch die Basis und damit verstreichen lassen. Der Autor macht einer Entmachtung der Delegierten- auch keinen Hehl daraus, daß er den strukturen in Zukunft von Wissen- langjährigen Vorsitzenden und Bun- schaft und Publizistik wieder aufgegrif- deskanzler Helmut Kohl für verant- fen wird, nachdem die Debatten um wortlich für verschiedene dieser nega- innerparteiliche Urwahlen und Plebis- tiven Entwicklungen hält. Bei allen zite in den letzten Jahren doch sehr historischen Verdiensten um die Errei- stark zurückgegangen sind. Möglicher- chung der deutschen Einheit habe er, weise liegt darin ein überlegenswerter so Poller, bedauernswerterweise eine Ansatz, um der von anderen Autoren negative innenpolitische Bilanz hin- immer wieder beschriebenen Tendenz terlassen. Unter dem Vorsitz Helmut zur „Bonapartisierung” der deutschen Kohls vollzog sich in der CDU eine So- Parteien (d.h. der Herrschaft von oben zialdemokratisierung, die, so der Autor, unter Umgehung „gewachsener“ Partei- die Unterschiede zur SPD zunehmend strukturen sowie teilweise auch der Ba- einebnete und auf Grund dieser Links- sis mittels der Medien) zu entgehen verschiebung dem Wähler keine klare und dieser entgegenwirken zu können. Alternative mehr bot. Die CDU sei zu einem Kanzlerwahlverein degeneriert. Auch das letzte Buch befaßt sich mit Die späte erneute Entscheidung von der CDU nach Kohl: Ein insgesamt ge- Helmut Kohl, nochmals als Bundes- lungener und sehr aktueller Sammel- kanzler zu kandidieren und die fehlen- band (er erschien unmittelbar nach der de innerparteiliche Debatte über die letzten Bundestagswahl) ist das von Spitzenkandidatur sieht er dabei als be- Tobias Dürr und Rüdiger Soldt heraus- sonders problematisch an. Um von gegebene Taschenbuch, das mit einer diesem Zustand wieder wegzukom- ganzen Reihe meist jüngerer Autoren men, empfiehlt Poller der CDU, sich einen durchaus lesenswerten Überblick zu öffnen – für die Mitglieder und für über Zustand und mögliche Entwick- die Bürger. Die CDU müsse wieder dis- lungsperspektiven der CDU liefert. In- kutieren lernen und die Meinungsbil- teressant ist dabei, daß die meisten Ar- dung von der Basis her betreiben und tikel nicht aus einer CDU-Perspektive, sie müsse vor allem das bestehende sondern eher aus einer gewissen kriti- Defizit an innerparteilicher Demokra- schen Distanz heraus verfaßt wurden. tie überwinden. Die Basis müsse mehr Alle Artikel sind jedoch fair und zu- Gewicht bekommen. Poller fordert meist voller Sachkenntnis geschrieben auch, das Delegiertensystem durch und bemühen sich um ein großes Maß eine Entscheidungsstruktur zu erset- an Objektivität. Die Zusammenstel- zen, die die Mitglieder stärker einbe- lung der Autoren bringt daneben eine zieht. Neben vielen bekannten Krisen- Mischung aus wissenschaftlicher und symptomen, die der Autor beschreibt, journalistischer Perspektive mit sich, ist die letzte Forderung vielleicht die was in der Summe zur Lesbarkeit des interessanteste im Hinblick auf mögli- Bandes sehr beiträgt. Auch wenn so che Umstrukturierungen innerhalb der keine wissenschaftlich abschließende Union. Es wird interessant sein zu se- Gesamtdarstellung der Situation der 136 Gerhard Hirscher

CDU nach den Bundestagswahlen her- absehbare Zeit an die SPD als Koali- auskommen konnte, ist das Vorhaben tionspartner gebunden sein werden. der Herausgeber sehr lobenswert. „Von Franz Walter und Frank Bösch geben der üblicherweise naserümpfend ge- in ihrem Aufsatz „Das Ende des christ- wahrten Distanz zwischen Politikwis- demokratischen Zeitalters?“ einen ge- senschaft und politischer Publizistik, lungenen Überblick über die wesent- zwischen Akademie und Journalismus lichen Faktoren, die dazu geführt halten wir nicht viel“ (S. 9). Da solch haben, daß die Union über so viele ein Anspruch in Deutschland nach wie Jahre in der deutschen Nachkriegsge- vor eher selten ist, finden sich auch re- schichte bestimmende politische Kraft lativ wenige Publikationen solcher Art sein konnte. Sie sehen dabei die CDU und daher füllt ein solches Buch insgesamt als Teil eines gesamt- durchaus eine Lücke. europäischen Trends, der in anderen europäischen Ländern und nun auch Tanja Busses Aufsatz mit dem Titel „16 in Deutschland ein Schrumpfen der Jahre sind kein Leben“ bietet ein – al- Wahlergebnisse für christlich-demo- lerdings durchaus interessantes – Stim- kratische Parteien gebracht hat. Die mungsbild über junge Menschen, die „Erosion des Katholizismus“ und vor in Junger Union und RCDS aktiv sind. allem die „Desintegration des Bürger- Der folgende Aufsatz von Hans Mo- tums“ sehen die Autoren als entschei- nath mit dem Titel „Zeitgeistsurfing als dende Ursachen dafür an, daß die In- Karrierestrategie“ versucht dagegen ei- tegrationskraft der Christdemokraten ne etwas systematischere Einordnung in Europa und auch in Deutschland des politischen Werdeganges und der erkennbar geschwunden sei. Bernd Karrierestrategien junger Nachwuchs- Ulrich stellt in seinem Artikel Über- politiker der CDU. Auch bei diesen legungen darüber an, welche Rolle Nachwuchspolitikern und vor allem Christentum und Konservatismus bei den sogenannten Jungen Wilden künftig für die CDU spielen könnten. hält Hans Monath dabei die Frage Mehr wissenschaftlich-systematisch ist auch künftig für angebracht: „Hält die wiederum Peter Lösches Beitrag mit Empfänglichkeit der Nachwuchspoliti- dem Titel „Kanzlerwahlverein? Zur ker für Stimmungen und Entwicklun- Organisationskultur der CDU“, in dem gen der Gesellschaft an, wenn sie ge- er davor warnt, Geschichte und Ge- fangen sind von der Notwendigkeit, genwart der CDU auf die Rolle eines ihre Aufmerksamkeit mehr Techniken solchen Kanzlerwahlvereins zu re- der Machtsicherung zu widmen als der duzieren. Die CDU sei stets weit mehr Kommunikation mit dem Neuen?“ gewesen, sonst hätte sie – wie jede an- (S. 9). Christoph Wagner zeichnet in dere Volkspartei auch – nicht über seinem Aufsatz „Pizza-Connection“ die Jahrzehnte hinweg im Bund, in Län- manchmal etwas verqueren Versuche dern und in Kommunen regieren kön- junger CDU-Politiker zur Annäherung nen. Daher kann es kaum überraschen, an die Grünen nach. Insgesamt sieht daß Lösche die CDU auch organisato- er diese Versuche wohl eher als vertane risch für die Zeit nach Kohl im Prinzip Chance an, die sich in Zukunft so für gut vorbereitet hält. Gleichzeitig schnell auch nicht wieder stellen macht er aber auch deutlich, daß die werde, da die Grünen wohl nun auf Erosion zweier wichtiger Faktoren für Der Standort der Union 137 die politische Machtfähigkeit der CDU, beobachtenswert sein werden, wären nämlich das „C“ sowie der Antikom- eine vertiefte Analyse wert. munismus der Nachkriegszeit, für die CDU durchaus ein Problem darstellen Die restlichen Aufsätze widmen sich und sie vor die Notwendigkeit stellen, der CDU und ihrer Handhabung ein- künftig neue integrierende Faktoren zelner Politikfelder. Der Beitrag von über die Macht hinaus zu formulieren. Jochen Thies mit dem Titel „Kein Es folgen zwei interessante Studien Nachwuchs in Sicht“ macht sehr von Tobias Dürr über die Hamburger kenntnisreich deutlich, welche Lücke CDU sowie von Konrad Schuller über nach Helmut Kohl in der CDU unter die Berliner CDU, die natürlich kein den Außenpolitikern entstanden ist repräsentatives Gesamtbild für die und wie schwierig es sein wird, diese gesamte CDU bilden können, aber bald zu füllen. Der Beitrag von Robert jeweils gut lesbare und sehr infor- Misik über die Europapolitik der CDU mative Panoramen der Stärken und nach und ohne Helmut Kohl ist gut Schwächen der Partei in diesen beiden geschrieben, aber leider etwas knapp Großstädten bieten. Rüdiger Soldt lie- geraten. Jeweils gut fundiert und sehr fert einen eher systematischen, eben- kenntnisreich die beiden Beiträge von falls wohlinformierten und gut ge- Mechthild Jansen über „Die CDU und schriebenen Aufsatz über die Union in die Frauenpolitik“ sowie Wolfgang Ostdeutschland, während der nächste Schroeder über den „Arbeitnehmerflü- Beitrag von Nils Klawitter über die gel nach der Ära Kohl“. Beide liefern Christdemokraten im Eichsfeld ein eine gute Bestandsaufnahme und deu- journalistisches Stimmungsbild über ten realistische Szenarien für die wei- eine katholische Enklave in den neuen tere Entwicklung an. Mechthild Jansen Bundesländern bietet. Der einzige Auf- kommt dabei zu der Schlußfolgerung, satz, der sich mit der CSU beschäftigt, daß die CDU den Zenit ihrer Hege- ist der von Dominik Wichmann, ei- moniefähigkeit bei den Frauen eher nem Redakteur der Süddeutschen Zei- überschritten habe und Wolfgang tung. Er muß in einem Beitrag quasi Schroeder hält zwar das Bedeutungs- das vollbringen, was der restliche Band loswerden des Arbeitnehmerflügels für in seiner Gesamtheit versucht, näm- unwahrscheinlich, hält aber sein lang- lich wissenschaftliche und journalisti- fristiges Überleben davon abhängig, sche Analyse zusammenzuführen. daß es der CDU gelinge, in den Bereich der „neuen Dienstleistungs- und Indu- Dies gelingt ihm insgesamt auch ganz striearbeit einzudringen“ (S. 190). Se- gut, auch wenn in einem solchen, verin Weiland gibt in seinem Beitrag doch recht umfassend angelegten Sam- einen lesenswerten Überblick über die melband zur gegenwärtigen und künf- Versuche der CDU in Berlin, türkisch- tigen Lage der CDU die CSU vor allem stämmige Mitbürger als Mitglieder zu unter systematischen Gesichtspunkten gewinnen. Über den Berliner Fall hin- auch noch mit ein oder zwei Beiträgen aus (wo diese Frage allerdings sicher mehr hätte behandelt werden können. mit am virulentesten sein dürfte) wird Vor allem die delikaten Wechselwir- die Frage der Integration neuer Mit- kungen zwischen CSU und CDU, die glieder aus anderen Herkunftsländern auch in den nächsten Jahren noch in der Zukunft für die CDU ob mit 138 Gerhard Hirscher oder ohne doppelte Staatsbürgerschaft und politikwissenschaftlicher Perspek- so oder so eine wichtige Frage darstel- tive die Stärken der Unionsparteien lie- len. Der Beitrag zeigt, daß von beiden gen. Die soziologischen, strukturellen Seiten Bereitschaft da ist, aufeinander und politischen Fundamente sind zuzugehen, daß aber noch eine große auch nach den Wahlen des Jahres Wegstrecke zu gehen ist, bevor Türken 1998 nicht zusammengebrochen und mit deutschem Paß in größerer Zahl können CDU und CSU noch lange tra- die CDU als ihre politische Repräsen- gen. Andererseits sind diese durch Ero- tation sehen werden. Der Band wird sionsprozesse gefährdet, die in ihren beendet durch einen eher feuilletoni- Kernwählerschaften leichtes, aber ten- stischen Aufsatz von Susanne Gasch- denziell kontinuierliches Abbröckeln ke über die Linke und die CDU. des Wählerpotentials befürchten las- sen. Die die Unionsparteien tragenden Der Band von Tobias Dürr und Rüdiger „Milieus” verschwinden zwar nicht Soldt ist in lobenswerter Schnelligkeit von heute auf morgen, reichen aber nach den Bundestagswahlen entstan- immer weniger dazu aus, um allein die den und daher von hoher Aktualität. Mehrheitsfähigkeit zu garantieren. Die Er ist natürlich kein abschließender Aufgabe, diese Erosionsprozesse so gut wissenschaftlicher Sammelband zu Ge- wie möglich zu begrenzen und gleich- schichte, Gegenwart und Zukunft der zeitig neue Wählerpotentiale zu mobi- CDU, ist aber bei weitem mehr als eine lisieren, wird gelöst werden müssen, Eintagsfliege. Die Konzeption des Ban- wenn die Unionsparteien wieder nach des überzeugt ebenso wie die Auswahl der Macht im Bund und in vielen Län- der Autoren, die ihre Materie beherr- dern greifen wollen. Die Mobilisierung schen und dazu flott und lesbar schrei- wird künftig mehr von einzelnen The- ben. Wenn zu grundsätzlich politisch men und darauf zugeschnittenen Ak- bedeutenden wie tagespolitisch inter- tionen ausgehen müssen, wie die De- essanten Themen solche Sammelbände batte um die Unterschriftenaktion so rasch und noch dazu zu einem so ver- gegen die doppelte Staatsbürgerschaft tretbaren Preis herausgebracht werden, gezeigt hat. Dabei ist die Ausgangspo- verdient dies auch deswegen Lob, weil sition der CSU in vielerlei Hinsicht diese Art wissenschaftlicher publizisti- günstiger als die der Schwesterpartei. scher Arbeit in Deutschland nach wie Ob dies der CDU bei der Neuorientie- vor eher die Ausnahme als die Regel ist. rung nach der Ära Kohl hilft, bleibt ab- zuwarten. Hinweise zur gemeinsamen Viele der Beiträge aus diesen Büchern strategischen Orientierung finden sich machen deutlich, wo in historischer in diesen Büchern zuhauf. Das aktuelle Buch

Roman Herzog: Zukunft bauen – Er- hang läßt er in seinen Reden und Artikeln nie ziehung und Bildung für das 21. Jahr- außer Acht. hundert, mit einem biographischen Essay herausgegeben von Michael Rutz, Deut- In der in den Band aufgenommenen Rede am sche Verlags-Anstalt Stuttgart, 1998, 255 S., 5.11.1997 im Schauspielhaus am Gendarmen- 39,80 DM. markt in Berlin fordert er den „Aufbruch in der Bildungspolitik” (S. 67 bis 87) in einer ge- Der Band gibt die Möglichkeit, vielbeachtete Re- samtgesellschaftlichen Diskussion und für den von Roman Herzog, die er in seiner Amts- alle Bildungsbereiche. „Wir müssen an die zeit als Bundespräsident gehalten hat, nochmals Inhalte unseres Bildungswesens herangehen! in Ruhe nachzulesen. Die Publikation gliedert Ich rufe auf zu einem öffentlichen Diskurs über sich in einen Abschnitt über Erziehungsziele, die Inhalte, die das 21. Jahrhundert bestimmen in einen Teil zur Bedeutung der Bildung für un- werden.” (S. 71). Eingangs räumt er mit in- sere Zukunft und schließt mit Reden zur For- haltlichen wie strukturellen „Bildungs-Tabus” schungs-, Wissenschafts- und Hochschulpolitik auf, die eine umfassende Reform behinderten. ab, wobei er auch die internationalen Verflech- Dazu zählt er den Mangel an Individualisierung tungen einbezieht. Der Herausgeber stellte dem und damit Förderung von Begabten und weni- Band eine Vita von Roman Herzog voran, in der ger Begabten ebenso wie die ungleiche Bewer- neben seiner beruflichen Laufbahn sein Eltern- tung von praktischen und theoretischen Bega- haus und die dort vermittelten und gelebten bungen und die Lüge von der anstrengungs- Werte, die ihn prägten, beschrie- freien Bildung ohne Notengebung. ben werden. Ein eigener Akzent Die Schule müsse in zahlreichen wurde vom Herausgeber durch die Fächern Werte vermitteln und be- Berücksichtigung von Ausführun- nötige dazu auch den Religions- gen zum Kulturdialog gesetzt. unterricht, sei aber kein „Repara- turbetrieb für alle Defizite der Roman Herzog behält in allen Gesellschaft” (S. 70), sondern Reden die gesamte Bildungsland- benötige die Erziehung durch die schaft im Blick und fordert, den Eltern. Er hält es für falsch, Bil- Beitrag der Bildung zur Lösung der dungsinhalte einheitlich büro- Zukunftsaufgaben, z. B. den Wan- kratisch zu regeln und Bildung nur del zur Informationsgesellschaft, durch den Staat anzubieten. zur europäischen Einigung und zur Globalisierung ein. Deutlich Schließlich umreißt er sechs Bil- spricht er die Defizite an, denn er dungs-Ideale, die durch die Dis- sieht seine Rolle als Bundespräsi- kussion leiten könnten. Zum einen dent darin, auch unbequeme Fragen zu stellen, nennt er die Wertorientierung, die auch soziale die zum Nachdenken über Lösungen anregen Kompetenz wie etwa Toleranz und verantwor- sollen. Seine Forderung nach Reformen, in die tete Freiheit umfasse. Zum anderen zählt er den alle Bürger und Verantwortlichen einzubeziehen Praxisbezug dazu, der die Aufsplitterung in Spe- seien, faßt er zusammen: „Bildung ist mehr als zialgebiete überwindet und fächerübergreifend die Grundausstattung für das Leben; sie ist per- mit breitem Grundwissen, mit flexiblen Ausbil- sönlicher und gesellschaftlicher Dauerauftrag dungsgängen in der beruflichen Bildung und Be- mit Anforderungen an jeden Bürger und an die rufsorientierung in den Hochschulen – auch Vermittler von Bildung gleichermaßen.” (S. 145) durch mehr Career-Centers – auf die Lebens- und Gleichzeitig mahnt er aber den Aufbruch an: Berufswelt vorbereitet. Zum dritten Ziel der In- „Wir haben kein Ideendefizit, sondern ein ternationalität gehört s.M.n. die Anerkennung Handlungs- und Vollzugsdefizit.” (S. 146) Er der Hochschulabschlüsse, die Fremdsprachen- fordert gerade eine Abkehr von unserer Praxis, vermittlung bereits in der Grundschule, der bi- im Zuge eines Reformstaus die großen Verbes- linguale Unterricht und der Auslandsaufenthalt, serungen zu entwerfen, anschließend aber im der in der Hochschule nicht durch verlängertes Stillstand zu verharren. Stattdessen erwartet er Studium bestraft werden dürfe. Um junge For- die ständige „Fortentwicklung des Bildungssy- scher nicht ins Ausland abwandern zu lassen, stems (als) Daueraufgabe”. (S. 87) müßten neue hierarchiefreiere Arbeitsmöglich- keiten geschaffen werden. Bildung hat für Roman Herzog nicht nur mit Wissen, sondern ebensoviel mit dem sozialen Unter der von ihm gewünschten Vielgestaltig- Zusammenleben zu tun. Diesen Zusammen- keit versteht Roman Herzog für die Hochschu-

Politische Studien, Heft 364, 50. Jahrgang, März/April 1999 140 Das aktuelle Buch len eine Differenzierung und das Eingehen auf des Spielens, des Lesens und der persönlichen die Wünsche der Studierenden nach Berufsvor- Kommunikation. Die Bedeutung des sozialen bereitung oder Persönlichkeitsbildung, nach Lernens betont er auch in diesem Zusammen- gründlicher Vorbereitung auf eine Forschung- hang, indem er vom Auftrag an die Schule stätigkeit oder nach Überblickskenntnissen. Eine sprach als „Ort ..., an dem Leidenschaft für die Lösung sieht er in einem modularen Studien- Demokratie und den Wert der Freiheit vermit- aufbau, der z.B. nicht jeden Juristen auf das telt wird.” (S. 44) Er sieht eine Herausforderung Richteramt vorbereitet, sondern in einzelnen der Bildungspolitik darin, den Begriff der Infor- Abschnitten Abschlußprüfungen und/oder Spe- mationsgesellschaft inhaltlich zu füllen und zialisierungen für den Beruf zuläßt. Allen Bil- nicht nur zu managen. dungseinrichtungen weist er die Pflicht zu, an- gesichts der Wissensexplosion den Weg zum Herzog erwartet aber auch von der Politik all- lebenslangen Lernen zu vermitteln, auch den gemein und von der Wirtschaft, den Wandel Hochschulen. Seinen fünften Wunsch nach zu gestalten. In einer Rede auf der BDI- Wettbewerb in der Bildung richtet er an die Jahrestagung 1996 (S. 159ff.) forderte er sie auf, Schulen, die ihre unterschiedlichen Leistungen Perspektiven für unseren Sozialstaat zu ent- steigern könnten, wenn sie Mitsprache bei der wickeln. Der Verlust von Arbeitsplätzen durch Kollegenauswahl und im Mitteleinsatz hätten. die Kommunikationstechnologien und die Alters- Hochschulen sollten die bekannten Qualitäts- struktur unserer Gesellschaft erzwinge eine unterschiede endlich zugeben und die Möglich- Reform des Sozialversicherungssystems vom Um- keiten der Effizienzsteigerung und Profilbildung lage- zum Kapitaldeckungssystem. Eine Beibe- durch mehr Autonomie erhalten. Die absichtli- haltung des bisherigen Systems hält er nur für chen Lücken im neuen Hochschulrahmengesetz möglich, wenn die Lebensarbeitszeit verlängert, sollten von den Ländern nicht bürokratisch mehr Frauen Arbeitsverhältnisse erhalten, Ein- gefüllt werden. Vielmehr wären Chancen zu wanderungspolitik betrieben und die Wirtschaft Experimenten und spezifischen Studiengängen Arbeitsplätze schaffen würde. Auch an die Teil- zu nutzen, denn die „... Studenten werden mit nehmenden auf dem 13. Welt-Computer-Kon- ihren Füßen über die Qualität dieser Modelle ab- greß 1994 (S. 192ff.) richtete er die Forderung stimmen – und ihre Kriterien werden ihre eige- einer Kompensation des Arbeitsplätzeabbaus. nen sein, nicht die einer anonymen Verwal- Hier kam es ihm aber auch darauf an, im Blick tung.” (S. 85) Abschließend verlangt er vom auf das Verhältnis von Technologie und Ökolo- gesamten Bildungssystem einen ökonomische- gie die Umweltromantiker daran zu erinnern, ren Umgang mit der Zeit zur Abkürzung unserer daß die ökologischen Schäden aus der industri- Ausbildungsdauer in Schule wie Hochschule. ellen Revolution nur durch technologischen Fort- schritt kompensierbar seien. Zum politischen In den einzelnen Beiträgen der Publikation Aspekt des Themas erinnerte er an die „eman- akzentuiert der Bundespräsident jeweils seine zipatorische Qualität der Informatik” (S. 196), Reformvorstellungen. die der weltweiten Demokratie diene, wenn sie auch immer durch Fundamentalisten – auch Sein Anliegen, den aktuellen gesellschaftlichen westliche – bedroht sei. Wandel zu bewältigen, formulierte er deut- lich, als er zur „Erziehung im Informations- In den Band wurde auch ein Artikel zu Roman zeitalter” 1998 im Forum Nixdorf-Museum Herzogs Amtsantritt als Kultusminister von Ba- (S. 33ff.) sprach. Er fordert die Fortführung der den-Württemberg (1978) aufgenommen, in dem begonnenen Bildungsreformen, wie er auch von er damals gegen den Zeitgeist euphorischer der Politik erwartet, daß sie die Lebenschancen ideologischer Bildungsreformen Hessens und der Kinder durch Arbeitsplatzperspektiven Nordrhein-Westfalens an „Tugenden als Er- verbessert. Die Vermittlung von „Lebenskom- ziehungsziel” erinnerte (S. 53ff.). Er forderte petenz” verlangt er, zu der er die Eigenschaften ein Bekenntnis zur Vermittlung der Freiheit als zählt: „Selbständigkeit und Bindungsfähigkeit, eigenen Wert, die der Indoktrination entge- Verantwortungsbereitschaft und Verläßlichkeit, genzuhalten sei. Die Gefahr der pluralistischen Kreativität, Wahrnehmungsfähigkeit und Ur- modernen Gesellschaft auseinanderzudriften, teilskraft, Toleranz, Kultur- und Weltoffenheit” benannte er sehr deutlich. Den „Zentrifugal- sowie Gelassenheit, die unserer unsicheren Welt kräften” (S. 56) müsse mit zentripetalen Kräf- gewachsen zu sein habe. (S. 36) Den Umgang ten begegnet werden, die von der Erziehung ein- mit den neuen Medien hält er für eine wichtige zusetzen seien. Dazu zählte er die Förderung des Kompetenz, aber für ebenso wichtig hält er es, Geschichtsbewußtseins, der friedlichen Kon- Ordnung in die Informationsflut zu bringen, was fliktbewältigung, aber auch die Erziehung zu hohe Anforderungen an die Urteils- und Ent- den Tugenden der Liebe und Freundschaft, des scheidungsfähigkeit stelle. Gleichzeitig warnt er Vertrauens und der Treue sowie zu Pflichterfül- vor zuviel Mediennutzung der Kinder auf Kosten lung und Leistungsbereitschaft. Das aktuelle Buch 141

In einer Rede anläßlich des Jubiläums des vermittelt und für die Demokratie wirbt. Diffe- 50jährigen Bestehens der Kultusministerkon- renzierte Sprachfähigkeit, die Inhalte transpor- ferenz im Februar 1998 appellierte er u.a. an tiert und zum Dialog befähigt, hält er für eine die Schulaufsicht, den Lehrern einen größeren der Voraussetzungen für Mündigkeit und auf der Handlungsrahmen einzuräumen und ihrer Kom- Seite der Vermittler für eine Voraussetzung für petenz zu vertrauen, Bildungsinhalte zu über- Überzeugungskraft. Aus dem Geschichtsbe- prüfen und neue Lernmethoden zu erproben. Die wußtsein leitet er die Fähigkeit ab, die Demo- im Jubiläumsjahr der KMK aufgekommene Dis- kratie historisch und gestaltbar zu begreifen und kussion über die Reformierbarkeit der KMK daraus Zuversicht und Gelassenheit zu schöp- nahm der Bundespräsident auf. Er betonte in fen. Unter dem Werben für Demokratie ver- seiner Rede – auch als überzeugter Föderalist – steht er die Aufgabe der politischen Stiftungen, die Gefahr, durch „zuviel regulierte Einheitlich- jenseits einseitiger Propaganda”... die ethi- keit die Vielfalt (zu) verlieren” (S. 102) und plä- schen Grundlagen (zu) vermitteln ... (und) ... diert für ein Selbstverständnis der KMK als „In- Schulen demokratischen Denkens und Han- formationsdrehscheibe” (S. 99) für viele kleine delns, Übungsfelder für Zivilcourage und Ge- Experimente, die von ihr ausgewertet und wei- meinsinn” zu sein. (S. 92) tergedacht werden sollten. Auf die Auslandsarbeit der Stiftungen ein- In seinen Reden, die unter das Stichwort „Er- gehend, bezieht der Bundespräsident ihre Be- ziehen – wozu?” gestellt sind, forderte Roman deutung auf die, die internationale Arbeits- Herzog Lehrer und Lehrerinnen auf, sich auf die teilung begleitenden weltweiten Diskussionen Ziele der Schule zu besinnen, die zum einen All- über den Rechtsstaat, die Freiheit und die Men- gemeinbildung, Gemeinschaftserfahrungen auch schenwürde. Demokratisches Bewußtsein an die mit ausländischen Jugendlichen wie auch neben Bevölkerung zu vermitteln, ermögliche die Pro- der Theorie praktische Erfahrungen vermitteln jektarbeit. Er sieht die politischen Stiftungen aber solle. („Allgemeinbildung und Toleranz”, 1996, auch als Mittler in der internationalen Diskus- S. 47ff.). In vielen Reden betont er aber auch, sion über Wirtschaftsbeziehungen, Umwelt- daß die Eltern keinesfalls aus ihrer Erziehungs- fragen und Finanzmärkte. In Rückwirkung die- verpflichtung entlassen werden dürften. ser Diskussion auf uns werde „Provinzialismus” verhindert. (S. 93) Anläßlich des Festaktes zum 40jährigen Ju- biläum der Friedrich-Naumann-Stiftung am Auch in der Aufgabe der Begabtenförderung 1. Juli 1998 ging er auf die Rolle der politi- weist er den politischen Stiftungen einen wich- schen Bildung in unserer Zeit ein und betonte tigen Rang zu. Anläßlich des Jubiläums des Cu- ihre Bedeutung als Mittlerin zwischen Staat und sanuswerks begründet er die Bedeutung von Be- Bürger mit dem Auftrag, den Konsens über die gabtenförderung als eine wichtige Aufgabe des wechselseitigen Verpflichtungen zu befördern. Staates im eigenen Interesse zur Lösung von Die sich wandelnde Beziehung zwischen Staat Zukunftsaufgaben durch Spitzenleistungen auf und Bürger auf stabilen Fundamenten unserer vielen Ebenen, nicht nur auf Chefsesseln. Be- Demokratie zu bewahren (S. 90) und dennoch gabtenförderung erstrecke sich nicht nur auf immer wieder neu zu klären und zu vermitteln, finanzielle Förderung, sondern ebenso auf die bleibe „Grundlage der Arbeit aller politischen ideelle. Gerade Ferienakademien, internationa- Stiftungen” (S. 89). Es erfreut eine Stiftungs- le Begegnungen und Symposien trügen wesent- angehörige, wenn sie liest, daß der Bundes- lich zum interdisziplinären Austausch bei, einer präsident die Stiftungen nicht den leeren öffent- in der Massenuniversität gefährdeten „akade- lichen Kassen geopfert sehen will: „Sie verküm- mischen Tugend” (S. 175), aber einer Voraus- mern zu lassen, wäre Ausdruck einer fatalen setzung für Problemlösungskompetenz. Er be- politischen Kurzsichtigkeit, die uns noch einmal grüßt die Einbeziehung der Förderung von sehr teuer zu stehen kommen könnte. Wir brau- Sozialkompetenz und ethischer Rückbindung chen genau das Gegenteil: Wir brauchen eine neben der Fachkompetenz durch die Förde- große politische Bildungsoffensive!” (ebd.) Dies rungswerke und erinnert daran, daß die deut- begründet er mit den wachsenden radikalen Par- sche Erfahrung zeige, wie barbarisch Funk- teien, deren Klientel nicht einfach als Protest- tionseliten sein könnten. Gerade deshalb sei bei wähler zu vernachlässigen sei, sondern vielmehr uns eine Elitediskussion nötig, in die demo- von der politischen Bildung erreicht werden kratische und historische Erfahrungen einzube- müßte, um nicht „dauerhafte Subkulturen ent- ziehen seien. stehen (zu lassen), deren Mitglieder (sich) aus dem gesellschaftlichen und demokratischen Zur Erwachsenenbildung sind mehrere Bei- Konsens ausklinken.” (ebd.) Roman Herzog er- träge aufgenommen. Zu den Teilnehmern des wartet von der politischen Bildung, daß sie Deutschen Volkshochschultages im November Sprachfähigkeit fördert, Geschichtsbewußtsein 1996 (S. 121ff.) sprach Roman Herzog ange- 142 Das aktuelle Buch sichts der „Halbwertzeit des Wisssens” über die wendig hält, forderte er die Einrichtung von For- Bedeutung von Selbstlernprozessen, die in Schu- schungskollegs, die von der HRK bereits 1993 len wie Erwachsenenbildungseinrichtungen zu beschlossen wurden. Spitzenleistungen in der unterstützen seien. Er nennt aber auch die Zie- Forschung zum Erhalt einer Spitzenposition un- le der Persönlichkeitsbildung „... Mitmensch- ter den Industrienationen seien nicht nur in den lichkeit, die Fähigkeit zum sozialen Dialog und Natur- und Technikwissenschaften, sondern die Bereitschaft zur Mitverantwortung im pri- auch in den Kulturwissenschaften zu erbringen. vaten und öffentlichen Leben ... ” (S. 125). Auch Er drückt auch hier seine Sorge aus, daß die an den Evangelischen Heimvolkshochschulen Attraktivität deutscher Hochschulen für aus- (S. 11ff.) schätzt er besonders die Verbindung ländische Studierende und für deutsche sinken von Möglichkeiten der Berufsqualifizierung und könnte. Im internationalen Vergleich könnten der Persönlichkeitsbildung, aber auch das An- deutsche Hochschulen nur bestehen, wenn sie gebot, den Schulabschluß nachzuholen. Für die staatlich möglichst wenig gegängelt und für eine ethische Bildung sieht er bei den Kirchen den be- nötige Flexibilität und Profilbildung auch über sonderen Auftrag, „... daß sie durch ihre Bot- ausreichende Autonomie verfügten. Daß er pri- schaft klarmachen, daß nicht der Mensch das vate Universitäten für eine nützliche Ergänzung Maß der Dinge ist, daß nicht der Markt der der staatlichen Einrichtungen hält, erwähnt er oberste Gesetzgeber der Welt sein darf und daß nebenbei. (S. 156) nicht das Gewinnstreben das letzte Ziel des Le- bens ist.” (S. 115) Da Wissenschaft an sich grenzüberschreitend sei, hält Roman Herzog die Hochschulen auch Ein in den Band aufgenommener Aufsatz in der für wichtige Träger des vertrauenbildenden „ZEIT” vom Januar 1998 (S. 104ff.) umreißt Kulturdialogs, den er dem vielbesprochenen die Misere der Universitäten, denen es nach „Clash of Civilisation” (S. Huntington) entge- R. Herzog nicht nur an Geld mangele, sondern genhält. (S. 116ff.) Auf den vielzitierten Kul- v.a. an Reformen. Hier nennt er die Studien- turkonflikt geht er nochmals in einer Rede an- zeitverkürzung, etwa durch „Freischußregelun- läßlich einer Inter Nationes-Tagung ein. Den gen” und modulare Studienabschnitte mit an- Kulturdialog bezeichnet er pointiert als „sicher- schließenden Teilprüfungen. Eine Reduzierung heitspolitischen Imperativ” (S. 131) und erwar- des vermittelten Stoffs sei unumgänglich – was tet in seinem Fortgang von unserer Seite mehr für unser gesamtes Bildungssystem gelte. Eine Offenheit und Aufmerksamkeit. Zu den Trägern Einteilung in „Basiswissen” und in „Überblicks- der von ihm so genannten „kulturellen Außen- wissen” sei dafür Voraussetzung (S. 110). In vier politik” zählt er sowohl die staatliche auswär- Semestern könnte s.M.n. das nötige Basiswissen tige Kulturpolitik des Bundes und der Länder vermittelt werden, während zum Überblicks- wie auch die Kulturvermittler wie Inter Natio- wissen v.a. das selbständige Lernen gehöre. nes, die Humboldt-Stiftung, die Goethe-Insti- tute, aber ebenso die im Ausland tätigen Unter- Von seinem Anspruch, die Probleme unverstellt nehmer, Wissenschaftler und Techniker, ja selbst zu benennen, machte er besonders in seiner Re- die Touristen. Die dezentrale, weil föderale de über die Universitäten an die Teilnehmer der Struktur ermögliche Flexibilität, die er in höhe- Hochschulrektorenkonferenz in Berlin 1996 rem Maße einfordert, ebenso wie bei gebotener (S. 144ff.) Gebrauch und zählte die Schwächen Vielfalt eine intensivere und unaufgeregtere in- auf: Daß es an Beratung der Studierenden eben- haltliche Diskussion. Die europäischen kul- so mangele wie an Strukturangeboten, an der turellen Verflechtungen hält er für zu stark an Anleitung zum rechtzeitigen Examen wie an der den Staatsgrenzen orientiert, die ja letztlich die Orientierung der Inhalte am Arbeitsmarkt. Die Kultur nie eingrenzen konnten und fordert statt- Verbesserung der Lehre und die Einführung von dessen „europäische Kulturhäuser”, die der Zwischenabschlüssen hält er auch als Motiva- Realität mehr entsprächen (S. 139). Die deut- tionsinstrument der Studierenden für geeignet. sche Sprache hält er als „Verständigungskanal” Die Frage nach dem Bedarf an Akademikern (S. 142) für eine bleibend wichtige Vermitt- beantwortet R. Herzog differenziert, weil es kei- lungsaufgabe, deren Attraktivität von ihren le- ne objektiven Beurteilungskriterien gebe. Die Be- bendigen Inhalten aus Wirtschaft, Wissen- wertungshierarchie des Öffentlichen Dienstes sei schaft, Politik und Kultur lebe. jedenfalls veraltet. In diesem Zusammenhang nennt er auch die Elitebildung als ebenso wich- Den Band, der noch weitere Anregungen, etwa tige Aufgabe der Hochschulen wie die Breiten- zur Forschungspolitik, zur beruflichen Bildung ausbildung. Die Charakteristik von Eliten bin- oder zum Verhältnis von Wissenschaft und det er grundsätzlich an Leistung und Verant- Politik enthält, zeichnet aus, daß man im Nach- wortung, nicht aber ausschließlich an die theo- lesen der Reden unseres Bundespräsidenten seine retische Ausbildung. Zur Verbesserung der For- differenzierte Sicht der Bildungsdinge erkennt schung, deren Einheit mit der Lehre er für not- und sie in angenehm unaufgeregter Ausführung Das aktuelle Buch 143 und verständlicher Sprache bedenken kann. So serer Situation und an der Lösung künftiger Her- ist der Band nicht nur Bildungsbefaßten sehr zu ausforderungen interessiert sind. empfehlen, die die Reformen umzusetzen haben, sondern allen Bürgern, die an der Analyse un- Gisela Schmirber Buchbesprechungen

Bayerische Bibliographie 1996, hg. v. Gene- nämlich alles zu Bayern, zu erreichen, ist es je- raldirektion der Bayerischen Staatlichen doch notwendig, sich einer etwas komplizierten Bibliotheken, Verlag C.H. Beck München Recherchemaske zu bedienen. 1998, 975 Seiten, DM 190,–. Die herkömmliche gedruckte Fassung, die auch weiterhin hergestellt werden wird, ist ein Pro- Die Bayerische Bibliographie, ein bereits im Jahr dukt, das aus der Datenbank hervorgegangen 1927 begonnenes Unternehmen, erschien bis ist. Ihr Umfang konnte gegenüber den Vorgän- 1977 unter wechselnden Bezeichnungen regel- gerbänden wesentlich erweitert werden. So sind mäßig in der Zeitschrift für bayerische Landes- im jetzt vorgelegten Band mehr als 10.000 Titel geschichte. 1978 ging die Generaldirektion der für den Berichtszeitraum 1996 nachgewiesen. Bayerischen Staatlichen Bibliotheken dazu über, die bibliographischen Nachweise als eigenstän- Der systematische Hauptteil der gedruckten Bi- dige Publikationen herauszugeben. Für den bliographie gliedert sich in 19 Hauptgruppen, Berichtszeitraum 1971 – 1987 erschienen ins- die hierarchisch untergliedert sind. Erschlossen gesamt zehn Bände, der letzte für den Berichts- wird der knapp 1.000 Seiten umfassende Band zeitraum 1987 im Frühjahr 1998. Ausgewertet durch ein Verfasser- und Titelregister sowie durch werden regionale, überregionale und internatio- ein Orts-, Personen- und Sachregister. nale Veröffentlichungen mit inhaltlichem Be- zug auf Bayern aus den Bereichen Landeskun- Der große Wert dieser Bibliographie besteht vor de, Natur und Umwelt, Geowissenschaften, Bio- allem darin, daß nicht nur selbständige Publi- wissenschaften, Volkskunde, Geschichtswissen- kationen aufgenommen werden, sondern die schaft, Geschichte, Staat und Politik, Recht, häufig nur umständlich und mit großem Auf- Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Tech- wand zu recherchierenden Aufsätze aus Zeit- nik, Kultur, Bildung, Schulwesen, Wissenschaf- schriften, Jahrbüchern, Festschriften, Sammel- ten, Sprache und Literatur, Kunst, Buch- und werken und Heimatbeilagen der bayerischen Informationswesen, Kirchen sowie Literatur über Tageszeitungen, Privatdrucke, Dissertationen, Persönlichkeiten, die in Bayern – wenn auch nur ausgewählte Rundfunkmanuskripte sowie Di- zeitweise – lebten und wirkten. plom-, Magister- und Zulassungsarbeiten in Auswahl. Um die großen Rückstände von zehn Jahren im Berichtszeitraum aufzuholen, war eine Um- Besonders verdienstvoll ist die Aufnahme der strukturierung des bisher konventionell durch- sog. grauen Literatur, die häufig nur lokal oder geführten Unternehmens erforderlich. Der neu- regional erfaßt werden kann und die über her- este Band wurde erstmals in Zusammenarbeit kömmliche Hilfsmittel kaum recherchierbar ist. mit verschiedenen bayerischen staatlichen Bi- Ein weiterer entscheidender Vorteil dieses Hilfs- bliotheken und einigen Universitätsbibliotheken mittels ist sicherlich seine Aktualität. So werden online über die zentrale Datenbank des Bayeri- tagesaktuell allein 1.500 Zeitschriften ausge- schen Bibliothekverbunds erstellt. Die dezentrale wertet. Sofort nach Erfassung der Aufsatztitel Erfassung der Titel ermöglicht eine zügige Auf- stehen diese für die Recherche zur Verfügung. arbeitung der Rückstände im Berichtszeitraum sowie die Einarbeitung älterer Bestände. So ent- Mit der Datenbank-Version wie mit dem ge- hält die Datenbank zum Beispiel aufgrund der druckt vorgelegten Band für 1996 bestätigt die regionalen Beteiligung der beiden Regensburger Bayerische Bibliographie ihren Anspruch, die be- Bibliotheken bereits die oberpfälzischen Bestän- deutendste Landes- und Regionalbibliographie de bis zur Jahrhundertwende. Entstanden ist im deutschsprachigen Raum zu sein. Es bleibt eine Bayerische Bibliographie mit derzeit etwa zu wünschen, daß es gelingt, die bestehenden 50.000 Titeln, deren einschlägige bibliogra- Lücken zügig zu schließen und die Neuerschei- phische Daten nun in der Verbunddatenbank nungen kontinuierlich zu erfassen. nachgewiesen sind. Gleichzeitig bietet die Da- tenbank vielfältige kostenlose Recherchemög- Mit dem Angebot aktueller Informationen könn- lichkeiten via Internet (World Wide Web OPAC te die Bayerische Bibliographie nicht nur ein des Bibliothekverbunds Bayern, Adresse: http:// unentbehrliches Hilfsmittel für die histori- www.opac.bib-bvb.de). Die Internet- Recherche sche Forschung, sondern auch für zahlreiche in der Bayerischen Bibliographie erfolgt derzeit Informations- und Dokumentationsstellen wer- noch über die homepage der Generaldirektion. den. Um bei der Recherche innerhalb der Verbund- datenbank die gewünschte Qualitätsauslese, Renate Höpfinger 145

Maximilian Lanzinner: Zwischen Sternen- Im ersten des in vier Kapitel untergliederten Bu- banner und Bundesadler. Bayern im Wie- ches („Die Begründung der Demokratie in der deraufbau 1945 – 1958. Verlag Friedrich Pu- Trümmerzeit“) lenkt Lanzinner den Blick zurück stet, Regensburg, 1996. Geb., 439 S., 68,– DM. auf das Kriegsende in Bayern, das er in gut les- barem Stil unter Aufbereitung der bekannten Fakten schildert. Diese ersten Seiten bestimmen Im Vorwort seines Buches über die Geschichte den Charakter des ganzen Buches. Lanzinner Bayerns nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges informiert ohne Fehler und vermag dem Leser stellt Maximilian Lanzinner fest, die Geschichts- durchaus ein Bild des politischen Neuanfangs schreibung habe „die Bundesländer geradezu im Nachkriegs-Bayern zu vermitteln. Daß auch vergessen, was zumal bei der Staatstradition sehr wichtige Aspekte wie die Entnazifizierung Bayerns verwunderte“ (S. 11). In der Tat ist die- (auf kaum zehn Seiten), die ersten Wahlen 1946 ser Befund, auch im Hinblick etwa auf Baden- (auf vier Seiten) oder die Verfassungsgebung und Württemberg, zutreffend. Sicherlich existieren die Einrichtung der Verfassungsorgane (auf 22 Monographien über die Nachkriegszeit in den Seiten) nur auf knappem Raum behandelt wer- einzelnen deutschen Ländern und Regionen, den, ist einerseits angesichts der zu bewältigen- doch oftmals beschränken sie sich auf die Be- den Stoffülle erklärlich, führt aber in einigen Fäl- leuchtung der Jahre 1945 bis 1949, vom Kriegs- len zu nicht akzeptablen Verkürzungen und ende bis zur Konstituierung der Bundesrepublik unzutreffenden Wertungen. Nur zwei Beispiele: Deutschland. Gerade die politische Geschichte Im Hinblick auf die Wahlen zur Landesver- der 50er Jahre in den bundesdeutschen Ländern sammlung und zum Ersten Landtag 1946 gibt ist vielfach nicht einmal in Ansätzen untersucht. der Verfasser die Prozentzahlen der Parteien an und stellt die hohe Wahlbeteiligung heraus. Mit Der Verfasser, Professor an der Universität Pas- keinem Wort wird erwähnt, daß damals aus sau, hat sich der Herausforderung gestellt, für verschiedenen Gründen große Teile der Wohn- Bayern diese Forschungslücke auszufüllen. Im bevölkerung Bayerns kein Wahlrecht besaßen Vorwort wird mitgeteilt, Lanzinner habe den Bo- und daher die Wahlergebnisse auf allen Ebenen gen bis 1978 spannen wollen, also bis zum Be- zwangsläufig nur sehr bedingt als politische Wil- ginn der Ministerpräsidentschaft von Franz Jo- lensbekundung „der Bevölkerung“ gewertet wer- sef Strauß. Es werde deshalb einen zweiten Band den können. Im Zusammenhang mit dem Ab- geben, weil sich in einem Band „nur die Zeit bis schneiden der KPD bei der Landtagswahl von 1958 (habe) behandeln“ lassen. Aus welchem 1946 (sie erhielt 6,1% der Stimmen) konstatiert Grund 1958 hier als Einschnitt oder gar als Epo- Lanzinner, die „Erfahrungen der letzten Kriegs- chejahr gesehen wird, ist nicht erkennbar. Erst jahre hatten die Bevölkerung gegenüber Ideolo- S. 407 erklärt sich der Verfasser und spricht da- gien immunisiert“ (S.58). So pauschal kann es von, daß in der 1958 endenden dritten Legisla- für Bayern jedoch nicht gelten: Die KPD hatte turperiode des Bayerischen Landtags „noch im März 1933 bei den letzten halbwegs freien manche Entscheidung zum Wiederaufbau“ ge- Wahlen in Bayern 6,55% der Stimmen erhal- fallen sei. „Insofern läßt sich mit diesem Jahr ten und im Vergleich zu 1946 kaum einen hal- auch die Darstellung über den ersten großen ben Prozentpunkt verloren. Nur aufgrund der in Abschnitt der bayerischen Nachkriegszeit Bayern bestehenden 10-Prozent-Hürde war den schließen.“ Richtig, aber auch nur insofern. Es Kommunisten der Einzug in den Landtag ver- gab zwar eine Landtagswahl (am 23. Novem- wehrt, wie auch Lanzinner festhält. ber 1958), bei der CSU und SPD besser ab- schnitten als 1954, aber der seit 1957 als Nach- Im zweiten Kapitel („Alltag, Not und Politik folger Hoegners (SPD) im Amt befindliche 1945 – 1949“) widmet sich der Autor den The- Ministerpräsident Hanns Seidel blieb Chef einer menfeldern Flüchtlinge und Vertriebene, Land- Regierung, an der nach wie vor CSU, FDP und wirtschaft und Ernährung, der Schulpolitik, dem GB/BHE beteiligt waren. Die spät nachgeliefer- ersten Kabinett Ehard sowie „Bayerns schwieri- te Begründung für das Jahr 1958 als Schluß- gem Weg in die Bundesrepublik“, hier schon in stein der Darstellung vermag nicht zu überzeu- der Überschrift sich an die nach wie vor maß- gen. Ebensowenig wird ersichtlich, warum gebliche Studie von Peter Jakob Kock anlehnend. Lanzinner zweimal betont, er habe es „vor al- Besonders auffällig wird in diesem zweiten Ka- lem“ für Nichthistoriker geschrieben, denen der pitel der leider sehr bayernzentrierte Blickwin- Ertrag der Forschung mitgeteilt werden müsse, kel Lanzinners, der zwar in gewissen Grenzen sonst sei sie „überflüssig“. Die Merkwürdigkeit verständlich ist, in allen Bereichen jedoch, die des Vorworts findet ihren Höhepunkt allerdings Bayern im Kontext der Bizone, des Länderrats, in der Feststellung des Verfassers, er habe „mehr des Wirtschaftsrats und die CSU im Kontext der als bloße Fakten sammeln“ wollen. Dies dürfen westdeutschen Union („Arbeitsgemeinschaft“, sowohl Historiker als auch Nichthistoriker von „Ellwanger Kreis“ etc.) zum Gegenstand haben, einem Autor wie Lanzinner ohnehin erwarten. zu kurz greift. Wie sich etwa Bayern und Würt- 146 temberg-Baden bemühten, durch gemeinsame Arbeit und das Scheitern der Staatsregierung un- Aktionen die Lebensmittelversorgung sicherzu- ter Ministerpräsident Hoegner, der nach der stellen und bei den Besatzungsbehörden mit ei- Landtagswahl von 1954 eine Viererkoalition ner Stimme zu sprechen, wird hier nicht ange- aus SPD, Bayernpartei, FDP und GB/BHE führ- sprochen. Wie Ehard den „Ellwanger Kreis“ als te. Ob diese nur ein „Intermezzo“ war, sei da- Instrument bayerischer Föderalismuskonzepte hingestellt – aus CSU-Sicht sicherlich. 1957 be- zu nutzen suchte, auf welcher Grundlage der gann die Amtszeit Hanns Seidels (CSU) an der „Verfassungskonvent von Herrenchiemsee“ stand Spitze einer bürgerlichen Koalition und die seit- und wie es auch hier verstanden wurde, eigene her ununterbrochene Majorität der CSU in den Vorstellungen den Vertretern anderer Länderre- bayerischen Staatsregierungen. gierungen „schmackhaft“ zu machen, wird zwar kurz angesprochen, aber nicht vertieft. Viel zu summarisch werden territoriale Fragen hinsichtlich der Pfalz und des „Landkreisstaa- Das nach Ansicht des Rezensenten beste Kapi- tes Lindau“ abgehandelt. Im letzteren Falle er- tel des Buches ist „Wirtschaft und Gesellschaft fahren wir, daß Lindau nach 1945 zur franzö- im Wiederaufbau“. Es ist mit über 140 Seiten sischen Besatzungszone gehörte und 1955 das mit Abstand umfangreichste Kapitel und wieder zu Bayern zurückkehrte. Daß es verwal- bietet einen umfassenden, detaillierten Über- tungsmäßig an das Land Württemberg-Hohen- blick. Die Anfänge der Wirtschaftspolitik und zollern angeschlossen war, daß es Abgeordnete deren schlechte Grundbedingungen, die De- in den württemberg-hohenzollerischen Landtag montagen der Besatzungsmacht, die Neufor- entsandte (bis 1950) und daß es große Schwie- mierung der Gewerkschaften, Kammern und rigkeiten bei der Rückführung Lindaus gab, die Verbände (vor allem des Bauernverbands und vor allem dank des Einsatzes von Staats- bzw. der Arbeitgeberverbände), das Werden einer neu- Ministerpräsident Gebhard Müller (CDU) über- en Presselandschaft und des Rundfunks werden wunden wurden, der vor allem dafür 1977 den im Zusammenhang mit ausgewogenem Urteil bayerischen Verdienstorden erhielt – dies findet geschildert. Wirtschaft und Wirtschaftspolitik beim Autor weniger Beachtung. Mit einer kur- in den 50er Jahren, „Wirtschaftswunder“ und zen Bestandsaufnahme zu „Dynamik und Ein- der Umbruch in der Landwirtschaft sowie die ebnung der föderativen Politik Bayerns 1950- gelungene, aber schwierige Integration der 1958“ beschließt der Verfasser ein Werk, das Flüchtlinge und Vertriebenen sind weitere The- gewiß von Nutzen ist für einen ersten Überblick men in diesem starken, wohlgelungenen Teil des hinsichtlich des ersten Jahrzehnts bayerischer Buches. Nachkriegspolitik.

Im vierten und letzten Kapitel nimmt Lanzin- Frank Raberg ner viele Fäden aus dem ersten Kapitel wieder auf. Dies gilt vor allem für die Ausführungen zur Geschichte der Parteien Bayerns in den 50er Hubert Markl, Wissenschaft gegen Zu- Jahren. Auf der Grundlage einer gerade in den kunftsangst, Carl Hanser Verlag München, letzten Jahren erfreulichen Forschungsentwick- 1998, 361 Seiten, DM 45,–. lung zur Parteiengeschichte (Thomas Schlem- mers hervorragendes Opus magnum zur Ge- schichte der CSU erschien leider erst 1998) Die insgesamt sechzehn Einzelbeiträge gehen beschreibt Lanzinner die Entwicklung der CSU, auf Vorträge zu verschiedenen Anlässen zurück SPD, FDP, des Bundes der Heimatvertriebenen und sind vier Kapiteln zugeordnet. In drei Beiträ- und Entrechteten und der Bayernpartei, also nur gen beschäftigt sich der bekannte Autor und der im Landtag vertreteten Parteien. Von der Wissenschaftsmanager mit dem Platz des Men- bayerischen KPD hören wir leider nichts mehr, schen in der Natur, in weiteren vier Vorträgen obwohl sie bis zum Verbot 1956 noch existier- steht der Mensch und die Umwelt im Zentrum. te, wenn auch an politischer Bedeutung stetig In den beiden nachfolgenden Abschnitten setzt einbüßte. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 sich der Autor mit dem technischen und geisti- erhielt sie 4,1%, bei der Landtagswahl 1950 gen Fortschritt, den sieben Versuchungen der 1,9%, bei der zweiten Bundestagswahl 1,6%, Wissenschaft sowie mit dem komplexen Bezie- bei der Landtagswahl 1954 2,1%. hungszusammenhang zwischen Wissen-Macht- Politik auseinander. Der Spannungsbogen reicht Die Leistungen der Großen Koalition nach 1950 also thematisch von der fortwirkenden Natur- unter Ministerpräsident Ehard vor allem auf ad- geschichte des Menschen über die ökologische ministrativem Gebiet– Gemeinde-, Landkreis- Perspektive der Überbevölkerung und die Ver- und Bezirksordnung vor allem – werden gewür- antwortung der wissenschaftlichen Eliten in der digt, der Metallarbeiterstreik von 1954 wird in industriellen Massengesellschaft bis hin zur Zu- Erinnerung gerufen, das Zustandekommen, die kunft der Bildung und unserer Situation in der 147 globalen Informationsnetz-Mediengesellschaft. und Affekte, der genetische Verfall, das Abreißen Das Werk kann somit aus verschiedenen Blick- der Tradition, die Zunahme der Indoktrinier- winkeln gesehen und gewürdigt werden. Hier sol- barkeit der Menschheit und die Aufrüstung der len einige pädagogische Aussagen im Mittel- Menschheit mit Kernwaffen. punkt stehen. Bildung und Erziehung sind zwei Schlüsselbegriffe. Der Mensch ist von seiner Na- Es gibt sieben Versuchungen, die Wissenschaft- turgeschichte her ein Kulturwesen, intelligent, ler immer wieder dazu verleitet haben, un- lernfähig, sprachbegabt, wertbewußt, selbstver- glaubwürdig zu erscheinen. Die ersten vier sind antwortlich. Er ist genetisch bedingt kulturfähig die kognitiven, die letzten drei die moralischen und zu freiem, selbstverantwortlichem Verhal- Versuchungen des Wissenschaftlers, die reduk- ten fähig. Bildung wird als der durch Erziehung tionistische Versuchung, die objektivistische Ver- unterstützte Entwicklungsprozeß gesehen, der suchung, die experimentalistische Versuchung, junge Menschen zu selbstverantwortlichen und die manipulative Versuchung, die advokatische zugleich zur Verantwortung für ihre Mitmen- Versuchung, die ideologische Versuchung und schen bereiten Mitgliedern einer Lebensgemein- die rhetorische Versuchung. Zu jeder Versuchung schaft macht, die sich ihrer kulturellen Herkunft wird ein ausführlicher Kommentar gegeben. Ab- bewußt, aber dennoch weltoffen lernbereit sind schließend ist noch folgende Feststellung für die und die ihrem Leben und Handeln auf der Positionsbeschreibung des Menschen in der Welt Grundlage verbindlicher Werte Sinn zu geben besonders wichtig, zumal damit die Verpflich- vermögen. Erziehung ist dann die Vermittlung tung zur Übernahme von Verantwortung deut- der Fähigkeit, sich weder indoktrinieren noch lich wird: „Natur kann und wird – solange es dressieren zu lassen, sondern nach eigenem be- Menschen geben wird – niemals mehr als etwas gründeten Urteil zwischen richtig und falsch, existieren, was seine Existenzbedingungen al- wert und unwert, wahr und unwahr, gut und lein aus sich heraus erhält und erneuert. Natur schlecht unterscheiden zu lernen und danach zu wird fortan jener Teil der irdischen Lebenswirk- handeln. lichkeit sein, den der Mensch gestattet und vor allem gestaltet“. Die Frage lautet: Reicht die Er- Wie kann man die Position des Menschen in der kenntnis- und Einsichtsfähigkeit des Menschen Natur bestimmen? Er rückt als Sprößling der aus, um diese weitreichende Zukunftsverant- Mutter Natur dieser nicht nur auf den Leib, er wortung für sich und die Erde zu übernehmen? frißt sie nachgerade mit Haut und Haaren auf. Hier beginnt die Aufgabe der „Wissenschaft ge- Er sitzt im Nest, das ihm die Evolution bereitet gen Zukunftsangst“. hat, nicht wie ein bescheidener Kostgänger wie die anderen, sondern wie ein monströser Super- Gottfried Kleinschmidt Gauch, der größte anzunehmende Kuckuck, der seinen Brüdern und Schwestern immer weniger Luft zum Atmen, geschweige denn Raum zur Manfred Hildermeier, Geschichte der So- Entfaltung läßt. Und immer mehr von ihnen wjetunion 1917-1991. Entstehung und Nie- wirft er rücksichtslos aus dem gemeinsamen dergang des ersten sozialistischen Staates, Brutnest, so daß sie jämmerlich verenden müs- Verlag C.H. Beck, München 1998, 1206 Seiten, sen. H. Markl kommt zu dem Schluß: „Unser DM 98,–. Platz in der Natur: ein Gemeinplatz besonderer Art, denn wohin auch immer der Mensch ge- Das umfangreiche Werk konnte in dieser Fülle langt ist, macht er sich gemein, nimmt anderen nur entstehen, weil sein Autor weitgehend von den Platz weg und verhält sich dabei nicht ge- den Alltagsgeschäften entbunden wurde. Das meinschaftlich und gemeinnützig, sondern al- Historische Kolleg in München und die VW-Stif- lenfalls gemeingefährlich oder schlicht hunds- tung haben dem Göttinger Osteuropahistoriker gemein“. Die Natur macht den Menschen die Forschungsfreiräume und die Voraussetzun- eroberungswillig, seine Kultur hat ihn erobe- gen ermöglicht. Das Projekt darf man als her- rungsfähig gemacht. vorragend gelungen bezeichnen.

Abschließend soll noch in der erforderlichen Kür- Hildermeier hatte zur rechten Zeit mit seiner Ge- ze einerseits auf die „acht Todsünden der zivi- schichte der Sowjetunion begonnen, nämlich, lisierten Menschheit“ bei Konrad Lorenz und als dem Historiker eine abgeschlossene Epoche andererseits auf die „sieben Versuchungen der vorlag. Man kann jetzt in der Osteuropafor- Wissenschaft“ bei Hubert Markl eingegangen schung auf ein Standardwerk zurückgreifen und werden. Zu den acht Todsünden gehören fol- ohne Wehmut die alten Osteuropa-Handbücher, gende Vorgänge in unserer Kultur: Die Übervöl- Sowjetunion, beiseite legen. kerung der Erde, die Verwüstung des natürlichen Lebensraumes, der Wettlauf der Menschheit mit Hildermeier hat minuziös die Geschichte des So- sich selbst, der Schwund aller starken Gefühle zialismus in Rußland bis zur Staatswerdung 148 aufgefächert und am Ende des Buches dazu pas- Faden seit der Ära Chrucsevs und Breznevs bis send den Zerfall der Sowjetunion nachgezeich- zum Untergang des Systems durchziehen. Er be- net. Geburt und Ende eines Staatswesens lassen zeichnet diese Veränderungen als „Mangel an sich hier gut vergleichen. Trotz seines Volumens gesellschaftlicher Eigentätigkeit“ (S.1085), den kann man das Buch leicht lesen, denn der Au- er als den Grund dafür erkennt, daß es zu ei- tor schreibt in bestechender Klarheit, so daß das nem Auseinanderklaffen von Gesellschaft und Buch falls, es seine Übersetzer findet, unschwer Staat kam. Dieser Mangel sei durch das Ver- den Zugang zu einer internationalen Leserschaft schwinden von liberalen Eliten entstanden, die findet. als Katalysator zwischen Partei und Volk als ein sogenanntes kleines Beispiel für die Orientierung Die Epoche der Geschichte der Sowjetunion wur- der unteren Schichten an einer mittleren hätten de in fünf Phasen gegliedert. Dies könnte zu- dienen können. Diese Orientierung hätte den mindest richtungsweisend sein, da die frühere Unterdrückten mehr den Willen zur Freiheit auf- Literatur schon alleine die Ära Stalin in nicht gezeigt, da die liberale Elite für ein demokrati- einheitlich gebrauchte Phasen unterteilt hat. Die sches Potential angesehen worden wäre zwischen Politikwissenschaft, die Geschichte und die Partei und Proletariern. Dies hätte zur Hoffnung Wirtschaftshistoriker hatten in der Vergangen- auf eine geistige Verbesserung der Arbeiter ge- heit die Stalinära je nach ihren Schwerpunkten führt und hätte dem Marxschen Ziel eher ent- uneinheitlich gegliedert. Nun liegt ein Schema sprochen, was dann letztlich eine Garantie für vor, dem man gerne folgen mag. Man vermißt die spätere Perestrojka gewesen wäre. Hilder- allerdings etwas die sowjetische Literatur aus meier unternahm eine geistreiche Untersuchung dieser Zeit, besonders aber aus der Ära Chrus- der Perestrojka, jener obrigkeitlichen Reform, die cev und Breznev. Hier hat sich der Autor auf die ihre Wurzeln im alten Stalinismus hatte und anglo-amerikanische Forschung gestützt, was sich deshalb schon selbst im Wege stand. nicht unbedingt ein Mangel ist, weil diese Lite- ratur doch weitgehend als ideologiefrei gilt. Doch weitergehend im Ursachenknäuel des Zer- Dafür wird aber der Leser belohnt, wenn er die falls berücksichtigt das Buch die äußeren Ein- soziologischen Analysen der Alltagsgeschichte wirkungen auf das System mit dem parallel lau- der Kultur, der Bildung und des Geisteslebens fenden Defizit-Schema des wachsenden allgemein betrachtet. Was an diesem Buch be- Widerspruchs zwischen der „Gesamtordnung sticht, ist die Herausarbeitung der Wendepunk- als Fundamentalstruktur“ und ihrer realen Aus- te, der Reformversuche oder jeweilige Paradig- prägung. Es wird der Mangel gezeigt in den In- mawechsel der Ideologie und ihrer realen stitutionen, Regelungen, Verfahren und der ih- Umsetzung. Hier zeigt der Autor den bewun- nen entsprechenden Verhaltensweisen auf der dernswerten Umgang mit den Nachbarwissen- einen Seite und sich wandelnden Anforderun- schaften seines Faches, indem er denkend und gen der administrativen und technisch-wirt- nicht nur narrativ mit den Fakten umgeht. schaftlichen Organisation auf der anderen Sei- So wurde z.B. für die Ära Breznevs (1964 – te (S. 1090). 1982) eine grundlegende Wirtschaftsanalyse vorgenommen, die die ökonomischen Probleme Es gelang dem Autor, letztlich dann sogar den und das Ende des Wachstums auffächert. Da- Bogen einzuschlagen, auf die Urzelle aller Ge- mit hat der Autor eine Grundlinie gelegt, die sich schichte, dem Menschen, der sich weigert an den für spätere Zeiten zu einer Grundströmung ent- Determinismus von Staaten zu glauben, beson- wickeln wird. Hier spürt man den Hauch des ders aber überrascht ist, wenn er das Leben und Münchener Osteuropainstituts in der Scheiner- Ableben eines Systems vor Augen geführt be- straße, das sich seit Jahrzehnten mit wirt- kommt. Heute wissen wir, daß theoretisch be- schaftlichen Entwicklungen Osteuropas be- gründete Pläne für eine Gesellschaftsreform al- schäftigt. Hildermeier hat diesen Fundus les andere sind als eine Verletzung einer von weidlich genutzt und die Zuarbeit des Instituts Gott geordneten Geschichte des gesellschaftli- gut in sein Gesamtwerk integriert. Der Autor chen Wachstums (Burke). meistert auch die Schwierigkeit der qualitativen Systemveränderungen, die sich wie ein weiterer Gerd Wehner Autorenverzeichnis

Gerhard Hirscher, Dr., Deutschen Bundesbank, Frankfurt Referent für Grundsatzfragen der am Main Politik, Parteien und Politische Theorien in der Akademie für Poli- Johannes Michael Schnarrer, tik und Zeitgeschehen der Hanns- Prof., Dr., Seidel-Stiftung, München Gastprofessor an der Kath.-Theol. Hochschule Karlsburg, Mitarbeiter Gerd Langguth, Prof., Dr., am Institut für Ethik und Sozial- Staatssekretär a.D., Honorarprofessor wissenschaften der Universität Wien für Politische Wissenschaften an der Universität Köln, Königswinter – Roland Sturm, Prof., Dr., Oberdollendorf Lehrstuhl Politische Wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg Werner Link, Prof., Dr., Forschungsinstitut für Politische Wilfried Weber, Prof., Dr., Wissenschaft und Europäische Fra- Professor für Sozialethik an der gen der Universität Köln Universidad Catolica del Oriente, Rionegro, Kolumbien Gustav Matschl, Dr., Rechtsanwalt, München Otto Wenzel, Dr., OStDir. a.D., Lehrbeauftragter für Politik an der Friedrich-Wilhelm Technischen Fachhochschule Berlin Schlomann, Dr., Publizist, Königswinter Joachim Wuermeling, Dr., Ministerialrat, Leiter des Grund- Peter M. Schmidhuber, satzreferates der Europaabteilung, Mitglied des Direktoriums der Bayerische Staatskanzlei, München